Ästhetisierung des Sozialen: Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien [1. Aufl.] 9783839415917

Die »Ästhetisierung des Sozialen« gilt als zentrales Kennzeichen der Gesellschaften der Gegenwart und steht im Zusammenh

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Ästhetisierung des Sozialen: Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien [1. Aufl.]
 9783839415917

Table of contents :
Inhalt
Einführung: Ästhetisierung des Sozialen im Zeitalter visueller Medien
Ästhetisierung des Sozialen heute und in der ›Wiener Moderne‹ um 1900. Zur Auflösung und neuen Verfestigung sozialer Unterschiede
Vom Kopf auf die Füße. Die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis am Beispiel der Aktivitäten surrealistischer Dissidenten (Documents, Acéphale, Collège de Sociologie)
Sozialgeschichte des Werbeplakats
Ästhetisierung des Realen. Zur Konstruktion des Echten in der Werbung und anderen Bereichen der Medienkultur
Subversive Ästhetik? Videos der Schweizer Protestbewegung der 1980er-Jahre
Evidenzen schaffen. Ästhetisierung des Sozialen als eine Funktion niederländischer Genremalerei des Goldenen Zeitalters
Ästhetisierung des Sozialen im deutschen Vormärz. Carl Wilhelm Hübners sozialthematische Genremalerei
Die soziale Aneignung des Ästhetischen. Zur Denkmalkultur am Beispiel des Weimarer Doppelstandbilds
Graffiti versus abstrakte Malerei. Distinktionslogik und soziale Differenzierung im Kontext zeitgenössischer Porträts
»Germany’s Next Topmodel – by Heidi Klum« als Schule ästhetischen Auftretens. Unterhaltung und normative Strategie zur Durchsetzung eines Schönheitsideals
»Eine ganze Welt von Gefühlen, Ideen und Bildern«. Einige Überlegungen zur Ästhetisierung im religiösen Feld aus soziologischer Perspektive
Repräsentanz und Vermittlung von Design im Prozess ästhetischer Transformationen der Gesellschaft
Provokation und Reaktion. Medialisierung und Musealisierung der 68er-Gegenkultur
Autorinnen und Autoren

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Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.)

Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien

Gefördert vom Land Steiermark, der Universität Graz und der Leibniz Universität Hannover.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Chéret, Jules: »Saxoléine«. 1892. Plakat (Farblithografie, 122 x 84,5 cm) Lektorat & Satz: Suzanne K. Frankenfeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1591-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einführung: Ästhetisierung des Sozialen im Zeitalter visueller Medien

Lutz Hieber/Stephan Moebius | 7 Ästhetisierung des Sozialen heute und in der ›Wiener Moderne‹ um 1900 Zur Auflösung und neuen Verfestigung sozialer Unterschiede

Katharina Scherke | 15 Vom Kopf auf die Füße Die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis am Beispiel der Aktivitäten surrealistischer Dissidenten (Documents, Acéphale, Collège de Sociologie)

Stephan Moebius | 33 Sozialgeschichte des Werbeplakats

Lutz Hieber | 49 Ästhetisierung des Realen Zur Konstruktion des Echten in der Werbung und anderen Bereichen der Medienkultur

York Kautt | 87 Subversive Ästhetik? Videos der Schweizer Protestbewegung der 1980er-Jahre

Dominique Rudin | 115 Evidenzen schaffen Ästhetisierung des Sozialen als eine Funktion niederländischer Genremalerei des Goldenen Zeitalters

Dominik Fugger | 137 Ästhetisierung des Sozialen im deutschen Vormärz Carl Wilhelm Hübners sozialthematische Genremalerei

Lilian Landes | 153

Die soziale Aneignung des Ästhetischen Zur Denkmalkultur am Beispiel des Weimarer Doppelstandbilds

Maria Zens | 177 Graffiti versus abstrakte Malerei Distinktionslogik und soziale Differenzierung im Kontext zeitgenössischer Porträts

Andrea Glauser | 205 »Germany’s Next Topmodel – by Heidi Klum« als Schule ästhetischen Auftretens Unterhaltung und normative Strategie zur Durchsetzung eines Schönheitsideals

Bodo Lippl/Ulrike Wohler | 227 »Eine ganze Welt von Gefühlen, Ideen und Bildern« Einige Überlegungen zur Ästhetisierung im religiösen Feld aus soziologischer Perspektive

Sabine A. Haring | 261 Repräsentanz und Vermittlung von Design im Prozess ästhetischer Transformationen der Gesellschaft

Ralf Rummel-Suhrcke | 295 Provokation und Reaktion Medialisierung und Musealisierung der 68er-Gegenkultur

Andreas Urban | 315 Autorinnen und Autoren | 345

Einführung: Ästhetisierung des Sozialen im Zeitalter visueller Medien L UTZ H IEBER /S TEPHAN M OEBIUS

Wirft man einen Blick auf gegenwärtige Beschreibungen sozialer Prozesse, so finden sich eine Reihe von Zeitdiagnosen, die (meist auf die hochindustrialisierten Länder beschränkt) einen epochalen Wandel beschreiben, etwa mit Schlagworten wie »Wissensgesellschaft«, »WeltRisikogesellschaft«, »Multioptionsgesellschaft« oder »Erlebnisgesellschaft«. Auch das deutliche Zutagetreten einer »Ästhetisierung des Sozialen« wird als ein Kennzeichen gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse gedeutet und mit dem Aufkommen und der Verbreitung visueller Medien in Zusammenhang gebracht. Mit »Ästhetisierung« können jene dialektisch verschränkten Prozesse bezeichnet werden, die von der einen Seite Resultat gesellschaftlicher Prozesse sind und von der anderen Seite her gesellschaftliche Transformationsprozesse wiederum initiieren oder neu gestalten; also einerseits diejenigen sozialen Prozesse, die eine Ästhetisierung vorantreiben und forcieren, etwa das von Georg Simmel beschriebene, neue Wahrnehmungsreize forcierende Großstadtleben, die von Michel Maffesoli (2000) untersuchten, aus den Individualisierungsprozessen hervorgegangenen neotribalistisch-ästhetischen Erfahrungsgemeinschaften oder tiefgreifende Wandlungsprozesse des Kapitalismus, wie sie gegenwärtig unter dem Label des »neuen Geist des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello 2003) oder der »creative industrie« untersucht werden und die zu neuen ästhetischen Artefakten und Wahrnehmungsweisen in der Arbeitswelt führen. In diesem Sinne können Ästhetisierungsprozesse – angelehnt an den Pragmatismus John Deweys

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([1934] 1980) und dessen Konzept der ästhetischen Erfahrung – als bestimmte Artikulationen, Interpretationen oder Lösungsmöglichkeiten sozialer Probleme bzw. problematisch erachteter Situationen (beispielsweise Urbanisierung, Modernisierung, Beschleunigungsprozesse, soziale Konflikte etc.) betrachtet werden. Andererseits, von der Ebene der Subjekte und ihren Vorstellungen her gesehen, können darunter jene ästhetischen, die sinnliche Wahrnehmung verstärkenden Praktiken verstanden werden, die traditionelle Formen der Vergesellschaftung zunehmend außer Kraft setzen und somit Wirkungen auf den Verlauf sozialer Prozesse haben; sei es, dass sich die Lebensführung der gesellschaftlichen Akteure von einer zweckrationalen zu einer an unterschiedlichen alltagsästhetischen Stilen ausgerichteten Lebensweise gewandelt hat, dass sich die Akteure in ihren Alltagspraktiken immer mehr entlang ihrer Geschmacksurteile und Stilvorlieben differenzieren als gemäß ihrer sozialen Lage, dass sich die (eigene wie fremde) Bestimmung von Identität an ästhetischen Wahrnehmungen ausrichtet, sei es, dass der »neue Geist des Kapitalismus« ohne ästhetisch-kreative Praktiken nicht überlebensfähig ist, oder dass der Wandel zu postmateriellen Werten als ein spezifisches Zeichen einer Ästhetisierung des Sozialen wahrgenommen wird. Bei all diesen Transformationen sozialer Praktiken und gesellschaftlicher Tatbestände schwingt immer auch die These mit, dass sich durch die Erosion klassenspezifischer Notlagen die Handlungsspielräume einer Vielzahl von Individuen inzwischen in einer Weise erweitert oder zumindest so gewandelt haben, dass sie sich vermehrt der Kultivierung einer Ästhetik der Existenz widmen können, ja häufig sogar, um sozial überlebensfähig zu bleiben, widmen müssen (vgl. Honneth 2010), zum Beispiel bei der Kleidermode, beim Körperkult, bei den Stilen der Wohnungseinrichtungen, bei der Wahl von Bezugsgruppen etc. »Ästhetisierung« meint aus dieser Perspektive, dass zunehmend Lebensformen entstehen, »die durch Wahrnehmungen konturiert sind und auf Erweiterungen der Wahrnehmungsfähigkeit und -relevanz zielen« (Welsch 1991: 77). Kurzum: »Ästhetisierung« bezeichnet jene sinnliche Intensivierung oder Versinnlichung von Gegenständen, Personen, Wahrnehmungen, Erfahrungen und Praktiken (in einem weit gefassten, praxeologischen Sinn dieses Begriffs, vgl. Reckwitz 2008a, 2008b), die sowohl als Antwort auf gesellschaftliche Probleme als auch als kreativer Motor gesellschaftlicher Prozesse zu begreifen sind. »Ästhetische Praktiken wie ästhetische Subjektivierungen stellen sich in diesem Sinne als entscheidende

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Elemente innerhalb der agonalen Dynamik genuin moderner Kultur seit ihrer Entstehung heraus, und zwar als Elemente, die sich einerseits in bestimmten kulturrevolutionären Bewegungen verdichten (Romantik, Avantgarde, Counter Culture), welche darüber hinaus jedoch in bestimmten Phasen in spezifische soziale Felder (Ökonomie, Politik, Medien etc.) und Milieus eindringen und diese umstrukturieren« (Reckwitz 2008b: 263). Nach Katharina Scherke (2000: 111 ff.) kann man die Prozesse der Ästhetisierung analytisch in drei Dimensionen unterteilen: erstens als das »verstärkte Eindringen künstlerisch gestalteter Gegenstände (Mode, Design, Medien etc.) in den Lebensalltag« und – ergänzend – in die unterschiedlichen sozialen Felder (Religion, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft etc.), zweitens als die »Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten« und die Veränderung des Realitätsempfindens« sowie drittens als »Ästhetisierung des Denkens«, also die heuristische Verwendung ästhetisch-künstlerischer Kategorien im wissenschaftlichen Feld.1 In dem von uns intendierten Sinne ist »Ästhetisierung« demnach nicht ein auf den hochkulturellen Bereich des Schönen oder der Kunst reduzierter Wahrnehmungsprozess, sondern eine potenziell in jeder Situation, zu jeder Zeit und an jedem Ort, an jedem Objekt oder Person mögliche Intensivierung und Thematisierung von »Wahrnehmungen aller Art« (Welsch 1991: 9). »Ästhetisierung« geht demnach einher mit einer »grundlegenden Öffnung und Pluralisierung des Feldes der Ästhetik«, weg von Kunst hin zu Design, Mode, Natur, Körpertechniken, Medien etc. (vgl. Küpper/Menke 2003: 9). Das im Titel angesprochene »Zeitalter visueller Medien« kann dabei als eine metaphorische Beschreibung der Beobachtung dienen, dass bei den gesellschaftlichen Akteuren in früher unvorstellbarem Ausmaß die mediale Produktion und die Rezeption intensivierter sinnlicher Erfahrungen ins Zentrum der Lebenspraxis getreten ist – gleich-

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Wobei hier beispielsweise die Soziologie als ein interessantes Untersuchungsobjekt erscheint, da sich hier gut ein permanenter Wechsel zwischen »antitechnischen und antiästhetischen Haltungen« (Eßbach 2001) in der Theoriebildung einerseits, etwa bei Max Webers Rationalisierungstheorie, und einer soziologischen Ästhetik bei Simmel oder beim Collège de Sociologie (vgl. Moebius 2006) andererseits beobachten lässt– um nur wenige Beispiel zu nennen (vgl. auch Reckwitz 2008b).

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sam als ein Erbe der Bestrebungen der historischen Avantgardebewegungen (Dadaismus, Surrealismus, Bauhaus), die Kunst in Lebenspraxis aufzuheben (vgl. Hieber/Moebius 2009). Gemeint ist das Bestreben, mit Hilfe der Verbreitung neuartiger visueller Medien die sozialen Prozesse und Erfahrungen zu verändern und neu zu gestalten. Die durch die visuellen Medien forcierten ästhetischen Praktiken und Erfahrungen, etwa Schwellenerfahrungen oder ›Chockwirkungen‹, wie sie Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« anhand des Dadaismus, des Films und des Großstadtverkehrs scharf analysiert hat (Benjamin [1936] 1980: 503), betreffen dabei alle Bereiche, von der unmittelbaren Lebenswelt über die Ökonomie und Wissenschaft bis hin zur Existenzweise und Selbstdefinition religiöser Gruppierungen, die alle nicht ohne Praktiken der visuellen Medien und der Ästhetisierung zu denken sind. Schließlich wird die Rolle der visuellen Medien auch im Bereich der Politik immer wichtiger, angefangen von designten Parteiwerbebroschüren und -plakaten, die gemäß den Prinzipien avancierter Werbeästhetik gestaltet sind, über Protestplakate, bis hin zu Praktiken der medialen Ästhetisierung und Stilisierung von Politikern und Parteitagen (vgl. Flaig et al. 1997; grundlegend zur Ästhetik der Politik: Rancière 2005, 2006). Heute betrifft die Ausdehnung visueller Medien und die Ästhetisierung demnach viele, wenn nicht sogar alle Bereiche der Gesellschaft. Der Medientheoretiker Jean Baudrillard spricht gar von einer Verabschiedung der Realität und von der Bildung einer »Hyperrealität« durch die neuen Medien (Baudrillard [1976] 1991: 79 ff.), deren unendliche Variationen von Zeichencodes »realer wirken als das Reale« (Schetsche/Vähling 2010: 73). Seit den historischen Anfängen ist jede visuelle Ästhetisierung des Sozialen ebenso mit der Entwicklung der Bildmedien wie mit dem Wandel der sozialen Organisation der Bilder- und Designwelten amalgamiert. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts setzte dieser Prozess mit jenen Bildertypen ein, die für breite Bevölkerungskreise zugänglich waren. Dazu zählten zum einen die Bildprogramme der Altäre der Kirchen, und zum anderen die Revolutionierung der Bilderproduktion durch die druckgrafischen Techniken, vor allem des Kupferstichs. Retabel und Predellen der Altäre wurden in Werkstätten hergestellt, die oft eine Vielzahl an Mitarbeitern beschäftigten. Die in der Hochrenaissance »einsetzende, nahezu explosionsartige Vermehrung der Stiche«

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(Höper 2001: 56), deren Pionier Raffael war, ging einher mit der Einführung einer manufakturartigen Produktionsweise. In dieser Werkstatt lieferte Raffael die Zeichnungen, die auf Kupfer übertragen wurden. »Zur perfekten Organisation der Werkstatt, in der wohl mindestens acht bis zehn Kupferstecher tätig waren, gehörte eine Art ›Supervisor‹, der den Druck beaufsichtigte und gewissermaßen die Funktion des Verlegers übernahm.« (Höper 2007: 64) Im 19. Jahrhundert folgten dann neue Weichenstellungen. Die Industrialisierung des Druckens eröffnete eine Steigerung der Produktion (Wolf 1992: 434 ff.). In gewisser zeitlicher Parallelität kam ein Ausstellungswesen auf, das künstlerische Werke für ein zahlungswilliges Publikum präsentierte (Drechsler 1996: 88 ff.); später erweiterte sich das Spektrum auf beachtenswerte Gegenstände aus anderen Bereichen (Kunstgewerbe, Geschichte etc.). Im nachfolgenden Jahrhundert erweiterte sich das Spektrum durch Film und elektronische Medien, die umgehend für die Ästhetisierung des Sozialen in Dienst genommen wurden. Unterschiedliche Typen des Filmischen sprachen und sprechen die adressierten sozialen Milieus an, wobei von Anfang an die schockartigen Schnitte dem Triumph des Kamerawillens gegenüberstehen (Schnell 2000: 51 ff.). Film und Dokumentarvideo zählen bis in unsere Gegenwart zu den Mitteln der Artikulation sozialer Sachverhalte. Die Zwecke unterschiedlicher politischer Akteure, die Warenwerbung, oder die Gestaltung von Räumen waren schon immer mit dem jeweils gegebenen Entwicklungsstand der visuellen Medien verflochten. Formen der Inszenierung von Selbstdarstellung oder die Durchführung von Ausstellungen beleuchten die Aussagkraft nonverbaler Kommunikationsformen. In diesem Sinne widmet sich der vorliegende Band unterschiedlichen Gattungen der medialen Ästhetisierung des Sozialen. Bei der Ausdehnung visueller Medien und der Ästhetisierung des Sozialen handelt es sich keinesfalls um Erscheinungen, die – gleichsam als Wiederverzauberungen der rationalistisch durchorganisierten Welt – erst durch das Aufkommen der elektronischen Medien und der modernen Reklametechniken ermöglicht wurden, also jüngeren Datums sind. All die gegenwärtigen Formen der medialen Ästhetisierung haben vielmehr eine lange Geschichte. Insofern wenden wir uns gegen jene modischen Auffassungen, die eine Ästhetisierung des Sozialen wesentlich als eine Entwicklung betrachten, die für unsere Epoche charakteristisch ist. So kennzeichnen

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beispielsweise Korte und Fröhlich unser politisches System als »Mediendemokratie«, denn »Regierungshandeln« sei »durch die Allgegenwart der Medien zunehmend kommunikationsabhängiger geworden«, und damit sei ein neuer Trend gesetzt: »Die Legitimationsbasis der Politik verlagert sich zunehmend vom Parlament ins Fernsehen« (Korte/Fröhlich 2006: 20, 98). Und Naomi Klein, unerbittliche Kritikerin der Werbung, beklagt in ähnlicher Stoßrichtung: »Angesichts der Reizüberflutung durch Medien und Werbung verschwinden die sinnvollen Möglichkeiten, unsere Freiheit auszudrücken, immer schneller« (Klein 2002: 194). Gegenüber derartigen zeitdiagnostischen Sichtweisen, die Erfahrungen unserer Epoche als geschichtliches Novum herausheben, zeigen Beiträge unseres Bandes die Beschränktheit solcher Betrachtungen. Durch das Thematisieren historischer Perspektiven zeigen sie, dass sich Prozesse und Bestrebungen einer medialen Ästhetisierung des Sozialen nicht nur in der Gegenwart ausmachen lassen. Sondern das Zusammenwirken visueller Medien und sozialer Prozesse gab es auch in früheren Epochen – man denke etwa an Bedeutung von Bildern in politischen und religiösen Auseinandersetzungen oder an die Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne richtet sich der Band zum einen explizit an einer historischen Kultursoziologie medial-ästhetischer Praktiken aus. Allerdings vernachlässigt er zum anderen die Tatsache nicht, dass die technisch-industriellen Fortschritte eine Proliferation der Medien in immer weitere Bereiche der gesellschaftlichen Beziehungen erlauben. Die Pflanze, deren Wachstum in früheren Jahrhunderten einsetzte, hat sich zu reicher Fülle und bunter Blütenpracht entwickelt. Deshalb werden auch jene Dimensionen einer Ästhetisierung des Sozialen angesprochen, die durch die jüngsten Medienentwicklungen erst eröffnet worden sind, die also das Feld der visuell vermittelten Kommunikation auf innovative Art bestellen. Die vorliegenden Untersuchungen behandeln das komplexe Zusammenspiel von Bild und Design mit Diskursen, visueller Wissensproduktion, Institutionen und materiellen Artefakten und dem kulturellen Kampf um Bedeutungen. Insofern bereichern sie den aktuell erreichten Forschungsstand sowohl der Visual Studies als auch der Cultural Studies (Moebius 2009: 186-196).

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L ITERATUR Baurillard, Jean ([1976] 1991): Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes & Seitz. Benjamin, Walter ([1936] 1980): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band I, Werkausgabe Band 2, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 471-508. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Drechsler, Maximiliane (1996): Zwischen Kunst und Kommerz – Zur Geschichte des Ausstellungswesens, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag. Dewey, John ([1934] 1980): Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Eßbach, Wolfgang (2001): »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«, in: Andreas Lösch (Hg.): Technologien als Diskurse – Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg: Synchron, S. 123-136. Flaig, Bertold Bodo et al. (Hg.) (1997): Alltagsästhetik und politische Kultur – Zur ästhetischen Dimension politischer Bildung und politischer Kommunikation, Bonn: Dietz. Hieber, Lutz/Moebius, Stephan (Hg.) (2009): Avantgarden und Politik. Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne, Bielefeld: transcript. Honneth, Axel (2010): »Organisierte Selbstverwirklichung – Paradoxien der Individualisierung«, in: Ders.: Das Ich im Wir – Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 202221. Höper, Corinna (2001): »›Mein lieber Freund und Kupferstecher‹: Raffael in der Druckgrafik des 16. Bis 19. Jahrhunderts«, in: Dies. (Hg.): Raffael und die Folgen, Stuttgart: Hatje Cantz: Ostfildern Ruit, S. 51-119. Höper, Corinna (2007): »Die Erfindung der Bilderflut: Raffael und seine Kupferstecherwerkstatt«, in: Lutz Hieber/Dominik Schrage (Hg.): Technische Reproduzierbarkeit – Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung. Bielefeld: transcript. S. 57-87. Klein, Naomi (2002): No Logo! München: Riemann.

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Korte, Karl-Rudolf/Fröhlich, Manuel (2006): Politik und Regieren in Deutschland, Paderborn: Schöningh [UTB]. Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hg.) (2003): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Maffesoli, Michel (2000): Le temps des tribus – Le déclin de l’individuamisme dans les sociétés postmodernes, Paris: La Table Ronde. Moebius, Stephan (2006): Die Zauberlehrlinge – Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz: UVK. Moebius, Stephan (2009): Kultur, Bielefeld: transcript. Rancière, Jacques (2005): Politik der Bilder, Berlin/Zürich: Diaphanes. Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: polypen. Reckwitz, Andreas (2008a): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, in: Ders.: Unscharfe Grenzen – Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: transcript, S. 97-130. Reckwitz, Andreas (2008b): »Elemente einer Soziologie des Ästhetischen«, in: Ders.: Unscharfe Grenzen – Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: transcript, S. 259-280. Scherke, Katharina (2000): »Die These von der Ästhetisierung der Lebenswelt als eine Form der Analyse des Modernisierungsprozesses«, in: Sabine Haring/Katahrina Scherke (Hg.): Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und um 2000, Wien: Passagen, S. 109-131. Schetsche/Vähling (2010): »Jean Baudrillard: Wider die soziologische Ordnung«, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, 2. erw., aktualisierte und überarbeitete Auflage, Wiesbaden: VS, S. 70-80. Schnell, Ralf (2000): Medienästhetik – Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler. Welsch, Wolfgang (1991): Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam. Wolf, Hans-Jürgen (1992): Geschichte der Druckverfahren, Elchingen: Historia.

Ästhetisierung des Sozialen heute und in der ›Wiener Moderne‹ um 1900 Zur Auflösung und neuen Verfestigung sozialer Unterschiede K ATHARINA S CHERKE

Das rasche Bevölkerungswachstum und die multikulturelle Zusammensetzung der Großstädte führten in Zentraleuropa (vgl. zum Begriff Stachel 2000: 19) um 1900 zu einer Konfrontation unterschiedlicher Lebenswelten. Meine zentrale These ist, dass die Wirklichkeit in einem solchen Klima zunehmend als etwas Fragiles, Wandelbares, Standpunktabhängiges erscheinen konnte, wobei sich die Summe der damit in Zusammenhang stehenden Erscheinungsformen als Ästhetisierung des Sozialen beschreiben lässt. Eine derartige Ästhetisierung, d.h. das veränderte Wirklichkeitsempfinden und die Auseinandersetzung damit, ist geeignet, neue Wege im Bereich der Kunst und Wissenschaft anzuregen, was paradigmatisch ebenfalls anhand der Wiener Jahrhundertwende beschrieben werden kann. Das kreative Potential dieser Region und Zeit wurde vielfach betont, etwa von Carl Schorske oder Jacques Le Rider (vgl. Schorske 1982; Le Rider 1990). Die Kehrseite der Medaille ist freilich, dass dasselbe Milieu auch eine Radikalisierung der Weltanschauungen bewirken kann, was ebenfalls an Wien und dem zentraleuropäischen Raum um 1900 gezeigt werden kann (vgl. Haring 2000). Die Fremdheitserfahrungen in einem sich rasch modernisierenden, multikulturellen Milieu können nicht nur kreative Impulse geben, sondern auch die Suche nach neuen Orientierungen und Eindeutigkeiten im Sinne Zygmunt Baumans (1992) bewirken, die

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sodann vehement verteidigt werden, um dem Entfremdungsgefühl zu entrinnen. Zunächst soll der in diesem Beitrag verwendete Begriff ›Ästhetisierung des Sozialen‹ und die damit im Zusammenhang stehenden Phänomene einer Auflösung, aber auch Verfestigung sozialer Unterschiede näher umrissen werden. Beispiele aus der zentraleuropäischen Moderne um 1900 und aus der heutigen Medienlandschaft dienen der Veranschaulichung dieser Erscheinungen. Mein Beitrag schließt mit der These, dass neben anderen Faktoren auch die Ästhetisierungserscheinungen um 1900 als Argument angeführt werden können, wenn es gilt, Zentraleuropa um 1900 als eine Art Vorgriff auf gegenwärtig global zu beobachtende Entwicklungen zu verstehen. Der Vergleich zwischen 1900 und der Gegenwart erleichtert nicht nur das Verständnis der Ästhetisierungserscheinungen, sondern erlaubt auch einen speziellen Blickwinkel auf die Moderne-Postmoderne-Debatte. Unter Ästhetisierung soll im Folgenden in Anlehnung an Irmela Schneider »ein Verhältnis zur Wirklichkeit […], das nicht von (ontologischen) Gewissheiten ausgeht, sondern an modellierbaren, veränderbaren, virtuellen Gegebenheiten ausgerichtet ist« (Schneider 1998: 169) verstanden werden. Der Ästhetikbegriff wird also nicht im Sinne einer ›Theorie des Schönen und der Kunst‹ verwendet, sondern – aufbauend auf der ursprünglichen Konzeption der Ästhetik im Sinne von aisthesis – als umfassende Theorie der Wahrnehmung (zur allgemeinen Entwicklung des Ästhetikbegriffs vgl. Hauskeller 1995; Welsch 1993: 24-29.). Formale Wertungen im Sinne von ›ästhetisch schön‹ oder ›künstlerisch anspruchsvoll‹ werden im Rahmen von derartigen Ästhetisierungskonzepten ausgeklammert. Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit (neuen) Wahrnehmungsmöglichkeiten und ihre Verarbeitung durch Individuen; wobei der künstlerischen Verarbeitung mitunter besondere Aufmerksamkeit zukommt. Derartige Ästhetisierungsprozesse werden gern als ein besonderes Kennzeichen der Moderne bzw. eine Begleiterscheinung von Modernisierungsprozessen aufgefasst (vgl. Scherke 2000: 110; Scherke/Bolterauer 2004: 359360). Im Hinblick auf den zweiten Teil des Begriffes ›Ästhetisierung des Sozialen‹ soll hier festgehalten werden, dass ›Soziales‹ einerseits sehr weit gefasst werden und sich somit auf die allgemeine Lebenswelt beziehen kann. Wobei hier weniger die ursprüngliche phänomenologische bzw. erkenntnistheoretische Bedeutung des Lebensweltbegriffs

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bei Edmund Husserl bzw. später bei Alfred Schütz im Vordergrund steht (vgl. Welter 1986: 159 f.), sondern der Bereich der Alltagspraxis von Akteuren, der einer Analyse durch die Soziologie zugeführt werden kann. ›Soziales‹ kann jedoch andererseits auch enger gefasst werden, im Sinne einer Bezugnahme auf die im Alltag vorhandenen bzw. als solche konstruierten sozialen Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen. Ich möchte zunächst ›Soziales‹ in der Bedeutung von Lebenswelt im Zusammenhang mit Ästhetisierungsprozessen erörtern, bevor auf die spezifischere Bedeutung im Sinne sozialer Unterschiede eingegangen wird. Es lassen sich drei begriffliche Ebenen in den verschiedenen Konzepten einer Ästhetisierung der Lebenswelt unterscheiden: A – Ästhetisierung verstanden als das verstärkte Eindringen künstlerisch gestalteter Gegenstände in den Lebensalltag der Menschen. B – Ästhetisierung verstanden als Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten. C – Ästhetisierung des Denkens (vgl. hierzu auch Scherke 2000: 111113). A – Ästhetisierung verstanden als das verstärkte Eindringen künstlerisch gestalteter Gegenstände in den Lebensalltag der Menschen: Der Lebensalltag wird zunehmend von Gegenständen überschwemmt, die eine ästhetische Betrachtungsweise direkt herausfordern. Die ästhetische Wahrnehmung (das heißt vor allem die Wahrnehmung eines Gegenstandes lediglich um seiner selbst willen und losgelöst von praktischen Zwecken) wird in der Folge vom Bereich der Kunst im engeren Sinne auf prinzipiell alle Gegenstände hin ausgeweitet. Diese Form der Ästhetisierung der Lebenswelt wird von verschiedenen Autoren als Kennzeichen der Moderne betrachtet. Wolfgang Welsch spricht in diesem Zusammenhang von Oberflächenästhetisierung. Unter Hinweis auf Johan Huizingas Ausführungen zur konstitutiven Funktion des Spieles für jedwede Kultur (vgl. Huizinga 1987: 184 f.), könnte man allerdings die künstlerische Ausgestaltung des Alltags auf den Spieltrieb des Menschen zurückführen, weshalb die Ästhetisierung der Lebenswelt kein ausschließlich auf die Moderne bezogenes Phänomen mehr darstellen würde, sondern sich prinzipiell zu allen Zeiten finden ließe. Für die Zeit der Moderne könnte man, unter Berücksichtigung dieser These, lediglich von einer Verstärkung des Phänomens sprechen. B – Ästhetisierung verstanden als Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten, die zunächst nicht vorrangig mit dem Bereich

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der Künste in Verbindung gebracht wird: Die erweiterten Wahrnehmungsmöglichkeiten können u.a. auf die Veränderungen der Lebenswelt im Zuge der Modernisierung zurückgeführt werden. Technische Errungenschaften wie die Eisenbahn, das Telefon, das Fernsehgerät und so weiter bewirken eine Vielzahl neuer Eindrücke. Die Fähigkeit, in kürzester Zeit von einem Ort zum anderen zu gelangen, die Erfahrung der Teilhabe an Ereignissen fern vom eigenen Standpunkt (zum Beispiel via Fernsehübertragung), die Möglichkeit, das eigene Aussehen mit technischen Hilfsmitteln (fast) beliebig zu verändern, und ähnliche Phänomene tragen zu einem Bewusstsein der Formbarkeit der eigenen Realität bei. In diesem Prozess wird zunehmend auch die soziale Identität des einzelnen als modellierbar erlebt. Die Künste haben diese lebensweltlichen Veränderungen verarbeitet und sich außerdem neuer Produktionstechniken (Fotografie, Film, Video) bemächtigt, durch die sie die Chance erhalten haben, auf den Alltag von immer mehr Menschen einzuwirken. Im Rahmen dieser Entwicklung entstehen neue künstlerische Ausdrucksformen (zum Beispiel Impressionismus, Op Art), die wiederum die Auseinandersetzung der Betrachter/Zuhörer mit ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten und ihrem Realitätsempfinden fördern. Die Produktion und Rezeption sinnlicher Erfahrungen und die Auseinandersetzung damit steht also im Vordergrund dieser Überlegungen. Sinnliche Erfahrung kann sich dabei sowohl auf Visuelles als auch Akustisches oder Taktiles beziehen. C – Ästhetisierung des Denkens: Diese dritte Ebene im Rahmen der Ästhetisierungskonzepte bezieht sich auf den Versuch, die Kunst als Erkenntnismedium zu verwenden beziehungsweise das Denken selbst zu ästhetisieren. Dieser Ansatz findet sich, ins Extreme gesteigert, vor allem bei Wolfgang Welsch (vgl. Welsch 1995: 57; vgl. auch Scherke 2000: 115-116), allerdings lässt sich auch früher schon eine zumindest heuristische Verwendung ästhetisch-künstlerischer Kategorien feststellen, ohne dass hier näher auf die Geschichte dieser Haltung eingegangen werden kann. Frühe Wurzeln einer Verwendung der Kunst als Erkenntnismedium lassen sich bereits in der Romantik finden – etwa bei Wilhelm Heinrich Wackenroder oder Arthur Schopenhauer, die mit Hilfe der Kunst etwa die Gotteserkenntnis gefördert sahen (man denke an Wackenroders ›Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‹ [hg. von Ludwig Tieck, 1797]), oder wie Schopenhauer das Wesen der Kunst darin sahen, dem Menschen die

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zeitweilige Loslösung vom Willen und damit die Erkenntnis der Ideen zu ermöglichen (etwa in ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ [1818]). Welsch sieht ästhetisches Denken schließlich als eine Möglichkeit, der Wahrnehmungsflut der Moderne und der von ihr bewirkten Anästhetisierung zu begegnen und somit das Bewusstsein auch für Nichtsinnlich-Wahrnehmbares zu schärfen (vgl. Welsch 1995: 63-65). Im Zusammenhang mit einer Ästhetisierung des Sozialen spielen vor allem die veränderte Wahrnehmung (Variante B) und die dadurch möglicherweise generierten neuen Erkenntnisleistungen (Variante C) eine wichtige Rolle. Das Bewusstwerden der Diversität der Lebensverhältnisse lädt zu einem ästhetisierenden Umgang mit ihnen ein. Wobei diese Erfahrung sozialer Vielfalt entweder durch direkte alltägliche Kontakte mit unterschiedlichen Milieus zustande kommen oder auch medial vermittelt sein kann. Die Folgen dieser Schärfung der Wahrnehmung für soziale Unterschiede (wobei hier nicht nur sozialstrukturelle Unterschiede gemeint sind, sondern die gesamte unterschiedliche Lebensweise verschiedener sozialer Milieus) können einerseits darin liegen, dass es zu einer bewussten Ausgestaltung, einem kreativen Spiel, mit den sozialen Unterschieden kommt – durchaus im Sinne einer Oberflächenästhetisierung (Variante A) –, wobei die Unterschiede tendenziell eine Verwischung und Auflösung erfahren. Andererseits kann auch ein bewusstes Akzentuieren des ›Eigenen‹ in Abgrenzung zum ›Fremden‹ eine mögliche Reaktion auf die Erfahrung von Diversität sein. Beispiele aus dem Bereich der Mode können beide Konsequenzen illustrieren. Die Geschichte des Dirndls ist etwa aufschlussreich im Hinblick auf durch regionale/nationale Identitätssuche bewirkte kreative Übernahmen dieses Kleidungsstückes in bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts. Das Kleidungsstück durchlief dabei eine Reihe von stilistischen Abwandlungen und trug somit bei seiner Verbreitung in nicht-bäuerlichen Schichten tendenziell zur Verwischung von sozialen Unterschieden bei (zur Geschichte des Dirndl: Tostmann 1998). Heutige Beispiele für soziale Gruppierungen übergreifende kulturelle Transferprozesse sind etwa die Orientierung der Haute Couture an subkulturellen oder exotischen Kleidungsstilen (etwa bei JulesFrancois Crahay oder Emanuel Ungaro, vgl. Seidler 1990: 37, 90-93, 98-103) oder ganz einfach die Karriere der Jeans von der ehemaligen Arbeitskleidung hin zur allgemein verbreiteten und akzeptierten Freizeit- und Berufskleidung. Die Beispiele zeigen, wie Unterschiede zwi-

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schen den Kleidungsstilen sozialer Milieus oder Schichten durch kreative Übernahmen tendenziell verwischt werden und eine Hybridisierung kultureller Phänomene um sich greifen kann, jedoch auch, wie neue ›feine Unterschiede‹ durch die Bekleidungspraxis forciert werden können (zum Phänomen des Kulturtransfers: Celestini/Mitterbauer 2003: 11-17). 1895 hatte sich Georg Simmel bereits mit der Mode unter dem Aspekt der Gruppenabgrenzung beschäftigt, und damit zahlreiche Überlegungen Bourdieus zur sozialen Distinktion vorweggenommen. Mode ist Simmel zufolge immer auch ein Phänomen »klassenmäßiger Scheidung. Gerade wie die Ehre ursprünglich Standesehre ist, das heißt ihren Charakter und vor allem ihre sittlichen Rechte daraus zieht, dass der Einzelne in seiner Ehre zugleich die seines sozialen Kreises, seines Standes repräsentiert und wahrt: so bedeutet die Mode einerseits den Anschluss an die Gleichgestellten, andererseits den Abschluss dieser als einer ganzen Gruppe gegen die Tieferstehenden.« (Simmel 1895: 58f.) Die Imitation der Höhergestellten durch die Rangniedrigeren sorgt für Dynamik im Modebereich in der Art, dass die Höhergestellten stets nach neuen Formen der Differenzierung Ausschau halten müssen, um ihre soziale Position angesichts des Angleichungsprozesses der Kleidungsstile zwischen den Schichten neuerlich herausstreichen zu können. Das Streben nach sozialer Unterscheidung erscheint solcherart als stets neu zu lösende Aufgabe für die (oberen) Schichten. Bourdieu hat mit seiner Beschreibung der kulturellen Praxen unterschiedlicher sozialer Gruppen eine ähnliche Problemlage für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgezeigt. Die ›Aufsteigenden‹ versuchen dabei Aspekte des Lebensstils der Ranghöheren zu übernehmen, jedoch gelingt ihnen dies u.a. mangels entsprechendem kulturellen Kapitals nicht ohne Reibungsverluste und im Sinne eines Spiels mit ›feinen Unterschieden‹ bleibt die soziale Abgrenzung zwischen den Gruppen bestehen. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der anderen trägt auch zur Konstitutionen eines bestimmten Selbstbildes bei, indem eine Abgrenzung der eigenen Identität von jener der anderer sozialen Gruppierungen forciert wird (vgl. Bourdieu 1999: 387-399; 561-572; vgl. auch Scherke 2003: 108-111). Gerhard Schulzes Befunde zur heutigen Erlebnisgesellschaft wären hier ebenfalls zu nennen: die klare Hierarchie der Klassenlagen wird durch die von ihm konstatierten Erlebnismilieus zwar aufgelöst, nichtsdestotrotz nimmt die horizontale Differenzierung zwischen verschiedenen sozia-

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len Milieus durch die Kultivierung unterschiedlicher Erlebnispraxen zu (vgl. Schulze 2000: 594-608). Die Erfahrung der vermeintlichen Auflösung von sozialen Unterschieden kann dazu beitragen, dass Unterschiede neu betont werden. Es hat den Anschein, dass das Aushalten der Ambivalenz der Postmoderne im Baumanschen Sinne nicht allen in gleicher Weise möglich und angenehm ist (vgl. Bauman 1992: 122131). Die Erfahrung von Ambivalenz, paradigmatisch in der Moderne anhand der Figur des ›Fremden‹ beschreibbar, wird gemäß Bauman in der Postmoderne zu einem universalen Phänomen und büßt damit ihre Schärfe ein. »Fremdheit ist nicht mehr ein Einblick in die andere Seite der Existenz, eine Herausforderung für das Hier und Jetzt, ein günstiger Standpunkt für Utopien. Sie selbst hat sich in eine Alltäglichkeit verwandelt.« (Bauman 1992, 123) Die stattfindende Akzentuierung von Unterschieden, etwa im Bereich der Mode, deutet jedoch darauf hin, dass das moderne Streben nach eindeutigen Unterschieden, d.h. einer Überwindung der Ambivalenz, nach wie vor ein zentraler Bestandteil alltäglicher Lebenswelten ist. Die Schärfung der Wahrnehmung für andere soziale Milieus wird heute vor allem medial verstärkt; Reality-Soaps wie jene auf RTL ausgestrahlten (»Frauentausch«, »Raus aus den Schulden«, »Bauer sucht Frau« usw.) verdanken ihren Erfolg u.a. auch dem voyeuristischen Interesse an anderen sozialen Schichten (entsprechende Einträge in Internet-Diskussionsforen können als ein Beleg für die diesbezügliche Wahrnehmung der Serien angeführt werden, mitunter spielen die Produktionsfirmen in den Darstellungen der Serien auch selbst auf diese Interessen an). Der medial gelieferte (scheinbare) Einblick in die alltäglichen Lebensverhältnisse anderer schärft das Bewusstsein für soziale Differenzen und eigene Standards, etwa die Haushaltsführung oder Geschlechtsrollenstereotype betreffend, können hierdurch eine Infragestellung erfahren bzw. als Resultat der eigenen Sozialisationsbedingungen ins Bewusstsein treten. Die Variabilität sozialer Lebenswelten wird via TV-Konsum erfahrbar. Der tatsächliche ›Realitätsgehalt‹ der Doku-Soaps spielt hierbei keine Rolle, denn es ist bereits der Anschein der Darstellung realer Lebensverhältnisse, der das Interesse weckt und entsprechende Reaktionen auslöst. »Heutzutage können die Studenten zum Glück einfach morgens um 9h RTL II anstellen und schon haben sie jeden Tag die erste Lektion für ihr SoziologieStudium. Hemmungslos werden die Milieus durcheinander geschwurbelt:

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Reich trifft auf arm, spießig auf offen, tierfreundlich auf tierphob, kinderreich auf kinderlos, Ordnungspedanten auf Chaoten, Alkis auf Abstinente, Veganer auf Metzgermeister etc., – dem ›All mixed up‹ sind keine Grenzen gesetzt.«1 »Hat einen gewissen Trash-Faktor und der Wohlfühlfaktor steigt, weil man mit dem Zeigefinger auf die Familien deuten kann und sich denkt das bei einem selbst ja alles besser ist.«2 »So ist ›Bauer sucht Frau‹ in Wirklichkeit gar kein Unterschichtenfernsehen, jedenfalls nicht nur. Schließlich ist es nicht nur die Unterschicht, die montagsabends einschaltet. Die Sendung ist auch eine Art Feel-Good-Fernsehen für alle die, die sich vergewissern wollen, dass sie selbst viel stilsicherer, souveräner und gebildeter sind als die vermeintliche Zielgruppe – und es deshalb gar nicht nötig hätten zuzugucken. Eigentlich.«3

Die Konfrontation mit fremden sozialen Milieus trägt also nicht unbedingt zu einer Relativierung sozialer Unterschiede bei, sondern zu deren Akzentuierung. Gleichzeitig dokumentieren die Zitate aber auch eine Haltung, für die die Pluralität von Lebensstilen selbstverständlich ist, auch wenn dies nicht automatisch in eine Akzeptanz fremder Lebensstile einmündet. Um 1900 war es nicht die mediale Vermittlung fremder Milieus, die die Wahrnehmung für soziale Vielfalt schärfte und entsprechende Reaktionen auslöste, sondern Erfahrungen der alltäglichen Lebenswelt. Die Diversität der Lebensverhältnisse, wie sie in Zentraleuropa um 1900, insbesondere in den urbanen Zentren, erfahrbar war, förderte die Reflexion dieser Situation und kann dabei beide Konsequenzen zur Folge haben: die Verwischung sozialer Unterschiede oder deren stärkere Akzentuierung. Und ein Drittes ist nicht zu vergessen: die wissenschaftliche Reflexion derartiger Wirkungen. Was waren die ›Seinsfaktoren‹, die im historischen Kontext der Wiener Jahrhundertwende wirksam waren? Zu erwähnen wären das multi-ethnische Bevölkerungsgemisch der Donaumonarchie und die daraus resultierenden Nationalitätenkonflikte, der beginnende Zerfall

1

http://www.moviepilot.de/serie/frauentausch (8.12.2010).

2

http://www.moviepilot.de/serie/frauentausch (8.12.2010).

3

http://www.welt.de/fernsehen/article11298963/Bei-Bauer-sucht-Frau-istder-Strip-Poker-ganz-mau.html (8.12.2010).

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der Monarchie nach den Gebietsverlusten in Italien (1859/1966) und dem ›Ausgleich‹ mit Ungarn (1867). Das politische Klima um die Jahrhundertwende wurde außerdem maßgeblich von der einsetzenden Demokratisierung (1907 erstmalige Durchführung allgemeiner Wahlen) und dem Aufkommen von Massenparteien, sowie einer Radikalisierung der politischen Weltanschauungen geprägt (vgl. Csáky et al. 2004: 17-27). Es lässt sich eine Häufung bestimmter gesellschaftlicher Problemlagen im zentraleuropäischen Raum um die Jahrhundertwende feststellen, die erst verspätet in anderen Regionen auftraten. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die Wiener Moderne gerne auch als eine Art ›Laboratorium‹ oder ›Experimentierfeld‹, auf dem Gegenwartsprobleme in einer frühen Ausprägung beobachtet werden können, bezeichnet (vgl. Acham 1996: 42). Die Stadtentwicklung in Zentraleuropa und die damit verbundene Veränderung der Lebensweise, einschließlich ihrer Auswirkungen auf die menschliche Wahrnehmung und das Wirklichkeitsempfinden (Ästhetisierung der Variante B), waren eine wesentliche Bedingung für das kreative Milieu der Jahrhundertwende in dieser Region. Die Auswirkungen des städtischen Milieus wurden bereits um 1900 von verschiedenen Autoren erkannt und auch theoretisch gefasst. Georg Simmel und Arnold Hauser haben sich beide – ausgehend von einem jeweils sehr verschiedenen theoretischen Hintergrund (beim einen die verstehende Soziologie, beim anderen die materialistische Geschichtsauffassung) – mit den sozialpsychologischen und ästhetischen Auswirkungen des städtischen Lebens beschäftigt. Die von beiden beschriebenen Konsequenzen des großstädtischen Lebens konnten in allen europäischen Großstädten der Jahrhundertwende festgestellt werden, sie erfuhren in Zentraleuropa aber eine besondere Verschärfung, die sowohl Simmel als auch Hauser in Wien beziehungsweise Budapest beobachten und in ihre Überlegungen einfließen lassen konnten. Simmel hat sich im Rahmen von Vortragsveranstaltungen immer wieder in Wien aufgehalten, zum Beispiel 1896, als er die Grundthesen seiner später erschienenen Philosophie des Geldes in Wien vorstellte (vgl. Frisby 2000: 191 ff); Hauser hat selbst längere Zeit in Budapest und Wien gelebt (vgl. Scherke 1997: 575-577; Scherke 2008). Neben den ganz allgemein durch das Leben in der Stadt bewirkten neuen Wahrnehmungen, führt insbesondere das unmittelbare Erleben anderer Identitäten und der damit verbundenen Lebensentwürfe zu einem Bewusstsein der Wandelbarkeit und letztendlich Konstruiertheit

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von Identität. In den Großstädten Zentraleuropas nahm dieses Phänomen eine besondere Ausprägung an. Das Städtewachstum wurde hier begleitet von einer zunehmenden ethnisch-sprachlichen Heterogenität der Bevölkerung. Wien und Budapest hatten sich im 19. Jahrhundert zu Anzugspunkten für Menschen aus allen Gebieten der Monarchie entwickelt, was dazu führte, dass im alltäglichen sozialen Verkehr unterschiedliche Lebenswelten aufeinander prallten. Einige Fakten zur Bevölkerungsentwicklung in Wien und Budapest sollen die soziale Zusammenballung quantitativ verdeutlichen: Wien wies im Jahr 1800 eine Bevölkerungszahl von 247.000 auf; bis 1910 hat sich dies fast verzehnfacht auf über zwei Millionen Einwohner. War Wien um 1800 bereits die viertgrößte Stadt Europas, so nahm es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits den dritten Platz nach London und Paris ein. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlangsamte sich das Bevölkerungswachstum und Wien wurde von Berlin überholt. Verantwortlich für die Mäßigung des Bevölkerungswachstums in Wien waren unter anderem der Aufstieg Budapests nach dem ›Ausgleich‹ und seine nun stärkere Wirkung als demographisches Einzugsgebiet, wodurch Wanderungsströme von Wien nach Budapest umgelenkt wurden (vgl. Lichtenberger 1993: 17-19). Budapest avancierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur zweitgrößten Stadt der Monarchie mit über 700.000 Einwohnern (vgl. Lichtenberger 1993: 18). Das Bevölkerungswachstum ging in den Städten einher mit dem Anwachsen sozialer Probleme. Vor allem in Wien war die Wohnungslage zeitweise katastrophal und die hygienischen Zustände mangelhaft, was die Aufmerksamkeit politischer Entscheidungsträger erregte und zur Entwicklung erster wohlfahrtsstaatlicher Programme führte (vgl. Zelinka 2000). Was die ethnische Durchmischung der Stadt betraf, so hatten im Jahr 1900 46,8% der Wiener Bevölkerung keine Heimatberechtigung in Wien beziehungsweise den restlichen Bundesländern, 30,9 % waren in Böhmen und Mähren heimatberechtigt, 8,4 % in den Ländern der ungarischen Krone, die restlichen 7,5 % waren in den anderen Teilen der österreichischen Monarchie beziehungsweise 1 % im Ausland heimatberechtigt (vgl. John/Lichtblau 1990: 16). In anderen zentraleuropäischen Städten verhielt es sich ähnlich (vgl. Csáky et al 2004: 13-27; Uhl 1999: 39). Die in diesem Milieu vorhandene Stimmung, die oft auch als Krisenstimmung bezeichnet wird, schlug sich in literarischen bzw. künstlerischen Schöpfungen der unterschiedlichsten Art nieder, die von dem

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Versuch geprägt waren, die Identitätskrisen der Zeit, die auch als verschärft ins Bewusstsein tretende soziale Unterschiede verstanden werden können, zu verarbeiten bzw. einer Lösung zuzuführen. Eine dieser Identitätskrisen betraf die Auseinandersetzung mit Geschlechtsstereotypen und sexuellen Normvorstellungen. Die Definitionen, was als ›weiblich‹ und was als ›männlich‹ zu gelten habe bzw. welche sexuellen Praktiken als ›normal‹ anzusehen wären, gerieten im Fin de Siècle Wiens und in anderen Städten der Monarchie ins Wanken. Die daraus entstehenden Konflikte wurden etwa von Arthur Schnitzler und anderen Autoren in ihren Werken literarisch verarbeitet. Aus dem Bereich der bildenden Kunst könnten die androgynen Darstellungen eines Oskar Kokoschka oder eines Egon Schiele als visuelle Beispiele für diese Verwischung der Kategorien ›weiblich‹ und ›männlich‹ herangezogen werden (vgl. Le Rider 1999: 175). Gleichzeitig setzte nicht zuletzt im Wien der Jahrhundertwende eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sexualleben ein, die zum Teil auch mit neuen Normierungstendenzen verbunden war. So veröffentlichte der in Graz tätige Psychiater Richard von Krafft-Ebing 1886 seine Psychopathia sexualis – das Standardwerk der frühen Sexualwissenschaft, in dem eindeutige Zuschreibungen, was als deviant zu gelten habe, vorgenommen wurden und somit ein Gegenpol zu der vermeintlichen Normauflösung gesetzt wurde. Auch Freuds Aufarbeitungen der aus dem Sexualbereich resultierenden unbewussten Wünsche und Triebe darf im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sexualität in der Wiener Jahrhundertwende nicht vergessen werden (vgl. Rabelhofer 2000: 137-146). Ein anderer Aspekt der Identitätskrisen betrifft Fragen der ethnischen Zugehörigkeit. Die Konfrontation unterschiedlicher ethnischkultureller Milieus in den Städten Zentraleuropas bewirkte nicht nur Kulturtransferprozesse und daraus resultierende kreative Leistungen, sie konnte auch die bewusste Orientierung am vermeintlich ›Eigenem‹ bewirken. Die Beachtung und Weiterverarbeitung traditioneller kultureller Formen kann als Beispiel für derartige Versuche, die eigene regionale Identität zu bewahren, herangezogen werden. Im Rahmen der Heimatschutzbewegung kam es etwa zu einer bewussten Stärkung des regionalen Handwerkes und der Architektur, nicht zuletzt um modernisierenden Tendenzen der industriellen Massenproduktion entgegenzuwirken. Die Volkskultur wurde mitunter als authentischerer Ausdruck des Nationalen empfunden, weshalb es zu einer entsprechenden

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Berücksichtigung volkskultureller Formen beispielsweise bei städtischen Bauaufträgen kam (vgl. Varnedoe 1987: 94; Zand 2000: 189; Senarclens de Grancy 2001: 65-67, 341-369). Die Auseinandersetzung mit der Volkskunst und die Übernahme einzelner Elemente daraus stand auch im Rahmen der Wiener Werkstätte im Vordergrund, wobei hier jedoch nicht eine rückwärtsgewandte Konservierung herkömmlicher Formen angestrebt wurde, sondern eine kreative Durchmischung dieser mit modernen Formen vorgenommen wurde. Emile Flöge, deren Modedesigns im Rahmen der Wiener Werkstätte entstanden und die u.a. das sogenannte Reformkleid schuf (das Frauen neuen Bewegungsspielraum geben sollte), setzte sich intensiv mit den traditionellen Stoffmustern der östlichen Provinzen der Monarchie auseinander und verband diese mit modernen Gestaltungen (vgl. Varnedoe 1987: 101). Bela Bartok, um ein Beispiel aus der Musik zu nennen, beschäftigte sich intensiv mit den Volksliedern bzw. -melodien in der Monarchie und zeigte dabei die wechselseitigen kreativen Austauschprozesse zwischen den verschiedenen Nationalitäten auf (vgl. Kokorz 2005). Die frühen Gründungen entsprechender Museen können außerdem als Beleg für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Volkskunst und dem Handwerk gesehen werden. Man denke etwa an das 1864 gegründete Österreichische Museum für Kunst und Industrie (vgl. Kultermann 1990: 150f). Die genannten Beispiele zeigen die Ambivalenz des Umgangs mit den Erfahrungen sozialer Differenz auf: einer kreativen Vermischung kultureller Phänomene unterschiedlicher sozialer Gruppen einerseits, steht andererseits das Streben nach Bewahrung klarer Unterscheidungen gegenüber. Für den zentraleuropäischen Raum um 1900 kann außerdem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen Wahrnehmung bzw. mit Wahrnehmungsfragen allgemein festgestellt werden. In einem Milieu, in dem durch die Konfrontation mit unterschiedlichen Lebenswelten die Relativität des eigenen Standpunktes deutlich wird, konnten frühe Ansätze der Soziologie, aber auch anderer Disziplinen, die sich mit Wahrnehmungsfragen bzw. Fragen des Seelenlebens der Menschen befassten, reüssieren. Im Zusammenhang mit Karl Mannheims Wissenssoziologie könnte man beispielsweise auf die Polarisierung der Weltanschauungen in Zentraleuropa verweisen, die eine besondere Sensibilität für die Frage der gesellschaftlichen Prägung des Denkens gefördert haben mögen und somit seine Thesen zur Seinsge-

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bundenheit des Denkens prägten (vgl. Mannheim 1969). Ernst Machs Versuch, die Erkenntnistheorie auf eine empirisch-psychologische Grundlage zu stellen und die teilweise erfolgte Fortführung dieser Gedanken durch den Wiener Kreis können als Beispiele für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Individuum und seiner Wahrnehmungsleistung angeführt werden. Die Machschen Analysen bildeten die Grundlage für die weiterführenden Arbeiten von Christian von Ehrenfels oder Alexius Meinong, die als Begründer der Gestaltpsychologie gelten. Fragen der Wahrnehmung spielten auch für die Entwicklungspsychologie von Karl und Charlotte Bühler eine bedeutende Rolle. Eine andere Weiterentwicklung erfuhren die Erkenntnisse Machs im Bereich der Kognitionswissenschaften bzw. der Neuropsychologie, etwa durch Sigmund Exner (vgl. Weibel 1997: 26-44). Im Zusammenhang mit den Nationalitätenkonflikten der Donaumonarchie kann auch anhand von Ludwig Gumplowicz und Gustav Ratzenhofer auf frühe Ansätze der Konfliktsoziologie, die in dieser Region entwickelt wurden, hingewiesen werden (vgl. Mikl-Horke 1997: 68-74). Die Ästhetisierungsphänomene, wie sie in Wien und Zentraleuropa um 1900 feststellbar sind, mit den doppelten Konsequenzen hinsichtlich einer tendenziellen Verwischung sozialer Unterschiede sowie der gleichzeitigen Akzentuierung derselben, machen deutlich, dass in dieser Region die von Welsch genannten Charakteristika der Moderne des 20. Jahrhunderts besonders klar zum Ausdruck kommen (vgl. Welsch 1987: 68-82): das allmähliche Aufkommen pluralistischer Orientierungen bei gleichzeitiger Abwehr derselben und neuen Homogenisierungsversuchen. Schließt man sich der Definition Wolfgang Welschs an, der eine Unterscheidung zwischen der neuzeitlichen Moderne, der Moderne des 20. Jahrhunderts und der Postmoderne vorschlägt (und damit implizit eine zeitliche Aufeinanderfolge der Phänomene suggeriert), so lässt sich die Moderne des 20. Jahrhunderts durch die Erkenntnis von der Pluralität der Wissens- und Erkenntnisformen kennzeichnen, d.h. die bereits für die neuzeitliche Moderne allgemein konstatierte Doppelfigur von Rationalisierungs- und Antirationalisierungstendenzen entwickelt sich im 20. Jahrhundert zu einem Prinzip, das zunächst in einzelnen Lebensbereichen anerkannt wird und in der sogenannten Postmoderne schließlich allgemein bedeutend wird. Das allmähliche Aufgeben der modernen universalistischen Orientierungssuche kann als ein wesentlicher Auslöser des unter anderen von Drehsen und Sparn (1996: 13) diagnostizierten Krisenbewusstseins um

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1900 gesehen werden. Trauer über den Verlust allgemeinverbindlicher Orientierungen und der bewusste Versuch, neue Ordnungsschemata herzustellen, sind ebenso die Folge wie die Verarbeitung der Erkenntnis der Pluralität zu neuen geistigen beziehungsweise künstlerischen Ansätzen. Aktuelle Ästhetisierungsphänomene des Sozialen zeigen zudem, dass diese Haltungen noch heute andauern und nicht von der bei Welsch mit der Postmoderne assoziierten Akzeptanz der Pluralität abgelöst wurden. Die Moderne in Zentraleuropa um 1900 kann also auch – folgt man den Gedanken Lyotards (vgl. Lyotard 1982: 201) – als Paradebeispiel für die prinzipielle Verzahnung von Moderne und Postmoderne herangezogen werden (vgl. auch Scherke/Celestini 2004).

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Vom Kopf auf die Füße Die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis am Beispiel der Aktivitäten surrealistischer Dissidenten (Documents, Acéphale, Collège de Sociologie) S TEPHAN M OEBIUS

Folgt man der Theorie der Avantgarde von Peter Bürger, so ist das zentrale Kennzeichen der historischen Avantgardebewegungen, also insbesondere des Dadaismus, Surrealismus oder Bauhaus, die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben. Das meint nicht, dass Kunst zerstört werden solle, sondern dass sie in Lebenspraxis überführt werde, »wo sie, wenn gleich in verwandelter Gestalt, aufbewahrt wäre.« (Bürger 1974: 67) Es geht der historischen Avantgarde demnach um einen Funktionswandel von Kunst innerhalb der Gesellschaft zugunsten einer tiefgreifenden sozialen Veränderung mit Hilfe ästhetisierender Praktiken. Dies schließt die Kritik an früheren ästhetischen Verfahren, mit denen sich bestimmte Erfahrungsdimensionen weder beschreiben noch herbeiführen lassen, mit ein. Ästhetisierung des Sozialen meint deswegen aus der Perspektive der Avantgarde, neuartige Erfahrungsweisen, Erfahrungspraktiken und Erfahrungstechniken ins gesellschaftliche Spiel zu bringen, um so den gesamten sozialen Raum und die sozialen Felder zu transformieren. Ästhetische Erfahrungen werden hier vor allem als intensivierte sinnliche Wahrnehmungen, grenzüberschreitende Erlebnisse sowie als affektive, transgressive, transformatorische und auch als quasi-sakrale Schwellenerfahrungen begriffen (vgl. Fischer-Lichte 2003). Die Mittel einer solchen gesamtgesellschaftlichen Neuimplementierung der ästhetischen Erfahrungs-

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weisen geht einher mit einer Pluralisierung, Überschreitung und Neuöffnung des Feldes der Ästhetik hin zu bestimmten Körpertechniken, Design, Mode, Medien, Werbung oder auch Ritualen (vgl. Küpper/Menke 2003). Ähnlich wie in der pragmatistischen Ästhetiktheorie von John Dewey wird bei den historischen Avantgardebewegungen die ästhetische Erfahrung von der exklusiven Bindung an Kunst abgelöst »und als produktive Quelle sozialer Problemlösung in Anschlag« gebracht (Küpper/Menke 2003: 12). Abb. 1: Titelblatt Documents. Aus den historischen Avantgardebewegungen möchte ich den Surrealismus herausgreifen und näher beleuchten, wie die Surrealisten versuchten, mit Hilfe der Implementierung neuartiger, transgressiver Erfahrungspraktiken eine Ästhetisierung des Sozialen zu bewirken. Der Surrealismus wird deshalb als Beispiel gewählt, weil die Mittel der Ästhetisierung des Sozialen, mit denen die Surrealisten Gesellschaftskritik übten, oftmals bei der Betrachtung des Surrealismus unter den Tisch fallen. Die Mittel der Surrealisten, in die Gesellschaft einzugreifen, waren neben Manifesten und Flugblättern nämlich vorwiegend die zahlreichen Zeitschriften, die nicht nur bei der Darstellung des Surrealismus in unseren Kunstmuseen kaum beachtet werden, sondern auch in breit angelegten Großausstellungen zum Surrealismus in der Regel lediglich als Supplement angesehen bzw. als im Vergleich zu den Bildern weniger relevantes Objekt aus dem Blick genommen werden. Man denke etwa an die große, von Werner Spies kuratierte Surrealismus-Ausstellung in Paris oder in Düsseldorf aus dem Jahre 2002, wo die Zeitschriften nur in Vitrinen ausgelegt waren. Um die unterschiedlichen Versuche einer Ästhetisierung und den damit verbundenen Wunsch einer Veränderung des Sozialen genauer in den Blick zu bekommen, muss man die unterschiedlichen surrealistischen Zeitschriften bzw. die darin enthaltenen surrealistischen Bilder und Fotos näher betrachten. Dabei sollen im Folgenden nicht alle Zeit-

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schriften der Surrealisten und nicht alle möglichen sozialen Felder, die einer Ästhetisierung unterliegen, analysiert werden, sondern eine Auswahl, und zwar solche Zeitschriften und Bilder, die einem großen Publikum eher unbekannt sind (im Vergleich etwa zur Zeitschrift La révolution suréealiste), die eher von dissidenten, also von André Breton abtrünnigen Surrealisten herausgegeben werden – wie etwa von Georges Bataille –, und die vor allem Ästhetisierungspraktiken im politischen, religiösen und wissenschaftlichen Feld betreffen. Es zeigt sich dabei, dass die Surrealisten insbesondere in diesen Feldern versuchten, mit Hilfe der Zeitschriften und der in ihnen angelegten Neuimplementierungen ästhetischer Erfahrungen eine Überschreitung und Entdifferenzierung der sozialen Felder zu forcieren – und damit letztendlich eine ästhetische Transformation des Sozialen insgesamt.

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Bezogen auf die Wissenschaft existieren zahlreiche Versuche der Surrealisten, das akademische Feld zu ästhetisieren, seine Grenzen zu überschreiten und seine herkömmlichen Codes zu verändern. Georges Bataille beispielsweise spricht von einer allgemeinen Wissenschaft, die er einer beschränkten Wissenschaft gegenüberstellt, und meint mit »allgemein« die Öffnung der Wissenschaft zu ästhetischen, irrationalen und transgressiven Erfahrungsbereichen (vgl. Moebius 2006a: 168ff.). Besonders anschaulich wird diese Zielrichtung in der von 1929 - 1931 erscheinenden Zeitschrift Documents (Abb. 1) und durch das 1937 von Bataille, Roger Caillois und Michel Leiris gegründete Collège de Sociologie. Die Zeitschrift Documents weist bereits in ihrem Untertitel Doctrines – Archéologie – Beaux Arts – Ethnographie auf eine Entdifferenzierung zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern wie der Archäologie und der Ethnographie aber auch zwischen Wissenschaft und Kunst allgemein hin.1 Documents ist zugleich Ausdruck eines ethnographischen und eines »dissidenten Surrealismus«. Mit dissidenten Surrealisten meine ich diejenigen Surrealisten, die ab 1929

1

Zahlreiche Anregungen für diesen Abschnitt zu den Documents gehen zurück auf die Lektüre des instruktiven Beitrags »Demontage in Documents« von Ines Lindner (2002).

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von Breton gleichsam »exkommuniziert« werden (vgl. Mattheus 1984: 137) und sich um Bataille herum gruppieren. Was ist 1929 geschehen? 1929 kommt es zu einem Bruch zwischen Breton und Bataille sowie ehemaligen Surrealisten wie Michel Leiris oder André Masson.2 Anlass dafür ist ein Rundschreiben Bretons, mit dem er sich seiner politischen Gefährten versichern will. 1927 ist er mit seinen Anhängern in die Kommunistische Partei eingetreten. Die Antworten auf das Rundschreiben vom Februar 1929, das mögliche gemeinsame Abb. 2: Schrumpfköpfe. politische Aktionen ausloten will, fallen unterschiedlich aus. Von Bataille, der just Documents gegründet hat (die erste Ausgabe erscheint dann im April 1929), kommt folgende Antwort: »Idealistische Schwarmgeister und Wirrköpfe, die einem auf die Nerven gehen, gibt es zu viele« (Nadeau 1965: 139). Neben Michel Leiris und Masson verweigern auch andere »Abgefallene« ihre Zusage, etwa Queneau, Desnos, Prévert oder Vitrac. Sie stehen nun in enger Verbindung zu Bataille, der Documents dazu nützt, seinem Antiidealismus Gehör zu verschaffen.3 An der Zeitschrift haben aber nicht nur dissidente Surrealisten und spätere Mitglieder des Collège de Sociologie wie Georges Bataille, Michel Leiris oder André Masson teil, sondern auch Kunstwissenschaftler wie Carl Einstein oder renommierte Soziologen und Ethnologen wie die Gründer des Institut für Ethnologie an der Universität Paris (1925), Paul Rivet und der Durkheim-Schüler Marcel Mauss.4

2 3

Vgl. zum Folgenden auch meine Darstellung in Moebius (2006a: 234 ff). Bei all den Differenzen dürfen aber nicht die Gemeinsamkeiten übersehen werden, siehe dazu Moebius (2006a: 234).

4

Zu Marcel Mauss und dessen Bedeutung für die Soziologie, Ethnologie und Kulturwissenschaften vgl. Moebius (2006b) sowie Moebius/Papilloud (2006).

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Überhaupt gilt der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss als wichtigste Schlüsselfigur für die in der Zwischenkriegszeit ausgreifende Wechselbeziehung zwischen Ethnologie und Kunst, denn er übt insgesamt einen immensen Einfluss auf das intellektuelle Paris in der Zwischenkriegszeit aus und prägt die neuere Generation von surrealistischen Ethnologen (vgl. Clifford 1988: 122 ff.). Was die visuelle Message von Documents angeht, so finden sich in der Zeitschrift vor allem Fotos, hochkulturelle Bilder stehen neben populärkulturellen ebenso wie neben zahlreichen ethnographischen, kulturelle Fremderfahrungen forcierenden Bildern. Ethnographie und (dissidenter) Surrealismus teilen dabei insbesondere zweierlei Zielrichtungen: erstens verwerfen sie die Trennung zwischen Hoch- und niederer Kultur. Und zweitens dekonstruieren sie gleichermaßen die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden (vgl. Leiris 1979). »Was sie [die Zeitschrift Documents, S.M.] von allen anderen Unternehmungen dieser Zeit absetzt, ist der provokante Einsatz visuell kodierter Strategien, die sich gegen die Vorherrschaft der Sprache richten« (Lindner 2002: 111). Impliziert ist damit auch eine Gegenbewegung zum »orthodoxen Surrealismus« um Breton, wie Dawn Ades und Fiona Bradley festhalten: »DOCUMENTS’ approach to the visual opposed that of Breton at every turn. Breton and the surrealists had proposed various ways of achieving immediacy of expression: through automatic writing and drawing they had tried to circumvent the conscious control of image-making, while Sigmund Freud’s theories had provided a symbolic code through which dreams and the workings of the unconscious mind could be noted and interpreted. In the heterogeneous visual material included in DOCUMENTS Bataille and his colleagues Michel Leiris, Robert Desnos and Carl Einstein engaged with and challenged such ideas which, they claimed, far from confronting the base realities of human thought and the violent nature of desire, actually idealized and sublimated them. Instead, DOCUMENTS utilised strategies of de-sublimation, allowing an unblinking stare at violence, sacrifice and seduction through which art was ›brought down‹ to the level of other kinds of objects« (Ades/Bradley 2006: 11).

Die im Untertitel der Zeitschrift genannten Disziplinen wie die Archäologie oder die Ethnographie dienen als Mittel der Dekonstruktion der alltäglichen, aber auch der herkömmlichen wissenschaftlichen Per-

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spektiven. Sie avancieren zu Leitmedien der Ästhetisierung des wissenschaftlichen Feldes. Es findet dabei eine Aufwertung archäologischer und ethnographischer Objekte statt, aber nicht mit der Absicht einer »romantischen Idealisierung des Exotischen in fremden oder eigenen Gesellschaften« (vgl. Lindner 2002: 118). Denn Documents will gerade nicht die zu dieser Zeit in der Schickeria von Paris beliebte »primitive Kunst« oder »Ästhetik der Wilden« zeigen und damit lediglich eine weitere Kunstzeitschrift unter vielen sein. Vielmehr geht es der Zeitschrift – trotz zahlreicher Differenzen zwischen den einzelnen Autoren – darum, die Felder der Wissenschaften und Künste zu verwirren, zu verschieben sowie insgesamt die Grundfeste der westlichen Zivilisation in Frage zu stellen und zu erschüttern. Dabei interessiert man »sich nicht für die begriffliche Seite der Wissenschaften, sondern für ihre Gegenstände. Die wissenschaftlichen Formen werden [...] im Ton kopiert und polemisch gegen die akademischen Besetzungen gewendet« (Lindner 2002: 114). Und das Ganze geschieht in Documents nicht nur in Texten – wie etwa in den Mainstream-SurrealismusZeitschriften wie La revolution surréaliste –, sondern mit Hilfe von Photos. Die Texte enden zudem meist mit einem Bild, »so the layout has the latest word« (Baker 2006: 36). Dabei spielt die Ethnographie – genauAbb. 3: BlackWhite. er: eine bestimmte Art von Ethnographie, »ethnographic surrealism« (Clifford) – eine ganz spezielle Rolle. Marcel Griaule schreibt dazu in einem Beitrag in Documents: »Ethnography is suspicious too of itself – for it is a white science, i.e., stained with prejudices – and it will not refuse aesthetic value to an object because it is up-to-date or mass-produced« (Griaule in Clifford 1988: 131). Die Decodierung der europäischen Kultur erfolgt über die Dekonstruktion der Trennung zwischen eigener und fremder Kultur, wie man etwa in Leiris’ Montage erkennen kann, wenn er – wie im oberen Bild – »zwischen die Abbildungen eines fach-wissenschaftlichen Aufsatzes über Schrumpfköpfe und Masken den abgeschlagenen Kopf

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von Holofernes« (Lindner 2002: 114) aus einem Bild von Lucas Cranach setzt (Abb. 2). Die Verbindung zwischen Ethnographie und Populärkultur zeigt auch das Standfoto von Revuegirls aus dem Film Broadway Melody, das mit einem ethnographischen Foto in Beziehung gesetzt wird, das schwarze Schulkinder unter dem Kommando eines Kolonialbeamten zeigt (Abb. 3). »Weiß wird mit schwarz konfrontiert, weiblich mit männlich, Tanz mit Drill. Dieses Spiel mit Ähnlichkeit und Differenz lässt sich als Studie und »Kritik an der zivilisatorischen und disziplinargesellschaftlichen Zurichtung des Körpers lesen« (Lindner 2002: 121). Es ist aber auch eine Kritik am Rassismus, wie sie beispielsweise ebenfalls in Leiris’ (1981a) bekannten Documents-Beitrag »Das Auge des Ethnographen« deutlich wird. Denn nichts »läge Documents ferner als die romantische Idealisierung des Exotischen in fremden Gesellschaften oder der eigenen. Die Ethnographie wird zum Hebel einer Demontage grundsätzlicher Art, in der und mit der die daran Beteiligten sich neu positionieren« (Lindner 2002: 118). Als ein zentraler Bestandteil der Ästhetisierung und Erschütterung des wissenschaftlichen Feldes kommt Batailles Theorie des niederen Materialismus hinzu, die wesentlich für das von ihm propagierte Konzept der allgemeinen Wissenschaft ist. Dabei geht es darum, den verworfenen Teil, also das aus der üb- Abb. 4: Großer Zeh. lichen Wahrnehmung Entfernte oder das von den Wissenschaften üblicherweise konstitutiv Ausgeschlossene auf ästhetische Weise zugunsten einer Verschiebung des Feldes wiederzubeleben. Der verfemte Teil wirkt dabei, so Bataille, wie etwas Sakrales, er ist fascinans und tremendum zugleich. Das Bild auf der folgenden Seite (Abb. 4) zeigt ein bekannteres Bild aus Documents, einen großen Zeh, dessen Abbildung der Konfrontation des niederen

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Materialismus mit dem Idealismus dient.5 Im Begleittext von Bataille (1970: 200-2004) heißt es, der große Zeh sei der menschlichste Teil des Körpers (Bataille 1970: 200), denn von ihm hängt der aufrechte Gang ab, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Natürlich hatte so ein Photo in den 1920ern eine ganz andere Schockwirkung als heute. Ebenso wie etwa die Bilder eines Schlachthofs (Abb. 5), als der verfemte wie zugleich quasi-sakrale Ort der Tieropfer der westlichen Zivilisation. »Diese ›sous-realistische‹ Praktik«, die nicht »über« die Realität schaut, sondern in ihre Niederungen, »rückt der Materialität der Dinge ganz nah und wendet sie polemisch gegen abgeschliffene Wahrnehmungsformen wie surrealistische Entstellungen« (Lindner 2002: 128). Denn hier muss nichts künstlich entAbb. 5: Schlachthof. stellt werden wie zum Beispiel bei Dali, sondern hier spricht für die niedere Materialität allein das Foto. In »Der niedere Materialismus und die Gnosis«, einem Aufsatz in Documents aus dem Jahr 1930, bemerkt Bataille, dass es schwierig sei, »heute selbst den teilweise falschen Lösungen gegenüber gleichgültig zu bleiben, die zu Beginn des christlichen Zeitalters auf Probleme angewandt wurden, die sich von den unsrigen nicht merklich zu unterscheiden scheinen (es sind die Probleme einer Gesellschaft, deren ursprüngliche Prinzipien im exakten Wortsinn toter Buchstabe geworden sind, einer Gesellschaft, die sich in Frage stellen und sich selbst umstürzen muß, um die Triebfedern der Kraft und des heftigen Aufruhrs wiederzufinden). So scheint mir die Anbetung eines Gottes mit Eselskopf (da der Esel das abscheulich-komischste, aber zugleich das menschlich-virilste Tier ist) noch heute imstande zu sein, eine ganz kapitale Bedeutung anzunehmen, und der abgeschnittene Eselskopf der azephalischen Verkörperung der Sonne stellt, so unvollkommen sie auch sei, gewiß eine der virulentesten Manifestationen des Materialismus dar« (Bataille 2000: 8f.). (Abb. 5)

5

Zum Konzept des niederen Materialismus von Bataille siehe auch Moebius (2006a: 331 ff.).

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RELIGIÖSE UND POLITISCHE

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Es ist natürlich kein Geheimnis, dass die Surrealisten von der Kirche nicht viel hielten. Nichtsdestotrotz wäre es falsch, den Surrealismus bzw. die Gruppierung der dissidenten Surrealisten als eine rein atheistische oder säkularistische Bewegung non-konformistischer Intellektueller wahrzunehmen. So gibt es durchaus Versuche der unorthodoxen Surrealisten, neben der Wissenschaft auch das Feld des Religiösen neu zu definieren und zu ästhetisieren, und zwar mit Hilfe von emblematischen Bildern, neuartigen, an der sinnlichen Erfahrung der Grenzüberschreitung orientierten Ritualen und Vergemeinschaftungsformen. Relativ unbekannt, aber dafür umso eindrücklicher ist das Beispiel der Geheimgesellschaft Acéphale und der öffentlichen Zeitschrift mit demselben Namen. Gegründet wurde die Zeitschrift 1936 von Georges Bataille, Pierre Klossowski und André Masson. Sie ist nicht nur Organ der Geheimgesellschaft Acéphale, sondern steht auch in einem unmittelbaren Zusammenhang zu dem von Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois 1937 gegründeten Collège de Sociologie, an dem übrigens auch Walter Benjamin oder Hans Mayer teilnahmen (vgl. Moebius 2006). Acéphale und das Collège de Sociologie verfolgen das Ziel, die vom Zivilisationsprozess zurückgedrängten, aber in den Tiefenschichten des Sozialen noch schlummernden Lebensenergien der kollektiven Ekstase, die die Durkheim-Schule in ihren religionssoziologischen Arbeiten lediglich in »primitiven« Gesellschaften untersucht habe, für moderne Vergemeinschaftungsformen politisch nutzbar zu machen und zu erneuern, um so dem um sich greifenden Faschismus Paroli zu bieten. Denn als Hauptursache für die Begeisterung der Massen für den Faschismus wurde die zunehmende Individualisierung und soziale Anomie betrachtet, der man mit neuen Gemeinschaften entgegen treten wollte. Die Zeitschrift Acéphale sowie die gleichnamige Ge- Abb. 6: Titelblatt Acéphale.

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heimgesellschaft wollen dabei eine Entdifferenzierung zwischen religiösem und politischem Feld bewirken (Abb. 6). »Acéphale« kommt von akephalos, was so viel wie ohne Kopf bedeutet6 und nicht zufällig an den bereits erwähnten, im Bild des großen Zehs auftauchenden, radikal antiidealistischen niederen Materialismus erinnert (vgl. Leiris 1981b: 73). Acéphale ist sowohl Sinnbild einer neuen Art kopfloser, das heißt vor allem an Erfahrungen der Überschreitung, des Selbstverlusts und ekstatischen Ritualen orientierten Religiosität als auch einer Art Nietzscheanischen Politik. Sichtbar wird diese nietzscheanisch-dionysische Ausrichtung in dem von André Masson gezeichneten Emblem der Zeitschrift und Emblem der gleichnamigen Geheimgesellschaft.7 Massons Strichzeichnung, die auf den ersten Blick an die Proportionsskizze des vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci erinnert, zeigt einen stehenden Mann, die Beine gespreizt, allerdings ohne Kopf und in der rechten Hand ein brennendes Herz, – nach Masson das Herz des Dionysos –, in der linken Hand einen rautenförmigen Dolch, der die dionysische Selbstopferung symbolisieren soll. Anstelle des Geschlechts weist der Mann einen Totenkopf auf, sein offener Bauch lässt Eingeweide hervortreten, sie sind Symbol für den niederen Materialismus und für ein Labyrinth, gleichsam eine Erinnerung an den Mythos vom Minotaurus sowie Zeichen einer indirekten Kraft. Der Akephalos ist ein Abgesang auf die instrumentelle Vernunft und den Logozentrismus, er soll auch den Tod Gottes symbolisieren sowie den Aufstand der Erde gegen den Himmel, des Niederen gegen das Hohe, die Idee eines neuen, aber dezentrierten Menschengottes. Die Geheimgesellschaft, an der zahlreiche französische Intellektuelle teilhaben bis hin zu dem Psychoanalytiker Jacques Lacan, zelebriert geheime Riten an einem vom Blitz getroffenen, also kopflosen Baum im Wald, was so weit geht, dass sich Bataille selbst opfern will. Die erste Ausgabe der Zeitschrift Acéphale beginnt mit den Sätzen:

6

En detail beschreibe ich die Geheimgesellschaft, die Zeitschrift Acéphale sowie die Herkunft des Akephalos in meinem Buch über Die Zauberlehrlinge (Moebius 2006a). Die folgenden Abschnitte gehen auf diese Studie sowie auf Moebius (2009) zurück.

7

Zu weiteren Zeichnungen von Masson in diesem Zusammenhang und zu deren politischer Bedeutung im Lichte des Spanischen Bürgerkriegs vgl. Moebius (2009).

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»Wir sind unerbittlich religiös. ... Was wie Politik aussah und vermeinte, politisch zu sein, wird sich eines Tages als religiöse Bewegung enthüllen.« Politik und Religion werden also entdifferenziert. Acéphale verfolgt dabei eine so genannte »Nietzscheanische Politik«, heißt es in einem Dokument. Man wolle dem marxistischen Verständnis des Kampfes ein nietzscheanisches entgegensetzen (Bataille 1999: 405). Bataille, der bereits Mitte der zwanziger Jahre mit Michel Leiris und André Masson eine nietzscheanisch-orphische Gemeinschaft gründen wollte, geht es vor allem um zweierlei: erstens um das Ausloten neuer ästhetischer Erfahrungsweisen selbsttranszendierender, expressivtransgressiver Gemeinschaft (communitas/Turner) – hierbei orientiert man sich gleichermaßen an der Soziologie der Durkheim-Schule und an Nietzsches Philosophie (vgl. Moebius 2008) – und zweitens um die mit diesen ästhetischen Erfahrungen verbundene Aufhebung von Politik im Religiösen, d.h. um sakralisierte Politik, in der alltägliches religiös-mythisches Leben und Politik keine Gegensätze mehr bilden und sich auf diese Weise neue, verbindliche Vergemeinschaftungsformen konstituieren würden. Deutlicher wird diese von Acéphale propagierte Mischung aus dionysischer Grenzerfahrung, neuer akephalischer Religiosität Abb. 7: Barcelona Acéphale. und Politik in der 1936 von Masson entworfenen Grafik des »Barcelona Acéphale« (Abb. 7). Die in der Zeitschrift Acéphale propagierte führerlose, antiutilitaristische und herrschaftsfreie, also kopflose Gesellschaft und Revolte der/des Niederen, wird zum Ausgangs- und Zielpunkt für Massons politisches Engagement gegen die Kirche und den Faschismus auf Seiten der antifaschistischen Milizen im Spanischen Bürgerkrieg. Anders als in den Zeichnungen der Zeitschrift sind hier unmissverständlich politisch konnotierte Symbole zu sehen: das Kreuz, das für den General Franco unterstützenden Klerus steht, das Hakenkreuz sowie Hammer und Sichel und im Hintergrund das sich im Krieg befindende und

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brennende Barcelona. Das kommunistische Symbol von Hammer und Sichel, das anstelle des Kopfes steht, motiviert gewissermaßen den Nietzscheanischen Körper dazu, sowohl den Klerus als auch den Faschismus zu bezwingen. Hammer und Sichel stehen dabei nicht für die Treue zur Kommunistischen Partei Spaniens – Masson engagierte sich selbst bei den Anarchisten der POUM –, sondern allgemein – und wie man kritisch hinzufügen muss, die Linke zu undifferenziert wiedergebend – für den Antifaschismus und die Spanische Revolution.

T HEORETISCHE S CHLUSSFOLGERUNGEN Zusammengefasst meint Ästhetisierung des Sozialen für die Avantgarde die Implementierung neuartiger sinnlicher Erfahrungsdimensionen. Charakteristisch für die vor allem durch visuelle Medien (Photos, [ethnographischer] Film etc.) und Zeitschriften vorangetriebenen Erfahrungsdimensionen der (dissidenten) Surrealisten ist, dass es dabei in der Regel um Erfahrungen der Überschreitung, oder in den Worten Batailles: der Transgression und des Selbstverlusts geht. Bataille spricht zuweilen in diesem Zusammenhang und in Anlehnung an den Soziologen Émile Durkheim von Erfahrungen des Sakralen und meint damit genau jene Erfahrungen, die uns zu bislang ausgeschlossenen, ekstatischen Sinn- und Wahrnehmungsdimensionen führen, uns innerlich erschüttern und uns so über uns hinaus führen. Wir sehen dies deutlich in der von Acéphale angestrebten Verknüpfung des Dionysischen mit der Politik oder der Religion oder in den Bildern der niederen Materialität in Documents. Diese Praktiken der Ästhetisierung des Sozialen sind – um es in Worten einer pragmatistischen Kultursoziologie auszudrücken – bestimmte Antworten, Artikulationen, Interpretationen und Lösungsmöglichkeiten auf die von ihnen als problematisch angesehenen gesellschaftlichen und politischen Prozesse ihrer Zeit. Interessanterweise machen sich die Surrealisten bei ihren Versuchen, durch Erfahrungen der Überschreitung die sozialen Felder umzugestalten und dadurch zu neuen Wertigkeiten, Erfahrungsmöglichkeiten und Deutungsmustern in der Gesellschaft zu kommen, ungewollt und unbewusst Einsichten der neueren pragmatistischen Soziologie zu eigen. Denn wie etwa der gegenwärtige Hauptvertreter der pragmatistischen Soziologie, Hans Joas, in Studien zur Werteentstehung und Wertebindung unter anderem in Anlehnung an Durkheims

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Konzept der kollektiven Ekstase hervorgehoben hat, sind es gerade solche Erfahrungen der Überschreitung, er nennt sie Erfahrungen des »Ergriffen-Seins« und der »Selbsttranszendenz«, die uns längerfristig überhaupt erst zu etwas Neuem führen und uns an diese neuartigen Sichtweisen, Werte, Ideen, Sinndimensionen oder Personen auch innerlich und affektiv binden (vgl. Joas 1997). Es sind also nicht so sehr die Versuche der kognitiven Überzeugung, des besseren, rationalen Arguments, sondern genau die angesprochenen (ästhetischen) Erfahrungsdimensionen der Selbsttranszendenz, die uns eine neue Perspektive nahebringen und dann auch verinnerlichen lassen. So wie man sich an Werte besonders dann erst richtig gebunden fühlt, wenn man sie mit bestimmten Erfahrungen verbinden kann. Mit Blick auf die Strategien der Ästhetisierung und damit auch Revolutionierung des Sozialen heißt das: Wenn man längerfristig soziale Prozesse verändern will, dann muss man dies auf der Ebene der ästhetischen Erfahrungen, der intensivierten sinnlichen Wahrnehmung, auf der Ebene des Ergriffen-Seins und der Selbsttranszendenz beginnen. Die Surrealisten wussten (implizit) von dieser pragmatistischen Einsicht. Für sie hatten die Veränderungen auf der Ebene der ästhetisch-sinnlichen Erfahrungen zu beginnen, und so versuchten sie, die pragmatistische Einsicht durch Praktiken der Ästhetisierung des Sozialen umzusetzen. Ob ihnen die Umsetzung jedoch immer vollkommen gelungen ist, ist natürlich eine ganz andere Frage.

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A KTIVITÄTEN

SURREALISTISCHER

D ISSIDENTEN | 47

turanthropologie«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 46734683 (CD-Rom). Moebius, Stephan (2009): »Im Rausch der Revolution: Kunst und Politik bei André Masson und den surrealistischen Gruppierungen Contre-Attaque und Acéphale«, in: Lutz Hieber/Stephan Moebius (Hg.): Avantgarden und Politik. Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne, Bielefeld: transcript, S. 89-110. Moebius, Stephan/Papilloud, Christian (Hg.): Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe, Wiesbaden: VS. Nadeau, Maurice (1964): Geschichte des Surrealismus, Reinbek: Rowohlt.

ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Dawn Adres/Simon Baker (Hg., 2006): Undercover Surrealism. Georges Bataille and Documents, London/Cambridge: Hayward Gallery/MIT Press, S. 10. – Abb. 2: aus: Dawn Adres/Simon Baker (Hg., 2006): Undercover Surrealism. Georges Bataille and Documents, London/Cambridge: Hayward Gallery/MIT Press, S. 196. – Abb. 3: Ines Lindner (2002): »Demontage in Documents«. In: Stefan Andriopoulos/Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 122. – Abb. 4: Dawn Adres/Simon Baker (Hg., 2006): Undercover Surrealism. Georges Bataille and Documents, London/Cambridge: Hayward Gallery/MIT Press, S. 176. – Abb. 5: Dawn Adres/Simon Baker (Hg., 2006): Undercover Surrealism. Georges Bataille and Documents, London/Cambridge: Hayward Gallery/MIT Press, S. 107. – Abb. 6: Acéphale Titelblatt von Heft 2 (21. Januar 1937) aus: Michel Camus (Hg., 1995): Acéphale 19361939, Paris: Jean-Michel-Place (ohne Seitenangaben). – Abb. 7: Robin Adèle Greeley (2006): Surrealism and the Spanish Civil War, New Haven/London: Yale University Press, S. 118.

Sozialgeschichte des Werbeplakats L UTZ H IEBER

Reklame ist ein Phänomen, das sich in spezifischer Weise in der Neuzeit entwickelt hat. Sie kann die Funktion einer Werbung für Konsumgüter und Dienstleistungen haben, für kulturelle Ereignisse und Angebote, für politische Parteien und weltanschauliche Richtungskämpfe, für Sportveranstaltungen und Zirkus. Reklame nutzt das jeweils gegebene Niveau der Kommunikationsmedien, um die anvisierten Zielgruppen zu erreichen. Bis in die Weimarer Epoche hinein wurden die Begriffe Werbung, Reklame und Propaganda synonym benutzt, erst durch Monopolisierung der Propaganda durch die nationalsozialistische Diktatur erhielt der letztgenannte Terminus einen stark pejorativen Charakter. Das Werbeplakat, wie wir es heute kennen, besteht aus Papier, das mit Bild und Text bedruckt ist. Motiv und Typografie bilden eine Einheit, die mit einem Blick erfassbar sein soll. Die Literatur zur Plakatgeschichte geht im Allgemeinen von dieser Gestalt aus, die uns geläufig ist. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Entwicklung des bedruckten und an Wände geklebten Papiers und entsprechender Vorformen (Zur Westen 1903. Rademacher 1965. Rademacher 1990. Grohnert 2007). Weil sie den historischen Gang vom Endpunkt her aufzäumt, engt sie allerdings den Blick ein, denn diese Sichtweise auf die Geschichte unterstellt stillschweigend eine Entelechie. Doch tatsächlich laufen die praktizierten Formen des Reklamewesens in mehreren Flüssen, die erst im späten 19. Jahrhundert in das uns geläufig Gewordene münden. Das Plakat verdankt seine Herausbildung sozialen, ökonomischen, ästhetischen und technischen Bedingungen. Wer

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seine Grundlagen verstehen möchte, muss von der breiten Vielfalt der Anfänge ausgehen, um die bestimmenden Kräfte fassen zu können, die das Werbeplakat formten. Mir geht es daher nicht um die Geschichte des Plakats, sondern vielmehr um seine Archäologie im Sinne von Michel Foucaults »Ordnung der Dinge« (1974).

F RÜHFORMEN

DER

R EKLAME

Durch den Buchdruck wurde mit der frühen Neuzeit die Schrift zu einem Leitmedium, allerdings nur für die Lesekundigen. Zugleich errang das Bild zunehmende Bedeutung. Vor allem die interessanter werdende Bilderwelt bewirkte einen Wandel des menschlichen Sinnesapparats (Hieber 2007). Ein Blick in Beichtbücher belegt, dass sich ein erster Bedeutungszuwachs des Sehens bereits in der Epoche der frühesten Technisierung der Bilderproduktion ereignete: »Die peinlich genauen Analysen der Sünde der Unzucht kreisten bis zum Ende des 15. Jahrhunderts um den Tast- und Gehörsinn. Das Sehen wird beinahe nicht erwähnt. Die sozialen Anlässe, die das Übertreten des Gebots ›Du sollst nicht ehebrechen‹ begünstigten, waren vor allem die Tänze und die Lieder«. Vor unsittlichen Bildern wurde nicht gewarnt, »einfach weil ihre Verbreitung sehr gering oder gleich Null war« – mit Ausnahme bei den Oberschichten. »Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts kam das Sehen langsam als privilegierter erotischer Sinn ins Blickfeld – unmittelbar nach dem Tasten.« (Ginzburg 1983: 189) Die zunehmende Wichtigkeit des Sehens ist an eine Produktivitätssteigerung in der Bilderproduktion geknüpft, die einem hohen ästhetischen Niveau durchaus nicht abträglich war. Das Druck-Unternehmen Albrecht Dürers (Panofsky 1977: 60 f.) und die manufakturmäßig organisierte Werkstatt Rafaels (Höper 2007) zählen zu den großen Bilderproduzenten des frühen 16. Jahrhunderts. Lucas Cranach d. Ä., der seit 1505 in Wittenberg wirkte, spielte in dieser Liga. Sein Unternehmen der Bilderproduktion war erfolgreich und beschäftigte viele Mitarbeiter. Von seiner »mittleren Schaffenszeit an kann man zwischen der eigenhändigen Leistung des Meisters und der Teilnahme der immer zunehmenden Anzahl von Gesellen an der sehr großen Produktion seines Studios oft nicht mit absoluter Sicherheit unterscheiden« (Friedländer et al. 1979: 9).

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Cranachs Flugschrift »Passional Christi und Antichristi« ist eindeutige Propaganda gegen den Papst. Am 10. Dezember 1520 hatte Luther die Bannbulle des Papstes vor dem Stadttor von Wittenberg öffentlich verbrannt und dann im April 1521 auf dem Reichstag zu Worms den Widerruf seiner Lehre verweigert. Cranachs Passional folgte dem Gedanken Luthers, das verweltlichte Papsttum als Widersacher der christlichen Lehre darzustellen. In dreizehn Doppelbildern ist jeweils eine Darstellung aus dem Leben und Leiden des Heilands dem päpstlichen Gegenbild kontrastiert. Eines der Bildpaare zeigt Christus, der die Wechsler und Wucherer aus dem Tempel treibt; den Gegenpart dazu bildet eine Gruppe um den Papst, der selbst die Einnahmen notiert, wo alle Augen auf das Geld gerichtet sind (Abb. 1). Die Szene mit dem geißelschwingenden Christus schildert das entstandene Chaos, ein Tisch ist umgefallen und die ängstlich blickenden Geschäftemacher sind übereinander gestürzt. Dagegen geht von der Szene um den Papst angespannte Ruhe aus, weil alle voller Habgier auf die Münzen starren, die der vordere Mönch aus seinem Geldsäckel auf den Tisch zählt. Die begleitenden Zitate, die Melanchthon, der protestantische Mitstreiter Luthers, und der Jurist Schwerdtfeger ausgewählt haben, stammen aus der Bibel und den Dekretalen des kanonischen Rechts. Das Werk hatte mehrere Auflagen, auch eine kolorierte und eine lateinische (Bernhard 1972: 556). Den Abschluss der Flugschrift bilden zwei Seiten, die den Erlöser zum Himmel, den Papst aber zur Hölle fahren lassen. »Man hoffte, wie Luther am 7. März 1521 an Spalatin schrieb, vor allem die Laien wirksam packen zu können.« (Schottenloher 1922: 80) Lucas Cranach d. Ä. nutzt die Drucktechnik als das fortgeschrittenste Medium seiner Epoche. Bild und Text ergänzen sich wechselseitig, der Abb. 1: Lucas Cranach d. Ä., Passional Christi werbewirksame Kampf und Antichristi, Wittenberg 1521. für die protestantische

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Seite wurde als leicht konsumierbare Flugschrift von wenigen Seiten geliefert. Das propagandistische Mittel des Reformators Martin Luther waren sprachgewaltige, kurze Schriften. Predigt, Sendbrief, Trostwort, Ermahnung, Strafrede, Schmähung des Gegners, alles wurde ihm zur Flugschrift. Er schrieb nicht mehr in der Sprache der Gelehrten, in Latein, sondern in Deutsch. Mit seiner leidenschaftlichen, volkstümlichen, bilderreichen und anschaulichen Sprache gelang es ihm, große Teile der Bevölkerung zu erreichen. Seine Mitstreiter folgten ihm und nutzten dasselbe Medium. Titeleinfassungen, Bilderholzschnitte und Initialen schmückten die Blätter der reformatorischen Flugschriften. »Während es bei den Initialen und Umrahmungen einzig und allein auf die schmückende Wirkung ankam, sollte die bildliche Darstellung durch ihre anschauliche Sprache den Beschauer zum Kaufen und Lesen reizen und die Überredungskunst des Inhalts unterstützen.« (A.a.O.: 78) Solche Flugschriften konnten in recht großer Zahl hergestellt werden. Damit konnten sie die Grundbedingung der Reklame erfüllen, breite Kreise zu erreichen. In einem bestimmten Kontext gelingt das aber auch Gemälden, obwohl sie Unikate sind, nämlich dann, wenn es sich um Altartafeln handelt1. Solche Werke konnten auf begleitenden Text verzichten, weil sie im Rahmen der kirchlichen Praxis in einen verbindlichen Kontext eingebunden waren. Peter Paul Rubens schuf für die Jesuitenkirche in Antwerpen zwei großformatige Altargemälde. Das eine stellt Ignatius von Loyola dar, den Ordensgründer, das andere seinen Gefährten Franz Xaver. Nach den schriftlichen Quellen waren die beiden Gemälde im Jahre 1620 ausgeführt worden (Simson 1996: 171). Erstaunlich ist, dass die Verherrlichung der Kanonisierung vorausgeht. Ignatius war 1609 selig, und Franz Xaver erst 1619 selig gesprochen worden. Beide hätten erst 1622, nachdem sie heilig gesprochen waren, zur Ehre der Altäre erhoben werden dürfen. Das Ignatius gewidmete Gemälde stellt die wunderbaren Krankenheilungen des Ordensgründers dar (Abb. 2). Er steht erhöht vor dem Altar einer Kirche, neben ihm neun Jesuiten. Vor und unter Ignatius

1

York Kautt verweist in seinem Text in diesem Band darauf, dass auch die Kommunikationsstrategien der katholischen Gegenreformation in die Traditionslinie der Werbung zu stellen sind.

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und von diesem durch mehrere Stufen getrennt befinden sich die von ihm Geheilten. Einer Besessenen, die sich dramatisch windet, entschwinden die von Ignatius ausgetriebenen Teufel durch das Fenster. Der dankbar zu ihm hochblickende Mann ganz rechts mit dem Strick um den Hals ist jener, dessen Tod Ignatius hinausschob, um ihn zuvor die Beichte ablegen zu lassen. Die beiden Frauen mit kleinen Kindern sollen an die Hilfe erinnern, die Ignatius gebärenden Frauen zuteil werden ließ. Ignatius und seine Gefährten bilden eine statuarische Gruppe, die von Engelchen begleitet ist. Dagegen herrscht im Vordergrund vitale und mitreißende Aktivität. Die Protagonisten bieten sich im Sinne affektiver Identifikationsfiguren unterschiedlichen Betrachtern an. Ganz ähnlich verhält es sich beim Altarbild mit den Wundern des Franz Xaver, der allerdings ohne Nimbus erscheint, da er damals noch nicht einmal selig gesprochen war. Vorn erscheinen Kranke, Krüppel, vom Tode erweckte Männer und Frauen. Die zerstörten Idole beziehen sich auf die Vernichtung heidnischer Götter in Indien. Auch diese lebendige Darstellung einer Vielfalt von Charakteren eröffnet Gläubigen unterschiedlicher Temperamente ein breites Spektrum von Ansätzen der Rezeption. Für den zur Macht drängenden Orden waren die beiden Altartafeln ein Mittel, das »die gewünschte Heiligsprechung dem Volk sozusagen nahebringen und damit unterstützen sollte« (Simson a. a. O.). Aber es ging nicht nur um die Stärkung der Position der Jesuiten innerhalb der katholischen Kirche. 1566 war der Bildersturm in Flandern und Brabant losgebrochen und griff anschließend in die nördlichen Provinzen über. Bildersturm, »das hieß Ikonoklasmus entsprechend der Lehre Calvins, aber enthielt auch den Versuch, loszukommen von den Abb. 2: Peter Paul Rubens, Heckenpredigten im Freien und ein Die Wunder des Heiligen Ignatius Gotteshaus zu erwerben« (Ladema- von Loyola, 1620. cher 1983: 58 f.). Antwerpen wurde

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nach harten Auseinandersetzungen zunächst zu einer protestantischen Stadt. Doch nach der Einnahme der Stadt durch die Spanier im Jahre 1585 kehrten sich die Verhältnisse um, was den Jesuiten erlaubte, ihr Kollegium, das die Calvinisten geschlossen hatten, wieder zu eröffnen (Isacker et al. 1986: 124, 187). Der Kampf des Ordens um Anerkennung ist eingebettet in den Unabhängigkeitskrieg der Niederlande, in dessen Verlauf die südlichen Niederlande wieder an Katholizismus und spanische Herrschaft zurückfielen, während sich die nördlichen Provinzen in der protestantischen Union von Utrecht zusammenschlossen. Der Prager Fenstersturz bildete 1618 das Startsignal für den Dreißigjährigen Krieg, den großen Religionskrieg. Kurz nach Fertigstellung der Altartafeln mit Ignatius und Franz Xaver brach der Krieg zwischen der verfeindeten Religionslagern auch auf niederländischem Boden wieder aus. Wäre es – diese Umstände berücksichtigend – nicht zutreffend, Rubens als genialen Propagandisten der Gegenreformation zu bezeichnen?

G ENESE

DES P LAKATS IN DER BÜRGERLICHEN W ELT Im 19. Jahrhundert wirkten sich die Industrialisierung, das Erkämpfen demokratischer Regierungsformen und die Durchsetzung bürgerlicher Prinzipien der Lebensführung auf das Gebiet der Reklame in mehrfacher Hinsicht aus. Die Industrialisierung brachte die große Fabrik, die handwerkliche Produktion weitgehend verdrängte. Demokratisierung brachte den Kampf der Parteien um Wählerstimmen sowie das Entstehen politischer Bewegungen. Die bürgerlichen Prinzipien der Lebensführung brachten neuartige kulturelle Institutionen und bewirkten eine Veränderung der Kunstauffassung. Mit der großen Fabrik trat eine grundlegende Änderung im Verhältnis von Produzent und Konsument ein. In der vorindustriellen Ära begann beispielsweise ein Schreiner mit der Herstellung eines Stuhles erst, wenn ein Kunde diesen bei ihm bestellt hatte. Die Fabrik dagegen stellte Waren für einen anonymen Markt her. Für diese Erzeugnisse musste bei der potentiellen Kundschaft geworben werden, um sie abzusetzen. Werbung war zum lebensnotwenigen Moment der Ökonomie geworden.

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Karl Marx und Friedrich Engels bescheinigen der Bourgeoisie im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848, sie habe »in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt«. Erst die Bourgeoisie habe bewiesen, »was die Tätigkeit des Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge« (Marx/Engels 1972: 464 f.). Mit der Revolutionierung der Produktions- und Lebensverhältnisse begann aber auch der Kampf der unteren Klassen um die bürgerlichen Grundrechte. Nach und nach gelang es, demokratischere Prinzipien durchzusetzen. Diese Prozesse wurden, wie bereits Marx und Engels feststellten, »befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden« (a.a.O.: 471). Seither wurde politische Werbung, in einer gewissen Parallelität zur Warenwerbung, zur Lebensader von Demokratien. Die Hegemonie des bürgerlichen Habitus verband sich im frühen 19. Jahrhundert mit einer Neufassung des Kunstbegriffs. Diese neue Auffassung hatte unmittelbar Relevanz für die Werbung. In der vorbürgerlichen Epoche waren beispielsweise ein Gemälde oder eine Skulptur nach der Seite der Produktion stets Auftragsarbeit, solche Werke wurden nur auf Bestellung begonnen. Die Verträge, die zwischen Auftraggebern und Meistern abgeschlossen wurden, legten die Maler oft bis in die Wahl der Farben fest (Baxandall 1977: 9-40). Der Bereich der Druckgrafik bildete allerdings eine gewisse Ausnahme. Die vervielfältigenden Künste erlaubten es dem Künstler, die Initiative zu ergreifen. Ohne auf einen direkten Auftraggeber angewiesen zu sein, konnte er Drucke in großer Zahl herstellen und verkaufen. Ihr Markt war breiter, weil sie selbstverständlich preisgünstiger als Gemälde waren, und deshalb »fanden diese Drucke einen Markt wie gedruckte Bücher« (Panofsky 1977: 60). Nach der Seite der Rezeption waren früher die Werke der sakralen und der höfischen Kunst – in jeweils unterschiedlicher Weise – in die Lebenspraxis eingebunden. Als Kult- bzw. Repräsentationsobjekte hatten sie ihre jeweiligen Verwendungszwecke. Für die Kunst der bürgerlichen Epoche trifft das nicht mehr in gleichem Maße zu. Die entscheidende Veränderung war, dass nun das Ideal im vereinzelten Erschließen eines Kunstwerkes bestand. Dem bürgerlichen Selbstverständnis entsprechend, wurde für die Kunst ein Bereich geschaffen,

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der außerhalb der Rationalität der Berufspraxis angesiedelt ist. Das erschien sinnvoll, weil damit dem Bürger die Möglichkeit eröffnet werden sollte, die Fülle seiner Anlagen zu entfalten. Da er, der – beispielsweise als Unternehmer – berufstätig war, zweckrational agieren musste, war ihm in seinem Arbeitsfeld eine allseitige Entwicklung verwehrt. Der Bereich der Kunst sollte ihn jedoch dafür entschädigen. Dies konnte allerdings nur unter der Bedingung ins Auge gefasst werden, dass eine strikte Scheidung der Kunstwelt von der Berufstätigkeit gewahrt blieb, um der Vorherrschaft des Zweckrationalen einen Riegel vorzuschieben. Kunst sollte sich autonom, unbeeinflusst von kunstfremden Zwecksetzungen entfalten. »Auf der Bahn ihrer Rationalität und durch diese hindurch«, so das bürgerliche Credo, »wird die Menschheit in Kunst dessen inne, was Rationalität vergisst« (Adorno 1970: 105). Das Kunstmuseum ist die Institution, die der Idee des autonomen Werks verpflichtet ist. Das erste Museum, der Louvre, entstand in Paris im Kontext der französischen Revolution. Seinem Vorbild folgten viele Museumsgründungen in den europäischen Ländern. Das Museum ist für das Kunstdasein der Moderne konstitutiv, es bestimmt die gesamte Kunstepistemologie, die erkenntnisleitende Theorie sowohl der Kunstgeschichte als auch der kunstvermittelnden Institutionen (Crimp 1996: 34). Die Künstler, deren Grundhaltung von nun an durch das Streben nach Autonomie geprägt war, hielten sich von Auftragsarbeiten für die Welt der Industrie und des Handels fern. Sie fürchteten jede Form der Fremdbestimmung, die in ihre Arbeit hineinregieren Abb. 3: Anonym, Reitkunst Augsburg, könnte, wie der Teufel das 1823, (48 x 40 cm). Weihwasser. Das Paradigma der Beaux-Arts, deren Fundament die strikte Autonomie des Künstlers ist, steckte die ästhetischen Bedingungen ab, unter denen sich die Waren- und die Politikwerbung entwickeln konnten. Da das Feld der autonomen Kunst hoch, das der

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angewandten Kunst aber gering bewertet wurde, stand es miserabel um die Reklamebilderwelt. Denn künstlerische Kreativität musste sich davon fernhalten. Die Ankündigung für eine »Reitkunst«-Veranstaltung aus dem Jahre 1823 in Augsburg (Abb. 3) verzichtet auf Farben. Das angepriesene Spektakel wird durch einen unbeholfenen Holzschnitt anschaulich gemacht. Dem Bildchen folgt eine langatmige Schilderung der Veranstaltung im Buchdruck, und am Schluss kommt ein Gedicht in drei Strophen sowie die Angabe der Eintrittspreise. Neben Veranstaltungen verlangt die auch in Deutschland aufkommende Massenproduktion von Gebrauchsgütern nach Werbung. Im Zentrum des für Innenräume bestimmten Plakats für »Eau de Cologne« (Abb. 4) befindet sich eine kleine schwarzweiße Lithographie mit der Stadtansicht von Köln, die umgeben ist von kolorierten fürstlichen Wappen. Die Einfassung bildet ein ebenfalls kolorierter ornamentaler Rand. Der ausschweifende – im Buchdruck gedruckte – Text ist Französisch, der Sprache der höheren Stände, die als Käufer in Betracht kommen. Er schildert die Vorzüge des Kölnisch Wassers Abb. 4: Anonym, Eau Admirable de und führt adelige Benutzer an. In Cologne, 1833, (65 x 52 cm). den frühen Werbeplakaten versuchen die Texte die Kunden zum Konsum zu verführen, die Illustrationen bleiben im Rahmen eines schmückenden Beiwerks. Noch textlastiger sind die politischen Äußerungen. Das Blatt »Auf, Auf! Gegen die Reaction!« vom Juni 1848 (Abb. 5) erinnert an die Errungenschaften des 19. März, an dem König Friedrich Wilhelm IV. den Rückzug der Truppen befahl und sich vor den aufgebahrten Opfern des Aufstandes verneigt hatte (Rürup 1984: 178). Da sich die mittlerweile erstarkte politische Reaktion daran machte, die Freiheitskämpfer »mit Hohn und Spott zu überschütten«, ruft der anonyme Autor zur Gegenwehr auf, allerdings »nicht zum Kampfe, denn dessen

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bedarf es nicht«; vielmehr appelliert er idealistisch: »schaart Euch zusammen in treuer einiger Gesinnung, die Freiheit sei Euer Banner, die Errungenschaft unserer glorreichen Revolution Euer Schild, das Gesetz Euer Schwerdt, das scharfe Wort Euer Wurfspieß.« Der Aufruf, der auf jegliche Illustration verzichtet, ist eine Buchstabenwüste. In Paris waren die Verhältnisse in diesen Tagen nicht anders. Ein Beispiel dafür sind Plakate der von Auguste Comte initiierten positivistischen Gesellschaft, die in den Straßen angeschlagen wurden. »Comte hatte die Möglichkeiten der Plakatierung schon früh für eigene Abb. 5: Anonym, Auf, Auf! Gegen propagandistische Zwecke genutzt. In die Reaction! 1848, (49 x 36 cm). der Folge der Februarrevolution von 1848 hatte er drei Arbeiter – die ›Kommissare‹ Magnin, den Schreiner, Jacquemin, den ›ouvrier mécanicien‹, und den Schuster Belpaume – damit beauftragt, einen Bericht über die Arbeiterfrage zu verfassen.« (Lepenies 2010: 114 f.) Auguste Comte schrieb das Vorwort. Lepenies behandelt diese Anschläge, was irreführend ist, unter dem Stichwort »das Zeitalter der Plakate«. Denn es sind keine Plakate. Deshalb fühlt sich Lepenies – wohl auch etwas erstaunt – zur Bemerkung veranlasst, die Gestaltung des Berichts habe »aber mehr Ähnlichkeit mit einer Zeitungsseite als mit einem Plakat« (a.a.O.: 16). Tatsächlich haben die Anschläge dieser Epoche mit dem Plakat, wie es seit dem späten 19. Jahrhundert die Abb. 6: Alfred Concanen, Modern Advertising Straßen der Städte bebil– A Railway Station in 1874, (18 x 37 cm). dert, nichts gemein.

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Auch in der englischen Warenwerbung dominierte noch lange Zeit das Wort. Alfred Concanen schildert im Jahre 1874 in einer Farblithographie, die einer Monographie über die Geschichte der Werbung beigebunden ist (Sampson 1874), den Entwicklungsstand modernster Werbung. Seine Darstellung gibt die Innenansicht eines Londoner Bahnhofes wieder (Abb. 6). Über den Menschen und Zügen prangt großflächige Reklame in abgeteilten Feldern. Großformatige, auf Fernsicht berechnete Schrift dominiert. Sie ist in unterschiedlicher Typografie und Farbgebung vor verschiedenfarbige Flächen gesetzt. Hin und wieder wird die Typographie durch kleine piktorale Einsprengsel aufgelockert: in die Werbung eines Juweliers ist eine kleine Krone gezeichnet, in das »S« des Wortes »Scotland« einer Schneider-Werbung für schottische Kleidung ist ein kleines Modell dieses Modetyps einbeschrieben etc. Aber durchgehend liegt die führende Rolle im Reklamedesign bei der Schrift. Entsprechend verhielt es sich auch bei Annoncen in Zeitschriften (Abb. 7). Damit die »freien Künste« nicht durch praktische Zwecksetzungen irgendwelcher Auftraggeber infiziert werden konnten, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die »angewandten Künste« eigene Institutionen gegründet: die Kunstgewerbemuseen. Der Nachwuchs für diesen Bereich lernte an Kunstgewerbeschulen. Dagegen Abb. 7: La Vie Moderne, 22 studierten die »freien« Künstler an den Décembre 1883, p. 824. Kunstakademien. So gab es nicht nur zwei Klassen von Museen, sondern auch zwei unterschiedlich bewertete Ausbildungsgänge. Das frühe Plakat verharrte auf einem ästhetischen Niveau nahe dem absoluten Nullpunkt. Die Grenzziehung zwischen Kunst und Kunstgewerbe blockierte jede ästhetische Entwicklung. Die Gestaltung der Reklame war durch das handwerkliche Berufsethos der Kunstgewerbler bestimmt, die ihren Ehrgeiz in saubere Ausführung und Detailreichtum legten. Die Künstler dagegen bewegten sich im Ideen-

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himmel der reinen Kunst und scheuten ängstlich Kontakte zur industrialisierten Lebenswelt.

D IE

POST - IMPRESSIONISTISCHE

R EVOLUTION

Der Impressionismus legte die Lunte an das Pulverfass, das den KunstIdealismus schließlich sprengte. Die Impressionisten bildeten seit den späten 1860er Jahren eine Gruppe von freien Geistern, die sich gerne im Café Guerbois trafen. Kritisch gegenüber dem herrschenden moralisierenden Konformismus eingestellt, der sich vor allem im Zweiten Kaiserreich Napoleons III. durchgesetzt hatte und auch die SalonKunst dominierte, fanden sie sich dort zu Diskussionen ein (Rewald 1979: 128 ff.). Ihre die künstlerischen Konventionen ablehnende Auffassung korrespondierte mit ihrer oppositionellen Haltung gegenüber dem Regime. Sie waren zunächst Außenseiter des Kunstbetriebes, doch letztlich setzten sie sich durch – und der Post-Impressionismus konnte die nötigen Schlussfolgerungen ziehen. Der Impressionismus hatte den Weg zum Werbeplakat in zweifacher Hinsicht geebnet. Zum einen legte er Wert darauf, »das Sujet durch das Spiel von Farbe und Lichteffekten« zu gestalten, »wobei alle Details, die für den Gesamteindruck nicht wesentlich waren, außer Acht gelassen wurden. Der im Einzelnen flüchtige Eindruck impressionistischer Malweise gab in seiner farblichen Gesamtkomposition dem auf Fernwirkung ausgehenden modernen Plakatschaffen wichtige Impulse.« (Rademacher 1965: 21) Zum anderen bestand die große Leistung der Impressionisten in der Hinwendung zum Alltagsleben der industrialisierten Welt. Während die Salon-Kunst ihre Themen gerne aus dem Ideenhimmel der humanistischen Bildung wählte, wandten sie, die künstlerischen Oppositionellen, sich dem Leben der Großstädter in der industrialisierten Welt zu (Hieber 2010: 79-81). Die Impressionisten ignorierten den Mythos von der »Geburt der Venus«, dem sich Cabanel 1863 oder Bouguereau 1879 widmeten (Musée d’Orsay, Paris) oder die Geschichte von »Phryne vor den Richtern«, die Gérôme 1861 darstellte (Kunsthalle Hamburg). Stattdessen interessierten sie sich für den Ausflug aufs Land, für die Eisenbahn, für Ruder- und Segelsport, für die Landbevölkerung bei der Arbeit, für pikante Situationen oder auch für die Straßen und Plätze von Paris.

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Der erste, der die impressionistischen Errungenschaften für das Plakat nutzte, war Jules Chéret. Als gelernter Lithograph und im Zeichnen gebildet, hielt er sich mehrere Jahre in London auf, um sich in der Farblithographie zu vervollkommnen. Fortschritte in der Farben- und in der Druckindustrie ermöglichten seinen Weg. Bereits der Impressionismus »entstand zeitgleich mit der aufkommenden Farbenindustrie. Neue synthetische Pigmente auf Chrom-, Cadmium-, Zink-, Kupfer- oder Arsenbasis erweiterten das Spektrum um kräftig leuchtende Farbtöne und revolutionierten die Malerei.« (Cattaneo/Lipscher 2010: 140) Die mehrfarbigen Plakate des späten 19. Jahrhunderts waren Lithographien. Jede einzelne Farbe wurde in einem eigenen Vorgang auf das Papier gedruckt; um ein mehrfarbiges Plakat zu erzeugen, mussten also mehrere Druckgänge nacheinander geschaltet werden. Die lithographischen Schnellpressen ermöglichen kostengünstige Produktion (Wolf 1992:468 ff.). Chéret reduzierte die Zahl der Druckvorgänge durch Beschränkung auf wenige Farben, Mischtöne erzeugte er durch Spritztechnik und Überlagerung. Chérets Plakat für die Werbefirma »Bonnard-Bidault« aus dem Jahre 1887 (Abb. 8) nähert sich, noch etwas ungelenk, dem Niveau der impressionistischen Ästhetik. Es versammelt additiv die Attribute der Reklame. Die geflügelte Botin hält eine altertümliche Posaune in den Händen, rechts neben ihr befinden sich Schiffsmasten und eine Lokomotive, unten der geflügelte Stab des Händlergottes Merkur sowie Hammer und Amboss. Das Bild erzählt von den Aufgaben einer Werbefirma, ist also unmittelbar the- Abb. 8: Jules Chéret, Bonnardmenbezogen. Die Umrisslinien sind Bidault, 1887, (117 x 82 cm). schwarz gezeichnet, die Darstellung beschränkt sich auf wenige Farben. Gerahmte Typografie bestimmt das Plakat.

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Wenige Jahre später ist der Durchbruch zu erkennen. Chéret hat nun die ästhetischen Prinzipien des Impressionismus erfasst. Jetzt vermeidet er schwarze Konturen prinzipiell (Broido 1992: XI). In seinem »Saxoléine« (Abb. 9) von 1892, Reklame für Sicherheitspetroleum, beschränkt sich Chéret auf wenige leuchtende Farben, Schattenzonen und Mischtöne erzeugt er durch Spritztechnik. Zu den von ihm entwickelten und noch heute gültigen Prinzipien der Plakatgestaltung zählen: »Die Beschränkung des Textes zugunsten der bildhaften Aussage und seine Angleichung an die Komposition; die Verwendung weAbb. 9: Jules Chéret, Saxoléine, niger kontrastierender Farben, die unter 1892, (122 x 84,5 cm). freiem Himmel und auf große Distanz hin ihre Faszination ausüben; die Vergrößerung des Plakatformats; die Konzentration auf ein attraktives Motiv.« (Thon 1977: XIX) In diesem »Saxoléine«-Plakat setzte er das grüne Kleid und den grünen Lampenschirm vor den Komplementärkontrast eines roten Farbfeldes; das Rot wiederholt sich im Schriftzug der Marke, der über den Rock läuft. Während das »Bonnard-Bidault« noch die beworbene Reklamefirma durch eine Posaune symbolisiert und ihre wirtschaftliche Bedeutung anekdotisch ausbreitet, verzichtet das »Saxoléine« auf langatmige Erläuterung von Vorzügen und Eigenschaften des Lampenpetroleums. Stattdessen stellt Chéret nun Lebensgefühl dar. Die Vorzüge der Ware werden nur am unteren Rand stichwortartig aufgelistet. Im Zentrum steht die tänzerische Grazie der jungen Dame im deAbb. 10: Pal (Jean de Paléokolletierten Kleid, die Unbeschwertheit logu): Rayon d’or, vor 1896, und Ausgelassenheit ausstrahlt. (122,5 x 82 cm).

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Auf diese Errungenschaft bauten viele Pariser Plakate unterschiedlicher Stilrichtungen auf. Jean de Paléologue, der seine Werke als Pal signierte, war dem Symbolismus verbunden. Er wurde in England gebildet, tat dann Dienst in der rumänischen Armee und siedelte anschließend nach Paris über. Sein »Rayon d’Or« (Abb. 10), das er vor 1896 schuf, feiert einen Glühstrumpf als »letztes Wort der Beleuchtung«. Eine Art erwachsene Elfe schwebt vor einer hell strahlenden Gasleuchte. Ein Schleier lenkt den Blick mehr auf die Formen des weiblichen Aktes, als dass er ihn verhüllt. Abb. 11: Jules Chéret, Pippermint, Wenig später, im Jahre 1899, ent1899, (123 x 86 cm). stand Chérets »Pippermint« (Abb. 11). Edgar Degas hatte die Farbwirkungen der (Gas-)Beleuchtung auf dem Theater untersucht (Tinterow 1988: No. 175. Boggs 1988: No. 359). Seine Farbnuancen werden von Chéret radikalisiert, flächiges Grün des Antlitzes und der Kleiderpartien setzt er vor komplementäres Rot. Bemerkenswert ist, dass die Fauves erst einige Jahre später einen entsprechend radikalen Schritt zur Befreiung der Farbe wagten. Das Plakat Chérets weist indes nicht nur Bezüge zur Kunstentwicklung auf und ist mit dieser vermittelt. Es schlägt zugleich auch ein neues Kapitel des Reklamewesens in zweifacher Hinsicht auf. Zum einen beginnt mit den Chéret-Plakaten das, was seit den 1960er Jahren als Poster-Kultur bezeichnet wird. Diese Werke wurden nicht nur als Wer- Abb. 12: Le Courrier Français, bung geklebt, sie gingen auch in den 2 Novembre 1902, p. 12 (Detail).

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Verkauf für Privatpersonen. Druckfrisch wurde das »Pippermint« in Originalgröße zum Preis von 3 Francs angeboten, eine kleine Version in Viertelgröße zum Preis von 1 Franc; nach wenigen Jahren, mit wachsendem Seltenheitswert, stieg der Preis von Chéret-Plakaten auf 5 Francs für Kleinformate und 10 Francs für Großformate (Le Courrier Français vom 31 Décembre 1899, p. 12) (der Preis2 eines druckfrischen ChéretGroßplakats der Maße 122 x 82 cm entspricht dem heutigen Geldwert von etwa 45 Euro, der des druckfrischen Kleinformats von 61 x 42 cm etwa 15 Euro). Zum anderen erscheint das Motiv nicht nur als Plakat, sondern es erhält – nun in Schwarzweiß – die Form einer Annonce in Zeitschriften (Abb. 12). Damit ist ein Startpunkt für Strategien der Werbung im Medienverbund gesetzt. In Deutschland, dessen Kunstakademien von kämpferischen Gegnern des Impressionismus geleitet wurden, hatte es das neue Prinzip der Werbung zuAbb. 13: Alphonse Mucha, XXme nächst schwer. Erst die internationale Exposition du Salon des Cent, Stilbewegung, die in Frankreich als Art 1896, (64 x 43 cm). Nouveau und in Deutschland als Jugendstil bezeichnet wird, führte zu seiner Verbreitung. Alphonse Mucha war in Paris führend. Der demokratischen Idee verpflichtet, schätzte er sich, wie er sagte, »glücklich, einer Kunst verpflichtet zu sein, die für das Volk und nicht für die ge-

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Ein Hilfsmittel zur näherungsweisen Umrechnung des Verkaufspreises auf heutigen Geldwert liefert Vincent van Gogh, der im April 1886 eine Straßenszene auf eine Speisenkarte zeichnete, die in das Werkverzeichnis des Künstlers aufgenommen wurde (Hulsker 1980: Nr. 1033). Das Restaurant wird sicher, van Goghs Lebensumständen entsprechend, einfach gewesen sein. Nach den angegebenen Preisen hätte man ein Menü für etwa 1,20 Francs (Getränke nicht einbegriffen) zusammenstellen können. Bezogen auf heutige Preise wäre demzufolge ein großformatiges druckfrisches Chéret-Plakat mit ungefähr 45 Euro zu veranschlagen, ein etwa fünf Jahre altes Großformat auf 150 Euro.

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schlossenen Salons bestimmt ist«; und er pries die Vorzüge, »zugänglich für alle zu sein, und seinen Ort ebenso bei den armen Familien wie bei den vermögenden Milieus gefunden zu haben« (Rennert et al. 1984: 10; übers. L. H.). Der weibliche Halbakt in Muchas »XXme Exposition du Salon des Cent« (Abb. 13) aus dem Jahre 1896 neigt sich nonchalant zur Seite. Goldene Haare rahmen in ornamentalen Formen das Haupt und fallen in den für den Künstler typischen Makkaroniformen nach unten. Eine selbstversunkene Entrücktheit liegt auf dem Antlitz. Die Jugendstilkünstler liebten das Verspielte, das Schwelgen in organischen Formen. Sie benutzten gerne auch die Farben Gold und Silber. Durch die Thematisierung des Erotischen scheuten sie sich nicht, biederbürgerliche Wohlanständigkeit zu schockieren. Fritz Dannenbergs Plakat für die Zeitschrift »Jugend« (Abb. 14) trägt diesen unkonventionellen Habitus nach München. Eine junge Frau reitet im roten Trikot auf einer Sektflasche. Der Sekt spritzt und lässt den Korken knallen. Auch hier wird wieder Gold verwendet, für die Typografie des Etiketts und den Hals der Flasche. Das Motiv illustrierte, in Schwarzweiß, das Neujahrsgedicht von Fritz von Ostini im Jugend-Heft vom 2. Januar 1897 (Ostini 1897). Abb. 14: Fritz Dannenberg, Ein Künstler indes, der dem aka- Jugend, 1897, (66,6 x 49,3 cm). demischen Beaux-Arts-Habitus verpflichtet blieb, rang sich allenfalls zur Gestaltung eines Plakats durch, wenn es sich um Werbung für eine Ausstellung handelte. Der Symbolist Franz von Stuck, Professor für Malerei an der Akademie der bildenden Künste in München, setzte in seiner Werbung für die Kunstausstellung von 1897 in München (Abb. 15) lediglich Malerei in einen großformatigen Druck um. Das Überwinden der tiefen Kluft, die »hohe« Kunst und »angewandte« Kunst trennte, gelang ihm nicht. Gesamteindruck und Fernwirkung, die grundlegenden Prinzipien der Plakatgestaltung, blieben ihm fremd. Anders als bei Chéret und den Jugendstilplakaten ist die Schrift nicht in die Komposition einbezogen,

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schwere schwarze Felder mit winzigen Bildchen und kleinteiligen Schmuckornamenten bestimmen das Bild. Wenn ein Künstler es »an sich schon für unwürdig« hielt, »im Dienste eines praktischen Zweckes tätig zu sein – wie viel mehr musste er da die BeAbb. 15: Franz Stuck, VII. internationale schäftigung mit der ReKunstausstellung München, 1897, klame als eine Ernied(72 x 100,5 cm). rigung zurückweisen« (zur Westen 1903: 20). Da er sich offensichtlich nicht mit den Prinzipien der Werbegestaltung befasste, wird man beim Plakat für die Kunstausstellung »kaum behaupten können, dass ihm dies sonderlich geglückt ist« (a.a.O.: 45). Gleichwohl ist das Plakat im Heft der Zeitschrift Jugend vom 29. Mai 1897, jedoch unkommentiert und auf der Humor-Seite, in Schwarzweiß reproduziert.

D IE E RSCHÜTTERUNGEN DES FRÜHEN 20. J AHRHUNDERTS UND IHRE F OLGEN Die kulturellen Auswirkungen des Nach-Impressionismus währten über Jahrzehnte. Zunächst ebnete die internationale Stilbewegung einer Erweiterung des Kunstbegriffs den Weg. Diese Künstler wandten sich von den Beaux-Arts-Prinzipien ab, und damit vom strikten Autonomieanspruch der Kunst. Sie warfen die Wertehierarchie über Bord, die zwischen »freier« und »angewandter« Kunst unterschied. Dem lag die Erkenntnis zugrunde, dass nicht nur die kontemplative Versenkung in ein Gemälde zur Bildung beitragen kann. Auch ein ausdrucksstarkes Werbeplakat geht nicht im Zweck der Werbung auf, sondern besitzt einen ästhetischen Eigenwert. Der Jugendstil widmete sich – zunächst in einer handwerklichen Grundorientierung – neben dem Gemälde nicht nur dem Plakat, sondern auch der Architektur, dem Möbel, dem

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Schmuck, der Buchgestaltung und der Kleidermode. Damit erweiterte sich das künstlerische Tätigkeitsfeld, ungeachtet der konservativen Gegenwehr, auf die Gestaltung lebenspraktischer Gebrauchsdinge. Diese Grundhaltung lebte fort, auch nachdem sich das Schwelgen des Jugendstils in organischen Formen überlebt hatte. Nun verbanden sich die Gestaltungsprinzipien mit der ästhetischen Sprache des Expressionismus, und sie begannen daneben auch, sich in geometrischer Klarheit auszudrücken. Beispielhaft dafür steht der Weg des Malers, Grafikers und Schriftstellers Adolf Uzarski. Er war ein Rheinländer, den der Beginn des Ersten Weltkrieges aus der Bahn geworfen hatte. Während eines Studienaufenthaltes in Paris vom Kriegsausbruch überrascht, traf er mit einem der letzten Züge in Düsseldorf ein. Dort übertrug ihm der kunstbegeisterte Warenhausbesitzer Leonhard Tietz die Leitung der Werbeabteilung seines Kaufhauses (heute Kaufhof). Denn Uzarski war nicht nur Maler, er besaß – dem erweiterten Kunstbegriff angemessen – auch das Rüstzeug des Werbegrafikers. Eine seiner Arbeiten für das Kaufhaus, die kurz nach Ausbruch des Krieges entstand, schuf er im Jahre 1914 für die Präsentation der HerbstMode (Abb. 16). Dieses Werbeblatt hat das gebräuchliche, sonst bei Litfaßsäulen-Anschlägen verwendete, Format; es ist nicht gedruckt, sondern mit Gouache-Farben auf Papier gemalt, also ein Unikat. Es wird wohl an markanter Stelle des Kaufhauses angebracht gewesen sein, etwa in einem Schaukasten im Eingangsbereich, um auf die Mode-Präsentation hinzuweisen. Die knapp gehaltenen Angaben weisen lediglich auf eine Mode-Ausstellung in der 1. Etage des Hauses hin. Wäre das Plakat auf Werbeträgern in der Stadt angeschlagen gewesen, hätte mindestens das Kaufhaus Leonhard Tietz namentlich bezeichnet werden müssen. Da es Abb. 16: Adolf Uzarski: Herbstnur dem Hinweis auf die Dekorati- Mode 1914, 1914, (66,2 x 87,3 cm). on der aktuellen Herbstmode im

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eigenen Haus diente, brauchte es nicht in höherer Auflage hergestellt werden. So konnte dieses Plakat seine Funktion auch als Einzelstück erfüllen. Nach Kriegsende spielte Uzarski, weiterhin durch den kunstbegeisterten Leonhard Tietz gefördert, in der rheinischen Kunstszene eine tragende Rolle. So zählte er, wenige Monate nach der Novemberrevolution 1918, zu den Mitbegründern der Künstlervereinigung Das Junge Rheinland. Unmittelbar nach der Gründung gehörte nahezu das gesamte Lehrerkollegium der Essener Kunstgewerbeschule der Vereinigung an (Driller 2008: 36). Im Jahre 1922 konnten Uzarski und seine Mitstreiter im Warenhaus Tietz eine internationale Kunstschau durchführen. Leonhard Tietz besaß den Mut, in dem noch vom französischen Militär besetzten Düsseldorf, Raum für eine schwerpunktmäßig an der französischen Moderne orientierte Kunstausstellung zur Verfügung zu stellen. Da außerdem viele der Künstler aus jüdischen Familien stammten, zog die Veranstaltung Proteste nationalistisch-antisemitischer Gegner auf sich (Baumeister 2008: 14). Die Erschütterungen des Ersten Weltkrieges und die bewegten Jahre der frühen Weimarer Epoche trugen, oft gegen erbitterten Widerstand konservativer Kunstpolitik, nicht nur im Rheinland zur Lockerung überkommener Traditionen bei. Hier blieben die Innovationen noch recht moderat, jedenfalls im Vergleich mit den kulturellen Revolutionen andernorts. Das Junge Rheinland band eher Unterschiedliches zu einem bunten Strauß zusammen. Dagegen bündelten andere Gruppierungen ihre Kräfte stringenter, um zur Bewältigung anstehender Probleme beizutragen; sie bildeten den Kern dessen, was wir heute als historische Avantgarde bezeichnen. Die wirkmächtigsten Stoßrichtungen der historischen Avantgarde entfalteten sich auf zwei Wegen (Hieber/Moebius 2009). Für den einen steht das Bauhaus, das sich eine Fortentwicklung des erweiterten Kunstbegriffs auf die Fahnen schrieb, für den anderen der Dadaismus, der die Kunst in politische und soziale Zusammenhänge überführte. Das Bauhaus entstand in Weimar. In diesem Städtchen befand sich eine der fortschrittlichsten Kunstgewerbeschulen. Sie wurde von Henry van de Velde geleitet, einem tonangebenden Künstler des Jugendstils. Da er als Ausländer nach Beginn des Ersten Weltkrieges in zunehmendem Maße angefeindet wurde, entschloss er sich, Deutschland zu verlassen und Walter Gropius als Nachfolger zu berufen. Nach dem Ende des Krieges konnte Gropius das Bauhaus in Weimar aufbauen,

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»eine Kunsthochschule, die als Nachfolgerin einer Akademie und einer Kunstgewerbeschule durch beider ›Vereinigung‹ zustande gekommen ist« (Wingler 1975: 11). Damit erfüllte sich das JugendstilIdeal. Es wurde allerdings bald modifiziert. Den gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechend stellten die Avantgardisten des Bauhauses mehr und mehr den Gedanken einer Gestaltung industrieller Serienprodukte in den Vordergrund, indem sie die Ausrichtung auf das Handwerkliche und eine Betonung des Individuellen aufgaben. Selbstverständlich entwickelten sich die Ziele dieser Kunsthochschule als Teil einer internationalen Bewegung, in ständiger intensiver Kommunikation mit anderen Gruppierungen und Schulen, zu denen De Stijl in Holland (Jaffé 1967) und Wchutemas in Moskau (Adaskina 1992) zählten. Die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis, wie sie für die avantgardistischen Gruppierungen charakteristisch war, erfolgte auf dieser Entwicklungsstufe, mit dem technisch-industriellen Fortschritt einhergehend, durch eine Ausweitung des Kunstbegriffs über das alte Jugendstil-Programm hinaus. Neben der Lehre in Architektur, bildender Kunst, Bildhauerei und Bühne gab es Fotografie sowie Werkstätten für Metall, Keramik, Wandmalerei, Weberei; nachdem das Bauhaus nach Dessau umgezogen war, wurde auch eine Werkstatt für Druck und Reklame eingerichtet (Brüning 1999). Das Bauhaus war indes nicht nur eine Kunstakademie, die im umfassenden Spektrum aller Kunstgattungen ausbildete, es war auch ein Forschungsinstitut. Als Resultate möchte ich zwei Werke erwähnen. Das erste, die grundlegende Untersuchung der formalen Gestaltungselemente, die Wassily Kandinsky mit »Punkt und Linie zu Fläche« vorlegte, erschien in der Reihe der Bauhausbücher (Kandinsky 1926). Das zweite erschien erst viel später, geht aber sicher auf Konzepte des Bauhauses zurück: es ist »Interaction of Color«, das Josef Albers, der bis zur Vertreibung durch die nationalsozialistische Diktatur dort gelehrt hatte, nach langer weiterer Forschungstätigkeit in den USA im Jahre 1963 publizierte (Albers 1963). Die Werbegestaltung des Bauhauses konnte ein Stück weit auf die Errungenschaften von Werbegrafikern der Vorkriegszeit zurückgreifen. In Berlin war das Sachplakat aufgekommen, das auf alles Anekdotische verzichtet. Die führende Druckerei Hollerbaum & Schmidt beispielsweise beschäftigte junge Künstler, die Entwürfe nach Absprache mit den Auftraggebern lieferten (Lasius 1989: 18 f.). Julius Gipkens zählte zu diesem Stamm. Sein »Kaiser Brikett« aus dem Jahre 1913

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(Abb. 17) räumt dem beworbenen Gegenstand, über das ganze Format des Blattes, viel Raum ein. Das schwarze Brikett liegt in der ›harmonischen Diagonale‹ (Kandinsky 1926: 122), die abwechselnd roten und gelben, züngelnden Schlangenlinien beleben das Bild in gegensinniger Aufwärtsbewegung. Das Sachplakat rückt den Gegenstand ins Zentrum, um den es geht. Die Ware wird stilisiert wiedergegeben und mit der Markenbezeichnung verknüpft. Durch Beschränkung auf sehr wenige, aber kräftige Farben erregt es Aufmerksamkeit. Da es nur zwei Worte trägt, ist es auf einen Blick erfassbar. Diese Plakate sind für das hektische Großstadtgetriebe funktional: es handelt sich um visuelle Telegramme. Auf die Prinzipien dieser Werbegestaltung konnte das Bauhaus ein Jahrzehnt später zurückgreifen. Mitten im Ersten Weltkrieg entstand der Dadaismus (um Mitte der 1920er Jahre begannen dann die Surrealisten, auf seinen Errungenschaften aufAbb. 17: Julius Gipkens, Kaiser Brikett, 1913, zubauen). Der Dada(70 x 95 cm). ismus war eine künstlerische Bewegung, die sich aus Kriegsdienstverweigerern und ihren Frauen zusammensetzte. Sie fanden sich 1916, während die blutigen Materialschlachten tobten, zunächst im neutralen Zürich. Wenig später breitete sich die Bewegung über Europa aus und fasste auch in den USA Fuß. Der dadaistische Sturm richtete sich sowohl gegen den kunstproduzierenden und distribuierenden Apparat, also gegen Akademien, Museen und Galerien, als auch gegen die rezeptionsleitenden Vorstellungen über Kunst. Aus den schrecklichen Erfahrungen des Krieges hatten sie gelernt, dass sich offenbar der hehre Idealismus humanistischer Bildung ohne weiteres mit verrohtem Hurra-Patriotismus und menschenverachtender Kriegstreiberei verbinden ließen. Die Autonomie der Kunst »zehrte von der Idee der Humanität« (Adorno 1970: 9). Der Krieg jedoch führte unmittelbar vor Augen, dass etwas damit nicht stimmen konnte. Wenn schon nicht die einfachen und ungebildeten

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Soldaten, so hätten doch die Offiziere aller kriegführenden Armeen, weil sie Bildung genossen hatten, von humanistischen Werten durchdrungen sein und deshalb gegen den Krieg auftreten müssen. Doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil. George Grosz resümierte, die DadaBewegung habe ihre Wurzeln in der Erkenntnis gehabt, dass es vollendeter Irrsinn war zu glauben, der Geist regierte die Welt. Denn »Goethe im Trommelfeuer, Nietzsche im Tornister, Jesus im Schützengraben« – das passte offenbar gut zusammen (Grosz et al. 1925: 22). Folgerichtig wandten sich die Dadaisten von den in der Kunstwelt herrschenden Konventionen ab. Sie bevorzugten die modernen drucktechnischen Medien. George Grosz begriff sich als Illustrator und Journalist. Als genauer Beobachter schilderte er Habitus-Formen der unterschiedlichen sozialen Milieus, wie sie sich in Gestik, Mimik und Kleidungsstil ausprägen. John Heartfield führte den dadaistischen Ansatz noch lange Jahre in seiner Buchgestaltung und in seinen Fotomontagen für die Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) fort, wo er sich kritisch mit der nationalsozialistischen Ideologie, mit der Unterdrückung der politischen Opposition, mit Rassismus, mit Rüstungspolitik und Kriegsgewinnlertum auseinandersetzte. Rudolf Schlichter nahm im Sommer 1920 an der »Ersten Internationalen Dada-Messe« in der Berliner Kunsthandlung Burchard teil. Der »Preußische Erzengel«, den er gemeinsam mit John Heartfield für die Ausstellung hergestellt hatte, und die Mappe »Gott mit uns« von George Grosz, die ebenfalls auslag, lieferten den Anlass für eine Anklage wegen Beleidigung der Reichswehr (Jentsch 1995: 539. Kühne 1997: 40 f.). Schlichter sympathisierte, wie seine Berliner DadaFreunde auch, mit der Kommunistischen Partei. Von den Sozialdemokraten enttäuscht, denen Mitverantwortung an der Kriegspolitik des Kaiserreichs zukam, orientierten sie sich in Richtung der revo- Abb. 18: Rudolf Schlichter, lutionären Linken. Schlichters Plakat Wahlplakat, um 1920, »Frauen, zerbrecht die Ketten des Kapi- (72 x 47 cm).

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tals! Befreit euch! Wählt K.P.D. Denkt an Rosa Luxemburg« (Abb. 18) ist von der grundsätzlich antibürgerlichen Haltung der Berliner Dadaisten getragen. Das Plakat wird für die Reichstagswahl am 6. Juni 1920 geschaffen worden sein, an der sich die Kommunistische Partei beteiligte. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren am 15. Januar 1919 von einer Gruppe von Freikorpsangehörigen ermordet worden. Nach Einschätzung des kritischen Zeitgenossen, Althistorikers und Politikers Arthur Rosenberg, der 1933 ins Exil getrieben wurde und 1943 in den USA starb, »hätten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als Führer der KPD sich niemals zu Werkzeugen russischer Staatspolitik missbrauchen lassen« (Rosenberg 1983: 62). Das Abdriften der kommunistischen Partei in jenen problematischen Dogmatismus, dem sie später verfiel, war damals nicht erkennbar.

N ACHKRIEGSZEIT Eine Sichtweise, die den künstlerischen Wert von Werbeplakaten anspricht, trifft für Gebildete, die in unserer deutschen Nachkriegskultur sozialisiert sind, meist auf Unverständnis. Denn unsere Kunstwelt spricht Werken, die nicht nur durch künstlerische sondern auch durch außerkünstlerische Zwecke bestimmt sind, den Status des Kunstwerks ab. Kunsthistoriker und die – kunstgeschichtlich ausgebildeten – Museumsdirektoren und -kuratoren halten in der Nachkriegszeit eisern an der Grenzziehung zwischen ›freier Kunst‹ und ›angewandter Kunst‹ fest3. »Die Kunstwissenschaft des 20. Jahrhunderts« hat »diese Trennung festgeschrieben. Die Vertreter der freien Kunst wurden heroisiert, die der angewandten banalisiert« (Grasskamp 2002: 128). Doch dieser Kunstbegriff ist historisch bedingt. Seine soziale Grundlage bildet die Vertreibung der historischen Avantgarde durch Diktatur und Krieg. Die Folgen dieses kulturellen Aderlasses wirkten nachhaltig. Als Reichskanzler Hitler, dank der errungenen Mehrheit der Rechten bei der Reichstagswahl im März 1933, ein Kabinett bilden konnte,

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Ralf Rummel-Suhrcke schildert in diesem Band die separat verlaufende Linie der Designentwicklung der deutschen Nachkriegszeit exemplarisch an Wilhelm Wagenfeld, dem wichtigen Gestalter, und an der Ulmer Hochschule für Gestaltung.

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wurde in Deutschland der Traum der Avantgarden durch den nationalsozialistischen Machtapparat abrupt beendet. Das Bauhaus wurde geschlossen. George Grosz verließ Deutschland in weiser Voraussicht bereits im Januar 1933, nach der ›Machtergreifung‹ wurden seine Wohnung und sein Atelier durchsucht. John Heartfield konnte sich knapp der Verhaftung durch Flucht entziehen. Für Rudolf Schlichter, der in Deutschland blieb, begann eine Kette ununterbrochener Schikanen und Bedrohungen. Im Juli 1937 startete die Wanderausstellung »Entartete Kunst«, die alle Strömungen vereinte, die dem ideologisch rückwärts gewandten Regime ein Gräuel waren; »mit etwa zwei Millionen Besuchern« war sie »ein immenser propagandistischer Erfolg« (Brechtken 2004: 85). Im Wiederaufbau der Bundesrepublik zeigten sich nach und nach die Folgewirkungen des kulturellen Kahlschlages. Zum großen Teil waren die Avantgardisten in die USA emigriert. Da diese ›Störenfriede‹ nun keinen Einfluss mehr hatten, richtete sich die Kulturpolitik der konservativ geprägten Nachkriegsepoche in der Ruhe und Behaglichkeit des klassischen Beaux-Arts-Kanons ein. Die westdeutsche Kunstwelt spürte zwar, dass viel aufzuarbeiten war. Aber dieses Nachholen schnürte sie, was offenbar die im Lande Gebliebenen in keiner Weise hinterfragten, in das Korsett jener Kunstauffassung ein, welche die Avantgardisten vehement bekämpft hat- Abb. 19: Tafel aus der Ausstellung ten. Die Kulturpolitiker »cross-border« 24.03.–17.06.2007 im steckten viel Energie in Kunstmuseum Stuttgart. den Wiederaufbau der durch Bombenangriffe zerstörten Kunstmuseen, Opern- und Schauspielhäuser4. Aber niemand lud die Emigranten zur Rückkehr ein. Die

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Der wirtschaftliche Wiederaufbau ging einher mit dem engagierten Wiederaufbau der hochkulturellen Institutionen. Ein paar Beispiele: das im Juni 1943 bei einem Bombenangriff auf Köln zerstörte Gebäude des WallrafRichartz-Museums war im Mai 1957 wieder errichtet, die starke Beschädi-

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von der Diktatur unterdrückte Kunst etablierte sich nach und nach, doch nur im Rahmen des bildungsbürgerlichen Kunstbegriffs. Da hatte weder eine Politisierung der Kunst, wie sie Dadaisten und Surrealisten betrieben hatten, einen Platz, noch die Erweiterung des Kunstbegriffes, den sich das Bauhaus auf die Fahnen geschrieben hatte. Da die nachholende Rezeption der durch die Diktatur verfemten Kunstströmungen auf den Bereich der Beaux-Arts beschränkt war, zog sie den avantgardistischen Bewegungen der Weimarer Epochen den gegenkulturellen Zahn. Manifeste, Zeitschriften, Fotografien, Gebrauchsgüterdesign, Plakate und Filme galten nicht als ›Kunst‹ – und so wurden sie vom Zugang zu Kunstausstellungen ausgeschlossen. Ein Beispiel für das gewaltsame Zurechtstutzen künstlerischer Praktiken, die eine Politisierung der Kunst angestrebt hatten, um sie ihres aufrührerischen Impetus zu berauben und damit in die bundesrepublikanische Kunst-Biederkeit einzupassen, war die Ausstellung »Der Surrealismus 1922–1942« im Frühjahr 1972 im Haus der Kunst in München (Waldberg 1972). Der Katalog benannte zwar einige wenige Manifeste und Zeitschriften, die Schau selbst jedoch beschränkte den Surrealismus auf Malerei, Zeichnung und Assemblage. Eine Integration von Zeitschriften hätte die politische Dimension des Surrealismus zeigen können (Moebius 2009). Weil der Kurator indes diese zentrale surrealistische Aktivität ausgeklammerte, konnten sich die Besucher im Reich eines – auf individuelle Kontemplation ausgerichteten – Kunstidealismus wähnen. In derselben Weise passte die westdeutsche Nachkriegskultur das Erbe des Bauhauses dem Beaux-Arts-Kanon an. Kunstausstellungen in Kunstmuseen und Kunstvereinen feierten die Prominenten des Bauhauses, aber eben nur diejenigen, die den Gattungen Malerei und Skulptur zuzurechnen waren. Alles andere blieb draußen, abgeschoben in Spezialmuseen. Zwar öffnete sich die Ausstellung »50 Jahre Bauhaus« des Württembergischen Kunstvereins im Jahre 1968 der Erweiterung des Kunstbegriffs (Herzogenrath 1968), doch das hieß noch lange nicht, das Gattungsspektrum des Kunstmu-

gung der Alten Pinakothek in München in den Jahren 1943 und 1944 waren im Jahre 1957 wieder behoben, die durch einen Bombentreffer zerstörte Alte Oper Köln war im Mai 1957 durch das neue Opernhaus ersetzt, die bei einem Bombenangriff im August 1943 schwer getroffene Hamburgische Staatsoper war 1955 wieder aufgebaut.

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seums zu erweitern. Diese Institution blieb auch weiterhin dem Ausschluss der avantgardistischen Kunstpraktiken verpflichtet. Seit Begründung des Museums zweifelte niemand daran, dass es eine »sichtbare Geschichte der Kunst« sein sollte (Sheehan 2002: 141). Seither definiert es, was als Kunst bewertet wird. Es ist »der ummauerte Geltungsraum des Kunstbegriffs« (Grasskamp 2002: 16). Indes scheint die Auswahl der Werke, die das Museum als Kunst aufnimmt und welche es als kunstunwürdig ausschließt, weniger durch Kennerschaft bedingt. Vielmehr spielen die Konventionen eine tragende Rolle, die sich aus Nachahmen ergeben. Als Beispiel möchte ich die Tafel zitieren, die am Ausstellungseingang zu »cross-border« im Kunstmuseum Stuttgart, 24.03.–17.06.2007 angebracht war (Abb. 19): Im letzten Satz dieses Statements betonen die Direktorin Marion Ackermann und die Kuratorin Simone Schimpf, sich beim Aufbau einer eigenen Sammlung am Vorbild eines anderen Museums orientieren zu wollen. Damit dokumentieren sie ein Anpassungsverhalten gegenüber Institutionen, wie es in Bürokratien verbreitet ist. Sie sind offenbar weniger an sorgfältiger Prüfung vorhandener künstlerischer Werkbestände interessiert. Vielmehr legen sie Wert darauf zu imitieren, was andere Museumsleute vorgemacht haben. Dieser weit verbreitete Habitus trägt zur Uniformität der deutschen Kunstwelt bei, vor allem aber zum Zementieren der bestehenden Kunstdoktrin. Neben den Kunstmuseen blieben in der Nachkriegszeit auch die Kunstakademien konservativ geprägt. So galt beispielweise für die Münchener Akademie, dass sie sich in der Ära Adenauer den »aktuellen Strömungen eher verschloss und kaum Versuche unternahm, neue Lehrkräfte unter den emigrierten Schülern und Künstlern zu finden« (Grasskamp 2008: 106). So verharrten auch künstlerische Ausbildungsstätten auf veraltetem, vor-avantgardistischem Niveau. Der althergebrachte Beaux-Arts-Kanon in der Bundesrepublik übernahm also wieder die Regentschaft. Er ruhte auf dem Fundament, das die gewaltsame Vernichtung des Avantgardismus hergestellt hatte. Die freie Kunst hütete sich wieder sorgfältig vor jeder Infektion durch außerkünstlerische Zwecke. Der kulturelle Nachholbedarf der Nachkriegsepoche gestattete Modernisierungsansätze nur in engem Rahmen, eben in dem Maße, wie sie der modernistischen Ideologie der künstlerischen Autonomie entsprachen. In den Nachkriegsjahrzehnten wurden in Deutschland viele Mahnmale geschaffen, um an die Unmenschlichkeit des nationalsozia-

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listischen Regimes zu erinnern. Aber die vorhandenen kulturellen Weichenstellungen, vor allem die Liquidierung avantgardistischer Ideen betreffend, blieben weitgehend bestehen. Die damit wieder aufgerichtete betonharte Hürde zwischen ›freier Kunst‹ und ›angewandter Kunst‹ verhinderte, wie einst im 19. Jahrhundert, jede Betätigung von Künstlern auf dem Gebiet der Werbung. Absolventen von Kunstakademien, die künstlerischen Erfolg anstrebten, vermieden wieder ängstlich jeden Kontakt zur Werbebranche. Der ästhetische Niedergang des Plakats war besiegelt. Das Aus für den avantgardistischen Traum in der Bundesrepublik bedeutete jedoch durchaus nicht das Ende überhaupt. Denn die Saat ging in den USA auf, wo viele Avantgardisten ihr Exil fanden und Professuren erhielten. In den kulturellen Zentren der USA erwarteten die Avantgardisten »bessere Chancen für die Realisierung ihres künstlerischen Credos«, und »diese Erwartung erfüllte sich« (Hahn 1997: 216). Zeitgleich griffen die Kunstinstitutionen der USA die Errungenschaften der Avantgarde auf. Das Museum of Modern Art in New York (MoMA) übernahm die Erweiterung des Kunstbegriffs auf dem Niveau, das das Bauhaus erreicht hatte. Diese wegweisende Institution begann bereits in den 1930er Jahren, in bewusstem Bruch mit der Tradition, die exklusive Orientierung auf high art aufzugeben und Kontakt zu den jüngsten Tendenzen zu suchen (Hunter 1984: 12-20). Seither beherbergt das MoMA mehrere Abteilungen unter einem Dach. Neben bildender Kunst und Skulptur hatte es sich den Gebieten der Druckgrafik und der Buchgestaltung, der Architektur, dem Industrie- und GeGebrauchsgüterdesign, der Fotografie und dem Film sowie dem Plakat geöffnet. Sofern diese Institution also das Bauhaus-Konzept des erweiterten Kunstbegriffs übernommen hatte, kann von einem avantgardisierten Museum gesprochen werden. Abb. 20: Victor Moscoso, Eine Schülergeneration griff die »Psychedelic« (FD # 57), 1967, künstlerischen Praktiken auf, die von (50,9 x 35,3 cm). den Emigranten über den Atlantik ge-

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bracht worden waren. Die Generation der Lehrer war mit den sozialen Bewegungen der Weimarer Epoche, die sich in einer kritischen Linken bündelten, verbunden gewesen. Die Schülergeneration, die ebenfalls gegen erstarrte Gesellschaftsstrukturen ankämpfte, war mit den USamerikanischen Protestbewegungen der 1960er Jahre liiert. Eine der Früchte, die aus der avantgardistischen Saat sprossen, reifte in den 1960er Jahren in San Francisco in Gestalt des psychedelischen Plakats. Es entstand im Kontext der Hippie-Kultur, einer tragenden Säule der Counter Culture. Victor Moscoso, einer der großen Psychedeliker, hatte bei Josef Albers an der Yale University Art School studiert. Albers hatte bis 1933 am Bauhaus gelehrt. Eines der Plakate Moscosos wirbt für dance concert Auftritte von The Miller Blues Band und The Doors Mitte April 1967 im Avalon Ballroom, einem der bedeutendsten Rock-Veranstaltungszentren in San Francisco (Abb. 20). Josef Albers schreibt in seinem theoretischen Werk »Interaction of Color« über unterschiedliche typografische Konzepte und Lesbarkeit. »Je mehr sich die Buchstaben voneinander unterscheiden«, so stellt er fest und zeigt an Beispielen, »um so leichter fällt das Lesen« (Albers 1963: 14). Moscoso strebt an, das Lesen zu erschweren, und baut in diesem Sinne auf seinem Lehrer auf. Er versieht die Buchstaben mit breiten Serifen, jenen abschließenden Querstrichen am oberen und unteren Rand, und bläst diese auf. Damit gleichen sich ihre Formen an, und folglich wird die Schrift schwer entzifferbar. Der schreiende Kontrast des spiraligen Rot und Grün, der einen tanzenden weiblichen Akt überlagert, verstärkt diesen Effekt. Moscoso verfolgte das Ziel, die Betrachter zu veranlassen, »sich mindestens drei Minuten Zeit zu nehmen, um herauszufinden, worum es geht« (Moscoso, zit. nach Grushkin 1987: 79; Übers. L.H.). Die Psychedeliker forderten Muße von den Betrachtern ihrer Abb. 21: Andy Warhol, Plakate. Damit opponierten sie gegen TerminFifth New York Film druck und Zeitdiktat in der bürgerlichen Welt. Festival, 1967, An der Ostküste der Vereinigten Staaten (114,7 x 61,2 cm). waren Reklame und bildende Kunst ebenfalls eng zusammengerückt. So in der Pop Art. Als

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das künstlerische Erbe von Dada, reflektierte sie »die Auswirkungen der symbiotischen Beziehungen zwischen der Ästhetik der Kunstproduktion und der Warenproduktion, die Dada unablässig betonte und reflektierte« (Buchloh 1989: 53). Andy Warhol war Werbegrafiker, bevor er begann, sich mit Leinwandbildern zu befassen. Seine frühen Bilder machen deutlich, dass seine »technische Erfahrung als Werbegrafiker ihn für die schematische Darstellung in der neuen Malerei gleichermaßen qualifizierte, wie seine künstlerischen Neigungen ihm den Erfolg in der Werbegrafik gesichert hatten« (a.a.O.: 40). Folgerichtig wechselte er immer wieder seine Betätigungsfelder, widmete sich neben Galeriekunst auch dem Plattencover, dem Buchdesign und dem Plakat. Seine Werbung für das »Fifth New York Film Festival« im Lincoln Center, New York, gibt eine auf das Plakatformat vergrößerte Eintrittskarte wieder (Abb. 21). Psychedeliker und Pop Art sind Beispiele für die Art und Weise, wie eine Schülergeneration die Erfahrungen und die Lehren der Avantgardisten aufgriff. Seither wird die Fackel weitergereicht. Als in den späten 1980er Jahren die Aids-Krise auftrat, entstand in New York sofort eine politische Bewegung. Da allgemein bekannt ist, dass sich Politik in den Medien entscheidet, nutzte sie die Methoden der Werbung. Die Bewegung gab sich das Logo ACT UP, das eine Abkürzung von AIDS Coalition To Unleash Power ist. Sinngemäß übersetzen lässt sich act up als »Ärger machen«. Den Gepflogenheiten von Bekleidungsmarken wie Nike oder Calvin Klein folgend, die ihre Logos auf T-Shirts und Baseball-Kappen präsentieren, trugen die Aktivisten das Logo ACT UP in die Straßen. Die Bewegung strebte Medienwirksamkeit an, und dafür bildeten sich Künstlerkollektive. Diese statteten Kundgebungsteilnehmer mit Plakaten aus, die auf Pappe aufgeklebt waren, um der Berichterstattung aus Presse und Fernsehen interessantes Bildmaterial anzubieten (Hieber/Villa 2007). Das Design der Plakate orientierte sich daran, in der Reproduktion eines Fotos in der Zeitung oder in den Abendnachrichten auf dem Fernsehbildschirm lesbar zu sein (Abb. 22).

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Um nur noch ein Beispiel der Werbung zu nennen, das in die Kategorie »Plakat als Kunstgattung« fällt, möchte ich auf die Benetton-Werbung dieser Jahre verweisen. Oliviero Toscani, der dafür verantwortlich zeichnete, griff Ansätze von ACT UP auf (Hieber 2008). Colors, das Magazin von Benetton, widmete sich im Juni 1994 dem Thema Aids. Ein Plakat kündigte das Heft an, das den früheren Präsidenten Ronald Reagan mit Symptomen des KaposiSarkoms zeigt (Abb. 23), einer im Zusammenhang mit Aids auftretenden Krebs-Erkrankung. Ein ironischer Kommentar auf der »Redaktionsseite« der Abb. 22: Gran Fury: The Zeitschrift verwies darauf, was Reagan government has blood on its hätte unternehmen können, aber nicht hands – one AIDS death every tat. Ein Auszug daraus: »Im Juli 1981 half hour, 1988, (81 x 54 cm). berief der Präsident ein internationales Gipfeltreffen ein, um eine weltweite Anti-Aids-Strategie auszuarbeiten. Die USA unterstützten Anti-Aids-Projekte überall, schickten Hunderte von Aids-Beratern in alle Kontinente und übernahmen die Koordinierung der internationalen Aids-Forschung. Gesundheitsexperten meinen, dass Präsident Reagan mit diesen gezielten Maßnahmen eine globale Katastrophe abwehrte, die andernfalls Millionen Menschenleben hätte kosten können. Tragischerweise wurde der Präsident 1986 selbst mit Aids diagnostiziert. Trotz seiner zahlreichen Krankenhausaufenthalte führte Reagan eine revolutionäre Gesundheitsreform durch und schichtete fast die Hälfte des Militärbudgets auf die AidsForschung und -Aufklärung um.« (Anonym Colors: 1994) Diese Phantasie über die Aktivitäten des Präsidenten erinnerte daran, was er 1985 tatsächlich unternahm. »Er ernannte die Meese Commission on Pornography, deren Aufgabe darin bestand, die Flut der Sex-Bilder einzudämmen, während er die Auswirkungen von Aids auf die Weltbevölkerung bestritt.« (Kauffman 1998: 172; Übers. L. H.) Erwähnenswert ist, dass die Toscani-Kampagnen für Benetton in Deutschland heiß umstritten waren. Der juristische Diskurs ignorierte den ästhetischen Eigenwert von Plakaten und ging stattdessen prinzi-

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piell vom »kommerziellen Motiv, den Unternehmensumsatz zu steigern« aus (Jestaedt 2002: 553). Deshalb wurden mehrere Motive gerichtlich verboten. Erst viele Jahre später, als die Plakate längst nicht mehr aktuell waren, hob das Bundesverfassungsgericht die früheren Urteile auf und stellte diese Werbung unter den Schutz der Meinungsfreiheit.

D AS P LAKAT

UND DIE

K UNSTWELT

Die Bestandsaufnahme zu Entwicklungsformen der Werbung ergibt das Bild einer Überlagerung mehrerer historischer Schichten. Von der Seite der Produktion gesehen, steht am Anfang die arbeitsteilig organisierte Werkstatt. Ihre Bilder sind, wenn auch dem Erfindungsreichtum und den Kompetenzen der Meister entscheidende Bedeutung zukommt, heteronom bestimmt. Die bürgerliche Epoche verändert die Epistemologie der Kunst grundlegend, nun dreht sich alles um das autonome Kunstwerk. Künstler bedienen nun die Populärkultur nicht mehr. Dann tritt in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wieder ein Wandel ein, der dann schließlich all jene Momente umfasst, die noch in unsere Gegenwart reichen. Die wechselvolle Geschichte des Plakats lässt kultursoziologisch bedeutsame Schlussfolgerungen zu, die selbstverständlich auch auf weitere Bereiche der Populärkultur übertragbar sind: In Epochen in denen »freie« Kunst in strikter Trennung von »Gebrauchskunst« gehalten wird, bewegt sich die Ästhetik des Plakats auf miserablem Niveau; wird dagegen diese Trennung überwunden, können sich Design und Kunst gegenseitig befruchten – und beide blühen auf. Obwohl die geschichtlichen Blütephasen in den Plakatsammlungen präsent sind, sprechen im deutschen Abb. 23: Oliviero Toscani & Site Sprachraum auch Spezialisten von WerOne NY, Colors n. 7, 1994, bung oft nur in ihrer ökonomischen oder (104 x 71 cm).

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politischen Funktion. In dieser Betrachtungsweise ist sie »die gezielte, organisatorisch vorbereitete und durchgeführte Anwendung von bestimmten der Werbetätigkeit gemäßen Mitteln und Methoden, um eine Masse von Menschen zu beeinflussen mit dem Ziel, in ihnen einem vom jeweiligen Werbetreibenden beabsichtigten Entschluss auszulösen« (Rademacher 1965: 7). Doch diese Sicht greift nur eine Dimension heraus und vernachlässigt alles andere. Dadurch wird sie falsch. Denn Werbeplakate sind nicht in der Lage, die Betrachter am Gängelband zu führen. Betrachtet man Plakate mit ästhetischem Eigenwert, springt eine gewisse Parallele zu anderen Kunstgattungen ins Auge. Nicht jedes mit Ölfarben gepinseltes Bild ist ein Kunstwerk, aber in dieser Gattung gibt es durchaus große Kunstwerke. Entsprechend verhält es sich mit dem Plakat. Nicht jedes hat ästhetischen Eigenwert, viele sind reiner Kitsch, aber auch in dieser Gattung kommen solche mit ästhetischer Qualität vor. In diesem Sinne ist das Plakat als Kunstgattung zu verstehen. Die Werbebilderwelt ist ein zentraler Bestandteil der Populärkultur. Daher verarmt die Populärkultur in Epochen, die den »freien« Künstler von der »angewandten« Kunst rigoros fernhalten. Denn dann entwickeln sich die Bilderwelten der unteren Klassen notwendig in anderen Dimensionen als die der Gebildeten. So hält Adorno, der unnachgiebige Verfechten des Autonomieanspruchs der Kunst, nüchtern fest: »Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit hypostasierte, war von Anbeginn mit dem Ausschluss der Unterklasse erkauft.« (Adorno et al. 1984: 157) In Opposition dieser Form der Kunstwelt hatte sich die historische Avantgarde, beflügelt durch Tendenzen der Demokratisierung, der Populärkultur gewidmet. Ihre künstlerischen Praktiken erprobten und schufen Ansätze, mit Kitsch und ästhetischer Kläglichkeit aufzuräumen. Sie bildet sozialgeschichtlich ein Kettenglied für Demokratisierungsprozesse. In den kulturellen Zentren der USA trugen die avantgardistischen Ideen reiche Früchte. Dagegen zwängten Diktatur und Krieg die deutsche Kultur wieder in den Käfig der Beaux-Arts. Die kulturelle Kontinentaldrift, die seit den 1930er Jahren für eine zunehmende Auseinanderentwicklung von Mitteleuropa und den USA sorgt, ist jedoch keine unabänderliche Tatsache. Sie kann rückgängig gemacht werden. Allerdings weniger durch Ausstellungen von Werken der historischen Avantgarde in unseren Kunstmuseen, weil hier die

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Gefahr der Musealisierung droht. Denn »Museen sind wie Erbbegräbnisse von Kunstwerken. Sie bezeugen die Neutralisierung der Kultur« (Adorno 1977: 181). Und Neutralisierung vernichtet den Impetus der Avantgarde. Wenn die Vertreibung der historischen Avantgarde wieder rückgängig gemacht werden soll, kann das am besten dadurch geschehen, dass sie auf dem gegenwärtig erreichten Niveau zur Rückkehr in das Land, aus dem sie einst vertrieben wurde, eingeladen wird. Allerdings müssten sich ihr auch Kunstmuseen und Kunstakademien öffnen, indem sie die Trennung von »hoher« Kunst und »niederer« Gebrauchsgrafik über Bord werfen. Dann wäre der Boden bereitet, den bestehenden Verarmungen der Bilderkulturen, also auch der Plakatkultur entgegenzuwirken. Ein lebendiger Austausch von Design und Kunst wäre sicher zum Vorteil nicht nur einer der beiden Seiten.

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ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Bernhard 1972, S. 580 f. – Abb. 2: Kunsthistorisches Museum Wien. – Abb. 3 bis 23: Sammlung des Autors.

Ästhetisierung des Realen Zur Konstruktion des Echten in der Werbung und anderen Bereichen der Medienkultur Y ORK K AUTT

E INLEITUNG Für die Diagnose der Ästhetisierung des Sozialen im Sinne einer in verschiedenen Gesellschafts- und Kulturbereichen beobachtbaren Relevanzsteigerung von sichtbaren Oberflächen, äußeren Fassaden und Erscheinungsbildern spielt die Entwicklung und Vergesellschaftung der technischen Bildmedien sicherlich eine große Rolle. Diese Medien sind – beginnend mit der Fotografie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zu den verschiedensten digitalen Anwendungen der Gegenwart – gleichsam Parasiten der Kommunikation. Sie begleiten die verschiedensten sozialen Prozesse und kanalisieren die Aufmerksamkeit und die Interpretation des sich Ereignenden in einem durch die technischen Infrastrukturen immer dichter gezogenen Netz immer häufiger auf die Dimension des Visuellen. Die folgende Auseinandersetzung mit der Ästhetisierung des Realen zielt nicht auf eine Ausdehnung der Frage nach der Bedeutung technischer Bildmedien über die Ästhetisierung des Sozialen hinaus, sondern auf eine Einschränkung: Gefragt wird nicht nach der Ästhetisierung des Realen bzw. der Realität ›an sich‹, sondern nach der Ästhetisierung des Realen im Sinne eines Themas und einer sozialen bzw. ästhetischen Praxis innerhalb der Gesellschaft. Von solch einer Thematisierung kann man im Blick auf die Gegenwartsgesellschaft

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hinsichtlich vieler Phänomene sprechen, die in ganz unterschiedlichen Kultursphären oder – je nach theoretischer Rahmung – in ganz unterschiedlichen Subsystemen der (Welt-)Gesellschaft zu lokalisieren sind. Nennen wir nur diejenigen Bereiche, in denen die Inszenierung des ›Echten‹ derzeit besonders prägnant in Erscheinung tritt, nämlich: die Kunst, die Werbung und die Unterhaltung. Wenn Hartz-IV beziehende Laiendarsteller das ›echte‹ Leben auf die professionelle Bühne bringen, wenn die Künstlergruppe Rimini Protokoll eine Aktionärsversammlung der Daimler-Chrysler AG durch eigene Anwesenheit und weitere Deutungshinweise für den Beobachter als konstruierte (Nicht-) Inszenierung rahmt und wenn im sogenannten Reality-TV Formate gesendet werden, die dem Rezipienten quasi-dokumentarische Einblicke in die Lebenswelten Anderer vermitteln, geschieht in einem gewissen Sinne durchaus Vergleichbares. Vergleichbar insofern, als Ereignisse so in Szene gesetzt werden, dass der Einbruch des Realen in das Inszenierte wahrscheinlicher gemacht wird. Gemeint ist mit dem Realen in diesem Zusammenhang nicht das Aufscheinen der ›wirklichen Wirklichkeit‹1, sondern Authentizitäts-Effekte, die auf dem Kontrast zweier verschiedener Konstruktionslogiken des Realen und der Beobachtung dieses Kontrastes beruhen. Indem der Kontrast auf gezielten Selektionsleistungen (in freilich sehr unterschiedlichen Darstellungsmedien und -formen) beruht, lässt sich von einer Ästhetisierung des Realen sprechen. Gerade in der jüngeren Kunst gibt es zahlreiche drastische Beispiele – denken wir nur an Rainald Goetz, der bei einer Lesung mit scharfer Klinge seine Stirn zum Bluten bringt (1983) oder an den amerikanischen Performancekünstler Chris Burden, der sich vor Publikum und laufender Kamera in den Oberarm schießen lässt (1971). Zu Vereinfachungszwecken kann man in diesen und zahlreichen anderen Aktionen das Bemühen erkennen, auf die (theoretisch) unzureichende Idee der bloß fiktional existierenden Seinsweise von Darstellungen hinzuweisen. Die Manipulation des Körpers (und der imaginierte Schmerz des Betrachters) macht die durchlässigen Grenzen zwischen Inszenierung und Nichtinszenierung deutlich. Auch am

1

Diese ist, um eine traditionsreiche Metapher der Epistemologie zu verwenden, die (mindestens) von Novalis bis Gregory Bateson reicht, ein »Territorium«, von dem nur »Karten« existieren, die im Rahmen verschiedener Konstruktionsleistungen (u.a. der Wahrnehmung und der Kommunikation) hergestellt werden (vgl. Bateson 1994: 583 f.).

Z UR K ONSTRUKTION DES E CHTEN

IN DER

W ERBUNG | 89

Schauspiel des Laien tritt die gemeinte Logik hervor: Sein Verhalten ist nicht weniger ›wirklich‹ oder ›real‹ als das seiner professionellen Kollegen. Indem sich sein Verhalten jedoch weder auf den Bühnen des Theaters noch auf denen der Medienformate geschmeidig in das Skript der Dramaturgie einfügt, tritt sein spontanes Individualverhalten um so deutlicher als solches hervor und bricht gleichsam in den stärker selegierten Horizont der inszenierten Elemente ein. Wenngleich sich die Sprachen der Kunst, der Unterhaltung und der noch ausführlicher thematisierten Werbung massiv voneinander unterscheiden und die einzelnen Bereiche in sich keineswegs homogen sind, lässt sich hier wie dort ein absichtsvolles inszenatorisches Spiel mit dem (Nicht-)Realen beobachten.

1. Z UM ›R EALISMUS ‹ TECHNISCHER B ILDMEDIEN Es kann hier nicht darum gehen, den historischen Wurzeln der Ästhetisierung des Realen nachzugehen.2 Die Tradition muss aber immerhin erwähnt werden, um deutlich zu machen, dass es uns im Weiteren um eine spezifische Form der Ästhetisierung des Realen zu tun ist, die man mit der Erfindung und Vergesellschaftung der technischen Bildmedien in Verbindung bringen kann. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass die technischen Bildmedien beginnend mit der Fotografie eine deutliche Zäsur herbeiführen, indem sie mit einem neuarti-

2

Die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Realen wird sich auch kaum im Sinne einer Genealogie rekonstruieren lassen. Zu den Begriffen Realismus, Naturalismus und Idealismus in Rahmen der Kunstgeschichte vgl. exemplarisch Schmidt 1966. Einen wichtigen Schritt in die Gegenwartsgesellschaft stellt die (früh-)romantische Bewegung um 1800 dar, indem sie die Unterscheidung von realer Realität und fiktionaler Realität sowohl in der Literatur als auch in der Malerei zu anspruchsvollen Irritationen von Realitätsvorstellungen ausarbeitet. Um nur ein prominentes Beispiel herauszugreifen: Caspar David Friedrichs Gemälde »Der Mönch am Meer« (1808-1810) betont zwar motivisch die Tiefe des Raumes (Einzelperson vor weitem Horizont), führt diese zugleich aber durch die flächige Malweise radikal auf den zweidimensionalen (Bild-)Raum zurück. So entsteht eine Dissonanz, die zu einem Einbruch des Realen führt, indem die Konstruktion der Realität zugleich als Realität der Konstruktion erfahrbar wird.

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gen ›Realismus‹ operieren, der die Alltags-Ontologie bildlich identifizierter Objekte radikal verändert. Im Vergleich zu anderen (manuellen) Bildern lassen sich die mit ihnen generierten Bedeutungen weniger stark und keineswegs restlos als sozial, kulturell und psychologisch vermittelte Prozesse der Bildgenerierung dekonstruieren. Der Feststellung, dass Fotografien etwas zeigen, was notwendigerweise physikalisch vor der Apparatur vorhanden war, lässt sich jedenfalls nicht widersprechen.3 Die Rede von der Photographie als einer »indexikalischen Karte« (vgl. Metz 2003) als einer »Spur« (vgl. Eco 1977) oder vom »Prinzip der Referenz« als dem »Grundprinzip der Photographie« (vgl. Barthes 1989: 11 und 86 f.) setzt hier an. Nun ist eine philosophische, sozial- oder kulturwissenschaftliche Bildwissenschaft nicht zuständig für die Behandlung der Frage, wie es zu der Spezifität und Stabilität des wahrnehmenden Sehens kommt, auf das sich die technischen Bildmedien so einstellen, dass deren Bilder den Eindrücken der Wahrnehmung nahekommen.4 Derartige Fragen können an Wissenschaften wie die Biologie oder die Neurophysiologie adressiert werden.5 Es genügt hier, das Fungieren einer spezifischen Selektivität menschlicher Wahrnehmung als Konstruktionshorizont einer ›Realität‹ des Sichtbaren voraussetzen zu können, um von dort aus festzustellen, dass sich diese ›Realität‹ in fotografischen Bildern qua Indexikalität und Isomorphie (vgl. Böhme 1999: 115 ff.) in einer Weise wiederfindet, die sich drastisch von allen älteren Techniken der Bildherstellung unterscheidet. Das ist aber nur eine Seite des fotografischen ›Realismus‹. Dessen andere besteht darin, dass die fotografischen Darstellungen zugleich auf Konstruktionen basieren, die nicht dem Referenzprinzip, sondern den sinnhaften Selektionsleistun-

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Damit ist nicht bestritten, dass sich unter Computerbedingungen prinzipiell ›fotorealistische‹ Bilder ohne den Einsatz der technischen Bildmedien simulieren lassen, doch spielt dies für die verschiedenen Bereiche der massenhaften Bildproduktion (u.a. der Massenmedien) nach wie vor eine untergeordnete Rolle.

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Der These, dass mit der Darstellungstechnik der Fotografie der Prozess einer »rationalization of sight« (Ivins 1938) fortgeführt wird, soll hier nicht widersprochen werden – wohl aber der Annahme, dass sich hiermit der Realismus der technischen Bilder umfassend erklären ließe.

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Auch die Studien Merlau-Pontys zum (Un-)Sichtbaren bieten eine Erklärung der Konstitution einer solchen Ordnung (vgl. Merlau-Ponty 1986).

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gen bei der Bildherstellung und -Rezeption geschuldet sind.6 Diesbezüglich tritt neben und mit den Manipulationsdimensionen Farbe, Licht und Tiefenschärfe die Möglichkeit des Arrangements sämtlicher fotografierter bzw. gefilmter Objekte in Erscheinung. Und schon der zeitliche und räumliche Ausschnitt der ›Aufnahme‹ ist bedeutsam. Ja gerade der Ausschnitt erzeugt Sinn, indem er die Beziehung des Gezeigten zum Nichtgezeigten definiert und dadurch die Interpretationsmöglichkeiten für das innerhalb des Bilderrahmens Erscheinende maßgeblich steuert. Den technischen Bildmedien ist also ein Doppelcharakter eigen, der darin besteht, indexikalische Karte und sinnhaftes Kommunikationsmedium zugleich zu sein. Das Chimärenhafte technischer Bilder wäre nun kein soziales Problem, wenn die besagten konträren Perspektiven nur im Reich der Theorie bestünden. Das ist aber nicht der Fall. Wie die Fotografiegeschichte des 19. Jahrhunderts zeigt, führt der Doppelcharakter technischer Bilder vielmehr in den sozialen Gebrauchsweisen des Mediums von Anbeginn an zu Konflikten. Deutlich wird dies u.a. in den Diskursen zur Portraitfotografie, in denen der ›tote‹ Blick z.B. als Entstellung der Portraitierten kritisiert oder als Inszenierung entzaubert wird. Und eben deshalb bilden sich spezifische Strategien im reflexiven und ästhetisch-praktischen Umgang mit dem neuen Medium aus, so z.B. verschiedene Formen des Posierens und der Bildüberarbeitung (vgl. Kautt 2008: 36-58). Das Problem besteht also nicht darin, dass man Fotografien umstandslos in einem naiven Verständnis als Abbilder der Wirklichkeit interpretiert.7 Das Problem ist mindestens ebenso, dass man Fotografien nicht glaubt. Der Umgang mit den neuen Bildmedien ist von Beginn an vom Problem des gleichzeitigen Vorhandenseins beider Perspektiven bestimmt. Nicht nur in der Theorie, sondern in der Kultur selbst wird der Doppelcharakter technischer Bilder virulent.

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Mit Peirce kann man sagen: Das Foto ist Index und Ikon zugleich.

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Das muss umso mehr betont werden, als in den Sozial- und Kulturwissenschaften oftmals eine solche naive Ideologie der Bilder im Zuge der Einführung dieser Medien unterstellt wird. Eine Aufgabe der Wissenschaft wird dann darin gesehen, über die Konstruiertheit der nur scheinbar natürlichen symbolischen Ordnung, die sich als die Realität ausgibt, aufzuklären (vgl. z.B. Bourdieu u.a. 1983: 86).

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Für die Frage nach der Ästhetisierung des Realen in der Gegenwartsgesellschaft ist dieser Zusammenhang von großer Bedeutung. Denn das gleichzeitige Vertrauen und Misstrauen in eben diese Bilder provoziert die Ausbildung verschiedener ästhetischer Strategien, die sich – nach Maßgabe variierender sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Kontexte – auf das besagte Problem einstellen. So muss das dokumentierende Berichten über die verschiedensten Weltsachverhalte dies- und jenseits der TV-Nachrichten die Darstellungsqualitäten der Fotografie so handhaben, dass die indexikalische Dimension der Bilder in den Vordergrund und die Modi der sinnhaften Gestaltung in den Hintergrund rücken, wenn die Mitteilungen als Dokumente überzeugen sollen. Aber auch in der Kunst und in dem weiten Feld der Unterhaltung ist Authentizität im Sinne des (scheinbar) Nichtinszenierten immer wieder eine wichtige Voraussetzung erfolgreicher Kommunikation. Die in den letzten Jahren hier wie dort häufig eingesetzte Amateur-Video-Ästhetik ist dabei nur ein dramaturgisches Mittel unter anderen.8 Nun mag man es für selbstverständlich halten, dass die verschiedenen Dokumentar-Genres (vom Bildjournalismus über Doku-Soaps bis hin zu berichtenden Weblogs) den DokumentenStatus der Bilder forcieren. Und auch im Blick auf die Kunst, die die Reflexion auf das ›Wahre‹ und ›Echte‹ (z.B. der gesellschaftlichen Verhältnisse) schon längst für ihre elaborierten Formspiele nutzt, lässt sich der Nutzen einer Ästhetisierung des Realen schnell erkennen. Wie aber steht es um die Werbung, die einer (auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften) verbreiteten Vorstellung zufolge durch ihre Orientierung am schönen Schein, durch ihre ästhetische (Über-)Perfektion und ihre Idealisierungen gekennzeichnet ist? Beziehungsweise durch die Tilgung des Normalen, Gewöhnlichen, Tragischen, Ungerechten, Hässlichen, Bösen und Gemeinen? Die Antwort auf diese Fragen lässt sich nur über einen theoretischen und empirisch-analytischen Blick auf

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Und das nicht nur im Bereich der Kunst und dem (kunst-)ambitionierten Film (man denke etwa an die Dogma-Filme der 1990er Jahre), sondern auch in den Niederungen der TV-Unterhaltung (Reality-TV). Selbst im Rahmen der Fernsehnachrichten führt die schlechte Ästhetik von Amateur(handy)filmen derzeit nicht zum Zweifel an der Belegfunktion der Bilder. Sie fungiert geradezu umgekehrt als Glaubwürdigkeitsgenerator – so z.B. dann, wenn nach Terroranschlägen von Passanten aufgenommene Filmsequenzen gezeigt werden.

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die historische Entwicklung der modernen, professionalisierten Werbung gewinnen. Wir folgen daher im nächsten Schritt einigen Überlegungen zur Funktion der Werbung und ihrer Kommunikationsweise im Allgemeinen, um daran anschließend auf die Formen und Bedeutungen werblicher Ästhetisierungen des Realen im Speziellen zurückzukommen.

2. W OZU W ERBUNG? B EZUGSPROBLEME UND F UNKTIONEN EINES MODERNEN K OMMUNIKATIONSTYPS Werbekommunikationen sind wie alle Kommunikationen notwendigerweise soziale Operationen – einen bloßen Gedanken, ein bloß imaginäres Bild im Bewusstsein eines Individuums wird man nicht als Werbung gelten lassen können. Für die Soziologie impliziert das die Frage, inwiefern Werbung als spezifische Form der Kommunikation von anderen Kommunikationen (z.B. des Klatsches, der Liebe, der Macht) unterschieden werden kann. Indem die Soziologie dieser Frage wiederum im Blick auf sozial relevante Gesichtspunkte nachgeht, drängen sich ihr weiterhin die Fragen auf, inwiefern die Werbung auf soziale Probleme und Bedarfslagen eingestellt ist und welche sozialen und gesellschaftlichen Funktionen sie übernimmt. Eine naheliegende Antwort auf diese Fragen ist: Werben ist eine Kommunikation, die auf die Überzeugung anderer abzielt. Dabei spielt es keine Rolle, wovon die jeweiligen Adressaten überzeugt werden sollen. Buchtitel wie »6000 Jahre Werbung« (Buchli 1962) sind daher durchaus berechtigt. Werben kann man demnach geradezu als menschliche Urhandlung begreifen, zu der neben dem Werben der Geschlechter Darstellungs- und Informationspolitiken in den verschiedensten Themen- und Akteurskonstellationen gehören. Die schon in der Antike theorieförmig kanonisierte Rhetorik ist dann ebenso in die Traditionslinie der Werbung zu stellen wie die Kommunikationsstrategien der katholischen Gegenreformation im 17. Jahrhundert, auf deren Organisationsbezeichnung (Congregatio de Propaganda Fide) der Begriff der Propaganda zurückgeht.9 Fragt man nach dem sozialen Problem, das das Werben in die-

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Dass und inwiefern die katholische Propaganda schon im frühen 17. Jahrhundert von agitierenden Bildsemantiken im Rahmen der Kunst flankiert

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sem sehr weiten Sinne bearbeitet, kann man sagen: Das Problem ist, dass Menschen nicht immer umstandslos von sich aus wollen, was andere als deren Wollen wollen. Und weiter: Die Werbung ist eingestellt auf dieses Problem unter Bedingungen, in denen die Durchsetzung von Interessen nicht über Macht oder Recht erfolgen kann und entsprechend auf attrahierende Darstellungs- und Kommunikationsformen, kurz: auf die Kunst der Verführung gesetzt werden muss. Das besagte Problem ist bis in die aktuelle Gegenwart ein wichtiges Bezugsproblem auch der professionell organisierten Werbung. Doch wie erwähnt sind Kommunikations- und Verhaltensformen, die sich auf dieses Problem einstellen, erheblich älter als die Phänomene, die in der Gesellschaft seit längerem mit Begriffen wie Reklame, Propaganda oder Werbung in Verbindung gebracht werden. Auch ist das Problem des Überzeugen-Müssens anderer keineswegs auf die professionelle Werbung beschränkt. Überzeugungsarbeiten werden seit jeher in den verschiedensten sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten geleistet. Wenn aber nun das Werben ein alter, ja ein sehr alter Hut ist, muss eine Soziologie der Werbung die Frage stellen, warum und wozu in der modernen Gesellschaft eine organisierte Form der Werbung entsteht und wodurch sich diese vom allgemeinen Handlungs- und Kommunikationstyp des Werbens unterscheidet. Die vorliegende sozial-, geschichts- und medienwissenschaftliche Literatur bietet zur Beantwortung dieser Frage im Kern drei Antworten: Eine davon führt in die historische Analyse des Industriekapitalismus. Unter Bedingungen der modernen Massenproduktion, der neuen Informationsmedien und der Verkehrstechnologien expandiert eine Wirtschaft, die ihre Produkte auf hochgradig anonymisierten, weit ausgedehnten Märkten absetzen muss. Für die Wirtschaft entsteht dann – und nicht etwa erst mit gesättigten Märkten – eine technisch bedingte Krise der Kontrolle, der mit einer neuen, sozialen Steuerungstechnik begegnet werden muss. Die professionelle, über die Verbreitungsmedien Druck, Rundfunk und Fernsehen kommunizierte Werbung ist demzufolge als eine soziale Kontrolltechnik zu verstehen, die eben dies ermöglicht.10 Die zweite

wurde und auch die bilderstürmenden Protestanten Bildmedien für die Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen wussten, zeigt Lutz Hieber in diesem Band. 10 Zu diesem Argumentationsgang im Blick auf zahlreiche historische Materialien vgl. Beniger 1994.

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Überlegung stellt die Bedeutung der neuen Informations- bzw. Massenmedien stärker in den Vordergrund. Indem die Massenmedien als Informationsverarbeitungs- und -Verteilungsinstanzen in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und in Bezug auf die verschiedensten Themen relevant werden, spielt der Kampf um Aufmerksamkeit eine wichtiger werdende Rolle. Dieser nehme sich die moderne Werbung an, um systematisch »folgenreiche Aufmerksamkeit« (Schmidt 1995) herzustellen. Eine dritte Perspektive bietet Niklas Luhmanns Theorie der Massenmedien, die in diesen ein soziales System sieht, dessen Funktion darin besteht, einen fortwährend aktualisierten Informationshorizont in der Gesellschaft aufzuspannen, ein Gedächtnis stabiler Objekte, das es ermöglicht, Erinnern und Vergessen bedarfs- und kontextorientiert zu handhaben. Die Werbung ist in diesem Theorie-Rahmen neben den Bereichen Nachrichten/Berichte und Unterhaltung gleichsam ein Partialgedächtnis, mit dessen Hilfe der Systemcode Information/Nichtinformation mit Kriterien zu dessen Handhabung versehen wird. Der Bedarf für die Werbung ergibt sich für Luhmann dadurch, dass Geschmacksfragen in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr entlang einer Hierarchie von Schichten (Klassen) geregelt werden. Die Herstellung von Geschmack wird daher zu einem Problem und die Werbung zu derjenigen Institution, die die Mitglieder der Gesellschaft mit entsprechenden Orientierungswerten versorgt.11 Nun sind alle drei Argumente für sich selbst genommen schlüssig und richtig. Die Werbung erzeugt unübersehbar Nachfragen für die Wirtschaft, sie generiert Aufmerksamkeit und ermöglicht Selektionssicherheit in Sachen (Konsum-)Geschmack. Schon die empirische Analyse der Werbekommunikationen, also derjenigen Mitteilungen, die als Werbespots oder Anzeigen gesendet bzw. gedruckt werden, zeigt jedoch, dass keines dieser Konzepte eine Erklärung für die verschiedensten Werbeinszenierungen und deren Funktionen anzubieten vermag. So wirbt die Werbung keineswegs nur für die Wirtschaft, sondern auch

11 Die gesellschaftliche Funktion der Werbung bezieht sich Luhmann zufolge auf die Alltagskultur: »Der Erfolg der Werbung liegt nicht nur im Ökonomischen, nicht nur im Verkaufserfolg. Das System der Massenmedien hat auch hier eine eigene Funktion, und sie dürfte in der Stabilisierung eines Verhältnisses von Redundanz und Varietät in der Alltagskultur liegen.« (Luhmann 1996: 94)

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für Kirchen, politische Partien oder Non-profit-Organisationen. Auch kann sie sich offenkundig nicht auf die Herstellung von Aufmerksamkeit beschränken, gleichwohl diese eine Voraussetzung ihrer Rezeption ist.12 Und Geschmack spielt in nicht wenigen Werbekommunikationen überhaupt keine Rolle. Die Soziologie muss daher die Frage erneut stellen, unter welchen Bedingungen und wozu die moderne Gesellschaft einen professionell organisierten Typus der Werbung entwickelt und worin dessen Funktion besteht. Die Beantwortung dieser Frage führt in die Analyse der soziokulturellen Bedeutung der technischen Bildmedien und zu einer darauf eingestellten soziologischen Medientheorie. Von zentraler Bedeutung ist insbesondere das von Luhmann pointierte Argument, dass Kommunikationsmedien wie Schrift und Buchdruck die Akzeptanzwahrscheinlichkeit des mit ihnen Mitgeteilten erheblich herabsetzen, indem sie Kommunikationen von Interaktionen und sozialen Situationen abkoppeln. In dem Maße, in dem die personale Anwesenheit der Mitteilenden die Akzeptanz der Kommunikation nicht mehr hinreichend abzusichern vermag – weil die Beteiligten z.B. Konflikte vermeiden wollen – Kommunikation also gewissermaßen entsozialisiert wird, muss die Akzeptanzwahrscheinlichkeit der Mitteilungen in der Kommunikation selbst gesteigert werden. Das gilt, so Luhmann, umso mehr, als es mit den Verbreitungsmedien zu einer »Anonymisierung sozialer Redundanz« kommt, man also nicht mehr wissen kann, welche der gedruckten bzw. gesendeten Kommunikationen als bereits bekannt vorausgesetzt werden können. Die über Verbreitungsmedien geführten Kommunikationen müssen daher in verschiedenen Themenbereichen (z.B. Liebe, Macht, Eigentum) so eingestellt werden, dass die Akzeptanzwahrscheinlichkeit unter anonymisierten Kommunikationsbedingungen zunimmt. Das für die Entwicklung der modernen Werbung maßgebliche Bezugsproblem entsteht, als technische Bilder (Fotografien, Filme) Einzug in das System der Massenmedien halten, also am Ende des 19. Jahrhunderts.13 Mit den technischen Bildmedien kommt

12 Dies gilt fraglos für alle Kommunikationen (nicht nur der Massenmedien), wenn diese Anschluss finden sollen. 13 Die (chemische) Erfindung der Fotografie datiert auf 1836, doch erst die Autotypie von 1881 integriert das Verbreitungsmedium Fotografie in das Verbreitungsmedium des Zeitungsdrucks. Wie die empirische Analyse zeigt, setzt sich die Fotografie jedoch nur sehr zögerlich durch, um dann

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es schnell zu einer bildbasierten Realität der Massenmedien, die in den unterschiedlichsten Themenkontexten zu einem omnipräsenten Bezugsrahmen aller Gesellschaftsmitglieder wird. Die Identität verschiedenster Objekte (Personen, Organisationen, Unternehmen, Konsumgüter usw.) kondensiert jetzt maßgeblich im Rahmen von Bildern und Vernetzungen von Bildern, die in anonymen, öffentlichen Bildräumen rezipiert werden. Prominente, Mode, Städte oder auch Medienformate (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender) gewinnen z.B. schon früh als visuelle Erscheinungsbilder Kontur. Wenngleich die Darstellungsformen immer wieder darauf eingestellt werden, die jeweils gezeigten Objekte in ein gutes Licht zu rücken, stellen jedoch die Bildsprachen der massenmedialen Unterhaltung ebenso wenig wie die der Nachrichten und Berichte systematisch auf dieses Ziel ab. Während journalistische Formate insbesondere auf die Glaubwürdigkeit und Objektivität des jeweils ›Dokumentierten‹ zielen, dient die Ästhetik der Unterhaltung vor allem der Herstellung eines narrativen, erlebnisreichen Spannungsaufbaus sowie der Erzeugung komplexerer Charaktere und Beziehungsgefüge. Damit ist keineswegs bestritten, dass die Bilder der Unterhaltung und des Journalismus einen Anteil an der Konstruktion positiver (wie negativer) Images haben. Im Gegenteil! Sehr wohl können (bzw. müssen) Akteure die Bühnen der Unterhaltung und der Nachrichten zur Herstellung positiver Fremdeinschätzungen nutzen – so z.B. Politiker, die in beiden Bereichen ein Impression-Management betreiben. Nicht zu übersehen ist aber, dass weder die Bildsprache der Unterhaltung noch die der Nachrichten den Absichten einzelner Akteure folgt, also funktional darauf eingestellt ist, einen guten Eindruck der in ihnen dargestellten Objekte zu vermitteln. Die moderne Werbung hingegen übernimmt eben jene Funktion, soziale Objekte bildlich sowohl zu identifizieren wie positiv zu qualifizieren.14 Sachinformationen (z.B. über Konsumgüter) können für die Werbekommunikationen durchaus eine Rolle spielen. Auch der immer wieder diskutierte Aspekt der Glaubwürdigkeit ist relevant. Und nicht zuletzt gilt auch für die Werbung, dass ihre Wahrnehmung und potentielle Akzeptanz

erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum visuellen Basismedium zu werden. Der Grund hierfür dürfte in der zuvor mangelhaften Zeitungs(bild)druckqualität liegen. 14 Zu der Entfaltung einer auf diese Funktion eingestellten Bildsprache in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Kautt 2008: 118-160.

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Aufmerksamkeit voraussetzt. Die Grundfunktion der Werbekommunikation besteht jedoch darin, dass sie entlang der visuellen Programmierung von (guten) Attributen Objekte identifiziert wie zugleich positiv qualifiziert und eben dadurch ist sie als ein spezifischer Typus der Überzeugungsarbeit gekennzeichnet, der hochprofessionalisierte Unternehmen voraussetzt, die arbeitsteilig zusammenspielen.15 Die Werbung muss in jeder ihrer Kommunikationen deutlich machen, welches Objekt sie identifiziert und an welche (visualisierten) Eigenschaften sie eine Positivqualifizierung bindet. Man kann demzufolge die Unterscheidung von Imagepositiv/Imagenegativ als Leitunterscheidung der Werbung verstehen und die (vor allem visuell zum Ausdruck gebrachten) Semantiken als diejenigen Kriterienkomplexe auffassen, die in der einzelnen Werbekommunikation (dem einzelnen Image) deutlich machen, was jeweils unter einem positiven (bzw. negativen) Image zu verstehen ist. Während die soziale Leistung der Werbung für die jeweiligen Auftraggeber in der Wahrscheinlichkeitssteigerung gewünschter Anschlusshandlungen im Blick auf die Images liegt (seien diese Kaufakte, Wahlbeteiligungen oder Vereinsbeitritte), besteht die gesellschaftliche Funktion der Werbung darin, eine symbolische (Image-)Ordnung zu etablieren, die den Rezipienten Anhaltspunkte für Handlungen und Bewertungen gibt, die mit den beworbenen Objekten und deren Images in Beziehung stehen. Die Leitunterscheidung selbst bietet jedoch keine Kriterien für die Zuordnung von Erscheinungsformen zu der einen oder anderen Seite der Unterscheidung Imagepositiv/Imagenegativ. Entsprechende Kriterien werden in der Werbung durch die verschiedenen Bildsemantiken bereitgestellt. Im Rahmen der inszenatorischen Betonung der jeweiligen Themen, Werte und Attribute wird vorgeführt, worin im jeweiligen Einzelfall das Positive des Images besteht. Während der Code Imagepositiv/Imagenegativ in der Werbung kontinuiert, leisten die Bildsemantiken die Anpassung an die in der jeweiligen Zeit vorherrschenden Vorstellungen (Geschmack, Mode, Werte, Normen usw.), d.h. die Anpassung an die verschiedenen Publikumskulturen. Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir die Frage nach der Ästhetisierung des Realen im Kontext der Werbung wieder aufgreifen

15 Folgerichtig werden Formen der Überzeugungsarbeit, die die Kommunikation von Bildern nicht ins Zentrum ihrer Strategien stellen, mit anderen Begriffen belegt (z.B.: Marketing, Public Relations, Issue Management).

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können. Denn die Inszenierung des Echten und Authentischen erscheint im Rahmen dieser Theorie als eine wählbare Image-Strategie unter anderen. Um zu zeigen, dass und inwiefern sich diese im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Werbung entfaltet, wenden wir uns im Folgenden den ›Sachen selbst‹ zu. Wenn dabei einige Inszenierungsformen des Realen unterschieden werden, geschieht dies lediglich zu Übersichtszwecken und nicht in der Absicht der Herstellung einer erschöpfenden Darstellung dieses Image-Komplexes.

3. D AS R EALE ALS HISTORISCHER I MAGE -K OMPLEX DER W ERBUNG 3.1 Das Reale als lebenswirkliche Problemlagen Schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, also in jenen Dekaden, in denen die Werbung ihre auf Image-Arbeit eingestellte Bildsprache entwickelt, zielt diese keineswegs ausnahmslos auf eine Welt des schönen Scheins. So zeigt eine Anzeige in der »Berliner Illustrierten« von 1935 das Foto von einer nächtlichen Straße und berichtet im Text von einem tödlichen Autounfall um vor diesem Hintergrund den Abschluss einer Lebensversicherung als sinnvolles, rational begründetes Handeln zu plausibilisieren (Abb. 1). Hier wie in anderen Fällen dient die Präsentation des ›Faktischen‹ nicht nur der Herstellung negativer Gefühle, deren Beseitigung dann durch die jeweiligen Objekte in Aussicht gestellt wird. Bedeutsam ist vielmehr das Dokumentarische der Bildsprache, das dem Werbenden einen seriösen Charakter vermitteln soll. Gerade für Versicherungen, Banken und medizinische Produkte wird bis in die aktuelle Gegenwart immer wieder eine vergleichbare Ästhetik gewählt, um die thematisierten Problemkomplexe (Armut, Krankheit, soziale Exklusion u.a.) sowie die gewünschten Image-Identitätswerte Abb. 1: Gemeinschaft der Lebensversicherungen, der Werbenden ins 1935.

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Bild zu setzen (Seriosität, Ernsthaftigkeit, Langsicht, Wissen und charakterliche Tiefe als Attribute der Herstellung von Vertrauenswürdigkeit). 3.2 Das Reale als das Durchschnittliche und Gewöhnliche Ebenfalls schon früh erarbeitet sich die Werbung eine Bildsprache, die ein Lob auf das Gewöhnliche, Alltägliche, Durchschnittliche und Banale singt. Bei aller Verschiedenheit der Themenkontexte besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit der sich im Laufe der Zeit entwickelnden Formen darin, dass das Normal-Menschliche über die Sichtbarkeit verschiedener Unzulänglichkeiten konstruiert wird. Angesprochen werden z.B. die kleinen Schwächen und die kleinen Macken der Protagonisten, die diese aber gerade nicht als defizitär, sondern als menschlich und (daher) liebenswürdig erscheinen lassen. Durchschnittlich und gewöhnlich aussehende Menschen bestimmen dann das Bild und treten als spezifische Image-Medien umso mehr hervor, als die Image-Selektivität der Darsteller unter Gesichtspunkten eines ›schönen‹ Erscheinungsbildes im Laufe der Entwicklung prinzipiell zunimmt (Abb. 2 und Abb. 3). Auch körperästhetische ›Mängel‹ (Korpulenz, Glatze, schiefe Zähne usw.) sind im Rahmen dieses Image-Komplexes keine Seltenheit. Ja immer wieder weisen körperliche Defizite gezielt auf eine Menschlichkeit hin, die im Bedeutungshorizont des beworbenen Objekts als Kriterium der Positivbewertung fungiert – so z.B. dann, wenn Körperfülle eine genuss- und freudvolle Lebensführung bedeuten soll. Eine andere Dimension dieses ›Realismus‹ manifestiert sich in Inszenierungen lebensweltlicher Kontexte. Weder die AusgestalAbb. 2: Astra, 1952.

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tung der materiellen Sphäre (Kleidung, Möbel, Autos usw.) noch die der sozialen Anlässe zielt dann auf die Herstellung von Exklusivitätseindrücken. Gezeigt wird vielmehr die Konsumwelt des ›Otto-Normalverbrauchers‹ und gängige Alltagssituationen: Das Gespräch zwischen Nachbarn, die Arbeitspause unter Kollegen oder das kleine Glück nach Feierabend sind solche Slice-of-Life-Geschichten. 3.3 Das Reale als das Wesentliche und Existentielle Zur Werbewelt gehört schon länger die Positivbewertung eines (alltags-)philosophischen Tiefgangs, der sich in der Distanz zum Oberflächlichen zeigt. Der reife und weise (Lebe-)Mann, der Zigarette rauchend über das Leben sinniert, ist seit den 1950er-Jahren ein wiederkehrendes Motiv. Insbesondere aber seit den letzten zwei Jahrzehnten setzen bestimmte Images auf die Sichtbarmachung des echten und authentischen Menschseins. Geradezu programmatisch entfalten bestimmte Parfumreklamen wie z.B. die Kampagnen für Calvin Klein einen existentiellen Körperpurismus. Der Bildaufbau und die Nüchternheit der Lichtführung erinnern an die schlichte Ästhetik des Passbildes und präparieren den Körper als Ausweis der Person. Fragile Körper, leere Blicke und abstrakte Settings vermitteln immer wieder den Eindruck eines beziehungs- und schutzlosen In-die-Weltgeworfen-Seins der Akteure. Der Betrachter soll nichts als das Wesen in der menschlichen Gestalt und im menschlichen Antlitz erblicken – wobei im Falle eines Parfums von Calvin Klein der Produktname als unterstützende Verstehensanleitung fungiert: »Be«. Das inszenierte Sein der Person schrumpft in diesen Bildern darauf zusammen, mit dem Körper in der Welt verortet zu sein. Der Körper wird als Letztelement stilisiert, dem in einem weiten und haltlosen Raum allein noch Vertrauen gebührt und Glauben geschenkt werden kann (Abb. 4). Abb. 3: Gravis, 2010.

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3.4 Das Reale als das Gegen- und Subkulturelle Nicht erst seit Sachbücher wie »No Logo!« (Klein 2000), Zeitschriften wie das US-amerikanische Magazin »Adbusters« oder Filme wie »American Beauty« in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, lässt sich Kultur- und Konsumkritik selbst als ein Resultat der Kulturindustrie begreifen.16 Auch die Werbung bedient seit längerem einen entsprechenden Bedarf. In erster Linie geschieht dies über Darstellungen einer ›realen Realität‹. Propagiert werden Image-Widerstände gegen die Illusionen einer (Werbe-)Welt des schönen Scheins und der falschen Ideale mit Entwürfen einer als wahrhaftiger, ehrlicher und authentischer stilisierten Weltanschauung. Die Werbung reagiert so auf eine Kritik, die im Zuge ihrer Entwicklung in Richtung ImageKommunikation Kontur gewinnt. Der Realismus-Komplex nimmt diese Kritik reflexiv in sich auf und bietet sie als Image an. Wenngleich sich entsprechende Kampagnen seit dem Ende der 1960er Jahre vereinzelt beobachten lassen, kommt es erst Ende der 1980er Jahre zu einer Kanonisierung solcher Images. Gerade dann, wenn Jugendliche als Rezipienten (Konsumenten) angesprochen werden sollen, operiert der Werberealismus mit einer Ästhetik des UngeschminkAbb. 4: Calvin Klein, 1997. ten, die die Dinge hinter der Fassade so zeigen will, wie sie angeblich wirklich sind: »Image ist nichts« heißt es z.B. in einer Werbung, die einen Jugendlichen beim Trinken zeigt (»Durst ist alles«; Sprite 1998). Insbesondere solche Inszenierungen, die auf hohen Schichtstatus, gute Form oder Jugendlichkeit setzen, werden im Rahmen dieser Images konterkariert. Wichtiges Demonstrationsfeld ist wiederum der Körper: Kleidung, Haare, Haut, Fingernägel und diverse Accessoires spielen eine zentrale Rolle, wenn

16 Mit guten Gründen sprechen neuere Untersuchungen vom »Mythos der Gegenkultur« (vgl. z.B. Holert/Terkessidis 1998 und Heath/Potter 2005).

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es darum geht, das aus der Normalität und Angepasstheit Entrückte als Merkmal jugendlicher Identität vorzuführen und als Image zu erschließen, wobei die Stilisierungen oftmals in Anlehnung an lebenswirkliche Jugendsubkulturen (der Hippies, der Rocker, der Hip-Hop- oder TechnoSzene usw.) erfolgen. Aber auch Bühnen und Kulissen können eine Ästhetik des Hässlichen vermitteln. Schmutzige Hinterhöfe, dunkle UBahn-Schächte und Wohnviertel mit Ghetto-Charakter werden in Modeund Lifestylewerbungen zum Synonym für eine jugendliche Identität, Abb. 5: Mtv, 1998. die sich mit normalerweise für unschön gehaltenen Objekten und Lebensräumen identifiziert. Ein entsprechend kontextiertes Graffiti mit der Botschaft »Fett in die Fresse« fungiert etwa für einen Fernsehsender als Image-Medium (Abb. 5). Was auf diese Weise demonstrativ zur Schau getragen wird, ist Unangepasstheit, Nonkonformität, fundamentale Distanz zur Durchschnitts- und Normalgesellschaft. Dazu gehören Abweichungen auf den Ebenen der rituellen Umgangsformen (Manieren) sowie der Werte und Einstellungen. Abweichendes rituelles Verhalten zeigen z.B. Jugendliche, die mit missachtenden Gesten (Zeigen des Mittelfingers, abschätzige Blicke) oder beleidigenden Redewendungen Normen und Normalitäten der Achtungskommunikation brechen. 3.5 Das Reale als das Urbane Weiterhin hat in den letzten Jahren ein, wiederum insbesondere an Jugendliche und junge Erwachsene adressiertes, Image an Beliebtheit gewonnen, das die Großstadt der Gegenwartsgesellschaft nicht als idyllische Lebenswelt, sondern als urbane Wüste thematisiert, in der es darum geht, mit Haltung und Stil den Alltag zu meistern. Auch wenn in diesen Inszenierungen immer wieder Reste von ›natürlicher Natur‹ vorkommen (Abb. 6), fungieren die großstädtischen Kontexte als

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Sinnbilder für eine künstliche und (daher) harte Umwelt, in der Menschen (über-)leben müssen. Die Idee von der urbanen Welt als einer anforderungsreichen Natur wird u.a. zum Ausdruck gebracht, indem die Darsteller vor besonders kalten Kulissen des städtisch-industriellen Raumes posieren, z.B. vor Ölraffinerien, Betonmauern, Autobahnbrücken, Parkhäusern (Abb. 7). Der Bedeutung der Bühnen und Kulissen entspricht ein modischer Funktionalismus der Kleidung. Er tritt umso mehr hervor, als das gestische und mimische Verhalten der Darsteller in diesen Inszenierungen auffallend zurücktritt, ja ausdruckslos ist – so als solle der Betrachter nicht von der homologen Struktur zwischen den Zeichen der Kleidung und denen der dargestellten Umwelt abgelenkt werden. Die Mode erscheint also nicht als solche, sondern eher als Ausrüstung, als Lösung für Probleme und Aufgaben, die der urbane Lebensraum mit sich bringt: Viele und große Taschen an Hosen und Jacken, stabile Materialien, dicke Schuhsohlen, bequem-schlichte Schnitte und ein überhaupt ornamentfreies Design ohne verzierende Details symbolisieren Funktionalität und (damit) optimale Angepasstheit an die artifizielle, nichtsdestoweniger rohe zweite Natur. 3.6 Das Reale der Ironie Abb. 6: Carhartt, 2010. Nicht zuletzt kann man einen ironischen Umgang mit den Versprechen und Ästhetiken der Konsumkultur als eine Ästhetisierung des Realen begreifen. Auch in diesem Fall werden positive Imagewerte über die Stilisierung der Reflexion ›realer‹ Verhältnisse der Gegenwartsgesellschaft hergestellt. Eine inszenatorische Technik besteht darin, bestimmte (Alltags-)Ästhetiken und (Werbe-)Images mit ihren eigenen Gestaltungsmitteln so zu übersteigern, dass ihre Trivialität, ihr schlechter Geschmack oder ihre Pseudomoral gleichsam enttarnt werden, wobei die Ironie der so gewonnenen Bilder das spezifische Image konstituiert. Ein markantes Beispiel hierfür liefert die Bilderwelt des Modelabels »Diesel«. In dieser

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werden (werbe-)typische Vorstellungen von Schönheit, Ordnung und Geschlecht oder auch gängige Werte und Einstellungen, die die Werbung in anderen Images als positiv bewertet, durch eine übertriebene Zeichenhaftigkeit oder kommentierende Textpassagen ad absurdum geführt. Karikiert wird derart z.B. das übliche Werbungsversprechen, der Kauf des jeweiligen Produktes verhelfe zu einem Mehr an Schönheit, Anerkennung oder Lebensglück. In der Annahme, dass eine ironische Übersteigerung anderer Imageprogramme und Abb. 7: CAT, 2000. Werbungsklischees Sympathien beim Publikum erzeugt, zelebrieren entsprechende Inszenierungen Konsum als einzige Form gelungener Lebensführung. Selbst der Zusammenhang von Ästhetik und Anästhetik kann hier reflektiert werden: »Think of all the bad things in the world... Then think about shopping... thatʼs why I love shopping« (Diesel 1999). »For successful living« lautet entsprechend der markenidentifizierende Slogan, unter dem der Modehersteller Diesel seit Jahren Hilfestellungen für verschiedene Situationen des jugendlichen Lebens zu geben beansprucht, wobei klar ist, dass die Verhaltens- und Benimmregeln, z.B. in Form von Reise-, Einkaufs- und Interaktions-Ratgeberbüchern (»How to [...]-Guides«) Teil einer ironisch-reflexiven Markenwelt sind, in deren Image die Produkte eingeschlossen sind. Indem die Ästhetik der einzelnen Werbung trotz ›Konsumkritik‹ zugleich aufs Genaueste kontrolliert und perfektioniert ist, entfaltet sie Ironie dabei ganz im romantischen Sinne Friedrich Schlegels und Novalis’: Die Mitteilung zielt nicht auf das Gegenteil des Gesagten, sondern auf eine Brechung einfacher Interpretationsschemata und daran anschließende Reflexionen. Indem dabei unterschiedliche Realitätskonstruktionen ineinandergeschoben werden, kann man auch hier von einer Ästhetisierung des Realen sprechen, wobei das Reale selbst als Resultat der rezeptiven Reflexionsprozesse aufzufassen ist. Das gilt z.B. für eine Anzeige, in der die ohnehin ironischen Bildwelten als Plakatmotiv

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in eine ›dokumentarische‹ Fotografie der ›realen Realität‹ eingebaut werden (Abb. 8). 3.7 Das Reale der Gesellschaft – zur Kontinuität und Spezifität der Benetton-Kampagnen Einen speziellen Fall der werblichen Ästhetisierung des Realen bilden die Kampagnen, die Oliviero Toscani für Benetton seit 1989 konzipierte. Deren Besonderheit liegt auf drei Ebenen. Da ist zunächst die bildliche Motivauswahl. Wie erwähnt, fokussiert die Werbung längst vor Benetton nicht nur das Erstrebenswerte, Schöne und Idealisierte, sondern auch das Alltägliche, Problematische und Abweichende. Und doch stimmt es, wenn Lutz Hieber im Blick auf die Arbeit Toscanis feststellt: »Seine Methode besteht darin, das Denken dadurch anzuregen, dass er Bilder in die Welt bringt, die vorher nie diesem Kontext zugerechnet worden wären.« (Hieber 2008: 113) Den news-value der Benetton-Bildwelt ermöglicht eine Themenauswahl, die sich an den großen Problemen und Konflikten der Abb. 8: Diesel, 1998. Menschheit im Spannungsfeld ihrer Kulturen orientiert: Krieg und Frieden, Krankheit und Gesundheit, Heil und Verdammnis, Exklusion und Inklusion, um nur die wesentlichen Themen der Kampagnen zu benennen. Neu ist weniger der Verzicht auf die Abbildung des beworbenen Produktes. Werbungen, die dasselbe aussparen und gleichsam stattdessen auf die Herstellung von Identitätswerten durch andere Motive setzen, finden sich schon am Anfang des 20. Jahrhunderts. Neu hingegen ist die systematische Entkopplung der Werbekommunikation von der Produktbedeutung entlang besagter Konfliktthemen.17 Diese Entkopplung führt zu

17 Zum Vergleich: Wenn Sportartikel- oder Getränkehersteller wie adidas und Coca-Cola in neueren Spots Jugendliche in der Dritten Welt zeigen,

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einer doppelten Irritation: Die eine geht aus dem Sachverhalt hervor, dass die Werbung, insbesondere die für Konsumprodukte,18 zuvor nicht mit der Besetzung dieser Themen assoziiert wurde. Die andere ergibt sich aus dem neuartigen Eindringen solcher Bilder in die Sphäre des öffentlichen Raumes: Während die Ergebnisse des Bildjournalismus an die Privaträume des Zeitschriften- und Fernsehkonsums gebunden bleiben, kolonisieren die Toscani-Bilder den öffentlichen Raum – eine Leistung, die zuvor bestenfalls Kunstwerke oder Bildmaterialien politischer Protestbewegungen mit erheblicher geringerer Reichweite erbrachten. Die Behandlung gesellschaftlicher Themen erscheint im Kosmos der Werbung dabei umso mehr als ein Einbruch des Realen, als sich zu der Themenwahl spezifische Formen der Ästhetisierung gesellen. Sie treiben die eingangs skizzierte Evidenz des Fotografischen ins Extrem. Neben und mit der Vergrößerung der Motive auf das Format von Großflächenplakaten betont eine systematisch nüchterne (schattenlose) Lichtführung die Sachlichkeit und Detailtreue der Fotografie. Entscheidend ist auch das in den Kampagnen wiederholt eingesetzte Stilmittel der Entkontextualisierung, d.h. die Freistellung der gezeigten Objekte vor Abb. 9: Benetton, 1992. einem weißen Hintergrund. So wird der Charakter des Dokumentarischen bekräftigt und der Blick ganz auf

geschieht Vergleichbares, insofern Armut im Rahmen ›realistischer‹ Bilder gezeigt wird. Ein systematischer Unterschied zu den Benetton-Kampagnen besteht jedoch darin, dass besagte Reklamen die ›authentischen‹ Bilder im Rahmen entsprechender Skripts (z.B. des Fußballspiels, des vorgeführten Getränkekonsums) als Beglaubigungsmechanismen für den ›echten‹ Spaß nutzen, der mit dem Produktkonsum einhergeht. 18 Kirchen und Non-Profit-Organisationen spielten hingegen Themen wie Armut bekanntlich schon früher an, wenngleich in weniger deutlichen Motiven.

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›die Sache selbst‹ gelenkt. Nicht zuletzt spielt der Rückzug des Textes auf die Bildmarke »Benetton« bzw. auf äußerst knappe Textkürzel (»United Colors of Benetton«) eine wichtige Rolle, da Sprache bzw. Schrift Kunstwerken vergleichbar nur als Signatur fungieren. Erwähnenswert sind auch die von Benetton produzierten Magazine »Colors«, die global recherchierte Fotodokumentationen zu Themen wie »Umwelt«, »Konsum« oder »Krieg« zum alleinigen Inhalt machen. In ihnen formiert sich eine Art bildbasierte soziologische Aufklärung, die für die Marke noch stärker als die Werbungskampagnen eine verstehende, illusionslose Reflexivität als Imagewert präpariert.19 Dies gilt z.B. für das Themenheft »Shopping« (1994). Die sachlich-kühle Ästhetik eines anspruchsvollen kritischen Bildjournalismus (für den z.B. Namen wie Martin Parr stehen) wird hier kombiniert mit präzisen Hintergrundinformationen zum Gezeigten, wobei das Gesamtkonzept die Bilder in eine globale, ›kulturvergleichende‹ Perspektive einbindet, die u.a. die Konsumformen der Armen und Reichen kontrastiert. Im Zusammenspiel der verschiedenen Inszenierungsmodi entfalten die Bilder eine Macht der Evidenz, die von einzelnen Lesarten nicht mehr leicht unter Kontrolle zu bringen ist. Zwar mag der Betrachter die Mitteilungen als eine aufmerksamkeitserzeugende Strategie zur Absatzförderung interpretieren. Doch ändert dies nichts daran, dass er im öffentlichen Raum – z.B. nach dem ›Shopping‹ an einer Bushaltestelle – mit Plakaten konfrontiert wird, die ihm Kinderarbeit, sterbende Aidskranke oder eine blutverschmierte Soldatenkleidung als ›Tatsachen‹ dieser Welt vor Augen führen (Abb. 9). Die Formulierung moralischer Bedenken und den Vorwurf der Anstößigkeit kann man dabei als Indizien dafür lesen, dass die Fotos und die in ihnen abgebildeten Personen und Dinge als Hinweise auf die ›reale Realität‹ gedeutet werden. Dies bedenkend lässt sich annehmen, dass der moralische Vorwurf des Missbrauchs dieser Bilder für kommerzielle Zwecke das eigentliche Problem maskiert. Es könnte darin bestehen, dass solche Bilder im Kontext der Werbung ihre ›eigentliche‹ Bedeutung zurückerlangen. Während wir uns an die verschiedenen Problem- und Katastrophenbilder im Kontext von Zeitschriften und Fernsehformaten gewöhnt haben, ja diese Bilder als Miniaturen des Erhabenen zwischen

19 Der Einschluss des Ausgeschlossenen (der Werbung) folgt also auch, ja gerade im Grenzfall der Benetton-Kampagne der skizzierten Operationslogik der Werbung, also der Logik der Image-Kommunikation.

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Lifestyle- und Unterhaltungsformaten auf dem Sofa sitzend goutieren (Benjamin spricht von »Gemütlichkeitspoesie«), tritt uns hier der fotografische Realismus und das mit ihm verknüpfte Phänomen wieder deutlich(er) vor Augen. Das mag auch für einen Modekatalog von Benetton gelten, in dem Menschen mit Trisomie 21 ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden.20 Angesichts der Macht der Bilder, die nicht in sprachlichen Kategorien aufgeht, macht es wenig Sinn, breit ausgetretenen Pfaden der Moral zu folgen. Die Frage, die man zu dieser Ästhetisierung des Realen stellen müsste, lautet vielmehr: Welche Instanz unserer Gesellschaft sorgt dafür, den behinderten Körper nicht ins Unsichtbare zu verdrängen, sondern ihn als einen unter anderen zu präsentieren? Offensichtlich ist jedenfalls, dass wir von solchen Bildern nicht weniger, sondern mehr brauchen, wenn Behinderte und körperlich Stigmatisierte näher in die »Normalitätszone« (Jürgen Link) gerückt werden sollen.21 In Deutschland hingegen folgte auf den Einbruch des Realen in den Bilder-Rahmen der Werbung eine Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit verschiedener Bilder vor Gericht. Wie Lutz Hieber zeigt, fußen die Bedenken zu den Benetton-Kampagnen in der BRD auf einer historisch entwickelten Mentalität, so dass die Bilder Toscanis »durchgehend in einem Strudel von Auseinandersetzungen gefangen [waren], in dessen Zentrum die Frage nach der moralischen Zulässigkeit stand« (Hieber 2008: 115).22 Aus der Perspektive der Gegen-

20 Für die Überprüfung der hier vertretenen These, dass die Fotografien dieser Werbung eine Balance halten, die die Protagonisten weder in ein kitschiges noch in ein problemzentriertes und (daher) scheinbar objektives Licht rücken, kann an dieser Stelle nur die Lektüre des Herbstkataloges von Benetton 1998 empfohlen werden. 21 Als einen der wenigen Versuche in diese Richtung kann man Niko von Glasows Film »NoBody’s Perfect« (2008) nennen. Neben und mit der Aufklärung über den Contergan-Skandal steht hier die Auseinandersetzung von Betroffenen mit ihrem Körper und dessen fotografische (Selbst-)Inszenierung sowie die Publikation dieser Bilder im öffentlichen Raum (z.B. vor dem Kölner Dom) im Mittelpunkt der Betrachtung. 22 Und deshalb, so Hieber, war die Nutzung der Kraft und Macht dieser Bilder durch Soziale Bewegungen in Deutschland ausgeschlossen. Neben und mit der deutschen (mitteleuropäischen) Geringschätzung des Werbeplakats als »Diener rein ökonomischer Interessen« (auch von der Seite der Künst-

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wart lässt sich abschließend feststellen, dass die Thematisierung gesellschaftlicher Verhältnisse seit den Benetton-Kampagnen nicht mehr so entschieden zum Bezugsrahmen der Werbung gemacht wurde. Dies zeigt u.a. ein aktuelles Beispiel des sogenannten guerilla-marketings. Der Autovermieter »Sixt« ließ inmitten von Castor-Gegnern bei einer Blockade-Aktion Fahnen mit der Botschaft »Stoppt teure Transporte! Mietet Van und Truck von Sixt« schwenken (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 10.11.2010). Das ›echte Leben‹ wird hier zwar als Bühne der Werbung genutzt, um Bilder von dieser Aktion, gleichsam aufgeladen mit dem Wert des Authentischen, medial zu kommunizieren und zu verbreiten (z.B. auf youtube). Indem diese Werbung jedoch selbst kein Bild erzeugt, das gegen andere Bilder (z.B. anderer Werbe-Images) opponieren oder mit diesen kontrastieren könnte, bleibt jedoch ein mit den Benetton-Kampagnen vergleichbarer Einbruch des Realen aus.

F AZIT Die vorliegenden Überlegungen zusammenfassend kann man feststellen, dass die Logik der Werbungsinszenierungen keineswegs durch deren Tendenz zur Idealisierung und zum schönen Schein bestimmt ist. Wenngleich die Werbung dann, wenn sie in allgemeinen Publikumsmedien breite Zielgruppen ansprechen will, Darstellungen einer idealisierten Mittel- und Oberschicht favorisiert, kann sie andernorts problemlos mit einer Ästhetik des Hässlichen, mit Eindrücken von Gegenkultur oder mit Darstellungen ›ungeschminkter‹ Authentizität operieren. Sie ist äußerst flexibel in der Zuteilung ihrer (visualisierten) Positivwerte und eben diese Flexibilität – und nicht ein Kanon bestimmter Vorstellungen, Werte und Normen – definiert ihre semantische Struktur.23 Entsprechend kann die Ästhetisierung des Realen zu

ler und des Kunstbetriebs) sieht Hieber im kulturell vermittelten Umgang mit der Rechtsprechung hierzulande eine Bremse dieser Kampagnen: »Außerdem spielen in unserem Staat viele Richter offensichtlich gerne die Rolle paternalistischer Vormünder, die Verhaltensregeln im Sinne eines ungeschriebenen ›so etwas tut man nicht‹ durchsetzen möchten« (ebd.: 117). 23 In den Image-Welten der Werbung steht dementsprechend Gemeinschaftsorientierung neben Individualität, Moderne neben Tradition, Haben neben

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einer Image-Ressource unter anderen werden. Für den Bedarf einer solchen Ressource spielt die mit den technischen Bildmedien expandierende »Realität der Massenmedien« eine besondere Rolle: Während die Indexikalität fotografischer (filmischer) Bilder fortwährend dafür sorgt, dass die medial vermittelten Kommunikationen (auch) als Hinweise auf die ›reale Realität‹ interpretiert werden, erscheinen dieselben gerade in den multiperspektivischen und polykontexturalen Sinnhorizonten der Gegenwarts(medien)gesellschaft deutlicher denn je als Modulationen, Transformationen, Manipulationen und Konstruktionen.24 Versteht man das Reale als Ergebnis fortlaufender Konsistenzprüfungen des Bewusstseins im Umgang mit unterschiedlichsten Konstruktionen (Kommunikationen)25, wird deutlich, dass die Kultivierung des Realen ganz auf der Höhe der Zeit ist: Es trägt dem Bedarf an Konstruktionen ebenso wie einem Wissen um die Selektivität derselben Rechnung und überlässt es dem Beobachter, über den Realitäts-Status der jeweiligen Mitteilungen zu befinden.26 Die Inszenierung von ›Realness‹ ist weniger Ausdruck einer naiven Sehnsucht nach dem ›Echten‹, als vielmehr selbst ein Medium der Realitätsreflexion. So ist es verständlich, dass sich nicht nur das Reality-TV, sondern auch dessen Spielart »skripted reality«, die die Inszenierung ihrer Realität bereits im Namen führt, einer gewissen Beliebtheit erfreut. Denn hier wie dort ist der Zuschauer auch als Para-Soziologe bzw. Para-Ethnologe adressiert, der neben anderen (z.B. voyeuristischen) Effekten der Suche nach dem Grenzverlauf von Realität und Fiktion, von Inszeniertem und Nichtinszenierten Unterhaltungswerte abgewinnen kann. Und unter diesem Gesichtspunkt kann man den Ästhetisierungen des Realen im Bereich der Nachrichten, der Unterhaltung, der Kunst und der Werbung durchaus verwandtschaftliche Beziehungen bescheinigen.

Sein, wobei im Rahmen der einzelnen Images die verschiedenen Orientierungen jeweils positiv dargestellt werden. 24 Luhmann geht davon aus, dass die Realitätskonstruktionen der Massenmedien den Modus der Beobachtung zweiter Ordnung gesellschaftsweit einüben (vgl. Luhmann 1996: 153). 25 Vgl. zu einem solchen Verständnis Luhmann, z.B. 1997: 1126 f. 26 Eine vergleichbare Entwicklung spielt sich entlang der Einführung und Vergesellschaftung von Speicher- und Wiedergabetechniken im Bereich der Sounds und der Musik ab, wie Auslander (1999) in Bezug auf die Bedeutung von »Liveness« zeigt.

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ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Berliner Illustrierte Zeitung, Nr. 10, 1935, S. 39. – Abb. 2: Stern, Nr. 9, 1952, S. 22. – Abb. 3: brand eins, Nr. 12, 2010 S. 58. – Abb. 4: Max, Nr. 7, 1997, S. 23. – Abb. 5: Max, Nr. 10, 1998, S. 11. – Abb. 6: Spex, Nr. 329, 2010, S. 53. – Abb. 7: Max, Nr. 4, 2000, S 49. – Abb. 8: Werbepostkarte 1998. – Abb. 9: Werbepostkarte 1992.

Subversive Ästhetik? Videos der Schweizer Protestbewegung der 1980er-Jahre D OMINIQUE R UDIN

1. ÄSTHETISIERUNG

ALS KULTURHISTORISCHE K ATEGORIE

Das Nachdenken über Audiovisualität und Ästhetik zählt in der Geschichtswissenschaft nicht zum Alltagsgeschäft. In einigen Ansätzen, etwa der Neuen Kulturgeschichte (vgl. Mergel 2002; StollbergRilinger 2004), werden jedoch schon seit einigen Jahren auch ›traditionelle‹ Gegenstände der Politik- und Sozialgeschichte unter kulturalistischer Perspektive untersucht. Diese zeichnet sich aus durch Sensibilität für symbolische Systeme wie Sprache, Bilder, Gesten oder Rituale und, damit einhergehend, durch eine breite Palette von Quellengattungen – von ›klassischen‹ Materialien wie Archivdokumente und Presseartikel über Denkmäler und Architektur bis hin zu Fotografie oder Film (vgl. Jäger 2009). Weit davon entfernt, an dieser Stelle eine erschöpfende Nacherzählung der Schweizer Achtziger-Bewegung liefern zu können, soll im folgenden Artikel deutlich werden, wie eine Kulturgeschichte des Politischen gewinnbringend in Bereichen operieren kann, die (vermeintlich) fernab der Parlamentskammern und Verwaltungstrakte liegen. Hierzu muss sie Fragen stellen, die von vielen Historiker/-innen immer noch möglichst gemieden oder als irrelevant abgetan werden, etwa Fragen zum Bereich des Ästhetischen. Die politische Dimension der

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Kategorie (vgl. Rancière 2008) wird in vielen Bereichen der Geschichtswissenschaft vernachlässigt oder gänzlich ignoriert. Bevor ich eine kurze historische Einordnung der Schweizer Achtziger-Bewegung skizziere, um dann auf das hier interessierende Video-Material zu sprechen zu kommen, bedarf es zunächst der Klärung, wie ich das gestellte Problem auffasse. Handelt es sich bei der ›Ästhetisierung des Sozialen‹ um eine historische Diagnose? Oder eher um eine heuristische Perspektive? Entscheidet man sich für die erste Option, kann sie zur Bestimmung eines historischen Zeit-Raumes dienen. Zudem impliziert sie als Diagnose eine vorgängige Leerstelle oder Mangelsituation und transportiert einen Entwicklungsgedanken, etwa hinsichtlich einer zunehmenden Verbreitung und Konsumption künstlerischer und kultureller Dienstleistungen und Produkte. Dies ist ein Gedankengang, der nicht vollkommen neu ist (vgl. Benjamin 2003 [1936]). Eine historische Fragestellung könnte dann etwa lauten: Können in relevanter Quantität und über einen markanten Zeitraum hinweg Phänomene festgestellt werden, die eine solche Zunahme belegen? Die makrohistorische Hypothese einer ›Ära der Ästhetisierung‹ müsste mit einer Reihe von empirischen Studien erhärtet oder falsifiziert werden. Mit Blick auf die europäische Zeitgeschichte birgt ein derartiges Vorgehen allerdings die Gefahr, dass ein Sammeln und Beschreiben von Moden und Stilen einsetzt, eingebettet in eine Erzählung prosperierender kapitalistischer Gesellschaften. Dann könnte eine Erfolgsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geschrieben werden, in der sich die Menschen zunehmend mehr als das tägliche Brot leisten konnten: Über mehr Geld und Muse verfügend, wandelten sich Bürger/-innen zunehmend zu Konsumenten/-innen, die sich auch schöne, eventuell praktische, aber im Grunde nicht-existenzielle Dinge leisten konnten. Andreas Wirsching hinterfragt kritisch ein zu glattes, bruchloses zeitgeschichtliches »Narrativ der Konsumgesellschaft« und mahnt zur Vorsicht: In den Erzählungen des Siegeszuges der Konsumgesellschaft dürften »gegenläufige Elemente« in der Nachkriegszeit nicht marginalisiert oder gänzlich übersehen werden (Wirsching 2009). Ein möglicher Weg dies zu vermeiden, kann in unserem Kontext darin bestehen, Ästhetisierung nicht als Latenzphänomen des Überflusses zu verstehen. Vorzeichen wie Konsumwachstum, soziale Absicherungssysteme, erleichterte Informations- und Warenzirkulation zunächst weglassend, fasse ich die Frage nach der Ästhetisierung des Sozialen nicht als Diagnose, sondern als kulturhistorische Perspektive mit bestimmten Auf-

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merksamkeitsbereichen auf: Welche sozialen und politischen Funktionen haben Prozesse der Ästhetisierung für einen untersuchten Zeitraum und eine spezifische Gruppe? So gefragt spaltet sich der Begriff auf in zwei prozessuale Aspekte: Zum einen in jenen der ›Ästhetik‹, der als Kategorie der Wahrnehmung (gr. aisthesis) verstanden werden kann. Zum anderen eröffnet das Suffix (ierung) das semantische Referenzfeld der poiesis, also der Tätigkeit oder Schaffenskraft. So wirft das Nomen Actionis ›Ästhetisierung‹ weniger die Frage nach der Qualität von Artefakten (Kunst/Nicht-Kunst) denn nach Praktiken auf: Welche Wahrnehmungsweisen und damit einhergehenden Formen der Produktivität zeichnen eine soziale Entität so aus, dass sie als distinkt von anderen Gruppen in Erscheinung tritt? Wer ist mit welchen Mitteln an diesen Prozessen beteiligt? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus solchen Konfigurationen für Sozialität und Politizität der betreffenden Gruppe? Die Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmung und Produktion begreife ich als Transformationsvorgänge, die unterschiedliche Objektivierungen von Wirklichkeit hervorbringen; diese sind in ihren jeweiligen medialen Eigenschaften stets diskursiv, technisch und stilistisch präfiguriert. Als Objektivierungen können also jegliche Kommunikationsformen verstanden werden, die sowohl als Mittel der Verständigung genauso wie der Konfliktaustragung zur Anwendung kommen. Historische Quellen sind insofern immer auch Produkte von Ästhetisierungen, gleichsam mediale Variationen von Wirklichkeiten. Im Folgenden wird primär von audiovisuellen Medien die Rede sein: Von Videos und (Super 8-)Filmen aus der Achtziger-Bewegung in der Schweiz.

2. V IDEOAKTIVISMUS Die Achtziger-Bewegung befindet sich am Anfang ihrer Historisierung. Zur Zeit liegen überwiegen Materialsammlungen (SchultzeKossack/von Vogel 2010; Nigg 2001) und Zeitzeugnisse (Hänny 1981) vor sowie eine große Reihe zeitgenössischer Publikationen, die die Situation soziologisch, politologisch und pädagogisch zu erfassen versuchten (bspw. Kriesi 1984) oder politisch darauf reagierten (Landmann 1982). Die Konstituierung des historischen Diskurses über die Achtziger-Bewegung ist zudem mit einer besonderen ArchivSituation verbunden. In der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre trat

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immer häufiger ein neuer Typus links-alternativer Akteure in den Schweizer Städten in Erscheinung: Menschen mit Super 8- und Videokameras in den Händen. So ist einer der umfangreichsten Archivbestände aus dem Umkreis der Bewegung audiovisueller Art, was für die traditionell eher sprachzentrierte Geschichtsforschung eine Herausforderung darstellt. Dieser Fundus von über hundert Videos findet sich im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich. Vertreten sind vor allem Produktionen aus Zürich, aber auch aus Basel und Bern. Im Schatten von »Züri brännt« (Zürich 1980), jenem zum Symbol für die Bewegung gewordenen Video, stand eine international vernetzte Szene von Super 8- und vor allem Videofilmern/-innen (vgl. Berger 2010; Does 2001). Sie setzten nicht nur die soziokulturelle Frustration und politische Unruhe jener überwiegend jungen Menschen in Szene. Vielmehr sollten die Videos den Massenmedien eigenständige Ästhetiken und Produktionsweisen entgegenhalten sowie alternativen Lebensentwürfen einen Platz im Bild einräumen. Dementsprechend verstanden sich die Videoaktivisten/-innen als Akteure einer Gegenöffentlichkeit im Rekurs auf Konzepte des emanzipatorischen Mediengebrauchs (Enzensberger 1970; Kluge/Negt 1972), der sich insbesondere an angelsächsischen Vorbildern orientierte. So veröffentlichte der Zürcher Ethnologe und Videofilmer Heinz Nigg, gemeinsam mit Graham Wade, eine Dokumentation über die Community Media-Bewegung in Großbritannien (Nigg/Wade 1980). Als verdichtete Konfigurationen visueller und sprachlicher Elemente verweisen die Videos auf kulturelle Referenzen, identifizieren den politischen Gegner, stilisieren Subjektivitäten, entwerfen kollektive Identitäten. Dabei bringen sie eine Vielzahl von Darstellungsstrategien in Anschlag: dokumentarischer Objektivitätsgestus steht neben offensiver Subjektivität, spielerische Ironisierung steht neben persönlichen Attacken gegen die politischen Gegner/-innen. Das alles liegt nicht selten als Stil-Mischung in einem einzelnen Video vor. Als ReProduktionen (von Menschen, Dingen, Musik, Diskursen usw.) durch audiovisuelle Dispositive verstehe ich die Videos als Spuren eines doppelten und verschränkten Vorgangs der Ästhetisierung. Sie zeugen genauso von Aufmerksamkeiten und Aneignungsformen, wie sie auch für spezifische Subjektivierungsangebote und zirkulierende Repräsentationsweisen stehen.

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3. K EIN ANFANG UND KEIN E NDE : 1949 – 1968 – 1980 Am 8. Juni 1980 stand in Zürich eine städtische Volksabstimmung über einen 60-Millionen-Kredit für das Zürcher Opernhaus an. Überwiegend von Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde dies zum Anlass genommen, um ihren Unmut über die einseitige Verteilung von Raum und Geld im Kulturbereich auszudrücken. Am 30. Mai 1980 demonstrierten rund 200 Personen vor der Oper, um auf ihre seit Jahren unerfüllten Anliegen aufmerksam zu machen, insbesondere im Bereich der Rockmusik. Im Laufe des Abends uferte die Demonstration zu einer Straßenschlacht in der Zürcher Innenstadt aus. Da Bob Marley am selben Abend im Hallenstadion gespielt hatte, stießen zunehmend auch Konzertbesucher/-innen dazu. Als ›Opernhauskrawall‹ wurde die Nacht zum initialen Moment dessen, was im Dialekt schlicht ›D’Bewegig‹ genannt wurde und international Schlagzeilen erzeugte (bspw. Der Spiegel, 1980/25). Erzählungen der Achtziger-Bewegung nehmen häufig mit dem Opernhauskrawall ihren Anfang. Eine Geschichte der Bewegung muss jedoch mindestens auf 1968 zurückverweisen, wenn nicht gar in die Vierziger Jahre, um das Geschehen nachvollziehen zu können. Achtundsechzig bildet einen wichtigen historischen Anknüpfungspunkt der Bewegung zwölf Jahre später, als Erinnerungschiffre des Aufbegehrens gegen ›Spießertum‹ und jugendlichem Einfordern von eigenen kulturellen Räumen (Linke/Tanner 2008). Zugleich haben sich jedoch viele Angehörige der neuen Generation von Unzufriedenen abgewendet von den universellen Gesellschaftstheorien und Revolutionsprojekten der Sechziger Jahre. Die Achtziger richteten ihren Fokus stärker auf die Veränderung und Gestaltung der alltäglichen Lebenswelt. Die Praktikabilität dadaistischer oder situationistischer Ideen stand der Bewegung im Allgemeinen näher als marxistische Theoriedebatten. So kann für die Achtziger-Bewegung kein homogenes politisches Programm ausgemacht werden, es bestanden auch kaum klare Organisationsstrukturen. Genauso wenig kann von medialen Wortführern und Repräsentantinnen die Rede sein. Das Phänomen Bewegung zeichnete sich vielmehr aus durch einen Autonomie-Diskurs und Versuche, Kreativität und Selbstverwaltung an konkreten Orten zu praktizieren. Besetze Häuser und Areale wurden zu politischen Orten, die die städtischen Gesellschafts- und Raumordnungen herausforderten; sie wurden

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zu Schauplätzen, an denen die juristische und ökonomische Definitionsmacht über diese Orte in Frage gestellt wurden. Markanter als 1968 rückte der Lebensraum Stadt ins Zentrum der Auseinandersetzungen. »In letzter Konsequenz«, so urteilt Christian Schmid, »forderte die Bewegung eine neue urbane Kultur.« (Schmid 2000: 358) Die Stadt war nicht mehr vornehmlich die Bühne, auf der sich Kritik, Protest und Kommunikation abspielten. Sie wurde selber zur politischen Figur des Unbestimmten und Umstrittenen. In diesem Artikel soll die Aufmerksamkeit vornehmlich auf Zürich gerichtet sein. Nicht unerwähnt aber darf bleiben, dass ähnliche Verhältnisse in anderen Schweizer Städten vorlagen, namentlich Basel, Bern, Genf und Lausanne. Die landesweite und vor allem auch zeitliche Streuung der Auseinandersetzungen deutet darauf hin, dass die Gründe nicht (nur) in vereinzelten lokalen Problemlagen zu suchen sind, sondern dass die Ereignisse mit einem fundamentaleren ›Kulturkonflikt‹ zusammenhängen. Das breite Versagen politischer Verantwortungsträger/-innen zeigt sich nach 1968 vor allem in einer intensiven Symptombekämpfung – Anpassung von Polizeitaktiken bei Demonstrationen (vgl. Zweifel 1998:194-196) – sowie im Verfehlen einer situationsangemessenen, pluralistischen Kultur- und Jugendpolitik (Levy/Duvanel 1984: 226). Anders als im europäischen Umland sei in Zürich schon Achtundsechzig »nicht primär von weltpolitischen Themen bestimmt« gewesen, sondern von den Forderungen nach der Errichtung eines autonomen Jugendzentrums (Stutz 2008: 39). Dieses Unterstreichen der lokalen Besonderheiten ist zwar nicht unbedingt Forschungskonsens, deutet aber ein Moment der Kontinuität vor und nach 1968 an: die Forderungen nach einem Zürcher Jugendhaus. Diese wird auf das Jahr 1949 zurückgeführt, als der »Verein Zürcher Jugendhaus« gegründet wurde. Was folgte, war eine lange Kette seltener Erfolge und häufiger Rückschläge. Als im Sommer 1968 ein leerstehendes ehemaliges Warenhaus in der Nähe des Hauptbahnhofes besetzt wurde, spitzte sich die Lage zu; die polizeiliche Räumung am 29. Juni führte zum ›Globuskrawall‹. Es folgte in den 1970er Jahren eine Reihe von illegalen und legalen Bemühungen, ein (autonomes) Jugendhaus einzurichten; parallel dazu wurden zunehmend leer stehende, oft zum Abriss bestimmte Wohnhäuser besetzt (vgl. Stahel 2006: 319-325). Es kam zu einer subkulturellen Konsolidierung von Aneignungspraktiken urbaner Infrastruktur und Topographie, die nicht nur Hausbesetzungen umfasste.

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Auch Graffiti kann als solche Praxis verstanden werden (Abb.1). In den späten Sechziger Jahren eher konzentriert anzutreffen, bspw. im besetzten Globusprovisorium, verbreitete sich Graffiti in den Achtziger Jahren mit der Technik der Spraydose in der ganzen Stadt: »Mit der Kultur der Graffiti [zeigte sich] die ubiquitäre Präsenz einer Bewegung, die überall auftauchen konnte, gerade auch an der Peripherie, und die sich auch nicht mehr so einfach durch Polizeieingriffe bekämpfen ließ, wie dies bei den Aktionen des ›Zürcher Sommers 1968‹ der Fall war.« (Linke/Tanner 2008: 17) Zu internationaler Bekanntheit brachte es Harald Naegeli, der ›Sprayer von Zürich‹. Seit 1977 operierte er zwischen künstlerischer Anerkennung und Kriminalisierung, um sich nach Verbüßung einer Haftstrafe 1984 in Düsseldorf nieder zu lassen. Spätestens Mitte der Neunziger wurden seine Spraybilder von der öffentlichen Verwaltung als Kunst taxiert (vgl. Unijournal 2004/5: 4). Nebst Graffiti kamen weitere Formen der kulturellen und sozialen Markierung des öffentlichen Raumes zum Einsatz: von Demonstrationen und Wandzeitungen über (den Äther besetzende) Piratenradios bis hin zu Transparenten an besetzen Gebäuden und der schieren Alltagspräsenz der ›Langhaarigen‹ in den Stra- Abb. 1: Graffiti zeichnen die ßen der Stadt – in Straßen-Umfragen Bewegung aus. wurde das Aussehen und Verhalten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer wieder thematisiert (bspw. in »Anarchie und Disneyland«, Zürich 1982). Die größte Herausforderung für Rechtsordnung, politische Entscheidungsträger/ -innen und bürgerliche Toleranzgrenzen dürften jedoch die (scheinbar) unermüdlichen Besetzungen von Häusern und Arealen gewesen sein.

4. H ETEROTOPIEN Ausgehend von der zentralen Rolle der Stadt als Lebens- und Konfliktraum, möchte ich im Folgenden anhand Michel Foucaults Anregungen zu einer Heterotopologie (Foucault 1998) zwei analytische Ebenen skizzieren. Zum einen gilt es auf der Ebene der Zeitgeschichte zu fra-

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gen, inwiefern besetzte Häuser, alternative Kulturorte oder autonome Jugendzentren als »andere Räume« im Sinne Foucaults verstanden werden können und welcher analytische Gewinn daraus gezogen werden könnte. Zum anderen ist auf der Ebene der Quellenkritik zu fragen, inwiefern die Videos selber als Heterotopie(n) verstanden werden können. Foucault entwickelte seinen Heterotopie-Begriff bzw. seine Skizze einer analytischen Heterotopologie in Differenz und zugleich diskursiver Nähe zur Utopie. Im Unterschied zur Letzteren, die er als »Platzierungen ohne reellen Ort« begreift, sind Heterotopien »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.« (Foucault 1998: 39)

Im eröffnenden Monolog von »Züri brännt« wird eine Vielzahl von sozialen Gruppen aufgezählt, deren polizeiliche oder medizinische Platzierung in foucaultschen Abweichungsheterotopien (wie psychiatrischen Anstalten oder Gefängnissen) nicht unwahrscheinlich scheint: »Andächtige Monotonie von Beamtenschritten in den öden Gängen der Registraturbehörden, riesige planierte Flächen vor den Einkaufszentren, so leer und wunschlos wie die Köpfe der Familienväter am Sonntag. Doch unten, wo der Verputz zu bröckeln beginnt, wo verschämte Rinnsale Kleenex-sauberer Menschenärsche zu stinkenden Kloaken zusammenfließen, da leben die Ratten, wild wuchernd und fröhlich, schon lange. Sie sprechen eine neue Sprache, und wenn diese Sprache durchbricht, ans Tageslicht stößt, wird gesagt nicht mehr getan sein, schwarz auf weiß wird nicht mehr klipp und klar sein, Alt und Neu wird ein Ding sein. Krüppel, Schwule, Säufer, Junkies, Spaghettifresser, Neger, Bombenleger, Brandstifter, Vagabunden, Knackies, Frauen und alle Traumtänzer werden zusammenströmen zur Verbrennung der Väter.« (Züri brännt 1980)

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Die Selbstdeklarierung als Versammlung devianter Subjekte formulierte sich im Antagonismus zur als beengend und frustrierend empfundenen Dominanz konservativer Werte und bürgerlicher Familie, kapitalistischen Konsums und eines wirtschaftsliberalen Verwaltungsstaates. Es versteht sich, dass dieser ›Flirt‹ mit dem Abweichenden nicht mit deckungsgleichen Wertungen einherging, wie sie die Bewegung von der Seite der bürgerlichen Presse erfuhr. Der Kampf um günstigen Wohnraum und alternative Kulturorte führte vielmehr zur Einrichtung einer großen Zahl von Räumen, die man als Krisenheterotopien bezeichnen könnten. Solche verortete Foucault in erster Linie in »primitiven« Gesellschaften, als privilegierte oder heilige Orte für Adoleszente, Frauen während der Menstruation oder alte Personen, zu denen außenstehende nur beschränkt oder überhaupt keinen Zutritt hatten. Die Bewegung, in ihrer ganzen Heteronomie und Flüchtigkeit, formulierte ganz zentral das Bedürfnis nach anderen Räumen, in denen Projekte autonomer Verwaltung und alternativer Existenzweisen verwirklicht werden sollten – möglichst ohne Einmischung von außen, nicht durch politische Parteien und schon gar nicht durch den Staat. Der anonyme Zürcher Autor P.M. legte mit »bolo’bolo« (1983) einen Entwurf relativ kleinräumig organisierter Gemeinschaften vor. Nach einem Seitenhieb gegen den ethnologischen Romantizismus des verbreitet auf Hauswände gesprayten Slogans »Nur Stämme werden überleben« (Deloria 1976), kündete er an, das »wirkliche ›Stammeszeitalter‹« beginne »erst jetzt« (P.M. 1983: 94) und trug sich explizit mit isolationistischen Gedanken (vgl. ebd.: 105). Die Realisierung von autonomen Orten bewegt sich in heterotopologischer Perspektive auf einem schmalen Grat der Ein- und Ausschlussmechanismen. Im Moment der Befreiung haben sich die Bewegten im ›autonomen Raum‹ ein- und zugleich aus der städtischen Bürgergesellschaft ausgeschlossen. Die in Opposition zur vorherrschenden Raum- und Gesellschaftsordnung begriffenen Freiräume standen insbesondere mit den juristischen Rahmenbedingungen in einem strukturellen Konfliktverhältnis. In der Regel waren diese Orte aus rechtlicher Sicht nicht tolerierbar. Rigoros wurde auf das Lossagen von hegemonialen Ordnungsprinzipien reagiert. Entsprechend stellen viele Videos ihre Gegenstände anhand antagonistischer Beziehungen zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ vor. Markant dargestellt etwa in »Besetzt die Idylle« (Zürich 1989), einem poetischen Portrait vier besetzter Häuser an der Hüttisstraße in Zürich-Oerlikon. Auffallend an die-

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sem Video ist, dass keine personifizierten Feindbilder, keine Familienväter, Politikerinnen oder Immobilienspekulanten benannt werden, ganz im Gegensatz zu »Züri brännt«. Eher wird mit einer bedrohlichen Kulisse aus internationalen Firmen (IBM, Rank Xerox und Airgate) sowie übermächtigen Symbolen der nationalen Kollektividentität operiert (Schweizer Flagge, Militär und Kirche). Am eindeutigsten wird mit dem Wort »Presslufthammermann« auf die konkrete Bedrohung der Häuser durch projektierte Neubauten angespielt. Ansonsten dominieren anonyme sächliche Akteure die Narration der Off-Stimme (»es klotzt [Betonbauten]«). Die Antagonismen werden in einer ästhetisierten Raum- und Wirtschaftsordnung inszeniert, einer »urbanen Grauzone« versus der »grünen Hüttenoase« (Abb. 2). Erstere wird konnotiert mit abweisendem Beton und kaltem Profitstreben, letztere steht für offene Wohnformen und kreativen Freiraum. Die Hausbesetzungen waren geprägt von Unsicherheit und Flüchtigkeit, was in zahlreichen Videos thematisiert wird – gegen Ende der Achtziger Jahre zunehmend mit einem melancholisch-resignativen Grundton, der auch in »Besetzt die Idylle« anklingt. Die häufigen Räumungen führten dazu, dass im Verlauf der Zeit die Abb. 2:»Hüttenoase« an der einzelnen Orte kaum dauerhaft exisHüttisstraße. tierten. Vielmehr handelte es sich um einen zyklischen Prozess der Besetzungen und Räumungen, wobei sich die Schauplätze immer wieder verlagerten und eine Art Erinnerungsspur durch die Stadtviertel legten. Die Interventionen in die Raumordnung waren zeitlich zweifach bestimmt. Zum einen als einzelne prekäre Nutzungssituation von meist kurzer Dauer. Zum anderen als Serie von Ereignissen, die sich für den abgedeckten Zeitraum als regelmäßig auftretende Interventionsform bestimmen lassen. Die Kürze und Intensität (sowohl was die örtliche Nutzung, als auch was die Emotionalität der Konflikte anbelangt) vieler Besetzungen rückt sie in die Nähe der prototypischen prekären Heterotopie bei Foucault: dem Fest. Das ist durchaus auch wörtlich zu verstehen. Zahlreiche Konzerte, Partys und Kunstaktionen wurden als flüchtige Momente auf Video festgehalten und längerfristig repräsentierbar gemacht. Die Nähe zur Punkszene und den entsprechen-

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den visuellen Ästhetiken, genauso wie die häufigen ironisierenden Verfahren, sind formale Merkmale, denen etwas Karnevaleskes eigen ist. Dies im Sinne eines Habitus der Respektlosigkeit und dem gezielten Einsatz von Übertreibungen oder Verzerrungen von Werten, Meinungen oder Haltungen der Gegenseite. Inhalte und Gestaltungsmittel der Videos wurden oft eng verschränkt, so dass man von einer Diskursivierung ästhetischer Mittel sprechen kann. Etwa dann, wenn in »Züri brännt« Tonspuren von Nachrichtensendungen in ein ironisierendes Neuarrangement transformiert wurden, das die BetrachterInnen, ohne informative Stützung durch eine verlässliche Narration, dem unübersichtlichen Bild-Geschehen des Straßenkrawalls aussetzt: »Die Polizei [...] meldete heute Abend, dass eine Delegation der Polizei mit der Polizei verhandle« tönt die hörbar kompilierte Off-Stimme. Durch das plötzliche Verschwinden der Demonstrierenden als Akteure aus dem Text tritt ein selbstreferentielles Moment ein: Schuld am Krawall ist allein die Polizei, die gleichsam beide gegnerischen Seiten bildet. Es blitzt in diesem audiovisuellen Gestaltungsmoment eine Art ironische Inszenierung von Foucaults Gouvernementalität-Konzept auf (vgl. Foucault 2005: 148-174). Die Bewegten sind das, wozu die Herrschaft sie gemacht hat, nämlich zu Demonstrierenden und als solche agieren sie in der Logik des ›Systems‹. Für dieses System aber steht die Polizei, ergo steht in diesem Konflikt die Polizei sich selbst gegenüber. Zum Tragen kamen ähnliche Strategien der Dekonstruktion beim Auftritt eines bieder gekleideten Ehepaars ›Anna und Hans Müller‹ in einer Gesprächsrunde des Schweizer Fernsehens. Das so genannte ›Müllern‹ wurde zum festen Begriff für die Aneignung und Übertreibung der gegnerischen Position. So forderte ›Herr Müller‹ größere, nordirische Gummigeschosse für die Zürcher Polizei, ›Frau Müller‹ regte den Einsatz von Napalm gegen die Jugendlichen an (»CH-Magazin« vom 15. Juli 1980). In »Anarchie und Disneyland« (Zürich 1982) wiederum, einem Video über den Mieterkampf an der Universitätsstraße 89, sollte die Absurdität einer erteilten Baubewilligung vorgeführt werden. Diese stützte sich auf die städtische Lärmschutzverordnung und beschied, da der Lärmgrenzwert für Familienwohnungen an der Universitätsstraße überschritten war, müsse neu gebaut werden. Eine Männerstimme schreit aus dem Off: »Auf neunzig Kilometer Zürcher Straßen ist der Alarmwert von siebzig Dezibel erreicht«. Daraufhin setzt eine lange Aufzählung der betroffenen Straßen ein. Das Video versucht die Verwaltungslogik nicht nur als inhaltlich fraglich darzustel-

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len, sondern auch akustisch und stilistisch als ›Unsinn‹ zu markieren. Die hier skizzierten Verfahren operierten vornehmlich im Feld der sprachlichen Kommunikationserwartungen und schufen Situationen, in denen ›vernünftige‹ Kommunikationserwartungen gestört oder gänzlich unterlaufen wurden. So wurde die Anfälligkeit einer rationalkonsensualen Sprachkultur vorgeführt und ein sprachliches Widerlager gebildet, mit irritierenden Sprechwesen, die oftmals keine Anschlussfähigkeit boten. Die Besetzungen können also auf verschiedene Weisen mit dem Heterotopie-Begriff beschrieben werden. Entscheidend ist, dass leerstehende Häuser per se keine heterotopische Funktion haben. Es braucht stets einen Akt der inneren Konstituierung (ein Be-Leben des Ortes) sowie ein Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft, das den Ort als eine Figur des ›Anderen‹ konturiert. Dies kommt in den Videos auf zwei Ebenen zur Geltung: Zum einen auf der Kommunikations- und Handlungsebene, auf der sich die Verhältnisse abgestuft in Graden der In- und Exklusion zeigen: a) ein relativ offener Zugang für SympathisantInnen; b) ein gewisses Miteinbeziehen von Nachbarschaft und PassantInnen; c) konflikthafte, manchmal kooperative Verhandlungssituationen mit Behörden oder privaten Hauseigentümern sowie d) gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Eine zweite Ebene kann man als ästhetische bezeichnen, die sowohl den Alltag als auch die Videos anbelangt. Beide Aspekte wurden von den Akteuren in der Regel als ›anders‹ im Verhältnis zu gesellschaftlichen und medialen Dispositiven deklariert. Die Videos verweisen auf Entwürfe alternativer Existenzweisen, in denen die Gestaltung der eigenen Lebenswelt ein zentraler Gedanke war. Zugleich sind sie selber Ausdruck der engen Verschränkung von Alltag und Kreativität in Form experimentierfreudiger Versuche demokratischer Medienarbeit. Auch bei der Zürcher Filmwissenschaftlerin Julia Zutavern können die zwei genannten Bereiche der Ästhetisierung, jener des Lebensraumes sowie jener der Videos, ausgemacht werden, die beide Objekte der Aneignung, Gestaltung und kommunikativen Funktionalisierung sind. Sie bezeichnet die Videos selber denn auch als »mediale Orte«, die die Möglichkeiten kollektiver Darstellung in der Stadt verstärkten, beziehungsweise verdoppelten und der Bewegung eine stark selbstreflexive Komponente verliehen haben (Zutavern 2009). Damit transportierten die Videos aber über das Moment der Selbstreflexion hinaus eine visuelle Präsenz der ›Bewegung‹ sowie der ›Stadt in Bewegung‹.

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Und damit ein Wissen, das sich nur bedingt sprachlich fassen lässt. Weiter oben wurde schon auf die kaum ausgebildete politische Programmatik und Heterogenität der Akteure hingewiesen. Die eigene Situation und Befindlichkeit als diffuse soziale Bewegung korrespondierte, so meine These, mit dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung im Spiegel der Bewegungs-Videos, die eine sprachlich nicht eindeutig repräsentierbare Entität visuell (als Masse) veranschaulichen und akustisch (als Demo-Lärm, Stimmengewirr und mit ›ihrer‹ Musik) vergegenwärtigen konnten. Der Spiegel ist bei Foucault nicht zufällig eine Misch- und Mittlererfahrung zwischen Utopie und Heterotopie. Als Ort ohne Ort versteht er ihn als Sinnbild für die Utopie: »Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin.« Zugleich jedoch existiert der Spiegel real und er »schickt mich auf den Ort zurück, den ich wirklich einnehme. [...] Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, dass er den Platz den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet.« (Foucault 1998: 39) Ob die Funktion der Videos diesem Spiegelbegriff nahe steht, scheint mir eine prüfenswerte Frage. Denn die technischen Eigenschaften ermöglichten es, sie innerhalb kurzer Zeit zu produzieren und zur Vorführung zu bringen. In der Praxis bedeutete dies, dass bspw. Aufnahmen von Demonstrationen bereits am nächsten Abend an ›Vollversammlungen‹ der Bewegung, in alternativen Kulturorten, Restaurants oder Wohngemeinschaften zur Vorführung kamen. Aber auch das beliebte Format der Nacherzählung von Hausbesetzungen und deren Verlauf kann hier verortet werden, als Moment der Selbstreflexion aber auch der Selbstversicherung. Eine mögliche Interpretation der Attraktivität des Mediums könnte also dahingehen, dass Videos als Mittel eingesetzt wurden, um sich als soziale Entität zu stabilisieren. Die eigene Temporalität und Labilität war den Beteiligten durchaus präsent, was die häufigen Durchhalteparolen und Beschwörungen des Weiterbestehens der Bewegung belegen. Dem entspricht auch, dass die Einschätzungen zur Beständigkeit der Bewegung sehr widersprüchlich ausfielen, wie das Beispiel eines Interviews mit fünf Zürcher Jugendlichen im Magazin »Der Spiegel« zeigt (1980/25).

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5. S UBVERSIVE ÄSTHETIK ? Als Teil einer Gegenöffentlichkeit verstanden, wurden die Videos mit formalen Mitteln erarbeitet, die Gewohnheiten der TV- und KinoRezeption nicht vorbehaltlos bedienen sollten. Das hatte durchaus pragmatische Gründe, wie bescheidene finanzielle und infrastrukturelle Mittel, aber nicht ausschließlich. Heinz Nigg, der Produzent von »Besetzt die Idylle« nennt beispielsweise das Format des ›Video Diary‹ als Bezugspunkt, um »mit subjektiven Erzählungen Politik und Zeitgeschichte zu reflektieren« (E-Mail vom 20. Oktober 2009). Lange, statische Kameraeinstellungen sollten dem »Trend der MTVÄsthetik« entgegengehalten werden und zeichnen viele der Videos aus. Andere Videos hingegen weisen schnelle Schnitte auf und enthalten Sequenzen von Demonstrationen sowie gewalttätigen Auseinandersetzungen, die teils stark bewegt waren, da dort die mit Handkameras filmenden Personen mitten im (turbulenten) Geschehen waren. Ebenfalls verbreitet sind Collagen von Zeitungs-Artikeln, Flugblättern, Wandzeitungen und TV-Mitschnitten. Bei aller Vielfalt der formalen Merkmale galt es, sich nicht dem Diktat einer schnitt-technischen Kurzweil oder einer sauberen Hollywood-Kameraführung zu unterwerfen. Auch fehlen häufig auktoriale Erzählpositionen; das Filmen von langen Gesprächsrunden in Wohngemeinschaften und das Integrieren langer Interviews knüpft sowohl bei Direct Cinema wie auch beim Cinéma Vérité an. Die teils radikal zur Geltung gebrachten subjektiven Standpunkte wiederum verfolgten filmische Prinzipien, wie sie etwa Jean-Luc Godard propagierte. Im Herbst 2010 griff Arsenal, das Berliner Institut für Film und Videokunst, mit der Filmreihe »Standpunkt der Aufnahme« genau dieses letztere Moment auf. Der Titel ist einem Credo des Zürcher Videoladens entnommen: »Der Standpunkt einer Aufnahme ist bereits eine Stellungnahme zur Sache.« (Videoladen 1981: 21) Partizipation der Gefilmten und Parteilichkeit der Darstellung können als zentrale Elemente dieser audiovisuellen Inszenierungen gelten. Und dies durchaus mit dem (weniger theoretisch denn praktisch) verfolgten Ziel, andere Formen der Sozialität und Kommunikation zu finden, den Stellenwert der Ästhetik im Alltag zu erhöhen und sich gegenüber rational-ökonomistischen Logiken zu verweigern. Inwiefern kann es sich jedoch bei Heterotopien um tatsächlich qualitativ »andere Orte« handeln, fragt Marvin Chlada in seinem Buch

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Heterotopie und Erfahrung skeptisch (2005) und stellt damit das subversive Potential des Heterotopiekonzepts zur Diskussion. Kritisch verweist er auf die Systeminhärenz von Projekten, die oftmals als Heterotopien verhandelt werden. Selbst radikale und langfristige Projekte (etwa die Familistère in Guise (1859-1968), eine genossenschaftliche Wohnform für ArbeiterInnen des fourieristischen Industriellen JeanBaptiste André Godin) lassen sich, so Chlada, nicht ohne den Kapitalismus denken und bieten insofern auch keine Ansätze, ihn tatsächlich zu überwinden. Diese Sichtweise setzt allerdings voraus, dass den ›verwirklichten Utopien‹ ein revolutionäres Moment innewohnen muss, das auf etwas ›Totales‹ abzielt. Hier scheint eine Verwechslung zwischen historischer Analyse konkreter Orte und einem politischen Programm vorzuliegen. Wenn historische Untersuchungen normative Kategorien aufstellen und ihren Gegenstand daran messen, bewegen wir uns auf dem Territorium der Teleologie. Die Geschichtswissenschaft kann nicht fragen: Genügt ein heterotopisches Projekt einem Maßstab namens ›subversives Potential‹? Vielmehr gilt es zu danach zu fragen, welche lokalisierbaren Praktiken und Diskurse lassen sich finden, die in ein Spannungsverhältnis zu einer hegemonialen Ordnung treten? Warum, durch wen und mit welchen Zielen kamen sie zur Anwendung? Und schließlich stellt sich auch die grundsätzliche Frage, welchen Erkenntnisgewinn eine heterotopologische Perspektive überhaupt bietet und welche Aspekte durch eine alternative Herangehensweise hervorgehoben werden könnten. Ein anregendes Moment scheint mir, dass sie, angewandt auf das Medium selber, den quellenkritischen Blick schärft und eine Möglichkeit darstellt, das Verhältnis zwischen der zu rekonstruierenden Vergangenheit, der heutigen Situation und Perspektive und der audiovisuellen Darstellungsinstanz zu reflektieren. Die Bildquelle als heterotopische Spur der Vergangenheit verstanden, wird so weder als problemlos transparentes Fenster, noch als schleierhafte Opazität gelten können, der die Historiker/-innen dazu veranlasst, sich doch lieber den vertrauteren Schriftquellen zuzuwenden. Das Bild als Heterotopie gedacht, unterstreicht das Verhältnis zwischen einer im Heute vorliegenden Quelle und der Vergangenheit als ein uneinholbar distanziertes und zugleich unauflösbar verschränktes. Doch nach diesem kurzen Exkurs zurück zur Frage nach der politischen Dimension von Heterotopien. In einem ähnlich wie bei Chlada ausgerichteten, programmatischen Diskursfeld bewegt sich Martin Doll, der die Position vertritt, dass

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dem Begriff der ›Subversion‹ keine Relevanz mehr zukomme, weil er letztlich für eine Logik stehe, in der sich die Vorstellungen einer Identität als subversives Ich »problemlos mit dem Trend der Individualisierung und des einzigartigen Selbstausdrucks« verbinden lasse (vgl. Doll 2008: 56). Die historische Beurteilung der ästhetischen und politischen Praktiken der Achtziger-Gegenöffentlichkeit kann den SubversionsDiskurs jedoch nicht ignorieren – unabhängig davon, ob man nun hinsichtlich der weiteren Entwicklungen zu einer politisch ernüchterten Bilanz kommt oder nicht. Die historische Beschäftigung mit diesem etwas angestaubten Schlagwort scheint in zweifacher Hinsicht notwendig: Zum einen beschieden einige Repräsentanten der öffentlichen Ordnung der Bewegung durchaus staatsgefährdendes Potential. Der Basler Polizeichef vermutete, dass insbesondere die Ausschreitungen von einer »internationalen Zentrale« gesteuert gewesen seien (Nigg 2001: 185). Die Angst vor kommunistischen Umtrieben war in bürgerlichen und teils auch sozialdemokratischen Kreisen genauso relevant für Wahrnehmung und Haltung gegenüber der Bewegung wie ihre interpretatorische Hilflosigkeit gegenüber Parolen wie »Freie Sicht aufs Mittelmeer«, »Nieder mit dem Packeis« oder »Macht aus dem Staat Gurkensalat«. Wo liegen die Grenzen zwischen Kreativität und ›Subversion‹, wenn beides als Register politischer Interventionsformen beschrieben werden kann? Das Unterlaufen von Kommunikationserwartungen, genauso wie die Weigerung (oder das Unvermögen) der Bewegung, politische Repräsentanten zu benennen, führten zu einem unsicheren Handlungsrahmen für die Behörden. Direkte Folge davon waren willkürliche Verhaftungen von vermeintlichen Rädelsführern; sie stehen exemplarisch für die Probleme der Staatsgewalt, das Phänomen zu fassen. Die konstitutive Heterogenität und die strategischen Kommunikationsstörungen entzogen den staatlichen Akteuren die notwendigen Grundlagen für konstruktive Konfliktlösungsstrategien. Kombiniert mit der teils hohen Gewaltbereitschaft führte diese Konstellation insbesondere in den Jahren 1980 - 82 zu repressiven Polizeieinsätzen und ebensolchen Gerichtsurteilen. Dass es dabei zu politisch und juristisch umstrittenen Ausweitungen von Deliktdefinitionen kam, insbesondere jener des ›Landfriedensbruchs‹, ist ein Indiz dafür, dass die Obrigkeit mit hergebrachten Mitteln der Situation nicht Herr werden konnte. Nicht zuletzt solche Indizien weisen auf einen Diskurs der Subversions-Angst hin. Diese wurde auch von Videomachern themati-

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siert, bspw. als Persiflage in »Zafferlot« (Bern 1985), in dem zwei Aktivisten von einem ›KGB-Agenten‹ instruiert werden (Abb. 3). Zudem kann der Begriff der Subversion für die situativen Kommunikationsstrategien sensibilisieren, die historische Akteure verwendeten. Wenn die Berechtigung des Sprechens von Subversion allein an ihrem Erfolg gemessen wird, das ›Ganze‹ der gesellschaftlichen Organisation umzuwälzen, scheint mir eine Gleichsetzung von Subversion mit Revolution stattzufinden bzw. es stellt sich die Frage danach, was denn dieses ›Ganze‹ sei und wann eine Veränderung desselben als ›hinreichend subversiv‹ definiert werden könnte. Zumindest in Bezug auf die Achtziger-Bewegung dürfte es adäquater sein, subversives Handeln als Ausdruck eines räumlich und zeitlich beschränkten Antagonismus zu fassen, der sich in Praxen und symbolischen Formen manifestiert. So gesehen, stehen subversive Aktionen in Handlungszusammenhängen, die sich wechselseitig bedingen. Diese Praxen und Formen stehen in den Achtzigern für ein Bündel von Strategien, mit dem eine größere soziokulturelle Pluralität und Raum für Lebensentwürfe jenseits des bürgerlichen Konsenses geschaffen werden sollten. Dies ist rückblickend ein dezidiert politisches Programm, auch wenn nicht alle zeitgenössischen Beobachter/-innen von einer (unmittelbaren) Umsturzgefahr Abb. 3: Keine Marionetten ausgingen, sondern vielmehr befürch- Moskaus. teten, dass »Sozialschmarotzer, Drogenkranke und Kriminelle am laufenden Band produziert« würden (Landmann 1982: 59). Das Movens der Bewegung hing zwar durchaus mit Ansätzen universeller Kritik an der ›Risikogesellschaft‹ und der bürgerlichen Kulturdominanz in der Schweiz zusammen. Die einzelnen Aktionen und Strategien enthielten jedoch keine allumfassenden Umsturzpläne, sondern die Destabilisierung spezifischer, lokaler Ordnungen. Dies geschah mit dem Ziel, sich in beweglich werdenden Strukturen Nischen alternativer Freiräume zu schaffen. Dennoch fordert die Beschäftigung mit dem Thema die Zeitgeschichte der Schweizerischen Nachkriegsgesellschaft heraus. Die Häufigkeit, Heftigkeit und Verbreitung dieser Konstellationen und Konflikte traten weder grundlos auf noch sind sie

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spurlos an der Schweiz vorübergegangen. So muss die Erzählung des »Erfolgs einer kleinen offenen Volkswirtschaft« (König 1998) weiter dahingehend überprüft werden, welche Probleme und Widerstände aus den politischen und kulturellen Bedingungen erwuchsen, die diesen ökonomischen Erfolg ermöglichten. Das Jahr 1989 gilt auch in der Schweiz als eine Zeit des Umbruchs. Die Aufdeckung einer 900 000 Personen umfassenden staatlichen Überwachungskartei sowie 36% JaStimmen für eine Volksinitiative zur Abschaffung der Armee stellten schwere Erschütterungen des gesellschaftlichen und staatlichen Selbstverständnisses dar. Fichenaffäre und Armeeabschaffungsinitiative waren staatspolitische Symptome langfristiger Wandlungsprozesse in der Nachkriegszeit. Welche Werte der politischen Kultur und welche Formen der sozialen Kohäsion die »Willensnation« Schweiz sowohl stabilisierten wie auch in eine (bis heute immer wieder diagnostizierte) »Identitätskrise« führten, für solche Fragen kommt auch der Achtziger-Bewegung eine aufschlussreiche Rolle zu, die die künftige historische Forschung noch näher zu bestimmen haben wird.

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»CH-Magazin« vom 15. Juli 1980, Schweizer Fernsehen DRS [Online-Archiv]. Züri brännt (Zürich 1980), 100 Min., Produktion: Videoladen, ½ Zoll Japan Standard 1, s/w. Zafferlot (Bern 1985), 34 Min., Produktion: Andreas Berger, Super 8, farbig.

ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Züri brännt, Zürich 1980. – Abb. 2: Besetzt die Idylle, Zürich 1989. – Abb. 3: Zafferlot, Bern 1985.

Evidenzen schaffen Ästhetisierung des Sozialen als eine Funktion niederländischer Genremalerei des Goldenen Zeitalters D OMINIK F UGGER

1. B EGRIFFSBILDUNG G ENRE Dass der aus dem 18. Jahrhundert stammende Begriff ›Genre(malerei)‹ ein Notbehelf ist, gehört zu den topischen Wendungen jeder theoretischen Annäherung an die Vielfalt von Bildthemen, die sich zur Mitte des 16. Jahrhunderts zu entwickeln beginnt, für etwa 150 Jahre neben der Landschaftsmalerei zu den erfolgreichsten Produkten der Malerei beider Niederlande zählt und einen ihrer originären Beiträge zur Kunstgeschichte darstellen wird. Es hat demnach immer wieder Versuche gegeben, ihn zu ersetzen, etwa durch »Figurenbild« (Haak 1984: 85). Doch keiner dieser Vorschläge hat sich auf Dauer durchgesetzt. Die Mannigfaltigkeit der Sujets und ihrer Deutungen scheint jeder näheren Bestimmung zu widerstreiten. Die Zeitgenossen selbst haben denn auch eine Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen für verschiedene Motivgruppen gebraucht (vgl. Raupp 1996: 2), aber keinen übergreifenden Gattungsbegriff entwickelt, geschweige denn eine zugehörige Theorie. Tatsächlich spiegelt der Begriff Genre also eine definitorische Malaise, die ihrerseits als Ausdruck einer grundlegenden Unsicherheit über Wesen und Anliegen dieser Bildgattung erscheinen kann. Neben

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die anderen Malereigattungen – Religiöse und Historienmalerei, Portrait, Landschaft und Stilleben – gestellt, versteht er sich nicht als Residualkategorie, sondern ist Ausdruck der Behauptung einer inneren Zusammengehörigkeit der Erscheinungen, die er umfasst. Allerdings lässt sich nicht leicht sagen, worin sie besteht. Gängige Schlagwörter mit definitorischem Anspruch lauten etwa Realismus (oder: »Naturtreue«, Raupp 1996: 12) und/oder »Alltag«. Sie greifen etwas Richtiges, jedoch nicht das Ganze. So gehörte es fraglos zu den Charakteristika der Gattung, dass die Zeitgenossen ihre Lebenswirklichkeit darin in einer spezifischen Weise gespiegelt sehen konnten. Einer der wenigen Erträge, der aus den spärlichen gleichzeitigen Reflexionen über einzelne Genrebilder bislang zu gewinnen war, besteht darin, dass es als Lob gelten konnte, wenn etwas »nae t’leven« (vgl. Gaehtgens 2002: 132) geschildert sei. Es ist naheliegend, daraus ein zeitgenössisches Realismuspostulat abzuleiten, zumal viele Darstellungen dem auf den ersten Blick entsprechen. Und doch hat es die Bedürfnislage, welche die neuen Bilder hervorgebracht hat, erlaubt und in manchen Fällen offenbar nahegelegt, gegen einen solchen Anspruch in charakteristischer Weise zu verstoßen. Am augenfälligsten geschieht dies etwa bei den beliebten Affengesellschaften, sog. Singerien, bei denen menschlich gekleidete und menschliche Tätigkeiten verrichtende Affen den Platz der Menschen einnehmen. Deren Handeln ist in sich durchaus stimmig und insofern realistisch – wenn es nicht Affen wären, die hier am Werk sind. Auch etwa die beliebte Visualisierung von Sprichwörtern ist nur in einem sehr eingeschränkten Sinne realistisch zu nennen und nicht eigentlich »naturtreu«. Ähnlichen Schwierigkeiten begegnet die Beschränkung auf den Alltag, indem man es überproportional häufig mit der Darstellung gerade des Nichtalltages, nämlich des Festes zu tun hat. Selbst wenn man darüber hinwegkommt, indem man das Fest in ein dialektisches Verhältnis zum Alltag setzt (so Schneider 2004: 16), geschieht dies doch um den Preis, dass man damit starke Interpretationen an den Gegenstand heranträgt, die sich am Material kaum belegen lassen. Wenn jedes menschliche Handeln zum Alltagshandeln erklärt wird, verliert der Alltag seinen Wert als heuristische Kategorie. Diesbezüglich weniger risikobehaftet ist ein dritter Definitionsversuch, der sich überdies als überraschend trennscharf erweist: Genrebilder sind demnach Darstellungen anonymer Personen, deren Anonymität beabsichtigt ist (Blankert 1987: 16). Es ist offensichtlich, dass hier

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vor allem in Abgrenzung zu den anderen Bildgattungen Portrait, Historien- und religiöse Malerei ein Unterscheidungsmoment getroffen wird. Regelmäßig nämlich setzen die Letztgenannten funktional die Identifikation der dargestellten Personen voraus. Wenn sich auch hier Grauzonen ausmachen lassen (etwa im Bereich jener seltenen Historiendarstellungen, die ebenfalls ein vollkommen anonymes Personal zeigen), so ist damit doch ein erstaunlich gut handhabbares definitorisches Kriterium gewonnen. Allerdings setzt es sich dem Vorwurf aus, ein rein negatives zu sein, mithin nichts als schiere Limitation zu bieten (Kemp 2005). Man mag zudem einwenden, dass die eben ins Feld geführten Affen auch dann nicht zu Personen werden, wenn sie sich in allem wie Menschen verhalten. Beide Vorhaltungen scheinen auf den ersten Blick gerechtfertigt; dennoch soll im Folgenden versucht werden zu zeigen, dass dieser Definitionsversuch einen Ansatzpunkt bietet, weiter zum Wesen der Sache vorzudringen. Das Merkmal der Anonymität ist nämlich weitaus mehr als ein Unterscheidungskriterium. Es verweist vielmehr auf einen charakteristischen Wesenszug, indem es Genremalerei nicht um Lebensäußerungen konkreter Individuen, sondern vielmehr um die Darstellung menschlichen Handelns geht. Man könnte auch sagen, es geht nicht um Geschehnisse oder Taten, es geht um Tun, das gerade nicht als individuelle Besonderheit erscheinen soll. Insofern ist der alte Ausdruck »Sittenbild« immer noch der überzeugendste Versuch einer auf den Begriff gebrachten Charakteristik. Handeln im Genrebild ist praktisch immer soziales Handeln, Interaktion mit den Mitmenschen. Wir sehen den Lehrer, der seine Schüler zu unterrichten versucht, Bauern, die in einer Schänke raufen, Stadtbürger beim Eislaufen, wohlhabende Kaufmannstöchter, wie sie einen Brief schreiben. Man wird Zeuge, wie Landsknechte ein Lager beziehen, Bettler ihren Lebensunterhalt erbetteln, reiche Bürger eine Landpartie unternehmen, der Liebhaber oder auch der Arzt zu Besuch kommt. Bauern feiern Hochzeit, Bürger begehen die Taufe ihrer Kinder und die einen wie die andern spielen Karten oder nehmen die Dienste käuflicher Damen in Anspruch. Es wird gemeinschaftlich musiziert, getanzt, gegessen und gestritten. Körperliche Vollzüge und Vorgänge wie Geburt und Sterben, Schlaf sind demgegenüber nur interessant, wenn sie als Teil eines sozialen Geschehens erscheinen.

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2. G ENRE

ALS D ARSTELLUNG SOZIALEN H ANDELNS

Nimmt man also an, dass Genremalerei im wesentlichen Darstellung sozialen Handelns ist (und also gerade nicht »Figurenbild«), verschwinden einige der Probleme, die man bislang in der begrifflichen Fassung der Gattung hatte. So erscheinen die Sprichwortbilder (etwa: »Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen«) nicht mehr als Verstoß gegen die Naturtreue, sondern als Visualisierung sozialer Erfahrungen und Verhaltenszuschreibungen. Denn diesen Bildern geht es ja nicht um Wetterregeln, sondern um mehr oder weniger normativ aufgeladene soziale Erfahrungen, die zudem zumeist aktuelle Bezüge aufweisen (Fugger 2011). Auch die eingangs bereits angesprochenen Affengesellschaften wirken nicht länger als konzeptionelle Irrlichter. Sie sind von einem in der kunsthistorischen Literatur damit häufig vermischten Fall zu unterscheiden, nämlich von den Affen, die man als Haustiere auf zeitgenössischen Familienportraits und in anderen Zusammenhängen zuweilen antreffen kann, da diese Tiere in wohlhabenden Häusern gern gehalten wurden. Sie sind nicht problematischer als die Katzen in einer Bauernstube. Der davon auseinanderzuhaltende und hier interessierende Fall sind Affengesellschaften, die in einer bestimmten Szene den Platz von Menschen einnehmen. Affen gehen in die Schule, versehen Handwerke, musizieren, maAbb. 1: Jan van Kessel II, Nachfolger, len Bilder, suchen eiIm Behandlungszimmer der Affen, Öl/Leinwand, nen Arzt auf (Abb.1) 84,1 x 107,6 cm. oder einen Friseur, schlürfen Austern, spielen Tricktrack, feiern Feste, gehen zur Jagd, schlagen als Soldaten ihr Lager auf oder leisten Dienst in der Wachstube. Bei alledem verhalten sie sich ebenso gut oder schlecht wie die Menschen, an deren Stelle sie gesetzt sind und die sie in allen Ständen

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vertreten. Wir finden bäuerliche Affen ebenso wie bürgerliche, und als Graf Günther XLI. von Schwarzburg 1560 mit Katharina von Nassau Hochzeit hielt, schmückten sein neues Schloss Wandteppiche mit Affendarstellungen, die er ein Jahr zuvor in Flandern bestellt hatte und die seine eigenen adligen Lebensgewohnheiten spiegelten: Affen bei der Beizjagd und beim Schmaus im Walde, ausgezeichnet mit allen Merkmalen höfischer Kultiviertheit (Abb. 2). Offensichtlich wollen solche Darstellungen keine Aussagen über das Wesen von Primaten treffen, vielmehr soll das Augenmerk auf das Tun gerichtet werden, das die Affen vertretungsweise verrichten. Das Darstellungsprinzip besteht mithin in einer ins Extrem getriebenen Verfremdung der Protagonisten bei gleichzeitig minutiös akribischer Abbildung ihres sozialen Tuns. Alle persönlichen Merkmale gehen verloren, und die jeweilige Handlung wird zudem dadurch betont, dass sie als Werk von Affen ihre Selbstverständlichkeit verliert. Nicht die Person, sondern das Handeln steht im Vordergrund, das in allem ein genuin menschliches ist, wenn es auch nicht von Menschen vollzogen wird. Zu bemerken ist, dass die Szenen häufig sozial komplexe Interaktionszusammenhänge abbilden, also keineswegs das Kreatürliche der menschlichen Natur akzentuieren. Man hat versucht, diese Szenen unter Rückgriff auf eine zeitgenössische Symbolhaftigkeit des Affen zu deuten – indessen ohne großen Erfolg. Denn soweit der Affe für Lasterhaftigkeit steht, passt dies weder zum Verhalten der Tiere auf den Darstellungen noch zu den Sujets. Es ist ja nicht einzusehen und vor allem quellenmäßig nicht zu erhärten, weshalb nun etwa ausgerechnet Abb. 2: Flämisch, Affen beim Schmaus im Walde, das handwerkliche Fer- 1559, Tapisserie, 260 x 436 cm. tigen von Schuhen oder aber der Schulbesuch als in diesem Sinne äffisches Verhalten gebrandmarkt werden sollte. Die Annahme stimmt auch nicht zum zeitgenössischen Umgang mit diesen Darstellungen, wie im eben genannten Fall des Grafen von Schwarzburg. Das Darstellungsprinzip »Affe«

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ist anscheinend nicht sowohl symbolisch als vielmehr funktional zu verstehen, und zwar als konsequente Weiterführung des Anonymitätsprinzips. Die Namenlosigkeit der Protagonisten hat für die Funktion frühneuzeitlichen Genres eine sehr viel größere Bedeutung als die eines behelfsmäßigen Negativkriteriums, das eine Gattungszuordnung im Ausschlussverfahren erlaubt. Denn der Umgang mit einem Bild – so ist zu postulieren – ist ein entscheidend anderer, wenn die Personen, die es zeigt, bekannt sind oder sein sollen. Darstellungen aus dem weiten Bereich der religiösen und historischen Malerei setzen nämlich, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen, die Identifikation des Bildpersonals voraus. Dementsprechend sind ganze Arsenale an Attributen aufzubieten, die eine eindeutige Zuordnung erlauben sollen. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird daher auch zunächst der Frage gelten, wer im jeweiligen Fall dargestellt ist. Dies gilt womöglich in noch höherem Grade bei der Bildgattung, die gerade der Darstellung Lebender gewidmet ist: dem Portrait. Mag auch die Nachwelt in vereinzelten herausragenden Spitzenstücken den Reiz der Darstellung bewundern, seinem ursprünglichen Zweck folgend lebt das Portrait von der Identifikation des oder der Dargestellten. All dies trifft für das Genrebild nicht zu. Hier mag der Künstler seine Modelle gehabt haben und seien sie auch aus dessen nächster Umgebung genommen, er mag sich gar selbst im Bild verewigt haben: der Betrachter musste um all dies nicht wissen, um die Darstellung zu verstehen. Ihm stellen sich vielmehr Unbekannte dar, die Bekanntes tun. Dieses Tun ist grundsätzlich wiederholbar gedacht, mögen auch die Protagonisten wechseln. Das unterscheidet die Genremalerei grundlegend von den wenigen Beispielen von Historienmalerei mit unbekanntem Personal. Wo Personen aber austauschbar sind, ist es ihr Handeln, das den eigentlichen Bildgegenstand bildet. Sie sind nur die zufälligen Protagonisten typischer Verhaltensweisen.

3. G ENREMALEREI DES S OZIALEN

ALS

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Wenn hier also unter dem Sozialen im weberschen Sinne vor allem soziales Handeln verstanden werden kann, so ist Genremalerei Ästhetisierung des Sozialen. Unter Ästhetisierung sei hier nicht mehr als der Vorgang verstanden, dass soziales Geschehen in der medialen Ver-

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mittlung des gemalten Bildes Gegenstand ästhetischer Beurteilung und Objekt ästhetischer Praxis – also etwa der Ausstattung eines Wohnhauses – werden kann. An dieser Stelle sei einem Missverständnis vorgebeugt. Mit Ästhetisierung ist entsprechend dem eben Gesagten kein durchgängiges Prinzip »ästhetischer Aufwertung« bezeichnet. Es geht also nicht grundsätzlich darum, Schönheit zu erzeugen. Der so verstandene »ästhetische Reiz« eines Genrebildes ist nicht selten eher gering ausgeprägt. Prügelnde Bauern in flämischen Spelunken werden auch auf der Leinwand nicht zum Augenschmaus. Das frühneuzeitliche Genrebild möchte nicht notwendigerweise dekorativ sein. Gerade in diesem Bereich gibt es eine »Ästhetik des Hässlichen«, wie sie sich etwa in der Darstellung schmerzverzerrter Gesichter, trunkenen Erbrechens oder körperlicher Beschädigung zeigt. Wenn es aber nicht notwendigerweise um Schönheitsproduktion geht, was bedeutet in diesem Zusammenhang Ästhetisierung, was setzt sie voraus und wie wirkt sie? Die erste – triviale – Voraussetzung, Soziales zur Anschauung bringen zu können, besteht in einer Abstraktion. Die Abbildung einer sozialen Wirklichkeit erfordert es, die Unendlichkeit der zufälligen Umgebungsbedingungen auf einen konkreten Entwurf zu reduzieren, mithin eine bestimmte typische Situation zu isolieren, die sich dem Blick modellhaft darbietet und die es wiederum dem Betrachter erlaubt, in seiner Abstraktion vom konkret vorliegenden Bild auf das Sujet zu schließen. Es findet also ein zweifacher Abstraktionsvorgang statt, zunächst auf Seiten des Künstlers und später auf Seiten des Betrachters. Jener abstrahiert von der Wirklichkeit zum Bild, dieser vom Bild zur Wirklichkeit, beide unter Rückgriff auf eine abstrakte Vorstellung des Geschehens. Für das Verständnis von Genremalerei ist nun von Bedeutung, dass der hier hilfsweise als »abstrakte Vorstellung« bezeichnete Bezugspunkt typischerweise eine soziale Erfahrung darstellt. Was man braucht, um solche Darstellungen zu identifizieren, das hat der Zeitgenosse in der Regel erlebt – und zwar im unmittelbaren Sinne des Wortes. Er weiß, was Städter im Winter tun, wie sich Landsknechte verhalten und wie es in einer Schänke zugeht. Er war mindestens Zeuge entsprechender Szenen, häufig sogar Teilnehmer, indem er selbst zur Schule gegangen ist, Feste feiert oder Schlittschuh läuft. Die Erfahrungen, welche die Zeitgenossen in Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt machten, sind dabei selbstverständlich beeinflusst von Deutungsmustern, wie sie die entsprechenden Instanzen bereithielten.

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Genremalerei lebt mithin von individueller Erfahrung und konventioneller Deutung, also dem Wissen der Zeitgenossen, das sie in Konfrontation mit ihrer sozialen Umwelt erlangen. Nimmt man also an, dass Genrebilder soziale Erfahrungen und sich mit ihnen verbindende Deutungen aufrufen, so ergeben sich daraus zwei Schlussfolgerungen. Die erste besteht in der Unausweichlichkeit der Wertung. Es ist nicht entscheidend, ob am Beginn der Gattung das Interesse stand, eine wertende Anschauung der Wirklichkeit zu vermitteln; der Mechanismus der Wertung ist jedenfalls unentrinnbar. Er ergibt sich aus der Tatsache, dass es praktisch unmöglich ist, soziale Erfahrungen zu machen, ohne dass sich unmittelbar eine Empfindung für die Situation einstellt, die zu einer Bewertung führt. Wer eine Schulszene betrachtet, wird sich mit seinen eigenen Wahrnehmungen als Schüler oder ggf. Lehrer konfrontiert sehen, und er wird das Dargestellte dazu in Bezug setzen. Damit wird sich eine Empfindung verbinden, ob das Bild einen angenehme oder eine weniger angenehme Erinnerung aufruft. Die zweite Schlussfolgerung aus der Erfahrungsbezogenheit von Genredarstellungen ist ein besseres Verständnis der bereits zitierten zeitgenössischen Qualifikation »nach dem Leben« vor dem Hintergrund der tatsächlichen Kompositionsprinzipien. Wie schon bemerkt, verbindet sich damit kein Realismus im Sinne einer photographischen Abbildung tatsächlicher Gegebenheiten. »Nach dem Leben« bedeutet in diesem Sinne vielmehr, der Lebenserfahrung zu entsprechen und sie in einer plausiblen Weise zur Anschauung bringen. Das schließt die Möglichkeit überzeichnender, verfremdeter, ja in einem realistischen Sinne unmöglicher Darstellungen ein. Das Realitätspostulat ist in Wahrheit ein Plausibilitätspostulat, das erfordert, dass ein Zeitgenosse, wenn er eine bestimmte Lebenserfahrung gemacht hatte, diese in einem Bild stimmig und überzeugend ausgedrückt finden konnte, und also, dass die Darstellung der Situation mit ihrer konventionellen und vom Käufer geteilten Deutung überzeugend zueinander gehen. Wenn etwa bei Jacob Jordaens ein bestimmtes Festmahl zum Saufgelage wird, so heißt das nicht, dass alle dort versammelten Erscheinungen realistischerweise zugleich vorgekommen sind; aber das ist auch nicht die Anforderung. Die Anforderung besteht vielmehr darin, dass der Zeitgenosse in der bekannten Situation seine wertende Deutung wiederfinden konnte, will sagen, dass er seine Wahrnehmung, wonach

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Festmähler der dargestellten Art eben Saufgelage sind, in diesem Entwurf bestätigt findet. Vor dem Hintergrund sich immer weiter ausdifferenzierender Wahrnehmungsweisen der Welt die eigene Sicht zu befestigen, dies ist damit die hier thesenhaft angebotene Motivation, soziales Tun ins Bild zu bringen. Daraus ergeben sich Ansatzpunkte für die Erschließung der Bilder, die sich nach Art und Gewichtung von anderen Zugangsweisen unterscheiden. So wäre die erste Frage immer jene nach der Auswahl der Sujets. Vor dem Wie der Ausführung steht das Warum des Gegenstandes. Ein Beispiel: In der Zeit waren kompendiöse Sprichwortsammlungen in Buchform beliebt, die buchstäblich Tausende solcher Wendungen hintereinander aufreihen. Nur sehr wenige davon werden Gegenstand bildlicher Verarbeitung, diese dafür häufig mehrfach. Es stellt sich also die Frage, warum die Wahl gerade auf dieses Beispiel fällt. Diese erste Frage gewinnt noch an Bedeutung, wenn man ein zweites Moment in Betracht zieht, nämlich die bereits angedeutete Wiederholung. Jacob Jordaens etwa hatte mit »Wie die alten sungen, so zwitschern die Jungen« ein Sujet entdeckt, das sich so großer Beliebtheit erfreute, dass er es im Folgenden immer wieder verkaufen konnte. Dabei geht es nicht um Kopien, sondern um sich im Einzelnen sehr deutlich unterscheidende Entwürfe, die aber immer wieder dasselbe Thema wiederholen (Fugger 2011). Diese Praxis war den Zeitgenossen bekannt, wie wir aus schriftlichen Belegen wissen. Man konnte sich als Künstler eine Art von Repertoire ausbauen und damit für sich werben. Es kam dabei in keiner Weise darauf an, dass man einen Gegenstand selbst erfunden hatte: Es gibt einzelne, oft sehr scharf umrissene Sujets, die sich von den Anfängen des Genres in der Buchkunst bis zum Auslaufen der Gattung am Ende des 17. Jahrhunderts durchziehen und hundertfach wiederholt und neu interpretiert werden – darunter auch etwa der gleich noch ausführlicher zur Sprache kommende sog. Bohnenkönig als häusliches Festritual des Epiphaniefestes. Die methodische Forderung, die sich aus dieser Beobachtung innerhalb des hier versuchten theoretischen Zugangs ergibt, liegt in der kunsthistorisch in der Regel unbeachtet gelassenen Auswertung der Häufigkeit, mit der ein bestimmtes Sujet auftritt. Wenn bestimmte typische Situationen hundertfach variiert wiederkehren, andere aber nur aus einer einzigen Darstellung bekannt sind, so scheinen jene sich objektiv einer größeren Nachfrage und Beliebtheit erfreut zu haben als diese. Das aber würde

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in dem hier skizzierten theoretischen Rahmen heißen, dass sie die Zeitgenossen in stärkerem Maße angingen, indem deren Vergewisserungsbedürfnis eher zu solchen Darstellungen drängte als zu anderen. So lässt sich etwa im Vergleich zweier Festdarstellungen zunächst ein großer quantitativer Unterschied zeigen: Das niederländische Genrebild kennt sowohl Darstellungen des Nikolaus- als auch des Dreikönigsfestes. Letztgenannte allerdings sind ungleich häufiger. Damit korrespondiert die Beobachtung, dass die dargestellte Begehensweise von Epiphanie als häusliche Wahl eines sog. Bohnenkönigs gefolgt von einem Gelage auch ungleich umstrittener war als die vergleichsweise harmlose Kinderbescherung am Nikolausfest. Entlang der konfessionellen Grenzen wurde hart und mit allem denkbaren publizistischen Aufwand um dieses Festritual gekämpft. Was den einen eine fromme Übung, war den anderen ein Bacchanal. Es lässt sich zeigen, dass die bildlichen Darstellungen dieser unterschiedlichen Wahrnehmung verpflichtet sind und mithin das Geschehen in der gleichen Weise konnotieren (Fugger 2007: 159-179). Wer also ohnehin schon der Auffassung war, dass es sich bei der entsprechenden Feier um ein anstößiges Trinkgelage handelte, der konnte diese Wahrnehmung in einer entsprechenden Bildgestaltung befestigt finden, indem zügellose Säufer das Geschehen beherrschen. Wer demgegenüber mit Gründen auf den alten Brauch hielt und ihn auch selbst pflegte, der konnte sich bei der künstlerischen Konkurrenz mit ebenso passenden Darstellungen versorgen und damit sein Weltbild und seine eigene kulturelle und religiöse Praxis bestätigt sehen. Es entsteht eine Wahrnehmungskonkurrenz, die sich in unterschiedlichen und sich immer weiter auseinanderentwickelnden Weltbildern begründet. Zugleich entstehen gewissermaßen ästhetische Kollektive. Wer eine bestimmte Darstellung eines bestimmten Sachverhaltes nicht nur selbst besaß, sondern auch bei seinem Nachbarn fand, der wusste damit um ein Moment geteilter Weltsicht. Es lassen sich dabei auch Sehgewohnheiten und Bilderwartungen ermitteln. So haben viele niederländische Städtebilder eindeutig affirmativen Charakter. Die auf diesen Bildern zu sehenden Menschen (die sog. Figurenstaffage) benehmen sich dann so, wie man das eigene Gemeinwesen wahrnehmen wollte, Unerfreuliches wurde eliminiert. Auch hierfür ein Beispiel: Die Druckereien beider Niederlande warfen kurz vor dem 6. Januar große Mengen sogenannter Königsbriefe und Kronen auf den Markt, die von fliegenden Händlern als Lose und Re-

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quisiten des Königsspiels an diesem Tage feilgeboten wurden. In den südlichen Niederlanden tauchen sie nicht selten als jahreszeittypische Erscheinungen auf winterlichen Städtebildern auf, in den nördlichen hingegen nie – obwohl es sie dort selbstverständlich ebenso gegeben hat. Aus reformierter Sicht aber war das häusliche Festvergnügen verpönt und so verschwinden auch die Requisitenhändler aus dem Straßenbild, wenn es auf die Leinwand kommt (Abb. 3. und 4.). Das heißt aber auch, dass es Städtebildern um mehr ging als um architektonische Sehenswürdigkeiten. Man hat es mit der Darstellung von Gemeinwesen zu tun, die sich in Architektur ebenso spiegelt wie in den »Figuren« (deren Ausführung man übrigens nicht selten spezialisierten Figurenmalern überließ). Unter den Differenzierungsmomenten, die Vergewisserung erforderlich machten, ist die Konfessionalisierung ein besonders weitreichendes, da sie prinzi- Abb. 3: Sebastian Vrancx, 1573-1647, winterliche piell alle Lebensberei- Straßenszene mit Schlittschuhläufern an einer che erfassen konnte. Stadtmauer, Öl/Leinwand, 78,1 x 113 cm. Damit soll aber ausdrücklich nicht eine Generalinterpretation vorgeschlagen werden. Es ist zu erwarten, dass sich die Menschen nicht nur als Katholiken und Reformierte, sondern auch als Bürger einer bestimmten Stadt, als Angehörige eines Berufsstandes, eines Geschlechtes oder einer Generation oder in anderer Weise spiegelten. Auffallend ist allerdings der historische Befund, dass sich der primäre Nährboden des Genrebildes und der Raum, in dem es seine breiteste Entfaltung erfuhr, nämlich die nördlichen wie südlichen Niederlande, durch ein sehr enges Miteinander und Gegeneinander der Konfessionen auszeichnete. In Italien, Spanien oder andernorts finden sich vergleichbare Darstellungen in jedenfalls viel geringerem Maße.

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Aus alledem folgt, dass die Ästhetisierung des Sozialen nicht notwendigerweise als Rückzug in ein (unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit wie auch immer zu definierendes) Privates erscheinen muss, sondern oft genug als kontroverse Manifestation eines bestimmten Lebensstils gelten konnte. Genremalerei ist aus der Differenz geboren, aus dem Bedürfnis, sich angesichts von Alternativen zu verorten. Das kann heißen, zu zeigen, was man ist oder sein möchte, das kann aber auch heißen, zu demonstrieren, was man nicht ist. Es gibt auf einmal soziale Darstellungen, an denen man ästhetisch Gefallen finden kann und solche, die hässlich wirken, aber dennoch und gerade darin ihre Funktion haben. Daraus folgt aber auch: Den Zeitgenossen ging es darum, in einer sich verkomplizierenden Welt Eindeutigkeit herzustellen. Die vielfach beschworene Mehrdeutigkeit des Bildes ist – diese Behauptung sei hier gewagt – in den meisten Fällen ein Distanzphänomen in den Augen des späteren Betrachters. Der Zeitgenosse vermochte ein bestimmtes soziales Handeln unter Rückgriff auf seinen eigenen Erlebnishorizont und seine Wertmaßstäbe unmittelbar einzuordnen und er wird dies Abb. 4a: Sebastian Vrancx, unwillkürlich getan haben. Der Künst1573-1647, winterliche ler, der wusste, auf welches Verständnis Straßenszene mit Schlittschuhseine Darstellung treffen wird, verläufern an einer Stadtmauer, mochte dieses entsprechend zu akzentuDetail, Kronenverkäufer. ieren, indem er den Diskurs um die jeweilige Alltagsszene aufnahm. Namentlich um kontroverse Gegenstände konnte sich so ein regelrechtes Ringen um die ästhetische Deutungshoheit entwickeln. Dies findet sich vor allem bei Motiven, die in den Strudel der Konfessionalisierung gezogen werden. Gerade hier wird deutlich, wie Ästhetisierung des Sozialen zu verstehen ist: Als bildliche Repräsentation einer spezifischen Wahrnehmung eines sozialen Tuns. Es geht mithin nicht um die Einnahme eines neutralen Beobachterstandpunktes, es geht um eine Entscheidung zwischen sozial vorgeprägten Wahrnehmungsoptionen.

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Diese Annahme erleichtert die Interpretation derartiger Bilder keineswegs, jedenfalls nicht im ersten Schritt. Sie erfordert vielmehr für jeden Gegenstand die Ermittlung seiner zeitgenössischen Wahrnehmung. Vor generalisierenden Aussagen scheint hier Vorsicht geboten: Wenn das Medium Bild erst einmal als Instrument ästhetischer Selbstverortung entdeckt ist, dann kann es im Grunde in jedem denkbaren Fall eingesetzt werden, zu dem sich visuell Stellung beziehen ließ – durchaus auch Fragen der Berufsausübung, Kindererziehung oder Freizeitgestaltung. Will man eine bestimmte Schulszene verstehen, so ist davon auszugehen, dass sie zunächst und vor allem die jeweiligen Vorstellungen und Diskussionen um das zeitgenössische Schulwesen widerspiegelt – und dass der Käufer sich davon betreffen lässt. Er mag den dargestellten Verhältnissen zustimmend oder ablehnend gegenübergestanden haben, er wird aber die Darstellung in der Regel als Bestätigung seines Weltbildes haben begreifen können. Man kann damit als methodologische Folgerung der hiermit skizzierten theoretischen Annahmen einen Primat der Ikonologie im Sinne Panofskys annehmen – allerdings weniger in der Weise, wie dieses Modell vielfach praktiziert wird, sondern eher im direkten Anschluss daran, wie es Panofsky selbst für den Bereich der Genremalerei postuliert hat. Danach kennt das Genre (im Unterschied zur religiösen Malerei) kein konventionales Sujet, sondern ist gekennzeichnet durch den direkten Übergang von Motiven zum Gehalt (Panofsky 2006: 43). Das bedeutet, dass jener Zwischenschritt der Interpretation, der sich auf eben die konventionalen Momente des Sujets bezieht und Abb. 4b: Sebastian Vrancx, der gemeinhin als der ikonographische 1573-1647, winterliche bezeichnet wird, im Wortsinne gegen- Straßenszene mit Schlittschuhstandslos ist. Die meisten seiner Nach- läufern an einer Stadtmauer, folger sind Panofsky hierin nicht gefolgt, Detail, Kronenträgerin. sondern haben vielmehr versucht, Genre-

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darstellungen von postulierten Allegorien, Emblemen und anderen Symbolen her, zunächst also ikonographisch zu erschließen (vgl. etwa den Überblick bei Falkenburg 1993: 113-140). Das Problem besteht freilich nicht in der Frage, ob es in der Genremalerei so etwas wie Darstellungskonventionen gibt. Das Problem besteht darin, dass sie, wenn es sie gibt, erfahrungs- und diskursbezogen und damit sujetspezifisch sind und also eine ikonographische Annäherung vor der Kenntnis von Diskurs, Darstellungsinteresse und Wahrnehmung des jeweils dargestellten Wirklichkeitsausschnitts gar nicht zulassen. Statt abstrakter, aus anderen Darstellungskontexten übertragbar gedachter ›Symbole‹ bestimmen hochgradig kontextspezifische Verweise auf die Erfahrung einer bestimmten sozialen Realität das Bild (Beispiele hierfür bei Fugger 2007: 164-172). Es geht also nicht um eine abstrakte Bildsprache, die der Zeitgenosse etwa aus Emblembüchern oder anderen gelehrten Quellen zu entschlüsseln hatte, sondern um unmittelbare Reflexe sehr konkreter zeitgenössischer Weltwahrnehmung. Tatsächlich sind die Kunden solcher Bilder sozial breit gestreut: So legten in Haarlem, wo dies beispielhaft untersucht ist, auch Handwerker eigene Gemäldesammlungen an, darunter Zinngießer, Bäcker und Gastwirte (Biesboer 2001: 49-52). Der Besitz solcher Darstellungen ist also kein Elitenphänomen, und entsprechende Annahmen ergeben sich für die Abschätzung des Bildungsstandes der Käufer. Jener war im Einzelnen gewiss sehr unterschiedlich, aber eben deshalb darf man davon ausgehen, dass die Gattung als ganze ihre Wirkung nicht von dem Rückgriff auf das Bildungsgut einer Elite bezog.

4. R ESÜMEE Der Vorteil des hier versuchten Zugangs scheint vor allem darin zu liegen, dass er es ermöglicht, Genremalerei als Ausdruck, aber auch als Gestaltungsmittel sozialer Wirklichkeit zu begreifen, ohne sie in das Prokrustesbett materialistischer oder funktionalistischer Totalitätskonzepte spannen zu müssen (entgegen Schneider 2004). Er ermöglicht vielmehr eine verstehende Annäherung an die Gattung, die doch ganz vom einzelnen Sujet ausgeht: Die Ausgangsfrage, die an das jeweilige Bild herangetragen wird, ist die nach dem Ausschnitt der sozialen Welt, der in der Darstellung seine ästhetisierend-vergewissernde

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Einordnung findet. Warum ist gerade dieses Sujet gemalt und gekauft worden, welchem Bedürfnis hat es entsprochen, wie erklärt sich dieses Bedürfnis? Das innere Verhältnis des Zeitgenossen zum Bild kann sowohl affirmativer Natur sein, indem er die eigene Welt so dargestellt findet, so wie sie in seinen Augen sein soll, oder aber abgrenzend, indem die dargestellten Verhältnisse vom Betrachter vor allem in Differenz zum eigenen Dasein wahrgenommen werden. Nimmt man den Gedanken ernst, dass alle Darstellungen einem vom Kunden geäußerten oder vom (erfolgreichen) Künstler antizipierten Bedürfnis entspringen, so spiegelt die Gesamtheit der Bildüberlieferung ein unendlich differenziertes Panorama von visuellen Selbstverortungen im sozialen Raum. Die Schwierigkeit besteht darin, dieser Differenziertheit auf die Spur zu kommen. So ist beispielsweise längst nicht jede Abgrenzung »moralisierend«, um einen in der Interpretation dieser Darstellungen gern gebrauchten Ausdruck zu verwenden. Wenn etwa Pieter Brueghel bäuerliches Leben zunächst in der Art teilnehmender Beobachtung studiert, um anschließend daraus eine bildliche Darstellung zu gewinnen, so erzielt er damit nach dem Zeugnis Karel van Manders (bei Gaethgens 2002: 130f.) eine komische Wirkung, die auf der Wiedererkennung vertrauter und als bäuerisch empfundener Verhaltensweisen beruhte. Von hier bis zu den scharfen Bildpolemiken eines Cornelis Dusart erstreckt sich eine weite Spanne, die lediglich vom Moment der Alterität zusammengehalten wird. Was aber jeweils das »Andere« ist, wodurch es sich bestimmt und wie es bewertet wird, das ist der Generalisierung nur sehr eingeschränkt zugänglich. Entsprechendes gilt für das »Eigene«. Die Bilder selbst verraten zunächst nur, dass ein bestimmtes soziales Phänomen für den Zeitgenossen von Interesse in Bezug auf sein Dasein war. Wie diese Beziehung im Einzelnen aussah, was an der dargestellten Handlung den Zeitgenossen in welcher Weise anging, das erhellen demjenigen, der den Erfahrungshorizont nicht mehr teilen kann, nicht die Bilder selbst, sondern die zeitgenössischen Reflexionen über die dargestellte soziale Erscheinung.

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L ITERATUR Biesboer, Pieter (2001): Collections of Paintings in Haarlem 1572– 1745, Los Angeles: Getty. Blankert, Albert (1987): »What is Dutch Seventeenth Century Genre Painting?«, in: Henning Bock/Thomas W. Gaehtgens (Hg.): Holländische Genremalerei im 17. Jahrhundert, Berlin: Gebr. Mann, S. 9-31. Falkenburg, Reindert (1993): »Ikonologie und historische Anthropologie: eine Annäherung«, in: Marlite Halbertsma/Kitty Zijlmans (Hg.): Gesichtspunkte. Kunstgeschichte heute, Berlin: Reimer, S. 113-142. Fugger, Dominik (2007): Das Königreich am Dreikönigstag. Eine historisch-empirische Ritualstudie. Paderborn: Schöningh. Fugger, Dominik (2011): »Katholiken sehen anders. Kunst und Konfession bei Jacob Jordaens«, in: Birgit Ulrike Münch/Zita Pataki: Jacob Jordaens – Ein Maler großen Formats. Stuttgart: Ibidem. Gaehtgens, Barbara (Hg.) (2002): Genremalerei. Berlin: Reimer (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 4). Haak, Bob (1984): Das Goldene Zeitalter der holländischen Malerei. Köln: DuMont. Kemp, Wolfgang (2005): Rezension von: Albert Blankert: Selected Writings on Dutch Painting. Rembrandt, Van Beke, Vermeer and Others. With a Foreword by John Walsh, Zwolle: Waanders Uitgevers 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005]. Panofsky, Erwin (2006): Ikonographie und Ikonologie. Köln: DuMont. Raupp, Hans-Joachim (1996): Genre. Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts der SØR Rusche Sammlung. Münster u.a.: LIT. Schneider, Norbert (2004): Geschichte der Genremalerei. Die Entdeckung des Alltags in der Kunst der Frühen Neuzeit. Berlin: Reimer.

ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1, 3, 4a und 4b: Christie’s Images Ltd – ARTOTHEK. – Abb. 2: Thomas Wolf, Gotha.

Ästhetisierung des Sozialen im deutschen Vormärz Carl Wilhelm Hübners sozialthematische Genremalerei L ILIAN L ANDES

Einem Taucher gleich hole Carl Wilhelm Hübner seine Bilder »aus dem Meer der socialen Zustände«, diagnostizierte die Kölnische Zeitung am 28.08.1846. Das Werk des Düsseldorfer Künstlers – insbesondere sein vor der Revolution von 1848 entstandenes – hat eine überaus wechselvolle Rezeptionsgeschichte erfahren. Während 1899 in seinem berühmtesten Bild »Die schlesischen Weber« (Abb. 1) der beste Beweis dafür gesehen wird, »dass Kunst und Tendenz sich nicht vertragen« (Schaarschmidt 1902: 172), spricht die Forschung der 1970er Jahre von Hübner als dem »fortschrittlichste[n] Maler des deutschen Vormärz« (Rothe 31973: 147). Polarisiert hat er bereits zu Lebzeiten. Hübner stammt gebürtig aus Königsberg. Seit den späten 1830er Jahren lebte und wirkte er in Düsseldorf. Das Akademiestädtchen am Rhein war bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus neben Berlin der Hauptanziehungspunkt für junge Maler des In- und Auslands. Zugleich war im Rheinland in der Zeit vor 1848 das wohl dichteste Aufkommen fortschrittlicher, demokratischer Denker und Literaten in Deutschland zu verzeichnen. In dieser Konstellation traf Hübner in Düsseldorf auf kunstinteressierte Lyriker wie Ferdinand Freiligrath oder Wolfgang Müller von Königswinter. Seine daraus hervorgehenden Werke waren der einschneidende, von der zeitgenössischen tradi-

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tionellen Kunstkritik mit einem Aufschrei der Empörung bedachte Beginn einer Etablierung sozialer Themen in eine Genremalerei, die bis dahin von traditionellem, romantischen-akademischen Reglement bestimmt war.

1844 1844 war das Jahr Hübners abrupter Hinwendung zu Themen der sozialen Wirklichkeit: Bis heute illustrieren seine »Schlesischen Weber« (Abb. 1) in vielen Geschichtsbüchern jene Jahre, in welchen eine immer mächtiger um sich greifende Industrialisierung gepaart mit rückständigen, den Adel bevorteilenden Gesetzen zur (versuchten) Revolution führten. Zu sehen ist eine arme Weberfamilie im Zentrum des Bildes, deren in Heimarbeit gefertigter Stoff vom Leinenhändler abgewiesen wird. Mehrere andere Weber werden solcherart um diese pathosträchtige Zentralgruppe angeordnet, dass die ganze Szenerie gegen den Uhrzeigersinn gelesen dem zeitgenössischen Betrachter das Leid der Weber in einzelnen ›Stationen‹ drastisch vor Augen führte, indem der kreislaufartige Charakter der Szene ihre ständige Wiederkehr, ja eine Gesetzmäßigkeit mitlesen lässt in ihrer Schilderung des tragischen Verlaufs der Verkaufsversuche. Die Ursache dieser Erfolglosigkeit benennt Hübner klar: die Herzlosigkeit des mächtigen Kaufmanns, die er unzweideutig inszeniert, indem er ihn die traditionelle Herrscherpose annehmen lässt. Im Hintergrund begutachten seine Mitarbeiter das durch die Weber in Heimarbeit gefertigte und nun dem Händler angebotene Leinen mit der Lupe, bevor der Fabrikant die Ware wegen kleiner Fehler abweist oder den von seiner Gunst abhängigen Webern einen geringen Hungerlohn ausbezahlen lässt, wie zwei Teilszenen im Hintergrund Abb. 1: Carl Wilhelm Hübner: erzählen. Die Not der ›Die schlesischen Weber‹ (1844).

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Weber in Schlesien war Tagesthema, füllte die Zeitungen, erregte die Gemüter. Spätestens seit Jahresbeginn 1844 wurde die dramatische Lage der Weber im schlesischen Gebirge Thema in den deutschen Zeitungen, mal durch amtliche Meldungen, mal durch Spendenaufrufe, durch beinahe wissenschaftliche Theorien zur Abhilfe oder sehr häufig durch pathetische, fast prosahafte Schilderungen des materiellen Elends, die dem Sittenroman – verwiesen sei auf das zeitgleich um sich greifende Erfolgsformat des Fortsetzungsromans im Feuilleton der Tageszeitungen – nicht fernstanden. Hübner begann, soweit es sich rekonstruieren lässt, etwa im Februar 1844 mit der Arbeit am Weberbild.1 Ausgerechnet die Düsseldorfer Zeitung war es, die am 26. Januar als erstes rheinisches Presseorgan dieses Thema aufgegriffen hatte, das seit Jahresbeginn in verschiedenen schlesischen Blättern geradezu in Form eines Hilferufs verbreitet wurde:2 »Deshalb ist es an der Zeit, daß unsern Webern eine ernste und durchgreifende Hülfe gewährt wird. Unsere Weber – ich sage es noch einmal – sterben vor Hunger mit ihren Kindern, wenn ihnen nicht geholfen wird!« (Breslauer Zeitung, zit. in der Düsseldorfer Zeitung Nr. 26, 26.1.1844) Spätestens von diesem Zeitpunkt an war das Leiden der Weber Tagesthema. Nicht weniger als die Lage der Weber in Schlesien selbst war aber auch Hübners Bild in aller Munde, denn für die parallel zur politischen Autorität ins Wanken geratene Autorität der Akademie war – abgesehen von zahlreichen anderen Faktoren – allein schon die Tatsache eine Provokation, dass Kunst hier nicht dem Geniegedanken verpflichtet ist, sondern sich am Tagesgeschehen orientiert, dieses sogar zur Daseinsberechtigung, zum Mittel zum Zweck werden lässt: Nachweislich ist es für eine Wohltätigkeitsausstellung zum Vorteil der

1

Gottfried Kinkel weist in der Allgemeinen Zeitung (Nr. 273, 1844) auf die kurze Entstehungszeit des Bildes hin. Es sei »mit eisernem Fleiß in wenigen Monaten« entstanden. Da die vermutlich erste Ausstellung des Bildes Anfang April stattfand, ist zu vermuten, dass Hübner Ende Januar oder Anfang Februar mit der Arbeit begann.

2

Vgl. den dortigen Verweis auf die Breslauer Zeitung sowie die Privilegierte Schlesische Zeitung Nr. 2, 3.1.1844 (abgedruckt bei Kroneberg/ Schloesser 1979: 69-71). In Nr. 56 (25.2.1844) weist die Düsseldorfer Zeitung darauf hin, unter allen rheinpreußischen Blättern das erste gewesen zu sein, das die Not der Weber in Schlesien zum Thema gemacht habe.

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notleidenden Weber in Schlesien entstanden.3 Von ›Tendenzkunst‹ sprach man fortan bezüglich solcherart die soziale Realität zum Zweck der Kunst erhebender Malerei. Hübner war und blieb eine Ausnahmeerscheinung und ihr Hauptvertreter in Deutschland. Der Bekanntheit des Bildes spielte zweifellos auch der Zufall in die Hände, denn wenige Wochen nach Fertigstellung des Bildes brach der Aufstand der schlesischen Weber aus, und das Bild erhielt plötzlich auch eine politische Dimension. »Karl Hübner aus Königsberg verAbb. 2: Wilhelm Scholz: ›Hübners schwand bis 1844 dem großen Pub›Jagdrecht‹ auf der Berliner likum unter den zahlreichen GenreKunstausstellung‹ (1846). und Porträtmalern Düsseldorfs […]. Und mit Einem Male, durch Ein Bild stieg dieser Künstler zum Liebling des großen Publikums, das jetzt auf allen Ausstellungen vor seinen Sachen zuerst stehen bleibt.« (Kinkel 1847: Vorwort »Zu den Bildern«, [o.S.])

I NSZENIERTES U NRECHT Eine visuelle Untermauerung der plötzlichen Berühmtheit Hübners bietet eine Zeichnung von der großen Berliner Kunstausstellung, die drei Jahre nach seinem Erstlingswerk der »Weber« einen Menschenauflauf vor Hübners zweiter spektakulärer Komposition zeigt (Abb. 2). Diese übertraf die erste bei Weitem an Skandalosität. Sie trägt den Titel »Das Jagdrecht« (Abb. 3), war im Jahr nach dem Weberbild (1845) entstanden und wurde zum teuersten bis dahin jemals durch den Rhei-

3

Anfang April 1844 ist die erste öffentliche Präsentation des Bildes nachzuweisen, im Rahmen einer Ausstellung »zum Vortheil der unglücklich verarmten Gebirgsbewohner in Schlesien 1844« im Galeriesaal der Düsseldorfer Kunstakademie: Düsseldorfer Kreisblatt Nr. 92, 2.4.1844.

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nischen Kunstverein angekauften Bild. Auch »Das Jagdrecht« trägt die Tagesdiskussion der Zeitungen auf die Leinwand und vermochte daher das bürgerliche Publikum zu fesseln. Dessen Zylinder lassen das Bild auf der Skizze Wilhelm Scholz’ beinahe verschwinden. Thema Abb. 3: Carl Wilhelm Hübner: ›Das Jagdrecht‹ ist das verschärfte preu- (1846), Düsseldorf, museum kunst palast. ßische Jagdgesetz. Mit Wiederholung des Originals aus dem Jahr 1845. den preußischen Gesetzen tat sich der Rheinländer an sich, der an die Freiheiten der französischen Gesetzgebung gewöhnt war, zu dieser Zeit ohnehin schwer. Umso engagierter wurde die Diskussion um die verschärfte Jagdrechtsordnung in diesen Gebieten geführt. Hübner zeigt einen Bauern, der in dramatisch-theatralischer Lichtführung durch (vermutlich) seinen Sohn in eine Felshütte gezerrt wird. Das Hintergrundgeschehen erläutert den Vorgang: Um seine Ernte zu schützen, die als wogendes Kornfeld im Bildmittelgrund in Szene gesetzt wird, hat der Bauer ein Wildschwein erlegt, das von Nahem betrachtet gut erkennbar im vorderen Feldabschnitt liegt. Diese Handlung aber hat ihn laut Gesetz selbst zum Freiwild gemacht, denn nur der Adel war im Besitz des Jagdrechts. Im Bildhintergrund ist der Grundbesitzer zu sehen, der in Begleitung seines Jägers vorüber reitet. Letzterer hat, geschützt durch das geltende Jagdrecht, soeben den tödlichen Genickschuss auf den scheinbar wildernden Bauer abgegeben. Dass es sich um einen tödlichen Schuss handelt, geht aus der Hübnerschen Komposition nicht direkt hervor – wenngleich der damalige Bildbetrachter deutlich zensurerprobter war als der heutige, und angesichts einer hingeworfene Flinte, der eiligen Flucht der Bauern und des Griffs des Älteren an den Hals das tragische Ende der Geschichte mitzulesen imstande war. Ganz zweifelsfrei aber wird der Ausgang der Szene überdies aus der literarischen Vorlage des Bildes deutlich, einem zeitgenössischen Gedicht des rheinischen Dichters Wolfgang

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Müller von Königswinter, der Hübner in besonderer Weise freundschaftlich verbunden war.4 Das Gedicht war jedem bekannt, und auch der Zusammenhang mit dem Bild war dadurch deutlich, dass Müller sein Gedicht und eine (ebenfalls von ihm verfasste) Bildbeschreibung in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben der Düsseldorfer Zeitung publiziert und aufeinander bezogen hatte (Düsseldorfer Zeitung Nr. 210, 31.7.1845; ebd. Nr. 211, 1.8.1845).5 »Das Jagdrecht« war in verschiedener Hinsicht für ein akademiegeschultes kunstbetrachtendes Auge absolut grenzüberschreitend innerhalb seines Mediums, der Genremalerei. Zwei Hauptfaktoren fallen dabei besonders ins Gewicht: Zum einen die direkte Benennung des Schuldigen. Das von Hübner geschilderte Leid ist nicht schicksalhaft bedingt sondern menschenverschuldet. Das allein hätte bereits einen Grenzübertritt innerhalb der Genremalerei bedeutet – zumal im Format eines Historienbildes. Zusätzlich aber bringt Hübner den Schuldigen direkt in den Fokus des Betrachters. Im Fall der »Schlesischen Weber« versieht er ihn gar mit Namen, indem er dem Fabrikanten ein Taschentuch mit der aufgestickten Zahl »20« aus der Tasche hängen lässt und damit auf den berüchtigten Kaufmann Zwanziger verweist. Zum anderen praktiziert Hübner die Tilgung jedes ›versöhnenden Elements‹, er verzichtet also auf eine Auflösung des geschilderten Konflikts. Die klassische Bildsprache verlangt nach ebendieser katharsis. Noch 1853 kritisiert Theodor Fontane an Hübners sozialthematischen Bildern: »die Läuterung fehlt« (Fontane 1853: 146). Der akademisch geschulte Betrachter wird ratlos zurückgelassen, mit einem geradezu beklemmenden Seherlebnis konfrontiert. Ein zentrales Element in der Hübnerschen Art der Ästhetisierung des Sozialen ist eine gewisse Lust an der Exotik. Seine Schilderungen geben vor, Realität zu beschreiben, sie tun es aber so nicht. Frauen und Kinder waren bei Verkaufsterminen wie dem auf dem Weberbild geschilderten nicht anwesend; sie dienen dem Maler lediglich zur Emotionalisierung der geschilderten Szene. Besonders frappierend der Fall

4

Eine ihm gewidmete Fassung des Bildes bewahrt das RLM Bonn, vgl. Landes 2008, WVZ 1846-3a.

5

Dass der anonyme Verfasser der Bildbesprechung Wolfgang Müller von Königswinter war, belegt der Abdruck des Textes im Rahmen der sich aus alten Zeitungsrezensionen zusammensetzenden Schrift Müller von Königswinter 1854: 297f.

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des Jagdrechts-Bildes: Nicht ein einziger Vorfall solch brutal vollzogenen (Un-)Rechts ist historisch überliefert. Allein jedoch dass ein solcher hätte eintreten können, erschreckte, faszinierte den, der nicht direkt betroffen war und der die eigene Unzufriedenheit auf die Unterschicht projizierte. Dies betrifft Hübner als Maler, der die Verurteilung der Gesetzeslage nicht nur als Mittel zum Erfolg nutzte sondern durchaus mit Ernst vertrat, ebenso wie sein Publikum, das noch immer (groß-)bürgerlich geprägt blieb – dem sprunghaft wachsenden Kunstmarkt zum Trotz. Mit Rückverweis auf Wilhelm Scholz’ karikierende Momentaufnahme von der Berliner Akademieausstellung (Abb. 2) pointiert formuliert: Zylinder und Bildgeschehen treffen als karikiertes Paar aufeinander. Publikum und Bildsujet waren sich im Grunde fremd; das Unrecht am Bauern diente dem Bürger als Ventil für seine diffuse Unzufriedenheit mit dem Status Quo, für seine undefinierte Sehnsucht nach Veränderung.

S OZIALKRITIK

UND

P OLITIK

IM

B ILD ?

1846 und 1847 folgten eine Reihe weiterer sozialthematische Werke – ganz bewusst wird dabei auf den Begriff des ›Sozialkritischen‹ verzichtet, worauf noch näher einzugehen sein wird. All diese Bilder treten im Vergleich zum »Jagdrecht« weitaus ›zahmer‹ auf, ja fast gewinnt man den Eindruck, als habe Hübner bereits weit vor 1848 die Angst vor seinem eigenen Mut gepackt (womit er exemplarisch für die Zeitstimmung, für die politische und gesellschaftliche Entwicklung jener Jahre stünde). So etwa die »Wohltätigkeit in der Hütte Abb. 4: Carl Wilhelm Hübner: ›Die Wohltätigkeit der Armen« (Abb. 4). in der Hütte der Armen‹ (Holzschnitt nach dem Das Original ist heute verlorenen Original 1846). verloren, jedoch über

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einen zeitgenössisch publizierten Holzschnitt überliefert. Hübner knüpft hier szenisch an das erste Weberbild an: Einer der beiden jungen Weber, die dort die Szenerie mit unverkauftem Leinen verlassen hatten, wird hier vom Maler nach Hause begleitet, wo seine Geschichte quasi forterzählt wird. Ratlos über ihr kommendes Schicksal grübelnd sitzt seine Familie hungernd und frierend – die Kinder in viel zu großen Kleidungsstücken – in ihrem ärmlichen Zuhause, im Hintergrund der Webstuhl. Der Betrachter ist der einzige, der aus dem Hintergrund bereits die Lösung in Form von praktizierter Nächstenliebe kommen sieht: eine Bürgersfrau, die Lebensmittel und Holz bringt. Mit Ausnahme des »Jagdrechts« hält Hübner an der klassischen Form von Bildanlage und Erzählstruktur fest. Die Fragen, woraus die geschilderte Handlung, das geschilderte Unrecht oder die geschilderte Not entsteht, wie sie beschaffen ist und wie sie aufgelöst wird, werden stets beantwortet und zeugen bei aller Novität der transportierten Inhalte von der akademischen Ausbildung des Malers. Genannt sei außerdem das Bildbeispiel »Die Verlassene« (1846, Abb. 5), mit dem wieder ein sehr populäres, ein durch und durch antifeudales Thema aufgegriffen wird: Zu sehen ist eine unglückliche Förstertochter gemeinsam mit ihrer Mutter vor der Wiege eines Neugeborenen. Die junge Frau ist gezwungen, ihr Kind allein aufzuziehen: Durch das Fenster ist zu sehen, wie der adelige Kindsvater in Begleitung seiner Gattin ausreitet. Die Moral auch hier wieder eindeutig auf der Seite der Schwachen, Armen, Übervorteilten. Nicht zufällig platziert Hübner die Bibel in der Hand der Mutter just in der Bildmitte. Der Glaube als Halt in der Not und als Gewissheit einer künftigen Strafe für den Ungläubigen, Ungerechten, ist bereits im »Lied der Weber« motivisch eingeführt, das zweifellos Hübners berühmtem ersten Weberbild zugrunde liegt. Hier die Worte, die die Hintergrundszene Abb. 5: Carl Wilhelm Hübner: anregten, in welcher die beiden ›Die Verlassene‹ (1846).

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jungen Weber wütend und einander besänftigend zugleich das Haus des Händlers verlassen: O euer Geld und euer Gut, Das wird dereinst vergehen Wie Butter an der Sonne Gluth, Wie wirds um euch dann stehen. Wenn ihr dereinst nach dieser Zeit Nach eurem Freudenleben Dort, dort in jener Ewigkeit Sollt Rechenschaft abgeben.6

Bis heute haftet Hübners Bildern der Ruf an, politisch zu sein. Insbesondere die kunstwissenschaftliche Forschung Russlands und der DDR während der 1960er und 1970er Jahre stilisierte Hübner zum »Vorkämpfer der Revolution« (vgl. Landes 2008: 38-56). Die »Geschichte der SED« (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED 1988: 41) schmückt sich mit einer Farbabbildung vom Webergemälde; eine Wiederholung desselben befand sich im Besitz Walter Ulbrichts (Landes 2008: WVZ 1846-9). Ein Westberliner Ausstellungskatalog des Jahres 1972 glaubt in Hübners »Webern« den Beweis dafür zu sehen, dass Hübner als »einzige[r] deutsche[r] Maler dieser Jahre […] nicht nur mit der revolutionären Generallinie sympathisierte, sondern zugleich die besondere Taktik der Kommunisten in Deutschland, die von Marx und Engels vertreten wurde, mit seinen Gemälden propagierte« (Rothe 31973: 147f.). Berufen konnte sich diese Deutung auf ein äußert prominentes Urteil aus Hübners zeitgenössischem Umfeld: Ende 1844 schrieb Friedrich Engels, Hübners Weberbild habe »wirksamer für den Sozialismus agitiert als hundert Flugschriften« (Engels 1844: 510) – und bezeugt damit nebenbei bemerkt den ungeheuren Aufschwung, den das Medium Bild zu dieser Zeit erfuhr. 6

»Das Blutgericht«. In großer Geschwindigkeit und in mehreren Versionen fand das Lied Anfang 1844 Verbreitung in ganz Deutschland. Im von Püttmann herausgegebenen »Deutschen Bürgerbuch« wurde es 1845 im Rahmen von Wilhelm Wolffs 1844 entstandenem Aufsatz »Das Elend und der Aufruhr in Schlesien« schriftlich veröffentlicht (Püttmann 1845: 199202). Dazu Landes 2008: 194-197, 459 f.

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Generell ist in der ersten Hälfte der 1840er Jahre speziell im Rheinland ein Umschwung auf dem Gebiet der Kunstkritik zu beobachten: Parallel zum Anstieg ›freier‹, also akademieunabhängiger Kunstausstellungen, eines freien, bürgerlich geprägten Kunstmarkts, wuchs die Berufsgruppe laienhaft praktizierender Kunstkritiker. Ihre Vertreter machten emotional verfasste, blumige Bildbesprechungen zum Vehikel eigener (meist politischer) Botschaften. Hübners sozialthematische Kompositionen waren hierfür besser geeignet als jedes andere Gemälde auf dem deutschen Kunstmarkt. »Hatte man die Beschauer gelehrt, den Gedanken im Bilde zu suchen, so fanden sich jetzt der Gedankenleser nur allzuviele. Der Kritik war ein unendlich weites Feld geöffnet, einer Kritik, die im Recht war, wenn sie den Inhalt über die Kunst stellte, weil sie somit des Künstlers eigenen Wunsch erfüllte.« (Gurlitt 1899: 249)

Ob die Interpretationen der liberalen Kritik, insbesondere der expliziten Tendenzkritik, immer dem Willen des Künstlers entsprachen, bleibt mehr als fraglich. Dass sie aber den Bildern dort, wo diese Ausdruck der generellen Unentschlossenheit der Zeit waren, eine eindeutige Aussage verliehen, kann nicht bezweifelt werden. Umgekehrt spielte Hübners Ruf als politischer Maler eine Mode der Zeit in die Hände, die sich auf konservativer Seite – quasi als Gegenbewegung zum Geschilderten – entwickelte: ein unablässiges Wittern tendenziöser, aufrührerischer, womöglich sozialistischer oder kommunistischer Inhalte.7 Auch der konservativen Kritik bot eine aufsehenerregende Szene wie die der beiden erzürnten jungen Weber, die die berühmte Weberszene im Hintergrund verlassen (Abb. 1) – gerade nach dem wenig später ausgebrochenen Weberaufstand – eine willkommene Spielwiese zur Verurteilung seines Schöpfers: »[…] endlich sieht man zwei Männer die Halle verlassen, von denen einer wuthentbrannt die Faust ballt, der andere die Rache des Himmels herabzurufen scheint. Die Darstellung ist so lebendig […], daß das Bild einen ungeheuern, ja einen gefährlichen Eindruck machen mußte. Man hat deßwegen große und schwere Vorwürfe gegen den Künstler erhoben, die er sich leicht hätte ersparen können.« (Förster 1860: 402)

7

Zur terminologischen Trennung siehe Landes 2008: 82-95.

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Die tatsächlichen Umstände können hier nur angedeutet werden, mit dem Ziel zu zeigen, dass Hübner in der Tat eine Ästhetisierung des Sozialen vollzog – nicht des Politischen, wie es angesichts einer politisch instrumentalisierenden Interpretation von Engels bis in die 1970er Jahre hinein oft glauben gemacht wurde. Hübners Bilder stehen in enger Verbindung mit der Lyrik- und Literaturbewegung des rheinischen Vormärz; anhand des JagdrechtBeispiels ist dies ja bereits angedeutet worden. Von Beginn an wurde gerade Hübner das Gegenteil nachgesagt: »Er war fast der einzige Künstler, in dessen Werken sich die Erregungen der Zeit und die socialen Fragen, die damals das Volk bewegten, deutlich wiederspiegeln [sic], wenn man von den sentimentalen Räubern Lessings und Hildebrandts, die mehr der Phantasie und dem Theater entstammen, als der Beobachtung und dem Naturstudium, absieht.« (Schaarschmidt 1902: 170)

»Beobachtung« und »Naturstudium« als Grundlage der Hübnerschen Bilder impliziert den Verzicht auf einen Rückgriff auf geschriebene Vorlagen. Nahezu alle Hübnerschen sozialthematischen Bilder aber besitzen Vorlagen aus Volksprosa und Volksdichtung, ohne diese dem Betrachter deutlich werden zu lassen: kurzlebige Novellen und Erzählungen, Feuilletonliteratur, bis hin zum Lied der notleidenden Weber in Schlesien. All diese literarischen Werke haben ein gemeinsames Merkmal: Sie sind heute unbekannt. Noch deutlicher als bei Hübners Adaption hatte nicht ihr künstlerischer Wert ihre Bedeutung in der Zeit ausgemacht, sondern ihr funktionaler. Es bleibt ihnen außerhalb ihrer Entstehungszeit nur mehr zeithistorischer, kein literarischer Reiz. Hübners ›Vorlagenliteratur‹ gehörte einer Bewegung an, die als ›Wahrer Sozialismus‹8 bezeichnet wird. Als einziger Maler hat er sie auf die Leinwand transferiert. Es ging dabei nicht um Sozialismus in jenem (politischen) Sinne des Begriffs, wie wir ihn verwenden. Der Wahre Sozialismus dominierte die Jahre 1844 bis 1847, war zu dieser Zeit eine Art bürgerliche Massenbewegung, ein Lebensgefühl, das in keiner konkret definierten Verbindung zu politischen Zielen stand. Er

8

Zur Bewegung des Wahren Sozialismus sei hier exemplarisch auf Dowe (1970: 68-74) und Happe-Nolden (1983) verwiesen. Walther Roer (1933: 64) verwendet den Begriff des ›humanistischen Sozialismus‹.

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gründete auf Unzufriedenheit mit der rückständigen gesellschaftlichen Situation, auf einem lang nicht gekannten Drang zum Handeln, zur Veränderung veralteter Regeln und etablierten Standesdünkels, war neugierig auf Ideen wie die menschenzentrierte Religion eines St. Simon, auf erste republikanische Phantasien, wie sie in fortschrittlichen rheinischen Blättern präsentiert wurden. Zugleich aber war die Angst vor unkontrollierbaren Entwicklungen groß; vor einem Aufstand der Arbeiter, vor dem Verlust von Besitz und bürgerlichen Werten wie Ehe, Fleiß, Religion – mit fortschreitender Zeit auch vor dem Verlust der Monarchie. Die Folge war eine mit Überzeugung gelebte Kultur der Wohltätigkeit, in deren Sinne der Begriff ›Sozialismus‹ hier zu verstehen ist. In dieser Massenbewegung gelebter Nächstenliebe flossen die geschilderten fortschrittlichen Ideen einer menschen-, nicht gottzentrierten neuen Religion mit traditionell christlichen Werten ineinander und gewannen umso mehr Durchschlagkraft in den Jahren vor 1848, deren Charakter auch auf dieser Ebene im Hin- und Hergerissensein zwischen Alt und Neu lag. Alle beteiligten Parteien profitierten von der mächtigen Bewegung des Wahren Sozialismus: Der von Tatendrang und Angst zu gleicher Zeit getriebene Bürger suggerierte sich eine Eingriffmöglichkeit ins Geschehen der Zeit, verbunden mit der beruhigenden Erkenntnis, einem Aufstand der Armen, deren Moral er predigte, entgegenzuwirken. Den alten Strukturen des Adels, der Monarchie, der Kirche (auch denen des neuen Geldadels) kam dieses in seiner Konsequenz so deeskalierend wirkende Ventil des Bürgertums zu allererst zugute. Die zur Mode geratende Wohltätigkeit wurde in den Jahren 1844 bis 1847 allerorten gelebt. Im Feuilletonroman ebenso wie in der Lyrik, im Alltag – und von Hübner übertragen auf die Leinwand. Am Ende der Weberbild-Ausstellung stand die Spendenkasse, und noch Anfang der 1870er Jahre organisierte Hübner in den USA – wo er in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einem der gefeiertsten europäischen Malern wurde – eine Ausstellung zum Wohl der Opfer des großen Chicagoer Stadtbrands (vgl. z.B. New York Times, 5.5.1872, S. 4, Sp. 5). Nebenbei bemerkt zeigte sein Beitrag zur Ausstellung ein weinendes Mädchen auf den Trümmern ihres Elternhauses: auch hier wieder die Kunst im Dienst des Zwecks – ›Tendenzkunst‹.

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Politisch hat sich Hübner nie geäußert.9 Wohl aber versuchte er ganz im Sinne des Wahren Sozialismus, jene Werte im eigenen, im künstlerischen Wirkkreis in die Tat umzusetzen, die die Zeitbewegung forderte: Hübner wurde Mitbegründer und Namensgeber des Düsseldorfer Künstlervereins Malkasten und des sogenannten Vereins zu gegenseitiger Unterstützung und Hülfe mittelloser Künstler (vgl. Landes 2008: 102-107; 162-169; 287-301). Beide übertragen den zeittypischen Abwehrimpuls gegen Obrigkeitsabhängigkeit auf die künstlerische Sphäre – in diesem Fall die Abwehr von der als aristokratisch und verkrustet organisiert empfundenen Akademie. Die wahrsozialistische Bewegung verstand sich als eine neohumanistische, den Menschen ins Zentrum rückende Geisteshaltung, die – darauf bestand man – weit oberhalb der politischen, auf einer abstrakteren Ebene rangierte. »[D]er [Wahre, L.L.] Sozialismus ist weiter, vorgerückter, als die Politik; ein Sozialist setzt die Politik voraus, nicht so umgekehrt ein Politiker den Sozialismus. Die Politik hat bis jetzt nirgends andere Mittel wider den Pauperismus und das Proletariat aufweisen können, als Erleichterungs- und Linderungsmittel, als Palliative […]. Jede soziale Schule dagegen ist noch mit der Prätension [sic] aufgetreten, das Geheimmittel entdeckt zu haben, […] alle Menschen zu menschenwürdiger Existenz zu erziehen. So viel ist vorab gewiß, […] daß man vorurtheilsfrei horchen muß, wie sie sich die Möglichkeit und Ausführbarkeit dieses idealen Zieles denken. Mit apriorischen Verdammungsurtheilen ist hier nichts gethan […]. Auch ist vor dem Worte Sozialismus in keiner Weise zu erschrecken, [nur] weil seine letzte und extremste Ausgeburt der nivellirende Communismus ist. […] Man muß sich den Begriff in seiner Allgemeinheit nur rein halten, so ist man weit entfernt, den Extremen zu huldigen. […] Wir erklären den Sozialismus als d a s S t r e b e n , d e n P a u p e r i s m u s a u s d e r W e l t z u s c h a f f e n . « (Düsseldorfer Zeitung Nr. 234, 24.8.1843)

Eine Revolution wollte der Wahre Sozialismus nicht befördern, sondern im Gegenteil verhindern. Es galt eine Entwicklung im Denken

9

Seine Beteiligung an der Düsseldorfer Bürgerwehr, die in der Vergangenheit immer wieder als Beleg seiner revolutionären Einstellung herangezogen wurde, ist nicht über den Zeitpunkt von deren Radikalisierung hinaus nachweisbar; aufgrund verschiedener Indizien sogar äußerst unwahrscheinlich (vgl. dazu Landes 2008: 155-159).

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anzustoßen, den ›neuen Menschen‹ zu schaffen, indem man der Gesellschaft dessen Gegenteil, den ›alten Menschen‹, vorführte. Nichts anderes passiert, wenn Hübner seinen Leinenfabrikant in Herrscherpose Willkür und im Anschlussbild eine einfache Bürgersfrau Nächstenliebe üben lässt. Politische Systeme interessierten im Zusammenhang mit diesen Überlegungen kaum. Hübner kritisiert nicht die Existenz des Leinenkaufmanns, sondern seine Unmenschlichkeit. Der verbitterte Weber erfährt auf dem Fortsetzungsbild Hilfe. Noch deutlicher fällt die Interpretation der Konfliktsituation beim »Jagdrecht« aus: Diese ist ohne Kenntnis eines nur über Bildbeschreibungen überlieferten Fortsetzungsbilds gar nicht adäquat verständlich – und gerade das »Jagdrecht« hatte bisher stets der Untermauerung Hübners scheinbaren Revolutionsgeists gedient. Das Folgebild wird von August Hagen so beschrieben: »Auf einem kleinen Bildchen ist ein Bauer im Begriff, aus dem Hinterhalt auf einen Jäger zu schießen, und wird daran nur durch einen Knaben gehindert.« (Hagen 1857: 18; Kölnische Zeitung, 19.9.1845) Die grausame Unrechtsszene wird hier also abermals einer Deeskalation zugeführt, denn ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine Szene, in welcher ein kleiner Junge einen Bauern (vermutlich denselben, der hier seinen Vater sterben sieht) davon abhält, Rache zu nehmen und auf den Jäger des Gutsherrn zu schießen. Verbitterung wird programmatisch aus Hübners Kompositionen verbannt; teils bereits einhergehend mit der Konfliktschilderung, teils in ein ›Folgebild‹ ausgelagert. Eine (ebenfalls heute nicht mehr erhaltene) Pfändungsszene gibt den Ausblick auf einen Jungen frei, der der betroffenen Familie einen Geldbeutel schwingend das Ende ihrer Not ankündigt; und »Die Verlassene« kann wie geschildert auf göttliche Gerechtigkeit im jenseitigen und festen Halt im diesseitigen Leben bauen. Neohumanistische Maßstäbe lassen moralischen Adel auf ganzer Linie siegen und Geld- und Geburtsadel in den Hintergrund treten. Bei Hübner geschieht dies ganz wörtlich, indem eine Büste König Friedrich Wilhelms IV. im Hinterzimmer des reichen Kaufmanns bedeutungslos und ungesehen bleibt. Während Hübner das Jagdrecht-Gedicht des (wahrsozialistischen) Lyrikers Wolfgang Müllers von Königswinter illustrierend umsetzt (s.o.), schreibt dieser programmatisch über ebendiese seine Gedichte:

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[…] Ihr quillt aus einem Herzen, Das für die Menschheit glüht, […] Ihr reizet nicht zum Mord, Ihr droht mit keinem Brande, Ihr rufet nicht zur Schlacht, Ihr singt durch alle Lande: Erkennt der Liebe Macht! Nur aus der Liebe blühet Die rechte Freiheit auf, […] Den Völkern und den Ländern Lehrt freie Bruderschaft! (»An die Lieder«. In: Müller von Königswinter 1846: III-VIII, hier IV-VII)

Nur sehr langsam entwickelte sich aus den wahrsozialistischen Ideen das, was heute unter Sozialismus verstanden wird, und das, was durch Marx und Engels fortan politisch und umstürzlerisch konnotiert war. Da Hübners Bildern der aufbegehrende Impetus gegen den bestehenden (politischen) Status Quo fehlt, schlage ich vor, sie als ›sozialthematisch‹ und nicht, wie bisher oft praktiziert, als ›sozialkritisch‹ zu beschreiben, was rein terminologisch stets ›(politisch) revolutionär‹ impliziert. Während der Dichter Ferdinand Freiligrath, der »Trompeter der Revolution« von der Revolution als »wildschöne Siegerin mit roter Mütze im flatternden Haar« spricht (zit. n. Roer 1933: 263), fragte sich Hübner in einem einzigen aus dem Revolutionsjahr erhaltenen Brief, »[w]as daraus werden [solle] wenn nicht sehr bald etwas geschieht was die Gemüther beruhigt, das das Vertrauen hebt u den Credit stärkt«10.

Z EITGESCHMACK Alles in allem führen diese Aspekte zur Erkenntnis, dass wir es bei Hübners Kompositionen des Vormärz exakt mit dem Gegenstand dieses Bandes tun haben: Mit einer Ästhetisierung des Sozialen, nicht des Politischen. Diese Ästhetisierung traf den Nerv eines für die soziale Problematik in hohem Maß sensibilisierten Bürgertums der 1840er Jahre, ebenso rasch aber verlor sie ihren Reiz: Der Arme wird nach

10 Hübner an einen Bekannten in Königsberg, 2.4.1848, abgedruckt in: Landes 2008: 443 ff., hier 444.

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1848 unmodern, er legt auf Hübners Bildern seine Heldenfunktion fortan ab. Anknüpfungsversuche an die vormärzliche Ära blieben Misserfolge. Angesichts eines Bildes, das 1867 – zu einer Zeit, in der Armut kein massentaugliches Thema mehr war – ein junges Mädchen mit Kind hilflos vor einem Kircheneingang liegend zeigte, warf man Hübner vor, »das Tendenzbild noch nicht aus den Gliedern bekommen« zu haben und »das Gefühl der heutigen Gesellschaft [zu beleidigen]« (Zeitschrift für Bildende Kunst, Beiblatt, Bd. 4, 1869, 17). Hübner spürte natürlich die Aussichtslosigkeit einer Übertragung seines alten Erfolgsrezepts in eine gänzlich neue Zeit. So versuchte er also, die Botschaft der vormärzlichen literarischen Vorlagen den neuen Werten anzupassen: Sein erfolgreichstes nachrevolutionäres Bild zeigt die Rettung eines Mädchens aus einem brennenden Haus (Abb. 6): In der Erzählung »Ein Stück deutsches Bauernleben« (1846) aus der Feder Otto Ruppius’ (Ruppius 1862: 1-149), die dem Bild zugrunde liegt, rettet ein Armer die Tochter eines Reichen aus den Flammen. Hübner aber lässt den jungen Mann in der Kleidung eines wohlsituierten Städters auftreten, der hier das Leben einer Bauerntochter bewahrt (vgl. Landes 2009). Es wird dieses Bild damit zur Kehrtwendung gegenüber einem Bildentwurf, den Hübner im Winter 1846/47 im Rahmen des Künstlervereins CRIGNIC präsentierte: »Ein Proletarier rettet das Kind einer Reichen und weist die Belohnung von Abb. 6: Carl Wilhelm Hübner: sich«.11 Nur der Titel ›Rettung aus Feuersgefahr‹ (1853). ist überliefert, und es bleibt unklar, ob diese

11 Karikaturen- und Protokollbuch des Compositionsvereins »Crignic« (Archiv des Künstlervereins Malkasten KVM S 60), 46v. Der Vereinsname setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Familiennamen seiner Gründungsmitglieder zusammen: Canton, Ritter, Jordan, Gude, Normann, Jensen und Camphausen.

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Bildidee umgesetzt worden war. Denkbar wäre sogar, dass beide Kompositionen identisch sind, abgesehen von der alles entscheidenden Zuordnung von arm und reich zu Retter und Gerettetem.

E RFOLGSBEDINGUNGEN Die Frage nach dem Wie der Hübnerschen ›Ästhetisierung des Sozialen‹, führt zur Frage nach der Deutlichkeit, die bereits in Bezug auf das Tötungsmotiv beim »Jagdrecht« angesprochen wurde. Eine Abschwächung der geschriebenen Vorlage ist typisch für die sozialen Bilder Hübners. Die noch deutlichere Darstellung eines Mordes war für einen akademisch geschulten Maler jener Zeit schlichtweg nicht denkbar – selbst dann, wenn er sich von den Fesseln der Akademie zu lösen versucht. Die Mittel des Mediums Bild unterschieden sich hinsichtlich ihrer Freiheit noch deutlich von jenen etwa der Lyrik. Ähnlich das Bild der »Schlesischen Weber«: Es zeigt eine visuelle Vorstellung von Armut, die für uns kaum noch verständlich ist. Ganz in akademischer Gewohnheit musste es gelesen, nicht gesehen werden, dann konnte der geschulte Ausstellungsbesucher von einzelnen Flicken auf der ansonsten gutbürgerlich-ländlichen Kleidung der Weber auf deren materielle Not schließen. Diese Art der Bildsprache war Voraussetzung dafür, dass das Bild überhaupt als ausstellungswürdig empfunden wurde, vom Künstler selbst ebenso wie vom immer noch gehobenen Publikum. Entscheidende Unterschiede also bestanden bezüglich der Rezeptionswege eines Bildes und eines Gedichts oder einer Novelle: Während das eine die Aura von Exklusivität noch nicht abgelegt hatte – was sich erheblich mit Hübners neuen, tagesaktuellen und ganz zweckorientierten Inhalten rieb –, profitierten die literarischen Genres von der Tatsache, dass sich die Zeitung als Massenmedium bereits durchgesetzt und neue Freiheiten geschaffen hatte. Damit ist eine Seite der Lage beschrieben. Mit der anderen verhält es sich so, dass der angesprochene moralische Adel der Armut transportiert werden wollte:

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»Bei Herrn mit Titeln, Band und Stern Dort wohnt die Falschheit, Selbstsucht, Lug. Im schlichten Haus, am dürft’gen Tisch, Wie sie mit Lieb’ und Treue prassen!« (»Auf Märkten und Gassen«. In: Müller von Königswinter 1846: 5-7).

Ein solches Verständnis von ehrenwerter Armut ließ sich nicht mit einem adäquaten, einem gänzlich erschreckenden Erscheinungsbild von Armut (der Weber, der Bauern, der Förstertochter) herstellen. Folgender Ausschnitt eines Fortsetzungsromans der Düsseldorfer Zeitung mit dem Titel »Was eine Mutter leiden kann« wirkt in diesem Sinne geradezu wie ein Untertitel zur Abfolge von Hübners erstem und zweitem Weberbild (Abb. 1 und 4): »Adele, Du kennst die wahren Armen nicht. Beurtheile sie nicht nach jenen zerlumpten Bettlern, die den Battel als ein gutes Gewerbe ansehen und ihre Kleider absichtlich zerfetzen und beschmutzen […]. Komm mit mir, Liebe, ich will Dir Arbeiter zeigen, deren Kleider nicht zerrissen, deren Stuben nicht unreinlich sind, und deren Mund sich nicht öffnen wird, um zu begehren, sondern nur für freiwillig Gegebenes zu danken und zu segnen.« (Düsseldorfer Zeitung Nr. 319, 17.11.1845)

Einen dritten Aspekt bildet der bürgerliche Anspruch, sich des Armen zwar anzunehmen, diesen aber nicht als – potentiell gefährlichen – eigenen Stand zu sehen, sondern als ›verarmten Bürgerlichen‹, dem mit ein wenig Feuerholz und Essen wieder in den Schoß des Bürgertums zurückgeholfen werden kann. Der Bewegung der Jahre 1844 bis 1847 haftete neben Neugier und Aufbruchstimmung auf der einen, neben Unbehagen und Angst auf der anderen, auch eine große Portion Naivität an. ›Ästhetisierung des Sozialen‹ geht bei Hübner – wie bei der gesamten wahrsozialistischen Bewegung – stets einher mit ›Wertung‹ des Geschilderten. Diese Wertung ist unzweifelhaft eindeutig, und sie ist emotional gefärbt, indem das Handlungsbeispiel, auf das sie sich beruft, Reales und Fiktion mischt. Pointiert formuliert sind Hübners Bilder eine Art Yellow Press des 19. Jahrhunderts (was für ihre Vorlagen gleichermaßen gilt). Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Frage nach dem Erfolgsgeheimnis eines Bildes wie »Das Jagdrecht«: Die Visualisierung des ta-

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gesaktuellen Streitthemas erfolgt nicht unmittelbar, sondern wegen der literarischen (hier lyrischen) Vorlage stets nur mittelbar. Eine Schilderung des Realen ohne ›literarischen Filter‹ war wider besseren Wollens des Künstlers in den 1840er Jahren noch nicht möglich. Zu stark war die Prägung durch die Lehrjahre an der Düsseldorfer Akademie, die ein traditionell sehr enges Miteinander von Malerei und Literatur pflegte. Für Hübners Erfolg war diese Mischung aus traditioneller Arbeitsweise, gewohnten spätromantisch-akademischen Stilmitteln wie Theatralik und Sentiment einerseits, und den neuen Inhalten andererseits der entscheidende Faktor. Diese Mischung als Spiegel der vormärzlichen bürgerlichen Befindlichkeit vermochte den Nerv der Zeit zu treffen. In seiner Inkonsequenz, seiner nur scheinbaren Avantgardehaftigkeit gehört Hübner einer Generation von Malern an, die der oft teleologisch ausgerichteten Kunstgeschichte lange nicht attraktiv erschien, wobei gerade seine Kurswechsel und Widersprüche, das Naive und Unabgeschlossene seiner Bemühungen ihn exemplarisch für seine Zeit stehen lassen. Die Rolle der Ästhetisierung des Sozialen in Hübners Werk wird erst mit der Erkenntnis deutlich, dass sie gezielt für öffentlichen Kontext wahrgenommen wurde. Bilder wie »Die schlesischen Weber« oder »Das Jagdrecht« entstanden nicht, um verkauft zu werden. Selbst ein fortschrittlich eingestellter Ausstellungsbesucher hätte sie nicht an der heimischen Wohnzimmerwand installieren wollen. Sie dienten der Schaffung eines Alleinstellungsmerkmals in der wachsenden Menge freischaffender Genremaler, der Kreation einer ›Marke‹, letztlich der Erschließung einer größtmöglichen privaten Käuferschaft für jene harmlos-idyllischen, ländlichen Szenen, die zu jedem Zeitpunkt den Löwenanteil in Hübners Œuvre ausmachten. Nur diese Verkäufe trugen zu seinem Lebensunterhalt bei, zumal er den Ertrag seiner meist zweckgerichtet ausgestellten sozialthematischen Bilder in der Regel öffentlichkeitswirksam einem mit dem Bildgeschehen inhaltlich verknüpften guten Zweck stiftete. Dabei war er in der glücklichen Lage, mit diesem geschickten Coup zugleich seine persönlichen Ideale und Überzeugungen zu bedienen, was sich durch seine persönliche Korrespondenz im Revolutionsjahr 1848 belegen lässt. Wirtschaftliches und ideelles Interesse gingen Hand in Hand: »Das Bild der Auspfändung […] ist von hier mit allen übrigen zur Ausstellung bestimmten Bildern nach Berlin abgegangen und ich war in ziemlicher Sorge

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darüber, es verloren zu haben. Die Kisten laufen in diesen unruhigen Tagen in Berlin ein und hätten eine günstige Barrikade abgegeben. Ich hatte mich schon getröstet auf indirekte Weise etwas beigetragen zu haben. Bis vor einigen Tagen Hildebrandt aus Berlin wieder zurückkam u mir zu meiner Freude und Beruhigung mittheilte er habe alle Bilder und auch das meine im Ausstellungs Saale wiedergesehen.« (vgl. Anm. 10, hier: 443f.)

Sich in dieser spielerischen Weise oppositionell zu geben, ist mitnichten als Befürwortung der Revolution, zur gewaltsamen Durchsetzung eines neuen Systems zu lesen, was der weitere Verlauf des Briefs unzweifelhaft unterstreicht. Nicht einmal ist es (in unserem heutigen Begriffsverständnis) als politisch zu begreifen, sondern als ein Bekenntnis zum Zeitgeist, von welchem Hübner nicht zuletzt durch seine Kontakte zur rheinischen Literatenszene durchdrungen war.

W IRKUNGEN Inwiefern kann im Zusammenhang mit Hübners Bildern von einer ›Ästhetisierung der sozialen Unterschicht‹ gesprochen werden? Anders gefragt: Inwiefern waren die Menschen, deren Schicksal Hübner auf so aufsehenerregende Weise schilderte, selbst betroffen von einer wie auch immer gearteten (künstlerischen) Ästhetisierung ihres Alltags? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Das Leid der Unterschicht wurde für ein mittleres bis gehobenes Bürgertum aufbereitet, mitunter gar in dessen Sinne konstruiert. Es sei noch einmal an das Aufeinanderprallen von Zylinder und Bildhandlung auf Scholz’ Ausstellungszeichnung (Abb. 2) erinnert. Die vom Pauperismus Betroffenen oder der Gesetzgebung Übervorteilten selbst hatten weder teil am Kunstgeschehen, an den Produkten des in ihrem Sinne tätig werdenden Künstlers, noch hatte dieser selbst direkte Berührung mit ihnen: Hübner malte seine Vorstellung von Armut und Unrecht. Gleichwohl trug der Maler in entscheidendem Maße zur Teilhabe breiterer Schichten am Kunstgeschehen bei, indem er die Entstehung eines akademieunabhängigen freien Kunstmarkts aktiv beförderte. Neben seinem Engagement für den Künstlerunterstützungsverein und den Malkasten (s.o.) vertrat Hübner über Jahre hinweg die Interessen der freien Künstler Düsseldorfs und Deutschlands in der »Kommission zur Berathung über die Verwendung der Fonds für Kunstzwecke«, die jährlich – später auch

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halbjährlich – in Berlin zusammentrat, um die Verteilung öffentlicher Kunstfördergelder zu beraten (dazu Landes 2008: 309ff). Hübners Leistung – die Einführung des Sozialen, des Armenschicksals in die deutsche Genremalerei – ist letzthin gerade durch seine Ausnahmestellung innerhalb der deutschen Genremalerei des 19. Jahrhunderts zu solch großer Berühmtheit gelangt, dass noch Gerhart Hauptmann das Bühnenbild seiner »Weber« an Hübners Komposition orientiert. Hübner prägte das visuelle Verständnis von Armut weit über seine Zeit hinaus – unter großer Schelte der traditionellen Kunstkritik, wie eingangs bereits angedeutet. So fragte der Berliner Franz Kugler, einer der ersten Vertreter der neuen Zunft Kunstgeschichte, angesichts der oben bereits angesprochenen Pfändungsszene: »Das Bild ist durchweg gediegen und mit schlagender Lebendigkeit gemalt; aber gerade darum ist es doppelt entsetzlich und kostet mich starke Ueberwindung, hier nicht schneller darüber hinzugehen, als ich es thue. Ist das, trotz dieses meisterlichen Pinsels, noch Kunst? kann ein Werk, das die jammervollste Zerrissenheit menschlichen Daseins [...] zum Gegenstande hat, noch den Anspruch machen, uns zu kräftigen, zu erbauen, uns über das Gemeine zu erheben?« (Kugler 1854: 673)

Die Antwort erscheint einerseits klar: Es kann es nicht und will es nicht. Gerade auf das »Gemeine« möchte das Bild den Blick des Betrachters lenken. Dennoch ist sein Verhältnis zum traditionellen Kunstverständnis, auf das Kugler anspielt, wie so oft nicht konsequent. Einerseits legt Hübner den Anspruch der klassischen Werte eines Künstlers nicht ab: Noch lang nach 1848 formuliert er in einem Bittbrief an den Direktor der Nationalgalerie, er »arbeite aus wirklich innerem Drange zur Kunst«12. Dahinter steckt der alte, romantischweltabgewandte (Genie-)Künstlertypus. Hübner nimmt eine Schwellenposition ein zwischen diesem traditionellen Selbstverständnis, das er wie eine unbemerkte Hülle mit sich trägt, und einem neuen Künstlertypus, dessen Entwicklung er ganz bewusst bejahte und nach Kräften beflügeln half: Dieser neue Künstler gestand dem Künstler-Sein wie selbstverständlich eine beruflich-ökonomische Komponente zu, wandte sich lebensbejahend von Historienthemen ab und dem Hier

12 Carl Wilhelm Hübner an Max Jordan, 19. August 1875. Zentralarchiv Staatliche Museen zu Berlin, Autographensammlung, Mappe 0634.

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und Jetzt zu – überzeugt davon, selbst Eingriff auf das Zeitgeschehen nehmen zu können. Der Intellektuelle an sich wird unpopulär. Die Düsseldorfer Zeitung gelangte 1846 ausgehend von der wohlwollenden Erwähnung neu erschienener Sammlungen sozialer Gedichte und Novellen sowie ausgehend von der Feststellung, dass diese »reich an Vorwürfen [i.e. ›Vorlagen‹; L.L.] für Proletariatsbilder« seien, zu der Frage »[I]n wie fern lassen Wesen und Mittel der bildenden Kunst eine demonstratio, argumentatio oder disputatio zu; und wie weit gehen die Gränzen der Friedensmission der Kunst?« Eine Antwort bleibt der Verfasser bewusst schuldig und schließt mit den Worten: »Meine Großmutter pflegte zu sagen: Es gibt keine unglücklicheren Menschen, als Chemiker und Philosophen: Jene sterben an gesprungenen Büchsen, diese an geplatzten Köpfen.« (Düsseldorfer Zeitung Nr. 206, 27.7.1846) In der Absicht, besänftigend auf den schwelenden Streit einzuwirken, fordert der Autor dazu auf, sich nicht zu viele Gedanken über das vieldiskutierte Phänomen zu machen. In der Tat gehörte es zur Zeittypik, dass man nicht allzu theoretisch zu werden pflegte, wo dies vermeidbar war, sondern praktischen Lebensfragen den Vorzug gab.

L ITERATUR Dowe, Dieter (1970): Aktion und Organisation. Arbeiterbewegung, sozialistische und kommunistische Bewegung in der preußischen Rheinprovinz 1820–1852, Hannover: Verlag für Literatur und Zeitgeschehen (= Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, 78). Engels, Friedrich (1844): »Rascher Fortschritt des Kommunismus in Deutschland. Teil I«, in: The New Moral World, 25, 13.12.1844 (abgedruckt in und zit. nach: Marx, Karl/Engels, Friedrich [1957]: Werke, Bd. 2, Berlin: Dietz, S. 509-513). Fontane, Theodor (1853): Realismus, teilweise abgedruckt und zit. nach: Plumpe, Theodor ([1985] 2005) (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart: Reclam, S. 140148. Förster, Ernst (1899): Geschichte der deutschen Kunst, Bd. V, Leipzig: Weigel (= Das deutsche Volk, dargestellt in Vergangenheit und Gegenwart, XXIV).

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Gurlitt, Cornelius (1899): Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts. Ihre Ziele und Thaten, Berlin: Bondi (= Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung, 2). Hagen, August (1857): Die deutsche Kunst in unserem Jahrhundert. Eine Reihe von Vorlesungen mit erläuternden Beischriften, Bd. 2, Berlin: Schindler. Happe-Nolden, Barbara (1983): Moses Hess – Der »wahre Sozialismus« als Philosophie der Tat, Köln: dme (= Kölner Texte Wissenschaft, 3). Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.) (1988): Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1917, Berlin: Dietz. Kinkel, Gottfried (Hg.) (1847): Vom Rhein. Leben, Kunst und Dichtung, Essen: Bädeker. Kroneberg, Lutz/Schloesser, Rolf (1979): Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur, Köln: Leske. Kossak, Ernst (1846): Die Berliner Kunst-Ausstellung im Jahre 1846 erläutert von L. Ernst Kossak. Illustriert von Wilhelm Scholz, Berlin: Hofmann. Kugler, Franz (1854): Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte, Dritter Theil: Kleine Schriften über neuere Kunst und deren Angelegenheiten, Stuttgart: Ebner & Seubert. Landes, Lilian (2008): Carl Wilhelm Hübner (1814–1879). Genre und Zeitgeschichte im deutschen Vormärz. München: Deutscher Kunstverlag. Landes, Lilian (2009): »Literarische Vorlagen sozialthematischer Malerei in Deutschland im deutschen Vor- und Nachmärz – am Beispiel Carl Wilhelm Hübners«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 36 (2009), S. 355-390. Müller von Königswinter, Wolfgang (1846): Bruderschaftslieder eines Rheinischen Poeten, Darmstadt: Leske. Müller von Königswinter, Wolfgang (1854): Düsseldorfer Künstler aus den letzten fünfundzwanzig Jahren. Kunstgeschichtliche Briefe, Leipzig: Weigel. Püttmann, Hermann (Hg.) (1845): Deutsches Bürgerbuch für 1845, Darmstadt: Leske. Roer, Walther (1933): Die soziale Bewegung vor der deutschen Revolution 1848 im Spiegel der zeitgenössischen politischen Lyrik,

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Münster: Helios (= Universitas-Archiv; Literarhistorische Abteilung, 3). Rothe, Friedrich (31973): »Klassenpositionen fortschrittlicher Maler im Vormärz. Kommentar zu Werken von Rethel, Menzel, Hübner und Hasenclever«, in: Kunst der bürgerlichen Revolution von 1830 bis 1848/49. Zusammengestellt und hg. aus Anlass der Ausstellung im Schloss Charlottenburg, Berlin 1972/1973, Berlin: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, S. 144-150. Ruppius, Otto (1862): Aus dem deutschen Volksleben, Bd. 1, Berlin. Schaarschmidt, Friedrich (1902): Zur Geschichte der Düsseldorfer Kunst, insbesondere im XIX. Jahrhundert, Düsseldorf: Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen.

ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Rheinisches Landesmuseum Bonn. – Abb. 2: Kossak 1846: [o.S.]. – Abb. 3: Düsseldorf, museum kunst palast. – Abb. 4: Kinkel 1847: Vorwort »Zu den Bildern«, [o.S.]. – Abb. 5 und 6: Archiv der Autorin.

Die soziale Aneignung des Ästhetischen Zur Denkmalkultur am Beispiel des Weimarer Doppelstandbilds M ARIA Z ENS

Aus der Fülle des ›denkmalbegeisterten‹ 19. Jahrhunderts ragt das von Ernst Rietschel geschaffene Weimarer Doppelstandbild Goethes und Schillers heraus. Nicht nur ist es zur selbstverständlichen Illustration der nationalen Literaturgeschichte avanciert, seine vielfache Reproduktion hat emblematischen Charakter: es ist zur festen Bildvorstellung von Goethe und Schiller geworden und zur Ikone der Literatur überhaupt. Über diese Funktion der Literaturrepräsentation hinaus gilt es als exemplarische Manifestation des Mediums, als »Das Denkmal« (1993) schlechthin. Die Funktion eines Denkmals – Erinnerung und Sinnstiftung möglichst für die Ewigkeit – scheint also in einem solchen Monument, das Zeitläufte und Systeme, Fürst, Kaiserreich, Republik, zwei Diktaturen und die Vereinigung zweier Deutschlands überstanden hat, ohne seine sozialintegrative Kraft einzubüßen, beispielhaft eingelöst. Das Medium Denkmal hebt – scheinbar paradox – seine eigene Funktion auf, denn im erfolgreichen Produkt geschichtlicher Bewusstwerdung scheint eins getilgt: die Geschichtlichkeit (zu den ›Orten der Erinnerung‹ vgl. auch François/Schulze 2005). Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, wie eminent historisch das Objekt sowohl ästhetikgeschichtlich wie auch soziokulturell ist: es entsteht an der Schnittstelle von repräsentativer und bürgerlicher Öffentlichkeit, aus der Konkurrenz idealistischer und realistischer Kunstprogrammatik und wird zum

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anschaulichsten Baustein der ›Klassiklegende‹ (vgl. Grimm/Hermand 1971). Dabei ist nicht nur wichtig, wer dargestellt wird, sondern natürlich auch wie. Seine nachhaltige Prägekraft bewies das Doppelstandbild für das synthetische Bild von den Dichtern als ›Dioskuren‹, deren ästhetische, politische und ethische Differenz im alles überwölbenden ›Freundschaftsbund‹ aufgehoben sei. In der komplexen und durchaus widersprüchlichen historischen Situation, in die es 1857 gestellt wird, ist das Denkmal ein sozial und ästhetisch polyvalentes Zeichen, anderthalb Jahrhunderte später ist es zum einsinnigen Etikett verdichtet. Im Folgenden soll aus der Perspektive einer historisch informierten Kultursoziologie auf das Weimarer Doppelstandbild geschaut werden, die zeigen kann, welche Strategien der Ästhetisierung des Sozialen wirksam werden und wie die soziale Aneignung des Ästhetischen verläuft. Konkret gefragt wird, wie sich das Denkmal im sozialen Raum positionieren lässt, welche politischen Vorstellungen damit verknüpft sind und wie es sich in den Formationsprozess einer deutschen ›Kulturnation‹ eingliedert, welche Bedeutung die Typisierung Goethes und Schillers als untrennbares Dichterdoppel hat und warum die zeitgebundene Charakterisierung als ›Freundschaftsbund‹ sich durchsetzt. Betrachtet wird auch, wie sich das Denkmal im ästhetischen Feld positioniert, welche Aussagen mit den künstlerischen Entscheidungen zu Material und Darstellung getroffen werden und wie diese mit den politisch-strategisch und sozialethischen Bedeutungszuweisungen in Zusammenhang (und Konflikt) stehen. Abschließend sollen die Effekte der stillstellenden »Denkmalspose« und popularisierenden Vervielfältigungen gezeigt werden. Die wichtigsten technischen Angaben sind schnell zusammengefasst (vgl. Rietschel 1908; Das Denkmal 1993; Zehm 1995; Beyer 2005): Die Pläne für das 1857 enthüllte Denkmal reichen bis in die 1830er Jahre zurück. Die Konzeption wird von einer öffentlichen Debatte begleitet. Modelle werden ausgestellt und in Zeitschriften abgebildet. Enthüllt wird das Denkmal am 4. September 1857, es steht auf dem Vorplatz des Theaters in Weimar. Die Höhe der Gruppe beträgt 3,21 m; der Sockel misst 2,59 m. Der Entwurf stammt vom Bildhauer Ernst Rietschel. Das Material ist Bronze, die durch Ludwig von Bayern gestiftet wurde, den Guss besorgte Ferdinand von Miller in der Königlichen Erzgießerei in München. Der Sockel besteht aus württembergischen Granit, gestiftet durch den Herzog von Baden. Darge-

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stellt sind Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, beide zum Zeitpunkt der Enthüllung tot; der eine seit 25, der andere seit 52 Jahren.

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Seine Funktion erhält das Denkmal erst im sozialen Raum (vgl. Tacke 1995; Alings 1996; Menkovic 1999), oder wie der Historiker Thomas Nipperdey es formuliert hat: »Das Denkmal ist mehr als es selbst; was dargestellt wird, steht nicht für sich selbst, sondern repräsentiert etwas, und zwar so, daß Repräsentierendes und Repräsentiertes nicht identisch sind. […] es hat formal eine sich selbst transzendierende Struktur« (Nipperdey 1968: 537f.) oder, anders ausgedrückt, eine doppelte, symbolische Zeichenstruktur. Damit wird vor allem das ›erfolgreiche‹ Denkmal, an dem sich Kontroversen entwickeln und verschiedene Deutungen kristallisieren, vom künstlerischen Ereignis zum Thema der historischen Sozial- und Kulturwissenschaften. Für die Betrachtung der Weimarer Gruppe heißt das auch: Im populären Denkmal der Literatur ist der gesellschaftlich relevante Literaturbegriff visualisiert. Wessen Denkmal? Im gesellschaftlichen Prozess ist das Denkmal polyfunktional. Geplant und erstellt wird es als nicht-nationales Repräsentativdenkmal eines Territorialfürsten, Bedeutung gewinnt es vor allem als Konzentrationspunkt einer sich als Nukleus der Bildungsnation verstehenden bürgerlichen kulturellen Elite. Wie die Kulturnation im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts den vakanten Platz der Staatsnation besetzt, so kann ein solches Monument nur in Ermangelung politischer Alternativen zum Nationaldenkmal werden. ›Kultur‹ und ›Bildung‹ im Nenner der Nation weisen auf die Absenz eines staatlichen wie zivilgesellschaftlichen Zentrums. Die imaginierte Kulturnation als Projektionsraum unterschiedlicher Politik- und Gesellschaftsentwürfe bildet deshalb den Deutungs- und Rezeptionshorizont des Weimarer Denkmals. Diese Momente von Repräsentation – der herrschenden Dynastie des Territorialfürstentums – und Identifikation – des Bürgertums mit

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kulturellen Werten, der Nation mit einheitsstiftender Größe – prägen beide unterschiedliche Wahrnehmungen (vgl. Alings 1996: 33). Das vom Fürsten initiierte und vom Bildungs- und Kleinbürgertum adaptierte Denkmal markiert somit eine Schnittstelle von repräsentativer Öffentlichkeit und bürgerlicher Öffentlichkeit. Gerade die Tatsache, dass Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, Intention und Rezeption nicht deckungsgleich sind, zeigt die symbolische Valenz der öffentlichen Darstellung nationaler Hochkultur. Dass es zu dieser Überlappung mit ihren entsprechenden Versuchen, die Deutung für die jeweils eigene Position zu reservieren, kommen kann, liegt u.a. an der funktionalen Freiheit von Kunst und Literatur und daran, dass diese zumindest vom Anspruch her kollektives Eigentum sind. So wie die Literatur ein freies Gut ist, so können sich sowohl Fürst als auch Bürgertum auf ihre im Denkmal eingefangenen Exponenten beziehen. Das Denkmal des Fürsten Denkmäler sind Auftragskunst. Zunächst ist das Goethe-SchillerDenkmal ein Projekt Carl Alexanders, des Großherzogs von SachsenWeimar-Eisenach, und nur ein Element im Panorama kulturpolitischer und -mäzenatischer Unternehmungen. Als Enkel Carl Augusts sieht Carl Alexander sich in doppelter Hinsicht als Erbe der Klassik; Weimar soll kulturelles Zentrum in der Tradition des »Musenhofs« (vgl. Ulbricht 2007; Pöthe 2004; Fallbacher 1992) bleiben – auch bei knappen Ressourcen. Carl Alexanders diesbezügliches Engagement ruht auf zwei Säulen: eine ist die mäzenatische Förderung der Künste im Weimar der Gegenwart, die zweite ist die Pflege des Andenkens an die Weimarer Klassik. Neben dem Ausbau des Hoftheaters, das zeitweise von Franz Dingelstedt geleitet wird, übernimmt der Großherzog die Patronage über die Schillerstiftung, richtet die Shakespeare-Woche aus, zu der namhafte Schriftsteller und Wissenschaftler nach Weimar kommen, und hält regen Kontakt zu zeitgenössischen Schriftstellern. Berühmte Dichter und Musiker – Franz Liszt ist in den 1850er Jahren Hofkapellmeister in Weimar und berät Carl Alexander – und auch Schauspieler nach Weimar zu ziehen und dort zu halten, gehört zum Programm des jungen Großherzogs. Aus der Tradition der Klassik soll eine Legitimität für die Gegenwart geschöpft werden, die über die aktuelle politische und wirtschaft-

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liche Bedeutung des Herzogtums hinausgeht. Im Zentrum steht dabei das Gedenken an die Verbindung von Fürst und Dichter, von Carl August und Goethe. Die Klassikverehrung in Weimar setzt daher Goethe an die erste Stelle (vor Wieland, Herder, Schiller), nicht aus ästhetischen Erwägungen, sondern weil Goethe im politischen Feld den höchsten Gewinn an symbolischer Legitimität verspricht: er war der ›ministrable‹ unter den Dichtern. Das Denkmal wird in diesen Kontext eingepasst. Die Enthüllung ist feierlich verbunden mit der Grundsteinlegung für eine Carl AugustStatue, dem eigentlichen Anlass der Weimarer ›Septemberfeiern‹ des Jahres 1857 (vgl. hierzu Selbmann 1988: 89f.; Schade 1858: passim). Die Zeremonie ist repräsentativ, fast militärisch-streng, der Saum der Denkmalhülle trägt die großherzoglichen Landesfarben. Das Fest ist dreigeteilt: Enthüllung der Denkmäler, Grundsteinlegung für das Carl August-Denkmal und Wartburgfest finden an drei aufeinanderfolgenden Tagen statt. Die Feiertage koppeln so zwar die Würdigung der Dichter, die Würdigung der Dynastie, die Würdigung des Nationalgedankens zusammen, aber keineswegs im Sinne eines alles überformenden kulturnationalen Gedankens, vielmehr sollen die kulturpolitischen Leistungen symbolisch der Dynastie zugutekommen. Die Pflege des Andenkens der Weimarer Klassik und die Vorreiterrolle sind wichtig in einer Zeit, in der die alte Ordnung wiederhergestellt ist, der politische Vorstoß der Revolution aber nur um den Preis preußischer Vormacht zurückgedrängt werden konnte. Der Dualismus zwischen Preußen und Österreich ist die bestimmende politische Konfiguration, in der die Bedeutung der Mittelstaaten aufgerieben wird. Mit dem Anspruch, kulturelles Zentrum zu sein, begibt sich das liberale Weimar allerdings in direkte Konkurrenz zu Bayern, das sich – obwohl ökonomisch ungleich potenter – ebenfalls in die Bedeutungslosigkeit abgleiten sieht, und auf eine ambitionierte Kulturpolitik setzt. Wenn Weimar die einzigartige Bildungsikone Abb. 1: Goethe-Schiller-Denkmal.

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für sich zu reservieren droht, muss das Bayern interessieren. Wie wird diese Situation aufgelöst? Durch Beteiligung: das Denkmalprojekt steht unter Finanzierungsdruck, und München ›hilft‹: Der abgedankte König Ludwig findet sich 1852 durch Vermittlung des Kunsthistorikers Ernst Förster bereit, das Erz für den Guss der Dichterdenkmäler (neben der Goethe-Schiller-Gruppe auch die Wieland-Statue) zu stiften – die Bronze der bei Navarino erbeuteten osmanischen Kanonen (vgl. Rietschel 1890/91: II, 389). Die Herkunft des Materials ist also nicht beliebig und wird auch entsprechend wahrgenommen: für die Dichter als philhellenischer Anknüpfungspunkt, für die Militärs als kriegerischer. Bei Thomas Raff findet sich eine Auflistung der in München aus dem Erz der Navarino-Kanonen gegossenen Statuen und auch der wichtige Hinweis, dass diese Materialherkunft bei den Figuren der Militärs eingegossen wird, bei den Dichtern nicht (Raff 2008: 152). München hilft, partizipiert dadurch und sichert sich Einfluss: der Guss geschieht in München, Ludwig nimmt rege an der Debatte über die Gestaltung des Denkmals teil. Von der nicht-nationalen Repräsentativkultur des Territorialfürsten zum Selbstverständnis des Bürgertum, das Kapital im Kulturellen akkumuliert, bedarf es nur eines Perspektivwechsels. Bürgertum und Kulturnation Als ›Bildungsdenkmal‹ hat das Standbild integrative Funktion: es soll in einem wesentlichen Aspekt – dem kulturellen ›Erbe‹ – das Gesamtprojekt nationaler Einheit symbolisieren, das als politisches vorerst gescheitert ist. Beispielhaft sei der Schriftsteller Berthold Auerbach angeführt, wichtiger und volksnaher Autor des Realismus, kein ›politischer Schriftsteller‹, für ihn ist die Denkmalenthüllung eine kollektive Feier der Nation: »Giebt es ein nationaleres Fest als das hier zu begehende, und mußte es nicht auch ein Nationalfest werden?« Goethe und Schiller repräsentieren für ihn den Gedanken der Einheit, der wie nichts anderes die Frage der Zeit sei: »Das ist ja der Drang nach Gemeinsamkeit, der unsere Zeit so schmerzlich bewegt und von dem wir doch nicht lassen können, nicht lassen dürfen.« Auerbachs Worte spielen auf die nachrevolutionäre Depression an und möchten die Einheitsforderung als ein Element des Nationalgedankens auch in der Zeit der Reaktion nicht in Vergessenheit sinken lassen. Er appelliert an die

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Kollektivität, die den einzelnen von »seinem Isolirschemel« reißen soll. Auerbach ist die vergemeinschaftende Funktion von kollektiver Symbolik und von Festritualen bewusst. Im Goethe-Schiller-Denkmal und seiner feierlichen Enthüllung sieht er einen solchen Festanlass, der »alle Volksgenossen einigen« könne: »Ist eine solche Verbröckelung in der Menschheit, daß sich keine Volksgenossenschaft mehr zusammenschließen mag zur Feier des Daseyns? Wir haben in unseren Tagen Zusammenkünfte zu den verschiedensten Zwecken und oft schließen sich heitre Feste daran. Warum soll es nicht möglich sein uns lediglich zu Festen zu versammeln, zur Feier nationaler Zusammengehörigkeit und nationalen Besitzthums?« (Alle Zitate: Auerbach 1857/58: 186-188) Aber: Sich unter einem Signum der Einheit versammelnde Bürger sind verdächtig. Das weiß auch Auerbach, er argumentiert für eine Versammlungsfreiheit, ohne politischen Durchsetzungsanspruch: indem er die ›Heiterkeit‹ und politische Zweckfreiheit eines solchen Fests betont. Die Brisanz selbst eines entschärften Begriffs von Kulturnation wird hier deutlich: wenn von einigender Feier und Versammlung die Rede ist, muss sofort Harmlosigkeit beschworen werden, die Nation wird im ideell Erreichten verankert – der gemeinsamen ›Kultur‹ –, der Eindruck, die Nation könne sich auf eine noch zu verwirklichende staatlich-institutionelle Einheit richten, vermieden. Der Vergemeinschaftungsappell bleibt anschlussfähig für liberale wie konservativ-quietistische Einheitsvorstellungen (zur Festkultur vgl. Düding/ Friedemann/Münch 1988). Auerbach nutzt die Gelegenheit aber auch, um seine Vorstellungen darüber, wie das Einheitsgefühl verbreitet und am Leben gehalten werden soll, mitzuteilen. Die Formen, die er im Weiteren nennt – das Lied als eingängige Erinnerungsmelodie, die Partizipation von Liedervereinen, das fliegende Blatt – sind verbindende Kommunikationsmittel, die in der liberaldemokratischen Bewegung vor 1848 wurzeln. Auch für Adolf Stahr, den einflussreichen Berliner Kritiker und Lessing-Biographen, steht die mythisierende Integrationsfunktion der Klassikverehrung an erster Stelle. In seinem Aufsatz »Goethe und Schiller in ihrer Bedeutung für das deutsche Geistesleben« von 1860 bezieht er sich auf das Weimarer Standbild: »Die ganze heutige deutsche Litteratur und Bildung, das deutsche Leben bis in seine feinsten Adern und Verzweigungen hinein, ist gar nicht zu denken, ohne

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die beiden Männer, deren erzene Kollosalbilder in der geweihten Stadt Weimar, dieser Geburtsstätte einer neuen deutschen Kulturepoche, von Rietschel’s Meisterhand geschaffen, die Dankbarkeit des deutschen Volkes seinen beiden Bannerträgern, seinen einzigen nationalen Herrschern aufgerichtet hat.« (Stahr 1872: 459f.)

Was das Weimarer Denkmal über das Gesagte hinaus zu einem Denkmal des Bürgertums macht, sind Diskussion und Deutung in eben dieser Öffentlichkeit. Das beginnt lange vor der Enthüllung, denn bereits der Prozess der Entstehung ist ein öffentlicher, die Entwürfe Rietschels werden Jahre vor der Enthüllung in allen wichtigen Blättern beschrieben und diskutiert. Die Schriftsstellerin Fanny Lewald beschreibt im März 1853 anschaulich die publizistische Präsenz des Denkmalentwurfs (Göhler 1932: I, 110). Das Goethe-Schiller-Denkmal visualisiert das Selbstverständnis des Bürgertums als einer Gruppe, die sich über ihr kulturelles Kapital definiert und in der Kulturnation einen politischen Fluchtpunkt sieht (vgl. Hardtwig 1993). Aber noch in anderer Hinsicht ist das Denkmal Sache des Bürgertums: qua Kunstwerk ist es Teil der ästhetischen Debatte, die die bürgerliche Bildungselite als ihre Domäne betrachtet. Die Grenze zwischen kunsthistorischem Fachdiskurs und den Erörterungen des interessierten Publikums ist dabei fließend. Dieser Zuständigkeitsanspruch gilt eben umso mehr, wenn nicht nur die Ausführung, sondern auch das Sujet als Kunst zu rubrizieren ist: ›Geistesgrößen‹ sind das ideelle Besitztum des Bildungsbürgertums, wenn Dichter und Denker in eine öffentliche Form gegossen werden, so geht das diejenigen an, die den Deutungskanon formulieren. Die Anteilnahme des Bildungsbürgertums ist diskursiv, zu seinem Denkmal wird die Goethe-Schiller-Gruppe in der Deutung und durch den Universalitätsanspruch des Bildungsgedankens. Daran lässt sich auch der Wandel nachzeichnen, den der Bildungsbegriff im 19. Jahrhundert erfährt: von der Vorstellung individueller Persönlichkeitsentfaltung zum Kollektivbesitz, vom Bürger zur Kulturnation. Der Freundschaftsbund und die Typisierung als Dichterdoppel In einer wichtigen Hinsicht erfüllt das Denkmal die Erwartungen der Zeitgenossen, ohne dass diese selbst das Ausmaß dieses Erfolgs bereits

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hätten abschätzen können: es schafft ein gültiges Bild der beiden Dichter. Das wichtigste Element ist die Darstellung als in Freundschaft (vgl. Böhler 1980; Böhler 1996) verbundenes Dichterdoppel, die notwendig die politischen und ästhetischen Divergenzen hintanstellt (vgl. Mandelkow 1980; Link 1983). Die gemeinsame Darstellung der beiden Dichter ist uns so selbstverständlich geworden, dass sie kaum mehr erwähnenswert scheint. Die gar nicht absurde Alternative, die bis weit in die mehrjährige Entstehungszeit auch für Weimar immer wieder ins Spiel gebracht wurde, nämlich die zwei bedeutendsten Schriftsteller in ihren Eigenheiten mit je einem einzelnen Standbild zu ehren, ist von der normativen Prägekraft des Doppels verdrängt worden. Damit hat die synthetische Goethe-Schiller-Vorstellung den Bildraum erobert und die der Polarität abgelöst (vgl. Mandelkow 1980: 135f.). Das Bild von den Dioskuren, den Zwillingen, vom Doppelstern, der Doppelsonne, dem Freundes-Duo prägt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unverändert das populäre Verständnis der Weimarer Klassik (hierzu z.B. Link 1983: 227 u. 231f.). Zwei neuere Beispiele zeigen die feste Kopplung im allgemeinen Sprachgebrauch: Die »Zeit« betitelt ein Interview mit Jürgen Safranski: »Die waren schon dicke miteinander«. Die Einleitungszeilen lauten: »Ihre Freundschaft mussten sich Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller erst erkämpfen. Als Duo waren sie dann unschlagbar. Ein Gespräch mit Rüdiger Safranski, der zum 250. Geburtstag von Schiller ein Buch über die berühmteste Dichterfreundschaft geschrieben hat.« (Die Zeit, 14. August 2009) Das Zeichen funktioniert auch umgekehrt: Im Wikipedia-Artikel »Freundschaft« illustriert eine Abbildung des Weimarer Goethe-Schiller-Denkmals den Begriff (Zugriff 4.11.2009): Wir finden hier ein mythisches Zeichen ganz im Sinne Roland Barthes (1957), das nicht in Frage gestellt wird und seine ideologische Struktur nicht mehr enthüllt. Der historische Literaturdiskurs sieht das Verhältnis GoetheSchiller zunächst ganz anders; es dominiert ein polarisierendes Gegeneinander, das erst in ein vergleichendes Nebeneinander übergeht, bevor ein unzertrennliches Miteinander zur gängigen Auffassung wird. Diese Deutungsverschiebung hat eine zeitliche und eine räumliche Komponente. Sie vollzieht sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und ist vor allem an den Rändern des Literatursystems zu beobachten, wo es um die soziale Aneignung des Ästhetischen geht: in Festvorträgen, Feiern, didaktischer Literatur oder in der Illustration der

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Literaturgeschichte, im Weimarer Denkmal. »Freundschaft« ist aber mehr, denn »zusammen« heißt ja nicht notwendig »befreundet« – das Insistieren auf der Verbundenheit in einer innigen Sozialbeziehung addiert eine sozialethische Komponente, die ein normatives Anliegen der nachmärzlichen Gesellschaft ist. Das genieästhetische Modell wird durch den Freundschaftsbund ins Soziale gewendet, um eine ›menschliche‹ Komponente angereichert. Mit Rietschels Denkmal erhält diese Auffassung einen Bildbeweis, und die Bürgergesellschaft erhält ein Vorbild. Wie stark dies interpretatorische Engführung bereits bei den Zeitgenossen ist, zeigt der bereits zitierte dreiteilige Artikel Berthold Auerbachs im »Morgenblatt für gebildete Leser« bzw. der »Allgemeinen Zeitung«. Diese Publikationsorgane sind nicht nur hinsichtlich ihrer Verbreitung und ihres Ansehens von Bedeutung, sondern auch mit Blick auf ihren Verleger Cotta, der als Inhaber des Klassiker-Privilegs auch ein ökonomisches Interesse an der Glorifizierung Goethes und Schillers hatte. Auerbachs Beiträge streichen das Gültige des nun geschaffenen Bildes heraus – interessanterweise nicht am Schluss der Betrachtung, als Fazit und Bewertung, sondern zu Beginn als Einstimmung des Lesers: »Durch die Doppelstatue Ernst Rietschels […] gelangt jene unzertrennliche Verbindung im Wort und in der Erinnerung plastisch schaubar zum vollendeten Ausdruck.« Weiter unten heißt es: »In der Zweiheit durch Liebe und Freundschaft sich eins fühlen, das ist ein Begriff, den die tiefste Regung des Volksgeistes in der Sprache ausprägte. Selbst zu sein, für sich zu sein, und doch in und mit dem Andern sich selbst zu fühlen – giebt es ein bezeichnenderes Wort dafür als ›selbander‹? Und so ist diese Doppelstatue zugleich der vollendete Ausdruck dafür aus der höchsten Höhe des Geistes und in der unergründlichen Tiefe des Herzens. Es ist tiefstes Beisammensein, und doch hat Keiner den Blick auf den Andern gerichtet; sie schauen in die Welt hinein, Jeder nach seiner Weise, und Jeder hat den Andern still, treu und sicher in sich – sie sind selbander.« (Auerbach 1857/58: 163, 177)

Die Reduktion auf diesen Aspekt der ›Einheit in Freundschaft‹ reduziert die Repräsentation der Dichter auf ein ethisches Programm, zugleich erhält auch der politisch brisante Begriff der Einheit eine harmonisierende Wendung zur Innerlichkeit. An die Stelle der verfassten

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politischen Einheit, nach der die liberalen Kräfte streben, kann eine gefühlte kulturnationale treten. Bereits 1844 erscheint Heinrich Laubes Aufsatz »Schiller und Goethe nebeneinander« in der »Zeitung für die elegante Welt«. Der Text betreibt argumentative Arbeit am Freundschaftsmythos, um damit der vorherrschenden kontrastierenden Sicht auf die beiden Schriftsteller eine andere entgegenzustellen. »Der Sprachgebrauch hat es bei uns eingeführt, zwei Dichternamen stets nebeneinander zu nennen, als ob diese Dichter Zwillinge seien. Die Namen Schiller und Goethe« heißt es zu Beginn, um – etwas tautologisch – zu schließen: »Wer solche Freundschaft nicht erkennen mag, für den ist solche Freundschaft nicht vorhanden.« (Laube 1844: 770, 779) Im bearbeiteten Wiederabdruck in der Gesamtausgabe, die Anfang des 20. Jahrhunderts erscheint, hat der Text den Titel »Die großen Freunde«. Die Verfestigung der Doppelsicht ist bereits 1859 anläßlich der Feiern zu Schillers hundertstem Geburtstag auf breiter Basis zu beobachten. So wie Jürgen Safranski zum zweihundertsten ein Buch über Schiller und Goethe vorlegt, wird auch hundert Jahre zuvor beiden gemeinsam gehuldigt. Man spricht vom »Zwiegestirn«, den »Dioskuren« (viele Belege finden sich im Schiller-Denkmal 1860), und Paul Heyse dichtet (Heyse 1859/1974: 268): »Wohl! Preist den Dichter um die Wundergaben, Die sein erlauchter Geist zu Lohn empfing, Zu Allem sollt’ er noch das Eine haben, Daß er nicht einsam seine Bahnen ging, Daß neben ihm vertraulich Hand in Hand, Sein Zwillingsgenius, sein Goethe stand. «

Die Betonung der Freundschaft kann durchaus als Parallele zur Literaturdebatte gesehen werden, in der eine Verschiebung stattfindet von der litterature engagée des Vormärz zur sozialethischen Wirkungsästhetik des Realismus, in der Versöhnung und die Ausfaltung sozialer Konformität wichtig sind. Das gezeigte Dichterbild entspricht aber nicht der Rezeption von Goethe und Schiller im Literatursystem selbst, die zeitgenössischen Schriftsteller – ›die Literaturprofis‹ – orientieren sich in der ästhetischen Debatte nach wie vor an der Unterschiedlichkeit der Texte und Formen. Auch die Literaturwissenschaft zeichnet ein differenziertes Bild: es geht um Literaturpolitik und das geschäftli-

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che »Commercium«, Jost Hermand verhandelt die Beziehung unter dem Titel »Eine strategisch kalkulierte Interessengemeinschaft?«, Michael Böhler sieht die Freundschaft als »literatursoziologisches Paradigma« und unternimmt Jahre später eine an Bourdieu orientierte Analyse des komplexen Tauschs innerhalb der Autorbeziehung, Karl Robert Mandelkows und Norbert Oellers’ Standardwerke verfolgen die Rezeptionsgeschichten beider Schriftsteller selbstverständlich getrennt und nach eigenen Maßstäben (Barner/Lämmert/Oellers 1984; Hermand 2006; Böhler 1980, 1996; Mandelkow 1980; Oellers 1976). An der Bildungsikone ›Goethe und Schiller‹ lassen sich so die unterschiedlichen Funktionen von literarischen Symbolen innerhalb und außerhalb des Literatursystems aufzeigen: werden Goethe und Schiller von Akteuren des Literatursystems unterschiedliche Qualitäten – und sogar Schwächen – attestiert, die relevant für die eigene Produktion oder die Bewertung der literarischen Texte anderer sind, so sind die ästhetischen und ideologischen Differenzen in der gesellschaftlichen Rezeption zugunsten eines einfachen Zeichens nivelliert.

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Rietschels Plastik ist Ausdruck eines realidealistischen Kunstverständnisses und Kristallisationspunkt eines solchen für die Betrachter. In der Diskussion der Frage, wie die großen Dichter adäquat darzustellen seien, greifen verschiedene Anforderungen ineinander. Zunächst die nach Porträtähnlichkeit: dabei ist zu beachten, dass die Vorstellungen von Goethe und Schiller bereits durch – idealisierende – Abbildungen geprägt worden sind; zum zweiten die Anforderung, das Verhältnis der beiden Dargestellten angemessen zu symbolisieren. Die Forderung nach historisch richtiger Darstellung steht der symbolisch gewollten entgegen: Schiller überragte Goethe im wirklichen Leben deutlich an Körpergröße, ihm im Rahmen des Doppelstandbilds die wesentlich größere Figur zuzugestehen kommt sowohl aus ästhetischen wie auch ideologischen Erwägungen nicht in Betracht. Der Frage nach der adäquaten Darstellung des konkreten Dichterdoppels vorgelagert ist die nach der angemessenen Darstellung des Dichters überhaupt: soll er als zeitgenössischer Held erscheinen oder als welt- und zeitenthobener Geistesarbeiter, wendet er sich zum Volk oder nimmt er den Betrach-

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ter gar nicht wahr, steht die Erinnerung an sein Werk im Vordergrund oder seine Bedeutung für das Gemeinwesen? Der Bildhauer Rietschel muss sich im Entstehungsprozess mit Ratschlägen und Forderungen verschiedener Gruppen auseinandersetzen: der Geldgeber – allen voran Ludwig –, der Experten – Künstler in Dresden und München –, der Öffentlichkeit, der Literaturkritik und der Kunstkritik. Wie Rietschel laviert und seine Vorstellungen im Wesentlichen durchsetzt – das zeigt Ursula Zehm in ihrem sehr gut illustrierten Überblick über Skizzen, Entwürfe, Modelle (Zehm 1993) – auch weil die Kritiken in ihrer Widersprüchlichkeit einander aufheben, lässt sich aus seinen Briefen an Rauch ablesen. Am 28. November 1856 schreibt er an Rauch: »Ich habe bei dieser Arbeit mich fast selbst verloren.« (Vgl. Rietschel 1890/91: II, 538) Die Position des Denkmals im durch normative Ästhetik, soziale Funktionszuweisung, kunstpraktische Probleme und symbolische Deutung beeinflussten ›Denkmalraum‹ lässt sich mit drei exemplarischen Punkten – Material, Kostüm und Kranz – bestimmen. Sie werden von den Akteuren, dem Umfeld, den Zeitgenossen bis in Einzelheiten kontrovers diskutiert, wobei immer wieder deutlich wird, wie ästhetische und außerästhetische Normen in Konflikt geraten, die Symbolpolitik auf die Gestaltung einwirkt. Das Material Das beginnt bei der Eingrenzung: für künstlerisch anspruchsvolle und bedeutende Arbeiten stehen eigentlich nur Erz und Marmor zur Auswahl, denn nur sie besitzen das – auch vom Materialwert gedeckte – Prestige, über das beispielsweise der Sandstein nicht verfügt. Wenn man Friedrich Theodor Vischers zeitgenössische Typologie der Materialien zu Rate zieht, gebührt dem Dichter eher Marmor – das Material des Idealen. Er nennt in seiner Ästhetik als die für hervorragende Kunstwerke zu bevorzugenden Materialien »das Erz und der leichter zu bearbeitende Stein von einfachem Farbenton, vor Allem aber der weiße Marmor; die ersteren eignen sich mehr für die Darstellung reell bestimmter Naturen, dieser für das reine Ideal.« (Vischer 1853: 371) Als Domäne des Erzes spezifiziert Vischer weiter »das stark Ausgesprochene, Härtere, Kühnere, zunächst also das Athletische, Heroische, überhaupt aber auf das realer Bestimmte, vom reinen Ideal durch spezifizirtere Existenz Abliegende, namentlich auf die monumentale

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Bildnißstatue und auf das Historische, soweit die Bildnerkunst es ergreifen kann« (Vischer 1853: 376). Metall steht für das Heroische und historisch Bedeutsame. Das erzene Standbild war deshalb auch in erster Linie Herrschern und Militärs vorbehalten. Mit dem Guss des Dichters in Erz wird materialiter der Anspruch der bürgerlichen Epoche reklamiert, sich eigene Heroen zu schaffen. Noch in anderer Hinsicht sind Material und Gussverfahren wichtig: der Metallguss hat Bedeutung als Akt der bürgerlichen Schöpfung – und als Akt der Selbstschöpfung einer gesellschaftlichen Gruppe. Das »Lied von der Glocke« ist im 19. Jahrhundert Schillers populärste Dichtung und wurde im Rahmen der Denkmals-Enthüllung feierlich mit lebenden Bildern und musikalischer Untermalung aufgeführt. Unabhängig von kunstpraktischen und -theoretischen Erwägungen, die sich mit dem Material verbinden, ist Metall der Werkstoff der Moderne, der Eisenguss Ausgangspunkt der Schwerindustrie, welche die Grundlage für die wirtschaftliche Prosperität legt. Im Vergleich mit dem Marmor ist deshalb Bronze ein ›gegenwärtiges‹ Material. Die Körper Im Verlauf der öffentlichen Debatte um den Denkmalentwurf wird auch über Form, Größe und Haltung der Dichter-Körper gestritten. Es geht um Vergleich und Kolossalität: Wie stattlich muss der Dichter sein? Wie werden die Größenverhältnisse gestaltet? Zuvor ist eine wesentliche Entscheidung bereits getroffen worden, diejenige gegen eine Büste und für das Standbild. Sie fördert ein Problem zutage – welcher Körper soll es sein und was zieht er an –, und bedeutet von vornherein eine Einsortierung des Dichters in einen anderen, einen physisch-realen Denkmalkontext. Zwei Dekaden zuvor, anlässlich des Frankfurter Goethe-Denkmals, hatte Arthur Schopenhauer mit dem Argument, das Monument werde »der idealen Person […] nicht dem Menschen« errichtet, vehement für die Büste plädiert: »Männern von Genie […] als welche eigentlich nur mit dem Kopfe der Menschheit gedient haben, gebührt bloß eine Büste, die Darstellung des Kopfes.« Im Gegensatz zu denjenigen, die mit Körpereinsatz (beispielsweise im Felde) gestritten hätten und deshalb im Standbild adäquat dargestellt seien. Mit dem Standbild sieht er Goethe zur »Zierpuppe der Stadt« degradiert, der Dichter sei kein Held und jeder Versuch, ihn als solchen darzustellen, müsse lächerlich en-

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den. (Brief an das Committee zur Errichtung des Göthischen Monuments, 5.5.1837; Schopenhauer 1978: 160). Eine andere, sinnlichere Auffassung hingegen findet sich fast zeitgleich bei den Autoren des langen Vormärz, deren »physiologisches Literaturverständnis« Martina Lauster herausgearbeitet hat (vgl. Lauster 2005). Die Abwehr des Körpers zeigt sich auch in anderen Anmerkungen zur Denkmalskunst, ohne dass sie sich immer so konsequent äußern müsste wie bei Schopenhauer. Der Kunsthistoriker Franz Kugler beispielsweise lässt den Körper zu, sieht ihn aber nur als »Unterbau und Träger des Kopfes, welcher die geistigen Organe zur Anschauung bringt«, und optiert mit diesem Argument für das antike Gewand (Kugler 1854: 724). Im zwanzigsten Jahrhundert bezieht sich Franz Schnabel kritisch auf die Ergebnisse solcher Positionen, wenn er im regelmäßigen Rückgriff auf das antike Kostüm nur »Normalpuppen« und damit ›Nichtkörper‹ erkennt (Schnabel 1970: 148). Als Beispiel für diese Musterbildung ist vom zeitgenössischen Kritiker Ferdinand Kürnberger die Gestaltung von Schillers Körper angeführt worden. War der historische Schiller dünn und langaufgeschossen, so zeigt die von Rietschel geschaffene Figur einen stattlichen Bürger. Der Bildhauer hatte für seine Entwürfe befreundete Schauspieler Modell stehen lassen, um die Stellung der Figuren zueinander, die Körperhaltungen usw. in Einklang zu bringen, und danach Skizzen angefertigt (vgl. Rietschel 1880: 304). Kürnberger beklagt, dass von der gerühmten Porträtähnlichkeit bei der Ausführung der Körper keine Rede sein könne, und dieses Beispiel Schule machen werde: »Rietschel nahm den Körper von – Niemann und setzte den Kopf von Schiller darauf! Gewarnt von Thorwaldsen, der noch so ehrlich war, ein bischen den Schiller zu gießen, d. h. die geknickte Haltung des ›verworrenen‹ Urbildes, werden die übrigen Schiller-Plastiker überhaupt keine Schiller-Statue mehr setzen, sondern unter die Porträtbüste Schiller’s ein paar Centner Erz einschieben, welche den Niemann, den Toldy Janos, kurz irgendeine beliebige Reckenund Hünengestalt darstellen.« (Kürnberger 1877: 351)

Hier führt die Vervielfältigung des Teils zu immer größerer Distanz vom »Urbild«. Der einmal als Heros Dargestellte werde seinen Heldenkörper nun nicht mehr loswerden. Kürnbergers Kritik geht dabei keineswegs von der Forderung einer naturalistischen Darstellung aus,

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der nicht geschönte Körper wäre ihm jedoch in seiner Symbolik Ausdruck der wirklichen Existenz des Dichters: »Nichts ergreifender als ein solches ›Bild des Gekreuzigten‹, wenn man dabei – Schiller heißt! Dieser Sieg des unsterblichen Geistes über die gebrechliche Materie, dieser Spittelmann mit den Riesengedanken und Herkules-Arbeiten hätte die Vorübergehenden ehrfurchtsvoller durchschauert, als der Toldy Janos mit dem Schiller-Kopf, als der Schillergeist, der in den Schiller-Körper hineingegossen wird und ihn auf aftergriechisch runden und füllen muß – wie man in Straßburg und Pommern das Geflügel plastisch idealisirt.« (Kürnberger 1877: 359)

Für Kürnberger bestünde die künstlerische Ehrlichkeit darin, den Widerspruch von intellektueller Leistung und bedrängter Existenz gelten zu lassen – als Bedingung der Schillerschen Kunst und auch als Mahnung. Den Dichter nachträglich zum saturierten Helden zu »runden« ist für ihn ein weiterer Beweis für die Selbstgefälligkeit der Denkmalsetzenden, die auf diese Weise mit sich und ihrem Dichter zufrieden sein können, weil er es augenscheinlich auch hat sein können. Die Perpetuierung dieser Art des ›Bild-Betrugs‹ in immer weiteren Abbildungen und Nachahmungen attestiert schließlich dem Ausgangshünen Wahrheit. Wie erfolgreich das Weimarer Denkmal in dieser Hinsicht bis in unsere Zeit ist, zeigt die kunsthistorische Einschätzung aus dem Jahr 1993, Rietschel habe vermocht, »klare Vorstellung vom Aussehen der beiden großen Dichter und von ihrer Individualität zu vermitteln« (Zehm 1993: 127). Das Kostüm Die Kostümfrage dreht sich um die grundsätzliche Entscheidung, ob die Dichter antik oder modern, d.h. im Chiton oder Hof- bzw. Bürgerrock dargestellt werden sollen. Was passt? Das Aptum, den künstlerischen Standard der Gewandung, führt wieder Vischer aus: »Für rein ideale Gestalten ist die absolute Gewandung, wie sie das classische Alterthum geschaffen, jederzeit ebenso unentbehrlich wie das griechische Profil; wäre sie aber die einzige, so wäre dadurch den neueren Völkern, die vorzüglich auf das, obwohl beschränkte, Gebiet individuell historischer Darstellungen gewiesen sind, fast aller Boden weggezogen. Es mögen auch individu-

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elle Gestalten […] im classischen Gewand erscheinen […] wie z.B. große Dichter; denn dieses Gewand hat beinahe aufgehört, das einer bestimmten Zeit zu sein, es ist ebensosehr ein reiner Typus, allgemein menschlich, ideal geworden, als es historisch ist, und wen wir ›classisch‹ nennen, der mag es im Monumente tragen.« (Vischer 1853: 423)

Also wohl auch für die größten Dichter? Vischer zieht diesen Schluss und verwirft ihn wieder – mit dem Verweis auf Rietschels Doppelstandbild und dessen projektierten Standort: »Interessant ist besonders die Debatte über die Göthe- und Schiller-Gruppe, die für Weimar bestimmt ist. Beide Persönlichkeiten würden sich nach der obigen Bemerkung für die ideale Tracht eignen, aber dann müßte die Gruppe von den idealen Kunstformen eines Theaters, eines kleinen Tempels umschlossen sein; zwischen den deutschen Häusern, in der vertrauten nordischen Umgebung wollen wir unsere heimischen Dichter in lebenswahrer Culturform sehen« (Vischer 1853: 423).

Vischers Äußerung ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil er – angeregt von der öffentlichen Debatte – ein work in progress kommentiert. Der Teilband der »Aesthetik«, aus dem das Zitat stammt, erscheint 1853, bis zur Enthüllung von Rietschels Denkmal werden also noch vier Jahre vergehen, bekannt sind bisher lediglich Entwürfe und Modelle, die allerdings eine ausgreifende Diskussion initiieren. Mit dem aktuellen Bezug in der systematischen Abhandlung ist angedeutet, wie das neue Denkmal mit seiner Funktion die Systematik des Kunstschönen durchkreuzt: was in seinem eigentlichen System richtig wäre, wird mit Blick auf die konkrete soziale Funktion des Kunstwerks verworfen. Rietschel selbst konzediert die »Dissonanz«, die das moderne Gewand hervorrufe, zieht es dem Distanz schaffenden jedoch vor (Brief an Rauch, 22.3.1853; Rietschel 1890/91: 607). Nur im Rückgriff auf die ästhetischen und gesellschaftsbezogenen Symbolsysteme läßt sich die bis in Details (Darf Schiller eine nachlässig – ›genialisch‹ – geknöpfte Weste tragen? Kann – soll – der eine Dichter »höher« gekleidet sein als der andere?) fortgesetzte Diskussion um die Kleiderordnung rekonstruieren. An einem solchen Punkt erweist sich auch der Erklärungsnotstand einer nur formgeschichtlich orientierten Kunstgeschichte, die sowohl die soziale Funktion des Denkmals wie auch den Reflex auf die zeit-

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genössischen Ästhetikdebatten ausblendet. Dann ist selbst bei materialreicher Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte »nicht mehr leicht nachzuvollziehen, weshalb über das Kostüm bei Denkmälern überhaupt so lang gestritten wurde«. Als entproblematisierender Hinweis gelten ihr die vorgängigen Beispiele modern gewandeter Statuen: »Seltsamerweise wurden jedoch bereits in dieser Zeit Personen früherer Jahrhunderte selbstverständlich in der historischen Kleidung dargestellt (Gutenberg, Dürer).« (Zehm 1993: 107f.) Dabei wird die Bedeutung gerade dieser Vorgänger für die Konstitution des bürgerlichen Geschichts- und Selbstbilds übersehen: weder ist es ›seltsam‹, dass Gutenberg und Dürer im historischen Gewand dargestellt wurden, noch wird ›selbstverständlich‹ so verfahren: beide sind zentrale Integrationsfiguren für das bürgerliche Selbstverständnis. Dürer gilt als Begründer der modernen deutschen Malerei, Gutenberg ist derjenige, der mit seiner Erfindung die Konstitution einer gelehrten und einer bürgerlichen Öffentlichkeit erst möglich macht (zu Gutenberg vgl. Steen 1988). In genau diesen Aneignungskontext rückt das moderne Gewand Goethe und Schiller. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass der Bruch mit der ästhetischen Regel außerästhetisch motiviert ist, und dass der Bezug hergestellt wird zu den je aktuellen Diskussionen über die Stellung der Kunst zur geschichtlichen Gegenwart und zur Wirklichkeit. Der Lorbeer Der Lorbeerkranz zwischen Goethe und Schiller spielte bereits in den Entwürfen Rauchs eine Rolle, und Rietschel hatte dieses Element seines Lehrers übernommen. Für den Künstler selbst stand schon früh die dann auch verwirklichte Variante fest, die Diskussion des veröffentlichten Entwurfs kritisiert aber gerade den Lorbeer in vielfältiger Hinsicht. Was sollte gegen die poetae laureati sprechen? Vorgebracht wird u.a. das Argument der ›Stilreinheit‹: der Lorbeerkranz sei ein Fremdkörper in der realistischen Gruppe, er passe nicht zum modernen Gewand. Zum anderen wird das szenische Moment, das durch Halten des Kranzes und Greifen danach entsteht, abgelehnt. Neben diese i.e.S. ästhetische Lorbeerkritik tritt eine, die in erster Linie die Allokation des Ruhms in den Blick nimmt. Diese letztere dominiert und fragt danach, wieviele Kränze wem wie zugeordnet sind.

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Eine kleine Sammlung der Äußerungen zum Kranz zeigt, wie sich das Interesse auf dieses eine Insignium des Ruhms konzentriert. König Ludwig fordert: »entweder sollen beide Dichter ohne; oder jeder mit einem Lorbeerkranze dargestellt werden.« (zit. n. Rietschel 1908: 103) Ludwig beharrt am Ende nicht auf diesem Punkt; es ist jedoch belegt, dass der Künstler bis zuletzt über sein Urteil ob des einen Kranzes in Sorge war. Rietschel selbst berichtet Devrient über die widersprüchlichen Kranz- und Rockdebatten: »Sonderbar! Hier [Dresden] war alles einverstanden mit Kranz und Röcken, in Weimar mehr gegen den Kranz, in München gegen die Röcke. Ich glaube, die Mitte ist Kranz und Rock, wie es ist.« (Brief vom 25.3.1853, Rietschel 1880: 307) Der bereits mehrfach zitierte Berthold Auerbach nimmt die Debatte rhetorisch auf und scheint vordergründig im Kranz einen Fremdkörper zu sehen: »Und der Kranz, den beide Dichter halten und fassen? Er erscheint als das besonders Auffällige […] jetzt erscheint er neben der realistischen Fassung als künstlerische und künstliche fremde Zuthat.« Allerdings nur, um diesen Eindruck sogleich wieder zu verwischen und dem Betrachter die symbolische Bedeutung klar zu machen: »der Kranz ist also, wenn man so sagen kann das plastische Wort für Dichterruhm, und dieses plastische Wort ist kein Fremdwort, sondern eingebürgert bei uns.« (Auerbach 1857/58: 174-176) Auerbach stellt also die Einbürgerung des Lorbeers ins Zentrum, den Kernpunkt des Kranzstreits spricht er aber erst an, wenn er ausdrücklich darauf besteht, dass beide Dichter den Kranz »halten und fassen«, was die meisten Betrachter anders sehen. Die dargestellte Situation – Goethe berührt den Lorbeerkranz, Schillers rechte Hand befindet sich in unmittelbarer Nähe, berührt ihn aber nicht – ist offen für Interpretation: Goethe hält den Kranz, aber was bedeutet Schillers Geste? Berührt er ihn flüchtig, greift er danach (erfolgreich oder vergebens), interessiert ihn das Zeichen weltlichen Ruhms gar nicht (wie der leicht abgewandte Blick andeuten mag), hält Goethe den Kranz fest in seiner Hand, reicht er ihn Schiller, damit sie ihn gemeinsam halten, überreicht er ihn Schiller? Anton Springer, einer der bekanntesten zeitgenössischen Kunsthistoriker, verwirft den Kranz aus diesem Grund gänzlich und kompromisslos: »[Das Kranzmotiv] entbehrt aller Klarheit: Wollen die Dichterfürsten den Kranz theilen? – soll er von Einem zum Andern übergehen? […] Und dann gehört der Kranz auf den Kopf und nicht in die

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Hand, wo er gerade so sehr auf seinem Platze ist, wie ein Blumenstrauß auf dem Haupte.« (Springer 1856: 730). Aus dem ›äußerlichen‹ Zeichen des Lorbeerkranzes wird eine Hauptsache. Die öffentlich ausgetragene Kontroverse, die nichts anderes zum Hintergrund hat als die Frage, wer von beiden der bessere Dichter ist, zeigt zwei Dinge: zum einen scheint es in keiner Weise fragwürdig, Literatur nach dem Leistungsprinzip zu katalogisieren, zum zweiten gerät man dadurch in Schwierigkeiten. Der Lorbeer ist Teil zweier Deutungssysteme, eines ästhetischen und eines lebensweltlichen. Im einen ist der Kranz unteilbares Symbol des ungeteilten Ruhms, im zweiten wird ›Ruhm‹ zählbar und damit Objekt einer ökonomischen Sichtweise, in der auch gesellschaftliche Anerkennung als Nullsummenspiel verstanden wird. In dieser an der modernen, ökonomisch durchdrungenen Erfahrungswirklichkeit geschärften Perspektive ist es undenkbar, dass der eine, das, was er hat, dem anderen nicht wegnimmt, ihm nicht weggenommen hat oder vorenthält. Wenn sich das auf ein immaterielles Gut wie den dichterischen Ruhm überträgt, spiegelt das den doppelten Charakter des wichtigsten immateriellen Besitzes, den das Bürgertum vorzuweisen hat, des sozialen Kapitals der Bildung, Bildung ist gleichzeitig teilbares Wissen und spezifischer Besitz und damit Mittel der sozialen Segregation. In der Wahrnehmung des Denkmals kommen bürgerliche Leistungsethik und Freundschaftsideal einander in die Quere; insofern ist die Diskussion um den Kranz auch weniger kleinlich, als sie auf den ersten Blick scheinen mag – sie ist vielmehr symptomatisch für eine Gesellschaft, deren partiell gewonnene Durchlässigkeit soziale Anerkennung zu einem hart umkämpften Gut macht. Ein Gerangel der Freunde um den Kranz entsteht im Auge des Betrachters.

E FFEKTE DER P LASTIFIZIERUNG UND V ERVIELFÄLTIGUNG Mit seiner Goethe-Schiller-Gruppe prägt Rietschel nicht nur eine Deutung und deren ästhetische Darstellungsmittel, sondern auch eine Sehweise, einen Kriterienkatalog. Nachfolgende Denkmäler werden ausdrücklich als epigon zu Rietschels gedeutet, jeder Schiller und jeder Goethe wird am Weimarer Maß gemessen.

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Die Plastifizierung einer Sichtweise ist keine Qualität des Kunstwerks, sondern eine Leistung der Um- und Nachwelt, die sich ein Zeichen sucht. Wenn ex post das Ergebnis der Wirkungsgeschichte zum Faktum erklärt und das Rietschel’sche Werk als maßgebenden Illustration der deutschen Kulturgeschichte (und in Ermangelung einer politischen Alternative: der gesamten Nationalgeschichte) gesehen wird, so unterläuft das die Intention des Künstlers und das Deutungsangebot des Artefakts. Rietschel wollte weniger: eine, nämlich seine Auffassung der beiden Dichter zur Anschauung bringen, und mehr: ein Kunstwerk schaffen, dass zur jeweils erneuten Auseinandersetzung Anlass gibt. Noch einmal Auerbach: Er insistiert auf dem Unveränderlichen; in jedem Teilsatz folgt rhetorisch auf die Feststellung des Endgültigen die Abwehr des hypothetischen Veränderungswillens der Nachwelt: ›vollendeter Ausdruck‹, ›festhalten‹, ›nicht mehr anders gedacht‹, ›gefestigt‹, ›nicht mehr anders besetzt‹, ›unverrückbar‹, ›festgestellte Typik‹ ›nicht mehr geändert‹, ›unwandelbar fest‹, ›nichts mehr gerüttelt‹. Rietschel habe den »ewigen Punkt« (Auerbach 1857/58: 179) gefunden. Nichts fließt: »Die Geschichtsschreibung überhaupt und die Literaturgeschichte insbesondere bleibt allzeit flüssig. […] Das reine Kunstwerk aber, und namentlich das plastische, ist nicht mehr flüssig, die Gestalten der Kunst stehen unwandelbar fest, und sie kann diese Feststellung wagen, da es ihr nicht auf das Einzelne, sondern auf das Gesammte ankommt, an dem nichts mehr gerüttelt werden kann.« (Auerbach 1857/58: 166)

Zum Vergleich: Die Aufgaben der Denkmalkunst, aufgespannt mit dem gleichen semantischen Feld, und doch ganz anders beim Schriftsteller Karl Gutzkow zwanzig Jahre zuvor: »Denkmäler sollen nie so starr sein, daß die Theilnahme der Menge sie nicht gleichsam flüssig macht.« (Gutzkow 1837: 82) Mit der Rubrizierung als Klassiker sind Dichter und Werk für tot erklärt; eine konfliktorische Auseinandersetzung mit den literarischen Texten findet nicht mehr statt und soll es auch nicht: »Diese permanente Epiphanie des Dichters in seinem Denkmal sichert den Bildungsbesitz an der Person des Klassikers und bedarf nicht mehr des Umwegs über das literarische Werk.« (Selbmann 1988: 67) Das Denkmal verlagert das Gewicht vom Lektürekanon hin zum Deu-

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tungskanon, vom Text zum Autor, von der Literaturpraxis zur nur noch literaturbezogenen Praxis. Es ist nicht flüssig, soll nicht prozessual sein; es bedeutet in Bezug auf die Dargestellten Abschluss, Höhepunkt, Vollendung, in Bezug auf die Betrachterposition endgültige Bewertung. Aus der Sicht eines Literatursystems, in dem immer noch die Individualität des Künstlers schöpferischer Beweggrund ist, kann dies nicht als angemessene Darstellung des Dichters erscheinen. Im Denkmal, zumal in einem, das die Aufgabe der Stillstellung so beispielhaft einzulösen vermag, sind literarisches Werk und Lebendigkeit des literarischen Prozesses verschwunden. Das Band der Solidarität zwischen Schriftstellern und den Dichterheroen der unmittelbaren Vergangenheit wird zusätzlich perforiert durch die Neigung der Gesellschaft, die einen gegen die anderen auszuspielen. Gegen den Gipfel der Klassik haben die Nachgeborenen einen schweren Stand; selbst Auerbach, der seiner Denkmal- und Klassikbegeisterung Ausdruck verleiht, hebt im Anschluss zu einer Apologie der Gegenwartsliteratur an, die diese aus dem Schatten von Weimar rücken soll. Die Konfliktlinie verläuft zwischen dem Interesse der zeitgenössischen Schriftsteller, ein modernes Literaturverständnis zu vermitteln, und dem Beharrungsvermögen einer bildungsbürgerlichen Rezipientenschicht, die in der Klassiklegende ihren sozial nutzbringenden Kulturbesitz Abb. 2: Frontispiz der gefunden hat. Der die Denkmalpose kri»Jahrbücher zur Schillertisierende Schriftsteller befindet sich in Stiftung«, 1857. mehrfacher Hinsicht in der Defensive: er verteidigt die gegenwärtige Literatur gegen das übermächtige Bild von der vergangenen, die Literatur – auch die vergangene – gegen ihre heteronome Indienstnahme und schließlich die Literatur gegen die Literaturverehrung, wenn er den Anspruch auf eine diesseitige Anerkennung der Literatur, ihrer Produzenten und ihrer Entstehungsbedingungen gegen die aus der Wirklichkeit entrückende Verehrung verteidigt.

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Die Stillstellung und ›endgültige‹ Deutung ist aber nur dann wirklich erfolgreich, wenn sie das immer gleiche ›innere Bild‹ bei vielen hervorruft. Ganz entgegen der Funktion von Kunst, das Originelle immer neu und anders erfahren zu können, zielt das Denkmal auf eine massenhafte Rezeption, in der identische Zuschreibungen hervorgerufen werden. Hier passt die Parallele zur Religion, die Jacob Grimm in seiner bekannten Schiller-Rede aus dem Jahre 1859 zieht: »desto mehr wollen wir sie selbst zur anschau und zu bleibendem andenken vervielfachen, wie der alten götter bilder im ganzen lande aufgestellt waren. schon stehen beide zu Weimar unter demselben kranz.« (Grimm 1859: 43) Die Vervielfachung, soll allen – unabhängig von ihrer geographischen, sozialen und intellektuellen Position – die gleiche Anschauung des Dichters, der Literatur in ihrer höchsten Form vermitteln. Vervielfachung ist ganz wörtlich zu verstehen. Auch ohne Weimar-Besuch kann man im 19. Jahrhundert wissen, wie das Denkmal aussieht, und damit teilhaben an der kanonisierenden Bilddeutung der Literatur: Reproduktionen werden in den Blättern abgebildet, das Modell ist zu besichtigen, die »Jahrbücher zur Schiller-Stiftung« ziert ein Kupferstich, die auflagenstarke »Gartenlaube« bringt ebenso eine Abbildung wie Buchners »Deutsche Ehrenhalle«, so dass Brockhaus’ Konversationslexikon 1868 vermerken kann: »Die kolossale Statuengruppe von Goethe und Schiller, für Weimar, ist durch zahlreiche Nachbildungen aller Art bekannt und Allgemeinbesitz der deutschen Nation geworden.« (Brockhaus 1868: XII, 531) Diese Vervielfältigungspraxis erscheint natürlich bescheiden im Vergleich zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und massenmedialen Reproduktion (vgl. hierzu Schrage/Hieber 2007). Bereits im 19. Jahrhundert werden MiniaAbb. 3: Festumzug zur 750-Jahr-Feier Berlins, turen verkauft. Kopien 4. Juli 1987. des Denkmals stehen in

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den USA und in China. Eine Nachbildung wurde im spätsozialistischen Festumzug zur 750-Jahr-Feier Berlins mitgeführt (neben Computern, die als Trophäen des technischen Fortschritts auf Handkarren gezogen werden). Eine Briefmarke (Auflage 283 640 000 Stück) der letzten Freimarkenserie der DDR zeigt das Denkmal ebenso wie eine Dauermarke im vereinigten Deutschland 1997. Der Kulturindustrie gilt das Denkmal als universell einsetzbares Emblem für »Klassik«, »Bildung« und »Kultur«. Jede Schulklasse stellt sich beim Weimar-Besuch zum Erinnerungsfoto unter den Dichtern auf. Es werden zahllose individuelle Kopien des Immergleichen angefertigt. Das könnte angesichts der Bedingungen massenmedialer Reproduzierbarkeit und der neuen Möglichkeit des Verweisens – der Digitalität, des ›Einbettens‹ – ein erstaunlicher Befund sein. Er ist es nicht, insofern er die Mechanismen der ästhetischen Überformung des Sozialen als permanente Aneignungspraxis zeigt. Die vielfältige Verwertbarkeit – oder mit Jacob Grimm: der Allgemeinbesitz – zeigt sich am anschaulichsten per Internet: Eine Google-Bildersuche nach »Schiller Goethe« ergibt ein im Wortsinne eindeutiges Bild. Als Quellen findet man Abb. 4: Bildschirmfoto Google-Bildersuche nach unter den Treffern »Schiller Goethe«. der ersten Seite einen FDP-Landesverband, einen Tennisclub, ein »55+-Magazin«, die Wirtschaftsförderung Thüringens, ein Fernsehmagazin, eine Shopping-Plattform. Als Fazit bleibt: Das Bild des Denkmals ist vielfach ausgegebene und kurrente Münze, es ist ubipräsent und dominiert jede andere mögliche visuelle Vorstellung, die wir von Goethe oder Schiller haben könnten. Das 19. Jahrhundert lebt vielleicht nicht mehr, aber es ist unter uns.

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L ITERATUR Alings, Reinhard (1996): Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871-1918 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte Bd. 4). Berlin/New York: de Gruyter. Auerbach, Berthold (1857/58): »Drei Stationen des Schiller-GoetheDenkmals: 1. Das Modell. 2. Der Guß. 3. Vom Feste der Enthüllung«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. 20 Bde. Stuttgart/Augsburg: Cotta, Bd. 19 (1858), S. 163-204. Barner, Wilfried/Lämmert, Eberhard/Oellers, Norbert (1984): Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 42). Stuttgart: Cotta. Barthes, Roland (1957): Mythologies. Paris: Éditions du Seuil. Beyer, Andreas (2005): »›Wir sind keine Griechen mehr‹. Goethe und Schiller als Denkmal in Weimar«, in: Goethe-Jahrbuch Bd. 122, S. 36-42. Böhler, Michael (1980): »Die Freundschaft von Schiller und Goethe als literatursoziologisches Paradigma«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 5, S. 33-67. Böhler, Michael (1996): »Geteilte Autorschaft: Goethe und Schiller – Visionen des Dichters, Realitäten des Schreibens«, in: GoetheJahrbuch Bd. 112, S. 167-181. Das Denkmal (1993): Dirk Appelbaum (Red.): Das Denkmal. Goethe und Schiller als Doppelstandbild in Weimar. Tübingen: Wasmuth. Düding, Dieter/Friedemann, Peter/Münch, Paul (Hg.) (1988): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek: Rowohlt. Fallbacher, Karl-Heinz (1992): Literarische Kultur in München zur Zeit Ludwigs I. und Maximilians II. München: C. H. Beck. François, Étienne/Schulze, Hagen (Hg.) (2005): Deutsche Erinnerungsorte: eine Auswahl. München: C. H. Beck. Göhler, Rudolf (Hg.) (1932): Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848-1889. 2 Bde. Berlin: Mittler. Grimm, Jacob (1859): Rede auf Schiller. Berlin: Ferdinand Dümmler. Grimm, Reinhold/Hermand, Jost (Hg.) (1971): Die Klassik-Legende. Frankurt am Main: Athenaeum Verlag.

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ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: MiFe, WikimediaCommons. – Abb. 2: Frontispiz der »Jahrbücher zur Schiller-Stiftung«, Dresden: Verlagsbuchhandlung von Rudolf Kuntze, 1857. – Abb. 3: Foto: Thomas Uhlemann, Bundesarchiv Bild 183-1987-0704-077, Quelle: WikimediaCommons. – Abb. 4: Bildschirmfoto Google-Bildersuche nach »Schiller Goethe«.

Graffiti versus abstrakte Malerei Distinktionslogik und soziale Differenzierung im Kontext zeitgenössischer Porträts A NDREA G LAUSER

Mit dem Rücken zu Graffiti posieren heute längst nicht mehr nur Rapper und Breakdance-Crews, sondern auch Schriftsteller, Komponistinnen und Regisseure. Porträts, die Kunstschaffende vor dem Hintergrund besprühter Wände und Hausecken zeigen, sind seit einiger Zeit stark verbreitet und zu einem neuen Bildtypus avanciert. In dieser Weise präsentieren sich die Filmemacherinnen Anka Schmid und Anita Blumer ebenso wie die Komponistin Olga Neuwirth (Abb. 1) sowie die Schriftsteller Ulrich Peltzer und Gernot Wolfgruber (Abb. 2), um nur einige Beispiele zu nennen. Auch in Filmen ist der Porträttypus aufgetaucht, etwa in Woody Allens »Vicky Cristina Barcelona« (2008). Bezeichnenderweise stellt in diesem Film die solcherart mit Graffiti ins Bild gerückte Schauspielerin Penelope Cruz eine temperamentvolle Künstlerin dar.1 Dass sich in Printmedien wie auch im Internet grundsätzlich viele Aufnahmen von Kunstschaffenden finden, korreliert mit dem ausgeprägten Personalismus, der den Feldern künstlerischer Produktion eignet. Im Zuge der Autonomisierung dieser Praxisgebiete – d.h. mit der Entkopplung der Künste von religiösen und staatlichen Kontexten – , kam es zu einer starken Aufwertung von Autorschaft. Die künstleri-

1

Die Quellennachweise der genannten Bilder finden sich im Verzeichnis der konsultierten Internetseiten am Ende des Textes.

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sche Arbeit wurde auf das Neue sowie die Kriterien der Wahrhaftigkeit und der Originalität verpflichtet (Groys 1999; Müller-Jentsch 2005: 168; Ruppert 1998). Die Durchsetzung des Konzepts der kreativen Individualität war und ist dabei eng an Rituale der Selbstdarstellung gebunden. Die Teilhabe an diesen sozialen Spielen erfordert nicht zuletzt eine überzeugende personale Inszenierung des Künstlerischen. In den vergangenen Jahren hat diesbezüglich die »Bildfähigkeit« der Kulturproduzenten an Bedeutung gewonnen: Ihre Anerkennung als Kunstschaffende verdankt sich gegenwärtig maßgeblich auch der Fähigkeit, Bilder des Selbst zu produzieren, die »in einem medialen Bildkreislauf, einer ›Industrie des Sichtbaren‹, erfolgreich zirkulieren können« (Holert 2000: 29). Dabei kommen Sichtbarkeitsmodi zum Tragen, die dem Starsystem des Showbusiness entstammen, und die Unterschiede zwischen dem Bild als Künstlerin und der Künstlerinals-Bild verschwimmen zusehends (Holert 2000: 28-32). Vor diesem Hintergrund stellt sich indes umso pointierter die Frage, was die Graffitipraxis zu einem so interessanten und beliebten Accessoire für Künstlerporträts macht? Wie thematisiert dieser Hintergrund die posierende Person? Sich eingehender mit diesem Bildtypus zu befassen, ist aus soziologischer Sicht nicht nur wegen seiner Präsenz lohnenswert, sondern vielmehr auch, weil sich in Auseinandersetzung mit ihm spezifische Dynamiken der Distinktion und der sozialen Differenzierung beobachten lassen. Diese sind insbesondere im Hinblick auf die in den vergangenen Jahren rege diskutierte Frage nach dem Abb. 1: Olga Neuwirth, ca. 1996. Modellcharakter des künstlerischen Subjekts aufschlussreich (Boltanski/Chiapello 1999; Loacker 2010; Menger 2002). Die Annäherung an diese Form der visuellen Inszenierung von Kulturschaffenden erfolgt von zwei Seiten her. In einem ersten Schritt wird

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mit Blick auf die Geschichte und die Charakteristika von Graffiti dargelegt, dass diese gestalterische Praxis sowohl in Fremd- als auch in Selbstbeschreibungen häufig als unverfälschte, riskant-subversive Kreativität gehandelt wird und in pointierter Form für Urbanität steht. Es sind, so die hier vertretene These, maßgeblich diese Assoziationen, die Graffiti zu einem interessanten Accessoire für Künstlerporträts machen. In einem zweiten Schritt wird argumentiert, dass die Affinität von Kunstschaffenden zu dieser gestalterischen Praxis darüber hinaus darin gründet, dass das Posieren mit Graffiti gewissermaßen exklusiv ist. Diese Art der Inszenierung erlaubt, das künstlerische Subjekt von anderen Akteuren zu unterscheiden und Grenzen zu ziehen, die auf anderen Ebenen unscharf geworden sind. Die These der Distinktionslogik wird mit Blick auf Porträts von politischen und wirtschaftlichen Eliten, die seit den 1980er Jahren häufig mit dem »Rücken zur Kunst« – vornehmlich zu abstrakter Malerei – posieren, diskutiert (Ullrich 2004 [2000]). Schließlich gilt es zu fragen, inwiefern sich Porträts zur Grenzziehung beziehungsweise als Instrumente sozialer Differenzierung eignen. Diese Frage tangiert zeitdiagnostische Überlegungen zur Bedeutung von Bildern in der Gegenwartsgesellschaft sowie zu den Eigentümlichkeiten visueller Medien.

1. M IT DEM R ÜCKEN ZU G RAFFITI – K ÜNSTLERPORTRÄTS 1.1 Konturen der Graffitipraxis Das Phänomen Graffiti, wie es in den Künstlerporträts präsent ist, kam Ende der 1960er in New York und anderen amerikanischen Großstädten auf (Cresswell 1996; Lachmann 1988; Reinecke 2007: 20). Die Graffitipraxis bestand zunächst maßgeblich darin, eine Kombination aus Spitznamen und Straßennummer mittels Marker möglichst stark zu verbreiten. Später wurde die Straßennummer typischerweise weggelassen und der Name frei gewählt.2 In New York hat 1971 ein Bericht der New York Times über den stadtweit bekannten »Taki 183« eine verita-

2

Bei der Wahl des Pseudonyms ist vornehmlich relevant, dass dessen Buchstabenkombination gut schreibbar ist und der Name die Identität des Akteurs bzw. der Gruppe in der Szene repräsentiert (Reinecke 2007: 21).

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ble Tag-Welle ausgelöst. Gegenreaktionen der Stadtregierung – AntiGraffiti-Kampagnen, Verhaftungen – folgten auf dem Fuß (Austin 2001; Cresswell 1996: 32; Reinecke 2007: 20). Diese waren jedoch kaum imstande, die Bewegung zu unterbinden. Es formierten sich Graffiti-Gruppen beziehungsweise Gangs und die gestalterischen Aktivitäten weiteten sich rasch aus. Sprühdosen wurden ›entdeckt‹ und die angebrachten Schriftzüge erreichten bezüglich Größe und Komplexität neue Dimensionen.3 Bevorzugte Malfläche waren Züge. Da diese in den meisten Städten in den Fokus aufwändiger Bewachung und Prävention gerieten und damit für Graffitiakteure schwierig zugänglich wurden, finden sich Tags, Throw-ups und Pieces seit Jahren häufig auf Mauern beziehungsweise Außenflächen von Gebäuden. In Europa und anderen Kontinenten hat Graffiti in den 1980er Jahren Fuß gefasst, wobei Filme wie »Wild Style«, der 1982 im Kino erschienen ist, sowie »Style Wars!« und »Beat Street« (Fernsehfilme) Abb. 2: Gernot Wolfgruber, 2009. maßgeblich zur Verbreitung dieser Bewegung beigetragen haben (Reinecke 2007: 21). Wie andere mit der Kultur des HipHop assoziierte Praktiken – Rap, DJing, Breakdance – ist Graffiti mittlerweile zu einer quasi dauerhaften Jugendweltkultur geworden (Klein/Friedrich 2003).4

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Gemäß Cresswell (1996: 33) haben sich in den frühen Jahren der GraffitiPraxis in New York spezifische Bezeichnungen und Wertungen für unterschiedliche gestalterische Aktivitäten herausgebildet: »The graffiti itself existed in a hierarchy of achievement form ›tags‹ (simple names inside of subway cars), through ›throw-ups‹ (bigger names on the outside), to ›pieces‹ (masterpieces – symbols, names, and messages often covering whole cars). The legendary ›worm‹ (a whole train) was only painted twice.«

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Die Produzenten dieser globalen kulturellen Praxis sind zur überwältigenden Mehrheit männlich (Lachmann 1988: 232; Macdonald 2001; Reinecke 2007: 38).

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Die Bewegung ist in sich beträchtlich ausdifferenziert, es lassen sich jedoch gewisse für diesen Zusammenhang bedeutsame charakteristische Grundzüge benennen. Der Soziologe Richard Lachmann (1988: 243) hat die Welt der Graffitiakteure als eigene »Graffiti Art World« charakterisiert, in welcher die Writer um praxisspezifische Formen der Anerkennung – Fame – kämpfen. Das für die Anerkennung relevante Publikum rekrutiert sich vornehmlich aus anderen Produzenten. Idealtypisch zugespitzt lassen sich hinsichtlich der Erlangung von Ruhm zwei voneinander distinkte Strategien unterscheiden: Auf der einen Seite ist es möglich, mittels einer primären Gewichtung von ästhetischen Aspekten bzw. durch einen »besonders guten Stil und durch Innovation und Frische« zu Ansehen zu kommen; auf der anderen Seite findet sich ein Zugang, der weniger an Ästhetik, denn an ›Action‹ interessiert ist und darauf zielt, den Graffitinamen nicht nur möglichst zahlreich, sondern vor allem auch an schwierig zugänglichen sowie gut sichtbaren Orten anzubringen (Lachmann 1988: 237; Reinecke 2007: 25). Während sich die erste Strategie häufig mit aufwändigen legalen Arbeiten verbindet, ist für die zweite Strategie, die sich vor allem im Trainwriting findet, Illegalität durchaus konstitutiv. Für das Ansehen in der Szene stehen illegale Arbeiten grundsätzlich höher im Kurs als legale beziehungsweise Auftragsarbeiten (Reinecke 2007: 26). Nichtsdestotrotz gibt es zwischen der »Graffiti Art World« und der Welt der Werbung, des Designs sowie dem Feld der bildenden Kunst Verbindungen, die vor allem für Graffitiakteure, die das straffähige Alter erreicht haben, potentiell oder aktuell bedeutsam sind. Es hat sich ein Auftragsmarkt etabliert, in dessen Kontext Writer in legaler Form Wände besprühen oder Gegenstände bemalen.5 Darüber hinaus haben ästhetisch-stilistisch versierte Akteure teils ein Standbein in der Welt des Grafikdesigns und der Werbung, wo sie »graffitiverwandt« arbeiten (Reinecke 2007: 24). Was das Feld der bildenden Kunst betrifft, so hat es bereits in den frühen 1970er Bestrebungen gegeben, Graffitiakteure in dieses Praxisgebiet zu integrieren und als Kunstschaffende im engeren Sinne zu etablieren. Seither haben sich solche Initiativen mehrfach wiederholt, vor allem um 1980 und

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Graffitiakteure verdienen ihren Lebensunterhalt neben Auftragsarbeiten vor allem mit der Herausgabe von Graffitizeitschriften sowie mit dem Vertrieb von Gegenständen (Farbe, Mode, Musik) (Reinecke 2007: 24).

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2000 herum.6 Diese Bestrebungen waren jedoch insgesamt kaum erfolgreich. Es zeichneten sich zwischen der »Graffiti Art World« einerseits und dem Feld der bildenden Kunst andererseits auf unterschiedlichen Ebenen Spannungen und Dissonanzen ab. Eine grundsätzliche Schwierigkeit bestand darin, die Graffitipraxis quasi von den Zügen und Straßen in einen White Cube-Kontext zu transferieren. Die damit einhergehenden markanten Verschiebungen wurden häufig als problematisch wahrgenommen und das Interesse von Seiten der Sammler war jeweils nur von kurzer Dauer (Cresswell 1996: 54-57; Lachmann 1988: 248; Reinecke 2007: 27f.). In den 1970er und 1980er Jahren traten auch insofern Schwierigkeiten auf, als der Habitus der Writer kaum mit der Kunstwelt kompatibel war, und den Graffitiakteuren für eine Karriere im Kunstfeld häufig auch Wissen (insbesondere über Kunstgeschichte) fehlte. Außerdem waren die Verbindungen mancher Akteure zu den Gebieten der Werbung und des Grafikdesigns der Integration ins Kunstfeld nicht förderlich (Reinecke 2007: 29-31). In den vergangenen Jahren hat sich die Konstellation in gewisser Hinsicht verändert. Während in den 1970er und 1980er Jahren Writer häufig aus sozial tiefen Schichten stammten und sich in bildungsfernen Milieus bewegten, sind sie heute nicht selten Studierende der Fächer Kunst, Illustration und Grafikdesign. Sie können in der Kunstwelt besser Fuß fassen und zeigen ihre Arbeiten teils nicht nur in renommierten Galerien, sondern auch an Großanlässen wie der Biennale Venedig (Reinecke 2007: 32). Allerdings basiert diese vergleichsweise erfolgreiche Positionierung im Feld der Kunst maßgeblich darin, dass diese Akteure die Graffitipraxis im engeren Sinne weitgehend aufgegeben. Ihre Arbeiten haben mit dem Sprühen und Verbreiten von Namen nur noch am Rande zu tun; vielmehr arbeiten sie in unterschiedlichen Medien wie Film und Installation. Bezeichnenderweise werden diese Positionen häufig unter den Begriff »Post-Graffiti« subsumiert oder der »Street Art«-Bewegung zugerechnet. Letztere teilt mit der Graffitipraxis selbstautorisierte Interventionen im öffentlichen Raum. »Street Art«-Positionen stützen sich auf ein breiteres Repertoire an Medien und sind sowohl mit dem Kunstfeld als auch mit der Sphäre der Wer-

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Diese Bestrebungen sind ausführlich diskutiert bei Castleman (1982); Cresswell (1996); Reinecke (2007).

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bung und des Kommerzes viel intensiver verflochten als dies für das Graffitiuniversum behauptet werden könnte (Reinecke 2007).7 1.2 Graffiti als Inbegriff einer »ungebändigten«, urbanen Kreativität Ein beträchtlicher Teil der Graffitipraxis, so wie sie in den Porträts von Kunstschaffenden als Accessoire auftaucht, ist illegal, fern einer direkten Vermarktung und für die Produzenten, zumal sie das straffähige Alter erreicht haben, mit erheblichen Risiken verbunden. Damit zusammenhängend wird Graffiti sowohl in Fremd- als auch in Selbstbeschreibungen gerne als Inbegriff einer unangepassten, ›unverfälschten‹ Kreativität gehandelt.8 In der Szene sind Wortspiele verbreitet, die auf den illegalen Charakter von Graffiti sowie den Stil, wie die Praxis in Polizeinachrichten zur Sprache gebracht wird, verweisen. Die Pointe dieser Wortspiele besteht darin, dass sie die Dimension des Kriminellen mit der Diagnose des Künstlerischen fusionieren. So lautet der Name einer der wichtigsten Internetplattformen für Graffiti »Art Crimes – The Writing on the Wall«, und ein kürzlich erschienener Band zu neuen Ansätzen im Bereich des Trainwriting trägt den Titel »Art Inconsequence – Advanced Vandalism« (Kaltenhäuser/Pflüger 2007). Die Vision einer subversiven, unangepassten Kunst wird jedoch nicht allein von Seiten der Szenemedien gestützt, sondern teils auch von journalistischen und kulturwissenschaftlichen Diskursen. Dazu gehören Berichte über die »Unmöglichkeit«, Graffiti im Museum auszustellen. Wenn das Bronx Museum of the Arts mit Breakdance Shows aufwartet und das Brooklyn Museum Graffiti-Ausstellungen zeigt, so wird dies noch weitgehend goutiert, gilt doch New York als Geburts-

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Der prominenteste Vertreter der »Street Art«-Bewegung ist Banksy. Er arbeitet hauptsächlich mit Schablonengraffiti und steht der Konzeptkunst nahe. Seine Arbeiten werden von Prominenten wie Kate Moss, Angelina Jolie und Brad Bitt gesammelt und erreichen Preise in sechsstelliger Höhe (Schirrmacher 2007; Sharp 2009).

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Es finden sich in den Medien sowie unter Ordnungshütern freilich auch andere Thematisierungen dieser Praxis – Diskurse, die mit Graffiti vornehmlich Vandalismus, Schmutz und Unordnung verbinden. Solche Diskurse in New York der 1970er Jahre finden sich ausführlich bei Cresswell (1996) dokumentiert und analysiert.

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stätte des HipHop und »weltweite Graffitihauptstadt« (Klein/Friedrich 2003; Reinecke 2007: 20). Der Ort erscheint dabei als Garant einer gewissen Authentizität, die – so eine verbreitete Ansicht – ansonsten zwangsläufig leiden muss, wenn Grafitti Eingang ins Museum findet. Als 2009 im Pariser Grand Palais die Ausstellung »Le Tag – Collection Gallizia« zu sehen war, die Bilder von 150 internationalen GraffitiKünstlern zeigte und darauf zielte, in einem legalen Kontext den künstlerischen Dimensionen dieser gestalterischen Aktivität zu einer besseren Sichtbarkeit zu verhelfen, so provozierte dies mitunter spöttische Kommentare. Im Spiegel wurde unter dem Titel: »Keine Subversion, nirgends« die Ausstellung wie folgt thematisiert: »Sprayen auf der Straße, das ist illegal, mutig und verboten, das ist Abenteuer, Einsatz und Risiko. Eine Pariser Schau zeigt dagegen: Tags in Reih und Glied, alle gleich groß und schrecklich schön bunt. Illegal sind diese genormten Graffiti nicht – und auch keine Kunst.« (Wiensowski 2009) Auch gewisse kunst- und sozialwissenschaftliche Studien stützen die Vision von Graffiti als einer quasi ungebändigten gestalterischen Aktivität, wobei hier die Praxis weniger mit Subversion, denn mit Ursprünglichkeit assoziiert wird: Graffiti wird teils in eine Tradition mit antiken Wandmalereien, wenn nicht mit Höhlenmalerei, gebracht (Grasskamp 1982; Reinecke 2007: 20). Der Wille zur visuellen Bearbeitung von Wänden präsentiert sich dabei explizit oder implizit als eine Art anthropologische Konstante mit triebartigen Zügen. Neben diesen Deutungen dürfte sich Graffiti in Porträts von Kunstschaffenden auch deshalb als Bildhintergrund ›aufdrängen‹, weil sie in pointierter Form für Urbanität steht. Obgleich sich einschlägige gestalterische Spuren mittlerweile bis in voralpine Dörfer ziehen, finden sie sich in hoher Dichte vor allem in städtischen Zentren. Neben Hochhäusern und einem dynamischen Straßenleben bilden diese Schriftzüge eine zentrale Dimension der visuellen Repräsentation von Urbanität.9 Selbstredend gibt es unterschiedlichste Formen, mittels Graffiti das Städtische zu thematisieren. Wie Tim Cresswell (1996: 54) hervorhebt, verweisen urbane besprühte Räume häufig auf eine Alltagswelt mit latent chaotisch-wilden Zügen, an der zahlreiche Subjekte, idealty-

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Auf Graffiti wurde in den vergangen Jahre vor allem (aber keineswegs ausschließlich) zur visuellen Repräsentation von New York City zurückgegriffen. Sehr zum Ärger der New Yorker Stadtregierung, hat sich Walt Disney früh an dieser Praxis beteiligt (Cresswell 1996: 37, 49).

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pisch: der allgegenwärtige »man on the street«, partizipieren. Mit dem Rücken zur Graffitiwand posierend, präsentiert sich so das jeweilige künstlerische Subjekt als Teil eines urbanen Settings, was wiederum auf eine gewisse Weltgewandtheit verweist. Die Konzeption des Künstlers als Bohemien bzw. Flaneur, die im 19. Jahrhundert in Abgrenzung zum kapitalistischen Unternehmer einerseits und zur vorherrschenden akademischen Vorstellung von künstlerischer Arbeit andererseits formuliert wurde, sieht gerade Weltgewandtheit – ein kosmopolitisches Profil – als zentrales Ideal künstlerischer Identität vor (Bourdieu 1998 [1992]; Tester 1994). Besonders deutlich wird dies in den Schriften von Charles Baudelaire. In »Le peintre de la vie moderne« – »Der Maler des modernen Lebens« – typisiert er mit Blick auf das anonyme Subjekt M.G. den idealen Künstler als »Mann von Welt« mit besonderer Affinität zur Straße: »Als ich ihm endlich begegnete, entdeckte ich als erstes, dass ich es nicht eigentlich mit einem Künstler, sondern eher mit einem Mann von Welt zu tun hatte. Man verstehe das Wort Künstler hier bitte in einem sehr engen, das Wort Mann von Welt in einem sehr weiten Sinne. Mann von Welt, das heißt ein Mann der ganzen Welt, ein Mann, der die Welt versteht und die geheimnisvollen tieferen Gründe all ihrer Sitten und Gebräuche begreift; Künstler, das heißt Spezialist, ein Mann, der mit seinen Malutensilien so verhaftet ist wie der Leibeigene mit der Scholle« (Baudelaire 1989 [1863]: 219). Dieses Künstlersubjekt verfügt über die Fähigkeit, an den »scheinbar alltäglichsten Dingen den lebhaftesten Anteil zu nehmen«, und erscheint als ein Eindrücke verdauendes Medium, das dank seiner »funkelnden Persönlichkeit« im Stande ist, eine »mitreissende Übersetzung« herzustellen (Baudelaire 1976 [1863]: 689). Das Ideal der Weltgewandtheit sowie das Interesse an Alltäglichkeit und Gegenwart haben in den vergangenen Jahren im Kunstfeld kaum an Aktualität eingebüßt. Sie sind im Zusammenhang mit der Globalisierung dieses Praxisgebietes sowie mit der Vision des »artist as ethnographer«, die seit den 1980er Jahren stark präsent ist, zentrale Dimensionen bezüglich des Selbstverständnisses von Kunstschaffenden und der Codierung künstlerischer Identität (Foster 1996).10

10 Der »Flaneur« ist dabei gewissermaßen zum »Nomaden« geworden und das Ideal der Weltgewandtheit wird nicht selten in Richtung »streetwise« ausgelegt (Bydler 2004; Nippe 2009).

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Die Konnotationen, die sich mit der Graffitipraxis verbinden, sind mit der skizzierten Konzeption des künstlerischen Subjekts quasi wahlverwandt. Graffiti als Accessoire mobilisiert ›klassische‹ Künstlertugenden sowie tradierte Vorstellungen von künstlerisch-kreativer Arbeit, wonach diese triebartig erfolgt, Risiken nicht scheut und mit der Logik von Kulturinstitutionen nur beschränkt vereinbar ist (Krieger 2007; Kris/Kunz 1995 [1934]). Darüber hinaus verweist sie auf Gegenwart, Jugendlichkeit, Urbanität – eine Mischung, die für Kunstschaffende augenscheinlich sehr interessant ist.

2. M IT DEM R ÜCKEN ZUR K UNST – P ORTRÄTS WIRTSCHAFTLICHER UND POLITISCHER E LITEN 2.1 Abstrakte Malerei in »Herrscherbildnissen« Es wäre zu eingeschränkt, die Affinität von Kunstschaffenden zu Graffiti quasi ausschließlich über das, wofür Graffiti steht – Graffiti als Inbegriff ›unverfälschter‹ Kreativität und Urbanität – verstehen zu wollen. Dieser Affinität eignet, ob von den jeweiligen Fotografen und den sich solcherart inszenierenden Akteuren beabsichtigt oder nicht, eine Distinktionslogik. Die Porträts sind in gewissen Hinsichten Gegenprogramm zur Art und Weise, wie sich politische und vor allem wirtschaftliche Eliten inszenieren. Auch in diesen Feldern, zumal in der Politik, ist die »Bildfähigkeit« der Akteure von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Thomas Macho (2009: 55) konstatiert, dass sich im politischen Konkurrenzkampf weniger Programme, denn Gesichter bewähren würden: »Politischer Erfolg wird zunehmend an eine Akkumulation facialer Wahrnehmung gebunden, an die gelingende Kapitalisierung kollektiver Aufmerksamkeit. Im Chaos der verschiedenen Botschaften, Nachrichten und verbalen Gefechte setzt sich derjenige durch, dessen Gesicht – wie ein Markenzeichen – am schnellsten wiedererkannt werden kann« (Macho 2009: 55). Seit rund fünfundzwanzig Jahren präsentieren sich Akteure aus Wirtschaft und Politik häufig vor zeitgenössischer Kunst, vor allem vor abstrakter Malerei. Diese Bildstrategien hat der Philosoph und Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich (2004 [2000]) in seiner Studie »Mit dem Rücken zur Kunst.

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Die neuen Statussymbole der Macht« eingehend analysiert.11 Sie sind zunächst in Nachrichten- und Wirtschaftsmagazinen aufgetaucht und haben sich seit Mitte der 1980er Jahre stark verbreitet. Ullrich diskutiert die einschlägigen Strategien unter anderem am Beispiel eines Bildes von Gerhard Schröder (Abb. 3), das im Jahre 1998 kurz vor dessen Wahl zum Kanzler in der Zeitschrift Capital erschienen ist12, sowie mit Blick auf Porträts von Akteuren vornehmlich aus der Banken- und Versicherungsbranche in Deutschland. Auch im schweizerischen Kontext besitzen solche Bilder eine bemerkenswerte Verbreitung. Mit dem Rücken zur Kunst präsentierten sich in den vergangenen Jahren Bundesräte ebenso wie leitende Figuren aus der Bankenwelt.13 Die Allianz zwischen politischen und ökonomischen Eliten und zeitgenössischer Kunst ist ein relativ neues Phänomen. Die Präsentation von Kunst war zwar schon seit Jahrhunderten quasi Beleg für eiAbb. 3: Gerhard Schröder, 1998. nen hohen gesellschaftlichen Status. Diese Praxis

11 Wolfgang Ullrich spricht in seiner Studie meist von »moderner Kunst«. Da es sich bei den diskutierten Werken mehrheitlich um solche der letzten fünfzig Jahre handelt, werden hier die Begriffe »zeitgenössische Kunst« oder »Kunst der Gegenwart« für die Zeitspanne seit den 1960er Jahren präferiert, um Verwechslungen mit der »klassischen Moderne« vorzubeugen. 12 Das im Porträt sichtbare Bild stammt von Lienhard von Monkiewitsch, Professor an der Braunschweiger Kunstakademie, und trägt den Titel »Komposition mit dem Zufall« (Ullrich 2004 [2000]: 10). 13 In Print- und elektronischen Medien wird die Bundesrätin Doris Leuthard verschiedentlich mit dem Rücken zur Kunst gezeigt, und vom ehemaligen Bundesrat Moritz Leuenberger fanden sich auf seiner offiziellen Webseite mehrere solcher Porträts. Auch der UBS-Konzernchef Oswald Grübel präsentiert sich regelmäßig mit dem Rücken zur Kunst. Die Quellenangaben hierzu finden sich in der Liste der konsultierten Internetseiten.

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involvierte jedoch zumeist Werke aus vergangenen Epochen. Zeitgenössische Arbeiten tauchten primär in der Ikonographie von Personen auf, die sich professionell mit Kunst beschäftigen; sie fungieren dabei vornehmlich als Attribute und weniger als Statussymbole. Dies hat sich radikal geändert. Es ist heute, wie Ullrich (2004 [2000]: 11) treffend betont, schon fast zu einer Kunst geworden, einen Politiker oder Manager in einem Konferenzsaal oder in einem Arbeitszimmer ohne Kunst zu fotografieren. Dies hängt damit zusammen, dass heute tatsächlich viele solcher Räume mit moderner oder zeitgenössischer Kunst bestückt sind. Oftmals lässt sich kaum entscheiden, ob das Kunstwerk absichtlich oder quasi beiläufig im Bild präsent ist, zumal »Zufälligkeit« inszeniert sein kann. Außerdem lässt sich häufig nur schwer erkennen, um was für ein Kunstwerk es sich im Hintergrund handelt. Es geht denn auch weniger darum, mit einem »bestimmten, besonders wertvollen Bild zu protzen, als vielmehr um eine Nähe zu moderner Kunst im allgemeinen, da diese offenbar die Bedeutung der jeweiligen Person zu steigern vermag und sie mit einer wertvollen Aura umgibt« (Ullrich 2004 [2000]: 11f.). Die mit Kunst assoziierten Eigenschaften wie Innovationsfreude, Kreativität, Risikobereitschaft und intellektuelle Hoheit sollen auch den Porträtierten zugesprochen werden. Ullrichs (2004 [2000]) zentrale These lautet, dass zeitgenössische Kunst zu einem der wichtigsten Statussymbole unserer Zeit geworden sei und die einschlägigen Porträts in der Tradition von Herrscherbildnissen stünden. Zeitgenössische Kunst fügt sich dieser Perspektive zufolge in eine lange Reihe von Statussymbolen ein. Jahrhunderte lang hatten in Herrscherbildnissen Pferde diese Funktion inne gehabt14; im 20. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre hinein fungierten in Darstellungen von wirtschaftlichen Eliten häufig Telefonapparate sowie antike Möbel und Holztäfelungen als Statussymbole. Letztere sind sowohl aus den Arbeitsräumen wie auch aus den Porträts weitgehend verschwunden.

14 Zu Pferdedarstellungen im Kontext der visuellen Repräsentation von militärischen Eliten vgl. Kaenel/ Vallotton (2008).

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2.2 Neue Begrenzungen angesichts verallgemeinerter Künstlertugenden Selbstredend gibt es gegenwärtig sowohl von Managern und Politikerinnen als auch von Kunstschaffenden unterschiedliche Formen von Porträts. So wie die Konstellation mit dem Rücken zu Graffiti keineswegs das Spektrum an Künstlerporträts erschöpft, so finden sich auch unter Bildern von wirtschaftlichen und politischen Akteuren unterschiedliche Varianten, wobei Aufnahmen beispielsweise vor weißgrauem, quasi neutralem Hintergrund in nahezu allen Feldern anzutreffen sind. Hervorzuheben ist auch, dass sich das Posieren mit moderner oder zeitgenössischer Kunst im Kontext der Wirtschaft weit stärker durchgesetzt als in der Politik. Unter den gängigen Bildformeln, wie sie sich in Wahlplakaten rekonstruieren lassen, ist »der Mann von nebenan« – »der Common Man« – ein Klassiker, wobei die sich solcherart inszenierende Person dezidiert »von der vermeintlich abgehobenen Politikerklasse abgrenzt, die längst taub ist für die wahren Probleme der Bürgerinnen und Bürger« (Brändle 2009: 17).15 Entsprechende Inszenierungen zeigen die Akteure vorzugsweise in alltäglichen Situationen. Auch Ullrich (2004 [2000]: 30) hebt in seinen Untersuchungen zu Kunst als Statussymbol der Macht explizit hervor, dass für Mitglieder der politischen Elite die Darstellung mit Kunst nicht unproblematisch sei: »Auf einem Foto nur zusammen mit moderner Kunst aufzutauchen, kann einem Politiker […] – ähnlich wie besonders teure Kleidung – den Ruf eintragen, sich zu sehr vom Gros der Bürger zu distanzieren, in deren Lebensalltag solche Accessoires überhaupt nicht vorkommen. Wollen Politiker dem Volk zudem Vertrauen in die Institutionen vermitteln und Glauben an die staatliche Integrität, Solidität und Hoheit gewährleisten, sollte das Ambiente, in dem sie auftreten, eher traditionell gestaltet sein.« Trotz der ›Gefahr‹ einer solchen Distanzierung sind, wie wir gesehen haben, entsprechende Porträts auch unter Politikern anzutreffen. Insofern hier diese Bildpraxis einen vergleichsweise selektiven Charakter hat, kommuniziert sie jedoch stärker als im Falle von wirtschaftlichen Eliten eine persönliche Wahl. Auch wenn diese Differenzierungen im Blick behalten werden, so lässt sich konstatieren, dass die skizzierten Porträttypen bemerkens-

15 Zu Bildstrategien von Politikerinnen und Politikern vgl. auch Müller (1997); Richter (2009).

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wert verbreitet sind und insofern ›System‹ haben, als sie sich gegenseitig weitestgehend ausschließen und ihre Verteilung keineswegs zufällig ist. In gewissen Hinsichten erinnern die kollektivistisch zugespitzten Divergenzen in den Bildpraktiken geradezu klischeeartig an die Distinktionsprozesse, die Pierre Bourdieu (1979) in »La Distinction« – »Die feinen Unterschiede« – zwischen beherrschten Herrschenden (Kunstschaffende, Intellektuelle) und herrschenden Herrschenden (an ökonomischen Ressourcen reiche Akteure bzw. Unternehmer) skizziert. Freilich sind diese Häufungen und Unterschiede in den Porträts nicht als quasi soziologisch selbstevident hinzunehmen. Dieser Beitrag vertritt die These, dass sich auf der Ebene der visuellen Repräsentationen deshalb so markante Divergenzen abzeichnen, weil in verschiedenen anderen Hinsichten die Grenzen der Praxisgebiete der künstlerischen Produktion unscharf geworden sind, vor allem gegenüber dem wirtschaftlichen Feld.16 Es kann in verschiedenen Hinsichten kaum mehr davon die Rede sein, dass die Gebiete der Kunst, der Musik, der Literatur etc. spiegelverkehrte Universen des ökonomischen Feldes bilden, wie dies mehrfach für die Konstellation im 19. Jahrhundert konstatiert wurde (Bourdieu 1998 [1992]; Boltanski/Chiapello 1999; Graña 1964). Auf der einen Seite greift die »Pflicht zum Erfolg« heute auch in den Künsten (Neckel 2008: 9), und für das gegenwärtige Praxisgebiet der bildenden Kunst wurde schlüssig analysiert, dass »heteronome« ökonomische Prinzipien sowie Instanzen des Kunstmarktes auch im Hinblick auf ästhetische Urteile eine zentrale Rolle spielen (Graw 2008). Auf der anderen Seite sind ›künstlerische‹ Wertigkeitsprinzipien wie Autonomie, Wahrhaftigkeit, Risikobereitschaft und Originalität, die im 19. Jahrhundert maßgeblich in Abgrenzung zur kapitalistischen Arbeits- und Produktionswelt formuliert wurden, in weite Teile der Arbeitswelt diffundiert. Gemäß Luc Boltanski und Ève Chiapello (1999) sind diese Wertigkeitsprinzipien im Anschluss an die Legitimationskrise des Kapitalismus um 1968 zu wichtigen Bezugsgrößen in der Organisation und Rechtfertigung der kapitalistischen Arbeitswelt geworden. Das künstlerische Subjekt erhielt hierdurch quasi Modellcharakter und die Ideale der Bohème avancierten zu Managertugenden (Boltanski/Chiapello 1999; Menger 2002). Damit einhergehend sind die angesprochenen Wertigkeitsprinzipien kaum mehr

16 Zum Verhältnis von Kunst und Ökonomie in der Gegenwartsgesellschaft vgl. Neckel (2010).

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›unterscheidend‹ – sie fungieren kaum mehr als Orientierungspunkte, welche die Akteure der Felder künstlerischer Produktion primär für sich in Anspruch nehmen könnten. Kreativität entspricht heute einem moralischen Imperativ von nahezu gesamtgesellschaftlicher Reichweite (Bröckling 2007: 152-154; Osborne 2003). Das Posieren mit Graffiti hingegen ist gewissermaßen exklusiv. Zwar zeigen sich mitunter auch Vertreterinnen anderer Berufsgruppen, etwa Journalistinnen und Sportler, in dieser Weise. Graffiti ist darüber hinaus in der Modefotografie wie auch in der Bewerbung unterschiedlichster DienstleisAbb. 4: »Für Grillfreaks«, tungen und Produkte wie Immobilien, Werbefoto von CoopAutos und Lebensmittel (Abb. 4) präLebensmittel, 2007. sent.17 Hingegen ist die Kombination von Manager und Graffiti beziehungsweise Politiker und Graffiti so gut wie inexistent. Entsprechende Porträts sucht man vergeblich. Der häufig illegale Charakter der Graffitipraxis scheint solche Bilder unmöglich zu machen. Sie wären kaum imstande, Seriosität zu kommunizieren.

3. AUSBLICK Die These, wonach die Porträts von Kunstschaffenden sowie von wirtschaftlichen und politischen Akteuren eine distinktive Logik entfalten, impliziert, dass sie nicht schlicht als passive Abbilder bestehender Identitäten zu betrachten sind. Vielmehr sind sie als Strategien in den Auseinandersetzungen um soziale Identitäten und gesellschaftliche Ordnung in den Blick zu nehmen, wobei in diese ›Debatten‹ vornehmlich auch Formulierungsspezialisten im Bereich des Visuellen – Foto-

17 Wenn Graffiti in Porträts von Sportlern oder in der Werbung auftaucht, so handelt es sich dabei bezeichnenderweise häufig um aufwändige Werke, die legal bzw. als Auftragsarbeiten entstanden sind.

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grafen – involviert sind. Die diskutierten Porträts sind Teil einer visuellen Kultur, die hier in Anlehnung an den Historiker Valentin Groebner (2003: 38) als heterogenes Repertoire von spezifisch produzierten und genutzten Instrumenten verstanden wird.18 Solche Instrumente in soziologischen Analysen konsequenter zu berücksichtigen, ist zum einen deshalb geboten, weil visuelle Medien wesentlich an der gesellschaftlichen Sinnproduktion beteiligt sind. Wie oben dargelegt wurde, hängen verschiedenen Studien zufolge die Inklusionschancen vor allem in den Feldern der künstlerischen Produktion und der Politik, aber wohl auch in der Wirtschaft, von der »Bildfähigkeit« der Akteure ab. Dies dürfte vermehrt zu Dynamiken sozialer Distinktion auf der Ebene von Bildern führen, was empirisch genauer zu untersuchen ist. Darüber hinaus sind Bildstrategien soziologisch von Interesse, weil sie in spezifischer Weise erlauben, Dinge und Personen zu charakterisieren und Grenzen zu ziehen. Als Eigentümlichkeiten bildgestützter Sinnproduktion sind vor allem die assoziative Logik sowie die Erzeugung von Evidenzeffekten zu nennen (Stäheli 2007). Wie das Beispiel Graffiti versus zeitgenössische Kunst oder abstrakte Malerei zeigt, nehmen hier Auseinandersetzungen Formen an, die in gewissen Hinsichten irreduzibel sind – sie lassen sich nicht restlos in schrift- und sprachbasierte Artikulationen übersetzen. Durch die assoziative Logik ergeben sich in den Porträts zwischen den gezeigten Personen und der jeweilige visuellen Praxis Verbindungen, die zugleich plakativ und rätselhaft sind (Ullrich 2004 [2000]). Die mit Kunst und Graffiti assoziierten Tugenden verbinden sich mit der auf dem Bild gezeigten Person, ohne dass ihr diese explizit zugesprochen werden müssten. Die entsprechenden ›Behauptungen‹ sind von Explikation und von argumentativem Druck entlastet. Auch wenn Bilder als Inszenierungen durchschaut werden und Skepsis gegenüber der vielbesagten Evidenz des Visuellen besteht, so verhindert dies nicht zwangsläufig, dass sich diese Bilder in die Vorstellungswelt einschreiben (Holert 2000: 27). Trotz der vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten haben Fotografien, wie Susan Sontag (2001 [1977]: 5) schreibt, den Charakter von Beweismaterial. Porträts eignen sich besonders gut für suggestive, einprägsame

18 In eine ähnliche Richtung weist die Konzeption visueller Medien von Regula Valérie Burri (2008), die Bilder konsequent als Teil einer sozialen Praxis versteht und die Produktion und den Gebrauch von Bildern ins Zentrum der Analyse rückt.

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Charakterisierungen und sind – nicht zuletzt, weil es dem Visuellen weitgehend an Negationsfähigkeit mangelt – prädestiniert für Thematisierungen, die von einer Distinktionslogik geprägt sind (Stäheli 2007: 76). Vor diesem Hintergrund ist kaum damit zu rechnen, dass Auseinandersetzungen um soziale Identitäten und gesellschaftliche Ordnung auf der Basis von Porträts bald verschwinden werden. Welche konkreten Formen sie künftig annehmen werden – darüber lässt sich spekulieren.

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G RAFFITI

VERSUS ABSTRAKTE

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ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Olga Neuwirth. Bild: Harald Fronzeck, ca. 1996. – Abb. 2: Gernot Wolfgruber. Copyright: Jung und Jung Verlag, Salzburg, 2009. – Abb. 3: Gerhard Schröder. Bild: NOVUM/Walter Schmidt, 1998. – Abb. 4: »Für Grillfreaks«, Werbefoto von Coop-Lebensmittel. Bild: zvg, 2007.

»Germany’s Next Topmodel – by Heidi Klum« als Schule ästhetischen Auftretens Unterhaltung und normative Strategie zur Durchsetzung eines Schönheitsideals B ODO L IPPL /U LRIKE W OHLER

Bei der Sendung »Germany’s Next Topmodel – by Heidi Klum« (GNT) handelt es sich um eine auf dem deutschen Privatsender Pro Sieben ausgestrahlte Reality-Show, bei der Mädchen und junge Frauen für die Teilnahme an einem Wettbewerb um den Titel GNT gecastet werden. In der Fernsehshow, die 2010 zum fünften Mal in Folge durchgeführt wurde, werden die Themen »Schönheit« und »Glamour der Modewelt« in Form eines Castingformats für »angehende Models« massenmedial inszeniert.1 Die Sendereihe wird von dem Model Heidi Klum moderiert und basiert auf dem erfolgreichen US-amerikanischen Format »America’s Next Top Model«. Die hohen Zuschauerzahlen (stets im mehrstelligen Millionenbereich mit einem Marktanteil von durchschnittlich 24,2 Prozent, vgl. Media control 2009) und ein guter

1

Kritisiert wird an der Sendung, dass die Kandidatinnen durch ihr Kandidatensein in der Sendung keine Chance als Topmodel hätten. Ob diese Kritik zutreffend ist, wird sich langfristig erweisen müssen. Zwar arbeiten einige der Kandidatinnen tatsächlich nach der Sendung als Models, bislang ist es jedoch noch keiner Kandidatin oder Siegerin gelungen sich als Topmodel zu etablieren.

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Sendeplatz donnerstags in der Primetime zeigen, dass ein enormes Interesse in der Bevölkerung vorliegt. Das allein ist Grund genug, danach zu fragen, wie sich die Casting- und Realityshow präsentiert, worin der Erfolg begründet ist, und was das aus kultursoziologischer Perspektive über die gegenwärtige Gesellschaft aussagt. Im Folgenden werden die Bestandteile und Merkmale der Sendung und ihre Bedeutung für den Stellenwert bestimmter Schönheitsideale bzw. -anforderungen in der heutigen Gesellschaft aufgezeigt. Inwiefern liefert die Sendung nützliche Informationen und Strategien zur Verbesserung der ästhetischen Außenwirkung – also zum Schönheitshandeln? Und wie werden – neben der Unterhaltung – auch normative Handlungsanweisungen zur Erreichung eines bestimmten Schönheitsideals dargeboten? In der Sendung konkurrieren die Kandidatinnen um den Titel Germany’s Next Topmodel, der mit dem Gewinn eines Autos, dem eigenen Coverbild auf der deutschen Cosmopolitan und Werbeverträgen mit Maybelline Jade und C&A verbunden ist. Dabei müssen sie eine Reihe von Prüfungen bestehen, um – so die Botschaft – später den Herausforderungen des Modelberufs gewachsen zu sein. Der Tenor der Sendung ist, dass Schönheit machbar ist. Dabei versprechen vor allem die Arbeit an der eigenen Erscheinung und Leistung ein Mehr an Schönheit und Erfolg. Schönheitshandeln wird dabei sozusagen »nebenbei« als aussichtsreiche Strategie im Konkurrenzkampf um die besten Plätze in der Gesellschaft aufgezeigt, wenngleich es sich »eigentlich« um eine spezielle »Berufsbildungs-Casting-Sendung« für angehende Models handelt. Dabei ist zu konstatieren, dass Model keine geschützte Berufsbezeichnung ist und real keine offizielle Berufsausbildung zum Model existiert. Models werden in der Regel »entdeckt« oder versuchen sich durch Modelagenturen am Markt zu etablieren.

S CHÖNHEITSIDEALE Das Schönheitsideal der Sendung GNT hat bereits eine lange Geschichte. Schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist für Zeitschriften zu konstatieren, dass sie bestimmte Frauenbilder als Projektion für Wünsche und als Konsumobjekt propagieren, dass Probleme von Frauen privatisiert werden und damit ihren sozialen Kontext verlieren (Röser 1992: 302, 307). Schon zu dieser Zeit entfalten und

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erzielen die Medien eine normative Wirkung. Das zeigt sich insbesondere an den Illustrierten dieser Zeit, deren propagierter Traumberuf für junge Frauen damals nicht wie heute das Model war, sondern der Revuestar, der es von der kleinen Stenotypistin auf die Bühnen Berlins oder gar Hollywoods geschafft hatte. »Als Filmschauspielerin, Künstlerin, selbständige Photographin oder als Revue-Girl – immer wird die junge Frau zum Vor- und Traumbild stilisiert und damit zur Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte der ›normalen‹ Leserin« (Loreck 1991: 14). In Magazinen und Werbeanzeigen werden Schönheitsideale, Frauenleitbilder, Mode und Lebensstil transportiert. Ebenso wie in anderen Medien wurde und wird an den Wünschen und Träumen von sozialem Aufstieg und Glamour gerührt. »Denn, so die Werbung damals wie heute, körperliche Attraktivität und ›gepflegtes Aussehen‹ können im harten Konkurrenzkampf unter den Arbeitssuchenden zum ausschlaggebenden Faktor für eine Anstellung werden« (ebd.: 17). Kracauer führt 1930 zu diesem Aspekt aus: »›Wie werde ich schön?‹ lautet der Titel eines jüngst auf den Markt geworfenen Heftes, dem die Zeitungsreklame nachsagt, dass es Mittel zeige, ›durch die man für den Augenblick und für die Dauer jung und schön aussieht.‹ Mode und Wirtschaft arbeiten sich in die Hand.« (Kracauer 1981: 25) Kracauer erklärt den Jugendkult und das gepflegte Aussehen als Zwang für die Angestellten im Kampf um den zu erhaltenen Arbeitsplatz und konstatiert weiter, dass entsprechend eine »moralisch-rosa Hautfarbe« gewünscht sei. Dies führe dazu, dass sich ein Angestelltentypus herausbilde, der sich »auf die erstrebte Hautfarbe hin uniformiert« (ebd.: 24). Er schließt daraus, dass der »Andrang zu den vielen Schönheitssalons« Existenzsorgen entspringe, »der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse« nicht nur als Luxus aufzufassen sei: »Aus Angst als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, die Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten« (ebd.). Ein von ihm angeführtes Beispiel macht dies sehr anschaulich: »Ein Beamter eines Berliner Arbeitsamtes erklärte mir, dass Leute mit körperlichen Fehlern, Hinkende etwa oder gar schon Linksschreiber, als erwerbsbeschränkt aufzufassen und besonders schwer unterzubringen seien. […] Aus der verminderten Absatzfähigkeit von Runzeln und ergrauten Haaren macht der Beamte keinen Hehl.« (Kracauer 1981: 23) Heute, wie auch schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sind Attribute einer schönen wie erfolgreichen Frau gepflegte

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Erscheinung, trainierte Figur, Jugendlichkeit und Gesundheit als Zeichen für uneingeschränkte Leistungsfähigkeit. Die Sendung GNT ist indes nicht nur ihren curricularen Inhalten – der Vermittlung von Schönheitshandeln – verpflichtet, sie arbeitet ebenso wie Schulen im Allgemeinen selbst mit Disziplinierung. Das bedeutet letztendlich ganz plakativ: Nur mit (Selbst-)Disziplin ist Leistung erbringbar, nur mit Leistung kann Erfolg erzielt werden. Wer hemmungslos ist, muss sich nicht wundern, wenn er/sie keinen Erfolg oder keinen Arbeitsplatz hat. Wer sich nicht beherrscht, ist selbst schuld an ihrer/seiner Misere. Wer sich nicht auf Idealmaße, also Norm-Maße, hin mit Sport und Selbstkontrolle beim Essen selbst diszipliniert, sich nicht den Kleidungs- und Kosmetiknormen und auch anderen darüber hinausgehenden Ansprüchen unterwirft, ist – so die Botschaft – nicht gewollt, weil von ihr/ihm nicht viel zu erwarten ist. Elias beschreibt, dass es im Laufe des Zivilisationsprozesses für den Einzelnen notwendig wird, »sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu halten« (Elias 1989: 317). Er betont, dass es sich dabei keineswegs nur um eine bewusste Regulierung handelt: »Gerade dies ist charakteristisch für die Veränderung des psychischen Apparats im Zuge der Zivilisation, dass die differenzierte und stabilere Regelung des Verhaltens dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr als ein Automatismus angezüchtet wird, als Selbstzwang, dessen er sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewusstsein will. Das Gewebe der Aktionen wird so kompliziert und weitreichend, die Anspannung, die es erfordert, sich innerhalb seiner ›richtig‹ zu verhalten, wird so groß, dass sich in dem Einzelnen neben der bewussten Selbstkontrolle zugleich eine automatisch und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur verfestigt, die durch einen Zaun von schweren Ängsten Verstöße gegen das gesellschaftsübliche Verhalten zu verhindern versucht« (ebd.: 317).

Der Preis, der, so Elias, für diese Selbstkontrolle zu bezahlen ist, ist das zwar gefahrlosere, damit aber auch affekt- und lustlosere Leben; es wird Ersatz in Büchern, in Bildern und im Traum gesucht: »so sieht der Bürger Gewalttat und Liebesleidenschaft im Film« (Elias 1989: 330). Dass dieses nicht nur glückliche Lösungen erfährt, sondern bei einem Teil der Menschen zu »Störungen« und »dauerhaften Verkümmerungen« führt (ebd.: 331), sollte dabei auch noch einmal Erwäh-

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nung finden. Sie sind auch im Hinblick darauf wichtig, die Traum- und Vorbildfunktion der Sendung GNT zu erörtern: Die Selbstzwänge »führen unter Umständen zu einer beständigen Unruhe und Unbefriedigtheit des Menschen, eben weil ein Teil seiner Neigungen und Triebe nur noch in verwandelter Form, etwa in der Phantasie, im Zusehen oder Zuhören, im Tag- oder Nachttraum Befriedigung finden kann« (ebd.: 332). Wendet man sich nochmal den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu, und sieht sich insbesondere die damals propagierten Frauenbilder an – GNT propagiert ja ebenfalls vor allem Frauenbilder und inszeniert insbesondere das aktuelle weibliche Schönheits- und Mode(l)-Ideal – lässt sich zeigen, dass auch schon für diese Zeit gilt, dass »der neue sportive Frauentyp […] die neuen Produktionsverhältnisse« spiegelt (Loreck 1991: 12). Das neue Schönheitsideal verlegt den Druck auf den weiblichen Körper von außen, z.B. durch das Korsett, nach innen, das heißt durch Selbstdisziplin wie Essverhalten und Sport wird das äußere Korsett durch das innere ersetzt – in der heutigen Zeit insbesondere durch Kraft- und Ausdauertraining – damals unter anderem durch Gymnastik, Turnen, Schwimmen, Tennis und Ausdruckstanz. Gleichzeitig kann in der »hübschen Aufmachung weiblicher Angestellter« unter anderem eine Kompensationsfunktion gesehen werden: »Der Zwang, hübsche Kleider zu tragen und immer gepflegt auszusehen, kam vielmehr ihrem Bedürfnis nach Selbstdarstellung und -bewusstsein entgegen. In der weiblichen Rolle, in Erotik und Mode konnten sie die demütigenden und deprimierenden Erfahrungen ihres beruflichen Alltags kompensieren und ein Stück Macht zurückgewinnen.« (Frevert 1988: 29)

Gleichzeitig spiegeln die Sportarten die Modetrends dieser Epoche, als auch den Amerikanismus, die Fortschrittsbegeisterung. Sie werden zur Erreichung des knabenhaften Schönheitsideals und der sonnengebräunten Haut ebenso betrieben, wie zum Ausgleich zum grauen Alltag. Anstelle des bereits erwähnten Korsetts, das eine S-förmige Linie hergestellt hatte, werden jetzt Schlankheitspillen, Hungerkuren, chirurgische Eingriffe und gummierte Bandagen zum Flachdrücken weiblicher Formen genutzt. Die Unterwäsche vervollständigt die äußere Erscheinung. Die Entwicklung der Unterwäsche vom Korsett und pfundschwerer Wäsche zu einem hauchdünnen Hemdhöschen mit

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knöpfbarem Steg aus zartem Stoff ohne Rüschen ist revolutionär. Hemdhöschen aus Seide sind in der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre oft das einzige, was unter Kleidern getragen wird (Historisches Museum Frankfurt am Main 1981: 57). In den Zwanzigern trägt die Frau zu ihren spitzen flachen Schnürhalbschuhen, ihren hochhackigen Abendschuhen und halbhohen Trotteurs hautfarbene Strümpfe, »die das Bein nackt erscheinen« lassen (Thiel 2010: 403). Die Stoffe der Abendkleider sind weich und fließend, dadurch kann sich die schlanke, sportlich trainierte Figur in der Bewegung gut abzeichnen (Koch 1988: 19). Gleichzeitig setzt sich das dekorative Schminken bei modebewussten, emanzipierten Frauen durch: »Das Make-up der zwanziger Jahre wollte demonstrieren, dass sich seine Trägerin über die herrschenden bürgerlichen Moralvorschriften hinwegsetzte und das Recht auf die freie Liebe, das jahrtausendelang zu den Privilegien des Mannes gehörte, für sich in Anspruch nahm. Die Augen wurden schwarz umrandet die Augenbrauen ausrasiert und Lippen und Fingernägel rot angemalt.« (Thiel 2010: 399) In den konservativen Gesellschaftsschichten darf allenfalls die Rosigkeit des Teints betont werden. Kracauer spricht, wie oben bereits erwähnt, von der moralisch-rosa Hautfarbe, welche nicht zu moralischdüster, noch zu sinnlich-rosa sein dürfe. Die Angestellten haben immer frisch und jung, also leistungsfähig zu erscheinen, besonders in ökonomischen Krisenzeiten. Das dekorative Schminken ist also durchaus als ein bewusstes Hinwegsetzen über bürgerliche Moral- und ÄsthetikVorschriften zu betrachten. Der ökonomische Druck leistungsfähig zu sein – und insbesondere zu scheinen – ist folglich als Entwicklung besonders seit den zwanziger Jahren bzw. nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aufzufassen. Daher ist es wichtig, sich der Funktion der Mode und der bürgerlichen Geschlechtsrollenklischees bewusst zu werden. In der Mode zeigen sich sowohl emanzipatorische als auch antiemanzipatorische Momente in einer öffentlichen und visualisierten Form. In ihr, wie auch in der Kunst und der Werbung, können gesellschaftliche Tendenzen eingesehen werden. Walter Benjamin hat die gesellschaftliche Bedeutung der Mode wie folgt zusammengefasst: »Das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihren außerordentlichen Antizipationen. […] Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu

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lesen verstünde, der wüsste im Voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. – Zweifellos liegt hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu machen.« (Benjamin 1983: 112)

Durch die Entwicklung der Textilindustrie, der Kunstseide und der Nähmaschine wurde Mode zu einem Massenphänomen. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einer Demokratisierung der Mode durch die Konfektionsindustrie sprechen (Thiel 2010: 341). Mit der Angleichung der Modestile folgt eine optische Angleichung verschiedener Gesellschaftsschichten. Die Mode wechselt immer schneller, das bildet die Basis der Modezeitschriften, die sich immer wieder neu anpassen und den verschiedenen sozialen Milieus entsprechende Tipps und Kniffe anbieten. Steele betrachtet »Mode als symbolisches System, das sich mit den Formen der Sexualität verbindet – sowohl mit der sozialen Geschlechtsidentität (gender) als auch mit dem sexuellen Verhalten (und der erotischen Anziehung)« (Steele 1998: 9). Gleichzeitig ist die Mode ein Ausdruck von Lebensziel und Lebensstil und trägt damit ganz entscheidend zur Selbstinszenierung bei, oder wie Waidenschlager es formuliert: »Kleidung ist immer Ausdruck des Lebensgefühls, der Lebensqualität der jeweiligen Besitzer und somit Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen« (Waidenschlager 1991: 9). Die Historizität des heteronormativen und disziplingenerierten Schönheitsideals der spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft kann anhand von Bildbeispielen aus dem Barock und dem damit verknüpften Schönheitsideal jener Zeit aufzeigt werden: Das erste Beispiel ist Bathseba im Bade (1654) von Rembrandt Harmensz van Rijn (1606 – 1669). Es zeigt Bathseba nackt auf einem großen roten Hocker sitzend, der mit weißen Tüchern bedeckt ist. Ihre Scham ist ebenfalls mit weißem Tuch bedeckt (das eine malerische Ergänzung des 19. Jahrhunderts gewesen sein könnte, was jedoch an dieser Stelle nicht von Belang ist). Bathseba trägt Perlenohrringe und eine Halskette, ihre Haare sind mit roten Bändern geschmückt und locker hochgesteckt. Ein Band und ein paar lockere Haarsträhnen fallen an den Halsseiten herab. Links unten im Bild befindet sich eine kniende Dienerin, welche ihr den rechten Fuß pedikürt. In der rechten Hand hält Bathseba ein weißes Blatt Papier, den Brief Davids. Das Gemälde

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geht auf die Bibelstelle 2. Samuel 20.11 »Davids Ehebruch und Blutschuld« zurück. Dort heißt es: »Und es begab sich, dass David um den Abend aufstand von seinem Lager und sich auf dem Dach des Königshauses erging; da sah er vom Dach aus eine Frau sich waschen; und die Frau war von sehr schöner Gestalt. Und David sandte hin und ließ nach der Frau fragen, und man sagte: Das ist doch Batseba, die Tochter Eliams, die Frau Urias, des Hetiters«.

Wie sich an der Bibelstelle zeigen lässt, handelt es sich bei Bathseba um eine »Frau von sehr schöner Gestalt«. Rembrandts Gemälde zeigt eine Frau mit kleinen festen Brüsten, die jedoch einen ausgeprägten Bauch, breite Hüften und kräftige Schenkel besitzt. Das Gesäß kann man durch die sitzende Position und die an ihrer linken Hüfte liegenden weißen Tücher nicht sehen, es kann aber durchaus erahnt Abb. 1: Rembrandt Harmensz van Rijn werden, dass dieses eben(1606 – 1669): Bathseba im Bade (1654). falls nicht allzu klein sein dürfte. Da das biblische Motiv eine schöne Frau vorgibt, kann daher mit Sicherheit geschlossen werden, dass die abgebildete Frau dem Schönheitsideal des Barock entsprach. Das zweite Beispiel ist das Portrait Ludwig XIV. (1638 – 1715), (1701) von Hyacinthe Rigaud (1659 – 1743). Ludwig XIV. steht in Krönungsornat mit Allongeperücke auf einem leicht erhöhten Podest, welches mit edlem Seidenteppich ausgelegt ist, wobei hinter ihm noch eine weitere Stufe nach oben geht, auf der rechts hinter ihm ein prächtiger Thron steht. Er steht vor einer Säule aus grünem Marmor mit einem Podest mit Reliefs und vor drapiertem roten Samt und Brokatstoff mit goldenen Borten und Quasten, dem Thronbaldachin. Neben ihm steht ein Hocker, auf dem seine Krone und ein kurzes Zepter liegt. Ho-

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cker und Thron sind mit dem gleichen Samtstoff in königsblau mit bestickten goldenen Bourbon-Lilien bezogen wie sein Krönungsmantel, welcher auf der Innenseite mit weißem Hermelin ausgeschlagen ist. Dieser ist üppig über die linke Schulter drapiert, so dass sein linker Arm ab dem Ellenbogen zu sehen ist. Unter dem Krönungsmantel trägt er ein gerüschtes weißes Hemd – d.h. die Unterwäsche lugt zwischen den darüber liegenden Kleidungsstücken hervor –, ein Spitzenjabot und eine kurze Pumphose aus weißem Spitzenstoff. Ludwig XIV. trägt weiter eine weiße seidene Strumpfhose, die sehr eng am Bein anliegt und keine Falten schlägt, dazu seidenbezogene helle Schuhe mit roten Schnallen und erhöhten roten Absätzen. Die Beine sind inklusive der Oberschenkel fast vollständig zu sehen. Das Gesäß ist von der kurzen Hose knapp aber vollständig bedeckt. Der »Sonnenkönig« steht in Tanzmeisterpose da, die linke Hand in die Hüfte gestützt, mit der rechten Hand stützt er sein goldenes Lilien-Zepter auf den Hocker auf. An seiner linken Seite trägt er ein Schwert. Die ganze Gestalt erscheint gleichzeitig sehr aufgerichtet, herrschaftlich und stolz, aber auch durch die Standbein-Spielbein-Stellung mit leicht ausgestelltem Fuß leicht und grazil. Abb. 2: Hyacinthe Rigaud Das Bild zeigt einen Mann in (1659 – 1743): Ludwig XIV (1701). der höchsten Position seines Landes mit Seidenstrumpfhosen, gezierter und gleichzeitig aufrechter Tanzhaltung, und darüber hinaus erhöhten roten Absätzen, welche ein Privileg des Adels waren (Thiel 2010: 236). Diese Selbstinszenierung und Mode widerspricht dem bürgerlichen Geschlechtsrollenklischee vom Mann diametral. Auch noch im Spätkapitalismus tragen Männer, vor allem Macht Innehabende, nunmehr dunkle Anzüge mit weiten Bundfaltenhosen, teils mit dunklen farbig dem Anzug angepassten Westen unter den Jacketts und möglichst weißen Hemden mit enganliegendem Kragen und Krawatte oder Fliege, je nach Anlass. Farbig-

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keit ist auch heute allenfalls durch pastellfarbene Hemden, zumeist in bläulichen Tönen und die dazu passenden Krawatten möglich, wird aber von höheren konservativeren sozialen Milieus gemieden. Die gezierte Haltung Ludwigs XIV. hat mit dem bürgerlichen männlichen Geschlechtsrollenklischee nichts zu tun. Was im höfischen Adel des Barock und des Rokoko als elegant galt, wird heute in der bürgerlichen Gesellschaft als effeminiert und gar ›tuntenhaft‹ angesehen, und damit eher einem homosexuellen Habitus zugeordnet. Das Bürgertum war seit jeher bestrebt, sich durch die Entwicklung vorbildlicher Leitbilder und normativer Ideale weiblichen und männlichen Verhaltens (Barta 1987: 101) gegenüber dem Adel, aber auch gegenüber den unteren Ständen abzugrenzen. Dazu ist auch Knigge zuzurechnen, der versuchte »den Bürger zwischen Anpassung an adlige Formen und bürgerliche Selbstbehauptung durchzubalancieren« (ebd.: 87). Barta erläutert, dass »der Bürger erkannte, dass durch Erziehung jegliche Körpersprache aneigenbar und formbar war, je früher, desto besser« (ebd.: 86). Barta erörtert, dass der bürgerliche Mann die körperlichen Restriktionen »in der Absetzung zum Adel und durch erfolgreiches Agieren am Markt als ein Stück gesellschaftlicher Befreiung und Emanzipation erfahren« habe. Sie konstatiert dagegen für die bürgerliche Frau, dass diese »das neue häusliche Glück und die Freistellung von der Marktökonomie mit einem größeren Triebverzicht und weitgehender gesellschaftlicher und körperlicher Einschränkung ihres Bewegungsradius und ihrer Handlungsfähigkeit bezahlt« habe, »obwohl sie für die bürgerlich-patriarchale Ideologie ›Natürlichkeit‹ verkörperte« (ebd.: 102). Nach Foucault ist Macht »der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (Foucault 1983: 114). Dass es im Foucaultʼschen Sinne zur Macht immer auch die Gegenmacht gibt, der Widerstand immer mitgedacht werden muss, Machtverhältnisse einen »strikt relationalen Charakter« haben (Foucault 1983: 117), zeigt sich daran, dass nicht nur in anderen Epochen andere Schönheitsideale vorherrschten, sondern auch in unserer Gesellschaft das schlanke Schönheitsideal nicht ungebrochen ist.2 Allein die Existenz der HipHop-und Dancehall-Szene, in der Frauen mit üppigen Formen, vor allem mit dicken Pos und kräftigen Schenkeln, be-

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Der Widerstand zeigt sich allerdings auch schon durch den Umstand, dass das Schönheitsideal nicht von allzu vielen Menschen erreicht wird.

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vorzugt werden, zeigt dies an. Erwähnt seien an dieser Stelle beispielhaft zum einen das von Regisseur Chris Cunningham für den Elektronica-Musiker Aphex Twin gedrehte Video »Windowlicker«, welches dieses Schönheitsideal aufgreift, und zum anderen der Song »Schüttel deinen Speck« von Reggae/Dancehall/HipHop-Musiker Peter Fox. Auch bezüglich der Heteronormativität der bürgerlichen (Schönheits-) Ideale lassen sich entgegenlaufende queere Aspekte, beispielsweise bei Videoclips von Madonna, oder auch der Popstar Michael Jackson selbst, aufzeigen (vgl. Wohler 2009: 54, 170ff, 180ff).

Z UR S ENDUNG »G ERMANY ’ S N EXT T OPMODEL – BY H EIDI K LUM « SELBST In der Sendung GNT werden Mädchen und junge Frauen für die Teilnahme an einem Wettbewerb um den Titel Deutschlands nächstes Topmodel gecastet. Im Verlauf der Sendung wird von Folge zu Folge jeweils bestimmt, wer von den Teilnehmerinnen weiter im Wettbewerb bleibt und wer ausscheiden muss. Im Finale wird schließlich diejenige Kandidatin gekürt, die aus der Sicht der Jury die Beste ist. Jede wöchentliche Sendung einer Staffel wird aufgezeichnet, geschnitten und aufbereitet, um sie wöchentlich donnerstags ausstrahlen zu können. Gezeigt wird der von den Machern der Sendung inszenierte und geplante Tagesablauf der Kandidatinnen in der Casting-Wohngemeinschaft, welcher der Sendung eine modulhafte Struktur gibt. Die Sendung besteht aus Aktivitäten der Kandidatinnen wie Lehreinheiten, Prüfungen, Freizeit etc., die in der Regel in der Gruppe unternommen werden. Bei diesen Aktivitäten können auch die gesamte Jury oder einzelne Mitglieder beteiligt sein. Darüber hinaus gibt es jeweils Kontakt mit Fotografen, Werbefilmern, Modelagenten, Auftraggebern und prominenteren Models, die »es geschafft« haben. Diese Kontakte sind auf die zukünftige »Modelkarriere« hin ausgerichtet. Familie, Freunde, Fans und Bekannte spielen in der Sendung allenfalls am Anfang beim Einchecken und am Ende bei der Abschlusssendung mit der »Krönung« der Gewinnerin eine geringe Rolle. Die Jury ist die für den Zuschauer sichtbare Entscheidungsträgerin, die den Verlauf der Sendung wesentlich bestimmt. Sie setzt nicht nur das Konzept um, sondern trägt mit der Auslese der Kandidatinnen auch dazu bei, auf welche Weise sich die Sendung mit der sich ver-

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kleinernden Gruppenzusammensetzung verändert. Am Ende jeder Folge wird in einer Beratung der Jury entschieden, welche der Kandidatinnen in der nächsten Folge noch dabei sein dürfen. Die Verkündung des Juryurteils ist der Baustein am Ende der Sendung, auf den hin die dramaturgische Spannung hin aufgebaut wird. Die Jury begleitet darüber hinaus die Kandidatinnen auf den einzelnen Etappen, hilft ihnen Aufgaben mit Ratschlägen zu bewältigen und moderiert die Sendung während des gesamten Verlaufs. Chefin der Jury ist Heidi Klum (Model, Moderatorin, Werbe-Ikone, Geschäftsfrau), die seit der ersten Staffel die Leitung der Sendung innehat. Neben ihr gehören zwei weitere Personen und in Einzelsendungen weitere externe Gutachter der Jury an.3

M ETHODISCHE B ESCHREIBUNG In der vorliegenden Analyse wird die Sendung selbst zum Analysegegenstand.4 Datengrundlage ist also die Sendung selbst und nicht die Wahrnehmungen oder Meinungen der Zuschauer oder deren Kommunikation über diese. Problematisch ist, dass Filme als bewegte Bilder außerordentlich komplex für inhaltsanalytische Zugänge sind. Es gibt schlicht keinen Königsweg der Filmanalyse (vgl. Mikos 2008: 41). Vielmehr müssen die Erkenntnisse durch Komplexitätsreduktion und einer Einschränkung des theoretischen Zugangs auf einzelne Disziplinen gewonnen werden. Die Datenbasis der vorliegenden Analyse ist die 4. Staffel der Topmodel-Reihe. Sie wurde zwischen dem 12. Februar und dem 21. Mai 2009 ausgestrahlt. Zur Jury dieser Staffel gehörten Heidi Klum,

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Bislang gehörten der Modelagent Peyman Amin, Choreograph und Model Bruce Darnell, Casting-Director Rolf Scheider, sowie zuletzt Fotograf Kristian Schuller und Marketing-Direktor Qualid Ladraa zur jeweils dreiköpfigen Jury.

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Das Projekt ist im Rahmen eines Seminars zu nicht standardisierten Methoden an der Leibniz Universität Hannover durchgeführt worden. Die Projektgruppe bestand aus sieben Personen. Datenerhebungen und -analysen wurden zwar individuell und arbeitsteilig erstellt, aber im Gruppendiskurs jeweils abgesichert.

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Peyman Amin und Rolf Scheider. Vor Beginn der Sendung gingen 18.786 schriftliche Bewerbungen von Kandidatinnen ein, die jedoch keine erkennbare Berücksichtigung bei der Auswahl fanden. Die ersten beiden Sendungen der Staffel waren offene Castings in Düsseldorf und München mit 1104 bzw. 1376 Teilnehmerinnen, aus denen jeweils in zwei Schritten letztlich 15 pro Castingstandort ausgewählt wurden. Aus diesen verbleibenden 30 Bewerberinnen der beiden offenen Castings wurden in der dritten Folge schließlich 16 Kandidatinnen für die eigentliche Endrunde bestimmt. Zusätzlich nahm die Siegerin von »Austria’s Next Topmodel« an der Endrunde teil. Die 17 ausgewählten Mädchen der Endrunde waren im Schnitt 18,8 Jahre alt, die jüngsten waren 16, die ältesten 21. Der überwiegende Teil der Aufzeichnungen nach diesem ersten Auswahlprozess fand in Amerika statt, weitgehend in Los Angeles. Kandidatinnen und Jury reisten jedoch auch nach Las Vegas, Miami, New York, Hawaii und Singapur. Als Siegerin in der abschließenden LIVE-Sendung ging schließlich die Münchener Schülerin Sara Nuru hervor. Zunächst wurden alle Sendungen der Staffel aufgezeichnet. Die natürlichen Daten der Sendung wurden also zunächst fixiert und entsprechend für die Analysen vorbereitet. Der erste analytische Schritt bestand darin, Überblicksprotokolle zu allen Sendungen zu erstellen, in denen drei Aspekte im zeitlichen Ablauf festgehalten wurden: • • •

Eine Kurzcharakterisierung des inhaltlichen Ablaufs der Sendung und ihr Aufbau in Bausteinen. Die Hervorhebung thematisch bedeutsamer Äußerungen und Dialoge. Das Gesagte wurde hierbei wortwörtlich transkribiert. Spontane Ideen, Bewertungen, Kommentare und Einordnung durch den jeweiligen Protokollanten.

Um etwaige individuelle Verzerrungen bei der Erstellung der Protokolle zu vermeiden, wurden sie jeweils von mindestens einer weiteren protokollierenden Person gegengelesen und entsprechend verbessert oder korrigiert. Die Überblicksprotokolle sind als künstliche Daten bereits eine Transformation und damit Interpretation der Sendung, die zwar eine Reduktion an Komplexität darstellt, aber auch einen detaillierteren Zugang jenseits der Komplexität der Filmaufzeichnung selbst ermöglicht. Inhalt, Struktur, Aufbau und Dramaturgie der Sendung werden auf diese Weise besonders sichtbar. Alle Ebenen der Filmana-

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lyse, wie Inhalt, Narration und Dramaturgie, Akteure, Gestaltung und Kontexte, können auf diese Weise in den Blick genommen werden (vgl. Mikos 2008: 43ff). Bildelemente wie Kameraperspektiven, Schnitte etc. wurden dagegen nicht protokolliert, allenfalls Auffälligkeiten notiert. Im Vordergrund stand der Text der Akteure in der Sendung. In einem zweiten Schritt wurden aus dem gewonnenen Überblicksmaterial in der Gruppe Schlüsselpassagen ausgewählt und dann eingehender transkribiert, interpretiert und untersucht. Auf diese Weise konnten individuelle Wahrnehmungsverzerrungen einzelner durch Diskussionen und Interpretationen aus mehreren Perspektiven beschränkt werden. Gemäß der häufig praktizierten qualitativen Auswertungspraxis wurde ein eigenständiger Mix an Interpretationsschritten gegangen, der sich aus Elementen der Kodierung anhand der Methoden der Grounded Theory bezüglich der vermittelten Schönheitsideale in der Sendung (vgl. Böhm 1994; Strauss & Corbin 1995) und des sequenzanalytischen Zugangs (vgl. Schöne 2006) bezüglich des Aufbaus der Sendung aus den einzelnen modulhaften Komponenten zusammensetzt. Bei der Feininterpretation einzelner Schlüsselszenen wurden auch Elemente der objektiven Hermeneutik herangezogen, um in Form einer Interpretationsgruppe über die Ausleuchtung von Bezügen und Kontexten protokollierter Einzelszenen zu reflektieren. Auch wenn mit diesem Vorgehen keine umfassend abgesicherte Gesamtanalyse der Sendung vorgenommen werden kann, die alle textlichen, bildlichen und technischen Elemente umfasst, kann dennoch eine qualitativ befriedigende Interpretation des Grundgehalts der Sendung sowie der von ihr kommunizierten ästhetischen Leitbilder erfolgen.

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Die Interpretation der Topmodel-Sendung als Schule für angehende Models drängt sich geradezu auf. Die Sendung weist deutlich Grundelemente einer Schule auf. Die Sendung selbst, aber auch einzelne Abschnitte daraus, können als curriculare Bausteine angesehen werden. Die Aufgaben sollen den Kandidatinnen helfen, »über sich hinaus zu wachsen«, sie werden unvorbereiteten Bewerbungssituationen ausge-

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setzt, sollen Stilsicherheit, Entscheidungsfähigkeit und Professionalität erwerben, indem sie Herausforderungen meistern und verschiedenste Images abbilden: das Training bedeutet letztlich Abhärtung und Vorbereitung – eine Art »Berufsausbildung« – für den Berufsalltag als Model. Nebenbei werden den »Mädchen« auch die »schönen Seiten des harten Modellebens« gezeigt. Letztlich ist die Arbeitsmarkttauglichkeit bzw. die Verwertbarkeit der Fähigkeiten für den Erfolg als Model entscheidend. Deutlich wird ebenfalls der »enorme Leistungsdruck«, der durch die Konkurrenz und die Gefahr des Ausscheidens geschürt wird. Was von den Kandidatinnen erwartet wird, sind bestimmte Leistungsmerkmale, die benannt werden durch Formulierungen wie »Potenzial haben«, das »Gesamtpaket aus Gesicht, Körper und Persönlichkeit«. Bei der äußeren Erscheinung geht es vor allem um Körperbeherrschung wie Haltung, Ausdruck, Posen, Körperzeigefreudigkeit, Extrovertiertheit, Körpermaße, Körperform, Körperfitness, gutes Styling und Schminkvermögen, Ausdruck von Gefühlen durch Mimik (»Strahlen«). Beim Aspekt der sogenannten »Persönlichkeit« werden Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, Selbstvertrauen, Wandelbarkeit, Einzigartigkeit, Flexibilität und die widersprüchliche Forderung nach dem künstlichen Erstellen von Gesichtsausdrücken mit der nach »Natürlichkeit«, »Echtheit« und »Authentizität« verbunden, während von den Kandidatinnen de facto eine tatsächliche Veränderung oder gar Wandlung abverlangt wird. Gerade beim verschwenderischen Umgang der Jury mit dem Begriff Persönlichkeit muss kritisch hinterfragt werden, ob nicht eher der Begriff des Images – wie beispielsweise bei Schauspielern oder Firmen und ihrer PR – damit gemeint ist, denn es geht ja nicht um den wirklichen Charakter, die menschliche Authentizität des Models bzw. der Modelkandidatin, sondern um ein – letztlich künstliches – verkaufsförderndes »Personality«-Klischee, welches sich die Kandidatinnen zulegen sollen, um in gewisser Weise »unverwechselbar« zu sein, und dennoch den Markterfordernissen zu entsprechen. Der lateinische Begriff »persona« bedeutet auf Deutsch »Maske«. Die Persönlichkeit spiegelt also auch etymologisch betrachtet nicht unbedingt den »wahren Charakter« wider. Wie schon anhand dieser Leistungsmerkmale bzw. -anforderungen ersichtlich ist, geht es immer wieder um »Professionalität« im Sinne der Arbeitsmarkttauglichkeit. Es werden neben den oben genannten geforderten Eigenschaften insbesondere Merkmale wie Disziplin und

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Selbstkontrolle, Leistungswillen, Schnelligkeit, Konkurrenz- und Kritikfähigkeit gefordert, gerade auch unter dem Gesichtspunkt, interessant bleiben zu müssen. Die Sendung vermittelt durch diese Anforderungsprofile normative Schönheits-, Schlankheits- und Leistungsideale, und damit arbeitsmarkttaugliches Verhalten. Die curricularen Module sind darauf ausgerichtet, bei den »Mädchen« Lernprozesse in Gang zu bringen, damit sie diesem Anforderungsprofil genügen. Bourdieu schreibt solche Lernprozesse, die sich in Geist und Körper einschreiben, dem kulturell Unbewussten zu, weil der Zugriff auf diese unbewusst geschieht: »Zwar mag es überraschen, wenn man die Haltungen, Fähigkeiten, Kenntnisse, Themen und Probleme, kurzum das ganze, durch den methodischen Lernbetrieb, den die Schule organisiert oder zu organisieren erlaubt, erworbene System von Denk- und Wahrnehmungskategorien dem kulturell Unbewussten zuschreibt: indessen steht der Schaffende zu seiner erworbenen wie zu seiner übernommenen Bildung in einem Verhältnis, das sich als das von ›tragen‹ und ›getragen werden‹ bezeichnen lässt, weil er sich nämlich nicht bewusst ist, dass die Bildung, die er besitzt, ihn besitzt« (Bourdieu 1974: 120).

Er charakterisiert das Ergebnis der Verhaltensnormierung der Schule als allgemeine Disposition, die als kultivierter Habitus angesehen werden kann (vgl. Bourdieu 1974: 123). Bezüglich der Strafsysteme der Disziplinaranstalten beschreibt Foucault das normierende Vorgehen wie folgt: »Die Individuen werden untereinander […] differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ›Natur‹ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. […] Es wirkt normend, normierend, normalisierend.« (Foucault 1977: 236) Weiter argumentiert er: »Das Normale etabliert sich als Zwangsprinzip im Unterricht zusammen mit einer standardisierten Erziehung und Errichtung der Normalschulen […]. Zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassizistischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente. An die Stelle der Male, die Standeszugehörigkeiten und Privilegien sichtbar machten, tritt mehr und mehr ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken« (ebd.: 237).

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Foucault erörtert, dass dies gleichzeitig homogenisiere, aber auch individualisiere, da die Normalisierungsmacht »Abstände misst, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt« (ebd.). Die Bildung in der Gesellschaft ist so geordnet, dass sie bestimmte Funktionen erfüllt (vgl. Graf & Lamprecht 1991: 76-78; Parsons 1987: 103ff). Die sechs verschiedenen Funktionen des Bildungssystems, nämlich Qualifikationsfunktion, Reproduktionsfunktion, Integrationsfunktion, Legitimationsfunktion, Allokationsfunktion, und Selektionsfunktion werden auch in der Sendung GNT erfüllt. Im Idealfall sollte die Funktion des Bildungssystems darin bestehen, die Leistung und Leistungsbereitschaft eines Individuums zu messen und ihm entsprechend einen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. Sozialisation sollte »Bereitschaften und Fähigkeiten der Individuen als wesentlicher Voraussetzung ihrer späteren Rollenerfüllung« entwickeln. Diese Bereitschaft umfasst laut Parsons nicht nur »allgemeine Werte der Gesellschaft« zu verwirklichen, sondern auch einen »spezifischen Rollentyp innerhalb der Struktur der Gesellschaft« (Parsons 1987: 104). Leider sieht die Realität doch nicht ganz so idealistisch aus. Tatsächlich wird stark nach dem Elternmilieu selektiert. Vester beschreibt Bildung zwar als »Schlüsselqualifikation für demokratisches Zusammenleben, politische Beteiligung und persönliche Autonomie«. Er macht aber auch deutlich, dass sie zugleich so definiert ist, »dass sie die Werthaltungen eines ganz spezifischen Milieus mit bevorzugten materiellen und kulturellen Ressourcen ausdrückt: des bildungshumanistischen Milieus« (Vester 2003: 4). Bildung reproduziert also die vorliegenden gesellschaftlichen Strukturen. Vester beleuchtet diesbezüglich die Tatsache, dass die »formale Öffnung des Bildungssystems« die »Illusion einer Chancengleichheit« und damit »die Vorstellung, dass das Scheitern die Folge eines persönlichen Versagens, der mangelnden Motivation, Fähigkeit oder Leistung ist«, vermittle (Vester 2003: 12f). Die Fernsehshow GNT kann sowohl hinsichtlich der allgemeinen Funktionen einer Bildungseinrichtung als auch inhaltlich als Schule ästhetischen Auftretens angesehen werden. Sie enthält curriculare Bausteine wie Lerneinheiten, Training, Instruktionen, Übungen, Hausaufgaben und Prüfungen. Foucault führt über die Funktion der Prüfung aus, dass sie die Techniken der »überwachenden Hierarchie« mit de-

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nen der »normierenden Sanktion« kombiniere: »Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung« (Foucault 1977: 238). Er konstatiert, dass die Schule ein »pausenlos funktionierender Prüfungsapparat« sei, welcher den gesamten Unterricht begleite (ebd.: 240). Im Gegensatz zur traditionellen Macht, die sich sehen ließ, setzt sich die Disziplinarmacht durch, indem sie sich unsichtbar macht, dafür die Disziplinierten ununterbrochen gesehen werden (ebd.: 241). Wendet man sich der Sendung zu, können verschiedene Funktionen differenziert werden. Das erste Grundelement der »Modelschule« ist das sogenannte Teaching, Training oder Coaching. Hier lernen die Models, sich zu bewerben, in hohen Schuhen zu gehen, mit der Presse zusammenzuarbeiten, etc. Auch bekommen sie Übungsaufgaben gestellt, wie z.B. eine Modenschau zu organisieren. Darüber hinaus lernen sie sich auch über gegenseitiges Feedback einander einzuschätzen. Des Weiteren können die als Challenges bezeichneten Herausforderungen genannt werden, die dabei helfen sollen, die Kandidatinnen »über sich hinauswachsen« zu lassen. Sie werden z.B. unvorbereitet in Bewerbungssituationen geschickt, müssen Ekel, Phobien und Höhenängste bewältigen, bei extremer Kälte oder Regen arbeiten, mit Nacktheit umgehen, mit heißen Gegenständen und Tieren arbeiten, Unterwasseraufnahmen oder Herausforderungen aufgrund spezieller Outfits hinnehmen, Outfits in kurzer Zeit wählen, sich gegenseitig nach einem vorgegebenen Thema fotografieren, Stand-Up-Comedy betreiben. Ein weiterer Bestandteil sind die Castings, die in jeder Sendung für Laufsteg-Jobs sowie Foto- und Filmshootings diverser Auftraggeber stattfinden. In jedem Fall sind diese Jobs schon als berufsbezogene Praktika anzusehen; die Kandidatinnen profitieren auch materiell davon. Die Jobs werden von Lehrern und Schülern als Zeugnisse gewertet und auch so bezeichnet5. Neben der Bewertung durch die Lehrer entscheidet also auch schon direkt in der Casting-Show selbst die Arbeitsmarkttauglichkeit bzw. Verwertbarkeit der Fähigkeiten über den Erfolg in der Modelschule.

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So meint Peyman Amin: »Letztlich ist die Anzahl der Jobs, die die Models bekommen, quasi deren Zeugnis. Wenn sie viele Jobs haben, dann haben sie gute Noten insgesamt. Wenn sie wenige Jobs haben, haben sie schlechte Noten. Wenn sie gar keinen Job haben, dann sieht’s natürlich zappeduster aus.« (GNTM 12, 14:37)

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In der Rubrik Modenschau, Foto- und Filmshooting lernen die »Schülerinnen«, wie sie sich am Set oder auf dem Laufsteg richtig verhalten und in Pose bringen. Eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Shootings und Aktionen deckt dabei gleichzeitig die Bandbreite aller Herausforderungsmöglichkeiten ab. Der Live-Walk ist ein Laufstegauftritt der Kandidatinnen vor der gesamten Jury. Er findet kurz vor dem Ende der Sendung statt. Dort müssen die Kandidatinnen im Bikini, mit Schleppe, in Dessous, mit behindernder Mode laufen, oder mit einer bestimmten »Einstellung« (z.B. als Vamp) auf dem Laufsteg brillieren. Der Life-Walk stellt die wöchentliche Abschlussprüfung der Kandidatinnen vor der nächsten Sendung dar. Die Prüfungsangst der Mädchen bei der Prüfung und Notenbekanntgabe wird explizit dargestellt. Peyman Amin bezeichnet die Leistungssteigerung einer Kandidatin im Laufe der Sendung sogar als »Diplomarbeit« (GNTM 14, 1:59). Die Entscheidung selbst erfolgt nach einer »Lehrerkonferenz« der Jury, in der schließlich die Kandidatin ermittelt wird, die aufgrund ihrer »vergleichsweise schlechten Leistung« mit dem »Ausschluss aus der Schule bestraft« wird. In diesem Fall wird das wöchentliche Prüfungszeugnis (das beste Bild eines Shootings für die Bewerbungsmappe) nicht ausgehändigt. Die Zeugnisübergabe wird in einem Feedback mit Anregungen zur Verbesserung vollzogen. Schließlich besteht das harte Modelleben auch aus angenehmen Seiten wie Vernissagen, Partybesuchen, Kontakten mit Berühmtheiten, medialer Aufmerksamkeit, Fankontakt, Besuch der Fashion Week in New York, Flug nach Las Vegas, Freizeit und Erholung. Neben den inhaltlichen Elementen verweisen auch die Akteure und das Setting auf den Schulcharakter. Wir haben eine Jury, die als Lehrer die Kandidatinnen nicht nur unterrichten, sondern auch prüfen. Die Sanktionsgewalt und Disziplinierung geht von den Lehrern aus. Die Lehrer fördern individuell, aber alle sollen gleichermaßen entsprechende Aufmerksamkeit und Chancen haben. Insgesamt scheint die Jury eine Pädagogik von »Zuckerbrot und Peitsche« zu verfolgen, was aber nicht weiter untersucht wurde. Insbesondere Heidi Klum wird von den Kandidatinnen als Vorbild anerkannt. Die Gewinnerin Sara Nuru sagt am Ende, dass Heidi Klum zwar weiterhin immer noch ein Vorbild sei, nun aber auch Beraterin und Freundin. Heidi Klum selbst betont jedoch die Bedeutsamkeit der Abnabelung, indem sie erwidert, sie werde lediglich verfolgen, was die

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Kandidatinnen nach dem Ende der Schulzeit mit den erworbenen Fähigkeiten machen. Die Schülerinnen müssen ihren eigenen Weg gehen (GNTM 16: 3:00). Die Kandidatinnen sehen sich selbst in der Rolle der Schülerinnen. Sie sollen das nachvollziehen, was auch die Lehrer (insbesondere Heidi Klum) »hart gemacht« hat. Sie lernen ihre eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen, aber auch sich gegenseitig zu beurteilen. So spricht Kandidatin Sarina über Larissa: »Ich find sie…also mit sechzehn ist sie schon ganz schön stark…find ich.« Larissa tröstet daraufhin Sarina und streicht ihr über das Haar und sagt: »Ich bin hart, okay? Ich schaff das schon« (GNTM 8: 1:16). Aufgrund der Konkurrenz und der Gefahr des Ausscheidens stehen sie unter enormem Leistungs- und Konkurrenzdruck. Mit dem Eintritt in die Modelschule ist das Elternhaus als Sozialisationsinstanz in den Hintergrund gerückt bzw. wird durch die Schulleitung auf niedrigem Level gehalten. Die sozialisierende Funktion übernimmt die Jury6. Umso bedeutsamer werden im Verlauf der Schulzeit die anderen Schülerinnen als peers, was die starke Bedeutung der Peer group zur emotionalen Unterstützung in der Schule verdeutlicht (vgl. Parsons 1987: 110). Das Ausscheiden wird von den Kandidatinnen weniger als Erlösung, sondern als großes Drama angesehen, weil es die Rückkehr in die Familie mit weniger gutem Abschlusszeugnis bedeutet. Unterstrichen wird das Schulmotiv auch dadurch, dass Alternativen jenseits der »Modelschule« bestehen, beispielsweise durch die Äußerung einer Kandidatin bei ihrem Ausscheiden: »Na dann fang’ ich halt an zu studieren«. Im McDonalds Werbespot, den die drei Finalistinnen mit Heidi Klum drehen, wird das Schulmotiv der Sendung sogar direkt aufgenommen und dem Zuschauer in ironischer Form kommuniziert. 7

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Beispielhaft kann hier eine Szene angeführt werden, in der eine Kandidatin (Tessa) einem Fotografen den Stinkefinger zeigt (GNTM 5, 1:50ff). Dieses führt schließlich zum Verweis aus der Sendung. Es zeigt, dass auch allgemeine Werthaltungen vermittelt werden, und dass Konflikte im Werdegang und der Sozialisation der angehenden Models grundlegend angelegt sind.

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Im Spot gehen die drei Models hinter Heidi Klum in ein McDonalds Restaurant. Während Heidi Klum oberlehrerhaft die Regeln für angehende Models aufzählt, geht den Schülerinnen nur der Hunger nach einem Burger durch den Kopf. Die Sendung ist durch das direkte Aufgreifen des Schul-

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AUSWAHL - UND E RFOLGSKRITERIEN ALS L ERNZIELE DER M ODELSCHULE Darüber, welche Ideale ästhetischen Auftretens bzw. Fähigkeiten eines angehenden Models über die Sendung vermittelt werden, lässt sich zeigen, was ein angehendes Topmodel idealerweise mitbringen oder was zur Berufsqualifikation bzw. zum Sieg in der Sendung gelernt werden sollte. Diese Erfolgskriterien wirken auf die Zuschauer ein, wie dies am Einfluss von Models in der Werbung auf die Selbstwahrnehmung von Betrachtern bereits gezeigt wurde (vgl. Petersen 2005). Damit ist ebenfalls davon auszugehen, dass auch die Lernziele der Sendung gesellschaftlich wirksam sind. Die Leistungsanforderungen und Ziele können aus dem protokollierten Material mit Hilfe der Kodiertechniken der Grounded Theory ermittelt werden. Einschlägige Szenen und Dialoge können insbesondere durch offenes und axiales Kodieren zu übergeordneten Kategorien zusammengefasst und subsumiert werden. Die auf diese Weise ermittelten Ideale bzw. Lernanforderungen an die angehenden Models sind insgesamt relativ allgemein und können über die gesamte Sendung hinweg anhand von Ankerbeispielen nachgewiesen werden. Grundsätzlich gilt, dass die Kandidatinnen vieles bereits mitbringen müssen. Einfach nur schön zu sein, genügt nicht. Schönheit nach dem gängigen Schönheitsideal bzw. Modelmaßen ist vielmehr Voraussetzung dafür, in der Modelschule überhaupt aufgenommen zu werden. Der Juror Peyman Amin bemüht hierzu die Metapher des Rohdiamanten (GNT 1, 1:05). Den Erfolg der Jury bei der Bewältigung dieser Aufgabe greift er im Finale vor der endgültigen Entscheidungsfindung erneut metaphorisch auf. »Und was wir hier sehen, sind nicht mehr Rohdiamanten, das sind geschliffene Diamanten« (GNTM 17, 2:20). Das »Schleifen« der Kandidatinnen ist das pädagogische Programm. Die Rohdiamanten sollten bereits wertvoll sein, sich letztlich aber auch »behandeln« und »formen«, »zu etwas Höherwertigen transformieren« lassen.

motivs schonungslos ehrlich zu sich selbst. So meckert Regisseur Martin über Heidi Klums erhobenen Zeigefinger, die das wiederum gut und gerade richtig findet, um ihren Lehrerstatus zu unterstreichen. Die Zustimmung des Regisseurs quittiert sie mit der typischen Feststellung autoritärer Lehrer: »Grundsätzlich habe ich nämlich immer recht« (GNTM 15: 0:35).

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Durchgängig wird vermittelt, dass das Gesamtpaket eines Models gesucht wird: »Ein makelloser Körper ist das eine. Ausstrahlung und Persönlichkeit das andere. Für die Jury muss das Gesamtpaket stimmen« (Sprecher aus dem Off, GNTM 1, 1:25). Ein »schöner Körper« ist bereits Voraussetzung für die Wettbewerbsteilnahme. Mindestanforderung zur Kandidatur sind 170 cm Körpergröße und ein Alter von mindestens 16 Jahren. Darüber hinaus sollte der Körper sportlich trainiert und die Figur schlank sein. Im Durchschnitt sind die 17 Kandidatinnen der Endrunde 177 cm groß und 18.8 Jahre alt, Angaben zum Gewicht sind nur für einzelne Kandidatinnen im Internet ausfindig zu machen. Im Schnitt dürften sie jedoch um einiges weniger wiegen als die durchschnittliche bundesdeutsche Frau in diesem Alter (62 kg, Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2010). Der »Bikiniwalk« wird frühzeitig als Prüfung und Bewertungsgrundlage durchgeführt. Der Bikini »bringt die Wahrheit ans Licht, da kann man uns nichts mehr verbergen« (Rolf Scheider, GNTM 2: 1:03). Durch die Präsentation ihres Körpers können die Kandidatinnen bewertet und somit auch kontrolliert werden. Eine große Bedeutung stellt die sportliche Aktivität dar, die in der Sendung betont wird. Verbunden mit dem regelmäßigen Fitnesstraining ist die »richtige« Ernährung. Schon um den Vorwurf der Produktion von »Hungermodels« oder der Förderung von Bulimie und Schlankheitswahn zu entgehen, werden die Kandidatinnen des Öfteren beim Essen gezeigt (z.B. beim gemeinsamen Kochen in der Modelvilla, GNTM 12, 1:26). Der Körper wird als das Kapital eines Models bezeichnet. Auch wenn die Kandidatinnen aufgrund der Auswahl bereits eine nahezu gleiche körperliche Ausgangsbasis besitzen, kommt es in der Sendung darauf an, dass die Lehrer bzw. die Jury auf entsprechende Maßnahmen der bodification als dem Einwirken sozialer Normen auf den Körper etwa durch Sport hinwirken (vgl. Degele 2004: 245). Der individuelle Körper der einzelnen Kandidatinnen wird im Foucaultʼschen Sinne vergesellschaftet, indem der Körper erfasst, kontrolliert und überwacht wird. Zugleich werden diese Normen auch an die Zuschauer kommuniziert. In diesem Sinne wirkt das Konzept der Sendung normierend in die Gesellschaft und ihre Vorstellungen von Models und Schönheit hinein. Der Umgang mit dem eigenen Körper wird bei den Modelkandidatinnen und dem Zuschauer durch die vom Sendekonzept aufge-

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stellten Anforderungen normativ beeinflusst, wobei die Fremdkontrolle der Jury vor allem beim Zuschauer aber auch bei den Models zur Selbstkontrolle wird (vgl. Schroer 2005: 19). Neben der Körperbeherrschung und dem Einwirken auf die Form des Körpers steht in der Sendung auch die beautification als ein auf »Inszenierung der eigenen Außenwirkung« gerichtetes Schönheitshandeln auf der curricularen Agenda (vgl. Degele 2004: 246). Die Kandidatinnen sollen lernen, sich schön zu machen. Zunächst heißt das, dass sie »laufen können« müssen. Als besondere Herausforderung und zugleich Hilfe erweisen sich dabei die high heels, weil mit ihnen die richtige und vorteilhafte Haltung beim Laufen leichter erreicht wird. Von den Kandidatinnen wird nicht nur verlangt, dass sie ihren Körper in allen Situationen perfekt beherrschen, sondern auch, dass sie die Bereitschaft zur Inszenierung ihres Körpers – eine gewisse Zeigefreudigkeit – mitbringen, da die Präsentation des Körpers essentiell beim Modelberuf ist. Nicht nur der Modelberuf hat viel mit Zeigen zu tun, auch die wechselnde Mode selbst hat, auch in früheren Epochen, viel mit Verdecken und Zeigen von Körperpartien zu tun, und ist immer auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, konservativ oder progressiv. In der Sendung geht es nicht um männliche, sondern um weibliche Anwärterinnen um den Sieg als Germany’s Next Topmodel. Hierbei spielt auch die gesellschaftliche Akzeptanz einer (möglichen) Zurschaustellung des weiblichen Körpers durch Mode und Konventionen, beispielsweise bei bestimmten Anlässen, im Verhältnis zu der des männlichen Körpers eine entscheidende Rolle. Gesellschaftliche Anlässe dienen Frauen zur Ausstellung ihrer Schönheit und körperlichen Reize. Misswahlen, Mannequins auf dem Laufsteg, die oft körperbetonte Mode und das weibliche Geschlechtsrollenklischee, machen weiblichen Exhibitionismus unsichtbar, da es wie selbstverständlich zur Frauenrolle gehört, nackte oder nur wenig bedeckte Haut zu Markte zu tragen und begutachtet zu werden. Weibliche Zeigelust geht damit gesellschaftskonform im weiblichen Geschlechtsrollenklischee der bürgerlichen Epoche auf. Männlicher Exhibitionismus dagegen widerspricht dem heteronormativ bestimmten männlichen Geschlechtsrollenklischee der bürgerlichen Epoche, im Gegensatz beispielsweise zum höfischen Adel, weil es sich nicht auf Gefallen, sondern auf Leistung stützt. »Der Druck des Scheins bei Frauen steht damit im Kont-

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rast zum Seinsdruck der Männer« (Wohler 2009: 195). Die Mode des Mannes zeigt ebenfalls sehr deutlich, dass er noch einen sehr viel weiteren Weg bezüglich der optischen Selbstdarstellung vor sich hat als die Frau (ebd.: 102). Bei aller Kritik ist die körperliche Selbstinszenierung der Frau also durchaus ein Schritt zur Emanzipation. Susan Sontag beschreibt in ihrem Essay zum Photoband »Women« von Annie Leibowitz Frauen als Projektionsfläche. Sie beleuchtet den konstitutiven Charakter der Schönheit bzw. Attraktivität für Frauen, und zieht folgendes Fazit: »Ein Mann ist immer zu sehen. Frauen werden angeschaut« (Sontag 1999: 23). Darüber hinaus schildert sie die Eigenschaft der Schönheit als etwas Totales bei einer Frau (ebd.: 30). Exhibitionistinnen sind extrovertiert8. Sie zeigen sich gerne und lassen sich gerne ansehen. Damit sind sie ideale Protagonistinnen für den Beruf des Models. Neben der Körperbeherrschung und der Zeigefreudigkeit wird auf den Aspekt der vielgenannten »Persönlichkeit« sehr viel Wert gelegt. Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und Selbstvertrauen im Auftreten bei Castings und bei der Modelarbeit sind ebenso wichtig wie die Wandelbarkeit eines Models, wobei innere und äußere Wandlungsfähigkeit auseinander gehalten werden können. Die äußere Wandlungsfähigkeit wird vor allem durch Kleidungswechsel und unterschiedliche Schminkstile hergestellt. Als besonders schwierig bei den Kandidatinnen erweisen sich jedoch Haarveränderungen. Am sogenannten Makeover Tag (GNTM 5) bekommen die Kandidatinnen einen zum Teil völlig neuen Look. Herausfordernd für die Kandidatinnen ist insbesondere die Angst vor einer wesentlichen Veränderung »ihrer Person«, also die Befürchtung, dass Inneres und Äußeres nicht mehr zusammen passen und sie durch den Eingriff entstellt werden. Alle sind gleichermaßen dem Regelzwang der Veränderung unterworfen, auch wenn unterschiedlich gravierend in den Look eingegriffen wird. Mit dem Make-over der Kandidatinnen startet die eigentliche Hauptphase der Sendung. Durch die Herstellung eines – aus Sicht der Jury – passenden neuen Kopfhaarlooks werden die Kandidatinnen der Entscheidung, und damit der Macht, der Jury unterworfen, da sich keine Kandidatin der Prozedur entziehen kann ohne ihre Teilnahme am Wettbewerb

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Interessant ist hierbei, wie selbstverständlich es in der Sendung tatsächlich ist, von den »Mädchen« Körperzeigefreudigkeit, also Exhibitionismus, zu erwarten.

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aufzugeben. Gleichzeitig erscheint der Vorgang als Initiationsritus in das zukünftige Modeldasein, wenn durch die äußere »Beschneidung« der Haarpracht die neue Lebensphase als Model sichtbar angenommen wird. Dass diese Unterwerfung unter das vorgegebene ästhetische Diktat der Juroren nicht vollständig konfliktfrei abläuft, ist aus Unterhaltungsgründen sicherlich intendiert. So rebelliert Kandidatin Larissa »Ich bin keine Puppe! Ich will wissen, was mit mir passiert, denn auch ich habe ein Recht zu sagen, was mir gefällt. Das ist immerhin noch mein Körper« (GNTM 5, 0:08), um sich schließlich in ihr Schicksal zu begeben und den Regeln zu unterwerfen mit dem Hinweis »Ich muss mich halt erst dran gewöhnen« (GNTM 5, 0:20). Die innere Wandelbarkeit drückt sich jedoch nicht einfach nur sozialisierend in der (persönlichkeits-)anpassenden Veränderung der äußerlichen Erscheinung aus. Es wird insgesamt ein sich wandeln könnendes Model in der Sendung anvisiert. Die Kandidatinnen sollen also ein Mindestmaß an schauspielerischem Talent aufweisen, um je nach Setting oder Vorgaben in nahezu jede Rolle perfekt schlüpfen zu können. Das ist gleichbedeutend mit einer Flexibilität im Ausdruck und der Fähigkeit, Gefühle durch Mimik und Körpereinsatz zeigen zu können. Die Bühnen eines Models müssen von diesem durch angemessenes Rollenspiel ausgefüllt werden (vgl. Goffman 1983). Wer sich als nicht wandlungsfähig oder gar als unflexibel erweist, steht unter dem höheren Risiko eines Ausscheidens aus dem Wettbewerb. Gleichzeitig werden »Authentizität, Ehrlichkeit und Natürlichkeit« als weitere Kriterien genannt. Das Model soll einerseits wandelbar sein, andererseits soll das, was es tut, nicht gespielt, gestellt oder künstlich wirken. »Sei authentisch, sei Du selber! Ich glaub, das ist das Beste. Denk nicht! Lass Dich fallen! Genieß es und hab Spaß! Weil wenn Du Spaß hast, dann wird das die Kamera sehen und genau das wird dann den TV Spot zu einem ganz großen Erfolg machen« (GNTM 12, 0:55). Da das Model aber den äußeren Anforderungen am Set genügen muss, hat es beim Posen alles letztlich künstlich zu erzeugen. Ein weiteres Ideal ist die Einzigartigkeit und Wiedererkennbarkeit als Model. Sicherlich beinhaltet dieser Gesichtspunkt etwas, was Models nicht unbedingt berufsmäßig brauchen, Topmodels jedoch schon, wenn sie wiedererkannt werden wollen. Dazu zählt auch die vielzitierte Stilsicherheit, die erlernt werden soll und kann. Sie stellt neben ihrer Eigenschaft als Berufsanforderung aber auch die Geschmacksbildung

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eines sozialen Milieus wider. Diese Aspekte umfassen eigentlich das, was »Personality« aussagt. Der Professionalitätsbegriff der Sendung lässt sich eher an allgemeinen Aspekten festmachen. Zickereien und Divenhaftigkeiten, die nach bürgerlichen Leistungsansprüchen allen Beteiligten nur unnötige Energie abverlangen, gelten als unprofessionell. Es lässt sich aber zeigen, dass der Subjektcharakter von Frauen sich durchaus daran festmacht, dass sie nicht einfach nur das tun, was von ihnen verlangt wird, sondern selbstbewusst Ansprüche an sie ablehnen (vgl. Wohler 2009: 183ff.). In der Sendung wird jedoch vor allem Leistungs- und Siegeswille und eine über den gesamten Sendeverlauf hinweg sich steigernde Leistung, Disziplin, Selbstkontrolle, Kritikfähigkeit und eine schnelle Auffassungs- und Umsetzungsgabe als Ausweis von Professionalität gewertet. Die »Unprofessionalitäten« steigern allerdings zugleich den Unterhaltungswert der Sendung für die Zuschauer enorm, und können daher für das Ziel einer hohen Zuschauerquote als explizit gewünscht interpretiert werden.

Z USAMMENFASSUNG UND F AZIT Um zu verstehen, warum die Sendung GNT erstens Kandidatinnen anzieht, aber auch Zuschauergruppen begeistert, muss man sich unter anderem der Sozialstrukturanalyse zuwenden. Die Lebensstile geben eine differenziertere Sicht auf die Bevölkerungsstruktur, ohne die Klassenstruktur aufzuheben. Vielmehr bietet die Darstellung der Milieus im sozialen Raum nach Bourdieu (Vester et al: 1993 und Bourdieu: 1994) eine Differenzierung in zwei Richtungen: als »horizontale« Kräfte, die sich in traditionellen bis modernen Wertorientierungen zeigen, und als »vertikale Kräfte« der Klassenlagen. »Soziale Trennlinien verlaufen nicht ›naturgemäß‹ zwischen oben und unten, sondern auch zwischen rechts und links im sozialen Raum« (Vester 1997: 30). Daher ist zu konstatieren, dass sich über die Stellung der Milieus im sozialen Raum auch ihr emanzipatorisches Potential erkennen lässt. Vester bezeichnet diese Konstellation als »pluralisierte Klassengesellschaft« (ebd.: 29). Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, dass die einzelnen sozialen Milieus unterschiedliche Vorstellungen zu Geschlechterrol-

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len9 und Familie – aber auch zu ästhetischen Aspekten wie Schönheitsidealen – besitzen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Alltagsästhetik einen entscheidenden Faktor für soziale Differenzierungsund Orientierungsprozesse darstellt (Flaig et al: 1993). Diese Pluralität der Werthaltungen lässt sich auch auf die Freiheit der Anpreisung der Schönheit anwenden: »Nur in jenen Kulturen, die aktiv die Freiheit in Form einer Überfülle an Wahlmöglichkeiten fördern, haben die Frauen das Recht und die Möglichkeit, ihre Schönheit anzupreisen, falls sie es wünschen, und die Männer ihren Kurswert an Männlichkeit« (Quinsel 1971: 172). Der Glamourfaktor des Berufs des Models, der sich in den heutigen Medien verstärkt durchzieht, entfaltet sich einerseits auf Basis der Zeigelust von Frauen, darüber hinaus aber auch auf der Grundlage erotischer Macht. Erotische Macht konstituiert sich über Attraktivität und Sex-Appeal, über eine erotische Selbstdarstellung. Zur Attraktion als erotischer Macht schreibt Imbusch, dass sie im Gegenzug zur Autorität einen flüchtigen Charakter habe, also nicht von Dauer sei, sie aber immerhin auf der Freiwilligkeit der Gefolgschaft aufbaue: »Attraktion zielt dagegen auf diffuse Anziehung, die eine Person (oder Organisation) für andere hat, um sie entsprechend beeinflussen zu können. Die Folgschaft ist dabei freiwillig und kann entweder auf kognitiver Identifikation mit Personen/Institutionen, positiven Einstellungen und Gefühlen gegenüber Personen/Institutionen oder der Attribution von Charisma zu Personen erfolgen. Während Autorität eine relativ stabile und dauerhafte Form der Machtausübung garantiert, sticht im Falle der Attraktion der transitorische, flüchtige Charakter der Macht hervor.« (Imbusch 1998: 12)

Schaeffer-Hegel beschreibt wiederum das Machtverhalten von Frauen als indirekt, es geschieht beispielsweise »in Form von Zuwendung und Erpressung, Verlocken und Versagen, durch Fürsorge und Liebesentzug, Einfühlnahme und Opferhaltung – kurz durch erotische Reize, soziale Empathie, Tratsch, Intrige und Beziehungsmacht« (SchaefferHegel 1996: 151). Resümierend lässt sich angesichts dieser Aspekte sagen, dass Macht durchaus subversiv wirken bzw. sein kann, dass es auch Widerstand und indirekte Formen der Machtausübung gibt, die

9

Zum Rollenverständnis der sozialen Milieus vgl. die auf der Sinus-Milieuforschung basierende Studie »Outfit 3« (Spiegel-Dokumentation 1994: 103-111).

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nicht nur über rationale Auseinandersetzungen verlaufen, sondern gerade den emotionalen – und auch erotischen – Kern treffen. Die Zurschaustellung des weiblichen Körpers kann also Ausdruck erotischer Macht, und damit Ausdruck eines Sexualsubjektes sein (Wohler 2009: 199f). Damit wird deutlich, was sich junge Mädchen und Frauen, die sich bei einem Casting wie zu GNT bewerben, aber auch junge Zuschauerinnen vor dem Fernseher, neben einem guten Einkommen noch erträumen. Selbst Zuschauer, die nicht zur Gruppe junger Frauen gehören, die sich theoretisch auch bewerben könnten, können sich in die Welt der Phantasie gleiten lassen, denn die jungen Kandidatinnen und das Sendeformat dienen als Projektionsfläche (unerfüllter) Wünsche und Sehnsüchte. So kann sich z.B. die ältere Dame noch an ihre Jugend erinnern, und an ihre damaligen Hoffnungen und Träume, und daran wie es war einen »jungen, attraktiven und makellosen« Körper zu besitzen. Die neue Qualität des Sendeformats besteht, wie auch bei anderen neueren Sendeformaten wie z.B. »Popstars« darin, dass es nicht nur das Anforderungsprofil für den Sieg des Contests darlegt, sondern dass es darüber hinaus das Auswahlverfahren, den Leistungsdruck, den psychischen Druck auf die Kandidatinnen und die Disziplinierungsmaßnahmen, die an einigen Stellen einen durchaus militärischen Charakter erhalten, so deutlich im Prozess selbst darstellt, dass kein Zweifel daran aufkommen kann, dass Leistungswillen, Disziplin, Anpassungsfähigkeit in Kombination mit einem herausragendem »Personality«-Faktor entscheidend für ein erfolgreiches Leben im Showbusiness bzw. auf dem Laufsteg, aber auch in anderen Karrierezweigen und »gehobenen« Berufen sind. Die schlanke Figur ist heutzutage als ein Distinktionsmittel der oberen Klassen und Milieus aufzufassen. Das qualitativ Neue ist also, dass es nicht um eine Beratung im Sinne eines herzustellenden Images geht, wie in Zeitschriften, in denen beispielsweise mit Vorher-Nachher-Fotostrecken, Schönheitshandeln anhand von Schminktipps, Kleidungs- und Farbempfehlungen für ganz »normale Frauen von nebenan« (in bestimmten Berufen) erörtert wird, sondern um Schönheitshandeln als Beweis für Arbeitsmarkttauglichkeit im Sinne von Disziplin, Anpassungsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit, gerade auch als Anreiz für die unteren Klassen und Milieus. Das normative Element dieser »Schule für Schönheitshandeln« besteht darin, die bestehenden Normen nicht nur in Bezug auf Schönheitsideal und Schönheitshandeln zu bestärken, sondern darüber hinaus dieses in

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alle Milieus zu transportieren und obendrein den Leistungsdruck auf die Selbstzwangapparatur aller sozialen Schichten und Milieus zu erweitern. In der Sendung wird also, wie auch schon in anderen Medien und Formaten, mit dem Glamourfaktor des Traumjobs Model operiert, darüber hinaus werden allerdings die Zukunftsängste, der Leistungsdruck, die Leistungs- und Arbeitsmarktfähigkeit, die hinter dem Schönheitshandeln von Menschen in der kapitalistischen Industrieund Informations-Gesellschaft stehen, auf den schulenden und damit formenden und disziplinierenden Höhepunkt getrieben. Dabei ist das propagierte Schönheitsideal nicht nur leistungsgeneriert, sondern überdies in einem besonders starken Maße heteronormativ. Denn das, was die Models in all ihren verschiedenen Model-»Rollen« darstellen, unterstützt die zwangsheterosexuelle Matrix von Sexualität, Attraktivität, Geschlechtsrollenklischee. Die Mädchen werden erotisch posend mit männlichen Models gezeigt, ihr Image und ihr Verhalten schlängelt sich an bürgerlichen »Natürlichkeitsvorstellungen« und dem dementsprechenden Schönheitsideal entlang. Spielen queere Stile eine Rolle? In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es die Garçonne, heute gibt es Butch-, Femme-, und Transgender-Stile. Diese werden nicht thematisiert. Das männliche Model-Image der Sendung bildet das Pendant zum weiblichen Model. Bei Jean-Paul Gaultier und Vivienne Westwood gibt es jede Menge queere Elemente, denn »ebenso wie die Körperoberflächen als das Natürliche inszeniert werden, können sie umgekehrt zum Schauplatz einer unstimmigen, entnaturalisierten Performanz werden, die den performativen Status des Natürlichen selbst enthüllt« (Butler 1991: 214). Auf diese muss man in der »heilen Model-Welt« einer Heidi Klum – in der noch nicht einmal Essstörungen, die in der Realität durchaus eine sehr große Rolle spielen, ein Problem darstellen – leider verzichten. Das bürgerliche leistungsbezogene und heteronormative Schönheitsempfinden wird im Gegenteil bis zur letzten Konsequenz bedient. »Persönlichkeit« ist also vermeintlich dann vorhanden, wenn alle hegemonialen Erwartungshaltungen zur vollsten Zufriedenheit bedient werden. Es ist davon auszugehen, dass dies an den Menschen, die sich diese Sendung ansehen, nicht spurlos vorbeigeht, und sich viele an den dargebotenen Standards orientieren werden, auch wenn sie diese nicht erreichen. Die Sendung vermittelt, dass Schönheit machbar ist, und dass ästhetisches Auftreten, aber auch Erfolg eine Frage des persönli-

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chen Wollens und des Erlernens von schönheitsbezogenen Handlungsstrategien und von Disziplin ist.

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Wohler, Ulrike (2009): Weiblicher Exhibitionismus. Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur, Bielefeld: transcript.

I NTERNETQUELLEN http://www.prosieben.de/tv/germanys-next-topmodel/ (01.10.2010) http://www.youtube.com/watch?v=2fmo1Sjn7dg (Video Aphex Twin: »Windowlicker«, Youtube: 01.10.2010) Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2010): http://www.gbe-bund.de/ (01.10.2010) Media control (2009): Pressemeldung: »Germany’s Next Topmodel« endet mit Staffelrekord, http://www.media-control.de/germanysnext-topmodel-endet-mit-staffelrekord.html (01.10.2010)

ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Musée du Louvre, Paris. – Abb. 2: Musée du Louvre, Paris.

»Eine ganze Welt von Gefühlen, Ideen und Bildern«1 Einige Überlegungen zur Ästhetisierung im religiösen Feld aus soziologischer Perspektive S ABINE A. H ARING

E INLEITENDE B EMERKUNGEN 1990 hielt Wolfgang Welsch in seinem Werk Ästhetisches Denken fest, dass ästhetisches Denken im Sinne von aisthesis im Begriff sei, dominant zu werden. Namhafte Denker der Gegenwart – von Lyotard, Derrida, Foucault und Baudrillard über Vattimo, Cacciari, Kamper und Sloterdijk bis zu Rorty und Feyerabend – zeigen nach Welsch die »auffällige Prominenz ästhetischen Denkens«: Wahrnehmungen, verstanden als »Gewahrwerden«, dienen sowohl als »Inspirationsquelle« als auch als »Leit- und Vollzugsmedium« und werden nun in ihrer Bedeutsamkeit erkannt. Nietzsches 1886 in der Vorrede zur Geburt der Tragödie erhobene Forderung, von nun an »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn« werde nun, so Welsch, eingelöst (Welsch 1993: 41-74). Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Alexander Gottlieb 1

Dieses Zitat wurde in Anlehnung an Durkheims Beschreibung des Kollektivbewusstseins gewählt: »Damit das kollektive Bewusstsein auftaucht, muss eine Synthese sui generis der einzelnen Bewusstseine entstehen. Diese Synthese hat aber die Wirkung, eine ganze Welt von Gefühlen, Ideen und Bildern hervorzubringen, die, wenn sie einmal vorhanden sind, Gesetzen gehorchen, die ihnen eigen sind« (Durkheim 1994: 567).

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Baumgarten mit der Veröffentlichung der beiden Bände seiner Aesthetica eine neue Disziplin im philosophischen Kanon etabliert, wobei Baumgartens frühe Ästhetik als erweiterte Erkenntnistheorie begriffen werden kann, innerhalb der die »unteren Erkenntnisvermögen« – Wahrnehmung (aísthesis), Phantasie, Erinnerung und »Begehrungsvermögen« – aufgewertet werden und diesen ein der Vernunft analoges Erkenntnispotential zugesprochen wird (Kernmayer 2004: 163). Ästhetisierung im Sinne von aisthesis meint demnach die »Erweiterung und/oder Veränderung der Wahrnehmungsmöglichkeiten« (Scherke/Bolterauer 2004: 359-360), wobei Wahrnehmung in diesem Kontext den Aspekt der »Sinneswahrnehmung« einerseits und den Aspekt der »Sinnwahrnehmung« andererseits umfasst (Welsch 1993: 48). Bereits in der Renaissance lassen sich vor allem in der Grafikproduktion der Raffael Werkstatt die Anfänge der sogenannten Bilderflut beobachten (Höper 2007), »Reproduktionsverfahren von Stimmen, Klängen und Geräuschen« sind schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden (Schrage/Hieber 2007: 14). Neue Wahrnehmungsreize prägten und prägen nicht nur die künstlerisch-kulturelle Produktion, sondern auch die Psyche der Menschen und die gesellschaftlichen Verhaltensformen. In diesem Zusammenhang spricht man heute von der »Ästhetisierung der Lebenswelt«, die erstens das Eindringen künstlerisch gestalteter Gegenstände in den Lebensalltag von Individuen (Ästhetizismus) beschreibt, zweitens im Sinne von aisthesis verwendet wird und drittens eine Ästhetisierung des Denkens meint (Scherke/Bolterauer 2004). Mit der Kategorie des Ästhetischen wird, wie es Brombach, Setton und Temesvári in der Einleitung zu dem kürzlich erschienenen und von ihnen herausgegebenen Sammelband »Ästhetisierung« formulieren, eine »Charakteristik benannt […], die auf den Bereich der Kunst nicht restringiert werden kann, sondern eine Dimension von kulturellen Praktiken überhaupt beschreibt«. Demnach erscheinen »unter dem Vorzeichen des ›Ästhetischen‹ […] Bildlichkeit, Imagination, Theatralität etc. als grundlegende Aspekte menschlicher Praxis« (Brombach/Setton/Temesvári 2010: 9). Das »Ästhetische« wird hier nicht als »externer Störfaktor« gedeutet, sondern vielmehr als etwas den jeweiligen Teilsystemen Immanentes, das für deren Funktionieren mitverantwortlich gemacht wird. Die Betonung von »Ästhetisierung« im religiösen oder politischen Feld zeige die Transformation an und ermögliche so »ein neues Verständnis von der Verfasstheit des Politischen, Religiösen oder des Wissens im Allgemei-

Ä STHETISIERUNG

IM RELIGIÖSEN

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nen« (Brombach/Setton/Temesvári 2010: 7-10, Zitat 10). Dabei prägte »ästhetische Erfahrung« als »Leitbegriff« den in den späten 1960er Jahren und frühen 1970er Jahren einsetzenden und bis heute nachwirkenden Diskurs rund um die »Ästhetik«, in deren Verlauf »ästhetische Erfahrung« zunehmend aus der Bindung an das »Kunstschöne« und schließlich auch an das »Naturschöne« gelöst und in einen breiteren Kontext gestellt wurde. »Ästhetische Erfahrung« wird nun allgemein auf das »Schöne« oder »Erhabene« bezogen und als »spezifische Form des Umgangs mit Objekten, Situationen, Personen beschreibbar« (Küpper/Menke 2003: 11). Als »Gefühle von Intensität«, die in den jeweiligen historischen und kulturellen Alltagswelten nicht zu finden sind, beschreibt Hans Ulrich Gumbrecht »ästhetische Erfahrung«, wobei er den Begriff »ästhetische Erfahrung« durch den des »ästhetischen Erlebens« ersetzt, um den Momentcharakter der damit einhergehenden Emotionen zu betonen. »Plötzlichkeit« und »Intensität« kennzeichnen, worauf Karl Heinz Bohrer hinweist, Augenblicke »ästhetischer Intensität«, die für viele Menschen anziehend wirken, ja nach welchen Menschen sich sehnen und suchen, nach denen sie bisweilen auch »süchtig« sein können (Gumbrecht 2003: 203-210).

ÄSTHETISIERUNG DES R ELIGIÖSEN Die zuvor kurz skizzierten Überlegungen zum gegenwärtigen »Ästhetisierungs-Diskurs« sollen im Folgenden für einen spezifischen Teilbereich des Sozialen: für das religiöse Feld, fruchtbar gemacht werden. »Ästhetisierung des Religiösen« kann nun im Sinne von aisthesis meinen, dass sich sowohl die »Sinneswahrnehmung« als auch die »Sinnwahrnehmung« im Religiösen verändert. Der Mensch als das auf Kultur angewiesene Wesen, das an »Sinnorientierungen, Daseinsauffassungen und Weltauslegungen, an ›Ideen‹ oder an ausgeformte ›Weltbilder‹« gebunden ist (Berger/Luckmann 1967: 111-112), konstruiert sich »Sinn«, wobei als »Stützkonzeptionen für Sinnwelten« unter anderem Mythologie, Theologie, Philosophie und Wissenschaft fungierten und fungieren. Im Hinblick auf das religiöse Feld ist in diesem Kontext festzuhalten: In einfach strukturierten Gesellschaften sind die religiösen Inhalte zumeist Allgemeingut aller Gesellschaftsmitglieder, während in komplexeren Gesellschaften ganz spezifische soziale Rollen entstehen. Den Trägern »religiöser« Rollen obliegt dabei »die

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Formulierung oder Bewahrung, Weiterentwicklung oder Neuentdeckung von symbolischen Verständnissen und Handlungen [...], die für die jeweilige gesellschaftliche Situation und die unterschiedlichen Sinnbedürfnisse der einzelnen Gruppen jenen Sinnzusammenhang herstellen, der gesellschaftliches Leben und individuelles Dasein legitimiert« (Hahn 1974: 46). Es sei jedoch durchaus möglich, dass von den Spezialisten Sinnzusammenhänge formuliert wurden und werden, die die Laien nur noch teilweise oder gar nicht als Symbole der Sinngebung des eigenen Lebens verstehen: Theologische Divergenzen, Schismen und Häresien sind in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie das Entstehen von prophetischen oder sektiererischen Bewegungen, die neue Lehren anbieten, die möglicherweise die Sinnbedürfnisse der Gesellschaft oder bestimmter Teilgruppen besser erfüllen können (Berger 1994: 173-176).2 Die Inhalte von religiösen Sinnwelten wurden und werden unterschiedlich – in Form »heiliger« Texte, Symbole, Narrationen, religiöser Praktiken et cetera – transportiert. In diesem Beitrag soll besonderes Augenmerk auf Kulte und Rituale als Vermittlungsinstanzen religiöser Sinnwelten sowie auf die Rolle von Emotionen gelegt werden.3 Bildlichkeit, Imagination, Theatralität, Emotionalität, Sinnlichkeit erscheinen dabei zum einen als Konstanten des Religiösen und sind zum anderen Transformationsprozessen sowie Prozessen der Begrenzung und Entgrenzung unterworfen. Es geht also nicht um ein »nach-

2

Der Zusammenhang zwischen religiösen Institutionen und religiöser Erfahrung war und ist aus soziologischer Sicht durchaus zwiespältig. Einerseits ist religiöse Erfahrung ohne Institutionen nicht von Dauer, denn Institutionen repräsentieren religiöse Erleuchtung, indem sie diese symbolisieren sowie indem sie ein lange zurückliegendes Ereignis in die Gegenwart holen und es von Generation zu Generation weitergeben: »In kurzen Worten: ohne religiöse Institutionen keine Geschichte der Religion bzw. keine Religionsgeschichte« (Berger 1994: 173). Ferner verleihen sie den Religionen jene Plausibilitätsstrukturen, deren diese aufgrund des metaempirischen Gehalts ihrer Behauptungen in besonderer Art und Weise bedürfen, sowie Struktur und Ordnung. Andererseits verfälschen religiöse Institutionen jedoch die religiöse Erfahrung.

3

In der sozialen Wirklichkeit gehen Emotionen und Kognitionen unterschiedliche Mischungsverhältnisse ein, die sich nach Gerhards als »Interpenetrationsverhältnisse« interpretieren lassen (vgl. Gerhards 1988).

Ä STHETISIERUNG

IM RELIGIÖSEN

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träglich Ästhetisch-Werden einer zuvor nicht-ästhetischen Sphäre […], sondern um eine Modifikation ästhetischer Dimensionen im Bereich des Religiösen« (Temesvári 2010: 159). Im Folgenden sollen im Kontext der zuvor skizzierten Überlegungen zur »Ästhetisierung« neben den traditionellen Religionen auch die sogenannten politischen Religionen in den Blick genommen werden.4 Dass moderne politische Bewegungen mit Hilfe religiöser Kategorien beschrieben und kategorisiert werden, ist nur vor dem Hintergrund der bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzenden religionsphilosophischen und -phänomenologischen Forschung erklärbar. Der Begriff Religion umfasste hier die Züge des Numinosen, des FaszinierendErschreckenden und des Provozierenden. So beschrieb beispielsweise der deutsche Religionswissenschaftler und -philosoph Rudolf Otto das Numinose nicht nur als etwas Anderes, als etwas, das gar nicht verstehbar sei, sondern auch als etwas Schauervolles und Übermächtiges.5 Für Otto ist das »Heilige« die Grundkategorie der Religion, die sich aus rationalen und irrationalen Elementen zusammensetzt, während das irrationale Erleben des »Numinosen« die Urerfahrung der Religion

4

Bereits die soziologischen Klassiker Émile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel hatten in ihren Arbeiten immer wieder auf die Ambivalenzen des modernen Zeitalters, auf Prozesse der »Entzauberung« und »Wiederverzauberung«, hingewiesen. Dabei trat die »Wiederverzauberung« einerseits im spezifischen Gewand traditioneller Religionen auf, andererseits übernahmen jedoch weltliche Ersatzbildungen für die Religion in Wissenschaft, Kunst oder Politik Inhalte, Funktionen und Präsentationsformen traditioneller Religionen (vgl. Haring 2008). Der jeweilige heilige Mittelpunkt – sei es Gott, die Nation oder das Volk – wird dabei zum Gegenstand religiöser Erregung und schließlich fanatisch als richtige Ordnung verteidigt. An die Stelle Gottes rückt die innerweltliche Kollektivexistenz. Die Faszination »politischer Religionen« liegt – wie unter anderen Voegelin, Febvre, Sturzo, Gurian und Aron betonten – gerade in ihrer Fähigkeit begründet, die Emotionen ihrer Anhänger anzusprechen sowie den Rahmen für das Ausleben bestimmter emotionaler Bedürfnisse bereit zu stellen (vgl. Haring 2008a: 44-47).

5

In seinem Begriff von Religion orientierte sich Otto stark an Schleiermacher, der erstmals Religion als »Anschauung und Gefühl« klar gegen Moral und Metaphysik abzugrenzen versuchte und Religion einen eigenen und eigentümlichen Bereich innerhalb des Menschen erschloss.

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sei. Dabei manifestiert sich das numinose Objekt in der numinosen Erfahrung nicht nur als das mysterium tremendum, sondern auch als mysterium fascinans – also als zugleich Furcht einflößendes als auch Faszination auslösendes Objekt (Otto 1987: 42). Für Religionen und für politische Weltanschauungen sind Kulte und Riten besonders bedeutsam, durch welche Glaubensbotschaften transportiert, schließlich verinnerlicht und die Menschen in die Gemeinschaft integriert werden. In diesem Kontext sei bereits auf die später näher in den Blick genommene Religionssoziologie Émile Durkheims verwiesen, in welcher »Symbole und Rituale – allen voran die Fahne als pars pro toto – als ästhetischer Überschuss aus jener gemeinschaftlichen Ekstase« hervorgehen, »die auftritt, wann immer sich die ansonsten verstreuten Individuen an einem Ort versammeln und durch gegenseitige Affektion zu einem einzigen sozialen Körper verschmelzen« (Därmann 2009: 34). Im Hinblick auf die Funktionen von Religion gilt es zu fragen, welche individuellen Bedürfnisse durch Religionen gestillt werden und welchen Beitrag Religionen für die jeweiligen Gesellschaften leisten.6 In Anlehnung an Nietzsches kritische Beschreibung der »Theatrokratie7 im Feld der Kunst« am Beispiel der Musik Richard Wagners, bedeutet das, dass Religionen »ästhetisch« oder «ästhetisiert« werden, dass sie »im Hinblick auf die Sinneseindrücke, Gefühle und Empfin-

6

Der funktionale Zugang in der Religionssoziologie bezieht Religion auf ein Problem, das durch diese gelöst erscheint – beispielsweise das Problem des gesellschaftlichen Zusammenhangs –, und bestimmt die Leistung, die die Religion zur Lösung dieses Problems beiträgt. Dabei liegt wohl gerade in der Möglichkeit des umfassenden Vergleichs – wie Niklas Luhmann, der in den 1970er Jahren einen eigenständigen systemtheoretischen Ansatz in der deutschen Religionssoziologie begründete, in dem Buch Funktion der Religion formulierte – eine der Stärken der funktionalistischen Betrachtungsweise (Luhmann 1977). Franz-Xaver Kaufmann geht im Anschluss an Luhmann von der Vermutung aus, dass jene Funktionen (Identitätsstiftung, Handlungsführung, Kontingenzbewältigung, Sozialintegration, Welt-Distanzierung und Welt-Kosmisierung), die ursprünglich von Religion erfüllt wurden, in neuzeitlichen Gesellschaften stärker ausdifferenziert sind und dass die ihnen zugrunde liegenden Leistungen von unterschiedlichen Einrichtungen erbracht werden (Kaufmann 1989).

7

Zum klassischen Diskurs der Theatrokratie vgl. u.a. Menke 2010.

Ä STHETISIERUNG

IM RELIGIÖSEN

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dungen bestimmt« (Menke 2010: 17) werden, die sie bei den Gläubigen hervorbringen. Religion und »politische Religionen«8 sind in der Lage, sowohl kognitive als auch emotionale Bedürfnisse des Individuums zu stillen.

R ELIGION

ALS SOZIALE

T ATSACHE

Dass Religionen und auch ihre weltlichen Ersatzbildungen als soziale Tatsachen begriffen werden können, betonten bereits die »Klassiker« der Religionssoziologie. Émile Durkheim beispielsweise, der seine Gedanken zu religionssoziologischen Fragestellungen in erster Linie in dem in Frankreich in einer Zeit der scharfen religiösen Auseinandersetzung zwischen Ultramontanismus und Laizismus sowie des zunehmenden Antisemitismus erschienenen Werk Die elementaren Formen des religiösen Lebens9 formulierte,10 zeigte in seiner – sowohl von Zeitgenossen als auch von nachgeborenen Forschern zum Teil heftig kritisierten – Analyse des Totemismus australischer Stämme (vgl. Jones 1997: 152-155; Kippenberg 1997: 116; Knoblauch 1999: 71), dass

8

Voegelin war der erste Theoretiker, der das Deutungsmuster der »politischen Religionen« systematisch entfaltete, um damit das Gemeinsame moderner Massenbewegungen zu beschreiben, auch wenn sich frühe Verwendungen des Begriffs der »Politischen Religion« schon bei Tommaso Campanella, Daniel Clasen und Christoph Martin Wieland finden (vgl. Seitschek 2003: 109-120). Kurz nach Voegelins Veröffentlichung machten auch andere Autoren – unter anderen K. Burke, H. Rauschning, W. Künneth, A. Camus, L. Varga, F. Borkenau, L. Febvre, L. Sturzo, H. Arendt und R. Aron – auf die religiösen Elemente der modernen politischen Massenbewegungen, insbesondere des Nationalsozialismus aufmerksam (vgl. Haring 2008).

9

Dies begründete Durkheim damit, dass es »primitive« Religionen erlauben würden, »die Bauelemente der Religion herauszuschälen« (Durkheim 1994: 24).

10 Durkheim orientierte sich darin an den anthropologisch-ethnographischen Studien seiner Zeitgenossen, vor allem an jenen über überseeische Kulturen. In diesem Zusammenhang sind die Forschungen von Robertson Smith, insbesondere seine Unterscheidung von Magie und Religion, sowie von J. G. Frazer für Durkheims Werk von Bedeutung.

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man »alle großen Ideen und alle hauptsächlichsten Ritualhandlungen, die an der Basis selbst der fortgeschrittensten Religion stehen«, dort wiederfinden könne: »die Einteilung der Dinge in heilige und profane; den Begriff der Seele, des Geistes, der mythischen Persönlichkeiten, der nationalen und sogar der übernationalen Gottheit; den negativen Kult mit seinen asketischen Praktiken, die dessen übersteigerte Formen sind; die Opfer- und Gedächtnisriten; die Nachahmungs-, die Gedenk- und Sühneriten« (Durkheim 1994: 556).11 Folgt man der Durkheimschen Argumentation weiter, so ist Religion immer ein Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeiten: »alle [Religionen, Anm. d. Verf.] entsprechen, wenn auch auf verschiedene Weise bestimmten Bedingungen der menschlichen Existenz« (Durkheim 1994: 19). Kollektives Bewusstsein, das durch eine Synthese sui generis der einzelnen Bewusstseine hervorgebracht wird, erzeuge wiederum »eine ganze Welt von Gefühlen, Ideen und Bildern«, die eigenen Gesetzen gehorcht (Durkheim 1994: 567).12 Religiöse Vorstellungen sind also Kollektivvorstellungen, die Kollektivwirklichkeiten ausdrücken. Persönliches Erleben, das was Simmel unter Religiosität verstand, spielte bei Durkheim eine untergeordnete Rolle, wobei Durkheim der Religion eine Vorzugsstellung bei der Erforschung jener sozialen Handlungen, die er als faits sociaux bezeichnete, einräumte. Von zentralem Stellenwert für nachfolgende religionssoziologische Forschungen ist darüber hinaus Durkheims These, dass »an der Basis aller Glaubenssysteme und aller Kulte [...] es notwendigerweise eine bestimmte Anzahl von Grundvorstellungen und rituellen Handlungen geben« muss, »die trotz der Vielfalt der Formen, die die einen und die anderen haben annehmen können, überall die gleiche objektive Bedeutung haben und überall die gleiche Funktion erfüllen« (Durkheim 1994: 22). In Ablehnung des herkömmlichen Religionsbegriffs, der Religion entweder durch die Existenz einer übernatürlichen Sphäre oder durch die Idee geistiger oder göttlicher Wesen bestimmt sah, definierte er Religion folgendermaßen: »Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken

11 Vgl. dazu auch Freuds Argumentation in Totem und Tabu (Freud 1978). 12 Durkheims Vorstellung, dass das Ganze – in diesem Falle das kollektive Bewusstsein – mehr als die Summe seiner Teile sei und einer eigenen Dynamik unterliege, spiegelt sich in diesen Ausführungen wider.

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beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.« [Hervorhebung im Original] (Durkheim 1994: 75) Religiöse Phänomene könnten nun in zwei Kategorien eingeteilt werden, nämlich in jene der Glaubensüberzeugungen auf der einen Seite und die der Riten als Verhaltensregeln für den Umgang mit »heiligen Dingen« auf der anderen Seite. Beide, religiöse Überzeugungen und Riten, bezögen sich auf den Bereich des Sakralen, nicht auf jenen des Profanen. Die Wirklichkeit des Sakralen sei dabei die Gesellschaft selbst, die einen eigenen Wirklichkeitsbereich bildet, der das Individuum übersteigt.13 Genau dieses Transzendieren des Individuums verleihe der Gesellschaft den »religiösen Charakter«, der in der jeweiligen gesellschaftlichen Form von Religion – als Kirche – verdichtet wird: »Das bedeutet jedoch nicht, dass Gott vergesellschaftet würde. Vielmehr wird man Durkheim eher gerecht, wenn man sagt: die Religion ist ein metaphorisches Spiegelbild der Gesellschaft« [Hervorhebung im Original] (Knoblauch 1999: 64-65). Für Georg Simmel wiederum ist die Aufgabe des sich mit dem sozialen Phänomen »Religion« beschäftigenden Sozialwissenschaftlers eine psychologische: nämlich den Beitrag, die Funktion zu erfassen, den die Religion für die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse des Individuums leisten kann (Simmel 1995: 4-12). Insofern hat Religion ihre individuellen Wurzeln in psychologischen Tatbeständen, in »religiösen Trieben«, die jedoch auch in Kunst oder Wissenschaft, ja wohl auch in »politischen Religionen« zum Ausdruck kommen können (Simmel 1995: 51): »Die starke Betonung freilich darauf, dass das Religiöse in den sozialen Beziehungen verankert sei, sensibilisierte ihn [Simmel; Anm. d. Verf.] nicht nur für erste Anzeichen neuer Religiosität, sondern öffnete auch das Tor dafür, dass an die Stelle der Religion in der Moderne etwas Neues treten konnte, das ohne allen Transzendenzbezug die Qualitäten des Religiösen für sich reklamierte.« (Joas 1997: 118)

13 Zur »Soziologie des Sakralen« der Durkheim-Schule vgl. Moebius 2006: 135-149.

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R ELIGIÖSE K ULTE

UND

R ITEN

Das vom lateinischen Wort colere stammende Wort Kultus benennt in der Regel den Bereich, in dem Religion als Begegnung mit dem Heiligen ursprünglich aktualisiert und als Existenz erhaltendes Ereignis planmäßig dargestellt wird. Im Kultus betritt, so Bertholet in seinem Wörterbuch der Religionen, der Mensch eine Sphäre, die sich vom Alltagsleben abhebt, eine Sonderexistenz hat, »ästhetisches Erleben und Erfahren« möglich wird und wo das »Heilige« seinen Ort findet. Das »Sakrale« verweist für die Vertreter des Collège de Sociologie auf die Dimensionen sozialer Bindungen, die nicht nur auf rationalen Übereinkünften und Interessen, sondern vielmehr auf »affektiven, imaginären oder symbolischen Wahrnehmungsformen, gemeinsamen Erlebnissen des Sakralen, auf Mythen, Narrationen, gemeinsamen (Tabu-)Überschreitungen, Opfern und sozialen Praktiken, wie beispielsweise Ritualisierungen« (Moebius 2006: 141) beruhen. Der Kult ist in der Regel an bestimmte Personen, Orte und Zeiten gebunden. Die Handlungen bei der Ausübung des religiösen Kults, in dessen Zentrum zumeist Opfer und Gebet – die von Umzügen, Tanz, Musik, aber auch von Schweigen begleitet werden können – stehen, sind mehr oder weniger fest geregelt. Im Vordergrund des religiösen Kultes stehen oft Mittlerpersonen wie beispielsweise Priester, oft sind die Kultberechtigten ausschließlich freie Männer, in deren Kreis die Jünglinge erst durch Initiationsriten aufgenommen werden (Bertholet 1985: 339-340).14 Ganz allgemein bedeutet »Ritus« oder »Ritual« in der Soziologie eine »expressiv betonte Handlung mit großer Regelmäßigkeit des Auftretens in gleicher Situation« und »mit immer gleichem Ablauf«. Beim Auftreten oder bei der Annäherung entsprechender Situationen tendieren die Menschen »spontan«, also ohne eine bewusste Entscheidung und ohne Nachdenken über die Funktion und somit über den »Sinn« ihrer Handlung, zu rituellem Verhalten (Hartfiel/Hillmann

14 Traditionellerweise wurde das mit den Begriffen »Ritus« und »Ritual« bezeichnete Bedeutungsfeld von dem durch den Begriff »Kult« umschriebenen abgegrenzt: »Kult wird mit der Verehrung der Gottheit, die in den verschiedenen Religionen gemeint sei, Ritus mit der Verschiedenheit der Ausdrucksformen assoziiert.« (Hödl 2003: 665) Die katholische Theologie unterschied terminologisch zwischen Kult, Ritus und Zeremonie (vgl. Althoff 2003: 12; Hödl 2003: 665-666).

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1982: 650), wobei die Form des Rituals den Ausübenden und Teilnehmern als weitgehend alternativlos, nicht verbesser- oder kritisierbar erscheint (Giesen 1999: 15). In der Religionswissenschaft kann man ganz allgemein unter dem vom lateinischen Wort ritus abstammenden Begriff »Ritual« »eine Abfolge von religiösen Handlungen verstehen, die zu bestimmten Gelegenheiten in gleicher oder ähnlicher Weise ausgeführt werden und deren Ablauf durch mündliche oder schriftliche Tradition festgelegt oder kodifiziert ist. Ihr hervorragendes äußeres Merkmal ist im Gebrauch körperlicher Ausdrucksformen wie Gesten, Tanz, Worte, Musik und Gesang zu sehen. Weiters werden in bestimmten Ritualen eigens für den Anlass oder im Verlaufe der Ausführung angefertigte oder bereitgestellte Gegenstände verwendet. Rituale als Teilbereich der religiösen Welt [...] sind somit vom lehrhaften, auf ›Glauben‹, ›Überzeugungen‹ oder Ansichten vom Wesen des Kosmos und dem Sinn der menschlichen Existenz bezogenen Teilbereich [...] abgehoben« [Hervorhebung im Original] (Hödl 2003: 664). Rituale sind häufig mit »einer im höchsten Maß symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft«. »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung« meint, dass das Individuum, losgelöst aus dem Alltagsleben, im Ritual neue Erfahrungen macht, die es möglicherweise verändern (vgl. Fischer-Lichte 2003: 138-144). Die rituelle Dimension der Religion wurde erstmals im wissenschaftlichen Diskurs im 19. Jahrhundert – wohl im Zusammenhang mit der in der frühen britischen Kulturanthropologie bedeutsamen Frage nach einer Ursprungstheorie der Religion – thematisiert. So betonte William Robertson Smith in seiner Theorie des »Totemismus«, in der er eine am rituellen Handeln orientierte Genealogie der Religion entwarf, die Bedeutung des Ritus gegenüber dem Mythos und hob insbesondere die Gemeinschaft stärkende Funktion der Religion hervor (vgl. Därmann: 2009: 177-178). Für Jane E. Harrison wurzelt das Ritual in etwas Ursprünglichem, wobei nur dieses Ursprüngliche die Bezeichnung »Religion« verdiene. Im Kult und im Ritual werden, worauf bereits Émile Durkheim15 sowie Gustave LeBon, Theodor Geiger oder Sigmund Freud in ihren Abhandlungen zu massenpsychologischen

15 In diesem Kontext unterstrich Durkheim die Bedeutung von Riten als »Handlungen, die nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können und die dazu dienen sollen, bestimmte Geistzustände dieser Gruppen aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen« (Durkheim 1994: 28).

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Phänomenen hinwiesen, die gefühlsmäßigen Dispositionen der Einzelnen zu einem Kollektivgefühl synchronisiert. Im Kollektiv verstärken sich menschliche Gefühle: »Die Trauer wie die Freude erregen sich, werden stärker, wenn sie von Bewusstsein auf Bewusstsein übergreifen und drücken sich in der Folge in Form von überschwänglichen und heftigen Bewegungen aus« (Durkheim 1994: 536). Die funktionalistischen Ritualtheorien des 20. Jahrhunderts knüpften schließlich unter anderem an die Arbeiten von Robertson Smith, aber auch an jene von Fustel de Coulanges an, der in seinem 1864 erschienenen Werk Der antike Staat die Bedeutung des Studiums der Riten für das Verständnis einer Religion unterstrichen hatte. Gerade durch Riten, so der Althistoriker N. D. Fustel de Coulanges, werde Religion sozial produktiv (Fustel de Coulanges 1988). Der funktionalistische Ansatz fasste Rituale als Funktionen des sozio-ökonomischen Systems auf, dem sie angehören und dessen Strukturen sie abbilden und regeln. Laut A. R. Radcliffe-Brown, der Feldforschungen in Australien und auf den Andamanen-Inseln durchführte, bringt erst das Ritual bestimmte Gefühlseinstellungen wie beispielsweise das Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren moralischen oder spirituellen Macht hervor.16 Das Ritual fungiert also nicht nur als »Transporteur« der in unterschiedlichen Gesellschaften wirksamen Gefühlszustände, sondern teilweise auch als deren »Produzent«. Wie Iris Därmann betonte, kann man »Durkheim das Verdienst zuerkennen, die performative Kraft der rituellen, oralen, mimentischen und dramatischen Darstellungen entdeckt zu haben, wenn er unterstreicht, dass diese nicht nur ›bequeme Mittel sind, um das Gefühl zu verdeutlichen, das die Gesellschaft von sich hat; es dient auch dazu, um dieses Gefühl hervorzurufen‹« (Därmann 2009: 186). Durch die Teilnahme an bestimmten Riten und Kulten werden »die gefühlsmäßigen Dispositionen der einzelnen zu einem Kollektivgefühl synchronisiert und darüber erst wird Gemeinschaft hergestellt [...]. Diese gefühlsmäßige Verbundenheit der Mitglieder untereinander gibt der Gemeinschaft erst ihre moralische Kraft, denn erst die emotionale Besetzung garantiert eine Stabilisierung der gemeinschaftlichen Werte und Normen.« (Gerhards 1988: 40) Das Ritual nivelliert alle Unterschiede, ja ordnet diese der Grenzziehung zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern unter; »das Ritual

16 Radcliffe-Brown betonte im Hinblick auf die Riten deren Gesellschaft konstituierende Kraft (Hödl 2003: 666-671).

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erlaubt nicht nur, so zu tun, als ob keine Differenzen vorlägen, sondern schreibt dies geradezu vor. Nur eine Entscheidungslinie zählt: die zwischen innen und außen, zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern« (Giesen 1999: 15). Mit Hilfe von Ritualen kann und wird darüber hinaus Macht ausgeübt, nicht selten »zwingen« Rituale – wie Gerd Althoff in seiner Untersuchung zur Macht der Rituale im Mittelalter betont – auch jene in den Bann, die sich dieser bedienen (Althoff 2003: 10-11). Die Erfindung der Schrift hatte schließlich für die Religionen weitreichende Konsequenzen. Rituale der Bekräftigung und Einmütigkeit, auch Eide, stetig zu erneuernde Zeichendeutung sowie die Abhängigkeit von Phänomenen wie Mystik und Ekstase verloren an Bedeutung. Heilige Schriften garantierten alsbald an deren Stelle das Wort Gottes. Gleichwohl »haben [...] fast alle Elemente der älteren Religionen fortbestanden, teils offiziell, teils eher in der Subkultur, einschließlich der Verwendung von Eiden und von Zeichendeutung aller Art. Es erwies sich für Menschen schwierig, die alten Bahnen der Sinnkonstruktionen zu verlassen, zumal ja die realen Schrecken aller Art, Krankheiten, Kriege und Gewaltexzesse an der Tagesordnung blieben.« (Burkert 1998: 214) In den Hochkulturen des Alten Orients, Amerikas und Europas entwickelten sich allmählich mehr oder minder ausdifferenzierte religiöse Institutionen: Spezialisten übernahmen die Aufgabe, das Wissen über den Heiligen Kosmos in Dogmen zu standardisieren und rituelle Konformität durchzusetzen. Die Bedeutung des Mythos nahm gegenüber jener des Kultes zu (Troeltsch 1922: 471-472). Durch die Teilnahme an und das Praktizieren von Ritualen vollzog sich jedoch nach wie vor in der Regel die religiöse Sozialisierung der Kinder, wobei in der Antike religiöse Rituale eine viel wichtigere Rolle als in der modernen Gesellschaft einnahmen.17 Sowohl das tägliche Leben im Privatbereich als auch das öffentliche Leben waren beispielsweise im antiken Griechenland durch den Rhythmus von Riten aller Art bestimmt, deren Einführung auf das direkte Eingreifen der Götter zurückgeführt wurde und in deren Mittelpunkt meist das »Opfer« stand.18 Verfehlungen bei der Durchführung riefen göttlichen Zorn hervor, jede Veränderung musste durch eine göttliche Äußerung

17 Zu den griechischen Ritualen vgl. Bremmer 1996: 43-61. 18 Zu den unterschiedlichen Arten und zur Bedeutung des »Opfers« bei den Griechen vgl. u. a. Bruit Zaidman/Schmitt Pantel 1994: 30-43.

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legitimiert sein. Von der Geburt bis zum Tod wurden die wichtigen Schritte im Leben eines griechischen Bürgers durch Rituale betont, die zugleich den Wechsel im Status des Einzelnen auf symbolischer Ebene zum Ausdruck brachten (Bruit-Zaidman/Schmitt Pantel 1994: 29-30, 80). Der Kultursoziologe Justin Stagl fasst die Bedeutung von Ritus und Kult wie folgt zusammen: »Diese [alltagsenthobene; Anm. d. Verf.] Sphäre manifestiert sich in ›Intervallen‹ des sozialen Lebens, wie Festen und Feiern, Kulthandlungen und Mythenerzählungen, die die sozialen Energien eben auf Transzendenzen richten und die das Alltagsleben rhythmisieren und strukturieren. So kann die Gemeinschaft wie der ihr angehörige Einzelne bei Bedrohung der eigenen Identität durch die Kontingenz der Welt stets von neuem in diese Sphäre eintauchen und die bedrohte Identität anhand einer idealen Identität kräftigen.« (Stagl 2002: 572) Der Unsicherheit und Sinnlosigkeit der Welt müssen also Bereiche »abgetrotzt« werden, in welchen Gewissheit herrscht, und Schutzordnungen errichtet werden, die – oft mit Hilfe von Liturgie und Ritus – Sinn vermitteln (Bahr 1975: 42).

»P OLITISCHE R ELIGIONEN « Auch »politische Religionen« tragen im Rahmen einer unfehlbaren Welterklärung einschließlich der Forderung nach Aufopferung zur Erfüllung des von ihr formulierten Sinns zur individuellen Sinnstiftung bei. Sie stellen eine umfassende Sinndeutung für das diesseitige Leben zur Verfügung. Aktuelle, diesseitige Entbehrungen werden durch das tröstende Versprechen auf einen paradiesischen Endzustand abgemildert beziehungsweise gerechtfertigt (Haring 2008). Sie stellen Sinnreservoirs zur Verfügung und binden den Einzelnen in eine größere Gemeinschaft ein, wo er in der Regel Orientierungshilfen und Handlungsanweisungen an eine höhere Instanz abgeben kann. Damit entlasten sie das Individuum von Entscheidungsdruck ausübenden Situationen. »Existentieller Angst« als »Bewusstwerden der Fragwürdigkeit des Dasein, der Möglichkeit des Scheiterns«, der »Konfrontation mit dem Nichts« kann durch diese sinnstiftende Funktion begegnet werden. Der mit Angstsituationen einhergehende Kontrollverlust wird aufgehoben (Mayring 1992: 152-154).

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In den »politischen Religionen« dienten Kulte wie beispielsweise der Führerkult oder Totenkulte einerseits den Machthabern dazu, das Volk in ein gemeinsames Ganzes zu integrieren und konkurrierende Sinnangebote zu verdrängen. Andererseits fühlten sich die Individuen durch bestimmte Rituale und insbesondere in den inszenierten Massenveranstaltungen sowohl untereinander als auch an die Führer emotional gebunden.19 Die »demokratische Illusion«, die Gleichheit aller unter dem Verzicht der Freiheit, teilten die »Gläubigen«, und diese integrierte sie in ein größeres Ganzes. »Nationalsozialismus«, so Baldur von Schirach in seiner Autobiographie Ich glaubte an Hitler, »das hieß für mich Hitler, die Kameradschaft der Gleichgesinnten, die Gemeinschaft von hoch und niedrig, arm und reich« (Baldur von Schirach, zitiert nach Knopp 1999: 101). So war für Schirach die Uniform auch nicht »Ausdruck einer kriegerischen Gesinnung, sondern das Kleid der Kameradschaft. Sie löscht den Standesunterschied aus und macht den kleinsten Arbeiterjungen heute wieder gesellschaftsfähig« (Dokument Schirach 7: 321). Die Faszination, die beispielsweise die SA auf viele junge Menschen ausübte, schreibt der »glühende Nationalsozialist« Willi F. Habsheim gerade ihrer sozialen Integrationskraft zu: »Da war der Sohn des Pfarrers, der Sohn des Rektors, der Sohn des Postbeamten, der Sohn des Arztes und der Sohn des Schlossers sowie des Arbeitslosen. Wir alle marschierten in einer Reihe, in derselben Uniform, mit den gleichen Ideen sozusagen, Schulter an Schulter ohne sozialen Unterschied, ohne Klassenkampfgeist. [...] Die Integrierung aller Volksteile, nicht im Sinne einer Vermassung, sondern als Teil einer Volksgemeinschaft, bestehend aus den verschiedenartigsten Gliedern, aber nach außen als einheitlicher Block, war unser Ziel. [...] Wir knüpften bewusst an das Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs an, obwohl wir den Ersten Weltkrieg nicht erlebt hatten. Und wenn wir als SA – ich schloss mich 1931 der Mannheimer SA an und trat auch in die Partei ein – durch die Arbeiterviertel der ›Neckarstadt‹ (Mannheim) marschierten, vor 1933 [...], dann waren wir wie eine Front, ent-

19 Besonders ausgeprägt war im Nationalsozialismus der Kult rund um den Führer, der von vielen als »Erlöser« verehrt wurde. Porträts des Führers waren allgegenwärtig, das Bild des Führers wurde oftmals wie früher Christus- und Marienbildchen aufgestellt und verehrt. Zu Messianismus und Führerkult im Nationalsozialismus vgl. u.a. Haring 2008. Zum »Bilderkult« rund um Hitler vgl. Telesko 2004: 152-157.

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schlossen, die Straße frei zu kämpfen.« (Willi F. Habsheim, in Steinbach 1983: 33) Das wichtigste Instrument des nationalsozialistischen Regimes, »Glauben« zu propagieren und einzufordern, waren Feiern: von den Reichsparteitagen, über die Lebensfeiern aus Anlass von Geburt, Hochzeit und Tod bis zu den Morgenappellen der HJ im Ferienlager. Der nationalsozialistische Kult trat in den Dienst der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung: »Der nationalsozialistische Kult [...] ist die praktische, sozialrelevante Umsetzung der nationalsozialistischen Religion; er ist zudem gewichtiger Beleg dafür, dass der Nationalsozialismus tatsächlich als politische Religion betrachtet werden kann.« (Vondung 1997: 38) Gerade im nationalsozialistischen Kult vollzog sich für die »Gläubigen« das Aufgehen im »Volkskörper«, in einem großen Ganzen. Der Einzelne, der längere Zeit Mitglied einer wirksamen Masse ist, wird durch unbekannte Vorgänge der Masse »verzaubert«. Die Überzeugung, die die Massemitglieder teilen, sei, so die Analyse von Gustave LeBon bereits Ende des 19. Jahrhunderts, eine Art des religiösen Gefühls (LeBon 1965: 15-17; 55-56). Der »liturgische Veranstaltungszauber« (Joachim Fest) der nationalsozialistischen Bewegung übte auf die Menschen eine besondere Faszination aus: Gemeinschaftsgefühle, das Aufgehen in einem großen Ganzen, »kollektiver Rausch«, Siegessicherheit und Heilsgewissheit wurden in den bis ins kleinste Detail inszenierten, liturgisch und mit einer Reihe von Symbolen aufbereiteten Feiern vermittelt (Bédarida 1997: 157-158). Nationalsozialistische Botschaften wurden durch das Ansprechen von Sinnen und Emotionen transportiert. Bei der Wahl der Formelemente bediente sich der braune Kult sehr verschiedener Traditionen: Massenaufmarsch und Gedenkumzug, Chöre und Musik, Appell und Gelöbnis, Fahnen, Fackeln, Feuerschalen, was immer Wirkung versprach, verleibte er sich ein. So entstand ein Ritualgemisch, das Anleihen bei der christlichen Liturgie nahm und mit militärischen und folkloristischen Traditionen verband. Dazu kamen Übernahmen aus dem Formenkreis der Jugendbewegung, der Operndramaturgie (Richard Wagner) und der antiken Mythologie.20 Besonders eng verband sich der NS-Kult mit jener Traditionslinie nationaler Gedenk- und Feiertage, die – wie der »Sedantag« – im Zeichen der »Nationalisierung der Mas-

20 Vgl. zu den antiken Elementen im nationalsozialistischen Kult u. a. Telesko 2004: 118-121.

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sen« (George L. Mosse) zur Verherrlichung von Kampf, Krieg und Heldentod entstanden waren.21 Bei der Gestaltung des nationalsozialistischen Kultes griff man jedoch nicht nur auf nationale, vaterländische Symbole, sondern vielfach auch auf die Festkultur der Arbeiterbewegung und das Propaganda-Arsenal der politischen Linken, zurück. Die »Anverwandlung des 1. Mai« als »Feiertag der nationalen Arbeit« war dafür das deutlichste Beispiel (Hockerts 2003: 48).22 Als besonderer Kult fungierte der »Marsch auf die Feldherrnhalle«, der zwischen 1933 und 1935 als ein pompöses »Auferstehungsritual« entstanden war: Bereits am Abend des 8. November 1935 werden die Särge der exhumierten »Blutzeugen« durch das Siegestor zur Feldherrnhalle überführt und vor 16 brennenden Opferschalen aufgebahrt. Hitler hält seine traditionelle Gedenkrede im Bürgerbräukeller und fährt anschließend durch die von Feuerpyplonen erhellte Ludwigstraße zur mit blutrotem Tuch ausgeschlagenen Feldherrnhalle. Allein schreitet er die Stufen zur Feldherrnhalle hinauf, küsst die »Blutfahne« und grüßt jeden Toten mit erhobenem Arm. Um Mitternacht schließlich übernimmt die HJ die Totenwache. Schweigend marschieren 60.000 SA- und SS-Männer mit ungezählten Fahnen und bilden somit den Abschluss der »Weihnacht der Toten«. Am Vormittag des 9. November findet der Gedenkmarsch vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle statt. Hinter der »Blutfahne« ziehen die mit dem Blutorden geehrten alten Kämpfer. Der Marsch zur Feldherrnhalle gleicht einem Prozessionsweg, der an 400 Opferschalen vorbeiführt, von denen jede den Namen eines Gefallenen der Bewegung trägt. Die Namen werden

21 Dem – die Feier zum 9. November umrahmenden – »Lied vom Guten Kameraden« lag beispielsweise ein Gedicht von Ludwig Uhland und eine Männerchor-Komposition von Friedrich Silicher aus den 1830er Jahren zugrunde. Dieses Lied war schon in der Weimarer Zeit zur »heimlichen Nationalhymne der Deutschen« geworden und wurde dann von den Nationalsozialisten übernommen. 22 Hitler und Goebbels ließen sich bei der Gestaltung ihrer Feiern darüber hinaus stark von der katholischen Liturgie beeinflussen. So berichtete Albert Speer in seinen autobiographischen Aufzeichnungen von dem starken Eindruck, den ein Zusammentreffen mit dem Abt des Klosters Banz auf Hitler gemacht habe und darüber, wie Hitler die Jahrtausende alten Erfahrungen der Kirche für die eigene Bewegung nutzbar machen wollte (vgl. Becker 1997: 62).

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aufgerufen, während ununterbrochen das Horst-Wessel-Lied ertönt. 16 Kanonenschüsse machen an der Feldherrnhalle die Teilnehmer zu Zeitgenossen des wiedervergegenwärtigten Opfertodes der 16 »Blutzeugen« (Becker 1997). Während des Krieges wurde die Feier den üblichen Morgenfeiern und Heldenehrungsfeiern angepasst, die ihrerseits wiederum eine Reihe von »religiösen« Zügen aufwiesen: So erfüllten die Fanfaren der HJ die Funktion des Glockengeläutes und des Orgelvorspiels christlicher Gottesdienste. Der aus der Kampfzeit der Bewegung stammende Fahnenmarsch entsprach dem feierlichen Einzug in die Kirche und zum Altar. Bei der weiteren Gestaltung der Feier nahm man wiederum Anleihen bei der christlichen Messe: Ein gemeinsames Lied begleitete den Einzug und konstituierte die Feiergemeinde, es folgten der Anruf, der als Fahnenspruch den Eröffnungsteil abschloss und das Thema der Feier vorgab, die Feiermusik, die Ewige Wache, der Chor, die Ansprache, die Totenehrung, das Gelöbnis, wiederum ein gemeinsames Lied, die Führerehrung, die Nationalhymnen und schließlich der Fahnenausmarsch (Becker 1997: 51-54). Becker zeigt eindrucksvoll, wie in »den Bildern des christlichen Pascha und mit den eucharistischen Motiven der Opferung, Wandlung und Kommunion [...] der Tod der Blutzeugen des Nationalsozialismus als die Erlösung kultisch gefeiert« wurde. Bei den nationalsozialistischen Totenfeiern kam neben Symbol und Ritus der Musik und der Sprache eine große Bedeutung zu: Trommeln und Fanfaren, die leise gespielte Melodie des Liedes vom Guten Kameraden, meditativer Chorgesang und das gemeinsam gesungene, einstimmige Bekenntnislied (Becker 1997: 5861). Im Dritten Reich wurden drei Typen von Feiern entwickelt: die »Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf« in Analogie zum kanonischen Feierjahr der Kirchen; die »Lebensfeiern« in Analogie zu Taufe, Trauung und christlichem Begräbnis; und die »Morgenfeiern« in Analogie zu Morgenandacht und sonntäglichem Gottesdienst. Die »sonntägliche Morgenfeier« symbolisierte nach nationalsozialistischer Doktrin »ein Bekenntnis zum Höchsten, das der Deutsche kennt, sie ist zugleich aber die Aufforderung zur Tat. Sie gibt dem seelischen Gefühl der jungen Nation Ausdruck, das seine Verwirklichung im alltäglichen Leben im Einsatz für Deutschland, für den Führer, für die Bewegung und das Volk sieht.« (Dokument 2436-PS [Beweisstück US859]: 1949: 488) Während die großen Reichsfeiern des nationalsozialistischen Feierjahres (1. Mai, Erntedankfest auf dem Bückeberg,

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Reichsparteitage, Führergeburtstag, Tag der Machtergreifung et cetera) während des Krieges eingestellt wurden, forcierten die Lenkungsorgane für die Feiergestaltung – in erster Linie Goebbels’ Reichspropagandaleitung und Rosenbergs Dienststelle – Feiern auf unteren Gliederungen und Ortsgruppen der Partei. Die Gestaltung der Jahreslauffeiern, der Lebensfeiern und der Morgenfeiern wurde homogenisiert, und neue Arten von Feiern wurden – wohl zur Stärkung der Gruppenkohäsion und des »Durchhaltevermögens« – im Verlauf des Krieges eingeführt: Schulentlassungs-, Lehrlingsfreisprech-, Meisteranerkennungsund Parteiaufnahmefeiern, weltanschauliche Feierstunden, Mütterehrungsfeiern, Heldenehrungsfeiern für die Gefallenen, Gedenkfeiern für die Opfer des Luftkriegs, soldatische Feiern in der Wehrmacht, Dorfgemeinschaftsabende und nationalsozialistische Familienabende. Gemäß den Planungen der nationalsozialistischen Lenkungsorgane sollte am Ende des Krieges ein dichtes Netz von nationalsozialistischen Feiern das gesamte gesellschaftliche Leben bestimmen und Räume für das »Außeralltägliche« geschaffen werden. Für die Aufnahme der Zehnjährigen ins »Jungvolk« beispielsweise wurde jedes Jahr am Vorabend zu Hitlers Geburtstag eine Feierstunde auf der Marienburg in Westpreußen, dem »Symbol germanischer Wehrhaftigkeit«, veranstaltet: Dort in den dunklen Gewölben marschierten Hunderte von Fahnenträgern und stimmten schließlich bei Fackelschein das Lied: »Wir geloben Hitler Treue bis ins Grab« an. Mysterium fascinans und mysterium tremendum – die Kinder erfüllte das »schaurig-schöne Gefühl, Teil einer ›verschworenen Gemeinschaft‹ zu sein« (Knopp 1999: 136). Für die erst neunjährige Doris K. bedeuteten gerade die Kundgebungen, wie die im folgenden beschriebene Veranstaltung der HJ in Hameln 1933, das Aufgehen in einem größeren Ganzen und Gefühle von »besonderer Intensität«: »Wir hatten uns versammelt auf einem Platz, die Fackeln wurden ausgeteilt, jeder kriegte eine. [.. ] Dann mussten wir uns – was vorher sehr geübt worden war – aufstellen im Glied. Dann ging jemand um und steckte die Fackeln an. Ich erinnere mich noch an ein unheimlich tolles Gefühl von Weihe und Heiligkeit und unerhörter Verzauberung, wie ich dann dieses Feuer in der Hand hatte. Dann bewegte sich dieser ellenlange Zug durch Hameln, und die Leute standen am Straßenrand. Da sah man keine Gesichter, sondern nur eine unklare Mauer von Menschen. Und es waren viele, die am Straßenrand standen. Viele, viele – dieses Gefühl von ›viele‹! Das ist überhaupt bei mir mit diesem Erlebnis verbunden – von ›unheimlich viele‹ und ein

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kleiner Bestandteil von etwas ungeheuerlich Großem zu sein! Die Reihen bewegten sich, voran hörte man die Musik, im Gleichschritt war ich als ein Glied dieses glühenden Zuges eingeschlossen. Und der Gedanke war in mir, dieses Gefühl, in dem alles sonst verbrennt: Wir, das sind wir. [...] Ich habe nicht etwa das Gefühl von Ausgelöschtsein, sondern ganz im Gegenteil dieses Gefühl von Aufgehobensein gehabt.« (Doris K., in Steinbach 1983: 79)

R ELIGION

UND

E MOTION

Der beträchtliche Teil jener, sich mit der Frage von Emotion und Religion auseinandersetzenden wissenschaftlichen Studien thematisiert vorrangig Angst, Furcht, Glück, Liebe/Zuneigung, Scham/Schuld, Hass, Trauer und Neid als bedeutsame Emotionen (vgl. Haring 2008a). Bereits David Hume hatte Religion als Produkt des Menschen und Religiosität nicht als Resultat einer abstrakten Vernunfteinsicht, sondern als das, was der Gewalt unserer Triebe und Ängste entspringt, betrachtet. Für Hume und auch für Feuerbach findet Religion ihre letzte Ursache in den menschlichen Affekten, als ihre Voraussetzung galt diesen Denkern die Unwissenheit der Menschen. Beide betonten darüber hinaus die Rolle der Einbildungskraft oder Phantasie bei der Entstehung religiöser Vorstellungen und insistierten auf dem Primat des Sinnlichen in der Religion.23 Folgt man wiederum Robert Ranulph Marett, muss die ursprüngliche Form von Religion aus einer Gemengelage von Affekten, Handeln und Denken imaginiert werden. Erst im Laufe der Entwicklung der Menschheit hätten sich beispielsweise Ehrfurcht und Angst in religiöse Verehrung ausdifferenziert. Als bleibendes Strukturelement von Religion fungiere ein amorphes Erlebnis von Macht, ein mysterium tremendum. Die von unterschiedlichen Autoren wie beispielsweise James, McDougall, Gray, Tomkins oder Oatley und Johnson zu den so genannten Basisemotionen gezählten Gefühle wie Furcht sowie Angst, das häufig damit einhergehende Gefühl der »schlechthinnigen Abhängigkeit« (Friedrich Schleiermacher) und »Freude« sind für das Verhältnis des Gläubigen zum Heiligen ebenso charakteristisch wie »Liebe«, »Zuneigung«, »Verehrung« und »Hoffnung«. Religion ruft beim Individuum also bestimmte Gefühle hervor

23 Vgl. zu Hume und Feuerbach: Haring 2008: 114-126.

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und ist in der Lage – wie Georg Simmel schon um 1900 beobachtete –, elementare emotionale Bedürfnisse, wie beispielsweise das Bedürfnis nach emotionaler Verbundenheit mit anderen, zu stillen (vgl. Haring 2008a). Religion übt in diesem Sinne eine soziale Integrationsfunktion aus. Folgt man der Argumentation von Sigmund Freud, wird der Zusammenhalt jeglicher Gemeinschaft durch den Zwang der Gewalt und durch die Gefühlsbindungen (Identifizierungen) ihrer Mitglieder garantiert.24 Dabei lassen sich einerseits die affektuelle Bindung an den jeweiligen Führer und andererseits die Verbundenheit mit den anderen »einfachen« Mitgliedern der Gemeinschaft beobachten (Freud 1923). Der Prozess der Identifizierung, in dessen Verlauf das Individuum den jeweiligen Führer als Ideal nimmt, ist nach Freud ambivalent, da dieser sowohl den Aspekt der Liebe und Zärtlichkeit als auch den Aspekt von Furcht und Angst enthält (Freud 1923: 58-63). Der Führer, oftmals vom Geheimnis umwoben, löst einerseits Angst, Furcht und Zittern, andererseits jedoch auch Liebe, Freude und Entzücken aus. Gerade die Materialien aus den archaischen Kulturen verweisen auf das schon von Rudolf Otto so trefflich beschriebene »Doppelgesicht« der numinosen Sphäre, die einerseits anzieht und andererseits abstößt: Das Individuum fühlt sich an ein Allgemeines, Höheres gebunden, vor dem es sich aber auch fürchtet. Es gibt sich diesem Höheren hin und erwartet von diesem Erlösung.25 Für die Kohäsion innerhalb der Gruppe spielt die Konstruktion des Fremden bzw. des Feindes eine bedeutsame Rolle. Der Fremde wird mit Geringschätzung, ja Verachtung, mit »gnadenloser« Missbilligung betrachtet und behandelt, während das Eigene als

24 Freud untersuchte in Anlehnung an Gustave LeBon die Charakteristika moderner Massenbewegungen anhand der beiden »künstlichen« Massen: der Kirche und des Heeres, und hielt folgende Ergebnisse fest: Liebesbeziehungen (Gefühlsbindungen) machen »das Wesen der Massenseele« aus, Libidobindungen charakterisieren eine Masse. 25 Den archaischen Menschen prägte die »numinose Scheu« in einem uns heute kaum vorstellbaren Maße. In nahezu allen archaischen Kulturen wurde eine alles überragende numinos-kosmische Macht anerkannt, die in mehr oder weniger großer Distanz zur relativ ohnmächtigen, profanen Welt stand und die in den verschiedenen Kulturen verschieden benannt wurde. Dabei war für archaische Religionen, wie Jan Assmann am Beispiel Ägyptens zeigt, die Deckungsgleichheit von Religion und Kultur kennzeichnend (Assmann 2002: 32-37; Assmann 2001: 173-177).

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überlegen angesehen wird. Bisweilen steigert sich Verachtung zu Hass, wobei der Gegenstand des Hasses als »Unwert«, als »Antichrist«, als »Ausgeburt des Bösen«, erscheint, den es zu »vernichten« gilt (Mayring 1992: 149-150 sowie 155-156). Nach Randall Collins ist die emotionale Grenzziehung zwischen »Gemeinschaft« und »NichtGemeinschaft« die bedeutsamste Dimension für Entscheidungen im Hinblick auf die Anwendung von Gewalt in sozialen Verhältnissen. Emotionale Besetzung der Gemeinschaft stiftet Solidarität nach innen und ermöglicht Feindschaft nach außen, wobei durch Rituale öffentlicher Gewaltdokumentation die emotionale Ausgrenzung sichtbar gemacht und die Integration nach innen gestärkt wird (Gerhards 1988: 66-67). Im Hinblick auf »politische Religionen« gilt es, diese nicht nur als bloßes Herrschaftsmittel, als Instrument der Manipulation der Massen durch den jeweiligen »Führer« und seine Gefolgschaft zu verstehen, sondern zu berücksichtigen, dass es diesen, wie Voegelin bereits unterstrich, gelingt, ihre Mitglieder affektuell zu binden. Klaus Vondung nimmt meines Erachtens für die in diesem Zusammenhang bedeutsame Frage nach der subjektiven Gläubigkeit eine äußerst fruchtbare Differenzierung vor, wenn er in seinen Untersuchungen zur nationalsozialistischen Bewegung zwischen »Glaube« und »Gläubigkeit« unterscheidet. In Anlehnung an den Pietismus, der den Begriff »Gläubigkeit« als Bezeichnung der eigenen, subjektiven Glaubenshaltung vom »Glauben« der institutionalisierten Kirche abgrenzte, beschreibt Vondung mit »Gläubigkeit« die subjektive Glaubenshaltung einzelner Frauen und Männer, und mit »Glauben« die vom jeweiligen totalitären Regime, das dem Anspruch nach mit seinem »Glauben« möglichst alle Gesellschaftsmitglieder erreichen wollte, eingeforderte und durch verschiedene Maßnahmen geförderte Haltung, wobei »Gläubigkeit« und »Glauben« in einem Interdependenzverhältnis zueinander stehen. Versteht man Religion geradezu als »emotional hochbesetzte Bindung an bestimmte Sinnsysteme« [Hervorhebung im Original] (Dahm 1972: 137), die vom Individuum entweder als Befreiung oder als bedrückende Last empfunden werden können, findet man die subjektive Gläubigkeit an diese Sinnsysteme sowohl bei den traditionellen Religionen als auch bei »politischen Religionen«. »Glaube, Hoffnung, Hass und ein sentimentaler Kollektivstolz auf die eigene Rasse und Nationalität«, bildeten nach Michael Burleigh die Basis für die nationalsozialistische Politik (Burleigh 2000: 13). Die Betonung des Glaubens in zahl-

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reichen nationalsozialistischen Reden und Schriften, vorgetragen mit einer Fülle biblischer Anspielungen und apokalyptischer Prophezeiungen, fiel bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden. Gerade der Synkretismus des Nationalsozialismus, sein oft beschriebenes chamälienhaftes Wesen, hatte zur Folge, dass viele in diesem Konglomerat emotionale Formen fanden, die sie ansprachen. Die Vermischung von Sakralem und Säkularem war in mannigfaltigem Gewand bereits in der Zeit des aufkommenden Nationalismus zutage getreten und hatte sich am Vorabend und vor allem während des Ersten Weltkrieges noch intensiviert. Der Nationalsozialismus knüpfte unter anderem an diese den Menschen vertraute Tradition an. »Ein Volk zu sein, ist die Religion unserer Zeit«, so die Tageslosung für die Jungmädel während eines Lagers, die die religiöse Dimension des Nationalsozialismus gerade für Kinder und Jugendliche hinreichend deutlich macht (vgl. Doris K., in Steinbach 1983: 88). Der 1910 geborene »überzeugte Nationalsozialist« Willi F. Habsheim, der bereits 1929 der Studenten-SA in Heidelberg angehört hatte, später unter anderem Chefredakteur der Zeitschrift Der SA-Mann sowie SA-Standartenführer geworden und im Krieg als Feldwebel und Ordonnanzoffizier an mehreren Kriegsschauplätzen eingesetzt worden war, berichtet in einem Interview über seine Erfahrungen während einer Hitler-Versammlung in Mannheim im Jahre 1928: »Ich habe ihn [Hitler; Anm. d. Verf.] gehört, ich war mit im Nibelungensaal des Rosengartens damals. Es war eine gut besuchte Versammlung. Die Spannung war ungeheuer, Hitler zu hören. Die Begeisterung wuchs in uns. Mich hat eine solche Veranstaltung der Nationalsozialisten immer beeindruckt. [...] Ich war bei solchen Versammlungen immer ergriffen, die ganze Umrahmung war feierlich, beeindruckend, wenn also Musik spielte oder gesungen wurde oder wenn – wie es bei den Nationalsozialisten sehr ausgeprägt war – der Einmarsch der Fahnen- und Standartenträger erfolgte, diese Dinge, die haben es mir angetan. Das waren meine ersten Kontakte mit der nationalsozialistischen Bewegung: Ich wurde zuerst gefühlsmäßig vom Nationalsozialismus angesprochen.« (Willi F. Habsheim, in: Steinbach 1983: 28) Der Glaube an die nationalsozialistische Bewegung versprach die Bewältigung von Kontingenz durch eine umfassende Sinndeutung der menschlichen Existenz sowie die Überwindung einer durch materielle und immaterielle Not, durch Orientierungslosigkeit erfahrenen Gegenwart durch den Bezug auf etwas Höheres, das sowohl als mysterium tremendum als auch als mysterium fascinans erfah-

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ren wurde. Die »vagierende« Religiosität erfuhr, so Hans Günter Hockerts, in der Wunschbildung an die Führerschaft eine neue Aufladung (Hockerts 2003: 54-55). Gerade weil der Aufstieg des Nationalsozialismus auf die katastrophale Sinnlosigkeit des Ersten Weltkrieges folgte und sich gegen ihren düsteren Hintergrund abhob, erfüllte dieser für viele eine sinnstiftende Funktion. Erleichterung, Hoffnung, ja Aufbruchsstimmung hätte sich nach der Machtübernahme in weiten Teilen der Bevölkerung breitgemacht, berichtet Doris K. in einem Interview (Doris K., in Steinbach 1983: 76). Der »Gläubige« war nun stolz auf das Deutsche Reich und seine geschichtliche Mission, und stolz darauf, an dieser mitwirken zu dürfen: sei es als Soldat oder in mannigfaltiger Weise an der »Heimatfront«. »Opfern«, sei es das eigene Leben oder Kleidung und Nahrungsmitteln, wurde schließlich zur »heiligen Pflicht«. Das »Ich« des Jungmädels Doris K. – hier in exemplarischer Absicht genannt – war aufgelöst »im Großen Wir«. Die Zeitzeugin Doris K. betont, dass ab 1939, als die Menschen zunehmend auf Krieg vorbereitet worden sind, die Angst stärker wurde. Gleichzeitig jedoch habe die Angst auch wiederum den Glauben an den Führer verstärkt, das Gefühl der Unsicherheit und Angst erhöhte bisweilen das Bedürfnis nach Sicherheit und wiederum die Bereitschaft zum Glauben, wie dies Klaus K., der die Napola besuchte, der Hitlerjugend angehörte und sich freiwillig zur Waffen-SS meldete, unterstreicht (vgl. Steinbach 1983: 111-161): »Aber bis zum Schluss war es immer wieder das gleiche, dass man die ganzen Zweifel und Bedrängnisse, das Gefühl des Zurückgeworfenseins letzten Endes immer wieder nur dahin lenkte, dass man sich noch stärker einsetzte. Für mich war die Konsequenz daraus, mich noch totaler für die Sache einzusetzen: ›Jetzt kommt es immer mehr auf dich an‹. Es war eine Art Nibelungentreue, dass man sich sagte, jetzt kommt es eben erst recht darauf an. Diese Haltung hatte ich bis zum Schluss.« (Klaus K., in Steinbach 1983: 140)

R ELIGION UND » POLITISCHE R ELIGIONEN « IN E UROPA UM 2000 Die »politischen Religionen« des 20. Jahrhunderts sind für das Gros der europäischen Bevölkerung spätestens seit 1989 endgültig »entzaubert«, wobei die Entwicklung in der Sowjetunion von der Forschung als Wandel von einer »politischen Religion« über eine Staatsreligion

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zu einer Zivilreligion beschrieben wird. Das religiöse Feld in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts ist durch Pluralisierung und Individualisierung gekennzeichnet. Obwohl die Pluralisierung von Sinngehalten und Wertvorstellungen auch in anderen Kulturen und in früheren Gesellschaften nachweisbar ist, erreicht sie in der europäischen Moderne doch eine neue Qualität. Berger spricht in diesem Zusammenhang vom »Zwang zur Häresie« als konstitutivem Merkmal der Moderne (Berger 1992). Alltag und Heiliger Kosmos rückten allmählich für das Individuum weit auseinander, traditionelle Lebensdeutungen verloren ihre Relevanz für breite Bevölkerungsschichten, Religion wurde zur Privatsache. José Casanova, der unter Säkularisierung drei verschiedene »ungleichartige« Prozesse beziehungsweise deren Resultate subsumiert, nennt neben der »Säkularisierung als Ausdifferenzierung von religiöser und weltlicher Sphäre« und der »Säkularisierung als Niedergang religiöser Überzeugungen und Verhaltensweisen« schließlich die »Säkularisierung im Sinne der Beschränkung der Religion auf den Privatbereich«. Diese drei Prozesse traten zwar in Europa historisch gemeinsam auf, sind aber nach Casanova strukturell nicht miteinander verbunden (vgl. Brocker/Behr/Hildebrandt 2003: 10-11). In Europa gibt es nun eine wachsende Zahl von Personen, die ihr Leben ohne religiöse Interpretationen bestehen. Institutionalisierte Religion verliert schließlich mehr und mehr den Zugriff auf das Privatleben der Menschen. Es gibt keine religiösen Kollektivvorstellungen mehr, mit deren Hilfe das Individuum unproblematisch den Sinn des eigenen Lebens bestimmen könnte: An »die Stelle der früheren allgemeinverbindlichen Gemeinschaftsreligion« tritt »eine freigewählte, private Religiosität«. Stabile Sinnwahrnehmungen für große Gruppen der Gesellschaft sind nur schwer zu gewinnen und zu erhalten. Religiöse Bedürfnisse werden zunehmend außerhalb der Kirchen verrichtet. Vorstellungen eines sinnvollen Lebens werden jeweils nur von kleineren Gemeinschaften geteilt. Zahlreiche Sinnanbieter drängen gleichzeitig auf den »Markt des Glaubens« und konkurrieren um die »Gunst des Publikums«. Meinungs-, Deutungs- und Glaubenspluralismus sei vielmehr für postmoderne Gesellschaften charakteristisch (Kaufmann 1989: 73). Während also einerseits die traditionellen religiösen Bindungen abzunehmen scheinen, lässt das wachsende Interesse an religiöser und esoterischer Literatur vermuten, dass die religiöse Suche zunimmt, wobei Religion in postmodernen Gesellschaften allmählich, wie Casanova unterstreicht, auf die Rolle der »Kontingenzkompensa-

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tion«, auf die Rolle des »Seelentrösters« reduziert zu werden scheint (vgl. Brocker/Behr/Hildebrandt 2003). »Sinnwahrnehmung« im religiösen Feld der Postmoderne unterliegt demnach einem tief greifenden Wandel. Nichts sei, so Jean-Luc Nancy in seinem Buch The Birth to Presence ermüdender als das ständige Produzieren neuer Bedeutungsnuancen, als das Herstellen von »a little more sence« (vgl. Gumbrecht 2003: 210). Gumbrecht sieht postmoderne »Multioptionsgesellschaften« (Peter Gross) unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass Menschen in dieser »so bedeutungsgesättigten Welt […] Phänomene und Eindrücke der Präsenz« vermissen und diese zum »primären Objekt der (nicht vollständig bewussten) Begierde« erheben (Gumbrecht 2003: 210). »Ästhetisches Erleben« erlaube den Menschen, so Gumbrecht, Bedeutung und Präsenz in »ihrer Spannung« zu erfahren (Gumbrecht 2003: 214). Die Wirklichkeit um 2000 sieht Welsch wesentlich über Wahrnehmungsprozesse konstituiert, wobei die mediale Wahrnehmung und damit einhergehend die »Verdoppelung beziehungsweise Vervielfachung des Wirklichkeitserlebens« (Scherke/Bolterauer 2004: 364) zentrale Rollen spielen (Welsch 1993: 57). Im Hinblick auf die ästhetische Produktion hat die Moderne »alle denkbaren Grenzen und Schranken geschleift und eingeebnet: Exotik und abendländische Hochkultur, Genie-Ästhetik, Trivial-, Kommerz- und Medienkultur, E-Kunst und U-Kunst wurden vermixt und produktiv füreinander aufgeschlossen« (Beaucamp 2004: 15). Welsch unterscheidet schließlich die nicht klar voneinander abgrenzbaren Phänomene der Oberflächen- und Tiefenästhetisierung. Erste beziehe sich auf Alltagsphänomene und deren Inszenierung, zweite auf neue Erlebnis- und Wahrnehmungsqualitäten (vgl. Scherke/Bolterauer 2004). Im Hinblick auf das religiöse Feld in Europa sei »populäre Religion«, so Hubert Knoblauch, die »massenkulturelle Sozialform der Religion« (Thomas Luckmann) um 2000, wobei – für die Verbreitung von »populärer Religion« mit Hilfe von »kommunikativen Formen des Journalismus, der Populär-Literatur und den urbanen Legenden« (Knoblauch 2000: 146) – den Medien und dem Markt zentrale Bedeutung zukommt.26 Häufig gruppieren sich »religiöse Szenen« um »charismatische« Personen oder um sogenann-

26 Knoblauch analysiert in diesem Zusammenhang drei Formen »populärer Religion«: Electronic Church, New Age und die Papstbesuche (Knoblauch 2000).

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te offene Institutionen (kirchliche Bildungswerke, Weltgebetstag der Frauen et cetera), »Sozialintegration« und die »Stärkung des WirGefühls« erfolgt dann auf »Events«, die »– perfekt organisiert und zumeist monothematisch zentriert – unterschiedlichste Erlebnisinhalte und Erlebnisformen zu einem nach primär ästhetischen Kriterien konstruierten Ganzen zusammenbinden« und dabei möglichst viele Sinne ansprechen: Man denke in diesem Kontext beispielsweise an die Katholischen Weltjugendtage mit dem »Superpapst als Pop-Star«, an Missionsdiscos der evangelikalen Pro-Christ Bewegung oder an Esoterikmessen (Gebhard 2007: 7). Subjektive Sinnsuche steht beim postmodernen Individuum im Vordergrund, es wählt aus einer Reihe »religiöser« Optionen, aus äußerst heterogenen Praktiken und Themen, aus: »Gefühle von Intensität«, die in den Alltagswelten postmoderner Gegenwartsgesellschaften nicht zu finden sind, das »Ganz-Sein« und »Aufgehoben-Sein« werden mit Hilfe unterschiedlicher »ganzheitlicher«, »körperlich-sinnlicher Praktiken« und »bildhaft-symbolischer Weltentwürfe nicht- und vorchristlicher religiöser und esoterischer Traditionen« (Höllinger 1999: 288) ersehnt und erfahren.

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Repräsentanz und Vermittlung von Design im Prozess ästhetischer Transformationen der Gesellschaft R ALF R UMMEL -S UHRCKE

Das gesellschaftliche Interesse am Design hat sich seit den postmodernen 1980er und 90er Jahren auf einem ungewöhnlich hohen Niveau stabilisiert. Es gibt heute kaum mehr Akteure und Bereiche in der Wirtschaft, Politik oder Kultur, die sich von Gestaltungsfragen nicht eine grundlegende Verbesserung von Binnenstrukturen und Außenwirkung erhoffen. Zur Repräsentanz des effizienten und optimierten Arbeitens und Lebens in einer Haltung des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007: 62-73) gehört auch die ästhetische Durchdringung von Objekt- und Handlungsstrukturen. Hinzu ist immer deutlicher die Erwartung an emotionale und Lebensstil-prägende Qualitäten von Ästhetik und Form getreten (Norman 2004). Dem einzelnen Nutzer und Konsumenten wiederum werden in diesem Prozess der Ästhetisierung von Lebenswelten permanent neue Orientierungen angetragen. Mitunter, wie in der Werbung deutlich hervortretend, wirken diese Angebote suggestiv und vereinnahmend (Ullrich 2006: 65-118), als eine zwingende Verbindlichkeit gesellschaftlichen Konsums (Baudrillard 1991: 203-242). Vor dem Hintergrund dieser allgemein anerkannten Beobachtungen, soll es hier um zwei Stränge von Designwahrnehmung gehen, zunächst um einzelne Aspekte ihrer Geschichtlichkeit, sodann auch um die Vermittlungsposition von Design in ästhetisierenden gesellschaftlichen Zusammenhängen.

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Der Ästhetik-Vordenker Wolfgang Welsch hat in seiner Ausrufung des »Design-Zeitalters« davon gesprochen, dass das Design zum Schlüsselbegriff für das Verständnis des 21. Jahrhunderts geworden ist. »Angesichts einer ästhetischen Wirklichkeit vermag das Design die Conditio humana und mundana […] zur Anschauung zu bringen.« (Welsch 1992: 6) Mit ihm, geschult an der Pluralität der freien Künste, sind seiner Ansicht nach die Gesetzmäßigkeiten einer ästhetischen Verfasstheit von Wirklichkeit in der Moderne an die Oberfläche geraten, und dort zu besichtigen. »Wir erkennen heute, dass alle menschliche Tätigkeit – von den ›Entwürfen‹ der großen Politik bis zum Familienleben und von unseren Verkehrssystemen bis hin zu den flüchtigen Gesten und momentanen Wahrnehmungen – Elemente von Design einschließt. Der Aufgabenbereich von Design […] beginnt bereits bei der Einrichtung der Lebensverhältnisse und der Prägung von Verhaltensformen.« (Welsch 1990: 217) Gut siebzig Jahre nach den ersten Ready Mades des Avantgardekünstlers Marcel Duchamp, die eine Irritation des Künstlerischen: seiner Standpunkte und Betriebsformen suchen, hat das Design seine warenkulturelle Umzäunung durchbrochen. Es spielt sein doppelbödiges Spiel von Trivialität und Glanz. Der Mercedes 300 CE auf der Documenta 8 (Abb. 1) dreht sich im grellen Licht der Scheinwerfer vor den Augen eines Kunstpublikums permanent um sich selbst. »Is it a car, or is it an artwork?« ließe sich in Anlehnung an eine Position der konkreten amerikanischen Malerei in den 1960er Jahren fragen. Während Jasper Johns mit seinen gemalten, beinahe formatfüllenden US-amerikanischen Flaggen eine Imitation und eine Irritation des Wirklichen herbeiführt (»Is it a flag, or is it a painting?«, A. R. Salomon) und sich damit, in seinen eigenen Worten, für das interessiert, »was ein Ding nicht mehr ist, das, was es ein anderes werden Abb. 1: La Séduction lässt als es ist, der Augenblick, in dem (Die Verführung), Mercedes 300 man ein Ding neu erkennt und das DaCE auf einer Drehscheibe, hinschwinden dieses Augenblicks, das, Beitrag zur Documenta 8.

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was man in jedem Augenblick sieht oder sagt und womit man es bewenden lässt« (Imdahl 1968: 15) – während die konkrete Kunst also einen symbolischen Gegenstand zum Gegenstand der Betrachtung macht, setzt das Ding im Falle der Documenta-Inszenierung auf die Einebnung einer Differenz zwischen Warenwelt und Kunstwelt. Der 300 CE ist jedenfalls zur Schau gestelltes Design. Kunst oder Gebrauch? Fragen der Gestaltung stehen heute, so oder so, im Zentrum sozialer Diversifizierung in einer »erlebnisrationalen« Gesellschaft (Schulze 1996: 34-54, 417-457). Design, Kunst, Mode, Werbung und Medien sind gleichermaßen einem Prozess unterworfen, der sie miteinander in Berührung bringt und ihre jeweils spezifische Kraft und Ausdrucksweise kreativ und nivellierend abschöpft. Gerade im Kontext von Design und seiner medialen Repräsentation muss man von diesem Prozess als dem einer umfassenden Ästhetisierung sprechen, der, erstens, Designklassiker des Interieurs und der technischen Ausstattung hervorbringt. Hierzu bedarf es eines professionalisierten Zusammenspiels von Produzenten, Galerien, Museen und PR-Strategien rund um den Starkult von Designern wie dem Bauhauslehrer Marcel Breuer und Philippe Starck (Breuer 2001: 96-131) oder beispielweise der Designabteilung von Apple. Es verbreiten sich, zweitens, im Zuge dieses Prozesses überhaupt erst Angebote zur zeichenhaften und sozial-indikatorischen Ausstattung von ästhetischen Wohn-, Arbeits- und Freizeitwelten. Das Design rückt mit den Bindestrich-Soziologien der Milieu- und Lebensstilanalysen (vgl. Schulze 1996; Hradil 2001) in den Fokus sozial- und kulturwissenschaftlicher Betrachtung heutiger Gesellschaftsformationen. Bourdieu hat in seiner Theorie des Habitus (Bourdieu 1987) als auch kulturellem Kapital nicht herausgestellt, wie sehr das ökonomische System gerade auf die Expansion der Stile und Alltagsästhetiken angewiesen ist. Die neuen Mittelschichten sind als ideologischer Träger dieser Expansion konstitutiv für die nach-industrielle Gesellschaft geworden (vgl. Kellner/Heuberger 1988). Ohne die Designer, Journalisten und PR-Arbeiter, Modeschöpfer und sonstigen Kreativen würde diese Struktur samt ihren Leitbildern für Produktion und Konsum in sich zusammenfallen. Design avanciert zum Schlüssel kulturell inspirierter Orientierung. Es vermittelt über die unterschiedlichen Medienformate (exemplarisch: Magazine, Sammlungskataloge und Warenkataloge) scheinbar unbeschwerte Wertmuster eines schönen, individualisierten Lebens.

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EIN GESCHICHTLICHER

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Historisch-methodologisch ist die Disziplin Gestaltung angesiedelt zwischen Industrie- und Technikgeschichte und einer Spielart der Kulturanthropologie, die sich mit den vielgestaltigen Aneignungsprozessen in materiellen und virtuellen Welten zu befassen hat (Selle 2007: 16). Im Praktischen vermittelt das Design zwischen Technik, Ökonomie und Kultur. Es bezieht seine produktive Spannung, ja: seine soziale Verantwortung aus den Bewegungsformen dieser konkurrierenden Felder im Fortgang der Moderne. Gestaltete Formen und Oberflächen gründen nicht auf Abmachungen, die alleine Entwerfer und Produzenten treffen. Sie haben eine Resonanz im sozio-kulturellen Raum des (symbolischen) Gebrauchs. Der Designprozess ist eng an die sozialen und kulturellen Verständigungsmodi der Gesellschaft gebunden. Am Beispiel der 1950er Jahre soll dies verallgemeinert werden. Diese Dekade steht für grundlegend veränderte und theoretisierbare Anspruchsprofile im geschichtlichen Design. In der ersten Nachkriegsdekade entwickelt sich die deutsche Industrie rasant nach dem amerikanischen Vorbild einer fordistischen Massenproduktion. Durch eine Politik des »Wohlstand für Alle« (Ludwig Ehrhard) werden die Kaufkraftpotenziale und das Niveau des Massenkonsums dieser Dynamik nach und nach angepasst (vgl. Schildt 1997; Kaelble 1997). Auf den gesellschaftlichen Modernisierungsschub reagiert die unmittelbar damit verbundene Gestaltung in unterschiedlicher Weise. Entlang des wieder aufgenommenen Fadens der Neugründung des Deutschen Werkbundes (Oesterreich 2000: 41-126) re-etabliert sich, einerseits, das reformerische Ideal der »Geistigkeit der Form«, die im vernünftigen Zusammenspiel des Künstlers mit Ingenieuren und Fabrikanten heranreifen sollte. Die programmatischen Versuche ihrer sozial-ästhetischen Ableitung waren zwangsläufig in einer ethisch begründeten Gestaltungsauffassung gemündet, die den »falschen Schund« der billigen, das Handwerk und historische repräsentative Stile imitierenden ornamentalen Industrieware überwinden helfen sollte. Die Tradition dieser gereinigten Form lebt in den 1950er Jahren wieder auf; teils weil die mit ihr verbundenen Schulen und Namen (z. B. Werkbund- und Bauhaus-Emigranten) nun für die Legitimität einer sich als demokratisch aufgefassten, offizialisierten Nachkriegskultur

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einstehen müssen, teils weil Kontinuitätslinien der Moderne die NSZeit durchlaufen (vgl. Nerdinger 1993) und direkt in die Wiederaufbauphase des ruinierten Gemeinwesens hineinragen (vgl. im Gegensatz zur Situation der Gestaltung die Thesen von L. Hieber zur Kunst in diesem Band). Die alte Tugend der sachlichen und ästhetisch zurückgenommenen Ausstattung von alltäglichen Lebensräumen ist also verfügbar. Geschmacksmuster der gemäßigten Vorkriegs-Moderne passen sich auch gut in die zunächst noch improvisierten (Wohn-)Verhältnisse ein. Zudem setzt die Politik explizit auf die volkspädagogische Wirkung der so genannten »Guten Form«. Der 1953 ins Leben gerufene Rat für Formgebung fördert mithin die Verbreitung und Auszeichnung des funktionalistischen, des ehrlichen Designs. Diese offizielle Kultur des Designs drängt auf eine kulturelle Zähmung von entfesselter Produktion. Ihr gegen Verschwendung und Verschleiß gerichtetes Credo lautet: Formale Qualität und Dauerhaftigkeit. Die »Gute Form« ist über Jahrzehnte zum Synonym für das deutsche Design geworden, und sie ist als Vergegenständlichung einer protestantischen Ethik im Konsum weltweit in den großen musealen Sammlungen zu besichtigen (vgl. The Museum of Modern Art 2003). Das populäre Design der Fifties spricht, andererseits, eine gänzlich abweichende Sprache: Nierentische, geblümte Sammeltassen und Pfeifenputzermännchen bevölkern die mittlerweile retro-fähige, allzu bekannte leichtfüßige und dekorative Wohnkultur der Adenauer-Zeit. Selle sieht im Ganzen eine »promiskuitive Warenkultur«. Eine Wahrnehmung, die auch wichtige Gestalter und Theoretiker jener Zeit berührt, zum Beispiel Wilhelm Wagenfeld. Wagenfeld ist einer der Protagonisten des hohen Gestaltungsanspruchs in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach seiner Ausbildung unter anderem in der von Laszlo Moholy-Nagy angeleiteten Metallwerkstatt des Weimarer Bauhauses kam er über die Jenaer Glaswerke im Jahr 1935 als künstlerischer Leiter zu den Vereinigten Lausitzer Glaswerken (VLG) nach Weißwasser. Für die VLG modernisierte er das Produktsortiment und das Erscheinungsbild der damals größten Glashütte Europas nach strengen Qualitätsmaßstäben (Scheiffele 1994: 109-134). Die Gläser, Service und Kochgefäße mit dem von Wagenfeld eingeführten Rautenlogo wurden bis zu Beginn der 1940er Jahre in hohen Auflagen produziert und sogar international ausgezeichnet. Industrielles Pressglas ist durch Wagenfelds präzise Ent-

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wurfstätigkeit und seinen weitreichenden Einfluss auf die unternehmerische Produktionssteuerung fürderhin zu einer material- und formästhetisch hochwertigen Massenware geworden. Wagenfelds über lange Zeit erfolgreiche Biografie eines »Künstlers in der Industrie« (Walter Gropius) ragt ohne größere Brüche von den 1930er über die 50er bis weit in die 70er Jahre hinein. Er verkörpert den Typus des anonymen Gestalters, dessen funktionale Produkte für Firmen wie WMF, Rosenthal, Peill & Putzler und andere in vielen Haushalten unauffällig zur Hand gehen. »Dienend« – langlebig, praktisch und gut sind sie. Einem solchen Gestalter, für den die Schönheit der Gegenstände nicht formal – so seine Kritik am Bauhaus – eingelöst wird, sondern erst im harmonischen Gebrauch einer gehobenen, aber alle Schichten einbeziehenden Tischkultur, muss an der Misere der Warenästhetik (Grasskamp 1992: 154) verzweifeln. »Braucher« – nennt Wagenfeld liebevoll und begriffsgeschichtlich etwas naiv die Adressaten seiner Produkte. Wagenfeld schreibt: »Aber der Qualitätsbegriff als solcher [...] verkörpert, wo man ihn verwirklicht, eine Geisteshaltung, die von der ideellen Daseinsnotwendigkeit der Dinge in der Zeit ausgeht. Die Qualitätsidee ist also praktisch die Idee von einer Daseinsbestimmung der Dinge, die sich nicht in wirtschaftlicher Selbsterhaltung erfüllen lässt, vielmehr vom allgemeinbedeutenden Zweck und Erscheinungswert der Dinge ausgeht und derart noch den kleinsten Massenartikel in seiner Beziehung und Wirkung zum Ganzen beachtet.« (1990: 139) Es sind jedoch alle Versuche, gesellschaftliche Vernunft aus singulären Formen abzuleiten, Anfang der 1960er Jahre obsolet geworden. Die Herstellerfirmen stellen Wagenfeld nun anonyme Entwurfsabteilungen konkurrierend an die Seite. Sie sollen sich als erste Scouts in den Verästelungen des aufkommenden Massenkonsumenten-Geschmacks bewähren. Die feierlich umgrenzte Ästhetik des künstlerischen Einzelentwurfs ist auf dem Wege zu einer schrittweise entgrenzten Ästhetisierung der warenkulturellen Ökonomie verloren gegangen. Wagenfeld begegnet der gesellschaftlichen Transformation der 1950 bis 70er Jahre in einer Geisteshaltung, die der des Deutschen Werkbundes um 1910 nahesteht. Hingegen wendet sich die 1952 gegründete Ulmer Hochschule für Gestaltung schon bald einer mathematisch-logischen und informations-theoretischen Operationalisierung des Designprozesses zu. Die HfG Ulm versucht in ihrer Programmatik die Modernisierung der Pro-

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duktion nicht mehr nur ästhetisch über die Objektsprache zu ertasten, sondern von innen her systematisch zu erfassen und auszubauen. Der Gründungsrektor und Bauhausschüler Max Bill wird schon 1956 wieder abgelöst. Er hat sich in der Gründungsphase folgendermaßen erklärt: »Wir betrachten die Kunst als höchste Ausdrucksstufe des Lebens und erstreben, das Leben als ein Gesamtkunstwerk einzurichten. Wir wollen, ähnlich wie es seinerzeit Henry van de Velde proklamierte, gegen das Hässliche ankämpfen mit Hilfe des Schönen, Guten, Praktischen« (Lindinger 1987: 17). Otl Aicher, Mitglied des Nachfolge-Rektoratskollegiums, befindet hingegen lapidar, Design sei wissenschaftlich und »kunst-irritierend«. Es treten Semiotiker, Kybernetiker, Mathematiker und Informatiker auf den Plan, die den rationalen Designdiskurs mit Bezug auf die radikalen Wandlungen in der technischen Fabrikation entwickeln (Bonsiepe 1967: 9-23). Als problematisch erscheint hierbei, dass die Ulmer Utopien nirgends anders festmachen können als an den Technologien selbst. Ihnen fehlen gewissermaßen die lebensweltlichen Bezüge. Sie vermitteln nicht mehr zwischen den Parametern der Warenproduktion und den mittlerweile auf Diversifizierung drängenden kulturellen Modi des Konsums. Historisch gesehen hat Ulm eine Chance verpasst, den Wandel der Gesellschaft, vernunftgeleitet, als sozial-ästhetisches Modell mit zu gestalten. Ein solcher Impuls liegt, unter anderen Vorzeichen, den historischen Avantgarden in der Gestaltung und Architektur noch zugrunde, wie die Ausrichtung des Dessauer Bauhaus und die umgesetzten Programme des Neuen Bauens in den 1920er Jahren zu erkennen geben (vgl. Mohr/Müller 1984). Mit einer elitären Haltung, bei der die Anschauung von bürgerlicher Kulturautonomie im Verborgenen mitläuft, ja, die im Zeitkontext sogar als Re-Autonomisierung zu begreifen ist (Rummel 2001: 204207), legt die HfG Ulm bereits erste Grundlagen für eine Wende zum narrativen, zum redundanten und industriegeschichtlich abgewandten Designprozess, der 15 Jahre nach Schließung der Ulmer Schule in der selbstverliebten Postmoderne (vgl. Collins/Papadakis 1989) aufgipfelt.

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Design evaluiert heute vermeintlich seine als negativ und destruktiv empfundenen sozialen und ökologischen Folgeerscheinungen. Es will nachhaltig und selbstreflexiv erscheinen und spiegelt die Programme und Visionen einer »grünen« post-materialistischen Ökonomie der westlich-kapitalisierten Länder. Die in Teilen nostalgische Kritik am lustvoll-ästhetisierenden und entgrenzten Design spielt einerseits der inszenierten Luxus-Askese im Stile des auf kulturgeschichtliche Bildung hin getrimmten »Manufactum«-Vertriebs zu, die noch jedes Argument unbeirrter Funktionalismus-Apologeten kommerziell aussticht (Manufactum 2010). Auf der anderen Seite mutiert ebendiese Kritik in eine Bestandsaufnahme des Geschehens »Im Designerpark« (Buchholz/Wolbert 2004): Design steht als hyperflexibles Marketinginstrument für den unerbittlichen Zugriff der ästhetisierten Warenwelt auf den Menschen selbst. Food-Design und Körperkult, Miniaturisierung und Gen-Design. So wird in gewisser Weise das Potenzial von Gestaltung für die Dynamik einer post-industriellen Gesellschaft in der Designreflexion überhöht. Wenn alles nur mehr eine Frage von Gestaltung ist, und wenn dies möglicherweise nur noch in der Regie anonymer Labore und Verwertungsschleifen geschieht – dann muss dahinter eine Allmacht des Designs zu erkennen sein. Oder: »An diesem Punkt, wo Design zum Pseudo, zur Imitation, zur Mimikry und zum Blendwerk wird, wo Design innerhalb eines ästhetisch wie ethisch indifferenten Marktsystems relativiert und nivelliert wird, ist es angebracht, über authentisches Design erneut zu reflektieren sowie auch seine zivilisations- und ökonomiegeschichtlichen Mutationen und Diversifikationen zur Diskussion zu stellen.« (Wolbert 2004: 23) Ist der Königsweg, die Objektwelten, wie Selle es ausdrückt, in der »Intimbiographie des Gebrauchs« (Selle 2004: 33) herunter zu brechen? Liegt das emanzipatorische Moment einzig im subjektiven Handlungsrahmen? Vielleicht kommt nun gerade der Vermittlung von Design, (Marken-)Technologie und Alltagskultur eine große Bedeutung zu. Denn zwischen der Herstellung von Designangeboten und ihrer Adaption und Deutung durch die Nutzer liegt ein vielbearbeitetes Feld. Dieses hat zwar im Zeitraum der Etablierung von Design als Agens rapider

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und scheinbar unumkehrbarer Wandlung zu erlebnisorientierter Sozialität etwas von seiner ideologischen Überhitzung verloren. Aber die mediale und museale Designvermittlung bleibt umkämpfter Träger einer fortbestehenden Transferleistung. Design, und heute speziell auch die Gestaltung von Software und Oberflächen der einem permanenten, kurzzyklischen Innovationszwang unterliegenden Gerätewelt, benötigt kulturelle Läuterung und »Legitimation«. Sie stellt sich nicht mehr allein her über die ästhetische Formgestaltung und eine materialadäquate Bearbeitung; denn die analogen und digitalen Objektwelten gelten im Zuge der jüngeren technik- und industriegeschichtlichen Entwicklungsdynamik prinzipiell als nicht mehr darstellbar (vgl. Design Zentrum München 2006). Bearbeitet werden muss infolgedessen der Zusammenhang von Komplexität und Erfahrung, oder auch: von Verständnis und NichtVerstehen. Interface-Design beispielsweise ermöglicht über semantisch reduzierte Tools multiple Anwendungen, die eingebunden sind in lange und opake Produktivitätsketten. Designreflexion muss berücksichtigen, dass viele Dinge in ihrer Erscheinung und Funktionsweise längst nicht mehr unmittelbar Auskunft geben über die, nicht mehr eindeutigen, Gebrauchsmuster. Soziale Nutzungsweisen entziehen sich wiederum ihrer Repräsentanz in den Strukturen analoger und digitaler Objektwelten. Kann sich überhaupt noch ein anthropologisches Maß durchsetzen, das den kritischen und erläuternden Blick auf die Verfasstheit und Wirkungsweisen unserer Artefakte zulässt? Oder schreitet die Instrumentalisierung des Ästhetischen im Kontext einer Gebrauchskultur voran, die ihren historisch herausgearbeiteten Vermittlungsanspruch zwischen Produktion und Vereinnahmung, zwischen Vorgaben und Deutungen, zwischen Ökonomie und Kultur sukzessive aufgegeben hat? Wo lägen Neuansätze für eine erkenntnisorientierte Zeitgenossenschaft des Designs im medialen Raum?

S CHAU : I NTERNATIONALE D ESIGN J AHRBÜCHER Um den Prozess der Veränderung von Designvermittlung und -repräsentanz in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu kennzeichnen, soll nun exemplarisch auf zwei Ausstellungsereignisse eingegangen werden. Ausgangspunkt sind drei ambitionierte Events im Kontext der

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musealen Präsentation von Internationalen Design Jahrbüchern in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Interessanterweise markieren sie bereits den Abstieg postmoderner Inszenierungslust. Nicht nur, dass sie am Rande des flirrenden Designgeschehens in den Metropolen der Kreativwirtschaft (Kries 2010: 91-93), nämlich in der beschaulichen und erst spät auf den Zug eines prosperierenden Städte-Kulturmarketings aufgesprungenen Hansestadt Bremen, stattfanden. Auch die beteiligten Museen selbst konnten sich, vielleicht wider Erwarten, aus einer kulturell verbrieften Tradition des Ausstellens heraus gegenüber dem glamourösen Eindringling durchaus behaupten (Rummel 2001: 38-63). Es hat drei von Ausstellungen begleitete Ausgaben des Internationalen Design Jahrbuches (NMWB 1995; Mendini 1996; Starck 1997) gegeben, so herum ist es wohl zu sehen. Sie entwarfen jeweils einen design-philosophischen Slogan, der, genau wie die Jahresauswahl der Objekte, von einem einzelnen Star-Architekten oder Designer verantwortet wurde. Ist das Design, sind die gestalteten Objekte unserer modernen Waren- und Alltagswelt Kunst? Mit dieser Frage hat sich das Neue Museum Weserburg Bremen (NMWB; heute: Weserburg. Museum für moderne Kunst) befasst, als es »Die Kunst und das schöne Ding« in Beziehung zueinander gesetzt hat. Das kuratorische Konzept von Jean Nouvel war das einer arrangierten Nachbarschaft von markteingeführten Konsumgütern und autonomen Kunstwerken. Ohne Zweifel jedoch zielen Designobjekte viel unmittelbarer auf ein sinnliches Interesse beim Publikum; ihre Zeichenhaftigkeit ist im Erfahrungspool des vergesellschafteten Warentauschs und der durchgesetzten Konsumwirklichkeit aufgehoben (Bosch 2010: 163-207). Dies lässt sich durch den Kontrast der Sprache moderner Kunst zum ausgestellten Alltagsdesign beschreiben. Dazu ein Beispiel. Nouvel rückte in seiner Ausstellung ein Sofa mit einem massiven Holzrahmen und Polsterelementen aus grauem Filzstoff in die Nähe der NMWB-Installationen von Joseph Beuys. Ein simples Verfahren: Die material-ähnliche Beschaffenheit konnte eine visuelle Vergleichsebene mit der Werkauffassung des Fett- und Filzkünstlers Joseph Beuys herbeiführen. Beuys’ Kunstwerken entbehrt es im Gegensatz zum Filzsofa aber an dem, was sich mit dem Assoziationshof Schönheit, Perfektion und Formideal in Verbindung bringen lässt. Im Gegenteil, Dreck, Erde, Rost, fleckige Farben, Fett und Schwefel geben seinen Werken ein schmutziges und sperriges Gepräge.

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Der Betrachter muss, gegen einige Widerstände ästhetischen Empfindens, tief in das Kunstwerk eindringen, um dort Rückverweise vorzufinden – etwa auf: »Kunst als Soziale Plastik« oder »Jeder Mensch ist ein Künstler!«. Beuys stellt sich »die Aufgabe, jene Mechanismen, die aus den sozialen Strukturen heute den Egoismus aktivieren, so umzuformen, dass sie den inneren menschlichen Absichten nicht mehr entgegenwirken« (Harlan/Rappmann/Schata 1984: 131). An einem, vielleicht sogar hochpreisigen, Gebrauchsgegenstand kristallisieren sich wohl eher die den Egoismus fördernden Aspekte des sozialen Lebens. Die im Folgejahr im Bremer Übersee-Museum inszenierten Objektwelten standen unter dem Motto »Design und Ritual«. Eine Anpassung an den auratischen Raum des Museums geschah hier mit Hilfe von 14 Ausstellungsinseln, die der italienische Star-Designer Alessandro Mendini kreiert hat. Die »totemartigen Inselarchitekturen« (Mendini) deklarierten ihre symbolische Nähe zu den völkerkundlichen Thematiken des Übersee-Museums. In der Tat entpuppte sich dieses aus dem Kolonialismus erwachsene Museum für die Natur- und Kulturgeschichte des Menschen als geeigneter Ort für die Fragestellung, welche Bedeutung die mit den Alltagsobjekten zwangsläufig verbundenen häuslichen Rituale des Menschen denn haben. Hier deutete sich eine bezeichnende Sehnsucht Mendinis an, das Verlangen nach einer expressiveren und spielerischen Gebrauchskultur, die die zementierten Fundamente der okzidentalen Industriegeschichte aufbrechen und darin verborgene rituelle Phantasien freisetzen sollte. Mendini schreibt dem Design ins Jahrbuch (Mendini 1996: 8): »Die Pionierjahre der Technik führten konsequenterweise zum Funktionalismus. Heute muss sich Formgebung mehr den stimulierenden und benutzeranimierenden Konzeptionen der Konsumgüter zuwenden [...] Im Umgang mit fortschrittlichen Technologien ist es nötig, sich auf die Fähigkeiten des Menschen zurückzubesinnen, einen Gegenstand nicht nur als Funktion, sondern auch als Ritual zu begreifen. In dieser Haltung liegen die Ursprünge, einen Gegenstand als Schmuckelement, als rituelle Geste, als Bewegungsritual und als Verhaltensmuster zu begreifen.« Animiert von der exotischen Übersee-Sammlung, suchte Mendini den direkten Weg zum Ritual, durch die industrielle Produktion und den westlichen Konsumismus hindurch. Er arbeitet sich gewissermaßen an die ästhetische Oberfläche der Industrieobjekte, die er über

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eine enthistorisierte Zeichensprache der Postmoderne auf die Animationspunkte des Zeremoniellen stoßen lässt. Philippe Starck hatte im Vorfeld seiner Ausstellung im Bremer Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte (Focke-Museum) 1997 grundsätzliche Kritik an den Verführungen der Konsumgesellschaft geäußert. Mit seinem »Manifest für die Diktatur der Unabhängigkeit« (Starck 1997: 8) hat er das Schlagwort von der »sozialen Verpflichtung« des Designs erneut ins Spiel gebracht. Seine mitunter plakativen Forderungen richteten sich auf »neue Moralität«, »sozialverantwortliche Ordnung«, »Minimum des Materialverbrauchs und Maximum an humanem Wert« usw. In der Ausstellung vermeldeten insgesamt 16 Monitore: »all you need is love«, »urgency is back again« und »Intelligenz ist weiblich«. So vehement Starck für ein »Nein zum Konsumismus« plädiert, so wenig vermochten die ausgestellten Gegenstände allerdings davon zu berichten. Die mehr als 200 Objektensembles standen sehr konkret für den modernen konsumistischen Warenkreislauf, der in erster Linie Schönheit im Alltäglichen verspricht. Im Focke-Museum wurden diese Produkte in einer beeindruckenden Reihung von homogenen, grau gestrichenen und geschlossenen Kabinen präsentiert, die sich inmitten der lärmenden Ästhetik mit dem Ethos einer Gesellschaft verbündeten, die um Gebrauchswertigkeit und Zweck-Mittel-Verhältnisse herum gruppiert ist. Eine Hommage zudem an den fordistischen Charme des Seriellen und Systematischen, der den individualisierten Designobjekten im Innern der Kabinen ästhetisch abhanden gekommen zu sein schien. Hier arbeitete also etwas gegen die offensichtliche Übermacht der Konsumkultur an, die gerne als losgelöst vom Sozialen da steht. Diese im Museum der stadtgeschichtlich-kulturellen Identität Bremens erzeugte Spannung ist erkenntnisleitend. Sie schafft eine Reflexivität, die in den Äußerungen des Designerstars vergleichsweise märchenhaft und pittoresk angeklungen war. Die grauen Kabinen animierten ein kluges symbolisches Wechselspiel zwischen den Ebenen der Arbeit, des Gebrauchs und den pluralen gesellschaftlichen Deutungsweisen von Konsum. Es wird an diesen drei Bremer Beispielen musealer Designrepräsentanz deutlich, wie die herbeigesehnte Vormachtstellung des Ästhetischen im Design von der strukturellen Kraft des klassisch Musealen gebrochen wird. Die angestammten Sammlungen und Darstellungsmuster verweisen die künstlerischen, rituellen und sozialen Bezüge des Designs zu unserer Lebenswelt in dessen eigene Bezirke, die bekann-

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termaßen außerhalb der Museen liegen. Der argumentative Verweis auf die gebrauchskulturelle Dimension des Designs kann nun aber seine andere Seite, die Schönheit und Ästhetik, mit weiteren Begehrlichkeiten ausstatten. Also stellt sich die Frage, ob nach der brüchigen nun eine im Prinzip blinde, weil grenzenlose Spiegelung des Designs im ästhetisierten sozialen Raum erfolgen konnte.

E NTRY P ARADISE Das zweite Designereignis, das hier zur Sprache kommt, fand im Jahr 2006 auf der Zeche Zollverein in Essen statt: »Entry Paradise. Neue Welten des Designs« (vgl. Seltmann/Lippert 2006). Im Vordergrund der Betrachtung steht das räumliche Arrangement der Schau. Interessant ist ihre kulturökonomische Einbettung in den Transformationsprozess des Ruhrgebietes von einer Industrie- in eine »Ruhr.Kultur2010«-Landschaft. Gut eine halbe Million Besucher besichtigten vor dem Kulturhauptstadt-Event jährlich die Zeche Zollverein. Eine Ikone der Industriearchitektur aus der letzten großen Rationalisierungsphase im deutschen Kohlebergbau. 1932 wurde die Zechenanlage in Betrieb genommen. Zwölftausend Tonnen verwertbarer Steinkohle pro Tag konnten gefördert werden, das entsprach der vierfachen Menge auf einer durchschnittlichen Zeche im Revier. Die beiden an der funktionalen BauhausPhilosophie geschulten Abb. 2: Industriekomplex aus Stahlfachwerk Industriearchitekten Fritz und Backstein und der Förderturm von Schupp und Martin Krem- Schacht XII der Zeche Zollverein, Essen. mer haben eine nüchterne und funktionale Monumentalität geschaffen (Wurm 2006). Zollverein ist mit der Inbetriebnahme dieses gigantischen Wunderwerkes moderner Technik zugleich ein Ehrfurcht gebietender ästhetischer Komplex. In der Gesamtwirkung wuchtig und monumental, in

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einzelnen Elementen zurückgenommen und filigran (Abb. 2). Die gesamte Anlage gruppiert sich um einen gepflegten Ehrenhof herum. Das Hauptzugangsportal war ausschließlich dem Bergwerksdirektor und seinen Honoratioren vorbehalten. Sie wirkte damals schon menschenleer, dem Ethos und der Fron schwerer körperlicher Arbeit auf eigentümliche Weise entzogen. Der Fotograf der Neuen Sachlichkeit, Albert Renger-Patzsch, dokumentierte in den 1920er und 30er Jahren die Verwandlung des Reviers in eine vielfach verdichtete, andernorts flächig gelockerte Industrielandschaft (Abb. 3) (vgl. Janzen 1996). Seine Schwarz-Weiß-Fotografien sind mit ihrem Faible für die ästhetische Kraft von auf den ersten Blick unbedeutenAbb. 3: Albert-Renger-Patzsch: den, grafisch herausgearbeiteten räumIndustrielandschaft, 1929. lichen Strukturen grandiose Überblendungen von natürlichen und menschlichen Formungen in der Landschaft. Die Fotografien bilden gewissermaßen einen Vorschein von dem ab, was wir heute erleben: Nach einer Phase der über mehrere Generationen andauernden industriellen Ausbeutung, scannt der kulturell eingestellte Blick die Potenziale des von industrieller Technik durchmodulierten Raumes ab. Was davon übrig geblieben ist und sowohl sozialhistorischen als auch ikonografischen Wert aufweist, wird einer veränderten Nutzung unterzogen. Eine Mixtur aus konstruktiven, pathetisch gefeierten Ingenieursleistungen und zivilisatorisch ausgeschiedenen Residuen bildet das Rohmaterial für eine tiefgreifende Transformation. Wie viele andere Stätten schwerindustrieller Arbeit und Produktion, kam auch die Zeche Zollverein in den 1980er Jahren an ihre Produktivitäts- und Rentabilitätsgrenze. 1986 wurde hier der letzte subventionierte Kohlebrocken gefördert, gereinigt und verkokst. Unmittelbar nach der Zechenschließung hat man das Ensemble unter Denkmalschutz gestellt. Jetzt, da der Wandel vom Industrierevier zur kulturellen Metropole vollzogen worden ist, avanciert Zollverein zum Besucherzentrum des neuen Ruhrgebiets. Von dieser beeindruckenden Transformation zeugt auch die ehemalige Kohlenwäsche, sie ist zur Ausstellungshalle umgewidmet worden.

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Die außen angefügte und mit 58 Metern Länge Europas höchste freistehende Rolltreppe setzt ein architektonisches Ausrufezeichen. Über den im Riesenformat inszenierten Zugang gelangen die Besucher ins Innere eines gigantischen Kastens. Wo früher schwarzes Kohlegestein hinauf befördert und in mehreren Arbeitsschritten für eine maschinelle Veredelung in Stahlkarren nach unten durchgereicht wurde, sucht das Publikum heute den schwindelerregenden Einstieg in eine labyrinthische Welt der Kunst und Kultur. Wo verlaufen die Grenzen von Gestaltung? »Bits, Atome, Neuronen, Gene«, die Herausforderungen des auf Zollverein ästhetisch so überwältigend dargebotenen und vom Medienphilosophen Nobert Bolz proklamierten Welten des »BANG-Designs« (Bolz 2006) sind technologischer und zugleich ethischer Natur. Sie fordern einen aufgeklärten und unspektakulären Zugang. Design, das nicht mehr gegenüber dem Menschen (als Subjekt-Objekt-Konstellation), auch nicht mehr nur nahe am (als Miniaturisierung), sondern im Menschen (genetisch) agiert, exekutiert die naturwissenschaftlich und biotechnologisch freigelegten Zugriffsmöglichkeiten auf die psychophysische und genetische Menschentwicklung. Dem Designdiskurs auf der Ebene der musealen und medialen Repräsentanz – das zeigt das Beispiel »Entry 2006« – fehlt es nach dem Sattel nicht-kontextualistischer Narrationen erneut an einer ästhetischvernunftgeleiteten Positionierung. Gestaltung sollte sich, wie vielleicht zuletzt im Resonanzraum der HfG Ulm, an den Widersprüchen des gesellschaftlichen Prozesses orientieren, an dessen unausweichlichen und notwendig auch darzustellenden Spannungen und Verhandlungen, nicht aber an dessen haltlosen ästhetisierten Utopien. Damit stünde das Design als ästhetisch-visualisierende und sozial verantwortliche Vermittlungsinstanz wieder im Zentrum von konkurrierenden Fortschrittserzählungen. Wo Formen und Strukturen letztgültig unsichtbar zu werden drohen, muss der mediale Zugriff Transparenz, Verlangsamung und be-greifbare Dimensionen gewährleisten.

K ONTEXTUALISIERUNG Was den meisten musealen und medialen Designpräsentationen fehlt, ist eine historische und soziologische Kontextualisierung, ein Beiseitestellen der kulturellen Erfahrungs- und Verarbeitungsmuster von virtu-

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ellen und Gegenstandswelten. Eine Forderung, die in der Museologie und Kulturanthropologie bereits seit längerem, verschieden akzentuiert, erhoben wird (vgl. Korff 1995; Hauser 2001). Immer geht es um die Bedeutung von Objekten, ihre Sozialhistorie, und um die Frage, wie Objekte (in Vitrinen) stellvertretend für abgeblendete Lebenswelten die Erinnerung an Alltagskulturen und Technikadaptionen aufrecht erhalten können. Im Falle von Design geht es allerdings noch um eine andere Dimension. Spätestens im Übergang der fordistischen Produktionsstandards zu den wissens- und kulturgestützten Weisen der flexiblen Kapitalakkumulation, also in der späten Phase der methodologischen Gestaltungsdiskurse an der HFG Ulm, hat das avantgardistische Design seine Anteile an der Definitionshoheit über die Richtung des Fortschritts in der modernen Gesellschaft an die Ingenieurs- und technischen Wissenschaften, heute: an die Life Sciences abtreten müssen. Wenn nun von Gestaltung die Rede sein kann, dann nicht im Sinne eines Zeichnens von großen Entwicklungslinien, sondern im Sinne einer Plausibilisierung. Der aktuelle Anspruch an Designrepräsentanz und Designvermittlung bezieht sich auf die kulturellen Verarbeitungsmuster von Nutzern und Konsumenten. Diese müssen in einem weitgehend ökonomischstrukturell gesteuerten Prozess wieder ins Spiel gebracht, visualisiert werden, um die Kluft zwischen Ökonomie und Technologie auf der einen Seite und den Strategien und Techniken einer Übersetzung und Verankerung in Alltagsroutinen auf der anderen Seite erträglich zu halten. Der Designdiskurs steht daher gut 20 Jahre nach der Beschreibung einer »reflexiven Moderne« (Ulrich Beck) noch vor der Aufgabe, einen Schritt beiseite zu machen, die Techniken einer Ästhetisierung von sozialen Welten, zu deren Durchsetzung er so viel beigetragen hat, zu durchkreuzen. Nicht mehr nur als Agens, sondern als Controller, Übersetzerin und Darstellerin wird das Design in der ästhetisch verfassten Wirklichkeit benötigt.

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L ITERATUR Baudrillard, Jean (1991): Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt am Main: Campus. Bolz, Norbert (2006): »Bang-Design«, in: Gerhard Seltmann/Werner Lippert (Hg.): Entry Paradise. Neue Welten des Designs, Basel: Birkhäuser, S. 22-32. Bonsiepe, Gui (1967): »Arabesken der Rationalität. Anmerkungen zur Methodologie des Design«, in: ulm 19/20. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung, S. 9-23. Bosch, Aida (2010): Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld: transcript. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Breuer, Gerda (2001): Die Erfindung des Modernen Klassikers. Avantgarde und ewige Aktualität, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Unternehmensform, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Buchholz, Kai/Wolbert, Klaus (Hg.) (2004): Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten, Darmstadt: Häusser.media Verlag und Institut Mathildenhöhe. Collins, Michael/Papadakis, Andreas (1989): Post-Modern Design, London: Academy Editions. Design Zentrum München (Hg.) (2006): Siemens Industrial Design. 100 Jahre Kontinuität im Wandel. Mit Beiträgen von Christoph Hoesch/Julius Lengert/Ralf Rummel, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz. Grasskamp, Walter (1992): Die unästhetische Demokratie. Kunst in der Marktgesellschaft, München: Beck. Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter (1984): Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg: Achberger Verlag. Hauser, Andrea (2001): »Staunen – Lernen – Erleben. Bedeutungsebenen gesammelter Objekte und ihrer musealen Präsentation im Wandel«, in: Gisela Ecker/Martina Stange/Ulrike Vedder (Hg.): Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen. Königstein: Helmer, S. 31-48. Hradil, Stefan (2001): Soziale Ungleichheit in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag. Imdahl, Max (1968): »Probleme der Pop Art«, in: Katalog zur documenta 4, Kassel, S. XIV-XVII.

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ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Cover: Kunstforum International Bd. 90. – Abb. 2: Foto: Ralf Rummel-Suhrcke. – Abb. 3: Industrielandschaft, 1929, Janzen (2006), S. 15.

Provokation und Reaktion Medialisierung und Musealisierung der 68er-Gegenkultur A NDREAS U RBAN

»Wir (die Fotografen) bestimmen das historische Gedächtnis der Menschen. So wie wir Menschen, Orte und Handlungen fotografieren, so wird man sich an sie erinnern. … Alles ist Inszenierung, weil die Realität inszeniert ist. Inszenierung ist die Arbeit eines guten Fotografen. Weil man eine Meinung darstellen will, einen Standpunkt vertreten, ein politisches Statement abgeben. Es gibt kein objektives Foto. Je besser es inszeniert ist, desto genauer weiß der Fotograf, was er zeigen will«. Oliviero Toscani 2010

Z UR E INFÜHRUNG Die Macht der Bilder für die Bewusstseins- und Meinungsbildung ist in jüngster Zeit verstärkt in das Blickfeld der Gesellschafts- und Museumswissenschaften getreten. »Das Jahrhundert der Bilder«, »Bilder, die lügen« und »Bilder im Kopf«, so lauten Titel überaus erfolgreicher

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Publikationen und Ausstellungen der letzten Jahre, die überzeugend beschreiben, dass die Wirkung von Bildern weit über die Dokumentation des Geschehens von Ereignissen hinausgeht. Durch die allgegenwärtige Präsenz beliebig reproduzierbarer Abbildungen in gedruckter, projizierter oder virtueller Form ist der Einfluss des Bildes auf die individuelle und kollektive Erinnerung enorm gestiegen. Bilder sind zu herausragenden Faktoren des kulturellen Gedächtnisses der Gesellschaft geworden. Insbesondere solche Bilder, die mit Geschichten angereichert sind, die also auf Grund ihrer massenhaften Veröffentlichung zu Symbolen gesellschaftlicher Ereignisse oder Prozesse stilisiert wurden, verfügen über ein außergewöhnliches Imaginationspotential (vgl. Reiche 2009). Dies gilt auch für Bildmotive, die die politischen und kulturellen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre veranschaulichen bzw. inszenieren. Gerade im Kontext der Konflikte und Umbrüche dieser Zeit offenbarte sich die ambivalente Rolle der Medien als »BerichtErstatter« im Sinne der Dokumentation des Geschehens einerseits und als politische Akteure mit eigenen Interessen andererseits. Sie fungierten eben nicht nur als objektiv agierende Darsteller von Sachverhalten. Sie wirkten in entschiedener Weise vorsätzlich parteiergreifend auf das Geschehen ein. Den Fotografen kam in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu: Ihre vermeintlichen »Ab-Bilder« der Ereignisse suggerierten nicht nur eine unmittelbare »Augen-Zeugenschaft« sondern auch die Objektivität der teilnehmenden Beobachter. Dies jedoch ist eine Täuschung. Bereits durch die Zufälle des Augenblicks, der Anwesenheit des Fotografen an einem und eben nur an diesem und nicht gleichzeitig an einem anderen Ort, durch den Blickwinkel, die Wahl des Bildausschnitts, die Lichtverhältnisse etc., wird ein subjektiver Eindruck des Geschehens wiedergegeben. Zudem filtern die Fotografen wie die Bildredakteure der Medienorgane das vorhandene Bildmaterial nach bestimmten, selten deklarierten Kriterien. Oliviero Toscani weist zu Recht mit dem Selbstverständnis des seiner Bedeutung bewussten Fotografen darauf hin, dass Objektivität auch gar nicht der Anspruch des Bildberichterstatters sein kann. Der Fotograf visualisiert einen Standpunkt, je reflektierter und offener, desto besser. Die Offenlegung der Kriterien für die Auswahl der veröffentlichten Bilder erfolgt in der Regel und erfolgte in den 1960er Jahren allerdings nicht. Der Schein

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von Objektivität wurde den Betrachtern, also der mit Neuigkeiten und aktuellen visuellen Botschaften versorgten Bevölkerung, zugemutet. Eine mehr oder weniger offene Parteilichkeit prägte in den 1960er Jahren das gesamte Medienspektrum, wobei insbesondere die konservativen Publikationsorgane, und hier vor allem die der SpringerPresse, gezielt und unverhohlen die öffentliche Meinung zu manipulieren suchten. Veröffentlichte Bilder und Texte zu den Ereignissen hatten aber auch einen nicht intendierten Effekt. Durch die kontinuierliche Berichterstattung sowohl über die Ereignisse als auch über die Protagonisten beförderten alle Medien einen Gewöhnungsprozess an die Ziele der Gegenkultur und einen Wandel der kulturellen Leitbilder bei denjenigen, die für Veränderungen der gesellschaftlichen Orientierungen und Verhaltensmuster zugänglich waren. In gewisser Weise wurden die Medien dabei Opfer ihrer eigenen Existenzgrundlage: Denn das besondere, das erzählenswerte Ereignis ist allemal von weit größerer Attraktivität für Leser und Betrachter als der normale Alltag, als das Gewöhnliche und Gewohnte. Medienprodukte sind eben auch Handelswaren, die auf dem Markt feilgeboten werden. Das »Prinzip der begrenzten Regelverletzung«, das die Akteure der Gegenkultur vor aller Augen in der Öffentlichkeit praktizierten, weckte auch bei denjenigen, die dagegen agitierten und die Protagonisten vehement anfeindeten, gerade wegen der davon ausgehenden Irritationen gewohnter Wahrnehmungsmuster, Interesse. In einer »Gesellschaft des Spektakels« (Debord 1996) bedarf es der besonderen Ereignisse, der Spektakel, um Aufmerksamkeit zu erregen. In einer Welt, in der Erfahrungen überwiegend durch Medien vermittelt werden, müssen diese Spektakel als symbolische Aktionen inszeniert werden. Beide Bedingungen beherzigten die Aktivisten der 1960er Jahre mit ihren »provokativen Aktionen im Grenzbereich von Legalität und Illegalität« (Gilcher-Holtey 1968: 23) meisterhaft. Auch negative Reaktionen sind solche, die auf Interesse und emotionaler Beteiligung basieren. Insofern spiegelt die intensive mediale Resonanz auf die gesellschaftskritische Bewegung der 1960er Jahre nur den Funktionsmechanismus einer nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisierten Medienkultur wider. Wie sehr sensiblen Redakteuren jedoch bewusst war, dass die Berichterstattung über die Aktivitäten der gegenkulturellen Bewegung auch mobilisierende Wirkungen hat, zeigt eine Vereinbarung der hannoverschen Tageszeitungen bezüglich des Umgangs mit den Protesten. Demnach hatte man sich in-

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tern im Kreis der verantwortlichen Redakteure darauf verständigt, die Berichterstattung über Aktivitäten der außerparlamentarischen Opposition knapp zu halten, nicht weiter zu kommentieren und vor allem nicht durch Bilder aufzuwerten. In dem von den Verfassern nicht publizierten Text heißt es: »Demonstrationen oder ähnliche Veranstaltungen, von denen zu erwarten ist, dass die Außerparlamentarische Opposition (APO) sie ausnutzt, werden in Zukunft nicht mehr angekündigt. Von diesen Veranstaltungen werden keine Bilder veröffentlicht. Die Berichterstattung wird knapp gehalten und beschränkt sich auf den reinen Nachrichtenwert« (Der Spiegel, 26.05.1969, S. 98; zit. nach Geiling 1986: 104). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass den Zeitungsmachern die Macht ihrer Bilder im Rahmen der allgemeinen Berichterstattung durchaus bewusst war. Die Wortführer der 68er-Bewegung erkannten schnell, dass sie die Medien für gezielte »Öffentlichkeitsarbeit« in ihrem Sinne instrumentalisieren konnten. Rudi Dutschke, einer der Wortführer der Studentenbewegung, vertrat die Ansicht, »dass in der Bundesrepublik die Existenz andersdenkender Minoritäten ohne Provokation überhaupt nicht wahrgenommen wird« (zit. nach Gilcher-Holtey 2008: 62). Auch Jürgen Habermas, vor allem hinsichtlich der Strategie des Widerstands gegen die Politik der Bundesregierung und des konservativen Establishments ein entschiedener Kontrahent Dutschkes, hielt die neuen, öffentlichkeitswirksamen Demonstrationstechniken für »vorzüglich geeignet (aber auch nur dazu), Publizitätsbarrieren zu beseitigen und Aufklärungsprozesse, massenhafte Aufklärungsprozesse, in Gang zu setzen« (Habermas 1969/2008: 321). Warnend und spätere Entwicklungen antizipierend kritisierte er allerdings die »systematisch betriebene Provokation von Studenten« als »Spiel mit dem Terror« (Habermas 1967: 75). Habermas war wie vielen anderen kritischen Intellektuellen die Ambivalenz des Verhältnisses der Protestbewegung zu den bundesdeutschen Medien bewusst. »Angesichts eines publizistischen Bereichs kommerzieller Massenbeeinflussung« (Habermas 1969/2008: 320) richte sich die studentische Aktion »vor allem gegen publizistische Großunternehmen, die eine privatisierte Leserschaft nicht nur hervorbringen, sondern deren Affekte auch noch für die gar nicht zufälligen politischen Vorurteile des Verlegers von Fall zu Fall mobil machen und ausbeuten« (Habermas 1969/2008: 319 f.). Die Paradoxie der Studentenbewegung bestand also darin, das aufklärerische Potenti-

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al der Medien für die eigenen Zwecke zu nutzen, gleichzeitig aber die Manipulationsmacht der Medien, sofern sie gegen die eigenen Ziele eingesetzt wurde, zu bekämpfen (Abb. 1).

Abb. 1: Sit-In bei einer Vietnam-Demonstration auf der zentralen Georgstraße in Hannovers Stadtmitte, 08.03.1968. Der Aufbau der Menschengruppe wirkt so, als hätte der kunsthistorisch gebildete Fotograf die Szene komponiert. Aktionen im öffentlichen Raum hatten nicht nur die Infragestellung der gewohnten Ordnungsmuster und die »Mobilisierung der massenmedialen Öffentlichkeit« (Fahlenbrach 2008b: 365 f.) zur Folge. Sie erleichterten den Beteiligten auch die Ausbildung einer kollektiven Identität. Das gemeinsame körperliche und emotionale Erlebnis in einer ablehnenden bis feindlichen Umgebung förderte das Gefühl der Zusammengehörigkeit, zumal die mediale Präsenz die Konfrontation von Wir und Ihr im subjektiven Erleben der Beteiligten noch verstärkte. Die Heterogenität der 68er Bewegung, letztlich ein Ergebnis des

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Zusammenwirkens unterschiedlicher politischer Strömungen wie der Ostermarschbewegung, der Opposition gegen die Notstandsgesetze und der Studentenbewegung sowie einer nicht explizit politischen, den überkommenen Normen und Werten der etablierten Gesellschaft kritisch gegenüber stehenden jungen Generation, wurde auf diese Weise eher überdeckt und im öffentlichen Bewusstsein homogenisiert. Im Folgenden werde ich anhand von lokalgeschichtlichen Fallbeispielen aus den Jahren 1966 bis 1969 skizzieren, wie Medien über gesellschaftliche Konflikte, deren Bühne die Straßen und Plätze der Großstadt Hannover waren, berichteten, und wie diese Berichterstattung, insbesondere die veröffentlichten Bilder, in die Gesellschaft hineinwirkten. Hannover war im Kontext der Auseinandersetzungen der 1960er Jahre im Vergleich zu den Zentren Berlin und Frankfurt/Main ein Nebenschauplatz. Aber auch in der Universitätsstadt Hannover wurden die für die Bundesrepublik der 1960er Jahre typischen Konflikte offen ausgetragen. Zu den lokalen Besonderheiten zählen die tragischen Begleitumstände des Todes von Benno Ohnesorg während einer Demonstration in Berlin im Juni 1967. Obgleich die Stadt durch den in Hannover aufgewachsenen und hier beigesetzten Ohnesorg überregional in das Blickfeld der Öffentlichkeit geriet und gerade die Bilder des am Boden liegenden, blutenden Ohnesorg zu Ikonen der bundesdeutschen Geschichte wurden, sollen an dieser Stelle drei andere Anlässe für »Provokation und Reaktion« vorgestellt werden. Ich beziehe mich dabei auf Berichte und Bilder hannoverscher Journalisten und Pressefotografen für konservative bzw. sozialliberale, jedenfalls nicht dem Springer-Konzern zugehörige Zeitungen mit vorwiegend regionaler Verbreitung. Abschließend werde ich einen Blick auf die Rolle der Museen als Orte der öffentlichen Auseinandersetzung mit und Aneignung von Geschichte werfen. Als offiziell legitimierte und geförderte Agenturen veröffentlichten Geschichtsbewusstseins haben Museen gerade in jüngster Zeit wieder an Bedeutung gewonnen. Gottfried Korff, einer der einflussreichsten Vordenker einer Theorie der kulturgeschichtlichen Museen, versteht diese Einrichtungen des Sammelns und Exponierens wegen ihrer massenhaften Resonanz und ihrer Bildungspotentiale sogar als »erfolgreichste und dynamischste Medien der Informationsgesellschaft« (Korff 2008: 19). Dieser Einschätzung stehen skeptischere Bewertungen gegenüber. Theodor W. Adorno hatte Anfang der 1960er Jahre das Museum eher

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als Erbbegräbnis verstanden und ihm die Neutralisierung von Kultur zum Vorwurf gemacht. Nicht aus gegenwärtigem Bedürfnis, sondern aus historischer Rücksicht werde kulturelle Überlieferung dort aufbewahrt/aufgebahrt (Adorno 1997: 181 f.). Er griff damit eine Argumentation auf, die bereits in der Konstitutionsphase der modernen Museumskultur formuliert worden war: »Die schönsten Zwecke der Kunstwerke, zu begeistern und das Leben sinnig zu schmücken, werden verfehlt, wenn sie in Museen aufgehäuft und eingekerkert werden; hier bleibt die Kunst wol Lehrerin, aber sie ist nicht mehr […] Spenderin der reinsten, entzückendsten Freuden des Lebens« (Real-Enzyklopädie 1827: 625). Ohne an dieser Stelle die gesellschaftliche Relevanz der Ausstellungskultur näher erörtern zu können, stellt sich hinsichtlich der oppositionellen Bewegungen der 1960er Jahre die Frage: Was ist bei der Präsentation der kulturellen Überlieferung, also hier insbesondere der Bilddokumente aus dem Kontext der damaligen gesellschaftlichen Konflikte und Umbrüche, zu bedenken, um einer Neutralisierung und Verklärung bei ihrer Präsentation im musealen Rahmen zu entgehen? Und welches gegenwärtige Bedürfnis manifestiert sich in einer solchen Ausstellung?

D IE G AMMLER

VOM

G EORGSPLATZ 1966/67

»Am idyllischen Georgsplatz ist nicht immer gut sein: Allerlei langmähniges junges Volk hat – sehr zum Unwillen erholungssuchender Bürger – die wenigen noch vorhandenen Stühle mit Beschlag belegt. An den Brunnenbecken hocken auch Gestalten, die sonst offenbar das Wasser scheuen. Und die Bankangestellten ringsum werden schon früh durch Gitarren und Gelächter bei der Arbeit gestört. Kurzum, am Georgsplatz haben sich die Gammler eingenistet. […] Der Polizeipräsident hat in seinem langen Polizistenleben manche Modeerscheinungen und –torheiten gesehen und gibt auch den Pilzköpfen und der Gammelbewegung kein allzu langes Leben. Zudem haben Beobachtungen hannoverscher Polizeibeamter bestätigt, daß die Jugendlichen vom Georgsplatz nur ein schwacher Abklatsch internationalen Gammlertums sind. Nach Schätzungen der Polizei befinden sich unter ihnen allenfalls 15 professionelle Gammler, der Rest rekrutiert sich aus Mitläufern, jungen Leuten, die nach der Schule oder nach Feierabend in grellbunte Kleider schlüpfen und sich den Langmähnigen anschließen.« (Hannoversche Allgemeine Zeitung [im Folgenden: HAZ], 25.08.1966)

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In den Sommertagen der Jahre 1966 und 1967 ging ein Gespenst um in Hannover. Das Gespenst trug den Namen »Gammler« (Abb. 2). Die Öffentlichkeit – Medien, Stadtverwaltung und Polizei sowie eine zunehmende Zahl schaulustiger Passanten – reagierte mit Empörung und Aggression. Dabei passierte eigentlich nichts. Anstößig war lediglich, dass sich junge Menschen mit nonkonformistischem Habitus und ungewohnter äußerer Erscheinung tagsüber und gelegentlich auch bei Nacht an prominenter Stelle im Stadtraum aufhielten. In Hannover war der bevorzugte Treffpunkt dieser »langsamsten Jugendbewegung aller Zeiten« (Der Spiegel, 19.09.1966; zit. nach Geiling 1996: 86) der Georgsplatz, der inmitten des Bankenviertels der Stadt an einer repräsentativen, gern als Flaniermeile genutzten Geschäftsstraße liegt. Hier, im Zentrum bürgerlicher Stadtkultur, stießen

Abb. 2: Einige »Gammler« und eine neugierige Menschenmenge am Brunnen des Georgsplatzes im Zentrum Hannovers, August 1967. Insbesondere die veröffentlichten Fotografien akzentuierten die Konfrontation zwischen »ruhigen, besonnenen Bürgern« und »gammelnden« Außenseitern.

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zwei Lebensprinzipien aufeinander, die im Kontext der Zeit unvereinbar waren. Notwendigerweise kam es zu Konfrontationen. Die auch von der Presse alarmierten Ordnungshüter reagierten mit Repression. Die Hannoveraner reagierten auf das exotische Spektakel am Georgsplatz mit einer Mischung aus Schaulust, Irritation und Schmähungen. Die Medien heizten die Stimmung gegen die unliebsamen Platzbesetzer an, indem sie Leserbriefe mit einer Fülle von Idiosynkrasien und Vorurteilen zu dem Phänomen »Gammler« publizierten. Stellungnahmen wie die folgende gehörten dabei eher zu den gemäßigten: »›Sie protestieren gegen alles, stehlen dem lieben Herrgott den Tag und wissen mit sich selbst nichts anzufangen!‹ So urteilte gestern ein ruhiger und besonnener Bürger der Stadt ohne Groll über die Gammler. ›Ich urteile und verurteile nicht – ich stelle ganz einfach fest. Unverständlich ist mir allerdings, daß es keinerlei Möglichkeiten geben soll, diese Gestalten von einem der schönsten Plätze der Stadt zu vertreiben!‹« (HAZ, 10.08.1967)

Der Konflikt entzündete sich nicht nur an der Tatsache, dass sich die »Gammler« an dem mit einem Brunnen geschmückten Platz aufhielten, der ein beliebter Ort für die Mittagspause der Angestellten aus den umliegenden Verwaltungsgebäuden war. Unmut entzündete sich auch an ihrem Lebensstil, ihrer Erscheinungsweise und der ihnen unterstellten mangelnden Sauberkeit. Auf vielfachen Protest aus der hannoverschen Bevölkerung reagierte die Ordnungsbehörde entsprechend rigide: Sie führte nach wiederholten Platzräumungen Reinigungsaktionen durch, in deren Verlauf der Georgsplatz – sehr zur Freude einer vielköpfigen Zuschauermenge – mehrfach mit chemikalischen Mitteln desinfiziert wurde. Der Bericht einer hannoverschen Tageszeitung gibt die Atmosphäre bei diesen Aktionen anschaulich wieder: »Im Nu hatten sich dabei auch mehrere hundert Zuschauer angesammelt, die die Reinigungsaktion schadenfroh beobachteten, die Männer des Fuhramtes mit deftigen Ratschlägen anfeuerten und ihrem Unmut über die Gammler im allgemeinen sowie den Zustand des Georgsplatzes im besonderen Luft machten.« (HAZ, 11.08.1967)

Nächtliche Razzien der Polizei, Kontrollen der Personalien und die Reinigungsmaßnahmen der Stadtverwaltung führten schließlich dazu, dass der Georgsplatz im Spätsommer 1967 »gammlerfrei« war.

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Warum hatte es aber zuvor solch massive Reaktionen des bürgerlich-konservativen Milieus auf dieses Jugendphänomen der 1960er Jahre gegeben? Die Unfähigkeit zur Toleranz gegenüber dem Anderen, ein Charakteristikum der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft in der Tradition des alles Ungleiche ausgrenzenden Nationalsozialismus, rief die massive Abwehr gegenüber diesem ersten schwachen Aufleuchten des Lebensgefühls des »summer of love« in Hannover hervor. Die auf Ordnung, Sauberkeit, Korrektheit und Arbeitsamkeit ausgerichtete bundesdeutsche Wirtschaftswunderwelt duldete keinen Spielraum für andere Lebensformen und Wertorientierungen. Die nachfolgende Generation entdeckte aber gerade diese andere Lebenspraxis und eine andere Ästhetik der Selbstinszenierung als Möglichkeit zur Abgrenzung von den Erwachsenen. Die Konfrontation der unterschiedlichen Lebensstile fand ihre Bühne mitten in der hannoverschen

Abb. 3: Ein verdutzter »Gammler« und gutbürgerliche Passanten beobachten die Desinfektion des Georgsplatzes, 11.08.1967.

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Innenstadt. Die »professionellen Gammler«, wie der Journalist abwertend schrieb, erwiesen sich für einen Teil der Zöglinge umliegender Schulen als so attraktiv, dass sie ihre Freizeit mit Vergnügen in deren Gesellschaft verbrachten. Durch diese Provokation fühlte sich die etablierte Gesellschaft herausgefordert. Statt wohlwollender Duldung oder gar Akzeptanz schlug den »Aussteigern« nicht nur in Hannover offene Feindschaft entgegen. Zuschreibungen wie langhaarig, unsauber, faul, aufsässig, ziellos und desorientiert mündeten in kompromisslose Reaktionen des Establishments: Wegräumen, Beseitigen, Säubern (Abb. 3). Eine Verständigung war in den Jahren 1966/67 nicht möglich. Erst der durch die Medialisierung beschleunigte Gewöhnungsprozess an neue Formen der Alltagsästhetik Jugendlicher nahm der Auseinandersetzung die Schärfe, die beim Auftreten der »Gammler« noch unvermittelt zum Ausbruch kam. Für die an die Norm von Anzug, Krawatte und kurzem Fassonhaarschnitt bei jungen Männern, Rock bzw. Kleid bei jungen Frauen orientierte bürgerliche Kultur stellten Abweichungen von dieser ästhetischen Vorgabe schwere Regelverstöße dar, die

Abb. 4: »Flower Power« am Georgsplatz, 20.08.1967. Der Bezug zur friedlichen Revolution der Hippies in den USA ist hier eindeutig gewollt, möglicherweise auch inszeniert. Also kein Schnappschuss, sondern ein arrangiertes Foto?

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sanktioniert werden mussten. Der Verzicht auf Arbeit und die Libertinage einer Existenz ohne Zeitgebundenheit und Verpflichtungen vor aller Augen mitten in der Stadt provozierte die Sanktion der in einen normalen Arbeitsalltag eingebundenen Bürger. Die »Gammler«, die von der US-amerikanischen Hippie-Bewegung zwar zu unterscheiden sind, in Ansätzen aber durchaus ähnliche Verhaltensformen kultivierten und auf diese Weise als Kinder ihrer Zeit den Weg für die Rezeption dieser amerikanischen Protestkultur in der Bundesrepublik bereiteten, waren nicht bloße Verweigerer gesellschaftlicher Werte, sondern reagierten auf den Zwang zur Anpassung an nicht mehr als verbindlich empfundene Verhaltensanforderungen. Insofern verhielten sie sich in einem erweiterten Sinn politisch, anders allerdings als die lauthals demonstrierenden Studenten. Herbert Marcuses Einschätzung der gesellschaftsverändernden Dynamik dieser Protestkultur gilt folglich auch für die »Gammler«, zumal ihr Auftreten in mancherlei Hinsicht dem von ihm mit Bezug auf die Hippies beschriebenen entsprach. »Der Einbruch des Ästhetischen ins Politische erscheint auch am anderen Pol der Rebellion gegen die Gesellschaft des Überfluss-Kapitalismus, bei den nonkonformistischen Jugendlichen. Auch hier die Umkehrung des Sinns, die bis zum offenen Widerspruch getrieben ist: man überreicht der Polizei Blumen (›flower power‹ ist die Neubestimmung und genaue Negation des Sinns von ›Gewalt‹); der erotische Furor in den Protestsongs; die Sinnlichkeit langer Haare, des von fügsamer Sauberkeit unbefleckten Körpers« (Marcuse 1969/2008b: 354). Die in den Sommern 1966/67 publizierten Bilder dieser unartikulierten »Rebellion« in Hannover (Abb. 4) brachten die Erscheinungsformen eines anderen Lebensideals jenseits der gekannten Konventionen mit den Morgenzeitungen auf die Frühstückstische der Stadtgesellschaft. Sie riefen Irritationen und harte Abwehrhaltungen hervor.

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»M EGAPHON UND S CHLAGSTOCK «. D IE O STERUNRUHEN 1968 »Hannover war nur eine von mehreren deutschen Großstädten, in denen in der Nacht zum Ostersonnabend die Auslieferung der Bildzeitung boykottiert wurde. Und es schien so, als ob sich an der Goseriede eine hannoversch-gemäßigte friedliche Demonstration abspielen sollte. Dennoch endete sie mit dem Einsatz von Wasserwerfern, Gummiknüppeln und 300 Polizeibeamten, mit Verletzungen und Festnahmen. Megaphon und Schlagstock, nun beinahe Symbol gegensätzlicher Auffassungen von Demokratie geworden, standen einander gegenüber. Diese Runde gewann der Schlagstock.« (Hannoversche Presse [im Folgenden: HP], 16.04.1968)

Abb. 5: Auflösung einer Sitzblockade durch Polizeikräfte vor dem Verlagshaus Madsack am Steintor, in dem die BILD-Zeitung gedruckt wurde, Nacht vom 12. auf den 13. April 1968.

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Am Nachmittag des 11. April 1968, einem Gründonnerstag, wurde in Berlin Rudi Dutschke, einer der Wortführer der Studentenbewegung, bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Diese Gewalttat mobilisierte in der ganzen Bundesrepublik an den darauf folgenden Ostertagen umfangreiche Demonstrationen. Deren Ziel waren vor allem die Verlagshäuser und Druckereien des Springer-Konzerns. Denn die diffamierende und personalisierende Berichterstattung dieses Verlags hatte Feindbilder von einigen Aktivisten der Studentenbewegung gezeichnet und in Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung eine hasserfüllte Stimmung gegen sie verstärkt. Der Vorwurf lautete, dass die eigentlichen Drahtzieher solcher Attentate die Journalisten des SpringerKonzerns waren. Deshalb richtete sich die Wut der Protestbewegung nun massiv gegen diesen einflussreichen Medienkonzern. Der Mordversuch an Dutschke war nicht der erste politisch motivierte Gewaltakt im Kontext der Auseinandersetzungen der späten 1960er Jahre. Bereits am 2. Juni 1967 hatte es in Berlin während einer Demonstration anlässlich des Besuchs des Schahs von Persien brutale Übergriffe von Polizeikräften auf Protestierende gegeben, während derer der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Dieser »Schuss in viele Köpfe« (Die Zeit) hatte gezeigt, mit welcher Härte die Staatsgewalt gegenüber der Oppositionsbewegung vorzugehen bereit war. Bei vielen Sympathisanten der politischen Bewegung waren Befürchtungen hinsichtlich der Gefahren des staatlichen Gewaltmonopols für die demokratische Kultur gewachsen. »Eine Welle der Solidarisierung ergriff innerhalb weniger Tage eine bundesdeutsche Universität nach der anderen, schuf eine Mobilisierung und erzeugte eine Bewegung, zunächst der Studierenden, dann der Jugendlichen und schließlich einer sich jenseits der Parteien und ungeachtet ihrer spezifischen Interessen formierenden Opposition« (Kraushaar 2008: 66). Die Beisetzung des Hannoveraners Ohnesorg war zudem Anlass dafür, am 9. Juni 1967 in der Innenstadt einen Trauermarsch mit ca. 7.000 Teilnehmern und den SDS-Kongress »Hochschule und Demokratie – Bedingungen und Organisation des Widerstands« in der Stadionsporthalle durchzuführen (vgl. Berlit 2007: 63 f.). Nicht zufällig ging gerade dieser hannoversche Kongress in die Geschichte der Studentenbewegung ein, da hier die Frage der Legitimität und Effektivität von Widerstandsformen u.a. zwischen Dutschke und Habermas äußerst kontrovers erörtert wurde. Habermas hatte dabei im Verlauf der Diskussion bezogen auf den Einsatz von Gewalt durch die Opposi-

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tionsbewegung zur großen Empörung des Auditoriums und mit erheblichem Nachhall in den darauf folgenden theoretischen Auseinandersetzungen den Begriff »linker Faschismus« (Habermas 1967: 101) verwendet. Eine andere Gewalttat hatte die deutsche Oppositionsbewegung unmittelbar vor dem Dutschke-Attentat aufgeschreckt: Am 4. April 1968 war in Memphis, USA, der Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King erschossen worden. Die folgenden Ostermärsche der Kampagne für Abrüstung und Demokratie in Hannover mit Demonstrationen auf dem Ernst-August-Platz vor dem Bahnhof und auf dem Opernplatz standen daher unter dem Eindruck der durch aggressive Medienberichterstattung motivierten politischen Gewalt gegen prominente Verfechter demokratischer Grundrechte. Ein Teil der an den Ostermärschen des Jahres 1968 Beteiligten schloss sich den Protesten gegen die Springer-Presse an, die insbesondere in der Nacht des 12. April zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizeikräften und Demonstranten führten (Abb. 5). Zuvor war es zur Besetzung des Verlagsgebäudes der Hannoverschen Presse in der Nähe des Steintors gekommen, um die Auslieferung der hanno-

Abb. 6: Demonstranten und ein junger Polizist am 15.April 1968. Ein Foto zur Beruhigung der Gemüter und zur Entspannung der Konfrontation oder ein inszeniertes Zeugnis für das maßvolle Verhalten der Polizei?

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verschen Ausgabe der Bild-Zeitung, die dort gedruckt wurde, zu verhindern. Einer der Slogans der Protestierenden lautete: »Bild hat scharf geschossen«. In einem Flugblatt des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) vom 13. April fand sich eine Begründung für dieses Vorgehen der Demonstranten: »Die wirklichen Täter sind diejenigen, die Rudi Dutschke zum Staatsfeind Nr. 1 gestempelt haben. Diese Täter sitzen in den Redaktionsstuben des Springerkonzerns« (zit. nach Berlit 2007: 80). Gegen die Sitzblockade von Schülern, Studenten und Lehrlingen vor dem Gebäude und an den Ausfahrten der Druckerei ging die Polizei in der Nacht kompromisslos mit Schlagstöcken und Wasserwerfern vor. 39 Personen wurden vorübergehend festgenommen (Abb. 6). Hannover steht exemplarisch für viele andere bundesdeutsche Städte, in denen sich ähnliche Szenen abspielten. Gewalt prägte das Bild der Proteste des Jahres 1968. »Bei den schwersten Straßenschlachten in Deutschland seit der Weimarer Republik kamen zwei Menschen, ein Fotograf und ein Student in München, ums Leben, vierhundert Menschen wurden zum Teil schwer verletzt« (Kraushaar 2008: 155). Die veröffentlichten Bilder dieser Ereignisse visualisierten diese neue Qualität der Auseinandersetzungen. Hatten bis dahin Fotografien von Demonstrationszügen mit Transparenten und Fahnen die Vorstellungswelt der unbeteiligten Bevölkerung bezüglich der APO bestimmt, so prägten nun die Radikalisierung der Konfrontation zwischen Staat und Protestkultur sowie die Eskalation der Gewalt die Berichterstattung. Mehr als zuvor waren es die Fotografien der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die die explosive Atmosphäre in die Wohnzimmer der Medienkonsumenten transportierten. Die Reaktionen der Boulevard-Presse, insbesondere der BildZeitung, waren kaum geeignet, den Auseinandersetzungen die Schärfe zu nehmen. »Terror der Straße« war einer der Slogans, die die konfrontative Stimmung weiter anheizten. Die Bilder des Protests, die über die Medien verbreitet wurden, trugen ihren Teil dazu bei, ein bürgerkriegsähnliches Schreckensszenario zu malen. Insbesondere diese visuellen Eindrücke führten zu einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit hinsichtlich der politischen Dimensionen des Konflikts und zur Mobilisierung all derjenigen, die Defizite in der bundesdeutschen Demokratie erkannten. »Mehr Demokratie wagen«, der Satz aus der Regierungserklärung des 1969 gewählten SPD-Bundeskanzlers Willy

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Brandt, war auch eine Reaktion auf die Bilder von den politischen Konfrontationen der vorausgegangenen Jahre.

D IE R OTE -P UNKT -AKTION 1969 Die Radikalisierung des Protestes während der Osterunruhen 1968 fand im darauf folgenden Jahr in Hannover seine spektakuläre und bundesweit wahrgenommene Fortsetzung. Hatte sich der Zorn der Demonstranten zunächst an der von den Boulevardmedien geschürten feindlichen Stimmung und an brutalen Polizeieinsätzen entzündet, so war es nun ein als unzumutbar empfundener Eingriff in eine für die Allgemeinheit bedeutsame Infrastruktureinrichtung, die die Bereitschaft zum Widerstand auslöste. Die durch Preiserhöhungen im öffent-

Abb. 7: Gleisbesetzer und Polizisten im Bereich des Steintors, einer bedeutenden Kreuzung des innerstädtischen Straßenbahnverkehrs, Juni 1969.

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lichen Nahverkehr provozierte sogenannte Rote-Punkt-Aktion (Abb. 7) stellte 1969 in Hannover den Höhepunkt der Protestkultur zu einem Zeitpunkt dar, als in den Zentren der außerparlamentarischen Opposition die Einheit der politischen Bewegung bereits auseinanderbrach und die Proteste abflauten. Eine drastische Erhöhung der Fahrpreise bei gleichzeitiger Auszahlung einer Dividende von 1,4 Millionen DM an die Aktionäre durch den privaten Betreiber des öffentlichen Nahverkehrssystems Üstra motivierte zunächst eine kleine Gruppe von politisch aktiven Studenten am 7. Juni 1969 zu Protesten. Wie auch in Bremen und in anderen Städten bot der Anlass Fahrpreiserhöhung links orientierten Aktivisten – die DKP und der durch den SDS geprägte Allgemeine Studentenausschuss (AStA) der Technischen Universität Hannover gehörten zu den Wortführern – eine willkommene Gelegenheit zur Konfrontati-

Abb. 8: Polizisten mit Gasmasken während eines Einsatzes gegen Demonstranten, die gegen Fahrpreiserhöhungen der ÜSTRA protestierten, Juni 1969.

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on mit einem gewinnorientierten Privatunternehmen und – dies war vorprogrammiert – mit den Repräsentanten des Staates. Denn dass die Besetzung und Blockade von Gleisen am hannoverschen Steintor, einem Knotenpunkt des Straßenbahnverkehrs, ab dem 7. Juni nicht folgenlos bleiben würde, war allen Beteiligten bewusst. Das Auftreten der Polizei überstieg allerdings das bis dahin bekannte Maß. Denn die Räumung der Straßenbahnschienen von den Demonstranten erfolgte mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und – erstmals – unter Einsatz von Tränengas (Abb. 8). Dennoch wurden die täglichen Protestveranstaltungen auf dem Opernplatz und die Schienenbesetzungen mit stetig zunehmender Resonanz bei der hannoverschen Bevölkerung fortgesetzt. Erfahrungen mit dem schlechten Service der Üstra und unpünktlichen Straßenbahnen trugen ihren Teil dazu bei, das Gefühl der Illegitimität von Fahrpreiserhöhungen zu untermauern. Bei warmem Sommerwetter nahm der Protest gegen die Verkehrsbetriebe an den folgenden Tagen zeitweise Happening-Charakter an. Der Kabarettist Kittner trat allabendlich im Zentrum der Konfrontation am Steintor mit seinem politischen Programm auf. Die Radikalität des Widerstands nahm zu: Die Blockade des Straßenbahnverkehrs ging so weit, dass Schienen einbetoniert wurden, um den öffentlichen Verkehr langfristig lahm zu legen. Auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Mitarbeitern des Verkehrsbetriebs und Demonstranten waren keine Ausnahme. Am 12. Juni stellte die Üstra schließlich den zuvor zeitweise unterbrochenen Straßenbahnverkehr endgültig ein, auch um die Demonstranten unter Druck zu setzen und sie für das zu erwartende Verkehrschaos verantwortlich zu machen. Als Reaktion auf den Stillstand des öffentlichen Verkehrs organisierte die Protestbewegung ab dem 14. Juni ein Rote-Punkt-System und Mitfahrerstopps: Autofahrer, die bereit waren, Mitfahrgelegenheiten anzubieten, klebten einen roten Punkt auf weißem Grund auf ihre Windschutzscheiben. Die vorwiegend von Studenten, Schülern und Lehrlingen getragene Protestbewegung richtete an den zentralen Stellen des innerstädtischen Verkehrs Haltepunkte ein, um Mitfahrwilligen die Möglichkeit zum Einstieg zu verschaffen. Wurden diese roten Punkte zunächst mit einfachsten Mitteln selbst gestaltet, so erfolgte bald eine Massenproduktion in Druckereien. »Nachdem schließlich Stadtverwaltung und Lokalpresse sich an der Herstellung ›Roter Punkte‹ beteiligt, Arbeiter der Hanomag sowie auch lokale Gewerkschafts-

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vertreter sich auf die Seite des Protests gestellt« (Geiling 1996: 105) hatten, wurde die Rote-Punkt-Aktion zu einem von vielen Hannoveranern getragenen Erfolg (Abb. 9).

Abb. 9: Mitfahrerstopp am Café Kröpcke in der Georgstraße, 14.06.1969. Der »Aufstand der Straße« (HAZ, 18.06.1969) fand breite Akzeptanz. Das behutsame Vorgehen der Stadtverwaltung, die sich nicht nur darum bemühte, den Protest in geordnete Bahnen zu lenken, sondern sich sogar an ihm beteiligte, trug ihren Teil dazu bei, die Auseinandersetzungen nicht zur Eskalation zu treiben. Die anfänglich ablehnende Haltung der Medien wich vorsichtiger Unterstützung. »Sympathien überwiegen« (HAZ, 12.06.1969) lautete die Schlagzeile eines Berichtes, der die überwiegend positive Resonanz der Hannoveraner auf die Verkehrsorganisation mit Hilfe der roten Punkte und den Protest gegen die erhöhten Fahrpreise resümierte. Andere Zeitungen gaben ihren Le-

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sern breiten Raum, die Ereignisse zu kommentieren. Unter anderem fand sich dort diese repräsentative Äußerung: »Ja zur Demonstration. Ich bin 45 Jahre alt und ansonsten gegen Demonstrationen gewisser Studenten mit Mao-Bildern. Denn das sind nur Randalierer. Aber die Demonstration gegen die zu hohen Fahrpreise der Üstra befürworte ich. Mit einer geordneten Demonstration am Klagesmarkt kann man nichts erreichen, da lacht der Üstra-Vorstand nur. Die, die Gegenmaßnahmen der Polizei angeordnet haben, möchte ich fragen, wo bleiben Humanität und Demokratie: sind wir schon wieder soweit?« (HP, 13.06.1969)

Die Auseinandersetzungen endeten schließlich mit der Kommunalisierung des Verkehrsunternehmens Üstra und mit der Einführung eines Einheitstarifs (Berlit 2007: 140; vgl. Mechler 1997: 144 f.). Der Straßenbahnverkehr wurde am 20. Juni wieder aufgenommen. Dass ausgerechnet das Automobil zum Erfolg des Protestes gegen die Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs beitrug, gehört sicherlich zur Ironie dieser Protestgeschichte. Dadurch konnte die prekäre Transportsituation entschärft und eine Solidarisierung von Teilen der sympathisierenden Bevölkerung mit den Aktivisten erleichtert werden. Das Individualverkehrsmittel ersetzte vorübergehend vollständig das öffentliche Verkehrssystem. Zum Erfolg der Rote-Punkt-Aktion des Frühsommers 1969 in Hannover trugen aber auch die Erfahrungen mit den Protestformen bei, die während der Demonstrationen der vorausgegangenen Jahre bereits eingeübt worden waren. Die aktive Rolle der lokalen Medien, die sehr bald mit umfangreicher Bildberichterstattung sowie detaillierter Darstellung der Vorgänge die Protestintentionen den Lesern nahe brachten, stellte eine Voraussetzung für den einmaligen Erfolg dieser Auseinandersetzungen dar.

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Straßen und Plätze, manchmal sogar Warenhäuser und Einkaufspassagen, wurden in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre im Kontext der Formierung einer Gegenkultur von den Akteuren als Bühne entdeckt. Den Passanten kam in dieser Inszenierung die Rolle der Zuschauer, den Medien die der Kommentatoren und Rezensenten zu. Insbesondere die »Mobilisierung der Massenmedien« (Fahlenbrach 2008b: 365)

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schuf die massenhafte Resonanz für die Veröffentlichung dezidiert politischer Anliegen und für die Popularisierung eines Lebensgefühls, das sich von dem der Bevölkerungsmehrheit deutlich unterschied. Aufmerksamkeit erregten vor allem die innovativen Techniken des Protestes, an die sich die Öffentlichkeit sukzessive gewöhnte. Dazu zählten Demonstrationen in Formationen und mit variablen Bewegungsrhythmen sowie die symbolische Besetzung des öffentlichen Raums durch Sit-Ins, Go-Ins, Teach-Ins und Love-Ins. Suggestive Plakate mit eingängigen ikonografischen »Helden-Motiven« einer linken Revolutionskultur wie Karl Marx, Mao Tse Tung, Che Guevara oder Ho Chi Minh lieferten Identifikationssymbole für die Sympathisanten und Markenzeichen dieser Protestgeneration. Gesellschaftliche Relevanz gewannen die Aktionen der 1960er Jahre nicht zuletzt dadurch, das zeigen auch die Beispiele aus Hannover, dass sie zu Medienevents wurden. Und dies gilt in Anbetracht der nostalgischen medialen Reproduktion der weitgehend kontextentleerten Bilder damaliger Ereignisse bis heute. Die Rolle der Medien im Kontext der 1960er Jahre Protestkultur war die des Treibers und des Getriebenen zugleich. Medien, zumal die Zeitungen des Boulevards, die an die tief verankerten Idiosynkrasien und Feindbilder der bundesdeutschen Bevölkerung appellierten, fungierten als Katalysatoren der Konfrontation zwischen der nonkonformistischen, oppositionellen Minderheit zumeist junger Menschen und dem konservativen bis reaktionären Establishment. »Denn die Medien greifen die latenten Bedürfnisse und auch Ängste der Bevölkerung auf, die diese im schon länger schwelenden Werte- und Generationenkonflikt entwickelt haben: auf der einen Seite die Sehnsucht der Jüngeren nach Befreiung von den Zwängen der hierarchischen, auf Sicherheit, Autoritätsgläubigkeit und Tradition aufbauenden Regeln und Normen, auf der anderen Seite die Angst der älteren Generation vor dem Verlust genau dieser Ordnungssysteme im privaten und öffentlichen Leben.« (Fahlenbrach 2008b: 367)

Indem die Medien den Protest sensationsheischend in Wort und Bild der Öffentlichkeit präsentierten, prägten sie Markenzeichen der Revolte und verschärften zugleich die ablehnenden Reaktionen. Die Medien, insbesondere die des Springer-Konzerns, nutzten ihren Einfluss, um massiv Stimmung gegen die junge Generation zu machen, populari-

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sierten dabei jedoch zugleich deren Nonkonformismus und unterstützten einen langfristigen Wertewandel. Die bürgerliche Presse machte im Zuge der journalistischen Begleitung der Protestereignisse von 1966 bis 1969 merkliche Lern- bzw. besser: Gewöhnungsprozesse durch. Sie öffnete sich vorsichtig gegenüber den Protestformen und -zielen, sobald sie spürte, dass ihre Leserschaft gewisse Sympathien für die eine oder andere Forderung entwickelte. Von anfänglich scharfen Feindbildern wandelte sich die Haltung einiger Medien sukzessive zu einem Bemühen um Verständnis der Protestanliegen. Demonstrationen wurden zunehmend als demokratisches Grundrecht gedeutet, wenn auch die sozialistischen Intentionen der politisierten Studentenschaft negiert bzw. gezielt ignoriert wurden. Auch für die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit von Polizeieinsätzen gegenüber den Aktivisten der Protestbewegung entwickelte ein Teil der Medien eine gewisse Sensibilität. Von »Toleranz« sowie »Denk- und Ausdrucksfreiheit«, Herbert Marcuses Vorbedingung der Freiheit des Individuums (Marcuse 1966/2008a: 147), war die Berichterstattung auch der bürgerlich-liberalen Medien allerdings weit entfernt. Wie das Beispiel der hannoverschen Rote-PunktAktion zeigt, gab es zumindest ein Bemühen um Ausgewogenheit und Empathie. Bilder wurden in der Berichterstattung über die Gegenkultur der 1960er Jahre gezielt diffamierend eingesetzt. Bildliche Inszenierungen hatten stets die Funktion der visuellen Bestätigung negativer Zuschreibungen. Bilder eigneten sich in besonderem Maße als Instrumente zur Emotionalisierung des Werte- und Generationenkonfliktes, weil sie nicht wie Texte eine verstandesmäßige Durchdringung voraussetzen. Bilder sprechen die Affekte an. Sie werden in der Regel beiläufig rezipiert. Ein Bildverstehen setzt dagegen eine Deutung der Bildkomposition voraus. Die schnelle, oberflächliche Verarbeitung der Bildinhalte, wie sie gemeinhin bei der Zeitungslektüre erfolgt, wirkt dennoch hintergründig. Sie setzt unbewusste Imaginationen frei und wird im visuellen Gedächtnis aufbewahrt. Personalisierungen nach dem Muster der Popkultur (Protestaktivisten wie Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg, Daniel Cohn-Bendit, Fritz Teufel, Rainer Langhans, Uschi Obermeier etc.) sowie bildästhetische Stereotypen (Demonstrationszüge mit Transparenten, Sitzblockaden und Sit-Ins, Konfrontationen von Demonstranten und Polizisten, unkonventionelle Jugendliche im öffentlichen Raum) leisteten der Polarisierung der aufgeladenen Emotionen

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im Kontext der 1960er Jahre Vorschub. Durch die Macht der Bilder konnten die Medien »den öffentlichen Common Sense wirksamer beeinflussen als die politischen Akteure selbst« (Fahlenbrach 2008a: 253; vgl. Reiche 2009). Sie förderten dadurch auch die kulturelle Erneuerung und die Revision des bestehenden Wertekanons in der Bundesrepublik. Nicht zuletzt deshalb gingen die medial verbreiteten Bilder der Protestbewegungen der späten 1960er Jahre in das kollektive Gedächtnis der bundesdeutschen Gesellschaft ein.

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Museen und Ausstellungen sind Orte der kulturellen Erinnerung. Sie tragen zur Fundierung oder Revision historischer Identitäten bei. Gerade in jüngster Zeit wird ihnen im Rahmen einer rückwärtsgewandten Selbstvergewisserung in der Bundesrepublik eine zunehmende Bedeutung zugewiesen. Dies zeigt sich an opulenten Aufwendungen von

Abb. 10: Gesellschaftliche Brüche. Vitrine mit Schlagstock, Polizeihelm und Megaphon aus dem Kontext der Rote-PunktAktion 1969 vor dem Hintergrund des Plakats zum populären Film »Hurra, die Schule brennt« mit Peter Alexander und Heintje von 1969. Inszenierung in der vom Folkwang-Museum Essen erarbeiteten und im Historischen Museum Hannover ergänzten Ausstellung. »Politik, Pop und Afri-Cola. 68er Plakate«, 2009.

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Fördermitteln aus öffentlichen Kassen sowie privater Stiftungen und Mäzene für Projekte zur Musealisierung der Vergangenheit. Selbst umstrittene Schlossbauprojekte wie die in Berlin und Hannover erhalten durch museale Nutzungen den Anstrich von Zweckmäßigkeit und werden als Argumente zur Überzeugung der Öffentlichkeit von der Sinnhaftigkeit der aufwendigen Bauvorhaben eingesetzt. Andererseits erweisen sich Ausstellungen derzeit durch die intensive Aufmerksamkeit der Print- und AV-Medien sowie durch die massenhafte Resonanz eines bildungsorientierten Publikums als überaus erfolgreiche Veranstaltungen. Ausstellungen zu den Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Umbrüchen der 1960er Jahre, wie sie im Jubiläumsjahr 2008 in Frankfurt, Berlin, Essen und – in einer um lokalgeschichtliche Besonderheiten ergänzten Version der Essener Plakatausstellung – in Hannover präsentiert wurden, verdienen daher eine kritische Würdigung. Auch sie waren Ausdruck nicht nur dokumentarischen Interesses oder eines Besuchszahlenkalküls, sondern eines wie auch immer motivierten Erinnerungsbedürfnisses (Abb. 10). Was macht die Besonderheit der Ausstellung als Massenmedium des kulturellen Eingedenkens im Konzert der kaum noch zu überschauenden Erinnerungskultur aus? Jan Gerchow, als Leiter des Historischen Museums Frankfurt/Main verantwortlich für die dort gezeigte dreidimensionale Vergangenheitsvergegenwärtigung, begründete sein Projekt folgendermaßen: »Ist die Generation der protestierenden Studenten und Schüler von 1968 schon ›reif‹ für’s Museum? … sind wir und ist das Museum schon so weit – nun vierzig Jahre nach den Ereignissen? Historisierung bedeutet Abstand gewinnen, ›warme‹ Emotionen loszulassen und stattdessen ›kühle‹ Analyse zu betreiben.« (Gerchow 2008: 8)

Museen, auch wenn sie die Intention der analytischen Durchdringung eines historischen Ereignisses verfolgen, sind für die Rezipienten nicht nur, überwiegend sogar nur nachrangig, Orte der Reflexion. Insbesondere historische Museen und Ausstellungen vermitteln durch die Anschauung der kulturellen Überlieferung Vertrautheitserlebnisse in einer schnelllebigen Welt. Dies zumindest war eines der ausschlaggebenden Motive für die Gründung dieser Einrichtungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Daran hat sich bis heute nichts geändert, wie an dem jüngst eröffneten Ruhrmuseum Essen zu beobachten ist, das dezidiert

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identitätsstiftende Facetten der regionalen Kultur präsentiert. Ausstellungen zur Politik und Kultur der 1960er Jahre stellen diesbezüglich keine Ausnahme dar. Auch ihr Fundament ist nicht ausschließlich das der »kühlen Analyse«, des kognitiven Verstehens, mag dies auch dem Anspruch der Kuratoren entsprechen. Die Geschichtsrezeption sowohl bei der Erlebnisgeneration wie bei den Jüngeren bleibt in jedem Fall durch vielfältige affektive Zugänge bestimmt. Geschichtsausstellungen dienen auch der Orientierung in einer unübersichtlich und fremd gewordenen Gegenwart. Nicht selten werden sie gerade wegen des Bedürfnisses nach nostalgischer Wärme besucht. Die sinnliche Präsenz der musealisierten Dingwelten, die Nähe und/oder Fremdheit des Vergangenen, leistet – ganz im Gegensatz zu den Absichten und Hoffnungen derjenigen, die wie der Autor dieses Beitrags das Museum als Ort der Aufklärung sehen – eher dem Vergessen der Gegenwart als dem Hinterfragen ihres Gewordenseins Vorschub. Auch Ausstellungen zu den 68ern sind nicht frei von diesem Effekt. Denn sie ästhetisieren durch den Akt des Exponierens die Relikte, die sozialen Zusammenhängen entstammen und auf sie verweisen. Ästhetisierung aber heißt: Reduktion, Beschränkung auf die Oberfläche des schönen Scheins, Verzicht auf die in den Dingen abgelagerten, aber eben nicht sichtbaren gesellschaftlichen Bedeutungen. Exponate existieren immer in zwei Dimensionen: in ihrer materiellen Präsenz und als Träger komplexer Bedeutungen, die zu entschlüsseln hohen Sachverstand und Deutungskompetenz voraussetzt. Ausstellungen kann dies nur dann gelingen, wenn sie zu Schulen des Sehens werden, wenn sie zu differenzierten Blicken anleiten und zum Hinterfragen der Bildoberflächen ermutigen. Die visuellen Inszenierungen der Revolte der 1960er Jahre bedürfen wegen der mit ihnen verbundenen zeitgenössischen und aktuellen Instrumentalisierungen, wegen ihrer vormaligen und heutigen bewusstseinsbildenden Macht, solcher Ausstellungstechniken. Denn wenn Museen Aufklärung über die 1960er Jahre leisten wollen statt Mythisierung zu betreiben, die sich nicht zuletzt aus zeichenhaft reduzierten, eingängigen und massenhaft reproduzierten Bildern des Protests speist, müssen sie die Exponate in dichte Kontextualisierungen einbinden. Zum Teil ist dies den Kuratoren insbesondere in Frankfurt überzeugend gelungen. Eine wesentliche Voraussetzung für eine Ausstellungskultur, die den Begriff der Aufklärung ernst nimmt, ist zudem Transparenz hinsichtlich der Konstruktionsprinzipien und

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der Wertbezogenheit der Geschichtspräsentation. Dazu gehört die Offenlegung der durch die Subjektivität der Museumswissenschaftler bestimmten inhaltlichen und didaktischen Entscheidungen bei der Zusammenstellung der Objekte und bei der Formulierung von darstellungsleitenden Fragestellungen. Nur unter dieser Voraussetzung ist Geschichts»schreibung« im Museum verantwortungsbewusst. Eine »ikonische Alphabetisierung« (Korff 2008: 22), die für eine von Nostalgie bereinigte, gegenwartsoffene Erinnerungskultur unerlässlich ist, kann nur auf eine solche Weise gelingen.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1997): »Valéry Proust Museum « [1953], in: Kulturkritik und Gesellschaft Bd. 1, Gesammelte Schriften, Bd. X.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 177-190. Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände (1827): Siebenter Band, Leipzig, S. 625. Berlit, Anna Christina (2007): Notstandskampagne und Roter Punkt. Die Studentenbewegung in Hannover 1967-1969, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte. Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin (franz. Original 1967). Fahlenbrach, Kathrin (2008a): »Medien-Revolten. Die Massenmedien als Ort der Proteste von 68«, in: Jan Gerchow (Hg.): Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung, Ausstellungskatalog: Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main , S. 244-253. Fahlenbrach, Kathrin (2008b): »Studentenrevolte. Mediale Protestbilder der Studentenbewegung«, in: Gerhard Paul: Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, S. 362-369. Gerchow, Jan (2008): »Die 68er – ins Museum?«, in: Ders.: Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung, Ausstellungskatalog, Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main, S. 8 f. Gilcher-Holtey, Ingrid (2008): 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Geiling, Heiko (1996): Das andere Hannover. Jugendkultur zwischen Rebellion und Integration in der Großstadt, Hannover: Offizin.

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ABBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1: Wilhelm Hauschild, 1968. (HAZ-Hauschild-Archiv, Historisches Museum Hannover). – Abb. 2: Wilhelm Hauschild, 1967. (HAZHauschild-Archiv, Historisches Museum Hannover). – Abb. 3: Wilhelm Hauschild, 1967. (HAZ-Hauschild-Archiv, Historisches Museum Hannover). – Abb. 4: Hinninger, 1967 (Bildarchiv Historisches Museum Hannover). – Abb. 5: Heinrich Riebesehl, 1968. (Bildarchiv Polizeigeschichtliche Sammlung Niedersachsen). – Abb. 6: Heinrich Riebesehl, 1968. (Bildarchiv Polizeigeschichtliche Sammlung Nieder-

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sachsen). – Abb 7: Wilhelm Hauschild, 1969. (HAZ-Hauschild-Archiv, Historisches Museum Hannover). – Abb. 8: Wilhelm Hauschild, 1969. (HAZ-Hauschild-Archiv, Historisches Museum Hannover). – Abb. 9: Wilhelm Hauschild, 1969. (HAZ-Hauschild-Archiv, Historisches Museum Hannover). – Abb. 10: Reinhard Gottschalk, 1969. Inszenierung in der vom Folkwang-Museum Essen erarbeiteten und im Historischen Museum Hannover ergänzten Ausstellung »Politik, Pop und Afri-Cola. 68er Plakate«, 2009. (Bildarchiv Historisches Museum Hannover).

Autorinnen und Autoren

Dominik Fugger, Dr., Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, leitet eine Nachwuchsforschergruppe »Religiöse Rituale in historischer Perspektive« im Universitären Schwerpunkt Religion. – Hg.: »Verkehrte Welten? Forschungen zum Motiv der rituellen Inversion«. Oldenbourg 2012: München (i.Vb.). Andrea Glauser, Dr. rer. soc., Postdoc-Stipendiatin am Institut Français d’Urbanisme, Université Paris-Est. – »Entsandte Künstler – Die Fremde als Atelier«, in: Villa Massimo – Academia Tedesca Roma 1910-2010, hrsg. von Joachim Blüher, Köln 2011: Wienand. Sabine A. Haring, Mag. Dr. rer.soc.oec., Ass. Prof., lehrt am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz. – »Verheißung und Erlösung – Religion und ihre weltlichen Ersatzbildungen in Politik und Wissenschaft«. Wien (2008): Passagen. Lutz Hieber, Prof. Dr., lehrt am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover. – »Avantgarden und Politik – Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne«, mit Stephan Moebius (Hg.), transcript 2009: Bielefeld. York Kautt, Dr., vertritt derzeit eine Professur für Kultursoziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. – »Image – Zur Genealogie eines Kommunikationscodes der Massenmedien«. Bielefeld 2008: transcript.

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Lilian Landes, Dr., leitet die DFG-geförderte Rezensionsplattform recensio.net (Bayerische Staatsbibliothek, Deutsches Historisches Institut Paris, Institut für Europäische Geschichte Mainz). – »Volkslyrik, Kunstkritik, Feuilletonroman und Genremalerei: Über Annäherung und Austausch von Erfolgsformaten zwischen Literatur- und Kunstschaffenden des Vormärz«, in: Jahrbuch des Forum Vormärz Forschung 2010 (»Verlagswesen und Literaturbetrieb im Vormärz«). Bodo Lippl, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. – »Klare Mehrheiten für den Wohlfahrtsstaat. Gesellschaftliche Orientierungen im internationalen Vergleich«, Bonn 2008: Abt. Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Stephan Moebius, Prof. Dr., lehrt Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. – »Kultur (Einführung in die Kultursoziologie, 2. Auflage)«, Bielefeld 2011: transcript. Dominique Rudin, lic. phil., arbeitet im Graduiertenkolleg »Bild und Zeit« des Nationalen Forschungsschwerpunktes »Eikones – NFS Bildkritik« an der Universität Basel. – »Reflexionen von Öffentlichkeit, Ein Pressespiegel«. In: Zutavern, Julia (et al.) (Hg.): FILMFRONT(AL), Das unabhängige Film- und Videoschaffen der 1970er- und 1980er Jahre in Basel, Basel 2010: Friedrich Reinhardt Verlag, 141-152. Ralf Rummel-Suhrcke, Prof. Dr. phil., lehrt praxisbezogene Kultursoziologie an der Fachhochschule Ottersberg, ist Kulturberater und Projektmanager. – »Siemens Industrial Design. 100 Jahre Kontinuität im Wandel« (dt./engl., mit Christoph A. Hoesch, Julius Lengert), hg. vom Design Zentrum München, Ostfildern 2006: Hatje Cantz Verlag. Katharina Scherke, ao. Univ.-Professorin Mag. Dr., lehrt am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz. – »Emotionen als Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Soziologie«, VS 2009: Wiesbaden. Andreas Urban, Dr., Ausstellungskurator, Historisches Museum Hannover. – »Rettung der Vergangenheit – Verlust der Gegenwart? Museumskultur in der Postmoderne«, in: Sabine Horn/Michael Sauer

A UTORINNEN

UND

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(Hg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen 2009, 70-79. Ulrike Wohler, Dr. phil., lehrt am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover, ist freiberufliche Beraterin, Trainerin, Dozentin, Referentin, Mediatorin und Tänzerin. – »Weiblicher Exhibitionismus. Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur«, Bielefeld 2009: transcript. Maria Zens, M.A., Dipl. Pol. Sc. (GB), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und freie Redakteurin. – »Festung, Lauffeuer, Fabrik: zum Verständnis der Kritik auf den Literaturmärkten«, in: Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 2010.

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge Juni 2011, 316 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.) Generation Facebook Über das Leben im Social Net Oktober 2011, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1859-4

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Zum Verstehen digitaler Kunst Dezember 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Clemens Apprich, Felix Stalder (Hg.) Vergessene Zukunft Radikale Netzkulturen in Europa Januar 2012, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1906-5

Vittoria Borsò (Hg.) Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik Januar 2012, ca. 400 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1756-6

Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader September 2011, 464 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz (Hg.) Integration und Explosion Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans Dezember 2011, ca. 298 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1785-6

Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.) Ritualdesign Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse »neuer« Rituale

Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen (3., erweiterte und aktualisierte Auflage) September 2011, 494 Seiten, kart., 250 Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-728-8

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.) Kulturen in Bewegung Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität Januar 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1729-0

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930) März 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs Dezember 2011, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

Dezember 2011, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1739-9

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