Kollektivkörper: Kunst und Politik von Verbindung [1. Aufl.] 9783839401095

Ob in Schlangen, Meuten, Massen, Gruppen oder Paaren - der/die Einzelne bewegt sich ständig geordnet und ungeordnet in G

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Kollektivkörper: Kunst und Politik von Verbindung [1. Aufl.]
 9783839401095

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
The Deleuzian Sex Game
Vom Jubel zur Halluzination: postsowjetische Kollektivkörper
Geschichte und Nichtgeschichte des Körpers
Körper im Kulturkontakt. Räume des Kollektiven bei Lygia Clark und Hélio Oiticica
Shared Movements und der Glaube an die ›schwarze Kultur‹. Zur Ethnographie einer Cultural Performance im Schnittpunkt von Popkultur und Sport
Das erlösende Potential kollektiver Gewalt
Ideale Unfreiheit. Regisseure und Regeln (in) der Kunst
Kollektiv in der Schwerelosigkeit. Von Überidentifizierung und Retrogarde zum panoptischen Theater der gelehrigen Körper. Laibach und das Kosmokinetische Kabinett Noordung (Neue Slowenische Kunst) 1980–2045
Body: recognizable/unrecognizable. Über das Stück Körper von Sasha Waltz
Die Performanz der schweigenden Masse. Zur Kollektivität der Zuschauenden in Theatersituationen
Über die Fusionen einer wandelbaren Spezies und vom Zusammenhalt unter Cyborgs. Star Trek und die Modellbox Fernsehen
Selbst-Interview am 27.11.2000
Mikropolitik des Kollektiven: Paarbildung
Liebesdreiecke. Die »ménage à trois« zwischen Selbstmord und Kollektiv
Das Unbewußte des Kollektivs und seine Physis. Zum Bild des kulturellen Körpers in Walter Benjamins Passagen-Werk
Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie
Sterbliche Götter. Inmitten der Zeit
Der Kollektivkörper und seine Säfte
Autorinnen und Autoren

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Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung

... Masse und Medium herausgegeben von Friedrich Balke, Gregor Schwering und Urs Stäheli

16.09.02 --- Projekt: transcript.masse und medium.kollektivkörper / Dokument: FAX ID 00b1763012730|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 763012770

M a s s e u n d M e d i u m untersucht Techniken und Macht des Diskurses, seine Funktionseinheiten, Flüchtigkeiten und Möglichkeiten zu seiner Unterbrechung. Damit geht M a s s e u n d M e d i u m von einer eigentümlichen Brisanz des Massen- und Medienbegriffs aus. Denn keineswegs markieren die Massenmedien ein einheitlich integratives und symmetrisches Konzept, sie sind vielmehr auf eine Differenz verwiesen, mit der das eine im jeweils anderen auf z. T. unberechenbare Weise wiederkehrt: Weder ist die Masse in jeder Hinsicht auf Medien angewiesen noch gelingt es den Medien, die Masse allumfassend zu adressieren. Statt dessen zeigt eine Differenzierung zwischen Massen und Medien, daß es sich dabei um beidseitig fragwürdige Konzepte handelt, die gerade auch in ihrer gegenseitigen Zuwendung problematisch und daher zu problematisieren sind. In dieser Hinsicht wird die im Logo der Reihe vorgenommene Auftrennung des Kompositums zu ihrem Einsatz. Zugleich weist der hier und in Zukunft zur Diskussion gestellte Massen- und Medienbegriff auf die Unmöglichkeit eines (bestimmten) Empfängers, auf eine oszillierende Menge als immer auch konstitutive Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation. Für M a s s e u n d M e d i u m steht damit weder ein Programm der Einheit noch eines der Differenz zur Debatte. Dagegen wäre ein Brennpunkt zu fokussieren, in dem beide Felder in merkwürdiger Solidarität längst schon und wiederholt auseinanderdriften und zusammenwachsen. Somit benennt M a s s e u n d M e d i u m Medialität und ›Massivität‹ als Grenzbegriffe des Sozialen und thematisiert darin ebenso jene Punkte, mit denen das Soziale in seiner Fragilität auf dem Spiel steht, indem es sich für politische ReArtikulationen öffnet.

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Sylvia Sasse und Stefanie Wenner (Hg.) Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung

... Masse und Medium 2

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) T00_03 innentitel.p 763012850

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2002 transcript Verlag, Bielefeld Umschlag und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld (Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Entwurfs von Jan Hülpüsch) Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: DIP, Witten ISBN 3-89942-109-4

Inhalt Vorwort

Sylvia Sasse, Stefanie Wenner 9 The Deleuzian Sex Game

Christine de Smedt, Mårten Spångberg 21 Vom Jubel zur Halluzination: postsowjetische Kollektivkörper

Michail Ryklin 25 Geschichte und Nichtgeschichte des Körpers

Thomas Hauschild 39 Körper im Kulturkontakt. Räume des Kollektiven bei Lygia Clark und Hélio Oiticica

Inge Baxmann 59 Shared Movements und der Glaube an die ›schwarze Kultur‹. Zur Ethnographie einer Cultural Performance im Schnittpunkt von Popkultur und Sport

Robert Schmidt 85

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Das erlösende Potential kollektiver Gewalt

Slavoj Zˇizˇek 103 Ideale Unfreiheit. Regisseure und Regeln (in) der Kunst

Sylvia Sasse 119 Kollektiv in der Schwerelosigkeit. Von Überidentifizierung und Retrogarde zum panoptischen Theater der gelehrigen Körper. Laibach und das Kosmokinetische Kabinett Noordung (Neue Slowenische Kunst) 1980–2045

Inke Arns 139 Body: recognizable/unrecognizable. Über das Stück Körper von Sasha Waltz

Judith Butler 165 Die Performanz der schweigenden Masse. Zur Kollektivität der Zuschauenden in Theatersituationen

Claudia Benthien 169 Über die Fusionen einer wandelbaren Spezies und vom Zusammenhalt unter Cyborgs. Star Trek und die Modellbox Fernsehen

Stephan May 189 Selbst-Interview am 27.11.2000

Xavier Le Roy 209 Mikropolitik des Kollektiven: Paarbildung

Stefanie Wenner 221

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7) T00_05 inhalt.p 763012890

Liebesdreiecke. Die »ménage à trois« zwischen Selbstmord und Kollektiv

Schamma Schahadat 237 Das Unbewußte des Kollektivs und seine Physis. Zum Bild des kulturellen Körpers in Walter Benjamins Passagen-Werk

Cornelia Zumbusch 263 Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie

Ethel Matala de Mazza, Joseph Vogl 285 Sterbliche Götter. Inmitten der Zeit

Dietmar Kamper 299 Der Kollektivkörper und seine Säfte

Christina von Braun 301 Autorinnen und Autoren 317

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VORWORT

Vorwort Sylvia Sasse, Stefanie Wenner

Ob in Kollektiven, Massen, Meuten, Gruppen oder Paaren – der/die einzelne bewegt sich ständig geordnet oder ungeordnet, bewußt oder unbewußt in Gemeinschaften. Einige konzipieren sich als imaginäre Körper, andere versuchen, den einzelnen über körperliches Erleben in einer Gemeinschaft zu binden oder den Körper selbst wie einen Staat zu organisieren. Die Verbindungen zwischen Körperlichkeit und Gemeinschaftlichkeit haben eine lange Tradition: Schon in der Antike gehörten Analogien zwischen dem menschlichen Körper – seinem Organismus, seiner Gesundheit, seinem Bauch und seinen Gliedern – und sozialen, staatlichen Formationen zur Soziallehre. Über Apostel Paulus schließlich wird die Organismus-Metapher im Bild der christlichen Gemeinde im »Leib Christi« verdeutlicht und hat als solche eine lange Karriere. Umgekehrt tauchen in der Biologie spätestens seit Virchow Begriffe wie Zellenrepublik auf oder es wird mit Bildern operiert, die den Kampf der Körperteile mit dem Wetteifer des Staatsbürgers vergleichen. Neben diesen symbolischen und metaphorischen Versuchen, Körper und Gemeinschaft zu verbinden, ist der Körper immer auch Teil einer sozialen Performanz, die ihn durch Rituale, Regeln, Organisationsformen zugleich an einen symbolischen Träger bindet und in bezug zu anderen in der Gemeinschaft setzt. Diese vertikalen und horizontalen Prozesse, Praktiken und Techniken, den einzelnen jenseits der Anthropomorphisierung des Sozialen und der biologistischen Verwendung gesellschaftlicher Prozesse in einen permanenten bezug zu und zum anderen zu setzen, stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Uns interessieren die Beziehungstechniken von Kollektivkörpern, Gemeinschaftskörpern oder von Körperschaften im Spannungsfeld von Theorie und Aufführung sowie von Repräsentation und Präsenz. In der Korrelation von individuellem Körper und sozialen Gemeinschaftskörpern wird so die Frage verhandelt, ob Gemeinschaften einen Körper bilden können oder nur versuchen, über die Analogien zwischen sozialer Organisationsform und organisch oder or-

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SYLVIA SASSE, STEFANIE WENNER

ganlos funktionierendem Körper den Anschein eines lebendigen Körpers zu erwecken bzw. sich einen solchen Körper einzubilden. Mit der ›Politik der Verbindung‹ und der ›Kunst des Zusammenhangs‹ sollen zwei Bewegungen angedeutet werden, die das Gefüge von bzw. vom einzelnen als Körperschaft oder als Kollektivkörper hervorbringt. Die Verbindungsfiguren und -prozesse sind dabei setzende, intentionale und verbindende Verfahren und zugleich beweglich, lose, fiktiv und veränderbar. Das läßt die Prozesse der Verbindung zugleich an einer Politik der Setzung und Entscheidung und an der Potentialität, Möglichkeit und Sinndispersion der durch die Fiktionalität bedingten Verfahren teilhaben. Der Prozeß der Verbindung, die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat, von Realem, Imaginärem und Symbolischem, von Leib und Seele, von Körper und Körper eröffnet einen Zwischenraum – ein Feld der Verhandlung und einen Schauplatz ständiger Neuverknüpfung. Dabei geht es in unserer Auseinandersetzung weniger darum, die Verbindungen als solche zu unterbrechen, sondern der kulturellen und politischen Verbindungstätigkeit auf die Spur zu kommen. Man solle, so Deleuze und Guattari, wenn sie von der Schizoanalyse sprechen, die Elemente so miteinander in Verbindung setzen, daß ihnen jedes logische, nützliche und natürliche Band fehlt. ›Falsche‹, unsinnige, tautologische, paradoxe Verbindungen geben so auch immer Auskunft über die Verbindungspolitik im Zeichen, im Diskurs, im Kollektiv oder im Paar – sie lassen die Politik der Verbindung zu einer Kunst des Zusammenhangs werden, die Verbindung zum Gegenstand ihrer künstlerischen Untersuchung macht. Was hält ein Paar zusammen oder eine Gruppe, eine Meute, eine Menge – sind es die Medien, Säfte, Gesetze, Schuld oder einfach geteilte Räume? Wird die Verbindung in Ritualen hergestellt, ist sie zugleich Teil einer soziophysiologischen und soziopsychologischen Erfahrung? Wie läßt sich die Kopplung von sozialem und politischen Interesse, von Ästhetik, Politik und Körperlichkeit beschreiben? Wie geht die Übersetzung symbolischer Ordnungs- und Verbindungsverfahren in körperliche Erfahrung bzw. als Verkörperung und Aufführung einer Idee vonstatten? Zu fragen ist also, von welchen Beziehungstechniken der Annäherung, der Distanzierung, der Verbindung oder Auflösung in theoretischen Konzepten die Rede ist und wie Beziehungen in cultural performances hergestellt werden. Und mit dem Blick auf die ästhetischen und textuellen Verfahren ist zu explizieren, mit welchen Beziehungstechniken – Narrationen, Intertextualismen – theoretische Texte arbeiten und welche anthropologischen Konzepte diesen zu Grunde liegen. Mit diesen Fragen im Hintergrund stellen wir die Verbindungsprozeduren und ihre imaginäre, symbolische oder fiktive Verkettung in den Mittelpunkt. Ohne hinter die Dekonstruktion der Subjekt-Objekt-Dichotomie oder der Verbindungslogiken zurück-

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VORWORT

fallen zu wollen, suchen wir nach dem Potential von Differenz, die durch und in Verbindung entsteht. Im Kontext dieser Überlegungen werden nicht nur Theorien zur Masse (Freud, Canetti, Kracauer, Benjamin), des Staates (Platon, Hobbes), der Meute, des organlosen Körpers (Deleuze/Guattari), der Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty), der Performativität und Materialisierung von Norm (Butler) diskutiert, sondern auch die Begrifflichkeit – die Inbesitznahme des Körpers – generell in Frage gestellt. Im Unterschied zur Masse oder zur Meute ist hier zunächst von Kollektivkörpern die Rede, um die Beziehungen der Teile im bzw. als Körper und zwischen den ›Körpern‹ in den Mittelpunkt zu stellen. Die Spezifik des Kollektivkörpers im Unterschied zur Masse oder Meute (Canetti, Deleuze) ist vor allem in der Korrelation von Ordnung und Transgression, von Regelhaftigkeit und -verstoß, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Zusammenhalts begründet. Es scheint im Kollektivkörper verdoppelt, was die Frage nach dem Körper selbst schon offen läßt: das Ineinander von gemeinschaftlich imaginärer und symbolischer Figurierung und körperlicher Teilhabe im Konflikt von Abgrenzung, Verbindung, Regulierung oder Exotopie. Die Inszenierungen von Kollektivkörpern verlaufen deshalb im wesentlichen über Prozesse und Praktiken in der Korrelation von Teil und Ganzem, von Innen und Außen. Sowohl Zeichen und Bilder von gesellschaftlichen Selbstentwürfen als auch Artikulationen des einzelnen, symbolischen Körpers sind hierfür virulent. Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die auf der interdisziplinären Konferenz Kollektivkörper. Theorie und Performance im Juni 2001 an der Schaubühne Lehniner Platz in Berlin gehalten wurden. Mit der Konferenz hatten wir es uns zum Konzept gemacht, die oben beschriebene Verschränkung von theoretischer und künstlerischer Arbeit und Aufführung zueinander in bezug zu setzen. Es sollte damit zweierlei erreicht werden: Einerseits sollte Theorie selbst als eine Praxis verstanden und die Aufführung von Wissen als Sinnbildungsprozeß berücksichtigt werden. Andererseits ging es um das Wissen, das die Künste, die Literatur, das Theater oder die Performance enthalten und um ästhetische Verfahren, die politisch und gesellschaftlich funktionalisiert worden sind. Die künstlerischen Arbeiten bezogen sich auf ganz unterschiedliche Komplexe der Gemeinschaftsbildung. So stellte beispielsweise die Arbeit der belgischen Choreographin Christine de Smedt 9x9 die Frage nach Mustern, Rastern und Regeln in bezug zur individuellen Ausführung in den Mittelpunkt ihres künstlerischen Experiments. Einundachtzig gecastete Performer bewegten sich auf der Bühne nach Anweisungen, in denen ihre individuellen Vorlieben, Merkmale und Wünsche eigenwillige Gruppierungen hervor-

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brachten. Mit 9x9 führte Christine de Smedt Choreographie als Kunst der Organisation und Tanz als einstudierte Bewegung mit Massenphänomenen zusammen, die nach diesen ästhetischen Prinzipien funktionieren. Abbildung 1: Christine de Smedt: 9x9

Quelle: Privatarchiv Mårten Spångberg

An der Beziehung zwischen Performance und Zuschauen bzw. Teilnehmen arbeiteten gleich drei unterschiedliche Produktionen. Während Uli Ertl und Rut Waldeyer in ihrer Arbeit Primärenergie in wissenschaftlicher Rhetorik ihre Forschungsergebnisse zur Energieerhaltung in Massen präsentierten, involvierten sie das Publikum in ihr Experiment. Sie brachten die Zuschauer auf der Konferenz zum kollektiven Hecheln, das nicht nur die einzelnen Körper, sondern auch den gesamten Raum der Schaubühne erhitzen sollte. Wie sinnlos und rein künstlerisch die Teilnahme an diesem Experiment war, wurde erst deutlich, als die Messung keinerlei Temperaturerhöhung ergab. Teil eines Experiments zu sein oder eines Kunstwerks, dieses nur zu betrachten oder gerade als Betrachter Teil zu werden, stand auch im Mittelpunkt anderer Performances. Gerade auf die Passivität und Distanz des Publikums zielte die Aktion von Kattrin Deufert und Beate Maurer sowie die der russischen Künstlergruppe Kollektive Aktionen. Sie ließen die Zuschauer zu einer passiven Hör- und Sehgemeinschaft werden. Doch dabei stellte sich heraus, daß gerade das Warten, die Erwartung oder die ›Vereinnahmung‹ als Unbeteiligte und Zuse12

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VORWORT

hende zum Angelpunkt einer Teilnahme und eines Zusammenhalts durch Passivität wurde. Die Kollektiven Aktionen aus Moskau gehen diesen Phänomenen des Zuschauen-Teilnehmens und Wartens auf Ereignisse, des Zusammenspiels von kollektiven Absichten und individuellen Situationen seit 1976 in ihren Arbeiten an den Stadträndern von Moskau nach. Ihre Aktionen, die zunächst inoffiziell waren, haben deutlich werden lassen, wie es ist, Teil eines Konzepts zu sein und dieses zugleich als Befreiung und Einschränkung zu erfahren. Mit der fRAge da oben im käFig, die Deufert und Maurer anhand von zwischen 1973-77 geschriebenen Briefen der RAF-Mitglieder aus dem Gefängnis stellten, wurde eine Spannung von Isoliertheit und gleichzeitiger Ankettung an eine Idee auf den Punkt gebracht. Die Bedeutung des Kollektivs für die Terror-Bewegung setzten beide in ihrer ›teilnahmslosen‹ Lesung der Briefe in bezug zum ›GroßKäfig Welt‹, von dem jede Einzelzelle umgeben scheint. Konkrete Verbindungsarbeiten und -analysen leisteten vor allem Paul Gazolla in seiner Performance Handshake – Shaking hands und SaAbbildung 2: Kollektive Aktionen (Kollektivnye dejstvija): 625-520 (Erster Teil der Aktion am Moskauer Stadtrand).

Quelle: Privatarchiv Andrej Monastyrskij

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muel Zachs Leib-Speisung. Paul Gazollas Händeschütteln verdeutlichte ironisch einen alltäglichen physischen Kontakt und dessen pseudokommunikative und symbolische Funktion, wenn diese nicht mehr automatisch geschieht, sondern dekontextualisiert ihre Symbolik und Funktion erst herstellt und veränderbar macht. Die Möglichkeit, die Verschränkung von Theorie und Performance in diesen Band zu übersetzen, ist begrenzt. Wir haben uns entschieden, zwei künstlerische Beiträge aufzunehmen, deren Textualität Teil der Performance war. Die ›wissenschaftlichen‹ Beiträge stammen aus verschiedenen Disziplinen – u. a. aus der Ethnologie, Literaturwissenschaft, Soziologie, Philosophie, Anthropologie und Kunstwissenschaft. Das Buch beginnt mit einer Übung – dem sogenannten Deleuzian Sex Game von Christine de Smedt und Mårten Spångberg. Das Deleuze-Spiel ist eine Versuchsanordnung, die eine Transformation einzelner Personen in eine Masse bezweckt. Die Spannung besteht darin, durch Anweisungen und Regeln in Zonen zu gelangen, die jedem einzelnen Teilnehmer dieses Spiels einen Freiraum ermöglichen – eine Zone unbestimmten Handelns in einem Planquadrat. So entstand eine organisierte Masse mit individuellen Zonen und Füllungen und ein Zwischenraum der Verhandlungen zwischen Regie und Freiheit, Freund und Feind sowie Körper und Kontext. Mit dem nächsten Beitrag des russischen Philosophen Michail Ryklin beginnt die theoretische Diskussion um den Kollektivkörper. Ryklin setzt bei den Jubelszenarien der frühen sowjetischen Gesellschaft an. Er beschreibt den Jubel nicht als Ausdruck von Freude, sondern als Effekt und besonders extreme Erscheinungsform der Angst, deren Träger nicht im »Besitz ihrer Gesichtsmuskeln« waren. Vom kollektiven Jubel zu privaten Halluzinogenen war es deshalb, wie Ryklin ausführt, nur ein kleiner Schritt. Während der Jubel für ein traditionelles Mittel stand, eine Gemeinschaft zu produzieren, sind es die Halluzinogene, die schließlich dem einzelnen eine Gemeinschaft einzubilden helfen. Ryklin untersucht die Halluzinationen des postsowjetischen Kollektivs an unterschiedlichster Drogen-Literatur, die seit den 1990er Jahren in Rußland publiziert wurde. Aus der Perspektive ethnologischer, soziologischer und künstlerischer Feldforschung beschäftigen sich Thomas Hauschild, Robert Schmidt und Inge Baxmann mit den Praktiken und Techniken transkultureller Prozesse. Der Ethnologe Thomas Hauschild berichtet von einer Feldforschung im südlichen Italien. Er macht sich für die Pendelbewegung zwischen storia und non-storia stark. In magischen Praktiken, die in ganz Italien – vorwiegend aber im Süden – bis heute eine große Bedeutung haben, wird kollektiv diese Pendelbewegung verfolgt. Gemeinschaft bildet sich durch die gemeinsame und geleitete Überschreitung der Grenzen von Ge-

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VORWORT

schichte. Der nicht-geschichtliche, übersinnliche Raum wird für den geschichtlichen auf diese Weise zur Produktivkraft. Wie sich das geopolitische Imaginäre des modernen Nationalstaates zugunsten einer neuen kulturellen Kartographie der Zwischenräume auflöst, untersucht Inge Baxmann anhand der Arbeiten der brasilianischen Künstler Lygia Clark und Hélio Oiticica. Beide stellten schon in den 1960er und 70er Jahren aus der Perspektive Lateinamerikas die Frage nach den Räumen des Kollektiven und griffen in ihren Performances zu ungewöhnlichen Mitteln, diese Heterotopien herauszuarbeiten. Inge Baxman beschreibt die Verfahren beider Künstler als eine »Ankörperung«, bei der durch körperliche Aneignung und Inkorporation ein neuer Raum der transnationalen Gemeinschaft gebildet wird, und setzt deren Verfahren in bezug zur ›Kulturanthropophagie‹, die die Anthropophagie zur Schlüsselmetapher für ein neues Verhältnis zur europäischen Kultur machte. Robert Schmidt hat in teilnehmender Beobachtung eine Cultural Performance am Schnittpunkt von Pop- und Sportkultur analysiert. Die These ist, daß Performativität das tertium comparationis der beiden zunehmend konvergierenden Kulturen darstellt. In seiner Analyse zeigt sich eine Kollektiverfahrung, die durch den von ihm so benannten »Glauben an die schwarze Kultur« phantasmatisch hergestellt wird. Diese ›schwarze Kultur‹ entsteht aus einem Set von Praktiken, die nicht aus den Herkunftsländern stammen, sondern vielmehr erst in Berlin erlernt werden müssen. Die ›schwarze Kultur‹ erweist sich so als hochgradig artifizielle und keinesfalls ›ursprüngliche‹ Praxis, die gleichwohl dazu in der Lage ist, hier Gemeinschaft zu stiften. Die nächsten drei Beiträge befassen sich mit den paradoxen und widersprüchlichen Freiräumen in kollektiven Prozessen. In Slavoj Zˇizˇeks Text steht das erlösende Potential kollektiver Gewalt im Mittelpunkt. In seiner Analyse von David Finchers Film Fight Club zeigt er, wie »Sich-selbstSchlagen« eine subversive Strategie sein kann, wird doch der Meister bei der Selbstterrorisierung überflüssig und die Verbindung zu ihm, die fiktive Verkettung zum Symbolischen, herausgeprügelt. Mit Lacan plädiert Zˇizˇek für eine Revision der Annahme, revolutionäre Umwälzungen dienten der Herbeiführung eines größeren Spielraums des Genießens. Vielmehr ist der Weg das Ziel, der Ausnahmezustand und Exzeß selbst ist der angestrebte Zustand, den es wiederholend herzustellen gilt. Drei künstlerische Konzepte, die sich mit »idealer Unfreiheit« bzw. einem Paradoxon der Freiheit auseinandersetzen, stehen im Mittelpunkt von Sylvia Sasses Text. Es handelt sich um Vsevolod Mejerchol’ds Biomechanik, um die von Lev Nusberg und Dvizˇenie (Bewegung) Mitte der

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SYLVIA SASSE, STEFANIE WENNER

1960er Jahre entwickelte Biokinetik und Oleg Kuliks ›Hündigkeit‹ und seinen damit verbundenen ›Bioterror‹. Im Zentrum steht die Frage, wie sich Regie und Improvisation, Konditionierung und Freiheit, Automatisierung und Deautomatisierung zueinander verhalten, wenn der Regisseur zum Wissenschaftler und das Publikum zum Experimentierfeld wird. Ein weiteres künstlerisches Experiment, Kollektivität herzustellen und dabei gleichzeitig deren Mechanismen zu untersuchen, stellt Inke Arns mit ihrem Text vor. Sie analysiert die Strategien des 1984 in Ljubljana gegründeten Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK), der Musikgruppe Laibach (*1980) und der Tanz- und Performancegruppe Kosmokinetisches Kabinett Noordung. Im Kontext von Slavoj Zˇizˇeks Thesen zur Überidentifizierung und der damit verbundenen Möglichkeit von Subversion zeigt Inke Arns, wie die Performer die Traumata ästhetischer Affizierung durch totalitäre Ideologien physisch und vor allem psychisch nachvollziehbar machten. Da Judith Butler nicht wie ursprünglich geplant an der Konferenz teilnehmen konnte, stellte sie uns einen Beitrag für diesen Band zur Verfügung, der aus einem öffentlichen Gespräch an der Schaubühne am Lehniner Platz zwischen der Choreographin Sasha Waltz und ihr selbst hervorgegangen ist. Butler bezieht sich darin vor allem auf die Produktion Körper von Sasha Waltz und stellt allgemeiner fest, daß in der Choreographie Körper genau jene Themen verhandelt werden, die sie theoretisch ausgearbeitet hat. Insbesondere fokussiert sie das Verhältnis von Körper und Sprache, Bewegung und Benennung: Während wir körperlich einzeln sind, sind wir gemeinsam in der Sprache. Sprachlich erwerben wir uns einen Körper, gelangen wir zu einem kulturellen Verständnis kollektiver Körperlichkeit. Auch Claudia Benthien nimmt eine Produktion von Sasha Waltz, S, als ein Beispiel für ihre Thesen. Aus theaterhistorischer Perspektive zeigt sie, wie das Publikum, das einer ›Beruhigung‹ und damit verbundenen passiven Rezeption unterzogen wurde, immer mehr zu einem aktiven Rezeptionskörper gemacht wird. Ausgehend von der Frage, was die Kollektivität der Zuschauenden in Theatersituationen entstehen läßt und was sie zerstört, entwickelt Benthien die These, daß es insbesondere akustische Elemente sind, die Kollektivität und ihr Gegenteil – die Erfahrung von Isolation und Vereinzelung – wahrnehmbar machen. Anhand der Tanzproduktion S von Sasha Waltz, der Sprechtheater-Aufführung von Horváths Kasimir und Karoline (inszeniert von Christoph Marthaler) und der Performance Rhythm 0 von Marina Abramovic´ zeigt Benthien, wie die Künstler die Passivität der Zuschauer zum Konzept ihrer Aufführung machen. Die Phantasmen des Kollektiven aus der Perspektive der amerikanischen Science-fiction-Serie Star-Trek nimmt Stephan May aus filmwis16

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VORWORT

senschaftlicher Perspektive in den Blick. Während die Föderation auf dem Prinzip der Vielfältigkeit und Individualität beharrt, sind die expliziten Feinde der Staatengemeinschaft ungewöhnliche Kollektivkörper: Cyborgs, die über ein Netzwerk zu einem Kollektivbewußtsein miteinander verbunden sind und die sogenannten Gründer, auch Formwandler, deren flüssige Masse gelegentlich zu einem Körpersee verschwimmt. Mays These ist, daß in Star Trek die Vorstellung des Verhältnisses von Gemeinschaft und Individuum mit großen Buchstaben in die Gewissensinstanzen des Universums eingeschrieben ist. Xavier Le Roys Beitrag ist aus künstlerischer Perspektive gewissermaßen die Notation einer Choreographie, die er im Rahmen der Kollektiv-Körper-Konferenz an der Schaubühne am Lehniner Platz aufführte. Der Tänzer und Choreograph befragt sich selbst zu seiner Arbeit E.X.T.E.N.S.I.O.N.S., die Prozesse der Verbindung einzelner Körper im Medium des Spiels für eine Choreographie zu nutzen suchte. Das SelbstInterview, das zugleich ein Dialog unterschiedlicher Stimmen der Körperphilosophie ist, offenbart die Schwierigkeit eines Versuchs der Aufgabe künstlerischer Autorschaft im kollektiven Schaffensprozeß. Nicht die großen Massen und deren Verbindungslinien fokussiert Stefanie Wenner. Vielmehr behandelt sie den Zwischenraum zwischen zweien, die eine Minimalmeute bilden. Die Mikropolitik des gesellschaftlichen Kollektivkörpers vollzieht sich im menschlichen Paar, das Disziplinierung und Regulierung unterworfen ist. Der Beitrag untersucht entlang der Performance 11th hour von Davis Freeman verschiedene Techniken der Verbindungsaufnahmen zwischen zwei Individuen. Im Zentrum steht die Frage nach der Möglichkeit, in der Kollektivierung frei zu werden. Die ›Einführung des Dritten‹ in die Beziehungstechniken des Paares behandelt Schamma Schahadat in ihrem Beitrag zur russischen Literatur und Lebenskunst der Romantik, des Symbolismus und der Avantgarde. Mit ihrer These, der Dritte fungiere als Rivale oder als Mediator zwischen den Teilen, entwickelt sie eine Typologie des Liebesdreiecks, das mit dem Dritten als Mittler entweder zur Verschwendung der Leidenschaften oder zu einer Ökonomie derselben führt. In beiden Fällen nimmt die Figur des Dritten eine Schlüsselposition ein, die bestimmt, welche Form der »Austausch der Passionen und der Worte« annimmt. Auf die Verbindung von politischer Philosophie und Anthropologie gehen die folgenden Texte ein. Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl zeichnen in ihrem Beitrag die Grenzverläufe zwischen Menschen und Menschen, zwischen Bürgern und verworfenen Subjekten nach. Sie verfolgen die Konstruktionen des politischen Tieres, als das sich der Mensch seit der Antike imaginierte, bis hin zur modernen Staatstheorie, wo der Mensch zum Wolf unter seinesgleichen erklärt wurde. Der Text befaßt sich mit den Metamorphosen, die die zoopolitischen Metaphern überdek17

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SYLVIA SASSE, STEFANIE WENNER

ken: mit Mischwesen und Mannigfaltigkeiten – Monstern, Despoten, Meuten und Herden. Über die Physis des kollektiven Unbewußten bei Walter Benjamin schreibt Cornelia Zumbusch. Benjamin entwickelt im Passagenwerk eine Physiognomik des kollektiven Unbewußten, ohne allerdings ein Bild des lebendigen Kollektivkörpers zu entwerfen. An die Stelle des Organismus tritt die Stadt als abgestorbene Schale und Hohlform der selbst gesichtslosen Masse. Durch die Strategie des Flanierens kann eine Aneignung gelingen. Dietmar Kamper hat seine Thesen zu »sterblichen Göttern« nicht mehr in eine Vortragsform bringen können. In einem Brief schrieb er über den Zusammenhang von Christus und Fiskus, den er mit einem Bild der Gebrüder van Eyck, Das Lamm Gottes, hätte illustrieren wollen. Dazu ist er leider nicht mehr gekommen. In unserem Band steht sein Fragment gebliebener Text, der die Verbindung zwischen gesellschaftlichem und christlichem Großkörper der Einbildungskraft zusammenfaßt. Von der Analogie von individuellem und sozialem Körper ausgehend entwickelt Christina von Braun in ihrem Beitrag Der Kollektivkörper und seine Säfte eine Darstellung unterschiedlicher Verlebendigungsstrategien des Gesellschaftskörpers. Als produktiv erweist sich insbesondere die Einbildungskraft, die aus metaphorischen Verbindungen reale werden läßt. Den Prozeß der Substitution verfolgt von Braun bis hin zur postindustriellen Gesellschaft entlang der Achsen Staat, Nation und Religion. Schlußendlich erscheint das Alphabet und mit ihm die Schrift als wichtigster Saft des Kollektivkörpers, das Zirkulieren der Buchstaben als Verlebendigung seiner Säfte. Die Herausgeberinnen möchten sich abschließend bedanken bei jenen, die die Konferenz ermöglicht und unterstützt haben und durch ihre Hilfe die Drucklegung der Beiträge beförderten. Finanzielle Unterstützung für die Konferenz erhielten wir von der DFG und Bioland. Der Körber-Stiftung danken wir für ihren Beitrag zur Drucklegung des Bandes. Frau Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte möchten wir für ihr Vertrauen in unsere konzeptionelle Arbeit und ihre Diskussionsbereitschaft im Vorfeld der Konferenz sehr herzlich danken. Der Schaubühne am Lehniner Platz, allen voran Jochen Sandig, danken wir dafür, uns das Haus geöffnet zu haben; wir danken ihm besonders für seinen unermüdlichen Einsatz, künstlerische Projekte realisiert zu haben, die zunächst unrealisierbar schienen. Für den Plakatentwurf, der auch bei der Umschlaggestaltung dieses Buches als Vorlage diente, bedanken wir uns bei Jan Hülpüsch. Bei der Drucklegung des Bandes unterstützte uns im Vorfeld vor allem Ann-Sophie Briem, mit deren Hilfe die Beiträge korrigiert wurden. Unser Dank gilt auch Solveig Kamper und Birke Meersmann für die Auf18

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VORWORT

findung und Überlassung der Thesen von Dietmar Kamper, die er für die Konferenz vorgesehen hatte, aus gesundheitlichen Gründen aber nicht mehr vortragen konnte. Dem transcript Verlag danken wir für die produktive und angenehme Zusammenarbeit und die Unterstützung bei der Korrektur des Manuskripts.

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THE DELEUZIAN SEX GAME

The Deleuzian Sex Game Christine de Smedt, Mårten Spångberg

Choreographische Spiel-Struktur Die diesem choreographischen Spiel zugrunde liegende Strategie läßt sich als Einführung einer choreographischen Komplexität mit außergewöhnlich simplen Mitteln beschreiben. Auf einer repräsentativen Ebene aktiviert die Struktur eine Transformation der einzelnen Personen des Performers in eine Masse – Masse verstanden als einen Körper. Das Spiel gestattet es den einzelnen Teilnehmern, sich auf ihre persönliche Art und Weise zu bewegen, ohne vorgegebene Bezüge zu den Konventionen des Tanzes. Es initiiert einen choreographischen Modus, der von einem großen Spektrum von Körpern eingenommen werden kann, die genau so funktionieren, wie sie es wünschen. Zudem ist der Teilnehmer/die Teilnehmerin durch das Treffen von persönlichen Entscheidungen selbst für den Fluß und die Veränderungen verantwortlich. Von innen verstanden, als Erfahrung, steht es den Performern offen, ihre eigenen körperlichen Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen, und von außen, als Performance, werden sie einerseits eine konkrete Massen-Organisation bilden und andererseits Individualität und Identität als fortwährende Verhandlung zwischen Körper, Geist und Umgebung einbilden. Ebenso kann die Spiel-Struktur als eine Kritik der Tanzkomposition verstanden werden und einen grenzenlosen Fluß von Möglichkeiten für neue Formationen beinhalten. Diese Perspektive des Fließens – von Brüchen und Widerstand – kann auch als Allegorie einer menschlichen Interaktion verstanden werden, als ein Abbild der Gesellschaft. Und sie ist ebenso der Hinweis auf einen Unterschied zwischen gesellschaftlichem Tanzen und der Kunstform Tanz. Innerhalb eines vorgegebenen Regelsatzes (Spiel) können sich die Performer frei entscheiden (spielen). Im weiteren ist im Spiel kein festgelegtes Ziel vorgegeben, der Zweck liegt einzig und allein darin, bewußt zu spielen oder zu performen. 21

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CHRISTINE DE SMEDT, MÅRTEN SPÅNGBERG

Gruppe 1 und 2 Reagieren Sie auf die mündlichen Anweisungen. Es wird davon ausgegangen, daß ein Teilnehmer jede der Anweisungen ausführt, von Position 1 oder 2 aus und von der Hinterbühne zur Vorderbühne; er/sie kann sich jedoch dagegen entscheiden. Es wird davon ausgegangen, daß die Teilnehmer nach jeder Ausführung entlang der Bühnengrenzen auf Position 1 bzw. 2 zurückkehren. Ohne Bezug auf die Anweisungen zu nehmen, kann jeder Teilnehmer jede Art von Handlung ausführen, um danach innezuhalten und auf Position A bzw. B zu verweilen, bis er/sie von einem anderen Teilnehmer hochgehoben wird. Einmal hochgehoben, fangen beide Teilnehmer an zu ringen.

Wrestling-Bereich Die Teilnehmer können nur durch Aktionen in Gruppe 1 oder 2 in den Wrestling-Bereich gelangen – und zwar: auf persönlichen Wunsch und in Gesellschaft eines weiteren Teilnehmers. Es gibt vier Möglichkeiten für jeden Teilnehmer, den Wrestling-Bereich wieder zu verlassen. 1. Zusammen mit einem anderen Teilnehmer; beide Performer kehren zu Gruppe 1 oder 2 zurück und machen weiter. 2. Allein, aber dann nur, um zur ›Unterbrechung‹ von Position 1 oder 2 zu werden. 3. Indem sie das einzige Subjekt in dem Bereich sind. Der Teilnehmer wird dann automatisch zu einem freien Radikal. 4. Durch die persönliche Einschätzung, ein guter Wrestler zu sein. Dann existiert er weiter als freies Radikal.

Freie Radikale Es gibt zwei Arten für jeden Teilnehmer, ein freies Radikal zu werden (siehe oben). Wenn ein Teilnehmer sich in den Bereich der freien Radikale begibt, sollte er/sie ein persönliches Tanzsolo aufführen; maximal fünf Minuten in dem dafür vorgesehenen Bereich. Ein freies Radikal kann den Bereich jederzeit verlassen, vorausgesetzt in den Unterbrechungs-Bereichen befinden sich ein oder mehrere Teilnehmer, die befreit werden können. Danach können das freie Radikal und die befreiten Teilnehmer aus dem Unterbrechungs-Bereich zur Gruppe 1 oder 2 zurückkehren. 22

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THE DELEUZIAN SEX GAME

Unterbrechung Ein Teilnehmer kann nur zur ›Unterbrechung‹ werden, wenn er vorher den Wrestling-Bereich ohne Partner verlassen hat. Es wird davon ausgegangen, daß jeder Teilnehmer in der Unterbrechung verweilt, bis er/sie befreit wird. Ein Teilnehmer in der Unterbrechung kann freigelassen werden, indem: 1. er/sie durch ein freies Radikal befreit wird. Beide gehen dann zu Gruppe 1 oder 2. 2. er/sie durch ein Mitglied der Gruppe 1 oder 2 befreit wird, wobei sich beide Teilnehmer danach in die Sprung-Zone begeben.

Sprung-Zone Ein Teilnehmer kann in die Sprung-Zone gelangen, indem er entweder ein befreiter Teilnehmer der Unterbrechungs-Zone ist, oder indem er eine Person in Gruppe 1 oder 2 ist, die einen Teilnehmer aus einer Unterbrechungs-Zone befreit. Wenn diese Situation eintritt, begeben sich beide Teilnehmer umgehend auf direktem Wege in die Sprung-Zone. Die beiden Teilnehmer werden nur dann befreit, wenn ein anderes Paar die Sprung-Zone aus der gleichen Richtung betritt. Es sollen höchstens vier Teilnehmer gleichzeitig in der Sprung-Zone sein. Nach der Befreiung begeben sich beide Teilnehmer zu Gruppe 1 oder 2 und spielen weiter. Es wird davon ausgegangen, daß ein Teilnehmer in der SprungZone auf und ab springt, bis er befreit wird.

Paar-Korridor Der Paar-Korridor dient als Durchgang zwischen Gruppe 1 und 2. Jeweils zwei Teilnehmer können die Seiten wechseln, wenn sie als Paar reisen. Die Reise sollte krabbelnd durchgeführt werden.

Bewegungen Gruppe 1 A: Rennen B: Hindernisse C: Moonwalk D: Krabbeln

Gruppe 2 1: Gehen 2: Rollen 3: Rückwärts rutschen 4: 3 + 2 Schritte

5: Vorwärts springen 6: Anfang und ausruhen

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VOM JUBEL ZUR HALLUZINATION: POSTSOWJETISCHE KOLLEKTIVKÖRPER

Vom Jubel zur Halluzination: postsowjetische Kollektivkörper Michail Ryklin

Als André Gide 1936 in der UdSSR weilte, kam er aus dem Staunen nicht heraus: so viele jubelnde Gesichter umgaben ihn. Auch der Schriftsteller selbst hat dort nie so ansteckend und so oft gelacht, wie auf den Photographien, die ihn im Lande der kommunistischen Utopie zeigen. Die Jubelstimmung blieb für Gide ein Geheimnis. Denn es gab für sie keinen erkennbaren Anlaß: Die Menschen waren schlecht gekleidet, wußten nichts von der Welt draußen, waren in schlimmsten ideologischen Stereotypen gefangen, Homosexuelle wurden als Verbrecher verfolgt, der Stalinkult erreichte epische Dimensionen usw. Der Irrtum in der Logik Gides bestand darin, daß er den Jubel als Gegensatz zur Angst, als besonders deutliche Bekundung unmotivierter Freude dechiffrierte. In Wirklichkeit traf er auf eine besonders extreme Erscheinungsform des Grauens, entstanden unter den Bedingungen des Terrors. Ausgerechnet das Grauen sanktioniert etwas, das dem Glück ähnelt, läßt seine Imitation unausweichlich werden. Der Imperativ des Terrors lautet: »Jubele oder stirb«. Die Gesichtsmuskeln des sowjetischen Menschen waren politisch aufgeladen und gehörten nicht ihren Besitzern, sondern der Partei, die einen unerwünschten Gesichtsausdruck als Indiz für eine Abweichung von ihrer Generallinie selektierte. Im heutigen Moskau überwiegen dagegen düstere, besorgte Gesichter. Die Massenmedien wiederholen beständig, daß Rußland eine äußerst schwierige Periode durchlebe, daß viele frustriert und depressiv seien usw. Selbstverständlich bedeutet das nicht, daß die Lage im Land schlechter ist als zur Stalinzeit. Die Zentralmacht hat einfach die Kontrolle über den Gesichtsausdruck ihrer Bürger eingebüßt. Auf den Gesichtern läßt sich jetzt ablesen, was die Menschen wirklich empfinden, und nicht das, was ihnen zu empfinden vorgeschrieben wird. Aber wie düster auch immer das Spektrum der Gefühle scheinen mag, die sich auf den Gesichtern der 25

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heutigen Russen widerspiegeln, so haben diese Russen der Generation ihrer Großeltern deutlich etwas voraus: Ihre Gefühle zeigen sich frei, sie werden nicht von oben herab verordnet, wie es unter Stalin der Fall war. Die russische Literatur der letzten Jahre zeigt sich buchstäblich besessen von dem Thema »Halluzinationen, Drogen und artifizielles Paradies in allen möglichen Formen«. Schon Ende der 1980er Jahre begannen die Mitglieder der Gruppe Inspektion Medizinische Hermeneutik, Wörter wie »Psychedelik« und »Halluzinose« en masse zu verwenden.1 Im Rahmen ihrer künstlerischen Praxis fixierten diese Termini techniki eine Situation, in der es keine klare Trennung gab zwischen der vereinbarten Realität und allen möglichen potentiellen Welten, zwischen dem, was tatsächlich geschah, und dem, was erst geschehen kann. In Sorokins Stück Dostoevsky-trip wird die narkotische Metapher verwendet, um die klassische russische Literatur zu kritisieren, die als eine Art Halluzinogen vergeblich für sich in Anspruch nahm, die Welt zu verändern. Diese Kritik äußert Sorokin am Beispiel einer unfreiwilligen Darstellung der monumentalen Szene in der Wohnung Nastasja Filippovnas aus dem Roman Idiot durch eine Gruppe Drogenabhängiger.2 In Pelevins Romanen sind die Einnahme von halluzinogenen Stoffen und das Erleben von Zuständen des ›Überbewußtseins‹ ein Teil einer komplizierten quasibuddhistischen Predigt, das zugänglichste aller unvollkommenen Mittel zur Überwindung der Welt. Allmählich wurde die Anwendung der Halluzinose als Teil einer künstlerischen, literarischen oder religiösen Metapher durch eine banale Drogenliteratur verdrängt, die Rezepte für Stoffe verbreitete und die halluzinogene Erfahrung banal ästhetisierte, die auf ihren Konsum folgte. Die sowjetische Periode verlief (abgesehen von einer kurzen Kokainepisode in den 1920er Jahren) unter dem Wahrzeichen eines massiven Alkoholkonsums. Die Trinksucht war so weit verbreitet und trug vor allem so effektiv zur Entstehung von Kollektivkörpern der damals gefragten quasibäuerlich-brüderlichen Couleur bei, daß regelmäßig auftretende Versuche, die Alkoholauswüchse zu bekämpfen, im Sande versickerten. In den letzten 15 Jahren hat der Alkoholismus einen bedeutenden Teil seiner sozialen Wirksamkeit eingebüßt, er ist durch neue Halluzinogene verdrängt worden (Ephedrin, Pervitin, Haschisch, Heroin, Psylocibin u. a.). Waren die jubelnden Kollektivkörper Produkte und Träger des Terrors

1. Peppersˇtejn, Pavel. »Das Kabinett des Psychiaters. Apologie der Antidepressiva«. Via Regia, 48/49, Erfurt 1997, 47-52. 2. Sorokin, Vladimir. Dostoevsky-trip. Moskau 1997 (dt. Dostoevsky-Trip. Berlin 2001). 26

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zugleich, sind die Halluzinationen das Los der Kollektivkörper in der Epoche des Zerfalls eines terroristischen Staates.3 Jubel stand für eine traditionelle Methode, eine brüderliche Gemeinschaft zu reproduzieren, deren Fundament der Alkohol war (nur in seltenen Ausnahmefällen konnte ein nicht-trinkender Mensch eine Karriere in der Partei oder beim sowjetischen Militär machen). In der neuen Phase der russischen Modernisierung, die Mitte der 1980er Jahre mit einer Antialkoholkampagne einsetzte, hörten die Spirituosen, vor allem Wodka, auf, soziale Kompensation zu gewährleisten, obwohl die am wenigsten urbanisierten sozialen Schichten, die das kommunistische Elektorat bilden, an ihnen immer noch ›Gefallen‹ finden. Mit dem Alkoholismus wird kein sozialer Erfolg mehr assoziiert. Vergleicht man die westliche Drogenliteratur (Texte von de Quincy, Baudelaire, Huxley, Burroughs, Castaneda und vielen anderen4) mit postsowjetischen Texten analogen Inhalts, kann nicht unerwähnt bleiben, daß die postsowjetischen Autoren sich im höchsten Maße eines halluzinogenen Charakters der Gemeinschaft selbst bewußt sind, die in dieser Hinsicht der narkotischen Erfahrung im strengen Sinne dieses Wortes nicht nachsteht. Da die Realität von den russischen Autoren als nicht minder phantastisch und oft auch unwirklicher als die geträumten artifiziellen Welten empfunden wird, kann man diese Literatur als eine Literatur des Nichtwiederkehrens bezeichnen (wenn unter dem Wiederkehren etwas qualitativ Stabileres und Voraussagbareres als ein Traum oder Phantom verstanden wird). Während für die jubelnden Kollektivkörper der Tod des Individuums ein lediglich unbedeutendes Ereignis darstellt, wie Bachtin im Buch über Rabelais schrieb, streben die halluzinierenden postsowjetischen Kollektivkörper an, den Tod schon zu Lebzeiten zu verwirklichen. »Ein Junkie«, lesen wir im Roman Niederer Kunstflug (Nizsˇij pilotazˇ), »gewinnt während der Jahre des Fixens eine solch mächtige Erfahrung des InsGras-Beißens, daß der Übergang aus dem Zustand des Lebendig- in den des Totseins ihm nicht viel bedeutet. Auch im Jenseits wird er etwas finden, mit dem er sich einen Schuß setzen kann.«5 Eine halluzinierende Persönlichkeit besitzt alle Züge eines privatisierten Kollektivkörpers. Da jede dieser embryonalen Persönlichkeiten den Anspruch erhebt, in sich die ganze Welt zu reproduzieren und für das Andere einfach keinen Platz mehr hat, ist das Wort ›aushalten‹ im modernen Russischen höchst popu3. Zur Logik des Terrors vgl. Ryklin, Michail. Terrorologiki. Moskau 1992; ders. »Terrorologiken II«. Orte des Denkens. Neue Russische Philosophie. Hg. v. Arne Ackermann, Harry Raiser, Dirk Uffelmann. Wien 1995, 141-172. 4. Baudelaire, Charles. Les paradis artificiels. Paris 1990; Burroughs, William. Naked Lunch. New York 1992. 5. ˇSirjanov, Bajan. Nizsˇij pilotaˇz (Niederer Kunstflug). Moskau 2001, 196. 27

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lär. Man versucht weniger auszuhalten, als alle anderen aus der eigenen, vor kurzem privatisierten Welt herauszuhalten. So wird der bekannte Satz Sartres »Ich bin der Andere« zur buchstäblichen Wahrheit und erhält eine unheilverkündende Nuance: Ich kann meine Souveränität nur dann erhalten, wenn ich den Anderen verschlinge, eine Welt erschaffe, in der selbst die Idee eines Vertrages fehlt (von einer solchen Welt träumte schon der Marquis de Sade mit noch unmittelbarer Erinnerung an den Terror der Französischen Revolution). Der Jubel setzte eine vollständige Kontrolle der sozialen Gemeinschaft durch das repressive Wir voraus; die Strafe ging in der Regel dem Vergehen voran, sie war präventiv. Die Transformation dieser sozialen Verhältnisse in marktwirtschaftliche, die auf Vermittlung, einem Vertrag und einer entwickelten Individualität basieren, erwies sich als unmöglich. Aber genauso unmöglich lassen sie sich in ihrem ursprünglichen Zustand konservieren. Der Staat hat einen bedeutenden Teil seiner Verpflichtungen den Bürgern gegenüber abgelegt und wurde ihr größter privater Konkurrent, indem er das öffentliche Interesse privatisierte. Das Unvereinbare hat sich vorübergehend vereint, es entstand eine instabile Synthese zwischen der gewohnten Repression und einer Demokratie, die bislang eher einer Anarchie glich. In der Folge erschien alles als eine einzige Halluzination. Soziale Bindungen, die früher um die repressiven Institutionen mit der KPdSU an der Spitze angesiedelt waren, hatten sich abgenutzt, und an ihrer Stelle entstand nichts, was stabil und voraussagbar wäre. Die neuen Kollektivkörper sind extrem fragmentiert; ihre Bemühungen, die Repressivität der vorausgegangenen Periode zu reproduzieren, werden eher als Parodie rezipiert. Illusorisch erscheint die Realität der sozialen Institutionen selbst.

Die Erleuchtung des Präparats6 Die Halluzinose vor der Halluzinose, vor Drogenkonsum jeder Art kann man als Hauptfaktor des postsowjetischen Lebens bezeichnen. Beim Drogenkonsum tauchen die Menschen von einem Delirium ins nächste, und sie haben keinen Ort, an den sie zurückkehren können, denn im Grunde genommen gibt es keinen Ausweg für sie. Diese Situation wird von den schon erwähnten Autoren – Sorokin, Pelevin, Peppersˇtejn – permanent reproduziert. Zu Beginn der 1990er Jahre hatte ein neuer Held die Bühne der russischen Literatur betreten. Man kann ihn weder einen positiven noch 6. Dieser Abschnitt ist bereits erschienen in Lettre International, 1998, 41, 100. 28

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einen negativen Helden nennen; man kann ihm überhaupt keine irgendwie gearteten Eigenschaften zuschreiben, da er selbst die Fähigkeit besitzt, bei den Helden wechselnde Gefühle, ›Zustände‹ genannt, hervorzurufen. Die Bandbreite dieser ›Zustände‹ reicht von Euphorie bis Depression. Der neue Held steht in engem Zusammenhang mit der Welt der Computer – schon allein deshalb, weil beide virtuell sind – und mit verschiedenen Formen mystischer Erfahrungen – genauso wie diese den Anspruch erhebt, ein Mittel zu sein, das zur Erleuchtung führt. Gemeint ist, wie meine Leser längst erraten haben werden, ein halluzinogenes Präparat. In der anspruchsvolleren russischen Literatur der letzten Jahre tritt das Thema Drogen häufig im Verein mit den Themen Computer und Intellekt auf. Abwechselnd halluzinieren die Helden und sinnen darüber nach, wie (etwa bei Pelevin) die Erleuchtung zu erreichen sei oder wie (das ist der Fall bei Peppersˇtejn) wenigstens dauerhaft eine euphorische Stimmung erhalten werden könne. Im Dostoevsky-Trip von Vladimir Sorokin wird das Thema ›Literatur in Tablettenform‹ entfaltet. Worin besteht nun der Unterschied dieser neuen russischen Prosa zu den allseits bekannten westlichen Äquivalenten? Im Westen gehörte Literatur dieser Sparte entweder zum ›Bekenntnis‹-Genre (de Quincey, Baudelaire, Burroughs), wurde als Experiment maskiert (Huxley, MacKenna) oder verband beide Merkmale miteinander (Castaneda). In all diesen Fällen wurden die Vorbedingungen geschaffen für die Betrachtung dieser Erfahrung von außen und damit für das entsprechende moralische Urteil. Die Intensität des Halluzinierens hob sich diesem Muster zufolge von den normalen kreativen Fähigkeiten des Menschen ab; ja bisweilen – wie im Falle der Baudelaireschen Paradies artificiels – wurde sie diesen als in poetischer Hinsicht sterile gegenübergestellt. Anders gesagt: In den entsprechenden westlichen Texten behielt das Realitätsprinzip seine Priorität, und dem kontrollierten poetischen Traum wurde offen der Vorzug gegeben vor den unkontrollierbaren, aber außerordentlich intensiven Zuständen einer von Drogen hervorgerufenen Trance. Am deutlichsten sind alle drei Themen (Halluzinogene, Computer und ›Intellekt‹) im Werk Viktor Pelevins ausgearbeitet, der, anders als Sorokin, keine Verbindungen zur konzeptualistischen Tradition hat, beharrlich sein eigenes Genre schafft und sich dabei seinen ureigenen Leser heranzieht. Die seine Texte bevölkernden Wesen existieren rein vegetativ (derer gibt es viele in seinem Text Das Leben der Insekten [Zˇizn’ nasekomych]) oder aber sie streben danach, das ominöse große Rätsel zu lösen und sich in einem solchen Maße zu verändern, daß sie schließlich begreifen, daß der Sinn des Lebens in der Absenz von Sinn besteht und daß es auf keine Frage eine Antwort gibt.7 So entsteht ein oxymorales Genre: 7. Pelevin, Viktor. Das Leben der Insekten. Leipzig 1997. 29

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die esoterische Predigt. Der Autor wendet sich an die große Zahl seiner Leser mit etwas, das – der Tradition gemäß – zu wissen nur wenigen gebührt. Was die esoterischen Prediger angeht, so hält sich bis zuletzt ein Verdacht, der mit ihrer eigenen Teilhabe am Geheimnis zusammenhängt; denn zu den Voraussetzungen des Eingeweihtseins gehört notwendig das Schweigen. Pelevin begreift sehr wohl, daß der erleuchtete Mensch in einem tieferen Sinne ein toter ist und daß er es in keiner Weise nötig hat, anderen etwas zu beweisen. Gleichzeitig aber sind seine Texte ganz und gar agonaler Natur, sind voll von Streitigkeiten, Widersprüchen und Wider-Widersprüchen im Zusammenhang mit den zutiefst esoterischen Sujets. An diesem Punkt scheint der Einfluss Castanedas und der in seinem Dunstkreis entstandenen Literatur durch. Für die noch in jüngster Vergangenheit kollektivistische Kultur Rußlands ist das Halluzinieren dadurch gefährlich, daß es nicht marginalisiert werden kann; ist doch der innerste Kern des postsowjetischen Soziums nicht weniger wahnhaft, so daß es nicht um eine Rückkehr zum Realitätsprinzip gehen kann, zu einer hypothetischen Normalität (»wo Es war, soll ich werden«, wie es Freud ausdrückte), sondern um einen ständigen Übergang von einer Form von Wahn in eine andere, mit einer anderen, nicht weniger variablen Intensität. In der Geschichte Rußlands gab es schon einmal eine ›Kokain-Episode‹ – das erste postrevolutionäre Jahrzehnt, »als die Arbeiter, kleinen Sowjetfunktionäre, Rotarmisten und revolutionären Matrosen voll Lust Marafet inhalierten.«8 Diese Substanz wurde sogar in einfachen Teehäusern verkauft. Seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurde das Kokain nach und nach vom billigen RykovWodka, benannt nach dem damaligen Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, verdrängt; die Kollektivierung kann auch Alkoholisierung des ganzen Landes genannt werden. Sie dauerte bis zum Verschwinden der Sowjetunion an (und so ist es kein Zufall, daß diesem Verschwinden eine massive aber ergebnislose Antialkoholkampagne vorausging). Damit beginnt die halluzinogene Phase, in der von bestimmten Leserkreisen weder die imaginierte Macht des von Kokain aufgeblähten Ichs noch die Treue zu einer mit Wodka-Konsum verknüpften Tradition, sondern die Intensität des Abhebens vom Sozialen geschätzt wird, das nun als eine zutiefst private Angelegenheit begriffen wird. Man könnte diese Schichten von Lesern die verhinderte russische Mittelklasse nennen. Die halluzinogenen Substanzen kommen in einem Zwischenraum vor, d. h. in dem sich die russische Kultur ein wenig zur Weltkultur hin öffnet, in einem Bereich gegenseitiger Befruchtung. Im Unterschied zu den Moskauer Konzeptualisten, welche die Unbedeutsamkeit des Sozialen symbolisch, ausschließlich im Reich der Rede proklamieren, vertritt Pelevin seine These von der 8. Lebina, N. »V socializm – pod kajfom«. Argumenty i fakty, 40, 1995, 9. 30

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Bedeutungslosigkeit des sozialen Elements, seine Spielart der ›Leere‹ in buchstäblicher Weise. Während bei der Inspektion Medizinische Hermeneutik (Peppersˇtejn, Anufriev, Fedorov) die Halluzinose oder – wie sie sich ausdrücken – das Oneiroide eine Flucht innerhalb der Flucht ist, ist es beim Autor von Cˇapaev und die Leere (Cˇapaev i Pustota) eine Flucht nach außen, zum Äußeren hin, das auf eine bestimmte Weise existiert.9 Für Pelevin gibt es etwas jenseits des Sozialen, d. h. jenseits der auf die eine oder andere Weise artikulierten Sprache. Und obwohl dieses Äußere häufig eine Fiktion ist, so stachelt doch sein bloßes Vorhandensein den Leser an und zwingt ihn, die Existenz von Welten anzunehmen, in denen er sich vor dem unerträglich und hyperreal werdenden Realitätsprinzip verstecken kann. Bei Pelevin steht die korrekte Überlegung höher als das Präparat; sein Held Cˇapaev, der den Wodka gläserweise kippt, sagt eine Serie zen-buddhistischer Koan-Gebete her, die seine absolute Teilhabe an einer höheren halluzinogenen Wirklichkeit jenseits von Leben und Tod voraussetzen. Pelevin steht auch deutlicher als andere Autoren für die ComputerAusrichtung der neuesten Prosa. Seine Helden (insbesondere in der Erzählung Der Prinz des Staatsplans [Princ Gosplana] aus dem Buch Der gelbe Pfeil [Zˇeltaja strela]) spielen Computerspiele und sind doch zugleich auch Figuren innerhalb dieser Spiele.10 Die Verachtung für alles Soziale erreicht dabei eine Intensität, bei der jede Form von ›Abheben‹ von dieser Folie – mit welchen Mitteln auch immer – automatisch positive Vorzeichen erhält. Dergleichen findet sich weder bei de Quincey noch bei Baudelaire oder Huxley, sind sie doch alle durch ihr Experimentieren mit Drogen marginalisiert: sei es durch Opium, Haschisch oder Meskalin. Für Baudelaire ist diese Erfahrung »steril« und »asozial«, für Huxley »averbal«. Wenn diese Erfahrung auch mit den äußeren Zeichen von Erleuchtung versehen ist, so ist sie doch deren Antipode: jenes Schaffen, das oftmals weniger grell, weil mit routinemäßiger Arbeit verbunden ist, besitzt doch nichtsdestoweniger denselben Vektor wie die Erleuchtung (bei Proust herrscht überhaupt die Idee der Rettung mit Hilfe von Kunstzeichen vor). Im postsowjetischen literarischen Raum findet der umgekehrte Vorgang statt, ein Vorgang, den man als Marginalisierung des Sozialen kennzeichnen kann. Die Fähigkeit des sozialen Elements, die Menschen einander näher zu bringen, konvergiert gegen Null. Und siehe da, es entsteht eine Theorie, derzufolge sich im letzten schäbigen Waggon eines ins Nirgendwo jagenden Zuges (Der gelbe Pfeil) eine extrem schmale Öffnung auftut, durch die ein auf spezielle Weise vorbereiteter Mensch, der das 9. Pelevin, Viktor. ˇCapaev i Pustota. Moskau 1997. 10. Pelevin, Viktor. ˇZeltaja strela. Moskau 1998. 31

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Zen-Koan des Seins gelöst hat, nach außen gelangen und das Äußere erreichen kann. Ist das westliche Äußere neutral (dazu genügt es Maurice Blanchot zu lesen), so wird es bei Pelevin noch von Pathos erfüllt. Dies ist eine paradoxe Prophezeiung im umgekehrten Sinne, eine Utopie für jeden einzelnen Menschen, die frohe Botschaft, daß es in der fensterlosen Wand doch eine Tür gibt, aus der man verwandelt zurückkehrt. Das veränderte Verhältnis zum Leben geht hier nicht wie in traditionellen Religionen mit einer Entsagung von der Welt (dem Mönchtum) und einer langwierigen Askese einher, sondern vollzieht sich in Schlachten, Computerspielen und Partnerwerbung (indem er sich in Anna verliebt, lernt Piotr Pustota [russisch bedeutet dieser Familienname zugleich »die Leere«] Cˇapaev insofern begreifen, als sie seine weibliche Hypostase ist). Eine dergestalt radikale Position zieht vielzählige Regressionen, wie es sie in Pelevins Texten in der Tat zuhauf gibt, nach sich. Bisweilen, wenn er eine allzu hohe ›mystische‹ Note anschlägt, gleitet Pelevin in Gemeinplätze der Courtoisie, des Nationalismus oder eines verspäteten Antibolschewismus ab. Der gesunde Menschenverstand ereilt ihn dort, wo er sich – wie er vermeint – von ihm ein für allemal freigemacht hat. Pelevin weiß nur allzu gut, daß geheime Erfahrungen keine Erzählform, und noch weniger die Form von Kunstprosa annehmen können. Die Pathetik seiner Bücher hängt mit dem Wunsch zusammen, die Narration zu überwinden, das literarisch Unmögliche zu vollbringen und in eine andere Dimension überzugehen. Das bringt ihm Leser zuhauf, die sich in demselben Teufelskreis bewegen wie er selbst. Sie wollen ebenfalls aus dem sozialen Wahn in eine andere, virtuelle Welt übersiedeln. Auch sie können ein intellektuelles Interesse an Texten von Jung, Castaneda, MacKenna, Grof, einen bestimmten Vorrat an halluzinogenen Erfahrungen und viele Stunden Reisen durch das Internet vorweisen.11 Da es unmöglich ist, Zugang zum Raum des Sozialen zu bekommen (dieser ist heutzutage nun mal unzugänglich), die Menschen sich aber dem Sozialen erst recht nicht entziehen können, so verschlägt es sie ins Virtuelle. Es zeichnen sich die Konturen einer neuen russischen Orthodoxie ab, die vorab aber noch etwas verschwommen sind. In der westlichen Avantgarde marginale Elemente rükken ins russische leere Zentrum und machen dabei ihrerseits all das marginal, was Menschen einander noch auf irgendeine Weise näher bringt. So entsteht eine eigenartige Gemeinde der Einsamen, die ihre eigene Einsamkeit nicht ertragen und einen neuen Kollektivismus suchen, und wenn sich dieser auch auf den Bereich des Virtuellen bezieht. Dabei sind sie sich längst nicht immer darüber im klaren, daß das so begriffene Virtuelle gleichfalls Realität im traditionellen Sinne ist, d. h. eine Substanz oder et11. Grof, Stanislav. LSD und das kosmische Spiel. BTPJ 1989; MacKenna, Terence. The True Hallucinations. New York 1993. 32

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was, das imstande wäre, Verbindungen zu knüpfen (unabhängig von der Art dieser Verbindungen). Anders als im Moskauer Konzeptualismus, der seinen Gruppencharakter in einem umfangreichen Korpus von Texten reflektiert hat, konstituiert sich hier der Körper der neuen Gemeinschaftlichkeit spontan, ist aber in vielen grundsätzlichen Hinsichten noch kein Diskurskörper. Abwechselnd deklariert er seine Feindschaft und Gleichgültigkeit gegenüber dem Politischen und behauptet seine ›Eingeweihtheit‹ als etwas unendlich viel Wichtigeres (Baron Ungern von Sternberg ist der mystische Doppelgänger Cˇapaevs, obwohl beide sich in der verachteten Realität an entgegengesetzten Polen des politischen Spektrums befinden. Analoge Veränderungen gehen im Roman auch mit Piotr Pustota selbst vor sich, doch das tangiert seinen Weg zur Lösung des großen Rätsels nicht). Der überteuerte Preis für die Aktien der virtuellen Ordnung wird flankiert vom Umstand, daß die neue Gemeinschaft hofft, gerade in dieser Ordnung ihre Rettung zu erlangen. Mit dieser Hoffnung ist ein Paradox verquickt: Rettung im Virtuellen ist schließlich immer nur die Generalprobe der Rettung, alldieweil die Zahl derartiger Welten unabsehbar groß ist. Und obwohl im Prinzip jeder sein eigenes Fenster im letzten Wagen finden kann, gibt es keinerlei Garantie dafür, daß die Qualität der Realität, in die er durch dieses Fenster gelangt, sich in wesentlichem Maße von derjenigen abheben wird, aus der er gerade geflüchtet ist. Schließlich kann man lediglich eine irreparabel hyperreale Realität wie die heute aktuelle derart grundlegend verwerfen. Wenn es aber nichts gibt, wovor man davonlaufen könnte, wird der Vektor der Flucht selbst, Flucht als Aufgabe an sich problematisch. Aus diesem konkreten, heute in Rußland anzutreffenden Sozium läuft man nicht etwa deshalb weg, weil man sich in ihm langweilt, sondern weil man es nicht ertragen kann. Es ist einfach die unerträglichste aller Welten –, und deshalb ist die Flucht daraus so natürlich wie unmöglich, läuft doch die Welt mit enormer Geschwindigkeit vor sich selbst davon. In therapeutischer Hinsicht ist der Vektor der Flucht selbstverständlich absolut gerechtfertigt, was man von den ›höheren‹ Ansprüchen der Flüchtlinge nicht behaupten kann. Ja, ich würde sogar folgendes Paradox riskieren: Die echten Athleten des Virtuellen bleiben in der heutigen Situation gerade aufgrund seiner Unerträglichkeit innerhalb des Soziums. Wenn sie das Unerträglichste für banal erklären, schlagen sie auf den ersten Blick zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens maskieren sie ihre mehr als natürliche, menschlich nachvollziehbare Kapitulation vor dem Unerträglichen; zweitens geben sie dem Akt der Flucht ein romantisches Flair. Die Folge ist, daß die gegenwärtige Situation eingefroren und verewigt wird. Daran ist nun wieder nichts sonderlich Neues – das Unerträgliche ist stets höchst banal, allzu banal, um erträglich zu sein. In allen virtuellen Welten sind wir sichtlich irgendwann geboren worden und sterben wir sichtlich als soziale Wesen. 33

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Allein das klare Erkennen dieses Umstandes verleiht unserer Einsamkeit im vollsten Sinne Strahlenganz.

Die Anbetung des Präparats Die vom sowjetischen Kollektivkörper abgespaltenen Individualitäten blasen sich gleich zur Größe eines Kollektivs auf und beginnen damit, anderen genauso embryonalen Individualitäten ihr Daseinsrecht streitig zu machen. Dabei dominierte bis zum August 1998 ein naiver Optimismus, ein auf der historischen Unerfahrenheit beruhender Glaube, daß in Rußland alles genauso verliefe wie überall, daß das, was geschieht, Kapitalismus sei und daß die erfolgreichsten Raubtiere mit offenen Armen im Westen empfangen würden. Die Ereignisse vom August 1998 bereiteten diesen Erwartungen ein Ende. Die alten sowjetischen Eliten mußten ihre Verpflegungsrationen im Verborgenen auf ihren Datschen essen und auf den Betten schlafen, die einen Stempel der Verwaltung für Angelegenheiten des ZK der KPdSU trugen. Auch die Neureichen (oft sind es die ehemaligen Funktionäre) haben keinen legalen Status erhalten, und dies, obwohl der eigentliche Akt der Unterschlagung des »Volkseigentums« äußerst aggressiv wirkte und die Verarmung von Millionen ihrer Mitbürger begünstigte. Nicht einmal die aggressivsten Individuen bilden eine zuverlässige Grundlage für Kollektivkörper. Letzten Endes bemühen sie sich wenigstens um irgendeinen legalen Status. Zur Zeit suchen sie ihn in der sowjetischen Vergangenheit, aber diese Suche hat mit der Rückkehr zu sowjetischen Zeiten nichts gemein: Auch wenn diese Rückkehr in Rußland von vielen gewünscht wird, kann sie keiner verwirklichen. Man kann den gleichen Fluß nicht zweimal durchqueren. In dieser Periode beginnt sich die Grenze zwischen der intellektuellen und der Boulevardliteratur zu verwischen, es wird ein Baissespiel mit Aktien der Kultur gespielt. In der spätsowjetischen Periode entsteht das halluzinogene Spiel als eines der Themen innerhalb der intellektuell orientierten, experimentellen Literatur und Kunst. Seit August 1998 versucht man dagegen, ihr eine Art von Literatur gleichzustellen, deren einziges Ziel es ist, die Drogenerfahrungen zu repräsentieren und von innen zu poetisieren. Als Beispiel möchte ich das bereits erwähnte, vor kurzem vom Verlag Ad Marginem herausgegebene Buch Niederer Kunstflug von Bajan Sˇirjanov nennen (sein Name läßt sich im Drogenjargon als »Spritze in die Vene« übersetzen – M.R.). In diesem Buch entwickeln sich alle Episoden nach demselben Muster: Die Junkies versuchen an Rezepte heranzukommen, lösen sie in Apotheken ein, drehen sich zu Hause die ›Schraube‹ (ein hausgemachtes Pervitin), spritzen sich das in die Venen 34

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und fangen an zu halluzinieren und sich dabei mit der Welt zu vereinen (indem sie Fledermäuse zähmen, ihre Phantasmen auf den Fernsehbildschirm oder ein Zeitschriftbildchen übertragen und endlos kopulieren). Nach jeder Episode kommen die Junkies wieder zu sich und beginnen von vorne. Mit jeder Wiederholung steigt natürlich die Abhängigkeit vom Stoff. In den Büchern à la Sˇirjanov beeindruckt vor allem die immense Unterschätzung bestimmter menschlicher Fähigkeiten, insbesondere derjenigen Fähigkeit, durch die Veränderung des eigenen Bewußtseins, virtuelle Welten ins Leben zu rufen, ohne überhaupt Stoff nehmen zu müssen. Der Autor des Niederen Kunstflugs preist die Abhängigkeit seiner Helden vom Stoff, ihren sozialen und moralischen Verfall, die gröbsten Auswüchse von Lüsternheit als höchste Errungenschaft. Der verhaßten Sozietät wird die begehrte Narkorealität entgegengestellt, das ›Highsein‹, das, wie der Autor beteuert, sich ausschließlich durch Drogen erreichen läßt. »Ohne sie (d. h. Drogen – M.R.), – versichert Sˇirjanov mit Nachdruck, – geschieht nichts, denn es kann grundsätzlich nichts geschehen.«12 Ihrem Wesen nach ist das eine religiöse Behauptung, die aus den Junkies Heilige macht, die in einen Kampf gegen das Prinzip der Realität antreten. Aber in der sozialen Realität werden Rezepte verschrieben, die der Drogenabhängige im Abfall sucht, werden Stoffe hergestellt, die er konsumiert, und fließt das Geld, das er ständig benötigt. Sich von der Realität zu befreien heißt auch, sich von all dem zu befreien, was der Drogenkonsum an Realität schafft. Und wie das möglich ist, erklärt der Autor selbstverständlich nicht, da er es selbst nicht weiß. Ein Drogenabhängiger ist für Sˇirjanov kein Kranker, sondern ein Auserwählter mit eigener ›Mission‹, und auch wenn dieser Außererwählte wahllos Menschen an die Nadel bringt, erteilt Sˇirjanov ihm einen Ablaß: denn das Erreichen des ›Highseins‹ heiligt alle Mittel. War in der vorangehenden Literatur das Halluzinieren eine von vielen Praktiken, die eine Distanz zur Welt der Vernunft schufen (unter den postsowjetischen Bedingungen hat sich diese Welt selbst von innen heraus untergraben), so findet Sˇirjanovs vulgärmaterialistischer Romantismus in der Drogenerfahrung das einzige Mittel, um die Langeweile der Umwelt zu überwinden. Dabei erkennt die Drogenliteratur den halluzinogenen Aspekt der Realität selbst nicht und hält ihn irrtümlich für einfach real. Deswegen erscheint für diese Autoren der Ausgang in die artifiziellen Welten, mögen sie noch so kläglich sein, als absoluter Wert. Aber die Realität des Stoffs, in deren Abhängigkeit der Körper des Drogenabhängigen gerät, stellt einen Teil der angeblich durch diesen Stoff überwundenen Realität dar, und somit schließt sich der Teufelskreis. 12. ˇSirjanov (Anm. 5), 7. 35

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Die von Sˇirjanov beschriebene Welt ist wie eine religiöse Gemeinschaft eingerichtet, wie ein eigentümlicher Orden von Todgeweihten, die ihr Leben auf dem Altar einer guten Sache opfern. Aber woraus besteht ihre Güte? Einer der Drogenabhängigen betrachtet beispielsweise aus dem Fenster heraus ein auf der Bank sitzendes Schulmädchen und beginnt, in seinem veränderten Bewußtseinszustand mit ihr zu verkehren (im Grunde genommen reproduziert er in sich ein ausreichend deutliches Bild, mit dem er sich eben vereint). Am Ende erfährt der Junkie lediglich, daß die Welt und das auf der Bank sitzende Mädchen eingeschlossen, von Anbeginn schon ein Teil von ihm sind. Doch warum muß er für diese Erkenntnis einen so hohen Preis zahlen? Während er sich auf das erstbeste Bruchstück der kaum geöffneten Welt stürzt, versteht er nicht – und ohne Anwesenheit kann er das auch nicht – daß er mit der Leere koitiert, hinsichtlich derer sein Pathos fehl am Platz ist. Wenn die Halluzinose eine Metapher von etwas wesentlich Größerem als sie selbst ist, einen Hinweis auf sie darstellt, haben wir es mit Literatur zu tun, die ihre sozialkritische Funktion nicht eingebüßt hat. Verglichen mit dieser Aufgabe verliert sich die Drogenliteratur in jenem Teufelskreis, den sie selbst heraufbeschworen hat. Sie hat lediglich als Zeugin einen Wert. Und obwohl sie sich im wahrsten Sinne des Wortes am Überfluß ihrer angeblichen Möglichkeiten berauscht, haben wir es mit einer eher niederen Wortkunst zu tun. Ihre Exaltation ist vom literarischen Standpunkt aus völlig ungerechtfertigt. Diese Literatur heroisiert eine banale – und außerdem unproduktive Geste, mit der desorientierte Menschen sich vor dem Staat verteidigen, der sie im Stich gelassen hat. Nun noch zu einer Besonderheit der heutigen Moskauer Situation. Sˇirjanovs Buch wurde von einem Verlag herausgegeben, der sich auf intellektuelle Literatur spezialisiert hat (Bücher von Foucault, Canetti, Heidegger, Derrida, Deleuze, Arbeiten von Moskauer Konzeptualisten, Bücher von Moskauer Philosophen und Kunsthistorikern, u. a. auch meine eigenen). Der Verlagsinhaber hat sich entschlossen, sein Projekt zu kommerzialisieren und zugleich zu ›revolutionieren‹, obwohl das von außen eher nach seiner Liquidierung und nach Ausverkauf aussieht. Der Verleger will dem hypothetischen Lesegeschmack der Diskojugend schmeicheln. Hinter der erklärten Absicht, das intellektuelle Projekt zu kommerzialisieren, versteckt sich der schlecht durchdachte Wunsch, es zu begraben und die experimentelle Schreibweise auf die gleiche Stufe mit der einfachen Konstatierung der Gegebenheiten zu stellen. In den Zeiten des Jubels verfügten die Kollektivkörper über ein maximal destruktives Potential, das sich während der halluzinogenen Periode ver36

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brauchte. Aber das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite scheint der entscheidende Übergang, die Grenze, hinter der die Mechanismen der Individualisierung nicht mehr aufzuhalten sind, nach wie vor am meisten Grauen einzuflößen. Diesem Übergang zieht man jede mögliche Derealisierung der Welt vor. Dem westlichen Beobachter fällt es schwer, die Schmerzhaftigkeit dieses Übergangs zu bewerten, denn in seinem Land vollzog sich dieser Übergang allmählich; aber vom inneren Standpunkt einer noch vor kurzem repressiven, auf die kollektivistischen Werte orientierten Gesellschaft aus wird dieser Übergang als äußerst schmerzhaft wahrgenommen; sie zieht ihm jeden anderen Ausgang vor, u. a. auch einen, der mit der Destruktion von ererbten kulturellen Institutionen verbunden ist. Sogar diese Variante macht einen ›milderen‹ Eindruck. In dieser Periode wird die Gesellschaft von derart unterschiedlichen, miteinander nicht kombinierbaren Tendenzen zerrissen, was jeden kritischen Ansatz paralysiert. Besonders deutlich wurde das nach August 1998, als es nicht mehr notwendig war, den Kapitalismus auf eine Weise zu theatralisieren, die westliche Kredite garantieren sollte. Die äußere Welt glaubt nicht mehr daran, daß Rußland das Recht hätte, einen Sonderweg zu gehen. Die Versuche der neuen Macht, das Bild der UdSSR als Übermacht zu kommerzialisieren, kann man kaum als erfolgreich bezeichnen. Bisher hatten Politiktechnologen lediglich Erfolg bei der Verwandlung sozialer Kritik in eine Show für Menschen, deren Phantasien destruktiver als jede konventionelle Kunst sind. Tatsächlich bedienen alle aktuellen Schriftsteller (inklusive die bisher sozial nicht akzeptierbaren) den Freizeitbereich: Die Welt wird derealisiert, um Gewinne zu erzielen. In der Periode, in der die Kollektivkörper ihre Kräfte verlieren, bekommt ein Teil dieses Körpers zum ersten Mal die Möglichkeit, die Rolle des Ganzen zu spielen und seinen Anspruch auf die Einzigartigkeit und Souveränität zu realisieren. Aber sich endgültig als Individuum anzuerkennen und zu anderen auf Distanz zu gehen, schafft dieser Teil bisher noch nicht. Eine Persönlichkeit, die eine Verkörperung des Pars-pro-totoPrinzips darstellt, kann je nach Perspektive sowohl als Form des äußerst degenerierten Kollektivismus als auch als Zeichen für den entstehenden bislang zoologisch geprägten Individualismus gesehen werden. Die Welt, in der diese Individuen agieren, ist mit dem gesunden Menschenverstand unvereinbar und begrifflich nicht faßbar. Vor der sowjetischen Vergangenheit empfinden sie gleichzeitig Grauen und das Gefühl einer totalen Abhängigkeit, das gleiche Gefühlsspektrum dominiert auch ihr Empfinden der westlichen Welt gegenüber. Solange diese Situation nicht gewaltlos gelöst wird, kommt die Gesellschaft weder vorwärts noch zurück. Sie ist zum Halluzinieren verurteilt und muß mit Phantomen leben, die sie selbst produziert. Eine sehr spezielle Rolle spielt in dieser Periode der 37

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Künstler. Eine Sache ist es, ein ›verfemter Dichter‹ in einer relativ stabilen Gesellschaft zu sein, eine andere, wie Sˇirjanov die Drogenerfahrungen in einer Gesellschaft zu romantisieren, die ohnehin der Entropie unterworfen und bislang lediglich eine oberflächlich organisierte Anarchie ist. Vor kurzem besuchte ich die Ausstellung Art-Moskau. Die Werke der dort ausgestellten Künstler kenne ich überwiegend seit langem, aber ein Projekt überraschte mich durch seine Übereinstimmung mit dem, was ich hier zu schreiben versucht habe. Der ukrainischer Photograph Arsen Savadov stellte eine Serie von großen farbigen Bildern unter dem Titel Buch der Toten aus. Das waren gestellte Photographien von männlichen und weiblichen Leichen und von Kinderleichen. Sie waren überwiegend nackt, mit pathalogoanatomen Nähten am ganzen Körper entlang. Man hatte ihnen die Augen geöffnet, setzte sie einander gegenüber auf die Stühle in sogenannten ›malerischen Posen‹ und inszenierte sie in einem ›style macabre‹. Im Zentrum des Saals wurden, um die Wirkung zu erhöhen, Koffer, Taschen, Wäsche, Kleidung und Alltagsgegenstände angehäuft, die der Photograph benutzt hatte. Die Mehrheit der Menschen verhält sich Leichen gegenüber mit Ehrfurcht. Hier dagegen wurden sie als banales Requisit genutzt, so als ob die Tatsache, daß sie gestorben waren, keine Bedeutung hätte, als ob sie selbst entschieden hätten, für den Photographen als Tote Modell zu stehen. Die Gesellschaft beschützt die Leichen eben wegen ihrer absoluten Schutzlosigkeit und sieht in ihrem Mißbrauch ein Attentat auf die Würde all ihrer Mitglieder (deren Schicksal es ist, irgendwann auch eine Leiche werden zu müssen). Wenn der Künstler die Toten zwingt, Lebende darzustellen, schlägt er dem Zuschauer vor, sich mit dem Tod jetzt schon zu identifizieren und bestreitet jede Intimität dieses Aktes. Aber sind der Zuschauer und der Künstler selbst zu einer solch radikalen Geste bereit? Wohl kaum. Jede Transgression geht in ein Kaufgeschäft über, jede Einzigartigkeit ist äußerst archaisch (in manchen Gesellschaften wurden Leichen sogar verspeist). Daher wird den Propheten empfohlen, sich von ihren eigenen Prophezeiungen nicht hinreißen zu lassen, und es sieht so aus, als täten sie das auch nicht. Aus dem Russischen von Elena Nowak und Dirk Uffelmann

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GESCHICHTE UND NICHTGESCHICHTE DES KÖRPERS

Geschichte und Nichtgeschichte des Körpers Thomas Hauschild

Steine »Am Sonnabend schleuderten die Jungen flache Steine über das Wasser, und ich wollte wie sie einen Kiesel übers Meer hüpfen lassen. Im gleichen Moment habe ich es aufgegeben, ich habe den Kiesel fallen lassen und bin weggelaufen, denn die Jungen haben hinter meinem Rücken gelacht. Soweit das Äußere. Was in mir vorgegangen ist, hat keine klaren Spuren hinterlassen. Da war etwas, was ich gesehen habe und was mich angewidert hat, aber ich weiß nicht mehr, ob ich das Meer oder den Kiesel ansah. Dieser Kiesel war flach, auf einer Seite trocken, auf der anderen feucht und schlammig. Ich hielt ihn mit spitzen Fingern am äußeren Rand, um mich nicht schmutzig zu machen.«1 So kann es gehen, wenn man Steine schweben lassen will. Vielleicht kooperieren die Körperteile, ohne einen Gedanken aneinander zu verschwenden, die Finger spannen sich um den Stein, die Knie sind gebeugt, etwas dehnt den Oberschenkel aus, der Rumpf ist geneigt, von einem Moment der zitternden Ruhe geht es über in pendelnde Bewegung, der Stein löst sich vom Körper, der ihn mit seiner Kraft verfolgt und mit seinem Blick. Der Stein nimmt seinen Weg durch die Luft, und das Ganze – Körper, Luft, Sonne und darunter die spiegelnde Oberfläche des Meeres – vollzieht das Schauspiel eines Steins, der zum Tropfen wird und dann wieder zum Stein und dann wieder zum Tropfen, bis er verschwindet, und als einzige Spur bleibt ein Zeichen aus Gischt und Wellenschlag, und auch das ist unsichtbar im Nu. Oder es klappt nicht. Die Finger sind zu Stein geworden, und die Beine haben kein Bewußtsein für ihre Aufgabe, der Körper erstarrt, und die Erstarrung hat ein Echo, im verkrampften Rücken ertönt schon das Kichern der anderen. Steine fliegen lassen oder sich selbst, das ist so besehen ein und dieselbe Kunst, und was einmal als Schauspielkunst erscheint, ist in anderen Zeiten ein Besessenheitskult und dann wieder ein Spiel mit Fingern und Steinen, oder es erstarrt zum 1. Sartre, Jean Paul. Der Ekel. Reinbek 1982, 9-10. 39

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stillen Kult der Steine, von denen es heißt, daß sie einmal fliegen konnten aus eigener Kraft. Manchmal muß ein neuer Wurf gelingen, Raum muß besetzt werden in der unendlich scheinenden Landschaft der Meere, Berge und Sterne, der Ekel in den Händen muß überwunden werden und auf das Gelächter der anderen darf man gar nicht erst hören. Tote Dinge erhalten eine Bedeutung, Körper beleben sich, doch bald werden Ekel und Tod wieder die Überhand haben, die Zeit drängt. Tausende flacher Steine und Hölzer findet man in den Schubläden und Vitrinen europäischer Museen, es sind die Tjuringa der australischen Ureinwohner. In Australien hielt man sie in Ehren, man hat sie versteckt und wieder ausgepackt, man hat ihnen Lieder vorgesungen, man hat sie gefüttert und mit dem Bild der Lebensschlange verziert. An Stricke gebunden und in der Luft geschwungen geben sie einen Ton ab, den die aborigines als Stimme der Toten verstehen, zum Schrecken der uneingeweihten Kinder. Aber dann, bei der Weihe, werden den Kindern die Instrumente auf einmal gezeigt. Die Alten erklären den Jungen, wie das funktioniert, denn alles war nur ein heiliges Spiel. »Es ist die Macht gesungener Wörter, nur sie kann die Bilder des Todes in Leben verwandeln.«2 Zur Erinnerung bleiben Dinge zurück, Spuren dieser alten Schule der Gefühle, und heute fordern die Nachfahren der Ureinwohner ihre Dinger zurück von den Museen, denn sie wollen sie wieder beleben, bereden, neu kleiden mit Farbe und Bildern, sie wollen sie neu verteilen oder auch nur selbst ein Museum gründen in den australischen Wüsten, wo einige aborigines, wenn es gut gegangen ist, weiter kampieren als Wildhüter, Fremdenführer und Sozialhilfeempfänger. Es ist ein Prärogativ der Ethnologie, in der nicht enden wollenden Diskussion der Postmoderne über den Körper, über den »Riß«3 zwischen Phantasma und Realem, Physiologie und Textkunde, über das Angeborene und das Anerziehbare eine vermittelnde Position einzunehmen. Ethnologie kann man dabei als eine Art experimentum crucis der Kultur- und Sozialwissenschaften verstehen, als Ausagieren der Grundfragen westlicher Wissenschaften, was dem Fach vielleicht eine zentrale Stellung im Gebäude der Wissenschaften verschafft, aber doch auch immer wieder zu ungeheurer Naivität und Parteilichkeit ethnologischer Wissensformen beiträgt. Darum kann man froh sein über jede Situation in der Geschichte der Wissenschaften, wo ethnologisches Wissen im Zusammenhang mit 2. Strehlow, Theodor. Songs of Central Australia. Sydney, London 1971, 284. 3. Sarasin, Philipp. »Mapping the body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ›Erfahrung‹«. Historische Anthropologie, 7:3, 1999, 437-451. Vgl. Jonas, Reinhard. Der menschliche Körper. Anthropologie und Literatur, auf der Website des SFB 511 Literatur und Anthropologie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Universität Konstanz 2000, 17 ff. 40

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anderen, besser entwickelten Feldern des Wissens ausgearbeitet wird. Die italienische Ethnologie steht schon viel länger als die deutsche literaturwissenschaftliche oder kulturwissenschaftliche Diskussion im Zeichen der Historisierung und der Aufdeckung politischer Motive. Als die deutsche Volkskunde noch mühsam darum rang, eine kritische Neufundierung an die Stelle der faschistoiden Vorstellung vom ahistorischen ›Volk‹ zu setzen und als deutsche Ethnologen noch die Erkundung der ›Primitiven‹ auf ihr Panier geschrieben hatten, gab es in Italien bereits eine kritische Kulturanthropologie, geschult am Idealismus Benedetto Croces ebenso wie an Antonio Gramscis Neomarxismus: Ernesto de Martino (1908-1965) hatte in den 1940er Jahren eine Methode entwickelt, welche die historisch-kritische ›Absonderungsarbeit‹ an den eigenen, den wissenschaftlichen Begriffen für das Fremde ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Faches stellt. Körperbezogene Metaphern, Rituale gegen den Ekel, ›primitivste‹ Formen der Magie wurden einerseits als Versuch der Harmonisierung historischer Traumata reinterpretiert, teils als Phantasmata der Ethnologen, die nur durch einen etnocentrismo critico überwunden werden können. Parallel konstruiert zur ›kritischen Paranoia‹ des Surrealismus sollte diese Methode helfen, die Balance zwischen Selbstreflexion und Fremderfahrung zu halten. So besehen war de Martino seiner Zeit wirklich sehr weit voraus, denn er hat nicht nur die postmoderne Kritik der Projektionen, sondern auch deren Überwindung mit seinem Begriff des kritischen Ethnozentrismus vorweggenommen.4

Felder Angeregt von dieser reichen Debatte und angeekelt vom körperlosen Körper-Diskurs der späten siebziger und der achtziger Jahre in Berlin, abgestoßen von der Fiktion einer völligen Ablösung des Menschen von seinen materiellen Grundlagen, habe ich Anfang der achtziger Jahre Berlin verlassen, um auf den Spuren des italienischen Ethnographen in Süditalien Studien über Körperkünste, Lebenskünste, Magie und Politiken der Passion zu treiben. Oder wollte ich mich bloß im Kostüm unteritalienischer Landleute ausgerechnet von den distinguierten schwarzgekleideten Heroen der Postmoderne distinguieren, um aus diesem Stoff letztlich einen unsichtbaren Professorentalar zu schneidern? Ich weiß es nicht, es ist mir auch gleich, heute geht es mir jedenfalls darum, aus allen diesen Erfahrungen heraus eine Pendelbewegung in Gang zu bringen, die weder den 4. Hauschild, Thomas. »Il programma ›postmoderno‹ e lo spirito demartiniano«. Ernesto de Martino nella cultura europea. Hg. v. Clara Gallini u. Marcello Massenzio. Napoli 1998, 75-80; vgl. . 41

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Körper noch seine Symbolisierbarkeit leugnet, eine Verbindung der Geschichte des Körpers mit den geschichtslosen Universalien des Körperlichen. Das Ergebnis meiner 20monatigen stationären Arbeit in der Kleinstadt Ripacandida (in Lukanien [Basilikata], dem Bergland zwischen Bari und Neapel gelegen) war überraschend. In einer Population von Rentnern, Heimarbeitern, Bürokraten, verarmten Bauern und Arbeitslosen, in dieser Peripherie der Europäischen Union, deren Bewohner aber doch meist weiter gereist waren als ich (USA, Australien), lebte ein europäischer Schamanismus weiter, der sich vor allem in den Praxen einer ganzen Hierarchie von Heilerinnen und Magiern kultiviert hatte unter den wachsamen Augen der Priester und in großer Freiheit, was die Ausformulierung von Phantasien über magischen Flug, Mord und Erfolg anging. Wie meine Kollegen, die am Amazonas forschen oder in Zentralaustralien, bei javanischen Reisbauern oder afrikanischen Wildbeutern, konnte auch ich die Epik, die Artefakte, die Ritualismen und Körperpraktiken einer magischen Heilkunst erforschen. In dichter Verquickung mit der katholischen Religion hielten sich hier die Vorstellungen von fliegenden Hexen, vom Exorzismus, den man durch Erbrechen vollzieht, von magischen Vergiftungen und anderen Fernwirkungen. Ein Gefühl fassen wir in Worte, in Gesang. Oder man stellt es sich als Sache vor, die lebendig wird oder als Hemdchen, das man anderen anlegt oder sich selbst. ›Hemdchen‹, abitini, so heißen hier – im dichten Anschluß an die bei Carlo Ginzburg für das 16.-17. Jahrhundert beschriebenen Schamanismen der Nordostitaliener – bestimmte mit Sargnägeln und anderen guten Anspielungen auf die Geister der Toten gefüllten Amulette gegen die Hexerei. Mahre, Nachtmahre, Benandanti, Gutgeher und Luftgeherinnen sind die, die mit dem Hemdchen geboren sind. Die Eihaut, Stücke der Nabelschnur, Reste der Plazenta werden als Mantel verstanden, der das Kind später schützen wird. Sie sind Vorläufer des Schamanengewandes und des Mantels der Zauberer, des fliegenden Teppichs und der prachtvollen Gewänder, welche die katholischen Priester bei ihren Gottesdiensten diskret in Wippbewegungen zu bringen verstehen.5 Die ›Hemdchen‹ der wahren Mahre zeigen sich im Alltag in Form kümmerlicher Amulette, die Luftgeherinnen als kleinkrämerische Heilerinnen. Damit tritt das Zeitlos-Großartige des magischen Fluges und der jenseitigen Seelenjagd in die Welt der Kleinteiligkeit ein. Die Heilerinnen kultivieren Exorzismen und Taufen, die Austreibung der Totenseelen aus den lebenden Körpern, eine stille Besessenheit der Hautkrankheiten und Kopfschmerzen, die sie wieder rückgängig zu machen verstehen. So erinnern die von ihnen fabrizier5. Hauschild, Thomas. »Können Priester fliegen?«. Ders. Magie und Macht in Italien. Gifkendorf 2002. 42

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ten kleinen Amulette immer noch an die Todeserfahrung, an die Nausea des Exorzismus, an das heilsame, schon von der Renaissancemedizin so sehr als Mittel gegen Hexerei empfohlene Erbrechen, an die umgepflügten Körper der Hypnotisierten und die von rüden Heiligen versehrten devoti. Im Bruch mit der italienischen Welt des Kaputten6, in der magischen Evokation himmlischer Harmonien soll die perfekte Außenseite der persona wiederhergestellt werden, die wir Mitteleuropäer so gerne an den Italienern bestaunen. Die vitale, lebensspendende Geste7 ist zur Formel erstarrt, deren Geheimnis wir nicht mehr ohne weiteres erkennen. Wir können diese Dinge lächerlich finden, die bemalten kleinen Bündelchen vertrockneter Haut, die mit hochtrabenden Formeln beschrifteten »Jungfernpergamente« oder die »Antihexerei-Tütchen« der Heiler, die sich manchmal schon auf den Auftritt im Fernsehen vorbereiten mit ihrer Magie. Heute sollen etwa 100.000 Magier in Italien praktizieren. In Kleidung, Habitus und Riten erinnern sie ihre Kunden immer wieder an die Vorstellung vom magischen Flug, an den Anhauch aus der anderen Welt (»Böser Wind«), der dem Lebenden die Quittung des Todes präsentiert: Fattura nennen sie hier manchmal den Todeszauber, gegen den die Magier mit heilenden »Abreibungen«, mit Gebeten und Knotenziehen, mit Austreibungsriten und Vomitiven vorgehen, als seien immer noch die renaissancemedizinischen Abhandlungen zur Körperkunst von Gültigkeit auf dem Therapiemarkt.8 Es ist zum Lachen. Aber »[…] für den Folkloristen, der die Wurzeln der menschlichen Kulturäußerungen biologisch erforschen will, gibt es keinen gefährlicheren Augenblick, als wenn er bei volkstümlich-komisch erscheinenden Gebräuchen lacht. Wer über das Komische in der Volkskunde lacht, hat Unrecht, dem verschüttet sich im selben Augenblick die Einsicht in das tragische Element.«9 Aby Warburg hatte nicht viel zu lachen, als er mit diesem Vortrag über indianische Kunstobjekte und Rituale einen langen Aufenthalt in einer Nervenklinik abschloß. Er wollte seinen Ärzten und Mitpatienten zeigen, daß für ihn die wissenschaftliche Arbeit weiterging nach der Krise – geblieben ist dem Kunsthistoriker allerdings ein starker Sinn für das Seltsame und die Nebensachen, für das Primitive. Warburg war den Rest seines Lebens mit der Frage beschäftigt, was primitiv sei, 6. Sohn-Rethel, Alfred. Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik. Bremen 1992. 7. De Martino, Ernesto. Storia e metastoria. I fondamenti di una teoria del sacro. Hg. v. Marcello Massenzio, Lecce 1995; Assmann, Aleida. »Das Gedächtnis als Leidschatz«. Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft. Hg. v. Anne Poirier und Patrick Poirier. Göttingen 1999, 100-108. 8. Vgl. Hauschild (Anm. 5), Kapitel »Bittere Wahrheiten«. 9. Warburg, Aby. Schlangenritual. Ein Reisebericht. Berlin 1988, 25. 43

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Sache des Greifmenschen, und was modern, Sache des Denkmenschen – eine Frage, die sich viele seiner Zeitgenossen, auch Fachethnologen, viel zu leicht beantwortet haben. Pueblo-Indianer, wie er sie noch erlebt hatte bei einer Amerikareise, sollten nicht mit Primitiven gleichgesetzt werden. »Sie stehen in der Mitte zwischen Magie und Logos, und ihr Instrument, mit dem sie sich zurecht finden, ist das Symbol. Zwischen dem Greifmenschen und dem Denkmenschen steht der symbolisch verknüpfende Mensch.«10 Dort stehen wir allerdings wohl allesamt, das ist der Mensch. Stärke und Schwäche des Menschen ist, daß ihm jederzeit das Leben zum Bild erstarren kann, zur Formel, zum sinnlosen Rest. Die Pendelbewegung muß am Leben erhalten werden, sonst fallen Denk- und Greifmensch auseinander, und das ist das Ende des menschlichen Lebens. In seiner Hirnkammer versucht der Denkmensch, das Bild neu zusammenzusetzen mit anderen Bildern und mit anderen Spuren des Lebens, während das Leben draußen weiterlebt. Wenn wir unseren Denkraum nicht aufgeben wollen, müssen wir zulassen, daß sich andere geschickt an die Spuren unserer Lebensäußerungen heranmachen und sie für ihre Zwecke nutzen, unser Leben einspannen für ihre Macht. »Es ist vielleicht die tiefstgelegene Komplikation unseres Lebens, daß dasjenige, was seine Spontaneität einschränkt und sein freies Emporstreben niederdrückt, doch zugleich die Bedingung ist, unter der allein dieses Tun und Streben zu einer sichtbaren Äußerung, einem formenden Schaffen gelangt.«11 Zuerst kommt das Leben, dann seine Umsetzung in Formen, das wiederum bringt die Macht ins Spiel, das politische Leben, das eben kein Leben mehr ist. Aber es gibt dem Leben Form, und am Ende zerfällt das Ganze wieder, und es bleiben uns nur ein paar Spuren, die nach Deutung verlangen und nach einem neuen lebendigen Zusammenhang. Immer wieder gibt es Menschen, die das richtig machen, die ihren Körper zu tragen wissen und zu kleiden und ihm die richtige Bewegung geben. Es sind die, die mit dem ›Hemdchen‹ geboren worden sind. Sie überwinden alle Erstarrungen und Grenzen, sie halten die Dinge in Bewegung und wechseln selbst die Gestalt, mal können sie fliegen, dann sitzen sie wieder im Haus, mal Heilerin, mal feine Dame, Gebärende oder Geborenes, Nachtmahre, bereit zum Wetterzauber, wie ihn Luigi di Gian-

10. Ebd., 29. 11. Simmel, Georg. Philosophische Kultur. Leipzig 21919, 152; vgl. de Martino (Anm. 7), 105. 44

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ni in seinem ersten ethnographischen Film dokumentieren konnte.12 Einen Moment nur schwebt der Mahr über der Landschaft in einer Gewitterwolke, einen Augenblick kann er alles sehen, was sich dort unten tut, kann zerstören und verschonen. Es ist der magische Moment, il momento magico13, über den in Italien so viel gesprochen wird, das Aufgehen im erfolgreichen Tun. Der Moment ist kurz. Wir wollen etwas hinauswerfen, wir entlasten uns und zugleich besetzen wir damit Raum in der unendlichen Landschaft, doch dabei steckt uns noch der Ekel in den Händen, der Tod, und schon kündigt uns das Gelächter anderer Menschen an, daß es gleich wieder schiefgehen wird. Wir arbeiten daran, dem Leben eine neue Bedeutung zu geben, aber dauerhaft gelingt es nicht. Es ist wie bei der magischen Physiologie des Erbrechens, die zwischen Aufnahme und Entlastung einen Moment der Reinigung schafft, der Gesundheit, bevor die Auflösung des Ich wieder ihren Anfang nimmt. Das ist also allgemein menschlich.

Musen Nicht nur im Raum, sondern auch im Lauf der Zeit sind die Flugkünste der Mahre, ihr Totenkult und ihr Hang zu flatternden Gewändern, ihre Amulette und die Heilkunst des schönen Singsangs nicht so isoliert, wie es einem heute erscheinen kann. Wo der schwarze Faden der Tradition erst einmal gerissen zu sein scheint, wo Naturwissenschaft, Politik und Aufklärung sich das Leben der Menschen geteilt haben, bleibt die Magie übrig als eine Art Spaltprodukt. Aber früher war das, was ich hier für die Süditaliener des späten 20. Jahrhunderts schildere, im Abendland allgemein bekannt, sonst hätte Heinrich Heine, der erste Dichter des neuen Europa, nicht behauptet, daß er erst durch die Begegnung mit den Geistern zu einem großen Geist geworden sei. »Heinrich, Harry, Henri – all diese Namen klingen gut, wenn sie von schönen Lippen gleiten. Am besten freilich klingt Signor Enrico. So hieß ich in jenen hellblauen, mit großen silbernen Sternen gestickten Sommernächten jenes edlen und unglücklichen Landes, das die Heimat der Schönheit ist.«14 12. Di Gianni, Luigi. Magia Lucana (1958). O.m.U., Deutsche Kinemathek, Berlin. 13. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi greift auf Turners Ethnologie von Spiel und Ritual zurück und nennt es »flow«, den Fluß des wahren Lebens – wir haben allen Grund zu der Annahme, daß weitverbreitete Fluß- und Schlangensymboliken (vgl. Warburg, Anm. 9) auch das auszudrücken in der Lage waren: der Moment, der Strom des Lebens, wenn alles flutscht. 14. Heine, Heinrich. »Memoiren«. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke 15. Ham45

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Doch nicht als Dichterfürst auf Italienreisen, sondern als Junge im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts hat der junge Heine katholische Magie erforscht, bei den ärmlichen Klientinnen seines mächtigen Großvaters. Bis in kleine Details hinein fand er das, was ich viel später in Ripacandida finden sollte: Magie als Passion der toten Seelen und rituelle Bemutterung als Neid, Speien und Brechen als körperliche Manipulation, bei der ein Liebestrank zum Abführmittel werden kann, und daß es immer gut ist, ein wenig zum Horn geformtes Gold in der Tasche zu tragen oder andere Amulette. Heine hat sogar die Magie kennengelernt, die im Zeichen der Messer stattfindet, der Eisen, die Blut gekostet haben. Diese schwarze Kunst erinnert auch den Hartgesottenen an seine Sterblichkeit und läßt Mitleid aufkeimen mit allen toten Seelen – ich habe das viel später als schwarzen Faden der süditalienischen Tradition erlebt und dabei mußte ich lernen, die platte Gegenüberstellung von katholischer Religion und bäuerlicher Magie zu überwinden, genau hinzusehen, immer am Rande des Beteiligt-Seins: »Ich bin zwar selbst kein Hexenmeister geworden, aber ich weiß, wie gehext wird, und besonders weiß ich, was keine Hexerei ist.«15 Doch der junge Heine hat sich nicht nur von alten Frauen Geschichten erzählen lassen, sondern es kam auch zu Szenen der Einweihung mit einer jungen Frau. Das rote Sephchen, sechzehnjährig wie der Heine der Memoiren, Nichte einer Heilerin und Tochter eines Scharfrichters, dieses wilde Mädchen hat ihm einst das rostige Messer der schwarzen Magier vorgehalten: »Willst du küssen das blanke Schwert, das der liebe Gott beschert?« Es ist das Schwert des Scharfrichters. Aber der Junge unterwirft sich nicht dem Schrecken und dem Charme der Vergangenheit, sondern er hat einfach die schöne Josepha geküßt, »ja, trotz dem Richtschwert, womit schon hundert arme Schelme geköpft worden… küßte ich die Scharfrichterstochter … in diesem Augenblicke loderten in mir auf die ersten Flammen jener zwei Passionen, welchen mein späteres Leben gewidmet blieb: die Liebe für schöne Frauen und die Liebe für die französische Revolution, den modernen furor francese …«16 Von nun an wird Heine immer wieder Liebe, Politik und Magie beschwören, oft zum Befremden seiner aufgeklärten Freunde, denn die fühlen sich von der Magie in dieser Gleichung gestört. Heine wird kein Ideologe sein und kein Theoretiker. Die französische Revolution nannte der deutsche Judenchrist bei ihrem italienischen Namen furore, womit er das Ereignis übrigens zum bloßen Aufruhr verkleinerte. Heine wußte, daß es in Sachen Mensch burg 1982, 84-101. Auf diesen Text hat mich Fritz Kramer hingewiesen, und zwar, wie es seine Art ist, genau im richtigen Moment. 15. Ebd., 90. 16. Ebd., 98. 46

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nichts Neues gibt unter der Sonne und daß ein Bekenntnis zur Zukunft nur leuchten kann vor dem Hintergrund des schwarzen Charmes der Vergangenheit. »O heiliger Vater, Papst Urban, läßt der religiöse Spötter seinen Tannhäuser beten. Du kannst ja binden und lösen, Errette mich von der Höllenqual und von der Macht des Bösen.«17 Der Heilige Vater ist allerdings gerade mal wieder blockiert, wie jene männlichen Glieder, die Heines Hexe auf ein Bäumchen verbannt hat, in Vogelnester. Also muß Tannhäuser wieder zu seiner Hexenvenus zurück in den Berg. Wie wahr das ist und wie unsinnig, wie naiv und wie klug, das konnte ich in Italien erproben, bei meinen Studien über den Zusammenhang von Knotenzauber und Parteienbindungen, über die Magie des Ehebruchs und über fliegende Mönche, die sich bei den politischen Wahlen als Kandidaten aufstellen lassen. Auch ich habe letztlich der Einweihung widerstanden, nehme aber die heimisch-unheimliche Lebenskunst der Vergangenheit mit nach Hause. Allerdings habe ich im Unterschied zu Heine dabei nicht meine erste Liebe getroffen, sondern verloren. Das alles gedeiht also nicht immer nur in einigen kleinen katastrophischen Nischen des Mittelmeerraumes18, sondern hat sich phasenweise über ganz Europa verbreitet, aus und in unterschiedlichste Richtungen, als Kompromiß zwischen afrikanischem Besessenheitskult und keltischen Bildmagien oder als Zusammenfluß von orientalischem Christentum und asiatischem Schamanismus. Noch bei einem anderen großen Europäer können wir beobachten, daß die Begegnung mit der Lebenskunst der Nachtmahre den Beginn der ›Existenz als denkendes Wesen‹ markiert – allerdings kam er aus Venedig, einer klassischen und zeitweise sehr erfolgreichen Nische des Mittelmeerraumes – und wieder geht es nicht nur um einen großen Mann, sondern vor allem um »Frauen, die zu helfen verstehen«. Bis zu seinem achten Lebensjahr hatte dieser Venezianer keine Erinnerungen gesammelt. Er litt an einer Art Auszehrung durch ständiges Nasenbluten, bis ihn eines Tages seine Großmutter zu einer Heilerin führte, die Carlo Ginzburgs friaulischen Geschichten über die fliegenden Benandanti entsprungen zu sein scheint. Man schreibt das Jahr 1733, das ist nicht das 16. und 17. Jahrhundert, aber die alte Heilerin spricht mit der Großmutter des Jungen friaulischen Dialekt. Die Alte schließt Giacomo in eine Kiste, und von draußen hört der phlegmatische Junge, der sich nicht zu ängstigen scheint, »Schreien, Singen und Schläge auf der Truhe«. Er wird wieder hervorgeholt, das Nasenbluten hat aufgehört. »Da überhäufte mich das sonderbare Weib mit tausend Zärtlichkeiten, kleidete mich aus, 17. Ebd., 55. 18. Horden, Peregrine u. Nicholas Purcell. The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History. London 2000. 47

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legte mich auf das Bett, verbrannte allerlei Räucherwerk, fing den Rauch in einem Tuch auf, wickelte mich darin ein, murmelte einige Zaubersprüche, wickelte mich dann wieder aus und gab mir fünf sehr wohlschmeckende Stücke Konfekt.«19 Wir können unschwer eine Art zweiter Geburt aus der Kiste in diesem Ritual erkennen, und dem folgen dann auch die Rituale der Wiedertaufe, wie wir sie aus dem Lukanien des 20. Jahrhunderts kennen. In der Nacht, wieder zu Hause, erhält der Junge Besuch von draußen, in der Nacht, so erzählt der alte Mann, der einmal dieser Knabe war, »[…] sah ich oder glaubte ich zu sehen, wie eine wunderschöne Frau, in weitem Reifrock und in prächtige Stoffe gehüllt, vom Kamin herabstieg. Auf dem Haupt trug sie eine mit Edelsteinen übersäte Krone, aus denen Funken zu sprühen schienen. Langsam und majestätisch trat sie mit holder Miene näher und setzte sich auf mein Bett. Sie zog einige kleine Kästchen aus einer Tasche, leerte sie über meinem Kopf aus und murmelte dazu Sprüche. Dann hielt sie mir noch eine lange Rede, von der ich nichts verstand, küßte mich und verschwand, wie sie gekommen war. Ich schlief wieder ein.«20 Der Junge, den die weltliche Muse in ein Hemdchen gewickelt hat, um ihn dann in der Nacht in der Form des Geistwesens zu besuchen und mit geheimnisvollen Kleinigkeiten zu beschenken, wurde gesund. Er führte ein langes Leben, das der Schauspielkunst gewidmet war und der Magie, der Politik, den Frauen und dem Schreiben. Sein Name war Giacomo Casanova, das Vorbild zu Mozarts Don Giovanni und unserem flachen Zeitalter nur noch bekannt als der größte Playboy aller Zeiten. Selbstfindung ist Grenzüberschreitung; die Schranken zwischen den sozialen Klassen, zwischen Primitiven und Zivilisierten, zwischen Menschen, die sich lieben und Menschen, die sich hassen, müssen immer wieder niedergerissen und dann wieder hochgezogen werden. Spuren, fleischliche und dingliche Spuren werden aufgenommen, es beginnt mit ein paar kleinen Geschenken oder einem unscheinbaren Amulett, doch dann wachsen sie sich wieder aus zu Bewegungen und zu Haltungen, all das nur, um wieder zu Spuren zu erstarren. Nicht nur die Religionen binden die Dinge und die Menschen auf diese Weise neu zusammen, sondern auch die kontrollierteren und langwierigeren Verfahren der Wissenschaft. Alle Überlegungen der Soziologen, Volkskundler, Historiker und Ethnologen über das Substrat der Gesellschaft, ihren Sinn, tragen die Züge einer verzweifelten Suche nach Erneuerung und Verankerung, geradeso wie die Rituale, Spiele und Arbeiten der scheinbar so unwissenden Primitiven und Unterschichten, deren Treiben die Wissenschaftler ihr 19. Casanova, Giacomo. Geschichte meines Lebens 1. Berlin 1965, 81-82. 20. Ebd., 82. 48

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Leben widmen – manchmal ohne zu verstehen, wie ähnlich beide einander sind. So streiten sich die Gelehrten immer wieder darüber, wie eigenständig die Kreationen der populären Kultur wohl seien, und ob sie nicht alle an den Schriftkulturen der oberen Klassen haften und ihrem scheinbar unerschöpflichen Erfindungsgeist, der sie so hinaushebt über die Massen.21 Andere quälen sich dagegen ein Leben lang mit dem Nachweis, daß alle Formen von Kultur, die von oben oder die von unten, nur aus dem einen Prozeß der Produktion herauswachsen, aus den wirtschaftlichen Verhältnissen. Im Rückblick auf das, was ich in Süditalien gelernt habe, fällt mir nur auf, wie sich die Bilder der Erforschten und die ihrer Forscher gleichen: Immer gibt es da ein Oben, von dem aus man den Überblick hat und das etwas Neues in die erstarrte Welt hineinbringen kann. Manchmal sind es die schwebenden Mahre oder Heiligen, die dann als Fremde in den kleinen Orten weiterleben. Manchmal liegt es in der Vorstellung, die Oberschichten Europas seien die Kulturbringer der Welt, denn man kann alle Traditionen und Praktiken der Welt in ihren Schriften auflösen. Umgekehrt bleibt jeder Einfluß aus der mündlichen Überlieferungen der Unterschichten bloße Vermutung, wenn nicht gelegentlich doch wieder schriftliche Belege dafür auftauchen wie die Memoiren von Heine und Casanova. Hier wird endlich einmal der umgekehrte Weg erkennbar, denn erst die Begegnung mit den mündlichen Übertragungen und mit den Alltagspraktiken des ›Volkes‹ macht diese Schriftsteller zu Fürsten der schriftlichen Überlieferung. Es ist unsinnig, gelehrte Traditionen, mündlich strukturierte soziale Funktionen und alltägliches, mehr oder weniger bewußtes Handeln voneinander zu trennen. Den Helden des Buches aller abendländischen Bücher, Jesus Christus, können wir auch als einen Totengeist betrachten, dessen Anhänger in einer von ihnen als positiv betrachteten Weise besessen sind. Kometenhaft taucht das Schamanische so wieder auf im Zentrum einer Gesellschaft, die glaubte, ihn als Heidentum überwunden zu haben.

Geschichte Überlieferungen, seien es nun Schrift, Wörter oder Sachen, lassen sich also unter drei Gesichtspunkten betrachten: 1. Nichtgeschichte und ewige Wiederkehr des Gleichen22: Manche Rituale

21. Bausinger, Hermann. Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Berlin 1969. 22. Burkert, Walter. Kulte des Altertums: biologische Grundlagen der Religion. München 49

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und Bilder scheinen sich im Kern kaum zu wandeln. Dafür können rein körperliche Grundlagen angenommen werden. Die Heilerinnen in Süditalien streicheln und lecken ihre Patienten, elementare Geschlechterrollen werden ausprobiert, Grundpositionen von Körper und Bewußtsein in einer von alten Wallfahrtswegen und Wirtschaftswegen durchzogenen Landschaft erfahren. So betrachtet scheint Gesellschaft um dieses elementare Wissen vom Leben zu kreisen, so daß oben und unten, Schriftlichkeit und Mündlichkeit der Überlieferung, innere Zeichen des Glaubens und äußere Beweise der Wissenschaftlichkeit sich auf unübersichtliche Weise ineinander verwirren zu immer neuen historischen Gestalten bei gleichbleibenden Grundformen. Die Magie erscheint als eine Geschichtsmacht, die nicht wirklich am Prozeß der historischen Veränderung teilnimmt, so, wie die Grundausstattung des menschlichen Körpers bestimmte Grenzen der kulturellen Variation menschlichen Verhaltens setzt. Magie ist weltweit nachweisbar als Praktik der Beruhigung angesichts der Katastrophen des Lebens – aber sie wird immer offener sichtbar, je weiter wir die klassischen christlichen Kulturen verlassen, je weiter wir von Europa und Nordamerika nach Asien, Afrika, Lateinamerika oder Ozeanien wandern. 2. Lange Dauer und langfristiger Wandel23: Männer nehmen den Frauen das Wissen im kritischen Moment seiner sozialen Entfaltung immer wieder ab, um es selbst zu verwalten – in Europa mit gewissen historischen Höhepunkten wie der Hexenjagd oder den Phasen, wo Priester oder Gelehrte in exzessiver Weise zu Teilen der Elite erhoben werden. Andererseits regt die Christianisierung auch die Bildung neuer Kultformen an, die indirekt auf nichtchristliche Überlieferungen bezogen sind. Wenn man immer wieder die Realität des Bösen behauptet, bekommt man es mit der Zeit auch mit Satanisten zu tun. Die langsame Geschichte dieser Kulturformen ist für den Bereich der mentalen Vorgänge im einzelnen schwer nachweisbar, aber die Idee der langen Dauer gibt uns den Mut, uns nicht ganz als Opfer des Zeitgeistes zu fühlen, aber auch nicht ganz als Marionetten ewiger Werte und biologischer Grundlagen des Menschseins. Der Mittelmeerraum kann als eine Art Laboratorium zur Beobachtung solcher Zusammenhänge betrachtet werden, denn er ist nahe bei den asiatischen und afrikanischen Gesellschaften gelagert, deren gesellschaftliche Model1998; Eliade, Mircea. Die Sehnsucht nach dem Ursprung: von den Quellen der Humanität. Wien 1973; Lévi-Strauss, Claude. Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1968. 23. Braudel, Fernand, Georges Duby u. Maurice Aymard. Die Welt des Mittelmeeres: zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen. Frankfurt a.M. 1987; Peristiany, John G. (Hg.). Mediterranean Family Structures. Cambridge 1976; Horden u. Purcell (Anm. 18). 50

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le in der geographischen Nischenstruktur der mediterranen Welt nachhallen, andererseits ist er untrennbarer Teil Europas – davon zeugt die Kluft zwischen Nord- und Süditalien, zwischen dem Vatikan und den christlichen Bewegungen der italienischen Unterschichten. 3. Evolution, Geschichte, Prozeß24: Man kann Kultur auch von der Wandelbarkeit der Formen her betrachten, verursacht durch äußere Einflüsse, Anpassungsprozesse oder eine gewisse Abnutzung der Formen. So verändert sich das religiöse Leben in Süditalien innerhalb von fünfzig Jahren von erregten Zuständen der Besessenheit und radikaler Buße zum Pianissimo der als Besessenheit verstandenen Hautkrankheiten, zu schrillen Formen der im Fernsehen angepriesenen neuheidnischen Magie und zum Zeremonialismus und zum Dogma der modernen kirchlichen Kultur. Das geschieht parallel zum Wandel von der agrarischen zur industriellen und postindustriellen Gesellschaft, in der gleichwohl dauerhafte Größen, Hexenvorstellungen und Amulettpraktiken zum Beispiel, nicht gänzlich fehlen. Der Bruch, den die Deutschen mit ihrer alten folklorischen Überlieferung vollzogen haben, scheint tiefgreifender zu sein und in neue rationalistisch-technische Weltanschauungen zu führen, welche die Italiener nicht in der Breite entfalten, wie wir es tun. Mir ist dabei wichtig, einen primären Prozeß der rituellen Verdoppelung natürlicher Vorgänge im Auge zu behalten, der sich nicht ohne weiteres ganz in den Kontext menschlicher Interessen, menschlicher Politiken auflösen läßt. Es ist schwer, universale menschliche Eigenschaften, globale historische Größen und den aktuellen Wandel menschlicher Kulturen in einem zu betrachten, aber wenn man vom Kleinsten her denkt, dann entsteht ein Bild der Zusammenhänge zwischen dauerhafter Struktur und dem Prozeß des Wandels. Studien über Volkskultur, die dauerhaft im Fach wirken, bestechen immer dadurch, daß sie empirisch erhobene Daten über aktuelle Lebenszusammenhänge mit historischen Studien verbinden.25 Selbst einem eingefleischten ethnologischen Feldforscher aus der empirischen Tradition der Social Anthropology wird, wenn er seine Arbeit ernsthaft verrichtet, mit der Zeit klar werden, wie sich Geschichte und Nichtgeschichte der südländischen Folklore ineinander verschränkt haben. »When the saints go marching out.« Mit dieser Anspielung auf eine

24. Diamond, Jared. Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt a.M. 1998; Wolf, Eric. Die Völker ohne Geschichte: Europa und die andere Welt seit 1400. Frankfurt a.M. 1986; Herzfeld, Michael. Anthropology through the looking-glass. Critical ethnography in the margins of Europe. Cambridge, Mass. 1987. 25. De Martino, Ernesto. Magie, Katholizismus, Aufklärung. München 1982. 51

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flotte Hymne des Jazz hat Jeremy Boissevain26 in den sechziger Jahren seine Beschreibung des Niedergangs von Heiligenkulten und damit verbundenen Patenschaftsbeziehungen sowie patronalen, klientelären Abhängigkeiten der Menschen auf Malta betitelt. Religion schien hier ganz im Kontext des wirtschaftlichen und politischen Wandels aufzugehen und einzugehen. Ein paar Jahre später mußte Boissevain sich und seinen Lesern eingestehen, daß die regionalen Kulte wieder zugenommen hatten und daß man, bei leicht veränderten äußeren Formen, von einer Eskalation der Rituale auf Malta sprechen konnte. Die Vetternwirtschaft der Paten war natürlich auch nicht beendet, auch wenn die Parteien an der Regierung gewechselt hatten. Wenn man die Bilder, die Boissevain zur Beschreibung seiner Erfahrungen einsetzt, ernst nimmt, dann muß man sich fragen, wo die Heiligen geblieben sind in der Zeit zwischen ihrem Auszug und ihrem Wiedereinzug. 27 Mit Sicherheit haben sie in den Archiven der Kirche weitergelebt und in ihren Tempeln und Riten, aber wohl auch in den seltsamen Schächten des Gedächtnisses, die wir ›Volk‹ nennen, mündliche Überlieferung – oder ist es bloß eine ›Erfindung der Tradition‹? Für manche Wissenschaftler ist es der Urquell, für andere ein Ort ständiger Neuschöpfung28, aber die Heiligen leben weiter, selbst auf Malta, wo die Kirche nicht so viel Macht hat wie in Italien. Magie ist, so besehen, nicht nur die Pendelbewegung von storia und non-storia, die de Martino beschrieben hat, eine Technik der destorificazione der historischen Traumata von Armut und Dasein als Underdog der Gesellschaft. Sie spielt zugleich selbst mit diesem Motiv und verlängert es in eine körperliche Therapie, die für jeden Menschen attraktiv sein kann – sie schafft sich ihr eigenes unpolitisches Areal des Nichthistorischen, indem sie eine ständige Pendelbewegung zwischen Aufregung und Lethargie inszeniert, in der Menschen eine neue körperliche und seelische Balance finden können. In der Praxis des lange von mir frequentierten Magiers Vito Gioiosa behielten die Patienten daher niemals recht. 26. Boissevain, Jeremy. »When the Saints go marching out: Reflections on the decline of patronage in Malta«. Patrons and Clients in Mediterranean Societies. Hg. v. Ernest Gellner u. John Waterbury. London 1977, 81-96; Boissevain, Jeremy. »Ritual escalation in Malta«. Religion, Power, and Protest in Local Communities. Hg. v. Eric Wolf. New York 1984, 163-184. 27. Tak, Herman. South Italian Festivals. A local history of ritual and change. Amsterdam 2000. 28. Naumann, Hans. Primitive Gemeinschaftskultur: Beiträge zur Volkskunde und Mythologie. Jena 1921; Krauss, Friedrich Salomon. Der Urquell: Eine Monatsschrift für Volkskunde. Leiden 1897; Schermann, L. u. Friedrich Salomon Krauss. Allgemeine Methodik der Volkskunde. Erlangen 1899; Lévi-Strauss (Anm. 22). Hobsbawm, E. J. u. Terence Ranger (Hg.). The Invention of Tradition. Cambridge 1983. 52

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Wer aufgeladen war mit paranoider Erregung, dem wurde eine vage Theorie vorgesetzt, Ideen könnten sich manchmal in Ideen verrennen, man habe wohl zuviel über das Denken nachgedacht, oder er, der Kranke könne doch mal zum Arzt gehen. Verlorene Fälle, von ihren Verwandten zum Magier geschleift, dumpf vor sich hinstarrende Irre des klassischen Typus dagegen wurden mit wüsten Vermutungen in Alarm versetzt: Da hat jemand was gemacht, wahrscheinlich ist es mit dem Knochenstaub der Toten gemacht worden, du bist Opfer des bösen Windes, des Neides, der fattura geworden, da hast du die Quittung. Therapie: Bitterkräuter zum Aufstoßen und Kotzen und Gebete mit handfesten Abreibungen am ganzen Körper bei Vito. Hinterher fragt er besorgt, ob man auch den Schauder gespürt habe.

Leben Einer der Magier, mit denen ich in Lukanien gearbeitet habe, gab vor, auf Jungfernpergamenten, die er mit Asche bestrich, Botschaften der Toten zu empfangen, die seine Patienten betrafen. Er schrieb sie ab und gab diese Briefe voller Diagnosen, Ratschlägen, Ermahnungen an die Verhexten und Verstörten weiter, die regelmäßig seine Praxis bevölkerten. Vitos Jungfernpergamente wecken die Vorstellung von frisch pulsierendem Blut. Wurden sie nicht früher aus den Häutchen junger Frauen gefertigt? Mit der Arbeit über den knisternden Pergamenten und mit seinen Abreibungen schützt Vito die Kunden gegen körperliche Schwäche. Sie leiden an mangelnder Zirkulation des Blutes, ihr Blut ist gebunden. Die Opfer des bösen Blicks gehen mit einem Gefühl der Blutarmut im Gehirn einher, schreckliche Schwäche und Unruhe haben sie erfaßt und sie sind leichenblaß. Die Heilerin nimmt das auf sich, dann fließt ihr der Speichel das Kinn hinunter, la lizza. Die Heilerin wird blaß, ihre Kunden jedoch haben wieder rote Backen. Blut ist Leben, trocken ist der Tod.29 Eine Heilerin erklärt es mir: »Die Geister machen das, weil sie sterben. Dort draußen lassen sie ihren Geist fahren, die ersten Blutstropfen fallen auf die Erde. Dort fährt der Geist aus ihnen heraus. Dann ist es so mit ihnen: Sie langweilen sich, wenn sie immer da draußen herumsitzen müssen, so wie du hier immer herumsitzt auf deinem Stuhl. Also machen sie sich auf den Weg. Das ermüdet sie aber auch, und so setzen sie sich auf einen Menschen. So sind sie zufrieden. Sie fühlen sich ruhiger, einfach frisch. Nun gibt es Leute, die gehen auf den Friedhof und holen sich da die Knochen von den Toten, die von den Leuten, die umgebracht wurden, die Toten, die einen 29. Onians, Richard Broxton. The Origins of European Thought. Cambridge 1989, Erstdruck 1951. 53

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üblen Tod hatten, nicht wahr? Sie holen sich diesen Knochen und verbrennen ihn auf der Spiritusflamme. Das wird zu einer Art Mehl verarbeitet, pulverisiert. Nachdem du das gemacht hast, tust du es in Flüssigkeiten und bringst das bei jemandem an. So wie jener gestorben ist, stirbt nun auch dieser … Wenn sie es dir acht Tage lang machen, heißt es ›Der Toten Zauber wirkt in acht Tagen sauber‹. Wenn sie dir eine richtig wirksame Fattura versetzt haben, die dich Tag für Tag vertrocknet, dann trocknet dir das Blut im Körper, das Fleisch vertrocknet, alles, und am Schluss mußt du unausweichlich sterben.« Das Leben austrocknen heißt, es rückgängig zu machen. Aus dieser alten europäischen Überlieferung heraus konnte der Vampirglaube entstehen, aber auch die Lehre vom arteigenen Blutstrom und von den Rassen und manch anderer blutige Exorzismus des Bösen.30 Verhextsein heißt: Das Blut ist angebunden, es ist belastet mit etwas Trockenem, Zähem. Der junge Mann ist blaß und schwach und sein Knüppel versagt. Die junge Frau träumt von einem längst verstorbenen Bösewicht an ihrem Bett, der sie mit gräulicher Kastratenstimme auffordert, in die Gruft mitzukommen. Tatenlos, geschwächt, abgemagert bleibt sie im Bett und rührt sich nicht mehr. Fixiert, perplex und unlebendig reagieren auch die anderen Opfer der Hexerei. Vito wird mit seinen Abreibungen aktiv. Er betet: »Daß Gott dich befreie von der Wiederholung all dieser bösen Leiden, auf daß Gott dich endgültig heile, auf daß Gott dir Blut, Nerven und Knochen löse.« In den Praktiken der Heilerinnen und der Magier in Lukanien beobachte ich eine existenzielle, auf das Grundlegende reduzierte Form von Lebhaftigkeit und kleinen Toden. Diese Tradition lebt weiter, auch heute noch, obwohl die Menschen nicht mehr durch Hunger, Malaria und tierisches Schuften in Haus und Feldern auf den Nullpunkt gebracht werden, so, wie Ernesto de Martino es noch beobachtet hat: »Die Totenklage nimmt, insbesondere in den unteren sozialen Schichten, extreme Formen an. In ihrer radikalsten Form weist sie den charakteristischen Gegensatz von Abwesenheit und krampfhafter Entladung auf: Das individuelle Bewußtsein verlöscht, und die seelische Energie entlädt sich als rein mechanische Energie in den Zuckungen.« 31 Das gilt ebenso für die Besessenen der fünfziger Jahre wie für das Verhalten der Verhexten, das ich in den Praxen der Heilerinnen und Magier beobachtet habe. Es waren nicht immer bloß die unteren sozialen Schichten, 30. Klaniczay, Gábor. Heilige, Hexen, Vampire. Vom Nutzen des Übernatürlichen. Berlin 1991, 73 ff. 31. De Martino (Anm. 25), 106. 54

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die sich auf diese Weise von ihren Dämonen befreiten, und es geht heute weiter, wenn auch in diskreter und modernisierter Form, obwohl mittlerweile niemand mehr in Süditalien so bedrängt leben muß wie die Bauern der fünfziger Jahre. Das Zittern und das Erstarren, der Ekel und die Angst gehören zur grundlegenden körperlichen Ausstattung des Menschen. Löst man hochgestochene Begriffe wie Atom oder Logik aus den philosophischen Schriften der alten Griechen heraus, bleibt eine Lebenslehre übrig. Sie baut auf dem Gegensatz zwischen pulsierender Lebendigkeit und der schrecklichen Trockenheit des Todes.32 Das ist der »Urgegensatz des Lebens«33: Ein gespannter Muskel sondert Feuchtigkeit ab, Entspannung sorgt für die Aufnahme von Flüssigkeit. Pulsiert der Muskel frei, sind Feuchtigkeit und Trockenheit im Lot, aber bei dauernder Verspannung vertrocknet das Leben. Der Tod ist ein Krampf. Menschen können im Gegensatz zu Tieren Einfluß auf diese instinktiven Abläufe und körpereigenen Prozesse nehmen, aber das geschieht in engen Grenzen. Rhythmen der unbelebten Natur und der Stoffwechsel des organischen Lebens liegen den Ritualen der Kultur zugrunde. Das Dasein geht aus dem Nichtsein hervor, und seine nachdenklich gewordene, kreative und variantenreiche menschliche Form wird sich nie so verselbständigen können. Daß wir unser Leben unabhängig von der Natur gestalten könnten oder sollten, ist ein Widerspruch in sich. Leben ist Leben, auch wenn es sich selbst reflektiert.34 Wenn moderne Mediziner von Nervenzusammenbruch sprechen oder von seelisch bedingten Kreislaufstörungen, wissen sie oft nicht genau, was sie eigentlich damit meinen. Die Psychosomatik der Angst ist ohne Anker. Angst kommt von angustia, Enge. Aber was ist zuerst da, die Wahrnehmung von Angst oder die körperliche Reaktion der Beengung? Wie hängt beides zusammen?35 Das Zusammenspiel körperlicher und geistiger Kräfte konnte bisher weder von Natur- noch von Geisteswissenschaftlern erklärt werden. Vielleicht sollte man auf das Wissen der Lukaner zurückgreifen. Es stützt sich auf die Beobachtung des Stoffwechsels im Menschen ebenso wie auf die Erkundung der Tauschbeziehungen zwi32. Onians (Anm. 29), 255. 33. Reich, Wilhelm. »Der Urgegensatz des vegetativen Lebens«. Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie 1, 1934, 3-10. 34. Vgl. die bis vor wenigen Jahren unpublizierten Schemata zur Kontinuität von Natur und Kultur bei de Martino (Anm. 7), 42 f. 35. Vgl. von Uexküll, Thure. Psychosomatische Medizin. München 1997, 180-184. Auch die Lokalisierung eines Brechzentrums im Gehirn erklärt uns noch nicht ganz, wie Ekel und Erbrechen letztlich ausgelöst werden oder individuell variieren – es ist immer ein ›psychologisches‹ Moment beteiligt. Birbaumer, Niels u. Robert F. Schmidt (Hg.). Biologische Psychologie. Heidelberg 31996, 223. 55

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THOMAS HAUSCHILD

schen den Menschen. Was den Stoffwechsel angeht, so hat die klassische Psychosomatik ähnliches bei sogenannten Kirchenohnmachten studiert und bei hysterischen Anfällen.36 Überatmung und das Zurückhalten des Atems – beides Zeichen der Erregung – binden das Blut fest und lassen die Gedanken im unterversorgten Hirn ruhelos um wenige Ideen kreisen, bis alles im Nebel der Ohnmacht oder des Krampfes versinkt. Man kann an solchen Zuständen sterben, es ist einer der wenigen Beweise für die Macht der Seele über den Körper in einer Welt, die ständig die Macht des Körpers über die Seele beschwört.37 Verhexte beschreiben mir, zeigen mir, wie der Tod ihren Atem anhält, wie er ihr Blut zum Stocken bringt, wie sie sich gewürgt fühlen von einer höheren Macht. Der mitfühlende, nach außen gerichtete (sympathische) und der von der Außenwelt abgewandte eigensinnige (parasympathische) Teil des Nervensystems blockieren sich gegenseitig.38 Das Atmen hört auf, das Denken. Dieser Körper kann an keinem Tausch mehr teilnehmen, das Essen wird verweigert, im Gegenteil, man versucht, sich Entlastung zu schaffen, läßt Wasser und Kot, Speichel fließt, Schweiß steht kalt auf der Haut, der Mageninhalt wird erbrochen. Angst kommt von angustia, die Enge. Ein Teil des Nervensystems ist gegen den anderen aufgebracht, ein Körper gegen den anderen. Die Luft reicht nicht zum Atmen für beide.

Biologie In den Diskussionen der Kultur- und Sozialwissenschaften kommt heute vorschaltbares Wissen über die biologische Situierung des Körpers nur selten zu Wort. Das ist für den deutschen Wissenschaftsbetrieb nur ein halbes Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur symptomatisch, sondern sicherlich auch Außenstehenden nachvollziehbar. Doch mit dieser Meidung werden auch neue Probleme geschaffen. Das »anthropologische Defizit«39 führt bisweilen dazu, daß im Moment der Krise übererregt debattiert wird, oder daß man das Feld vorzeitig Kräften überläßt, die dem Thema eigentlich gar nicht gewachsen sind. 36. Bräutigam, Walter u. Paul Christian. Psychosomatische Medizin. Stuttgart 1974, 116118; de Martino (Anm. 24), 4 ff. 37. Vgl. Blumenberg, Hans. Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1996, 130; Bilz, Rudolf. Paläoanthropologie. Frankfurt a.M. 1971, 418-425, 442-447; Cannon, Walter B. »›Voodoo‹ Death«. American Anthropologist, N.S. 44:2, 1949, 169-18; Lévi-Strauss, Claude. »Der Zauberer und seine Magie«. Strukturale Anthropologie. Frankfurt a.M. 1967, 183-203. 38. Boadella, David. Wilhelm Reich. Pionier des neuen Denkens. München 1995, 107 ff. 39. Rössner, Hans (Hg.). Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie. München 1986. 56

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GESCHICHTE UND NICHTGESCHICHTE DES KÖRPERS

»Auch in der Gegenwartskultur vollzieht sich der Titanenkampf zwischen den zähmenden und den bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien.«40 Daß ein solcher Satz ernsthaft unter Intellektuellen für Aufregung sorgt, ist wohl nur aus diesem verlängerten Nachkriegsklima der deutschen Gegenwartskultur heraus verständlich. Der »historische Kompromiß«, mit dem Ernesto de Martino lebte, hat wesentlich unaufgeregtere Formen des »etnocentrismo critico« ermöglicht – in nachgelassenen Schemata läßt er bereits in den sechziger Jahren den Historismus und Marxismus hinter sich und zeichnet eine direkte Linie zwischen den Motiven natürlicher Repetition, körperlichen Rhythmen und dem Wiederholungszwang der Rituale.41 Aber auch für Akademiker, die in der kulturund sozialanthropologischen Tradition stehen, ist die Aufregung nur begreiflich, wenn man weitere Sätze Sloterdijks hinzuzieht, denn in seinem Antwortbrief an Heidegger ist auch von einem »Gelingen« der Selbstzähmung die Rede, ein zumindest doppeldeutiger Ausdruck, denn keine Gesellschaft weiß, was sie ihren Nachfahren auf den Weg gibt mit ihren generationsspezifischen Regulierungen. Und daß die gesamte Passage mit einem undifferenzierten Hinweis auf ›die‹ Gewaltwelle an den Schulen der westlichen Welt garniert ist, zeugt nicht davon, daß Sloterdijk selbst sich die nötigen kulturanthropologischen und kulturhistorischen Kenntnisse, z. B. über Gewalt und Adoleszenz, angeeignet hat, bevor er aufbricht zur Regulierung des Menschenparks. Es ist dieses Beharren auf Teilpositionen der Erkenntnis, das wir an Sloterdijk bemängeln und an seinen Kritikern ebenso. Die Pendelbewegung zwischen Aufgeregtheit und Fatalismus wurde nicht so geschickt vollzogen, wie in den Praxen ungelehrter Magier in Süditalien. Das ist zum Lachen. Es geht uns um das Schweigen der Kulturwissenschaften, während andere noch einmal die Grenzen des rein biologischen Körpers im Verhältnis zur Imago und zum Leib anzumessen versuchen, bevor die Menschheit in ein neues Zeitalter der Machbarkeit eintritt (und in Zukunft dann die Bilder der alten Welt als einzigen Spiegel hat) oder bis dieses Projekt scheitert und massiv die Frage gestellt werden wird nach einer Neufundierung der Ethik aus einer Kenntnis der Geschichte und Varianz menschlicher Diskurse, ihrer notwendigen Beziehungen und ihrer Grenzen.42

40. Sloterdijk, Peter. Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben an Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt a.M. 1999. 41. Vgl. De Martino (Anm. 7). 42. Der letzte Absatz des Aufsatzes referiert meine Textbeiträge zu der unter Jonas (Anm. 3) im Internet veröffentlichten bibliographischen Studie über die Anthropologie des Körpers. 57

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Körper im Kulturkontakt. Räume des Kollektiven bei Lygia Clark und Hélio Oiticica Inge Baxmann

Von ›Multikulti‹ zu ›Culture Clash‹ Weltweite Migrationen und durch neue Medientechnologien wie das Internet ermöglichte transnationale Kommunikationsnetze haben Kulturen in einem nie bekannten Ausmaß in Kontakt und in Bewegung gebracht. Dabei wird jene Gleichsetzung von Kultur, Identität und geographischem Raum aufgelöst, wie sie das geopolitische Imaginäre des modernen Nationalstaates charakterisierte. Statt dessen entwickelt sich eine neue kulturelle Kartographie in den Zwischenräumen kultureller Räume – von öffentlichen Gebäuden, Straßenlandschaften und Stadtvierteln. Puerto Rico findet man in New York, Mexiko in Los Angeles, die Türkei in Berlin und die Banlieues der französischen Großstädte sind Orte der arabischen und afrikanischen Jugend. Transnationale Grenzüberschreitungen erfolgen nicht mehr nur zwischen den Grenzen von Nationalstaaten, sondern auch in den Straßen einer Weltstadt. Es gibt euphorische und kritische Versionen von ›Globalisierung‹. Für manche bedeutet sie einen Tanz der Kulturen, die Überwindung rigider ideologischer und politischer Trennungen und die weltweite Verfügbarkeit kultureller Produkte und Informationen von CNN, IBM, worldbeat-music bis zu brasilianischen TV-Serien. Die Praxis der Globalisierung hingegen bedeutet vor allem unbeschränkte Zirkulation von Waren, Kapital und digitaler Information. Trotz aller euphorischer Diskurse von Multikulturalität und globaler Vernetzung ist die Zirkulation von Menschen, insbesondere aus armen Regionen, dagegen weit weniger erwünscht. Die Überlappung und (auch gewaltsame) Konfrontation von Kollektiven und Körpern im transnationalen Raum der europäischen, nord59

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INGE BAXMANN

amerikanischen und lateinamerikanischen Metropolen führte zu einer Krise liberaler Modelle von Kulturaustausch und Kulturkontakt. Das positiv besetzte Stichwort »Multikulti« wurde durch das Motto des »Culture Clash« ersetzt, das die Unvereinbarkeit zwischen den Kulturen betont. Die brasilianischen Künstler Lygia Clark und Hélio Oiticica stellten schon in den 1960er und 70er Jahren aus der Perspektive Lateinamerikas die Frage nach dem Raum des Kollektiven. In ihren Performances untersuchten sie den Raum ›zwischen‹ Körpern. Aus der Perspektive der ›Peripherie‹ stellten sie die Frage nach einem kulturellen Austausch, dem eine körperliche Erfahrung zugrunde liegt. Was bedeutet es, wenn Austausch und Kommunikation nicht aus ›sicherer‹ Distanz geschehen? Obwohl beide Künstler ihre Performances sowohl in Brasilien als auch in Europa und den USA realisierten (Lygia Clark arbeitete zwischen 1968 und 1975 in Paris, Hélio Oiticica Ende der 60er Jahre in London, später in New York und kam 1978 nach Rio zurück), war ihr gemeinsamer Bezugspunkt die brasilianische Volkskultur des Körpers, die auf der Mischung von indigenen, spanischen und portugiesischen sowie afrikanischen Migrationen mit den Einflüssen anderer europäischer und nordamerikanischer Traditionen beruht. Sie kommt nicht nur im Karneval oder in ›nationalen‹ Rhythmen wie der Samba zum Ausdruck, sondern vorwiegend im Fortleben oraler, auf dem Körpergedächtnis beruhender Traditionen kultureller Überlieferung innerhalb der von multinationalen Medien geprägten brasilianischen Kultur. In diesem Prozeß bildeten sich Kulturtechniken des Umgangs mit Synkretismen und heterogenen Raum/Zeitachsen heraus, auf die Lygia Clark und Hélio Oiticica zurückgreifen. Gegen jeden Exotismus und Folklorismus inszenierten sie in ihren Performances Kollektivkörper, die diese überkommene Metapher für die soziale Gemeinschaft von der symbolischen Ebene in eine Erfahrung des kollektiven Raums überführen. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit den Paradoxien, die unser konventionelles Denken über Raum und Zeit bestimmen. Damit profilierten sie Wahrnehmungs- und Verhaltensstile, wie sie heute im durch den Globalisierungsprozeß geschaffenen ›dritten Raum‹ kultureller Übergänge gefordert sind, der ja gerade durch Ungleichzeitigkeiten, Brüche und Konfrontationen charakterisiert ist. Lygia Clark und Hélio Oiticica richten sich gegen ein ›entkörperlichtes‹, abstraktes Verständnis von Kulturaustausch, innerhalb dessen die westeuropäischen und nordamerikanischen Kulturen die Modalitäten bestimmen. Dagegen verstehen sie Austausch als Inkorporation und Interaktion zwischen Körpern. Damit bieten ihre Performances und Objekte Anregungen für eine neue körper- und sinnesorientierte Politik von Zeit und Raum. Die transnationale Welt ist durch die paradoxe Gleichzeitigkeit 60

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und Durchdringung unterschiedlicher nationaler und regionaler Räume und historischer Zeiten charakterisiert, wobei die beschleunigte Vermischung der Kulturen ihre Widersprüche und Inkompatibilitäten keineswegs nivelliert, sondern erst hervortreten läßt. In der Transnation sind die imaginierten Gemeinschaften vor allem über die Konsumkultur vermittelt. In der Zirkulation und Konsumption von Waren artikuliert sich eine transnationale Soziabilität, so in der Mode oder in der Musik, die das Lebensgefühl im globalen Raum bestimmen. Der Konsumzyklus stellt so einerseits neue transnationale Gemeinschaften her, andererseits grenzt er andere aus, nämlich diejenigen, die sich die Teilnahme nicht leisten können. Ihnen bleiben die ›Abfälle‹, deren Aufbereitung für neue Nutzungen in Brasilien (vom Alltagsleben in den Favelas bis in die populäre Kunst) schon zur Kulturtechnik geworden ist. Hélio Oiticica und Lygia Clark nutzten Objekte aus der Konsumkultur für ihre Performances und führten sie dabei einer neuen Funktion zu: Über die ›Ankörperung‹ dieser Objekte eröffneten sie einen Raum der Gemeinschaft. So wurden u. a. Plastiktüten, Zeitungspapier oder Gummibänder mit dem menschlichen Körper verbunden und dienten nun dazu, den »zwischenkörperlichen Raum« (Hélio Oiticica spricht vom »espaço intercorporal«) zu erfahren.

Kannibalische Kollektivkörper In den Arbeiten Lygia Clarks wird die Metapher des Gemeinschaftskörpers neu gedeutet. Ihre Performances Baba antropofágica und Cannibalismo, die sie 1973 in São Paulo und Paris realisierte, erforschen Kollektivbildung als körper- und sinnesbezogenen Austausch. Statt einer idealisierten Version von transsubjektiver und transkultureller Kommunikation machen diese Performances die Materialität von Kommunikation und Alterität erfahrbar. Daraus entsteht ein monströser Kollektivkörper, eine anthropophagische Welt individueller und kollektiver Identitätsbildung. Die kannibalische Metapher des Verschlingens als Ausdruck für Kommunikation wird gewissermaßen ›wörtlich‹ genommen und in eine Inszenierung überführt, die das Körpergedächtnis aktiviert. Gemeinschaft wird körperlich erfahrbar. Cannibalismo: In dieser Performance verschlingen die Teilnehmer mit verbundenen Augen tropische Früchte, die einen reglos auf dem Boden liegenden Körper bedecken. In alten Ritualen der Gemeinschaftsbildung, so im totemischen Mahl oder in der christlichen Messe, ist Inkorporation zugleich ein Akt der Gemeinschaftsstiftung, der einen Kollektivkörper formt. Dieses gemeinschaftsstiftende Ritual der gemeinsamen Nahrungsaufnahme be61

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Abbildung 1: Lygia Clark: Cannibalismo (1973)

Quelle: Ausstellungskatalog Lygia Clark. Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997, 302.

stimmt das kannibalistische Ritual, wobei das Fleisch durch tropische Früchte ersetzt wird. In einem Brief an Hélio Oticica erläutert Lygia Clark, die Früchte böten die »Frucht der Gelegenheit an, den Geschmack und die Sinnlichkeit des Essens, des Lebens dieses Moments«1 zu erfahren 1. Clark, Lygia. »Carta a Hélio Caeta Gério, 26.10.1968«. Dies. u. Hélio Oiticica. Cartas. 62

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und die Teilnehmer zu motivieren, sich neuen Erfahrungen zu öffnen, jeden Tag eine »unbekannte Frucht« zu probieren. Lygia Clarks Arbeiten oszillieren zwischen Metaphorik, Symbolik und deren Verkörperung. Sie verweisen auf die körperliche Dimension von Metaphern und Symbolen im gesellschaftlichen Imaginären, das als Körper- und Sinnesgedächtnis in den Körper eingeschrieben ist. Lygia Clark wollte über die Aktivierung dieses Gedächtnisses den Wechselbeziehungen zwischen dem Physischen und Metaphorischen in der Körpererfahrung nachspüren, um eine Interaktion mit jenen Erfahrungen in Gang zu setzen, die in den der Sprache nicht zugänglichen Erinnerungen des Körpers gespeichert sind. Der Gemeinschaftskörper als eine überkommene Metapher, die den sozialen Zusammenhalt bezeichnet, diente in der westlichen Kulturtradition vor allem als Abgrenzungsfigur (vom ›Anderen‹, Fremden, das dem Kollektivkörper nicht angehört, aber paradoxerweise darüber seine Identität erst stiftet). Modelle des Gemeinschaftskörpers, wie sie beispielsweise die Theorien des Gesellschaftsvertrags postulierten, gründeten auf der Vorstellung, daß dieser als bewußter Akt hergestellt wird und das Bewußtsein des einzelnen Körpers, der Grenze zwischen Kollektiv und Subjekt, dabei nicht verloren geht. Abbildung 2a: Lygia Clark: Baba antropofágica (1973)

Quelle: Ausstellungskatalog Lygia Clark. Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997, 296.

1964-1974. Rio de Janeiro 1996, 16 (»Fruto no sentido fruta, tal o sabor e a sensualidade do comer, viver est momento.«). Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin. 63

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Abbildung 2b: Lygia Clark: Baba antropofágica (1973)

Quelle: Ausstellungskatalog Lygia Clark. Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997, 296.

Andererseits legten christliche Formen der Gemeinschaftsbildung wie die Kommunion ebenso wie das kannibalische Ritual die Vorstellung einer Fusion im kollektiven Körper nahe, die auf Blut gründet. Cannibalismo und Baba antropofágica knüpften an diese Idee an. Baba antropofágica: Eine Person liegt mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Andere sitzen oder hocken um den Körper, beugen sich über ihn und ziehen aus ihren Mündern, in denen jede(r) eine Wollspule hat, unendliche Fäden, die sie auf die liegende Person fallen lassen, bis der ganze Körper und das Gesicht bedeckt sind. Dann legen die Teilnehmer ihre Hände auf diese Masse von mit Speichel überzogenen Fäden und entfernen sie vom Körper. 64

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Es sind diese von Speichel überzogenen Fäden, die den Trank oder das Mahl darstellen, das die Körper verbindet. Die Teilnehmer lassen sie über ihre Gesichter fallen, sie verbinden sich mit ihnen und über sie mit den anderen oder führen die mit dem Speichel der anderen getränkten Hände über ihr Gesicht. Ein Grundmuster aller Formen der Einverleibung ist der physische Akt des Essens. Nahrung ist das wichtigste Symbol für die Absorbierung externer Substanzen, wie auch für die Transferierbarkeit kultureller Bedeutungen, die sich Kategorien einer fixierten kulturellen Identität tendenziell entziehen. Lygia Clarks Experimente mit ihren Pariser Studenten zielten auf die Herstellung eines Kollektivkörpers, der auf dem Austausch innerster Psyche beruht, einem Austausch, der durchaus nicht nur angenehm ist.2 Das Verschlingen der Ausscheidungen der Alterität, wie sie schon das kannibalistische Mahl kennt, ist eine angstbesetzte Erfahrung, die durch die Gegenkraft der Gruppensolidarität aufgehoben wird. Die Teilnehmer erfahren so die Gegenpolarität von Aggression und Gemeinschaftlichkeit, die das anthropophagische Ritual seit jeher kennzeichnet. Der Kunstgriff des Baumwollfadens situiert die Performance an der Schnittstelle zwischen reiner Symbolik und dem Nachagieren des Rituals. Der Faden ist nicht nur eine Metapher, sondern Glied einer Kette von Metaphern, denn er steht für Speichel, der sich seinerseits auf das organische Innere der teilnehmenden Person bezieht, das seinerseits für ihr psychisches Inneres steht. Der Faden ersetzt das Blut, das Sakrament der Vereinigung, er ist zugleich die Ausweitung des individuellen Körpers zum Kollektivkörper, der die einzelnen im wahrsten Sinne des Wortes ›vernetzt‹. Zugleich ist diese Form der Kommunion ein Akt, in dem die vivências, die Ausscheidungen, der einzelnen von der Gruppe wieder inkorporiert werden. Das Blut wird durch Speichel ersetzt, das Menschenfleisch durch tropische Früchte. Die Arbeit mit der Verkörperung und Inszenierung von Metaphern hat durchaus Ähnlichkeit mit therapeutischer Arbeit, wie sie Lygia Clark später realisierte. Die Wechselbeziehungen zwischen ›Physischem‹ und ›Symboli2. Vgl. Clark, L. Zit. nach Fabbrini, Ricardo Nascimento. O Espaço de Lygia Clark. São Paulo 1994, 170: »Dies ist keine angenehme Sache: Ausgangspunkt ist die Idee, daß ein Teil der Gruppe, die an diesem Vorschlag teilnimmt, ihr Inneres erbricht, das seinerseits von den anderen verschlungen wird, die sofort ihre eigenen inneren Substanzen erbrechen. Auf diese Weise entsteht ein Gewöll von inneren Eigenschaften und das Wort Kommunikation ist zu schwach, um zu beschreiben, was in der Gruppe passiert.« (»Esta troca não é uma coisa agradável: a ideia è um componente do grupo vomitar sua vivência ão participar de um proposição vomito esse que será engolido por outros que immediatamente vomitarãm também seus conteúdos internos. E assim uma troca de qualidades psíquicas baba, e a palavra comunicação é fraca para exprimir o que acontece no grupo.«) 65

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schem‹ in der gelebten Erfahrung ist ein Terrain, das Lygia Clarks Vorstellung menschlicher Kommunikation prägt. Auf der Grenze zwischen künstlerischer und therapeutischer Praxis untersucht sie die im Körpergedächtnis gespeicherten affektiven Erinnerungen. Obwohl (vor allem in Form von Metaphern und Symbolen) von sozialen Diskursen durchsetzt und geprägt, sind sie der Sprache nur schwer zugänglich. Für Lygia Clark gibt es keinen ›direkten‹ Zugang zum Körper, jede Körpererfahrung ist mit imaginären Bedeutungen durchsetzt. (Dies wurde in der Hoch-Zeit der Performance und Body-Art in Europa und den USA, die sich zeitlich mit Lygia Clarks Experimenten überschneidet, häufig vergessen.) Die Metamorphosen des Kollektivkörpers führen zu einer Krise der Differenz, der Abgrenzung zwischen den teilnehmenden Individuen, die als Destabilisierung erlebt wird. Lygia Clarks Körperkonzept hat einen direkten Bezug zur Psychoanalyse.3 Vor allem ihre Vorstellung von Inkorporation beruht auf dem Konzept der »Interiorisierung«, das sie im Zusammenhang mit Baba antropofágica verwandte. Andererseits verweisen ihre Performances auf kollektive Rituale zwischen Therapie und Exorzismus, wie sie in den urbanen Zentren Brasiliens verbreitet sind, bei denen magische Praktiken mit Therapie und Psychoanalyse verbunden werden.4 Es geht aber auch um die Phantasmen der Wahrnehmung: Der Blick erweist sich als eine historische Konstruktion, die auf die Tiefendimension des Begehrens oder der Abstoßung verweist. Lygia Clarks Performances wie schon ihre Rauminstallationen und Objekte verweigern sich überkommenen Wahrnehmungsgewohnheiten und lösen die kulturellen Codes auf, die die Situation definieren. Dies ist die Herausforderung ihrer Performances und die Bedingung für neue Erfahrungen in einem unsicheren Raum. Die französische Psychoanalytikerin Suely Rolnik nahm 1994 in São Paulo (nach Clarks Tod) an der Performance teil und beschrieb ihre Erfahrung mit Baba antropofágica. Als die auf dem Boden liegende Person erlebte sie einen progressiven Verlust räumlicher und zeitlicher Orientierung, aber zugleich die Intensivierung körperlicher Erinnerungsbilder.5

3. Insbesondere zu einem Artikel in der Nouvelle revue de psychanalyse. Paris, 6/automne 1972, von Pierre Fédida mit dem Titel »Sur le cannibalisme mélancolique«. 4. Zu diesen Praktiken vgl. Silverstein, Leni M. »The Celebration of Our Lord of the Good End: Changing State, Church, and Afro-Brazilian Relations in Bahia«. Hess, David u. Roberto DaMatta. The Brazilian Puzzle. Culture on the Borderlands of the Western World. New York 1995, 134 ff.; vgl. auch Hess, David. Samba in the Night. Spiritism in Brazil. New York 1994. 5. S. Rolnik, Suely. »Por um estado de arte: a atualidade de Lygia Clark«. Fundação 66

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»Sie sucht die Auflösung der Formen, eine Verflüssigung im Prozeß der Subjektivierung: sich formen lassen, sich auflösen und neu zusammenfügen lassen durch die unterirdische Arbeit der Kräfte/Energien unserer Triebe. Man muß sich diesem Prozeß öffnen können, der sich im Geheimen vollzieht und der einen Körper fordert, der ihn zum Ausdruck bringt (verkörpert), einen Gedankenkörper, einen Kunst-Existenzkörper. Lygia Clark schlägt uns eine anthropophagische Welt der Subjektwerdung vor: Das Tier im Menschen, das ihn verschlingt, ein andrer Mensch, der aus dieser Verschlingung geboren wird und auf diese Weise geht es unendlich weiter.«6 Die Wahrnehmung wird destabilisiert, um die Materialität der Alteritätserfahrung spürbar werden zu lassen und eine andere Art von Wissen, das »Körperwissen« zu aktivieren. Dieses tritt an die Stelle überkommener Orientierungsmuster. Wenn sich jene stabilen Bezugspunkte für die Subjekt- und Identitätsbildung auflösen, die v. a. über Abgrenzung funktionieren, wird ein Raum des Kollektiven eröffnet, der zugleich ein Raum der Aggression wie der Solidarität, der Anziehung und Abstoßung, der Auflösung wie der Neustrukturierung ist. Kommunikation wird hier zu einem (ebenfalls materiellen) Austausch, der sowohl die positiven wie die negativen Aspekte der Teilnehmer beinhaltet. Dieser Kollektivkörper ist ambivalent: Die Auflösung der Grenzen zwischen Körpern und die Neustrukturierung von Raum, die nicht über die visuelle Wahrnehmung sondern über Muskelkontakt und Körperbewußtsein erfolgt, bedeutet Aggression wie Schutz zugleich.

Phantasmen des Kulturkontakts: Der Kannibalenkomplex der europäischen Kultur Kannibalismus und Kulturkontakt sind schon historisch eng verbunden. Der Kulturaustausch zwischen Europa und den lateinamerikanischen Ländern war durch den Kannibalismusvorwurf des europäischen Zentrums an die lateinamerikanische ›Peripherie‹ bestimmt. Der ›Kannibalenkomplex‹ der europäischen Kultur war eine Antwort auf die Krise des Bienal de São Paulo, XXIV Bienal de São Paulo: nucleo histórico: antropofagia e histórias de canibalismos (curadores Paulo Herkenhoff/Adriano Pedrosa), São Paulo 1998, 456 ff. 6. Ebd., 460 (»Ela quer é a desreificação da existência individual e coletiva, a descoagulação das formas, a conquista de uma fluidez nos processos de subjetivação – um plasmar-se, como ela diz, deixar-se decosturar e costurar pelo fervilhar do trabalho subterrâneo das forças/fluxos de nosso bicho, germinação que se opera em silêncio e que pede um corpo ve venha encarná-la, um corpo de pensamento, de arte, de existência, etc. Lygia nos propoe um modo antropofágico de subjetivação: o bicho devorando o homem, outro homem nascendo desta devoração e assim ão infinito.«). 67

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Kollektivkörpers in Europa in einer Zeit der Religionskriege und Zerstörung. Die modernistische Bewegung im Brasilien der 1920er und 30er Jahre kehrte diese Zuschreibung der europäischen an die fremde Kultur und die ideologische Legitimationsfigur für die koloniale Unterwerfung um. Die ›Kulturanthropofagen‹, auf die sich Lygia Clark und Hélio Oiticica beziehen, machten die Anthropophagie zur Schlüsselmetapher für ein neues Verhältnis zur europäischen Kultur. Über die Umschreibung und Neuinterpretation von Topoi, kulturellen Praktiken und Diskursen der europäischen Moderne vor dem Hintergrund der brasilianischen Erfahrung suchten die brasilianischen Modernisten nach einem neuen Modell kultureller Selbstbeschreibung. Der Kannibalismus wurde in diesem Kontext zum Modell für eine neue Vorstellung des Austauschs zwischen Kulturen. Wie die Tupi-Indianer, die Ureinwohner Brasiliens, ihre Feinde verspeisten, um sich deren Kraft anzueignen, so sollte eine nationale brasilianische Kultur aus der anthropophagischen Aneignung des Wissens und der Technologien der europäischen Metropolen entstehen. Die ›Kulturanthropophagen‹ sammelten sich um die Zeitschrift Revista de Antropofagia, die zwischen Mai 1928 und August 1929 in São Paulo erschien. Ihre Leitfigur war der Schriftsteller und Philosoph Oswald de Andrade. Den Ausgangspunkt für die kulturanthropophagische Strategie bildete die Umstrukturierung überkommener Wissensordnungen und Beschreibungskulturen in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts, wie sie vor allem mit den neuen Technologien und Medien verbunden war. In seinem Manifesto Pau-Brasil von 1924 polemisierte Oswald de Andrade gegen ein akademisches und aus den europäischen Metropolen importiertes Kulturverständnis. »Die Reaktion auf alle Unverdaulichkeiten der Gelehrsamkeit. Das Beste unserer poetischen Tradition. Das Beste unserer Moderne. Nur Brasilianer von Heute. Das Notwendige aus der Chemie, der Mechanik, der Ökonomie und der Ballistik. ALLES VERDAUT. OHNE KULTURELLES MEETING. Praktiker. Experimentierer. Poeten … Ohne stützende Vergleiche. Ohne etymologische Forschung.« 7 Oswald de Andrades kulturanthropophagische Strategie inspirierte sich bei Nietzsche, der gegen die Buchkultur aus dem physiologischen Modell 7. De Andrade, Oswald. »Manifesto Pau-Brasil«. Correio da Manhã 18 de março de 1924, Obras completas 6, São Paulo, 45 (»A reação contra todos as indigestoes de sabedoría. O melhor de nossa tradição lírica. O melhor de nossa demonstração moderna. Apenas brasileiros de nossa época. O necessário de química, de mecânica, de econommia e de balística. TUDO DIGERIDO. SEM MEETING CULTURAL. Práticos. Experimentais. Poetas … Sem comparaçoes de apoio. Sem pesquisa etimológica. Sem ontologia.«). 68

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der Verdauung ein neues Wissens- und Kulturverständnis bezog. Für Nietzsche erwies sich die Stärke einer Kultur in ihrer Assimilationsfähigkeit, ihrer Verdauungskraft. Andrades kulturanthropophagisches Modell führt diesen Gedanken weiter. Der Akt der kannibalischen Verschlingung des Fremden, der Transformation der fremden Substanzen im Akt der Verdauung und ihre Ausscheidung als eine durch die Vereinigung mit dem brasilianischen Organismus entwickelte neue Synthese wird als schöpferischer Prozeß gesehen, dessen ausgeschiedene Resultate als arte de exportacão an die Europäer zurückgegeben werden. Dazu gehörte vor allem eine respektlose und spielerische Aneignung fremden Materials und fremder Technologien, um eigene, kreative Synthesen zu bilden. Die ironische Umwertung der kulturellen Zuschreibung als ›primitiv‹ und die Umwertung des Tupi-Kannibalen zum Modell für eine kulturrevolutionäre Strategie speist sich so aus der Rezeption und Adaptation zeitgenössischer technologischer, kulturkritischer und ästhetischer Diskurse und Praktiken der europäischen Moderne. Im Manifesto Antropófago wird die kannibalische Assimilation europäischen Wissens und europäischer Technologie zum kulturrevolutionären Programm. Die Kontaktzone Europa-Brasilien wird bei Andrade als kannibalischer Konflikt modelliert. Ihr Motto fand sich im Manifesto Antropófago: »Tupi or not Tupi, that is the question.«8 Die Kulturanthropophagie beruht auf einem Modell der Öffnung und Einverleibung der ›fremden‹ Einflüsse. Die anthropophagische Verdauung impliziert dabei die Gefährdung des ›nationalen‹ Organismus, setzt auf seine Veränderung und kalkuliert die Gefahr der Vergiftung mit ein. Statt einer Defensivstrategie kultureller Abschottung forderten sie einen offensiven, respekt- und furchtlosen Umgang mit dem fremden Material, der die Hegemonie europäischer Kultur prinzipiell in Frage stellt. Hybridität war stets ein Kennzeichen brasilianischer Kultur und Identität, das die Kulturanthropophagen zum positiven Wert erhoben.9 Die Europäisierung bzw. ›Verwestlichung‹ des brasilianischen Imaginären vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die Moderne brachte die afrikanischen und indianischen Einflüsse nicht zum Verschwinden. Die meisten lateinamerikanischen Kulturen sind Mischkulturen, in denen die verschiedenen Einflüsse und Traditionen sich überschneiden, überla8. De Andrade, Oswald. »Manifesto Antropófago«. Revista de Antropofagia. I: 1, São Paulo 1928; Repr. São Paulo 1976, 3. So heißt es im Manifesto Antropófago: »Wir wurden nie katechisiert. Wir leben dank einem schlafwandlerischen Gesetz. Wir ließen Christus in Bahia zur Welt kommen. Oder in Belem do Pará.« (»Nunca fomos catechisados. Vivemos atravez de um direito sonambulo. Fizemos Christo nascer na Bahia. Ou em Belem do Pará.«) 9. Ebd., 3. 69

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gern, mehrdeutige Synthesen eingehen. Obwohl diese Europäisierung seit dem 16. Jahrhundert nach den Rhythmen der europäischen Kultur phrasiert war, bildete sie doch keine Einbahnstraße des Wissens- und Kulturtransfers in die Peripherie, sondern führte zu einem widersprüchlichen Prozeß der Assimilation, der Auswahl, Deformation, Mißverständnis und Entfremdung implizierte, und in dessen diskontinuierlichem Verlauf sich Spielräume und Zwischenräume für neue Synthesen und Kombinationen auftaten, die eigene Artikulationen und eigene Logiken der Mischung ermöglichten.10 Diese hybride Mischung, in der ›Neues‹ (europäischer Einfluß) und ›Altes‹ (vorkoloniale Traditionen) eine unauflösliche Verbindung eingehen, in der keine Ursprungssubstanz mehr identifizierbar ist, gilt ebenso für das Imaginäre. Im Imaginären kreuzen sich verschiedene historische Epochen, das vorkoloniale afrikanische und indianische Tupi-Erbe, die Kolonisierung und die Moderne, abgelöst von der Raum/Zeitlogik europäischer Geschichtskonzepte und Realitätskonstruktionen. Wie die brasilianischen Modernisten mit ihrem kulturanthropophagischen Konzept kulturelle Zuschreibungen der europäischen Metropolen an die lateinamerikanische Peripherie ›wörtlich‹ nahmen und dabei umdeuteten, um ein neues Verständnis der Spezifik brasilianischer Kultur zu entwickeln, so beruht auch die Strategie Lygia Clarks auf einer Umsetzung anthropophagischer Konzepte, die sie gewissermaßen ›verkörpert‹. Indem Clark diese Metapher kultureller Assimilation an die Materialität bindet und die Prozesse des Verschlingens, Verdauens und Ausscheidens betont, verfolgt sie die Verschränkung von Materiellem und Symbolischem im Körpergedächtnis, und sucht neue Formen des Umgangs mit dem ›Fremden‹. Gegen idealisierende Visionen des Gemeinschaftskörpers in der Tradition der westeuropäischen Moderne betonen ihre Performances die Materialität des Kollektivkörpers, die physische Dimension der Kommu10. Vgl. Gruzinski, Serge. La colonisation de l’imaginaire. Sociétés indigènes et occidentalisation dans le Mexique espagnol XVIe-XVIIIe siècle. Paris 1988, 368: »Occidentalisation ne saurait se réduire aux aléas de la christianisation et à l’imposition du système colonial, elle anime des processus plus profonds et plus déterminants: l’évolution de la représentation de la personne et des rapports entre les êtres, la transformation des codes figuratifs et graphiques, des moyens d’expression et de transmission du savoir, la mutation de la temporalité et de la croyance, enfin la redéfinition de l’imaginaire et du réel dans lesquels les Indiens furent voués à s’exprimer et à subsister, contraints ou fascinés. En marge des manifestations brutales ou autoritaires de la domination coloniale, et mieux qu’elle peut-être, la fascination de l’Occident – de l’écrit, du livre, de l’image, des techniques, des saints et des villes – explique elle aussi son irrésistible emprise.« 70

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nikation. Dabei werden verschiedene Muster des Umgangs mit Alteritätserfahrung erprobt. Sie bilden eine zugleich materielle und symbolische Form des zwischenmenschlichen Austauschs. Die Assimilation der Erfahrungen der Anderen beschränkt sich in diesen Performances nicht auf die intellektuelle Ebene, sondern wird zu einem Sinneswissen, welches das Imaginäre der gesellschaftlichen Kommunikation und Interaktion freilegt. Im Begriff der Inkorporation versucht Clark diese Verbindung von Körpererfahrung und Imaginärem zu fassen. Indem sie die Metaphern ›inszeniert‹, gerät der Körper zu einem Schauplatz, auf dem die sozialen Dramen und Traumata des Kollektiven agieren, aber auch als eine Art Therapie neu und anders konstruiert, inszeniert und erfahren werden können. Allerdings geht es dabei weniger um den materiellen Körper als um die Phantasmen und die symbolischen Ordnungen, die in dessen Wahrnehmung stets schon eingeschrieben sind. ›Kannibalismus‹, ›Verkörperung‹, ›Einverleibung‹ stehen bei Lygia Clark für die Prozesse, über die sich Kommunikation herstellt und ein Kollektiv bildet. Dabei erweist sich die Ambivalenz dieser ›kannibalischen‹ Beziehungen, die zwischen Sehnsucht, Abwehr, Liebe und Aggression oszillieren. Indem Lygia Clark in Performances wie Baba antropofágica oder Cannibalismo den Lieblingstopos der brasilianischen Modernisten als körperliche Erfahrung inszeniert, läßt sie auch die von den Modernisten sorgsam geachtete Grenze zwischen dem ›symbolischen‹ und dem ›realen‹ Kannibalismus kollabieren.

›Ankörperung‹: Kollektivkörper als Interaktionsraum Lygia Clark und Hélio Oiticica entdeckten einen neuen Raum des Kollektiven, indem sie Spielanordnungen konstruierten. Dafür benutzten sie Materialien und Objekte aus der Konsumkultur. Meist handelte es sich um Konsumgüter, die man nach ihrem Gebrauch weggeworfen hatte, um gefundene Objekte oder Gegenstände von Plastiktüten bis zu Zeitungen, die als Bestandteil einer Performance nun eine neue Verwendung fanden. Die Materialien haben eine besondere Funktion: Sie sind wie lebende Organismen, die erst durch den Kontakt mit dem Körper der Teilnehmer eine spezifische Form und darüber ihre Bedeutung erhalten. Hélio Oiticica realisierte mit seinen Parangolés (1964-65) mit Hilfe des Objekts eine Kunst des »Ambiente« (Oiticica nannte sie »anti-arte« bzw. »programa ambiental«), in der der Übergang vom individuellen Verhalten zum Kollektiv thematisiert wurde. Die Parangolé ist ein veränderliches Kunstwerk, das sich mit dem Körper verbindet. Die Bedeutung der Parangolés liegt insbesondere in den Capas, den Umhängen, die wie eine Art magischer Filter den Teilnehmer umhüllen und neue Wahrnehmun71

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Abbildung 3a: Hélio Oiticica: Parángoles: Capa 11 »Eu incorporo a Revolta« (1967) (Ich verkörpere die Revolte)

Quelle: María José Justino. Seja marginal, seja herói. Modernidade e Pós-Modernidade em Hélio Oiticica. Curitiba 1998, 62.

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gen ermöglichen. Die Materialien reichen von Stoffen über Fotos, Gedichten oder Konsumartikel, die ihrem Gebrauch entfremdet sind und einem neuen zugeführt werden. Erst durch die Bewegung stellen Teilnehmer und Capas ein Ambiente und ihre Beziehungen zu den anderen her. Die Teilnehmer erfahren diesen Umhang, als sei er ein Spielzeug, das das seltsame Gefühl widersprüchlicher Gewichte auslöst. Jeder Umhang hat eine andere Struktur, einen anderen Charakter, der meist durch ein bestimmtes Individuum oder eine Gruppe, durch ihre Gesten und Bewegungen inspiriert wird. Wenn die Performance-Teilnehmer ihn anziehen oder darin tanzen, ver- und entschleiern sie ihre verschiedenen Schichten. Hélio Oiticica kommentierte: »Die Capas entstehen ausgehend von Stoffen oder Plastik, die mit Malereien oder Gedichten versehen werden, mit denen die Teilnehmer sich auf verschiedene Weise einhüllen, wie eine Art Kunstgegenstand, der die Phantasie freisetzt. Es sind häufig Aneignungen, die nicht vorherbestimmbar und stets flüchtig sind, die einem Zufallsprinzip gehorchen. Es sind diese drei Kategorien: Unbestimmtheit, Flüchtigkeit und Aneignung (apropriacão), die die Parangolés herstellen.«11 Die ›Ankörperung‹ von Objekten aus der Konsumkultur wird hier zu einem Verfahren, einen neuen Raum des Kollektiven zu konstruieren. Dieser ist bestimmt durch die vibração perceptiva, eine Wahrnehmungsvibration, über die sich eine eigene Zeit und ein eigener Raum kreiert. Entscheidend für die Parangolés ist ihre Verbindung mit der Samba. Über Musik und Tanz erleben die Teilnehmer eine Form von Gemeinschaft, über die Interaktion mit den Materialien treten sie auch in Interaktion mit den Anderen. Im gemeinsamen Rhythmus der Samba werden sie zu einem bewegten Gemeinschaftskörper. Das spielerische Element der Parángoles und der Moment der Unbestimmtheit, der sie charakterisiert, lassen ganz unterschiedliche Formen entstehen. Sie können genausogut ein Akt des sozialen Protests, des Spiels und zuweilen all dies zugleich sein. Musik und Tanz stellen eine spezifische Form der Kommunikation her,

11. Oiticica, Hélio. Zit. nach Justino, Maria José. Seja marginal, seja herói. Modernidade e Pós-Modernidade em Hélio Oiticica. Paraná 1998, 45 (»As capas são elaboradas a partir de tecidos ou plásticos, com pinturas ou poemas, com as quais o participante se envolve de maneira diversa, como una espécie de artifício que dá possibilidade à fantasia. Muitas vezes são apropriaçoes que repousam sobre a inderterminação e o transitório, que expulsam a experiência a uma disposição do acaso. São essas três categorias, indeterminação, transitório e apropriação que criam as manifestações ambientais, a saber, os parangolés.«). 73

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Abbildung 3b: Hélio Oiticica: Parángoles: Capa 6 »Mosquito da Mangueira com Bólide. Homenagem a Mondrian.« (1965) (Kleiner Junge aus Mangueira mit Bólide. Hommage an Mondrian.)

Quelle: María José Justino. Seja marginal, seja herói. Modernidade e Pós-Modernidade em Hélio Oiticica. Curitiba 1998, 61.

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eine »Art Kommunion mit der Umgebung« 12. Die Samba »ist aus dem Rhythmus des Kollektiven geboren«13 behauptete Oiticica. Sie sei eine Art ursprüngliche plastische Kunst und zugleich eine Körpertechnik, die auf ständiger Transformation beruhe. Für Oiticica ist der Kollektivkörper ein durch die Interaktionen der Teilnehmer (nicht zuletzt durch den gemeinsamen Rhythmus der Samba) mobilisierter Raum in einer virtuellen Zeit und damit Ausdruck einer sabedoría corporal, eines Körperwissens. Wie bei Lygia Clark machen die Objekte ohne den lebendigen Körper, der sie sich aneignet, seinen Rhythmen und Formen anpaßt, keinen Sinn. Die Materialien und Objekte, die so aus dem Konsumtionszyklus herausgenommen werden, erhalten eine ganz neue Bedeutung und Funktion. Über diese Fusion von Kunstwerk und Konsumobjekt wird zugleich das System hinterfragt, in dem beide zirkulieren. Die Aneignung und Neuverwertung von Materialien aus verschiedensten Kontexten und Gebrauchssituationen ist eine in Brasilien schon lange gepflegte Kulturtechnik, die die brasilianischen Indios praktizieren14, um daraus neben Gebrauchsgegenständen auch eine populäre Kunst herzustellen. Aber auch den Bewohnern der Favelas ist diese Technik vertraut. Hélio Oiticica betonte die Bedeutung der apropriação, der Aneignung, für seine Performances: Im Prozeß dieser »Ankörperung« der Objekte entstehen neue Wahrnehmungen, neue Erfahrungen und neue Interaktionen zwischen Menschen. Diese Objekte verändern aber auch die Körpererfahrung des Trägers.15 Verkörperung und Ankörperung gehen so ineinander über. Nicht zufällig wählte Oiticica die Favelas von Rio als Ort für die Performance: Es ist die Favela Mangueira und ihre ›organische‹ architektonische Struktur, in der ein Gefühl von Gemeinschaft (der Ausgegrenzten) spürbar sei, die in der Samba einen Ausdruck finde. 12. Oiticica, Hélio. »Parangolé: da anti-arte às apropriaçoes«. GAM, 15, maio, Rio de Janeiro 1967, 28 (»comunhão com o ambiente«). 13. Oiticica, Hélio. Zit. nach: Justino (Anm. 11), 83 (»nasce do ritmo do coletivo«). 14. Darauf verweist Lygia Pape, eine der Mitstreiterinnen von Hélio Oiticica und Lygia Clark in der neokonkretistischen Bewegung. Vgl. Pape, Lygia. Entrevista a Lúcia Carneiro e Ileana Pradilla. Rio de Janeiro 1998, 20. 15. Appadurai, Arjun. The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective. Cambridge 1986, weist darauf hin, daß Objekte zugleich kulturell und kognitiv konstruiert werden, daß sie stets in der Spannung zwischen ihrem Status als Konsumobjekt und ihrem Status als persönlichem Besitz existieren. Ihre Bedeutungen und Gebrauchsweisen können mutieren, so beispielsweise vom sakralen Objekt zur Touristenkunst oder vom Gebrauchsgegenstand zum Kunst- oder Sammlungsobjekt. Damit sind sie der Polyvalenz ritueller Symbole ähnlich. Vergleichbares passiert in der ›Ankörperung‹ von Objekten in den Performances von Hélio Oiticica und Lygia Clark. 75

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Die ›Ankörperung‹ führt die kannibalistische Metaphorik weiter: Bewegung und Energie erschaffen neue Räume jenseits aller Vorstellung von der Festigkeit und Geometrie eines zweidimensionalen Raums. Schon 1965 sah der Kritiker Mário Pedrosa in den Parangolés einen Gegensatz zu avantgardistischer (auch dadaistischer) Moderne. Er nannte sie ›postmodern‹, weil sie – über die Kategorien moderner Kunst hinausgehend – eine andere Ansicht herstellen, bei der »die eigentlich plastischen Werte durch die Plastizität der situationalen und perzeptiven Strukturen absorbiert werden.«16 Es finden sich zwar Parallelen zur westeuropäischen und nordamerikanischen Aktionskunst und den Happenings der 1960er und 70er Jahre, aber Oiticicas Performances sind in der brasilianischen Kultur und Mentalität verankert. Die Perspektive einer Mischkultur, die bis heute stark durch orale Traditionen geprägt ist und verschiedene Körpertechniken- und Bewegungstraditionen vereinte, prägte einen spezifischen Blick auf den Raum des Kollektiven sowohl als interkorporeller als auch interkultureller Raum. Die Einwohner der Favela Mangueira, die während des Karnevals vier Tage lang feiern und tanzen, sollen über die Parangolés im Alltag eine ähnliche Erfahrung machen. Der Tanz und die den Teilnehmer umhüllenden Parangolés ermöglichen eine multisensorische Erfahrung des eigenen Körpers, aber auch des Körpers des Anderen. Die Parangolés sind Erweiterungen des Körpers, die vom Künstler dafür benutzten Materialien sind den Einwohnern der Favelas vor allem aus dem Alltag vertraut: Hier werden ihnen Möglichkeiten eröffnet, diese Materialien und Objekte als Wahrnehmungsfilter zu nutzen. Im Unterschied zur kinetischen Kunst und ähnlichen mit der Materialität der Kunst und ihrer Wahrnehmung arbeitenden künstlerischen Experimenten, wie sie in den 1960er Jahren in Westeuropa und Nordamerika aufkamen, sind die Arbeiten von Lygia Clark und Hélio Oiticica nur über eine Partizipation realisierbar, die den Künstler selbst gar nicht mehr zum Protagonisten der Interaktion machen. Sie bieten ›Spielanordnungen‹ und Vorschläge für Wahrnehmungs- und Interaktionsexperimente, die – damals ein Novum – aus dem geschützten Raum der Galerien in die lateinamerikanische Alltagskultur und ihre sozialen Antagonismen überführt wurden (bei Oiticica im Favela-Projekt, bei Clark in den Bereich der Psychotherapie). Beide interessierte die Rolle des lebendigen Körpers für die Transformation von Kunst, von künstlerischem Material. Die Bewegung wird zur entscheidenden Wahrnehmungstechnologie, über die 16. Pedroso, Mário. »Arte ambiental, arte pós-moderna, Hélio Oiticica«. Correio da Manha. Rio, 26.06.1966. Zit. nach: Justino (Anm. 11), 45 (»os valores propriamente plásticos tendem a ser absorvidos na plasticidade das estruturas perceptivas e situacionais.«). 76

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die Beziehung zwischen Objekt, Künstler, Werk und Rezipienten neu gedacht und neue Formen der Partizipation entwickelt werden. Wenn heute die Konsumkultur ein vereinheitlichender Faktor ist, der die kollektiven Lebensformen im transnationalen Raum bestimmt, so werden Lygia Clarks und Hélio Oiticicas Performances auf neue Weise aktuell. Ihre Aneignung von Objekten aus dem Konsumzyklus für die Inszenierung eines Raums des Kollektiven beruht auf einer ›Ankörperung‹ dieser Objekte und macht sie zum Bestandteil einer Gegenstrategie, die neue Kollektivkörper konstruiert. Ihre Kunst war inspiriert von einem Verständnis des Objekts, wie es die neo-konkretistische Bewegung der modernen Avantgarde im Brasilien der 1960er Jahre mit ihrer Neubegründung der Concept-Art und des Neokonkretismus formuliert hatte. Die Künstlergruppe Frente, zu der neben Lygia Clark, Lygia Pape, Hélio Oiticica auch der Maler Ivan Serpa und die Kritiker Ferreira Gullar und Mário Pedroso gehörten, erhielt nicht zuletzt durch die Gründung eines Museo da arte moderna (MAM) Ende der 1950er Jahre in Rio de Janeiro und der damit verbundenen Institutionalisierung moderner Kunst eine kreative Atmosphäre. Gemeinsamer Ausgangspunkt war ein neues Konzept von Kunst, das sich gegen die Vorherrschaft einer rationalistischen Moderne Abbildung 4: Hélio Oiticica: Grandes Núcleos (1960) (Große Kerne)

Quelle: María José Justino. Seja marginal, seja herói. Modernidade e Pós-Modernidade em Hélio Oiticica. Curitiba 1998, 56.

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und ihrer industriellen Ästhetik in Brasilien richtete. Sie war in der Rezeption von Bauhaus und französischer Moderne konstruktivistischer Prägung (auch Lygia Clark studierte in Paris u. a. bei Fernand Léger) vor allem in São Paulo präsent und fand beispielsweise in der Architektur der Stadt ›Brasilia‹ ihren Niederschlag. Die theoretischen Wortführer des Neo-concretismo waren Ferreira Gullar und Mário Pedroso. Im Manifesto neoconcreto von Ferreira Gullar fanden die Künstler eine gemeinsame Plattform, die ganz unterschiedliche künstlerische Praktiken vereinte. Ferreira Gullar, Poet und Journalist, schrieb diesen Text für die erste Ausstellung der Gruppe im Jahre 1959. Hier betonte er unter Verweis auf Maurice Merleau-Ponty oder Ernst Cassirer die Subjektivität der Kunsterfahrung und zugleich die Körpergebundenheit der Wahrnehmung, indem er Merleau-Pontys These über das Zusammenspiel der Sinne in der Wahrnehmung betonte. Der brasilianische Neoconcretismo mobilisierte den Raum und propagierte gegen den Funktionalismus und Positivismus eine phänomenologische Herangehensweise, die der ›Erfahrung‹ den Vorrang vor der Funktion gab. So formulierte Gullar: »Die neokonkrete Haltung, die keine Apriori konstitutiver Ausdruckselemente anerkennt, beinhaltet eine Rückkehr zum Ursprung der Erfahrung selbst, wo das Kunstwerk mit jenem nicht-abstrakten, emotionalen, existentiellen Sinn erfüllt ist.«17 Die brasilianischen Neokonkretisten sahen in der Bewegung einen Stimulus der Wahrnehmung. Gegen die Idee der Zeit als mechanische Bewegung setzten sie (in der Tradition Bergsons) die Idee von der Zeit als durée und Virtualität. Auch der Raum wird entsprechend nicht instrumentell konzeptualisiert, sondern als Erfahrung, als Raum der Projektion, wobei die Grenzen unserer Alltagswahrnehmung problematisiert und darüber quasi ›utopische‹ Räume des Kollektiven eröffnet werden. Ferreira Gullars teoria do não-objeto (Theorie des Nicht-Objekts) beeinflußte nicht nur das Objekt- und Materialverständnis von Lygia Clark, sondern auch das ihres Freundes Hélio Oiticica, der wie sie die Sinne und den Körper in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Suche stellte. Ferreira Gullar definierte das »Nicht-Objekt« folgendermaßen: »Das Nicht-Objekt ist kein Antiobjekt, sondern ein besonderes Objekt, in dem die Synthese 17. Gullar, Ferreira. »Da arte concreta à arte neoconcreta«. Zit. nach: Brito, Ronaldo. Neoconcretismo. Vértice e ruptura do projeto construtivo brasileiro. Rio de Janeiro 1999, 76 (»A atitude neoconcreta, que desconheçe a existencia a priori dos elementos constitutivos da expressão, implica uma descida à fonte mesma da expêriencia, donde a obra de arte brotará impregnada daquele sentido não-tético, emotivo, existencial.«). 78

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der sinnlichen und mentalen Erfahrungen realisiert ist: ein für die phänomenologische Erkenntnis transparenter Körper.«18 Die brasilianische Version der neo-konkreten Kunst impliziert eine spezifische Rezeption europäischer und nordamerikanischer abstrakter und konkreter Kunst. Geometrischer Formalismus und Abstraktion, die Dekonstruktion von idealistischen Konzepten von Fläche und Raum wurden hier zum Ausgangspunkt für Wahrnehmungsexperimente, die den bewegten Körper zum Maßstab machten. Auf diese Weise kam man zu einem Verständnis des Objekts, der Materie und des Raums, das jenseits physikalischer Gesetzmäßigkeiten und geometrischer Klassifizierungen auf ihre Neuschaffung durch den agierenden Körper hinweist. Damit aber wird das Abstrakte auf neue Weise wieder ›organisch‹, Objekt und Körper bilden eine Einheit. Die Struktur eines Kunstwerkes ist also nicht ein für allemal gegeben, sondern realisiert sich im Gegenteil erst durch den Kontakt mit dem Betrachter/Teilnehmer, der diese Struktur über seine Sinne in das Kunstwerk einschreibt und damit zur Erscheinung bringt. Daran anknüpfend besteht die entscheidende Entdeckung von Lygia Clark und Hélio Oiticica also in der Erkenntnis, daß das Objekt erst durch eine (und in einer) Beziehung existiert, durch eine Geste, eine Bewegung des- bzw. derjenigen, die sich ihm nähert, mit ihm in Kontakt tritt. Ein Beispiel dafür ist Lygia Clarks Idee der objetos relacionais, der »Beziehungsobjekte«. Sie wurden als lebende Organismen konzipiert, die erst durch den Kontakt mit dem Körper des Betrachters Form und Bedeutung erhalten. Dabei können auch neue dynamische Räume entstehen. So winden sich die Trepantes (Larven)19 um verschiedenste Oberflächen, überwuchern, überdecken sie oder verbinden sich mit anderen Gegenständen, Menschen, Flächen und bilden dabei neue Formen. Der Kunstkritiker Mário Pedroso erkannte in der Dynamisierung eine Faszination Clarks, die »einen Raum komponiert«20. Im Gegensatz zu anderen kinetischen Kunstwerken, um die sich der Betrachter herum bewegen muß, seien Lygia Clarks Werke dadurch charakterisiert, daß sie 18. Gullar, F. »Manifesto Neoconcreto«. Jornal do Brasil. 19. e 20.12.1959. Zit. n.: Justino (Anm. 11), 27 f. (»O não-objeto não é um anti-objeto mas um objeto especial em que se pretende realizada a síntese de experiências sensoriais e mentais: um corpo transparente ão conhecimento fenomenológico.«). 19. Es ist sicher auch kein Zufall, daß Lygia Clark in dieser Bezeichnung eine weitere Vorstellung von ›Inkorporation‹ einfließen läßt, denn das Wort »trepar« bedeutet umgangssprachlich zugleich ›Sex haben‹. 20. Pedroso, M. »A obra de Lygia Clark« (1963). Pedroso, M. Acadêmicos e Modernos. Textos Escolhidos III, São Paulo 1998, 350 (»compor um espaço«). 79

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Abbildung 5a&b: Lygia Clark: Bichos (1960-63) (Tiere)

Quelle: Ausstellungskatalog Lygia Clark. Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997, 131.

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selbst sich bewegen, und zwar nicht durch äußere Kräfte wie einen Motor, mechanische Konstruktionen oder auch nur durch natürliche Kräfte wie der Wind beim Mobile, sondern durch die Aktion des Betrachters, der sie verändert, deformiert, anpaßt, neuerschafft.21 Für Lygia Clark gibt es keinen Raum jenseits dessen, der in einem jeweiligen Moment vom Betrachter/ Teilnehmer selbst durch seine Handlung und Wahrnehmung hergestellt wird. Der Raum wird gewissermaßen ›fließend‹, ist Resultat der Bewegung und der Interaktion der Menschen. Mit Bergson und Merleau-Ponty geht sie davon aus, daß Raumzeitrelationen erst über den Kontakt mit dem lebendigen, bewegten Körper entstehen. Lygia Clark erfand eine Art »sensorische Bekleidung«, die Máscaras sensoriais (1967), für die sie luftgefüllte Säcke, Polyäthylen-Tücher, Steingewichte und elastische Bänder verwendete. Sie sollten die Grenze zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ zwischen Körpergedächtnis, Körperempfindung, zwischen Körperraum und äußerem Raum überwinden und darüber eine neue Beziehung zwischen Körpern herstellen, eine sinnliche Erfahrung von Gemeinsamkeit und Trennendem. Erst im Prozeß der Interaktion wird das meist flexible Material zu einem (nur im Prozeß der Rezeption existenten und damit stets transformierbaren) Objekt, das sich dem menschlichen Körper und seinen Bewegungen anpaßt. In der Aneignung bzw. ›Ankörperung‹ erreichen sie ihre Bestimmung – so beispielsweise locker angebrachte Masken aus farbigem Stoff, in die Clark Objekte oder Materialien einnähte, die Augen und Ohren bedecken und dazu eine kleine ›Nasentasche‹ bilden, die eine Art Riechsalz enthält. Die Kombination von Sinneswahrnehmungen erfolgt mit einfachen Mitteln: beispielsweise das Geräusch eines Balls, der in einem kleinen Polystrenbecher gegen die Ohren rollt, oder ein Muslinnetz, das über die Augen gezogen wird. Die Materialien, die in Analogie zu menschlichen Körperrhythmen gebildet sind, fungieren als am Körper angebrachte Wahrnehmungsfilter. Damit werden gegen die Vorrangstellung des Visuellen der Geruchssinn, der Hörsinn und der ›Raumsinn/Körpersinn‹ zusammengeführt. Obwohl die Máscaras sensoriais durchaus mit heutigen »virtuellen Helmen« vergleichbar sind, die über komplexe Medientechnologien neue Wahrnehmungsräume des Körpers erschließen wollen, sind neue Wahrnehmungserfahrungen hier nicht an eine ausgeklügelte Technologie gebunden und das Objekt ist nicht am Körper festgemacht, sondern ein sensorischer Filter, durch den die Welt anders erfahrbar wird.

21. Ebd., 350 f. 81

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Abbildung 6: Lygia Clark: Trepantes (1964)

Quelle: Ausstellungskatalog Lygia Clark. Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997, 173.

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Abbildung 7: Lygia Clark: Máscaras Sensoriais (1967) (Sinnesmasken)

Quelle: Ausstellungskatalog Lygia Clark. Fundació Antoni Tàpies. Barcelona 1997, 221.

Diese Arbeit der Aneignung oder besser ›Ankörperung‹ des Werkes über die Sinne dessen, der es sich zu eigen macht, ist eine weitere Fassung des kannibalistischen Aktes, der sich sowohl auf den Künstler wie auf den Betrachter bezieht. Indem sie die Metapher des Kollektivkörpers über die Inszenierung auf seine Materialität wie auf die Phantasmen und Ambivalenzen befragten, die seiner Konstruktion zugrunde liegen, bieten die Performances von Lygia Clark und Hélio Oiticica eine Erfahrung, die dem vorherrschenden Verständnis von Gemeinschaft in westlicher Kulturtradition ein neues Modell entgegenstellt. Sie fanden ihre Anknüpfungspunkte sowohl in der Tradition der Volkskultur des Körpers wie in der modernistischen Bewegung Brasiliens, die im Neoconcretismo eine neue Philosophie von Raum, Zeit und bewegtem Körper entfaltete. Ihre Aktualisierung eines kannibalistischen Modells von ›Inkorporation‹ und die Idee einer ›Ankörperung‹ von Objekten aus der Konsumkultur beruht auf einer Politik der Verbindung, die jene Grenzen auflöst, die zum Schutz des vermeintlich Eigenen im Kontakt mit dem Anderen aufgebaut werden. Aus der körperlichen Interaktion entstehen in einem durchaus krisenhaften Prozess neue unvermutete Räume und Chancen des Kollektiven. Lygia Clark und Hélio Oiticica regen dazu an, über Möglichkeiten von Gemeinschaftsbildung in der Transnation nachzudenken, die weder auf eine Harmonisierung kultureller Differenz noch auf die Behauptung einer Unvereinbarkeit der Kulturen hinauslaufen. 83

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) T02_84 vak.p 763013090

SHARED MOVEMENTS UND DER GLAUBE AN DIE ›SCHWARZE KULTUR‹

Shared Movements und der Glaube an die ›schwarze Kultur‹. Zur Ethnographie einer Cultural Performance im Schnittpunkt von Popkultur und Sport Robert Schmidt

Die Kulturbereiche des Sports und der Popkultur gehen, nachdem sie in den letzten Jahrzehnten eine ungeheure Expansion erfahren haben, in jüngster Zeit dazu über, ihre Grenzen gegeneinander zu verwischen. Noch bis in die 80er Jahre hinein dominierte ein Verhältnis der Gegensätzlichkeit die Beziehungen zwischen Sport und Pop, das nicht zuletzt auch im Kontrast zwischen zwei typischen Sozialfiguren und zwei körperlichen Haltungen zum Ausdruck kam: Der Typus des patent-naiven Vereinssportlers mit seinem kurzen, unauffälligen Haarschnitt und seinem dunkelblauen Trainingsanzug, der in seiner praktischen Zweckmäßigkeit dem aus der Arbeitswelt bekannten ›blauen Anton‹ nachempfunden wirkte, war in den Augen des Rock-Anhängers als Repräsentant der Sphäre des Sports zugleich das Produkt einer gesellschaftlichen Disziplinierungsinstanz, der man sich verweigerte. Durch seine langen Haare, seinen schlurfenden Gang, seine übernächtigten Gesichtszüge demonstrierte dieser hierzulande bis zum Ende der 70er Jahre dominante popkulturelle Typus demgegenüber eine oppositionelle Gestimmtheit, die signalisierte, daß man weit mehr als nur die Spiele des Sports ›nicht mitspielte‹. Daß sich diese Gegensätzlichkeit mittlerweile restlos abgeschliffen hat, läßt sich an einer Fülle von Beispielen belegen: Neue Idole der Populärkultur wie Dennis Rodman, Zwitterwesen zwischen Sport- und Popstar, Basketball-Profi in der US-amerikanischen NBA, zugleich Dressman, Schauspieler, Trans-Gender-Aktivist und Moderator bei MTV, brechen in ihren medialen Selbstdarstellungen radikal mit der überholten Vorstellung vom Profisportler als milchtrinkendem Vorzeige-Athleten. Beim Blättern durch aktuelle Trend- und Lifestyle85

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Magazine stößt man unaufhörlich auf Bilder und Reportagen, die sportliche und popkulturelle Aspekte zu hybriden Arrangements zusammenmontieren: Werbegraphiken suggerieren Verbindungen zwischen alpinem Eisklettern und der futuristischen Ästhetik der Techno-Kultur, einige Seiten weiter wird über den Einfluß des brasilianischen Kampfsports Capoeira auf Computerspiele und Musikvideos spekuliert, es finden sich Erlebnisberichte von Kickboxern, die ihre ›spirituellen Erfahrungen‹ im Kampf mit früheren Drogenexperimenten vergleichen, zwischen Börsentips und Astrologie-Ratschlägen äußert sich die deutsche HipHop-Performerin Sabrina Setlur zu ihrer Affäre mit Tennis-Star Boris Becker. Diese Konvergenz von Pop- und Sportkultur1 führt darüber hinaus zur Entstehung einer Reihe neuer performativer Kulturpraxen, die das urbane Alltagsleben seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre durchsetzen: Neue Straßenund Bewegungsspiele (Skateboarding, Inline Skating, Streetball etc.) kombinieren nach jeweils spezifischen Verknüpfungslogiken popkulturelle Ingredienzen (eine bestimmte Musik, die die Ausübung begleitet, bestimmte popkulturelle Kleidungscodes) mit Aspekten des Sports (mit ludischen Elementen, sportspezifischen Körper- und Bewegungstechniken). Dokumentiert sich in der Expansion von Sport- und Popkultur und ihrer neuerlichen Verschränkung zum einen ein anhaltender Performativitätsschub in der Gegenwartsgesellschaft, so machen diese Entwicklungen zugleich auch das tertium comparationis beider kulturellen Gattungen auf neue Weise anschaulich. Was die frühere Gegensätzlichkeit zwischen Sport und Pop bzw. zwischen durchtrainierten Körpermenschen und solchen, die statt sich selbst zu bewegen, lieber nur ihr Bewußtsein auf den Trip schickten, eher verdeckte, zeigt sich nun als Substrat ihrer gegenseitigen Durchdringung: In den Praxisformen beider Bereiche kommt jenseits von Schrift, Sprache und Bildlichkeit einem ›Sprechen des Körpers‹ von je her entscheidende Bedeutung zu. Liegt dem Sport eine Spielpraxis zugrunde, die nicht in verbale Sprache übersetzbar ist, sondern sich nur im Vollzug von Handlungen entfaltet und aus diesem »performativen Zustand«2, dem Hier und Jetzt des Geschehens nicht herausgelöst werden kann, so geschieht auch in der Praxis der Popkultur die »Herstellung von Bedeutung als Performanz«3, d. h. in entscheidender Weise in und durch körperliche Aufführungen. Die Akteure im Stadion (einerlei, ob sie sich 1. Vgl. dazu ausführlicher: Schmidt, Robert. »Die Konvergenz von Pop- und Sportkultur«. Berliner Debatte INITIAL, 6, 1999, 30-40. 2. Gebauer, Gunter u. Thomas Alkemeyer. »Das Performative in Sport und neuen Spielen«. Paragrana. Zeitschrift für Historische Anthropologie, 1, 2001, 119. 3. Frith, Simon. »Musik und Identität«. Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader. Hg. v. Jan Engelmann. Frankfurt a.M., New York 1999, 161. 86

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anläßlich eines Fußballspiels oder zum Auftritt eines Popstars zusammenfinden), während der Love Parade, auf den Dancefloors der Clubs und Diskotheken, während verschiedener Events, zu denen sich die Szenen der Skater, Boarder oder Streetballer versammeln, bilden performative Körpergemeinschaften. In ihren periodisch wiederkehrenden Zusammenkünften erzeugen sie immer wieder einen kollektiven Körper.

Reggae, HipHop und Streetball im Berliner Yaam Club Diese knapp skizzierten Thesen bilden den Kontext meiner Feldforschung im Berliner Yaam Club4, einer ethnographischen Exkursion in jenes neue kulturelle Terrain, das sich im Schnittpunkt von Popkultur und Sport mittlerweile herausgebildet hat. Der Yaam Club ist der Treffpunkt einer Szene von mehreren hundert bis zu zweitausend Besucherinnen und Besuchern, die sich hier während der Sommermonate regelmäßig einfinden, um sich an einer kollektiven kulturellen Aufführung zu beteiligen.5 Diese Aufführung setzt sich zusammen aus popkulturellen Elementen wie dem Umgang mit Reggae und HipHop, dem Deejaying und Tanzen, sowie aus sportlichen Elementen, d. h. neuen Spielen wie Footbag und vor allem Streetball, einem aus dem Basketball entwickelten Spiel, das hier im Mittelpunkt steht. Diese zentralen, periodisch wiederholten kulturellen Praxen bilden zusammen mit dem Gebrauch von Stimulanzien (alkoholische Getränke und v. a. Marihuana) und den angebotenen (überwiegend vegetarisch-exotischen, afrikanisch-karibischen) Speisen eine Zusammenhangsgestalt der szenespezifischen somatischen Kultur. Sie 4. Orientiert am Forschungsstil und Erkenntnisprogramm soziologischer Ethnographie (vgl. dazu: Hirschauer, Stefan u. Klaus Amann [Hg.]. Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a.M. 1997 und Lüders, Christian. »Beobachten im Feld und Ethnographie«. Qualitative Forschung. Hg. v. Uwe Flick et al. Reinbek bei Hamburg 2000, 384-401) habe ich in einer längeren Feldphase von 1998 bis 2000 jeweils in den Monaten Mai bis Oktober die Geschehnisse im Yaam Club teilnehmend beobachtet. Das dabei eingesetzte Methodenspektrum reichte vom ›Herumhängen‹ in der Szene, über journalistische Recherchen, zahlreiche informelle Gespräche und Spontaninterviews bis hin zu fokussierten Beobachtungen unter Einsatz von Videotechnik und einer Serie von längeren offenen qualitativen Interviews. 5. Mit Bezug auf einen von Singer in seinen ethnographischen Studien in Indien entwikkelten Begriff können die Geschehnisse im Yaam Club als eine periodisch wiederkehrende cultural performance verstanden werden, d. h. sie sind vor allem durch gewisse Merkmale ihrer zeitlichen und räumlichen Organisation aus dem Fluß des Alltagslebens herausgehoben (vgl. dazu: Singer, Milton. Semiotics of Cities, Selves, and Cultures. Explorations in Semiotic Anthropology. Berlin, New York 1991, 29 ff.). 87

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markieren die Umrisse eines körperlich-sinnlichen Erfahrungsraumes, in dem sich die Teilnehmer nahekommen, indem sie ihre Gemeinschaft erleben und – ganz analog zu den von Durkheim beschriebenen religiösen Kulten – »gemeinsam ihre gemeinsamen Gefühle verstärken«.6 Die körperliche Produktion von Gemeinschaft durch die kulturellen Praxen der Szeneangehörigen erzeugt zugleich einen gemeinsamen Glauben ans eigene Bild vom Fremden: einen ›Glauben an die schwarze Kultur‹. Im Genre einer Dichten Beschreibung7 will die folgende Darstellung nach einigen einführenden Schilderungen vor allem diesen Zusammenhang zwischen den Prozessen körperlicher Vergemeinschaftung und der Erzeugung eines gemeinsamen Glaubens deutlich machen. Als ethnographische Skizze setzt sie dabei in emischer Perspektive an der ›Sicht der Eingeborenen‹ an und versucht, das konzeptuelle System der Untersuchten interpretativ aufzuschließen. Seit nunmehr acht Jahren zieht an sommerlichen Sonntagnachmittagen eine Karawane von Besuchern des Yaam Clubs vom Kreuzberger U-Bahnhof Schlesisches Tor südostwärts Richtung Treptow. Mit dem Überschreiten der Bezirksgrenze gelangen sie von einem belebten innerstädtischen Wohngebiet – man streift den ›Wrangelkiez‹, dem die hier dominierende türkische Wohnbevölkerung sein spezifisches Gepräge verleiht – in ein urbanes Brachgelände, das erst seit wenigen Jahren das Ziel verschiedener Gruppen von Sonntagsausflüglern geworden ist. Pioniere der kulturellen Nutzung dieses erst nach dem Fall der Mauer entstandenen städtebaulichen Niemandslandes auf und hinter dem ehemaligen Grenzstreifen, zu denen nicht zuletzt auch die Organisatoren des Yaam Clubs gehören, haben hier mittlerweile für einige Attraktionen gesorgt: Von der zu überquerenden Brücke über einen Spreekanal sieht man am linken und rechten Ufer improvisierte Gastronomie in ehemaligen Bootshäusern, deren Holzterrassen direkt ans Wasser grenzen. Hinter dieser Brücke mischt sich die Karawane der Yaam-Besucher mit dem Publikum des gegenwärtig wohl berlinweit größten Flohmarktes. Dieser ist in unübersichtlichen alten Fabrikhallen untergebracht, die zu einem längst stillgelegten ehemaligen Ausbesserungswerk der Ostberliner Verkehrsbetriebe gehören. Die größte dieser Hallen, das ehemalige Busdepot, dient mittlerweile als überregional bekannter Veranstaltungsort für Popkonzerte von internationalem kommerziellem Format. In anderen Teilen der Fabrikgebäude sind heute einige Ateliers, Werkräume und Studios für Künstlerinnen, 6. Durkheim, Émile. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. 1998 [1912], 571. 7. Vgl. dazu: Geertz, Clifford. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1983. 88

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Graphiker, Musikerinnen, Web-Designer und andere Neue Selbständige untergebracht. An der der recht befahrenen Straße zugewandten Front des Fabrikhallen-Komplexes befindet sich ein neu gebautes großes Autohaus. Das Gelände des Yaam Clubs – unmittelbar hinter dem ehemaligen Busdepot – wird überschattet von den noch überwiegend unvermieteten, über zwanzigstöckigen Twin Towers. Das gesamte Gebiet südöstlich vom Schlesischen Tor ist einer rapiden städtebaulichen Dynamik ausgesetzt, der man in den letzten Jahren förmlich zuschauen konnte: Die Stillegung der alten Hafen-, Industrie- und Fabrikanlagen ging einher mit dem Hochwachsen der Bürogebäude. Im Kontext dieses städtebaulichen Settings wirkt das Gelände des Yaam Clubs wie eine mehr oder weniger zufällig, en passant entstandene Nische, ein Brachgelände, dessen Tage gezählt sind. Im Spannungsfeld zwischen zum Teil verlassenen, zum Teil ungenutzten alten Fabrikhallen, Lagerhäusern, rostenden Verladekränen und Hafenanlagen am gegenüberliegenden Ufer der Spree – allesamt architektonische Relikte des Industriezeitalters – und den gläsernen Fassaden der neu entstandenen Twin Towers – Kathedralen des tertiären Sektors, typische Dienstleistungsarchitektur der neuen Hauptstadt – gewinnt das Club-Gelände provisorischen Charakter. Biegt man hinter dem Autohaus nach links in die schmale Zufahrtsstraße ein, die zum Eingangsbereich des Yaam Clubs führt, so kündigt das zu erwartende Geschehen sich allererst akustisch an. Basslastige Reggae-Rhythmen legen sich wie ein Teppich über die schon von hier aus sichtbare Spree und verklingen im urbanen Panorama. Die hohen, perkussiven Klänge von HiHat und Snare Drum brechen sich an den Fassaden der Bürogebäude und werden von diesen mit einem leichten DelayEffekt zurückgeworfen. Auf diese Weise entstehen eigentümliche polyrhythmische Gebilde. Durch das als Strand interpretierbare nahe Ufer der Spree wie durch den süßlich schweren Geruch einer Marihuana-Wolke, die über dem gesamten Areal zu schweben scheint und sich in den polyrhythmischen Klangnebel mischt, wird die Assoziation ›Karibik‹ oder, präziser noch, ›Jamaika‹ aufgerufen. Vor dem Eingang versperrt ein Blechzaun den Blick auf den Innenbereich. In der Schlange vor der Kasse kann man kaum erraten, was einen im Inneren erwartet. Hinweise geben neben den Reggae-Rhythmen allenfalls die in den äthiopischen Farben gold, grün und rot – zugleich die Farben des jamaikanischen Rastafarianismus – gehaltenen, aus Blech gefertigten Buchstaben Y, A, A, M, die auf einem Metallgerüst über dem Kassenbereich angebracht sind. Kaum einer der Besucher des Clubs kennt die genaue Bedeutung des Namens Yaam. Und selbst unter den Organisatoren zirkulieren unterschiedlichste Versionen. Nichtsdestotrotz fassen sich in diesem Namen emblematisch wesentliche Zielsetzungen, Ideen und Sinndeutungen des 89

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allsonntäglichen Geschehens zusammen. Yaam klingt exotisch, läßt Multikulturelles wie Multikulinarisches ahnen. Allerdings ist der Name in dieser Hinsicht bedeutungsoffen und schillernd. Er legt die Kulturen, die er aufruft, nicht genau fest. Die folgende kleine Sammlung im Laufe meiner Feldforschung zusammengetragener Assoziationen, die der Name bei den Teilnehmern wachruft, steckt in etwa sein Bedeutungsspektrum ab: Für einige klingt Yaam nach Yard – dahinter verbirgt sich die Alltagskultur der Hinterhöfe in den Ghettos von Kingston/Jamaika, dem authentischen Ursprungsort von Reggae, Ragga und Dancehall. Damit steht der Name programmatisch für die hier hauptsächlich gespielten musikalischen Genres. Für andere klingt Yaam nach Jam, oder jamming, einem aus dem Jazz stammenden Begriff, der das Improvisieren in einem After Hour Club, nachdem die Band ihr Set absolviert hat, bezeichnet. Jammen hat etwas Partizipatorisches. An einer Jam Session beteiligen sich gelegentlich auch Gäste aus dem Publikum oder zufällig anwesende Musiker. Der Begriff Jam wurde auch von der HipHop-Kultur adaptiert. Hier bezeichnen HipHop-Jams das improvisatorische Nebeneinander von Rappern, Sprayern und Breakdancern im Rahmen eines Ereignisses oder Events. In der anklingenden Bedeutungsdimension Jam ist es vor allem das Improvisatorische, Partizipatorische, zwanglos sich Ereignende, ungeplant Zufällige und Spontane, das im Namen Yaam programmatisch angekündigt wird. Für andere Teilnehmer ist Yaam eine Abkürzung, ein Kunstwort, zusammengesetzt aus ›Jamaika‹ und ›Musik‹, für andere wiederum bezeichnet er ›irgendetwas Afrikanisches‹. In diesem Oszillieren zwischen karibischer und afrikanischer Kultur scheint ein gemeinsames Drittes durch, gleichwohl es implizit bleibt. Yaam bezieht sich auf so etwas wie ›schwarze Kultur‹ als Kontinuum von afrikanischer Kultur und den Kulturen der afrikanischen Diaspora in der Karibik und in den USA. Diese Festlegung auf die ›schwarze Kultur‹ ist allerdings nicht zwingend, denn anderen Teilnehmern zufolge bezeichnet Yaam ein asiatisches Gewürz oder eine vietnamesische Suppe. Damit wird die Bedeutung einerseits wieder offener in Richtung auf eine multikulturelle Vielfalt, andererseits bekommt sie eine kulinarische Dimension. Die folgende Erläuterung von Jacques8, der im Yaam Club schon seit mehreren Jahren als Tresenkraft arbeitet, deckt einige der genannten Bedeutungsdimensionen ab und legt implizit eine Verbindung zwischen ihnen nahe: »Das Wort Yaam ist eigentlich ursprünglich der Name für ein asiatisches Gewürz, dessen Wirkung ich nicht kenne, dann ist es auch eine Suppe aus der vietnamesischen Küche, und vor allem ist es hier auch die Abkürzung für Youth and African Market, und das entspricht ja dem, was hier stattfindet eigentlich, also Treffpunkt für die Jugend aus aller Welt, mit der 8. Aus Gründen der Anonymisierung wurden alle Namen geändert. 90

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Möglichkeit, so bei alternativem Food so was auch für den Leib zu bekommen, also keine Wurst, keine Pommes, schöne Tappas aus Brasilien oder Donuts aus Kalifornien.«9 Die multikulturelle Bedeutungsdimension (asiatisch, vietnamesisch, afrikanisch, brasilianisch, kalifornisch) hat also gleichzeitig kulinarischen Charakter. Das Fremde und Exotische soll man im Yaam Club nicht lediglich bestaunen, sondern schmecken können. Des weiteren nennt Jacques die Bedeutungen ›Jugend‹ und ›Markt‹. In der Bezeichnung ›Treffpunkt für die Jugend aus aller Welt‹ klingt die Idee der Olympischen Spiele an; sie verweist auf die sportlichen Aktivitäten im Club. ›Markt‹ annonciert ein bestimmtes Warenangebot und verweist gleichzeitig auf das Spektakuläre eines Jahrmarktes, auf dem auch alle möglichen Vor- und Aufführungen zu erwarten sind. Darüber hinaus bezeichnet ›Markt‹ eine soziale Situation, einen kommunikativen Ort, eine spezifische Form von Öffentlichkeit. Jacques gibt in seiner Erläuterung nun den entscheidenden Hinweis darauf, in welcher Weise all diese Bedeutungsdimensionen des Namens Yaam, alle Assoziationen, die er aufruft, zueinander in Verbindung stehen: Es geht im Yaam Club darum, etwas ›für den Leib zu bekommen‹. D. h. es geht um die Einverleibung, die körperlich-sinnliche Aneignung des Exotischen, Multikulturellen, Fremden. Der Yaam Club verspricht in seinem Namen sinnliches Vergnügen im Umgang mit dem Fremden, unter der Voraussetzung, daß man bereit ist, das Gewohnte (›Wurst und Pommes‹) aufzugeben. Sein Angebot adressiert die Körper seines Publikums. Jamaikanische Reggae-Rhythmen, die zum Tanzen auffordern, das Ereignishafte einer Jam Session, die zum Mitmachen einlädt, das multikulinarische Schmecken, die sportlichen Aktivitäten, all diese Aspekte appellieren an eine körperliche Bereitschaft und Empfänglichkeit der Teilnehmer. Darüber hinaus bestehen körperliche Korrespondenzen zwischen den schillernden Bedeutungsimplikationen und Bedeutungsassoziationen des Namens Yaam: Die Bedeutungen ›afrikanisch‹, ›karibisch‹, ›jamaikanisch‹ bzw. ›schwarz‹ stehen in einer impliziten Beziehung zum ›jammen‹, ›tanzen‹, zu den sportlichen Aktivitäten und zum Essen und Trinken. Sie bezeichnen also in dieser Hinsicht weniger kulturelle Traditionen, die im Zuge einer intellektuellen Auseinandersetzung verstanden werden wollen, sondern vielmehr Körperkonzepte, die durch körperliche Partizipation, Aneignung und Anverwandlung erschlossen werden sollen. Das Musikprogramm im Yaam Club umfaßt ausschließlich die Genres HipHop und Reggae mit seinen verschiedenen ›klassischen‹ und aktuellen Subgenres vom Roots Reggae über den Ragga bis zum Dancehall. In der 9. Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wurden alle Zitate aus den Interview-Transkripten sprachlich leicht geglättet. 91

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Verpflichtung auf diese Stilformen aus dem Bereich der Black Music kommt auch auf musikalischer Ebene die für die Yaam-Szene insgesamt signifikante Orientierung an der ›schwarzen Kultur‹ zum Ausdruck. Andere Stilformen aus dem Gebiet der aktuellen Dancefloor-Genres wie z. B. Techno oder House sind sozusagen ›zu wenig schwarz‹, um hier gespielt zu werden. Die Verknüpfung der genannten musikalischen Genres geschieht im Yaam Club nun allerdings nicht nach der Logik eines ›Sowohl-alsAuch‹, sondern nach einer spezifischen Gewichtung. Obwohl die DJs Ausflüge in Richtung HipHop und in die aktuellen Reggae-Varianten Ragga und Dance Hall unternehmen, steht der ältere, klassische Roots Reggae eindeutig im Zentrum der Zusammenstellungen. Das Musikprogramm erhält auf diese Weise einen programmatischen Zug. Es führt die neueren Stilrichtungen auf ihre behaupteten musikalischen Wurzeln im Reggae zurück und propagiert über diese dramaturgische Konstruktion einer Entwicklungsgeschichte der neueren Genres die Besinnung auf Ursprüngliches. Während die verschiedenen Yaam-typischen Stilrichtungen für die Akteure, wie DJ Ziggy sagt, »vom Innersten her ziemlich gleich sind«, gilt der Reggae als diesem Innersten am nächsten. Die Zentralität des Reggae im Musikprogramm des Yaam Club gründet jedoch nicht nur auf seiner durch die Dramaturgie der DJ-Sets nahegelegten Ursprünglichkeit, diesem Genre wird auch eine integrative Qualität zugeschrieben, es fungiert zugleich als gemeinsamer geschmacklicher Nenner. Auf den Reggae können sich, wie DJ Oskar sagt, »alle einigen«. Als das integrativste Genre ist Reggae nun zugleich auch das ›schwärzeste‹. Der jamaikanischen Kultur und dem Reggae wird im Unterschied zur afroamerikanischen Kultur und Musik – also dem HipHop – eine größere Nähe zu Afrika, dem mythischen Ursprung des phantasmatischen, szenespezifischen Leitbildes einer black culture zugeschrieben. Reggae bedeutet für die Akteure eine Steigerung, Konzentration und Verdichtung der der black music insgesamt attribuierten Eigenschaften – Reggae gilt als die Essenz der ›schwarzen Musik‹. Die Dramaturgie der DJSets im Yaam Club richtet sich am Ziel aus, das Publikum mit dieser Essenz in Berührung zu bringen. Der allsonntäglich rituell wiederholte Rückgriff auf dieses Genre dient der Belebung und Vergegenwärtigung der dem Reggae zugedachten, in ihm gehörten oder in ihn hineingehörten und für die Szeneangehörigen verbindlichen wie verbindenden Grundwerte. Diese Grundwerte sind auf der semantischen Ebene allerdings schwer zu greifen. Die Auswertung der Interviews ergibt hier lediglich einige, mehr oder weniger lose miteinander verknüpfte Bedeutungsbündel: Reggae steht aus der Sicht der Akteure für Friedfertigkeit und soziale Offenheit, für Integration, eine lockere Gemeinschaftlichkeit und für eine soziale Intimität, für Widerständigkeit, Rebellion und spiritualistische 92

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Verweigerung sowie für mit afrikanischer Kultur in Verbindung gebrachte Ursprünglichkeit und Vitalität. Diese Vielschichtigkeit auf der Bedeutungsebene ist ganz offenbar eine für das Phänomen selbst konstitutive Eigenschaft. Gleichzeitig sind diese Bedeutungszuschreibungen aber keinesfalls willkürlich, denn sie haben für meine Gesprächspartner eine sinnliche, spürbare Plausibilität in der Musik selbst. Diese Doppelstruktur von semantischem Schillern und sinnlicher Evidenz kennzeichnet nicht zuletzt auch die den Akteuren durchaus bewußten hermeneutischen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Reggae. DJ Double X zufolge ist es in erster Linie die Sprache, d. h. die schnellen Sprechreime im Idiom des jamaikanischen Patois, die für das deutschsprachige Publikum eine Verständnisbarriere darstellen. Allerdings ist die Musik trotz dieser Verständnisbarrieren nicht im eigentlichen Sinne unverständlich. Irgend etwas wird ganz offensichtlich verstanden und bisweilen sogar lauthals mitgesungen. Die Akteure überbrücken die Verständnisbarriere, die der Reggae auf der sprachlichen Ebene aufrichtet. Ihr vordringliches Interesse ist nicht das Verstehen-Wollen und Auslegen der kryptischen Botschaften, im Vordergrund steht das Benutzen für eigene Zwecke. Die Unverständlichkeit der Texte wird so geradezu zu einer Voraussetzung für die unbekümmerte Aneignung, bei der die nonverbalen, körperlichen Qualitäten im Mittelpunkt stehen. Verstanden wird nicht der Text, nicht das Gesprochene oder – wie man im Reggae sagt – das ›Getoastete‹, sondern neben den Klängen und Rhythmen das Sprechen und Toasting selbst, d. h. die verbomotorischen Muster und die Sprechhaltung. Who feels it, knows it verkündete einst Reggae-Star Bob Marley und gab damit auch seinem deutschsprachigen Publikum gleichsam die hermeneutische Strategie vor, sich durch mimetisches Nachspüren ihrer körperlichen Erzeugungsprozesse die Musik zu erschließen. Die Botschaften der Musik haben für die Akteure also eine spürbare Evidenz und ein körperliches Korrelat. Ich habe nun versucht, diese körperlichen Korrelate der der Musik von den Akteuren zugeschriebenen Bedeutungen durch eine Verknüpfung einer phänomenologischen Beschreibung der musikalischen Charakteristika mit in meinen Feldprotokollen festgehaltenen Beobachtungen über charakteristische Körperhaltungen und Bewegungsformen der Akteure zu identifizieren: Das für HipHop und Reggae gleichermaßen typische musikalische Charakteristikum sind die Bässe. Im Reggae und nachfolgend auch im HipHop wurde ein vordem in der Popmusik unbenutzter weil unbekannter Bass-Frequenzraum erschlossen, der die Körperlichkeit dieser Musik unterstreicht. In den neueren Nachfolge-Genres des Reggae (Ragga, Dance Hall etc.) wird dieses Schwergewicht der Bässe noch verstärkt: Harmo93

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nie- und Melodieinstrumente sind kaum noch zu hören, das HiHat des Schlagzeugs ist nur noch als metronomisches Ticken zu vernehmen, dafür werden aber die Bassfrequenzen sozusagen eine Etage tiefer gelegt. Diese bisweilen sogar die Hörbarkeitsgrenze unterschreitenden subsonischen Bässe drängen direkt gegen den Solarplexus. Sie berühren und durchdringen den Körper, man fühlt sich von ihnen körperlich erfaßt. Darüber hinaus schaffen sie – von den akustischen Verhältnissen auf dem weitläufigen Gelände des Yaam Clubs begünstigt – eine das transparente Nebeneinander von rhythmischen Akzenten und Klangfarben unterfütternde Weite. Die Bässe erobern die Tiefe des Raumes (im doppelten Sinne von Weite und Grund) – sie bilden ein Fundament. Ich habe die Teilnehmer immer wieder aufgefordert, mir die Spezifik der Musik, v. a. der Bässe, zu beschreiben. Auf die Frage: ›Wie klingen für dich diese Bässe?‹ blieben fast alle mehr oder weniger sprachlos. Sie demonstrierten die Wirkungen jedoch übereinstimmend gestisch, durch zunächst in Höhe der Hüfte gehaltene Arme, die sich dann in einer nach vorne und auf den Boden zulaufenden Bewegung ausbreiten. Offenbar hat das, was durch die basslastigen Klänge am eigenen Körper gespürt wird, den Charakter einer spezifischen Gestaltförmigkeit, die körpersprachlich dargestellt werden kann. In ihrer gestischen Beantwortung der Frage nach den Wirkungen der Bässe stellen die Teilnehmer die spezifischen »Bewegungssuggestionen«10 dar, die an den Bässen haften. Die Bässe ›suggerieren‹ eine Grundverbundenheit, eine Bodenhaftung, die nicht nur in den Tanzformen, sondern bereits in der für die meisten regelmäßigen Besucher charakteristischen Art zu gehen zum Ausdruck kommt: Nach dem Entrichten des Eintrittsgeldes machen die meisten Gäste erstmal eine Runde durchs Gelände. Bei vielen fällt eine ähnliche, spezifische Art zu gehen auf. Man läuft mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und läßt die Arme seitlich auf eine Weise schlenkern, als könnten sie jederzeit den Boden berühren. Auf diese Weise schlendernd, kaum merklich von den Reggae Beats bewegt, präsentiert man sich den Blicken der schon Anwesenden genauso, wie man – oft sonnenbrillengeschützt – die eigenen Blicke unverwandt schweifen läßt. Bei dieser Runde wird die kollektive Gestimmheit, der ›Vibe‹ aufgenommen. Durch einzelne Gesten, leichtes Kopfwiegen, rhythmisches Schwingen der Hüfte, eine Verlangsamung der Gehgeschwindigkeit auf das Yaam-übliche Maß, zeigt man an, daß man dazugehört. Erstbesucher, Touristen oder Eltern, die 10. Schmitz, Hermann. Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern vor Stuttgart 1998, 34 ff. Wie Schmitz in seinen phänomenologischen Analysen deutlich macht, haben solche an Geräuschen und Klängen haftenden Bewegungssuggestionen »Brückenqualitäten« (35), d. h. sie vermitteln zwischen dem »Wahrgenommenen und dem gespürten eigenen Leib« (38). 94

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ihren Kindern hinterherspionieren, erkennt man daran, daß sie diesen Bewegungsstil nicht beherrschen. Dieselbe ›Bodenhaftung‹ zeigt sich darüber hinaus auch in den Körperhaltungen der Streetball-Spieler, die mit tief gebeugtem Oberkörper den Ball prellen und ihn zugleich vor den Gegenspielern abschirmen. Ein weiteres markantes Kennzeichen der Bässe im Reggae und im HipHop ist zudem ihr perkussiver Charakter. Die Bässe sind in beiden Stilformen weniger ein harmonisches oder melodisches, sondern vielmehr ein rhythmisches Element.11 Besonders deutlich wird dies in der im Reggae für die Basslinie gebräuchlichen Bezeichnung Riddim. Die Spannung zwischen Noten und Pausen in den Riddims, das periodische Aussetzen des Basses suggeriert kurzzeitig ein Gefühl ›wankenden Bodens‹, ein Taumeln und Fallengelassen-Werden, bis man vom einsetzenden Bass wieder aufgefangen wird. Man kann sich – wie ein Teilnehmer sagt – »da reinfallen lassen, ne Geborgenheit fühlen da drin«. In den typischen Tanzbewegungen zeigt sich diese rhythmische Spannung als ein Heraustreten und Zurücksinken, als ein Sich-Bewegen und Sich-TreibenLassen, als ein Pulsieren zwischen Anspannung und Loslassen. Dieses rhythmische Pulsieren ähnelt der Bewegungsform eines abprallenden, hüpfenden Balles, der die Streetballer im Spiel ihre Körperbewegungen anverwandeln. Das Bouncing – ein Begriff, in dem ebenfalls die Bedeutung eines vom Boden abprallenden und zurückschnellenden Balles enthalten ist – bezeichnet darüber hinaus eine vor allem auf HipHop-Konzerten typische Publikumsreaktion: das rhythmische, ›gummiballähnliche‹ Hochhüpfen, in das die Energie des Abprallens vom Boden hineingelegt wird. Das körperliche Pendant der pulsierenden Rhythmik der Riddims läßt sich also ungefähr umschreiben als ein durch eine gewisse Elastizität und Spannkraft gekennzeichneter Bewegungsstil, der sich in ähnlicher Weise in den Bewegungsabläufen der Streetball-Spieler, in den Tanzformen zu Reggae und HipHop, aber auch schon im nur beiläufig von den Rhythmen bewegten Umherschlendern der Teilnehmer auf dem Club-Gelände wiedererkennen läßt. ›Bodenhaftung‹ und ›Elastizität‹ sind also wesentliche Elemente eines den Szenemitgliedern gemeinsamen, symbolisch codierten Bewegungsstils, der auch den dem Reggae zugeschriebenen Bedeutungen ihre sinnliche Evidenz verleiht. Ohne die konstitutive Vielschichtigkeit dieser Bedeutungen reduktionistisch zu vereinfachen, ohne einen eindeutigen Ausdruckszusammenhang zwischen den skizzierten Bewegungs- und Haltungstypiken und den der Musik zugeschriebenen Bedeutungen zu behaupten, kann man sich aber doch eine Reihe möglicher Verbindungen 11. Vgl. dazu auch die instruktiven Beschreibungen und Analysen bei Bader, Stasa. Worte wie Feuer. Dance Hall Reggae und Raggamuffin. Neustadt 1992, 66 ff. und 236 ff. 95

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denken: beispielsweise zwischen den Bässen, den zum Boden gerichteten Haltungen und Bewegungen und der dem Reggae zugeschriebenen Bedeutung einer afrikanischen ›bodenständigen‹ Ursprünglichkeit oder zwischen der pulsierenden Rhythmik, der Elastizität der Körperbewegungen und der in der Sicht der Akteure lockeren Gemeinschaftlichkeit und sozialen Offenheit der Szene.

Der Glaube an die ›schwarze Kultur‹ Die kulturellen Praxen im Yaam Club produzieren über das Medium gemeinsam geteilter Körperbewegungen eine fühlbare, sinnliche Gemeinschaft. Insbesondere in der Kommunion der Szeneangehörigen im gemeinsamen Tanz – ein ritueller Vorgang, der sich nicht immer, sondern nur an solchen Sonntagen vollzieht, an denen die Mehrheit der Teilnehmer das Gefühl hat, daß die kollektive Stimmung trägt –, in diesem gemeinsamen Tanz zum Abschluß des Sonntags im Club verlieren im Schutz der einbrechenden Dunkelheit die einzelnen Körper der Akteure ihre Konturen; sie formen den kollektiven Körper der Szene. Die allsonntäglich wiederkehrenden Versammlungen mit ihren kulturellen Aktivitäten bringen nun im Medium der Körperlichkeit zugleich die kollektiven Repräsentationen hervor, in denen sich die Szene wiedererkennt. Diese kollektiven Repräsentationen haben auch den Status gemeinsamer Überzeugungen. Aus den Vorstellungen, die die Akteure mit der Musik, mit dem Tanzen, dem Deejaying und dem Streetball-Spiel verbinden, also etwa dem ›Afrikanisch-Ursprünglichen‹ des Reggae oder dem ›GhettoFlair‹ von HipHop und Streetball, setzt sich der gemeinsame Glaube der Szene zusammen: Es ist der Glaube an die ›schwarze Kultur‹. Die durch eine gewisse Familienähnlichkeit in bezug auf ihre jeweils typischen Körperbewegungen miteinander verbundenen Praktiken besitzen ähnlich wie die von Durkheim beschriebenen religiösen Praktiken »aus sich selbst […] Wirkkraft […]. Diese Kraft kann an den ausgesprochenen Worten, an den ausgeführten Gesten wie an körperlichen Substanzen hängen; die Stimme, die Bewegungen können ihr als Medium dienen und mit Hilfe dessen kann sie die Wirkungen erzeugen, die in ihr sind, ohne daß ein Gott oder ein Geist wirksam werden mußte«.12 Durch diese körperlichen Medien, durch Gesten, die Stimmen sowie durch gemeinsam geteilte Körperbewegungen wird diese Kraft, wie Durkheim weiter formuliert, »zum Schöpfer von Gottheiten«.13 Funktionales Äquivalent für diese ›Gottheiten‹, von denen Durkheim spricht, ist im Falle der Yaam-Szene das phantasmati12. Durkheim (Anm. 6), 276. 13. Ebd. 96

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sche Leitbild einer ›schwarzen Kultur‹, auf das die zentralen kulturellen Praktiken alle bezogen sind. Durch die in den verschiedenen Kulturpraxen körperlich-sinnlich erzeugte ›Wirkkraft‹ erhält die Wertschätzung der ›schwarzen Kultur‹ im Yaam Club den Status einer protoreligiösen gemeinsamen Glaubensüberzeugung. Der Glaube an die ›schwarze Kultur‹ ist als Synthese all jener Vorstellungen, die sich die Akteure über afroamerikanische, afrikanische und karibische Kulturformen und kulturelle Eigenheiten machen, zugleich die Antwort auf die Frage nach der Verknüpfungslogik von Streetball, HipHop, Reggae und afrikanischem Essen (das hier überwiegend angeboten wird) – er integriert die szenetypischen Aktivitäten, die in der Vorstellung der Akteure in der ›schwarzen Kultur‹ einen gemeinsamen Ursprung haben. Erna, die sich seit längerer Zeit intensiv mit afrikanischer Kultur beschäftigt, mit einem sudanesischen Mann zusammenlebt, den sie im Yaam Club kennengelernt hat, und mehrere Reisen in verschiedene afrikanische Länder unternommen hat, bringt die integrative Funktion der im Yaam Club vorherrschenden Vorstellung eines Kontinuums schwarzer Kultur prägnant auf den Punkt: Auf die Frage nach dem Zusammenhang von Streetball, Reggae und afrikanischem Essen antwortet sie: »Das is einfach dieses Amerikanische, so dieses Streetball, die schwarzen Amerikaner spielen eher Streetball, die schwarzen Jamaikaner hörn Reggaemusik und die Afrikaner essen afrikanisches Essen, das is so das, was sie einfach, Schwarze glaub ich, so verbindet.« Die in der Vorstellung der Akteure verbindende Kraft der ›schwarzen Kultur‹ erstreckt sich nun aber nicht nur – wie in Ernas Beschreibung – auf die Gäste mit afrikanischer Herkunft und dunkler Hautfarbe, sie stiftet vielmehr einen übergreifenden Zusammenhang, in den potentiell alle Szenemitglieder einbezogen sind. Dies zeigt sich exemplarisch an der besonderen Bedeutung, die dem Reggae zugemessen wird. Reggae gilt, wie gezeigt, zugleich als das ›schwärzeste‹ und als das integrativste Genre, das über die unterschiedlichen Präferenzen im einzelnen hinweg (die Streetballer hören eher HipHop, die Chill Outer und Clubgänger bevorzugen Drum’n’Bass) alle im Publikum vertretenen Gruppen anspricht und verbindet. Der Glaube an die ›schwarze Kultur‹ ist eng mit der Einstellung verbunden, das Fremde unter ein Inszenierungsgebot zu stellen und als Bereicherung zu erleben. Ihm werden dabei jedoch nur in dem Maße Chancen auf Akzeptanz eingeräumt, wie es dem innerhalb der Szene vorherrschenden Bild vom Fremden zu entsprechen in der Lage ist. Die in Berlin lebenden großen Gruppen ethnischer Minderheiten, die gleichzeitig überwiegend untere Positionen im sozialen Raum einnehmen, also ethni97

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sche Gruppen aus dem arabischen und dem ost- und südosteuropäischen Raum, sind im Yaam Club so gut wie nicht vertreten, gleichzeitig stellen afrikanische und karibische Einwanderer sowie Afroamerikaner, die unter den in Berlin lebenden Einwanderergruppen eine kleine Minderheit bilden, oft annähernd die Hälfte der Clubbesucher. Die reale Multiethnizität der Berliner Wohnbevölkerung findet sich in der inszenierten Multikulturalität des Yaam Clubs nicht wieder. ›Multikulturell‹ ist der Yaam Club also nicht im Sinne einer realen sozialen Offenheit gegenüber ethnischen Minderheiten, sondern im Sinne einer Exklusivität, die sich nur auf solche ethnische Gruppen bezieht, die über entsprechende Inszenierungstechniken und Ressourcen oder über eine szenekompatible symbolische Repräsentation verfügen. Im Rückgriff auf solche im Yaam Club mit einer spezifischen symbolischen Geltung ausgestatteten Repräsentationen und Inszenierungstechniken geben die hier vertretenen ethnisch-kulturellen Minderheiten Darstellungen ihrer selbst. Der jamaikanische Rastaman, dessen persönliche Erscheinung, seine Kleidung, sein sprachliches Idiom, seine Haltung und seine Körperbewegungen im rituellen Raum der Gemeinschaft zum Zeichen seiner kulturellen Verwurzelung im Sinne seiner Zugehörigkeit zum über den Reggae transportierten Bild jamaikanischer Kultur wird, dieser Rastaman ist hier in bezug auf seine szenespezifische Geltung gegenüber dem türkischen Einwanderer der zweiten Generation, der sich wie ein Mitglied einer Jugendgang einer US-amerikanischen Großstadt darstellt und alles, was auf seine türkische Herkunft hindeutet, eher verbirgt als herausstellt, unterschieden und im Vorteil. Denn die türkische Kultur verfügt im Unterschied zur jamaikanischen nicht über eine bei den Teilnehmern anerkannte symbolische Repräsentation, sie ist eben nicht Teil der ›schwarzen Kultur‹. Der ›Multikulti-Charakter‹ des Yaam Clubs ist also eine Inszenierungsform, die einer äußerst selektiven und exklusiven Logik folgt, die vom verbindend-verbindlichen Glauben an die ›schwarze Kultur‹ generiert wird. Dieser Glaube hat nun auch Auswirkungen auf den Status der afroamerikanischen, karibischen und afrikanischen Besucherinnen und Besucher des Clubs, an denen er sich sozusagen empirisch bestätigt und materialisiert. Erna beschreibt den Status dieser Teilnehmer, den im Club sogenannten Blacks, folgendermaßen: »Ich denke einfach, für Schwarze hier in Berlin is es einfach so, daß sie diskriminiert werden und daß sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, und hier ist es eher so, daß die Schwarzen hier die Menschen erster Klasse sind, die sind hier superwichtig, ohne die Schwarzen hier würde das gar nicht funktionieren, oder hätt es einfach nich die Atmosphäre, und insofern is es einfach n Rahmen, oder n Raum, wo die einen ganz anderen Stand haben, einfach den, vielleicht exotischen, vielleicht auch einfach nur anderen Stand, also 98

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ich denke, es sind ja auch alle möglichen Schwarzen, da sind Jamaikaner und Afrikaner und Amerikaner und alle ham sie hier irgendwie diesen anderen Stand, daß sie hier hergehören und was Besonderes sind.« Menschen mit dunkler Hautfarbe unterliegen, sobald sie den Wirkungen des im Yaam Club vorherrschenden Glaubens an die ›schwarze Kultur‹ ausgesetzt sind, also mit dem Eintritt in das Gelände, einer doppelten Transformation. Sie werden unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft zu Blacks und als solche werden sie in einer Inversion der außerhalb des Yaam Clubs herrschenden Diskriminierung von ›Menschen zweiter Klasse‹ in ›Menschen erster Klasse‹ verwandelt. Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei um einen bekannten Mechanismus positiver Diskriminierung, der die Differenz und Besonderheit ›der Schwarzen‹ herausstellt und sich wie sein Pendant – die rassistische Abwertung – ebenfalls auf das askriptive Merkmal der Hautfarbe stützt und dieses lediglich mit anderen Vorzeichen versieht. Bei näherer Betrachtung der Funktionsweise des Glaubens an die ›schwarze Kultur‹ zeigt sich jedoch, daß aufgrund dessen Verbindlichkeit für alle Mitglieder der Szene noch eine dritte Transformation wirksam wird: Unter der Dominanz der ›schwarzen Kultur‹, die allen Teilnehmern unabhängig von ihrer Hautfarbe die Möglichkeit der Teilhabe einräumt, verwandelt sich ›Schwarz-Sein‹ tendenziell von einem zugeschriebenen, an die Hautfarbe gebundenen, in ein erwerbbares Merkmal. Diese Transformation läßt sich mit Parsons’ Unterscheidung zwischen askriptiven und erwerbbaren Rollen zunächst begrifflich präzisieren. Unter erwerbbaren, »achievement oriented roles« versteht Parsons »those which place the accent on the performance of the incumbent«; zugeschriebene, »ascribed roles« gründen dagegen »on his qualities or attributes independently of specific expected performances«.14 Durch die Transformation von ›Schwarz-Sein‹ in eine erwerbbare, oder – und dies klingt in der Formulierung von Parsons an und macht seine begriffliche Unterscheidung für meinen Untersuchungskontext so passend – durch die Transformation von ›Schwarz-Sein‹ in ein performatives Attribut wird zwar die Verbesonderung der ›Schwarzen‹ im Yaam Club nicht aufgehoben, sie wird aber tendenziell entnaturalisiert. Das Merkmal Hautfarbe wird durch andere, performative Kriterien wie bestimmte Ausdrucksrepertoires, darstellerische Techniken der Akteure, Attribute ihrer Fassade wie Kleidung und Frisur und eine bestimmte körperliche Haltung ersetzbar. Auf diese Weise können dann auch ›weiße‹ Deutsche durch entsprechende Arbeit an sich selbst, an ihrer persönlichen Erscheinung, in verschiedenen Graden der ›schwarzen Kultur‹ nahekommen.15 Die un14. Parsons, Talcott. The Social System. London 1970, 64. 15. Als spezifische Präsentationsformen des Selbst fallen diese im Yaam Club vorherr99

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terschiedlichen Abstufungen einer solchen Entsprechung bemessen sich nicht zuletzt am jeweils getriebenen Aufwand; sie werden beispielsweise dadurch erreicht, daß man Dreadlocks trägt (eine Frisur, die jahrelang wachsen und verfilzen muß, um ›echt‹ zu wirken), bestimmte, für typisch ›schwarz‹ gehaltene Körpertechniken beim Streetball einübt oder durch ausdauerndes Üben lernt, den Stil des jamaikanischen Toastings nachzuahmen. Das Merkmal Hautfarbe, das seine Träger gegenüber solchen Körperinszenierungen im Yaam Club zwar mit einem gewissen Vorteil ausstattet, ist für die Realisierung und empirische Fundierung des Glaubens an die ›schwarze Kultur‹ alleine nicht ausreichend, denn diese Leitvorstellung erfordert auch von den Gästen mit dunkler Hautfarbe eine Reihe von zusätzlichen Anpassungsleistungen. Malik, ein sudanesischer Einwanderer, der seit Jahren zu den regelmäßigen Besuchern des Clubs zählt, hat mir diese Anpassungsleistungen in einem Gespräch beschrieben, das ich in der folgenden Protokollnotiz festgehalten habe: »Malik sagt, für ihn sei es sehr merkwürdig zu sehen, wie im Yaam Club alle Schwarzen und insbesondere alle Sudanesen mit dem Eintritt ins Gelände anfangen würden, sich komisch zu verhalten. Er demonstriert dies mit den typischen, ›coolen‹ afroamerikanischen Körperbewegungen und Haltungen. Die Sudanesen würden denken, sie müßten im Yaam Club alle eine Show abziehen, ›Schwarzsein‹ spielen und sich an den afroamerikanischen role models aus dem Basketball und dem HipHop orientieren. Er hätte schon oft mitgekriegt, wie neu eingewanderte Sudanesen zunächst große Schwierigkeiten mit diesen Verhaltensweisen hätten, die sie zunächst einfach nicht beherrschen würden. Oft monatelang würden sie staunend, schüchtern und beeindruckt am Rande stehen. Im Lauf der Zeit würden sie dann anfangen, das hier im Yaam Club vorherrschende positiv besetzte Bild vom Schwarzsein zu übernehmen. Er kenne viele Sudanesen, die sich erst hier in Berlin Dreadlocks wachsen lassen würden und gegenüber ihren deutschen Bekannten erfolgreich vorgeben würden, aus Jamaika, oder aus den USA zu kommen. So sei z. B. der DJ, der gerade auflegt, trotz seiner Dreadlocks und seinem komischen Englisch, das er sprechen würde, kein Jamaikaner, sondern ein Sudanese; er heiße Mohammad und spreche arabisch. Es wäre ihm aber peinlich, wenn Malik ihn vor seinen deutschen Bekannten auf arabisch ansprechen würde, er würde dann auf schenden darstellerischen Techniken eines acting black in den Geltungsbereich der Goffmanschen »Dramatologie« (Goffman, Erving. Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969). Goffman unterscheidet explizite Ausdrucksrepertoires und körperliche Ausdrucksformen des einzelnen, die verschiedenen szenischen Komponenten der persönlichen Fassade (23 f.) in bezug auf die durch sie jeweils erzielte Glaubwürdigkeit. Gerade weil – so die Pointe Goffmans – die überwiegend körperlichen und »als nicht manipulierbar angesehenen Aspekte« (10) des Ausdrucksverhaltens als »verläßlich informierend« (11) gelten, werden sie zum Gegenstand strategischer Manipulationen durch den einzelnen, der gerade über die Darstellungssicherheit des Körperlichen gewünschte Eindrücke zu erzielen sucht. 100

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englisch antworten. Es gäbe unter den Schwarzen im Yaam Club eine klare Hierarchie: Ganz oben stünden die Afroamerikaner, dicht gefolgt von den anglophonen Westafrikanern und den Jamaikanern. Auf den unteren Rängen befänden sich die Ostafrikaner, Äthiopier und Somalies und ganz unten die Sudanesen.« Aus dieser Beschreibung von Malik geht zunächst hervor, daß sich das im Yaam Club vorherrschende Bild vom ›Schwarz-Sein‹, dem sich die Einwanderer anzupassen versuchen, nicht an der Hautfarbe, sondern in erster Linie an spezifischen Körperbewegungen und Haltungen festmacht. ›Schwarz-Sein‹ manifestiert sich als körperliches acting black. Die Anpassung der neu eingewanderten Sudanesen an die hiesigen Verhältnisse vollzieht sich nach der Schilderung von Malik nicht als Assimilation oder Integration, sondern als Akkulturation im Sinne einer Übernahme und eines Zu-Eigen-Machens der hier dominierenden Vorstellungen über die ›Schwarzen‹. ›Schwarz-Sein› spielen zu können bedeutet für die neu eingewanderten Sudanesen eine wichtige Alltagskompetenz, eine Fähigkeit, die erworben werden muß, um in der Einwanderungsgesellschaft durchzukommen. Der Yaam Club fungiert für diese Einwanderer als Trainingsgelände, auf dem diese körperlichen Ausdrucksrepertoires ausprobiert und eingeübt werden können. Die Anforderung zum acting black, die für die afrikanischen Immigranten im Unterschied zu den übrigen Besuchern des Clubs eine ungleich größere Dringlichkeit und mitunter eine existentielle Dimension hat, erzeugt Malik zufolge auch innerhalb der Gruppe der Blacks im Yaam Club eine hierarchische Differenzierung entlang des szenespezifischen Prestiges der einzelnen ethnischen Gruppen. Die Afroamerikaner und die Jamaikaner, die im Unterschied zu den anderen Gruppen über eine popkulturelle Repräsentation verfügen, aus der sich wesentlich auch das im Yaam Club vorherrschende Bild vom ›Schwarz-Sein‹ speist, bringen für die Angleichung an dieses Bild durch ihre Sprache und ihre Alltagskultur die besten Voraussetzungen mit. Prinzipiell steht der Erwerb eines mit dieser Angleichung verbundenen Ansehens aber auch – wie das Beispiel des sudanesischen DJs zeigt – den afrikanischen Einwanderergruppen offen. Während für die afrikanischen Einwanderer die Fähigkeit zur Übernahme der im Yaam Club vorherrschenden Vorstellung ›schwarzer Kultur‹ eine wichtige Kompetenz darstellt, um sich in der Einwanderungsgesellschaft zu bewegen, hat die Teilhabe der indigenen Besucher an dieser Leitvorstellung ganz andere soziale Funktionen: Die Mitglieder der Kernbereiche der Szene, die Macher und Vordenker des Yaam Clubs versuchen überwiegend, in neuen traditionslosen Bereichen des Dienstleistungssektors zwischen Clubgewerbe, Werbung und Informationstechnologie Fuß zu fassen. Ihr Engagement im Club ist ein Baustein innerhalb 101

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eines groß angelegten und professionell vorangetriebenen distinktiven Projektes dieser Neuen Selbständigen, mit dem sie sich von ihrer überwiegend klein- und bildungsbürgerlichen Herkunftskultur unterscheiden wollen: Der Schriftkultur wird die professionelle Begeisterung für orale (afroamerikanische, karibische, afrikanische) Kulturformen entgegengehalten, dem ›feinen Benehmen‹ wird eine coole Haltung entgegengesetzt.16 Die performativ gerahmten Kontexte zwischen Sport- und Popkultur gewähren – wie hier am Fall des Yaam Clubs exemplarisch deutlich wird – Möglichkeiten zur Habitustransformation, durch die sie nicht nur ihre Faszination und Anziehungskraft, sondern auch ihre übergeordneten sozialen Bedeutungen erhalten. Hinter dem sozialen Gebrauch sportlicher und popkultureller Körperform-Angebote lassen sich Suchbewegungen neu entstehender, jüngerer Klassenfraktionen nach ihren jeweiligen körperlichen Habitus annehmen.17 Das gewachsene kulturelle und soziale Gewicht von Sport- und Popkultur entspricht einer Suche nach körperlichen Haltungen – einer Suche, die ihre Ursachen wiederum in einem gesellschaftlichen Veränderungsdruck hat, der sich direkt auf die Körper richtet.

16. Die distinktiven Gehalte der oralen afroamerikanischen, jamaikanischen und afrikanischen Kulturformen, die, wie Gilroy gezeigt hat, zusammengenommen als eine »counterculture of modernity« (Gilroy, Paul. The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge/MA. 1993, 1), d. h. als ein spezifisch moderner Gegenentwurf zur europäischen Schriftkultur gewertet werden können, werden also für die genannten Akteure gerade deshalb interessant, weil sie ihrer Herkunft nach der bildungsbürgerlichen Hochschätzung der Schriftkultur sehr nahe stehen. 17. Während vieles dafür spricht, daß die Angehörigen der Kernbereiche der Szene des Yaam Clubs eine kulturelle Avantgarde der neuen Dienstleistungsklassen bilden, zeigt die Fallstudie des Transformationsprozesses eines FDJ-Jugendclubs zur kommerziellen Diskothek, welche zentrale Rolle auch hier die körperlichen Performanzen auf dem Dancefloor bei der Umarbeitung erworbener und der Erprobung neuer, typisch nachwendezeitlicher ostdeutscher jugendkultureller Haltungen und Stilfiguren spielen (vgl. dazu: Schmidt, Robert u. Christina Schumacher. »Doing Disco. Eine Fallstudie zur Alltagskultur aus dem Laboratorium des Verflechtungsprozesses von Berlin mit Brandenburg«. An den Rändern der deutschen Hauptstadt. Hg. v. Ulf Matthiesen. Opladen 2002, 293-325). 102

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DAS ERLÖSENDE POTENTIAL KOLLEKTIVER GEWALT

Das erlösende Potential kollektiver Gewalt Slavoj Zˇizˇek

David Finchers Film Fight Club (1999) ist eine hervorragende Leistung für Hollywood. Der Held des Films (großartig gespielt von Edward Norton) leidet an Schlaflosigkeit. Auf Rat seines Arztes schließt er sich einer Hodenkrebs-Selbsthilfegruppe an, um herauszufinden, was wirkliche Schmerzen sind.1 Er stellt jedoch sehr bald fest, daß diese Übung in Nächstenliebe auf einem falschen subjektiven Blickwinkel beruht (voyeuristisches Mitgefühl) und findet sich schon kurz darauf in einer weitaus radikaleren Bewegung wieder. Auf einem Flug lernt er Tyler (Brad Pitt) kennen, einen charismatischen jungen Mann, der ihm die Mißlichkeit seines Lebens erklärt, das voll von Fehlschlägen und leerer Konsumkultur zum Scheitern verurteilt ist. Dieser junge Mann aber bietet ihm eine Lösung an: »Wie wäre es, gegeneinander zu kämpfen, sich gegenseitig zu Brei zu schlagen?« Nach und nach entwickelt sich eine komplette Bewegung aus dieser Idee: Im ganzen Land finden nachts in den Kellern von Bars geheime Boxkämpfe statt. Bald schon wird die Bewegung politisch und sie organisiert Terrorangriffe auf große Unternehmen ... Mitten im Film gibt es eine unerträglich schmerzliche Szene, den schrägsten Momenten eines David Lynch würdig, die als eine Art Schlüssel für die überraschende Wendung am Ende des Films dient: Um seinen Chef dazu zu zwingen, ihn zu bezahlen, obwohl er gar nicht arbeitet, wirft sich der Erzähler im Büro des Mannes herum und schlägt sich blutig, bevor der Wachdienst eintrifft. Vor den Augen seines peinlich berührten Chefs stellt der Erzähler somit die Aggressivität seines Chefs ihm gegenüber an sich 1. Neben anderen herausragenden Momenten beinhaltet das Drehbuch von Fight Club die wohl beste Pro-Abtreibungs-Szene in der Geschichte des Kinos (die, bedauerlicherweise, nicht im Film selbst vorkam): Mitten im intensiven Liebesspiel mit dem Helden keucht Helena Bonham-Carter: »Ich liebe dich. Ich will deine Abtreibung haben.« Dies, und nicht das sprichwörtliche »Ich will dein Kind haben«, ist der ultimative Ausdruck von Liebe: Die Geste der Opferung der Nachkommenschaft und somit die Bekräftigung der Liebesbeziehung als den absoluten Zweck an sich. 103

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selbst dar. Danach sinniert der Erzähler in einem Kommentar: »Aus irgendeinem Grund mußte ich an meinen ersten Kampf denken – mit Tyler.« Dieser erste Kampf zwischen dem Erzähler und Tyler, der auf dem Parkplatz vor einer Bar stattfindet, wird von fünf jungen Männern beobachtet, die lachen und sich wundersam amüsierte Blicke zuwerfen. »Da der Kampf von Personen beobachtet wird, die die Teilnehmer nicht kennen, wird uns der Eindruck vermittelt, daß das, was wir sehen, das ist, was sie sehen: Also einen Kampf zwischen zwei Männern. Erst am Ende wird uns gezeigt, daß sie dem Erzähler dabei zugesehen haben, wie er sich selbst zusammenschlägt und auf dem Parklatz herumwirft.«2 Gegen Ende des Films erfahren wir somit, daß der Erzähler nicht wußte, daß er ein zweites Leben führte, bis die Beweise so erdrückend wurden, daß er diese Tatsache nicht länger leugnen konnte: Tyler existiert nur im Bewußtsein des Erzählers; wenn andere Charaktere mit ihm interagieren, interagieren sie in Wirklichkeit mit dem Erzähler, der die Persona von Tyler angenommen hat. Offensichtlich ist es jedoch nicht ausreichend, die Szene, in der Norton sich selbst vor seinem Chef zusammenschlägt, nur als Hinweis auf Tylers Nicht-Existenz zu deuten – der unerträglich schmerzhafte und peinlich berührende Effekt dieser Szene legt Zeugnis über die Tatsache ab, daß sie eine bestimmte verleugnete phantasmatische Wahrheit enthüllt (inszeniert). In der Romanvorlage zu Fight Club wird diese Szene als Austausch zwischen dem, was wirklich abläuft (Norton schlägt sich vor seinem Chef selbst zusammen), und Nortons Phantasie (der Chef schlägt Tyler zusammen) wiedergegeben: »Im Büro des Filmvorführerverbandes hatte Tyler gelacht, nachdem ihn der Vorsitzende des Verbands geschlagen hatte. Einer der Schläge hatte Tyler aus dem Stuhl gehauen und er saß an die Wand gelehnt und lachte. ›Nur zu, Sie können mich nicht umbringen‹, lachte Tyler. ›Sie blödes Arschloch. Prügeln Sie mir die Scheiße aus dem Leib, aber Sie können mich nicht umbringen.‹ […] ›Ich bin Schrott‹, sagte Tyler. ›Ich bin Schrott und Scheiße, und für Sie und diese ganze beschissene Welt bin ich verrückt.‹ […] Seine Gnaden ließ den Fuß in Tylers Nieren sausen, nachdem sich Tyler zu einer Kugel zusammengerollt hatte, aber Tyler lachte immer noch. ›Lassen Sie’s raus‹, sagte Tyler. ›Glauben Sie mir, Sie fühlen sich dann sehr viel besser. Sie werden sich großartig fühlen.‹ […] 2. Nayman, Ira. »The Man Who Wasn’t There«. Creative Screenwriting, 8: 2 (März-April 2001), 58. 104

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›Ich stehe am Schreibtischende des Managers und sage: Was? Ihnen gefällt das hier nicht?‹ ›Und ohne mit der Wimper zu zucken, den Manager weiter im Blick, schwinge ich die Faust am Ende der Zentrifugalkraft meines Armes und schlage frisches Blut aus dem rissigen Schorf in meiner Nase.‹ […] ›Der Teppich wird voll Blut, und ich greife hinauf und hinterlasse die blutigen Abdrücke von Händen eines Monsters auf dem Rand des Schreibtischs, und ich sage, bitte helfen Sie mir, aber ich fange zu kichern an.‹ […] ›Sie haben soviel, und ich habe nichts. Und ich fange an, mein Blut die Nadelstreifenbeine des Managers hinaufwandern zu lassen, der sich weit zurücklehnt, die Hände auf dem Fensterbrett hinter ihm, und sogar seine schmalen Lippen ziehen sich von den Zähnen zurück.‹ […] ›Als der Manager schreit und versucht, seine Hände von mir, meinem Blut und meiner zermanschten Nase wegzubekommen, gibt es einen Kampf, der Schmutz klebt an dem Blut auf uns beiden, und genau in diesem Augenblick, unserem großartigsten Augenblick, beschließen die Wachmänner hereinzukommen.‹«3 Wofür steht dieses Sich-selbst-Schlagen? In einer ersten Annäherung wird deutlich, daß es grundsätzlich darum geht, sich auszustrecken und die Verbindung mit dem realen Anderen wieder herzustellen, d. h. die fundamentale Abstraktion und Kälte der kapitalistischen Subjektivität außer Kraft zu setzen, am besten durch die Figur des monadischen Individuums veranschaulicht, die allein vor dem Computer-Bildschirm sitzt und mit der ganzen Welt kommuniziert. Im Gegensatz zu unserem humanitären Mitgefühl, das uns in die Lage versetzt, unsere Distanz zum anderen beizubehalten, signalisiert gerade die Gewalt des Kampfes die Aufhebung dieser Distanz. Obwohl diese Strategie risikoreich und mehrdeutig ist (es kann auch auf die Stufe proto-faschistischer Macho-Logik gewalttätigen Male Bondings zurückfallen), muß dieses Risiko in Kauf genommen werden – es gibt keinen anderen direkten Ausweg aus der Sackgasse der kapitalistischen Subjektivität. Die erste Lektion aus Fight Club ist somit, daß man nicht direkt von kapitalistischer zu revolutionärer Subjektivität übergehen kann: Die Abstraktion, das Ausschließen der anderen, die Blindheit für das Leid und den Schmerz der anderen, muß zuerst durch die Geste des Risiko-Annehmens und des direkten Ausstreckens zum leidenden anderen gebrochen werden – eine Geste, die, da sie genau den Kern unserer Identität zerschmettert, nicht anders als extrem brutal erscheinen kann. 3. Palahniuk, Chuck. Fight Club. New York 1996, 114-117 (dt. Fight Club. 128-131). 105

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Beim Sich-selbst-Schlagen geht es jedoch noch um eine weitere Dimension: Die skatologische (exkrementale) Identifikation des Subjekts, die damit gleichzusetzen ist, die Position des Proletariers einzunehmen, der nichts zu verlieren hat. Das reine Subjekt kommt nur durch diese Erfahrung der radikalen Selbsterniedrigung zum Vorschein, wenn ich mir vom anderen die Scheiße aus dem Leib prügeln lasse bzw. ihn dazu provoziere, was mich von allem körperlichen Inhalt entleert, von jeglicher symbolischer Unterstützung, die mir ein Minimum an Würde verleihen könnte. Folglich ist die Botschaft Nortons an seinen Chef, als er sich vor diesem selbst zusammenschlägt: »Ich weiß, daß Sie mich schlagen wollen, aber wissen Sie, Ihr Verlangen mich zu schlagen, ist auch mein Verlangen, wenn Sie mich also schlagen würden, nähmen Sie die Rolle des Sklaven meines perversen masochistischen Verlangens ein. Aber Sie sind viel zu feige, um Ihr Verlangen auszuleben, also werde ich es für Sie tun – jetzt kriegen Sie, was Sie wirklich wollten. Warum ist es Ihnen so peinlich? Können Sie es sich noch nicht eingestehen?« 4 Entscheidend ist hier die Kluft zwischen Phantasie und Realität: Der Boss hätte Norton natürlich niemals tatsächlich zusammengeschlagen, er hat es sich lediglich vorgestellt, und die schmerzhafte Wirkung von Nortons Selbst-Prügelei beruht genau auf der Tatsache, daß er den Inhalt der heimlichen Phantasie seines Chefs inszeniert, die dieser niemals in die Tat umsetzen könnte. Paradoxerweise ist eine solche Inszenierung der erste Befreiungsakt: Die masochistische libidinale Bindung des Sklaven an seinen Meister kommt so ans Tageslicht; der Sklave erreicht auf diese Weise eine minimale Distanz dazu. Schon auf rein formaler Ebene stellt die Tatsache des Sich-selbst-Schlagens klar, daß der Meister überflüssig ist: »Wieso brauche ich Sie, um mich zu terrorisieren? Das kann ich selbst!« Somit wird man erst frei, nachdem man zunächst sich selbst zusammenschlägt (schlägt): Das wahre Ziel dieses Schlagens ist es, das herauszuprügeln, was in mir mit dem Meister verbunden ist. Wenn Norton zum Ende hin auf sich schießt (er überlebt den Schuß und tötet effektiv 4. Der einzige vergleichbare Fall ist Irene, Me and I, in dem Jim Carrey sich selbst schlägt – hier natürlich auf eine komödiantische Weise (obwohl schmerzhaft übertrieben) – als ein Teil einer gespaltenen Persönlichkeit, die den anderen Teil schlägt. Es gibt allerdings eine Szene in Don Siegels Dirty Harry, die die Selbst-Schlägerei in Fight Club gewissermaßen ankündigt: Der Serienmörder, der ›Dirty Harry‹ (Inspektor Callahan, gespielt von Clint Eastwood) wegen Polizeibrutalität anzeigen will, heuert einen Schlägertypen an, der sein Gesicht zu Brei schlagen soll – sogar als sein Gesicht schon blutüberströmt ist, fordert er ihn auf weiterzumachen: »Schlag mich fester!«. 106

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nur »Tyler in ihm selbst«, seinen Doppelgänger), befreit er sich dadurch ebenso von der dualen Spiegel-Beziehung des Schlagens: Bei dieser Kulmination der Autoaggression hebt sich deren Logik selbst auf, Norton wird sich nicht länger selbst schlagen müssen – er wird jetzt den wahren Feind (das System) schlagen können.5 Die gleiche Strategie wird übrigens gelegentlich bei politischen Demonstrationen angewandt: Wenn eine Menge von der Polizei, bereit diese zu schlagen, gestoppt wird, besteht eine Möglichkeit, eine schokkierende Umkehrung der Situation herbeizuführen darin, daß die Individuen in dieser Menge anfangen, sich gegenseitig zu schlagen. Gilles Deleuze ist in seinem Essay über Sacher-Masoch 6 detailliert auf diesen Aspekt eingegangen: Es ist alles andere als befriedigend für den sadistischen Beobachter, denn diesen frustriert die Selbst-Quälerei des Masochisten; er wird seiner Macht über den Masochisten beraubt. Zum Sadismus gehört eine Herrschaftsbeziehung, während Masochismus der notwendige erste Schritt zur Befreiung ist. Wenn wir einem MachtMechanismus unterworfen werden, wird diese Unterwerfung immer und per Definition von irgendeiner libidinalen Investition getragen: Diese Unterwerfung selbst generiert ein Mehr-Genießen. Sie ist in einem Netzwerk ›materieller‹ Körperpraktiken inkorporiert und aus diesem Grund können wir unsere Unterwerfung nicht durch bloße intellektuelle Reflektion loswerden – unsere Befreiung muß in irgendeiner Art körperlicher Performance inszeniert werden, und, darüber hinaus, muß diese Performance offensichtlich ›masochistischer‹ Natur sein, sie muß den schmerzhaften Vorgang sich selbst zurückzuschlagen inszenieren.7 Hat nicht auch Sylvia Plath in ihrem berühmten Daddy die gleiche Strategie übernommen? Was sie in diesem Gedicht macht, merkwürdig unberührt, ist es, die Gewalt auf sich selbst zu richten, um zu zeigen, daß sie es ihrem Unterdrükker mit ihrer selbst auferlegten Unterdrückung gleichtun kann. Und das 5. Für eine detailliertere Beschreibung der Vorstellung eines Aktes als »sich selbst zurückschlagen« vgl. Zˇiˇzek, Slavoj. The Fragile Absolute. London 2000 (dt. Das fragile Absolute – Warum es sich lohnt, das Christentum zu verteidigen. Berlin 2000). 6. Siehe Deleuze, Gilles. Masochism and Coldness. New York 1993. 7. Es ist ein klares Zeichen für die Beschränkungen, die durch die politisch korrekte Perspektive auferlegt werden, daß fast alle kritischen Reaktionen auf Fight Club ihre Augen vor dem emanzipatorischen Potential der Gewalt verschlossen: Sie sahen in dem Film eine erneute Bestätigung der gewalttätigen Maskulinität als eine paranoide Reaktion auf die jüngsten Trends, die die traditionelle Maskulinität untergraben; folglich verdammten sie den Film entweder als proto-faschistisch oder empfahlen ihn als Kritik dieser protofaschistischen Haltung. 107

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ist die Strategie der Konzentrationslager. Wenn das Leid, egal was man macht, da ist, bekommt man seine Identität, indem man es sich selbst auferlegt, man befreit sich.8 Das löst auch das Problem mit Plaths Referenz auf den Holocaust, d. h. den Vorwurf einiger ihrer Kritiker, daß ihre implizite Gleichsetzung ihrer Unterdrückung durch ihren Vater mit dem, was die Nazis mit den Juden gemacht haben, eine unzulässige Übertreibung ist: Worum es geht, ist nicht das (offensichtlich unvergleichliche) Ausmaß des Verbrechens, sondern die Tatsache, daß Plath sich gezwungen fühlte, die Strategie der Konzentrationslager, Gewalt gegen sich selbst zu richten, als einziges Mittel der psychischen Befreiung zu übernehmen. Aus diesem Grund ist es auch viel zu einfach gedacht, ihre durch und durch mehrdeutige hysterische Einstellung ihrem Vater gegenüber abzutun. (Der Schrecken seiner unterdrückenden Präsenz, und, gleichzeitig, ihre offensichtliche libidinale Faszination durch ihn – »Jede Frau betet einen Faschisten an, den Stiefel im Gesicht […]«): Dieser hysterische Knoten9 der libidinalen Verstrickung in die eigene Aufopferung kann niemals gelöst werden.10 Das heißt, man kann das ›erlösende‹ Bewußtsein, unterdrückt zu werden, nicht dem ›pathologischen‹ Vergnügen entgegensetzen, das das hysterische Subjekt gerade durch diese Unterdrückung erfährt, und dieses Zusammentreffen als Resultat der »Befreiung von patriarchalischer Dominanz als unvollendetes Projekt« interpretieren (um Habermas zu paraphrasieren), d. h. als Zeichen der Spaltung zwischen dem ›guten‹ feministischen Bewußtsein der Unterwerfung und der fortdauernden patriarchalischen Ökonomie des Wunsches, welche die hysterische Person an die Patriarchie kettet und ihre Unterordnung so zu einer freiwilligen Knechtschaft macht. 8. Zit. in Brennan, Claire. The Poetry of Sylvia Plath. Cambridge 2000, 22. 9. Ich habe diesen Begriff aus Elisabeth Bronfens Studie über Hysterie entliehen: The Knotted Subject. New York 2000. 10. An dieser Stelle ist anzumerken, daß Plath den Begriff ›Holocaust‹ auch verwandte, um ihre erste Liebesnacht mit Ted Hughes zu kennzeichnen: »Arrived in Paris early Saturday evening exhausted from sleepless holocaust night with Ted in London […].« (The Unabridged Journals of Sylvia Plath. Hg. v. Karen V. Kukil. New York 2000, 552) ›Holocaust‹ ist für sie demnach nicht nur ein nicht repräsentierbarer Schrecken, sondern auch ein unvorstellbares Vergnügen – kurzum, der nicht repräsentierbare Exzeß als die meisten Indizien darauf hin, daß Sylvia und Ted, im wahren Geiste höfischer Liebe, diese intensive sexuelle Erfahrung ohne einen vollständigen Geschlechtsakt realisierten – schließlich beherrschte Sylvia die Kunst, »practical satisfaction« zu bekommen, während sie »technical virginity« aufrechterhielt (ebd., 147). 108

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Wäre das der Fall, wäre die Lösung simpel: Man sollte darstellen, was (nach Proudhon oder Marx) als die exemplarische kleinbürgerliche Prozedur charakterisiert wird: bei jedem Phänomen einen ›guten‹ und einen ›bösen‹ Aspekt zu unterscheiden, und dann das Gute zu bestätigen und das Schlechte loszuwerden – in unserem Fall, darum zu kämpfen, den ›guten‹ Aspekt zu behalten (Bewußtsein der Unterdrückung) und den ›bösen‹ (an der Unterdrückung Gefallen finden) abzulegen. Der Grund, warum dieses ›Auflösen des Knotens‹ nicht funktioniert, ist, daß die einzig wahre Bewußtheit unserer Unterwerfung die Bewußtheit des obszönen Mehr-Genießens ist, das wir dadurch bekommen; deshalb besteht die erste Befreiungsgeste nicht darin, uns von diesem exzessiven Vergnügen zu trennen, sondern darin, es aktiv anzunehmen – genau das, was der Held in Fight Club macht. In seiner Autobiographie berichtet Bertrand Russell, wie er versucht hatte, T.S. Eliot und seiner Frau Vivien bei ihren Eheproblemen zu helfen, »bis ich herausfand, daß ihre Schwierigkeiten das waren, was ihnen Vergnügen bereitete«11 – kurzum, bis er entdeckte, daß ihnen ihr Symptom gefiel … Das gleiche Argument könnte man auf der Basis von Heideggers Gegensatz zwischen »substitutiv-dominanter Besorgtheit« und der »antizipatorisch-befreienden Besorgtheit« vorbringen: Obwohl vollkommen darauf bedacht, was der andere braucht, ignoriert die substitutive Besorgtheit die »Sorgsamkeit«, die der andere, während er dabei ist, etwas herbeizuführen, mit sich walten lassen sollte; im Gegensatz dazu unterstützt die antizipatorische Besorgtheit den anderen, seine »Sorgsamkeit« klar zu verstehen, so daß er frei darauf zugehen kann.12 Läßt sich diese Unterscheidung nicht perfekt auf die liberalen Vertreter des Humanitätsgedankens anwenden? Ist ihre Besorgtheit nicht ›substitutiv‹ in dem Sinne, daß sie anderen helfen wollen (den Armen, Benachteiligten, Opfern), anstatt sie in die Lage zu versetzen, sich selbst zu helfen (vielleicht sogar, sie daran zu hindern, sich selbst zu helfen)? Und ist es nicht auch das, was mit dem politisch korrekten Diskurs der ungerechten Behandlung nicht stimmt – er richtet sich weiterhin mit der Stimme des Opfers, das Wiedergutmachung fordert, an das Establishment, die Hilfe vom Anderen? Das ist es, was bei der revolutionären Gewalt ultimativ auf dem Spiel steht: Die Transformation des unterdrückten Opfers in einen aktiv Handelnden, festgehalten durch Marx’ berühmte Aussage, daß die Befreiung des Proletariats nur durch das Proletariat selbst geschehen kann.

11. The Autobiography of Bertrand Russel. London 2000, 295. 12. Siehe Heidegger, Martin. Sein und Zeit. Tübingen 101963, 121-122. 109

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In einer herausragenden Interpretation von Walter Benjamins Thesen zur Philosophie der Geschichte13, geht Eric Santner näher auf den Gedanken Benjamins ein, daß eine gegenwärtige revolutionäre Intervention die vergangenen fehlgeschlagenen Versuche wiederholt: Die ›Symptome‹ – vergangene Spuren, die retroaktiv durch das ›Wunder‹ der revolutionären Intervention wettgemacht werden – sind weniger vergessene Taten, als vielmehr vergessenes Versäumnis zu handeln und Versäumnis, die solidarischen Akte mit den ›anderen‹ der Gesellschaft von den sozialen Herrschaftsgefügen freizuhalten bzw. sie zu suspendieren. Symptome registrieren nicht nur die fehlgeschlagenen revolutionären Versuche, sondern – bescheidener – die nicht gehörten Aufrufe, etwas zu unternehmen oder die nicht vorhandene Empathie für diejenigen, deren Leiden in gewissem Sinne zu der Form von Leben gehören, von der wir ein Teil sind. Sie sichern einen Platz für etwas, das da ist, das in unserem Leben besteht, obwohl es niemals vollständige ontologische Konsistenz erlangt hat. Symptome sind somit gewissermaßen die virtuellen Archive der Leerstelle – oder, vielleicht besser, die Abwehr gegen Leerstellen, die in der historischen Erfahrung fortbestehen. Santner erklärt, wie diese Symptome auch die Form von Beunruhigungen im ›normalen‹ gesellschaftlichen Leben annehmen können, wie etwa die Teilnahme an den obszönen Ritualen der herrschenden Ideologie. War nicht die berüchtigte Kristallnacht im Jahr 1938 – dieser halb organisierte, halb spontane Ausbruch gewalttätiger Angriffe auf jüdische Häuser, Synagogen, Geschäfte und die Menschen selbst – ein Bachtinscher Karneval, falls es so etwas jemals gab? Man sollte die Kristallnacht exakt als ein Symptom interpretieren: Das wütende Toben eines solchen Gewaltausbruchs macht sie zu einem Symptom – die Abwehr-Formation, die die Leerstelle des Versagens, wirksam in die gesellschaftliche Krise einzugreifen, überdeckt. Mit anderen Worten ist genau die Wut des antisemitischen Pogroms ein Beweis a contrario für die Möglichkeit der authentischen proletarischen Revolution: Ihre übermäßige Energie kann nur als Reaktion auf die (›unbewußte‹) Bewußtheit der versäumten revolutionären Gelegenheit interpretiert werden.14 13. Santner, Eric. Miracles Happen: Benjamin, Rosenzweig, and the Limits of the Enlightenment (unveröffentlichtes Manuskript, 2001). Hier ist eine (vollkommen gerechtfertigte) konstruktive Kritik meiner eigenen Interpretation der Thesen enthalten. The Sublime Object of Ideology. London 1989. 14. Insoweit als diese gescheiterten Versuche in der Vergangenheit auf ihre zu erwartende revolutionäre Wiedergutmachung verweisen, ›prognostizieren‹ sie das zukünftige revolutionäre Wunder, das sie rückwirkend befreien wird. Und weiterhin, insofern als Alain 110

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Ist der letztendliche Grund für die Ostalgie (Nostalgie für die kommunistische Vergangenheit) unter vielen Intellektuellen (und sogar ›gewöhnlichen Menschen‹) der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik nicht auch die Sehnsucht – nicht so sehr nach der kommunistischen Vergangenheit, nach dem, was tatsächlich unter dem Kommunismus ablief, sondern vielmehr – nach dem, was dort hätte passieren können, nach der versäumten Gelegenheit eines anderen Deutschlands? Sind die postkommunistischen Ausbrüche von Neo-Nazi-Gewalt folglich nicht auch ein negativer Beweis für die Gegenwart dieser emanzipatorischen Chancen, ein symptomatischer Wutausbruch, der das Bewußtsein für die versäumten Gelegenheiten zeigt? Man sollte keine Furcht davor haben, eine Parallele zum individuellen psychischen Leben zu ziehen: Das Bewußtsein über eine versäumte ›private‹ Chance (sagen wir, die Gelegenheit, eine erfüllende Liebesbeziehung einzugehen) hinterläßt auf die gleiche Weise seine Spuren, getarnt als ›irrationale‹ Ängste, Kopfschmerzen und Wutanfälle; die Leerstelle der versäumten revolutionären Chance kann in Anfällen von ›irrationaler‹ Zerstörungswut explodieren … Alain Badiou zufolge gehört zum Zustand einer Situation, deren Funktion die Repräsentation der Vielfalt ist (sagen wir, der Staat in bezug auf die Gesellschaft), immer ein Exzeß in bezug auf die Situation, die er repräsentiert: Der Staatsapparat ist nie eine transparente Repräsentation der Gesellschaft, er hält sich an seine eigene Logik, die retroaktiv eingreift und gewalttätigen Druck auf das ausübt, was er repräsentiert.15 An dieser Stelle sollte man hinzufügen: Es gibt nicht nur ein Übermaß an Staat in bezug auf die Vielfalt, die er repräsentiert; der Staat ist zugleich auch in bezug auf sich selbst übermäßig, d. h. er generiert sein eigenes Übermaß, das, obwohl notwendig für sein Funktionieren, unerkannt bleiben muß. Der Apocalypse Now Redux aus dem Jahr 2000, Coppolas neu geschnittene, längere Version von Apocalypse Now, inszeniert überdeutlich die Koordinaten dieses strukturellen Übermaßes von staatlicher Macht. Ist es nicht bezeichnend, daß die Figur des Kurtz, der Freudsche ›Urvater‹ – das keinem symbolischen Gesetz unterworfene obszöne Vater-Vergnügen, der totale Herrscher, der es wagt, dem Realen des erschreckenden Vergnügens von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten Badious Name für das Wunder ›Ereignis‹ ist (S. Badiou. L’être et l’événement. Paris 1989), kann man von Benjamins Thesen eine Art ›Critique avant la lettre‹ von Badiou entwickeln: ein Ereignis kommt nicht von Irgendwo; es findet nicht nur innerhalb dessen, was Badiou eine ›Site Événementielle‹ nennt, statt, es wird sogar durch eine Reihe von gescheiterten Events ›prognostiziert‹. 15. Ein wiederkehrendes Thema in Badiou (Anm. 14). 111

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– nicht als Mahnung einer barbarischen Vergangenheit präsentiert wird, sondern als notwendiges Resultat der modernen westlichen Macht selbst? Kurtz war ein perfekter Soldat – als solcher wurde er durch seine ÜberIdentifikation mit dem System der militärischen Macht zu dem Exzeß, den das System eliminieren muß.16 Jedenfalls liegt Badiou hier ganz richtig mit seiner Betonung darauf, wie der Teufelskreis von Superego-Gewalt durchbrochen werden muß – genau das ist es aber, was in diesem Film nicht passiert. Der äußerste Horizont von Apocalypse Now ist der Einblick, wie Macht ihren eigenen Exzeß generiert, den sie in einer Operation vernichten muß, die das imitiert, wogegen sie kämpft (Willards Auftrag, Kurtz umzubringen, ist für das offizielle Protokoll nicht vorhanden, »es ist nie passiert«, wie der General betont, der Willard instruiert). Dadurch betreten wir die Domäne der geheimen Operationen, der Dinge, die die Macht tut, ohne es jemals zuzugeben. Und gilt das gleiche nicht auch für die Personen, die von den offiziellen Medien heutzutage als Verkörperung des radikalen Bösen präsentiert werden? Ist dies nicht die Wahrheit, die sich hinter der Tatsache verbirgt, daß Bin Laden und die Taliban als Teil einer von der CIA unterstützten antisowjetischen Guerilla in Afghanistan hervorgingen, und hinter der Tatsache, daß Noriega in Panama ehemaliger CIA-Agent war?17 Kämpfen die USA nicht in allen diesen Fällen gegen ihren eigenen Exzeß? Und galt das gleiche nicht auch schon für den Faschismus? Der liberale Westen mußte seine Kräfte mit dem Kommunismus verbinden, um seine eigenen exzessiven Auswüchse zu zerstören. (Entlang dieser Achsen ist man versucht vorzuschlagen, wie eine wahrhaft subversive Version von Apocalypse Now ausgesehen haben könnte: Man wiederholt das Rezept der antifaschistischen Koalition und läßt Willard dem Vietcong in einem Pakt vorschlagen, Kurtz zu vernichten.) Was außerhalb des Horizontes von Apocalypse Now bleibt, ist die Perspektive eines kollektiven politischen Aktes des Ausbrechens aus diesem Teufelskreis des Systems, das seinen Superego-Exzeß generiert und dann gezwungen ist, ihn zu vernichten: Eine revolutionäre Gewalt, die 16. Entscheidend sind hier zwei Figuren, die auf Kurtz hindeuten: Kilburne, der exzentrische Kommandeur der Hubschrauberstaffel (Robert Duvall), ein klarer Vorbote von Kurtz; Kurtz, insofern er noch für das militärische Establishment akzeptabel ist (man denke an seine zahlreichen halb-psychotischen Idiosynkrasien), und der Anführer der isolierten französischen Gemeinde in Kambodscha, einer Gruppe, die auf einer verlassenen Plantage an ihrer kolonialen Vergangenheit festhält. 17. Nebenbei bemerkt: Warum gab es nach Noriegas Verhaftung keine öffentliche Gerichtsverhandlung gegen ihn? Was hätte er über seine CIA-Kontakte ausplaudern können? 112

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nicht länger auf einer Superego-Obszönität basiert. Dieser ›unmögliche‹ Akt findet bei jedem authentischen revolutionären Prozeß statt. Um auf Fight Club zurückzukommen: Ist nicht genau die Idee des ›Kampfvereins‹ von Männern, die sich abends treffen, um das Spiel des gegenseitigen Zusammenschlagens zu spielen, exakt das Modell einer solchen falschen Überschreitung der wichtigen ›Passage à l’acte‹, die das Scheitern eines effektiven Eingreifens in den Gesellschaftskörper bezeugt? Wird in Fight Club nicht ein beispielhafter Fall inhärenter Transgression inszeniert: Stellt er, weit davon entfernt, das kapitalistische System zu untergraben, die obszöne Schattenseite des ›normalen‹ kapitalistischen Subjekts dar? Und gilt das gleiche nicht auch für die politisierte Gewalt (der Angriff auf die Belagerung der Banken), mit der der Film endet? Ist Fight Club nicht der Film über die Entstehung des amerikanischen Terrorismus? Erinnert die letzte Szene des Films – die modernen gläsernen Gebäude explodieren als Ergebnis der terroristischen Angriffe – nicht merkwürdig an den Kollaps des WTC? Dieser Aspekt wurde detailliert von Diken und Lautsen in ihrer herausragenden Studie Enjoy your fight! herausgearbeitet, die beste Analyse von Fight Club: »Das normalisierte und gesetzestreue Subjekt wird von einem spektralen Doppelgänger verfolgt, von einem Subjekt, das den Willen, das Gesetz zu übertreten mit einem perversen Vergnügen materialisiert. […] Demnach ist Fight Club kaum eine ›anti-institutionelle‹ Antwort auf den zeitgenössischen Kommunismus, genau wie Kreativität, Perversion oder Transgression heutzutage nicht notwendigerweise emanzipatorisch sind. […] Als ein eher politischer Akt scheint Fight Club eine tranceähnliche subjektive Erfahrung zu sein, eine Art pseudoBachtinsche karnevaleske Aktivität, bei der der Rhythmus des täglichen Lebens nur vorübergehend ausgesetzt wird. […] Das Problem mit Fight Club ist, daß er in die Falle tappt, seine Problematik (Gewalt) aus einer zynischen Distanz zu betrachten. Natürlich ist Fight Club äußerst reflexiv und ironisch. Man kann sogar sagen, er sei eine Ironie über Faschismus.« 18 Der ultimative Grund dieser Ironie ist, daß Fight Club, entsprechend der spätkapitalistischen globalen Zweckdienlichkeit, genau den Versuch, das Warenuniversum in die Luft zu jagen, als ein ›erfahrungsgemäßes Gut‹ anbietet: Anstelle konkreter politischer Praxis bekommen wir eine ästhetizistische Explosion von Gewalt. Weiterhin sind nach Diken und Lautsen mit Deleuze in Fight Club zwei Gefahren zu erkennen, die seinen subversiven Vorstoß entkräften; erstens gibt es die Tendenz, in das Extrem des Spektakels der ekstatischen (Selbst-)Zerstörung zu driften – revolutionäre Politik wird in einer 18. Diken, Bülent u. Carsten Bagge Laustsen. Enjoy your fight! – ›Fight Club‹ as a symptom of the Network Society (unveröffentlichtes Manuskript). 113

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entpolitisierten ästhetizistischen Vernichtungsorgie ausgelöscht; zweitens ›entterritorialisiert‹ die revolutionäre Explosion »eine Verdichtung, aber nur um die Entterritorialisierung zu stoppen, neue Territorialisierungen zu erfinden«: »Trotz des entterritorialisierenden Anfangs, endet Fight Club in der Transformation in eine faschistische Organisation mit einem neuen Namen: Projekt Chaos. Die Gewalt ist jetzt nach außen gerichtet, was in einen Plan für ›organisierten‹ Terror kulminiert, der die Grundfesten der Konsumgesellschaft erschüttern soll.« Diese beiden Gefahren sind komplementär, da die »Regression zur undifferenzierten oder völligen Desorganisation genauso gefährlich ist wie Transzendenz und Organisation«.19 Liegt die Lösung wirklich im ›gerechten Maß‹ zwischen beiden Extremen, d. h. weder in der neuen Organisation noch in der Regression in undifferenzierte Gewalt? Was man hier eher problematisieren sollte, ist gerade der Gegensatz zwischen Ent- und Re-Territorialisierung, also Deleuzes Vorstellung von der nicht verringerbaren Spannung zwischen der ›guten‹ schizophren-molekularen Kollektivität und der ›schlechten‹ paranoid-molaren: molar/rigide gegen molekular/flexibel; rhizomatische Ströme, mit ihren molekularen Segmentierungen (basierend auf Mutationen, Entterritorialisierung, Verbindungen und Beschleunigungen) gegen Klassen oder feste Stoffe, mit ihrer strengen Segmentartigkeit (binäre Organisation, Resonanz, Überdetermination).20 Dieser Gegensatz (eine Variation von Sartres alter These aus sei19. Ebd. 20. Für die systematischste Darlegung dieser beiden Ebenen siehe Deleuze, Gilles u. Félix Guattari. A Thousand Plateaus. Minneapolis 1987 (dt. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992). In der Psychoanalyse spricht man von Paranoia, aber nur sehr selten von Schizophrenie – ist denn dann nur Paranoia ein striktes psychoanalytisches Konzept, während Schizophrenie kein Konzept, sondern nur ein Name für beschreibbare Eigenschaften ist (und eine Entität innerhalb des medizinischen, nicht des psychoanalytischen Diskurses)? Nichtsdestotrotz ist man versucht, die folgende Unterscheidung vorzuschlagen: In beiden Fällen kehrt das verdrängte symbolische (Gesetz) im Realen zurück; bei der Paranoia jedoch kehrt es getarnt als Halluzination oder paranoide Einbildung ›in das Bewußtsein‹ zurück, während bei der Schizophrenie das Verdrängte wiederkehrt, indem es sich direkt in das körperliche Reale einprägt (als katatonische Erstarrung usw.). Man muß diese schizophrene Einprägung des Verdrängten (sagen wir die symbolische Kastration) von der hysterischen Einprägung in ein Umkehrungs-Symptom unterscheiden: Bei der Schizophrenie wird die Kastration selbst eingeprägt, während das hysterische Symptom eine Kompromißlösung ist, die der Verleugnung der Kastration Raum gibt (Diesen Punkt verdanke ich Elisabeth Doisneau, Brüssel). 114

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ner Kritik der dialektischen Vernunft über die Umkehrung der Praxis der Dialektik von authentischen Gruppen in die ›pratico-inerte‹ Logik der entfremdeten Institution – Deleuze selbst verweist oft direkt auf Sartre) ist eine falsche (›abstrakte‹) Verallgemeinerung, insofern als es keinen Raum läßt, um den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden verschiedenen Logiken genau dieses Zusammenhangs zwischen mikro- und makro-, lokal und global zu artikulieren: Der ›paranoische‹ Staat, der die schizophrene Explosion der molekularen Vielfalt ›reterritorialisiert‹, ist nicht der einzige vorstellbare Rahmen der globalen kollektiven gesellschaftlichen Organisation; die leninistische revolutionäre Partei verleiht (oder eher verkündet) einer vollkommen unterschiedlichen Logik der Kollektivität Gestalt. (Was diesem Gegensatz zu Grunde liegt, ist natürlich Deleuzes grundsätzliches anti-leninistisches Mißtrauen jedweder Art von globaler Unternehmensorganisation.) Interessant ist an dieser Stelle, daß Alain Badiou selbst, obwohl er auf diesen anti-leninistischen Hieb von Deleuze aufmerksam macht, sich scheinbar auf den gleichen Gegensatz in seiner ›anti-staatlichen‹ Betonung des utopischen Ziels der reinen Präsenz der Vielfalt beruft, ohne einen Staat der Re-Präsentation, der diese Vielfalt totalisiert und somit einen Rest generiert, für den es innerhalb der Totalität keinen Platz gibt – bezeichnenderweise bezieht sich Badiou hier ebenfalls auf Sartre.21 Was bei dieser Perspektive außer Acht gelassen wird, ist einfach die grundlegende marxistische Erkenntnis, daß der molare Staat die molekulare Vielfalt ›totalisieren‹ muß, weil innerhalb dieser Vielfalt bereits ein radikaler ›Antagonismus‹ am Werke ist. Wie Deleuze bereits erkannt hat, kann man im voraus kein eindeutiges Kriterium bereitstellen, das es uns ermöglicht, den ›falschen‹ gewalttätigen Ausbruch vom ›Wunder‹ des authentischen revolutionären Durchbruchs abzugrenzen. Die Mehrdeutigkeit ist hier irreduzibel, da das ›Wunder‹ nur durch die Wiederholung von vorangegangen Fehlversuchen erscheinen kann. Das ist auch der Grund, warum Gewalt ein notwendiger Bestandteil eines revolutionären politischen Aktes ist. Was ist also das genaue Kriterium eines politischen Aktes? Erfolg als solcher zählt offensichtlich nicht, selbst wenn wir ihn nach der dialektischen Art von Merleau-Ponty definieren, als Pfand dafür, daß die Zukunft unsere heutigen schrecklichen Taten retroaktiv wiedergutmacht (auf diese Weise hat Merleau-Ponty in seinem Humanismus und Terror eine der intelligenteren Rechtfertigungen für den stalinistischen Terror geliefert: Er wird retroaktiv gerechtfertigt sein, wenn sein letztendliches 21. S. Badiou (Anm. 14). 115

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Ergebnis wahre Freiheit sein wird.22) Genausowenig ist es der Verweis auf irgendwelche abstrakt-universellen ethischen Normen. Das einzige Kriterium ist das absolut Inhärente: das der stattfindenden Utopie. In einem wirklich revolutionären Durchbruch ist die Utopie weder einfach vollkommen realisiert, präsent, noch einfach als fernes Versprechen beschworen, das die gegenwärtige Gewalt rechtfertigte – es ist eher so, als ob es uns in einer einzigartigen Aufhebung der Temporalität, im Kurzschluß zwischen der Gegenwart und der Zukunft, – wie durch Gnaden – für eine kurze Zeit erlaubt ist, so zu handeln, als wenn utopische Zukunft (noch nicht ganz da, aber) schon zum Greifen nahe sei. Revolution wird nicht als eine gegenwärtige Mühsal, die wir zu Gunsten des Glücks und der Freiheit zukünftiger Generationen ertragen müssen, wahrgenommen, sondern als die gegenwärtige Mühsal, auf die dieses zukünftige Glück und die Freiheit bereits ihren Schatten werfen – darin sind wir schon frei, während wir für die Freiheit kämpfen, sind wir schon glücklich, während wir für das Glück kämpfen, ganz gleich wie schwierig die Umstände sind. Revolution ist kein Merleau-Pontysches Pfand, ein Akt, der in die Vergangenheit der Zukunft verbannt ist, um von den langfristigen Ergebnissen gegenwärtiger Handlungen legitimiert oder delegitimiert zu werden; es ist, als wäre es ihr eigener ontologischer Beweis, ein sofortiges Zeichen ihrer eigenen Wahrheit. Rufen wir uns die Inszenierung des Sturms auf das Winterpalais in Erinnerung, die am dritten Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 1920 in Petrograd aufgeführt wurde. Zehntausende von Arbeitern, Soldaten, Studenten und Künstlern arbeiteten rund um die Uhr, ernährten sich von Kaa (eine nicht sehr schmackhafte Weizengrütze), Tee und gefrorenen Äpfeln und bereiteten die Aufführung an exakt jenem Ort vor, an dem das Ereignis drei Jahre zuvor ›wirklich stattgefunden hatte‹; ihre Arbeit wurde von Armeeoffizieren, von den Avantgarde-Künstlern, Musikern und Direktoren von Malevicˇ bis Mejerchol’d koordiniert. Obwohl dies nicht ›Realität‹, sondern Schauspiel war, spielten die Soldaten und Seeleute sich selbst – viele von ihnen hatten nicht nur tatsächlich an dem Geschehen im Jahr 1917 teilgenommen, sondern waren gleichzeitig in die realen Schlachten des Bürgerkriegs verwickelt, die in der nahen Umgebung von Petrograd wüteten, einer Stadt im Belagerungszustand, die unter schwerem Versorgungsmangel mit Nahrungsmitteln litt. Ein Zeitgenosse kommentierte die Aufführung folgendermaßen: »Die Historiker der Zukunft werden festhalten, wie ganz Rußland im Zuge einer der blutigsten und brutalsten Revolutionen schauspielerte«, und der 22. S. Merleau-Ponty, Maurice. Humanismus und Terror. Frankfurt a.M. 1990. 116

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formalistische Theoretiker Viktor Sˇklovskij bemerkte, daß »eine Art elementarer Prozeß abläuft, in dem die lebendige Struktur des Lebens in eine theatralische transformiert wird.«23 Wir erinnern uns alle an die berüchtigten selbstbeweihräuchernden Erste-Mai-Paraden, die eines der höchsten Zeichen der Anerkennung des stalinistischen Regimes waren – wenn jemand den Beweis verlangt, wie Leninismus auf vollkommen unterschiedliche Weise funktionierte, sind dann solche Performances nicht der höchste Beweis, daß die Oktoberrevolution definitiv kein simpler Coup d’État durch die kleine Gruppe von Bolschewiken war, sondern ein Ereignis, das ein gewaltiges emanzipatorisches Potential freisetzte? . Die archetypische Ejzensˇtejnsche Filmszene, die die überschwengliche . Orgie revolutionärer zerstörerischer Gewalt wiedergibt (was Ejzensˇtejn selbst »ein veritables Bacchanal der Zerstörung« nannte), gehört in die gleiche Serie: Als die siegreichen Revolutionäre im Oktober in die Weinkeller des Winterpalais eindringen, schwelgen sie dort in einer ekstatischen Orgie der Zerstörung von Tausenden der teuren Weinflaschen; nachdem die Dorfpioniere in Bezˇin die Leiche des jungen Pavlik entdekken, der brutal von seinem Vater ermordet wurde, brechen sie in die Kirche des Ortes ein und schänden diese, berauben sie ihrer Reliquien, raufen sich um eine Ikone, probieren frevlerisch die liturgischen Gewänder an, lachen ketzerisch über die Bildhauerkunst … Bei diesem einstweiligen Aussetzen der zielgerichteten instrumentalen Aktivität sehen wir eine eindrucksvolle Art von Bataillescher »ungezügelter Verausgabung« – das fromme Verlangen, die Revolution dieses Exzesses zu berauben, ist schlicht das Verlangen, eine Revolution ohne Revolution zu haben. Vor diesem Hintergrund sollte man das delikate Thema der revolutionären Gewalt angehen, die ein authentischer Befreiungsakt ist, nicht nur eine blinde ›Passage à l’acte‹.24

23. Beide Zitate von Buck-Morss, Susan. Dreamworld and Catastrophe. Cambridge 2000, 144. 24. In bezug auf diesen Exzeß ist die entscheidende Persönlichkeit des sowjetischen Kinos . nicht Ejzensˇtejn, sondern Aleksander Medvedkin, passenderweise von Chris Marker ›der letzte Bolschewik‹ genannt (s. Markers herausragende Dokumentation The Last Bolshevik aus dem Jahr 1993). Obwohl er die offizielle Politik von ganzem Herzen unterstützte, einschließlich der gezwungenen Kollektivierung, machte Medvedkin Filme, die diese Unterstützung auf eine Art und Weise darstellten, die den ursprünglichen, spielerisch utopisch-subversiven revolutionären Impuls bewahrte; sagen wir in seinem Film Scˇastie (Glück) aus dem Jahr 1934, wo er, um die Religion zu bekämpfen, einen Priester zeigt, der sich vorstellt, die Brust einer Nonne durch ihre Ordenskleidung zu sehen – für den sowjetischen Film der dreißiger Jahre eine unerhörte Szene. Medvedkin genießt somit 117

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SLAVOJ ZˇIZˇEK

War es nicht exakt die gleiche Szene, die wir bei der großen Kulturrevolution in China erlebten, als Tausende von Rotarmisten ekstatisch alte historische Monumente zerstörten, alte Vasen zerschlugen, alte Gemälde schändeten, auf alte Mauern pfiffen?25 Trotz aller (oder eher wegen all) ihrer Schrecken enthielt die »Große Kulturrevolution« zweifellos Elemente einer solchen stattfindenden Utopie. Ganz zum Schluß der »Großen Revolution«, bevor die Agitation von Mao höchstpersönlich blockiert wurde (weil er das Ziel, seine vollkommene Macht wiederherzustellen und die Konkurrenz aus der hohen Nomenklatur loszuwerden, bereits erreicht hatte), gab es die »Shanghai Kommune«: Eine Million Arbeiter, die die offiziellen Slogans einfach ernst genommen hatten, die Abschaffung des Staates und der Partei an sich und die direkte kommunale Organisation der Gesellschaft forderten. Es ist bezeichnend, daß Mao genau zu diesem Zeitpunkt die Wiederherstellung der Ordnung befahl. Das Paradox ist das eines Führers, der einen unkontrollierten Aufstand auslöst, während er versucht, vollständige persönliche Macht geltend zu machen – die paradoxe Überschneidung extremer Diktatur und extremer Emanzipierung der Massen. Aus dem Amerikanischen von Sandra Pontow

das einzigartige Privileg eines enthusiastisch orthodoxen Filmemachers, dessen Filme alle verboten oder wenigstens streng zensiert waren. 25. Obwohl es auch möglich ist zu argumentieren, daß diese Gewalt effektiv eine impotente ›Passage à l’acte‹ war: Ein Ausbruch, der die Unfähigkeit zeigte, mit dem Gewicht der symbolischen Tradition der Vergangenheit zu brechen. Um sich auf wirksame Weise von der Vergangenheit zu trennen, muß man die Monumente nicht physisch zerschlagen, es ist wesentlich effektiver, sie in einen Teil der Tourismusindustrie zu verwandeln. Ist es nicht das, was die Tibeter heutzutage auf schmerzliche Weise entdecken? Die wahre Zerstörung ihrer Kultur erfolgt nicht durch die Chinesen, die ihre Monumente zerstören, sondern durch die rasante Vermehrung buddhistischer Themenparks in Downtown Lhasa. 118

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IDEALE UNFREIHEIT

Ideale Unfreiheit. Regisseure und Regeln (in) der Kunst Sylvia Sasse

Als Evgenij Zamjatin in seinem antiutopischen Roman Wir (My 1920) gleich zu Beginn von einer »idealen Unfreiheit« schreibt, klingt das zunächst nach einem erstrebenswerten Zustand. Doch hat Zamjatin nichts derartiges im Sinn. Im Gegenteil: Wenn er von der »unfreien, gebundenen Bewegung«, von der »vollkommenen ästhetischen Unterwerfung«1 beim Tanz in der Masse, bei religiösen Mysterien oder Paraden spricht, dann lehnt er diesen beglückenden Zustand ab. Denn nach Zamjatin ist das Glück und »das Ideal dort, wo nichts mehr geschieht.«2 Das Ideale an der Unfreiheit Zamjatins, das Glück der Harmonie, ist im Kontext seiner antientropischen Theorien nur das Glück desjenigen, der sich nicht mehr zu unterscheiden sucht und funktioniert nur innerhalb eines Systems, das genau dieses als Freiheit einkalkuliert. Es handelt sich um die vom Totalitären reservierte Freiheit durch absolute Unterwerfung und Selbstaufgabe.3 Bei Zamjatin entsprechen Ideal und Unfreiheit einander, allein die Formulierung scheint noch paradox. Zamjatins Kritik an einer solchen idealen Unfreiheit ist im Kontext . 1. Zamjatin, Evgenij. Wir. Köln 1984, 8 (»Pocˇemu tanec – krasiv? Otvet: potomu ˇcto eto . nesvobodnoe dviˇzenie, potomu ˇcto ves’ glubokij smysl tanca imenno v absolutnoj, esteticˇeskoj podcˇinennosti, ideal’noj nesvobode«. Zamjatin, E. My. Roman, povesti, rasskazy, p’esy, stat’i i vospominanija. Kisˇinev 1989, 11 f.). Ausführlich zu Zamjatin vgl. Goldt, Rainer. Thermodynamik als Textem. Der Entropiesatz als poetologische Chiffre bei E.I. Zamjatin. Mainz 1995; Heller, Leonid. »Boˇzestvennaja garmonija nesvobody. Leonid Andreev i Evgenij Zamjatin«. Russkaja mysl’ 45, 19.7.1991, 15. . 2. Zamjatin (Anm. 1), 26 (»Ideal [eto jasno] – tam, gde uˇze nicˇego ne slucˇaetsja« [ebd., 22]). 3. Vgl. dazu auch die Idee der russischen sobornost’ (dt. Gemeinschaftlichkeit). Berdjaev nennt sobornost’ ironisch einen undemokratischen Kollektivismus mit Einvernehmen und Gehorsam. Berdjaev, Nikolaj. Die russische Idee. St. Augustin 1997. 119

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der Freiheitsbegriffe und Gesellschaftsutopien zu Beginn der 1920er Jahre in Rußland eher ungewöhnlich, ganz unberechtigt ist sie nicht. Vermutet er doch bei den politisch motivierten Kollektivbestrebungen und der angestrebten Gleichheit der Teile eine gleichzeitige Unterwerfung des Subjekts unter eine Idee oder eine Norm, die durch die gleichmäßige, regelhafte Bewegung mit einem physischen Genuß verbunden wird.4 Die Verbindung von Gleichheit, Unterwerfung und Genuß erscheint ihm (auch in der Liebe) suspekt. Vielmehr sieht er darin, den Beginn einer totalitären Kultur, in der das Unterwerfungsideal nicht allein an die politische Untertänigkeit geknüpft ist, sondern an ein soziophysiologisches und soziopsychologisches Erleben, an die Kinetik kollektiv geordneter Erregung. Das symbolische Ordnungssystem findet seine Übersetzung in einer entsprechenden körperlichen Erfahrung, einer Verkörperung und Aufführung der Idee.5 Während Zamjatins Ablehnung ganz im Kontext liberaler Freiheitskonzepte und einer ästhetischen Kritik steht, entdecken andere Künstler der russischen Moderne eine subversive Möglichkeit ausgerechnet in der von ihm verworfenen ästhetischen und physischen Unterwerfung. Sie sehen darin ein befreiendes Potential und versuchen dies nicht nur inhaltlich zu formulieren, sondern auch in Schreibweisen und Aufführungsformen zu übersetzen. Vermutet wird in unterschiedlicher Weise Freiheit inmitten von Unfreiheit, die die Regelhaftigkeit zwar nicht intendiert, aber dennoch von ihr hervorgebracht wird und sich gegen das System selbst wendet. Gerade das Ideal, das Zamjatin verdammt, das Glück und der Genuß, sind dann keine stillstellenden Bewegungen mehr, sondern jene überschüssigen Prozesse, die dem System etwas abgewinnen, das gegen das Systemische agiert. Ideale Unfreiheit wird in diesem von Zamjatins Intention losgelösten Sinn zu einer Kippfigur: Freiheit stellt sich ausgerechnet auf der Oberfläche der Ordnung ein. Jedoch wird die Verausgabung und der Überschuß in diesen Projekten von der symbolischen Anbindung isoliert. In den künstlerischen Experimenten wird physische und ideologische Bewegung getrennt und an einer ›Unschuldigkeit‹ und Intentionslosigkeit der Regel, des Systems und der körperlich mechanischen Bewegung gearbeitet. In diesen physiologischen oder soziologischen ›Kunstexperimenten‹ wird dann, wie bei dem »Wort als solchen« und dem »Buchstaben als solchen« auch eine Regel oder eine Be4. Vgl. auch Sloterdijk, Peter. Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2000. Sloterdijk identifiziert den idealen Untertan schon bei Hobbes im Leviathan als Prinzip der menschlichen Natur, wo er »seine rebellischen und protestantischen Regungen abgegeben hat und sich im eigenen Interesse unterwirft« (ebd., 35). 5. Zum Führerprinzip und zur »programmbezogenen Masse« vgl. ebd., 17. 120

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wegung ›als solche‹ postuliert, um über die Trennung den Zusammenhang aber gerade (was vermutlich nicht immer intendiert ist) vom Punkt der Abschneidung aus um so deutlicher erscheinen zu lassen. Gerade das Beharren auf ästhetischer Autonomie, verbunden mit einer Befreiung von der Wirkung und der Intention, soll die untergründige Verbundenheit des Ästhetischen mit dem Politischen verdeutlichen. Diese ›Regelhaftigkeit als solche‹ – ohne Referenz und Intention –, die u. a. Vsevolod Mejerchol’d und Aleksej Gastev zu interessieren beginnt, wird, losgelöst von ihrem ideologischen Referenten, zu einem versuchten Vollzug von korrelativen und systemischen Vorgängen, deren Verbindung zum Referenzpunkt der Ideologie oder zum politischen Signifikat unterbrochen oder verschoben ist. Man hat es, darauf gehe ich später noch etwas genauer ein, mit einer zugleich aufgestellten, unterbrochenen oder unsinnigen Referenz zu tun, und so auf eine andere Weise als bei Zamjatin, mit einer vom System hervorgebrachten »idealen Unfreiheit«. Die Trennung von Bewegungs- und Verbindungsmechanismen in horizontale (der Teile untereinander) und vertikale (der Teile zu einem imaginären Signifikat) bezieht sich im Kontext der künstlerischen Experimente nicht nur auf die von Zamjatin in seinem antiutopischen Roman beschriebenen Paraden der Nummern im Staat, sondern auf jegliche Form von Regiehaftigkeit und Narration in Kunst und Politik. Die Auseinandersetzungen mit den Paradoxien der Freiheit im Theater oder in der bildenden Kunst beziehen sich immer auch auf politische, soziale oder naturwissenschaftliche ›Experimente‹. Man hat es einerseits mit einer Aufführung von Wissen in der Kunst zu tun, die zeigt, wie Sinngebungsprozesse vonstatten gehen, und umgekehrt mit Experimenten, die sich ästhetischer Verfahren bedienen. Die künstlerischen Experimente im Kontext von Kollektivmodellen liefern so Modelle, die gesellschaftliche Bewegungen verdeutlichen, subvertieren oder zumindest nachvollziehbar machen. Je nach Entwurf zeigen sie die Verbindung, die zwischen Ideologie und Ästhetik gerade in den 1920er und 30er Jahren immer wieder aufscheint. An dieser Grenze arbeiteten u. a. Boris Arvatov, Vsevolod Mejer. chol’d, Sergej Ejzensˇtejn oder Aleksandr Bogdanov, die Forschungen zum kollektiven Menschen, Technikkult, Taylorismus und harmonischer Organisation in ihre künstlerischen Entwürfe übersetzten. Diese Experimente bilden einen Gegenpol zu Zamjatins Konzept, indem sie versuchen, aus der Dialektik von Freiheit und Unfreiheit herauszukommen. Es handelt sich bei diesen Konzepten um künstlerische Forschungen zur »Kreativität der Organisation«, zu den »Regeln der Improvisation« und zur Frage, wie es ist, »gleichzeitig Organisiertes und Organisator sein« zu können. Beeinflußt von Reflexologie, Organisationslehren und Arbeitstechnik versuchten beispielsweise Aleksandr Bogdanov mit seiner Lehre von der »harmonischen Organisation«, Boris Arvatov mit der »Organisierung des 121

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Lebens«, Aleksej Gastev mit tayloristischen, psychotechnischen ArbeitsPerformances oder Vsevolod Mejerchol’d mit seinem Konzept der Biomechanik neue Wissenskonzepte aufzuführen und deren Funktionsweisen künstlerisch zu untersuchen. Zum Teil sind die Künstler auch selbst Soziologen, Arbeitstechniker oder auch Psychotechniker. 6 Mich interessiert nun, ob und wie einzelne künstlerische Konzepte davon ausgehen, zugleich Regeln aufstellen zu können und dabei zu verhindern, daß diese anderen Referenzpunkten zugeordnet werden als den Bewegungsgesetzen des eigenen Systems. Drei Konzepte, die sich mit »idealer Unfreiheit« bzw. einem Paradoxon der Freiheit explizit auseinandersetzen, sollen dabei Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sein. Es handelt sich um Vsevolod Mejerchol’ds Biomechanik zu Beginn der 1920er Jahre, um die von Lev Nusberg und Dvizˇenie (Bewegung) Mitte der 1960er Jahre entwickelte Biokinetik und um Oleg Kuliks ›Hündigkeit‹ und ›Bioterror‹. Alle drei Entwürfe untersuchen mit den Mitteln der Kunst bzw. des Theaters und der Performance die Beziehung von Regie und Improvisation, von Konditionierung und Freiheit, von Automatisierung und Deautomatisierung, von Verbindung und Dissoziation. In allen drei Konzepten wird sichtbar, wie künstlerische Konzepte sich zu soziologischen und politischen ›Bewegungen‹ äußern und deren Ambivalenz in ihr System übersetzen. Während Mejerchol’d mit Hilfe reflexologischer Theorien das körperliche Training von der ideologischen Semantisierung zu trennen versucht und eine Unschuld der Konditionierung beabsichtigt, versucht die Gruppe Dvizˇenie, Systeme zu schaffen, die mit ihrem ›Regularium‹ eine ›Entkonditionierung‹ bewirken. Der Performer Oleg Kulik führt mit seinen Aktionen zu Beginn der 1990er Jahre beide Konzepte zu einem anderen, konsequenteren Punkt. Seine Fehlkonditionierung als Hund erlaubt ihm einen Kunstterror, bei dem sich das antrainierte Regelwerk als Freiheit der Dressur und Freiheit durch Dressur zu zeigen beginnt. 6. Blickt man aus historischer Perspektive auf die Entwicklung des ›kollektiven Körpers‹ in Rußland, ist, wie Vladimir Papernyj es nennt, zunächst von einem egalitären, entropischen Streben zum Kollektiv auszugehen, innerhalb dessen eine »Reindividualisierung« in den 1930er Jahren unter Stalin beginnt. Das bedeutet, daß dann jedes »Kollektiv einen individuellen Repräsentanten« hat. Es handelt sich um eine Reindividualisierung in der Masse, einer »kollektiven Individualität, die mit Begriffen und neuen Theorien über Intimität eine gleichförmige, d. h. kollektive Individualisierung anstrebt« (Papernyj, Vladimir. Kul’tura dva. Moskva 1996, 145 f.). Zum Kollektiven vgl. auch Kharkhordin, Oleg. The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices. Berkeley, Los Angeles, London 1999; Naiman, Eric. Sex in Public. The Incarnation of Early Soviet Ideology. Princeton 1997. 122

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Ideale Unfreiheiten I: Reflexe und Regissuren Liest man Kollektivinszenierungen als eine spezifische Artikulation und symbolische Schaffung eines Systems, wird deutlich, wie das Systemische, das Organische, Reflektorische, Hierarchisierende, Dialektische oder Tektonische nicht nur als symbolische Metafigur einen imaginären Körper organisiert, sondern als Ereignis und Erfahrung der Verbindung der einzelnen diesen ›Körper‹ schafft. Dialektik, Synthese, Antithese, Disjunktion, Konjunktion, Reflektologie usw. sind in diesem Moment konkrete Bewegungen zwischen zwei Punkten oder Teilen und Aufführungen einer kulturellen Praxis der Verbindung, auf denen die Organisation eines Systems intellektuell ruht. Philosophische Figuren treffen hier auf eine Praxis des Erlebens von Verbindung. Im Kontext der Versuche der Neuorganisierung des Lebens und der DeAutomatisierung der theatralen Wirkungsästhetik formuliert Vsevolod Mejerchol’d seine Theorie der Biomechanik, die auf einem paradoxen Freiheitskonzept beruht. Mejerchol’d selbst beschrieb das Grundprinzip seiner Theaterästhetik folgendermaßen: »In Kern des Theaters liegt das völlige Fehlen von Freiheit und die völlige Freiheit der Improvisation! Das klingt vielleicht paradox, aber es ist so!« Handschriftlich soll er, wie es bei Bochow heißt, hinzugefügt haben: »Die Freiheit liegt in der Unterwerfung.«7 Mejerchol’d formuliert dieses Paradox im Kontext seiner Entwürfe einer Biomechanik, einer speziellen Ausbildung für Schauspieler, die ein anthropologisches und theatertheoretisches Konzept aneinander vermittelt. Er schreibt: »Die Ausbildung des Schauspielers soll mit Hilfe der Naturwissenschaften erfolgen, die durch sportliches und biomechanisches Training ein Beispiel des organisierten Menschen bilden.«8 Der Mejerchold’sche Schauspieler soll seinen Körper als Material betrachten, das von ihm geformt wird und das er organisiert. Dabei soll er gewissermaßen eine Eigenregie über den Körper erlangen, die der Methode und Regie Mejerchol’ds folgt. Zur Bekräftigung der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit dieses ästhetischen Programms verpackt Mejerchol’d das ganze in eine Formel: »In dem ›Akrobat-Schauspieler‹ sitzen immer zwei: A1 erteilt den Auftrag (aktives Element), A2 nimmt, indem er die ihm von A1 vorgeschlagene Form akzeptiert, die Rolle des Materials ein (passives Element).«9 Dabei ist A2 nach Mejerchol’ds Konzept nicht nur Material 7. Vgl. Bochow, Jörg. Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997, 78. 8. Zit. nach ebd., 15. 9. Meyerhold, Wsewolod E. Schriften. Aufsätze, Briefe, Reden, Gespräche. Zweiter Band 1917-1939. Berlin 1979, 33 (»V aktere-akrobate vsegda v odnom dvoe: A1 daet zadanie 123

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und Stoff, sondern auch Arbeitskraft, die sich bei der »Erfüllung ihres Auftrags als Maschine begreift.«10 Diese doppelte Fähigkeit nennt er die »reflektorische Erregbarkeit« (»reflektornaja vozbudimost’«) des Schauspielers, sein Vermögen, in »Empfindungen, Bewegungen und Worten den von außen ergangenen Auftrag zu reproduzieren.«11 Dabei, und darauf kommt es Mejerchol’d gerade an, führt die Konditionierung, Mechanisierung und Programmierung zu einem Effekt, der ausgerechnet trainierte Körperbewegungen besonders »innerlich« oder »anarchisch« erscheinen läßt.12 Was er damit unter Beweis zu stellen versucht, ist, daß die Maschine und das »Gesetz der Mechanik in allen Erscheinungen der Kraft«, wobei er sich auf Leonardo da Vinci beruft, nicht das freie Gefühl niederschlagen, sondern unter anderen Bedingungen geradezu ermöglichen. Nachahmung von Bewegung – der vorgegebenen Übungen der Biomechanik – führt hier nicht zur Darstellung einer Person oder Identifikation mit einer Rolle (weder beim Schauspieler noch beim Rezipienten), sondern zur Fertigkeit und Fähigkeit eines Bewegungsablaufs, der eine Ermächtigung durch Übung schafft. Eine solche Unschuldigkeit und Intentionslosigkeit der Übung und Konditionierung funktioniert aber nur, wenn man sie außerhalb eines semantischen Systems beläßt, also außerhalb einer politischen Vereinnahmung und (eigentlich) auch außerhalb der Methode, die es befolgt. Ich möchte an dieser Stelle kurz unterbrechen und auf zwei Überlegungen hinweisen, die im Kontext von Mejerchol’ds Konzept weiterführen können. Zum einen auf Foucaults Ausführungen zur Disziplinierung, zum anderen auf Slavoj Zˇizˇeks Thesen zur Überidentifizierung. Foucault gibt in Überwachen und Strafen zu bedenken, daß die Disziplinierung zu einer Ökonomie und Energie führt, zu einer gesteigerten »Tauglichkeit«, »bei der die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, sich zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung umwendet.«13 Anderseits je-

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13.

[aktivnoe nacˇalo], A2, vyraˇzaja svoe soglasie na prinjatie ot A1 predlagaemych emu form, stavit sebja v poloˇzenie materiala [passivnoe nacˇalo].« Mejerchol’d, V.E. Stat’i, pis’ma, recˇi, besedy. Cˇast’ vtoraja 1917-1939. Moskva 1939, 37). Ebd., 33 (»[…] rabocˇaja sila, vzjavsˇajasja za vypolnenie zadanija i soznajusˇˇcaja sebja masˇinoj« [ebd., 37]). Ebd., 512 (»… Vozbudimost’ est’ sposobnost’ vosproizvodit’ v ˇcuvstvovanijach, v dviˇzenii i v slove polucˇennoe izvne zadanie« [ebd., 521]). Vgl. auch Bochow (Anm. 7), 30: »Das Paradox, mit der Verleugnung der Individualität durch den Schauspieler gerade die Möglichkeiten des Schauspielers zu erweitern, ihn zu einer überindividuellen Darstellung zu führen, entlehnt Meyerhold nicht nur dem asiatischen Theater, sondern auch den europäischen Traditionen des traditionellen Theaters.« Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M. 1994, 177. 124

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doch, falls keine Funktionalisierung der hervorgerufenen Mächtigkeit bzw. Tauglichkeit intendiert ist, und das läßt sich bei Foucault herauslesen, impliziert die Erhöhung der Disziplin des Körpers zugleich die Gefahr, daß die Techniken der Disziplinierung sich gegen das System der Regelhaftigkeit, das sie hervorgebracht hat, selbst wenden. Dieses Potential interessiert wohl auch Mejerchol’d. Seine Forderung nach ästhetischer Unterwerfung soll jenseits ideologischer Funktionalisierung das Regelhafte und dessen Kraft untersuchen. Sein produktives Paradox der Freiheit resultiert genau aus dem Widerspruch der Bemächtigung und ›Ausbildung‹ von Mächtigkeit. Slavoj Zˇizˇek hat in seinen Ausführungen zur Leninschen Unterscheidung von formaler und wirklicher Freiheit auch auf die Avantgardekunst der frühen 1920er Jahre in der Sowjetunion hingewiesen, deren »›Ultraorthodoxheit‹, d. h. deren Überidentifizierung mit dem Kern der offiziellen Ideologie«, ihm subversiv erscheint, weil sie »nicht mehr den alten, in Traditionen verwurzelten Menschen mit Gefühlen und Leidenschaften, sondern den neuen Menschen, der freudig seine Rolle als Bolzen oder Schraube in der gigantischen koordinierten Industriemaschine akzeptiert«14, zeigt. Zˇizˇek nennt in diesem Zusammenhang auch gerade Mejerchol’d, dessen mit dem behavioristischen Ansatz verbundene »unermüdliche Ertüchtigung des Körpers« gerade die Kehrseite des »liberalen Individualismus«, die antipsychologische Deindividualisierung als utopische Geste der Befreiung feierte. Diese bei Mejerchol’d vermutete Überidentifizierung, der ja nun gerade Identifikation ablehnt, postuliert Zˇizˇek sonst eher als postmoderne Strategie subversiven Nachvollzugs. Überidentifizierung bedeutet nach Zˇizˇek, daß der Künstler das bessere Original schafft und der Zuschauer erlebt, wie es ist, Teil eines Systems zu werden und dessen Inszenierungen mit deindividualisierender, reinigender oder vermassender Wirkung »idiotisch genießt«.15 Beim Künstler, in dessen subversiver Wiederholung, und beim Zuschauer in dessen nacherlebtem Genuß, setzt schließlich ein Erleben des Erlebens ein, das die Mechanismen seines Gefallens und Genießens offenlegt. Bei Mejerchol’d hat man es mit einem anderen Effekt zu tun. Vielleicht läßt sich von einem Verzicht auf Identifikation trotz Nachahmung und Wiederholung sprechen, bezieht sich doch die unermüdliche Nachahmung nur auf die körperliche Verausgabung, nicht auf die Wiederholung einer Bewegung und deren ideologische Vereinnahmung. Mejerchol’d spaltet gerade 14. Zˇiˇzek, Slavoj. Die gnadenlose Liebe. Frankfurt a.M. 2001, 156. 15. Vgl. Zˇiˇzek, Slavoj. The Sublime Object of Ideology. London, New York 1989; ders. Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin 1991. S. dazu auch ausführlich (in Verbindung mit den künstlerischen Strategien der NSK und Laibach) Inke Arns in diesem Band. 125

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den Zusammenhang von Inhalt, Form und Performance auf, um sie dysfunktional aneinander zu koppeln, ihre Verbindung aber vollzieht er nicht nach. Seine Überidentifikation ist hier eher eine Übernachahmung, eine Verausgabung der Übung zum Selbstzweck. Erst die zunehmende Ideologisierung seiner Idee führt zur Identifikation von System und System, von der Form der Bewegung und deren Inhalt über Performance. Es ist bekannt, daß Mejerchol’d seine Biomechanik auf zwei Theorien stützte, die auch anderen Künstlern zur Ausarbeitung neuer Entwürfe an der Grenze zwischen Leben und Kunst dienten: auf den Taylorismus Frederick W. Taylors und die Reflexologie, insbesondere die kollektive Reflexologie Vladimir Bechterevs16, die 1921 formuliert zugleich der Erforschung sozial-energetischer Bewegungen in der Masse und deren Anwendung in der Arbeitsorganisation dienen sollte. Bechterev beschreibt, wie in Menschenmengen, geordneten und ungeordneten Massen, zwar keine allgemeine Gesetzmäßigkeit herrsche, aber ein Ineinander von Gesetzen zu finden sei. Er nennt dabei die Gesetze der Energieerhaltung, der Trägheit, der Repulsion, der Wirkung und Gegenwirkung, der Analogie, des Rhythmus und der Differenzierung.17 Der Physiologe und Psychoneurologe Bechterev versuchte in Pavlovscher Tradition, explizit gegen eine psychologische Erklärung seelischer Leiden seine ›objektiv‹ anatomisch-physiologischen Untersuchungen zu stellen, die den neuen kollektiven Menschen ›meßbar‹ machen sollten. Schon in diesem Ausgangspunkt werden die Parallelen zur zeitgenössischen Kunst deutlich. Nicht nur in Mejerchol’ds Theaterkonzeption, sondern auch in Gastevs Arbeitsperformances oder in den vom Theater der Attraktionen verwendeten Verfahren sollten die physiologischen Grundlagen einer Äußerung und deren Wirkungen vor ihrer psychischen Dimension befreit werden. Das bezog sich nicht nur auf die Schauspieler, sondern vor allem auch auf deren Beziehung zum Publikum, wobei ebenfalls von einem reflexhaften Verhältnis ausgegangen wurde. (Bechterev untersuchte in seinen Experimenten auch das Theaterpublikum, die Zustände gemeinsamer Beobachtung und Konzentration und die Reaktion der Gruppen auf äußere Reize.18) Auch 16. Vgl. dazu Müller-Klug, Till. Nietzsches Theaterprojektionen. Frankfurt a.M. 2001, 83 ff. 17. Bechterew, Wladimir. Kollektive Reflexologie. Halle/Saale 1928, 18. »Es leuchtet ein«, schreibt Bechterev, »daß in der Masse Bedingungen vorhanden sind, die nicht nur zur Erregung der Stimmung, sondern auch zur Entwicklung der Energie führen und zwar in solchem Maße, daß sie sich in der Verstärkung der motorischen Impulse kundgibt« (ebd., 31). 18. Zu Beginn seiner Abhandlung formuliert Bechterev folgende Fragestellung: »Folglich liegt der Sinn der Frage nicht darin, ob sich die sozialen Erscheinungen auf die physikalisch-chemischen Substanzen zurückführen lassen oder nicht, sondern darin, ob sie 126

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Mejerchol’d interessierte die reflexhafte Wahrnehmung, die eher physiologisch ansteckenden, seinem Verständnis nach mechanisch verlaufenden Prinzipien der Zuschauerreaktionen. Und es ging ihm konzeptionell darum, Zuschauerreaktionen durch Reflexe hervorzurufen: »Wenn rings im Saal gelacht wird, dann lachen sie unwillkürlich auch, wenn man gähnt, dann fangen sie zu gähnen.«19 Mejerchol’d ging sogar so weit, fingierte Zuschauer ins Publikum zu setzen, um Reaktionen bei den Zuschauern zu provozieren, die dem Gesehenen vorausgehen oder diesem nicht mehr entsprechen. So hatte er beispielsweise in der Aufführung vom Letzten Entscheidenden Gefecht (1931) eine Schauspielerin in den Saal gesetzt, die an einer bestimmten Stelle zu schluchzen begann, woraufhin im Saal einige Zuschauer zu ihren Taschentüchern gegriffen haben sollen, bevor die Szene kam, in der der Schauspieler auf der Bühne fragte: »Weint da wer?«20 Bei Bechterev beruht die kollektive Reflexologie auf einem Zusammenwirken von Nachahmungsgesetz und Gesetz der Trägheit: »Wir wissen, daß die Bedürfnisse, welche im Resultate der Gewohnheit, d. h. einer wiederholten Erregung immer derselben Reflexassoziationen entstehen, durch den herrschenden Geschmack, die Mode und Nachahmung bedingt werden.«21 Bechterev geht davon aus, daß die Menschen »in den Äußerungen des sozialen Lebens eigentlich dieselben Reflexe« in Form von gesellschaftlichen Bewegungen zeigen, wie sie der einzelne auch äußert. Das Kollektiv setzt sich aus Äußerungsformen »sozialer Verbindung« mit »mannigfaltigen Bildungsstoffen« zusammen, die als »kollektive Instinkte«, »kollektive Emotionen«, »mimetisch-somatische Reflexe« und als eine »kollektive Konzentration« in Erscheinung treten und erforschbar werden.22 Das »mimeto-reflexologische Moment«, auf dem Bechterev be-

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irgendwelche Eigentümlichkeiten in ihrem Verhalten zeigen, und wie sie auf äußere Reize reagieren. Mit anderen Worten, ob sie im Zusammenhang mit den feststehenden Traditionen und den Eigentümlichkeiten ihrer Struktur, irgendwelche Eigentümlichkeiten auch in diesen Reaktionen manifestieren« (ebd., 24). Werkraum Meyerhold. Zur künstlerischen Anwendung der Biomechanik. Aufsätze und Materialien. Hg. v. Dieter Hoffmeier u. Klaus Völker. Berlin 1995, 80. Meyerhold, W. »Meyerhold über Regiekunst. Gespräche mit Alexander Gladkow«. Werkraum Meyerhold (Anm. 19), 80 f. Bechterew (Anm. 17), 14. . Ebd., 14 ff. Bechterev stirbt 1927 auf mysteriöse Weise. Bei Etkind heißt es: »Als Stalin, dessen Vertrauen er mit seinen Studien immer besaß, ihn 1927 zu sich bestellte, um seine Persönlichkeit zu charakterisieren, besaß er den Mut zur Diagnose: Paranoia war seine Antwort. Danach hatte Bechterev noch einen ganzen Tag zu leben. Die Kremlärzte gaben eine Darmvergiftung durch Lebensmittelkonserven als Todesursache . an.« Etkind, Aleksandr. Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Ruß127

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harrt, bietet der Abschaffung der Identifikation mit dem Gesehenen eine neue wissenschaftlich begründbare Theatertheorie an. Das ist wohl auch die Nachahmung, die Mejerchol’d im Kontext seiner Übungen im Sinn hat, Nachahmung ohne Identifikation, bloßes Wiederholen von Bewegungsabläufen, die sich in den Körper als automatische Bewegung einüben und Kräfte freisetzten. Mejerchol’ds Ausbildungsmethode bleibt, wie auch Bechterevs Reflexologie, nicht auf den einzelnen Schauspieler bezogen, sondern soll gleichzeitig der Organisation der Massen dienen, der »sozialen Demonstration der ideal organisierten menschlichen Mechanismen«, wie Mejerchol’d es nennt.23 Dabei wird die Formel N=A1+A2 durch korrelative Gruppenbewegungen erweitert. Das Paradox der Freiheit, in ein System einzutauchen und von dort aus zu improvisieren, bindet Mejerchol’d zugleich an den einzelnen als System bzw. als Kollektiv wie auch an ein Kollektiv aus einzelnen Elementen. In der Gruppe wird das individuelle System nicht einfach auf das System der Gruppe übertragen, sondern den inneren Regeln, mit denen sich jeder Protagonist bei der Organisation seines ›eigenen‹ Materials auseinanderzusetzen hat, werden Paar und Gruppenregeln hinzugefügt. Das heißt, daß nicht alle in der Gruppe das gleiche vollführen, aber sie bewegen sich je unterschiedlich nach den gleichen Bewegungsgesetzen. In jeder kollektiven Übung, so Mejerchol’d, muß sich der Schauspieler vom Wunsch, Solist zu sein, doppelt verabschieden. Er muß gleichzeitig dem System der Biomechanik, das sich auf seinen Körper bezieht, und dem biomechanischen System des Kollektivs unterordnen. Die Übungen, die der einzelne zu vollziehen hat, sind streng vorgegeben. Sie werden in verschiedene Abschnitte eingeteilt, und innerhalb dieser Abschnitte wird an einer vorgeschriebenen »Linie des Fortgangs« gearbeitet, an systematischen Bewegungsabläufen. Mejerchol’d hat dem Schauspieler für die Organisation seines Materials, also für seine körperliche Selbstorganisation, 44 Regeln an die Hand gegeben, die die Grundprinzipien der Biomechanik umreißen. Beherrscht jeder einzelne diese Regeln, kann er frei improvisieren, d. h., er kann von dort aus die Elemente eines Stückes frei, ohne die körperliche Bewegung an eine Bedeutung zu ketten, zusammensetzen. Sujet und Bewegung existieren hier zunächst unabhängig voneinander. Der horizontalen Verbindung der Teile untereinander entspricht bei Mejerchol’d eine semantische Unverbundenheit bzw. eine Verbundenheit, die zumindest nicht den zunehmend ideologischen Interessen ent. land. Übers. von Andreas Tretner. Leipzig 1996, 143. Etkind schreibt auch über die politische Kontroverse bezüglich Pavlovs Physiologie und Freuds Psychoanalyse in Rußland (ebd., 296 ff.). 23. Zit. nach Bochow (Anm. 7), 13. 128

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spricht. Man hat es gewissermaßen mit einer Regellosigkeit im Verknüpfen der Elemente zu ihrem Signifikat zu tun. Auf der einen Ebene stellt Mejerchol’d bedingte Reflexe her durch die körperliche Übung und Konditionierung, auf der anderen Seite unterbricht er die Reflexe der Sinngebung. Er unterbricht die gewöhnliche oder naheliegende Verbindung zur symbolischen Ordnung. Das macht Mejerchol’ds Konzept zunächst nicht totalitär, der Vollzug der Regel ist Experiment am Vollzug der Regel, ohne auf etwas anderes, etwa ein Sujet oder eine semantische Verbindung gerichtet zu sein. Das Training, die Übung und die Konditionierung bleibt so unschuldig und ungerichtet. Mejerchol’d verhindert zunächst dasjenige, das den Kern des Ideologischen ausmacht: Inhalt, Form und Performance zu verbinden. Wie Hannah Arendt in ihrem Buch über die Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft beschrieben hat, sind die Organisationsformen totalitärer Bewegungen von einer »beispiellosen Originalität und Kreativität«.24 Die Kreativität und Originalität liegt darin begründet, Gesetze einer fiktiven, symbolischen Wirklichkeit in die tatsächliche Welt so zu installieren, daß sich die Menschen in ihrem Alltag bereits nach den Regeln und »Gesetzen dieser fiktiven Wirklichkeit bewegen«25, die sie erst schaffen wollen. Sie verkörpern und schaffen gewissermaßen antizipierend deren Struktur, ihre Regelhaftigkeit, ihr System, bevor sie Teil dieser Welt sind. Diese Regeln und die ihr zugeteilte fiktive Welt, die auf diesen Regeln beruht, strukturieren auch die Gemeinschaft, eine Gruppe oder eine Menge und machen aus ihr ein Kollektiv, eine organisierte Menge im Sinne und im Dienste dieser zukünftigen Idee. Durch diese Koalition von Fiktion und Struktur werden die Verfahren der Fiktionsbildung und der Organisation so miteinander in Bezug gesetzt, daß die Verbindung zwischen den Elementen, das Sujet und die Struktur selbst zur Ebene der Fiktion gehören. Die Organisation bekommt ein fiktives Sujet, umgekehrt wird die Fiktionalisierung organisiert, sie wird narrativen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Dadurch, und das ist die Verbindung, die Mejerchol’d interessiert, wird das schon ohnehin gebildete Potential an Subversion in dieser Koalition sichtbar. Denn, ist eine Gemeinschaft ein Kollektiv bzw. eine Organisationsform für ihr Fortbestehen auf Verfahren der Fiktionsbildung angewiesen, die ihre Verbindung herstellt, dann stellt sich die Frage ihrer weiteren Existenz immer am Schauplatz

24. Arendt, Hannah. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München, Zürich, 7. Aufl. 2000, 766. Gleichzeitig, so Arendt, mußte eine Fiktion über eine äußere, konspirative Organisationsform (Kapitalismus, Weisen von Zion, Faschismus, Kommunismus etc.) geschaffen werden, gegen die es zu kämpfen und sich abzusetzen galt (vgl. 795 ff.). 25. Ebd., 766. 129

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dieser fiktiven Verkettung der einzelnen Elemente zueinander.26 Eine semantische Unverbundenheit, Montage der Attraktionen, Zusammenstoß der Wortsinne, um nur einige Verfahren der russischen Avantgarde auf der Ebene der syntagmatischen ›Verkettung‹ zu nennen, läßt die Teile und deren Bewegung unabhängig vom Gesetz der Verbindung bestehen. Und dennoch zeigt sich in Mejerhol’ds Konzept ein anderes Dilemma. Trotz der Unterbrechung der Verbindung zur symbolischen Ordnung und der Regel als Voraussetzung für Improvisation und Freiheit gibt es inmitten all dieser Paradoxien von mechanischen De-Automatisierungen, intentionslosen Wirkungen und regelhaften Freiheiten einen Regisseur dieses anti- bzw. überprogrammatischen Programms. Mejerchol’d konzipiert eine neue Theaterästhetik, die einem Programm folgt und somit setzt er sich selbst als Autor einer Ordnung, die zugleich eine Verbindung herstellt und auflöst. Auch in Beziehung zu den Zuschauern ist die Rolle des Regisseurs grundsätzlich widersprüchlich. Er befreit zwar die Zuschauer von ihrer passiven Rolle, macht alle zu Akteuren, aber auch dort zu Akteuren innerhalb eines Programms, das die Teilnahme des Zuschauers konzeptionell vorsieht und in dem der Zuschauer selbst zum Experimentierfeld seiner Reaktionen wird. Auch hinter der Methode der unschuldigen Konditionierung und der verfremdeten Verbindung der Elemente verbirgt sich der Regisseur Mejerchol’d und dessen Methode. Das ist vielleicht auch das eigentlich Paradoxe an seiner Theorie: Er schafft gleichzeitig Regeln der Freiheit der Kunst und behauptet umgekehrt die Freiheit, die sich aus der Beherrschung dieser Regeln ergibt.

Ideale Unfreiheiten II: unsinnige Reflexe und ›himmlische Diener‹ Wenn die Moderne, so Lev Nusberg, »Freiheit in das ästhetische System hineinließ«, dann vertraute sie weniger der Freiheit des Systems: »Wenn wir frei ein gewisses System von Dingen auswählen, bedingt das den Ausschluß der Freiheit innerhalb des Systems.« Ausgeschlossen wird dann »die Freiheit einer Beziehung zu einer anderen. Mir schwebt eher vor«, so Nusberg, »eine absolute Regelmäßigkeit zu versuchen (Asymmetrie ist

26. Butler schreibt bezüglich der Macht und der Verkettung der Elemente: »Macht ist eine Bewegung, eine Verkettung, die sich auf die Beweglichkeiten stützt, aber zugleich in bestimmtem Sinne von ihr abgeleitet ist. Sie ist die Beweglichkeiten begleitende Verkettung, die sich gegen diese wendet und die Bewegung selbst stillzustellen versucht« (Butler. Judith. Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Übers. von Kathrina Menke und Markus Christ. Berlin 1998, 57). 130

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von diesem Standpunkt aus nur eine Symmetrie höherer Ordnung), als dieser Regelmäßigkeit eine Form zu geben«.27 Vierzig Jahre nach Mejerchol’ds Entwurf einer Biomechanik entwickelte der russische Künstler Lev Nusberg und die Gruppe Dvizˇenie (Bewegung), die mitunter ein Künstlerkollektiv von bis zu 30 Mitgliedern umfaßte, Entwürfe zu einem diese Freiheit hervorrufenden System.28 Nusberg nannte seine Arbeiten zunächst kinetische Kunst, später dann Biokinetik, anknüpfend an kinetische Installationen und Environments der 1920er Jahre, in denen vor allem eine organische Verbindung zwischen dem Raum und seinen Bewohnern einwickelt wurde. Die Beziehungen sollten sich auf die Prinzipien der Symmetrie, der Synthese und der Bewegung stützen. Bewegung galt dabei als universelles Grundprinzip, das, wie Nusberg formulierte, »die biologischen Veränderungen, die Intensitäts- und Spannungsrichtung, die Verbreitung der Töne, den inneren Rhythmus« beinhaltet. Dieses unbedingte Prinzip von Bewegung, das an Zamjatins Konzept erinnert, ist im Kontext russischer Kunst der 1960er Jahre schon eine Revolutionierung und ästhetische Dissidenz an sich, die den Prinzipien der Stagnation und des totalitären Entwurfs entgegentritt.29 Über das Bewegung bringende Prinzip hinaus versuchte Dvizˇenie auch mit Genres, die als nicht ›systemkonform‹ galten, ihrer Bewegungstheorie eine neue Ausdruckform zu geben: im Happening, Environment und im Kybertheater. Die seit 1965 entwickelten Kybertheater waren gewissermaßen kinetische Environments, deren ›Spielfläche‹ in einigen Fällen zwischen 3 und 4 km2 betrug bzw. betragen sollte.30 Bei den ersten kineti-

27. Nusberg, Lev. Zit. nach art. »Gruppe Bewegung. Moskau. 10 Jahre kinetische Kunst in Moskau«. 10 Jahre kinetische Kunst in Moskau. Nürnberg 1974, 2-14, hier 8. 28. Zu den ersten Mitgliedern der Gruppe gehörten neben Nusberg vor allem Francisko Araña Infante, Anatolij Krivcˇikov, V. Scˇerbakov und V. Stepanov. Die erste Gruppenausstellung von Dviˇzenie fand im März 1963 unter dem bewußt irreführenden Titel Ornamentalisten im Zentralhaus der Kulturarbeiter in Moskau statt, von April bis Dezember 1963 arbeitet die Gruppe erstmals im Untergrund, es folgen ›geheime‹ Reisen auf die Krim, in den Kaukasus zu Seminaren über Kunst und Philosophie und seitdem eine ständige Begleitung durch den KGB; von 1964-67 führen sie zahlreiche halbstaatliche Projekte aus, ab 1966 finden erste Ausstellungen im westlichen Ausland statt. 29. Zum Theorem der Bewegung im Kontext erkenntnistheoretischer Überlegungen in der russischen Philosophie, Kulturosophie und Literatur von Cˇaadaevs Viertem philosophischen Brief bis Zamjatins Wir vgl. Goldt (Anm. 1), 79. Vgl. auch über Bewegung und Unbeweglichkeit (dviˇzenie i nepodviˇzimost’) in der Sowjetunion Papernyj (Anm. 6), 60-72. 30. Diese theatralischen Ereignisse erinnern u. a. an das futuristische Spektakel Pobeda nad solncem (Sieg über die Sonne), an Tatlins Aufführung von Chlebnikovs Zangesi 131

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schen Aufführungen von Dvizˇenie kam es vor allem darauf an, beim Publikum mit elektrischen Lichtrotatoren, farbigen Projektionen, live-Choreographie und Pantomime, akustischer Musik (Optophonie) und Illusionen ungewohnte Effekte und Reaktionen zu erzeugen.31 Dvizˇenie suchte nach einer autonomen Ästhetik inmitten des totalitären Entwurfs, nach einem Gegensystem im System. Das im Inneren installierte Gegensystem sollte zeigen, wie jedes funktionierende System sein eigenes Anderes beinhaltet, das es, um existieren zu können, ausschließen muß. Daß das hier von Dvizˇenie entwickelte Gegensystem zur »totalitären Installation« der Sowjetunion regelmäßig ist und daß dessen Gesetze eine De-Automatisierung der Wahrnehmung seiner Bewohner bewirken, ist nicht nur ein ironischer Kommentar, sondern trifft den Kern des sowjetischen Systems, das eher auf Willkür und Anarchie als System als auf Harmonie und Regelmäßigkeit beruhte. Dvizˇenies sozialer Anspruch ist also trotz der ›autonomen‹ Bestrebungen ihrer Kunst nicht zu übersehen. Nusberg schreibt: »Der Kinetismus ist ein soziales Phänomen«, er reagiert auf das Bedürfnis, das seit Beginn der 1950er Jahre zunehmend empfunden wurde – das »Bedürfnis nach einer neuen psychologischen und ästhetischen Einstellung der uns umgebenden Wirklichkeit und dem Menschen gegenüber.« »Die kinetische Anschauung der Welt versetzt den Menschen in einen neuen Bezugsrahmen für ein ästhetisches Verstehen der Welt.«32 Nusberg formuliert es in einer seiner programmatischen Schriften folgendermaßen: »Am wichtigsten für uns ist Bewegung! Bewegung verstehe ich als Veränderung – Umplazierung – gegenseitige Durchdringung – Entwicklung – Kampf – Zustand usw. Mit anderen Worten: der Zustand all dessen, was lebt, kämpft und sich bewegt (selbstverständlich nicht so sehr im biologischen Sinne als im ästhetischen).«33 Wie bei Mejerchol’d bezieht sich die ›Systemtheorie‹ zugleich auf das Verhältnis von Regie, Konzept bzw. System und daraus resultierender Freiheit, die sich unter anderem in der Beziehung zwischen Konzept und (1923), bei der u. a. Maschinen verwendet wurden, oder auch an Trjaskins projektionistische Bühnenentwürfe. 31. Zit. nach art (Anm. 27), 9. 32. Ebd., 9. . 33. Kolejcˇuk, Vjacˇeslav F. Kinetizm. Moskva 1994, 49 (»Samoe glavnoe dlja nas – eto Dviˇzenie! Dviˇzenie ponimaju kak Izmenenie – peremesˇˇcenie – vzaimoproniknovenie – razvitie – bor’ba – sostojanie i t. d. Inymi slovami: sostojanie vsego, ˇcto ˇzivet, boret’s. ja i dviˇzet’sja [no, razumeetsja, ne stol’ko v biologicˇeskom smysle, skol’ko v esteticˇeskom].«) 132

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Zuschauer-Teilnehmern zeigen sollte. Ab 1966 bezogen die Kybertheater deshalb auch den Besucher bzw. Zuschauer als aktiven Part in die Stücke mit ein. Die Zuschauer wurden in ein kinetisches System geführt, das ihr eigenes System der Wahrnehmung irritieren sollte. Die Einbeziehung des Zuschauers in ein fremdes System sollte, wie es Nusberg formuliert, »eine neue Aktivität bei der Wahrnehmung der Welt« herbeiführen, eine Möglichkeit bieten, »aus dem unberechenbaren Menschen, nicht nur potentiell, sondern praktisch ein kreatives Wesen zu formen«.34 Im Prinzip nimmt Nusberg hier die von Mejerchol’d schon geforderte Einbeziehung des Zuschauers wieder auf und setzt sie gegen das Konzept des Sozialistischen Realismus, der die ›fingierte‹ Einbeziehung des Zuschauers zu einem Modus seiner Regie machte. Dvizˇenie konfrontiert die Zuschauer mit einem anderen System. Auch hier sollte die Wahrnehmung durch physiologische Reize verschoben werden. Zudem sollte die Aneinanderreihung der Reize ein physiologisch erfahrbares Narrativ bewirken, bei dem, wie es sehr programmatisch heißt, eine »durch die verschobene Wahrnehmung des Raumes hervorgerufene Neuorganisation des Lebens«35 angestrebt wird. Die individuellen und kollektiven Reaktionen und Reflexe der Zuschauer konnten und sollten nicht nur die gesamte Vorstellung ändern, sondern auch außerhalb des Kybertheaters neue Wahrnehmungen ermöglichen, die »zeitweiligen Verbindungen und bedingten Verbindungen« stören und dabei den Blick auf das Eingeübte überhaupt ermöglichen.36 Man hatte es auch hier mit scheinbar aktiven, eigentlich aber reaktiven Zuschauern in künstlich programmierten kinetischen Environments zu tun. Doch im Unterschied zu Mejerchol’d macht Dvizˇenie die Rolle des Regisseurs explizit: »Das Subjekt (der Rezipient) verliert in unseren Environments den gewohnten Orientierungspunkt und muß sich den Gegebenheiten unterordnen, die speziell vom Autor vorgegeben sind. Dies ist eine selbständige, geschlossene Welt mit ihren eigenen Gesetzen und Einwirkungen. Alles wird in psychologischer Hinsicht umgestellt: Alles, was sich im Verhältnis 34. Zit. nach art (Anm. 27), 9. 35. Ebd., 9. 36. Dezidiert auseinandergesetzt mit Pavlovs bedingten Reflexen hat sich der Schriftsteller Michail Zosˇˇcenko in seiner literarischen Selbstanalyse Vor Sonnenaufgang (Pered voschodom solnca) von 1942/43, die er als »Gespräch mit dem Hund« bezeichnet. Er versucht dort, Pavlovs Forderung, »die zeitweiligen Verbindungen zu zerreißen bzw. die unechten Verbindungen zu zerstören«, in seine Schreibweise zu übersetzen (»ja razorval ’vremennye svjazi, kak nazyval ich Pavlov«) (Zosˇˇcenko, Michail. Sobranie socˇinenij. Tom 3, Leningrad 1987, 452). Vgl. zu Zosˇˇcenkos literarischer Selbsttherapie auch Sasse, Sylvia. Texte in Aktion. München 2002. 133

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zum rezipierenden Subjekt (als Zentrum) Peripherie darstellt, all dies, jedes in seiner Besonderheit analysierte, wird quasi selbst Zentrum (in Beziehung zum Subjekt als Peripherie) oder Idee des Inhalts, und alles, was das Subjekt (den Betrachter) unmittelbar umgibt, wie auch er selbst, wird zur Peripherie.«37 Der Betrachter wurde entweder in diesen Raum eingeschlossen, von der Peripherie ins Zentrum geführt, und quasi selbst zum Zentrum und Teil des Kunstwerkes. Oder der Rezipient kann nun als Teil des Kunstwerks das Kunstwerk selbst verändern, er wird zum Koautor bzw. selbst zum Schöpfer, aber nur innerhalb eines durch einen anderen geschaffenen Systems. Dvizˇenie macht diese unauflösbare Wechselwirkung zum Konzept: Es geht ihnen nicht nur darum, ein System aufzustellen, sondern den Rezipienten dieses Funktionieren zu verdeutlichen. Diese Unfreiheit des aktiven Teilnehmers entspricht für Nusberg einem Freiheitsbegriff, den das vom Autor geschaffene System selbst hervorbringt. Bis auf wenige labyrinthische Environments und biokinetische Flächen gibt es nur Entwürfe für eine solche die Wahrnehmung verändernde Umwelt. Die Überlegungen reichten von kinetischen Environments zum Jahrestag der Revolution 1967 in Leningrad, die auch realisiert wurden, bis hin zu Entwürfen von kinetischen Stadtenvironments für die Seebezirke von Odessa 1968 und für das Pionierlager Olenok, ebenfalls 1968. In Zusammenhang mit einem Entwurf zu einer kindergerechten Spielstadt . (proekt detskogo igrovovo gorodka) konstruierten sie 1969 eine Ausstellungs-Vorstellung zum 50jährigen Bestehen des russischen Zirkus, und 1969 folgte schließlich der Entwurf zu einer utopischen, künstlichen biokinetischen Stadt (IBKS – iskusstvennaja biokineticˇeskaja sreda), deren totaler Entwurf nicht, wie Kolejcˇuk Wert darauf legt zu betonen, eine mit künstlerischen und technischen Mitteln konstruierte Bewußtseinsmaschinerie darstellte, sondern den »humanitären Anspruch« hatte, ein dem Menschen adäquates Umfeld zu entwickeln.38 Das Ganze war vorgesehen als ein organisches Gebilde, das die Besucher in »räumlich-zeitliche und dramatisch-semantische Situationen« versetzt.39 Nusberg plädierte für einen »umfassenden ästhetischen Genuß« in »Spiel- und Abenteuerzonen«, in denen der Besucher »auf ästhetische Objekte und Phänomene stößt und sich ihrer Wirkung unterzieht, sie nicht nur von allen Seiten

37. Nusberg, Lev »Kinetische Fragmente auf der internationalen Ausstellung ›Elektro72!‹«. Lev Nusberg und die Gruppe Bewegung. Moskau 1962-1977. Ausstellungskatalog. Bochum 1978, 50-59, hier 50. 38. Kolejcˇuk (Anm. 33), 55. 39. Nusberg, Lev. »›K.B.K.U.‹ (Künstliche bio-kinetische Umwelt)«. Lev Nusberg und die Gruppe Bewegung (Anm. 37), 60-78, hier 60. 134

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und tiefgreifend wahrnimmt, sondern auch selbst, in eigener Person, auf sie einwirkt und sie partiell transformiert«.40 Im Unterschied zu Mejerchol’d muß der einzelne Teilnehmer bei Nusberg kein System beherrschen, sondern wird mit einem System konfrontiert, das seiner gewohnten Wahrnehmung widerspricht. Seine gewohnten Reflexe haben in dieser Umwelt keinen Sinn. In beiden Fällen hat man es entweder mit kollektiven Reaktionen auf ein Programm (Nusberg) oder mit kollektiven Aktionen auf der Basis eines Programms zu tun (Mejerchol’d). Vor dem Hintergrund der totalen Organisation totalitärer Gemeinschaften setzt Dvizˇenie die einzelnen Teile so zusammen, daß Verbindungsstiftung und Narration überhaupt wahrgenommen werden kann. Automatisierung im wörtlichen Sinn ist für Dvizˇenie Teil einer Verfremdungsstrategie, bei der der Zuschauer-Teilnehmer merkt, wie durch die Konfrontation mit einem ungewohnten System die automatisierten Reaktionen in einer anders konzipierten Welt ins Leere laufen – in einer Umgebung, für die der Zuschauer nicht konditioniert ist und für die er seine Reflexe nicht ausgebildet hat. Eine dritte Reflexologie begründet der Performer Oleg Kulik, der seit den 1990er Jahren als Hund ›auftritt‹ und seine eigene Kulik-Hund-Konditionierung als Möglichkeit des Kunstterrors verwendet. In der Hündigkeit von Kulik trifft man auf eine Mischung aus kynischer Philosophie und Pavlovscher Dressiertheit. Durch diese Kreuzung setzt er von vorneherein zwei traditionelle Vorstellungen von Widerstand und Dienerschaft außer Kraft. Denn der antrainierte Widerstand und die terroristische Dienerschaft sind in Kulik-Hund zu etwas vereint, das Michail Ryklin als »himmlischen Kellner« bezeichnet hat. Kulik vereint nicht nur ›Herrchen und Hund‹ in sich, sondern seine Bereitschaft, zum Objekt – zum Hund – zu werden, und seine Geste der totalen Bedienung, der Selbsterniedrigung und Demütigung führt dazu, so Ryklin, die eigentliche Macht zu erlangen:

40. Ebd., 61. Nusbergs Visionen sind überraschend deutliche Vorwegnahmen der heutigen Erzeugung virtueller Welten: »Das erste Stadium (ca. 1995-2005) ist die Realisierung einzelner künstlicher Mikrowelten und -umwelten in der Nähe alter, d. h. existierender Gigantenstädte (z. B. Tokio, New York …)« (ebd., 69). Nusberg spricht von »Weltstadt«, »Weltdorf« und davon, daß schließlich auch ein neuer Mensch geschaffen bzw. das menschliche Gehirn durch »zerebrale Zonen« erweitert wird, »die eine absolute Illusionswirklichkeitseinheit einer historischen oder zeitgenössischen Situation und Wirklichkeit schaffen, ohne daß der Mensch sich auch nur einen Schritt auf der Stelle bewegen muß« (ebd., 69). 135

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»Der ideale Knecht und Diener bemächtigt sich gänzlich des Willens des Herrn.«41 In einer seiner Performances, 1996 auf der Manifesta I in Rotterdam, hat Kulik unter dem Titel Pavlovs Dog seiner Selbstkonditionierung einen wissenschaftlich-experimentellen Rahmen gegeben. Im Unterschied zur Pavlovschen Versuchsanordnung mußte Kulik-Hund gleichzeitig die Rolle des Wissenschaftlers, also des Regisseurs der Versuchsanordnung, und des Versuchsobjekts übernehmen. Er war gleichzeitig Pavlov und dessen Hund. Mit unterschiedlichen Apparaturen, Übungsgeräten, Meßstationen erforschte Kulik-Hund seine »natürlichen« und »bedingten« Reflexe. An einer Apparatur, die wie ein Tresor bzw. ein Geldautomat funktionierte, hatte er beispielsweise die Möglichkeit, Zahlenkombinationen zu drücken. Bei einer bestimmten Kombination schließlich geht die Tür auf und schiebt sich ein Wassertrog auf einer Schublade aus dem Automaten heraus (Die Klingel ertönt nur, wenn die Zahlenkombination falsch gewählt ist). Diese Uminterpretation des Pavlovschen Experiments legt nahe, daß Kulik-Hund, immer wenn er Felder mit Zahlenkombinationen sieht oder Geldautomaten, nun auch Essen assoziiert. Hinzu kommt, daß Kulik-Hund für das Wählen der richtigen Kombination mit dem Essen belohnt wird. Die ›leichte‹ Abänderung des Pavlovschen Experiments, bei dem der Hund das Ertönen der Klingel, die immer dann schrillte, sobald ihm Nahrung gezeigt wurde, schließlich mit dem Bereitstellen der Nahrung selbst assoziierte, führt hier zu einer Verkehrung von bedingtem und natürlichem Reflex. Oder anders: Die Klingel ist die Nahrung und die Nahrung die Klingel. Kulik verbindet das Sehen von Automaten mit der Möglichkeit, Essen zu bekommen. Die Konditionierung ist hier auf die Übung selbst ausgerichtet, die erlernt werden soll. Dieser Gedanke stimmt auch mit der Überlegung überein, in Pavlovs Experiment, so Salecl mit Lacan, sei nicht der Hund das Subjekt, sondern Pavlov selbst.42 Der Hund, so heißt es weiter, habe kein Interesse an der Klingel, nur am Essen. Allein Pavlov aber hat das Interesse, die bedingten Reflexe am Versuchsobjekt Hund zu testen. Das Experiment ist auf die Konditionierung selbst ausgerichtet, die bewiesen werden soll. Kulik-Hund macht 41. Ryklin, Michail. »Der Hund des Imperators«. It’s a Better World: Russischer Aktionismus und sein Kontext. Hg. v. Joseph Baksˇˇstejn u. Johanna Kandl, Katalog Wien 1997, 5760, hier 58. 42. Vgl. dazu Salecl, Renata. »Love Me, Love My Dog: Psychoanalysis and the Animal/Human Divide«. Interpol. The Art Exhibition which divided East and West. Hg. v. Eda Cˇufer u. Viktor Misiano. Ljubljana 2000, 111-121, hier 118. Bei Lacan heißt es: »Denn es gibt da kein anderes Subjekt als das des Experimentators«. (Lacan, Jacques. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Weinheim, Berlin 1987, 240). Siehe auch Kulik, Oleg. Kulik. Actions & Performances 1994-1997. Video 1998. 136

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dieses Dilemma deutlich, indem er gleichzeitig versucht, Versuchsobjekt und Experimentator zu sein. Kulik führt die Versuche der Reflexologie, in dem er auf andere Weise versucht, »zugleich Organisator und Organisiertes« zu sein, auf eine andere Ebene. Er erfindet kein System oder Regelwerk, das anderen zur Befreiung verhelfen soll, sondern wendet es auf sich selbst an. Er bleibt nicht der Regisseur dieser Verkettung, sondern übernimmt in ›Eigenregie‹ die Vorstellungen vom Dienst am Experimentator oder Regisseur und macht diesen wie auch den Teilnehmer-Zuschauer überflüssig. Abbildung: Oleg Kulik. Pavlovs Dog (Manifesta I, Rotterdam 1996, gemeinsam mit Mila Bredichina)

Quelle: Privatarchiv Oleg Kulik

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KOLLEKTIV IN DER SCHWERELOSIGKEIT

Kollektiv in der Schwerelosigkeit. Von Überidentifizierung und Retrogarde zum panoptischen Theater der gelehrigen Körper. Laibach und das Kosmokinetische Kabinett Noordung (Neue Slowenische Kunst) 1980–2045 Inke Arns

»Neue Slowenische Kunst – as Art in the image of the State – revives the trauma of avantgarde movements by identifying with it in the stage of their assimilation in the systems of totalitarian states. The most important and at the same time traumatic dimension of avant-garde movements is that they operate and create within a collective. Collectivism is the point where progressive philosophy, social theory and the militarism of contemporary states clash.«1 Das 1984 in Ljubljana gegründete Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK) hat mit der Musikgruppe Laibach (*1980 als Laibach Kunst), dem Malerkollektiv Irwin (*1983), der Grafikabteilung Neuer Kollektivismus und der Tanz- und Performancegruppe Kosmokinetisches Kabinett Noordung eine der wohl pointiertesten künstlerischen Theoriepraxen des Kollektiven im 20. Jahrhundert formuliert. Bereits in der Beitrittserklärung von 1982 definierte sich Laibach Kunst bzw. die NSK nicht als Zusammenschluß einzelner Individuen, sondern explizit als uniformes Kollektiv, das nach dem Vorbild des Staates dem Prinzip der industriellen Produktion und dem ›Direktivenprinzip‹ verpflichtet war und die ›Identifikation mit der Ideologie‹ als seine Arbeitsmethode übernommen hatte. Explizit heißt es: »Laibach Kunst ist das Prinzip der bewußten Ablehnung von persönlichem Geschmack, individuellen Urteilen, Überzeugungen …; 1. Cˇufer, Eda & Irwin. »NSK State in Time« (1993). Irwin. Zemljopis Vremena/Geography of Time. Umag 1994. 139

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[es ist das Prinzip der] freiwillige[n] Entpersonalisierung […].«2 Während bei Laibach die einzelnen Mitglieder hinter der Fassade eines Kollektivs verschwanden, das niemals spontan, sondern nur über das Verlesen vorgefertigter Statements mit der ›Außenwelt‹ kommunizierte, malen die Mitglieder von Irwin ihre Bilder kollektiv, signieren die Werke durch mit dem Gruppennamen und dem Entstehungsjahr versehene Metallplaketten und verschmelzen so zu einem überindividuellen Ganzen, das die Handschrift des Einzelnen verwischt. Was aber bedeutet eine solche radikale – freiwillige – »Selbstkollektivierung«, also das bedingungslose Aufgehen im Kollektiv bzw. in der Organisation, die Disziplinierung und letztendliche Unterordnung des eigenen Körpers unter einen selbstgeschaffenen Kollektivkörper? Und vor allem: Wie funktionierte eine solche Strategie in den 1980er Jahren in der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien? Was bedeutet es, so fragte sich Kim Levine in Michael Bensons Film Predictions of Fire (1995), »sich in einem Land des Autors zu entledigen, das zu dem Zeitpunkt eine totalitäre kommunistische Gesellschaft war«? Dies ist, so Levine, etwas »ganz anderes, als den Tod des Autors in einer Gesellschaft auszurufen, die auf Individualität bzw. dem Individuum beruht.«3 Wir haben es hier anscheinend mit einer Strategie zu tun, die sich nicht in einem offen kritisierenden bzw. moralisierenden Diskurs gegenüber dem Staat und der Ideologie äußerte, nicht in der ›Distanzierung zur Ideologie‹ durch Satire oder Ironie. Ganz im Gegenteil: Es ging um die Wiederholung, um die Aneignung von Bestandteilen und Versatzstücken der offiziellen Ideologie, um ein Spiel mit diesen ready mades, um ein Aufnehmen vorhandener Herrschaftscodes, um – so Laibach – »diesen Sprachen mit ihnen selber [zu] antworten.«4 Es handelte sich um eine 2. »Laibach Kunst. Auszug aus der Beitrittserklärung« [1982]. Neue Slowenische Kunst. Zagreb, Los Angeles 1991 (im folgenden NSK 1991), 21: »Kunst und Totalitarismus schließen sich nicht gegenseitig aus. Totalitäre Regimes schaffen die Illusion der revolutionären individuellen künstlerischen Freiheit ab. Laibach Kunst ist das Prinzip der bewußten Ablehnung von persönlichem Geschmack, individuellen Urteilen, Überzeugungen …; [es ist das Prinzip der] freiwillige[n] Entpersonalisierung. […]« (Übersetzung I.A.). 3. Vgl. Benson, Michael. Predictions of Fire. USA/SLO 1995, 90 min. (Übersetzung I.A.). 4. Zit. nach: Wahjudi, Claudia. »Zwölf Jahre musikalische Zitatenschlacht zwischen zwei konträren Systemen. Interview mit ›Laibach‹«. Neues Deutschland, 13.8.1992. Ähnliche Strategien findet man in der postmodernen Literatur des Moskauer Konzeptualismus. Hier charakterisiert der (von Hirt/Wonders benutzte) Begriff des »nachahmenden Übertreibens« eine Strategie, mit der »die […] Post-Avantgardisten die implizite Gewalt und den Wahnsinn des kollektiven Diskurses ›herausartikulieren‹« (Hirt, Günter u. Sascha Wonders. »Legenden, die nicht enden«. Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 42, 1993, 140

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subversive Strategie, die Slavoj Zˇizˇek als radikale »Über-Identifizierung«5 mit der »verdeckten Kehrseite« der die gesellschaftlichen Beziehungen regulierenden Ideologie bezeichnet hat. Die NSK trat – unter Verwendung aller durch die offizielle Ideologie explizit und implizit vorgegebenen Identifikationsmomente – als eine Organisation auf, die noch »totaler als der Totalitarismus« 6 zu sein schien – ein provokativer Verweis auf das jugoslawische System.7 Die NSK identifizierte sich – wie das eingangs erwähnte Zitat belegt – in den 1980er Jahren mit den historischen Avantgardebewegungen zum Zeitpunkt ihrer Usurpation bzw. Assimilation durch totalitäre Systeme. Die kulturdestruktive Programmatik der historischen Avantgarde, ihre utopische Orientierung auf die Zukunft, die militante Kampfideologie oder der Jugendkult des russischen Futurismus, der Utilitarismus (wie er sich z. B. in der sowjetischen Produktionskunst ausdrückte), der politisch motivierte Ausschließlichkeitsanspruch der Avantgarde, ihr mechanistischer Kollektivismus oder ihr Idealbild des Sozialingenieurs, der die menschliche Psyche mit seiner ›Werk-Maschine‹ bearbeitet – all das erlaubte eine hohe Anschlußfähigkeit zwischen Avantgarde und Totalitarismus. Dieses zwischen Messianismus und Utilitarismus oszillierende ideologische Potential der Avantgarde sollte später im Gesamtkunstwerk Stalin aufgehoben werden – so Titel und These eines 1988 veröffentlichten Buches von Boris Groys. Diesem von der NSK als traumatisch erfahrenen Moment des Umschlagens genuin utopischer in totalitäre Ansätze widmet sich sowohl die der Gruppe eigene Arbeitsmethode der ›Retrogarde‹ als auch die Strategie der ›Über-Identifizierung‹. Beides sind jeweils für sich exzessive Wiederholungen. Diese Wiederholungsstrategien konstituieren sich u. a. in einem realen körperlichen Nachvollzug theoretischer oder ästhetischer Konzep35). Noch treffender ist vielleicht der von den Künstlern selbst verwendete Begriff der »subversiven Affirmation«. Subversive Affirmation ist Bloßlegung, »Nachsprechen« und »Wiederkäuen«, ist das »Bewohnen der Diskurse in der Sprache der Diskurse«. Subversiv-affirmatives Sprechen »vollzieht die Bewegung nach, mit der die Konstruktion des Totalen zu einem paradoxen Projekt wird, und macht sie sichtbar« (Sasse, Sylvia u. Caroline Schramm. »Totalitäre Literatur und subversive Affirmation«. Die Welt der Slaven LXII, 1997, 306-327, hier 308). 5. Zˇiˇzek, Slavoj. »Why are Laibach and NSK not Fascists?« M’ARS – ˇCasopis Moderne Galerije, V/3.4, 1993, 4. 6. Vgl. Groys, Boris. »More Total than Totalitarianism«. Kapital. Kat. hg. v. Irwin. Ljubljana, 1991. 7. Vgl. Barber-Kersovan, Alenka. »›Laibach‹ und sein postmodernes ›Gesamtkunstwerk‹«. Spektakel/Happening/Performance. Rockmusik als ›Gesamtkunstwerk‹. Hg. v. Helmut Rösing. Mainz 1993, 66-80. 141

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Abbildung 1: Mitglieder des NSK-Kollektivs vor dem für ihre Performance »Krst Pod Triglavom« (1986) im Cankarjev Dom in Ljubljana rekonstruierten Modell des Monuments für die III. Internationale (1919-20) von Vladimir Tatlin

Quelle: NSK

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te der historischen künstlerischen Avantgarde – und zwar am eigenen, physischen Körper, im Hier und Jetzt. Dies betrifft sowohl die Strategie der ›Selbstkollektivierung‹ der Neuen Slowenischen Kunst (v. a. Laibach) in den 1980er Jahren, als auch den in den 1990er Jahren vor allem von Irwin praktizierten körperlichen Nachvollzug der künstlerischen Grundelemente des Suprematismus. Ein photographisches Tryptichon von Quadrat, Kreuz und Kreis8 dokumentiert die – jeweils in einer Gruppenaktion durchgeführte – Ausbreitung eines schwarzes Stoffquadrates auf dem Roten Platz in Moskau (Black Square on Red Square, 1992), das Auftragen eines schwarzen Kreuzes mit weißer Farbe auf ein Hausdach in New York und einen kreisförmigen Tanz von NSK-Mitgliedern mit einer slowenischen Volkstanzgruppe auf einem Feld in der Umgebung von Ljubljana (NSK Panorama, Ljubljana, 1997). Um näher auf die Strategie der ›Selbstkollektivierung‹ einzugehen, bedarf es zunächst eines kurzen Exkurses (I. Kollektive Verhärtungen) zum Verhältnis von (schwachem) Individuum und Kollektiv in konservativen Utopien und Teilen der historischen Avantgarde. Im darauf folgenden Teil (II. Wieder-Holen, Teil-Werden) widme ich mich der ›ÜberIdentifizierung‹ als exzessiver Wieder-Holung und frage, inwiefern man bei der von den Mitgliedern der NSK bewußt vollzogenen Selbstkollektivierung von einer individuellen Befreiung sprechen kann. Der dritte Teil folgt dem Kollektiv in die zukünftige Schwerelosigkeit und spekuliert über mögliche Ergebnisse des Retroutopismus.

I. Kollektive Verhärtungen Das Verhältnis von einzelnem und Kollektiv ist selten eindeutig, oft ambivalent. Das Kollektiv steht dabei nicht nur für eine von außen aufgezwungene kollektive Ordnung, der sich ein Individualkörper (widerstrebend) zu unterwerfen hat. Ebenso gibt es in bestimmten Momenten von Seiten des Individuums einen Wunsch zur Unter-Ordnung, eine Lust am geordnet werden, ein Genießen des Aufgehens in Kollektivkörpern. Dieses Aufgehen in einem größeren Ganzen verspricht dem schwachen Individuum die Herausbildung eines stahlharten Körper-Panzers, eines Maschinen-Menschen, dessen Entstehung einhergeht mit Bildern der Verhärtung, von Kristallisationen, Erkaltungen. Diese finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in konservativen Utopien wie auch in Teilen

8. Transcentrala, New York, Moskau, Ljubljana. Tryptichon, 1992-1997. Dokumentiert in: Arns, Inke. Neue Slowenische Kunst. Regensburg 2002. Umschlaggestaltung . 143

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der künstlerischen Avantgarde, wo sie entweder beschrieben, gefordert oder auch gelebt werden. Evgenij I. Zamjatin (1884-1937) schildert 1920 in seinem dystopischen Roman Wir9 (My) die Geschichte des kritischen Individuums D-503 in einer gleichgeschalteten Gesellschaft. Jeden Morgen stehen Millionen Menschen – keine Individuen, sondern durchnummerierte Bürger des ›Einzigen Staates‹ – »wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf«, zur selben Sekunde beginnt das »Millionenheer« die Arbeit, zur selben Zeit beendet es sie. Zu einem »einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen«10 ißt der Kollektivkörper, geht der Kollektivkörper spazieren – »[u]nzählige Nummern marschierten in Reih und Glied vorbei, Tausende Füße im gleichen Schritt, ein millionenfüßiger Leviathan«11 –, macht der Kollektivkörper Gymnastik und legt sich schlafen. Die Existenz der ›Nummern‹ in der Gemeinschaft des Kollektivs wird jedoch nicht nur als negativ, sondern durchaus als lustvolles Aufgehen in der Masse beschrieben. Gleich zu Beginn des Buches formuliert Zamjatin diesbezüglich: Die Hingabe an den Tanz (die ideale Unfreiheit) in Augenblicken der »höchsten Begeisterung« kann, so Zamjatin, nur bedeuten: »[D]er Trieb zur Unfreiheit ist dem Menschen angeboren.«12 Das lustvolle Aufgehen in das und das Verschmelzen mit dem Kollektiv wird in D-503s Schilderung der kollektiven Arbeit am Raumschiff Integral in der Werft deutlich: 9. My konnte erst 1925 in Zamjatins Pariser Exil publiziert werden. Der Roman ist eine Vorwegnahme von Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells NineteenEighty-Four (1949). 10. Zamjatin, Evgenij. Wir. Übers. v. Gisela Drohla. Köln 1984, 15. 11. Zamjatin (Anm. 10), 83 f. . 12. »Pocˇemu tanec krasiv? Otvet: potomu ˇcto eto nesvobodnoe dviˇzenie, potomu ˇcto ves’ glubokij smysl tanca imenno v absoljutnoj, esteticˇeskoj podcˇinennosti, ideal’noj nesvobode. I esli verno, ˇcto nasˇi predki otdavalis’ tancu v samye vdochnovennye momenty . svoei ˇzizni (religioznye misterii, voennye parady), to eto znacˇit tol’ko odno: instinkt nesvobody izdrevle organicˇeski prisusˇ ˇceloveku […].« (Zamjatin, E. My. Tekst – po ˇzurnalu Znamja 5/6 [1988] )(Dt.: »Warum ist der Tanz schön? Die Antwort: Weil er eine unfreie, eine gebundene Bewegung ist, weil sein tieferer Sinn die vollkommene ästhetische Unterwerfung, die ideale Unfreiheit ist. Wenn es stimmt, daß unsere Ahnen in Augenblicken der höchsten Begeisterung sich dem Tanz hingaben [religiöse Mysterien, Militärparaden], dann kann das nur das eine bedeuten: der Trieb zur Unfreiheit ist dem Menschen angeboren […]« [Zamjatin (Anm. 10), 8].) Vgl. zur »idealen Unfreiheit« bei Zamjatin den Beitrag von Sylvia Sasse in diesem Band. 144

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»Nach Taylors Gesetz, rhythmisch und schnell, im gleichen Takt, genauso wie die Hebel einer riesigen Maschine, bückten die Menschen sich, richteten sich auf, drehten sich. […] Gläserne Riesenkrane rollten langsam über gläserne Schienen, drehten und neigten sich ebenso gehorsam wie die Menschen und senkten ihre Last in den Leib des Integral. Und diese vermenschlichten Krane und diese vollkommenen Menschen waren eins. Welch eine ergreifende, vollkommene Schönheit, Harmonie, Musik … Schnell hinunter zu ihnen, ich mußte bei ihnen sein! Ich arbeitete Schulter an Schulter mit ihnen, im gleichen stählernen Rhythmus … gleichmäßige Bewegungen, straffe rote Wangen, spiegelklare Augen und Stirnen, ungetrübt vom Wahn des Denkens. Ich schwamm in einem Spiegelmeer.« 13 Neben der auffälligen Anthropomorphisierung von Maschinen (»vermenschlichte Krane«) und der gleichzeitigen Angleichung der Menschen an Maschinen (»vollkommene Menschen«) wird hier noch etwas anderes klar: Das Aufgehen im Kollektiv, das Abstreifen des Individuellen zugunsten des Kollektiven, das Eintauchen in ein »Spiegelmeer« als Gleicher unter Gleichen ist verbunden mit einem Zugewinn an Härte und Festigkeit. Der stählerne Rhythmus der Maschinen und die Oberflächeneigenschaften der gläsernen, fast kristallenen Krane und Schienen gehen gleichsam auf D-503 über und befreien ihn so »vom Wahn des Denkens«. Hier klingt an, was Klaus Theweleit auch für die zur Entstehungszeit von Zamjatins My in Deutschland vorherrschenden konservativen Körperutopien formuliert hat: Der Ganzheitspanzer der ›Stahlgestalt‹ und die ›Ganzheitsmaschine Truppe‹ bedingen sich gegenseitig. Die Phantasie dagegen, die Bildung einer Seele oder menschlicher Regungen wie Liebe oder Mitleid führen in Wir zur »Aufweichung der Oberfläche«, die eigentlich »diamantenhart sein muß wie unsere gläsernen Mauern.«14 In diese Massierung von Härte-, Kristall- und Kältemetaphern gehört auch die Abschaffung bzw. das Nichtvorhandensein familiärer Beziehungen. Die Nummern des »Einzigen Staates« werden, wie der Sohn des Titelhelden 13. Zamjatin (Anm. 10), 79 f. (»Ja videl: po Teiloru, razmerenno i bystro, v takt, kak rycˇagi odnoj ogromnoj masˇiny, nagibalis’, razgibalis’, povoracˇivalis’ ljudi vnizu. […] po stekljannym rel’sam medlenno katilis’ prozracˇno-stekljannye ˇcudovisˇa-krany, i tak ˇze, kak ljudi, poslusˇno povoracˇivalis’, nagibalis’, prosovyvali vnutr’, v ˇcrevo ›Integrala‹, svoj . . gruzy. I eto bylo odno: ocˇelovecˇennye, soversˇennye ljudi. Eto byla vysocˇaisˇaja, potrjasajusˇ aja krasota, garmonija, muzyka … Skoree – vniz, k nim, s nimi! I vot – plecˇom k plecˇu, splavlennyj s nimi, zahvacˇennyj stal’nym ritmom … Mernye dviˇzenija: uprugokruglye, rumjanye ˇseki; zerkal’nye, ne omracˇennye bezumiem myslei lby. Ja plyl po zerkal’nomu morju.«) Zamjatin (Anm. 12). 14. Zamjatin (Anm. 10), 102 f. Vgl. ausführlich zu den Bildern der Verhärtung in künstlerischer Avantgarde und konservativen Utopien: Arns, Inke. Objects in the Mirror may be Closer Than They Appear. Die Avantgarde im Rückspiegel. Phil.-Diss., HU Berlin (in Arbeit). 145

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in Marinettis Roman Mafarka le futuriste (1910), ohne Mutter erzeugt (Schwangerschaft wird mit der Todesstrafe geahndet), es sind ohne Mutter Geborene: »Wenn ich eine Mutter hätte, wie unsere Vorfahren, eine Mutter …«, schreibt D-503 zum Schluß im Zustand äußerster Verzweiflung in sein Tagebuch, »[f]ür sie wäre ich nicht der Konstrukteur des Integral, nicht die Nummer D-503, nicht ein Molekül des Einzigen Staates, sondern nur ein Mensch, ein Teil von ihr selbst – zertreten, erdrückt, verstoßen … Sie würde mich hören und mich trösten …«15 Klaus Theweleit konstatiert in seiner Untersuchung zum ›soldatischen Mann‹ im Dritten Reich16 eine ähnliche Kappung der Verbindung zum Familienverband und besonders zur Mutter17 bei gleichzeitiger Einordnung in die Formation der »Ganzheitsmaschine Truppe«. Nachdem in der Kadettenanstalt – »der deutschen Offiziersschule«18 – an Salomon durch Drill und körperliche Züchtigung der Umbau des Leibes vollzogen worden ist, trennt ihn nach eigenen Worten »eine tiefe Kluft […] von den Sitten und Gebräuchen des sogenannten Elternhauses […]. Gerade jegliche Art der fürsorglichen Teilnahme schien mir durchaus unerträglich, und der breite Strom mütterlichen Empfindens ließ mich wünschen, wieder in der härteren Luft des Korps zu atmen.«19 Salomon wird, so Theweleit, zu einem »lustvoll funktionierende[n] Teil« des Stroms der neuen Maschine: »Sie [die Kadettenanstalt] ist das Gegenteil der Wunschmaschinen, deren Prinzip Salomon in dem, was er aufgegeben hat, benennt. ›Freude an ungebundenem Schweifen.‹ [Dieses Schweifen] ist verschwunden, gewichen der Lust, Teil einer Maschine zu sein, einer Makro15. Zamjatin (Anm. 10), 198. 16. Theweleit, Klaus. Männerphantasien. 2 Bde. Reinbek 1987. 17. Die These von der ›Mutterlosigkeit‹ bzw. Entfremdung des neuen Helden von Familienzusammenhängen zu Gunsten seiner Eingliederung in die ›Ganzheitsmaschine Truppe‹ oder ›Kollektiv‹ steht nicht im Widerspruch zu der im Nationalsozialismus wie im Stalinismus gleichsam betonten Rolle der Familie und der Rolle der Mutter. Ziel war die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums. Die Regierungszeitung Pravda schrieb anläßlich der Einführung des Abtreibungsverbotes, daß die Ehe der Zeugung von »gesunden Helden« diene (vgl. Liegle, Ludwig. Familienerziehung und sozialer Wandel in der Sowjetunion. Berlin, Heidelberg 1970, 14). Nach einem Regierungserlaß des Jahres 1937 konnten Mütter, die mindestens sieben Kinder geboren hatten, sich als ›MütterHeldinnen‹ feiern lassen. Im Juli 1944 erhöhte der Oberste Sowjet die geforderte minimale Anzahl von Kindern auf zehn, wobei die im Krieg gefallenen und vermißten mitgezählt werden durften (vgl. Sobranie zakonov i rasporjaˇzenij rabocˇe-krest’jankogo pravitel’stva SSSR. 1924-1937). 18. Theweleit (Anm. 16), Bd. 2, 144. 19. von Salomon, Ernst. Die Kadetten. Zit. nach Theweleit (Anm. 18), 152. 146

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maschine, einer Maschine der Macht, in der das Teilchen nicht seine eigene Lust besetzt, sondern die des Machthabers erzeugt. Das eigene Selbst ist besetzt lediglich als zuverlässigstes Teil der Maschine. […] Und merkwürdig: für sich selbst ist das Teilchen dadurch, daß es Teilchen wurde, zu einem Ganzen geworden, zu einem untergeordneten Ganzen, sicher, aber auch zu einem übergeordneten. Es hat genau bestimmte Funktionen, ganz bestimmte Kupplungen zu anderen Teilen; seine ehemalige Funktionsvielfalt ist dahin. Mit der Vielfalt muß etwas nicht gestimmt haben, ihre Möglichkeit muß bedrohlich gewesen sein, denn das Teilchen ist gerne Ganzes geworden in der Ganzheitsmaschine.« 20 Die »Ganzheitsmaschine Truppe« trennt die einzelnen Glieder der Soldaten von ihrem Leib ab und fügt sie zu »neuen Ganzheiten« zusammen: »Das Bein des einzelnen hängt funktionell mehr mit dem Bein des Nachbarn zusammen, als mit dem Rumpf, an dem es sitzt. Dadurch entstehen innerhalb der Maschine neue Ganzheitsleiber, die nicht mehr mit einzelnen menschlichen Leibern identisch sind.«21 Die ursprüngliche Funktionsvielfalt wird nicht nur eingeschränkt, sondern auch transformiert: »Funktionen wie ›Denken‹, ›Fühlen‹, ›Sehen‹ (potentielle Vielfaltsfunktionen mit der Kraft, unendlich viele Kuppelungen zu entwickeln) transformiert die Maschinerie […] in Bewegung, in Körperbewegungen« – gemeint ist damit vor allem ein »bestimmte[s] Schrittmaß«.22 Die »durch den Drill von außen funktionalisierten Teile des Ganzen des soldatischen Leibes«23 funktionieren wie die Maschine selbst: »Jede Einzelteilganzheit ist ihr Abbild im Kleinen.«24 Alle Triebkräfte sind in Funktionen des stählernen Leibes verwandelt worden; der »Stahlpanzer schließt ein jedes fest ein.«25 Der ›neue Mensch‹, »eine wirkliche Zeugung der Drillmaschine, gezeugt ohne Zuhilfenahme der Frau, ohne Eltern«, hat »Verbindungen, Beziehungen, [nur] zu anderen Exemplaren des neuen Menschen, mit denen er sich zusammenfügen läßt zur Makromaschine Truppe.«26 Der neue Mensch – und dies gilt gleichsam für stalinistische bzw. sozrealistische wie für völkisch-konservative Utopien – ist ein »Mensch, dessen Physis maschinisiert, dessen Psyche eliminiert ist; […] [w]ir sehen einen Roboter […] im Moment seiner Aktion: ohne Angst wie ohne jedes andere Gefühl.«27 Der Wunschmensch ist ein Mensch »mit maschinisier-

20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27.

Theweleit (Anm. 18), 154. Ebd., 155. Ebd., 155. Ebd., 158. Ebd., 158. Ebd., 161. Ebd., 161. Ebd., 161. 147

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ter Peripherie und bedeutungslos gewordenem Innern […].«28 Der Ursprung dieser Utopie vom maschinisierten Körper liegt nicht, so Theweleit, in der Technisierung der Produktionsmittel, sondern »in der Notwendigkeit, das eigene Menschliche, das Es, die Produktionskraft des Unbewußten in sich zu beherrschen, von sich abzustoßen.«29 Genau daher resultiert die ›Stahlgestalt‹, als die sich der ›neue Mensch‹ phantasiert: Das »eingeschlossene Innere transformiert der Panzer zum Treibstoff seiner Geschwindigkeit, oder aber: er schleudert es aus sich heraus. Als ihm dann Äußeres kann er es bekämpfen und es greift ständig an, als wolle es in ihn zurück: als Sintflut, Invasion vom Mars, als Proletariat, jüdische Lustseuche, sinnliche Frau.«30 Der Ganzheitspanzer der ›Stahlgestalt‹ und die ›Ganzheitsmaschine Truppe‹ bedingen sich also gegenseitig: »[S]ie dienen als Grenze der Person zum Außen, als Front; sie sind Organe der Realitätskontrolle, der Triebkontrolle, der Triebabwehr.«31 Inwieweit diese Tendenz zur Selbst-Verhärtung durch das Aufgehen in einem Kollektiv auch in (Teilen) der historischen Avantgarde(n) vorhanden ist, wäre an anderer Stelle im Einzelnen zu untersuchen. Es läßt sich jedoch sagen, daß es seit den 1980er Jahren in der internationalen Avantgarde-Rezeption eine Tendenz zur Betonung ambivalenter, also anschlußfähiger Elemente zwischen Avantgarde und Totalitarismus gibt. In diesem Sinne stellen Eda Cˇufer und Irwin in dem eingangs zitieren Text fest: »The most important and at the same time traumatic dimension of avant-garde movements is that they operate and create within a collective. Collectivism is the point where progressive philosophy, social theory and the militarism of contemporary states clash.« 32 In der Bezugnahme auf die historische Avantgarde interessiert die NSK demzufolge, inwieweit die Utopie des Kollektivs in eine Dystopie umschlägt, und dies in bezug auf konkrete historische Erfahrungen. Ein solches konkretes historisches Moment repräsentiert der futuristische Schriftsteller, Dramatiker und Literaturtheoretiker Sergej Michajlovicˇ Tret’jakov.33 Selbst ein Anhänger des Konstruktivismus, später des Utilitarismus und der »Literatur des Fakts«, eilt er in seinem 1923 ver28. 29. 30. 31. 32. 33.

Ebd., 162. Ebd., 162. Ebd., 162. Theweleit (Anm. 18), 164. Cˇufer, Eda & Irwin (Anm. 1). Sergej Michajlovicˇ Tret’jakov (1892-1939) war Mitarbeiter der Zeitschrift LEF (1923-25) und Herausgeber von Novyj Lef (1927-28). 148

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faßten Text Woher und Wohin? Perspektiven des Futurismus Stalins 1932 formulierten Diktum vom Künstler als »Ingenieur der menschlichen Seele« um fast zehn Jahre voraus.34 Tret’jakov fordert mit revolutionärem Elan die freie Verfügbarkeit geistiger Erzeugnisse zum Wohle aller (d. h. des »Produktionskollektivs«). Ideen und Erfindungen sollen nicht der Schaffung von privatem Besitz dienen, sondern in Umlauf gebracht werden, frei zirkulieren und so zur Entwicklung neuer Ideen beitragen. Erklärtes Ziel des Futurismus ist, so Tret’jakov, die Schaffung eines »Arbeiter-Menschen, [der] dem Gebot der Schöpfer-Klasse folgt und alles, was er schafft, im Moment zum kollektiven Gebrauch abgibt. In diesem Sinne ist es dem Futuristen am allerwenigsten erlaubt, Eigentümer seiner Produktion zu sein. Sein Kampf richtet sich gegen die Hypnose des Namens und die damit verbundenen Prioritätspatente. Bürgerliche Selbstbestätigung, angefangen bei der Visitenkarte an der Haustür und endend mit der steinernen Visitenkarte auf dem Grab, ist ihm fremd; seine Selbstbestätigung findet er darin, daß er sich als wichtiges Teil seines Produktionskollektivs versteht. Seine reale Unsterblichkeit liegt nicht in der Bewahrung einer Buchstabenkombination, sondern in der breiten und umfassenden Aneignung seiner Erzeugnisse durch die Menschen. Unwichtig, wenn Namen vergessen werden, wichtig ist, daß seine Erfindungen in Umlauf kommen, neue Steigerung und neues Training auslösen. Keine Politik der verschlossenen Schädel, die das Patent jedes Gedankens, jeder Entdeckung und jeder Idee schützt, sondern eine Politik der offenen Schädel für jeden, der im Namen eines optimal organisierten Daseins zur Überwindung von Konservatismus und Spontaneität beizutragen sucht.«35 Im historischen Kontext fand Tret’jakovs Forderung jedoch ihre logische Konsequenz im alles um- und erfassenden stalinistischen Kollektivismus bzw. in der während des 1. Fünfjahresplans 1928-32 durchgeführten Zwangskollektivierung, die den (utopischen) Kollektivismus der Avantgarde ablöste. Die Namen Einzelner verschwanden im allgegenwärtigen Produktionskollektiv – so geschehen z. B. im sogenannten Weißmeerkanalbuch, einem Kollektivbuch über den Bau des Weißmeerkanals, dessen einzelne Kapitel von Schriftstellern aus Avantgarde, aus der Russischen Assoziation Proletarischer Schriftsteller RAPP (Leopold L. Averbach, Maksim Gor’kij) und sogenannten Mitläufern (Michail M. Zosˇcˇenko u. a.) verfaßt und anschließend von Viktor Sˇklovskij montiert wurden. Der ›Tod 34. »Rjadom s ˇcelovekom nauki rabotnik iskusstva a dolˇzen stat’ psicho-inˇzenerom, psicho-konstruktom« (Tret’jakov, Sergej: Otkuda i kuda? [Perspektivy futurizma] , 202) (Dt.: »Neben dem Mann der Wissenschaft muß der Kunstarbeiter ein Seeleningenieur, Seelenkonstrukteur werden« [Tret’jakov, S. »Woher und Wohin? Perspektiven des Futurismus« (1923). Ders. Gesichter der Avantgarde. Berlin, Weimar 1985, 38-53, hier 50]. 35. Tret’jakov (Anm. 34), 49, 201. 149

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des Autors‹ setzt in der Sowjetunion, anders als sein rein metaphorisch verstandenes Barthes’sches Pendant, spätestens mit der Sanktionierung des Sozialistischen Realismus und der Einrichtung eines einheitlichen Schriftstellerverbandes im Jahr 1932 ein.

II. Wieder-Holen, Teil-Werden: Kollektivismus der Avantgarde Bei den exzessiven Wiederholungen der Neuen Slowenischen Kunst, von denen oben schon kurz die Rede war, handelt es sich um die für alle Gruppen der NSK verbindliche Arbeitsmethode der ›Retrogarde‹ sowie um die Strategie der ›Über-Identifizierung‹. Die Retrogarde greift mittels eines »emphatischen Eklektizismus« (Irwin) auf die Texte – Zeichen, Bilder, Symbole und Formen der Rhetorik – zurück, die retrospektiv zu Erkennungszeichen bestimmter künstlerischer, politischer, religiöser oder technologischer ›Erlösungsutopien‹ des 20. Jahrhunderts geworden sind. Durch Wieder-Holung, ein Wieder-hervor-Holen dieser traumatischen Texte kehrt die NSK zu den speziellen Punkten in der Geschichte zurück, in denen das Umschlagen von utopischen Ansätzen in traumatische Erfahrungen festzumachen ist.36 Die Strategie der Überidentifizierung bezieht sich nicht so sehr auf das, was wiederholt wird, sondern wie es wiederholt wird. Überidentifizierung ist nicht nur einfach Wiederholung; sie ist bzw. schafft das bessere Original. Überidentifizierung denkt die impliziten Annahmen einer Ideologie logisch zuende und konfrontiert sich selbst und das Publikum mit dem ›besseren Original‹, mit dem ›Ding‹, mit welchem wir es ›eigentlich‹ zu tun haben. Überidentifizierung ist eine Strategie der ›(Wieder-) Spiegelung‹, mit der die NSK (v. a. Laibach) die Funktionsmechanismen der herrschenden Ideologie aufzudecken versuchte – und zwar in der konsequenten Anwendung auf sich selbst. In einer Art Selbstversuch, in der man Ratte und Käfig, Opfer und Täter zugleich war, fungierte das Kollektiv als ein ›Brennspiegel‹ für den latenten Totalitarismus, den es der Ideologie bzw. dem Staat unterstellte. Da die Gruppe eine verbale Kritik für unmöglich hielt, weil Kritik ein ›Außerhalb des Textes‹ behauptet, das es nicht gibt, und somit wirkungslos bleibt, wählte es eine andere Strategie: Der ›totale Vollzug‹ in der Überidentifizierung realisiert die logische Konsequenz aus den implizit und explizit vorgegebenen Prämissen der herrschenden Ideologie als radikale Wiederholung am eigenen Kör-

36. So fragt z. B. die NSK durch Aneinanderkopplung von Zeichen aus russischem Suprematismus und sozialistischem Realismus nach Kompatibilitäten bzw. Inkompatibilitäten der Systeme ›Avantgarde‹ und ›Totalitarismus‹. Ausführlich dazu Arns (Anm. 8). 150

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per. Es geht nicht um eine im Textuellen verbleibende Strategie, nicht um das Virulent-Werden eines Bildes im Text, sondern um ein SomatischWerden des ideologischen Textes, um einen am eigenen Körper vollzogenen Diskurs. Laibach spricht in einem Interview seinen Konzerten eine reinigende und regenerative Wirkung zu. Diese ›Therapie-durch-Terror‹Strategie wirkt, indem sie den (Musik-)›Konsumenten‹ zunächst einem Maximum kollektiver Gefühle aussetzt, um ihn dann umso effektiver in einen Zustand ›kollektiver Aphasie‹ verfallen zu lassen und diese letztlich als ›gesellschaftliches Organisationsprinzip‹ erkennbar zu machen: »Our appearance has a purifying (EXORCISM) and regenerative (HONEY & GOLD) function. With a mystical erotic audiovisual constitution of the ambivalence of fear and fascination (which acts on the consciousness in a primeval way), with a ritualized demonstration of political force, and with other manipulative approaches, LAIBACH practices sound/force in the form of a systematic (psychophysical) terror as therapy and principle of social organization. Purpose: to provoke maximum collective emotions and release the automatic response of masses; Consequence: the effective disciplining of the revolted and alienated audience; awakening the feeling of total belonging and commitment to the Higher Order; Result: by obscuring his intellect, the consumer is reduced to a humble state of collective aphasia, which in turn is the principle of social organization.«37 Dieses Erkennen ist jedoch nur von kurzer Dauer und wird ständig durch einen Rückfall in das Genießen bedroht. Es ließe sich vielleicht davon sprechen, daß hier eine selbstläufige Maschine, ein perpetuum mobile produziert wird, das auf der Bühne einen schier endlosen Kreislauf bzw. ein permanentes Oszillieren zwischen Verkennen und Erkennen produziert. Die Endlosigkeit dieses Oszillierens ist dem Begriff einer finalen Katharsis entgegengesetzt. Wenn Laibach die Parolen »Unsere Freiheit ist die Freiheit der Gleichdenkenden«38 oder »Das Bedürfnis nach Autorität ist stärker als der Wille zur Unabhängigkeit«39 äußert, so tut die Gruppe dies nicht, weil sie von der Richtigkeit dieser Aussagen überzeugt ist, sondern weil sie damit eine latente Prämisse der Ideologie – eben nicht nur ausspricht, sondern gleichzeitig auch verkörpert. Die Konsequenz dieser Aussagen gilt es am eigenen (Kollektiv-)Körper auszuhalten, mit diesen nun explizit

37. Laibach. »Excerpts from Interviews given between 1980 – 85«. NSK, 1991, 43-52. Hervorhebung von Laibach. 38. Laibach (Anm. 37). 39. Laibach. »The Instrumentality of the State Machine«. VIKS. ˇSKUC-Publikation. Ljubljana 1983. 151

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ausgesprochenen Implikationen gilt es zu (über-)leben. Überidentifizierung könnte man in diesem Sinne auch als Vernichtung der Latenz bezeichnen. Nach Slavoj Zˇizˇek und Peter Sloterdijk40 bleibt offene Kritik an der Ideologie eines Systems folgenlos, denn jeder ideologische Diskurs zeichnet sich heute durch Zynismus, d. h. durch die internalisierte, in ihm schon vorweggenommene Kritik seiner selbst aus. Die Ideologie ›glaubt‹ ihren eigenen Aussagen nicht mehr, sie hat eine zynische Distanz zu den eigenen moralischen Prämissen angenommen. Folglich ist dem Zynismus als universalem und diffusem Phänomen mit den tradierten Mitteln der Ideologiekritik (z. B. durch aufklärerisches Engagement) nicht mehr adäquat zu begegnen. Gegenüber einer zynischen Ideologie erweist sich, so Zˇizˇek, das Mittel der Ironie als ›in die Hände der Mächtigen spielend‹. Die von der Ideologie vorgebrachten öffentlich getroffenen Aussagen und vermittelten Werte sind ›zynisch‹, sie sind also nicht dazu da, ernstgenommen zu werden. Problematisch wird es dann für die sogenannte ›herrschende Ideologie‹, sobald der ›angemessene Abstand‹ nicht länger gewahrt bleibt, wenn also eine ›fanatische‹ oder eine ›übergenaue‹ Auslegung, ein konsequentes Zuendedenken, also eine ›Über-Identifizierung‹ mit der Ideologie stattfindet – wenn man sie also ernster nimmt, als sie sich selbst nimmt. Denn nach Zˇizˇek setzt sich eine Ideologie immer aus zwei Teilen zusammen: aus den von einem politischen System öffentlich verkündeten und propagierten ›expliziten‹ Werten und der sogenannten ›verdeckten Kehrseite‹. Dies sind die impliziten Werte und Prämissen einer Ideologie, die, damit diese funktionieren und sich reproduzieren kann, unausgesprochen bleiben müssen. Die NSK nahm sich dieser ›impliziten‹ ideologischen Prämissen an und brachte diese durch ihre Strategie der ›Über-Identifizierung‹ zum Vorschein. Ein wichtiges Element der Funktionsweise von Ideologien wird von Zˇizˇek im Angebot des Genießens, also in einer dem Individuum von einer Ideologie angebotenen Abnahme der Ordnung des Realen gesehen. Unterwerfung (›geordnet werden‹) basiert – so die These – nie ausschließlich nur auf Zwang und Fügung, sondern ist mit einem Genießen des unterworfenen und sich unterwerfenden Subjekts verbunden (der Wunsch, ›geordnet zu werden‹). Für Jacques Lacan wird das Spiegelerlebnis, in dem das Subjekt dem Verkennen gegenüber dem Erkennen den Vorzug gibt, zur Erkenntnisgrundlage der exzentrischen, imaginären Struktur des 40. Vgl. Zˇiˇzek, Slavoj. The Sublime Object of Ideology. London, New York 1989; ders. Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin 1991; ders. »Das Unbehagen in der Liberal-Demokratie«. Heaven Sent, 5, 1992, 44-50; Sloterdijk, Peter. Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1983. 152

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Ich.41 Lacans Spiegeltheorie stellt die Möglichkeit bereit, die Wirkungsweisen identitätsverheißender Formationen zu entlarven: »Deren Effekt beruht darauf, daß sie dem Subjekt ein Zentrum (Idee, Führer, Objekt) bereitstellen, in dem es sich spiegeln bzw. mit dem es sich identifizieren kann. […] Die reale Zerrissenheit kaschierend, tendiert das Subjekt zunehmend dazu, sich auf der Ebene des Imaginären zu situieren, um sich qua kollektiver Identifikation an einem Ideal, Idol bzw. einer Ideologie zu stabilisieren, die seinem Mangel an Sein entgegenkommt.«42 Der ideologische Diskurs setzt sich aus einzelnen Elementen, den sogenannten ›gleitenden Signifikanten‹ zusammen, die, für sich genommen, bedeutungslos sind und ihre ideologische Bedeutung erst im Kontext des Diskurses einer ›ordnenden‹ Ideologie annehmen. Die von der NSK vor allem in den Bühnenauftritten von Laibach vollzogene Dekonstruktion der Ideologie realisiert sich 1. als Dekontextualisierung, also als das Herausreißen der einzelnen Elemente aus dem Kontext, der den Phänomenen Bedeutung verleiht und 2. als Rekontextualisierung dieser für sich bedeutungslosen Fragmente – Hirsch, Sämann, schwarzes Kreuz, seitlich von Fahnen begrenzter symmetrischer Bühnenaufbau – in einer von dem Kollektiv geschaffenen dysfunktionalen Ideologie bzw. einer Pseudoideologie. Das vermeintliche Identifikationsangebot, das allen von der NSK verwendeten Elementen eigen ist, löst sich nach dem Abzug des sinnstiftenden Kontextes, nach Verlassen des symbolischen Netzes einer Ideologie auf. Es bleiben die Versatzstücke und Splitter der Ideologie übrig, die in der »völligen Stumpfsinnigkeit ihrer materiellen Präsenz«43 erfahrbar werden. Das reflexhafte idiotische Genießen des Publikums geht ins Leere, denn die ästhetischen Ideologiesplitter kreisen um eine leere Mitte. So entsteht eine Art ›dysfunktionaler‹ Ideologie – bestehend aus ›faszinierenden‹ Versatzstücken, jedoch ohne sinnstiftendes Integrationsmoment. Es geht ausdrücklich nicht darum, die ›wahre‹ Seite der Ideologie zu zeigen: »In fact, they [Laibach] do not confront the totalitarian logic with its ›truth‹ at all. Rather they subvert it. They subvert it so that it is dissolved as an active social bond, leaving only the uneasy kernel of its limited enjoyment.«44 Daher kann hier auch nicht von einem beim Publikum ausgelösten »kathartischen Schock« gesprochen werden, wie ich das andernorts 41. Vgl. Lacan, Jacques. »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«. Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. v. Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner u. Bernd Stiegler. Stuttgart 1997, 177-187. 42. Pagel, Gerda. Lacan zur Einführung. Hamburg 1991, 37. 43. Zˇiˇzek. Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! (Anm. 40), 63. 44. Zˇiˇzek. »The Enlightenment in Laibach.« In: Art & Design. London, No. 35 (1994). Thema: »New Art From Eastern Europe: Identity and Conflict«, 80-87. Hier 87. 153

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formuliert habe45 – auch wenn Laibach selbst seinen Konzerten eine reinigende und regenerative Wirkung zuspricht. Indem das Kollektiv die impliziten Prämissen des Systems verkörperte und die in der Ideologie angelegten latenten Denkansätze (die verdeckte Kehrseite) zuende dachte, wurde es zum ›besseren Original‹. Nach innen versprach diese freiwillige »Kollektivierung« eine Art von ›Befreiung‹, sogar, so Eda Cˇufer, langjähriges Mitglied und theoretischer Kopf der NSK, eine »befriedigende ethische Position«: nämlich die Anerkennung des »unfreien« Status des Individuums in der Gesellschaft durch die freiwillige Unterordnung der Person unter die Organisation, unter den Kollektivkörper. 46 Nach außen, also für das Publikum, fungierte die NSK bzw. Laibach als »verdeckte« Versuchsanordnung, die den Zuschauer bewußt in Situationen versetzt, die ein bestimmtes Verhalten seinerseits auslösen, ohne daß sich dieser zunächst darüber im Klaren ist, daß seine Reaktion eine Wiederholung bereits einmal gemachter kollektiver Erfahrungen ist. Sigmund Freud sprach in Jenseits des Lustprinzips diesbezüglich von einem »Wiederholungszwang«. Die NSK ist der Überzeugung, daß diese Reaktionsmuster nicht überwunden werden können, sondern daß einer Ideologie nur durch Bewußtmachung ihrer affektiven Funktionsweise ein Teil ihrer Macht genommen werden kann.

III. Kollektiv in der Schwerelosigkeit: Kozmokineticˇni Kabinet Noordung Das Kosmokinetische Kabinett Noordung47, mit Laibach und Irwin eine der drei Hauptgruppen der NSK, arbeitet seit 1995 unter der Leitung des Regisseurs Dragan Zˇivadinov an der Erfüllung eines künstlerischen 50Jahresplans, der sich bis in das Jahr 2045 erstrecken wird. Der Name des Kosmokinetischen Kabinetts bezieht sich auf den slowenischen Raum45. Vgl. Arns. Neue Slowenische Kunst (Anm. 8): »Auf die Faszination des Einzelnen folgt ein kathartischer Schock über die eigene Anfälligkeit für die Ästhetik kollektiver Identifikationsmuster und dem Begehren nach freiwilliger Unterordnung.« Katharsis hieße Rationalisierung, das Vorgehen von Laibach setzt aber gerade auch die Unmöglichkeit von Rationalisierung.« 46. Eda Cˇufer in einem Video von Marina Grˇzini´c und Aina ˇSmid (Transcentrala – Neue Slowenische Kunst Drˇzava v ˇcasu. Video, 20.05 min, Ljubljana 1993). 47. Die Abteilung für Theater, Oper und Ballett der NSK nannte sich von 1983–1987 Gledalisˇˇce Sester Scipion Nasica (Theater der Schwestern Scipio Nasicas), von 1987–1990 Kozmokineticˇno Gledalisˇˇce Rdecˇi Pilot (Kosmokinetisches Theater Roter Pilot) und nennt sich seit 1990 Kozmokineticˇni Kabinet Noordung (Kosmokinetisches Kabinett Noordung). Zur Bedeutung der Namen vgl. Arns (Anm. 8). 154

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fahrtpionier Hermann Potocˇnik Noordung, der 1929 in seinem in Berlin publizierten Buch Das Problem der Befahrung des Weltraums – Der Raketenmotor48 als einer der ersten eine auch technisch detaillierte Darstellung einer um ihre eigene Achse rotierenden Raumstation entwarf, die später in Wernher von Brauns Schriften, in Arthur C. Clarkes Roman 2001 – A Space Odyssey sowie auch in Stanley Kubricks gleichnamigem Film von 1968 auftauchte. Das Drama Noordung 1995-204549, eine 1995 in Ljubljana uraufgeführte »Gebetsmaschine zur Produktion des Heiligen«, soll in zehnjährigen Intervallen wiederholt werden. Die durch einen Vertrag bis an ihr Lebensende zur Teilnahme an dieser »belebten Skulptur« (naseljena skulptura) verpflichteten SchauspielerInnen werden nach ihrem Tod durch robotische Symbole ersetzt, die, jeweils mit Klang und Rhythmus ausgestattet, an Stelle der menschlichen Darsteller agieren. Zur Zeit der letzten Wiederholung im Jahr 2045 werden – so der Plan von Zˇivadinov – alle Schauspieler tot, nur noch der Regisseur am Leben und die Bühne voller Symbole, Rhythmen und Klänge sein – ein ideales Gesamtkunstwerk, in dem der Organisator sein Material organisiert. Dem orbitalen Zeitalter angemessen wird diese letzte Wiederholung im Zustand kollektiver Schwerelosigkeit in einem in einer geostationären Umlaufbahn angesiedelten ›Observatorium‹ 35 900 km über der Erde stattfinden. Aus der Tatsache, daß das Kollektiv seit Dezember 1999 in der Nähe von Moskau mehrere Dutzend Parabelflüge absolviert50 und der Regisseur bereits 1998 alle für die Kosmonautenausbildung notwendigen medizinischen Check-Ups erfolgreich bestanden hat51, läßt sich schließen, daß es auch hier um das Virulent-Werden am eigenen Körper, um ein radikales körperliches Nachvollziehen geht. Genauer gesagt: Das utopische Projekt eines »totalen Theaters« der Avantgarde der beginnenden 1930er Jahre wird hier – sowohl für die Teilnehmer als auch für das Publikum – zu einem klaustrophobischen, totalitären Innen zu Ende gedacht. Es handelt 48. Noordung, Hermann. Das Problem der Befahrung des Weltraums. Reprint. Wien 1993. 49. Noordung 1995-2045: Naseljena skulptura Ena proti Ena. Textbuch (dramatischer Text »Love and State/Ljubezen in Drˇzava/Ljubav i Drˇzava« von Vladimir Stojsavljevi´c). Typoskript engl./slowen. Ljubljana 1995. 50. Vgl. die Dokumentaraufnahmen des ersten Parabelfluges des Kosmokinetischen Kabinetts Noordung in der Nähe von Moskau von Michael Benson vom Dezember 1999 (Video, VHS-Kopie, 10 min.). 51. Vgl. Arns, I. »The Place where Symptoms become Real: Cosmonauts, Explosives, and Hand-Made Sausages. Impressions from Ljubljana, Slovenia, 7-12 July 1998«. Junction Skopje, selected texts from the V2_East/Syndicate mailing list 1997-98. Hg. v. Inke Arns. Skopje 1998, 145-150; sowie dies. »Free your mind and the rest will follow: intim@ and the Great Teacher Astronaut«. Leonardo Electronic Almanach. März 2000 . 155

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sich um eine Theatermaschine, die ihre Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes bewegt. Denn für das ›Observatorium‹, so schrieb Noordung 1929, ist es »vor allem wichtig, daß man ihm jede beliebige, durch die vorzunehmenden Beobachtungen bedingte Lage im Raume ohne weiteres erteilen kann.«52 Abbildung 2: Noordung Gravitacija Nicˇ (Noordung Gravity Zero), Mitte Dezember 1999, Parabelflug in der Nähe von Moskau

Quelle: Miha Fras

Das Theater der gelehrigen Körper Schon die Performances der 1980er Jahre, die das Kollektiv noch unter dem Namen Gledalisˇcˇe Sester Scipion Nasice und seit 1987 als Kozmokineticˇno Gledalisˇcˇe Rdecˇi Pilot durchführte, verwiesen in ihrer spezifischen ›Bearbeitung‹ des Publikums auf einen totalen Kontrollanspruch des Regisseurs. Dies zeigte sich u. a. in der Übernahme der von Vsevolod Mejer52. Noordung (Anm. 47), 144 f. Die Raumwarte sollte aus drei einzelnen Objekten bestehen: dem ›Wohnrad‹, in welchem »durch Rotation künstlicher Schwerezustand aufrechterhalten wird«, dem ›Observatorium‹ und dem ›Maschinenhaus‹, die »beide unter Beibehaltung ihres schwerelosen Zustandes, nur ihren besonderen Zwecken gemäß eingerichtet sind, dafür aber auch nur vorübergehend, der gerade diensttuenden Bemannung während der Verrichtung ihrer Arbeiten zum Aufenthalt dienen« (Noordung [Anm. 47], 135). 156

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chol’d Anfang der 1920er Jahre entwickelten Methode der biomechanika, die von den Schauspielern verlangt, für jeden psychischen Zustand eine körperlich-gestische Entsprechung zu finden, durch deren Einsatz beim Publikum wiederum ein bestimmter Gefühlszustand ausgelöst werden sollte. Vsevolod Mejerchol’d – so Richard Stites – »employed in his theater both the Constructivist art of machine-like settings and Constructivist gesture which he called Biomechanics (biomechanika) or the mechanics of the human body, a term borrowed from Gastev […] and Taylorism. Meyerhold’s regime was [similar] to that of Gastev: alertness, rhythmic motion, scientific control over the body, […] in short ›organized movement‹ designed to create the ›new high-velocity man‹«. 53 Neben der Übernahme dieser Methode begannen die Performances des Theaterkollektivs auch lange vor Beginn der eigentlichen Vorstellungen, ähnlich der Mejerchol’dschen Dirigierung des Publikums, die bereits im Foyer des Theaters einsetzte: Auch »Meyerhold […] had his audiences march around the foyer before assaulting them inside the theater with his Gesamtkunstwerk of movement and kinetic power.«54 Zur ersten Performance des Theaters der Schwestern Scipion Nasicas, dem Retrogardisticˇni Dogodek Hinkemann im Januar 1984 mußte sich das ausgewählte 40-köpfige Publikum zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem Ort einfinden, um von dort von verschiedenen Boten durch den Stadtraum zum Ort der Aufführung geleitet zu werden. Während des Retrogardisticˇni Dogodek Marija Nablocka im Mai 1985 saßen die 27 eingeladenen Zuschauer in einer speziell konstruierten Bühne, aus der nur ihre Köpfe herausschauten, während auf der Bühne, also um ihre Köpfe herum, die Performance ablief. Die sichere Distanz zwischen Publikum und Schauspielern wurde aufgehoben und beide in eine unerträgliche Nähe zueinander gebracht: »The TSSN [Theater of the Sisters of Scipion Nasica] staged before an audience a play in which it participated physically and not only spiritually and from a safe distance […] the spectator and the actor are both placed under observation. The spectator must really play it cool, freeze his feelings and rein in his fears. […] Each spectator sits below the scene, or, more exactly, in it, on a seat determined beforehand. He sees with his eyes and feels with his face, actually touching the actors, feeling their breathing and the strain of their bodies, smelling their sweat and his own. This is Antonin Artaud’s theater of cruelty pushed to the utter limit.«55 53. Stites, Richard. Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. New York 1989, 160 f. 54. Ebd., 161. 55. Erjave´c, Alesˇ u. Grˇzini´c, Marina. Ljubljana, Ljubljana. The Eighties in Slovene Art and Culture. Ljubljana 1991, 109 f. 157

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In dem 1993 uraufgeführten Noordung Gebetsmaschine (Molitveni Stroj Noordung) plazierte Zˇivadinov einen Teil des Publikums – die ›topischen‹ Zuschauer – wiederum in einer speziell dafür angefertigten Bühne, so daß nur noch ihre Köpfe aus der Bühnenebene herausguckten, die Schauspieler also zwischen und über den zu Bühnenelementen gewordenen rasterartig angeordneten Köpfen agierten: »The heads of the collective, but separated, audience are on ground level, able to look up into the space of the theatrical action […]. The actor-astronauts […] perform above the ›spectators‹ normal horizontal/perspectival vision. Judging from the exact geometric, gridlike configuration of the audience capsules, one might also think of the dancers as moving, à pointe, above the collectivized and controlled order.«56 Dem anderen Teil des Publikums – den a- oder u-topischen Beobachtern – erlaubt Zˇivadinov, ausgestattet mit Ferngläsern, den ›Rückzug‹ in den klassischen Zuschauerraum.57 Utopisch deshalb, weil ihnen natürlich im Zˇivadinovschen Gesamtprogramm keine Metaposition gewährt werden kann: Auch sie werden zu einem Teil der Aufführung, indem sie vom Regisseur durch Hochhalten von Schrifttafeln zu angemessenem Verhalten aufgefordert werden (»Applaus«, »tosender Applaus«, »Begeisterung« etc.). Hier kommen nun mit der spezifischen Bearbeitung der Zuschauerkörper (Dirigierung, Plazierung in einer zellenförmigen Struktur) und mit der Thematisierung der Spaltung von Sehen/Gesehenwerden die Foucaultschen Kategorien der »gelehrigen Körper«58, der Parzellierung des Kollektivkörpers und des »Panoptismus« ins Spiel. Wie Foucault beschrieben hat, entwickelte die Disziplinargesellschaft zur Nützlichmachung der Körper bestimmte Methoden bzw. ›Disziplinen‹, die sich einer »durchgängigen Zwangsausübung« bedienen, »die über die Vorgänge der Tätigkeit genauer wacht als über das Ergebnis und die Zeit, den Raum, die Bewegungen bis ins kleinste codiert.«59 Zur »Verteilung der Individu-

56. Birringer, Johannes. »The Utopia of Postutopia«. Theatre Topics, 6:2, 1996, 143-166 , hier 146149. 57. Die Unterscheidung zwischen topischen Zuschauern und a- bzw. utopischen Betrachtern übernehme ich von Hrvatin, Emil. »The Body that Looks and the Eye that does not see«. , o. J. 58. »Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann« (Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M. 1994, 175). 59. Ebd., 175. 158

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Abbildung 3: Molitveni Stroj Noordung (Noordung Prayer Machine), 1993/1994 (Ein Teil des Publikums wird in der Bühne plaziert, so daß nur noch die Köpfe herausschauen.)

Bühnenbild: Vadim Fishkin Photo: Zlatko Dermlcek

Abbildung 4: Konstruktionszeichnung für die Bühne von Molitveni Stroj Noordung (Noordung Prayer Machine), 1993/1994

Bühnenbild/Zeichnung: Vadim Fishkin

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en im Raum«60 finden folgende Techniken Anwendung (diese, wie auch die Techniken zur Entwicklung strikter Zeit- und Bewegungsregimes lassen sich mehr oder weniger stark ausgeprägt bei Zˇivadinov wiederfinden): Zunächst erfolgt eine »bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten«: die Klausur. Foucaults Einschließungen Kolleg, Kloster, Internat, Kaserne, Manufaktur und Fabrik entsprechen bei Zˇivadinov die abgeschlossenen Räume von Privatwohnungen, Theaterräumen (in Theaterräumen) und einer Raumwarte (»Observatorium«). Die Ein- bzw. Abschließung ist jedoch in den Disziplinarapparaten, so Foucault, »weder durchgängig noch unverzichtbar noch hinreichend.«61 Hinzu kommt, zweitens, das Element der Parzellierung: »Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum. Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einnistungen sollen zerstreut, massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden. Der Disziplinarraum hat die Tendenz, sich in ebensoviele Parzellen zu unterteilen, wie Körper oder Elemente aufzuteilen sind. Es geht gegen die ungewissen Verteilungen, gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung: eine Antidesertions-, Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktik.«62 Der Raum der Disziplinen ist, so Foucault, »im Grunde immer zellenförmig.«63 Die in Überwachen und Strafen publizierte Abbildung eines Vortrages über die »schlimmen Folgen des Alkoholismus« im Hörsaal des Gefängnisses von Fresnes zeigt die Gefangenen in kleinen, voneinander abgetrennten Boxen, die nur den Blick nach vorn erlauben. Die Parallele zu Zˇivadinovs Fixierung, Parzellierung und Ausrichtung des Zuschauerkollektivs ist erstaunlich.64 Auf die Parzellierung folgt nach Foucault, drittens, die Zuweisung von Funktionsstellen. Und viertens ist die Disziplin schließlich die »Kunst des Ranges« und die »Technik der Transformation von Anordnungen«: In der Disziplin »sind die Elemente austauschbar, da sie sich durch ihren Platz in der Reihe und durch ihren Abstand voneinander bestimmen.« Der Rang ist »der Platz in einer Klassifizierung, der Kreuzungspunkt zwischen einer Linie und einer Kolonne, das Intervall in einer Reihe von Intervallen.« Die Disziplin »individualisiert« die Körper auf dieser Stufe »durch eine Lokalisierung, die sie nicht verwurzelt, sondern in einem Netz von Relationen verteilt und zirkulieren läßt.«65 60. 61. 62. 63. 64. 65.

Ebd., 181. Ebd., 183. Ebd., 183. Ebd., 184. Ich danke Bojana Peji´c (Berlin) für diesen Hinweis. Alle Zitate in diesem Absatz Foucault (Anm. 57), 187. 160

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Letztendlich ist also, so können wir mit Foucault sagen, die »erste große Operation der Disziplin […] die Errichtung von ›lebenden Tableaus‹, die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen.«66 Für Foucault wird daher das Benthamsche Panopticon auch zum Modell für die Disziplinargesellschaft. In der panoptischen Gefängnisanlage ist »[j]eder Käfig […] ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar«67 – dies erinnert frappierend an die Toneinspielung eines Filmzitates in Gebetsmaschine Noordung (1993): »vous êtes totalement seules«. »Jeder ist an seinem Platz sicher in eine Zelle eingesperrt, wo er dem Blick des Aufsehers ausgesetzt ist; aber die seitlichen Mauern hindern ihn daran, mit seinen Gefährten in Kontakt zu treten. Er wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist Objekt einer Information, niemals Subjekt einer Kommunikation. […] Die dicht gedrängte Masse, die vielfältigen Austausch mit sich bringt und die Individualitäten verschmilzt, dieser Kollektiv-Effekt wird durch eine Sammlung von getrennten Individuen ersetzt. Vom Standpunkt des Aufsehers aus handelt es sich um eine abzählbare und kontrollierbare Vielfalt; vom Standpunkt der Gefangenen aus um eine erzwungene und beobachtete Einsamkeit.« 68 Das Panopticon ist »eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden.«69 Die Hauptwirkung des Panopticon besteht in der »Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt«70, denn die Erzeugung des Gefühls ständiger Überwachung »vermag [die] tatsächliche Ausübung [der Macht] überflüssig zu machen.«71 Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, »übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird 66. Ebd., 190. 67. Ebd., 257. 68. Ebd., 258. Alle Formen horizontaler Verbindung müssen unterdrückt werden. Darum, so Foucault, »treffen die Disziplinen die Vorkehrungen der Scheidewand und der Vertikalität; darum installieren sie zwischen den verschiedenen Elementen einer Ebene möglichst dichte Abschottungen; darum spannen sie enge Netze straffer Hierarchie: der inneren Widerstandskraft der Vielfältigkeit setzen sie das Verfahren der stetigen und individualisierenden Pyramide entgegen« (ebd., 282). 69. Ebd., 259. 70. Ebd., 258. 71. Ebd., 258. 161

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zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.«72 Und wie um auf Zˇivadinovs Behandlung des Zuschauerkörpers, bzw. den potentiell totalitären Effekt des Niederreißens der ›Rampe‹ zwischen Zuschauerraum und Bühne anzuspielen, schließt Foucault: »Wir sind nicht auf der Bühne und nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selbst in Gang halten – jeder ein Rädchen.« 73

Das Observatorium als orbitales Panopticon Für die Premiere der ›Kosmistischen Aktion‹ Noordung 1995 – 2045 1995 im Mladinsko Gledalisˇcˇe in Ljubljana wurde ein spezieller, zweiteiliger Zuschauerraum gebaut. Er bestand aus einem für die Gruppe typischen Bodengestell, in das diesmal jedoch keine Zuschauer plaziert wurden, sondern das nur den SchauspielerInnen als ›Bühne‹ diente, auf bzw. unter der sie sich bewegten, sowie aus einer sich hoch über dieser Bodenkonstruktion erhebenden halbkugelförmigen mehrgeschossigen Kuppel, in der die Beobachter mit dem Kopf ins Innere der Kuppel ausgerichtet in liegender Position Platz nahmen und den Blick über die Bodenkante nach unten auf die Bodenkonstruktion, auf die Köpfe der SchauspielerInnen, richteten. Diese Kuppel, die an die oberste Etage von Vladimir Tatlins Monument für die III. Internationale (1921) erinnert74, stellt gleichzeitig das Innere des Noordungschen Observatoriums dar und ähnelt im Grundriß einer von Bentham beschriebenen panoptischen Anlage. Die liegende Stellung der Zuschauer und der daraus folgende senkrechte Blick nach unten ermöglichen eine scheinbar der Schwerkraft entzogene Wahrnehmung. In einem vom Kozmokineticˇni Kabinet Noordung avisierten zukünftigen Weltraumtheater wird das Publikum seinen Blick auf die ›Bühne‹ wahrscheinlich noch in einem rechten Winkel zum Körper werfen – dieser muß jedoch nicht mehr notwendig nach unten gerichtet sein. Außerdem wird die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum insofern aufgehoben, als sich sowohl Schauspieler als auch das Publikum im Observatorium in der Schwerelosigkeit befinden werden. Birringer schreibt:

72. Ebd., 260. 73. Ebd., 279. 74. Tatlins (modellgebliebenes) Monument für die III. Internationale bestand aus einer Zusammensetzung unterschiedlicher, in eine Spiralkonstruktion eingehängter und um ihre eigene Achse rotierender Formen: einem Quader, einer Pyramide und einer kleinen Kuppel, die einen Radiosender beherbergen sollte. Die Noordungsche Kuppel ist auch Teil des räumlichen Modells des NSK Staates: hier stellt sie eine abnehmbar mobile Kuppel dar, die über dem Staat Generator angebracht ist. Vgl. das Raummodell unter . 162

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»[…] Zˇivadinov becomes an engineer who constructs a new videodrome-theatre in which the audience will turn around its own axis, learning a new ›circumvision.‹ The theatre spaceship as Gesamtkunstwerk […] is a crazed utopian model for an extraterritorial, orbital culture. Zivadinov’s actors unavoidably become ›aliens‹ themselves, following exactly the logic of what Slavoj Zˇiˇzek has called the ›impossible choice‹, the logic of a pragmatic paradox. The same logic is at work in the spaceship itself: it is a theatre that literally moves its audience. It will produce a visceral-emotional alienation affect.«75 Abbildung 5: Konstruktionszeichnung für die speziell angefertigte (Zuschauer-)Kuppel für Noordung (1995)

Zeichnung: Vadim Fishkin

Zˇivadinov bearbeitet den kollektiven Körper der Zuschauer und der Akteure durch seine konsequente Unterwerfung unter die von Foucault beschriebenen Techniken zur Verteilung der Individuen im Raum (Einschließung, Parzellierung, Funktionalisierung) und zur Ordnung in der Zeit (vgl. die vertraglich besiegelte Verpflichtung der Tänzer/Schauspieler, bis zu ihrem Tod an den Wiederholungen des Stückes teilzunehmen). In der letzten Wiederholung von Noordung 1995-2045 kulminiert im Jahr 2045 das, was sich bereits in den 1980er Jahren in den Projekten des Gledalisˇcˇe Sester Scipion Nasice und des Kozmokineticˇno Gledalisˇcˇe Rdecˇi Pilot als ›totale Inanspruchnahme‹ des Publikums und der Akteure angekündigt hatte. Indem das Kosmokinetische Kabinett Noordung Pu75. Birringer (Anm. 55), 156. Er bezieht sich auf Zˇiˇzek, Slavoj. Tarrying with the Negative. Durham 1993, 237. 163

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blikum und Akteure nicht nur symbolisch, sondern real in ein sich um seine eigene Achse drehendes, orbitales Theater (›Observatorium‹) in eine 35 900 km hohen Erdumlaufbahn bringt, geht Zˇivadinov jedoch hinsichtlich der Techniken zur Organisation des Raumes und der Zeit deutlich über Foucault hinaus: Mit der Ausweitung auf den Weltraum und in die Zukunft lassen sich Ausdehnungstendenzen erkennen, die im orbitalen Panopticon ihre konsequente Zuspitzung erfahren (bezeichnenderweise beobachtet das von Noordung eigentlich für die Weltraumobservation entwickelte ›Observatorium‹ dann weniger das Außen, als das eigene Innere). Dementsprechend fühlt sich Birringer »increasingly uncomfortable with the total control that his theatre architectonic exerts over the audience on both sides, topical and u-topical. The overcoming of the stage/audience separation in the projected rotational or orbital wheel could also be seen as the suffocating experience of being taken hostage by a master-director; his plans for the 1995-2045 project are radically exclusionary (with indoctrinating overtones), since it is apparently designed for an audience of young Slovene school children who will be the only spectator-observers of this opus for the next fifty years.«76 Die in den früheren Aufführungen ansatzweise vollzogene Aufhebung der Trennung von Akteuren (Bühne) und Publikum (Zuschauerraum) wird in der kollektiven Schwerelosigkeit schließlich total. Die Einlösung des utopischen Anspruchs mündet jedoch nicht in Freiheit, sondern schlägt hier unvermittelt in eine unerträgliche, weil totale/totalitäre Kontrolle des Raumes und der Körper durch den ›Großen Lehrer-Astronauten‹ Zˇivadinov um. Das Gesamtkunstwerk wird auch in ganz banaler Weise zu einem klaustrophobischen, totalitären Innen: man kann sich diesem nicht entziehen, man kann nicht einfach aussteigen, denn draußen herrscht ein tödliches Vakuum.

76. Birringer (Anm. 55), 150. 164

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BODY: RECOGNIZABLE/UNRECOGNIZABLE

Body: recognizable/unrecognizable. Über das Stück Körper von Sasha Waltz Judith Butler

Ich möchte damit beginnen, über die Bedingungen unseres Gesprächs nachzudenken, eines Gesprächs über Körper, darüber, ob Körper als solche erkannt und anerkannt werden, und an welchem Punkt und unter welchen Umständen sie nicht als Körper wahrgenommen werden. Wir sprechen, aber wir sprechen über Körper und dies stellt bereits ein Paradox dar. Wir können es nicht durch unser Sprechen darüber auflösen. Denn wir sprechen, sitzend jedoch. So stellen wir uns bis zu einem gewissen Grad still, machen uns unbeweglich, um zu sprechen. Wir zeigen uns, aber wir bewegen uns nicht miteinander. Wir sprechen miteinander. Was ist dieses Sprechen? Stellt es auch eine Bewegung des Körpers dar? Und ist dieses Sprechen miteinander eine Art und Weise des Sich-miteinander-Bewegens? Wenn dies so ist, gelingt uns die gemeinsame Bewegung? Sollte das möglich sein? Es gibt einige Momente in Körper, in denen gesprochen wird, in denen Sprechen stattfindet. Es gibt Beschreibungen des Körpers, die nicht mit dem sprechenden Körper übereinstimmen. Und es gibt einen Demonstrationsmarsch: Leute bewegen sich miteinander und sagen »nein«. Sie wiederholen dieses »nein« und inszenieren es. Im Moment des gemeinsamen Marsches und des Nein-Sagens ist das Sprechen ein körperliches Tun, ein Tun im Einklang, und dennoch entspricht das Sprechen nicht ganz dem sich bewegenden Körper, es stimmt mit ihm nicht überein. Zwischen den gesprochenen Worten und der Bewegung entfaltet sich eine gewisse Dissonanz, denn einerseits stellt das Sprechen eine Art Bewegung dar, andererseits ist Bewegung nicht das gleiche wie Sprechen. Bewegung geht über das Sprechen hinaus und wendet sich zuweilen gegen das Sprechen. Wenn wir sprechen, dann ordnen wir die Bewegung dem Sprechen unter und stellen den Körper still, um zu sprechen. Und weil wir uns nicht bewegen, scheint es, als wäre der Körper aus dem Spiel genommen, damit gesprochen werden kann. Das setzt voraus, daß der 165

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Körper einem Sprechen untergeordnet werden muß, damit es eine gewisse Art der Bedeutung, des Erkennens und des Wissens geben kann. Dieses Sprechen gibt dabei für einen Augenblick vor, keine Bewegung des Körpers zu sein. In diesem Falle wäre Sprechen die Bewegung eines Körpers, der so tut, als ob das Sprechen keine Bewegung sei. Was geschieht jedoch mit dieser Relation von Sprechen und Körper in Sasha Waltz’ Körper? Es gibt mindestens zwei Stellen, an denen der Körper beschrieben wird, an denen Körperteile aufgeführt werden. Der Tänzer, die Tänzerin zeigen auf ihren Körper. Sie zeigen auf den scheinbar ›falschen‹ Ort. Beispielsweise wird die Narbe unter dem Ohr auf dem Kopf identifiziert und der Mund auf der Seite des Bauches. In diesem Fall geht es nicht nur um Sprache, sondern um Benennen. Können wir unsere Körper benennen? Oder schießen unsere Bemühungen des Benennens immer irgendwie am Ziel vorbei? Auch wenn das Sprechen und das Benennen eine Bewegung des Körpers darstellen, ist dies eine Bewegung, die nicht immer, oder vielmehr nie in Übereinstimmung mit dem Körper ist? Es gibt eine Reihe von Bemühungen in diesem Tanzstück, Kontrolle über den Körper auszuüben, und nur eine davon hat mit Benennen zu tun. Es findet der Versuch statt zu zählen, die einzelnen Haare zu zählen, ein unmögliches und manisches Unterfangen, das letztlich nicht gelingen kann, und das so – auf paradoxe Weise – den Körper als unberechenbar, unkontrollierbar ausweist. Zugleich gibt es Bemühungen, Bewegungen, den Körper des Anderen zu fassen, zu formen, Kontrolle über einen anderen Körper zu erlangen, die Masse des Körpers, das Fleisch zu halten und den Körper durch dieses Halten, Drücken und Ziehen zu bewegen. Der andere Körper wird so zum Ausgangspunkt der eigenen Bewegung, er wird bewegt, wie Würfel geworfen, und dennoch geht die Bewegung des anderen Körpers nicht vollständig und ausschließlich aus der eigenen Handlung hervor. Es gibt Bemühungen sich miteinander zu bewegen, nicht nur um körperliche Kontrolle, sondern auch um Zugang zum Körper zu kämpfen. Und an dieser Stelle ist der Tanz sexuell und nicht sexuell. Er ist sadomasochistisch und nicht sadomasochistisch, da es eine gewisse Simulation der Choreographie des Sexuellen gibt. Aber er zeigt uns das zugrundeliegende Schema, das Skript, das Muster und verliert letztlich dabei nicht die Kontrolle. Es gibt also keine Kontrolle über den Körper, weder durch Benennen noch durch Berührung, durch Fassen, durch Drücken und Ziehen. Und zugleich gibt es keinen Kontrollverlust, es gibt keinen Moment, von dem man sagen könnte, daß eine Bewegung nicht in die Tanzsequenz hineinpaßte, oder in der die Tänzer nicht wüßten, was sie tun. Die Bedeutung von Kontrolle hat sich verändert. Hier wird der Körper nicht einer sprachlichen Handlungsinstanz oder einer stillgestellten Pose des Den166

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kens untergeordnet. Dies ist vielmehr ein Denken und eine Instanz der Handlung, die körperlich und durchdringend ist, und es ist nicht leicht sie zu erfassen, Hand an sie zu legen, sie zu erkennen und in ihrer Eigenart wahrzunehmen. Wir könnten somit dieses Tanzstück von Sasha Waltz zum Gegenstand der Frage machen, ob Körper als solche erkannt und anerkannt werden, ob sie durch Sprache erkannt und anerkannt werden, ob wir uns selbst benennen können, ob Körper wie Objekte fungieren, ob sie sich von Objekten unterscheiden und ob sie Objekte sind, die in der Täuschung existieren können. Was ist Bewegung, wenn sie nicht benannt werden kann? Was der Körper, wenn er nicht vollständig oder begriffen werden kann? Weshalb können wir den Körper nicht zur Ruhe, zum absoluten Stillstand bringen? Weshalb gibt es letztlich, außerhalb des Todes, keinen wirklichen Stillstand des Körpers? Was ist es, das der Körper immer anstellt? Ich möchte eine abschließende Bemerkung zu diesem Thema machen. Sie hat mit einem der Argumente meiner Theorie zu tun, einer Theorie, in der es um den Körper geht, die aber nicht unbedingt eine körperliche Theorie, eine im Körper begründete Theorie ist. Eine Frage, die ich stelle, ist, was heißt es für einen Körper, eine Angleichung an eine Norm anzustreben. Was geschieht während dieses Prozesses, welcher Körper vollzieht diese Angleichung nicht? Ich habe vorgeschlagen anzunehmen, daß die Normen, welche bestimmen, ob ein Körper als solcher wahrgenommen wird, geschlechtsspezifische sind. Jedoch gibt es noch andere Normen: Normen der Zweigeschlechtlichkeit, Normen der körperlichen Unversehrtheit. Und manchmal begegnen wir im Alltag Körpern, die in keine verfügbare Kategorie passen, und solche Begegnungen sind vielfach von einer besonderen Art von Angst und Panik begleitet. Die Panik hat damit zu tun, daß wir nicht wissen, welche Beziehung wir zu diesem anderen Körper eingehen sollen, oder wie wir unsere Nähe verhandeln sollen. Für einen Moment geht eine uns gemeinsame Prämisse verloren, nämlich die, daß es einen mit sich selbst identischen Körper gibt. Dies sind auch von Normen bestimmte Momente, Normen des Geschlechts, der körperlichen Ganzheit, Normen, die grundlegend die Möglichkeit des Erkennens und der Anerkennung von Körpern bestimmen. Wenn ich nicht einen anderen Körper als solchen erkennen kann, wenn ein anderer Körper nicht ganz der Norm entspricht, kann ich mich dann selbst erkennen? Bin auch ich jemand, der für andere nicht vollständig, leicht erkennbar ist? Befinde ich mich außerhalb der Kategorien durch die nicht nur Körper als solche wahrgenommen werden, sondern durch die auch ich als Mensch erkannt und anerkannt werde? Was sind die Normen, die stillschweigend und machtvoll unser Verständnis davon bestimmen, was als Mensch gilt, wie der Körper beschaffen sein muß, so daß 167

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durch ihn ein Gefühl des Menschlichen erweckt wird? Und wodurch lassen sich diese Normen in Frage stellen? Meine Absicht war auch zu zeigen, daß es niemanden gibt, der wirklich dieser Norm entsprechen kann. Zwar können wir von manchen Menschen denken, daß sie außerhalb der Norm angesiedelt sind, jedoch welcher Mensch verkörpert wirklich die Norm, die Norm des Geschlechts, zum Beispiel? Wenn die Norm immer schon ein Ideal darstellt, einen unmöglichen Begriff, dann verkörpert sie letztlich keiner. Aber alle befinden wir uns in einer Beziehung zu ihm. In einer Beziehung zur Norm zu stehen, heißt ihr gleichzeitig nahe und fern zu sein. Nimmt die Norm uns letztlich in Besitz? Oder erscheint sie in dem Moment, wenn wir gegen sie arbeiten? Als die Norm des In-die-Welt-Geworfenseins, der wir ausgeliefert sind? Ist sie da, an dem Ort, an dem wir begriffen werden und selbst begreifen, wenn wir bewegt sind und uns bewegen? Und wenn es die Norm gibt, wenn es das Geschlecht gibt, den Begriff und das Gefühl, eine Frau oder ein Mann zu sein, oder keines von beiden, oder in gewissem Sinne beides zu sein, befinden wir uns dann nicht in einem gewissen körperlichen Sinne stets in einer bestimmten Distanz zur Norm, und können somit nicht von ihr in Besitz genommen werden? Und werden wir in diesem Sinne uneinortbar, unerkennbar, nicht wahrnehmbar durch bestehende Kategorien? Zweifelsohne beklagen wir uns zuweilen darüber, nicht wahrgenommen zu werden. Wir fordern, politisch und juristisch wahrgenommen und anerkannt zu werden. Das ist eine politische Zielsetzung. Aber worin besteht das kritische Potential des sich der Wahrnehmung, der Erkennung und Anerkennung Entziehenden? Wollen wir eigentlich wirklich immer das, was sich der Wahrnehmung und Anerkennung entzieht, in etwas überführen, was sich wahrnehmen, erkennen und anerkennen läßt? Es gibt sicher Zeiten, in denen wir genau dies wollen, und aus guten politischen Gründen. Aber vielleicht sollten wir auch aus ebenso guten politischen Gründen eine kritische Perspektive auf die Frage offenhalten, mittels welcher Normen Körper wahrnehmbar, erkennbar und anerkennenswürdig werden, und welche Normen uns davon abhalten. Denn erst wenn wir erkennen, daß wir nicht gänzlich von Normen kontrolliert werden, werden wir auf eine paradoxe Art und Weise frei dafür, an ihrer radikalen Dekonstruktion und Umwandlung mitzuwirken. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elke Heckner

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DIE PERFORMANZ DER SCHWEIGENDEN MASSE

Die Performanz der schweigenden Masse. Zur Kollektivität der Zuschauenden in Theatersituationen 1 Claudia Benthien

Der passive Zuschauer Das rezeptive Schweigen der Zuschauer gilt als ontologisches Charakteristikum einer Theatersituation.2 Doch faktisch ist es ein relativ neues Phänomen in der Geschichte des europäischen Theaters – eine Konvention, die sich erst im 18. Jahrhundert langsam durchzusetzen begann,

1. Für Hinweise und Anregungen zu diesem Beitrag danke ich Natascha Adamowski, Kattrin Deufert, Doris Kolesch und Sylvia Sasse. 2. Der Text wäre eigentlich mit jener ›Regieanweisung‹ zu beginnen, die ich mir für den Vortrag am 8. Juni 2001 an der Schaubühne selbst auferlegt hatte: auf der ersten Textseite, ebenso wie am Ende des Vortrags hatte ich notiert: »6 Atemzüge Stille«. Diese Stille, bei der ich mich bemühte, das sitzende Publikum von der leeren Bühne aus, auf der ich stand, offensiv anzuschauen, war mehr als nur ein Mittel zur Erheischung von Aufmerksamkeit oder zur Erzeugung von Ruhe: Der Vortrag sprach nur so von sich, von dem, was zeitgleich im Saal geschah. Der nach dieser kollektiven Stille gesagte erste Satz über »das rezeptive Schweigen der Zuschauer« verwies so nicht auf irgendeine, abstrakte »Geschichte des europäischen Theaters«, sondern auch auf die konkrete Situation dieser ungewöhnlichen Konferenz, die als Ort ein Theater gewählt hatte. Und mit der gemeinsamen Stille nach dem Vortrag, gefolgt von meinem »Vielen Dank!« – was zum Applaus und zur Aufhebung der Vortragssituation führte – habe ich mich entsprechend nicht nur für das Zuhören bedankt, sondern explizit für den Augenblick danach, für das Schweigen. Die Mediendifferenz zwischen der life-Situation und Mündlichkeit eines Vortrags gegenüber der ontologischen ›Stummheit‹ eines gedruckten Textes erlaubt mir lediglich diesen Metakommentar zur Erinnerung an die Performativität eines kollektiven Schweigens, das hier nicht reproduzierbar ist. 169

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CLAUDIA BENTHIEN

ebenso wie die Zuschauer schließlich nicht mehr während der Vorstellung aßen, tranken, sich unterhielten oder im Parkett umherliefen. Das Stummbleiben, das nach vorn ausgerichtete ruhige Sitzen in regelmäßig angeordneten Stuhlreihen und die Dunkelheit des Zuschauerraums gelten bis heute als die drei wesentlichen Eigenschaften der Theatersituation jenseits der Bühne – auch wenn dieses Modell im Rahmen des durch die Theateravantgarden und die Entstehung der Performance-Kunst im 20. Jahrhundert initiierten Übergang »von der internen zur externen theatralen Kommunikation«3 bereits in Frage gestellt wurde. Als sich im 17. Jahrhundert das Theater als architektonischer Innenraum – als Logentheater mit Guckkastenbühne und zentralperspektivischem Bühnenbild – etablierte, standen die Zuschauer im Parkett oder saßen an Tischen gruppiert. Das Theater war ein geselliges Ereignis, es wurde von einem höfischen Publikum frequentiert, bei dem die Repräsentation, das Sehen und Gesehenwerden, eine wichtige Rolle inne hatte. Erst langsam entwickelte sich das bürgerliche Theater in einem komplexen Wandlungsprozeß, der bis weit ins 19. Jahrhundert hineinreichte (und der für die Entwicklung einer ›neuen Innerlichkeit‹ und bürgerlichen Subjektivität mentalitätshistorisch signifikant war). Dieses Theater diente nun der Bildung und Unterhaltung eines breiten, zunehmend anonymen Publikums, es wurde zur »Abenduniversität des Bürgers«4, bis es diese Leitfunktion – zumindest was den Aspekt der Unterhaltung angeht – im 20. Jahrhundert schließlich an das Kino abgeben mußte und fortan auf ein eher begrenzteres Publikum beschränkt blieb. Die Entwicklung »von der Schaubühne zur Sittenschule«, wie Roland Dressler sie ausführlich darstellt, ging einher mit der sukzessiven Beruhigung und passiven Stillstellung des Publikums. Die Bestuhlung des Parketts hatte einen wichtigen Anteil am »Gefügigmachen«5 der großen Personenschar, die sich zuvor frei im Zuschauerraum bewegen konnte. Ein wesentliches Element der neuen Raumordnung war auch die Verdunkelung. Seit dem 16. Jahrhundert, jenem Zeitpunkt, wo Theateraufführungen vom Tageslicht-Schauplatz in geschlossene Säle verlegt wurden, verwendete man Kronleuchter, die Bühne und Zuschauerraum gleichmäßig erhellten. Bereits die Einführung des Gaslichts veränderte diese Situation, indem nunmehr eine Lampenreihe an der Rampe die Bühne gesondert bestrahlte. Erst der Einsatz von elektrischem Licht aber erlaubte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die vollständige Verdunkelung des Zu3. Fischer-Lichte, Erika. Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen 1997, 11. 4. Dreßler, Roland. Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Publikum vor der vierten Wand. Berlin 1993, 9. 5. Ebd., 100. 170

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schauerraums und die deutliche Hervorhebung und Akzentuierung der Bühne durch differenzierte Beleuchtungstechniken.6 Die physische Präsenz der Zuschauer wurde akustisch und visuell eliminiert – Herbert Blau spricht daher zurecht vom (modernen) Theaterpublikum als »the most conceiled object«7. Der Zuschauer, der sich nun in Schweigen und in Dunkelheit hüllt, wie in einen Kokon, erlebt das Theater fortan in einer passiven, quasi sakralen Rezeptionshaltung und in voyeuristischer Positionierung – wortwörtlich als eine Art ›Peep-Show‹. Der Bühnenraum wird zum Bewußtseinstheater; man nimmt die anderen Zuschauer möglichst wenig wahr und setzt sich in ein beobachtendes, doch gleichermaßen inniges, da ›privates‹ Verhältnis zum Dargebotenen. Ein wichtiges Element dieser Theatersituation ist zudem die Konvention der vierten Wand als einer ästhetischen Grenze zwischen den beiden Raumzonen, wonach die Darsteller spielen, ohne das Publikum zu beachten und die Zuschauer ihrerseits den vermeintlich unbeobachteten, intim miteinander agierenden Darstellern ›heimlich‹ zusehen: »So wenig die dramatische Replik Aussage des Autors ist, so wenig ist sie Anrede an den Zuschauer. Dieser wohnt vielmehr der dramatischen Aussprache bei: schweigend, mit zurückgebundenen Händen, gelähmt vom Eindruck einer zweiten Welt.«8

Die Entdeckung der »Zuschaukunst« Die oben skizzierte Situation wurde von der Theateravantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisch analysiert. So bezeichnet Alfred Roller die spezifische Aufgabenteilung zwischen Schauspielern und Publikum als die »Zweifaltigkeit des Theaters«9; deren Imperativ lautet: »Der Darsteller hat zu spielen, der Zuschauer hat zu schweigen.«10 Bertolt Brecht spricht vom »Schauen und Hören« des Publikums als »Tätigkeiten«; er kreiert den Begriff der »Zuschaukunst«, als einer Fähigkeit, die »erst gelernt, ausgebildet, dann im Theater ständig geübt werden muß.«11 Bereits Richard Wagner bezeichnet den Zuschauer als »organisch mitwirkenden 6. Vgl. Birr, Horst. »Bühnenbeleuchtung«. Theaterlexikon. Begriff und Epochen, Bühnen und Ensembles. Hg. v. Manfred Brauneck u. Gérard Schneilin. Reinbek 31992, 173-76. 7. Blau, Herbert. The Audience. Baltimore 1990, 50 ff. 8. Szondi, Peter. Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a.M. 1963, 15 f. 9. Roller, Alfred. »Das Theater ist zweiern« [publ. 1928]. Zit. n. Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. Christopher Balme u. Klaus Lazarowicz. Stuttgart 1991, 487. 10. Ebd. 11. Brecht, Bertolt. »Über das Theater der Chinesen« [entst. 1935 u. 1941]; »Kleines Organon für das Theater« [entst. 1948]. Zit. n. Balme/Lazarowicz (Anm. 9), 490 f. 171

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Zeugen«12, Vsevolod Mejerchol’d erklärt ihn – neben Autor, Schauspieler und Regisseur – gar zum »vierte[n] Schöpfer.«13 Margret Dietrich zufolge ist »bereits die Präsenz des Zuschauers eine Art Aktivität, die durch die ›Erwartungshaltung‹ […] gestützt wird und ihre Wirkungen auf der Bühne unmittelbar spürbar werden läßt.«14 Die neu entstehende Theorie des Zuschauers faßt den Akt der Perzeption zunehmend als Handlung und Tätigkeit. So kann man mit Blick auf die longue dureé sagen: je physisch inaktiver und ruhiger das Publikum gestellt wurde, desto mehr wurde es – paradoxerweise – als aktiver Handlungsträger konzipiert. Erika Fischer-Lichte hat die »Entdeckung des Zuschauers« im 20. Jahrhundert als »Paradigmenwechsel« bezeichnet und sie anhand neuer Strategien der Avantgardebewegungen dargestellt. Diese zeichnen sich u. a. durch die Erschließung und Konzeption neuer Bühnen- und Zuschauerräume aus, sowie durch einen veränderten Modus der Zeichenverwendung, welcher »die pragmatische Ebene dominant setzt« und so den ästhetischen Schein tendenziell zu durchbrechen sucht.15 Die Neuorientierung führt dazu, sich auch in der Theaterwissenschaft bzw. den performance studies nicht länger nur dem Geschehen auf der Bühne zuzuwenden: »It is only recently that the field has given sharper attention […] to the affective and ideological consequences of performance events.«16 Im Kontext dieses veränderten Forschungsinteresses verlagert sich der Fokus jetzt auch vom Primat der intellektuellen Partizipation der Zuschauer – wie sie in den oben zusammengetragenen historischen Zitaten noch wesentlich dominant ist – hin zum konkreten physischen Akt des Zuschauens und Zuhörens. Margit Proske, die eine erste Arbeit zur Phänomenologie des »Zuschaukörpers«17 vorlegte, geht dabei zunächst vom Einzelkörper eines 12. Wagner, Richard. »Oper und Drama« [publ. 1851], zit. n. Fischer-Lichte (Anm. 3), 10, Fußnote 5. 13. Meyerhold, Wsewolod. »Der Zuschauer als ›vierter Schöpfer‹« [publ. 1908]. Zit. n. Balme/Lazarowicz (Anm. 9), 476. 14. Dietrich, Margret »Der Schauspieler und das Publikum« [publ. 1964]. Zit. n. Balme/ Lazarowicz (Anm. 9), 503. 15. Fischer-Lichte (Anm. 3), 33. 16. Phelan, Peggy. »Introduction: The Ends of Performance«. The Ends of Performance. Hg. v. ders. u. Jill Lane. New York 1998, 1-22, hier 7. 17. »Der Zuschaukörper erlebt das Theaterereignis, er läßt sich berühren, fesseln, vielleicht sogar überwältigen, er ist gefühlsbetont, gilt als einfach oder naiv, er neigt zur Sprachfaulheit und manchmal auch zur Sprachlosigkeit. Der Erlebende ist mit seinem Körper beteiligt, ich halte ihn für genußsüchtig, im besten Fall verläßt der Mensch, der sich diesem, seinem Zuschaukörper weitestgehend überlassen hat, erfüllt, zufrieden und vitalisiert das Theater. Kurz, dieser Zuschaukörper gehört in den konkreten Raum 172

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Zuschauers aus. Doch ist dieser Ansatz gerade für die Situation des Theaters als eines life-Mediums auszuweiten auf die Pluralität von Körpern. Denn es ist die temporäre, physisch-räumliche Gemeinschaft welche die spezifische Erfahrung dieses Mediums ausmacht. Es ist der fragile Kollektivkörper, der eine ›Theatergemeinde‹ konstituiert. Proske spricht unter Bezugnahme auf Maurice Merleau-Ponty von einer entstehenden »Sphäre des Zwischen« als »Zwischenleiblichkeit«: »Körper und ihre Zwischensphären bilden den pluralen Leib, eine mehrdimensionale Sphäre des Gemeinsamen und Kommunikativen, die mit dem einzelnen Körper wiederum in einer Relation von Figur und Grund steht. Diese Körper kooperieren und löschen sich nicht gegenseitig aus. Der einzelne Leib und der plurale Leib existieren gleichzeitig. Der plurale Leib korrespondiert meiner Meinung nach mit dem Begriff des Publikums. Äußerungen, die sich auf den gesamten Körper der anwesenden Zuschaukörper beziehen, sind Äußerungen über den pluralen Leib.«18 Die Kollektivität des Publikums einer Aufführung etabliert sich nicht nur durch die bereits beschriebene räumliche und rezeptive Gleichstellung (Schweigen, Dunkelheit, Stillsitzen), sondern wesentlich über konkrete Körperlichkeit – zum Beispiel mittels unwillkürlicher Regungen wie Atmen, Luftanhalten oder Schlucken oder auch aktiver körperlicher Akte wie das Klatschen, Trampeln oder Lachen. Dabei bilden die einzelnen Zuschauer nicht unterschiedliche ›Körperteile‹ des theatralen Gemeinschaftskörpers – wie etwa im politischen ›Volkskörper‹, wo Hirn, Herz, Gliedmaßen, innere Organe o. ä. durch verschiedene Personen oder Personengruppen repräsentiert werden –, sondern alle Körperteile der Einzelkörper werden zu je einem homogenen Hyper-Organ synthetisiert. Die sprichwörtliche Menge die ›wie mit einem einzigen Ohr‹ gebannt einer Rede lauscht oder das Publikum, das gemeinsam gespannt den ›Atem anhält‹, besitzt in solchen Momenten gleichsam ein einziges gesteigertes Wahrnehmungsorgan. Und es ist daher signifikant, wenn in der Theatertheorie durchweg von ›dem‹ Zuschauer die Rede ist. Denn der numerus singularis ist weder Versehen noch Nominalisierung, sondern spiegelt den Vorgang der Kollektivbildung, in dem aus einer Vielheit eine symbolische und auch rezeptive, physische Einheit wird. Christoph Wulf und Jörg Zirfas zufolge werden Gemeinschaften besonders durch körperlich-habituelle Rituale gebildet – und zwar durch solche, die einen Übergang in »räumlicher, zeitlicher, identifikatorischer

der Präsenz.« Proske, Margit. Das Zuschauspiel. Entwurf für ein Modell, den Körper als Prozeß zu denken. [Diss.; Masch.-Schr.]. Bochum 2001, 21. 18. Ebd., 195. 173

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oder sozialer Hinsicht« betonen.19 Zu den rituellen Handlungen, die die Theatersituation rahmen, gehören das Sich-Setzen und das Verstummen am Anfang, der intensive Augenblick des gemeinsamen Schweigens am Ende der Aufführung und der Applaus, der, wie Erving Goffman sagt, schließlich »den Schein hinwegfegt«, den »Theaterrahmen« – und damit auch die temporäre Kollektivität – wieder aufhebt.20 Der (fragilen) Kollektivität der Zuschauenden in Theatersituationen möchte ich im folgenden anhand von drei Beispielen nachgehen: Anhand einer Tanzproduktion (S von Sasha Waltz), einer SprechtheaterAufführung (Horváths Kasimir und Karoline, inszeniert von Christoph Marthaler) und einer Performance (Rhythm 0 von Marina Abramovic´). Daß die gewählten Aufführungen verschiedenen theatralen ›Gattungen‹ angehören wird in meinen Ausführungen nur am Rande mitthematisiert. Es wird aber deutlich werden, daß sich die Beispiele gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit für die jeweils zu diskutierenden Aspekte anbieten. Gemeinsames Charakteristikum aller drei Arbeiten ist es, daß sie mit Hans-Thies Lehmann »postdramatische«21 Elemente enthalten: Sie bergen in sich bereits ein Potential zur Infragestellung oder Überwindung der oben dargestellten ›klassischen‹ theatralen Kommunikationssituation. Leitfrage meiner Analyse ist, was die Kollektivität der Zuschauenden in diesen Theatersituationen entstehen läßt und was sie zerstört. Zudem interessiert mich, welche Wahrnehmungsebenen Leitfunktionen bei der Bildung von Kollektivität übernehmen. Meine These ist, daß es insbesondere akustische Elemente sind, die Kollektivität und ihr Gegenteil – die Erfahrung von Isolation und Vereinzelung – wahrnehmbar machen. 19. Wulf, Christoph u. Jörg Zirfas. »Die performative Bildung von Gemeinschaften«. Paragrana, 10.1, 2001, 93-116, hier 97. Peter Handke entblößt dieses Ritual in seiner Publikumsbeschimpfung, wo es heißt: »Sie haben die Klingelsignale gehört. Sie haben auf Uhren geschaut. Sie sind Verschwörer geworden. Sie haben Platz genommen. Sie haben um sich geschaut. Sie haben sich zurechtgesetzt. Sie haben die Klingelsignale gehört. Sie haben zu plaudern aufgehört. Sie haben die Blicke ausgerichtet. Sie haben die Gesichter gehoben. Sie haben Atem geholt. Sie haben das Licht schwinden sehen. Sie sind verstummt. Sie haben das Schließen der Türen gehört. Sie haben auf den Vorhang gestarrt. Sie haben gewartet. Sie sind starr geworden. Sie haben sich nicht mehr bewegt. Dafür hat sich der Vorhang zu bewegen begonnen. Sie haben das Schleifen des Vorhangs gehört. Er hat Ihren Blick auf die Bühne freigegeben. […]«. Handke, Peter. »Publikumsbeschimpfung«. Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Frankfurt a.M. 1966, 15-48, hier 35 f. 20. Goffman, Erving. »Der Theaterrahmen«. Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übs. v. Hermann Vetter. Frankfurt a.M. 1980, 143-175, hier 151. 21. Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. Essay. Frankfurt a.M. 1999. 174

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Sasha Waltz’ Tanzproduktion S Sasha Waltz choreographierte 2002 an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz ein Tanzstück mit dem enigmatischen Titel S. Zu Beginn dieser Aufführung kommen die Zuschauer in einen kahlen Bühnenraum, in dem sie bereits einige Tänzer vorfinden. Diese sitzen bewegungslos, abgewandt oder im rechten Winkel zur Zuschauertribüne auf Stuhlreihen, die denen auf der Tribüne gleichen. Aus der vorgängigen Anwesenheit der Darsteller – die die Situation des Zuschauens abbildet – entsteht ein ungewöhnlicher Imperativ: Das Publikum sucht sich schnell seine Plätze und beginnt, noch bevor das Licht im Zuschauerraum erlischt, unwillkürlich gänzlich zu verstummen. Abbildung 1: Sasha Waltz: »S«; Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 2000

Fotograf: Bernd Uhlig

Zu Beginn der Vorstellung wird durch die Lichtregie ein nackter männlicher Körper sichtbar, der auf dem Bühnenboden liegt: langsam, schemenhaft erscheint er aus der Dunkelheit. Leise treten einzelne Tänzer heran, knien nieder, berühren und streicheln diesen Körper, verschwinden wieder (vgl. Abb. 1). Während der ersten Minuten der Aufführung ist im Theatersaal, neben den vorsichtigen, gleichmäßigen Schritten der Darsteller, nur das leise Geräusch der Ventilatoren zu hören, ansonsten bleibt 175

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es feierlich still. Diese Stille und das gedämpfte, warme Licht erzeugen Intimität – man erlebt Momente affektiver Nähe und Zartheit, die aber nicht, wie später in der Inszenierung, durch Musik oder klangliche Elemente hinsichtlich einer bestimmten emotionalen Stimmung codiert werden. Die Szene ist ›pur‹; das Publikum kann seine Schaulust ohne Scham erleben. In die Dunkelheit und die Stille geborgen wohnt es einem Ereignis bei – und dies ist hinsichtlich aller semantischen Facetten dieses für die Theatersituation virulenten Begriffs zu verstehen: Denn ›beiwohnen‹ kann ein bloßes zufälliges Zugegensein meinen, aber auch die juristische Zeugenschaft oder gar den sexuellen Akt. Für das Theater kann dieser Begriff daher die je unterschiedlichen Möglichkeiten von Distanz und Nähe des Zuschauers zum Geschehen kennzeichnen: zwischen rein räumlicher Kopräsenz, rechtlicher Verantwortung und äußerster physischer Intimität. Dabei sind die (Kollektiv-)Körper, die im Akt des Beiwohnens aufeinander treffen, keineswegs gleichberechtigt: es ist immer ein Teil, der auf einen zweiten trifft, welcher sich bereits vorgängig in der Situation befindet und sie während der Begegnung symbolisch beherrscht. Nachdem die Eingangssequenz der Tanzaufführung S zunächst von Stille und ästhetischem Reduktionismus geprägt ist, ändert sich nach und nach die Dynamik der Bewegungen und auch die Szenerie. Die Darsteller verlassen den Boden, es ertönen Geräusche und Töne, man hört Maschinen, einen Wasserfall, die Soundkulisse steigert sich zu Krach und Getöse. In einer späteren Sequenz des zweiten Teils vernimmt man akustisch verstärkte menschliche Atemzüge. Dadurch, daß die Lautsprecher im ganzen Raum verteilt sind, und sich zum Teil auch hinter der Tribüne befinden, wird eine gemeinschaftliche Sphäre erzeugt: es ist, als atme der Raum. In der physischen Wahrnehmung ist es weniger der Akt des Sehens als vielmehr der des Hörens, welcher gemeinschaftsbildend ist. Gernot Böhme zufolge sind akustische Atmosphären raumkonstituierend und werden unweigerlich affektiv erfahren: Töne, Klänge und Geräusche berühren nach Böhme den »eigentümliche[n] Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt« – das, was »gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston erfüllt.«22 Sehen ist eher flächig 22. Böhme, Gernot. »Akustische Atmosphären«. Klang und Wahrnehmung. Komponist – Interpret – Hörer. Hg. v. Institut für neue Musik, Darmstadt, Mainz 2001, 38-48, gekürzte Fassung in: Politische Ökologie, 69, 2001, 56-59. »Die Atmosphären sind etwas zwischen Subjekt und Objekt: man kann sie als quasi objektive Gefühle bezeichnen, die unbestimmt in den Raum gegossen sind. Aber ebenso muß man sie als subjektiv bezeichnen, insofern sie nichts sind ohne ein erfahrendes Subjekt. Aber gerade in diesem Zwischensein liegt ihr hoher Wert. Durch sie wird nämlich verbunden, was traditionell als Produktions- und Rezeptionsästhetik getrennt war.« 176

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und nimmt einen geometrisch strukturierten Raum wahr, Hören ist räumlich und erfährt einen physisch-atmosphärischen Raum. Eben dieser Unterschied zwischen Visualität und Akustik wird in Waltz’ Produktion so sinnfällig deutlich, wenn nämlich die Tänzer mit einer Horizontmaschine kontrastiert werden, mittels welcher im Bühnenhintergrund riesige erleuchtete Prospekte gezeigt werden, während sie sich davor mehrdimensional bewegen und mit Ihren Körpern eine Vielzahl von Geräuschen produzieren (z. B. das rhythmische Niederfallen auf den Boden). In den Bezeichnungen für das Theater und die Theatersituation wurde historisch immer entweder der Akt des Hörens oder der des Sehens dominant gesetzt: Das griechische theomai heißt anschauen, theatron benennt ursprünglich nur den Raum des Publikums, man spricht vom Zuschauer und vom Schauspiel, vom spectator, spectateur und Spektakel; andererseits gibt es the audience (als Publikum, Zuschauer, Leserschaft, Audienz) oder l’auditoire (die Hörerschaft). In der Theaterwissenschaft war bisher – entsprechend der zum Bild gewordenen Guckkastenbühne – eher die Ebene des Visuellen vorherrschend; erst jüngst mehren sich die Arbeiten zur Dimension des Akustischen (etwa zum Phänomen der Schauspieler-Stimme 23). Dabei ist es in gewissem Sinne gerade das Hören, was die besondere mediale Situation des Theaters kennzeichnet. Denn das Theaterereignis unterscheidet sich zum Beispiel von einer Filmvorführung durch die Einheit von Spielraum und Zuschauerraum, während das Kino »einen realen und einen imaginären Raum verbindet.«24 Diese räumliche Einheit wird – besonders bei verdunkeltem Zuschauerraum – nicht primär visuell erfahren, sondern akustisch (wenngleich dies eher auf der Ebene des Vorbewußten verbleibt). Aus der Perspektive der sich auf der beleuchteten Bühne befindlichen Darsteller ist dies offensichtlich: selbst wenn sie ihr Publikum sehen wollten, so wäre dies aufgrund der Dunkelheit des Auditoriums in der Regel nicht möglich.25 Die Absenz der Zuschauerstimmen jedoch ist als solche konstant ›hörbar‹ – ebenso wie etwaige verbale Reaktionen oder Geräusche. So liegt nach Blau dem Begriff audience ganz grundsätzlich »the visible tracing of an acoustical truth« zugrunde, »for all the materiality of theater is nowhere to

23. Vgl. Kolesch, Doris. »Ästhetik der Präsenz – Theater-Stimmen«. Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Hg. v. Josef Früchtl u. Jörg Zimmermann. Frankfurt a.M. 2001, 260-75. 24. Lehmann, Hans-Thies. »Theatertheorie«. Theaterlexikon (Anm. 6), 1015 f. 25. Aus diesem Grund hat beispielsweise der Regisseur Peter Zadek oft auf die Erleuchtung des Zuschauerraums bestanden, so etwa in seiner um das Thema Voyeurismus kreisenden berühmten Inszenierung von Frank Wedekinds Lulu am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (1988). 177

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be seen, most of all if there is an echo, which may be the voice of the invisible power.«26 Ein eingängiges Beispiel für die Erfahrung der akustischen räumlichen Einheit der beiden vermeintlich durch die ästhetische Grenze getrennten Sphären von Bühne und Zuschauerraum sind Situationen des instantiellen Schweigens, wie sie das zeitgenössische Theater mit Vorliebe einsetzt.27 Ein plötzliches ›Zurückschweigen‹ der Darsteller spiegelt das stumme Publikum und entblößt es in seiner Passivität und Rezeptivität. Durch das Innehalten wird ein wahrnehmbarer, atmosphärischer Raum kreiert, der das konstitutive Schweigen der erst Zuschauer hervortreten läßt. Ihr Stummsein, zuvor insignifikant und latent, wird nun performativ, insofern es das Zuschauen – und das Zuhören – als Tätigkeit und Handlung thematisiert, es kollektiv vollzieht: Schweigen wird nicht primär gezeigt, sondern erlebt. Nichtstun wird zu einer Tätigkeit.28 Die theatrale Rahmung, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, sowie zwischen fiktivem und realem Handeln, hebt sich auf.29

26. Blau (Anm. 7), 10. 27. Im Gegenwartstheater läßt sich oft beobachten, daß die Regisseure die Norm der Zeichen-Dichte verletzen: es finden sich sowohl eine Überkomplexität simultaner Zeichen, so daß die Zuschauer beim besten Willen nicht alle gleichzeitig perzipieren können als auch eine bewußt eingesetzte Leere und extreme »Sparsamkeit der Zeichenverwendung«. Lehmann (Anm. 21), 153. 28. Vgl. zu diesem Topos: Deufert, Kattrin. »Situationen aus Nichts-Tun im Theater – John Cages ›Stille Musik‹ und die Inaktionen der New York School«. www.diss.sense.unikonstanz.de/nichtstun; Sasse, Sylvia. »Aktionen, die keine sind. Über Nichts-Tun in der russischen Aktionskunst«. Minimalismus. Zwischen Leere und Exzeß. Hg. v. Mirjam Goller und Georg Witte. Wiener Slawistischer Almanach Sonderband 51, Wien 2001, 403-430. 29. Zwar können auch in abbildenden Medien, etwa im Film oder in der Literatur, Atmosphären des Schweigens künstlerisch gestaltet werden; auch als derart gezeigte können sie auf die Rezipienten affektiv abfärben. Das dargestellte Schweigen ist aber nicht selbst performativ, d. h. es ist kein Vollzug einer Handlung mit unmittelbarer, körperlich erfahrbarer Wirkung. Dominant ist hier statt der performativen Funktion eher die referentielle: das repräsentative Stehen-für-Etwas (z. B. für innere Entfremdung, für soziale Unterdrückung oder ähnliches). Vgl. zur Unterscheidung von performativer und referentieller Funktion: Fischer-Lichte, Erika. »Auf dem Weg zu einer performativen Kultur«. Paragrana, 7.1, 1998, 13-32, hier 14. 178

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Christoph Marthalers Inszenierung von Horváths Kasimir und Karoline Ödön von Horváths Volksstück Kasimir und Karoline, 1932 in Leipzig uraufgeführt, wurde von Christoph Marthaler 1996 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg inszeniert (Abb. 2). Diese Aufführung ist für ein postdramatisches Theater, das den »Signifikantendienst«30 verweigert, exemplarisch. Marthaler, der von sich selbst sagt, daß »Stillstand das Erste [war], was [er] im Theater ausdrücken wollte«31, nimmt in seiner mehr als vierstündigen Aufführung die über 100 Stille-Anweisungen in Horváths Volksstück ernst und kreiert so eine dichte, atmosphärisch beklemmende Stimmung, welche der abrupte Wechsel von Reden und Schweigen, Musik und Stille provoziert. Die volkstümliche Oktoberfestmusik in Kasimir und Karoline – Trinklieder, Operettenschlager, Schrammel- und Marschmusik – suggeriert ein fröhliches Gefühl der Gemeinsamkeit, das durch den plötzlichen Abbruch der Musik immer wieder zerstört wird. Die musikalische Kollektivität in den Liedern hebt die anschließende Vereinzelung der Protagonisten, ihre Isolation in der Stille, umso krasser hervor. Aber auch die bergende, wohltuend-anonyme Gemeinschaft der Zuschauer wird durch diese Stille zerstört, indem sie durch ihre Plötzlichkeit einen Moment des Schocks oder der Aufrüttelung auslöst, ein »Erschrecken nicht an der Geschichte, nicht über eine Gegebenheit, sondern über das Erschrecken selbst.«32 In Horváths dramatischem Werk gibt es nur wenige Regieanweisungen, in denen das Schweigen einer konkreten Figur zugeordnet ist und entsprechend als nonverbaler Ausdruck verstanden werden kann. Stattdessen steht es zumeist als »Stille« zwischen den Repliken, so daß es zu keiner Figur gehört, sondern eine Art eigenständiger Part des Dialogs ist und sich im Druck entsprechend in einer neuen Zeile befindet. Diese typographische Konvention ist auffällig, da Horváths Regieanweisungen an und für sich sehr wohl Teil der Repliken sind, sich direkt im Anschluß an die Rede, in der gleichen Zeile befinden. Indem es zwischen den Redebeiträgen steht, wird das Schweigen zu einer zusätzlichen ›Figur‹ der Auf-

30. Lehmann (Anm. 21), 163. 31. Berger, Jürgen u. Georg Dietz. »Die Spezialisten. Stunde Nullnull: Wie Christoph Marthaler aus dem Züricher Schauspielhaus einen Ort machen will, der dem Theater eine Heimat gibt«. Süddeutsche Zeitung v. 25.5.2000, 19. 32. Lehmann (Anm. 21), 258. 179

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führung. Es ist nicht länger beredt, sondern es bleibt leer.33 Marthaler setzt diese Leere als performatives Mittel seiner Inszenierung ein. Abbildung 2: Christoph Marthaler: »Kasimir und Karoline« von Horváth; Deutsches Schauspielhaus, Hamburg 1996

Quelle: Theater Heute, 2/97, 7; Fotograf: Matthias Horn

Kollektive Stillemomente erzeugen eine Atmosphäre, für die das Zugleich einer Absenz von sprachlichen Zeichen und einer Präsenz von ›Etwas‹ konstitutiv ist. Die deutsche Sprache hat die Vielfalt derartiger Atmosphären bewahrt, denkt man an das ›tiefe‹, ›andächtige‹ oder ›ehrfürchtige‹ Schweigen, an die ›feierliche‹, ›wohltuende‹ oder ›friedliche‹ Stille, aber auch an das ›bleierne‹, ›eisige‹ oder ›betretene‹ Schweigen, an die ›grausame‹ Stille oder die existentielle ›Totenstille‹. Anhand dieser Attribute wird deutlich, inwieweit kollektive Schweige-Situationen sowohl positiv erfahrbar sein können, indem sie Gemeinschaft konstituieren als auch negativ, nämlich insofern sie Isolation hervorrufen. 33. Vgl. dazu ausführlicher Benthien, Claudia. »Die stumme Präsenz. Zur ›Figur‹ des Schweigens bei Ödön von Horváth«. De figura. Hg. v. Gabriele Brandstetter u. Sibylle Peters. München 2002 (im Druck). 180

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Während das Beispiel der Waltz-Inszenierung verdeutlicht, wie eine intensive, sakralisierte Stille das Publikum über den gemeinsamen Hör-Raum zusammenführt, es als rezeptiven pluralen Leib faßt, produziert Marthaler mit seinen Schauspielern eher das Gegenteil: ein beklemmendes, bedrückendes Schweigen, eine physisch peinliche Situation, in der die Zuschauer sich ihrer Passivität unangenehm bewußt werden und sie die Zwangsgemeinschaft mit ihren Sitznachbarn als solche wahrnehmen. Das Schweigen hat die Ebene des Zeichenhaften transzendiert und wird zur ›beherrschenden‹ Atmosphäre. Es wird zu einer vernichtenden Leere – einer Art ›Totenstille‹ – die plötzlich im Zentrum des ›Sprechtheaters‹ als ihr Anderes aufscheint.34

Das Ornament der sitzenden Masse Ich möchte nun, bevor ich zu meinem letzten Beispiel komme, noch auf die eingangs genannten Eigenschaften eingehen, die die Theatersituation jenseits der Bühne kennzeichnen: zum einen die Verdunkelung – die Nicht-Sichtbarkeit der Zuschauer und ihr Verschwinden in der strukturierten Masse –, zum anderen das Sitzen. Peter Handke hat seinem Theatertext Publikumsbeschimpfung von 1966 das Konzept zugrundegelegt, daß die Darsteller bei einer Bühneninszenierung des Textes die Illusion brechen und sich mit folgenden Worten direkt an das Publikum wenden sollen: »Sie sitzen in Reihen. Sie bilden ein Muster. […] Ihre Gesichter zeigen in eine gewisse Richtung. Sie sitzen im gleichen Abstand voneinander. Sie sind ein Auditorium. Sie bilden eine Einheit. […] Sie sind ausgerichtet. Ihre Ohren hören dasselbe. […] Sie sind ein Ornament. […] Sie tun das gleiche und tun das gleiche nicht: Sie schauen in eine Richtung. Sie stehen nicht auf und schauen nicht in verschiedene Richtungen. […] Sie sind eine Theatergesell34. Als Gegenmodell zu diesem ›erlittenen Schweigen‹ wäre an ein bewußtes, aktives Schweigen einer Gruppe zu denken, etwa in der sogenannten Schweigeminute, als einem gemeinsamen, ritualisierten Verstummen. Dieser ›Schweigeakt‹ dient dem Ausdruck der Trauer oder des Gedenkens an Tote und der Etablierung des kollektiven Gedächtnisses, indem die Teilnehmenden in Stille verharren und sich eines Geschehens oder einer verstorbenen Person besinnen und ein temporäres überräumliches Kollektiv bilden. Ähnlich dient auch der Schweigemarsch der Expression von Trauer oder des Protests, hier geht der Ritus mit einer körperlichen Bewegung, dem gemeinsamen ruhigen Schreiten, einher. Kollektives Schweigen wird zum performativen Zeichen für eine Abwesenheit: die einer Person oder auch der frei geäußerten Meinung. In der als leer thematisierten Mitte kann der Tote evokativ erscheinen, kann eine abweichende kollektive Stimme stumm ertönen. 181

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schaft, die eine Ordnung bildet. […] Sie wohnen bei. Sie schauen. Sie starren. Indem sie schauen, erstarren Sie. Die Sitzgelegenheiten begünstigen diesen Vorgang. […] Sie stehen nicht. Sie benützen die Sitzgelegenheiten. Sie sitzen. Da Ihre Sitzgelegenheiten ein Muster bilden, bilden auch Sie ein Muster. Es gibt keine Stehplätze. Der Kunstgenuß ist für Leute, die sitzen, wirksamer als für Leute, die stehen. Deshalb sitzen Sie. Sie sind freundlicher, wenn sie sitzen. Sie sind empfänglicher. Sie sind aufgeschlossener. Sie sind duldsamer. Sie sind im Sitzen gelassener. […] Die Zeit wird ihnen weniger lang. Sie lassen mehr mit sich geschehen. […] Im Stehen wären Sie individueller. Sie wären standhafter gegen das Theater. […] Sie wären mehr außenstehend.«35 Das Sitzen wird hier als primäres Mittel der Deaktivierung bewertet.36 Es fixiert das Publikum, stellt ruhig und produziert so ein ›Ornament der Masse‹, welches als »Ordnung« und »Muster« dem Dargebotenen kollektiv, passiv und rezeptiv gegenüber sitzt. Handkes Publikumsbeschimpfung nimmt der Zuschauerhaltung ihre Selbstverständlichkeit: Die Darsteller reden das Publikum direkt an und benennen das, was dieses ›tut‹. Indem ausgesprochen wird, was sonst stillschweigende Voraussetzung ist und nur funktioniert, solange man es nicht thematisiert, wird das Zuschauen zu einem physisch beklemmenden Sitzen, zu einer Situation, in die man sich zwar freiwillig begeben hat, die einen aber, im Moment ihrer Benennung, gefangen nimmt. Die Darsteller sind – im Vergleich zum Publikum – frei: sie können sich bewegen, individualisieren oder von der Bühne abgehen. Die Zuschauer hingegen blockieren und ›hemmen‹ sich gegenseitig durch ihre räumliche Anordnung im Saal. Während die Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts zwar den Zuschauer als konstitutiv für die Genese theatraler Bedeutung ›entdecken‹, so haben sie das von Handke beschriebene theatrale Setting noch nicht von Grund auf verworfen – und dies, obwohl es durchaus erste Entwürfe und Konzepte in dieser Richtung gab. Im Gegenteil, neue Bühnenmodelle und Raum-Utopien kreierten erst die Zuschauerschaft als eine homogene, gleichmäßig verteilte Masse, die sich – nunmehr idealiter auch ohne die barrierenbildende Ränge und Logen, die zuvor Klassenund Standesunterschiede markiert hatten – in einem einheitlichen, ungegliederten Zuschauerraum platzieren sollte.37 Erst der Aktions- und Performancekunst der 1960er und 70er Jahre war das Sitzen auf Stühlen eine

35. Ich habe diese Passage für den vorliegenden Kontext zusammengestrichen; im Original gibt es vielzählige Wiederholungen und Paraphrasen. Handke (Anm. 19), 15 f., 21 u. 28-30. 36. Vgl. auch: Eickhoff, Hajo. »Sitzen«. Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie. Hg. v. Christoph Wulf. Weinheim 1997, 489-500. 37. Vgl. Fischer-Lichte (Anm. 29), 15 ff. 182

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Konvention der Distanznahme, die es zu überwinden galt; man stand oder saß in ungeordneten Gruppen auf dem Fußboden.

Marina Abramovi´c s Performance Rhythm 0 Marina Abramovic´s berühmte Solo-Performance Rhythm 0 unter der Perspektive von Aktivität und Passivität der Zuschauer als Beispiel heranzuziehen, mag hinsichtlich der Komplexität dieser radikalen Körperarbeit etwas eindimensional sein, ist aber, wie ich finde, für den vorliegenden Zusammenhang gleichwohl aufschlußreich. Die Performance Rhythm 0, realisiert 1974 in einer Galerie in Neapel, begann damit, daß Abramovic´ einen Tisch mit 72 Objekten aufbaute, »Instrumente der Lust und des Schmerzes«38, wie sie sagt, die das sich im Raum befindliche Publikum nach Wunsch an ihr verwenden konnte, während sie die volle Verantwortung für das Geschehen übernahm. Das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, zwischen Teilnahme und Beobachtung, kehrt sich gegenüber der traditionellen Theatersituation diametral um, indem die Darstellerin passiv, stumm und bewegungslos ist und das Publikum aktiv wird und handelt. Die Performance dauert sechs Stunden, in denen die Anwesenden unter Verwendung der Requisiten alles Erdenkliche mit Abramovic´ anstellen: Sie beschreiben ihren Körper mit Lippenstift und Farbe, stigmatisieren und schmücken ihn; sie umarmen die Künstlerin, ziehen sie an und aus, stellen sie in einen mit Kreide auf den Boden gezeichneten Kreis – als einer Art ›Bühne‹ –, zwingen sie zum Konsum (z. B. dem Rauchen von Zigaretten), begießen sie mit Wasser, fertigen Polaroid-Fotos von ihr an, die sie anschließend dem Publikum demonstrieren muß, legen ihr eine geladene Pistole an den Hals, verhüllen ihr die Augen mit einem Tuch, legen sie wie einen zu sezierenden Leichnam auf den leergeräumten Tisch u. v. m.39. Bei allen diesen Tätigkeiten gibt es keine strikte Trennung zwischen Referenz und Performanz: Was ausgeführt wird, verweist zunächst auf nichts anderes als auf sich selbst. Die ›Aufführung‹ ist kein ›Als ob‹, sie stellt nichts dar, sondern es handelt sich um reale Tätigkeiten, die in räumlicher, zeitlicher und physischer Kopräsenz ausgeführt werden. Gleichwohl verweisen die von den Zuschauern initiierten Handlungen – bewußt und unbewußt – unablässig auf existente kulturelle Kontexte. So nehmen sie etwa Anleihen bei religiösen, pornographischen oder medizi-

38. Abramovi´c, Marina. Artist Body. Performances 1969-1997. Hg. v. Toni Stooss. Mailand 1998, 14. 39. Vgl. die Dokumentation der Performance, ebd., 84-97. 183

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nischen Ritualen, bei Kinderspielen und beim Karneval oder auch der Interaktion zwischen Mutter und Kind. Marina Abramovic´s ›Aktivität‹ besteht darin, nichts zu tun. Sie bleibt die ganze Zeit passiv und stumm, mit ihrem charakteristischen, konzentriert-abwesenden Gesichtsausdruck, den Thomas McEvilley als einen »geschlossenen Kreislauf« bezeichnet, als »Bewußtseins-Schlaufe […], die einen geschützten Raum […] erzeugt, in den nichts anderes eindringen kann.«40 Ihre Augen sind zwar geöffnet, doch sie starrten ins Nichts. So potenziert sich die grundlegende skopische Struktur der Theatersituation mit einem sehenden, selbst nicht gesehenen Pol einerseits und einem angeblickten andererseits, welcher nicht zurückschauen kann. Abramovic´ selbst spricht davon, daß sie zwar in derartigen Momenten »eingeschlossen« sei, sie aber gleichwohl die Anwesenheit der Zuschauer intensiv spüre: »Ich nehme sie nicht als Individuen wahr, sie werden mir vielmehr als ein Energiefeld bewußt.«41 Die Dokumentation der Performance zeigt, daß sich die Zuschauer – entgegen der Wahrnehmung der Künstlerin – sehr wohl isolieren und aus der Gruppe individuieren, wie etwa eine stark geschminkte junge Frau, die Abramovic´s Augen mit einem Wattebausch abwischt, sie abschminkt oder ihr die Tränen trocknet (vgl. Abb. 3).42 Die agierenden Zuschauer treten jeweils allein, zu zweit oder dritt aus dem Publikum heraus, werden in der Interaktion mit Abramovic´ zu temporären Darstellern. Da das Publikum in dem ganzen gleichmäßig erleuchteten Raum verteilt ist, kann es sich gegenseitig nicht nur beim Agieren mit der Performerin oder miteinander sehen, sondern auch beim Beobachten des events beobachten. Zuschauen wird dadurch als Handlung – und als Haltung – erkennbar. Während der Performance gibt es auch zeitweilige Gruppenbildungen, in denen etwa manche Zuschauer Abramovic´ beschützen und andere sie angreifen und beide Gruppierungen gar miteinander kämpfen. Das Verhältnis von Zuschauen und Agieren wird derart potenziert und nur noch schwer differenzierbar.

40. McEvilley, Thomas. »Stadien der Energie: Performance-Kunst am Nullpunkt?«. Ebd., 14-27, hier 14. 41. Ebd. 42. Interessanterweise trägt die Frau als Teil des Publikums eine große dunkle Sonnenbrille: Sie verändert ihr Äußeres also vor und nach ihrem ›Auftritt‹ und macht als Zuschauerin ihr Sehen, ihren Blick, durch die Brille unsichtbar. 184

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DIE PERFORMANZ DER SCHWEIGENDEN MASSE

Abbildung 3: Marina Abramovic´: »Rhythm 0«; Studio Morra, Neapel 1974

Quelle: Marina Abramovic´ Artist Body. Performances 1969-1997. Hg. v. Toni Stooss. Mailand 1998, 96. Die Fotografen der einzelnen Performances sind im Katalog nicht identifiziert. Alle Rechte liegen bei M. Abramovic´ und Sean Kelly, New York

Im Gegensatz zu Performances, in denen die vierte Wand als unsichtbare Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern bestehen bleibt und es keinerlei physische Interaktion und Vermischung zwischen beiden Gruppen gibt, schaut der Teil der Anwesenden, der sich als Publikum versteht, hier direkt und ungeniert auf das Geschehen (vgl. Abb. 4). Es gibt dabei, wie im Bild zu sehen, eine gewisse Tendenz zur Ballung oder Herdenbildung: Das Publikum steht weniger als strukturierte Masse, denn als Meute, als »Einheit der Aktion« der entblößten Performerin gegenüber.43 Der Akt des simultanen Fotografierens in der vorderen Reihe reproduziert zudem jene Distanz, die die unverhohlenen Blicke im gleichen Moment suspendieren. 43. Mit dieser Begriffswahl beziehe ich mich auf eine Differenzierung, die Elias Canetti vorgenommen hat: während die »Masse« sich nach Canetti u. a. durch ihre innere Gleichheit, ihre Dichte und ihre gemeinsame »Richtung« auszeichnet, »[hat] die Dichte innerhalb der Meute immer etwas Vorgetäuschtes: sie drücken sich vielleicht eng zusammen und spielen in überlieferten, rhythmischen Bewegungen das Vielsein. Aber sie sind es nicht, sie sind wenige; was ihnen an wirklicher Dichte abgeht, ersetzen sie durch Intensität.« Canetti, Elias. Masse und Macht. Hamburg 1960, 27 f. u. 103-05. 185

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CLAUDIA BENTHIEN

Abbildung 4: Marina Abramovic´: »Rhythm 0«; Studio Morra, Neapel 1974

Quelle: Marina Abramovic´ Artist Body. Performances 1969-1997. Hg. v. Toni Stooss. Mailand 1998, S. 97. Die Fotografen der einzelnen Performances sind im Katalog nicht identifiziert. Alle Rechte liegen bei M. Abramovic´ und Sean Kelly, New York

Zuschauer, die sich nicht in einer anonymen Masse verbergen können, drücken ihr Unbehagen über die Isolierung und Direktheit der Konfrontation mit dem künstlerischen Geschehen oft durch ihre Körperhaltung aus, wie etwa die Dokumentation zu den sogenannten Suspension Events des australischen Performance-Künstlers Stelarc zeigt, wo die Zuschauer fast ausnahmslos mit verschränkten Armen und defensiver Haltung zu sehen sind.44 Das Nicht-Handeln der Zuschauer ist hier – wie auch in anderen zeitgenössischen Aktionen, in denen sich die Performer selbst physisch verletzen, etwa von Gina Pane oder Valie Export – in gewisser Hinsicht ein Handeln: ein Versäumen des Eingreifens in den Akt der Gefährdung oder Selbstmutilation des Künstlers. Das passive Ausharren der Zuschauenden kann gar zur Täterschaft werden, wenn der Body Artist sich nicht nur schmerzhaften, sondern lebensgefährlichen Praktiken unterzieht: In ihrer Performance Rhythm 5 (1974) wäre Marina Abramovic´ vermutlich in einem großen Stern aus Feuer erstickt oder verbrannt, nachdem sie sich 44. Vgl. Stelarc. Obsolete Body. Suspensions. Davis 1984; Benthien, Claudia. »Die Epidermis der Kunst. Stelarcs Phantasmen«. Formen interaktiver Medienkunst. Geschichte, Tendenzen, Utopien. Hg. v. Peter Gendolla u. a. Frankfurt a.M. 2001, 319-39. 186

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DIE PERFORMANZ DER SCHWEIGENDEN MASSE

darin niederlegte und aufgrund fehlenden Sauerstoffs das Bewusstsein verlor, hätten nicht zwei Personen aus dem Publikum schließlich die mit dem Feuer markierte symbolische Grenze übertreten und sie aus dem brennenden Stern herausgetragen, als sie gesehen hatten, wie eine Flamme ihr Bein berührte.45

Jenseits der Kollektivität Das Fallen der vierten Wand, der symbolischen Grenze zwischen Bühne und Publikumsraum, wirkt sich auf die Kollektivität der Zuschauenden in Theatersituationen in verschiedener Hinsicht aus. Im bürgerlichen Schauspiel des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die ›Theatergemeinde‹ als eine stille, geometrisch angeordnete Gruppe von Sitzenden konzipiert. Ihr Gemeinschaftsgefühl etablierte sich über körperlich-habituelle Rituale, über ihre kollektive Passivierung und visuelle Eliminierung sowie über die Erfahrung eines einenden Hörraums. Doch diese Einheit des akustischen Raums ist es auch, welche die Inexistenz der Getrenntheit von Bühne und Zuschauerraum auf subtile Weise bewußt machen kann, was sich beispielhaft in kollektiven Stille-Momenten zeigt. Durch ein Spiegeln der Zuschauersituation, im ›Zurückschweigen‹ der Darsteller, wird eine einheitliche akustische Atmosphäre kreiert und zugleich das Zuschauen und Zuhören als Handlung thematisch. Die Performance-Kunst stellt die – historisch entstandene – Passivität des Publikums radikal in Frage. Durch die Umkehrung des traditionellen Verhältnisses von Teilnahme und Beobachtung in der Theatersituation wird die vormals konstitutive Trennung von Referenz und Performanz aufgehoben – und damit auch die symbolische Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum vollständig eliminiert. Bei der Auflösung des Kollektivkörpers der Zuschauer, die mit ihrer Aktivierung einhergeht, werden verschiedene Tendenzen ersichtlich: zum einen die Bildung von kleinen Zuschauergruppen, die anderen Zuschauern zusehen, wie sie zu Darstellern werden, ebenso wie sie sich gegenseitig zusehen und so zu Beobachtern von Beobachtung werden. Zum anderen zeigen sich körperliche Reaktionsbildungen, die auf diese Isolierung als Zuschauer reagieren, auf den Verlust der schützenden Masse, um so Distanz wieder herzustellen. Der Akt des Zuschauens kann sich zur Tat radikalisieren, wenn das Schweigen und Nicht-Einschreiten die Verletzung oder gar den Tod des Performers zur Folge hätte. Der Wechsel vom Zuschauen zum Anschauen der Darsteller, vom Zuhören zum Anhören des Ereignisses, wie ihn Peter Handke in seiner Publikumsbeschimpfung für ein Theater jen45. Vgl. Abramovi´c (Anm. 38), 66-73. 187

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CLAUDIA BENTHIEN

seits der Illusion fordert46, hat eine grundsätzlich andere Art des ›Beiwohnens‹ zur Folge.

46. »Sie schauen uns an, wenn wir mit ihnen sprechen. Sie schauen uns nicht zu. Sie schauen uns an. Sie werden angeschaut. Sie haben nicht mehr den Vorteil derer, die aus dem Dunkeln ins Licht schauen. Wir haben nicht mehr den Nachteil derer, die vom Licht in das Dunkle schauen. […] Sie hören uns nicht zu. Sie hören uns an. Sie sind nicht mehr die Lauscher hinter der Wand. Wir sprechen offen zu Ihnen. Unsere Gespräche gehen nicht mehr im rechten Winkel zu ihren Blicken.« Handke (Anm. 19), 16. 188

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»STAR TREK« UND DIE MODELLBOX FERNSEHEN

Über die Fusionen einer wandelbaren Spezies und vom Zusammenhalt unter Cyborgs. Star Trek und die Modellbox Fernsehen Stephan May

Kollektivität ist ein zentrales Thema im Star-Trek-Universum.1 Die Vereinigte Föderation der Planeten, in deren Auftrag Captain Kirk, Janeway und Co. unterwegs sind oder die Stellung halten, will ein freiheitlicher Planetenbund sein, eine aufgeklärte Anerkennungsgemeinschaft nach idealisiertem Zuschnitt der Demokratien westlicher, sprich US-amerikanischer Prägung. Ihr operationales Organ ist die Sternenflotte, unter deren Banner die Enterprise und deren Folgeschiffe in die ›unendlichen Weiten‹ des Weltraums und gleichzeitig in doch eher begrenzte Felder der Fernsehästhetik aufbrechen. Die Ästhetik rangiert deutlich auf einem nachgeordneten Platz, hinter dem Gespann aus utopischer Ethik mit durchaus pädagogischem Anspruch und natürlich der gewinnbringenden Vermarktung des industriellen Produkts. Das Vorwort eines Buches aus dem Dunstkreis des Merchandising stellt das wichtigste Gesetz der Sternenflotte vor. Unterschrieben mit dem Namen, Rang und Funktionsgrad einer beliebten Serienfigur – des Androiden Lt. Commander Data, dem Wissenschaftsoffizier der Enterprise in The Next Generation – wird hier der Leitsatz in einfältig optimistischer Rede als ein Strang von Folgerichtigkeiten präsentiert: »Die Vereinigte Föderation der Planeten basiert als Regierung wie auch als politische Orga1. Zu diesem Universum zählen neben den vier Fernsehserien (The Original Series, The Next Generation, Deep Space Nine, Voyager), den Kinofilmen, der Massenproduktion des Merchandising usw. auch diejenigen Aktivitäten der Zuschauer und eingeschworenen Fans, die in und jenseits der expliziten Rezeption mit Star Trek in Verbindung stehen. Insofern damit ein breites Spektrum von bewußt anvisierten oder unbewußt eingeschlichenen Verhaltensweisen gemeint ist, dringt das Universum in den Alltag vor. 189

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nisation auf einer einfachen, aber wichtigen Idee: Vielfältigkeit. Diese Vielfältigkeit ist das Fundament der Föderation, die aus einer Ansammlung verschiedener Welten, Rassen und Kulturen besteht. Dieser Respekt vor der Vielfältigkeit führt zu einer Anerkennung individueller Rechte. Daraus folgt, daß jedes Wesen das Recht zur Selbstbestimmung hat, ebenso wie das Recht, sein Schicksal frei zu gestalten. Die Hauptdirektive der Sternenflotte beruht auf diesem Grundsatz. Sie besagt, daß die Mitglieder der Föderation sich nie in die normale Entwicklung einer Kultur einmischen dürfen. Diese Politik führt dazu, daß neu entdeckte Rassen schon bald der Föderation vertrauen. Dieses Vertrauen hat in der Geschichte der Föderation schon oft dazu beigetragen, die natürliche Furcht, die viele Außerirdische bei ihrer ersten Begegnung mit uns hatten, abzubauen, so daß sie sich der wachsenden Zahl der Mitgliedsplaneten vertrauensvoll anschließen können.«2 Die Hymne auf die Oberste Direktive, auf die Nichteinmischung in die Souveränität anderer Gesellschaften, auf die Akzeptanz von Riten, Bräuchen und Gesetzen anderer Lebensformen wird in unzähligen Folgen angestimmt. Aber aus den Konfliktstoffen genauso vieler Folgen läßt sich die eigentliche Maxime für jedermann mit Leichtigkeit ablesen: Star Trek will seine Vorstellung des Verhältnisses von Gemeinschaft und Individuum mit großen Buchstaben in die Gewissensinstanzen des Universums eingeschrieben sehen. Die Organisation der Sternenflotte exemplifiziert an den uns bekannten Weltraumcrews die Gemeinschaftsstruktur, die dieser Vorstellung Rechnung trägt. Die Struktur entsteht aus der Vermählung zweier Prinzipien: einerseits des für Soap-Operas üblichen lauwarmen Bades in stereotypen Familien- und Freundschaftssituationen, andererseits der militärischen Ordnung der Raumschiffbesatzungen. Obgleich Konflikte zwischen diesen beiden Kräften durchaus vorkommen, handelt es sich letztlich um eine utopische Hochzeit. Der disziplinierte Militarismus der Sternenflotte bringt Ordnung in die so oft verwirrende Ökonomie der Gefühlswelten verschiedener Spezies. Umgekehrt erfüllen die persönlichen Bindungen die Aktionen des militärischen Apparats erst mit Sinn. Die Föderation verschreibt sich dem Schutz der Würde, Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums in keinem Moment, ohne diese Ideale mit ihren gewinnbringenden Konsequenzen zu garnieren. Die Garnitur beläßt es nicht bei der Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz verschiedener Völker, sondern hebt zusätzlich auf den Nutzen der individuellen Fähigkeiten für die föderative Gemeinschaft ab. Von je her wußte diese Gemeinschaft, die unterschiedlichen Qualitäten der integrierten Individuen aus verschiedenen Spezies innerhalb ihrer hochtechnisierten und deshalb hochspezialisierten Gesellschaft zu nutzen. So sicher wie man innerhalb von höchstens zehn Folgen auf Probleme mit dem Warp2. Johnson, Shane. Star Trek. Die Welten der Föderation. Königswinter 1990, 9. 190

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»STAR TREK« UND DIE MODELLBOX FERNSEHEN

Antrieb oder auf einen Planeten mit zwei Monden stößt, so sicher wird in den Reihen der Föderation der Klingone seine kriegerischen Anlagen im handgreiflichen Nahkampf und der Vulkanier seine psychische Klarheit in der Gedankenverschmelzung zur Verfügung stellen dürfen.3

Modellbox Fernsehen Eine Strategie, Star Trek angemessen zu begegnen, liegt darin, den Terminus des Individuellen im wörtlichen Sinn auf die Konzeption der Figuren zu beziehen. Individuell heißt unteilbar. Tatsächlich bilden die Figuren der Serien die klar bestimmten, kleinsten Einheiten, aus denen sich die Gemeinschaft der Föderation zusammensetzt. Die Einheiten sind deshalb so klar, weil sie sich in Klischees ergehen. Die Figuren werden aus nur wenigen Eigenschaften gemacht. Sie sind monolithisch in der Konstruktion, vorhersehbar im Verhalten. Es mangelt diesen Individuen an ästhetischer Subjektivität im emphatischen Sinne. Denn diese ästhetische Subjektivität beginnt bekanntlich dort, wo die Kette der Klischees durchbrochen wird und ein anderes Bild, ein Anderes im Bild, auftaucht.4 Ähnliches kann man bezüglich der für Star Trek oftmals beschworenen Begegnung mit dem Fremden feststellen.5 Denn obgleich sich immer wieder andere Lebensformen im Fokus der Föderation einfinden, werden die Ansätze einer verstörenden Fremdheitserfahrung innerhalb der Fernsehwahrnehmung selbst im ritualisierten Charakter des Serienformats aufgefangen. Die Ritualisierung greift auf allen Ebenen. So wie 3. Dasselbe Buch, aus dem das Zitat zur Hauptdirektive stammt, macht keinen Hehl daraus, daß in der fiktiven Zeitrechnung der Star-Trek-Historie die utilitaristische Integration, die sich an den Belangen der Weltraumfahrt orientiert, der politischen Gründung der Föderation vorausgeht: »Lange vor der Erschaffung der Föderation setzte die Erde (Terra) bereits Außerirdische als Besatzungsmitglieder ein. Trotz ihrer schwierigen Persönlichkeiten erwiesen sich die Tellartier als fähige Ingenieure, während die Androianer ihr Talent für interstellare Navigation und Kommunikation beweisen konnten.« Johnson (Anm. 2), 12. 4. Vgl. Deleuze, Gilles. Das Zeit-Bild. Kino 2. Übs. v. Klaus Englert. Frankfurt a.M. 1991, 35: »Wir nehmen normalerweise nur Klischees wahr. Wenn unsere sensomotorischen Schemata blockiert sind oder zerbrechen, kann jedoch ein anderer Bildtypus auftauchen: das rein optisch-akustische Bild, das nur Bild ist, ohne Metapher zu sein, das die Sache als solche, gleichsam buchstäblich [littéralement] in ihrem Übermaß an Grausamkeit oder Schönheit, in ihrer radikalen und nicht zu rechtfertigenden Eigenart hervortreten läßt (…).« 5. Zur Begegnung mit dem Fremden vgl. Weber, Ingrid. Unendliche Weiten. Die ScienceFiction-Serie Star Trek als Entwurf für Kontakte mit dem Fremden. Frankfurt a.M. 1997. 191

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die Eigenschaften und Handlungsweisen einzelner Crewmitglieder kleine Rituale darstellen, werden auch die verschiedenen Völker der Galaxis durch immer gleiche, schnell erkennbare Attribute eingeführt und bleiben an ihnen identifizierbar.6 Die Begegnung mit dem deshalb nur relativ Fremden besteht im wesentlichen darin, sich in das jeweils neue Teilritual einzuüben und dann seine Variationen in der Wiederholung zu praktizieren. Der regelmäßige Zuschauer wird auch nicht von jenem für das Fernsehen typischen Bildfluß hinweggetragen, der aus der nicht abreißenden Folge der kurzen, gegeneinander verhältnismäßig abgegrenzten Einheiten des Mediums entsteht.7 Ganz im Gegenteil: Das versprengte Zuschauerkollektiv konstituiert sich als mediale Gemeinschaft über das Ritual. Zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Wochentag findet sich das Medienkollektiv vor dem Bildschirm ein, um die geliebte Serie zu begehen. Die ritualisierte Binnenstruktur der einzelnen Folgen mit der Konfliktlösung stets am Ende nach der letzten Werbeunterbrechung kommt dem unterstützend entgegen.8 Allerdings entfaltet der Aufführungscharakter des Serienrituals im Blick des regelmäßigen Zuschauers schon beizeiten seine Potentialität, besonders in den hervorstechend langweiligen Folgen. Star Trek ist sehr schnell lesbar als Dekorwelt, die mit Wesen bevölkert ist, die bald abgewetzten, bald originellen Schubladen entspringen. Schubladen sind gemeinhin Teile eines gebräuchlichen Möbels, neben oder auf dem sich das Fernsehgerät in den Heimstädten der Zuschauer oft plaziert findet. Ist es ein Zufall, daß ein Fernseher – gewiß nur für diejenigen, die es sich leisten können, – annähernd die Größe einer kleinen Kommode hat? Das handliche Format besitzt in bezug auf Star Trek den Vorteil, daß sich die Postkartenkompositionen von Weltraumlandschaften nicht unnötig aufblähen, sondern in bescheidenem Rahmen wirksam bleiben: als Füllbilder für die Aktivitäten der Schubladenwesen. Die Schubfächer des Star6. Einige der Kategorien, in denen ein bekannter Episodenführer (Cornell, Paul, Martin Day u. Keith Topping. Der Neue Trek-Episodenführer. Übs. v. Dirk Bartholomä. Köln 1996.) die Folgen von The Next Generation im Überblick wiedergibt, bestehen in den ritualisierten Verhaltensweisen einzelner Mannschaftsmitglieder (Datas Witze, Rikers Eroberungen, das Picard-Manöver). 7. Zum Flow des Fernsehens vgl. Williams, Raymond. Television. New York 1977. Ellis, John. Visible Fictions. Cinema, Television, Video. London 1997. Ders. Seeing Things. Television in the Age of Uncertainity. London 2000. 8. Im deutschen Fernsehen, dem das Gesetz weniger Werbeunterbrechungen als im amerikanischen Rundfunk erlaubt, fällt die Werbung oft nicht an den dafür vorgesehenen Stellen in das ausländische Serienformat ein. Der Effekt ist eine Störung des gleichmäßigen Flow-Gefühls und eine allerdings wohl nur kurzfristige Aufmerksamkeitsverlagerung auf die Montagetechniken und Bildrhythmen. 192

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Trek-Universums werden nicht nur geöffnet und geschlossen, sie werden auch ausgetauscht, verschrottet, in anderen Varianten recycelt und vor allem gegeneinander verschoben. Das Fernsehen funktioniert dann als ein kastenförmiger Verschieberaum, in dem die Schablonenelemente zu immer anderen Konstellationen sich zusammensetzen: ›Living in a Box‹: Den Erfahrungswerten ist die Emphase ausgetrieben. Ihren Maßstab finden sie im Charme des Modellbaukastens.9 Die Aufführung setzt sich jenseits des Bildschirms fort. Die mediale Zuschauergemeinschaft verschafft sich zum Event organisierte Konkretion nicht nur in den Fanforen des Internets, sondern insbesondere in persönlichen Zusammenkünften.10 Dem regelmäßigen Konsumenten wird auch in Unkenntnis der Fanaktivitäten schon bald offensichtlich, daß er Teil von etwas Größerem ist. In diesem Wissen streben die Anhänger der Serien den Kontakt mit Gleichgesinnten an, aus ihrer Einzel- oder Kleingruppenhaft vor den Bildschirmen hinaus. Aufgrund der Ausdehnung des Star-Trek-Universums kann ein Suchender auch an entlegenen Orten mit einem Echo rechnen. Selbst wenn das Fantum am profansten aller Orte – am Wohnzimmertisch oder im Schlafzimmerbett – praktiziert wird, lebt in ihm noch ein Rest der heiligen Sphäre, auf die das Rituelle traditionell Bezug nimmt. Die Fangemeinschaft sucht, sich über ihre rituelle Haltung von der alltäglichen Normalität auf ein höheres Niveau abzusetzen. Freilich findet das Ritual mindestens zum Teil im Spielraum statt. Aber die Ideale der Föderation übernehmen dennoch einen Teil der ehemaligen Funktion des Hei9. Der Modellbaukasten ist ein System beschränkter Verbindbarkeit und noch geringerer Transformierbarkeit. Die Elemente können nur an bestimmten Stellen miteinander arrangiert werden. Für die Herstellung von Beziehungen zu Baukästen anderen Typs oder gänzlich anderen Welten (Export) gelten nicht mehr die Verbindungsoptionen des Ausgangssystems. Auch sieht der Modellbaukasten von sich aus keine tiefgehenden Umwandlungstechniken vor (Schmieden, Schnitzen, Einschmelzen usw.). Das alles bedeutet nicht, daß die extraordinären Konnexionen oder die Transformationen nicht unter dem Aufwand der entsprechenden Energie und Technik geschehen können. Es sind Operationen der Vorstellungskraft und des Denkens oder deren Materialisierungen (Installationen, Schriftprodukte) und ferner dem Zufall nahestehende Techniken (Fernbedienung) denkbar. Die ursprüngliche Armut kann dann Chancen bergen, weil die exportierten oder umgewandelten Elemente womöglich Widerstände gegen die lückenlose Integration in eine andere Umgebung aufweisen. 10. Porter versteht die organisierten Zusammenkünfte auf den Star-Trek-Conventions mit Bezug auf die Theorie Victor Turners als Pilgerfahrt. Vgl. Porter, Jennifer E. »To Boldly Go: Star Trek Convention Attendance as Pilgrimage.« Star Trek and Sacred Ground. Explorations of Star Trek, Religion, and American Culture. Hg. v. ders. u. Darcee L. Mclaren. Albany 1999, 245-270. 193

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Abbildung 1: »Voyager« vor Postkartenkomposition von Weltraumlandschaft

ligen, den Glauben an die eigene Erhöhung zu legitimieren.11 Die Anleitung geben die in ihrem Glauben integren Figuren – allen voran die Captains – selbst. Die Liebe ihrer Anhänger zur Serie mag gerade deshalb so unerschütterlich groß sein, blind für den profanen Gebrauchswert ihres Liebesobjekts ist sie nicht. Keiner weiß besser um die Dekorhaftigkeit und den Modellboxcharakter von Star Trek als seine Fans. Denn sie haben die Konsolen der Brücke und des Maschinenraums der Enterprise auf der Reiseausstellung gesehen. Die Sternenflottenuniform oder die Klingonenperücke mit entsprechendem Make-Up trugen sie auf der letzten Convention. 11. Émile Durkheim beschreibt, wie sich der Glaubende die religiös erhobene Haltung erwirbt, indem er sich den entsprechenden Regeln, Verboten sowie Vorschriften unterwirft und sich damit vom Profanen entfernt. Vgl. Durkheim, Émile. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übs. v. Ludwig Schmidts. Frankfurt a.M. 1981. Aus dieser Haltung heraus sucht der engere Kern der Star-Trek-Fans die Glaubensinhalte in der profanen Sphäre tatsächlich umzusetzen, also den ›Mythos zu leben‹. Vgl. Jindra, Michael. »›Star Trek to Me Is a Way of Life‹: Fan Expressions of Star Trek Philosophy«. Star Trek and Sacred Ground (Anm. 10), 217-230. Mclaren, Darcee L. »On the Edge of Forever: Understandig the Star Trek Phenomenon as Myth«. Star Trek and Sacred Ground (Anm. 10), 231-244. 194

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Die am Leib getragenen Zeichen der Zugehörigkeit sind also gleichzeitig Vehikel eines halbwegs selbstironischen Manövers. Die Ironie schafft jedoch keine sarkastische Distanz, in der die Themen der Serie in der Verspottung verraten würden. Ohne deshalb selbst den Spott völlig aufgeben zu müssen, kann man von einer solchen Haltung lernen, die Leistungen der Modellbox in Anspruch zu nehmen, wenn sie beispielsweise Technikphantasmen oder Angelegenheiten der Gerichtsbarkeit auf den Schirm bringt. Nicht selten geraten Handlungsstränge zu Lehrstunden im großen Einmaleins der Außenpolitik. Und man läßt sich in die vergangenen oder gegenwärtigen Probleme westlicher Gesellschaften versetzen, sobald verschiedene Kollektivstrukturen im Vergleich verhandelt werden.

Disziplin im Föderationskollektiv Zum wesentlichen Teil konstituieren sich die unterschiedlichen Kollektive über die Inszenierung von Körperlichkeit. Die Körperkonzepte der Gemeinschaften kommen im Auftritt der Masken und Kostüme sowie an der Anordnung der Einzelkörper in den Bildsequenzen zum Ausdruck. Obwohl auf den föderativen Schiffen und Raumstationen hunderte Geschöpfe beschäftigt sind, formieren sie sich nie zur Masse. Lediglich die trick- oder computertechnisch animierten Außenaufnahmen der weltraumtauglichen Gebilde vermitteln ein geordnetes Gefühl für die Ausmaße der Besatzungen und ihrer Dienststellen, beispielsweise wenn der Blick an den unzähligen Fenstern der Wohnbereiche vorbeigleitet. In den Korridoren treibende Hetz- oder Fluchtmassen, wie Canetti sie klassifiziert12, wabernde Körpermengen und selbst Vollversammlungen der Mannschaft kommen selten oder gar nicht vor. Aber ständig gibt es Zusammenkünfte in überschaubaren Gruppen eingeführter Figuren. Oder die Kommunikation verläuft über die internen Sprechsysteme, wenn etwa der Captain zu einer Besatzung redet, die entweder ihren individuellen Dienstfunktionen nachgeht oder sich in den Einzelquartieren aufhält. Die Isolation der Figurenkörper in nahen und halbnahen Aufnahmen spiegelt sich in der Situation der Zuschauer vor den Fernsehgeräten. Der Verbund stellt sich hier wie dort über das technische Dispositiv, nicht über die physische Nähe her. Die Disziplin strebt bekanntlich nach überschaubaren Gliederungen von Raum, Zeit und Leben. Einer etwaigen Parzellierung des Raumes geben die Bedingungen im Star-Trek-Universum Probleme auf. Ständig bringen Wurmlöcher und sonstige Anomalien, Antimaterie-Felder und 12. Vgl. Canetti, Elias. Masse und Macht. Hamburg 1960, 54-61. 195

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Spalten im sogenannten Subraum die Raum-Zeit-Koordinaten durcheinander und verlangen dergestalt den Crews ein Äußerstes an Technologie und deren Handhabung ab. Viele Folgen stellen den Kampf der Föderation gegen hereinbrechende Unordnung im inneren Gefüge dar. So als die Mannschaft in The Next Generation an einer Seuche erkrankt, deren Effekt einem hemmungslosen Alkoholgenuß gleichkommt. Die disziplinäre Ordnung wird, wie Foucault es für Vergangenheit und Gegenwart beschreibt, auch in dieser Zukunftsfiktion unmittelbar am Körper vollzogen.13 Das Lallen der Kranken muß dem knappen Befehlston der wieder Gesundeten weichen, das alberne Gehabe der festen Haltung. Man hat sich wieder entsprechend Dienstgrad und Funktion, die an den Uniformen optisch festzustellen sind, zu benehmen. Die Transparenz des Kollektivkörpers muß über die funktionale Abgrenzung der Einzelkörper wiederhergestellt werden. All das ist ohne viel Phantasie dem Militär unserer Tage abgeschaut. Aber unzweifelhaft bringt Star Trek einige seiner Höhepunkte hervor, wenn die militärische Maschinerie im Aktionsprinzip auf Touren läuft. Die Serie Deep Space Nine erwirbt sich eine ganz neue Qualität, sobald dort der Krieg offen ausbricht. Riesige Flottenverbände stehen sich gegenüber. Überlegene Feuerkraft sowie geschickte Taktiken sind gefragt. Und es kommt vor, daß innerhalb einer Folge von fünfundvierzig Minuten Millionen von Leben vernichtet werden.

Absolute Feinde Die offiziellen Aufgaben der Sternenflotte sind zwar vielfältig, unter anderem auch in der Diplomatie und der Forschung. Aber ohne richtigen Feind – das wissen die Autoren der Serie genau – breitet sich die Öde idealen Lebens aus. Es kommt dann sehr schnell zu Überschüssen des anderen Pols, des Soap-Opera-Prinzips, durch die Star Trek ununterscheidbar von Familienserien wird, die mit ihren Beziehungsproblemen nicht in den Weltraum vorstoßen. So nehmen die absoluten Feinde der Föderation einen besonderen Platz in der Gunst der Zuschauer ein.14 In der Ursprungsserie Star Trek: The Original Series aus den 60er Jahren findet man das Volk der Klingonen in den mythischen Antagonismus Zivili13. Vgl. Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übs. v. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1976. 14. Die Notwendigkeit absoluter Feinde untergräbt die Utopie der Föderation sowohl was ihren Optimismus als auch das vermeintlich Visionäre betrifft. Denn die dramatische Spannung, die solche Feindschaften versprechen, geht stets einher mit populärmythologisch tradierten Gewaltmythen. Die Crew hat sich im – in der Regel moralisch legitimierten – Kampf bzw. Krieg zu beweisen, ihre ›Ehre‹ dort erst zu erwerben usw. 196

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sation gegen Barbarei gepreßt, ein tradiertes Muster, das während des Kalten Krieges zu außerordentlicher Konjunktur gelangte. Seltsamerweise jedoch hing dem archaischen Kriegervolk der Klingonen nur wenig von den damaligen Ängsten vor dem Kollektivismus und seiner Gleichschaltung der Individuen an, wie man es in der Analogie zur Opposition der Blöcke vermuten könnte. Die absoluten Feinde der Folgegenerationen der alten Enterprise gewinnen dagegen einen Großteil ihrer Faszination aus der Tatsache, daß sie den Kollektivismus nicht nur in die Modellbox einbringen, sondern ihn darüber hinaus auf der Ebene des körperlichen Verbundes ansiedeln. Sie sind explizite Kollektivkörperspezies. Als solche terrorisieren sie die föderative Gemeinschaft der individuellen, gegeneinander abgegrenzten Körper in dramaturgisch kalkulierter Nachdrücklichkeit. Anders als im hellen und bunten Universum des Captain Kirk ist die Bedrohung durch den absoluten Feind in den neueren Star-TrekSerien mit den Verfahren des Horrorgenres offensiver in die Bildkomposition eingewoben. In der Serie Voyager sind die Borg die dunklen Todfeinde der Föderation. Die Inszenierung ihres Kollektivismus greift auf die Metaphorik des Insektenstaates zurück. Wie Insekten reagieren die Borg auf Fremde nur dann, wenn diese eine Bedrohung darstellen oder sich als Ziel erweisen. Auch gibt es eine wertvolle Königin und unzählige Dronen, die als einzelne bedeutungslos sind. Schon die vom Terminus Cyborg abgeleitete Bezeichnung verweist auf die kybernetische Lebensform der Borg. Die Basis einer Drone ist der individuelle organische Körper aus einer anderen Species. Die Borg assimilieren andere Species gewaltsam und bauen sie durch die Implantation von kybernetischer Technologie nach eigenen Maßstäben um. Die Psychen der einzelnen Cyborgs sind über ein Netzwerk miteinander verbunden. Somit agieren die Borg als Kollektiv. Die Erfahrungen und das Wissen der Assimilierten gehen in das Kollektivbewußtsein ein. Und was ein Borg perzipiert, nimmt auch das Kollektiv wahr. In der Serie Deep Space Nine, die etwa zur gleichen Zeit wie Voyager aber andernorts im Star-Trek-Universum spielt, hat es die Föderation mit dem unheimlichen Volk der Gründer zu tun. Die Gründer sind Formwandler, auch Gestaltwandler oder abfällig Wechselbälger genannt. Ihre Körper bestehen aus einer zähen orange-metallisch-farbenen Flüssigkeit. Die mimetische Solidarität nicht nur mit der Dingwelt ist dieser Spezies buchstäblich. Die Gestaltwandler können jede beliebige Form annehmen und damit auch jeden lebenden Körper nachbilden. Außerdem ist es ihnen möglich, mit anderen Angehörigen ihrer Art zu fusionieren. Die Körpermassen fließen dann ineinander. Die Gründer üben die totalitäre Herrschaft im sogenannten Dominion aus, einem ausgedehnten Reich.

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STEPHAN MAY

Abbildung 2: »Merchandising Wallpaper« für Borgfans

Andere Rassen werden von ihnen unterworfen und zum Teil als Sklaven mit einprogrammiertem Gehorsam geklont.15

15. In diesen von der zuweilen hysterischen Angst vor religiös verkleidetem Terror und extremistischen Selbstmordattentätern bestimmten Tagen scheint es angebracht, zu erwähnen, daß die Rasse von geklonten Eidechsensoldaten einen arabisch anmutenden Namen trägt: Den Jem’Hadar ist neben der Gefolgschaft der blinde Haß gegen die vermeintlichen Feinde ihrer Herren genetisch einprogrammiert. Sie hinterfragen die absolute Hierarchie des Dominions nicht und gehen auf Befehl in den Tod. Man kann sie nicht zur ›Vernunft‹ der Föderation bekehren. Sie scheinen zwar einerseits in Anlehnung an althergebrachtes Kriegerpathos den offenen Kampf zu bevorzugen, verfügen aber andererseits über Tarnvorrichtungen, die ihre Gestalt verschwinden lassen, so daß sie plötzlich vor ihren Feinden auftauchen und zuschlagen können. An den Jem’Hadar läßt sich somit eine der Methoden studieren, mit denen Star Trek Partikel der aktuellen Weltlage verbaut. Einzelne Eigenarten werden aus ihren gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen isoliert, nutzen aber die in deren Kraftfeld dominierenden Befürchtungen weiter aus. Bleibt zu hoffen, daß auch die Jem’Hadar im als Modellbox genutzten Fernsehen in ihrer Konstruktion zur Disposition stehen. 198

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Arbeitsmoralitäten Die Borg streben nach Perfektion. Sie suchen sie im uneingeschränkten Funktionalismus des Kollektivs. Die Borg kennen keine Freizeit. Ihr Leben besteht aus den Zyklen von Arbeit und Regenerationsphasen, in denen sie sich an die Energiekreisläufe ihrer Schiffe anschließen. Anders ist es in den Reihen der Föderation. Die Freizeitaktivitäten ihrer Protagonisten sind nicht einfach Merkmale von Individualität jenseits der militärischen Disziplin. Denn der Übergang von Freizeitspaß und Arbeitspflicht stellt sich fließend dar. Irgendwann kommt es zu der Situation, in der die über viele Folgen hinweg entwickelten Vorlieben und Marotten zu wertvollen Potentialen für die Gemeinschaft werden.16 Die Vereinnahmung der individuellen Interessen und Fähigkeiten für das Gemeinwohl dominiert das Geschehen zuweilen in einem Maße, welches die bürgerliche Ideologie einer ›Freizeit‹ ad absurdum führt. Da diese dennoch nicht aufgegeben wird, sorgt der Funktionalismus der Borg für seine eigene Art der Genugtuung, wenn er direkter – fast möchte man sagen ehrlicher – auf die Formen des Lebens zugreift.17 In dazu diametral entgegengesetzter Richtung verfahren die Gründer. Aus ihrer Haltung spricht Verachtung gegenüber dem Funktionalismus. Sie legen den Schwerpunkt auf Erfahrungen, die ihre körperlich-geistige Existenz bereichern. Odo, der von seinem Volk isolierte Gestaltwandler in den Diensten der Föderation auf Deep Space Nine, spricht einmal davon, daß man ein Objekt erst wirklich kennenlernt, wenn man seine Form annimmt. In seinem Quartier legt er sich einen Parcours mit den unterschiedlichsten formalen Gebilden und Oberflächenstrukturen an. Dort probiert er sich aus. Auch gibt es Gründer, die in die Weiten der 16. Z. B. nutzt Tom Paris’ Faible für das 20. Jahrhundert der Voyager-Crew oft bei ihren riskanten Zeitreisen in die Vergangenheit. Und seine Chefin Captain Janeway sichert sich die wichtigsten Ideen in ihren privaten Aufenthalten in einer durch den Computer generierten Welt, die nach dem Atelier Leonardos gestaltet ist. Natürlich sind die Ideen gemäß dem Künstlersujet als Inspirationen aufgemacht. 17. Solche Genugtuung gehört zum Darstellungskonzept. Sie nährt sich auch an anderen Spezies. Die Mitglieder der Föderation, in der die Geldwirtschaft abgeschafft ist, streben so nach höheren Werten, daß sich die Gewinnsucht der Ferengi in Deep Space Nine die amüsierte Gefälligkeit der Zuschauer sichert. (Ferengi-Erwerbsregel Nr. 10: »Gier währt ewig.«) Auch wenn die Ausleuchtung dieser etwas trüberen Seiten galaktischen Lebens nie soweit reicht, die heile Welt der föderativen Grundsätze zu stürzen, wohnt ihr doch ein Wissen um die immense Zwanghaftigkeit inne, die sich anhand der proklamierten Ideale im Star-Trek-Universum einnistet. Freilich ist dies auch ein Verfahren, die Identifikationsenergie vielschichtiger zu binden und den zwanghaften Druck der Föderations-Formationen nicht in Ekel vor dem ganzen Produkt umschlagen zu lassen. 199

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Galaxie aufbrechen, um sich selbst in verschiedensten Nachbildungen zu erforschen. So scheint es, als ginge die Darstellung der Formwandler konform mit der Einsicht, daß die Seinsweisen des Körpers die lebendigen Bedingungen von Wahrnehmung und Denken sind. Aber die Gründer geben dieser Einsicht eine ebenso penetrante wie elitäre Wendung. Permanent werden die Bewußtseinshorizonte, zu denen man natürlich nur als Formwandler aufbrechen kann, in einer Art gepriesen, die eher unangenehm an die geschwätzigen Reden von LSD-Jüngern erinnert. Man wartet nicht lange auf religiöse Attribute. Muß ein Formwandler das Dominion nach außen in einer humanoiden Gestalt vertreten, gemahnt deren Gewand und Auftreten stets an das eines klerikalen Würdenträgers. Die extreme Variante der Gründer, ihre Körperflüssigkeiten auszutauschen, besitzt neben erotischen Konnotationen immer auch Anspielungen auf ekstatisch religiöse Erfahrung. Und schließlich scheint das Kloster das Modell für das Nonplusultra der Erfahrung darzustellen. Trotz ihrer Wanderschaft und allem Austausch mit den Welten, liegt der Höhepunkt der Erfahrungsdichte für die Formwandler dann doch in den eigenen Fluten. Am Ende bevorzugen sie ein von der Welt – vom Weltlichen überhaupt – abgeschiedenes Dasein. Am liebsten im Zustand kollektiver Verschmelzung in der – wie sie es nennen – Großen Verbindung. Das ist ein Körpersee, der aus der dickflüssigen Masse unzähliger Gründer besteht. Die gemachten Erfahrungen werden hier eingebracht.

Wert und Differenz der Körper Das Kollektiv der Borg duldet keine Unzulänglichkeiten und Schwächen in der jeweiligen Funktionseinheit. Arbeitet eine Drone nicht mehr richtig, wird sie repariert. Ist sie zu stark beschädigt, wird sie deaktiviert, und die technischen Komponenten ihres Körpers finden weitere Verwendung. Der Verlust der organischen Anteile ist in dieser Lebensform unerheblich. Alle Spezies der Galaxis sind für die Borg Nachschubquellen für organische Materialien. Sie werden nach ihrem Gebrauchswert und dem Widerstandsgrad bei der Assimilation klassifiziert. Stirbt ein Borg, bedeutet es für das Kollektiv nicht viel mehr als die Ausscheidung von abgestorbenen Zellen für unsere Vorstellung des menschlichen Körpers: zu entsorgender Abfall. Dagegen wird Star Trek nicht müde, an den Figuren der Förderation das Motto ›Einer für alle, alle für einen!‹ zu beweisen. Ähnlich scheinen die Formwandler zu verfahren, denn einer der ihren ist ihnen unendlich kostbar. Während sich jedoch die Föderation dazu bereit gibt, den Wert des Individuums auch jenseits ihrer eigenen Reihen – zweifellos im Sinne einer auf alle Spezies erweiterten Konzeption der Menschenrechte

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Abbildung 3: Odo – Formwandler und Sicherheitschef auf »Deep Space Nine«

– zu akzeptieren, sind die Formwandler rassistisch. Andere Rassen – vor allem die an ihre Körperform gefesselten Humanoiden – gelten ihnen als minderwertig. Ihr Rassismus wurzelt in der Erfahrung des eigenen Verfolgt-Seins. Wegen ihrer Andersartigkeit werden die Formwandler fast

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überall in der Galaxis gefürchtet und diskriminiert. Nach dem Muster aller rassistischen Paranoia rechtfertigen sie daher ihren Eroberungskrieg gegen die Föderation als Selbstverteidigungsstrategie. Während das Zerfließen der Formwandlerkörper und das Wandeln der Gestalten mit Grenzüberschreitung und Grenzenlosigkeit assoziiert werden, dient also die Unterwerfung anderer den Gründern dazu, den Rassenunterschied als unüberwindbare Grenze zwischen den Spezies zu zementieren. Gleiches kann man von den Borg keinesfalls behaupten. Sie sind in vieler Hinsicht Formen des Eindringens verbunden, die zunächst Grenzverletzungen sind, letztlich aber auf die endgültige Auflösung der Grenzen – des Prinzips Grenze überhaupt – zugunsten der einen Lebensform im Technikkollektiv zielen. Die Unterwerfungsweise der Borg besteht also darin, die Differenzen der verschiedenen Spezies im Funktionalismus zu nivellieren. Assimilation bedeutet einzudringen in den organischen Körper, ihn von innen her kompatibel zu machen und dem Technikkollektiv hinzuzufügen. Spezielle Dronen fahren an ihren Händen Röhrchen aus, um sogenannte Nanosonden in den Körper einzuführen. Die mikroskopisch kleinen Nanosonden setzen den Prozeß der Assimilation bei den kleinsten Teilen des Körpers an. Der immer wieder gespenstische Vorgang, in dem einer der überstarken Borg einen Körper packt und ihm die Röhrchen auf der Tonspur begleitet von einem Zischen in das Fleisch treibt, erinnert in manchem an die Attribute des Vampirismus. Der Hals ist stets der Ort, an dem die Röhrchen in den Körper eindringen. Ad hoc verändert sich die Farbe der Haut zur typischen anorganisch grau-grünen Mamoration der Borg, unter der man das rote Blut, das zuvor den Körper durchflossen hat, nicht mehr zu finden glaubt. Obwohl die Borg rein technisch gesehen die Nanosonden in den Körper einspeisen, wirkt es, als entzögen sie ihm die Seele, als saugten sie das Leben, wie es einmal war, heraus, um ein fremdes Dasein entstehen zu lassen. Bioextraktionsprozeß nennen sie das. Im Begrüßungsspruch des Technikkollektivs heißt es: »Wir sind die Borg! Sie werden assimiliert werden! Widerstand ist zwecklos!« Und manchmal fügt das Kollektiv aufklärend noch hinzu: »Ihre Existenz bis zum jetzigen Zeitpunkt ist beendet!« Gilles Deleuze und Félix Guattari haben über Vampire gesagt, daß sie sich nicht durch Fortpflanzung, sondern durch Ansteckung ausbreiten.18 Das gilt auch für die Borg. Man muß nicht als einer der ihren geboren sein. Im Gegensatz zum erotisch aufgeladenen Vampirismus gehen allerdings den Borg alle äußeren Anzeichen von Befriedigung bei ihrer Art der Ansteckung ab. Die einzelnen Geschöpfe für sich erscheinen in ihrer kol18. Vgl. Deleuze, Gilles u. Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Übs. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin 1992, 329-330. 202

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lektiven Bestimmung mechanisch lustlos und sind darin der Figur des Zombies näher. Auch bei den Zombies sind Verluste in den eigenen Reihen ohne Bedeutung, denn ihre Armee greift auf die unerschöpflichen Kontingente aus dem Reich der Toten zurück. Freilich agieren die Borg viel organisierter, eben auf dem taktischen Niveau von high technology, während die Zombies in schlichten Zusammenrottungen verfaulender Körper auftreten. Aber die bedingungslose Ausrichtung auf ihr Ziel ist beiden gemein. Sowohl Borg als auch Zombies bewegen sich als Einzelkörper langsam, aber im Kollektiv unaufhaltsam. In der machtvollen Stummheit ihrer Kollektivkörperbewegungen wirkt ein auf seinen universellen Triumph ausgerichtetes Prinzip, das den Wünschen, Lüsten und Rechten der individuellen Sphäre gleichgültig gegenübersteht. Der Triumph dieses Prinzips besteht schlichtweg darin, sich gegen jeden Widerstand auszubreiten. Weil dabei Angst, Schuldgefühle oder Reue keinerlei Bedeutung haben, liegt in den Horrorphantasien der Zombies oder Borg immer auch der Impuls, sich von ihnen erlösen zu lassen.19

Technikphantasmen Das Konzept der Föderation, die Integration fremder Potentiale für sich zu nutzen, ist uns aus der Debatte um Einwanderung nur allzu gut bekannt. Tatsächlich wirkt es bisweilen so, als seien die Verfahrensweisen von Borg und Gründern der Alptraumphantasie eines Einwanderes entsprungen: hier das verschlingende, die Persönlichkeit nivellierende Kollektiv, dort die rassistische Abwertung. Allerdings sind die Kollektivkörperphantasmen so vielfach geschichtet, daß sie darin nicht aufgehen. Die totalitäre Formation des Dominions läßt sich ebenso als ein Erinnerungsbild der amerikanischen Sklavengesellschaft lesen. Die Borg erscheinen als eine Anti-Utopie zur utopischen Hoffnung, daß der technische Fortschritt automatisch zur Demokratisierung führt. Das Problem der Technik nimmt in der Konfrontation der Föderation mit den Kollektivkörperspezies den größten Stellenwert ein. Bei den Gründern wird die Körpertechnik der Formwandlung über die in den 90er Jahren verbreitete Computerbildtechnik des Morphing realisiert. Faszination und Bedrohung des wandelbaren Flüssigkörpers sind somit in eins gesetzt mit derjenigen der digitalen Technik. Der Computer selbst steht für ein Zeitalter ohne Beständigkeit, in welchem sich die menschliche Wandelbarkeit hörig der beschleunigten technischen Entwicklung unter19. Man mag darin den Wunsch sehen, endlich zur totalen Entspannung zu kommen. Aber die dahin strebende Energie ist eher als Reaktion auf die Schwierigkeiten des Daseins, denn als eine ursprüngliche und zeitlich vorgängige Kraft (Todestrieb) zu denken. 203

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stellt, indem sie den Wahn flexibler Anpassung zum allgemeinen Leitbild erhebt. In einer Welt jedoch, in der es die Flexibilität der Formwandler gibt, ist das Vertrauen in die nur noch vermeintlich bekannten Dinge und auch in die Mitwesen der eigenen Gemeinschaft tief erschüttert. Die Körper sind nicht mehr das, was sie zu sein scheinen. Die unheimlichste Bedrohung durch das Dominion besteht für die Föderation darin, daß ihre Führungsebenen im Verborgenen durch verwandelte Gründer ersetzt werden. Auf andere Weise ist die Anpassung auch die Stärke der Borg. Mit ihrem kollektiven Bewußtsein und ihrem unerschöpflichen Reservoir an assimilierter Technologie passen sie sich jeder Situation an. Die einprägsamste, oft wiederholte Anpassungsleistung ist diejenige gegenüber Strahlenwaffen. Ein Borg wird niedergeschossen, übermittelt aber dem Kollektiv noch im Moment des Sterbens die technischen Daten der Waffe. Der nächste Borg – es gibt immer einen nächsten Borg – hat seine ›Schutzschilde‹ dementsprechend konfiguriert. Selbstredend gibt die Computertechnik auch für das unzerstörbare Netzwerk, durch welches das Kollektivbewußtsein der Borg sich zusammenhält, das Vorbild ab. Dabei besitzt die Borgtechnik eine ebenso fremde wie mächtige Eigendynamik, für die Föderation unkontrollierbar. Die Technik lebt. Sie regeneriert sich selbst nach Beschädigungen. Und sie breitet sich wie organisches Leben aus. Nach ihrem Aufenthalt auf der Voyager lassen die Borg Umbauten zurück, die wie dunkle, grünlich leuchtende Geschwüre an der hellen glatten Außenhülle des Raumschiffs aussehen. Die Föderationscrew spricht explizit von Wucherungen, die entfernt werden müssen. Nähert sich der Blick einem der riesigen Borgschiffe, wird die Oberfläche zu einem komplexen Relief, fast pflanzlich mit seiner grünen Beleuchtung. Seine Verworrenheit weist keine entschlüsselbaren funktionalen Differenzierungen, etwa zwischen Antriebs-, Wohn- und Kommandobereichen auf, wie sie im augenscheinlichen Ornament der Föderationsschiffe hervorstechen. Und ist ein Föderationsteam im Außeneinsatz auf einem Borgschiff, befindet es sich stets in einem unübersichtlichen Labyrinth. Das Borgkollektiv selbst scheint mit seiner Technik fertig zu werden. Die Raumschiffe sind überdimensionale Kuben, in denen die wuchernden Gerätschaften in eine überaus klare Form gebracht sind. Innerhalb der Schiffe arbeiten an allen Ecken und Enden Dronen nach einem übergeordneten, aber nicht erkennbaren Plan und vom äußeren Geschehen stets unbeeindruckt wie Roboter. Was hier mitschwingt, ist das in der Science-fiction häufig verwendete Schreckensmotiv einer Selbstkontrolle intelligenter Technik, die das organische Leben in absolut rationalistischer Weise als einen Rohstoff unter anderen betrachtet.

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Re-Individualisierung, Integration Die Bewältigung beider Technikphantasmen durch die Föderation wird einer Demonstration der Integration und Individualisierung anvertraut – und zwar anhand von zwei Angehörigen der Kollektivkörperspezies. Diese Demonstration erschöpft sich nicht allein in der Isolation vom Kollektivkörper. Denn Borg und Gründer sind noch als Einzelne Agenten der Körpergroteske. Die Uniformen der Sternenflotte produzieren das Körperbild in deutlichen Konturen. Begradigende Polster hier und dort sowie eine klare, regelmäßige Farbgebung präferieren die stabilisierende Linie innerhalb der Figurenkomposition. Mit besonderer Nachdrücklichkeit pocht somit die föderative Physis auf jenes Konzept des abgeschlossenen Körpers, das Michail Bachtin dem grotesken Körper und seinem materiellen Austausch mit der Welt entgegensetzt.20 Die Gründer dagegen verlachen und verachten den abgeschlossenen Einzelkörper im Zerfließen. Ebenso gibt es keine Borgdrone, der nicht Schläuche am Kopf ein- und austreten, deren Sinnesorgane nicht durch hervorstehende Techniksensorien ersetzt wurden oder die an ihren Gliedmaßen nicht multifunktionale Werkzeuge ausfahren kann. Die Abtrennung eines Borgs oder Gründers aus ihren Kollektivkörpern ist somit erst dann Integration, wenn die fremde Technik auch innerhalb der individuellen Physis einigermaßen bezwungen wird. Nur einigermaßen, weil Star Trek den zu integrierenden Körpern einen Rest an Fremdheit und Eigensinn, wie als Beweis für die Gültigkeit der Obersten Direktive, beläßt. Auf der Raumstation Deep Space Nine ist der Formwandler Odo als Sicherheitschef tätig. Die Anerkennung seiner Person geht so weit, daß ihm sogar die Liebe einer humanoiden Frau – namentlich Mayor Kira – zuteil wird. Diese monogame Liebe verlangt von Odo ein individuelles Dasein und eben auch eine humanoide Gestalt. Mayor Kira thematisiert das Problem der unbeständigen Form ihres Partners mit den Worten: »Wenn ich einem Mann einen Gute-Nacht-Kuss gebe, möchte ich wissen, wohin ich ihn küsse.« Aber noch das Gesicht, welches den Kußabsichten die richtige Stelle weist, ist lediglich eine Deformation menschlichen Aussehens. Wulstig und fahl erinnert es beharrlich an die wandelbare Physis. Wenn Odo bei der Massage der Geliebten nur dort, wo seine humanoide Gestalt ansonsten Nachbildungen von Händen besitzt, den Flüssigkörper für ein besseres Feingefühl aktiviert, liegt darin mehr als eine witzige Einlage. Im humoristischen Mantel kommt die Grenze daher, an die unsere Vorstellungskraft bezüglich der nie wirklich gezeigten Sexualität des ungleichen Paares stößt. 20. Vgl. Bachtin, Michail M. Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a.M. 1990. 205

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Auf der Voyager erfährt die Borgdrone Seven-of-Nine ihre Re-Individualisierung auf zwei wichtigen Ebenen. Zum einen findet über mehrere Folgen ein medizinisch-technischer Exorzismus statt, im Zuge dessen der holographische Föderationsarzt die meisten Borgimplantate im Körper des neuen Besatzungsmitgliedes neutralisiert. Die Reste trägt die ehemalige Borg wie Schmuck im Gesicht ihrer neu und glatt designten Physis. Hier und dort, manchmal nur im Alptraum, aktivieren sich die übriggebliebenen Implantate nochmals und beginnen, bedrohlich zu wuchern. Aber diese Momente werden überlagert von jenen, in denen die integrierte Technik genauso wie auch Odos Körpervermögen den Föderationsbelangen nutzt – und zwar insbesondere im Krieg gegen die ursprünglichen Kollektive. Abbildung 4: Seven-of-Nine – ehemalige Borg und Crewmitglied der »Voyager« – mit einer Borgdrone

Auf einer zweiten Ebene wird Seven-of-Nine in die Freundschafts- und Familienbande der Besatzung integriert, vor allem in einer Art Adoption durch den weiblichen Captain Kathryn Janeway. Wenn die Borgkönigin in der Serie Voyager auftritt, avanciert die Angelegenheit Föderation gegen Borg endgültig zur Frauensache.21 Zwei Mutterfiguren kämpfen um die 21. Jene weibliche Konnotation der modernsten Technologie, die insbesondere im Zuge 206

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Tochterfigur Seven-of-Nine. Dabei zeigt sich die Königin als Sprecherin der Borg und klärt uns über den eigenwilligen Erlösungsanspruch des Kollektivs auf: Emotionen, Zweifel, Gewissen, alles ›irrelevant‹. Im Borgkollektiv herrscht nicht mehr die Kleinheit respektive Kleinlichkeit der individuellen Existenz, sondern die Größe der kollektiven Perfektion, der perfekten Ordnung. Erst das Erscheinen der Königin macht das Muster des Duells zwischen außergewöhnlichen Individuen möglich. Aber die exponierte Borg stellt keineswegs nur den einfachen Tribut an die dramaturgischen Gesetze der amerikanischen Populärmythologie dar. Vielmehr ist sie darüber hinaus ein Mittel, den Schock zu verarbeiten oder wenigstens abzuschwächen, der mit der Lebensform der Borg verbunden ist. Denn ohne die Königin würde sich aus der Monotonie immer wieder gleicher Handlungsweisen des anonymen Kollektivs früher oder später die Herausforderung für unsere Einbildungskraft ergeben, den zentrumslosen Kollektivkörper zu denken. Die Bildung von Zentren stellt neben den ethischen und disziplinären Koordinaten eine Hauptmethode von Star Trek dar, die Probleme des Universums in den Griff zu bekommen. Der Verlust der einen Mitte wird durchaus nicht ignoriert. Man ist eben nicht mehr allein in den Galaxien. Aber die Vielfalt der Lebensformen und Raumzeiterfahrungen wird immer noch im Schema der Zentrierung abgewehrt. In jedem Territorium dominieren bestimmte Völker. Die Völker haben Heimatwelten. Auf den Heimatwelten gibt es Hauptstädte. Schließlich bilden die wichtigen Figuren eines Volkes – zumeist auch noch die politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Führer – die Handlungszentren der Seriendramaturgie. Die Zentrumsbildung ist unmittelbar eine Frage der Darstellungsform. Als die Spannungs- und spätere Kriegslage in Deep Space Nine verschiedene parallele Handlungsorte umfaßt, wird zügig zwischen den Schauplätzen hin und her gewechselt. Als etablierende Einstellungen der von Donna Haraways Theorie des Cyborgs (vgl. Haraway, Donna Jeanne. Simians, Cyborgs, and Woman. The Reinvention of Nature. London 51998). Aufmerksamkeit gewonnen hat, klingt auch in der Darstellung der exponierten Borg an. Während die Königin in ihren außerordentlichen Momenten bedrohlich faszinierende und physisch entgrenzende Aspekte in sich vereint, folgt das Bild ihrer verlorenen Tochter Seven-of-Nine allzusehr dem stereotypen Schönheitsideal der ›kühlen Blonden‹. Wie schon der unberechenbaren Natur im bürgerlichen Ideal der guten Frau, geht es hier der wuchernden Technik. Sie wird im Fetisch des perfekten weiblichen Körpers (symbolisch) befriedet. Immerhin gewinnt die Serie Voyager einen passablen Punkt für sich, wenn sie an die Spitze der disziplinären Maschinerie mit Captain Janeway ebenfalls eine Frau setzt, die alle ehemalig männlichen Haltungen – die befehlsgewaltigen und bärbeißigen wie die paternal fürsorglichen – ausprobieren darf. 207

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Wechsel funktionieren weite Bilder einer typischen Landschaft oder Skyline des entsprechenden Planeten bzw. die Totalen der gemeinten Raumschiffe. Ohne jede Gefahr der Desorientierung springt das montierte Bild von diesen Erkennungszeichen auf die eigentlichen Orte des Geschehens, wo die bekannten Figuren in halbnahen oder noch größeren Einstellungen ihren Beitrag zur Handlung leisten. Angesichts dieses in seiner Routine entleerten Residuums klassischer Filmästhetik, wünscht man sich schon, Star Trek würde dann und wann in jenes »nichtzentrierte Universum«22 vorstoßen, welchem das Bewegungsbild potentiell verbunden ist. Überdies könnte die Modellbox um eine Dimension erweitert werden, in der die Montagestrukturen und Kompositionsverfahren neben den Kollektivitäten, die sich aus ihnen zusammenbauen, zur Disposition stehen. Im besten Fall wäre dabei nicht aktuelle Vielfältigkeit, sondern virtuelle Vielheit das Prinzip. Immerhin die Parole für diese anzustrebende Dimension liefert Star Trek selbst, genauer gesagt das auf die Abkürzung IDIC gebrachte spirituelle Urideal der Vulkanier, jener Spezies, die vom Planten Vulkan stammt und zu den Gründungsvölkern der Föderation gehört: »Infinite Diversity in Infinite Combinations«.

22. Deleuze, Gilles. Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übs. v. Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann. Frankfurt a.M. 21990, 91, vgl. a. 94: »Wenn die natürliche, subjektive Wahrnehmung für den Film keineswegs Modell ist, dann deswegen, weil die Beweglichkeit seiner Zentren, die Veränderlichkeit seiner Kadrierungen immer zu einer Wiederherstellung von ausgedehnten Zonen ohne Zentrum, ohne Bildfeldbegrenzungen, führt […].« 208

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SELBSTINTERVIEW AM 27.11.2000

Selbst-Interview am 27.11.2000 Xavier Le Roy

X1 Womit sollen wir beginnen? Y1 Vielleicht mit dem Anfang oder dem Ursprung dieses Projekts mit dem Namen E.X.T.E.N.S.I.O.N.S., darum sind wir ja hier. Was war denn nun die erste Idee, die Sie dazu brachte, dieses Projekt zu initiieren, und wie hat alles begonnen? X2 Ich weiß nicht genau, wie und wann das Projekt begann. Aber ich erinnere mich daran, daß zu dieser Zeit meine Hauptfrage der Zusammenhang zwischen Produktion und Produkt beim Prozeß der Arbeit für Tanzoder Theateraufführungen war. Zur gleichen Zeit habe ich mich gefragt, welche Zusammenhänge bestehen mögen zwischen der Art, wie die Konzeption eines Körpers repräsentiert wird und wie diese Repräsentation produziert wurde. Mir fiel auf, daß – analog zu einem Experiment-Aufbau – eine künstlerische Produktion auf nichts anderes reduziert werden kann, als auf die Elemente, aus denen sie besteht. Das ist der Grund, warum es notwendig ist, ein Maximum dieser konstitutiven Faktoren als inhärente Fragen in die Arbeit einzubeziehen. Das könnte einen Weg darstellen, die Trennung zwischen den Hauptpunkten, dem Kontext und der Repräsentation der gesamten Arbeitssituation zu vermeiden. Danke an Isabelle Stengers. Y2 Das klingt sehr verwirrend und ist für mich nahezu unverständlich. Könnten Sie etwas konkreter werden, z. B. welche Konzeption des Körpers es ist, von der Sie sprechen? X3 Ich weiß nicht, ich wollte assoziieren, was mir aufgefallen ist bei Aufbauten von künstlerischen Produktionen, und ich wollte gerade einige kaum merkliche Wahrnehmungen des Körpers, deren Komplexität und Kontext der Darstellung in Betracht ziehen.

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XAVIER LE ROY

Y3 Das klingt sehr verwirrend und ist für mich nahezu unverständlich. Könnten Sie etwas konkreter werden, z. B. welche Konzeption des Körpers es ist, von der Sie sprechen? X4 Ich weiß nicht. Aber ich wollte ein Arrangement schaffen, das versucht, die am Produktionsprozeß beteiligten Parameter zu berücksichtigen, um etwas zu schaffen, das man etwa mit »einer Kritik ihrer Trennung« beschreiben kann. So wollte ich beispielsweise gleichzeitig die prozessualen chronologischen Aspekte der Arbeit erfragen und auch ein Körperkonzept vorschlagen, das weder den Körper noch den Geist bevorzugt oder ein Körperteil dem anderen vorzieht oder die Zeichen und Sinne eines menschlichen Körpers mit denen eines nicht-menschlichen Körpers vergleicht. Y4 Das klingt sehr verwirrend und ist für mich nahezu unverständlich. Könnten Sie etwas konkreter werden, z. B. welche Konzeption des Körpers es ist, von der Sie sprechen? X5 Ich weiß nicht so recht. Ich frage mich beispielsweise oft, warum unsere Körper an unserer Haut enden sollten oder nicht etwa bestenfalls andere Körper beinhalten sollten, Organismen oder Objekte, die von der Haut umgeben sind? Y5 Ich weiß auch nicht. Sie sprechen vielleicht über die Tatsache, daß das Körperbild in hohem Maß flüssig und dynamisch ist. Daß dessen Grenzen, Ecken oder Konturen »osmotisch« sind und daß sie die bemerkenswerte Kraft haben, in fortwährendem Austausch auszutreiben und einzuverleiben. X6 Ja. Wie Sie schon sagen, sind Körperbilder in der Lage, sich an eine sehr große Spannbreite von Objekten und Diskursen anzupassen und sie sich einzuverleiben. Alles, was in Berührung kommt mit Oberflächen des Körpers und Gelegenheit hat, da lange genug zu bleiben, wird in das Körperbild mitaufgenommen. So zum Beispiel Kleidung, Schmuck, andere Körper, Objekte, Worte, Lieder usw. All das kann den Körper kennzeichnen, seinen Gang, seinen Ausdruck, sein Reden, seine Diskurse, seine Positionen usw. – zeitweise oder mehr oder weniger dauerhaft. Zum Beispiel laufen wir nicht auf die gleiche Art oder haben nackt nicht den gleichen Ausdruck wie angezogen. Y6 In anderen Worten sagen Sie mir, daß das Körperbild sowohl eine Funktion der Psychologie und des sozio-historischen Kontextes eines Menschen ist, als auch seiner Anatomie. Und daß alle Arten von nicht-menschlichen Einflüssen in uns verwoben sind. 210

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SELBSTINTERVIEW AM 27.11.2000

X7 Genau. Daher muß es noch eine andere Alternative zum Bild des Körpers geben als die anatomische. Y7 Woran denken Sie da zum Beispiel? X8 Zum Beispiel: Ich denke, daß der Körper verstanden werden kann als Raum und Zeit für Verkehr und Austausch. Danke an Elisabeth Grosz für diesen Vorschlag. Y8 Tatsächlich ist das eine sehr vereinfachte, ja sogar einfältige Idee. Was Sie sagen ist, daß das Körperbild schrumpfen oder sich erweitern kann; daß es Teile an die Außenwelt geben kann und andere Teile in sich aufnehmen kann. Können Sie erklären, was diese Art, den Körper zu verstehen, für Sie bedeutet? X9 Ich weiß nicht so recht, aber: Würde man dieser Idee folgen, würde das bedeuten, daß jedes Individuum als eine Unendlichkeit von sich ausdehnenden Teilen verstanden werden könnte. Mit anderen Worten, es gäbe nur zusammengesetzte Individuen. Ein Individuum wäre eine Vorstellung, komplett ohne Sinn. … einige Körperteile verlassen meinen Körper, gehen eine andere Beziehung ein, eine Beziehung mit irgendetwas, eine Beziehung mit einer Mücke, wenn sie mich sticht, die Beziehung … Ich integriere dauernd Teile in meine Beziehung. Wenn ich esse, zum Beispiel, nehme ich ausgedehnte Teile in mir auf. Was heißt das, wenn ich von »Teile aufnehmen« spreche? »Teile aufnehmen« heißt, sie dazu zu bringen, die vorherige Beziehung, aus der sie gemacht sind oder die sie eingegangen sind, zu verlassen, um eine neue Beziehung einzugehen. Diese neue Beziehung ist dann eine von den meinen, z. B. mit Fleisch mache ich mein eigenes Fleisch. Schauderhaft – na und? Wir müssen leben (Lachen). Es hört nie auf, so zu sein: Schocks, Aufnahme von Teilen, Transformation von Beziehungen. Zusammensetzungen bis in die Unendlichkeit und so weiter. Dieses System externer Teile nebeneinander, das nie aufhört zu reagieren, das zur gleichen Zeit Teil des unendlichen Ensembles ist, in welchem es sich befindet, das nie aufhört, sich zu wandeln, das ist genau das System der unangemessenen Idee, aus der verwirrte Wahrnehmungen, passive Affekte und Leidenschaften erwachsen. Mit anderen Worten, weil ich aus der Anordnung einer Unendlichkeit von unendlichen Anordnungen extensiver Teile bestehe, höre ich nie auf, externes Material anzunehmen. Wahrnehmungen meiner selbst und meiner Beziehungen zu externem Material. Aufnahmen von externem Material in Beziehung zu mir selbst, und das alles ist es, das die Welt von Zeichen ausmacht. Dank an Deleuze, Dank an Spinoza.

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XAVIER LE ROY

Y9 OK. Lassen sie uns etwas herunterkommen und dann an den Anfang zurückgehen. Band wird zurückgespult. X10 So, womit sollen wir beginnen? Y10 Vielleicht mit dem Anfang oder dem Ursprung dieses Projekts, genannt E.X.T.E.N.S.I.O.N.S., deshalb sind wir ja hier. Also was war die erste Idee, die Sie dieses Projekt initiieren ließ und wie hat es begonnen? X11 Keine Ahnung. Projektursprünge gibt es viele und es hat sich in vielen verschiedenen Phasen entwickelt. Aber ich denke, der erste Schritt war, ein Projekt zu schreiben, um finanzielle Unterstützung zu bekommen. Y11 An wen haben Sie das Projekt adressiert und können Sie eine chronologische Beschreibung des Projektes machen? X12 Gut, wie ich schon sagte, bestand die erste Phase darin, meine die choreographische Kunst betreffenden Fragen niederzuschreiben und den Senat für Kultur, Forschung und Wissenschaft in Berlin um Unterstützung zu bitten. Ich bat um etwas, das man als »Basis-Förderung« bezeichnet. Das ist eine Unterstützung, die für zwei Jahre vergeben wird. Dafür habe ich zusammen mit Petra Roggel eine GbR mit dem Titel In Situ Productions gegründet. In Situ Productions erhielt eine Unterstützung von 100.000,00 DM pro Jahr für 1999 und 2000. Nach diesen guten Nachrichten schickte ich einen Einladungsbrief an etwa 20 Personen, um sie zur Teilnahme bei E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. einzuladen. Eigentlich war der Brief die zweite Formulierung des Projektes. In der Zwischenzeit bat ich Stefan Pente mitzuarbeiten und die erste Phase des Projekts zu starten. Das Projekt beinhaltet zwei große Phasen. Die erste wurde E.X.T.E.N.S.I.O.N.S.#1 genannt und fand Ende Sommer vier Wochen lang während des Festivals Tanz im August statt; anschließend wurde das ganze bei einer zweiwöchigen Veranstaltung in Antwerpen im Rahmen des Ausstellungsprojekts Laboratorium weitergeführt. Die zweite Phase des Projekts entwickelte sich seit Ende 1999 in diversen Projekten, die von unterschiedlichen Teilnehmern initiiert wurden. Mein Vorschlag war, daß die Teilnehmer Transformationen, Reproduktionen, Entwicklungen in bezug zur ersten Phase umsetzen können oder Kritik an der ersten Periode der Arbeit üben oder über die generellen Ideen des Projekts arbeiten können. Diese Projekte sind Teil von E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. und werden produziert mit Unterstützung von In Situ Productions, die wir vom Senat der Stadt Berlin erhalten haben, und mit 212

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Hilfe vom Podewil und der Tanz-Werkstatt. Dies ist ein sehr wichtiger Parameter des Projekts, weil hier versucht wird, den politisch-wirtschaftlich-kulturellen Kontext, in dem wir arbeiten, zu durchleuchten. Y12 Was waren die Ideen und Fragen, die Sie den Teilnehmern angeboten haben? X13 Diese Angebote und generellen Ideen wurden, wie ich bereits sagte, im ersten Brief formuliert, den ich den Teilnehmern als Einladung schickte: »Experimente und Erforschungen über menschliche und nichtmenschliche Körper als gegenseitige Erweiterungen durch und mit Hilfe von ›bewegungsbasierter-Kunst‹, ihren Performances und Repräsentationen. Vorstellung der Beziehungen zwischen den ›Produkten‹ und Produktionsmodi dieser Experimente und Forschungen im Feld (Zeit und Raum) ihrer Entwicklung. Transformation und Rückkopplung dieser Forschungen durch ›andere‹ in einer zweiten Periode.« Später, in einem zweiten Brief, bot ich eine Art Definition für E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. an: »Man könnte sich E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. als eine organisierende Idee oder Arbeitskonzeption vorstellen und gleichzeitig an Fragen zur Performance denken, an Körper-Repräsentationen. Zugleich ist es selbst Performance.« Y13 Können Sie erklären, warum Sie diese Angebote machten? X14 Während des Arbeitsprozesses für die Produktion eines Tanzstückes gibt es üblicherweise einen Schnitt oder eine Lücke zwischen der Wiederholungsperiode und der öffentlichen Aufführung – eine Art blinder Pfad vom Privaten zum Öffentlichen. Es ist eine delikate Frage, die aber nicht ignoriert werden kann. Man kann ihr nicht entfliehen. Ich kann die Trennung zwischen Proben und Aufführung nicht akzeptieren, denn ich denke, daß man die Präsentation der Körper nicht vom Set up trennen kann, durch das man diese Repräsentation geschaffen hat. Ich möchte die Frage nach diesem Pfad in jedem Moment der Produktion berücksichtigen. Daher schlage ich vor, überblicksweise zu arbeiten und zugleich die Komplexität der Prozesse während der Aufführung und deren Produktion zu beachten. Y14 Irgendwie scheint das, wovon Sie reden, genau das zu sein, was in jeder Präsentation angeboten und gezeigt wird, die das Prinzip der Improvisation nutzt. X15 Irgendwie haben Sie recht. Aber es gibt da Unterschiede. Ich denke, diese Art von Improvisation, auf die Sie verweisen, wird benutzt als eine 213

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XAVIER LE ROY

Methode zur spontanen Komposition, und das zeigt im allgemeinen Ästhetik, Körperbilder und Regeln, die spezifisch sind für eben diese Spontaneität. Diese Art der Repräsentation legt grundlegende Fragen offen, ihre Form aber hängt zu sehr von der Annahme und dem Vertrauen ab, daß es ein geteiltes und sofortiges Interesse zwischen privaten und öffentlichen Aktionen und Wahrnehmungen gibt. Und ich denke, daß dies eine ungenügende Antwort ist. Denn sie favorisiert die individuelle Überraschung in der Hoffnung, daß sie eine kollektive Überraschung sein wird. Aber ich denke, das ist eine Annahme, die man nicht an ein Publikum herantragen kann. Tatsächlich handelt es sich hier um ein Problem, das wir auch während E.X.T.E.N.S.I.O.N.S.#1 hatten, als zum Beispiel der Gebrauch der Freiheit, in irgendeiner Form zu handeln, in eine Repräsentation der Freiheit transformiert wurde. Und das war aus meiner Sicht ein Fehler des Projektes. Y15 Es scheint, als hätten Sie einige klare Ziele und Wünsche gehabt, die erfüllt werden mußten. Ist das nicht ein Paradoxon, die Art, wie Sie das Projekt entwickelt haben? Hatten Sie spezielle Erwartungen? X16 Ich weiß nicht so recht. Ich wollte zwischen den Arbeitsprozessen arbeiten, die jeder von uns kennt und praktiziert, um neue zu finden. Ich erwartete, daß wir uns auf die Fragen und Probleme konzentrierten, die ich formuliert hatte, ohne in die komfortablen Gewohnheiten bekannter Erfahrungen zu flüchten, die man unendlich oft wiederholen kann. Y16 Haben Sie etwas gefunden? X17 Keine Ahnung. Ich denke, daß wir manchmal durch Momente gegangen sind, die Schnipsel von Antworten enthielten. Aber die erste Arbeitsperiode (E.X.T.E.N.S.I.O.N.S.#1) warf neue Fragen auf und zeigte die Schwierigkeiten, die sich bei der Arbeit an meinen Ideen ergaben. Letztlich wurde deutlich, denke ich, daß sich einige Unmöglichkeiten einstellten. Vielleicht, weil das Ganze zu utopisch war und wie jedes utopische Projekt Vorstellung und Rationalität vermischte. Daher ist es ambivalent und eine Quelle von Paradoxien. Dank an Michel Bernard. Y17 Welche Art von Paradoxien und Schwierigkeiten zeigten sich und warum reden Sie von Fehlern? X18 Ich weiß nicht. Vielleicht ist es so, weil ich eine Zone des Zusammentreffens von Ideen schaffen wollte, die auf den ersten Blick gegensätzlich schienen. Und ich glaube, ich habe nach etwas wie einer »Disziplinierung des Unbekannten« gesucht, um der Notwendigkeit des Wissens als einzi214

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gem Werkzeug, der Aktivität und der Existenz zu entkommen. Das war ein etwas giftiges Geschenk, das ich den Teilnehmern machte. Es war in etwa so, als ob ich etwas, das ich selbst nicht wollte, an Menschen gab, die es auch nicht wollten. Dank an Lacan. Daher gab es in der ersten Phase des Projekts viele Möglichkeiten fehlzuschlagen. Y18 Können Sie mir sagen, warum Ihr Angebot ein giftiges Geschenk war? X19 Ich weiß nicht. Meine Vorschläge waren vielleicht zu totalitär und haben daher den Teilnehmern die Kraft genommen, ihnen aber gleichzeitig eine Illusion der Möglichkeit von Selbstausdruck oder sozialem Ausdruck geboten. Und vielleicht hat gerade das eine Mischung aus Entfremdung und Trennung geschaffen. Meine Vorschläge wurden mitunter als ein Hindernis zum Selbstausdruck gesehen. Und ich glaube, das kam vom ästhetischem Fetischismus oder der Erwartung ausdrucksvoller Klischees. Die Arbeitsmethode, der ich zu entfliehen versuchte, ist oft durchsetzt von Gegensätzen wie Wissen und Eingebung, Bewußtsein und Sensation, Emotion und Abstraktion, Körper und Geist, Satz und Improvisation, Kontrolle und Ausdruck … und vielleicht anderen. Aber wir entkommen diesen Wegen der Übung nie wirklich. Y19 Vielleicht waren Sie in Ihren Detaillierungen und Erwartungen nicht deutlich genug? X20 Ich weiß nicht. Ich wollte zwischen den Modi der Arbeitsprozesse arbeiten, die jeder von uns kennt und praktiziert, um in der Lage zu sein, neue zu finden. Ich erwartete, daß wir uns auf die Fragen und Probleme konzentrieren, die ich dargeboten hatte, ohne zugleich in den komfortablen Gewohnheiten bekannter Erfahrungen Zuflucht zu suchen, die wir unendlich oft wiederholen können. Y20 Also was ist passiert? X21 Ich weiß nicht. Vielleicht hatte ich Unrecht, aber ich weigerte mich, die Arbeitsmethoden, die der eine oder andere wußte und üblicherweise praktizierte, zu benutzen, nicht um weitere zu erschaffen, sondern um neue zu finden. Y21 Können Sie uns mehr erzählen über die Arbeitsmethode, auf die Sie verweisen? X22 Ich weiß nicht. Aber der Gebrauch von Improvisation ist beispielsweise häufig dazu da, eine Auswahl von Momenten zu treffen, die Antworten 215

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XAVIER LE ROY

auf bestimmte Fragen darstellen sollen. Aber im allgemeinen beziehe ich mich auf die üblichen Arten von Arbeit, an die jeder von uns durch Erziehung und Umgebung gewohnt ist. Ich denke, diese Methoden müssen zunächst in Frage gestellt werden, um im Prozeß der Produktion vorwärts zu kommen. Ich stellte mir deshalb vor, in »unbekannten Räumen« zu bleiben, also zwischen den verschiedenen bekannten Praktiken. Doch um zur Repräsentation fähig zu sein, müssen wir klassifizieren, lokalisieren, in Szene setzen und erkennen können. Und dieses Dilemma führt uns in ein verwirrendes Feld zwischen Forschung, Wissen und Macht. So ergaben sich Hierarchieprobleme, und diese Probleme bezüglich der Autorität haben das Projekt geschädigt. Vielleicht war ich zu autoritär und wollte das einfach nicht akzeptieren. Oder es ergab sich die Notwendigkeit, in der Gruppe der Autorität willen formgebende Strukturen zu schaffen, von denen wir wußten, wie sie funktionieren, auch um nicht darin verloren zu gehen. Oder meine Position als Initiator des Projektes drängte mich automatisch in die Führungsrolle. Und das wollte ich nicht. Vielleicht war es aber auch alles gleichzeitig. Und genau das scheint nicht mit der Idee des Projekts übereinzustimmen. Das bedingt teilweise das Gefühl, gescheitert zu sein. Y22 Also lassen Sie uns zurückkehren zu den Prinzipien des Projekts. Warum war eine der Vorgaben, den Begriff »Spiel« zu verwenden? X23 Es ist schwierig, ausschließlich von den Ideen über Spiele zu reden, die wir ganz zu Beginn des Projekts hatten. Denn das ist etwas, das ich mit Stefan Pente zusammen während der Workshops, die wir verschiedenen Zuhörerkreisen angeboten haben, kontinuierlich weiterentwickelte. Daher bezieht sich alles, was ich sage, auf die späteren Erfahrungen. Gut, da gibt es verschiedene Parameter, in denen mir Spiele erscheinen, zum einen, daß sie ein Feld sind, das es zu erforschen gilt, zum anderen, daß wir die Vorstellung von spielen und Spiel als ein Werkzeug nutzen können, um an verschiedenen Aspekten des Projekts, die ich eben schilderte, zu arbeiten. Zunächst einmal wird Spiel in unserer Gesellschaft als eine Aktivität genutzt und betrachtet, die fiktive Charaktere in ein System involviert und dabei eine zweite Realität neben dem täglichen Leben als Teil des Unwirklichen schafft. Aber zur gleichen Zeit ist das Spiel in seiner Gesamtheit ein Teil unserer Realität. Wenn wir spielen, wählen wir eine Rolle oder eine Rolle wird uns zugewiesen, um an der Situation, die aus Regeln besteht, teilnehmen zu können. Das ist unseren Aktionen innerhalb sozialer und kultureller Strukturen in unserem täglichen Leben sehr ähnlich. Diese Konstruktionen weisen uns Rollen zu, und wir können diese Rollen gleichzeitig auch wählen. Mit anderen Worten: Auch in unserem täglichen Leben spielen wir verschiedene Rollen wie in Spielen. Ich 216

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will nicht sagen, daß Spiele immer eine Metapher oder ein Spiegel für oder von unserem Leben sind. Ich sehe Spiele eher als eine Konstruktion innerhalb anderer Konstruktionen, mit denen wir tagtäglich umgehen, und daher sind Spiele selbst zu nutzen, um Aspekte des Rollenverhaltens und der Vorstellungen von Rollen im täglichen Leben zu erforschen. Mehr noch denke ich, daß die Vorstellung von einem Spiel ein großartiges Werkzeug ist, Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen beiden Situationen zu erkunden. Spiele sind auch Aktivitäten, bei denen es möglich ist, zu experimentieren, zu suchen und Strategien zu entwickeln, die Regeln gleichzeitig zu befolgen und zu nutzen. Es ist daher ein privilegiertes Feld, an Körperbeziehungen zu arbeiten, die vor allem durch die Konstruktionen geprägt sind, in die sie eingebunden sind und umgekehrt. Daher ist das, was ich mir vorstellte, nicht als Versuch gedacht, unsere Subjektivität und Differenzen auszudrücken, sondern Spielregeln zu nutzen, die uns Rollen zugewiesen haben und den Teilnehmern erlauben, zur gleichen Zeit aktiv, passiv, reaktiv und produktiv zu sein, ohne nach einem besonderen Zustand von Kreativität zu suchen. Mit anderen Worten: Spiele sind ein Weg, auf dem es möglich ist, Fragen nach der Performance aufzubrechen und gleichzeitig diese im Bereich der fiktiv und wirklich konstruierten Situationen auszuführen. Auf der anderen Seite gibt es immer unproduktive Aspekte bezüglich der Idee des Spiels. Dank an Michel Caillois für diese Bemerkung. Daher scheint der Einsatz und die Konstruktion von Spielen sehr gut zu einer Arbeit zu passen, die nicht das Produkt als einziges Ziel der Produktion und des Arbeitsprozesses im Sinn hat. Ein weiterer mich interessierender Aspekt ist, daß jedes Spiel eine Art Komposition bildet, die von der Wahl und den Entscheidungen des Spielers abhängt und daher zu jeder Zeit geändert werden kann. Es war sehr interessant, die Vorstellung vom Spielen zu nutzen und dabei zu spielen, um zur gleichen Zeit nach Kompositionsmethoden zu suchen, an Fragen zu arbeiten, die den Körper und dessen Repräsentation betreffen, und eben zugleich in einer Performance-Situation zu sein. Verteilung des Papiers mit einigen Worten zu Spielen. Spiel als eine spontane Erfahrung und als eine grundlose Kreativität. Das Einsetzen von Spielen als Oberfläche zum Austausch der De- und Re-Organisation von Körpern und Sprachen und Gesetzmäßigkeiten, die in den Regeln enthalten sind. Spiele, nicht, um unser tägliches Leben und seine Probleme oder einige spezifische Aspekte unserer Gesellschaft zu repräsentieren, um uns zu unterhalten.

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XAVIER LE ROY

Spiele, um einen Prozeß in Gang zu bringen, der gleichzeitig Zugang zu Experimenten und zur Forschung verschafft. Performance und Repräsentation von Körpern und ihrer Umgebung, um die Autorität der Simulation zu entkörpern. Dank an Hakim Bey. Spiel als ein Bewußtsein von Unmittelbarkeit ohne Meditation, als Weg zu einer Arbeitsmethode und als Werkzeug zu Repräsentation und Performance.

Y23 Eine letzte Frage. Können Sie sagen, warum Sie vorhin über das Projekt E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. als Utopie geredet haben? X24 Ich denke, daß der utopische Aspekt des Projekts von dieser Anstrengung herrührt, einige dominierende Modelle des Benehmens und Denkens zu ersetzen. Das ist eine Utopie, denn es ist ein Versuch, die Beziehungen zwischen Individuen zu de-institutionalisieren und die Existenz von Macht in den ›spektakulären‹ Produktionsketten zu ersetzen. Es ist ein utopisches Gebäude, weil das Ziel ist, einen anderen Prozeß, einen anderen Zugang und ein anderes Verständnis des globalen Systems vorzuschlagen. Y24 Es scheint, daß genau in diesem utopischen Aspekt die Gründe verborgen sein könnten, die zu jenen Schwierigkeiten und Problemen führten, von denen Sie vorhin aus der ersten Phase der Arbeit berichtet haben. X25 Ja, da gibt es wohl zu jeder Utopie eine ›kongenitale Ambivalenz‹, weil sie Vorstellung und Wirklichkeit in Verbindung bringt. Diese Ambivalenz kommt aus vier Komponenten der Utopie, die oft in einer perversen Art hybridisiert werden. Dank an Michel Bernard. Die erste ist: Der Definition nach ist Utopia ein Ort ohne Ort oder ein Nicht-Raum. Und für E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. war die Wahl einer Turnhalle als Nicht-Übungsraum und Nicht-Theater-Vorstellungsraum ein sehr wichtiger Aspekt zu Beginn des Projekts. Die zweite Komponente ist, daß Utopie ein vielversprechendes Ziel ist, um ein künftiges Modell zu kreieren. Und ich habe bereits vorher im Kontext mit E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. und den Fragen nach den Arbeitsmethoden davon gesprochen. Die dritte Komponente besagt, daß die Utopie immer als eine radikale Unterart einer sozialen oder politischen Organisation gesehen wird, um von einer anderen Organisation ersetzt zu werden, die man als ideal betrachtet. Und während der ersten Phase von E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. habe ich das sicherlich erwartet und das Verlangen nach einer idealen Organisation geäußert. Aber dieses Verlangen wurde vielleicht nicht geteilt oder war nicht übertragbar, weil es von einem Paradox aufgehalten wurde, das zwischen den Ursprüngen der Vorgaben und dem Wunsch, den Teilnehmern einiges an

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Freiheit zu lassen, lag. Und die vierte Komponente bezieht sich auf folgendes: Jede Utopie setzt voraus, daß sich ein neues sozio-politisches Modell, das als ideal betrachtet wird, umwandelt, notwendigerweise auch das psychologische und moralische Benehmen jedes Individuums, das daran teilnimmt. Das ist eine inhärente Wirklichkeit einer Utopie, die ich nicht akzeptieren wollte. Aber es war möglich, etwas zu tun, auch ohne die aktive Mitwirkung der Teilnehmer, die ich zur gleichen Zeit nicht solch einer Transformation aussetzen wollte. Vielleicht haben die Teilnehmer erwartet, daß ich diese Art Transformation auf sie übertrage wie eine Übergabe von Wissen. Aber das war auf der einen Seite genau die Art sozialer Organisation, die ich verändern wollte, und auf der anderen Seite war mir diese notwendige Transformation selbst unbekannt. Vielleicht ist diese Transformation die Utopie selbst. Y26 Denken Sie, daß eine Utopie Sinn hat für die von Ihnen initiierte Arbeit und für eine etwas allgemeinere oder entspanntere Situation? X27 Nun, ich denke, je mehr Utopie unmöglich erscheint, desto notwendiger wird sie realisiert. Dank an Yvonne Rainer. Auf der anderen Seite denke ich, daß, wenn Utopie noch sinnvoll ist, sie nicht als ein System oder sozio-institutionelles Modell erscheinen kann, sondern eine singuläre Modalität oder Tonalität für einen Prozeß und eine Perspektive sein muß. Das muß man als Qualifikation für eine Vorstellung und als eine Aktion bezeichnen und nicht als ein anvisiertes und verlangtes Objekt. Kurzum, als utopisch und nicht als Utopie im herkömmlichen Sinn. Das Utopische beinhaltet die Gegenwart der Vorstellung, weil Fiktion ein immanenter Bestandteil des sensorischen Prozesses selbst ist. Das Utopische ist nicht weit von der Realität entfernt, aber beeinträchtigt die Realität durch die permanente Aktivität unserer Vorstellungen. Dank noch einmal an Michel Bernard. Daher denke ich, daß es wichtig ist, Methoden, Organisationen, Systeme oder Konzepte zu finden, die die Vorstellung innerhalb des Produktionsprozesses, in den wir involviert sind, aktivieren und hinterfragen können, um die Praktiken, die wir benutzen, zu ändern; um zu überleben. Das ist es, was das Projekt E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. in all seinen Ausdehnungen zu vermitteln sucht. Y27 Danke. Ich denke, wir können hier aufhören. X28 Danke.

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MIKROPOLITIK DES KOLLEKTIVEN: PAARBILDUNG

Mikropolitik des Kollektiven: Paarbildung Stefanie Wenner

Stellen Sie sich vor, ein Theater wird zur Kommune! Stellen Sie sich vor, neben dem Bühnenraum befindet sich ein Schlafsaal für achtzig Personen. Stellen Sie sich vor, Sie treffen im Theatercafé übernächtigte Theaterbewohner im Schlafanzug beim morgendlichen Kaffee. Stellen Sie sich vor, das Theater wird zur Wunschmaschine eines phantastischen, organlosen Kollektivkörpers. Stellen Sie sich vor, Ihre Geschichte und Ihre Wünsche werden zum Motor dieser Maschine! Stanley Cavell schreibt über Philosophie und Autobiographie, daß »je tiefer der Wissenschaftler in seine persönlichste und geheimste Vorahnung hinabtaucht, er zu seinem Erstaunen feststellt, daß dies die am meisten anerkannte, öffentlichste und allgemein gültige ist.«1 Mit Austin und Wittgenstein verfolgt Cavell den Weg zurück in die »normale Sprache«, die, wie er schreibt, auf das engste mit Autobiographie verbunden sei. Wo also Philosophen versuchten, ihren Gegenstand von Persönlichem zu reinigen, um zu Allgemeingültigkeit zu gelangen, befanden sie sich immer schon auf dem Holzweg. Auch Lacan hat ähnliches formuliert, als er die Formel »je tiefer im Imaginären, desto näher am Realen«2 bildete. Wenn Cavell auf die Stimme und den Tonfall des Philosophierens rekurriert, so läßt sich nicht nur ein Standort des Sprechens bestimmen, die Sprache der Stimme, der Ton des Sprechens sind gefärbt durch Erfahrungen des einzelnen. Damit rückt die Marginalität ins Zentrum, wird das Ephemere substantiell und, wie ich meine, das Singuläre kollektiv. Oder anders herum: Das Kollektive wird singulär im Individuum. Das Individuum verkörpert ein Kollektiv ebenso, wie das Kollektiv einzelne einkörpert und so einen imaginären Kollektivkörper bildet. Was ist damit gemeint? Im folgenden versuche ich, aus einer marginalen Erfahrung in einer Performance-Situation entlang einer mikrologischen Analyse der Verbindung 1. Cavell, Stanley. Die andere Stimme. Philosophie und Autobiographie. Berlin 2002, 11. 2. Vgl. Lacan, Jacques. Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII. Weinheim 1996. 221

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STEFANIE WENNER

von zwei Personen, die ich Paarbildung nenne, allgemeingültige Erkenntnisse über Kollektivität zu gewinnen. Es geht mir dabei um die an sich müßige Frage nach Huhn und Ei: Was ist zuerst da, das Kollektive oder das Individuelle? Zunächst scheint die Antwort klar zu sein, wie meistens bei derartiger Klarheit ist die Sache aber komplizierter als angenommen. Am Ende steht eine große Frage, die, wie ich gleich vorweg nehmen möchte, in diesem Text nicht beantwortet werden kann: Wie entsteht individuelle Freiheit im Kollektiv? Anders gesagt: Kann es die Freiheit des einzelnen überhaupt geben, oder sollten wir sie als großes und produktives Phantasma enttarnen? Da ich nicht versuchen werde, die Frage zu beantworten, geht es darum, zu ihrer Formulierung aus dem von mir ausgewählten Material herauszukommen.

I. Kollektive Performanz Wenn man Gesellschaft als Kollektivkörper begreift, dann ist es naheliegend, in der menschlichen Paarbildung eine Mikropolitik dieses Kollektivs zu sehen. Die Familie gilt folgerichtig vielen Gesellschaften als Keimzelle des Staates, auf die sie auf unterschiedlichen Ebenen, wie zum Beispiel rechtlich oder mittels einer Familien- und Gesundheitspolitik, Einfluß nimmt. Jenseits der Vorstellung einer Fortpflanzung des Kollektivkörpers im Medium des menschlichen Paares ist die Verbindung zwischen Individuen als Intersubjektivität auf der Ebene des Sozialen die Basis menschlichen Lebens. Das Kind wird in eine Verbindung hineingeboren, es gibt kein vor der zwischenmenschlichen Beziehung. Ebenso wenig wie es für Menschen ein außerhalb der Zeit oder des Raumes geben kann, kann es ein außerhalb von menschlichen Verbindungen geben. Der Mensch ist, wie es bei Thomas Hobbes heißt, das soziale Tier. Wie aber ist die Verbindung zwischen zweien beschaffen und welche Bedeutung hat dieser Nexus für die Konnexionen der Gesellschaft? Das ist eine Frage, die Davis Freeman in seiner Performance 11th hour stellt. Er fragt seine Gäste: »What do you pass on?«, und bittet sie, ihm ein Angebot zu machen, etwas aktiv in der Stunde, die sie miteinander verbringen, weiter zu geben. Er will damit nicht nur den Blick für alltägliche Interaktionen schärfen, sondern uns dafür sensibilisieren, daß wir ununterbrochen etwas an andere weitergeben. Gewollt oder ungewollt. Ich hole etwas weiter aus, um die Interaktion zwischen den Performern im Kontext der Situierung der Performance verstehen zu können.3 3. Davis Freeman hat die Performance 11th hour bislang dreimal durchgeführt. Im März 2001 in Brüssel, dann in Salzburg bei der Sommerszene 2001 und zuletzt im Oktober 2001 in Moskau. Ich hatte Gelegenheit, alle drei Aufführungen zu sehen, beschränke 222

16.09.02 --- Projekt: transcript.masse und medium.kollektivkörper / Dokument: FAX ID 00b1763012730|(S. 221-236) T01_13 wenner.p 763013314

MIKROPOLITIK DES KOLLEKTIVEN: PAARBILDUNG

Im März 2001 wurde in der Beursschouwburg, einem Theater in Brüssel, ein außergewöhnliches Projekt realisiert. Für zehn Tage wurde das Theater zum Lebens- und Arbeitsraum für die Tänzer und Choreographen von B.D.C., namentlich Tom Plischke, Martin Nachbar und Alice Chauchat sowie weiteren Mitstreitern. Das Programm bestand aus Workshops und Performances sowie Einzelprojekten von B.D.C. und Freunden, die in der wechselseitigen Verschränkung der Veranstaltung ihre Dichte und Tiefe gaben. Es wurde kollektiv gearbeitet und gelebt. Im Café wurden regelmäßig gemeinsam die Mahlzeiten eingenommen, im Schlafraum mit ca. 80 Betten geschlafen und vor der Dusche, wie bereits im Programm angekündigt, kollektiv angestanden. Es ergaben sich bestimmte Rhythmen, die zum einen aus dem Workshop-Programm und den Probezeiten der Performer, zum anderen aus der Performance-Zeit selbst entstanden. Das gesamte Haus beteiligte sich an der Aktion, was unter anderem dazu führte, daß Techniker Performances machten und die Belegschaft auch über Nacht an ihrer Arbeitsstelle blieb. Der allgemeine Schlafmangel, der sich schon aus der Öffentlichkeit des Schlafens ergab, führte zu einer Aufweichung der Grenzen. Nach und nach wurde ein Kollektivkörper gebildet, der sich aus den unterschiedlichen beteiligten Gruppierungen zusammensetzte. Von jeglicher alltäglichen Verpflichtung befreit ließ sich auf die Prozesse der Kollektivwerdung konzentrieren. In diesem Rahmen fand die Performance Transit, auch 11th hour genannt, von Davis Freeman statt. Diese Performance wird von Davis Freeman und den von ihm eingeladenen Gästen bestritten. Seine oben bereits genannte zentrale Frage ist: »What do you pass on?« – »Was gibst du weiter?« Wenn sich zwei Personen treffen, auf welcher Basis findet dieses Treffen statt und wie wird wechselseitig Einfluß genommen, was bleibt? Davis Freeman will mit seiner Performance einen Prozeß der Bewußtmachung einleiten, der die Subtilitäten unserer wechselseitigen Einflußnahme aufdeckt. Die Performance ist auf eine Dauer von elf Stunden angelegt. In jeder Stunde kommt ein anderer Gast zu Davis in den Performance Raum und macht ihm ein bestimmtes Angebot, wie die gemeinsame Stunde zu verbringen sei. Dieses Vorgehen beruht auf der Technik der Contact Improvisation, die maßgeblich von Steve Paxton in den siebziger Jahren in New York entwickelt wurde und seither zahlreiche Anhänger gefunden hat. Im Gegensatz zu traditionellen Inhalten des Modern Dance wie den choreographischen Formen von Bewegungsmaterial legt Contact Improvisation das Gewicht auf den physischen Dialog zwischen zwei TänzerInnen. Obschon viele Tänzer, die mit Contact Improvisation mich aber hier auf die erste in Brüssel, da das Ergebnis je nach äußeren Umständen variiert. 223

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STEFANIE WENNER

arbeiten in Modern Dance geschult waren und sind, kommen die Inspirationen insbesondere aus den asiatischen Kampfkünsten, wie Tai Chi Chuan oder Aikido. Im stärkeren Gegensatz steht Contact Improvisation aber zu klassischem Ballett. Denn die langwierige und strapaziöse Ausbildung fällt weg. Es geht nicht darum, unter Schmerzen an der Überwindung von Körperlichkeit zu arbeiten. Vielmehr wird in der Improvisation das Potential des eigenen und des anderen Körpers erforscht. Viele contact improvisors haben ihre Arbeitsweise mit der des Volkstanzes verglichen, den auch jede/r praktizieren und erlernen könne.4 In sogenannten jams gibt es die Möglichkeit, unvorbereitet an Contact Improvisation teilzunehmen, wobei die Grenze zwischen professionellen TänzerInnen und Amateuren bewußt ignoriert wird. So wurde aus Contact Improvisation eine soziale Praxis, die die Erfahrungsmöglichkeiten des Selbst in der Interaktion mit einer anderen Person untersuchte. Cynthia Novack schreibt über Contact Improvisation. »Contact Improvisation lends itself well to an analysis as a community; although its boundaries have not been residential, it has constituted a community of experience.«5 Auch in der Improvisation findet demnach ein Prozeß der Kollektivierung statt. Die Gemeinschaft der Erfahrung, die sich in der Improvisation und ihrer Wiederholung etabliert, findet sich auch in der Anlage der Performance 11th hour, von der hier die Rede ist. Es bildet sich ein Paar im Rahmen einer größeren sich bildenden Gemeinschaft zwischen ZuschauerInnen und AkteurInnen. Die Zuschauer sollten möglichst viele Stunden der Performance beobachten. Gesehen werden konnte die Performance nur in einer Live-Übertragung auf einem großen Screen, der sich in einem separaten Raum befand. In der Beursschouwburg liegen Café und Performance Space direkt nebeneinander. Während der Performance waren die Türen des Performance-Raumes geschlossen, direkt nebenan konnte im Café die Performance auf einem großen Screen live verfolgt werden. Über den Raum verteilt waren auf Tischen mehrere kleine Fernseher, auf denen die vorherigen Stunden gesehen werden konnten. Da das Café schon zuvor als Raum der kollektiven Speiseeinnahme etabliert war, kam man auf jeden Fall zu den Mahlzeiten dorthin. Die Performance begann mittags, so daß von Anfang an Publikum anwesend war, das verfolgte, welche Dinge von den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern weitergegeben wurden. Die Zuschauer sollen entgegen dem ersten Anschein, der durch ihren Ausschluß aus dem Darstellungsort entstand, nicht aus der Perfor4. Vgl. hierzu und zu Contact im allgemeinen: Novack, Cynthia J. Sharing the Dance. Contact Improvisation and American culture. The University of Wisconsin Press, Madison 1990. 5. Ebd., 15. 224

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mance ausgeschlossen werden, sie sind vielmehr explizit Teil derselben. Die Bedingungen von Performativität wurden durchkreuzt, indem sie affirmiert wurden. Der Ausschluß des Publikums aus einer Situation, in der körperliche Präsenz üblicherweise zur Basis der Kollektivwerdung genutzt wird, bewirkte auf beiden Seiten ein ungehemmteres Verhalten. Die Anwesenheit der Kamera im Raum der Begegnung hat einen anderen Status als die Konfrontation mit einer gleichzeitig wahrnehmbaren schweigenden Masse vor Ort. Das Publikum im Café sprach und aß, eine Rhythmik der Anwesenheit und Abwesenheit von Zuschauenden ließ eine eigene Dramaturgie sichtbar werden, die an der Schnittstelle zwischen Tagesgeschehen und Ausnahmesituation entstand. Die Verschränkung der individuellen Erfahrung der Performer mit dem kollektiven Tagesgeschehen vollzog sich indirekt, aber um so effektiver. Gemeinsam verbrachte Zeit war der Schlüssel dieser reziproken Bewegung mit wechselnden Protagonisten. Zeit bildet und Raum gewährt die Möglichkeit individueller Freiheit in der kollektiven Bewegung. Die Marginalität der Erfahrung im Performance Space konnte nur randständig bleiben und dabei allgemein werden, wenn sie geschützt und zugleich transportiert wurde. Durch die mediale Vermittlung wurde sie zum Motor der Verbindung. Schon im Titel der Performance spielt die Zeit eine Rolle, die die gesamte Anlage durchzieht. Die elfte Stunde ist eben jene Stunde, in der Davis Freeman zu zeigen versuchte, was ihm weitergegeben worden war. Ein zum Scheitern verurteilter Versuch. Die Frage, »What do you pass on?«, spricht nicht nur an, was willentlich weitergegeben wird, sondern thematisiert auch das, was unfreiwillig »passiert«, die Kehrseite der Medaille. Wenn man, wie es bei Lacan heißt, in der Liebe gibt, was man nicht hat, kann man sich gleichzeitig auch fragen, was die Logik des Habens in bezug auf die Gabe, von der des Seins unterscheidet. Was Davis gibt, ist Zeit, eine Stunde genau, die jeder Gast wiederum nutzen kann, um etwas weiterzugeben. Außerdem gibt er einen Ort, um dies Geschehen zu ermöglichen. Was daraus wird, hängt vom Gastgeschenk des Besuchers ab. Ich werde einige Beispiele besprechen, die den Weg zu meiner eingangs gestellten Frage ebnen sollen.

1. Reich mir deine Hand! Bei seinem Besuch in 11th hour hat Paul Gazzola eingebracht, womit er sich auch sonst beschäftigt: das Händeschütteln, auch die Hand geben genannt. Der Händedruck ist kein universelles Begrüßungsmittel. Er funktioniert nur in bestimmten Kulturkreisen als Kontaktaufnahme. Während seiner Stunde in der Performance schüttelte Paul Gazzola fast ununterbrochen Davis Freeman die Hände, unterbrochen nur in dem Augenblick, da sie nach der Hälfte der Zeit die Kleider tauschten. 225

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Dieses Beispiel der Hände führt mich zu Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty, bei denen das »Sich-Berühren-Berühren« in der wechselseitigen Berührung der eigenen Hände zum Thema wurde. »Die Einsamkeit, aus der wir ins intersubjektive Leben hervortreten, ist nicht die der Monade. Es ist bloß der Nebel eines anonymen Lebens, der uns vom Sein trennt, und die Barriere zwischen uns und den anderen ist nicht greifbar. Wenn es denn einen Bruch gibt, so nicht zwischen mir und dem anderen, sondern zwischen einer primordialen Generalität, in der wir noch ungetrennt sind, und dem eindeutigen System Ich – die Anderen.« 6 Zugespitzt ließe sich vielleicht sagen, eine Seele hat einen Körper, ein Körper hat eine Seele, was wir haben, hat uns gewissermaßen auch. In der Geste des »Händeschüttelns« wird das System »Ich – die anderen« – haben mich die anderen, oder ich die anderen – in seiner Durchlässigkeit erforscht. Die Voraussetzung hierfür liegt philosophisch in der schon bei Edmund Husserl beschriebenen Doppelung des »Leibkörpers«, in der Doppelempfindung des Leibes als Berührender und Berührter. So heißt es bei Husserl in Ideen II (ich paraphrasiere): Berühre ich mit meiner rechten Hand die linke Hand, so verspüre ich in der (aktiven, berührenden) rechten Hand ›Tastempfindungen‹, in der (passiven, berührten) linken Hand dagegen ›Tasterscheinungen‹. Allerdings finden sich auch in der berührten Hand Tastempfindungen, von denen ich – im Sinne meiner rechten Hand – abstrahieren kann, indem ich die linke Hand als ein physisches Ding ›linke Hand‹ auffasse. Indem ich diese Empfindung der berührten Hand als berührende Hand hinzunehme, so bereichert sich nicht, wie es wörtlich heißt, das physische Ding, »sondern es wird Leib, es empfindet«.7 Außerdem wird eine Doppelung des Leibes als Leibkörper durch die Verschränkung der Ebenen Berühren/Berührt-Werden und Sehen/Erblickt-Werden etabliert. Auge und Blick schließen sich nicht derart zu einem Kreis, wie tastende Hand und getastete Hand dies in besagter Doppelempfindung tun. Zwischen Auge und Blick klafft eine Lükke, jener blinde Fleck des Sichtbaren, den Maurice Merleau-Ponty in seiner verschiebenden Husserl-Lektüre allerdings auch für den bei Husserl noch geschlossenen Kreis der Doppelempfindung reklamiert. Wenn Paul Gazzola und Davis Freeman sich ihre Hände reichen und so verharren, indem sie gleichzeitig Worte wechseln, so entsteht ein Bild dieses offenen Kreises. Die Verschränkung von Körper und Sprache ermöglicht Verbindung und Abgrenzung. 6. Merleau-Ponty, Maurice. »Der Philosoph und sein Schatten«. Ders. Das Auge und der Geist. Hamburg 1984, 60. 7. Husserl, Edmund. Husserliana IV. Den Haag, Dordrecht 1950, 145 ff. 226

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Merleau-Ponty siedelt ähnlich wie Husserl die Paarbildung bereits im individuellen Körper an, der zugleich objektiver Körper und gelebter Leib sei. Er beschreibt hiermit allerdings keine Koinzidenz, also keinen geschlossenen Zirkel, sondern eine immer bevorstehende Verschränkung, die ich nochmals mit dem berühmten Beispiel der sich berührenden Hände vergegenwärtigen möchte: »Wenn meine linke Hand meine rechte berührt und ich mit meiner rechten Hand die linke Hand, die gerade berührt, bei ihrer Arbeit überraschen will, so mißlingt diese Reflexion des Leibes auf sich selbst immer im letzten Augenblick: in dem Augenblick, in dem ich mit meiner rechten Hand meine linke spüre, höre ich im gleichen auch auf, meine rechte mit meiner linken zu berühren.«8 Meine zwei Körperhälften, die sich hier in der wechselseitigen Berührung der linken und der rechten Hand zu vergegenwärtigen suchen, ergeben ein Ganzes nur im selbstvergessenen Akt der Wahrnehmung. Die Vergegenwärtigung dieses Aktes mißlingt in der Auseinanderdividierung seiner Teile. Das Beispiel der sich berührenden Hände steht für den gesamten Komplex der Verflechtung von objektivem Körper und phänomenalem Leib, die sich, wie es an anderer Stelle heißt, »einer um den anderen drehen oder einer auf den anderen übergreift«.9 Merleau-Ponty spricht auch von der Zweiblättrigkeit des Leibes, wobei Vorder- und Rückseite aufeinander bezogen und dennoch verschieden sind. Der Leib ist sehend und gehört dem Bereich des Sichtbaren an, ist also zugleich sichtbar. Die Verbindung der beiden Blattseiten ist nichts Geheimnisvolles, sondern resultiert aus der geteilten Beschaffenheit der beiden Seiten, die MerleauPonty das Fleisch nennt. Das Fleisch ist durch eine Reversibilität definiert, wie sie sich im folgenden Zitat ausformuliert findet: »Es gibt einen Zirkel von Berührtem und Berührendem, das Berührte erfaßt den Berührenden; es gibt einen Zirkel von Sichtbarem und Sehendem, der Sehende ist nicht ohne sichtbare Existenz, es gibt sogar Einschreibung des Berührenden in das Sichtbare, des Sehenden in das Berührbare, und umgekehrt gibt es schließlich eine Ausbreitung dieses Austauschs auf alle Körper desselben Typus und Stils, die ich sehe und ich berühre, – und dies geschieht durch die grundlegende Spaltung oder Scheidung von Empfindendem und Empfundenem, die die Organe meines Leibes lateral miteinander kommunizieren läßt und die Transitivität von einem Leib zum anderen begründet.«10 Merleau-Ponty spricht auch von der Paarung des Leibes mit dem Fleisch 8. Merleau-Ponty, Maurice. Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1994, 45. 9. Ebd., 154. 10. Ebd., 187 f. 227

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der Welt, das auch das Fleisch eines anderen sein kann. Eine Erfahrung, die Davis Freeman in 11th hour zeigen will. Die Zirkularität, die im Chiasmuskapitel des Merleau-Ponty’schen Spätwerkes Das Sichtbare und das Unsichtbare beschrieben wird, nimmt nicht zwei unvereinbar Unterschiedene zum Ausgangspunkt, sondern zwei Gleiche, die in einem zeitlichen Aufschub, der nicht aufgehoben werden kann, aufeinander bezogen sind. »Meine beiden Hände sind ›zugleich gegenwärtig‹ oder ›koexistieren‹, weil sie die Hände eines einzigen Körpers sind: Der Andere erscheint durch die Ausdehnung dieser kompräsent, er und ich sind wie Organe einer einzigen, gemeinsamen Leiblichkeit.«11 Die gemeinsam geteilte Leiblichkeit ist die des Fleisches, die nicht zuletzt deshalb schwer verständlich erscheint, weil wir es mit einer doppelten Übersetzungsproblematik zu tun haben. In der Regel wäre der objektive Körper im französischen corps, während der individuelle ›beseelte‹ Körper als Leib mit dem Terminus chair, also Fleisch, wiedergegeben wird. Da Merleau-Ponty aber auch vom Fleisch der Welt spricht, scheint der gelebte Körper wiederum eine andere Bedeutung zu haben. Im folgenden verwende ich die Terminologie des Fleisches als einen Oberbegriff, der nicht nur den Eigenleib nennt, während ich mit Körper durchweg den objektiven Körper bezeichnen werde. Die Übersetzungsschwierigkeit, die nicht nur eine der Übersetzung ist, lasse ich im Interesse meiner Fokussierung auf die Modalitäten von Verbindung beiseite. Für meine weiteren Überlegungen bleibt Merleau-Pontys offener Zirkel der Reversibilität leitend, die ich nun aus der Sphäre des Leibkörpers herauslösen und auf die zwischenleibliche Ebene übertragen möchte. Die Zweiblättrigkeit des Leibes wurde bei Merleau-Ponty auf die Fleischlichkeit der Welt übertragen: »Indem ich lerne, daß mein Leib ›empfindendes Ding‹ ist, daß er reizbar ist – er und nicht nur mein Bewußtsein –, habe ich mich darauf vorbereitet, zu begreifen, daß es andere animalia und möglicherweise andere Menschen gibt. Man muß schon sehen, daß es dabei weder Vergleich noch Analogie noch Projektion oder Introjektion gibt. Wenn ich, indem ich die Hand des anderen Menschen drücke, die Evidenz seines Daseins habe, so ist das so, weil sie an die Stelle meiner linken Hand tritt, weil mein Körper den Körper des Anderen anschließt in jener Art Reflexion, deren Sitz er auf paradoxe Weise ist.«12 Nicht nur Paul Gazzolas Untersuchung liegt auf dieser Achse, die gesamte Bewegung der Contact Improvisation scheint auf die Erforschung genau dieser Zusammenhänge gerichtet zu sein. Durch die individuelle Begeg11. Merleau-Ponty (Anm. 8), 54. 12. Ebd., 57. 228

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nung zwischen zwei contact improvisors wird ein Ausschnitt der Verbindungen zwischen ihnen und der Verbindungstätigkeit als solcher wahrnehmbar. Damit komme ich auf meine mit Cavell formulierte Eingangsthese zurück, im Persönlichsten erscheint das Allgemeinste. Die abgeschottete Performance-Situation, die Davis Freeman kreierte, schuf einen Rahmen zur Darstellung dieser Vorgänge. Es wird deutlich, daß wir uns selbst immer im Anderen erfahren. Folgt man Merleau-Ponty13, so ist der Andere nicht der außen in der Ferne situierte Fremde, sondern beginnt die Andersartigkeit in meinem eigenen Körper, der mir nie vollständig gegenwärtig werden kann. Es bedarf der Kollektivierung, um mich und meinen Körper in seiner Potentialität erfahren zu können. Dabei dient der Körper keinesfalls nur passiv als Einschreibefläche, sondern wird selber aktiv, generiert aus sich heraus ungeahnte Möglichkeiten, wie im folgenden Beispiel deutlich werden wird.

2. Wölfe im Schafspelz Mein Leib wurde zum gelebten Leib durch den (offen bleibenden) Zirkel zwischen Berührendem und Berührtem. Indem die Hand eines anderen an die Stelle meiner linken Hand rückt, wird dieser Zirkel auf eine allgemeine Leiblichkeit erweitert. Die Reflexion, die meinen Leib erst zum Leib werden ließ, schließt im Geben der Hände den Anderen mit ein. Möglich wird dies nur, damit komme ich zur zentralen Terminologie Merleau-Pontys zurück, durch das geteilte Element des Fleisches, das bei Merleau-Ponty zur Basis seiner Ontologie wird. Was Paul Gazzola einführt, ist ein anderer Antwortdiskurs, der nämlich der Umkehr, der Umwidmung. Maurice Merleau-Ponty zufolge ist der Leib ein zweiblättriges Wesen. Als Sehender ist er gleichzeitig sichtbar und gehört damit einer allgemeinen Sichtbarkeit an. Der Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare entspricht die Einkörperung des Hörenden in das Hörbare und so weiter. Dieses Konzept einer körperimmanenten Paarbildung läßt sich mit dem organlosen Körper von Gilles Deleuze und Félix Guattari zusammenlesen. Im Gegensatz zum strengen Reglement und der hierarchischen Anordnung der Organe im individuellen Körper, wie sie der Organismus impliziert, öffnet der organlose Körper (oK) den Körper für Konnexionen, die ein ganzes Gefüge voraussetzen: Kreisläufe, Schwellen und Übergänge. Mit anderen Worten ist der oK der virtuelle Körper, der im Zwischenraum zwischen Körpern entstehen kann. In der Formulierung von Deleuze und Guattari:

13. Und zahlreichen anderen, von denen an dieser Stelle exemplarisch Julia Kristeva genannt sei. 229

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»Jemand, der Liebe macht, wirklich Liebe, bildet einen organlosen Körper, allein und mit dem oder den anderen. Ein organloser Körper ist kein leerer Körper ohne Organe, sondern ein Körper, auf dem sich das, was als Organe dient (Wölfe, Wolfsaugen, Wolfskiefer?), nach den Massenphänomenen und sich entsprechend den Brownschen Bewegungen in Form von molekularen Mannigfaltigkeiten ausbreitet.«14 Der organlose Körper stellt also gerade nicht einen hermetisch abgeriegelten Organismus her, sondern entsteht zwischen unterschiedlichen Körpern. Das folgende Beispiel aus 11th hour soll dies nochmals verdeutlichen: Lilia Mestre hat Davis Freeman einen Mantel mitgebracht, der aus Fell zu sein scheint. Sie hat eine relativ dunkle Beleuchtung gewählt und den Musikern, die bei jedem Gast zugleich Gast waren, von Anfang an grünes Licht für musikalische Begleitung gegeben. Am Anfang standen Davis und sie sich gegenüber. Lilia in ihrem Fellmantel und Davis in dem seinen. Dann legte sich Lilia ihm vor die Füße. Er ging einige Male um sie herum, um sich ebenfalls hinzulegen. Auf dem Boden kriechend näherte sie sich ihm. Lilia Mestre geht in den Vierfüßlerstand und beginnt, wie ein Tier vorwärts und rückwärts zu kriechen. Sie wiederholt diese Bewegung in gleichförmigem Rhythmus. Die Paarbildung hat immer schon begonnen. Ihre Bewegung vollzieht sie in einem immanenten Bezug auf die Anwesenheit eines Anderen. In der gemeinsamen Bewegung entsteht der Eindruck von Einheit. Einen kurzen Augenblick vollzieht sich die Bewegung der beiden in Parallelität, dann stoppt Davis und legt sich zurück auf den Boden, während Lilia ihren Rhythmus beibehält. Nachdem Davis nicht in den gemeinsamen Rhythmus zurückkehrt, setzt sie sich auf und verläßt vollends die gemeinsame Ebene. Eine Kette von Verbindungen bricht ab, eine neue Linie wird begonnen. Die Körper sind ununterbrochen in Bewegung, es kommt darauf an, den Kontakt zu halten. Die wechselseitige Bezugnahme aufeinander entspricht einer Mikropolitik, die das Paar zum Kollektiv werden läßt. Der Kollektivkörper, der entlang solcher Linien zum Vorschein kommt, ist nicht der des Organismus, sondern ist verwandt mit dem organlosen Körper, ein unsichtbarer, dritter Körper. In der Paarbildung entsteht eine Minimalmeute, die im Verhältnis zu der unsichtbaren aber nicht mehr schweigenden Masse der Zuschauer steht, obschon das in diesem Fall nicht thematisiert wurde. Nur indem das Potential zu anderen Verbindungen vorhanden ist, kann diese Verbindung auf Zeit eingegangen werden. Der gemeinsame Rhythmus etabliert eine Verbindung, die erneuert werden muß, wenn diese Linie unterbrochen wird. Beide Performer befinden sich in der gezeigten Paarbildung immer am 14. Deleuze, Gilles u. Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin 1992, 273. 230

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Rand der Verbindung, an der äußersten Grenze des Mikro-Kollektivs. So wiederholt sich in der Paarrelation 1 + 1, was in der Paarbildung x + y bereits angelegt war. Die Ambivalenz dieser Situation, die die Körper zugleich innerhalb und außerhalb des Kollektivs positioniert, hält die Situation offen und ist eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen einer Verbindung, die nicht in der Verschmelzung endet. Mit einem Zitat aus 1000 Plateaus: »Ich befinde mich am Rande dieser Menge, an der Peripherie; aber ich merke, daß ich mit einem Körperteil mit ihr verbunden bin, mit einer Hand oder einem Fuß. Ich weiß, daß diese Peripherie für mich der einzig mögliche Standort ist, ich würde sterben, wenn ich mich in die Mitte dieses Gewimmels hineinziehen ließe, aber ganz sicher auch, wenn ich diese Menge verlieren würde.«15 In meinem Beispiel wird die Verbindung zur Menge mit einer medialen Prothese gewährleistet. Der Raum, in dem die Performance stattfand, liegt im Zentrum des Hauses, im Untergeschoß und mittig, er bildete eine verkapselte Teilmenge, die über die Nabelschnur der Telekommunikation mit der Restmenge verbunden blieb. Diese Situation wurde in meinem nächsten Beispiel noch einmal verdoppelt.

3. Verbindung durch Ausschluss Martin Nachbar war einer der letzten, die zu Gast bei Davis waren. Es war die Zeit des Abendessens und das Café war recht voll. Martin brachte Davis etwas zu essen mit und ein Bier. Sein eigentliches Angebot war aber ein Speichermedium, ein Diktaphon. Dieses Diktaphon hielt er Davis ununterbrochen unter die Nase, um alles Gesagte aufzuzeichnen. Was aber nicht bedeutete, daß wir Zuschauenden zu hören bekamen, was die beiden sprachen. Auf diese Weise entstand eine Intimität in der Öffentlichkeit, die dann deutlich wurde, als einer der Filmenden das im Raum vorhandene Mikro erst in die Nähe der beiden rückte und es ihnen später in die Hand drückte. Die beiden spielten mit der Situation. Die öffentliche Privatheit, die durch die geschlossenen Türen und die gleichzeitige Videoübertragung nach außen entsteht, wird durch die Aufzeichnung des Gesagten mit dem Diktaphon verdoppelt. Wir als Zuschauende werden durch das Flüstern, das auf ein Geheimnis zu verweisen scheint, das dieser Paarbildung zugrunde liegt, neugierig gemacht. Das Mikrophon wird von Davis so weit weg gehalten, daß wir nur Raunen hören. Später, in der elften Stunde, wird Davis die Aufzeichnung des Gesagten ablaufen lassen, aber man versteht wieder kein Wort, weil die Musiker gleichzeitig das Ge15. Deleuze u. Guattari (Anm. 14), 47. 231

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sagte kommentieren. Im Verlauf der Stunde probierten sie unterschiedliche Eingriffs-, Speicher- und Wiedergabemöglichkeiten aus. Davis spricht beispielsweise in Martins Ohr, dieser wiederholt das Gesagte in das Mikrofon hinein, das an das Diktaphon gehalten wird. In dieser Situation hören wir, was Davis an Martin weitergibt. Diese Interaktion endet in einer beiderseitigen Drehbewegung des Kopfes, die uns nur den Hinterkopf sehen läßt. Danach rieben sie die Köpfe aneinander entlang, und es kommt zu einem Kratzen der Köpfe am Mikrophon, das die Kratzgeräusche verstärkt. Der Körper wird zum Instrument. Ebenso wie wir sehend sichtbar sind und das der blinde Fleck der Wahrnehmung bleibt, sind wir hörbar, nicht nur, wenn wir sprechen. Der Austausch von Worten gehorcht einer anderen Logik als der Austausch von Blicken, und wir sind nicht auf eine Weise ›im Wort‹ des anderen wie wir ›im Blick‹ sind. Die Verbindung zwischen zweien, die gegenseitige Aufmerksamkeit, geschieht schon durch die Körpergeräusche, die wir nicht bewußt steuern, uns aber gegenseitig wahrnehmbar werden lassen. Die gesprochene und gespeicherte Sprache erscheint hier als der unbekannte Dritte, ein organloser Körper. Die Minimalmeute bildet sich unter explizitem Ausschluß der lauschenden Masse. In der Wiederholung des von Davis Freeman Gesagten durch Martin Nachbar wird nicht nur die Verbindung untereinander, sondern auch die mit dem (unsichtbaren) Publikum geknüpft. Wir werden ausgeschlossen aus der Intimität der Begegnung im Performance-Raum. Die Möglichkeit, doch noch Geheimnisträger und Teil dieser Minimalmeute zu werden, hält uns an unsichtbarer Kette. Die mediale Situation, die für die Performance hergestellt wurde, wiederholte im Kleinen die theatrale Anlage der Gesamtveranstaltung von B.D.C. and friends in der Beursschouwurg. Durch den Ausschluß des Publikums bei seiner Performance stellt Davis Freeman das Verhältnis Zuschauer/ Performer zur Disposition. In dem Augenblick, da wir einen Zuschauerraum betreten, befinden wir uns in einer klar aufgeteilten Situation, die aber getragen wird von einer im voraus getroffenen Vereinbarung. Diese Verbindung und die angebliche Passivität der Masse der Zuschauenden wird in der Frage, »What do you pass on?«, verhandelt. Denn als Performer gibt man den Zuschauern etwas, das nur symbolisch im Applaus beantwortet werden kann. Dennoch sind Zuschauer und Performer ein, wenn auch ungleiches Paar, das für die Dauer der Aufführung einen Konnex herstellt. Durch die Einladung an Teilnehmer der Workshops und Künstler aus dem Umfeld von B.D.C. in einen geschlossenen, aber gleichzeitig durch die mediale Vermittlung transparenten Raum, wird eine Separierung vom bestehenden Kollektiv praktiziert, die dennoch die Verbindung zum Rest der Gruppe nicht aufgibt. Die Freiheit des einzelnen bestand darin, Teil des Kollektivs zu werden. In seiner Performance un232

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tersucht Davis Freeman die Möglichkeiten der wechselseitigen Einflußnahme. Sich selbst wahrnehmen kann man seiner These nach nur im Übertragungsmodus auf andere. Während Lilia Mestre ihre Sichtbarkeit in Relation zu Davis thematisierte, stellte sie die Sichtbarkeit beider nicht zur Disposition. Es entsteht eine Kapsel, die sich dem Außen nicht öffnet, nur die Musiker greifen ein. Sie stellte eine exklusive Verbindung auf Zeit durch Einschluß her. Dagegen war der Ausschluß das tragende Charakteristikum der Paarbildung zwischen Martin Nachbar und Davis Freeman. Beiden Beispielen ist gemeinsam, daß sie eine Verbindung innerhalb eines Gefüges herausbilden. Die Körperlichkeit des so entstehenden Kollektivkörpers widersetzt sich einer strengen Hierarchie und bleibt immer flüssig. Aus meiner Perspektive stellt die Anlage der Performance die Möglichkeit der Paarbildung (ich verstehe Paarbildung als Verbindung zweier Gleichwertiger aber Unterschiedener als x + y) zwischen Zuschauern und Performern dar. Im Performanceraum selbst wurde diese Untersuchung auf der Paarebene 1 + 1 durchgeführt. Die Achse Sichtbarkeit und Sehen, die per se zwischen Darstellern und Publikum ihrer Reversibilität entzogen scheint, wird durch den Entzug der Achse hören/gehört werden verdoppelt.

II. Performative Mikropolitik Damit komme ich zu Derridas Denken der Gabe als einer Unterbrechung der Tauschökonomie. Sein, der Unterbrechung eines Zirkels gewidmeter Text, befaßt sich immer wieder mit der Figur des Kreises, des Kreisgangs und des Zirkels. Was gegeben wird, darf nicht geschuldet sein, nicht wenn es eine Gabe gewesen sein soll. Die Kluft zwischen x und y, wenn es denn eine Kluft gibt, läßt sich vielleicht durch ein zwischen den beiden zirkulierendes Objekt schließen. Jacques Derrida hat in Falschgeld. Zeit geben I die Theorie der Gabe Marcel Mauss’ kritisiert. Das Geben der Gabe faßt Derrida als ABC zusammen: A gibt B C. Derrida zufolge beinhaltet die Gabe einen unhintergehbaren double-bind: Sie ist Gabe nur dann, wenn sie nicht als solche erscheint. Die Gabe wäre demnach ein Ereignis vor der Existenz von Subjekt und Objekt, sie stellt eine Unterbrechung des ökonomischen Kreislaufs, wie er im Tausch beschrieben ist, dar. Marcel Mauss, der, so Derrida, sich von der Unvereinbarkeit von Gabe und Tausch nicht hat beunruhigen lassen, legt eine falsche Fährte der Verbindungen. Eine Gabe kann es nur auf Zeit geben, bis die Gegen-Gabe die gegebene Zeit unterbricht, daraus schließt Derrida, daß die Gabe Zeit gibt. »Dort wo es die Gabe gibt, gibt es Zeit, aber diese Gabe der Zeit ist zugleich ein Verlangen 233

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nach Zeit.«16 Sobald die Gabe Eintritt in die ökonomische Sphäre erlangt, ist sie ihres Gehaltes beraubt, gebricht es ihr an Gabe. Damit hat die Gabe mit der différance zu tun. Denn es wird nicht ein Ding in den Umlauf gebracht, das wieder an seinen Ursprungsort zurückkehrt, wie es die Synthese von Tausch und Gabe, die Marcel Mauss gedacht hat, nahelegt. Ich zitiere eine Passage aus Derridas Mauss-Lektüre. »Angetrieben von einer mysteriösen Kraft verlangt das Ding nach der Gabe und der Rückgabe, es erfordert folglich die ›Zeit‹, den ›Termin‹, den ›Aufschub‹ oder das ›Intervall‹ des Temporisierens, das Zeitgewinn-Werden der Verzeitlichung, kurz das Ding fordert die Belebung einer neutralen und homogenen Zeit durch das Begehren der Gabe und der Rückgabe. Die différance, die nichts [ist], ist [im oder] das Ding selbst. Sie, die différance, das Ding [selbst]. Sie, und nichts anderes. Sie, sonst nichts. Sie, nichts.«17 Eine Gabe kann auch ein Gift sein, das ›englische Geschenk‹. Die Gabe des Zeitraums, die von Davis Freeman gegeben wird, darf nicht geschuldet werden. Der Kleidertausch dreht die zirkuläre Bewegung um. Gib mir deine Hand, und ich werde dir einen Körper geben. Gib mir deine Kleider, und ich werde dir einen Aufschub gönnen. »Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist. Weder dem einen noch dem anderen. Wenn der andere sie wahrnimmt, sie als Gabe gewahrt und bewahrt, wird die Gabe annulliert.«18 Der Körper könnte der im Paradoxon der Gabe gesuchte ›Gegenstand‹ sein. Er erfüllt alle an die Gabe gestellten Anforderungen. Zudem sind wir nicht nur mit Körpern begabt, sondern sind diese Körper selbst begabt und bringen demgemäß nicht nur sich, sondern immer auch etwas anderes in die Welt. Vielleicht ist es das, was Bernhard Waldenfels als Merleau-Ponty Übersetzer und Wegbereiter der deutschen Rezeption von Phänomenologie aus Frankreich mit der Responsivität des Leibes und dem Antwortdiskurs auch meint.19 Über eine Resonanz hinausgehend findet die Übertragung demnach in einer Reversibilität statt, wie sie eingangs zwischen Körper und Leib beschrieben wurde. Genauer müßte man dann von der Gabe des Fleisches sprechen, um nicht das Konzept vom (objektiven) Körper mitzubenennen, den wir, so übereinstimmend Mer-

16. 17. 18. 19.

Derrida, Jacques. Falschgeld. Zeit geben I. München 1997, 11. Ebd., 57. Ebd., 134. Vgl. Waldenfels, Bernhard. Antwortregister. Frankfurt a.M. 1994. 234

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MIKROPOLITIK DES KOLLEKTIVEN: PAARBILDUNG

leau-Ponty und Deleuze/Guattari sowie Foucault und neuerdings Judith Butler, erst erwerben müssen. Im Unterschied zum Tausch gibt die Gabe die Zeit des Aufschubs und den Aufschub der Zeit, sie gibt die terminierte, skandierte, rhythmisierte Zeit für jene Rückgabe, welche die Zeit selbst zerstört. Die Gabe bricht, wenn es sie gibt, die Brücken zur Ökonomie insofern restlos ab, als sie die Unterbrechung des Ökonomischen, die Suspension von Tausch und Rückkehr bezeichnet. Wenn der Körper GABE ist, oder sein kann, dann macht auch der Satz »Lieben heißt geben, was man nicht hat« einen anderen Sinn. Die von Merleau-Ponty angenommene präreflexive Ungeschiedenheit, die er mit der Terminologie des Fleisches zu fassen sucht, aber auch die vertikale Dimension oder das vertikale Sein nennt, scheint die Frage nach der Verbindung auf eine Dekonstruktion von Wahrnehmungsparametern zu verengen. Es ist aber dem Merleau-Ponty’schen Werk inhärent, und das macht auch seine Version der phänomenologischen Reduktion aus, daß wir immer durch die Dichte unserer Gegenwart getrennt bleiben von jener Schicht des rohen Seins. Eine Verbindung muß also trotz einer gemeinsam geteilten Leiblichkeit jeweils hergestellt werden, der Zirkel ist nicht geschlossen, das klingt schon fast nach Derridas différance. Die Verbindung, so hatte ich eingangs gesagt, ist eine anthropologische Konstante. Wir werden in die wechselseitige Bezüglichkeit hineingeboren. Die Verbindung, die zwischen den jeweiligen Gästen und Davis Freeman geknüpft wurde, ist nicht jenseits der Gesamtsituation in der Beursschouwburg zu diesem Zeitpunkt vorstellbar. Fast alle eingeladenen Gäste waren auch sonst Teil der Veranstaltung. Die Performance fand am sechsten Tag des Ereignisses statt, es sind zu diesem Zeitpunkt bereits Verbindungen geknüpft worden und eine Rhythmik entstanden, die den Kollektivkörper B.D.C. and friends funktionieren ließ. Die mediale Situation, die für die Performance hergestellt wurde, wiederholte im Kleinen die theatrale Anlage der Gesamtveranstaltung. Indem ein festgelegter Rahmen hergestellt wurde (das Theater), der als Experimentierraum zur Verfügung gestellt wurde, konnten Verbindungen geknüpft werden, die im alltäglichen Betrieb verhindert werden – zwischen Zuschauern und Performern, zwischen Praktikern und Theoretikern. Gleichzeitig wurde dieses Experiment ununterbrochen per Video archiviert, kamen abends größere Mengen von Zuschauern oder Partygästen und brachen immer wieder ein in die Intimität, die in der Gruppe von vielleicht vierzig Personen, welche während der ganzen Zeit im Theater blieben, nach und nach selbstvergessen hergestellt wurde. Innerhalb des entstehenden Kollektivkörpers gab es immer verschiedene Gruppen, Meuten, Rudel. Durch den Ausschluß des Publikums bei seiner Performance stellt Davis Freeman

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STEFANIE WENNER

das Verhältnis Zuschauer/Performer zur Disposition. In dem Augenblick, da wir einen Zuschauerraum betreten, befinden wir uns in einer klar aufgeteilten Situation, die aber getragen wird von einer im voraus getroffenen Vereinbarung. Diese Verbindung und die angebliche Passivität der Masse der Zuschauenden wird in der Frage, »What do you pass on?«, verhandelt. Zuschauer und Performer sind ein, wenn auch ungleiches Paar, das für die Dauer der Aufführung einen Konnex herstellt. Durch die Einladung an Teilnehmer der Workshops und Künstler aus dem Umfeld von B.D.C. in einen geschlossenen, aber gleichzeitig durch die mediale Vermittlung transparenten Raum, wird eine Separierung vom bestehenden Kollektiv praktiziert, die dennoch die Verbindung zum Rest der Gruppe nicht aufgibt. Die Freiheit des Improvisierens entstand aus dem regelhaften Rhythmus des Kollektivs. Das ist das Paradoxon der Freiheit im Kollektiv, die ich am Anfang als Frage formuliert hatte. Die Einkörperung des Individuums in das Kollektiv bringt einen neuen Kollektivkörper hervor. Die Mikropolitik des Kollektiven findet aber, wie unter Bezugnahme auf Merleau-Ponty deutlich wurde, bereits im individuellen Körper statt. Wenn der Körper das ist, was wir uns erworben haben und das Fleisch das, was uns gegeben ist, zu dem wir aber nicht gelangen, so möchte ich mit Deleuze/Guattari in dem Ausruf »Gebt mir einen organlosen Körper« enden, als einen virtuellen Körper, etwas Drittes, einen Zwischenraum, der Paarbildung sein könnte, und zwar genau in dem Sinne der Bildung beweglicher Mannigfaltigkeit.

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LIEBESDREIECKE

Liebesdreiecke. Die »ménage à trois« zwischen Selbstmord und Kollektiv Schamma Schahadat

In der Nacht vom 10. zum 11. Juli 1856 begeht in Petersburg ein junger Mann Selbstmord, indem er sich auf einer Brücke erschießt und in die Neva fallen läßt. Merkwürdig ist, daß die Leiche nie gefunden wird, wohl aber die Mütze des jungen Mannes, so daß der Fall klar scheint. In den 1920er Jahren erschießt sich im Berliner Grunewald ein anderer junger Mann, übrig bleiben seine Freunde Rudolf und Olja. Eigentlich hatten sie einen kollektiven Dreierselbstmord begehen wollen, aber zweien von ihnen fehlte der Mut. Beide Selbstmorde finden in Romanen statt, der erste in Nikolaj Cˇernysˇevskijs Was tun? (Cˇto delat’?) von 1863, der zweite in Vladimir Nabokovs Die Gabe (Dar) von 1936, und beide geschehen sie im Zusammenhang mit Liebesdreiecken. »Überhaupt«, so Unda Hörner in ihrem Aufsatz Die Seiten des Dreiecks, »gehen Liebesexperimente mit drei Beteiligten meistens traurig aus, auch Schrotflinten, nicht mehr zu bremsende Automobile und verschiedene Rauschmittel sind im Spiel.«1 Der Selbstmord des jungen Jasˇa in Die Gabe ist in der Tat traurig – bei dem Liebesdreieck handelt es sich, wie es bei Nabokov heißt, um »ein in einem Kreis gezeichnetes Dreieck«2 zwischen dem Studenten Jasˇa und seinen Freunden Rudolf und Olja: Jasˇa liebt Rudolf, Rudolf liebt Olja, und Olja wiederum liebt Jasˇa. Die Leidenschaften bleiben unerfüllt, sie zirkulieren und

1. Hörner, Ursula. »Die Seiten des Dreiecks. Vorwort.« Im Dreieck. Liebesbeziehungen von Nietzsche bis Duras. Hg. v. ders. Frankfurt a.M. 1999, 9-14, hier 9. 2. Nabokov, Vladimir. Die Gabe. Roman. Deutsch von A. Engel-Braunschmidt. Reinbek 1993, 71 (»treugol’nik, vpisannyj v krug«; Nabokov, Vladimir. »Dar«. Sobranie socˇinenij v ˇcetyrech tomach. Tom 3. Moskva 1990, 5-330, hier 39). 237

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SCHAMMA SCHAHADAT

schaffen ein unlösbares Problem homo- und heterosexuellen Begehrens.3 »[D]amit sich – bereits in einer anderen Welt – wieder ein idealer und makelloser Kreis herstelle«4 (so heißt es im Roman), entschließen die Freunde sich zum kollektiven Selbstmord. Doch nur Jasˇa erschießt sich – was bleibt, ist eine vereinzelte Leiche und zwei verstörte Individuen. Der Traum von einem makellosen Kreis im Jenseits, in dem drei Körper und drei Seelen sich harmonisch zu einem kollektiven Ganzen vereinigen, hat sich nicht erfüllt. Der Selbstmord in Cˇernysˇevskijs Was tun? dagegen ist alles andere als traurig – erstens ist er doppelt fiktiv, denn der Student Lopuchov, der sich scheinbar erschossen hat, taucht ein paar Jahre später in Petersburg wieder auf, und zweitens hat er diesen Selbstmord vorgetäuscht, um seiner Frau und seinem Freund, die sich lieben, den Weg zu ebnen zu einer neuen Beziehung. Am Schluß des Romans leben vier Menschen in harmonischer Eintracht zusammen – ein Ex-Ehepaar mit jeweils neuen Partnern. Aus der ursprünglichen Zweierbeziehung ist eine glückliche Viererbeziehung geworden, ein Kollektiv. Mit den beiden Selbstmorden und Dreier- bzw. Vierermodellen liegen zwei unterschiedliche kulturelle Varianten vor, die die Auflösung der Paarbeziehung markieren. Beide überschreiten sie das Modell des Paares, das die westliche moralische und institutionelle Ordnung zwischen den Geschlechtern bereits seit Platons Kugelmenschen beherrscht. Zentral dafür ist die Figur des Dritten, die in die Zweierbeziehung einbricht. Na. bokovs »im Kreis gezeichnetes Dreieck« entspricht, wie Aleksandr Etkind gezeigt hat, einem romantischen Liebesmodell: »Die romantische Liebe«, . so Etkind, »lebt nicht im Liebespaar, sondern im -dreieck. Das Gefühl der Helden wird durch die Anwesenheit eines Rivalen geweckt und erlöscht mit dessen Abwesenheit.«5 Romantische Liebe bleibt in der Regel unerfüllt, es zirkuliert. Mit Hilfe eines assoziativen Sprungs läßt sich das romantische Begehren mit dem »Ding« bei Lacan kurzschließen und durch dieses erklären – Lacan bezeichnet mit dem Ding »das Unmögliche […], dessen Fehlen mit Imaginationen (Phantasmen) gefüllt wird«, und: »Da das Ding ein unmögliches ist, halten seine Repräsentationen den Wunsch . 3. So Etkind, Aleksandr. »Ljudi bednogo ognja: gomoseksual’nost‘ i intertekstual’nost‘ u Nabokova«. Literatur und Phantasma. Festschrift für Renate Lachmann zum 65. Geburtstag. Hg. v. Susi Frank, Erika Greber u. a. München 2002, 549-566, hier 561. 4. Nabokov (Anm. 2), 76 (»daby vosstanovilsja – uˇze v nezemnom plane – nekij ideal’nyj i neporocˇnyj krug«; ebd., 42). . 5. Etkind (Anm. 3), 561 (»Romanticˇeskaja ljubov’ ˇzivet ne v pare ljubjasˇˇcich, no v ich treugol’nike. Cˇuvstva geroev vozbuˇzdajutsja prisutstviem sopernika i gasnut pri ego otsutstvii«). – Die Übersetzungen aus dem Russischen sind, wenn nicht anders angegeben, von mir. 238

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als unstillbaren aufrecht.«6 Dieses »Ding« wiederum ist Ergebnis einer Dreiecksbeziehung, bei der der Vater, die symbolische Ordnung, als das Dritte in die duale Beziehung zwischen Mutter und Kind, zwischen dem Ich und dem anderen (objet petit a) einbricht.7 Der Vater, die Sprache bringt die Trennung ein, das Subjekt wird gespalten, wiederum in ein Dreieck: das je (als sprachliches Subjekt), das moi (als äußeres Bild des Körpers), in den Körper bzw. in das Symbolische, das Imaginäre, das Reale. Das Begehren bei Freud und Lacan setzt die Figur des Dritten in Form des ödipalen Dramas voraus. Romane, Träume und Briefe sind die Formen, in denen sich der »Wunsch als unstillbarer« manifestiert. In postromantischen bzw. revolutionären Liebeskonzeptionen findet eine Transformation dieser Figur des Dritten statt; der Dritte verwandelt sich vom romantischen Rivalen zum realistischen Mediator, zum Vermittler zwischen den beiden Seiten des Paars. Die Liebe geht von der verschwenderischen Zirkulation der Passionen über in eine zielgerichtete Ökonomie derselben – wenn die Lust sich verändert, wird aus dem Liebhaber der vermittelnde Bruder. Die Zweierbeziehung, wie das platonische Modell sie vorsieht, hat eine statische Struktur. Die Figur des Dritten bringt diese Struktur in Bewegung, zum Beispiel in einer vertikalen Linie, prokreativ-teleologisch in Form eines Kindes, das sich aus der Verbindung der beiden ergibt und mit der konkreten Aufgabe ausgestattet ist, die Art zu erhalten.8 Der oder die Dritte kann die Zweierbeziehung aber auch auf der horizontalen Ebene in Bewegung bringen, sei es als eine Art Stimulator (so zum Beispiel in der Hofkultur des 18. Jahrhunderts, in der Romantik, im Symbolismus), sei es als Mediator (in postrevolutionären oder avantgardistischen Epochen). So fungieren die Passionen in der Salonkultur des 18. Jahrhunderts als »Geld der Salonkultur, ein Tauschelement, das sie vor der jederzeit drohenden Paralyse bewahrt«; »Liebe [spielt] in der Salonkonversation eine katalytische Rolle […], ohne die der Pegel des Gesprächs auf seine Nullinie, den ennui, absinken würde.«9 Dabei bewegt sich der »erotische Tauschverkehr«10 in einem außerehelichen Raum, d. h. im 6. Widmer, Peter. »Zwei Schlüsselkonzepte Lacans und ihre Bedeutsamkeit für die Praxis«. Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk. Hg. v. Hans-Dieter Gondek, Roger Hofmann, Hans-Martin Lohmann. Stuttgart 2001, 15-48, hier 20. 7. S. dazu Lacans »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«. Schriften I. Olten 1996, 71-169. Und auch: Widmer, Peter. Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk. Wien 1997, 44-47. 8. Davon handelt z. B. Lidija Zinov’eva-Annibals Drama Die Ringe (Kol’ca) von 1904. 9. Koschorke, Albrecht. Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, 17. 10. Ebd., 19. 239

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Kontakt mit dem Dritten. Auch als die Liebe in der Aufklärung in Form der Liebesehe institutionalisiert, in Form der Kernfamilie nach außen abgeschlossen und von der Leidenschaft gereinigt wurde11, blieb dem Dritten weiterhin die Aufgabe, die Beziehung zwischen den Geschlechtern in Gang zu halten. Dabei verlagert sich die Zirkulation der Leidenschaften, die in der Salonkultur des 18. Jahrhunderts eng mit dem Gespräch, dem Aussprechen der Passionen, und damit mit dem Einsatz des Körpers – durch Mimik, Gestik, Stimme – verbunden ist, in Sentimentalismus und Romantik vorwiegend in den Bereich der Imagination: »Vergleicht man Romane vom Anfang des 18. Jahrhunderts mit denen aus dem 19. Jahrhundert, so tritt der Dialog der Liebenden zurück; er wird ergänzt oder nahezu ersetzt durch die Verzauberung der Objekte, an denen in bezug auf den anderen die Liebenden ihre Liebe erfahren.«12 Die Kommunikation ist imaginär oder aber eine Kommunikation in absentia, denn der Brief wird zum bevorzugten Medium der Aussprache. Der Abwesende wird in der intimen Aufschrift des Herzens imaginiert, und das Erlangen des Liebesobjekts wird mithilfe der Schrift immer weiter verschoben, ohne je erreicht zu werden. In (post-)revolutionären oder avantgardistischen Epochen kommt ein anderes Liebesmodell auf. Die Liebe wird einer Ökonomie unterworfen, die der Verschwendung der Gefühle ein Ende macht; die Leidenschaften werden mithilfe einer substitutiven Handlung in geregelte Bahnen gelenkt: Der ungeliebte Ehepartner wird ausgetauscht. Anstelle der Zirkulation unerfüllter Leidenschaften, wie man sie zum Beispiel in Pusˇkins Evgenij Onegin antrifft, tritt der Tausch, die Substitution, wie in Cˇernysˇevskijs Was tun?. Auch der Umgang mit den Zeichen wird funktionalisiert und zum Teil ökonomischer: In Was tun? wird das Ende einer Liebe oder der Entschluß zum Selbstmord in kurzen Notizen mitgeteilt, und wenn ein Brief dennoch umfangreicher ist, so besteht er zum Großteil aus Zitaten in wörtlicher Rede. Das gesagte Wort rückt das geschriebene in den Hintergrund; die Aura des Briefes – Selbstentdeckung, Ich-Entgrenzung, Aufrichtigkeits-Pathos, Imagination des Dialogs13 – geht verloren, wenn der Brief tatsächlich zur Mitteilung von Informationen dient. Im folgenden sollen zwei typologisch unterschiedliche Formen des Liebesdreiecks gegeneinander gestellt werden, ein ›romantischer‹ Typus, 11. S. dazu Koschorke, ebd., 20 ff. 12. Luhmann, Niklas. Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1994, 168. 13. S. dazu Bohrer, Karlheinz. Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt a.M. 1989. 240

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dessen Merkmal die Verschwendung der Leidenschaften und der Zeichen ist, die unerfüllte Zirkulation der Passionen und der Worte, und ein ›realistischer‹ Typus, der durch eine ökonomische Handhabung derselben bestimmt ist. In beiden Fällen nimmt die Figur des Dritten die Schlüsselposition ein, jene Position, die bestimmt, welche Form der Austausch der Passionen und der Worte annimmt: die der Verschwendung oder die der Ökonomie, der »seriellen Ersetzung« (Baudrillard).

Romantische Liebe: die unendliche Zirkulation des Begehrens und der Zeichen Die unerfüllte romantische Liebe, speziell in Form des Dreiecks, hat ihren Ursprung in einem mystischen Konstrukt, das eine Intimität ohne jede Erotik fordert. Intimität meint – im Sinne Batailles – einen Zustand der Hierarchie- und Differenzlosigkeit, der Immanenz, die keinen Herrn und keinen Knecht kennt.14 Eine solche »heilige Verbindung« bildete sich 1914 zwischen dem russischen Zaren Aleksandr I., dem Pietisten Johann-Heinrich Jung-Stilling und einem Hoffräulein der Zarin, Roksandra Strudza. Die drei schlossen einen ewigen Bund, um »für den Herrn« zu leben.15 Alexander war Teil zweier weiterer solcher mystischer Dreiecke »im Namen der Liebe und der Barmherzigkeit«16, und die Handlung, die die Mitglieder dieser Dreiecke verband, war das Lesen ein und derselben Kapitel aus der Bibel – der Akt des Lesens fungierte damit als ein doppelter Liebesakt, als einer auf der Horizontale, der die Beziehungen innerhalb des Dreiecks auf gänzlich unerotische Weise festigte, und als Liebesakt auf der Vertikale, der die drei auf intime Weise an Gott band. Das irdische Dreieck und die himmlische Dreieinigkeit wurden so zu austauschbaren Paradigmen eines mystischen Dreierbundes. Die intime Bindung an Gott war dem Dreierbund damit gewiß. In die romantische Liebesbeziehung zogen dann aber dennoch die Triebe ein, wobei Mystik und (unerfüllte) Erotik in manchen Fällen ein kompliziertes Wechselspiel eingingen – so in der Beziehung zwischen dem romantischen Dichter Vasilij Zˇukovskij, seiner Nichte Masˇa Protaso14. S. dazu George Batailles Immanenz-/Intimitätsbegriff in seiner Theorie der Religion. München 1997. 15. S. dazu Zorin, Andrej. Kormja dvuglavogo orla … Russkaja literatura i gosudarstvennaja ideologija v poslednej treti XVIII – pervoj treti XIX veka. Moskau 2001, 288; Zorin bezieht sich hier auf das Buch von F. Ley, Alexandre I et sa Sainte-Alliance (1811-1825). Paris 1975, 88. 16. »vo imja ljubvi i miloserdija«, so heißt es in den Memoiren der Strudza, zit. nach Zorin . (Anm. 15), 288 (Zorin wiederum zit. nach Edling, R. S. Zapiski. Derˇzavnyj sfinks. Hg. v. A. Liberman, V. Naumov, S. ˇSokarev. Moskau 1999, 198). 241

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va, die er liebte, aber aufgrund des Inzestverbots nicht heiraten durfte, und deren späterem Ehemann; die drei bildeten, so Veselovskij, ein »enges Triumvirat, dessen Ziel das allgemeine Glück« war.17 Als Masˇa starb, löste sich der Dreierbund keineswegs auf, sondern, ganz im Gegenteil, er wurde durch ein »himmlisches Wesen«18, den Geist der verstorbenen Masˇa, in die Vertikale erweitert. Auch in diesem Bund spielten Lesen und Schreiben eine wichtige Rolle; Zˇukovskij und Masˇa Protasova realisierten ihre Liebesbeziehung, die sie physisch und gesellschaftlich nicht einlösen konnten, in Form der gemeinsamen Lektüre religiöser Bücher und im Schreiben paralleler Tagebücher, die sie zum Zwecke des Austauschs führten – anstelle eines Austauschs der Körperströme (Koschorke) kam es zu einem Austausch der Schrift. Das romantische Liebesmodell findet sich zuhauf in der Literatur und auch im realen Leben. Für die russische Literatur ist Aleksandr Pusˇkins Poem Evgenij Onegin (1823-1830) beispielhaft: Die im Leben unerfahrene, durch Romane geprägte Tat’jana verliebt sich in Onegin und schreibt ihm einen Brief, in dem sie ihre Liebe gesteht und in dessen Zentrum weniger der Andere als Adressat des Briefes steht als die Briefschreiberin als Liebende, d. h. im Prinzip die Liebe selbst. Der Brief übernimmt die Funktion des Tagebuchs, wobei die Kommunikationssituation die intime Herzensbeichte öffentlich macht (Bernhard Siegert nennt dies die »schriftliche Kompromittierung eines Selbst«19). Onegin reagiert seinerseits mit einer Beichte (»nehmen Sie meine Beichte an«20), in der er seine Unfähigkeit zu lieben beschreibt und Tat’janas Liebesangebot ablehnt; er substituiert Tat’janas erotische Liebe durch eine pädagogische Verpflichtung.21 Jahre später trifft Onegin Tat’jana wieder, sie ist jetzt verheiratet, und erst jetzt verliebt er sich in sie. Dieses Mal ist es Tat’jana, die Onegin abweist, obwohl auch sie ihn noch immer liebt. Gerade diese Zirkulation unerfüllter Leidenschaften hat das Modell Onegin – Tat’jana (einschließlich des Dritten, Tat’janas Ehemann) in der russischen Kultur produktiv gemacht; Marina Cvetaeva zum Beispiel hat es sich zum Vorbild für ihre eigene Liebesbiographie genommen. So beschreibt sie in ihrem autobiographischen Essay Mein Pusˇkin (Moj Pusˇ. 17. Veselovskij, A. N. V. A. ˇZukovskij. Poezija ˇcuvstva i »serdecˇnego voobraˇzenija«. Sankt Petersburg 1904, 206, zit. nach Zorin (Anm. 15), 283. 18. Veselovskij (Anm. 17), 237, zit. nach Zorin (Anm. 15), 283. 19. Siegert, Bernhard. Relais. Geschichte der Literatur als Epoche der Post. 1751-1913. Berlin 1993, 44. 20. Pusˇkin, Aleksandr A. Evgenij Onegin. Dramaticˇeskie proizvedenija. Leningrad 1978, 71 (Polnoe sobranie socˇinenij v desjati tomach. Tom pjatyj) (»primite ispoved’ moju«). 21. S. dazu Murasˇov, Jurij. »Schrift und Geschlecht. Zur medialen Pragmatik des Briefmotivs in A. Pusˇkins ›Evgenij Onegin‹«. Die Welt der Slaven XLIII, 1998, 173-186, hier 181. 242

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kin, 1937) die erste Begegnung mit Onegin und Tat’jana, die sie als Sechsjährige hatte, als eine Art Urszene: »Eine Bank. Auf der Bank – Tat’jana. Dann kommt Onegin, er setzt sich nicht, und sie steht auf. Beide stehen. Und nur er redet, die ganze Zeit, lange, und sie sagt kein Wort. Und da verstehe ich […], daß das Liebe ist: Wenn es eine Bank gibt, wenn auf der Bank sie sitzt, wenn er kommt und die ganze Zeit redet, und sie sagt kein Wort.« 22 Bezeichnend ist Cvetaevas Aufteilung in Sprechen und Schweigen: Onegin spricht, Tat’jana schweigt; die Geschlechterrollen im Liebesgespräch sind festgelegt, und der Brief, den Tat’jana Onegin geschrieben hatte, ist dabei nicht unwichtig. Denn gerade anhand des Privatbriefes werden, so Siegert, die Geschlechterrollen verteilt: Frauen lesen Bücher von Männern, schreiben Männern Briefe, worauf die Männer wiederum antworten, denn sie schreiben Antwortbriefe und neue Bücher. Die Aufgabe des Mannes besteht in der Romantik darin, das »nichtdiskursive Wissen« der Frauen, »das obskur in ihrer Seele haust, in ordentliche Begriffe zu übersetzen.«23 So auch in diesem Fall: Die Leserin Tat’jana schreibt, in ihren Gefühlen inspiriert von Romanen, einen Brief an Onegin, die dieser in seiner Rede rationalisiert: »Was auf der Welt kann schlimmer sein / Als eine Familie, wo die arme Frau / betrübt ist über den unwürdigen Gatten / Und Tag und Nacht allein ist.«24 Erst der Dritte, Tat’janas Ehemann, stimuliert Onegins Gefühle, so daß er daraufhin seinen verspäteten Antwortbrief an Tat’jana verfaßt. Russische symbolistische Liebeskonstellationen, die »im Dreieck« (Hörner) angeordnet waren, speisten sich aus dieser Unmöglichkeit der erfüllten Liebe, was sie zu Erben romantischer Liebesmodelle machte. Berühmte Liebesdreiecke des russischen Symbolismus sind Vjacˇeslav Ivanov, seine Frau Lidija Zinov’eva-Annibal und ein jeweils ausgesuchter Dritter; Zinaida Gippius, ihr Mann Dmitrij Merezˇkovskij und der gemeinsame Freund Dmitrij Filosofov oder auch Aleksandr Blok, seine Frau Ljubov’ Dmitrievna und Andrej Belyj. Die symbolistischen Liebesdreiecke zeichnen sich, wie auch die (post-)revolutionären, dadurch aus, daß sie in der Regel ein gezieltes Programm verfolgen; die Erfahrungen der 1860er 22. Cvetaeva, Marina. »Moj Pusˇkin«. Socˇinenija Tom vtoroj. Proza. Moskva 1984, 302-339, hier 316. (»Skamejka. Na skamejke – Tat’jana. Potom prichodit Onegin, no ne saditsja, a ona vstaet. Oba stojat. I govorit tol’ko on, vse vremja, dolgo, a ona ne govorit ni slo. va. I tut ja ponimaju, […] ˇcto eto – ljubov’: kogda skamejka, na skamejke – ona, potom prichodit on i vse vremja govorit, i ona govorit ni slova«). 23. Siegert (Anm. 19), 92, 84-95. 24. Pusˇkin (Anm. 20), 71 (»Cˇto moˇzet byt’ na svete chuˇze / Sem’ji, gde bednaja ˇzena / Grustit o nedostojnom muˇze / I dnem i vecˇerom odna«). 243

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Jahre haben auf das romantische Liebesmodell eingewirkt, so daß die Symbolisten dieses schon in transformierter Form rezipierten.25 Ausgangspunkt für die symbolistischen Liebesdreiecke ist in der Regel eine mystisch gefärbte Theorie, so daß die Liebe zum anderen immer auch die Liebe zu einem göttlichen Wesen impliziert. Hier klingt der mystische Ursprung der Liebesdreiecke an. Abbildung 1: Lidija Zinov’eva Annibal, Vjacˇeslav Ivanov und Lidijas Tochter Vera (1907) (Ivanov heiratete seine Stieftochter nach Lidijas Tod.)

Quelle: Keller, Ursula. »Das mystische Dreieck. Lidija Zinowjewa-Annibal, Wjatscheslaw Iwanow und ›der Dritte‹«. Im Dreieck. Liebesbeziehungen von Nietzsche bis Duras. Hg. v. Unda Hoerner. Frankfurt a. M. 1999, 64-84, hier 65.

Vjacˇeslav Ivanov, Philosoph, Dichter und Antiken-Spezialist des russischen Symbolismus, entwickelt auf der Grundlage von Platons Symposium und Vladimir Solov’evs Der Sinn der Liebe (Smysl ljubvi, 1892-1894) eine Eros-Theorie, die er unter den Begriff des »speculum speculi« faßt und die die ganze Generation der Symbolisten in ihrem Lebenschaffen nach25. S. dazu Matich, Olga. »The Symbolist Meaning of Love: Theory and Practice«. Creating Life. The Aesthetic Utopia of Russian Modernism. Hg. v. Irina Paperno u. Joan Grossman, Stanford 1994, 24-50. 244

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haltig beeinflußt hat.26 Bei Solov’ev liegt »der Sinn der Liebe« darin, eine mystische Einheit mit Gott zu erreichen; der Mensch nähert sich der göttlichen All-Einheit durch die Liebe zum anderen, zu seinem sozialen Umfeld und schließlich zum ganzen Kosmos. Das irdische Wesen, das man liebt, ist für Solov’ev nur Verkörperung des idealen göttlichen Wesens. Ivanovs Aussagen zur eigenen Eros-Konzeption finden sich in einem Essay über Solov’ev, mit dem er sich explizit in dessen Tradition stellt. In Die religiöse Tat des Vladimir Solov’ev (Religioznoe delo Vladimira Solov’eva, 1910) hängt Ivanov Solov’evs Modell mit seiner Theorie vom speculum speculi eine gnoseologische Schleife an: Der Mensch in seiner animalischen Verfaßtheit hat in Hinblick auf die Welt die Funktion eines lebendigen Spiegels. Nun nimmt er, als Spiegel, die Dinge an sich seitenverkehrt auf – jede Erkenntnis ist eine Verzerrung der Wirklichkeit. Ausweg aus diesem Dilemma ist der Andere, der zum Spiegel des Spiegels wird und die Erkenntnis geraderückt. Die Liebe zum Anderen wird so zu einer notwendigen Voraussetzung von Erkenntnis; Wahrheit kann nur im Anderen geschaut werden, und dieses Schauen führt notwendig zu Christus: »Wo zwei oder drei im Namen Christi sind, dort ist Christus Selbst unter ihnen.«27 Dieses Modell vom speculum speculi weitet sich aus zur Utopie der sobornost’, der mystischen All-Einheit, in der alle Menschen liebend vereint sind. Ivanov schließt die Rede und die Tat kurz: Den Akt der Liebe, des Lebens und des Glaubens vollbringt der Mensch, indem er zum Anderen . sagt: »Du bist« (»Ty esi«), d. h. ihn als Subjekt anerkennt. Ivanov realisiert den Übergang von der Zweisamkeit zur Gemeinschaft, die für ihn in der Idee der sobornost’, der mystischen All-Einheit, verkörpert ist, in seinen Mittwochen im Turm, die Solov’evs soziale Alleinheit präsentieren und den liebenden Austausch in Form des platonischen Gesprächs inszenieren, und auch in seinen Versuchen, seine These von der trinitären Liebe mit den Gästen des Turms in die Tat umzusetzen, einen Dritten aus Gründen des Gleichgewichts in die Beziehung zwischen Ich und Du einzubringen. Ivanovs Lebens- und Liebespraxis ist – wie überhaupt bei den Symbolisten – eng an den Text gebunden; Theorie, Leben und literarische Texte befinden sich in einer dynamischen Verflechtung und wirken ständig aufeinander ein. Auch Zinaida Gippius’ Ideal von der trinitären Liebe hatte eine 26. S. dazu Matich (Anm. 25). Zu Ivanovs und Zinov’eva-Annibals Experimenten s. a. Keller, Ursula. »Das mystische Dreieck. Lidija Zinowjewa-Annibal – Wjatscheslaw Iwanow und ›Der Dritte‹« (Anm. 1), 64-84. 27. Vjacˇeslav V. Ivanov. Sobranie socˇinenij 3. Hg. v. Dmitrij V. Ivanov, Ol’ga Desˇart. Bruxelles 1979, 303 (»Gde dvoe ili troe vmeste vo imja Christovo, tam sredi nich Sam Christos«). 245

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mystisch-religiöse Grundlage: Sie selbst verfocht eine androgyne Auffassung28, die den sexuellen Akt in den Hintergrund rückte: »It becomes clearer and clearer to me […] that the ›mystery of the two‹ is a broader concept than sex. This mystery may include sex, but it definitely cannot be identified with it.«29 Dmitrij Filosofov war homosexuell und Dmitrij Merezˇkovskij asexuell, so daß eine Erfüllung der Liebessehnsüchte unmöglich war; das Ergebnis war eine zölibatäre, aber dennoch von Begehren gelenkte Dreierbeziehung. Diese fand ihre Sublimierung in der Idee, daß das Dreieck sich mit der Heiligen Dreieinigkeit assoziierte30, d. h. die zirkulierenden Passionen fanden ihre Befriedigung im mystischen Kollektivleib von Vater, Sohn und Heiligem Geist: »Each individual in a pair must preserve his personality in its entirety, preserve their unity, also in its entirety, and even more – the unity among all other personalities. The only form of unity which does not reject personality, but affirms it, is the unity in one single center, in God, in the Three in One. Such a unity is no longer human, but one which elevates men to the Divine Unity, a unity which lovingly embraces their separateness from one another and at the same time preserves it as one.«31 Diese symbolistischen Liebesdreiecke entsprechen dem, was Christina von Braun32 als den Kollektivleib der »christlichen Glaubensgemeinschaft« bezeichnet hat, einem Leib, »der sich aus den beiden Polen Spiritualität und Leiblichkeit zusammensetzt.«33 Auch dem Dreieck zwischen Aleksandr Blok, seiner Frau Ljubov’ Dmitrievna und Andrej Belyj liegt eine mystisch-mythische Quelle zugrunde: Bloks Frau wurde von der »mystischen Bruderschaft« der Dichter Blok, Belyj und Sergej Solov’ev als Verkörperung Sophias auf Erden 28. Schuler, Catherine. »Zinaida Gippius: An Unwitting and Unwilling Feminist«. In: Theatre and Feminist Aesthetics. Hg. v. ders. u. K. Laughlin. Madison 1995, 131-147, hier 137 f. 29. Ich zitiere nach einer englischen Übersetzung von Pachmuss aus einem Brief von Gippius an Dmitrij Filosofov. Pachmuss, Temira. Zinaida Hippius. An Intellectual Profile. London, Amsterdam 1971, 84. 30. S. dazu Paperno, Irina. »The Meaning of Art: Symbolist Theories«. Paperno, Grossman (Anm. 25), 13-23, hier 46. 31. Pachmuss (Anm. 29), 84. 32. Braun, Christina von. »Frauenkörper und medialer Leib«. Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien. Hg. v. W. Müller-Funk u. H. U. Reck. Wien, New York 1996, 125-146, hier 134. 33. Ebd., 134. 246

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wahrgenommen. Anders aber als bei Gippius und Ivanov ist die Dreiecksbeziehung kein Programm, sondern folgt eher den traditionellen Motiven einer Liebesrivalität, von hysterischen Anfällen bis hin zu Duellforderungen, und die Liebeserklärungen werden größtenteils per Post versandt: Belyj hat Ljubov’ Dmitrievna im Sommer 1905, als er den Sommersitz der Bloks, Sˇachmatovo, verlassen hatte, einen Brief mit einem Liebesgeständnis geschickt. Sie antwortet darauf: »Ich freue mich, daß Sie mich lieben … Lieben Sie mich – das ist gut, das ist alles, was ich Ihnen jetzt sagen kann, was ich weiß. Aber Ihnen leben helfen, Ihnen helfen, den Qualen zu entkommen – das kann ich nicht.«34 Eigentlich jedoch ist nicht Belyj der Dritte, der, wie im romantischen Liebesdreieck, als Stimulator für die Blok-Ehe fungiert – das Ehepaar bleibt zusammen –, sondern der Dritte ist in der Transzendenz angesiedelt; es ist das Modell der göttlichen Sophia, das von den Freunden auf die reale Frau übertragen wird. Das irdische Liebesdreieck ist nur ein Abbild des mystisch-mythischen Prototyps.

Das postromantische Liebesdreieck Im postromantischen Liebesdreieck finden mehrere Veränderungen im Vergleich zum romantischen Modell statt: Erstens geht das Prinzip der Verschwendung über in eines der Ökonomie; die Gefühle werden aus ihrer ungeordneten Zirkulation in eine Struktur der Ordnung überführt. Georges Bataille bindet den »Begriff der Verausgabung« an das Opfer: »heilige Dinge«, so Bataille, entstehen durch eine »Verlusthandlung«35, und Poesie, deren Sinn ein ähnlicher ist wie der des »Sakrifiziums«, bezeichnet er als »Schöpfung durch Verlust.«36 Berücksichtigt man die Engführung zwischen Liebe und Poesie in der Romantik – so bestimmt Schlegel in seinem Brief über den Roman die Liebe als Motor des Textes: »Die Quelle und Seele aller dieser Regungen [des Sentimentalischen] ist die Liebe, und der Geist der Liebe muß in der romantischen Poesie überall

34. Zit. nach »Blok v neizdannoj perepiske i dnevnikach sovremennikov (1898-1921)«. Hg. v. N. V. Kotlerev u. R. D. Timencˇik. Aleksandr Blok. Novye materialy i issledovanija. Kniga tret’ja. Leningrad 1982, 153-539, hier 225 (Literaturnoe nasledstvo 92,3) (»Ja rada, . . ˇcto Vy menja ljubite … Ljubite menja – eto chorosˇo, eto odno ja mogu Vam skazat’ te. per’, eto ja znaju. A pomocˇ’ Vam ˇzit’, pomocˇ’ ujti ot mucˇenija – ja ne mogu.«). 35. Bataille, Georges. »Der Begriff der Verausgabung«. Das theoretische Werk. Band 1. Die Aufhebung der Ökonomie. München 1975, 9-31, hier 13. Zur Verausgabung bei Bataille s. Groys, Boris. Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München 2000, 146163. 36. Bataille (Anm. 35), 15. 247

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Abbildung 2: Die »Bruderschaft« Andrej Belyj und Sergej Solov’ev mit einer Ansammlung ihrer Heiligtümer (1904) (ein Photo von Aleksandr Bloks Frau Ljubov’, die Bibel, ein Photo des Philosophen Vladimir Solov’ev)

Quelle: Pyman, Avril. The Life of Aleksandr Blok. Volume I: The Distant Thunder 1880-1908. Oxford 1979, 177.

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unsichtbar sichtbar schweben«37 –, dann ist auch die romantische Liebe diesem Paradigma der Verschwendung und des Verlusts zuzurechnen. Die Liebe, wie die Poesie, ist eine Verlusthandlung. Liebesbriefe, die das Risiko der Selbstentblößung in sich tragen und zudem unproduktive Wiederholungen von Liebesschwüren beinhalten, sind Zeugnis dieser Verschwendung. Das Gegenteil der Verschwendung sind »Nützlichkeit« und »Zweck«38, und dieses Prinzip greift für die Liebe in den postromantischen und postrevolutionären Theorien; Liebe ist keine Verschwendung mehr, sondern eine nützliche Handlung, die der Emanzipation der Frau entgegenarbeitet, ein gesellschaftlich fruchtbares Kollektiv hervorbringt usw. – all diese Ansprüche verwirklicht die Liebeskonstellation in Cˇernysˇevskijs Was tun?. (Für Bataille, der den Müll bzw. die Materie als »nichtlogische Differenz« definiert, »die für die Ökonomie des Universums das ist, was das Verbrechen für das Gesetz ist«39, wäre die verschwenderische romantische Liebe im Vergleich zur ökonomischen Liebe des Realismus, dem Gesetz, positiv markiert.) Mit dieser Rationalisierung, die den Überfluß, den »verfemten Teil« (Bataille) der Gefühle ausschaltet, ändert sich, zweitens, auch die Funktion des Dritten: Der Dritte ist nicht mehr dazu da, das Prinzip der Verschwendung am Leben zu erhalten, sondern er wird zum Mediator, zu demjenigen, der die Gefühle ordnet und in geregelte Bahnen lenkt. Der Rivale wird zum Vermittler. Und damit nimmt das postromantische Liebesdreieck die Form eines Kollektivs an, was dem nahe kommt, was von Braun als »medialen Kollektivleib« beschreibt; den Schwerpunkt bildet die geistige Beziehung zwischen den einzelnen Mitgliedern des Dreiecks. So bleiben Vera Pavlovna und ihr Mann einander in Was tun? in brüderlicher Liebe verbunden, während das sexuelle Streben sich auf die neuen Partner richtet.40 Man liebt nach dem Prinzip der Wahlverwandtschaften. Aber wie schon in der Romantik ist ein weiteres Prinzip der Mediation aktiv: der Text, der das Modell für das richtige Verhalten anbietet. Der Dritte ist damit nicht nur eine Person, sondern er ist ein Mediator im Sinne René Girards. Der Dritte ist also auch das Dritte – es ist das Buch, 37. Schlegel, Wilhelm. »Brief über den Roman«. Kritische Schriften. Hg. v. Wolfdietrich Rasch. München 1964. 508-519, hier 513. 38. Bataille (Anm. 35), 16. 39. Ebd., 31. 40. Eine andere Variante des revolutionären Liebesmodells, das ich hier nicht berücksichtige, ist Aleksandra Kollontajs »sexuelle Emanzipation«, das Sexualität und Kulturkrise unmittelbar aneinander bindet, s. dazu Kollontajs Buch Geschlechtsbeziehung und Klassenkampf; über Kollontajs Entwurf von Eros und Sexualität s. Fetcher, Iring. »Nachwort«. Kollontai, Alexandra. Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin. Hg. v. Iring Fetcher. Berlin (ohne Jahr), 69-104. 249

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der Text, der als Vorbild dient für die eigene Verhaltenspoetik und auf diese Weise zwischen dem Paar vermittelt; das Medium fungiert als Mediator. Das »trianguläre Begehren« (Girard), das die binäre Paarstruktur aufbricht, läßt die Körper des Paares über den Text zusammenkommen. Girard nennt als ein Beispiel für die Vermittlungsfunktion der Figur des Dritten Madame Bovary: »Emma Bovary desires through the romantic heroines who fill her imagination«, schreibt Girard. »The second-rate books which she devoured in her youth must have destroyed all her spontaneity.«41 Jules de Gaultier prägt für dieses Imitationsverhalten den Begriff des »Bovarismus« (Bovarysm), ein Verhalten, das sich durch die Abwesenheit individueller Reaktionen und durch fehlende innere Motivation auszeichnet. Das Modell, der Dritte, der Text, lenkt das Liebesverhalten, es funktioniert modellhaft, d. h. der Ausbruch aus der Zweierbeziehung, aus der Regel ist regelhaft.42 Dabei ist das Objekt der Begierde austauschbar, wie im Falle der Emma Bovary, was bleibt, ist das Dreieck.43 Russische revolutionäre und avantgardistische Familienmodelle, bei denen aus Paaren Dreiecke bzw. Vierecke werden, orientieren sich an verschiedenen modellhaften Prätexten. Aus diesen lassen sich zwei konkurrierende Modelle herausgreifen, die neben- und miteinander existieren: Rousseaus Julie, ou la Nouvelle Héloïse von 1762 und Goethes Wahlverwandtschaften von 1806. Rousseaus Text bietet ein Dreiermodell an, das davon ausgeht, durch Bewußtsein zur Zügelung der Leidenschaften, zur Askese zu gelangen. Zur Erinnerung: Herr de Wolmar lädt SaintPreux, den ehemaligen Geliebten seiner Frau Julie, ein, mit ihnen zusammen zu leben, um ihn von der – unrechtmäßigen – Liebe zu Julie zu ›heilen‹. De Wolmar will Saint-Preux von der Leidenschaft zur Freundschaft erziehen. In den Wahlverwandtschaften wird der Konflikt zwischen leidenschaftlicher und institutioneller Liebe, zwischen Freiheit und Notwendigkeit in einer Art chemischem Experiment erprobt, indem die Paare sich durch »Wollen und Wählen« (Goethe) zusammenschließen. Beide Versuche mißlingen, weder lassen sich die Leidenschaften in Julie zügeln, noch scheint die Zeit für eine Realisierung der Wahlverwandtschaften gekommen; nicht alle Figuren des Vierecks können sich aus den moralischen und institutionellen Vorgaben lösen. In den radikalen, revolutionären Familienmodellen in den 1860er Jahren in Rußland werden diese beiden utopischen Ansätze aktiv, obwohl sie einander eigentlich diametral entgegengesetzt sind – Zügelung der Leidenschaften vs. Freigabe derselben: Zum einen findet sich die Erzie41. Girard, René. Deceit, Desire, and the Novel. Self and Other in Literary Structure. Aus dem Französischen. Baltimore 1965, 5. 42. Vgl. Sylvia Sasses These von der »idealen Unfreiheit« in diesem Band. 43. Girard (Anm. 41), 2. 250

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hung zum Verzicht im Vorbild des Revolutionärs, zum anderen die Absage an die Notwendigkeit institutioneller Familienbande und das Primat der Gefühle. Die drei Thesen, die ich bisher formuliert habe – das Aufbrechen des dualen Paarmodells durch die Figur des Dritten, die Wandlung vom Rivalen zum Mediator, von der Zirkulation der Leidenschaften zu einer ökonomischen Regulierung desselben und, drittens, die gleichzeitige Präsenz zweier konkurrierender Modelle, wie sie von Rousseau und Goethe vorgegeben sind –, lassen sich anhand zweier Beispiele aus der russischen Literatur bzw. Lebenspraxis verdeutlichen. Das erste Beispiel stammt aus der radikalen russischen Intelligencija der 1860er Jahre, es handelt sich um Cˇernysˇevskijs schon erwähnten Roman Was tun?; der zweite Fall findet in der revolutionären Kunstszene der 1910er und 20er Jahre statt, es geht um das bekannte Triangel Vladimir Majakovskij – Lilja Brik – Osip Brik. Dabei interagieren Theorien mit Lebenspraktiken, Texte fungieren als Modelle für die eigene Liebesbiographie und diese wiederum wirkt auf die Textproduktion zurück. Während die symbolistischen Liebesdreiecke zu einer immer stärkeren Intimisierung strebten, wobei die intimste Beziehung jene zu Gott war, öffneten die revolutionären und avantgardistischen Dreierkonstellationen sich ganz nach außen, wurden publik. Diese Experimente mündeten im weiteren in konstruktivistischen Utopien von monumentalen Kollektivwohnblöcken, der dom-kommuna, in denen der Neue Mensch ebenso wie der maximal genutzte Wohnraum lediglich eine mathematische Größe in einer ökonomischen Berechnung war. Realisiert wurde aber nicht die dom-kommuna, sondern die Kommunalwohnung, deren Bewohner verzweifelt versuchten, Grenzen zu ziehen in einem Raum, der Privatleben zum öffentlichen Faktum machte und das Individuum zum Teil eines unfreiwilligen Kollektivs. In Was tun? heiratet der Student Lopuchov Vera Pavlovna, um sie aus dem Familienjoch, in das sie durch ihre Eltern eingebunden ist, zu befreien – die Eheschließung kam in Rußland in den 1860er Jahren häufig einem emanzipatorischen Akt gleich.44 Als Vera Pavlovna sich in Lopuchovs Freund Kirsanov verliebt, folgt auf die fiktive Ehe ein fiktiver Selbstmord. Dieser fiktive Selbstmord aber geschieht, wie Irina Paperno gezeigt hat, keineswegs ganz freiwillig; Lopuchov schwebt eigentlich eine ménage à trois vor, bei der er sexuell aus dem Dreieck aussteigt, seiner 44. Bei der Analyse von Was tun? beziehe ich mich stark auf Paperno, Irina. Chernyshevsky and the Age of Realism. A Study in the Semiotics of Behavior. Stanford 1988, die den Roman ausführlichst interpretiert und auf die Beziehung zwischen Lebens- und Kunsttexten hin analysiert hat – was mir zu tun bleibt, ist die Einbindung ihrer Analyse in mein Modell. 251

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Frau und seinem Freund aber weiterhin nahe bleibt.45 Vera Pavlovna jedoch will ihre Liebe zu Kirsanov in der traditionellen Form, als Ehe, bestätigen, so daß Lopuchov nichts anderes bleibt als die Flucht. Erst Jahre später, als er unter neuem Namen zurückkehrt, funktioniert der Ausbruch aus dem Paarmodell, wobei durch Lopuchovs neue Eheschließung auch ein neues Gleichgewicht hergestellt wird – zwei Paare leben als Familie zusammen, wobei sexuelle und asexuelle Beziehungen einander die Waage halten. Wer oder was ist der Mediator in Was tun? Da gibt es zum einen eine ganze Reihe figuraler Vermittler (Paperno spricht in dem Zusammenhang vom »Rival-Mediator«46); ein potentieller Verlobter, der es in Lopuchovs Augen nicht wert ist, Vera Pavlovnas Ehemann zu werden, führt dazu, daß er Vera Pavlovna heiratet, und Lopuchov selbst ist dann im nächsten Fall der Mediator, der die Beziehung zwischen Vera Pavlovna und Kirsanov zustande bringt. Soweit funktioniert noch das romantische Modell des Dritten, der das Begehren auslöst – mit dem Unterschied, daß hier nicht nur die Gefühle, sondern auch ökonomische und ideologische Gründe (Emanzipation der Frau, Sicherstellen ihres Überlebens) eine Rolle spielen. Doch der Dritte taucht auch als das Dritte auf – Cˇernysˇevskij orientiert sich für die Darstellung der Ehe- bzw. Liebesbeziehungen sowohl an realen als auch an literarischen Modellen, nicht zuletzt an seiner eigenen Ehe, die wiederum literarisch geprägt ist. Ein literarisches Modell ist George Sands Roman Jacques von 1834, ein Roman, der Liebesdreiecke so auflöst, daß er die Lizenz zu einer »Freiheit des Herzens« anbietet.47 Lebensmodelle für den Roman waren Beziehungen, die zwischen Liebe und Freundschaft abwogen und sich oft – in revolutionärem Geiste – für die Freundschaft entschieden; so zum Beispiel der Revolutionär Ogarev, der seine Frau an Herzen abtrat, um diesen nicht als Freund zu verlieren.48 Das wiederholt sich später in der Beziehung zwischen Lenin und seiner Frau Krupskaja, wobei in diesem Fall die Krupskaja im Sinne revolutionärer Ethik handelte, denn sie blieb bei Lenin, obwohl dieser eine Liebesbeziehung zu Inès Armand hatte.49 Ein weiteres ›Lebensmodell‹ für die Viererbeziehung in Was tun? ist die Gemeinschaft zwischen Herzen, seiner Frau Natalie und dem deutschen Dichter Georg Herwegh, die in friedlicher Dreieinigkeit lebten und vergeblich versuchten, Herweghs Frau Emma zu überreden, sich ihnen anzuschließen. Natalie hat gar den Plan, eine sich immer weiter vergrößernde Familie zu gründen, 45. 46. 47. 48. 49.

Ebd., 137. Ebd., 117 ff. So Paperno (Anm. 44), 120 ff. S. dazu Grawitz, Madelaine. Bakunin. Ein Leben für die Freiheit. Hamburg 1998, 242. Ebd., 242. 252

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im Rahmen derer sich in ihre »kleine, heilige Kommune«50 weitere Paare einfinden würden. Der »Schatten Jean-Jacques’« – so Natalies eigene Worte51 – hing über allem; Natalie stand unter dem Einfluß von Rousseaus Nouvelle Héloïse. Allerdings wußte Herzen nicht, daß Natalie und Herwegh ein Liebesverhältnis hatten, und als die beiden Familien Herzen und Herwegh schließlich zusammenzogen, kam es, anders als in Was tun?, zu einem Skandal, mit Duell-Forderungen und dem plötzlichen Tod Natalies. Herzen, anders als Cˇernysˇevskij oder Lopuchov, war nicht bereit, Wahlverwandtschaften zu spielen. Im Anschluß an Cˇernysˇevskij wurde ein revolutionäres Verhaltensmodell zur Grundlage für die Revolutionierung der Liebesbeziehungen; so heißt es in dem Bakunin bzw. Necˇaev zugeschriebenen Katechismus des Revolutionärs (Katechizis revoljucionera) von 1869: »Der Revolutionär ist ein verdammter Mensch« (»Revoljucioner – cˇelovek obrecˇennyj«52). Mit diesem Ausbruch aus der Norm, der den Revolutionär als außergewöhnlichen Menschen nobilitiert – und damit erscheint der Revolutionär als ein Erbe des romantischen Genies, als eine heroische Gestalt im Carlyleschen Sinne –, beginnt der Katechismus, und er fordert im weiteren die Verachtung der öffentlichen Meinung, den Bruch mit der Gesellschaft, und vor allem: den Ausschluß jeglicher Romantik. Der Katechismus ersetzt als Mediator den Rivalen des romantischen Liebesdreiecks, und im Katechismus wird das Askese-Modell, die Erziehung zum Verzicht, wie sie schon in Rousseaus Roman vorgegeben ist, zu einem ideologischen Angelpunkt. Der Autor Cˇernysˇevskij liest also Romane und ideologische Manifeste, um seine Liebesbeziehungen in Was tun? zu ordnen; er arbeitet – als Autor, der ein Leser ist – intertextuell. Auch die Romanfiguren lesen Romane, sie lesen Boccaccio, Thackeray und, natürlich, George Sand. Während im Sentimentalismus und in der Romantik die gemeinsame Lektüre bzw. Rezitation Teil des »Paarbildungsrituals« war und das gemeinsame Lesen als Ersatzhandlung für die Liebeshandlung fungierte53, ist das realistische Paar in Cˇernysˇevskijs Roman nicht mit der gemeinsamen Lektüre befaßt, sondern mit der Auslegung des Gelesenen. Die Paare sprechen über Bücher, wobei sie die Literatur, gemäß Cˇernysˇevskijs eigenem Credo

50. Zit. nach Paperno (Anm. 44), 143. 51. Ebd., 143. 52. »Katechizis revoljucionera«. Revoljucionnyj radikalizm v Rossii: Vek devjatnadcatyj. Hg. v. E. L. Rudnickaja. Moskva 1997, 244-249, hier 244. 53. Zum deutschen Kontext s. Koschorke (Anm. 9), 158; s.a. oben, das Verhältnis Zˇukovskijs zu Masˇa Protasova. 253

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»Das Schöne ist das Leben«54, als Spiegel der Wirklichkeit sehen, nicht als ästhetisches Konstrukt. Nicht der ästhetische Genuß, sondern die rationale Analyse bestimmt ihre Lektüre und ihre Gespräche55; ein Roman wird auf diese Weise zum Lehrbuch. Die Lektüre der Figuren hat jedoch, anders als zum Beispiel in Evgenij Onegin, wo Tat’jana an ihrem Rollenmodell der romantischen Heldin scheitert, eine positive Wirkung: sie bildet (das zeigt sich in einem Gespräch zwischen Vera Pavlovna und Kirsanov über Boccaccio, der ihnen als Quelle über die Liebe in früheren Zeiten dient56). In diesem Sinne weicht Was tun? auch von Goethes Wahlverwandtschaften ab, wo das Lesen den Figuren zum Verhängnis wird57, »trägt doch am Tod des Kindes Otto vorrangig die Leselust Ottiliens Schuld.«58 Zum Problem wird die Lektüre in Was tun? in dem Moment, in dem es um das Lesen von Briefen geht. Während der Roman Tugenden wie Wahrheit, Aufrichtigkeit und Mimesis predigt, ist der Brief das Genre, in dem diese Tugenden ins Wanken geraten. Briefe sind, was ihren Wahrheitsgehalt betrifft, verdächtig, sie müssen richtig gedeutet werden. Die Briefe in Was tun? formieren Liebesbeziehungen oder besetzen die Positionen innerhalb derselben neu: Vera Pavlovna erklärt ihrem Mann Lopuchov in einer kurzen Notiz, daß sie Kirsanov liebt; Lopuchov läßt Vera Pavlovna nach seinem fiktiven Selbstmord einen Abschiedsbrief überbringen, in dem er explizit auf die Neubesetzung der Positionen in dem Liebesdreieck Lopuchov – Vera Pavlovna – Kirsanov verweist (»Ich habe Ihre Ruhe gestört. Ich verschwinde. Seien Sie nicht traurig; ich liebe Sie beide so sehr, daß ich sehr froh bin über meine Entschlossenheit«59), und in einem späteren, ausführlichen Brief erklärt er seine Motive für den vorgetäuschten Selbstmord, wobei er sich als ein Freund des (angeblich) Verstorbenen ausgibt. Doch die Briefe in Was tun? sprechen nicht unbe. 54. Cˇernysˇevskij, Nikolaj G. »Esteticˇeskie otnosˇenija iskusstva k dejstvitel’nosti«. Polnoe sobranie socˇinenij. Tom 2. Moskva 1949, 5-92, hier 10 (»Prekrasnoe est’ ˇzizn’«). 55. Über den Vorrang der Analyse über die Ästhetik schreibt Dmitrij Pisarev in seiner epochemachenden Abhandlung Die Realisten (Realisty) von 1864. Pisarev, Dmitrij I. »Realisty«. Socˇinenia. Stat’i 1864-1865. Tom 3. Moskva 1956, 7-138, hier 58 ff. 56. Cˇernysˇevskij, Nikolaj G. ˇCto delat’? Iz rasskazov o novych ljudjach. Roman. Moskva 1960, 356-358. 57. S. dazu Hörisch, Jochen. »Die Dekonstruktion der Sprache und der Advent neuer Medien in Goethes Wahlverwandtschaften«. Postmoderne. Eine Bilanz. Sonderheft Merkur 9/10, 1998, 826-839, der die Wahlverwandtschaften als einen Roman über mißlingende Sprech-, Schreib- und Leseakte deutet (833). 58. Dazu genauer Hörisch, ebd., 834. 59. »Ja smusˇal vasˇe spokojstvie. Ja schoˇzu so sceny. Ne ˇzalejte; ja tak ljublju vas oboich, ˇcto ocˇen’ scˇastliv svoeju resˇimost’ju«; Cˇernysˇevskij (Anm. 56), 7. 254

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dingt die ganze Wahrheit aus, der Empfänger muß zwischen den Zeilen lesen – Lopuchovs Abschiedsbrief ist kein Brief eines Selbstmörders, der Autor des erklärenden Briefes ist kein Freund des Verstorbenen, sondern er selbst. Briefe enthalten keine objektive, sondern eine »private ›Wahrheit‹« (so Karlheinz Bohrer über den romantischen Brief 60; Kierkegaard spricht in diesem Zusammenhang von der »Wahrheit für mich«61); Briefe sind »prinzipiell fiktional«, da sie eine Situation einbilden (so Bernhard Siegert62); und sie sind, wenn durch die Zensur die Verletzung des Briefgeheimnisses droht, verschlüsselt. Die Briefe des fiktiven Selbstmörders sind auf jeden Fall letzteres, da das Geheimnis, wenn nicht des Briefes, so doch des Verfassers, gewahrt bleiben muß; der Brief befindet sich im Zustand des ›als ob‹. Der trügerische Charakter des Briefes verdichtet sich in Was tun? in folgendem Satz: »Katerina Vasil’evna verliebte sich in Solovcov wegen seiner Briefe«63 – Solovcov ist ein Mitgiftjäger und Taugenichts, der mit seinen Briefen ein unschuldiges Mädchen zu verführen suchte; sein schlechter Charakter und die Trughaftigkeit des Briefes entsprechen einander (Katerina Vasil’evna wird, nebenbei bemerkt, später den mit neuer Identität zurückgekehrten Lopuchov heiraten und damit die Vierte in der neu geordneten Liebeskonstellation sein). Die Schrift ist im realistischen Weltmodell auf jeden Fall sekundär zur Rede, die die Wahrheit verkündet, sie ist ungenügendes Supplement. Als Folge von Cˇernysˇevskijs Roman, der zu einem Verhaltensmodell einer ganzen Generation wurde, stieg die Anzahl der fiktiven Ehen, und es entstand eine Reihe von Kommunen nach dem Vorbild der Vierergemeinschaft, die im Roman so harmonisch funktioniert. Eine davon war die Znamensker Kommune in Petersburg. Ihr Zweck lag im gemeinsamen Leben und Arbeiten; Vasilij Slepcov, der Gründer der Kommune, definierte sein Endziel als eine Phalanx im Sinne Fouriers, mit der Wohnheimform als Anfangsetappe für die »große Zukunft.«64 Während jedoch Cˇernysˇevskijs Wohngemeinschaft das Ergebnis emotionaler Verstrickungen war, die schließlich zur Radikalisierung einer neuen Familienform genutzt wurde, fiel das Liebesdrei- bzw. -viereck in der Umsetzung Slepcovs weg – verschiedene Menschen, teils ›echte‹ Nihilisten, teils ModeNihilisten, taten sich zusammen, um mit einer alternativen Lebensform zu experimentieren. Erotik wurde dagegen von den Gegnern als Argument 60. 61. 62. 63.

Bohrer (Anm. 13), 21f. Zit. nach Bohrer, ebd., 22. Siegert (Anm. 19), 42. Cˇernysˇevskij (Anm. 56), 410 (»Katerina Vasil’evna vljubilas’ v Solovcova za ego pis’ma«). 64. Cˇukovskij, Kornej. »Istorija Slepcovskoj kommuny«. Slepcov, V. A. Socˇinenija. Tom 1. Moskva, Leningrad 1956, 553-580, hier 560. 255

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gegen die Kommune genutzt, indem sie ihr Verkommenheit der Sitten und Zerstörung der Familie vorwarfen.65 Die Polizeidokumente, die die Überwachung der Kommune festhielten, weisen nach, daß Slepcov nicht mit seiner angetrauten Ehefrau zusammen lebte, sondern mit der Ehefrau eines anderen66 – aber weder die rechtmäßige Ehefrau noch der Ehemann lebten mit in der Kommune, so daß Cˇernysˇevskijs Ideal harmonischer Wahlverwandtschaften sich in einen simplen Ehebruch verkehrte. Die Kommune existierte nur wenige Monate, bis sie sich 1864 auflöste.67 Als buchstäbliche Realisierung von Cˇernysˇevskijs Modell läßt sich erst etwa fünfzig Jahre später das Dreieck Majakovskij, Lilja Brik und Osip Brik lesen. Ihre Vorstellung von Kultur und Familie orientierte sich an einem sozialen Kontext, der mit dem Bauen der neuen Gesellschaft und des Neuen Menschen befaßt war. Im Rahmen dieses Bauprojektes kommt der echten, revolutionären Liebe – im Gegensatz zur ehelichen, institutionalisierten Liebe – die Funktion zu, den alten Alltag, byt, zu zerfressen. Zeichen dieses alten Alltags – die Familie, das Teetrinken, aber auch die alte Architektur und die alten Möbel – wurden zerstört und durch neue Zeichen ersetzt: durch das Kollektiv, die Kommunalwohnung, das multifunktionale Klappbett68. Dabei wurde das private Leben zur öffentlichen Bühne, die die neue Gesellschaft und den neuen Menschen plakativ in Szene setzte. Den Grundstock für die kommunale Familie Majakovskij-Brik legte eine Dichterlesung. Nachdem Majakovskij in der Wohnung der Briks sein Poem Wolke in Hosen (Oblako v sˇtanach) vorgetragen hatte, änderte sich sowohl das Leben der gutbürgerlichen Briks als auch das des jungen Wilden Majakovskij. Das neue Leben begann für Majakovskij mit einer äußeren Metamorphose: er zog das gelbe Hemd aus, einen dunklen Mantel an, legte sich einen Spazierstock zu, ließ sich neue Zähne machen und die Haare abschneiden.69 Ab 1915 wohnte Majakovskij bei und mit den Briks; nach der Revolution lebten sie meist zu dritt in zwei Zimmern in Kommunalwohnungen, erst 1926, nach dem Umzug in den Genrikovyj pereulok, bekam jeder sein eigenes Zimmer – wie übrigens auch Vera Pavlovna und Kirsanov in ihrer Wohnung in Was tun?, die in »neutrale« und »nicht neu65. Semanova, M. L. »Znamenskaja kommuna«. Slepcov, V. A. Neizvestnye stranicy. Moskva 1963, 439-460, hier 439. 66. Ebd., 447. 67. Cˇukovskij (Anm. 64), 573. 68. Zum Bett in der russischen Avantgarde und seiner Funktion in der Organisation des neuen Lebens s. Matich, Olga. »Sueta vokrug krovati«. Literaturnoe obozrenie, 11, 1991, 80-84. 69. Jangfeldt, Bengt. »Vvedenie«. V. V. Majakovskij i L. Ju. Brik: Perepiska 1915-1930. Hg. v. dems. Stockholm 1982, 11-44, hier 20. 256

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trale« Zimmer eingeteilt ist; letztere darf man ohne Erlaubnis des Bewohners nicht betreten.70 Während die erste Wohnung der Briks, die Majakovskij kennenlernte, noch genug Raum für Luxus bot (in ein Zimmer z. B. ließ Lilja Brik sich eine Ballettstange einbauen, um Ballettunterricht zu nehmen), war die letzte gemeinsame Wohnung nach dem Prinzip der Funktionalität eingerichtet, die die neue Gesellschaft forderte. Diese richtet sich gegen den alten, bourgeoisen Stil mit seinem funktionslosen Schmuck, den »berüchtigten Geranienstöcke[n], Kanarienvögel[n], Gardinchen«, wie Arvatov 1926 in Kunst und Produktion (Iskusstvo i proizvodstvo) schreibt.71 Schon in Was tun? zeichnet sich Lopuchovs Zimmer durch das Prinzip der Notwendigkeit aus (»außer dem Notwendigen gibt es nichts«72), und ganz ähnlich beschreibt Lilja Brik ihre Wohnung mit Osip Brik und Majakovskij: »Das Prinzip der Wohnungseinrichtung war dasselbe wie einst bei der ersten Ausgabe von der Wolke [in Hosen] – nichts Überflüssiges. Keine Dekoration – kein Mahagoni, keine Bilder, kein Schmuck. Alles war neu, sogar die Messer und Gabeln, alles war notwendig. Nackte Wände […] An den Wänden hingen ukrainische Teppiche für die Wärme.« 73 Mit dem Einzug Majakovskijs wurde die Wohnung der Briks zu einem kulturellen Zentrum, zu einer Art »schöpferischem Laboratorium«. Nicht nur wurde hier ein neuer Begriff von Familie umgesetzt, zudem war die Wohnung der Briks auch die »Wohnung der Futuristen«, die »Wohnung . der linken Front der Künste« (»kvartira LEFa«), so Sˇklovskij74 – ein Ort, wo Dichterlesungen stattfanden, Publikationen geplant wurden, wo der neue Alltag entworfen und ausgelebt wurde. Die Wohnung als Ort der Inszenierung des neuen Lebens war semiotisch aufgeladen und verfügte über eine »antifamiliäre utopische Semantik.«75 Der Entwurf der neuen Wohnung war auch eines der Gesprächsthemen der Linken Front der Künste in eben dieser Wohnung: in Heft 3 von LEF waren Klappbetten 70. Cˇernysˇevskij (Anm. 56), 347. 71. Zit. nach Flaker, Aleksandar. »Alltag – byt«. Glossarium der russischen Avantgarde. Hg. v. demselben. Graz, Wien 1989, 104-117, hier 105. 72. Cˇernysˇevskij (Anm. 56), 230 (»krome neobchodimogo, nicˇego net«). 73. Zit. nach Jangfeldt (Anm. 69), 32. (»Princip oformlenija kvartiry byl tot ˇze ˇcto kogdato pri pervom izdanii ›Oblaka‹ – nicˇego lisˇnego. Nikakich krasot – krasnogo dereva, kartin, ukrasˇenij. Vse novoe, daˇze noˇzi i vilki, vse neobchodimoe. Golye steny […] Na polach cvetistye ukrainskie kovry dlja tepla […]«). . 74. ˇSklovskij, Viktor. »O kvartire ›LEFa‹.« ˇZili-byli. Vospominanija. Memuarnye zapisi. Povesti o vremeni: S konca XIX v. po 1964 g. Moskva 1966, 440-459. 75. Matich (Anm. 68), 82 (»antisemejnaja utopicˇeskaja semantika«). 257

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abgebildet, die Studenten der Technischen Kunstwerkstätten (VCHUTEMAS) entwickelt hatten und die die prokreative Funktion, die das Bett im alten Alltag hatte, auf seine ökonomische Funktion des Ruhens verlagerte.76 Durch die Aufhebung der Trennung zwischen Innen (Familie) und Außen (Gesellschaft) und das Öffentlichmachen der Privatwohnung wird das Liebesdreieck, das Paar (Majakovskij – Lilja Brik) mit seinem Mediator (Osip Brik) zu einem Glied im Arbeitskollektiv. Das Paar und der Dritte gehen im Kollektiv auf. In einer Aussage Lilja Briks wird die Figur des Dritten, die dieser für ihre Liebesbeziehung spielt, noch einmal deutlich. Auch läßt sich die Selbstbeschreibung ihrer Dreierbeziehung als direktes Zitat lesen, das sich auf Was tun? bezieht. Vera in Was tun? schreibt Lopuchov, daß sie ihn noch nie so geliebt habe wie bisher, daß sie aber ohne Kirsanov nicht leben könne77, d. h., der Ehemann wird zum Bruder und wird im gleichen Schritt ersetzt durch einen neuen Liebhaber. Ganz ähnlich formuliert auch Lilja Brik ihre Beziehung zu Majakovskij und Brik Jahrzehnte später: »Osja und ich waren niemals mehr physisch intim, so daß alle Gerüchte über das ›Dreieck‹, die ›Liebe zu dritt‹ usw. dem, was wirklich war, überhaupt nicht entsprachen. Ich liebte Osja, liebe ihn und werde ihn immer mehr als einen Bruder, als einen Ehemann, mehr als einen Sohn lieben. Eine solche Liebe habe ich noch nie in Gedichten oder in der Literatur beschrieben gefunden […] Diese Liebe störte meine Liebe zu Volodja nicht. Im Gegenteil: Vielleicht hätte ich, wäre Osja nicht gewesen, Volodja nie so heftig geliebt. Ich hätte Volodja nicht so lieben können, wenn Osja ihn nicht so geliebt hätte. Osja sagte, daß Volodja kein Mensch, sondern ein Ereignis war. Volodja hat Osjas Denken in vieler Hinsicht umstrukturiert […] und ich kenne keine zwei Freunde, die einander treuer ergeben waren.« 78 In diesem Zitat scheint der Dritte als eine Art Erbe des romantischen Rivalen, der die Liebe stimuliert, wieder auf, nur daß das romantische Gegeneinander, der Duell-Charakter, hier in ein Miteinander verkehrt ist. Und wenngleich Lilja Brik auf die Präzedenzlosigkeit ihrer Gefühle für 76. Ebd., 83. 77. Cˇernysˇevskij (Anm. 56), 253. 78. Zit. nach Jangfeldt (Anm. 69), 22 (»My s Osej bol’sˇe nikogda ny byli blizki fizicˇeski, tak ˇcto vse spletni o ›treugol’nike‹, ›ljubvi v troem‹ i t. p. – soversˇenno ne pochoˇze na to, ˇcto bylo. Ja ljubila, ljublju i budu ljubit’ Osju bol’sˇe ˇcem, brata, bol’sˇe ˇcem muˇza, bol’sˇ e ˇcem syna. Pro takuju ljubov’ ja ne ˇcitala ni v kakich stichach, ni v kakoj literature […] . Eta ljubov’ ne mesˇala moej ljubvi k Volode. Naoborot: vozmoˇzno, ˇcto esli b ne Osja, ja ljubila by Volodju ne tak sil’no. Ja ne mogla ne ljubit’ Volodju, esli by ego ne tak ljubil Osju. Osja govoril, ˇcto Volodja ne ˇcelovek, a sobytie. Volodja vo mnogom perestroil Osinu mysˇlenie. […] i ja ne znaju bolee vernych drug k drugu, bolee ljubjasˇˇcich druzej i tovarisˇˇcej«). 258

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Osip Brik verweist, so reproduziert sie dennoch die Kennzeichen der literarischen Dreierbeziehung, wie sie in Was tun? dargestellt ist: die Freundschaft zwischen den Männern, die Voraussetzung ist für die Dreierbeziehung, sowie die körperliche Beziehung nur zu einem der Männer und die rein geistige zu dem anderen, vorzugsweise zum Ehemann. Die Männerfreundschaft ist übrigens, das sei noch kurz erwähnt, einem sentimentalistischen und romantischen Freundschaftskult verpflichtet. Die traditionelle Trennung zwischen Liebe und Erotik innerhalb eines geschlossenen Paars vs. Freundschaft nach außen wird hier in ein harmonisches Dreieck umgeformt. Mit dieser Öffnung ist die Möglichkeit zum kollektiven Vieleck gegeben. Abbildung 3: Lilja Brik und Vladimir Majakovskij (1915)

Quelle: Majakovskij, Vladimir. Pro eto/It/Das bewußte Thema. Berlin 1994, 74.

Textuell umgesetzt hat Majakovskij das Liebesdreieck in seinem Poem . Darüber (Pro eto), das zudem einen programmatischen Charakter hat und als praktische Lebensanweisung zur Überwindung eines erstarrten Alltags, des byt, zu lesen ist. Waffe in diesem Kampf gegen den byt ist die Liebe des Dichters. Majakovskij schrieb das Poem während einer zweimonatigen Trennung von Lilja Brik vom 28. Dezember 1922 bis zum 28. Februar 1923. Neben privaten hatte die Trennung auch weltanschaulichideologische Gründe: Sie wollten ihre Einstellung zum byt und zur Liebe überdenken. In einem Dokument aus der Zeit, einer Mischung aus Tagebuch und (nicht abgeschicktem) Brief, listet Majakovskij auf, welche

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Aspekte seines Lebens er umgestalten muß.79 Unter anderem nennt er: »Was tun mit dem ›Alten‹«, »Alltag« und »Charakter«80, und er formuliert sein Projekt, ein Neuer Mensch zu werden, den byt zu vertreiben.81 Garant im Kampf gegen den byt ist zum einen die Kunst, zum anderen die Liebe, und zwar eine Liebe, die dem Familienmodell Majakovskij-Brik entspricht: »Die Liebe höre auf, nur Dienstmagd zu sein, die arme, bei Ehestand, Fleischeslust, Füllung des Kosttopfs. Vermaledeite Liegestätten der Umarmung, – zum Liebeslager werde uns der Kosmos.«82 Hier findet sich die schon genannte Ablehnung der Ehe sowie die Verdammung des Ehebettes (wörtlich heißt es: »das Bett verdammt haben, von der Liege aufstehen«). Die Ausweitung der Liebe auf das ganze Weltall ist zum einen eine Metapher für das Majakovskij-Briksche Lebensmodell, zum anderen erscheint sie wie eine Zuspitzung des von Vladimir Solov’ev und Vjacˇeslav Ivanov formulierten »transcende te ipsum.«83 Im Roman Was tun? ist, ebenso wie in der realen Lebenspraxis des Majakovskij-Brik-Triangels, der asketische Verzicht des einen wie auch das Prinzip der Wahlverwandtschaften verwirklicht. Ebenso wie Was tun? verschiedene Kunst- und Lebenstexte als Mediatoren für die dort abgebildeten Liebesbeziehungen genutzt hat, ist in der Folge Cˇernysˇevskijs Roman selbst zum Mediator für spätere Modelle avanciert. All diese Texte waren Etappen auf dem Weg zur neuen Gesellschaft und zum Neuen 79. S. dazu Vladimir Majakovskij and Lili Brik, Correspondance 1915-1930. Hg. v. Bengt Jangfeldt. Stockholm, 1982, 111-115. 80. Majakovskij, Brik (Anm. 79), 111-115 (»Cˇto delat’ so ›starym‹«, »Byt«, »Charakter«). 81. Ebd., 111: »dort wird es niemals einen Alltag geben!« (»byta nikakogo nikogda v ˇcem ne budet!«). . 82. Majakovskij, Vladimir. Pro Eto. / Vladimir Mayakovsky. It / Wladimir Majakowski. Das bewußte Thema. Berlin 1994, 147 (Dt. von Hugo Huppert) (»Cˇtob ne bylo ljubvi – sluˇzanki / zamuˇzestv / pochoti / chlebov. / Posteli prokljav, / vstav s leˇzanki / ˇctob vsej vselennoj ˇsla ljubov’«; 43). 83. Ivanov, Vjacˇeslav V. Sobranie socˇinenij. Tom 1. Hg. v. D. V. Ivanov u. O. Desˇart. Bruxelles 1971, 782. 260

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Menschen. Dabei ist die Bewegung zwischen den drei Figuren des Liebesdreiecks gelenkt von jener zwischen dem Realen, dem Imaginären und dem Symbolischen, von Sex (als Realem), Liebe (als Imaginärem) und ideologischen bzw. literarischen Mustern (als Symbolischem). Erst diese Dynamik macht die Entstehung und Aufrechterhaltung des Begehrens möglich. Als Majakovskij sich 1930 das Leben nahm, stieg er damit in die Reihe der Selbstmorde ein, die so typisch sind für Liebesdreiecke. Es gibt verschiedene Theorien darüber, warum er sich erschossen hat – aus Enttäuschung über das Regime, über das Erstarren des revolutionären Alltags oder eben doch aus Liebeskummer. Allerdings war das Objekt seiner Begierde zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr Lilja Brik.

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DAS UNBEWUSSTE DES KOLLEKTIVS UND SEINE PHYSIS

Das Unbewußte des Kollektivs und seine Physis. Zum Bild des kulturellen Körpers in Walter Benjamins Passagen-Werk Cornelia Zumbusch

Zu den Gemeinplätzen der Kulturtheorie der Moderne zählt die Rede von der Ausdruckshaftigkeit kultureller Phänomene. Siegfried Kracauer etwa setzt in seinem Essay Das Ornament der Masse stillschweigend einen Ausdruckscharakter der Kultur voraus, während Benjamin in den erkenntnistheoretischen Vorüberlegungen zum Passagen-Werk explizit einen Ausdruckszusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur einführt, um ebenfalls vom Ausdruckscharakter der Kunstformen, der Architektur und der Moden des 19. Jahrhunderts sprechen zu können. Diesen Ausdruckszusammenhang zwischen Kultur und Wirtschaft konstruiert Benjamin als Korrektur am Marxschen Begriff der Widerspiegelung, indem er den »Überbau« als »Ausdruck des Unterbaus« bestimmt. Den Begriff des Ausdrucks selbst bezieht Benjamin allerdings aus einer an Freud orientierten Traumtheorie, die das Traumbild als unbewußten Ausdruck und als Symptom innerer Vorgänge beschreibt. Mit dem Marxismus und der Psychoanalyse verknüpft der Ausdrucksbegriff also zwei der leitenden Referenztheorien des Passagen-Werks.1 In Kracauers methodischer Betrachtung, die er seiner Gegenstandsanalyse im Ornament der Masse voranschickt, wird eine solche Beziehung des Ausdrucksbegriffs zum Unbewußten vielleicht noch deutli1. So schreibt Benjamin im Konvolut K des Passagen-Werks: »Die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Gesellschaft existiert, kommen im Überbau zum Ausdruck; genau wie beim Schläfer ein übervoller Magen im Trauminhalt, obwohl er ihn kausal ›bedingen‹ mag, nicht seine Abspiegelung, sondern seinen Ausdruck findet.« Benjamin, Walter. Gesammelte Schriften V. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1982, 495. Im folgenden zitiert unter der Sigle ›WB‹ mit der entsprechenden Bandangabe. 263

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cher als bei Benjamin. Kracauer unterscheidet nämlich zwischen den »Urteilen« einer Zeit über sich selbst und ihren »unbeobachteten Regungen«. Diese Regungen, auf den ersten Blick zwar ganz »unscheinbare Oberflächenäußerungen«, sind dennoch »Ausdruck von Zeittendenzen«, denn sie »gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden.«2 Der Ausdrucksbegriff markiert sowohl bei Kracauer als auch bei Benjamin ein Programm, mit dem eine Zeit an ihrer bewußten Selbstdarstellung vorbei gedeutet, wenn nicht entlarvt werden soll.3 Interessanter noch als die Ausrichtung an einem Unbewußten der Zeit, das sich an der kulturellen Oberfläche zeigen soll, scheint mir aber die im Ausdrucksbegriff metaphorisch unterstellte Leiblichkeit der Kultur. Die Rede vom Ausdruck der Kultur wird nämlich vorzugsweise über die Analogie des Körperausdrucks etabliert. Soll die Kultur einen Ausdruckscharakter haben, so ist sie nach dem Modell eines Körpers gedacht, in dessen bewegten wie eingegrabenen Zügen sich Seele, Charakter und damit ein immaterielles Wesen ausdrücken. Der Begriff des Ausdrucks impliziert so eine epistemologische Wendung von der Texthermeneutik zu einer Hermeneutik des kulturellen Körpers:4 Die Hermeneutik der 2. Kracauer, Siegfried. »Das Ornament der Masse«. Das Ornament der Masse. Essays. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt a.M. 1977, 50. 3. Darin unterscheiden sie sich von einer Tradition des Ausdrucksbegriffs, die nicht zuletzt auf Wilhelm Diltheys Aufriß der Geisteswissenschaften zurückgeht und die bereits Heinrich Wölfflin und Alois Riegl um die Jahrhundertwende in ihren stiltheoretischen Grundlegungen der Kunstwissenschaft aufgreifen. So wie Dilthey die Möglichkeit des Verstehens in den Geisteswissenschaften auf die Tatsache zurückführt, daß ihre Gegenstände als »Ausdruck« gefaßt werden, bestimmt Wölfflin den Stil in vereinfachter Form als »Ausdruck der Zeit«. Wölfflin, Heinrich. Renaissance und Barock. Basel 1889, 81. Wölfflins Ausdrucksbegriff liest sich so als Variante der Diltheyschen Trias von »Leben«, »Ausdruck« und »Verstehen«. Vgl. Dilthey, Wilhelm. Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Hg. v. Manfred Riedel. Frankfurt a.M. 1981, 99 f. 4. Damit wäre die These Heiko Christians, der diese Überkreuzung von Physiognomik und Hermeneutik in den Kulturtheorien der Moderne ebenfalls aufgreift, noch einen Schritt weiter getrieben. Er moniert allerdings, die Physiognomik der Kultur verschiebe nur eine problematisch gewordene Texthermeneutik auf den Bereich des Visuellen, um dort nach den gleichen Maßstäben von Form und Inhalt, Gestalt und Gehalt zu operieren. Vor dem Hintergrund seiner These, der physiognomische Blick sei lediglich eine Reaktion auf die neuen visuellen Medien der Fotografie und des Films, denen man aber nicht mit einer physiognomisch verkleideten Texthermeneutik beikäme, mag diese Kritik einleuchten. Fraglich bleibt allerdings, ob das Interesse an der Physiognomik tatsächlich einem Sprung in der medialen Entwicklung geschuldet ist oder ob nicht vielmehr ein Interesse an der Leiblichkeit den Auslöser bildet. Vgl. Christians, Heiko. »Gesicht, Gestalt, Orna264

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sichtbaren Züge einer Epoche verfährt, so sagt Benjamin es selbst, »physiognomisch«. Auch Kracauer vereint, ohne sich ausdrücklich auf die Physiognomik zu beziehen, doch ihre Merkmale, wenn er die »Regungen« lesen will, die etwas über eine innere Verfassung preisgeben.5 Beide fahnden an der Oberfläche kultureller Erscheinungen nach Zeichen, so wie der Physiognom Gesicht, Mimik oder Gestik nach signifikanten Ausdrucksbewegungen absucht. In diesem Sinne nutzt Georg Simmel in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben das Bild von der Kultur als Körper ganz explizit für seine soziologisch-kulturwissenschaftliche Untersuchung: Wo die Produkte des spezifisch modernen Lebens nach ihrer Innerlichkeit »gefragt werden, sozusagen der Körper der Kultur nach seiner Seele […], wird die Antwort der Gleichung nachforschen müssen, die solche Gebilde zwischen den individuellen und den überindividuellen Inhalten des Lebens stiften, den Anpassungen der Persönlichkeit, durch die sie sich mit den ihr äußeren Mitteln abfindet.«6 Simmel läßt hier die Kultur, gedacht als die Summe der gemeinsam hervorgebrachten Produkte, als einen kollektiven Körper auftreten. Allerdings fügen sich die Individuen durchaus nicht ganz zwanglos in diesen Körper der Kultur. Simmel verweist selbst auf die »Anpassungen der Persönlichkeit« an die »überindividuellen Inhalte« der kollektiven Kultur, die das Individuum zu erbringen hat. Damit ist die Problematik eines jeden Kollektivkörpers angerissen – die Frage nämlich, wie das Individuum subsumiert und eingepaßt wird. Hat sich der Einzelne als funktionales Körperglied zu verhalten, figuriert er als Rädchen innerhalb eines mechanisch gedachten Maschinenkörpers, oder geht er ganz in einem biologisch-vitalistisch gefaßten Organismus auf? Die hier angedeuteten Möglichkeiten stammen zugegebenermaßen nicht aus den Kulturtheorien der 1920er Jahre, sondern sind dem weit älteren verfassungs- und staatstheoretischen Gebrauch der Körpermetapher entnommen. Das Bild vom politischen Körper ist von der Antike an über die neuzeitlichen naturrechtlichen Vertragstheorien etwa bei Hobbes bis zur politischen Romantik ein Topos der Staatsmetaphorik. Einige Stationen der Geschichte dieser Metapher seien im folgenden kurz markiert, weil sie vielleicht den vernachlässigten Hintergrund für das scheinbar ment. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte«. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, I, 2000, 44-84. 5. Kracauer (Anm. 2), 50. 6. Simmel, Georg. »Die Großstädte und das Geistesleben«. Das Individuum und die Freiheit. Berlin 1984, 192. 265

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bruchlos in die Kulturtheorie übernommene Bild des Kollektivkörpers abgibt.7 Die staatstheoretische Körpermetaphorik steht in enger Verbindung mit den jeweiligen naturwissenschaftlichen und medizinischen Körpermodellen der Zeit, wobei sich in den Reinterpretationen des Körperbegriffs Differenzen in der Staatstheorie umsetzen lassen. Das bekannte, von Livius überlieferte antike Lehrstück vom Streit der Glieder mit dem Magen etwa arbeitet mit der Vorstellung vom Säftekörper, in dem die Glieder (hier die Plebejer) dem Magen (den Patriziern) als dem zentralen Organ zuarbeiten, weil sie auf seine Verdauungsleistung angewiesen sind. Der humoralpathologisch gedachte Körper stellt das Bild einer naturgegebenen Hierarchie, in der sich die reale Ungleichheit rechtfertigen läßt. In Hobbes’ Leviathan dagegen ist der politische Körper des Commonwealth im Anschluß an Descartes’ mechanistisches Modell als Maschinenkörper vorgestellt. Der Staat als Körper ist das Ergebnis menschlicher Konstruktion, denn erst der Vereinigungsvertrag und der Akt der Unterwerfung des Einzelnen unter den Souverän macht aus der multitude eine person. Dieser body politic geht, dies führt der bekannte Titelkupfer allegorisch vor, in der Figur des Souveräns restlos auf. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird das cartesianische Modell des technomorphen Automatenkörpers von der Vorstellung eines vitalen Organismus abgelöst. Die Physiologie denkt den Körper nicht mehr als Maschine, sondern als lebendig beseelte Einheit. Damit stellt der Organismus das Bild eines sich selbstbestimmt entwickelnden Zusammenhangs, das von der politischen Romantik im utopischen Bild des organischen Volkskörpers usurpiert wird. Allerdings läßt sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Verfall dieser Metaphorik des organischen Volkskörpers beobachten. Hatte bei den frühen Sozialisten des 19. Jahrhunderts wie etwa bei Saint-Simon noch ein dem Organismus angelehnter Begriff der Organisation eine Rolle gespielt, so scheint das Modell des organischen Körpers angesichts der Massen des frühen 20. Jahrhunderts zu versagen. Auf diese Inkongruenz der Organismusvorstellung mit der ökonomischen und sozialen Realität von Massenproduktion und politischen Massenbewegungen macht Siegfried Kracauer in seinem Essay Das Ornament der Masse aufmerksam. Kracauer geht vom konkreten Phänomen der in Stadien inszenierten und in den Wochenschauen übertragenen Sportveranstaltungen aus, die er als Signatur der Moderne, eigentlich aber ihrer Pathologie liest. In 7. Im folgenden beziehe ich mich auf: Böckernförde, Ernst-Wolfgang u. Gerhard Dohrnvan Rossum. »Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper«. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 4. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1978, 519-622. 266

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der körperlichen Ertüchtigung, die den Menschen zur ökonomischen Verwertbarkeit seiner Kräfte abrichtet, spiegelt sich für ihn die Logik des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Der einzelne Körper mit seinen Vitalfunktionen steht nur noch im Dienst des kollektiv erzeugten Musters, denn seine Gliedmaßen werden zu bloßen »Teilstrecken« in einer abstrakten Konfiguration verwandelt. Rezipiert wird das Massenornament ohne die aktive Teilhabe der Betrachtenden, denn in der Vermittlung des Massenereignisses durch das technische Auge der Kamera wird der Zuschauerblick auf Distanz gehalten. Entscheidend ist nun Kracauers Entgegensetzung des abstrakten Massenornamentes und einer organisch hervorgewachsenen Gemeinschaft des Volkes: »Träger der Ornamente«, so Kracauer, »ist die Masse. Nicht das Volk, denn wann immer es Figuren bildet, hängen diese nicht in der Luft, sondern wachsen aus der Gemeinschaft empor.«8 Steht das Volk demnach für eine organische ›emporgewachsene‹ Einheit, so hat die Masse nur noch wurzellose, abstrakte Figurationen zu bieten. Die moderne Masse bringt weder eine biologische Gestalt noch einen vitalen Organismus hervor, sondern lediglich ein abstrakt-mathematisches Liniengefüge. Wenn sich die Masse in der Moderne nur mehr mathematisch und nicht mehr biologisch organisiert, so erklärt sich Kracauer damit durchaus einverstanden, denn: »Die organische Gesellschaftslehre, die den natürlichen Organismus zum Vorbild der gesellschaftlichen Gliederung erhebt, ist nicht minder mythologisch als der Nationalismus, der um eine höhere Einheit als die schicksalhafte der Nation nicht weiß.«9 Kurioserweise findet die Rede von der Physiognomie einer Epoche 8. Kracauer (Anm. 2), 55. Zu Kracauers Entgegensetzung von Volk und Masse besonders im Hinblick auf die Metaphorik vom politischen Körper, vgl. Matala de Mazza, Ethel. Der verfaßte Körper: Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der politischen Romantik. Freiburg 1999, 17 f. De Mazza arbeitet den soziologischen Gehalt dieser Stelle heraus, in dem sie sie mit der von Tönnies getroffenen Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft liest. Die Gemeinschaft entspricht dem gewachsenen und natürlich hervorgebrachten Körper als dem Volk, während die Gesellschaft als rein abstrakter Zusammenschluß demgegenüber als unkörperlich imaginiert wird. 9. Kracauer (Anm. 2), 55. Letztendlich schlagen zwar auch die Massenornamente in Mythologie zurück, denn, so Kracauer in einer dialektischen Wendung, sie sind »mythologischer Kult«, gehüllt »in ein abstraktes Gewand«, 60. Wenn Kracauer die (nicht zuletzt in der faschistischen Propaganda funktionalisierten) Massenornamente schließlich kritisiert, so tut er es im Versuch, den Dualismus von Biologie und Abstraktion noch zu überbieten. Die kapitalistische Ratio des abstrakten Ornaments sei nämlich selbst nur ›getrübte Vernunft‹, also noch keineswegs vernünftig genug und das Massenornament in seiner Ambivalenz deshalb nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur wahren Vernunft. 267

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und der Kultur als Körper also ausgerechnet zu einem Zeitpunkt Eingang in die Kultur- und Geisteswissenschaften, zu dem das Modell des sozialen Körpers aus guten Gründen problematisch geworden ist. Während in der staats- und verfassungstheoretischen Diskussion die Körpermetaphorik außer Kurs gerät, um in den 1930ern im Kontext totalitärer Propaganda reaktiviert zu werden, treibt sie in der Kulturwissenschaft in der Rede von der Kulturphysiognomik neue Blüten. Und dies, obgleich etwa Kracauer sich der Abgründigkeit des Organismusgedankens in bezug auf die schicksalhafte Volksgemeinschaft wohl bewußt ist! Diesem prekären Abwandern der Körpermetaphorik von der Politik in die Kultur möchte ich im folgenden aber nicht bei Kracauer, sondern in Benjamins PassagenWerk nachgehen. Damit verfolge ich einen doppelten Zweck: Einmal läßt sich im Blick auf Benjamin die Geschichte der Kollektivkörper-Metaphorik in eine Richtung verlängern, die sich auf subtile, aber entscheidende Weise von Kracauers Deutung des Massenornaments absetzt. Zum anderen läßt sich gerade in der Rekonstruktion dieser Metaphorik der Zusammenhang – oder vielleicht auch der Bruch – von kulturhistorischer Methode und politischem Anspruch in Benjamins Passagen-Werk genauer beschreiben. Dies soll in drei Schritten geschehen. Im ersten Teil werde ich an dem eigenartigen Begriff des Unbewußten des Kollektivs und Benjamins Konzept der Traumdeutung des 19. Jahrhunderts ansetzen, um die Traumdeutung als Physiognomik zu rekonstruieren. Bei Benjamins Theorieangeboten der Traumdeutung und der Physiognomik handelt es sich meines Erachtens nicht um alternative oder gar konkurrierende Deutungsmuster, sondern um zwei Seiten ein und desselben Denkmodells. Benjamins Kulturphysiognomik folgt dabei der Logik der Spur und der Absenz, denn die Stadt ist die steingewordene Spur der Masse. Dies führt zum zweiten Schritt: Gegen die Logik der Absenz bietet Benjamin eine Praxis des Rausches und der Präsenz auf, die an die Figur des Flaneurs gebunden ist. Der Flaneur übernimmt darin, so meine These, die Rolle des Geschichtsschreibers, der die toten Spuren der Vergangenheit am eigenen Leibe wiederzubeleben hat. Allerdings beläßt Benjamin es nicht bei der individuellen Technik der Reanimierung, sondern projiziert die Vorstellung von einer leiblichen Vitalisierung und Dynamisierung auf das Kollektiv. An Benjamins Rede von einer Physis des Kollektivs und der Revolution als kollektiver leiblicher Innervation im Sürrealismus-Essay möchte ich deshalb im dritten Schritt untersuchen, auf welche Weise Benjamin den Knoten zwischen kulturellem und politischem Kollektivkörper aufs neue zu schürzen versucht. Den Begriff des Unbewußten des Kollektivs, der die Basis einer an Freud

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anschließenden Praxis der Traumdeutung bilden soll, bringt Benjamin im ersten Passagen-Exposé ins Spiel. Dort heißt es: »In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spuren hinterlassen hat.« 10 Diese Setzung eines Unbewußten des Kollektivs, das sich aus »urgeschichtlichen« Elementen speist, steht auf den ersten Blick nicht Freuds Traumdeutung, sondern der Archetypenlehre Jungs und seinem Begriff des kollektiven Unbewußten nahe. Benjamin selbst will seine Konstruktion allerdings von der reaktionären Tiefenpsychologie Jungs wohl unterschieden wissen. Denn obwohl beide im weitesten Sinne als Bildspeicher gedacht sind, hält Jung den kollektiven Bilderschatz für ein angeborenes Gut, während Benjamin sein Unbewußtes des Kollektivs als historisch und sozial gebundene Größe versteht. Das Unbewußte des Kollektivs des Passagen-Werks soll kein überzeitlicher und allgemeingültiger Bildervorrat sein, der sich überraschenderweise in jeder Einzelseele entdecken läßt. Statt dessen handelt es sich um kollektiv erworbene Bilder, die sich dementsprechend auch nur an den Zeugnissen des kollektiven Lebens ablesen lassen. Das Unbewußte des Kollektivs ist eben kein anthropologisch-biologisch konstantes kollektives Unbewußtes, sondern gehört zu einem bestimmten historischen Kollektiv. Zudem besteht Benjamin darauf, ein solches Unbewußtes in strikter Übertragung der Freudschen Psychoanalyse vom Individuum auf das Kollektiv zu konstruieren. Im Unbewußten des Kollektivs sollen die utopischen, aber noch uneingelösten Wünsche der Zeit, umgeformt in Bilder, liegen. Dort harren sie der Deutung des Geschichtsschreibers, so wie die Traumbilder des Patienten vom Analytiker als die Symbole verdrängter Wünsche gedeutet werden. Spätestens mit dem Begriff der Verdrängung, den Benjamin selbst in Anschlag bringt, ist aber der Bereich der Jungschen Tiefenpsychologie überschritten. Kern der Traumtheorie Benjamins ist somit die Vorstellung eines symptomatischen Wertes aller kulturellen Äußerungen, die sich in die Rede vom Ausdruckscharakter der Kultur einpassen läßt. Diese von Benjamin mit leichter Hand skizzierte Theorie der Traumdeutung einer Epoche kritisiert Adorno in seiner Replik auf das erste Passagen-Exposé vehement. Der mit J. J. Bachofens Hilfe vollzogene

10. WB V, 47. 269

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Kurzschluß zwischen spekulativer früher Menschheitsgeschichte und marxistischer Utopie erscheint ihm unhaltbar: Suspekt ist ihm, daß Benjamin ausgerechnet den regressiven, aus der »Urgeschichte« geschöpften kollektiven Bildern ein utopisches Potential einräumt. Was Adorno allenfalls unter Kitsch verbuchen kann, wenn er es nicht zur mythischen Höllenphantasmagorie erklären muß, nimmt in Benjamins wohlwollender Lektüre den Ausdruck wahrer Wünsche und Sehnsüchte an, die eben nur noch nicht eingelöst sind.11 Ohne die Kontroverse zwischen Adorno und Benjamin weiter auszuführen: Die Frage bleibt, was Benjamin an einem derart ambivalenten Begriff eines Unbewußten des Kollektivs festhalten ließ. Eine Erklärung bietet meines Erachtens die besondere Begründungsstruktur, die Benjamin seiner Setzung mitgibt. Die Konstruktion eines Unbewußten des Kollektivs verläuft nämlich über die Idee einer kollektiven Leiblichkeit. Der Nexus von Unbewußtem und Leiblichkeit ist bereits in Benjamins Notizen zur Freudlektüre virulent, etwa wenn Benjamin den Traum des Kollektivs als Reise in ein Körperinneres beschreibt: »Wie nun aber der Schläfer – darin dem Irren gleich – durch seinen Leib die makrokosmische Reise antritt und die Geräusche und Gefühle des eignen Innern, die dem Gesunden, Wachen sich zur Brandung der Gesundheit zusammenfügen, Blutdruck, Bewegungen der Eingeweide, Herzschlag und Muskelempfinden in seinen unerhört geschärften Sinnen Wahn oder Traumbild, die sie übersetzen und erklären, zeugen, so geht es auch dem träumenden Kollektivum, das in Passagen in sein Inneres sich vertieft.«12 Bemerkenswert ist hier, daß Benjamin die Traumbilder gänzlich unfreudianisch zu Reaktionen auf Organempfindungen erklärt. Zwar kommt ihm dabei die von Freud durchaus diskutierte Theorie der sogenannten Leibreizträume entgegen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war ja, etwa bei Scherner, die Ansicht verbreitet, alle Träume leiteten sich aus organischen Reizquellen her. Freud kritisiert jedoch zum einen die abstrusen Regeln der Einwirkung einzelner Organe auf bestimmte typische Traumbilder, zum anderen bezweifelt er, daß die somatische Befindlichkeit die einzige Ursache der Träume bilden könne.13 Anders als Freud fundiert Benjamin aber das Träumen in der Leiblichkeit. Wahn und Traum entstehen, so will es Benjamin, aus der Übersetzung des Physischen in psy-

11. Zu Adornos Kritik an Benjamins erstem Passagen-Exposé vgl. vor allem den im Apparat des Passagen-Werks abgedruckten Brief vom 2.8.1935. WB V, 1127 ff. 12. WB V, 491 f. 13. Freud, Sigmund. Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet in XVIII Bänden. Band II/ III. Hg. v. Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris, O. Isakower. [London 1946] Frankfurt 21999, 35-42. 270

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chische Bilder. Das Unbewußte wird von den physiologischen Vorgängen regelrecht erzeugt: Es ist ein Produkt des Körpers. Die auf den ersten Blick verdächtige Renaturalisierung Freuds trägt einer durchaus einleuchtenden Überlegung Benjamins Rechnung, die er anläßlich der Graphologie anstellt. Die Graphologie gilt Benjamin, ganz im Sinne Ludwig Klages’, als Paradigma der Physiognomik überhaupt, denn die Handschrift ist nichts anderes als eine fixierte und deshalb um so besser deutbare Ausdrucksbewegung. 14 Für Benjamin ist es aber nicht der unhintergehbare Charakter des Schreibenden – worauf Klages besteht –, sondern die dem Schreiber unbewußten »inneren Bilder«, die seinen Duktus und damit den Ausdruck seiner Schriftspur bestimmen. Diesen Gedankengang entwickelt Benjamin in seiner Rezension eines graphologischen Werkes der Geschwister Mendelssohn, deren Entwurf er gegen Ludwig Klages ausspielt. Die Mendelssohns verstehen ihren Ansatz als Überführung der Psychoanalyse in die Graphologie, denn sie vertreten die Überzeugung, daß unbewußte Bilder den Schreiber führen und seinen spezifischen Duktus motivieren. Der Buchstabe ist die Zeichnung nach einem inneren Bild. Diese inneren Bilder sind aber – und damit endet die psychoanalytische Orientierung im engen Sinne – »übersetzte Raum- und Körperwahrnehmungen«. Jeder Buchstabe steht und fällt, neigt oder sinkt auf der Zeile, wie der Mensch auf dem Erdboden.15 Diese Überlegung läßt sich in Benjamins Fassung des Traumbildes als Ausdruck leiblicher Vorgänge eintragen. Das Unbewußte stellt sich dann nicht nur am Körper dar, sondern ist auch leiblich generiert. Auch die unbewußten Traumbilder resultieren dann – und dies ist die wichtige Korrektur an Freud – aus leiblich vermittelten »Raum- und Körperwahrnehmungen«. Benjamin denkt das Unbewußte, sei es des Individuums oder des Kollektivs, derart als Reaktion auf konkrete leibliche Wahrnehmungen und Erfahrungen. In dieser Fassung ist Freuds Theorie des psychischen Unbewußten unter der Hand in ein Konzept des leiblich Unbewußten umgebogen, ohne jedoch die Leiblichkeit zur natürlichen und unvordenklichen Instanz zu stilisieren. Der Primat der Leiblichkeit zeigt sich vielmehr im Augenmerk auf die Wahrnehmung und ihre Verarbeitung, die zwar immer über den Körper verläuft, aber ebenso vom umgebenden 14. Zwar sei die Graphologie nur ein mögliches Anwendungsgebiet der Physiognomik neben dem Mienenspiel, der Sprechweise, den Gesten, dem Gang bis hin zur Haltung – allerdings liefere eben nur das Schreiben »dauernde Spuren«, die »im Augenblick der Entstehung fixiert« sind, während die Mimik auch in der Momentaufnahme nicht adäquat zu fassen sei. Vgl. Klages, Ludwig. Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Leipzig und Berlin 1913, 46. 15. WB III, 137. 271

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Raum geprägt ist, der eben nicht natürlich, sondern historisch kontingent ist. Benjamin ist schließlich davon überzeugt, daß auch die menschliche Wahrnehmung selbst keineswegs natürlich und unveränderlich ist, sondern historischen Wandlungen unterliegt. Die Wahrnehmung unter den Bedingungen der Moderne hat Benjamin vor allem im KunstwerkAufsatz ausbuchstabiert. Dazu zählt eine bislang ungeahnte »Erfahrung von Geschwindigkeiten«16, sei es in der Fließbandproduktion, sei es im Straßenverkehr der Großstadt, oder sei es in der Kunst, wo die Romanlektüre durch die schnellebige Information und die einsame kontemplative Rezeption im Museum durch die kollektive und zerstreute Rezeption des Films abgelöst werden. Erst die Vorstellung von einer kollektiven Leiblichkeit macht es Benjamin aber möglich, die Entstehung einer kollektiven Bildwelt als Effekt derjenigen Wahrnehmungs- und Erfahrungsstruktur zu denken, mit der sich ein bestimmtes historisches Kollektiv konfrontiert sieht. So läßt sich das problematische Unbewußte des Kollektivs sowohl aus der dubiosen Nähe zu Jung als auch einer unguten Biologisierung der Psychoanalyse lösen, wenn man es konsequent als kollektiven Reflex auf die veränderten Bedingungen der Wahrnehmung begreift. Folgerichtig spitzt Benjamin im Passagen-Werk die Analogiebildung zwischen individuellem und kollektivem Unbewußtem auf eine Parallelisierung zwischen individuellem und kollektivem Körper zu. Benjamin setzt auf die »geschärfte Aufnahmefähigkeit« des träumenden Kollektivs, »das in die Passagen sich als in das Innere seines eigenen Körpers vertieft.«17 Handelt es sich bei den Passagen, diesen Durchgängen durch Häuserblöcke, um ein Körperinneres, so figuriert die Stadt metaphorisch als Körper des Kollektivs. Aber mehr noch: »Architekturen, Moden, ja selbst das Wetter sind im Innern des Kollektivums was Organempfindungen, Gefühl der Krankheit und Gesundheit im Innern des Individuums sind.«18 Benjamin begreift nicht nur die Stadtarchitektur, sondern auch die flüchtigeren Phänomene wie Moden oder Wetter als quasi leibliche Erscheinungen, die das Erleben des Kollektivs auf die gleiche Weise disponieren wie es die Organe im Körper des Einzelnen tun. Als Körper des Kollektivs bestimmt Benjamin also all das, was die gemeinsame – und historisch je spezifische – Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt bestimmt. Im Rahmen des Passagen-Werkes überträgt Benjamin das Konzept eines durch die Physis konditionierten Unbewußten bevorzugt auf das Verhältnis des Kollektivs zu seinen Bauten:

16. WB IV, 147. 17. WB V, 1010, Hervorhebungen von C.Z. 18. Ebd., 492. 272

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»Das Kollektiv ist ein ewig waches, ewig bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schutz ihrer vier Wände. […] Von denen war die Passage der Salon. Mehr als an jeder andern Stelle gibt die Straße sich in ihr als das möblierte Interieur der Massen zu erkennen.«19 So wie das bürgerliche Individuum seinen Salon bewohnt, formiert sich das Kollektiv zu einem einzigen »Wesen«, das seinerseits die Stadt bewohnt. Wohnen aber bedeutet für Benjamin nichts anderes als Spuren zu hinterlassen: »[…] dem Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts«, so schreibt Benjamin, »wird die Wohnung zu einer Art Gehäuse. Er begreift sie als Futteral des Menschen und bettet ihn mit all seinem Zubehör in sie ein, seine Spur so betreuend wie im Granit die Natur eine tote Fauna.«20 Übertragen auf das Kollektiv heißt dies, daß die Straßen der Stadt, so wie das bürgerliche Interieur, als Hohlform und zurückgelassene Spur seiner Bewohner betrachtet werden kann. In der historischen Perspektive der nachfolgenden Generation, von der aus der Geschichtsschreiber des Passagen-Werkes spricht, gleicht die Stadt einer abgestorbenen Hülle, die wie eine abgestreifte und petrifizierte Haut den Abdruck des Kollektivs bewahrt hat. Der Geschichtsschreiber erfaßt das Kollektiv, einst ein ›waches Wesen‹, nur als Abdruck im versteinerten, geologischen Material. Als fixierte Ausdrucksbewegung gibt die Stadt Auskunft über das Erleben und die Erfahrungen des Kollektivs. Benjamin arbeitet in seinen »physiognomischen Studien«, wie er das Passagen-Werk selbst nennt, offensichtlich mit einem besonderen Bild des kollektiven Körpers. An die Stelle des lebendigen Leibes als Metapher für eine organische Funktionseinheit tritt metonymisch die versteinerte Spur. Das Paradigma der toten Spur verbleibt als einzige Strategie, den kollektiven Körper ex negativo zu erfassen. Ein lebendiger kollektiver Körper dagegen soll im Rahmen des Passagen-Werkes scheinbar nicht imaginiert werden. Aber nur scheinbar. Benjamin stattet nämlich die Deutungspraxis, die er als Komplement zur Kultur als erstarrter kollektiver Körperspur entwirft, durchaus mit dem Attribut der Lebendigkeit aus. Mit dem Flanieren führt Benjamin eine Technik auf den Plan, die, so nostalgisch verbrämt sie in den frühen Passagenentwürfen aus den Jahren 1927 bis 1929 auch daherkommen mag, doch ein Modell für die Geschichtserfahrung abgibt, um die es Benjamin in den erkenntnistheoretischen Notizen zum Passagen-Werk geht. Der Flaneur des ersten Passagentextes taucht im Gang durch die Passagen in eine versunkene Erfahrungswelt ein, durchlebt Stücke der 19. Ebd., 1051 f. 20. WB I, 549. 273

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Vergangenheit und macht sie auf diese Weise buchstäblich zugänglich.21 Zwar hat Benjamin den größten Teil des Flaneur-Konvolutes aus dem Passagen-Werk 1938/39 in den Baudelaire-Studien verwertet, sein Konzept des Flaneurs ist aber nur zum Teil durch den historischen Typus abgedeckt, den Baudelaire verkörpert. Vielmehr baut Benjamin das Flanieren schon in den frühesten Entwürfen zu einer paradigmatischen Praxis der ›Vergegenwärtigung von innen‹ aus, die ins Zentrum des PassagenWerks führt. Im Flaneur möchte ich also eine frühe Variante des Geschichtsschreibers sehen, von dem Benjamin nicht nur im Konvolut N Erkenntnistheoretisches, sondern auch in den späten Thesen über den Begriff der Geschichte spricht. Schon in den allerersten Entwürfen besteht Benjamin darauf, daß nicht nur die private, sondern auch die kollektive Vergangenheit zum Gegenstand der eigenen Erfahrung werden kann: »Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist.«22 Eine Notiz der Zentralparkfragmente liest sich dabei wie ein Scharnier zwischen der Architektur als versteinertem Kollektivkörper und dem Eindringen in ein Körperinneres. Benjamin übernimmt hier das Motiv der Leiche aus dem Trauerspielbuch und bezieht sie kontrastierend auf Baudelaire: »Die barocke Allegorie sieht die Leiche nur von außen, Baudelaire vergegenwärtigt sie von innen.«23 Berührt der Allegoriker des Trauerspielbuches das ruinöse Leben mit der »Midashand« des Bedeutens, so taucht Baudelaire in der Masse regelrecht unter. Er begibt sich in die Masse wie in einen fremden Körper. Der Flaneur des Passagen-Werks, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf seinem Gang durch die verlassenen Passagen die Ruinen des Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts durchstreift, bereist nur mehr den erstarrten Leib eines historischen Kollektivs.24 Dabei gerät der Flaneur in einen »anamnestischen Rausch«, und 21. Aus der ersten Arbeitsphase am Passagen-Werk von 1927 bis 1929 sind unter der Rubrik »Erste Notizen« neben dem ersten Notiz-Konvolut »Passagen I« auch ein fragmentarischer Text »Passagen II« und ein zusammenhängender Text unter der Überschrift »Passagen« publiziert. Letzterer fingiert in surrealistischer Manier einen Gang durch die ›Passage de l’Opéra‹, der in der Ich-Form abgefaßt ist, was bei Benjamin, der sich ja deshalb einen guten Stil zugute hielt, weil er das Wort »Ich« nur in Briefen und Tagebüchern verwendete, übrigens eine Seltenheit ist. WB V, 1041. 22. WB V, 524. 23. Ebd., 415. 24. Im Trauerspielbuch heißt es über den Okkultismus des Barock: »Was immer sie [die Zeit] ergreift, verwandelt ihre Midashand in ein Bedeutendes.« WB I, 403. 274

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dieser Rausch der Erinnerung speist sich gleichermaßen aus Gelesenem wie Gesehenem: »Jener anamnestische Rausch, in dem der Flaneur durch die Stadt zieht, saugt seine Nahrung nicht nur aus dem, was ihm da sinnlich vor Augen kommt, sondern wird oft des bloßen Wissens, ja toter Daten, wie eines Erfahrenen und Gelebten sich bemächtigen.«25 Die Bewegungsrichtung der barocken Allegorisierung ist damit umkehrt, denn während der Allegoriker des 17. Jahrhunderts die Objekte der entleerten Welt in eine Bilderschrift verwandelt, arbeitet der Flaneur des 20. Jahrhunderts offensichtlich an der Überführung des Geschriebenen in lebendige Erfahrung. Entscheidend ist hier das Bild der Wiederbelebung toter Daten, allerdings nicht, indem sich der Flaneur imaginativ zurückversetzt – diese Praxis verwirft Benjamin als diejenige einer überkommenen einfühlungspsychologischen Geschichtsschreibung. Statt dessen sollen die toten Daten angeeignet werden, als seien sie selbst Gelebtes. In diesem Heran- und Hereinholen des fremden vergangenen Lebens soll der Vergangenheit Raum im Jetzt geschaffen werden, und diesen Raum stellt offensichtlich der eigene Körper. Interessanterweise verläuft diese ›Vergegenwärtigung von innen‹ nämlich nicht so sehr über das Bild, als vielmehr über den Körper. Der Flaneur sei nicht auf der Suche nach sichtbarem, sondern nach einem »gefühlten Wissen«. Er sei dankbar für »die Witterung einer Schwelle oder das Tastbewußtsein einer Fliese«26 – Formulierungen, für die Prousts mémoire involontaire Pate gestanden hat, hochgerechnet freilich von der höchst privaten recherche Prousts auf die Kindheit eines Kollektivs. Der Flaneur sieht nicht, sondern tastet; er liest nicht, sondern fühlt. Beim Gehen läßt er sich von den schockartigen Stößen der Passanten auf der Straße und vom pulsierenden Verkehr der Großstadt erfassen. Dabei gerät er in einen eigenartigen Rausch: »Wenn die eigentlich rauschhafte Phase dieses Zustand anhebt, pocht es im Äderwerk des Glücklichen, sein Herz nimmt den Uhrtakt an […].«27 Der Rhythmus der Stadt und des sie bewohnenden Kollektivs geht in den Pulsschlag des eigenen Körpers über. Der Uhrtakt, von dem aus das Aderwerk zum Äderwerk und, leicht zu ergänzen, zum Räderwerk einer rhythmisch tickenden Maschine wird, bietet dabei das Bild eines technomorphen Kollektivkörpers, der sich im Einzelkörper rauschhaft realisiert. Dem bloßen Negativbild des Kollektivkörpers als Spur steht also mit dem Flanieren ein Phantasma der Rhythmisierung, der Verlebendigung und der Vergegenwärtigung gegenüber, und diesen Bildkomplex überführt Benjamin in Merkmale der historischen Erkenntnis, wie er sie 25. WB V, 525. 26. Ebd., 524 f. 27. Ebd., 528. 275

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in den Geschichtsthesen expliziert. So gibt der im Baudelaire-Essay entwickelte Schockbegriff den Angelpunkt für Benjamins Begriff historischer Erkenntnis in den Geschichtsthesen ab. Auch historische Erkenntnis, wie Benjamin sie denkt, vollzieht sich nicht als kontemplative Versenkung in einen fernen Gegenstand, sondern trifft den Erkennenden schockartig und rückt ihm nahe; schließlich geht es ihr nicht um das »›ewige‹ Bild der Vergangenheit«, sondern um eine konkrete »Erfahrung mit ihr.«28 Der historische Materialist, so wird in der VII. These entwickelt, habe mit der Position des distanzierten Beobachters zu brechen, der sich ja doch nur in den Sieger »einfühlt« und, wie es dann später zweideutig heißt, selbst nicht »Manns genug« sei, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.«29 Während der Historismus in seiner barock-melancholischen Trägheit des Herzens das Bild der Vergangenheit unangetastet läßt, kommt die Geschichtsschreibung des Passagen-Werks gerade durch die eingreifende Berührung und das Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit zustande. Die am Flaneur entwickelte Körpermetaphorik verschweißt dergestalt den Moment der Erkenntnis mit dem Erkannten und trägt so Benjamins Idee von der Zeitgebundenheit historischer Erkenntnis. Benjamins Rekurs auf die Leiblichkeit im Passagen-Werk hat, so zeigt sich bislang, eine zweifache Funktion. Erstens läßt sich mit ihrer Hilfe die Kultur als Spur der Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt eines historischen Kollektivs konzeptualisieren. Zum zweiten speist sie den Gedanken einer ›Vergegenwärtigung von innen‹, in der die Vergangenheit gleichsam retrotaktil zugänglich gemacht wird. Geschichtsschreibung läßt sich als eine Form der Vergegenwärtigung imaginieren, in der das Ferne nah, das Außenliegende verinnerlicht und das Tote lebendig geworden ist. Die Figur des Flaneurs steht in diesem Zusammenhang für ein Pathos der Nähe und der Präsenz, in der sich punktuell eine Einheit von Gegenwart und Vergangenheit vollziehen lassen soll. Allerdings greifen kulturhistorische Recherche und geschichtsphilosophische Intention im Passagen-Werk nicht ganz bruchlos ineinander. In den Geschichtsthesen fordert Benjamin ja, das »Subjekt historischer Erkenntnis [sei] die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst.«30 Das Flanieren als Technik der rauschhaften Präsenz ist aber nun keine kollektive, sondern eine sehr einsame Praxis. Diese Spannung zwischen Individuum und Kollektiv wird gerade an der Figur Baudelaires sichtbar. Im Baudelaire-Aufsatz porträtiert Benjamin den Dichter als den Flaneur, der nicht mehr im 28. WB I, 702. 29. Ebd., 696 und 702. 30. Ebd., 700. 276

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Interieur, sondern in den Straßen zu Hause ist. Ihm werden die schockartigen Stöße, die die herandrängende Masse austeilt, zur Quelle der poetischen Inspiration. Allerdings entwirft Benjamin in Baudelaire das Bild des verbitterten Individualisten auf verlorenem Posten, der die Püffe und Stöße der Masse einzustecken hat und verzweifelt fechtend gegen sie antritt. Das Bild des Fechters muß mit Benjamin als Protest gegen den Untergang des Individuums in der Masse gelesen werden.31 Tatsächlich hatte Benjamin Ende der 1920er Jahre, also zur Zeit seiner ersten Entwürfe zum Passagen-Werk, versucht, den Modus einer leiblichen ›Vergegenwärtigung von innen‹ auf das Kollektiv zu übertragen. Im Sürrealismus-Essay von 1928 entwirft Benjamin über den Begriff des »Leibraums« das Konzept einer kollektiven Physis, die mit dem Flanieren das Phantasma der Präsenz, der Nähe und der Lebendigkeit teilt – dabei jedoch nicht auf den Einzelnen, sondern das Kollektiv zugeschnitten ist. Der Argumentationsgang des Essays sei kurz angedeutet, soweit er an das Problem des Verhältnisses von Einzelnem und Kollektiv anschließt. Benjamin führt den Begriff des »Leibraums« explizit als Antwort auf die Frage ein, wie die »revolutionäre Intelligenz« den »Kontakt mit den proletarischen Massen«32 gewinnen könne. Benjamin hält den Surrealismus zwar für eine Bewegung, die mittels einer »profanen Erleuchtung« »die Kräfte des Rausches für die Revolution«33 zu gewinnen versucht. Entscheidend sei aber, daß ein »Bildraum« mitten im »Raum des politischen Handelns« erzeugt werde. Die Schlüsselstelle lautet nun: »[…] überall, wo ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht, tut dieser gesuchte Bildraum sich auf, die Welt allseitiger und integraler Aktualität […]. Dennoch aber […] wird dieser Raum noch Bildraum, und konkreter: Leibraum sein.«34 Mir scheint, daß man es im Begriff des Leibraums mit einem Modell des Kollektivkörpers zu tun hat, das sich über die bereits skizzierte Beziehung von Physiognomik und Traumdeutung aufschlüsseln läßt. Beschrieben wird in beiden Fällen eine doppelte Bewegungsrichtung des in sich Hineinziehens und aus sich Herausstellens. Einerseits werden die Bilder 31. In Baudelaire sieht Benjamin »den Einsamen, der in der Menge zwar untergeht, aber mit unverwechselbarer Physiognomie dem sich darstellt, welcher den Blick auf ihm verweilen läßt.« Der Flaneur ist der Abgesonderte und Besondere, der sich von der Masse abhebt, gleichwohl er sich in ihr verbirgt, wenn er in ihr sein »Asyl« sucht, wie es im Passagen-Exposé heißt. WB V, 54. 32. WB II, 309. 33. Ebd., 308. 34. Ebd., 309. 277

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durch den handelnden Leib herausgestellt, so daß sich im Augenblick der Handlung die aus der Graphologie bekannten inneren Bilder manifestieren. Der »Bildraum« erscheint als Effekt des »Leibraums«, so wie das Traumbild ein Produkt der Organempfindungen ist. Andererseits ist im Sürrealismus-Aufsatz von einem Handeln die Rede, das Bilder »frißt«, so daß das Handeln selbst als einverleibtes, verleiblichtes und verkörpertes Bild auftritt. Das Bild ist nicht ohne den handelnden Leib denkbar, denn das Handeln transportiert nicht ein Bild, sondern ist das Bild. Auf diese Weise kann Benjamin den Leibraum als eine »Konkretion« und das heißt auch als eine Aktualisierung des Bildraumes bestimmen. Mit diesem zum Bild gerinnenden Handeln gerät Benjamins Fassung des Leibraums in die Nähe des Kracauerschen Massenornamentes, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Während Kracauer den künstlichen, ja ästhetischen Charakter des Massenornaments herausstellt, das in Stadien inszeniert und mit filmischen Mitteln vervielfältigt wird, gehört Benjamins »Leibraum« in den Raum des politischen Handelns. Aus der Durchdringung von »Bild- und Leibraum«, die Benjamin im Sürrealismus-Essay zum Programm macht, ergibt sich für ihn ein Begriff kollektiver Handlungsfähigkeit und damit vielleicht auch die Formierung und Mobilisation der »unterdrückten Klasse«. Bietet das Massenornament für Kracauer den Ansatzpunkt seiner Kulturkritik, so markiert Benjamins Begriff des »Leibraums« umgekehrt den neuralgischen Punkt einer politischen Utopie. Das Ineinander von »Bild- und Leibraum« nennt Benjamin nämlich eine »Welt allseitiger und integraler Aktualität«. Eine emphatischere Beschreibung läßt sich kaum denken, bezeichnet die Aktualität doch im Kontext der Geschichtsthesen nichts weniger als den Einbruch der messianischen Zeit in die permanente Katastrophe der Geschichte. Dieser Moment der messianischen Aktualität kann natürlich entweder als schlecht kaschierte Reminiszenz theologischer Politik gedeutet, oder im schlimmsten Falle auf einen unscharfen Begriff der Modernität reduziert werden. Im Zusammenhang des Sürrealismus-Essays erhält der Begriff der Aktualität aber eine zusätzliche Bedeutungsvariante, und zwar dann, wenn man Aktualität vom actus oder Akt aus eben als Handlung denkt. Derart gefaßt bezeichnet der Begriff der Aktualität keine mystische Zeiterfahrung mehr und eben keinen Ewigkeitsmoment außerhalb der Zeit, sondern markiert exakt den Augenblick, in dem die passiv erlittene Geschichte in Aktivität umspringt. Der »Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte«35 wäre dann auch nicht der Sprung aus der Zeit hinaus in eine andere Welt, sondern vielmehr eine Übersprunghandlung, die dann zustande kommt, 35. WB I, 701. 278

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wenn getrennte Individuen auf einmal im Kollektiv handeln. Ganz konkret stehen hier die zwei Rahmenereignisse des Passagen-Werks, der Sturm auf die Bastille und die Tage der Pariser Kommune im Hintergrund. Sie bilden zwei historische Momente, in denen Benjamin die eingreifende Sprengkraft der Aktualität am Werk sieht: »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«, so schreibt Benjamin in der XV. Geschichtsthese, sei »den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich.«36 Die Aktualität scheint mir deshalb auch vom »Augenblick der Aktion« aus gedacht und damit an die vielen handelnden Körper gebunden zu sein. Wie aber genau ist dieses agierende Kollektiv bei Benjamin gedacht? Hat es einen Körper und wenn ja, welchen Modellen folgt dieser Kollektivkörper? Aufschluß gibt hier noch einmal der Sürrealismus-Aufsatz, der schließlich selbst unversehens in der Politisierung des kollektiven Körpers schließt: »Auch das Kollektivum ist leibhaft. Und [es ist] die Physis, die sich in der Technik ihm organisiert […]. Erst wenn in ihr sich Leib und Bildraum so tief durchdringen, daß alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation, alle leibliche Innervation des Kollektivs revolutionäre Entladung werden, hat die Wirklichkeit so sehr sich selbst übertroffen, wie das kommunistische Manifest es fordert.«37 Das Kollektiv soll also einen Leib haben, der qua Spannung, Innervation und Entladung funktioniert. Benjamin setzt auf die Innervationen des Kollektivs, die sich, sobald sie ein kritisches Stadium der energetischen Spannung erreicht haben, unmittelbar in revolutionäre Handlung entladen. Es ist durchaus bemerkenswert, daß der Gedanke einer Masse, die selbst Energie freisetzt, erst durch die Relativitätstheorie Albert Einsteins möglich wird. Seit Kepler und Newton wurde die Masse als Trägheitswiderstand gegen Beschleunigung definiert, also in bezug zu einer von außen auf sie einwirkenden Kraft. Damit war implizit eine neoplatonische Tradition fortgeschrieben, in der die physikalische Antithese zwischen Masse und Kraft auf die Unterscheidung zwischen der Inaktivität der Materie und der spontanen Aktivität des Geistes bezogen worden war.38 Erst Einstein konnte zeigen, daß aus der Masse Energie gewonnen werden kann, ja daß die Masse selbst Energie ist. »Der Dualismus zwischen Masse

36. Ebd., 701. 37. WB II, 310. 38. Vgl. Kammer, M. »Masse«. Eintrag im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Hg. v. J. Ritter, 825-827. 279

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und Energie«, so schreibt Ernst Cassirer 1929, »wird durch Einsteins Satz von der ›Trägheit der Energie‹ aufgehoben.«39 Indem Benjamin im Sürrealismus-Essay auf dem Zusammenfall von Spannung und Innervation im leibhaften Kollektiv besteht, arbeitet er mit einem Begriff der kollektiven Physis, der sich als energetische Masse in diesem neuen Sinne beschreiben ließe. Es ist vielleicht auch kein Zufall, wenn Benjamin im Passagen-Werk notiert, daß seine »Arbeit – vergleichbar der Methode der Atomzertrümmerung – die ungeheuren Kräfte der Geschichte freimacht.«40 Mit seinem physikalisch informierten Begriff einer dynamischen Masse überschreitet Benjamin deutlich den von Kracauer gesetzten Rahmen einer geometrisch stillgestellten Masse – er versteht es aber gleichzeitig, nicht in einen Biologismus zurückzufallen, weil er die kollektive Physis nicht von der organischen Natur, sondern von der Technik aus zu denken versucht. Darin sehe ich den Vorzug dieses Theoriestücks. Er handelt sich aber auch mindestens zwei Probleme ein. Zum ersten assimiliert die denkbar fortschrittliche Fassung der Masse eigenartig archaisierende Tendenzen – ein Problem, das sich aber vielleicht plausibilisieren läßt. Die zweite und problematischere Frage wäre, ob angesichts der Manipulierbarkeit von Massen Benjamins Vorstellung einer selbstbestimmten Masse nicht allzu utopisch anmuten muß. Zunächst zum Nexus von Archaik und Technik. In dem »Planetarium« überschriebenen Stück der ebenfalls bereits Mitte der 1920er Jahre veröffentlichten Textsammlung Die Einbahnstraße findet sich der Gedanke der Technik als kollektive Physis vorformuliert, der als Fluchtpunkt des Sürrealismus-Essays konzipiert ist. Gleichzeitig schließt Benjamin den Gedanken der modernen Masse hier mit dem einer archaischen Gemeinschaft zusammen. In der Antike habe man gewußt, »[…] daß rauschhaft mit dem Kosmos der Mensch nur in der Gemeinschaft kommunizieren kann.« Eine derart rauschhafte Kommunikation mit dem Kosmos sei aber auch in der Moderne nicht ausgeschlossen, denn der Masse »organisiert« sich »in der Technik […] eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet als in Völkern und Familien.«41 Die Technik ersetzt also die zweifelhaften Blutsbande von Volk und Familie, sie stellt aber ebenfalls kollektive Rauscherlebnisse bereit. Diese Perspektive verlängert Benjamin auf atemberaubende Weise, wenn er anschließend die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs als ein »Werben um den Kosmos« bezeichnet, als einen Versuch also, mit dem Kosmos im Medium der Technik rauschhaft zu kommunizieren. 39. Cassirer, Ernst. Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. Darmstadt 1994, 535. 40. WB V, 578. 41. WB IV, 147. 280

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Nun klingt in diesem von Benjamin beschworenen »Werben um den Kosmos« der Titel des 1922 erschienen Buches Vom kosmogonischen Eros an, unter dem Ludwig Klages’ vitalistische Abrechnung mit dem abendländischen Logosprinzip läuft. In der kosmischen Ekstase, so Klages, befreien sich Körper und Seele vom »Joch des Geistes.«42 Wenn Benjamin aber den Alptraum des Ersten Weltkriegs zur heiligen Hochzeit ausruft, so kann sich dies nur als offensive Wendung gegen Klages deuten lassen. Statt mit Begriffen wie Entzauberung oder Entfremdung zu arbeiten, zeigt Benjamin die verborgenen Korrespondenzen zwischen Technik und Archaik auf. Gleichzeitig weigert er sich, angesichts der technisierten Moderne eine Verlustrechnung aufzumachen. Anders als Klages will Benjamin nicht hinter die Technisierung zurück, sondern mit der Technik über sie hinaus. Dies kann aber nur gelingen, wenn sich das Kollektiv die Technik zum »Organ« zu machen versteht. Nach Benjamin geht es nicht um die Beherrschung der Natur durch den Menschen, sondern um die Beherrschung des Verhältnisses von Natur und Technik. Dies wäre der durchaus vernünftige Kern der Metaphorik einer kollektiven Physis, deren »Organ« die Technik ist. Allerdings visiert Benjamin unter dem Namen der kollektiven Physis auch ein Energieerlebnis namens Revolution an. Gerade diesem emphatischen Begriff einer rauschhaften Masse wäre natürlich der kritische Standpunkt massenpsychologischer Ansätze entgegenzuhalten. Für Freud etwa ist das Phänomen der Massenbildung, sei sie nun spontan zusammengeballt oder in sozialen Supersystemen wie Kirche und Armee ausgeformt, von der gleichen libidinösen Bindung an eine Vaterfigur getragen wie die Subjektgenese des Individuums. Mit Freud läßt sich daher keine Masse ohne Führer denken und auch keine Masse, die nicht verführbar – oder immer schon verführt wäre.43 Benjamin war selbst nicht blind für das Problem und hat sich Mitte der 1930er Jahre im Kunstwerkaufsatz um seine Lösung bemüht. Die historisch notwendig gewordene Abgrenzung einer faschistischen Instrumentalisierung der Masse von einer revolutionären Masse faßt er hier in ästhetischen Termini: Der Faschismus betreibe die Ästhetisierung des Politischen, die mit einer kommunistischen Politisierung des Ästhetischen zu parieren sei. Die Ästhetisierung des Politischen sieht Benjamin darin gegeben, daß der Faschismus den Massen ins Bild verhilft, ohne ihre Forderungen zu erfüllen – die da wären, die Eigen-

42. Klages, Ludwig. Vom kosmogonischen Eros. München 1922. 43. So Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse, wo er die massenpsychologische Rede vom Menschen als »Herdentier« hin zu seiner Auffassung vom »Hordentier« korrigiert. Eine jede Masse sei nach dem Prinzip der Urhorde formiert, in der sich auch viele Einzelne einem Führer unterordnen. Vgl. Freud (Anm. 13), Bd. 13, 135. 281

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tumsverhältnisse zu ändern. Die Funktionalisierung der Massenmedien zu diesem Zweck beschreibt Benjamin: »Fallen diese Ansammlungen jedoch ins Auge – und dafür sorgen die totalitären Staaten, indem sie die Massierung ihrer Klienten permanent und verbindlich für alle Vorhaben machen – so tritt ihr Zwittercharakter klar zu Tage. Er tut dies vor allem für die Betroffenen selbst. Sie rationalisieren den Zufall der Marktwirtschaft, der sie derart zusammenführt, als ›Schicksal‹, in dem sich ›die Rasse‹ wiederfindet. Sie geben damit zugleich dem Herdentrieb und dem reflektorischen Handeln freies Spiel.«44 Neben dem Rekurs auf das massenpsychologische Wort vom »Herdentrieb« verhandelt der Annex zum Kunstwerkaufsatz natürlich vor allem ein medientheoretisches Phänomen. Die Ansammlungen fallen deshalb ins Auge, weil die Massenveranstaltungen der Masse auch wieder vorgeführt werden: In der Wochenschau erblicken die Kinobesucher sich selbst, während sie allerdings im Kinositz ruhiggestellt bleiben. Dieses verdoppelnde ›Sich-ins-Gesicht-Sehen‹ ist vielleicht ein Echo auf Benjamins Formulierung aus dem Sürrealismus-Essay, demzufolge im Leibund Bildraum »die Nähe sich selbst aus den Augen sehen«45 soll. Diese Metapher transportiert das Phantasma einer totalen Einheit und Präsenz, in der es keine Verdopplung im Bild und deshalb auch keine Distanz gibt, die sich zwischen den Sehenden und den Gesehenen legt. Dieses Präsenzphantasma wirkt sich auch in sprachtheoretischer Hinsicht aus, so sich der Begriff der Aktualität nicht nur durch die Rückführung auf den actus in der konkreten physischen Aktion fundieren läßt, sondern in Benjamins Notizen zu den Geschichtsthesen auch die Züge einer wahrhaft erlösenden Kommunikationsform annimmt. Im Umkreis der Geschichtsthesen zeichnet sich der messianische Zustand der Aktualität nämlich durch die Auflösung der babylonischen Sprachverwirrung und den Beginn einer schriftlosen Universalsprache aus: »Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Erst in ihr gibt es eine Universalgeschichte. Aber nicht als geschriebene, sondern als die festlich begangene. […] Seine Sprache ist die integrale Prosa, die die Fesseln der Schrift gesprengt hat und von allen Menschen verstanden wird.«46 Diese ungeahnte und ungehemmte Kommunikation wiederum liefert das klare Gegenbild zum propagandatauglichen Massenornament: Wenn auch die faschistische Propaganda eine Art der Massenkommunikation 44. WB I, 564. 45. WB II, 309. 46. WB I, 1238. 282

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ist, so ist sie es eben nicht im Sinne einer reziproken Kommunikation der Masse untereinander und einer geglückten Verständigung, sondern als einseitige und manipulative Kommunikation für die selbst passiven und zerstreut rezipierenden Massen. Das leibhafte Kollektiv des Sürrealismus-Aufsatzes, dem diese »integrale Prosa« zuzutrauen wäre, bleibt im Kunstwerk-Aufsatz aber ungenannt und gibt höchstens noch das heimliche Gegenbild zu den zerstreuten Massen des Kunstwerk-Aufsatzes ab. So ähnlich sich Benjamins und Kracauers geschichtsphilosophische Vorgaben und ihre Rede von der Ausdruckshaftigkeit kultureller Phänomene also sehen, an entscheidender Stelle setzt Benjamin zumindest in den 1920er Jahren auf einen leiblich fundierten Begriff der Masse und lädt den kulturhistorischen Ansatz mit einem politischen Anspruch auf. Mit der Durchdringung von »Leib- und Bildraum«, mit der Aktualität als unmittelbarer kollektiver Handlung und als der Augenblick, in dem die Masse sich aus den Augen sehen kann, überschreitet Benjamin den Rahmen der Kulturphysiognomik hin zur politischen Utopie. Die Masse soll im kritischen Moment zur kritischen Masse werden und sich durch kollektive leibliche Innervationen in den Raum dieser messianischen Aktualität katapultieren. Zwar fällt Benjamin in keinen oberflächlichen Biologismus zurück, weil er die kollektive Physis nicht von der organischen Natur, sondern von der Technik aus zu denken versucht. Dennoch scheint in den 30er Jahren die an ein leibhaftes Kollektiv geknüpfte Utopie mehr und mehr in sein Modell von Geschichtsschreibung hineinzuwandern. So bleibt Benjamins Bild vom kulturellen Körper zuletzt nur dort bestehen, wo es als Ansatz zu einer Kulturphysiognomik auf den Zusammenhang von historisch je spezifischen Wahrnehmungs- und Erfahrungswelten und kulturellen Phänomenen hinweist.

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BÜRGER UND WÖLFE. VERSUCH ÜBER POLITISCHE ZOOLOGIE

Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie1 Ethel Matala de Mazza, Joseph Vogl

I. Es gehört zu den seltsamen Unordnungen politischer Zoologie, daß kein Tier dem anderen ein Tier, ein Mensch aber dem anderen stets etwas mehr oder etwas weniger als ein Mensch sein und bleiben muß. So verhält es sich jedenfalls mit dem homo homini lupus, der einmal und vielleicht dauerhaft etwas gründen sollte, das sich bis auf weiteres eine ›bürgerliche Gesellschaft‹ nennt. Denn so sehr – der Legende nach – alles damit begonnen hat, daß ein Mensch dem anderen ein Wolf gewesen ist, so wenig war und ist jemals ein Wolf dem Mit-Wolf wölfisch gesinnt. Die politische Zoologie ist hier ungenau, parteiisch oder zumindest wenig gerecht: Der Wolf, der im Wolfe steckt, hat immer schon den Pelz abgelegt, um seinesgleichen – mit anderer Haut und anderem Haar – den Wolf zu spielen. Das politische Tier jedenfalls, das seit dem 17. Jahrhundert nach den Fundamenten seiner Zivilität forscht, hat damit nichts als einen gewissen Ungrund aufgetan, einen Ungrund, der diese Forschungen in die Bodenlosigkeit seiner Tierheit, seiner tierischen oder bestialischen Herkunft hineintreiben läßt. Es mögen wohl dahergelaufene Tiere, Wölfe oder ähnliches gewesen sein, die sich – wie es bei Thomas Hobbes heißt – zu einer »Versammlung von Menschen«2 treffen. Gerade über das tierische oder wölfische Vorleben dieser Versammlung aber ist der Natur selbst nichts bekannt. Politische Zoologie ist darum stets eine Lehre von zoo-poli-

1. Eine leicht erweiterte Fassung des Beitrags ist erschienen in Vom Sinn der Feindschaft. Studien zur Politik des Unvereinbaren. Hg. v. Christian Geulen, Anne von der Heiden u. Burkhard Liebsch. Berlin 2002. 2. Hobbes, Thomas. Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a.M. 1984, 134. 285

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tischen Metaphern, denen ein tertium comparationis ganz grundsätzlich fehlt. Man müßte vielleicht eher von zoo-politischen Metamorphosen sprechen: Hier hat der Wolf, das Wölfische am Wolf, das undankbare oder diskriminierende Schicksal übernommen, jene Grenze zu ziehen, die nicht das Tier vom Menschen, sondern eben das menschliche Leben vom menschlichen Leben, den Bürger vom Bürger trennt. Es gibt kein politisches ›Tier‹. Es sind daher immer gewisse Geschichten von Verwandlungen, von Metamorphosen dieser Art gewesen, mit denen sich die Politik die Grenze des Politischen und die Menschen-Gesellschaft die Grenze des Geselligen erzählt. So ist es sicher kein Zufall, daß ein Räuberhauptmann namens Friedrich Schwan, der nach einer berühmten kriminellen Laufbahn in den Wäldern Württembergs 1760 hingerichtet wurde, mit neuem Namen seine Geschichte noch einmal erzählen soll: unter dem Namen Wolf, Christian Wolf nämlich, mit dem er in Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre eine doppelte Geschichte, ein doppeltes Geschick und eine zweifache Verwandlung erfährt. Denn einerseits erscheint dieser Schwan bzw. Wolf als einer jener infamen Menschen, an denen sich die Wirkung eines Banns und einer Verbannung vollzieht und über die Stationen einer zunehmenden Privation ein soziales Leben außerhalb des sozialen Lebens markiert: Vom enttäuschten Liebhaber und Wilddieb über den Kerkerhäftling, den Gebrandmarkten und den Mörder führt dieser Weg in jenen Stand der Ehr- und Rechtlosigkeit, der sich in Schillers Text mit dem Topos des »Unwegsamen« und Wilden verbindet, mit einem Topos, an dem sich die Merkmale des Idyllischen und Verworfenen, des Paradiesischen und Höllischen miteinander verschränken. Eine Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, ein Ort außerhalb der erreichbaren Orte – fast unwillkürlich wird Schillers Text von einer Poetik des Oxymorons eingeholt, die diesen Wolf mit einem Prozeß der Aussetzung und dem Status der Ausnahme und diese wiederum mit der Erinnerung an einen locus amoenus verbindet. Genauer noch ist dieser Ort vor allem ein Nicht-Da und Anderswo, ein Ort, der keinen markierten Platz besitzt und in dem unterschiedslos der Tod das Leben und das Leben den Tod generiert. Es heißt: »Die Welt hatte mich ausgeworfen wie einen Verpesteten – hier fand ich brüderliche Aufnahme, Wohlleben und Ehre.«3 Ob Ausschließung oder Selbstausschließung: mit einiger Konsequenz hat Schillers Text ein Exterritorium und einen politischen Körper entworfen, auf dem sich nichts als das Abgründige selbst abspielt, eine »-losigkeit«,

3. Schiller, Friedrich. »Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte«. Sämtliche Werke 5. Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1993, 13-35, hier 28. 286

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in der die Marken und Markierungen über die Linie ihrer De-Markierung oder Demarkation hinweg verschoben werden. Dennoch – und andererseits – ist dieses Ende der Geschichte nur der Beginn einer anderen Erzählung, die die Fabel verkehrt und mit jeder Entfernung auch eine Näherung, mit jedem Ausschluß auch einen Einschluß und eine Zurück-Verwandlung vollzieht. Dafür werden einige theoretische und poetische Anstrengungen unternommen. Etwa mit der Erzählweise: An markanter Stelle wechselt die Erzählung von der ErForm in die Ich-Form, und je mehr sich die kriminelle Karriere jenseits der Gesetze und in der Unwegsamkeit Württembergischer Wälder verliert, desto mehr rückt die Figur einer gekränkten Seele und die Sprache eines delinquenten Subjekts heran. Anstelle von Handlungen werden darum bei Schiller Regungen, anstelle von Aktionen Motivationen vorgeführt; und es entspricht der Logik dieser Narration, daß ihre kardinalen Ereignisse nicht in Mord und Hinrichtung, sondern in einer Art innerlicher Parallelwelt, in Gewissensqual und Geständnis liegen. Der soziale Tod, der in mitteleuropäischer Mitte ein monströses, wölfisches oder bloßes, jedenfalls ein privatives Leben freigesetzt hat, wird am Ende in einen Tod verwandelt, der ein neues Sozialleben bedingt. Und nicht von ungefähr wird dem reuigen und schwanengleichen Banditen jene Wendung in den Mund gelegt, die für die alte und gerechte Hinrichtung den neuen und noch gerechteren Tod für das Vaterland, im Krieg nämlich beansprucht: »Ich möchte leben, um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu versöhnen, den ich beleidigt habe.«4 Das ist das Programm: Aus einem Exemplar, das den Kontinent des Menschlichen verlassen hat und ganz im Namen seines Schillerschen Pseudonyms zu einem »Geschöpf fremder Gattung«5 geworden ist – aus diesem Exemplar ist am Schluß von Schillers Erzählung wiederum ein Nächster und Verwandter geworden. Als wäre damit ein Experiment vollzogen und ein Exempel statuiert: Vertierung und Vermenschlichung jenes Wolf sind nun Metamorphosen, an denen sich der soziale Körper über die Art seiner Grenzen, über die Art seines Grenzverkehrs konstituiert. In der »wahren Geschichte«6 Friedrich Schwans, die Schillers Erzählung zuvorgekommen ist, entscheiden diese Verkehrsregeln sich vorerst nach dem Verlauf anderer Grenzen. Es sind die Landesgrenzen Württembergs, die den sozialen Körper in die Schranken der territorialen Gegebenheiten weisen und seine Ordnung auf eine Ortung beziehen, die die Reichweite des souveränen Gesetzes ausmißt. So werden die ehrenwerten Vorsätze des Verbrechers, »im Dienste des Königs von Preußen 4. Ebd., 30. 5. Ebd., 14. 6. Vgl. den Untertitel der Erzählung. 287

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als ein braver Soldat zu sterben«7, noch auf der Reise durch die heimatlichen Lande Makulatur. Es trägt dem flüchtigen Schwan bzw. Wolf zwar die Solidarität des Literaten Schiller ein, daß er den Widerstand gegen die örtlichen Meldebehörden aufgibt und sein Inkognito lüftet. Mit dem erlösenden Bekenntnis »Ich bin der Sonnenwirt« darf der reuige Bandit am Ende seine unehrliche Wolfshaut ablegen und im Zeichen seines Elternhauses jener »Sonne«8 entgegensehen, deren Licht ihm die soziale Wiedergeburt verheißt. Dagegen beharrt der Spruch des wirklichen Gerichts ohne mildernde Umstände auf einem Gesetz, das dem delinquenten Wolf einen anderen Tod an einem anderen Ort verwehrt. Das Urteil läßt keine Metamorphosen zum Menschen und Bürger zu. Es stößt den Sonnenwirt in das unwirtliche Exterritorium eines nackten Lebens zurück, das sich nicht dem höheren Ruhme aufopfern darf und das als bloßes, tötbares Leben im Hinrichtungsakt dem Schwert des Henkers verfällt, zur Manifestation zugleich des Rechts einer überlegenen Souveränität. So ereilt den Verbrecher aus verlorener Ehre noch einmal jenes doppelte Schicksal, das sein Ende mit der zweideutigen Signatur seines Lebens zeichnet: Vor dem »republikanische[n]« »Gericht« des »lesenden Publikums«9 wird Wolf zum Menschen hin freigesprochen, während ihn die Richter des württembergischen Fürstentums in das (Un-)Recht eines wölfischen Namens setzen, den die literarische Erzählung doch als fremde Zuschreibung ausweist, als Heteronym einer von Rechts wegen aberkannten Zivilität. In diesem anderen Namen also, der symbolisch einschließt, was sein Gesetz ausschließt, ist das historische Schicksal des Übeltäters besiegelt; in diesem Namen des Anderen verwandelt sich der gefallene Schwan ein zweites, nunmehr unwiderrufliches Mal zum Wolf. Als Brecher der Gesetze, als »Vertrags- und Wortbrüchiger« gegen das soziale »Ganze«10 bleibt er für alle Mal der Feind, mit dem der Staat keinen Frieden schließt. Er stirbt als Friedloser, als »Wolf«, der im Menschen seinen ungnädigen Wolf gefunden hat – nicht im Naturzustand allerdings, sondern im Herzen der souveränen Machtsphäre selbst.

7. Schiller (Anm. 3), 31. 8. Zu Beginn der Erzählung wird eigens darauf verwiesen, daß die »Sonne« das »Schild zu dem Wirtshaus« der Eltern war. Vgl. Schiller (Anm. 3), 16. 9. Ebd., 14. 10. Nietzsche, Friedrich. »Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: ›Schuld‹, ›schlechtes Gewissen‹ und Verwandtes«. Kritische Studienausgabe 5. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999, 307. 288

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II. Christian Wolfs Geschichte ist die Geschichte eines doppelten Geschicks und einer zweifachen Metamorphose, die an die Stelle der Bürger und der Wölfe gleitende Übergänge, reziproke Vertierungen und Vermenschlichungen setzt. Damit liefert sie nicht allein den Anlaß für eine literarische Erzählung, die »Novelle« auch im Sinne eines juridisch-politischen Revisionsprogramms sein will: das Plädoyer für eine Gouvernementalität, die nicht straft, sondern resozialisiert. Über Schiller hinaus bietet die Erzählung allen Grund, den Naturverhältnissen in der politischen Zoologie zu mißtrauen – insbesondere den Grenzverläufen, die diese konstatiert. Denn so wenig Hobbes in seinen wölfischen Vertragspartnern je etwas anderes als gesellige Menschen adressierte, so wenig führt die Grenze, die sich hinter Schillers Wolf schließt, in die natürliche Ungeselligkeit der wilden Fauna zurück. Eher erweist sich diese Grenze als politische Grenze in jenem »polemischen Sinn«11, den Carl Schmitt dem Politischen unterlegte: als Markierung jener »eigenen letzten Unterscheidungen«, auf die »alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann«, allen voran die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.12 Damit wiederholt der Schmittsche Begriff des Politischen allerdings nur, was der Begriff des Kriminellen längst besagt. Das Wort crimen geht, wie sich bei Hobbes nachlesen läßt, auf das lateinische cerno, wahrnehmen13 zurück und bezeichnet demnach dasselbe Beobachten, das, mit Niklas Luhmann14, immer auch ein Unterscheiden ist: ein Diskriminieren gewissermaßen, das Unterschiede und Unentschiedenheiten nicht vorfindet, sondern schafft. Genauer als die Gründungsfiktionen der Neuzeit waren deshalb im frühen und vor allem im hohen Mittelalter Nordeuropas jene Strafgesetze, die im kriminellen Wolf von vornherein den verwandelten, den unkenntlich gewordenen Menschen bezeichneten: als friedlosen Garulupus, als wargus oder Werwolf; als ein wolfmenschliches Mischwesen, das die Zu11. Schmitt, Carl. Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Berlin 61996, 31. Zu Recht hat Jacques Derrida auf den Doppelsinn dieser Polemik politischer Begriffe bei Schmitt verwiesen: »Sie sind Begriffe des Polemischen; und sie werden stets innerhalb eines seinerseits polemischen Feldes gebraucht. Es gibt diese Begriffe des Polemischen nur in polemischer Verwendung.« Derrida, Jacques. Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M. 2000, 163. 12. Schmitt (Anm. 11), 26. 13. Hobbes (Anm. 2), 224. 14. »Beobachtung heißt in diesem Zusammenhang, das heißt auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie, nichts weiter als: Handhabung von Unterscheidungen.« Luhmann, Niklas. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 41991, 63. 289

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gehörigkeit zum Gemeinwesen erst verwirken muß, um als Ausgestoßenes in die wilde Unfreiheit des Freiwilds entlassen zu sein.15 Während die Verstöße gegen »subjective[s] Recht[]«16 – zivilrechtliche Vergehen nach heutigem Verständnis – mit Bußstrafen geahndet wurden, hatte der Friedensbruch als Angriff auf den »geordnete[n] und gesicherte[n] Zustand unter der Herrschaft des Rechts«17 die Friedloslegung zur Folge, die Ausnahme des Missetäters von der Wirksamkeit des Friedens selbst. Nach dem Recht der salischen Gesetze, dem legislativen Werk des fränkischen Reichsgründers Chlodwig (481-511)18, ging diese Friedlosigkeit immer vom König aus; sie bedeutete eine »Verbannung aus dem Lande, eine Ausstoßung aus der Menschengesellschaft, d. h. aus der Lebens- und Rechtsgemeinschaft des Volkes zu den Thieren des Waldes«.19 Daß der Friedlose verbannt sein solle, »so weit als Menschen den Wolf verfolgen«, hält später auch die Friedensformel der altisländischen Grágás fest.20 Indem der altgermanische Name wargus (von althd. warc, altn. vargr, angels. wearg) dem Friedlosen aber nicht nur den Namen des Wolfes zuschreibt, sondern diese Animalität zugleich als Ergebnis einer Verurteilung kennzeichnet21, prägt er dem Abjekten das Mal der symbolischen 15. Diese Zusammenhänge entwickelt die Studie von Wilda, Wilhelm Eduard. Das Strafrecht der Germanen. Neudruck Aalen, 1960, die in der Forschung lange Zeit kanonisch war. An ihn schließen die beiden Studien an von Weiser-Aall, Lily. »Zur Geschichte der altgermanischen Todesstrafe und Friedlosigkeit«. Archiv für Religionswissenschaft, 30, 1933, 209 ff.; und von Kretzenbacher, Leopold. Kynokephale Dämonen südosteuropäischer Volksdichtung. Vergleichende Studien zu Mythen, Sagen, Maskenbräuchen um Kynokephaloi, Werwölfe und südslawische Pesoglavci. München 1968, 107 f. 16. Wilda (Anm. 15), 268. 17. Ebd., 225. 18. Vgl. dazu Schmidt-Wiegand, Ruth. »Lex salica«. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2. Haustür-Lippe. Hg. v. Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. Berlin 1978, 1949-1962. 19. Wilda (Anm. 15), 279. Vgl. dazu auch Grimm, Jacob. Deutsche Rechtsalterthümer 2. Darmstadt 1955. 335: »Die lex. sal. 58,1 [55,2] rip. 85,2 hat wargus, hoc est expulsus de eodem pago, wargus aber bedeutet wolf und räuber, weil der verbannte, gleich dem raubthier, ein bewohner des waldes ist und gleich dem wolf ungestraft erlegt werden darf.« 20. Wilda (Anm. 15), 230. – Grágás, altisl. Graugans, ist die seit dem 16. Jahrhundert übliche Bezeichnung für das Gesamtcorpus des isländischen Rechts der sogenannten freistaatlichen Periode (ca. 930-1264); es handelt sich dabei nicht um eine systematische Rechtskodifikation, sondern eher um Privataufzeichnungen, »gestützt auf ein recht vielgestaltiges Material«; Ehrhardt, H. »Grágás«. Lexikon des Mittelalters 4. Erzkanzler bis Hiddensee. München, Zürich 1989, 1637. 21. »Gavargjan (althd. wergian) ist beim Ulphilas: damnare verurtheilen, vargida kommt 290

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Ordnung ein. Der Wolf, den das Gesetz erzeugt: als »Feind der Rechtsgemeinschaft«, der »von Allen und Jedem« »busslos [«…»] erschlagen« werden kann22, ist damit explizit sowohl von den Bürgern unterschieden als auch von den Tieren der Wildnis; er gehört weder jenen zu, die mit ihrem Namen zivile Rechte garantiert wissen, noch geht er in der Tierheit derer auf, die kein Name überhaupt zu straffrei tötbaren Wesen ernennen muß. Die Gesetzlosigkeit, die den wargus einer allseitigen Feindseligkeit ausliefert, ist das Resultat einer rechtlichen Privation und als solche selber Rechtsphänomen, der wilde Effekt eines gesetzlich verfügten Rückzugs des Rechts.23 Das bloße Leben, das dem Missetäter bleibt, ist das Spaltprodukt eines »bürgerlichen Tod[es]«24, der erwirkt ist durch das Verbot, mit dem Friedlosen zu verkehren, ihm Nahrung und Herberge zu geben25, aber vor allem durch die gewaltsame Löschung seiner Spur und seines Andenkens: durch die Einziehung seines gesamten Vermögens26, durch die Zerstörung seiner Wohnung und die Verweigerung der letzten Ruhe in einem vom Frieden der Kirche geheiligten Grab.27 Als Geschöpf

22.

23.

24. 25. 26. 27.

selbst in den Capitularien für condemnatio: mit einer Strafe belegen, vor.« Wilda (Anm. 15), S. 280. – Eine neuere sprachgeschichtliche Studie räumt der Semantik des Verbrechers historisch sogar den Vorrang vor der generischen Tierkennzeichnung ein und findet das Bedeutungselement ›Wolf‹ in der Wortgruppe warg- erst nach 1000 im germanischen Recht belegt. Vgl. Jacoby, Michael. wargus, vargr, ›Verbrecher‹, ›Wolf‹. Eine sprach- und rechtsgeschichtliche Untersuchung. Uppsala 1974. Wilda (Anm. 15), 281. – In der jüngeren Forschung ist es inzwischen strittig, ob man diese Regel mit der harten Konsequenz der Tötung bereits für das germanische Altertum in Anschlag bringen darf. Einiges deutet darauf hin, daß die Friedlosigkeit in fränkischer Zeit für Raub, Diebstahl und Totschlag verhängt wurde, die Strafe allerdings nicht zwangsläufig auf die Tötung des Missetäters zielte, sondern in erster Linie auf den Schutz der Gemeinschaft. Vgl. dazu Lundgreen, M. »Friedlosigkeit«. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 9. Fidel bis Friedlosigkeit. Berlin, New York 1995, 613621; bes. 617 f. Lily Weiser-Aall hat in ihrer Studie über die altgermanische Todesstrafe auf die mythische Vorgeschichte dieser Namengebung hingewiesen: »Der Wolf ist von alters her in den griechischen und italischen Religionen und bei den Germanen das Tier der Fremden, Verbannten und aus dem heimischen Bereiche Ausgestoßenen«. Weiser-Aall (Anm. 15), S. 220. Daß solche imaginären Besetzungen schließlich auch die symbolische Logik von Institutionen strukturierten, zeigt sich etwa an jenem »abzeichen eines wolfs«, mit dem sich in der Lombardei die »gerichtsbehörde für verbannungsangelegenheiten« auswies. Vgl. dazu Grimm (Anm. 19), 336. Wilda (Anm. 15), 292. Ebd., 285 f. Ebd., 288. Ebd., 293 f. 291

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eines Rechtsakts der Rechtlossetzung ist der zum Wolf verwandelte Mensch, der Werwolf damit die Inkarnation jener einschließenden Ausschließung, in der der italienische Philosoph Giorgio Agamben den grundlegenden Mechanismus abendländischer Souveränitätskonzepte ausgemacht hat.28 Agamben hat die Aufmerksamkeit auf jene Indifferenzzonen gelenkt, die durch juridische Entscheidungen und Unterscheidungen entstehen, und er hat die Reproduktion der politischen Ordnung an die Herstellung solcher ungeordneter Verhältnisse geknüpft, an die Einhegung exemter Orte, in denen alle Unterscheidungen vergleichgültigt sind: die Differenzen von Tier und Mensch ebenso wie die von Recht und Gewalt, von Leben und Tod.

III. Für die politische Zoologie haben diese Beobachtungen erhebliche Konsequenzen; zumindest erfordern sie eine Revision und Ergänzung der generischen Kategorien. Wie die Werwölfe ermessen lassen, kommt eine Naturgeschichte des sozialen Körpers dem Wesen bzw. den Wesen des Politischen nur in unzureichender Weise bei, solange sie ihre Paradigmen unter den reinen Arten sucht: seien es die vorzivilen Wölfe des Thomas Hobbes oder jene Ameisen und Bienen, an die Aristoteles, später Mandeville sich hielt, um den Naturgesetzen der Staatenbildung auf den Grund zu gehen. Politisch ist eine Zoologie nur, wenn sie die hybriden Geschöpfe an den Rändern des homogenen Kollektivkörpers typologisch erfaßt. Vor dem Hintergrund eines solchen Bestiariums, wie es hier probeweise skizziert werden soll, zeichnen sich dabei zugleich die Konturen einer Gattungslehre ab, die sich als Kasuistik des politischen Unheimlichen präsentiert. Offensichtlich bleiben die vertierten, verwilderten Wesen in einer spekulären Doppelgängerschaft auf jenes Menschentum bezogen, das sie aus seinem Verbund exkommuniziert. Was der kollektive Körper an ihnen, den politischen Hybridbildungen, als buchstäbliche Heimsuchung erfährt, sind die entstellten Spiegelbilder des verworfenen sozialen Selbst. Das Ungeheuerliche der Mischwesen läßt sich darum nicht auf eine Akkumulation verschiedenartiger Bestimmungen zurückführen, auf eine Monstrosität, die aus der Überdeterminierung des Tierhaften am Tier erwächst. Das Unheimliche, Ungeheuerliche der Menschenwölfe geht vielmehr aus dem Verlust symbolischer Markierungen hervor, von Markierungen, die zugleich die Grenze aller Demarkierungen setzen. Es ist die Defiguration in der Figur, es ist der Grund oder Abgrund, vor dem sich die 28. Agamben, Giorgio. Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002. 292

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Menschen-Form selbst abzeichnet – ein aufsteigendes Tier, eine aufsteigende Tierheit oder Bestialität.29 Was die Sprache des mittelalterlichen Rechts Vogelfreiheit nennt, ist nur der Euphemismus für eine feindselige Diskriminierung, die ein Doppeltes erzeugt: die Rechtlosigkeit des Kriminellen, aber auch den Rechtskörper des Sozialen, seine Integrität und Identität. Umgekehrt ist darum der Werwolf nicht nur das Doppel-, Mehrfach- oder Mischwesen, über das die Artreinheit richtet, sondern stets auch jene Vielheit oder Meute, mit der sich die Einheit des sozialen Körpers diskriminiert. »Man kann nicht ein Wolf sein«, so haben Deleuze und Guattari es formuliert, »man ist immer acht oder zehn Wölfe, sechs oder sieben Wölfe. Nicht sechs oder sieben gleichzeitig, sondern ein Wolf unter anderen, zusammen mit fünf oder sechs anderen Wölfen.«30 Die Menschen-Form ruft zugleich ihre Deformation, die Einheit an ihrer Grenze die Vielheit auf den Plan. Die Geschichte dieser Ränder, dieser Unterscheidungen ist die Geschichte selbst. So hat etwa die Volkskunde am Rande Europas, zwischen dem Karpatenbogen und der unteren Donau, einige Exemplare ausgemacht, die – erstmals erwähnt von dem griechischen Geographen Strabo (ca. 63 v. Chr.–19 n. Chr.) – unter dem Namen »Daker« in die Ahnenreihe des Rumänischen eingegangen sind. Als Daker leiteten sie sich von dem Wort δαοι – aus dem Indogermanischen dhâu für »pressen, drücken, würgen, erdrosseln«31 – ab und waren damit schon namentlich eine Derivation von Wesen, die das Würgen des Werwolfs ins Griechische übersetzten. Zusammenfanden diese Daker wohl zunächst als eine lose Ansammlung von Flüchtlingen, von staaten- und bindungslosen Exilanten also, die als aggressive Landsucher auftraten und sich durch Raubzüge Asyl erzwangen: in der martialischen Vermummung und Ekstatik jener Wölfe, die ihnen zum Gattungsmerkmal erwachsen sind.32 Damit haben die Daker den legendären Typus einer Existenzform von Wolfsmenschen geprägt, die sich im Niemandsland der Gesetzlosigkeit auf die Gewalttätig29. »Es ist ein dürftiges Rezept zur Herstellung eines Ungeheuers, verschiedenartige Bestimmungen aufzuhäufen oder das Tier zu überdeterminieren. Besser läßt man den Untergrund aufsteigen und die Form schwinden.« Deleuze, Gilles. Differenz und Wiederholung. München 1992, 50. 30. Deleuze, Gilles u. Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Übs. von Gabriele Ricke u. Ronald Vouillé. Berlin 1997, 46. 31. Kretzenbacher (Anm. 15), 106. 32. Vgl. Eliade, Mircea. »Les Daces et les loups«. Numen. International Review for the History of Religions, 6.1, 1959, 15 ff. – Ob es sich bei dem Namen der Daker um eine Selbstbezeichnung handelte oder um einen »Schreckensnamen […] von seiten der Bedrohten, Vergewaltigten«, läßt sich aus der historischen Distanz allerdings nicht mehr rekonstruieren; vgl. Kretzenbacher (Anm. 15), 109. 293

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keit des Kriegertums verlegten. Sie sind der Präzedenzfall einer verwilderten Horde und Werwolfsmeute, die von der verfransten Peripherie in die befriedeten Räume einbricht und diese mordend und marodierend zersetzt. In der Geschichte blieben die Daker kein Einzelfall. Derselbe Ruf tierischer Rotten umgibt die Kriegerbünde der bärenhäutigen »Berserker«; er begleitet die »Hundinge« der frühen Langobarden und die »Wolfswämser« 33 und weist sie als mörderische Kämpfer aus, als Barbaren, die das Bild jener guten, gesellschaftsfähigen und tauschwilligen Wilden aus den Sozialanthropologien des 18. Jahrhunderts konterkarieren. Michel Foucault hat diesen Typus des Barbaren prägnant in seiner Ambivalenz als Produkt und als Bedrohung der Zivilisation charakterisiert. »Der Barbar ist dem Wilden entgegengesetzt«, so schreibt er, »… aber auf welche Weise? Zunächst darin, daß der Wilde nur mit anderen Wilden in seiner Wildheit wild ist; sobald er in einem sozialen Bezug steht, hört der Wilde auf, wild zu sein. Dagegen ist der Barbar einer, der sich selbst unbekannt ist und sich nicht charakterisieren läßt und nur in Hinblick auf eine Zivilisation, von der er ausgeschlossen ist, beschrieben werden kann. Ein Barbar ist ohne einen zivilisatorischen Bezugspunkt, zu dem er in ein Verhältnis des Außerhalb tritt und gegen den er ankämpfen wird, nicht denkbar. Ein zivilisatorischer Bezugspunkt – den der Barbar verachtet und den er aufsucht –, zu dem er in ein Verhältnis von Feindschaft und fortgesetztem Krieg tritt. Es gibt keinen Barbar ohne eine Zivilisation, die er zu zerstören oder sich einzuverleiben trachtet. Barbar ist immer der Mensch, der an den Grenzen der Staaten herumstolpert und gegen die Mauern der Städte anrennt. […] Der Barbar ist im wesentlichen alles andere als Tausch: er ist ein Vektor der Beherrschung. Der Barbar bemächtigt sich der Dinge, eignet sie sich im Gegensatz zum Wilden an; er praktiziert nicht eine primitive Besetzung des Bodens, sondern Raub. Sein Verhältnis zum Eigentum ist immer sekundär: Er bemächtigt sich allenfalls eines schon vorhandenen Eigentums, genauso, wie er andere in Dienst nimmt, das Land von anderen bestellen, seine Pferde hüten, seine Waffen vorbereiten läßt. Auch seine Freiheit beruht nur auf der verlorenen Freiheit anderer. […] Der Barbar […] muß schlecht und böse sein, selbst wenn man ihm Qualitäten zuerkennt. Er kann nur voller Arroganz und inhuman sein, da er eben nicht der Mensch des Tausches und der Natur ist; er ist der Mensch der Geschichte, der Plünderung und der Brandschatzung, er ist der Mensch der Herrschaftsausübung.« 34 Ein spätes literarisches Exempel dieser Barbaren hat Hermann Löns 1910 in seinem berüchtigten Wehrwolf statuiert: einem Roman, der die rasende Vernichtungswut der Söldnerheere zu Zeiten des 30-jährigen Kriegs ausmalt, um ihnen – nicht weniger wölfisch – die Rache der Lüneburger Heidebauern unter dem Anführer Wulf entgegenzusetzen. Sie schlagen los, 33. Kretzenbacher (Anm. 15), S. 83-89. 34. Vgl. Foucault, Michel. In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Übs. v. Michaela Ott, Frankfurt a.M. 1999, 225-227. 294

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sobald der Herzog das Verbot der Lynchjustiz suspendiert.35 Der Text, der sich »Bauernchronik« nennt, nährt das Phantasma einer verwitterten zentralen Ordnungsmacht, die das Terrain den entfesselt kämpfenden Meuten überlassen muß. Die paramilitärischen »Wehrwölfe« des Nationalsozialismus haben das gerne zitiert.36 Daß diese Monstrosität an den Rändern tatsächlich auf die Mitte selbst verweist, bezeugen jene Geschichten, mit denen das Geschick souveräner Herrscher erzählt und zu Ende erzählt wird. So erinnert einer der Gründer neuzeitlicher Souveränitätslehre, Jean Bodin, in seinen Sechs Büchern über den Staat an den ersten Usurpator des Herrschaftsmonopols: an den assyrischen Despoten Nimrod, der in der Heiligen Schrift den Titel des »mächtigen Jägers« führt, von Bodin aber als Räuber und »schrecklicher Herr«37 übersetzt wird – auch hier eine wölfische Ununterscheidbarkeitszone zwischen gejagtem Räuber und räuberischer Jagd. Spätestens von 1760 an, so hat Michel Foucault gezeigt, wird diese strukturelle Verwandtschaft zwischen Verbrecher und Despot zum Politikum schlechthin.38 Der absolute Fürst, wie ihn etwa Hobbes konzipiert, ist als Souverän per definitionem Herr über die Gesetze, ohne ihnen selbst zu unterliegen. Er firmiert als gefürchtete Instanz eines Rechts, das ihn selbst nicht an die eigenen Untertanen bindet. Unter den Bürgern ist er damit der einzige Wolfsmensch von Rechts wegen. Er allein genießt das Privileg, jene Rebellen als Feinde zu bekriegen, die »nach bewußter Auflehnung die souveräne Gewalt verwerfen«39. Im herrscherlichen Straftheater des Schreckens, in dem 1760 auch der »Wolf« Friedrich Schwan zu Tode kam, feiert dieses Kriegsrecht sich als exzessive Manifestation der übermächtigen Staatsgewalt.40 Der letzte Souverän des absolutistischen Frankreich hat dieses Schicksal ganz konsequent durch sein Ende vollendet. Bis zuletzt nämlich blieb es unter den französischen Revolutionären umstritten, ob er als 35. Löns, Hermann. Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik. Hannover, Hameln 1996. 36. Vgl. exemplarisch den Band Kamerad, weißt Du noch? Erinnerungen aus der Geschichte des »Wehrwolf« 1923-1933. Zusammengestellt v. Alfred Bochinsky, Paul Dall’Asta und Fritz Kloppe. Berlin 1938, 40 f. 37. Bodin, Jean. Sechs Bücher über den Staat I-III. Übs. u. mit Anmerkungen versehen v. Bernd Wimmer. Eingel. u. hg. v. Peter Cornelius Meyer-Tasch. München 1981, 338. 38. Foucault, Michel. Les Anormaux. Cours au Collège de France 1974-1975. Hg. v. François Ewald, Alessandro Fontana, Valerio Marchetti u. Antonella Salomoni. Paris 1999, 86. 39. Hobbes (Anm. 2), 239. 40. »L’excès de la punition devait répondre à l’excès du crime et devait l’emporter sur lui. Il y avait donc nécessairement un déséquilibre, au cœur même de l’acte de punition. Il fallait qu’il y ait une sorte de plus du côté du châtiment. Ce plus, c’était la terreur, c’était le caractère terrorisant du châtiment.« Foucault (Anm. 38), 76 f. 295

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Bürger behandelt und vor ein ordentliches Gericht gestellt werden kann. Saint-Just sollte dafür plädieren, den Monarchen als einen Feind zu richten: als ein unziviles Mischwesen, das in den Sozialvertrag nie eingebunden war und deshalb keinen Anspruch auf eine rechtmäßige Verurteilung hat, nur auf eine umstandslose Liquidation.41 Damit wird der Souverän, der das exklusive Recht hatte, sterben zu machen, selber in die Friedlosigkeit des bloßen, tötbaren Lebens entlassen und auf dem Schafott als politisches Monster gerichtet. Sein Kopf fällt stellvertretend für alle Repräsentanten des Rechtsinstituts Monarchie, in denen die revolutionäre Geschichtsschreibung, mit den Worten einer Quelle von 1793, nurmehr die »Wölfe der menschlichen Gattung«42 erkennt. Ludwig XVI. stirbt als letzter dieser Werwölfe; doch soll er zugleich das erste in einer langen Reihe neuer politischer Monster sein, deren Kriminalität nicht länger nur als feindlicher Angriff auf das Recht des politischen Körpers justiziabel wird, sondern als notwendige Folge einer aus der Art geschlagenen Natur. Der Erkundung und Administration dieser Natur gelten die unzähligen polizeilichen Maßnahmen, die der König von seiner Gefangensetzung an über sich ergehen lassen muß. Mit ihnen wird die Physis des devestierten Königskörpers zum Zugriffspunkt der revolutionären Politik, die penibel kontrolliert und überwacht: die Besuche der Verwandten, die Beschränkung der Hygiene, die Bewegungen der Inhaftierten bei Tag und Nacht.43 Die Bürokratie der Revolutionäre kündigt damit die Herrschaft einer Gouvernementaliät an, eines Disziplinarregimes, das sich auf die Regulierung von Lebenssituationen, von biologischen, medizinischen, sozialen, ökonomischen und moralischen Milieus verlegen wird. Michel Foucault hat diesen Regulierungstypus auf die Begriffe einer Pastoralmacht gebracht: einer Form von »Heerden-Organisation«44, in der der Hirte seine Schutzbefohlenen unter seine »dauernde, individualisierte und zielgerichtete Hut«45 nimmt. Welches Programm 41. Vgl. die Rede Saint-Justs am 13. November 1792 vor dem Konvent. Reden der Französischen Revolution. Hg. v. Peter Fischer. München 1989, 217 ff. 42. De la Chapotte, A.-R. Mopinot. Effrayantes histoires des crimes horribles qui ne sont communs qu’entre les familles des rois depuis le commencement de l’ère vulgaire jusqu’à la fin du XVIIIe siècle. Paris, 1793. Zit. nach: Foucault (Anm. 38), 90. 43. Vgl. dazu ausführlich Balke, Friedrich. »Wie man einen König tötet oder: ›Majesty in misery‹«. DVjs, 75, 2001, H. 4, 657-679. 44. Nietzsche, Friedrich. »Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?« Kritische Studienausgabe 5. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999, 384. 45. Michel Foucault, »›Omnes et singulatim‹. Zu einer Kritik der politischen Vernunft«. Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Hg. v. Joseph Vogl. Frankfurt a.M. 1994, 65-83, hier 69. 296

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diese Pastoralmacht verfolgt, zeichnet sich in Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre bereits ab. Es ist ein Programm, das die alte Ausschließung, die Verstoßung der abjekten Körper, mit einer neuen Einschließung beantwortet, mit einer Ökonomie der Einschließung, die nichts und niemanden für den Körper des Staats verloren gibt und keine Werwölfe, nurmehr und allenthalben »menschliche Monster«46 kennt. Die lokale, temporäre und rechtliche Ausnahme, mit der die Souveränität sich selbst und zugleich ihr verworfenes Gegenstück produziert hat, ist zu einem dauerhaften Zustand geworden, in dem sich die politischen Tiere nicht zuletzt durch die biopolitische Konfiszierung ihres bloßen Lebens zu einer Herde von Schafen ohne Wolfspelz formieren.

IV. Für das Bestiarium der politischen Untiere ergeben sich so mehrere Typologien, die sich abschließend vielleicht in das Verhältnis zweier Konkurrenzen und Komplementärfiguren setzen lassen. Dabei ist einerseits ein Gegeneinander von Einheit und Vielheit zu konstatieren: Dem einen, despotischen Wolfsmenschen im Zentrum der souveränen Macht stehen an den Rändern der Rechtssphäre die vielen Werwölfe der Meuten gegenüber, die das Gemeinwesen heimsuchen und eine Tyrannei der Unzahl, einen multipel gewordenen Despotismus entfachen. Andererseits sind zwei konkurrierende Arten von Mannigfaltigkeit auseinanderzuhalten: diejenige der Rotte und Meute zunächst, die sich mit Elias Canetti über die Zerstreutheit und begrenzte Zuwachsmöglichkeit charakterisieren läßt: die lockere, nach jeder Versprengung wieder zusammenfindende Assoziation; die Ausrichtung auf ein gemeinsames Angriffsziel; die Verteilung des Erbeuteten.47 Von ihr zu unterscheiden ist die Herde, die eines Hirten bedarf, der sie versammelt, leitet und führt, ihr eine tagtägliche Hege angedeihen läßt und seine Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Mitglied der Herde richtet. So behütet, ist diese Mannigfaltigkeit unter der Obhut moderner Pastoraltechnologen dazu angetan, das Soziotop der bestialischen Artenvielfalt erheblich einzuschränken. Gemessen an den Entstellungen der bürgerschreckenden Werwölfe sind die Abweichungen zwischen weißen und schwarzen Schafen eher gering. Man wäre versucht, die Werwölfe für ausgestorben zu erklären, hätte nicht Thomas Pynchon in seinem jüngsten Roman Mason & Dixon im England des 18. Jahrhunderts ein letztes, bemerkenswertes Exemplar aus einem unterirdischen Tunnellabyrinth unterhalb der Geometrie des 46. Foucault (Anm. 38), 87. 47. Canetti, Elias. Masse und Macht. Frankfurt a.M. 1980, 108-114. 297

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Landes zutage gefördert: einen Werwolf namens Ludowick, der sich – in Verkehrung seiner Mythologie und zum Schrecken seiner zivilen Mitmenschen – bei Vollmond für »zwei oder drei Nächte« in einen »glattrasierte[n], etwas schmale[n] Jüngling« verwandelt, in einen »Durham-Dandy in Silberbrokat«.48 Vielleicht muß dieser Ludowick tatsächlich als die Personifikation jener Heimsuchung angesehen werden, die die sozialen Körper der Moderne bis heute verfolgt. In einer Zeit, die für den Ausnahmefall der Despotie keine monströse Phänomenologie mehr hat und jede Ausschließung mit einer Einschließung verdoppelt, lebt der Werwolf mit dem königlichen Namen im Double eines zivilen Wesens fort – ein Double, das allen Grund hat, sich selber nicht geheuer zu sein.

48. Pynchon, Thomas. Mason & Dixon. Reinbek 1999, 316 f. 298

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STERBLICHE GÖTTER. INMITTEN DER ZEIT

Sterbliche Götter. Inmitten der Zeit Dietmar Kamper



In fast allen Religionen der Welt, selbst in der religionskritischen Literatur der Moderne, in der souveränen Poesie wird der menschliche Körper als »der sterbliche Gott« angesprochen, aber nur der Körper in Bewegung, der lebt, weil er sterblich ist, der stirbt, weil er lebendig ist, nicht der ewige, der tote, nicht der fixierte, erst recht nicht der kruzifizierte Körper.



Der geheime Fokus der historischen Anthropologie ist die Gottmenschlichkeit, der sterblich-unsterbliche Körper – eine Wahrheit, die nur paradox formuliert werden kann: Eisfeuer; Elend, das strahlt; Erschaffung als Zerstörung; Zustimmung zum Leben bis in den Tod; Existenz durch Absenz; die Welt aus den Angeln heben – auch ohne festen Standpunkt; androgyne Insistenz usw.



Der vollkommene Tanz ist die Wiederholung jener Bewegung, die von der Erde selbst vollzogen wird: die Bewegung um sich selbst, um die Sonne und torkelnd zwischen Frühling und Herbst, zwischen Sommer und Winter. Der Tanz heißt: Nichts Neues unter der Sonne, aber die Sonne neu jeden Tag. Der Tanz geht einwärts ins Labyrinth und auswärts aus dem Labyrinth.



Auch Gottmenschen unterliegen – wie die Götter und Gott – dem Gesetz der Abstraktion, der Entkörperlichung. Christus wurde wegen seines Körpers ans Kreuz geschlagen. Dionysos brauchte, um sich installieren zu können, die ekstatischen Körper der Frauen. Und Shiva wird von der Göttin Kali, dem Urbild der schwarzen Madonna, durch Tod und Wiedergeburt getrieben.



So betrachtet, ist Tanz der hauptsächliche konkrete Widerstand gegen das Gesetz der Abstraktion, allerdings unter zwei Bedingungen. Es muß um das Begehren gehen dazusein, irdisch zu sein. Es muß gehen 299

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DIETMAR KAMPER

um ein Leben/Sterben ohne Wenn und Aber, also nicht um ein Symbol, um eine bloße Metapher, also nicht um Zeugenschaft für die fatale Ewigkeit des Himmels. •

Der Widerstand ist inklusiv. Errichtet sich gegen die Virtualität der Räume, er passiert in der Virtuosität der Zeit. Man muß so gut tanzen können, daß man, auf dem Gipfel des Könnens, getanzt wird. Man muß tanzend das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, von Herrschaft und Knechtschaft umstülpen, um den Willen des Körpers, der Leben und Tod balanciert.



Gottmenschen, das heißt weder Menschen, die bloß sterblich, noch Götter, die bloß unsterblich sind, bewohnen den ganzen Planeten. Die Erde kommt in ihnen zu sich selbst, zu Bewußtsein, zur Sprache, zur Darstellung. Sie verkörpern das Gesetz der notwendigen Performanz: die Fülle der Gegenwart im Verlauf des Tanzes als einmaliges Leben zur einmaligen Aufführung zu bringen.



Shiva verspricht tanzend ein Leben vor dem Tod. Dionysos erzwingt eine Befriedigung des Rausches der malignen Zerstückelung. Christus schließlich fordert einen Tod vor dem Leben. Shiva tanzt das Universum, es erschaffend und es zerstörend. Dionysos macht krank vor Sehnsucht und heilt nur auf Zeit. Christus verkörpert den Wahnsinn der Abstraktion.



Shiva, 2000 v. Chr., Dionysos, 1000 v. Chr., und Christus selbst, mit dem der Kalender beginnt – drei sterbliche Götter, Gottmenschen, die wegen ihrer Körperlichkeit zeitlebens in ein hochgespanntes Drama verwickelt waren: Wie nämlich ein neues Verhältnis von Leben und Tod zu erfinden sei, ein Verhältnis von Frieden und Krieg, von Erfüllung und Verlangen, von Freiheit und Liebe.

Baha do Sahy, am 9.9.1997, in wüster Sonne, am 10.9.1997 in tropischem Regen.

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DER KOLLEKTIVKÖRPER UND SEINE SÄFTE

Der Kollektivkörper und seine Säfte Christina von Braun

Die Analogie von individuellem und sozialem Körper Gemeinschaften bilden keinen Körper, aber jede Gemeinschaft – ich glaube, das kann man so allgemein sagen – versucht, sich durch die Analogie zum individuellen Körper oder Organismus den Anschein eines lebendigen und geschlossenen Leibes zu geben: Durch Riten und Uniformen, Tätowierungen und – das gilt vor allem für die modernen Gesellschaften: Gemeinschaftstechniken – inszenieren sie sich als ebenso unteilbar wie der menschliche Körper, der auf das Zusammenspiel und die Koordination der einzelnen Glieder angewiesen ist. ›Lebendig‹ erscheint dieser Körper dank der Säfte, die ihn durchfließen in Form von metaphorischen Blut- und Nervenströmen, oder etwa durch befruchtende Seminarveranstaltungen, in denen eine nie versiegender geistiger Same für das Heil der Gemeinschaft sorgt. Daß der Same zu diesen Säften gehört, zeigt sich schon an den Lehren der Antike, laut denen – so Hippokrates und Galen – das »Sperma, ein Schaum fast wie der des Meeres, zunächst aus dem Blut raffiniert werde; dann gehe es zum Gehirn; vom Gehirn nehme es den Weg zurück durch das Rückenmark, die Nieren, die Hoden und in den Penis.«1 Eben weil die soziale Gemeinschaft über keine ›realen‹ oder physischen Körpergrenzen verfügt – das Kollektiv hat keine Haut –, wird die Analogie zum menschlichen Körper zentral für die Macht, Anziehungskraft und Überlebensfähigkeit des Kollektivkörpers. Dabei bestimmen die verschiedenen Bilder der Gemeinschaft wiederum über die Vorstellung vom menschlichen Körper. Es gibt eine ziemlich genau zu beobachtende Korrelation zwischen den Vorstellungen vom Kollektivkörper und der in ihm zirkulierenden Säfte und den medizinischen Theorien über den Körper, 1. Laqueur, Thomas. Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Übers. v. Jochen Bußmann. Frankfurt a.M. 1992, 50. 301

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CHRISTINA VON BRAUN

die sich in bestimmten Krankheitsbildern widerspiegeln – vor allem in den geschlechtlich codierten Krankheiten. Die Moderne ist in dieser Hinsicht reich an Beispielen. Dem Konzept des ›Volkskörpers‹, der als eine Einheit des Blutes imaginiert wurde – ein Konzept, das vor allem im rassistischen Antisemitismus seinen politischen Niederschlag fand – entsprachen Krankheitsbilder vom ›giftigen‹ oder – noch christlicher: ›bösen‹ – Blut, das Infektionen verursache und in den Mythen um die Syphilis greifbar wurde. Diese Bilder wurden wiederum auf gesellschaftliche Zustände übertragen: Richard von Krafft-Ebing prägte den Begriff der »Syphilisation«, den die Antisemiten, darunter Hitler, später gerne zitierten, um damit die verhaßte jüdische und anglo-amerikanische ›Zivilisation‹ (die der deutschen Kultur gegenübergestellt wurde) zu diffamieren.2 Neben dem Konzept der Gemeinschaft des Blutes setzte sich im 19. Jahrhundert auch ein anderes Konzept vom Kollektivkörper durch, das auf den verschiedenen medialen Bedingungen der Kommunikation beruhte. Diesem Konzept entsprach ein Bild der Gemeinschaft als ›Nervensystem‹, das sich anschaulich an einem Beispiel darstellen läßt: Als 1995 in Tokio das Sarin-Attentat verübt wurde, setze die ARD kurzfristig einen ›Brennpunkt‹ an, der mit dem folgenden Beitrag eingeführt wurde, in dem das Konzept eines Kollektivkörpers als Nervensystem zutage tritt. Es ist vielleicht auch kein Zufall, daß Sarin selbst ein Gift ist, daß das Nervensystem angreift. »Tokios U-Bahnen schnell und sicher, Kontrolleure nicht nötig, Hooligans und Schmierer sind hier unbekannt. Acht Millionen Pendler reisen täglich zur Arbeit und zurück in die Vorstädte. 12 Linien, die Nervenstränge eines hoch spezialisierten Systems. […] Die Attentatsorte, wie ein Ring um das Zentrum und den Kaiserpalast, zeigen die Systematik des Verbrechens. Der Anschlag richtet sich […] gegen eine der sichersten Metropolen der Welt. […] Tokio mit seiner drangvollen Enge kann nur aufgrund eines gesellschaftlichen Konsenses überleben. So wirkt selbst das tägliche Chaos auf den Straßen geordnet und wird kollektiv ertragen. […] Ideologische Konflikte fehlen weitgehend, das Verantwortungsgefühl ist allgemein und groß. Auch deshalb konnte Japan bisher auf allzu strenge Sicherheitsvorkehrungen in öffentlichen Einrichtungen verzichten, Monitorüberwachung war genug. Wer gesellschaftliche Tabus verletzt, gar Verbrechen begeht, bewirft laut den Vorstellungen des Shintoismus das Gesicht seiner Eltern mit Schmutz. Diese religiöse Doktrin wirkt schärfer womöglich als das bürgerliche Gesetz. Das sichere Netzwerk der Japaner aus Tradition und Pragmatismus hat durch die U-Bahn-Anschläge von heute jedoch erhebliche Risse bekommen. Tokio wird noch unwirklicher. Das verheerende Erdbeben von Kobe, eine Naturkatastrophe, haben die Japaner psychisch überraschend schnell verarbeitet. Im Umgang mit

2. Hitler, Adolf. Mein Kampf. Ungekürzte Ausgabe. München 1940, 270. 302

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bösartigen Anschlägen jedoch erweist sich die hoch technisierte Gesellschaft als beinahe hilflos.«3 Das Konzept eines Kollektivkörpers als ›Nervensystem‹ setzte sich erst mit der Moderne durch, und es spiegelte sich – ex negativo – in den ›nervösen Krankheiten‹ wider, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts hohen Kurs hatten. Der Begriff der ›Neurose‹ war schon Ende des 18. Jahrhunderts vom schottischen Neuropathologen William Cullen geprägt worden, um ›Nervenkrankheiten‹ zu bezeichnen, mit denen er alle »widernatürlichen Zufälle der Empfindung und Bewegung« und eine »widernatürliche Beschaffenheit des Nervensystems« meinte.4 Sein Konzept der ›Neurose‹ hatte mit dem heutigen Verständnis des Begriffs wenig zu tun, wohl aber kann man darin ein Spiegelbild der Gesellschaft als ›Nervensystem‹ erkennen, durch das der neu entdeckte ›Lebenssaft‹ des galvanischen Stroms zirkulierte. Cullen betrachtete das gesamte Leben als eine Funktion ›nervöser Energien‹ und die Krankheit als eine ›nervöse Störung‹ – ein Bild, das sich bis in die Anfänge der Psychoanalyse erhalten sollte. So beschrieb Joseph Breuer in den Studien zur Hysterie das Krankheitsbild nach dem Modell einer elektrischen Anlage: »Wir hätten uns eine zerebrale Leitungsbahn nicht wie einen Telephondraht vorzustellen, der nur dann elektrisch erregt ist, wenn er fungieren, d. h. hier: ein Zeichen übertragen soll; sondern wie jene Telephonleitungen, durch welche konstant ein galvanischer Strom fließt und welche unerregbar werden, wenn dieser schwindet. – Oder, besser vielleicht, denken wir an eine vielverzweigte elektrische Anlage für Beleuchtung und motorische Kraftübertragung; es wird von dieser gefordert, daß jede Lampe und jede Kraftmaschine durch einfaches Herstellen eines Contactes in Funktion gesetzt werden könne. Um dies zu ermöglichen, zum Zwecke der Arbeitsbereitschaft, muß auch während funktioneller Ruhe in dem ganzen Leitungsnetz eine bestimmte Spannung bestehen, und zu diesem Behufe muß die Dynamomaschine eine bestimmte Menge von Energie aufwenden. – Ebenso besteht ein gewisses Maaß von Erregung in den Leitungsbahnen des ruhenden, wachen, aber arbeitsbereiten Gehirnes.«5 Die Ursachen für die ›nervöse Erkrankung‹ wurde freilich nicht in den technischen Strömen, sondern etwa in der Onanie gesucht, die schon Ende des 18. Jahrhunderts für alle krankhaften Erscheinungen des Nervensystems verantwortlich gemacht wurde – ein Topos, in dem einerseits 3. ARD. Brennpunkt. 20.3.1995. 4. Zit. n. Braun, Karl. Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1995, 67. 5. Breuer, Joseph. Zit. nach Freud, Sigmund. Studien zur Hysterie. Frankfurt a.M. 1970, 156. 303

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das alte christliche Paradigma der Sünde des ›vergeudeten Samens‹, andererseits aber auch schon das Konzept eines Sexualtriebs anklang, der sich von den Bedingungen der Biologie getrennt hat und den Mächten der ›Einbildungen‹ unterliegt. »Ein gemäßigter Beyschlaf ist nützlich, wenn die Natur den Trieb dazu gegeben hat. Ist man aber nur durch die Einbildungskraft dazu gereizet worden, so schwächet er die Kräfte der Seele«, schreibt der Lausanner Arzt Samuel Auguste Tissot 1758 in seiner einflußreichen Abhandlung über die Gefahren der Onanie.6 Aus diesem Bild eines ›eingebildeten‹ Sexualtriebs sollten gegen Ende des 19. Jahrhunderts (als es dank verbesserter Mikroskopiertechnik auch tatsächlich möglich wurde, Reproduktion und Sexualität zu trennen) die Sexualwissenschaften hervorgehen, die das Gegenstück zur Entstehung der Eugenik darstellt. Proklamierte die eine Wissenschaft die Befreiung der Sexualität von den Zwängen der Fortpflanzung, so feierte die andere die Befreiung der Fortpflanzung von den Unberechenbarkeiten der Sexualität. Die Sexualwissenschaften trugen so zur Salonfähigkeit (in jedem Sinne des Wortes) des ›nervösen Typs‹ bei und wurden zu den Wegbereitern des heutigen Mainstream-Diskurses über Geschlecht, der dieses als Funktion von Sprache und kultureller Bestimmung begreift. In diesem Konzept eines ›kulturellen‹ Geschlechtstriebs spiegelt sich wiederum ein Konzept des Gemeinschaftskörpers als ›Nervensystem‹ wider, das auf dem Kreislauf kultureller Säfte und Einbildungen beruht. Benedict Anderson hat dafür den treffenden Ausdruck der ›Imagined Communities‹ geprägt: (Der Titel wurde mit ›Erfindung der Nation‹ ins Deutsche übersetzt; treffender wäre der Begriff ›Eingebildete Gemeinschaften‹, der auch die Nähe zu den ›Einbildungen‹ des Sexualtriebs verdeutlicht.7) Anderson stellt dar, wie sehr die modernen Nationen, deren Selbstverständnis sich vor allem nach 1800 herausbildete, als das Produkt medialer Bedingungen zu verstehen sind, die schon im 15. Jahrhundert mit dem Buchdruck entstanden waren und in den darauffolgenden Jahrhunderten ein immer dichteres Netz von Kommunikationsfäden entstehen ließen, die nicht nur geographisch entfernte Gebiete miteinander verbanden, sondern auch – in einem gewaltigen Prozeß der Synchronisierung und Homogenisierung – die Gleichschaltung von Nachrichten, Sehweisen und schließlich patriotischen Gefühlen ermöglichten. »Ich gehe davon aus«, schreibt Benedict Anderson, »daß Nationalität […] und gleichermaßen Nationalismus kulturelle Produkte einer besonderen

6. Braun (Anm. 4), 47. 7. Anderson, Benedict. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Übers. v. Benedikt Burkard. Berlin 1998. 304

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Art sind.«8 Diesen seien drei paradoxe Charakteristika eigen: Erstens stehe der objektiven Neuheit von Nationen das subjektive Alter in den Augen der Nationalisten gegenüber. Zweitens stehe der formalen Universalität von Nationalität als soziokulturellem Begriff – »in der modernen Welt kann, sollte und wird jeder eine Nationalität ›haben‹, so wie man ein Geschlecht ›hat‹« – die marginale Besonderheit ihrer jeweiligen Ausprägungen gegenüber. Und drittens paare sich die bemerkenswerte ›politische‹ Macht des Nationalismus mit einer nicht minder bemerkenswerten philosophischen Armut. »Anders als andere Ismen hat der Nationalismus nie große Denker hervorgebracht – keinen Hobbes, keinen Marx und keinen Weber.«9 Denn der Nationalismus sei keine Theorie, sondern ein ›Gefühl‹. Es würde, so Anderson weiter, »die Angelegenheit leichter machen, wenn man Nationalismus nicht für eine Weltanschauung unter anderen hält, wie ›Liberalismus‹ oder ›Faschismus‹, sondern wie ›Verwandtschaft‹ oder ›Religion‹« betrachte.10 Dieses Gefühl von ›Brüderlichkeit‹ habe es möglich gemacht, daß »in den letzten zwei Jahrhunderten […] Millionen von Menschen für so begrenzte Vorstellungen weniger getötet haben als vielmehr bereitwillig gestorben sind.«11 Dagegen wäre einzuwenden, daß die meisten Toten der modernen Kriege alles andere als freiwillig in den Tod gegangen sind: schon gar nicht die Toten der Terrorregime; aber auch bei den Kriegsopfern unter der Zivilbevölkerung, deren Zahl die der gefallenen Soldaten inzwischen weit übersteigt, kann von ›freiwilliger Opferbereitschaft‹ kaum die Rede sein. Zudem hängt die Tatsache, daß die Zahl der Getöteten die der Tötenden weit überwiegt, mit der schier unglaublichen Potenzierung der Tötungswerkzeuge zusammen: Zur Betätigung der Bombe von Hiroshima, die 260 000 Menschen das Leben kostete und 163 000 Verletzte hinterließ, bedurfte es eines einzigen Waffenträgers: des Piloten. Und im Golfkrieg sorgte der ›Pilot’s Companion‹ dafür, daß auch dann die Bomben ihr Ziel erreichen, wenn dieser Pilot ausfällt. Es wäre also richtiger zu sagen, daß der Nationalismus eine bemerkenswerte Bereitschaft zu sterben und zu töten hervorgebracht hat. Diese Bereitschaft zu sterben und zu töten hängt aber mit der Bereitschaft des Individuums zusammen, ein untrennbares Glied des Kollektivkörpers zu bilden. Anderson stellt nun der Fähigkeit der Nation, eine tiefe Empfindung und Anhänglichkeit hervorzurufen, die Tatsache gegenüber, daß die ›Nation‹ eine ›vorgestellte politische Gemeinschaft‹ sei: »Vorgestellt ist sie deshalb, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten ande8. 9. 10. 11.

Ebd., 13. Ebd., 14. Ebd., 14. Ebd., 16. 305

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ren niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.«12 Das heißt, er beschreibt das Nationalgefühl mit Begriffen, die die Nation in die Nähe von Gemeinschaften mit ›mündlicher Überlieferung‹ rücken. Für Brian Stock, der den allmählichen Übergang Europas im Mittelalter von einer Gesellschaft, die unter dem Gesetz der mündlichen Überlieferung steht, zu einer Gesellschaft, die nach dem Gesetz der geschriebenen Sprache funktioniert, kann mündliche Kommunikation nur in »kleinen, isolierten Gemeinschaften mit einem starken Netzwerk von Verwandtschaft und Gruppensolidarität« funktionieren.13 Während das enge Netz der Verwandtschaftsverhältnisse und die Gruppensolidarität verhindere, daß Konflikte innerhalb der Gemeinschaft die Funktionsfähigkeit des Kollektivkörpers beeinträchtigen, sei die Reaktion auf die Außenwelt »oft von Angst und Feindseligkeit« geprägt.14 Ähnlich beschreibt Anderson auch das Nationalgefühl: »Die Vorstellung eines sozialen Organismus, der sich bestimmbar durch eine homogene und leere Zeit bewegt, ist eine genaue Analogie zur Nation, die ebenfalls als beständige Gemeinschaft verstanden wird, die sich gleichmäßig die Geschichte hinauf (oder hinunter) bewegt. Ein Amerikaner wird niemals mehr als eine Handvoll seiner vielleicht 240 Millionen Landsleute kennenlernen oder auch nur deren Namen wissen. Er hat keine Vorstellung, was sie irgendwann gerade tun. Doch er hat volles Vertrauen in ihr stetes, anonymes, gleichzeitiges Handeln.«15 Für das »Verschwinden des unbewußten Zusammenhalts der christlichen Religionsgemeinschaft« im späten Mittelalter macht Anderson, der hier den Beginn des modernen Nationalismus sieht, einerseits die Relativierung des eigenen Weltbildes durch die Entdeckung anderer Kulturen verantwortlich, andererseits aber auch die »Degradierung der heiligen Sprache« durch einen wachsenden Buchmarkt, der ein Gefühl von Gleichzeitigkeit und Gleichsprachlichkeit hervorbrachte.16 Mit anderen Worten, der Buchdruck schuf die Möglichkeiten, große Gemeinschaften so zusammenzuschließen, daß sie nach den Gesetzen des Kollektivkörpers funktionieren, die das Leben von Gemeinschaften mit mündlicher Kommunikation reguliert. Das ist, wie ich noch darlegen möchte, gar nicht so paradox, wie es zunächst erscheint. 12. Ebd., 14 f. 13. Stock, Brian. The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries. Princeton 1983, 16. 14. Ebd., 16. 15. Anderson (Anm. 7), 30. 16. Ebd., 22 f. 306

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Wie kommt es, daß ›eingebildete Gemeinschaften‹ ähnliche Gefühle und ›Verwandtschaftsverhältnisse‹ hervorzubringen vermögen wie eine auf mündlichem Austausch und Verwandtschaftsverhältnissen basierende Gemeinschaft? Wie erklärt es sich, »daß die kümmerlichen Einbildungen der jüngeren Geschichte (von kaum mehr als zwei Jahrhunderten) so ungeheure Blutopfer gefordert haben? Ich bin der Überzeugung, daß die Antwort in den kulturellen Wurzeln des Nationalismus liegt.«17 So Anderson. Aber genügt diese Erklärung? Was genau sind die kulturellen Wurzeln, die eine solche Macht auszuüben vermögen? Kann es der Buchdruck alleine sein? Bedarf es nicht auch des schon vorher bestehenden dichten Netzes der christlichen Glaubensgemeinschaft, in dem schon viele der kulturellen Wurzeln des Nationalismus sowie einige der Säfte, die ihn durchströmen werden, angelegt sind? Und ist es nicht auch das Geld, dieser wundersam fruchtbare Same, dessen Zeugungsfähigkeit im Mittelalter noch zögerlich erprobt, mit der Neuzeit zu immer größeren Strömen anwächst, um heute – in dem weltumfassend angelegten Dauerorgasmus der Börse und des Finanzmarktes – seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit an den Tag zu legen? Auch das Geld ist Zeichen und untersteht dem Gesetz von Kultur und Einbildung, und, wie in Gemeinschaften mit mündlicher Überlieferung, ist es ein Saft, der Verwandtschaftsverhältnisse erzeugt – nicht nur über die Samenbanken. Um den modernen Kollektivkörper und die Säfte, die in ihm zirkulieren, zu begreifen, bedarf es zunächst eines Blicks auf die Religionsgemeinschaften, die ihm vorangingen. Da hier das Schriftsystem entscheidenden Anteil an der Entstehung der Gemeinschaft hatte, wurde die Analogie zum physischen Leib umso wichtiger. Da der Zusammenhalt der ›Religionen des Buchs‹ auf einem abstrakten Zeichensystem und kulturellen Codes beruht, müssen sich diese Gemeinschaften die Merkmale des ›Realen‹ aneignen – und das geschieht durch die Analogie zum menschlichen Körper. Diese Analogie entspricht natürlich einer Metapher. Doch gehen die Schriftgesellschaften auf unterschiedliche Weise mit der Tatsache dieser Metaphorik um. Das wird deutlich beim Vergleich zwischen der jüdischen und der christlichen Form der Gemeinschaftsbildung, die ich hier nur kurz andeuten kann. In der jüdischen Tradition wird in der Orthopraxie – durch die Ritual-, Speise- und Zeremonialgesetze, die den Körper des einzelnen genauen Vorschriften unterwerfen – eine Einheit der Körper hergestellt. Es ist ein bewußter Vorgang, an den immer wieder erinnert wird, und bei dem niemals das Wissen verschwindet, daß jeder Körper für sich noch immer einen einzelnen Leib darstellt. Die Analogie von

17. Anderson (Anm. 7), 16. 307

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sozialer Gemeinschaft und menschlichem Körper bleibt also auf der Ebene der Metapher. Die christliche Gemeinschaft hingegen wächst bei der Kommunion, bei der die Gläubigen ›ein Fleisch‹ mit Gott und den anderen Mitgliedern der Gemeinde werden, zu einem Gemeinschaftskörper zusammen; die Ebene der Metaphorik tritt in den Hintergrund, um schließlich der Vorstellung eines Kollektivkörpers zu weichen, der alle Eigenschaften des menschlichen Körpers angenommen hat. Der Gedanke war schon bei Paulus präsent, als er die Gemeinschaft der Gläubigen als Corpus Christi mysticum bezeichnete: »Wie nämlich der Leib nur einer ist, jedoch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber trotz ihrer Vielheit einen einzigen Leib bilden, so ist es auch mit Christus. Denn in einem Geiste sind auch wir alle zu einem Leibe getauft worden.«18 Diese Vorstellung verfestigte sich nach der Verkündung der Transsubstantiationslehre im Jahre 1215. Von nun ab stellten Wein und Hostie, die sich bei der Messe in das reale Blut und Fleisch des Herrn verwandelten, die kaum zu überbietende Materialisierung eines kollektiven Imaginären dar, das sich im Bild des ›einen‹ Körpers ›naturalisierte‹.19 18. 1 Kor. 12,12. 19. Vgl. u. a. Le Goff, Jacques. »Head or Heart? The Political Use of Body Metaphors in the Middle Ages«. Fragments for a History of the Human Body. Hg. v. Michel Feher u. a. New York 1989, Teil 2, 12-27. Eindrücklich hat auch Karin Wieland das Zusammenspiel von Wort und Blut für die Hochzeit des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit und die damit einhergehende geschlechtliche Codierung beschrieben: »Dem leidensgeschichtlichen Schema zufolge ist der Christus als der Auferstandene ohne den empirischen Jesus nicht zu denken. Nur weil das Wort Fleisch und Blut geworden ist, können die Menschen Erlösung finden. […] Auf dem Glauben an die zeugende Kraft der Worte beruht die europäische Kultur. Das gilt für fiction und non-fiction gleichermaßen: also für das Recht, die Wissenschaft, die Literatur. […] Mit dem Begriffspaar Worte und Blut wird eine historische Entwicklungspsychologie des männlichen Selbst nachgezeichnet, so wie sie sich in Europa von 1000 bis 1500 herausgebildet hat. Die Metamorphose beginnt mit der magischen Einheit in der Gestalt des gesalbten Königs, und sie endet in der nach den Wertsphären der Kunst, Wissenschaft und Politik differenzierten Männlichkeitstypologie der italienischen Renaissance. Der Gang der verschiedenen Koordinationen von Worten und Blut vollzieht sich über die ewige Wiederkehr des gleichen Problems: Worte, die das Blut zu überwinden suchen, aber immer wieder des Bluts bedürfen, um sich ihres Seinsgrunds zu vergewissern. […] Ins Auge gefaßt wird das geschichtliche Fortleben geistiger Schablonen, die den Zuweisungscharakter und die Produktivkraft des menschlichen Einbildungsvermögens bestimmen. Durch ihre historischen Transformationen hindurch erhält sich das konstitutive Schema: Der Mensch erschafft sich mit Worten und findet sich gebunden ans Blut.« Wieland, Karin. Worte und Blut. Das männliche Selbst 308

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Die christliche Vorstellung von der Glaubensgemeinschaft als ›kollektivem Körper‹ sollte zunächst auf den Apparat der Kirche und dann auf den säkularen Staat übertragen werden – ein Prozeß, den Ernst Kantorowicz in seiner erhellenden Untersuchung Die zwei Körper des Königs an vielen historischen Entwicklungen und Details dargestellt hat. Im Jahre 1302 erklärte Papst Bonifaz VIII.: »Vom Glauben gedrängt sind wir verpflichtet, an eine heilige Kirche, katholisch und auch apostolisch, zu glauben […], die einen mystischen Leib darstellt, dessen Haupt Christus ist, und das Haupt Christi ist Gott.«20 Und dieses Modell einer Staatskirche – als Leib Gottes – übernahmen die Juristen, die im Mittelalter allmählich eine Staatslehre herausbildeten und den Körper der weltlichen Gemeinschaft zu definieren begannen. Dabei diente zunächst der Körper des Königs als Analogon zum menschlichen Körper. Er wurde zur »lex animata, dem lebendigen oder beseelten Recht, und schließlich zur Inkarnation der Gerechtigkeit«21 erklärt. Die Juristen eigneten sich die Funktion einer weltlichen Geistlichkeit an. »Ebenso wie die Priester heilige Dinge verabreichen und herstellen, tun auch wir, denn die Gesetze sind höchst heilig. […] Ebenso wie der Priester, wenn er eine Buße auferlegt, jedem gibt, was ihm zusteht, tun auch wir, wenn wir Urteil sprechen.«22 Die christologischen Implikationen des Königtums hatten zur Folge, daß auf den König die Bilder des ›besonderen Blutes‹ und ›höchster Reinheit‹ übergingen, die sich im kirchlichen Kontext auf den irdischen Körper Christi bezogen. War das geopferte Blut des Erlösers Garant für die Unsterblichkeit der Gemeinschaft der Gläubigen, so wurde für den weltlichen Staat das königliche Blut zu diesem Garanten. Ab 1270 wurde in England und ab 1272 in Frankreich die Thronfolge als Geburtsrecht des ältesten Sohnes anerkannt. Beim Tod oder Begräbnis des regierenden Monarchen wurde ›sein Blut‹, der Sohn oder sonstige legitime Erbe, automatisch zum König. Bildeten in der christlichen Dreieinigkeitslehre ›Vater‹ und ›Sohn‹ eine Einheit, so galt nun auch für die Dynastie: »Vater und Sohn sind nach rechtlicher Fiktion eins.«23 Damit war die Kontinuität

20.

21. 22. 23.

im Übergang zur Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998, 13 f. Allerdings berücksichtigt Wieland – obgleich sie mit Texten arbeitet – nicht die Tatsache, daß es sich bei diesen ›Worten‹ um Erzeugnisse der Schrift handelt, auch dann, wenn sie gesprochen werden. Erst nachdem sie den historischen Prozeß der Abstraktion durch die Alphabetschrift durchlaufen hatten, konnten die ›Worte‹ ihre ›zeugende Macht‹ annehmen. Zit. n. Kantorowicz, Ernst H. Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Übers. v. Walter Theimer u. Brigitte Hellmann. München 1990, 206. Ebd., 143. Ebd., 137. Ebd., 339. 309

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gesichert, zugleich aber auch die Unsterblichkeit des politischen Königskörpers auf den natürlichen Körper des Königs übergegangen. »Der Heilige Geist, der sich früher in den Stimmen der Wähler offenbart hatte, während seine Gaben durch die Salbung übertragen wurden, saß jetzt im königlichen Blut selbst, sozusagen natura et gracia, durch Natur und Gnade.« Das königliche Blut wurde »zu einer geheimnisvollen Flüssigkeit«24, in dem die Unsterblichkeit und Sakralität des Kollektivkörpers selbst verwahrt blieb. Dieser ›Naturalisierungsprozeß‹ vollzog sich in etwa zeitgleich mit der Transsubstantiationslehre – und in der christlichen Geschlechterordnung, die die Unauflösbarkeit der Ehe verkündete (das gibt es in keiner anderen Religion der Welt), spiegelte sich noch einmal dieses Konzept eines geschlossenen, einheitlichen und unteilbaren Kollektivkörpers wider. Die Analogie Gemeinschaft und Körper sollte sich wiederum auf das ›Volk‹ verlagern, das allmählich an der Stelle von Kirche, Staat und König die Gestalt eines unsterblichen ›Körpers‹ annahm. Nach Auffassung des Juristen Baldus war »ein populus nicht einfach die Summe der Individuen einer Gemeinschaft, sondern hominum collectio in unum corpus mysticum, die Sammlung von Menschen in einem mystischen Körper.«25 Es entwickelte sich der Gedanke, daß das Individuum für den Erhalt dieses kollektiven Körpers zu sterben bereit sein müsse. Da der Kollektivkörper Garant für die Unsterblichkeit des einzelnen war, bedeutete für ihn zu sterben das ›Aufgehoben-Sein‹ in jedem Sinne des Wortes. »Der christliche Märtyrer, der sich für das unsichtbare Reich geopfert hatte und für seinen himmlischen Herrn pro fide gestorben war, sollte bis ins 20. Jahrhundert das wahre Vorbild staatsbürgerlicher Selbstaufopferung bleiben.«26 Wie bei den christlichen Märtyrern der ersten Jahrhunderte wird später der Tod auf dem ›Altar des Vaterlandes‹ zu einem »Sieg« und zu einem »Mittel, seine Seele zu retten«.27 Hatte Johannes verkündet, daß sich jeder, der für seine Brüder den Tod erleidet, »Gott als lebende Hostie« anbietet28, so vereinigte sich nun auch der, der für die Nation sein Leben ließ, mit dem unsterblichen Kollektivkörper der nationalen Gemeinschaft. Bei der Herausbildung des weltlichen Kollektivkörpers war auch der Fiskus beteiligt, hierin die Rolle präfigurierend, die das Geld für das moderne Konzept des Kollektivkörpers spielen sollte. Der mittelalterliche König galt als Inkarnation nicht nur des ›Ewigen Rechts‹, sondern auch 24. 25. 26. 27. 28.

Ebd., 333. Ebd., 221. Ebd., 243 f. Ebd., 249. I. Joh. 3.16. 310

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des nationalen Eigentums, das einerseits auf der nationalen Erbschaft, andererseits aber auch auf dem Recht, Steuern zu erheben, beruhte. Hatten sich Könige des frühen Mittelalters wie Friedrich II. als ›lex animata‹, als Verkörperung einer ›ewigen Gerechtigkeit‹ begriffen, so entwickelten englische Juristen des 13. Jahrhunderts pragmatischere Vorstellungen von Ewigkeit: »Aus dem König als vicarius Christi wurde für sie ein vicarius fisci.« Die quasi-ewige Dauer des überpersönlichen Königs begann von der quasi-ewigen Dauer der unpersönlichen öffentlichen Sphäre abhängig zu werden, zu der auch der Fiskus gehörte. »Die Herrscher des 13. Jahrhunderts hatten letztlich das eine gemein, daß sie den Hauch von Ewigkeit nicht so sehr der Kirche als den von Rechtsgelehrten ausgelegten Begriffen von Gerechtigkeit und öffentlichem Recht entliehen, ob sie nun iustitia oder fiscus sagten.«29 Aus dieser Funktion des Souveräns ging wiederum das Recht hervor, das Geld, die Münze, durch seinen Siegel als Wert und nationale Währung zu garantieren – eine Entwicklung, die schließlich dazu führte, daß der König selbst ›überflüssig‹ wurde (in jedem Sinne des Wortes). Staat, Volk und der König, als Repräsentant des Staatsvolkes, verschmolzen miteinander, bis der Kollektivkörper selbst mit allen Eigenschaften des Individualkörpers ausgestattet erschien – und diese Einswerdung von Gemeinschaft und Repräsentation, der natürlich eine ›Einbildung‹ zugrundelag, schuf wiederum die Voraussetzung dafür, daß sich der Körper des Königs erübrigte. In seinem 1651 erschienenen Leviathan verzichtet Hobbes auf die Analogie von Gemeinschaft und Körper des Königs. Kurz zuvor war, als Folge eines Bürgerkriegs zwischen König und Parlament, in dem es um die Verfügung über die Steuermittel ging, der englische König im Namen des Königs hingerichtet worden: Das Kollektiv, so Hobbes, werde zwar durch einen Souverän bzw. durch eine Versammlung ›verkörpert‹, die die alleinige Autorität ausübe. Doch setze diese Autorität die absolute Unterwerfung des einzelnen voraus. Hobbes gesteht dem einzelnen weder Glaubens- noch Gewissensfreiheit zu, weil er in diesen den Ausgangspunkt von Uneinigkeit sieht. Das heißt, im Hobbe’schen Leviathan nimmt die Idee Gestalt an, daß die Gemeinschaft erst dann eine Gemeinschaft bildet, wenn die Individuen tatsächlich zu einem einzigen Körper verschmolzen sind. In der Geschichte dieser ›Einbildungen‹ und ihrer Wirklichkeitsmacht zeichnen sich schon deutlich Andersons »Imagined Communities« ab, denen die Eigenschaften und Wirkungsmacht von Verwandtschaftsverhältnissen eignen. Auch bei Hobbes zeigt sich die Rolle, die dem Geld bei der Herausbildung des Kollektivkörpers zukommt, deutlich. Im Leviathan vergleicht 29. Kantorowicz (Anm. 20), 203 f. 311

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er das Geld mit dem Blutkreislauf im Körper und betont dabei die Körperlichkeit der Gemeinschaft selbst. Das Geld wandere »innerhalb des Staates von Mensch zu Mensch« und »ernähre« auf seinem Umlauf jeden Teil, den es berührt: »Insofern ist diese Verarbeitung gewissermaßen der Blutkreislauf des Staates, denn das natürliche Blut entstand auf die gleiche Weise aus den Früchten der Erde und ernährt durch Zirkulation unterwegs jedes Glied des menschlichen Körpers. […] Und auch darin bleibt die Ähnlichkeit des künstlichen Menschen mit dem natürlichen bestehen, dessen Venen das Blut aus verschiedenen Teilen des Körpers erhalten und zum Herzen leiten, so es aus dem Herzen belebend gemacht und durch die Arterien ausgesandt wird, um alle Glieder des Körpers zu beleben und zur Bewegung fähig zu machen.«30 Zweifellos spielt bei dieser Analogie William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs, die nur wenige Jahrzehnte zurücklag (1628), eine wichtige Rolle. Doch ist sie ohne die christliche Metaphorik von der gemeinschaftsbildenden Funktion des Blutes nicht denkbar. Nur so kann Hobbes zum Ergebnis kommen, daß der Staat »eine Person« darstelle und Gott deshalb auch »nur auf eine Art zu verehren« sei.31 Die Hostie selbst – mit ihrer wundersamen Verwandlungsfähigkeit, bei der sich Zeichen in Fleisch und Fleisch in Zeichen verwandeln, erscheint wie ein Abbild dieses Zusammenhangs, der das Kredo in die Nähe des Kredits rückt und die Doppelbedeutung der deutschen ›Schuld‹ (im Sinne von Tauschgeschäft und religiöser Sünde) erklärt. Zweifellos war Hobbes eher Skeptiker als gläubig (und Gläubiger) und war sein Bekenntnis zum christlichen Staat mehr der Konvention als der Überzeugung geschuldet.32 Doch greift er an vielen Stellen christliche Bilder auf und versetzt sie in einen staatlichen Kontext, um sodann von einem »natürlichen Reich Gottes« zu sprechen. Am deutlichsten geschieht das im Kontext des heiligen Abendmahls. In dem Kapitel Von Wundern, und wozu sie bewirkt werden geht er mit spöttischem Ton auf Mirakel ein, führt jedoch das ›Wunder‹ der Eucharistie als Beispiel für die Autorität an, die dem Souverän zukommt. 30. Hobbes, Thomas. Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. und eingeleitet v. Iring Fetscher. Frankfurt a.M. 1999, 194. 31. Hobbes, ebd., 31. Kap.: »Vom natürlichen Reich Gottes«, 279. Carl Schmitt, der durchaus die christlichen Dimensionen in Hobbes’ Leviathan gesehen hat, vergleicht diesen allerdings eher mit einer ›Maschine‹ als mit einem Organismus. Schmitt, Carl. Der Leviathan in der Staatslehre von Thomas Hobbes. Hamburg 1938. Dabei übersieht er freilich, daß diese ›Person‹ zwar durchaus einen Artefakt darstellt, aber einen Artefakt, der genau diese imaginären Eigenschaften ›verschwindeln‹ zu machen versuchte – vergleichbar der christlichen Glaubensgemeinschaft und später der Nationalgemeinschaften. 32. Vgl. Fetscher, »Einleitung« (Anm. 30), XXXIV-XXXIX. 312

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DER KOLLEKTIVKÖRPER UND SEINE SÄFTE

»Denn wenn zum Beispiel jemand behauptet, daß nach dem Aussprechen bestimmter Worte über einem Stück Brot dieses kein Brot mehr ist, sondern von Gott zugleich zu einem Gott, einem Menschen oder beidem gemacht wird und doch immer noch wie ein Brot aussieht, so hat niemand Grund zu der Annahme, dies sei wirklich geschehen, oder ihn deswegen zu fürchten, bis er Gott durch seinen Stellvertreter oder Statthalter befragt hat, ob dies geschehen ist oder nicht. […] Bejaht er es, so hat man ihm nicht zu widersprechen.« 33 Dieser Autorität, die Hostie zu einem ›realen Leib‹ zu erklären, entspricht – das sagte Hobbes nicht so laut, aber das Mirakel ist ähnlich – die Autorität des Herrschers, wenn dieser über den Wert einer Münze entscheidet. Wie der Hostie wird auch dem Geld die geheimnisvolle Macht der ›Transsubstantiation‹ zugesprochen. Und wie diese schafft auch das Geld eine ›Glaubensgemeinschaft‹. Seit dem hohen Mittelalter, so schreibt Jochen Hörisch, sind »Tendenzen unverkennbar, Gott und Geld zu versöhnen. […] Den Platz der irdischen Realpräsenz Gottes in Brot und Wein, die die Versammlung von Sein und Sinn garantiert, hat Geld eingenommen.«34 Diese »erstaunliche Transsubstantiation« 35, die vom Zeichen der Hostie zum nominalen Wert des Geldes führte, habe ihrerseits zur Auflösung des Substanzdenkens geführt: »Je näher Geld sich noch zu religiösen Formationen und Epochen verhält, um so deutlicher treten Versuche hervor, realistische bzw. substantialistische Deckungen des Geldwertes (etwa durch Goldbestände bei Nationalbanken oder durch das Bruttosozialprodukt einer Volkswirtschaft) zu behaupten. Diese Geldwerttheorien sind nach dem Bild des Abendmahlsstreites entworfen. Wie die göttliche Realpräsenz in Brot und Wein, so ist jedoch auch die reale Deckung des Geldwertes immer unplausibler geworden.«36 Hier sind wir also wieder angelangt bei den ›Einbildungen‹, die der Entstehung des modernen Kollektivkörpers zugrunde liegen. Was ist aber die Funktion dieser Einbildungen – und warum unterscheidet sich der moderne Kollektivkörper der industriellen und postindustriellen Gesellschaften, die die Erbschaft des Christentums angetreten haben, so fundamental von der Gemeinschaftsbildung anderer Gemeinschaften? Warum verschwinden die eigentlich metaphorischen Eigenschaften des Kollektivkörpers und werden durch die ›Präsenz des Realen‹ ersetzt? Auch hier – und das kann ich abschließend nur kurz zusammenfassen – ist ein vergleichender Blick auf die Hintergründe jüdischer und christlicher Gemeinschaftsbildung hilfreich. Das alte Israel, die Gemein33. 34. 35. 36.

Hobbes (Anm. 30), 340. Hörisch, Jochen. Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt a.M. 1992, 19. Ebd., 19. Ebd., 25. 313

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CHRISTINA VON BRAUN

schaft des jüdischen Glaubens, stellte die erste ›textual community‹ der Geschichte dar: eine Religionsgemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit nicht auf einem Territorium noch auf einer Dynastie, sondern auf einem Text beruhte. Dem vorausgegangen war die Erfindung eines neuen Schriftsystems: das Alphabet, durch das Phoneme in visuelle Zeichen übertragen wurden. Das war etwas anderes als die Zeichensysteme oder Piktogramme, die bis dahin entwickelt worden waren. Denn diese bestanden neben der gesprochenen Sprache, konkurrierten also nicht mit dieser. Das Alphabet jedoch implizierte die Herauslösung der Sprache aus dem Körper. Es entriß dem Körper die Sprache, die das kulturelle Band und die ›Behausung‹ aller Gemeinschaften darstellt, deren zirkulierender Lebenssaft auf mündlicher Überlieferung beruht. Das Alphabet zerstückelte den traditionellen Kollektivkörper, der auf der Gemeinschaft der Sprache basierte. Es entstand ein Schriftsystem, das sich der gesprochenen Sprache bemächtigte, jedoch nicht jeden einzelnen Körper von der Wiege an einschloß. Die vielen Ritualgesetze der jüdischen Religion, die sich fast alle auf den Körper und körperliches Verhalten beziehen – ob es sich um Speisen, Sexualverkehr, die Regelung der Arbeit, die Reinigung des Körpers, den Umgang mit Krankheiten usw. handelt – lassen sich als Kompensation für diesen Verlust der ›Behausung‹ in der gesprochenen Sprache und als großangelegten Versuch lesen, die vielen Körper zusammenzuhalten in einer Gemeinschaft. Allerdings impliziert das semitische Alphabet nicht den völligen Verlust der gesprochenen Sprache. Da es nur die Konsonanten schreibt, kann nur die in dieser Schriftform geschriebenen Texte lesen, wer auch die Sprache selbst beherrscht. Das hat dazu geführt, daß sich in der jüdischen Religion – ob es um das Gebet in der Synagoge oder um die Exegese der Heiligen Schrift im Schulhaus geht – ein Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit erhalten hat, dem sich einerseits die Bewahrung des Bewußtseins von der Metapher des Kollektivkörpers, andererseits aber auch ein Gutteil der Erneuerungskraft jüdischer Denktraditionen über die Jahrtausende verdankt. Ganz anders beim griechischen Alphabet, das nur wenig später entstand und dessen Erbschaft die lateinische Schrift antrat. Diese sollte ihrerseits – gemeinsam mit dem griechischen Alphabet – zu dem Transportmittel christlichen Denkens werden. Das griechische Alphabet schrieb auch die Vokale, erfaßte also völlig die gesprochene Sprache. Das hatte zur Folge, daß Schriftlichkeit und Mündlichkeit auseinanderfielen und zunehmend als Gegensätze betrachtet wurden – eine Dichotomie, die ihrerseits ihren Ausdruck in der für das Abendland typischen Gegenüberstellung von Geist und Körper, Kultur und Natur, Vernunft und Glauben fand. Das griechische Schriftsystem, dessen Auswirkungen auf die Entstehung von Logik, Philosophie, dem Denken in linearer, fortlaufender Zeit nicht zu überschätzen sind und dessen unmittelbare Folgen nicht nur 314

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DER KOLLEKTIVKÖRPER UND SEINE SÄFTE

in der Entstehung der Polis mit ihrem Prinzip der allgemeinen Verantwortlichkeit, sondern auch in der Herausbildung eines spezifischen, auf innerer Homogenität und unbewußter Synchronisierung beruhenden Kollektivkörpers bestand, dieses Schriftsystem mußte den Verlust des zirkulierenden gesprochenen Wortes und der ›Behausung‹ in der mündlichen Sprache auf ganz andere Weise kompensieren als das semitische Alphabet. Es mußte den Kollektivkörper mit all den Eigenschaften ausstatten, die einer Gemeinschaft mit mündlicher Überlieferung eignen. Dabei implizierte dieses Schriftsystem mit seinen leicht erlernbaren 26 Zeichen und seiner Möglichkeit einer Übertragung auf alle Sprachen auch eine rasche Verbreitung; es mußte also für einen Kollektivkörper aufkommen, der gerade nicht den Bedingungen von Gemeinschaften mit mündlicher Kommunikation entsprach. Eine solche Aufgabe ließ sich nur durch Einbildungen mit Wirklichkeitsmacht bewältigen. Daß heißt, die Metaphorik des Kollektivkörpers durfte nicht als Metaphorik verstanden werden, sondern mußte sich der Einbildung so tief eingraben, daß diese nicht mehr als Einbildung wahrgenommen wurde. Es mußten Lebenssäfte geschaffen werden, die einen ebenbürtigen Ersatz für die Behausung in der gesprochenen Sprache boten. Wenn man nun die verschiedenen Säfte, von denen vorher die Rede war, näher betrachtet, so kann man erkennen, daß genau das der Fall war. Deshalb kann Benedict Anderson den Nationalismus mit Verwandtschaftsverhältnissen vergleichen. Andererseits wird aber auch deutlich, daß jeder Saft, der in diesem Kollektivkörper fließt, eine Schöpfung des geschriebenen Denkens darstellt – ob es sich um den Buchdruck oder das Heilige Blut, den galvanischen Strom oder das Zeichen des Geldes handelt: Unnötig zu sagen, daß auch der neueste dieser Säfte, der durch die Nervenstränge des Internet strömt, seine Entstehung diesem Zeichensystem verdankt sowie den Denkmustern, die es hervorgebracht hat.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Autorinnen und Autoren Inke Arns, M.A., Studium der Osteuropastudien, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte in Berlin und Amsterdam. Sie ist Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin, freie Kuratorin für Medienkunst, Gründungsmitglied des translokalen Syndicate Netzwerkes (1996) und des Berliner mikro Vereins zur Pflege von Medienkulturen (1998). Zahlreiche Publikationen zur Netzkultur und aktuellen Kunst u. a.: Netzkulturen. Hamburg 2002; Neue Slowenische Kunst. Regensburg 2002 . Inge Baxmann, Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Publikationen u. a.: Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur. Weinheim, Basel 1989; Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München 2000; Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Hg. mit Michael Franz u. Wolfgang Schäffner, Berlin 2000. Claudia Benthien, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität. Derzeit Arbeit an einer Habilitation zum »Barocken Schweigen«. Buchpublikationen u. a.: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek 1999, 2. Aufl. 2001; Skin. On the Border between the Self and the World. Columbia University Press 2002; Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. mit Christoph Wulf, Reinbek 2001; Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. mit Hans R. Velten, Reinbek 2002. Christina von Braun, Professorin für Kulturwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin, Autorin, Filmemacherin. Publikationen u. a.: Nicht ich. Logik Lüge Libido. Frankfurt a.M. 1985; Der Einbruch der Wohnstube in die Fremde. Bern 1987; Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte. Frankfurt a.M. 1989; Medien und Multiplizität. Geistesgeschichtliche Hintergründe eines modernen Krankheitsbildes. Hg. mit Gaby Dietze, Frankfurt a.M. 1998; Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Zürich, München 2001. 317

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Judith Butler, Maxine Elliot Professor in den Departments of Rhetoric and Comparative Literature at the University of California, Berkeley. Autorin zahlreicher Bücher, u. a.: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge 1990; Bodies that Matter: On the Discursive Limits of »Sex«. Routledge 1993; Excitable Speech. Routledge 1997; zuletzt: Antigone’s Claim: Kinship between Life and Death. Columbia University Press 2000 (deutsch: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt a.M. 2001). Thomas Hauschild, Professor für Ethnologie an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Politik und Religion, Selbst- und Fremdgestaltung in der Anthropologie, Körper und Kultur. Publikationen u. a.: Der böse Blick. Berlin 1982; Lebenslust und Fremdenfurcht (Hg.). Frankfurt a.M. 1995; »Christians, Jews, and the Other in German Anthropology«. American Anthropologist, Dez. 1997; Magie und Macht in Süditalien. Gifkendorf 2002. Dietmar Kamper, (1936-2001) Philosoph und Soziologe, Mitbegründer des »Zentrums für Historische Anthropologie« in Berlin. Seit 1981 zus. mit Ch. Wulf Veranstalter internationaler transdisziplinärer Kolloquien zur »Historischen Anthropologie«; zahlreiche Publikationen insbesondere zur Philosophie und Soziologie des Körpers. Zuletzt: Im Souterrain der Bilder. Die schwarze Madonna. München 1997; Von Wegen. München 1998; Horizontwechsel: Die Sonne neu jeden Tag, nichts Neues unter der Sonne aber … München 2001. Xavier Le Roy, Performer, Studium der Biochemie an der Universität Montpellier. Arbeiten mit der Compagnie de l’Alambic in Paris, Detektor, Mitbegründer der Gruppe Le KWATT (Things I hate to admit, 1994 Fondation Cartier Paris; Zonder Fact, 1995 Festival Diskurs Gießen; Burke, 1997 Ménagerie de Verre Paris; Narcisse Flip, 1997 Theater am Halleschen Ufer Berlin); Wiener Festwochen bei dem Improvisationsprojekt CrashLanding@Lisboa und an der Biennale in Berlin; 1999 organisierte er das Projekt E.X.T.E.N.S.I.O.N.S.; seit 1996 ist er Künstler am Podewil Berlin. Ethel Matala de Mazza, Dr. phil., Studium der Neueren deutschen Literatur, Philosophie, Linguistik und Kunstgeschichte in Bochum, Paris und München. Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Deutsche Philologie in München und Mitarbeiterin am Zentrum für Literaturforschung Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg 1999; Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Hg. mit Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 2002. 318

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Stephan May, Studium der Theater-, Film und Fernsehwissenschaft, Kunstgeschichte, Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zur Zeit Dissertationsprojekt zur Physis des Boxers im amerikanischen Spielfilm (im Rahmen des Graduiertenkollegs »Körper-Inszenierungen« der FU Berlin). Publikationen: Rainer Werner Fassbinders LILI MARLEEN und Gilles Deleuze’ Theorie der kinematographischen Zeit. Alfeld 2000. Michail Ryklin, Professor an der Abteilung für Postklassische Studien der Akademie der Wissenschaften in Moskau, Performer. Publikationen u. a.: Terrorologiki (Terrorologiken). Tartu 1992; Iskusstvo kak prepjatstvie (Kunst als Hindernis). Moskau 1997; Rama. Performancy (Rahmen. Performances). Moskau 1994; Prostranstva likovanija (Der Raum des Jubels). Moskau 2002; Dekonstruktion und Destruktion. Gespräche mit Philosophen. Moskau 2002; diverse Aufsätze in Schreibheft, Lettre International und New Literary History. Sylvia Sasse, Dr. phil., Studium der Slavistik und Germanistik in Konstanz, St. Petersburg, Moskau. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZFL Berlin, bis 2000 Postdoktorandin am Graduiertenkolleg »Körper-Inszenierungen« (FU Berlin), Mitbegründerin der Diskursiven Poliklinik. Publikationen zuletzt: Texte in Aktion. München 2001; Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung. Hg. mit Gertrud Koch und Ludger Schwarte, München 2002. Schamma Schahadat, PD Dr. phil., studierte Slavistik und Anglistik in Köln, Konstanz, Berkeley, Privatdozentin im Fachbereich Slavistik an der Uni Konstanz. Publikationen u. a.: Intertextualität und Epochenpoetik in den Dramen Aleksandr Bloks. Frankfurt a.M. 1995; Lebenskunst und Kunstleben (Hg.). München 1998; Interkulturalität. Zwischen Inszenierung und Archiv. Hg. mit Stefan Rieger und Manfred Weinberg, Tübingen 1999; Das Leben zur Kunst machen. München 2002 (im Erscheinen). Robert Schmidt, Dr. phil., Studium der Soziologie in Erlangen, New York und Berlin, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Populärkulturforschung, Sportsoziologie, Cultural Studies, Qualitative Methoden in der Soziologie. Publikationen: »Die Konvergenz von Pop- und Sportkultur«. In: Berliner Debatte. Initial, 6, 1999, 30-40; Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen. Konstanz 2002 (im Erscheinen). Christine de Smedt, Tänzerin und Choreographin. Zunächst Studium der Kriminologie in Leuven, währenddessen zahlreiche Tanzworkshops u. a. in Belgien, Zusammenarbeit mit David Hernandez und Meg Stuart; seit 319

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AUTORINNEN UND AUTOREN

1990 Mitglied von Les Ballets C. de la B.; seit 2000 arbeitet sie an ihrem Projekt 9x9; Mitarbeit am Projekt E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. im Podewil Berlin. Mårten Spångberg, Performer, Dramaturg, Kritiker. Studierte Musik-, Theater und Tanzwissenschaften sowie Ästhetik an der Universität Uppsala; Initiator und Koordinator der Panacea Festivals in Stockholm; seit 1998 Performances, zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen; Gastprofessor an der Universität Gießen für angewandte Theaterwissenschaften im Frühjahr 2000; Dramaturg von 9x9. Joseph Vogl, Prof. Dr. phil., Professor für Theorie und Geschichte künstlicher Welten an der Bauhaus-Universität Weimar. Publikationen u. a.: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München 1990; Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen (Hg.). Frankfurt a.M. 1994; Poetologien des Wissens um 1800 (Hg.). München 1999; Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002. Stefanie Wenner, Dr. phil., studierte Philosophie, Soziologie, Kunstgeschichte und Komparatistik in Köln und Berlin, Postdoktorandin am Graduiertenkolleg »Körper-Inszenierungen« an der FU Berlin, Mitbegründerin der Diskursiven Poliklinik. Publikationen u. a.: Referenzgemetzel. Geschlechterpolitik und Biomacht. Hg. mit Barbara Ossege und Dierk Spreen, Tübingen 1999; »Unversehrter Leib im Reich der Zwecke. Zur Genealogie des Cyborgs«. In: Anette Barkhaus u. Anne Fleig: Grenzverläufe. Der Körper als Schnittstelle. München 2002. Slavoj Zˇiˇzek, Forschungsprojektleiter am KWI Essen, Gastprofessuren u. a. an der University of Minnesota in Minneapolis, Tulane University in New Orleans, Cardozo Law School in New York, Columbia University in New York, New School for Social Research in New York und an der University of Michigan in Ann Arbor. Publikationen zuletzt: Liebe Deinen Nächsten? Nein, danke!. Berlin 1999; Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen. Berlin 2000; Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a.M. 2001; Die gnadenlose Liebe. Frankfurt a.M. 2001. Cornelia Zumbusch, M.A., Studium der Neueren Deutschen Literatur, Anglistik und Kunstgeschichte in Tübingen und Berlin (FU), derzeit Doktorandin am Graduiertenkolleg »Körper-Inszenierungen«. Sie arbeitet an einem Projekt zu »Bild und Symbol in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk«. Arbeitsgebiete: Ästhetik um 1800, Narrativität und Historismus, Kunst- und Literaturwissenschaft 19001930.

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transcript Kulturwissenschaften

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2001, 242 Seiten,

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Sibylle Niekisch Kolonisation und Konsum Kulturkonzepte in Ethnologie und Cultural Studies Juli 2002, 110 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-89942-101-9

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