Ernst Jünger: Politik - Mythos - Kunst 9783110915730, 9783110180930

Ernst Jünger (1895-1998) is an important figure in 20th century German intellectual history.  His extensive work still p

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German Pages 539 [540] Year 2004

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Polecaj historie

Ernst Jünger: Politik - Mythos - Kunst
 9783110915730, 9783110180930

Table of contents :
Vorwort
Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Gottfried Benns und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933
Ernst Jüngers Frühwerk im Fluchtpunkt von Maurice Barrès‘ Konzeption des Nationalismus
„Ordnung der Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang“. Zur Lebenskunst Ernst Jüngers
Zeitstruktur und sozialgeschichtliche Aspekte in Jüngers Erzählung Die Zwille
„Eine Welt, die den Tod und die Liebe nicht kennt“. Ernst Jünger und die USA
„Die Trauer vor Tod und Herrlichkeit“. Zur Rezeption der Geschichte von der Messingstadt im Werk Ernst Jüngers
Don Quijote oder Das Abenteuerliche Herz. Eine Annäherung an die Kunst Ernst Jüngers
Oszillationen zwischen Literatur und Politik. Ernst Jünger und „das Wort vom politischen Dichter“
Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil
Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers. Autorschaft im Zeichen des Goethepreises (1982)
Denken auf Leben und Tod. Literarische Reflexionen einer ethisch-politischen Problemkonstellation in der Zeit des Totalitarismus (Brecht, Jünger, Bergengruen)
„Es ist nicht die ,Mittlere Linie‘, die wir einschlagen wollen ...“. Ernst Jünger und die Moderne der Zwischenkriegszeit
Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten
Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers Heliopolis (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen
Scheitern als Chance. Ernst Jüngers Kunst der Niederlage
Von Bord der Fremdenlegion‘ gehen. Mythologisch-metaphorische Ichbildung in Ernst Jüngers Afrikanischen Spielen
„Vor Actium“. Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur nach 1918
Gullin Bursti und der Traum vom Mythos. Zum Verhältnis von Mythologisierung und Bedeutungstilgung in Ernst Jüngers Erzählung Die Eberjagd (1952/1960)
Rausch und Distanz. Zu Jüngers später Ästhetik
Gefährliche Augenblicke. Ernst Jünger als Medientheoretiker
Magischer Realismus, Verherrlichung der Kriegers und Imagologie. Die belgische Rezeption Ernst Jüngers
Das Alphabet der Leidenschaft. Zu Ernst Jüngers Betrachtungen der Vokale und Konsonanten
„Wir irren vorwärts“. Zur Funktion des Utopischen im Werk Ernst Jüngers
Die Rückkehr ins „Kinder- und Märchenland“. Ernst Jünger als Italienreisender
„... dazu passend: Rotwein mit Eierkognak zur Hälfte in einem bauchigen Glas“. Borderline literarische Interaktion und Gewalt am Beispiel von Ernst Jüngers Kriegsschriften
Fritz Langs Metropolis und Ernst Jüngers Der Arbeiter. Aspekte des intermedialen Technik-Diskurses in der Weimarer Zeit
Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme
Kunstwerk, Traumbild und stereoskopischer Blick. Zum Bildverständnis Ernst Jüngers
Abstracts zu den einzelnen Beiträgen
Zu den Autoren
Werkregister

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Ernst Jünger Politik - Mythos - Kunst

W G DE

Ernst Jünger Politik - Mythos - Kunst

Herausgegeben von Lutz Hagestedt

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Redaktion: Christoph Schmitt-Maaß

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018093-6 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Wenige sind wert, daß man ihnen widerspricht. Ernst Jünger, Annäherungen.

Wer sich selbst kommentiert Vorwort des Herausgebers

„Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau." Mit seinem bekannten Bonmot aus den Epigrammen zu Blätter und Steine (1934) hat Ernst Jünger die auch unter Autoren beobachtbare Neigung, sich nicht nur Zeugnis abzulegen bis zum letzten, sondern auch das eigene Werk interpretierend zu deuten und gegebenenfalls zu rechtfertigen, frühzeitig für sich ausgeschlossen. Mit gutem Grund: Es kann nicht zu den Aufgaben des Autors gehören, seinen Zeitgenossen selbstexplikativ vorzugreifen und ihnen die Deutung des eigenen Werkes, das schon als sein Beitrag zur Deutung und Kommentierung der Welt begreifbar ist, abzunehmen, und erst recht darf es seinen Zeitgenossen nicht einfallen, dem Autor bei der Kommentierung seines Œuvres den Primat zu geben - und schon gar nicht seinen Jüngern. Während letztere nämlich versuchen, ,ihren' Autor in einen ästhetischen' und einen politischen' Part aufzuspalten, um je nach Opportunität mal den einen, mal den anderen zu gewichten, ist ersterer versucht, die Einheit und Widerspruchsfreiheit seiner Autorschaft zu behaupten, gemäß seiner Losung: „Jeder Autor hat einen Sinn, in welchem alle entgegengesetzten Stellen sich vertragen, oder er hat überhaupt gar keinen Sinn." Harro Segeberg hat die beliebte Praxis, Interpretationen mithilfe von Autorentheorien abzustützen, für die Jünger-Philologie überzeugend zurückgewiesen - und es wäre generell zu zeigen, daß die Positionen, die Jünger in seinen Werken und in seinen öffentlichen Epitexten bezieht respektive bezogen hat, selber kommentierungsbedürftig sind, oft nur eine kurze, tentative, zum Teil auch der Opportunität, der Mode und dem gewandelten Selbstbild geschuldete Aktualität besitzen und bisweilen dazu tendieren, den Blick auf den intentionalen und propositionalen Gehalt der Texte zu verstellen. Geläufig dürfte Jünger-Lesern außerdem sein, daß, wer von Jüngers Werk sprechen will, über Fassungen reden muß. Zwar mag die bekannte Überarbeitungsmanie des Autors das Bild seiner Wandlung vom bellizistischen zum belletristischen Autor in der deutschen Öffentlichkeit begünstigt haben, doch hat er immer in beide Richtungen gewirkt und sowohl im politischen wie im ästhetischen Raum

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Lutz Hagestedt

symbolisches Kapital akkumuliert, so daß seine Streitbarkeit immer mit Umstrittenheit einherging und Harald Weilnböck (Berlin) von einer „Affektübertragung dieses Erzählens" sprechen kann. Das internationale Ernst-Jünger-Symposium im November 2002, vom Herausgeber initiiert und von der DFG gefördert, führte Jünger-Spezialisten ebenso wie Wissenschaftler, die sich publizistisch noch nicht als Kenner seines Werkes ausgewiesen hatten, zusammen, um der Jünger-Forschung neue Impulse zu geben. Diese Mischung aus Bewährtem und Neuem erwies sich als außerordentlich anregend und führte zu dem vergleichsweise geschlossen wirkenden Ertrag der Tagung. Michael Ansel (München), zu dessen Prämissen es gehört, Pierre Bourdieus Kultursoziologie für die Literaturwissenschaft anschlußfähig zu machen, widmet sich den „literarischen Karrieren" Gottfried Benns und Ernst Jüngers, war Benn doch in den fünfziger Jahren für die Gegner ebenso wie für die Anhänger Jüngers ein gemeinsamer Bezugspunkt. In Max Benses Polemik Ptolemäer und Mauretanier (1950) beispielsweise wurde Jünger schärfer angegriffen als Benn, obgleich der Verfasser beide Autoren unter „Nihilismus" subsumierte, diesem wie jenem eine besondere Nähe zum Faschismus unterstellte und zudem bei Benn das Anfang 1933 erfolgte Bekenntnis zur nationalsozialistischen Bewegung zu monieren hatte. Einen anderen Vergleichsautor, nämlich Brecht, wählt Helmuth Kiesel (Heidelberg), um am Beispiel von moralischen Lehrstücken und schier ausweglosen Exempelgeschichten zu zeigen, wie unterschiedlich beide Autoren mit dem humanistischen Erbe umgehen - während Brecht es suspendiert, sucht Jünger kasuistisch nach Auswegen aus der „Instrumentalisierung des Menschen". Eine Verkehrung der Vorzeichen zugunsten Brechts bleibt aus, und weder bestätigt sich der gegen Jünger oft wiederholte Nihilismus-Verdacht noch der von Max Bense erhobene Vorwurf, Jünger sei ein ,,schwache[r] Denker" und ein noch schwächerer Dichter. Die Ansätze von Ansel und Kiesel fügen sich ein in die Jünger-Forschung der 90er Jahre, die, wie Tom Kindt (Göttingen) und Hans-Harald Müller (Hamburg) ausführen, unter dem Leitbegriff einer „kalten Moderne" Jüngers „unheimliche Nachbarschaft" mit avantgardistischen Autoren der Zwischenkriegszeit entdeckt hat, eine Erkenntnisreprise der 30er Jahre, die Kindt und Müller nutzen, um nach den zeitgenössischen Vorstellungen von der „Bestimmtheit" bzw. „Gestaltlosigkeit" des Subjekts zu fragen.

Vorwort

IX

„Der Mensch ist gut - zu allem", formulierte Ernst Weiß 1921. Gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges versuchten Jüngers Apologeten, den Autor als Humanisten darzustellen, der einer „Metaphysik des Krieges" und dem militanten Nationalismus seiner Kampfschriften' abgeschworen habe. Das Symposium sah seine Aufgabe nicht darin, Jüngers Moralität oder Amoralität zu erweisen, doch schien eine gewisse Relevanz der Frage zuzukommen, wie die unterstellte Wandlung Jüngers vom Saulus zum Paulus zu bewerten sei. Wie Kai Köhler (Seoul) ausfuhrt, reflektierte der Autor sein eigenes Verhalten weder umfassend noch konsistent, und Kiesels Hauptbezugstext, die parabelhafte Erzählung Der Steg von Masirah, wurde zwar schon 1942 umrißhaft konzipiert, aber erst 1949 im Rahmen des utopischen Romans Heliopolis veröffentlicht, kann also weder fur die These von der konstanten Humanität des Autors und seines Werkes in Anspruch genommen werden, die sich hier (erneut) offenbare, noch für die These einer erzwungenen und zu spät erfolgten Wandlung. Hans Krah (Passau), der Heliopolis als „aporetisch-komplexitätsreduzierende Utopie" erweist, macht in seinem Beitrag deutlich, daß ein Roman, der mit dem Opfer-Gedanken ein Moment geordneter Störung in die Planwirtschaft Gottes einführt, systemsprengende Alternativen nicht zuläßt insofern er die Täter- wie die Opferrolle nicht anders als nach christlicher Sinnstiftungsdogmatik modellieren kann. Die , oszillierenden Größen' Autor und Erzähler äußern sich demnach wie die Vordenker und Autoritäten, auf die sich ihre Protagonisten berufen, was nicht ausschließt, daß die Funktionalisierung (und Fiktionalisierung) tradierter Muster - trotz (oder wegen) selektiver Referenzen auf kulturelles Wissen - in anderen Kontexten zu innovativen und zudem stimmigen Ergebnissen führt, wie Volker Mergenthaler (Tübingen) am Beispiel des Charon-Mythologems in Jüngers Erzählung Afrikanische Spiele (1936) und Claus-Michael Ort am Beispiel der in zwei Varianten vorliegenden Erzählung Die Eberjagd (1952 und 1960) demonstrieren. Danièle Beitran-Vidal (Lyon) spekuliert in ihrer narratologischen Analyse von Jüngers Roman Die Zwille (1973) sogar auf ein Bündnis von Autor und Leser, um die Zeitbezüge zu transzendieren, die nicht bloß als Reflex der historischen Realität vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu interpretieren seien, sondern neben der spezifischen „Gedächtnistätigkeit" des Erzählers einen Faktor für die „Emanzipation der Geschichte aus der erzählten Zeit" darstellten. Sich selbst zu kommentieren - dies verstand Jünger als Aufforderung von außen. Die Kommentierung sollte dabei als Reaktion auf eine Vereinnahmung oder als Abwehr einer Vorwurfshaltung erfolgen - während Jünger die Selbstbegegnung im (respektive mit dem) eigenen Werk, wie Helmut Mottel (Dresden) am Beispiel von Jüngers Nachwort (1980) zu seinem Essay Die totale

χ

Lutz Hagestedt

Mobilmachung (1931) erläutert, als Selbstvergewisserung intoniert, als Prophétie aus dem Kriegserlebnis, die im Rückblick nichts von ihrer Aktualität verloren hat und daher noch einmal bekräftigt werden kann. Freilich, da Jünger den „unbefangenen Leser" apostrophiert, der ihm in dieser Lesart folgen soll, reagiert er indirekt auch auf den Widerspruch, den die Poeta vates-Haltung seiner Essayistik provoziert hat. Seine starre Weigerung, sich selbst zu kommentieren, wird suspendiert, wo er sich verstanden glaubt und nicht den Zwang verspürt, den Erwartungen einer unter neuen Vorzeichen angetretenen Gesellschaft zu entsprechen. Sieht man von seiner politischen Publizistik ab, die Jünger nicht in seine Werkausgaben aufnahm, so vollzog der Autor keine demonstrative Abkehr von seinem kämpferischen Frühwerk, sondern ließ in seinen Mitteln ebenso wie in seinen Motiven eine erstaunliche Kontinuität erkennen. Ihm stand, wie Rotraut Fischer (Darmstadt) zeigen kann, immer beides zu Gebote, Feder und Schwert, wobei es sein Bestreben war, die in der Zwischenkriegszeit und in der politischen Publizistik gewonnenen Denkfiguren später auf anderen Feldern erneut zu erproben. Steffen Martus (Berlin) spricht von einer „Ästhetisierung des Politischen" beziehungsweise einer (untergründigen) „Politisierung des Ästhetischen". Dem „Seismographen", als den der Autor sich sah, kam es gerade auf die Ausschläge an, die in den Tagebüchern dokumentiert werden, die auch als permanente Rede über sich selbst verstehbar sind, aber von Jünger anders verstanden wurden. Sie waren ihm Selbstgespräch, wie Gerhart Pickerodt (Marburg) ausfuhrt, und dienten zum „Festhalten von Ereignissen und Gedanken". Sie sind, wie Ulrich Baron (Hamburg) bekräftigt, Ausdruck einer Lebenskunst, die sich auch diachron und anhand der Verwerfungen dieser „Ausnahmebiographie" demonstrieren läßt. Während Baron in seinem Beitrag von der in Annäherungen (1970) geschilderten Hallenser Cannabis-Vergiftung ausgeht, um dann die späten Tagebücher Siebzig verweht in den Blick zu nehmen, untersucht Thomas Gloning (Marburg) die Wortschatzentwicklung vom frühen Jünger der Stahlgewitter über den Reisetagebuchautor der 50er Jahre (Am Sarazenenturm) bis hin zu Siebzig verweht, um den Verfasser als „Spiegel öffentlicher Themen seines Jahrhunderts" zu erweisen. Bei Pickerodt hingegen dient das Tagebuch vor allem der Kontrastierung zum Essay, geht es ihm doch darum, mit Annäherungen ein spezifisches Moment der späten Essayistik herauszuarbeiten, das dem Diarium fehle, nämlich die „Suchbewegung" mit dem Ziel einer transzendentalen Selbstfindung jenseits empirischer Selbstanalyse. Pickerodt und Baron - wie im übrigen auch Christina Ujma (Loughborough), die den Weg Jüngers „vom Krieger zum Reisenden" nachzeichnet - , stimmen darin überein, daß allerlei Regulative das einstmals Bedrohliche in Jüngers Vita domestiziert

Vorwort

XI

und abgemildert hätten zu einer „Reife und Festigkeit der Gesinnung", einer Mischung aus Muße und Disziplin, Selbstgenuß und Ordnungsliebe, die geeignet sei, innere Widersprüche zu leugnen oder zu neutralisieren. Die werkbiographischen Entwicklungen, die damit einhergehen, lassen sich freilich, wie Ulrich Fröschle (Dresden) ausfuhrt, eher als Schwerpunktverschiebungen deuten denn als generelle Aufkündigung früherer Positionierungen. Fröschle zeigt am Beispiel des Konzepts vom „politischen Dichter", wie sich Jüngers frühe Orientierung an einer Schriftstellerexistenz mit einem „kulturrevolutionären Programm" verknüpfen ließ. Während der Dichter-Krieger seine tiefe Sympathie für die Romania und den mediterranen Raum bekundet, bleiben ihm Amerika und die amerikanische Kultur fremd, wie Sven-Olaf Berggötz (Bonn) darstellt, wenngleich der Seismograph' ein sehr viel zutreffenderes Amerikabild entwickelt zu haben scheint als der politische Publizist. Vielleicht ist dieser, an ein privatistischästhetizistisches Desintegrationskonzept geknüpfte Erkenntnismodus ein Grund dafür, weshalb man dem früheren Propagandisten ungleich weniger abgewinnen kann als dem scheinbar ephemeren Tagebuchautor. Diese Tendenz zur Harmonisierung, dem Tagebuchwerk wie auch den Reisebeschreibungen eingeschrieben, ist anhand der sich über Jahre, teils über Jahrzehnte hinziehenden Textgenese nachvollziehbar. Die sich meist dezent wandelnde Textgestalt lässt dabei zwei gegenläufige Operationen erkennen, nämlich die Rücknahme des Wortes (vor allem durch Kürzungen, Streichungen und Entschärfungen), die bewirkt, daß aus den anstößigen sogenannte „stille Fassungen" entstehen, und die Bekräftigung des Wortes (durch Ergänzungen, Erweiterungen, Präzisierungen der bereits dargestellten Welt), die vor allem der Ästhetisierung dient, dem Ausmalen mit Worten, und damit im Extremfall den Schwulststil des späten Jünger bewirkt: Der „Intuitionismus", von dem Jörg Sader (Frankfurt) spricht, läßt hier den Sprachhandwerker im Stich. Bild- und Textspuren in Kunst und Film verfolgen Lothar Bluhm (Oulu), Reinhard Wilczek (Essen) und Rainer Zuch (Marburg). Bluhm betont am Beispiel von Jüngers Emir Musa-Adaption die Funktion des Todes als generatives und innovatives Moment im Werkstiftungsprozeß des Autors. Die Erfahrung der Schönheit im Angesicht des Todes ist ein Spannungsgarant in den Erzählungen aus Tausenundeiner Nacht ebenso wie in Rudolf Schlichters Bilderzyklus zum Märchen von der Messingstadt, der, wie Zuch ausfuhrt, Jünger wichtig war, weil er hier „kongeniale Verbildlichungen" für sein Ideal des mit einer „tieferen Einsicht begabten einsamen Sehers" vor sich hatte. Die von Jünger mit „Stereoskopie" bezeichnete, in der Forschung auch als Visualisierung von „Kälte" klassifizierte optische Kodierung von Wahrnehmung findet schließ-

XII

Lutz Hagestedt

lieh, wie Wilczek postuliert, in Fritz Langs Film Metropolis (1926) seine Entsprechung, dessen Ikonographie auf Jünger zurückgewirkt habe. Wie sehr Jüngers Werk auf die Bildmedien ausstrahlt, dies führt Karl Prümm (Marburg) in seinem Beitrag über Jünger als Medientheoretiker aus, dabei den Bogen bis in die 20er Jahre zurückschlagend. Seine Erkenntnisse treffen sich hier mit denen Harro Segebergs (Hamburg), der weniger die Aktualität als die Modernität des Zeitdiagnostikers und Medientheoretikers Jünger herausgearbeitet hat. Unter den Teilnehmern des Symposiums war durchaus umstritten, welchen Erkenntniswert punktuelle Einflußforschung wie diese für Jüngers Werk haben könne. Marianne Wünsch (Kiel) rekonstruierte daher für ihren Beitrag über Jüngers Der Arbeiter (1932) das „lebensideologische Denkmodell" der Frühen Moderne als Bezugssystem und arbeitete heraus, daß die Sinnstiftungsversuche, die Jünger nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs unternommen hatte, in leerformelhafte „Sinnpostulate" mündeten, und daß Der Arbeiter, Jüngers Staatsutopie, die „nachträgliche Antwort auf den Sinn des Krieges" nur in „puren Nonsens" zu kleiden vermochte. Ob solche Sinnsuche ex post zwangsläufig die Niveau-Frage aufwirft, wie Jüngers Bonmot nahelegt, braucht hier nicht erörtert zu werden, eher fragt sich, was ein Autor durch Re-Interpretationen und Überarbeitung überhaupt zu seiner Rezeption beitragen kann. Im Anschluß an Stefanie Arend (Erlangen), die für den frühen Jünger (und fur Barrés) einen „integralen Nationalismus" ebenso wie einen „integralen Ästhetizismus" konstatiert, wäre zu untersuchen, wie die Überarbeitungsmanie des Autors langfristig gewirkt hat, ob eher integrativ oder desintegrativ. In seiner Selbstwahrnehmung blieb sich Jüngers offenbar treu, nur die Gewichtungen haben sich verschoben und die Proportionen geändert. Doch dies festzustellen, steht nicht (mehr) auf der Agenda des Autors - sondern auf der seiner Leser und Interpreten.

Inhalt

LUTZ HAGESTEDT: V o r w o r t

VII

MICHAEL ANSEL: Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Gottfried Benns und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933

1

STEFANIE AREND: Ernst Jüngers Frühwerk im Fluchtpunkt von Maurice Barrés' Konzeption des Nationalismus

25

ULRICH BARON: „Ordnimg der Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang". Zur Lebenskunst Ernst Jüngers

35

DANIELE BELTRAN-VIDAL: Zeitstruktur und sozialge-

schichtliche Aspekte in Jüngers Erzählung Die Zwille

47

SVEN OLAF BERGGÖTZ: „ E i n e W e l t , d i e d e n T o d u n d d i e

Liebe nicht kennt". Ernst Jünger und die USA

57

LOTHAR BLUHM: „Die Trauer vor Tod und Herrlichkeit". Zur Rezeption der Geschichte von der Messingstadt im Werk Ernst Jüngers

73

ROTRAUT FISCHER: Don Quijote oder Das Abenteuerliche Herz. Eine Annäherung an die Kunst Ernst Jüngers

87

ULRICH FRÖSCHLE: Oszillationen zwischen Literatur und Politik. Ernst Jünger und „das Wort vom politischen Dichter"

101

THOMAS GLONING: Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil

145

XIV

Inhalt

LUTZ HAGESTEDT: Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises (1982)

167

HELMUTH KIESEL: Denken auf Leben und Tod. Literarische Reflexionen einer ethisch-politischen Problemkonstellation in der Zeit des Totalitarismus (Brecht, Jünger, Bergengruen)

181

TOM KINDT/ HANS-HARALD MÜLLER:

„Es ist nicht die .Mittlere Linie', die wir einschlagen wollen ...". Ernst Jünger und die Moderne der Zwischenkriegszeit

193

KAI KÖHLER: Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten

205

HANS KRAH: Die Apokalypse als literarische Technik. Ernst Jüngers Heliopolis (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen

225

STEFFEN MARTUS: Scheitern als Chance. Ernst Jüngers Kunst der Niederlage

253

VOLKER MERGENTHALER: Von Bord der .Fremdenlegion'

gehen. Mythologisch-metaphorische Ichbildung in Ernst Jüngers Afrikanischen Spielen

271

HELMUT MOTTEL: „Vor Actium". Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur nach 1918

289

CLAUS-MICHAEL ORT: Gullin Bursti und der Traum vom Mythos. Zum Verhältnis von Mythologisierung und Bedeutungstilgung in Ernst Jüngers Erzählung Die Eberjagd (1952/1960)

321

GERHART PICKERODT: Rausch und Distanz. Zu Jüngers später Ästhetik

339

Inhalt

KARL PRÜMM:

XV

Gefährliche Augenblicke. Ernst Jünger als

Medientheoretiker HUBERT ROLAND:

349

Magischer Realismus, Verherrlichung

der Kriegers und Imagologie. Die belgische Rezeption Ernst Jüngers JÖRG SADER:

371

Das Alphabet der Leidenschaft. Zu Ernst

Jüngers Betrachtungen der Vokale und Konsonanten HARRO SEGEBERG:

„Wir irren vorwärts". Zur Funktion des

Utopischen im Werk Ernst Jüngers CHRISTINA UJMA:

387

403

Die Rückkehr ins „Kinder- und Märchen-

land". Ernst Jünger als Italienreisender HARALD WEILNBÖCK:

415

„... dazu passend: Rotwein mit Eier-

kognak zur Hälfte in einem bauchigen Glas". Borderline literarische Interaktion und Gewalt am Beispiel von Ernst Jüngers Kriegsschriften REINHARD WILCZEK:

431

Fritz Langs Metropolis und Ernst

Jüngers Der Arbeiter. Aspekte des intermedialen Technik-Diskurses in der Weimarer Zeit MARIANNE WÜNSCH:

Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundposi-

tionen und Probleme RAINER ZUCH:

445

459

Kunstwerk, Traumbild und stereoskopischer

Blick. Zum Bildverständnis Ernst Jüngers

477

Abstracts zu den einzelnen Beiträgen

497

Zu den Autoren

511

Werkregister

521

MICHAEL A N S E L

Der verfemte und der unbehelligte Solitär Gottfried Benns und Ernst Jüngers literarische Karrieren vor und nach 1933

Der Beitrag verfolgt sowohl ein literaturhistorisches als auch ein methodologisches Erkenntnisinteresse. Er soll den erklärungsbedürftigen Befund begründen, warum Gottfried Benns literarische Karriere nach der nationalsozialistischen Machtübernahme faktisch bereits 1934 beendet war, während Ernst Jünger bis zu Beginn der 40er Jahre publizieren konnte. Als Erklärungsgrundlage wird Bourdieus Feldtheorie herangezogen. In Anbetracht der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur über die zentralen Theorieelemente von Bourdieus Kultursoziologie (JARCHOW/WINTER 1993, SCHWINGEL 1997, JURT 1997

und SCHWINGEL 2000) kann auf eine Einführung der hier schwerpunktmäßig verwendeten Begriffe des Feldes und des kulturellen bzw. symbolischen Kapitals verzichtet werden. Der Aufsatz, der eigene Überlegungen zur literaturwissenschaftlichen Applikation von Bourdieus Feldtheorie weiterführt (ANSEL 2000) beansprucht exemplarischen Charakter und bewegt sich daher auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau. Bezüglich des Objektbereichs der folgenden Ausführungen sei schließlich vorausgeschickt, dass die zweifellos vorhandenen, zu abwägenden Vergleichen einladenden weltanschaulichen und poetologischen Gemeinsamkeiten zwischen Benn und Jünger gemäß der kontrastiven, sich auf relevante Unterschiede konzentrierenden Fragestellung unserer Untersuchung ausgeblendet werden.

Die Ausgangslage Gottfried Benns karrierestrategisch motiviertes Verhalten im Jahr 1933 ist bekannt. Benn war nicht nur maßgeblich an der Selbstgleichschaltung der Dichtersektion der Preußischen Akademie der Künste beteiligt, sondern be-

2

Michael Ansel

grüßte die neuen Machthaber freiwillig mit den beiden viel beachteten Rundfunkreden Antwort an die literarischen Emigranten und Der neue Staat und die Intellektuellen. Ernst Jünger hingegen hatte keinen Grund, ja nicht einmal die Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit ähnlich zu inszenieren. Nachdem er seit 1923 mit Hitler und den Nationalsozialisten sympathisiert und dies in seiner politischen Publizistik offen zum Ausdruck gebracht hatte, setzte im März 1927 eine Abkühlung des gegenseitigen Respektsverhältnisses ein, die aus Jüngers Distanzierung von Hitlers Legalitätskurs resultierte und im Herbst 1929 anlässlich der Reaktion der Funktionäre der NSDAP auf das Bombenattentat der schleswig-holsteinischen Landvolkbewegung vor dem Berliner Reichstag zum beiderseitigen Abbruch der bislang brieflich und mittels die Übersendung von Widmungsexemplaren gepflegten Beziehungen führte. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten musste Jünger eine - allerdings glimpflich abgelaufene - Hausdurchsuchung der Gestapo über sich ergehen lassen und zog es im Oktober 1933 vor, sich dem gefährlichen Terrain Berlins durch einen Umzug zunächst nach Goslar zu entziehen. Unter diesen Voraussetzungen wäre es naheliegend gewesen, wenn Benn als Lobredner des totalitären Regimes im Dritten Reich hofiert, Jünger hingegen mit massiven politischen Repressionen belegt worden wäre. Bekanntlich ist das Gegenteil eingetreten. Obwohl Benn mit Hanns Johst einen einflussreichen Fürsprecher hatte, der noch zu Beginn des Jahres 1934 seine Ernennung zum stellvertretenden Präsidenten der neu gegründeten Union nationaler Schriftsteller durchsetzte, zeichnete sich Benns Ausgrenzung aus dem kulturellen Leben des NS-Staats schon seit Juni 1933 eindeutig ab, während Jünger von nationalsozialistischen Politikern trotz aller gegenseitigen Verstimmungen wieder umworben wurde. Jünger, der nicht so unklug gewesen war, in öffentlichen Verlautbarungen definitiv gegen die neuen Machthaber Stellung zu beziehen, konnte sich schon im November 1933 den Luxus leisten, die ihm angetragene Mitgliedschaft in der reorganisierten Dichtersektion der Preußischen Akademie der Künste auszuschlagen und sieben Monate später gegen den Abdruck einer Textpassage aus dem Abenteuerlichen Herzen im Völkischen Beobachter zu protestieren. Solche provokanten Distanzierungsmöglichkeiten hat Benn nie besessen. Nichts veranschaulicht so instruktiv wie neutral die unterschiedliche Akzeptanz, die den beiden Autoren nach 1933 entgegengebracht wurde, wie ein Blick auf ihre jeweilige Publikationspraxis im NS-Staat. Nachdem Benn 1933/34 relativ ungestört publiziert und die Essaybände Der neue Staat und die Intellektuellen und Kunst und Macht herausgebracht hatte, nutzten seine Widersacher die zu seinem 50. Geburtstag erschienene Sammlung der Ausgewählten Gedichte zu einem plumpen, aber effektiven Generalangriff. Im Mai 1936 erschien in der SS-Wochenzeitung Das schwarze Korps ein vom Völkischen Beobachter nachgedruckter anonymer Hetzartikel, der die angeblich

Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Benns und Jüngers literarische Karrieren

3

unerträgliche Obszönität einiger Gedichte Benns brandmarkte, so dass der Band eingezogen werden musste. Damit war ein indirektes Publikationsverbot über Benn verfugt worden, weil der zwischenzeitlich mit Offiziersrang in die Wehrmacht zurückgekehrte Autor seinen Gegnern keine weiteren Angriffsflächen bieten wollte, um die militärische Laufbahn und damit die ökonomische Basis seiner Existenz nicht mutwillig zu gefährden. Benn, der von seinen Dienststellen zur Wiederherstellung seiner Ehre aufgefordert wurde, erwog sogar den völligen Verzicht auf eine Neuauslieferung der Ausgewählten Gedichte und forderte einige dort neu aufgenommene, der Deutschen VerlagsAnstalt zu einem Parallelabdruck in ihrer Zeitschrift Die Literatur überlassene Gedichte zurück. Da er sich seinem Verlag gegenüber nicht durchsetzen konnte, stellen der nicht autorisierte Abdruck dieser Lyrik und die nochmalige Vorlage des Gedichtbandes im Dezember 1936 Benns letzte literarische Veröffentlichungen im Dritten Reich dar, 1 wenn man von einem illegalen, nur wenigen Vertrauten Benns zugänglich gemachten Privatdruck der Zweiundzwanzig Gedichte im August 1943 absieht. Benns Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer im März 1938 und das damit verbundene definitive Publikationsverbot, die Spätfolgen eines neuerlichen Angriffs auf ihn durch den Maler Ernst Willrich im zeitlichen Umfeld der Ausstellung über die so genannte Entartete Kunst in München, sanktionierten nur nachträglich Benns ohnehin bereits geübte Praxis der öffentlichen künstlerischen Abstinenz. Im Vergleich zu Benn besaß Jünger während der nationalsozialistischen Herrschaft komfortable Publikationsmöglichkeiten. Alle vor 1933 erstveröffentlichten Schriften konnten weiterhin ungehindert erscheinen, obwohl die nationalistischen Passagen der drei auf seinen Kriegstagebüchern fußenden Arbeiten - In Stahlgewittern (1920), Feuer und Blut (1925), Das Wäldchen 125 ( 1 9 2 5 ) - in d e n seit 1 9 3 4 / 3 5 v o r g e l e g t e n F a s s u n g e n (KNEBEL 1991 u n d

DEMPEWOLF 1992) getilgt worden waren. Außerdem publizierte Jünger eine beachtliche Anzahl neuer Titel: Blätter und Steine (1934), Afrikanische Spiele ( 1 9 3 6 ) , Auf

den

Marmorklippen

( 1 9 3 9 ) , Gärten

und

Straßen

(1942)

und

„Myrdun". Briefe aus Norwegen (1943). Wie aus Horst Mühleisens einschlägiger Bibliographie ersichtlich ist, erreichten lediglich drei der wichtigeren eigenständigen Publikationen Jüngers während dieser Zeitspanne weniger als

Die weiteren Publikationen nach Kunst und Macht sind rasch aufgezählt: In der Literatur erschienen noch die vierteilige Gedichtsequenz Am Brückenwehr (November 1934), die Rezension über Julius Evolas Buch Erhebung wider die moderne Welt unter dem Titel Sein und Werden (März 1935) und zwei Gedichte anlässlich des Erscheinens der Ausgewählten Gedichte (Januar 1936). Hinzu kommt die kurze

Rundfrageantwort Inquiry on the Malady of Language (Juli 1935) für die von Eugene Jolas herausgegebene, in Paris und Den Haag erschienene Zeitschrift transiti-

on.

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Michael Ansel

drei Auflagen. 2 Trotz aller regimekritischen Passagen in seinen Werken, die schon von den Zeitgenossen als solche wahrgenommen wurden, konnte Jünger also bis in die 40er Jahre hinein publizieren, von der Übernahme seiner Werke durch weitere Verlage profitieren und sogar zum Gegenstand akademischer Arbeiten avancieren. Selbst nach der Entscheidung des nationalsozialistischen Regimes, Jüngers schriftstellerische Tätigkeit mit dem Hinweis auf kriegsbedingten Papiermangel zu unterbinden, wurden einige seiner Titel durch die Vertriebsorganisationen der Wehrmacht ausgeliefert. Aus den bisherigen Ausführungen dürfte klar geworden sein, dass die Zurückftihrung der unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten von Benn und Jünger nach 1933 auf jeweils persönlich und situativ motivierte Absichten individueller Akteure zu kurz greift. Weder wurden Benns ostentative Willfährigkeit honoriert noch Jüngers deutlich erkennbare regimekritische Distanz bestraft. Diese Feststellung gilt nicht nur für die Schriftsteller selbst, sondern auch für erstrangige Repräsentanten des NS-Staats: Während selbst der persönliche Einsatz Heinrich Himmlers den Ausschluss Benns aus der Reichschrifittumskammer nicht zu verhindern vermochte, konnte der offenbar schon vor 1933 misstrauisch gewordene, Jünger als „gefahrlichen Menschen" (JÜNGER III 1979: 436) einschätzende Joseph Goebbels erst zu einem extrem späten Zeitpunkt seinen Kurs gegenüber einem missliebigen Autor durchsetzen. Nun könnte man auf die Polykratie der miteinander rivalisierenden Institutionen der NS-Kultusbürokratie (BARBIAN 1993 und 1997) verweisen und argumentieren, es sei reiner Zufall gewesen, dass die zu Spielbällen konkurrierender Behörden degradierten Schriftsteller ohne erkennbare Gründe verfolgt, geduldet oder gefordert worden seien. Obwohl es während der nationalsozialistischen Diktatur zweifellos einzelne auffällige Begünstigungen oder Repressionen gegeben hat, leuchtet es ein, dass solche, nicht generalisierbare Erklärungen unbefriedigend sind. Es ist z. B. leicht verständlich, dass Heinrich Mann oder Alfred Döblin von Anfang an zu den verfemten Autoren gehörten, während Thomas Mann oder Ricarda Huch trotz ihrer offenkundigen Ablehnung des Nationalsozialismus von dessen Repräsentanten umworben wurden. Alle Genannten hatten sich im Lauf ihrer schriftstellerischen Laufbahn ein in künstlerischer, weltanschaulicher und politischer Hinsicht spezifizierbares Renommee erworben, das ihre Behandlung nach 1933 nachvollziehbar erscheinen lässt. Dasselbe trifft auch für Benn und Jünger zu, wie im Folgenden anhand einer Rekonstruktion ihres Renommees als Resultat unterschiedlicher Kapitalakkumulierungsstrategien demonstriert werden soll

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Das betrifft den Arbeiter (eine Auflage 1941), die Afrikanischen Spiele (zwei Auflagen 1936/37) und „Myrdun" (zwei Auflagen 1943). Der Separatdruck der Totalen Mobilmachung (eine Auflage 1941) kann hier außer Acht bleiben, da dieser Text in die auflagenstarke Essaysammlung Blätter und Steine aufgenommen wurde.

Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Benns und Jüngers literarische Karrieren

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Kunstidolatrie: Der Dichter Benn Was konnte Sie dahin bringen, Ihren Namen, der uns der Inbegriff des höchsten Niveaus und einer geradezu fanatischen Reinheit gewesen ist, denen zur Verfügung zu stellen, deren Niveaulosigkeit absolut beispiellos in der europäischen Geschichte ist? [...] Wer hat denn dort nur Ohren für Ihre Sprache? [...] Wo waren denn die, die Ihre Bewunderer sind? Doch nicht etwa im Lager dieses erwachenden Deutschlands? [...] Aber freilich müssen Sie ja wissen, was Sie für unsere Liebe eintauschen und welchen großen Ersatz man Ihnen drüben dafür bietet; wenn ich kein schlechter Prophet bin, wird es zuletzt Undank und Hohn sein. Denn, wenn einige Geister von Rang immer noch nicht wissen, wohin sie gehören - : die dort drüben wissen ja ganz genau, wer nicht zu ihnen gehört: nämlich der Geist. (Klaus Mann: Brief an Gottfried Benn [1933], zitiert nach MANN 1993: 24 f. u. 27).

Während des Jahrzehnts bis zum Beginn der 20er Jahre war Benn nur dem kleinen Kreis der expressionistischen Zirkel Berlins bekannt (SCHRÖDER 1978, HOLTHUSEN 1986 und GREVE 1986). Aus der künstlerischen Krise gegen Ende jenes Schaffensjahrzehnts führte schließlich eine Lyrik heraus, die sich im Gegensatz zur früheren Produktion durch eine wesentlich größere formale Strenge auszeichnete. Der neue, bis etwa 1930 dominierende Gedichttyp (ESSELBORN 2002) bestand aus vier bis sechs achtzeiligen Strophen mit Kreuzreimen. Da diese nachexpressionistische Lyrik sich durch formale Eleganz auszeichnete und den schockierenden Verismus der frühen Gedichte mied, wurde Benns Name allmählich einem größeren Publikum bekannt. Während seine schwer eingängige novellistische Prosa wenig Beachtung fand und nach 1920 nur noch gelegentlich kultiviert wurde, avancierte Benn zum Schöpfer einer formvollendeten, als geradezu klassisch gefeierten Lyrik, auf die allmählich auch das literarische Establishment Berlins aufmerksam wurde. Die Höhepunkte seiner steigenden Anerkennung markierten die ersten Aufführungen des in Zusammenarbeit mit Paul Hindemith entstandenen Oratoriums Das Unaufhörliche im Jahr 1931 und Benns ein Jahr später erfolgte Zuwahl zur Dichtersektion der Preußischen Akademie der Künste. Benn profitierte insofern von der eigentlich lyrikfeindlichen Strömung der Neuen Sachlichkeit der 20er Jahre (LETHEN 1995 und BECKER 2000), als er sich mit seinen Gedichten als unzeitgemäßer, nur dem eigenen künstlerischen Gewissen verpflichteter Solitär inszenieren konnte. Seiner öffentlichen Wahrnehmung als singulärer Lyriker und - wie es in einer Rezension Alexander Bessmertnys von 1927 (HOHENDAHL 1971a: 125) lapidar hieß - ,,einzige[r] niveaugleiche[r] Gegenspieler zu Stefan George" korrespondiert eine elitäre Dichtungstheorie. Seit Epilog und Lyrisches Ich (1927) entwickelte Benn in seinen in dichter Folge vorgelegten Essays und Reden der frühen 30er Jahre eine Produktionsästhetik, die den Künstler zum asozialen, um historische und zeitgenössische Problemkonstellationen angeblich völlig unbekümmerten Medium anthropologisch verwurzelter dichterischer Sinngebungs- und Dar-

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stellungsakte stilisierte. In Zur Problematik des Dichterischen (1930) wird der Anspruch formuliert, überindividuelle, für das Dichterische schlechthin verbindliche Aussagen treffen zu können. Da „künstlerische Größe" - zur Illustration seiner Aussage nennt Benn Nietzsche, Goethe und Michelangelo - „a priori geschichtlich unwirksam" sei, müsse man sie „allen historischen Kategorien entrücken, der Macht und ihrer Entfaltung, dem Gesellschaftlichen und Forensischen, den Begriffen der Entwicklung und des Fortschritts als einer rein naturalistischen Vorstellungsmethode." Dagegen setzte Benn seine erstmals in Epilog und Lyrisches Ich dargelegte „hyperämische Theorie des Dichterischen" (BENN III 1987: 237, 238 u. 246): Das schöpferische, seine Kreativität voll auslotende lyrische Ich sei nicht im bewusst arbeitenden, aktuelle Probleme analysierenden Gehirn und der von ihm vertretenen rationalen Sphäre, sondern im gesamten Körper zu lokalisieren, der archaische Relikte aus den stammesgeschichtlichen Anfangen der Menschheit in sich berge. Benns von Nietzsche inspirierte physiologische Theorie der Körperbedingtheit künstlerischer Kreativität (HILLEBRAND 1966 und PFOTENHAUER 1985) verfolgte die Absicht, die vermeintliche Universalität seiner ahistorisch-anthropologischen Begründung der dichterischen Produktivität zu demonstrieren und jede geschichtliche Definition des Dichters und seines Selbstverständnisses als defizitär zu erklären. Wahre Kunst beschäftige sich mit allgemeinmenschlichen, nicht mit aktuellen Themen und werde durch jene ebenfalls zeitenthobenen Gesetze der Formvollendung getragen, die Benn in seiner Rede auf Heinrich Mann (1931) unter dem Oberbegriff der Artistik zusammenfasste. Wer sich dieser unverrückbaren Gesetze bewusst sei und ihnen Folge leiste, könne Anspruch auf den Ehrentitel des Dichters erheben; alle anderen Kunstschaffenden seien allenfalls Schriftsteller. Eigens hinzuweisen ist auf den artifiziellen, sich in einer textlichen Mitteilungsfunktion nicht erschöpfenden Status von Benns Kunstprogrammatik, der sie in den Traditionsstrang der von Moritz Baßler untersuchten texturierten Prosa der Moderne stellt. Der Nihilismus wird von Benn nicht nur als Verursacher des Verlusts metaphysischer Gewissheiten und der Entstehung eines trivialen sinnentleerten Materialismus thematisiert, sondern zugleich zum Zweck einer Etablierung neuartiger Textstrategien instrumentalisiert. Der spezifische Sinn seiner Beschwörung liegt aus dieser Perspektive darin, dass „das inhaltlich negativ Besetzte (Ichdissoziation, Sprachkrise) [...] ausgesprochen produktiv [wird]: es bringt Texte hervor, [...] die nach einem neuartigen Verfahren generiert werden". Was Baßler hier im Hinblick auf Benns Rönne-Novellen festgehalten hat, gilt auch für dessen kunstprogrammatische Essays, die in Anbetracht der ,,stipulative[n], man könnte auch sagen poietische[n], setzende[n] Funktion" ihrer Prosa wesentlich durch die „Materialität des Textes" bzw. die „Logik der verselbstständigten Textur" geprägt sind (BAßLER 1 9 9 4 : 153, 35, 13 u. 33). Diese Essays stellen nicht nur stilistisch anspruchsvolle

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kunstprogrammatische Verlautbarungen dar, sondern besitzen darüber hinaus eine andersartige, über die Wiedergabe von Inhalten hinausgehende und mittels konventioneller hermeneutischer Lesarten nicht adäquat erschließbare ästhetische Qualität. Sie lassen sich als texturierte, Sprachmaterial gestaltende Kunstwerke lesen, die keinen ernst zu nehmenden Metaphysikersatz, sondern sich selbst als anspruchsvolle, auf Lesekompetenz angewiesene und Lesegenuss ermöglichende literarische Texte anbieten. Es ist evident, dass Benns gesamte künstlerische Erscheinung die Existenz eines intakten literarischen Feldes und die Funktionsfähigkeit seiner Konsekrationsmechanismen voraussetzt. Das gilt für seine selbstreferenzielle und artifizielle Theorie des um Zeitzeugenschaft völlig unbekümmerten Dichters ebenso wie für seine ihr korrespondierende, in thematischer Hinsicht hohe Ansprüche an die Rezipienten stellende Lyrik. Ohne die Unterstützung eines zahlenmäßig relativ kleinen, aber einflussreichen Kreises von Autoren, die ähnlich wie er in die Position der etablierten Avantgarde aufgestiegen war, hätte Benn sich in den 20er und frühen 30er Jahren nicht der Aufmerksamkeit eines kulturell aufgeschlossenen Publikums erfreuen können. Seine Werke erzielten keine hohen Auflagen und waren wegen der von ihrer Sprachmagie und Montagetechnik ausgehenden Irritationen und wegen ihrer monomanen Fixierung auf die Belange der Dichtung nur kongenialen, mit avantgardistischen Techniken vertrauten Lesern wirklich zugänglich. Ein Beweis für diesen Umstand ist die mehrfach beobachtbare Tatsache, dass Benn allein aus künstlerischen Gründen die Unterstützung jener anspruchsvollen Autoren erlangen konnte, die wie die Brüder Mann, Alfred Döblin, Oskar Loerke, Carl Einstein oder Klaus Mann den reaktionären Implikationen seiner irrationalistischen Kunsttheorie distanziert bis ablehnend gegenüberstanden. Benn hatte sich am Ende der Weimarer Republik in die Rolle eines kompromisslosen Lobbyisten der Kunst hineingeschrieben, die er mit Nietzsche zur „eigentlichefn] Aufgabe des Lebens, [... zur] letzte[n] Transzendenz innerhalb des großen europäischen Nichts" (BENN III 1987: 320) stilisierte. Zwar gibt es auch in seinen Essays und Reden rhetorische Versatzstücke im Geist der so genannten Konservativen Revolution oder vermeintlich naturwissenschaftlich-medizinische Argumente. Entscheidend ist jedoch, dass alle diese pseudopolitischen oder -wissenschaftlichen Elemente ausschließlich im Interesse der hegemonialen Etablierung eines solitären, um außerästhetische Dimensionen völlig unbekümmerten Künstlertums standen. Die Exponierung eines solchen Künstlertums musste implodieren, nachdem 1933 die relative Autonomie des literarischen Feld als Bedingung ihrer Möglichkeit zerstört worden war. Obwohl - wie Peter Uwe Hohendahl betont hat das demonstrative Bekenntnis zu den neuen Machthabern dem Verfasser des Essaybandes Der neue Staat und die Intellektuellen zunächst ein lebhaftes, in dieser Breite früher nie zuteil gewordenes Presseecho bescherte (HOHENDAHL

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1971b: 44 ff.), war dessen längerfristiges Scheitern vorprogrammiert. In einem politisch-kulturellen Klima, in dem es nicht auf Kunst, artifizielle Ästhetik und zeitenthobene Daseinserfahrung, sondern auf eingängige Propaganda und die ideologische Indienstnahme sämtlicher künstlerischer Verlautbarungen ankam, musste Benn zwangsläufig Rückzugsgefechte führen. Drei Strategien lassen sich hier ausmachen: Erstens versuchte Benn, für seine Theorie einer autonomen Kunst zu werben. Obwohl sich wahre Kunst jeder direkten praktischen Verwertbarkeit entziehe, sei sie dennoch von eminent politischer Bedeutung, weil sie ebenso wie der nun verwirklichte totale Staat Ausdruck einer ontologischen Welttotalität, eines göttlichen Logos sei. Nur sie allein jedoch könne der Menschheit diesen Logos zu Bewusstsein bringen und damit dem neuen Staat seine eigentliche Legitimation verschaffen (BENN IV 1989: 96). Zweitens stellte Benn eine ideengeschichtliche Genealogie zwischen dem italienischen Futurismus bzw. dem deutschen Expressionismus und dem Faschismus her. Diese beiden radikalen, die bürgerliche Welt und den Kapitalismus im Zeichen eines schöpferischen Geistes bekämpfenden künstlerischen Strömungen, so unvollkommen sie aus aktueller Perspektive auch seien, hätten mit geradezu religiösem Fanatismus den drohenden Nihilismus bekämpft und damit den Nationalsozialismus vorbereitet. So lange sich die kulturpolitischen Leitlinien von Alfred Rosenberg und der von ihm geführten Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums nicht definitiv durchgesetzt hatte, war ein solcher geschichtsklitternder Rekurs auf den Expressionismus noch möglich. Drittens - und das war zweifellos die schwächste, seine Hilflosigkeit am deutlichsten offenbarende Verfahrensweise - signalisierte Benn eine wenig überzeugende Akkommodationsbereitschaft an die NS-Ideologie. Benn, der den Geschichtsoptimismus der Zeitgenossen bislang mit schneidenden Worten verhöhnt und jeden Publikumsbezug wahrer Kunst entschieden verworfen hatte, feierte plötzlich die Geschichte als geradezu religiöse, dem Nationalsozialismus zum Durchbruch verhelfende Macht und bezeichnete die Dichtung als „tiefe geheimnisvolle Hieroglyphe des eigentlichen Volkswesens" (BENN IV 1989: 49). Längerfristig waren alle diese Strategien zur Erfolglosigkeit verurteilt (CUOMO

1 9 8 6 , SCHRÖDER

1986 und

1994 und

GRAEB-KÖNNEKER

2001:

98 ff.). Der totalitäre nationalsozialistische Herrschaftsanspruch duldete keine externe, außerhalb seiner prätendierten Machtvollkommenheit liegende Legitimation des Staats. Der Versuch, den Expressionismus als Wegbereiter des Faschismus zu deuten, hätte im Fall Benns auch dann unglaubwürdig gewirkt, wenn seine Exponenten seit 1934 nicht definitiv als entartete Künstler gebrandmarkt worden wären, weil Benn bereits in den 20er Jahren weder aus der von ihm reklamierten Überwindung des Expressionismus noch aus seiner prinzipiellen Distanzierung von jeglicher Form politischer Macht einen Hehl gemacht hatte. Und dass die Abgleichung seiner Kunsttheorie mit nationalsozialistischem Gedankengut als Opportunismus empfunden wurde, der mit

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Benns zuvor behaupteter künstlerischer Souveränität krass kontrastierte und zu Glaubwürdigkeitsdefiziten führte, bedarf keiner weiteren Begründung. Benn musste erleben, dass das kulturelle Kapital, das er mit einer erstrangigen Lyrik und einer höchst artifiziellen Essayistik erworben hatte, unter den Vorzeichen des totalitären, jegliche Kunstautonomie negierenden NS-Staats wertlos geworden war. Der elitäre Hohepriester der Kunst hatte sich, rückblickend betrachtet, mit seiner Kunstidolatrie in eine von Klaus Mann allerdings schon im Mai 1933 hellsichtig prognostizierte Sackgasse hineinmanövriert,3 und überdies durch seine Aktivitäten zugunsten des Nationalsozialismus tatkräftig zur Zerstörung jenes literarischen Feldes beigetragen, dessen Infrastruktur die Etablierung und Inszenierung des von ihm gehüteten Arcanums ermöglichte.

Ambiguität: Der Schriftsteller Jünger Verglichen mit den zahllosen Broschüren und Reden, die nach dem Umsturz die gleichgeschalteten Professoren von sich gaben, ist Heideggers Rede höchst philosophisch und anspruchsvoll, ein kleines Meisterwerk an Formulierung und Komposition. Gemessen mit dem Maßstab der Philosophie ist sie eine einzige Zweideutigkeit, denn sie versteht es, [...] den Anschein [zu] erwecken, als könnten und müßten ihre philosophischen Absichten mit der politischen Lage a priori zusammengehen und die Freiheit des Forschens mit dem staatlichen Zwang. Der ,Arbeits-' und ,Wehrdienst' wird eins mit dem ,Wissensdienst', so daß man am Ende des Vortrags nicht weiß, ob man Diels' Vorsokratiker in die Hand nehmen soll oder mit der SA marschieren. Man kann darum diese Rede weder bloß politisch noch rein philosophisch beurteilen. (Karl Löwith: Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen Vorgeschichte des europäischen Krieges [1940], zitiert nach LÖWITH II 1983: 520)

Während der ersten, bis etwa 1923 anzusetzenden Phase seiner künstlerischer Entwicklung vor 1933 konnte Jünger seinen schriftstellerischen Ehrgeiz nicht befriedigend umsetzen ( M Ü L L E R 1986: 211 ff., SCHWILK 1988 und SEGEBERG 1991b). Die Tatsache, dass seine selbstständigen Titel bei dem auf militärische Fachliteratur spezialisierten Verlag E. S. Mittler & Sohn (LIEBCHEN 1977: 87 ff.) erschienen, erwies sich als Rezeptionsbarriere, weil sie von der Literaturkritik der Rubrik der Militaría zugeordnet und daher übergangen wurden. Jüngers zweite Phase reicht bis gegen Ende der 20er Jahre und wurde geprägt durch seine anfänglichen Sympathien für Adolf Hitler und seine politische

Aus der Perspektive von Bourdieus Analyseinstrumentarium erweisen sich alle meist ideologiekritisch motivierten, auf Walter Benjamin oder die Expressionismus-Debatte zurückfuhrbaren Versuche, Benns Hinwendung zum Nationalsozialismus als zwangsläufige Folge seiner künstlerischen Entwicklung zu deuten, als verfehlt, weil sie die jeweils feldspezifisch zu analysierenden Prozesse der künstlerischen und politischen Sozialisation kurzschließen.

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Publizistik im Dienst des Neuen Nationalismus (PRÜMM II 1974: 337 ff. und FRÖSCHLE 1999: 331 ff.)· Nach dem Austritt aus der Reichswehr brauchte Jünger bei der öffentlichen Bekundung seiner politischen Meinung keine Zurückhaltung mehr zu üben. Er propagierte einen gesinnungsethisch fundierten, abstrakten nationalistischen Fundamentalismus, der einem angeblich faktisch wie ideell aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen Frontsoldatentum die Führungsrolle beim erneuten Aufbau eines „nationalen, sozialen, wehrhaften und autoritativ gegliederten Staat[s]" (JÜNGER 2001: 251) mit Weltmachtgeltung einräumte und wegen seiner radikalen Ablehnung jeglicher politischen Organisationsstrukturen zur konkreten Umsetzung seiner Zielvorstellungen heftig umstritten war. Abgesehen von einer zwischen September 1925 und März 1926 vorgelegten Artikelserie erreichte jene Publizistik lediglich einen sehr kleinen Personenkreis ehemaliger Frontsoldaten, radikaler Nationalisten, konservativer Revolutionäre oder Nationalbolschewisten. Keine der meist kurzlebigen Zeitschriften, die von Jünger mitherausgegeben oder mit Beiträgen versorgt wurden, dürfte eine Auflage von 2000 Exemplaren überschritten haben. Mit seiner Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1927 begann Jüngers dritte Phase, die aus noch zu erörternden Gründen nicht trennscharf von dem ihr vorangegangenen publizistischen Engagement abgegrenzt werden kann. Diese Phase steht im Zeichen einer geschichtsphilosophisch fundierten zeitdiagnostischen Essayistik, welche die Universalisierung des Krieges prognostizierte und legitimierte. Da Jünger seinen vormaligen nationalistischen Blickwinkel zunehmend zugunsten einer planetarischen Perspektive verabschiedete und auf anregende, provokative Weise die zumal in Berlin allgegenwärtigen zivilisatorischen Modernisierungsprozessen der Urbanisierung und Technisierung aller Lebensbereiche und der Expansion der Massenmedien jenseits obsoleter bildungsbürgerlicher Ressentiments thematisierte, erschloss er sich breitere, auch außerhalb des soldatischen oder politisch radikalisierten Milieus angesiedelte Leserschichten (DORNHEIM 1987). Jünger knüpfte Kontakte zu wichtigen intellektuellen Kreisen der Reichshauptstadt, verkehrte keineswegs nur mit Rechtsintellektuellen und avancierte zum begehrten, Publikationen durch seine Beiträge oder Vorworte aufwertenden Autor. Die Beantwortung der Frage, weshalb die von den Nationalsozialisten betriebene Zerstörung der Autonomie des literarischen Feldes Jünger im Gegensatz zu Benn weitgehend verschonte, lässt sich in drei Aspekte untergliedern. Erstens hat Jünger nicht nur im literarischen Feld, sondern auch im Machtfeld Kapital akkumuliert. Chronologisch betrachtet, ist ihm sogar zunächst im Machtfeld, dem seine politische Publizistik zuzuordnen ist, der erste nennenswerte Kapitalerwerb gelungen, weil seine frühen Schriften unter alleiniger Ausnahme der jedoch kaum beachteten Erzählung Sturm bis gegen Ende der 20er Jahre nicht als literarische Werke, sondern als Militaría oder nationalisti-

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sehe Propaganda wahrgenommen wurden. Jüngers Publizistik leistete zweifellos einen Beitrag zum Untergang der Weimarer Demokratie. Für diese ideologische Zersetzungsarbeit mussten ihm alle konservativen Republikfeinde selbst dann dankbar sein, wenn sie mit seinen politischen Auffassungen im Einzelnen nicht übereinstimmten. Zudem profitierte Jüngers kompromisslose Agitation gegen den verhassten Staat von Weimar in nationalistischen Kreisen von seiner Autorität als Träger des Ordens Pour le mérite, dessen Verleihung in seinen ständig auf dem Buchmarkt verfügbaren In Stahlgewittern wirkungsvoll inszeniert wurde. Da die Aufsätze von Jünger zahlreiche Affinitäten mit nationalsozialistischem Gedankengut artikuliert und trotz aller Kritik nie den definitiven Bruch mit der NSDAP herbeigeführt, sondern sich primär in der Haltung kritischer Solidarität ihr gegenüber bewegt hatten, ist es verständlich, dass deren Verfasser nicht nur von unabhängigen Schriftstellern und Intellektuellen, sondern auch von Nationalsozialisten sowohl vor als auch nach 1933 als Wegbereiter des Dritten Reiches betrachtet wurde. Trotz ihres geringen unmittelbaren Wirkungsradius, der aus der kleinen Auflage der belieferten Zeitschriften resultierte, kann davon ausgegangen werden, dass sie den Rechtsradikalen auch nach Jüngers Abwendung vom Versuch einer direkten politischen Meinungsbildung entweder aus eigener Anschauung oder über die Vermittlung von Sympathisanten im Gedächtnis blieb. Dennoch hätte Jüngers sektiererische, an kleine Intellektuellenzirkel adressierte politische Publizistik allein nicht diese zur dankbaren Anerkennung verpflichtende Breitenwirksamkeit entfalten und seine relativ gesicherte Position nach 1933 begründen können. Deshalb ist zweitens auf Jüngers Engagement im literarischen Feld seit den späten 20er Jahren zu verweisen. Sein im engeren Sinne literarisches Werk führte auch nach der Überwindung der zuvor präferierten nationalistischen Ideologie nicht nur die Diskussion der schon für seine Publizistik zentralen Themen - die Beschwörung der Allgegenwart des Krieges, die Diagnose der unaufhaltsamen Militarisierung der Zivilisation und die kompromisslose Polemik gegen die vermeintlich in der Auflösung begriffene bürgerlich-kapitalistische Welt - weiter, sondern erreichte aus formalen und inhaltlichen Gründen und wegen der allgemeinen geistigen Situation in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine wesentlich größere Öffentlichkeit. Mit der Kultivierung der offenen und aktualitätsbezogenen, mit vergleichsweise niedrigem literarischem Anspruch auftretenden Prosagattungen des Tagebuchs (BLUHM 1991) und Essays bevorzugte Jünger trotz seiner Selbststilisierung als elitärer Geist relativ einfach zugängliche Genres, die angeblich authentische Urteile eines an der gedanklichen Durchdringung der zeitgenössischen Wirklichkeit elementar interessierten empirischen Autors garantierten und ihn aus der Perspektive des Dichters Benns zum Schriftsteller degradierten. Die Aufsehen erregende Brisanz seiner Schriften resultierte nicht zuletzt aus ihrer selbst für die Literatur der Neuen Sachlichkeit nur bedingt

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gültigen uneingeschränkten Bejahung des technisch-industriellen Fortschritts, mit der Jünger eine dem italienischen Futurismus ähnliche, für die literarische Moderne in Deutschland jedoch außergewöhnliche, dezidiert antihumanistische Position (MÜLLER-SEIDEL 1997 und SCHÜTZ/STREIM 2002) bezog. Generell profitierte Jünger von der anhaltenden Hochkonjunktur der Weltanschauungsessayistik in der Weimarer Republik und von dem durch den großen Erfolg der Kriegsromane nachhaltig geprägten kulturellen Klima seit den späten 20er Jahren. 1933 hatte er eine Popularität als Schriftsteller erreicht, die nicht nur seinen zuvor erarbeiteten Ruf als Propagandist des Neuen Nationalismus in den Schatten stellte, sondern auch Benns Bekanntheitsgrad übertraf. Ohne damit ein direktes ästhetisches Werturteil formulieren zu wollen, ist dieser Sachverhalt insofern plausibel, als Jüngers Schriften sich leichter erschließen ließen als Benns enigmatisches Werk, dessen Rezeption größere literarische und (kultur)geschichtliche Vorkenntnisse voraussetzte. Die bislang aus analytischen Gründen durchgeführte Unterscheidung zwischen Publizistik und Literatur wirft die Frage auf, ob man sie überhaupt trennscharf vornehmen kann. Man muss eine solche Frage drittens nicht nur wegen der weitreichenden thematischen Überschneidungen zwischen jenen beiden Werkkomponenten, sondern auch angesichts der Modalitäten von Jüngers Publikationsverhalten verneinen. Jünger präsentierte sich als souveräner, Unterschiede der Textsortenfunktionen und der Veröffentlichungsorte seiner Beiträge schlichtweg ignorierender Schriftsteller. Zunächst fällt auf, dass schon seine politische Publizistik kaum mit praktischer Verbandsarbeit und effizienter Mobilisierung, desto mehr aber mit der Selbstdarstellung eines auf Kompromisse nicht angewiesenen Intellektuellen zu tun hat. Seine prophetische Sprache (MOTTEL 2002), seine Mystifikation des angeblich wahren Frontsoldaten, welche die faktischen Gegebenheiten der Soldatenbünde gegen Mitte der 20er Jahre völlig negierte, und seine chiliastische Beschwörung eines jegliche Parteiorganisation verachtenden Nationalismus lassen ihn als Vertreter einer weniger militärischen, sondern primär intellektuellen Avantgarde erscheinen, die gerade wegen des ihr möglichen Verzichts auf den Aufbau einer faktischen Machtbasis mittels der Propagierung universaler Werte eigene Herrschaftsinteressen verfolgen kann (JÄGER 2000). Jüngers emphatische Propagierung eines hinsichtlich seiner Realisierungsformen völlig indifferenten Nationalismus der Idee war in politischer Hinsicht naiv, als Basis für literarische Inszenierungen numinoser pseudoreligiöser Werte der Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volks dafür jedoch desto besser geeignet. Keineswegs zufällig wurden seine Artikel mehrmals von rechtsradikalen Aktivisten mit dem Vorwurf konfrontiert, bloße Literatur zu sein. Während einerseits also Jüngers politische Publizistik literarische Techniken und Selbststilisierungstendenzen aufweist, übte andererseits sein primär literarisches Werk stets auch eine mobilisierende, sich in einer kontemplativen Gestaltschau nicht

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erschöpfende Wirkung aus. Die programmatische Inanspruchnahme des distanzierten, von irdischen Befangenheiten vermeintlich befreiten stereoskopischen Blicks im Sizilianischen Brief an den Mann im Mond (1930) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jüngers Schriften vor 1933 den Untergang des bürgerlichen Zeitalters mit parteilicher, zur Einnahme einer gleich gesinnten Haltung einladender Genugtuung zelebrierten und insofern eine agitatorische, die Hervorrufung außerliterarischer Handlungsoptionen einkalkulierende Funktion besitzen. Schließlich fällt die Vielzahl der in Jüngers Schriften auftretenden Querverweise auf eigene Arbeiten auf, die deren Anspruch auf Singularität im Sinne autonomer Werke untergraben und deren literarischen Status tendenziell egalisieren. Hier sind grundsätzlich zwei verschiedene Arten solcher Verweise zu unterscheiden, die dem Befund einer in ästhetischer und funktionaler Hinsicht beobachtbaren Angleichung zwischen Publizistik und Essayistik zusätzliches Gewicht verleihen. Zum einen gibt es implizite Anspielungen auf andernorts verwendete Motive und Metaphern, die - was nicht immer entscheidbar sein wird - intendiert oder dem Autor einfach unterlaufen sein können. Statt dieser hier detailliert gar nicht anfuhrbaren Anspielungen sei unter Bezugnahme auf Harro Segebergs Textanalysen auf eine für Jüngers gesamtes Werk konstitutive literarische Strategie verwiesen, weil deren Thematisierung eine höhere Beweiskraft zukommt als der Auflistung einzelner, eventuell kontingenter und jeweils nur begrenzt gültiger Motiv- und Bildentsprechungen. Segeberg spricht von einer „literarisch inszenierten Denkstruktur, die bei ihren Rezipienten immer neue Projektionen nach einem im Kern gleich bleibenden Prinzip hervorrufen konnte." Wenn er insbesondere im Hinblick auf Karl Heinz Bohrer die „Aufspaltung in einen ästhetischen' und in einen .politischen' Jünger [als] eine der folgenreichsten Selbsttäuschungen der Forschung" bezeichnet und jene triadisch aufgebaute Denkstruktur mittels einer ,,historisch-genetische[n] Analyse der Entwicklung des Schriftstellers vom Tagebuchautor und Essayisten des Ersten Weltkriegs zum revolutionären Nationalisten [...] bis hin zur ästhetischen Universalisierung eines vom Kriegserlebnis inspirierten Arbeits- und Technikbegriffs [...] im Großessay Der Arbeiter" verfolgt, dann wird hinreichend klar, dass sich auch aus der Perspektive einer solchen Rekonstruktion die Grenzen der herangezogenen Werkkomponenten verwischen. Hier kann der Hinweis auf die Zweischneidigkeit jener von Jünger stets aufs Neue verwendeten Figur genügen: Einerseits disponierte sie wegen der von ihr betriebenen Naturalisierung rational nicht planbarer zivilisatorischer oder historischer Transformationsprozesse zur kontemplativen Betrachtung der dargestellten Phänomene. Andererseits ging von ihr wegen ihrer Inszenierung lustvoll erlebbarer, plötzlich Momente mit „sozialeschato-

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logische[m] Initiationscharakter" freisetzender Anarchie eine beträchtliche appellative Sogwirkung aus.4 Im Gegensatz zu solchen, sich nur einer aufmerksamen intertextuellen Lektüre ( M E R G E N T H A L E R 2 0 0 1 ) erschließenden Textphänomenen besaßen zum anderen Jüngers explizite, eigene Titel namentlich oder andeutungsweise erwähnende Zitationen in Vorworten, Fußnoten oder an anderen, meist exponierten Textstellen eine unmittelbare Signalwirkung. Besonders aufschlussreich sind dabei im Rahmen unserer Fragstellung die Querverweise zwischen den frühen Kriegstagebüchern und den im engeren Sinne literarischen Arbeiten, weil sie die Differenzen zwischen einer mit dem Anspruch auf Realitätsadäquatheit auftretenden Gattung und dem artifiziellen, sich im Empiriebezug nicht erschöpfenden Werkkomplex bewusst überspielten. Alle diese Verweise5 negierten den von Hans-Harald Müller überzeugend nachgewiesenen Sachverhalt, dass weder Der Kampf als inneres Erlebnis noch Sturm mit Jüngers erstem Kriegstagebuch eine organische konzeptionelle Einheit bilden, sondern in einem jeweils spannungsvollen, geradezu als partiellen Widerruf zu begreifenden Verhältnis zu ihm stehen. Dieselbe grenzüberschreitende Absicht einer Verwischung von Faktizität und Fiktionalität lag Jüngers Verfahren zugrunde, Beiträge mit ästhetischem Anspruch - man denke an die Vorabdrucke (von Teilen) des Abenteuerlichen Herzens im Arminius, Tag und anderen Periodika - oder Rezensionen über literarische Werke in den Zeitschriften der nationalrevolutionären Gruppierungen erscheinen zu lassen. Im Unterschied zu Benns literarischer, auf die Ansammlung kulturellen Kapitals beschränkten Sozialisation vollzog sich Jüngers Werdegang als Schriftsteller vor 1933 also mittels des Erwerbs von Kapitalien, die in zwei 4

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SEGEBERG 1993: 339, 338 (vgl. 366, wo Bohrer namentlich genannt wird), 338 u. 355. Die Frage, ob die von Segeberg verwendete Bezeichnung dieser Figur als regressive Modernisierung durch eine andere Begrifflichkeit optimiert werden kann (MARTUS 2000: 79 f.), ist im Vergleich zur Erkenntnis ihrer grundlegenden textstrukturierenden Bedeutung sekundär. So erwähnt die Redaktion des Hannoverschen Kuriers in ihrem Einleitungstext zum Abdruck von Sturm gewiss mit ausdrücklicher Billigung, wenn nicht gar auf Wunsch (JÜNGER 2001: 665) Jüngers nicht nur den Kampf als inneres Erlebnis, sondern auch In Stahlgewittern und erweckt dabei den Anschein, als ob diese beiden Texte in einem ideellen und textgenetischen Zusammenhang stünden (MÜLLER 1986: 254). Unter Anspielung auf die beiden letztgenannten Titel schreibt Jünger im Vorwort zur Erstausgabe des Wäldchens 125, er habe „bereits zweimal zum persönlichen Kriegserlebnis das Wort ergriffen" und wolle nun „noch einmal [...] die Fülle der Kräfte und Beziehungen ausführen, in denen sich Menschen unserer Zeit im Kampfe gegenüberstehen" (JÜNGER 2001: 50). In einer Fußnote der dritten Fassung von In Stahlgewittern bemerkt er, dieses Buch solle „sich um Leistung und nicht um die Betrachtung drehen. Ich habe versucht, das Psychologische an einer besonderen Stelle zusammenzutragen ( K a m p f als inneres Erlebnis [·..])" (zitiert n a c h DEMPEWOLF 1 9 9 2 : 1 7 4 ) .

Der verfemte und der unbehelligte Solitär. Benns und Jüngers literarische Karrieren

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verschiedenen Feldern einen Kurswert besaßen: Zunächst gelang Jünger mit seiner politischen Publizistik der erste beachtenswerte Kapitalerwerb als Schriftsteller. Von dieser dem Machtfeld zuzuordnenden publizistischen Aktivität konnte er jedoch kaum profitieren, weil der damit einhergehende Versuch der Etablierung einer Gegenöffentlichkeit weder im Umkreis der soldatischen Kampfbünde noch bei den künstlerischen Eliten der Weimarer Republik auf Akzeptanz stieß. Erst das Engagement im literarischen Feld seit Ende der 20er Jahre erbrachte erhebliche, Jüngers Namen einer breiten Öffentlichkeit bekannt machende Kapitalerlöse. Die Besonderheit dieses Engagements bestand darin, dass dem mit seiner Hilfe akkumulierten Kapital auch im Machtfeld eine gewisse Bedeutung zukam. Die sich in Jüngers Werk seither zweifellos immer stärker abzeichnende Literarisierungstendenz vollzog sich angesichts der ständigen Verfügbarkeit der nationalistischen Fassungen seiner drei Kriegstagebücher auf dem Buchmarkt und angesichts seiner in auflagenstarken Sammeleditionen weiterhin wahrgenommenen Kommentierungsarbeit als Interpret des Weltkriegs so kontinuierlich, dass noch Der Arbeiter Jüngers frühere, unmittelbar politische Agitation gegen den Parlamentarismus und die liberale Wirtschaftsordnung der verhassten Weimarer Republik auf eine für die Zeitgenossen deutlich erkennbare Weise fortschrieb. Jüngers Kapitalakkumulierungsstrategie lässt sich nicht nur in einem additiven Sinn als Erwerb von zwei verschiedenen Kapitalsorten begreifen. Die thematischen Interferenzen zwischen Publizistik und Literatur, deren ästhetische und funktionale Angleichung und Jüngers Publikationsmodalitäten hatten zur Folge, dass die beiden Werkkomponenten sowohl mittelbar als auch direkt aufeinander verwiesen: Indem sie in ein wechselseitiges Erhellungs- und Beglaubigungsverhältnis traten, ließen sich auch die mit ihrer Hilfe erworbenen Kapitalsorten aufeinander beziehen bzw. miteinander verrechnen. Die im Feld der Macht gültige und die im literarischen Feld verbindliche Kapitalsorte konnten addiert und tendenziell jeweils zur Gänze auf eine der beiden Kapitalien umgebucht werden. Als Resultat hiervon stellte sich nicht nur das für Jüngers Schriften charakteristische Oszillieren zwischen politischer Aussage und ästhetischer Gestalt, sondern auch eine Bedeutungssteigerung bzw. ein Autoritätszuwachs ihres Verfassers ein: Der politische Publizist profitierte vom Renommee des Essayisten und umgekehrt. Selbst bei einer selektiven Wahrnehmung Jüngers, die als Normalfall jeder zeitgenössischen Rezeption vorauszusetzen ist und zumal bei diesem überarbeitungsfreudigen Autor nahezu unausweichlich war, muss von der Gültigkeit eines solchen Wirkungsmechanismus ausgegangen werden. Wer an Jüngers essayistischem Werk desinteressiert war, berief sich auf den politischen Publizisten und Kriegspropagandisten, ohne dabei zu berücksichtigen, dass Jünger vorrangig dem Engagement im literarischen Feld seinen hohen Bekanntheitsgrad verdankte. Wer Gefallen an jenem Werk fand, konnte den Nationalsozialisten gegenüber pflichtschul-

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digst auf Jüngers erbitterte Gegnerschaft gegen die Weimarer Republik und deren vielfältige Reflexe auch in seinen Essays verweisen. Außerdem ließen sich diese Texte in einem kulturpolitischen Klima, in dem jede Form der Kunstautonomie für obsolet erklärt, avantgardistische Exklusivität als entartet gebrandmarkt und stattdessen die bedingungslose Subordination der Kunst unter die Politik eingefordert wurde, zumindest als Wegbereiter der angeblich neuen Kunstauffassung deuten. So lässt es sich erklären, dass der seit den 30er Jahren unverkennbar auf den elitären Kurs der planetarischen Perspektive und der Gestaltschau gegangene Jünger sich trotz seines geistesaristokratischen Elitismus und seiner demonstrativen Distanz zur NSDAP nach 1933 (KIESEL 1997) in einer wesentlich stärkeren Position befand als Benn. Obwohl aus wirkungsgeschichtlicher Perspektive weniger der politische Publizist, als vielmehr der keineswegs nur bei reaktionären Literaten geachtete Schriftsteller Jünger seinen Beitrag zum Untergang der Republik geleistet hatte, konnte er im Gegensatz zu Benn von seinem politischen Kapital als Visionär eines starken nationalistischen Deutschland zehren und überdies von dem beschriebenen Kapitalumbuchungsmechanismus profitieren, der beispielsweise die Interpretation des Arbeiters als faschistoide Programmschrift ermöglichte. Deshalb musste das NSRegime vor einer Disziplinierung dieses mittlerweile über Deutschland hinaus bekannten Schriftstellers zurückschrecken, von dem es nach der Meinung nicht nur seiner Anhänger eindeutig profitiert hatte, und an dessen Einbindung in die aktuelle Kulturpolitik interessiert sein. Wäre dies gelungen, so hätte man der internationalen Öffentlichkeit die Bereitschaft eines renommierten Autors zur Mitarbeit am so genannten kulturellen Neuaufbau signalisieren können. Jünger hatte 1933 also trotz seines keineswegs ungetrübten Verhältnisses zu Hitler und Goebbels günstige Startbedingungen für eine zweifellos erfolgreiche Rolle als Kulturfunktionär oder repräsentativer Dichter des NSRegimes. Dieser Kredit währte freilich nicht unbegrenzt, zumal Jünger nichts unternahm, um ihn in substanzieller Weise zu nutzen. Weder ließ er sich als kulturpolitischer Repräsentant des Nationalsozialismus vereinnahmen noch reagierte er auf dessen Literaturpolitik mit einer Politisierung seiner Dichtung im Sinne der erwünschten Richtung - im Gegenteil. Seine mehrmaligen, zuletzt 1942 in Gärten und Straßen vorgetragenen regimekritischen Äußerungen entwerteten sein in der Spätphase der Weimarer Republik akkumuliertes politisch-kulturelles Kapital so sehr, dass die Jünger-Gegner innerhalb des NSRegimes schließlich die Oberhand gewannen. Der selbst zu diesem Zeitpunkt noch vorhandene Rest jenes Kapitals kann allerdings erklären, warum man noch immer davor zurückschreckte, Jünger offiziell als Feind zu ächten, sondern weitere Publikationen von ihm mit dem Argument der Papierknappheit zu unterbinden suchte.

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Die Feldtheorie als Basis reflektierter sozialgeschichtlicher Forschungsarbeit Die in vergleichender Perspektive vorgelegte Rekonstruktion der Publikationsstrategien von Benn und Jünger und deren Folgen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten greift im Wesentlichen auf drei Theorieelemente aus Bourdieus Analyseinstrumentarium zurück: Sie verwendet den Feld- und den Kapitalbegriff und geht von der grundsätzlichen Konvertierbarkeit der Kapitalsorten aus. Unterschieden wird zwischen dem im Konfliktfall mit anderen Handlungsbereichen dominanten Machtfeld und dem literarischen Feld sowie den in diesen beiden Feldern gültigen Kapitalsorten. Mit Hilfe jener Parameter ist es möglich, die signifikant voneinander abweichenden Karrieren der Autoren Benn und Jünger nach 1933 jenseits der Überschätzung individueller Handlungsoptionen zu erklären. Im Gegensatz zu solchen individuellen Zuschreibungen, deren Erklärungswert selbst im Hinblick auf ranghohe Vertreter des nationalsozialistischen Regimes begrenzt ist, führt der Rückgriff auf feldspezifisch gültige Kapitalsorten einen intersubjektiv verbindlichen, zwischen Herrschenden und Beherrschten nur graduell unterscheidenden Parameter in die Analyse ein. Mit der durch die Applikation von Bourdieus Analyseinstrumentarium verbundenen Relativierung bzw. Kontextualisierung akteurspezifischer Handlungsmöglichkeiten sind zwei weitere Vorteile verbunden. Erstens lassen sich schriftstellerische Stellungnahmen unabhängig von unergiebigen, häufig überhaupt nicht entscheidbaren Diskussionen über die hinter ihnen stehenden individuellen Beweggründe analysieren. Die Fragen, ob Benn wirklich an die von ihm entwickelte Kunstidolatrie glaubte oder Jünger sich der Tragweite seiner raffinierten künstlerischen Immunisierungsstrategie gegen nationalsozialistische Übergriffe voll bewusst war, werden aus der Perspektive von Bourdieus Feldlogik zu einer zweitrangigen Angelegenheit: Da die Felder der kulturellen Produktion selbstreferenzielle Kommunikationssysteme darstellen, stehen sie der Artikulation psychischer Dispositionen oder der Verfolgung persönlicher Belange in einem wertneutralen Sinne des Wortes gleichgültig gegenüber. Zweitens wird eine wissenschaftliche Analyse jenseits moralischer Urteile bzw. Verurteilungen möglich. Damit soll weder die ethische Verantwortung von Schriftstellern negiert noch die Notwendigkeit einer an ethischen Kriterien orientierten Auseinandersetzung mit ihnen geleugnet werden. Hier wird vielmehr für die darüber hinausgehende konsequente Anwendung eines kultursoziologischen Analyseinstrumentariums plädiert, weil es qualifiziertere und weiterreichende Einsichten in sozialhistorische Phänomene gewährt als deren moralische Bewertung. Wer dieses Plädoyer für die überflüssige Artikulation einer puren Selbstverständlichkeit hält, der möge bedenken, wie lange und nachhaltig sich sowohl die Benn- als auch die Jünger-Forschung an solchen

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sicherlich gut gemeinten, in der Sache auf Dauer jedoch unergiebigen ethischen Fragestellungen abgearbeitet haben. Zu welchen problematischen Einschätzungen der Rekurs auf moralische Kategorien fuhren kann, zeigt jedenfalls Joseph Wulfs Gegenüberstellung von Benn und Jünger: Während Benn zur großen Zahl der opportunistischen Mitläufer gehöre, die trotz ihrer Bildung und ihres geistigen Niveaus den Nationalsozialisten zugejubelt hätten, müsse die Integrität Jüngers mit Respekt und Dank zur Kenntnis genommen werden ( W U L F 1963: 9 ff.). Unsere Studie hat hingegen gezeigt, dass Jüngers vermeintliche persönliche Integrität nach 1933, die überdies von einer weniger integren Phase einer verantwortungslosen politischen Propaganda antizipiert wurde, kein großes Verdienst darstellt, während Benns Flucht nach vorn zweifellos verwerflich, insofern aber nachvollziehbar ist, als er damit seine schwache Position dem NS-Regime gegenüber zu kompensieren suchte. Aus der Perspektive von Bourdieus Theoriedesign ist Jünger der interessantere Autor, weil ihm im Gegensatz zu Benn ein nennenswerter Kapitalerwerb in zwei Feldern gelungen ist. In Anbetracht der Tatsache, dass die moderne Gesellschaft mit ihrer voranschreitenden Ausdifferenzierung in relativ autonome Teilfelder eine solche doppelte Kapitalakkumulation immer mehr erschwert, ist dies ein bemerkenswerter Befund, der sich durch das in der Weimarer Republik weit verbreitete, in vielerlei Sparten des sinndeutenden Schrifttums zum Ausdruck kommende Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion erklären lässt. Zusätzliches Gewicht erhält dieser Befund durch Bourdieus anhand vieler Beispiele verifizierte Annahme, dass eine Kapitalart im Normalfall nicht ohne Reibungsverluste in andere Kapitalsorten konvertierbar ist. Hierzu ist jedoch einschränkend anzuführen, dass Jünger auch im Machtfeld keine konkreten Machtmittel, sondern symbolisches Kapital erworben und daher nicht zwei grundsätzlich verschiedene Kapitalsorten gesammelt hat. Seine Schriften fanden zwar Beachtung in rechtsradikalen Kreisen, in denen über die anzustrebende politische Neuordnung Deutschlands diskutiert wurde, stammten jedoch von einem in der konkreten Politik einflusslosen Intellektuellen ohne jeglichen institutionell verankerten Rückhalt. Auch im Machtfeld konzentrierte sich Jünger also auf die Sphäre des verbalen Handelns, war dabei aber nicht zuletzt in Anbetracht der dargelegten wechselseitigen Verstärkungseffekte des literarischen und symbolischen Kapitals so erfolgreich, dass sein für das Tagebuch geschriebener Beitrag „Nationalismus " und Nationalismus (1929) von Leopold Schwarzschild allen Ernstes mit den oft zitierten Worten angekündigt wurde, hier spreche der „unbestrittene geistige Führer jenes jungen Nationalismus', von dem seit den Höllenmaschinen-Attentaten und dem Sichtbarwerden der ,Landvolk'-Bewegung die Zeitungen voll sind" (zitiert nach JÜNGER 2001: 788).

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In der vorliegenden Untersuchung wurde auf die Einbeziehung der von Bourdieu ebenfalls bereitgestellten Theorieelemente des ökonomischen und sozialen Kapitals bewusst verzichtet, weil sie aus der Perspektive unserer Fragestellung als sekundäre Parameter betrachtet werden müssen. Ökonomisches Kapital ist für die einer inversen ökonomischen Produktionslogik folgenden Felder der kulturellen Produktion eine nachrangige Größe. Es tritt dort mit meist erheblicher zeitlicher Verzögerung als Folgeerscheinung der Akkumulation kulturellen Kapitals ein, ist aber für die feldinterne Wahrnehmung der Position und des Renommees eines Akteurs relativ unerheblich. Der Umstand, dass der auf seine Einkünfte als niedergelassener Arzt angewiesene Benn überhaupt nicht, der als freier Schriftsteller lebende Jünger hingegen recht gut von der schriftstellerischen Produktion leben konnten, korrespondiert zwar dem festgehaltenen Befund des sehr unterschiedlichen Verbreitungsgrads ihrer Publikationen, spielt für ihre kunstpolitisch und ideologisch motivierte Taxierung jedoch eine zu vernachlässigende Rolle. Das soziale Kapital blieb deshalb unberücksichtigt, weil es insbesondere in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften als eine Ressource anzusehen ist, die hauptsächlich vorgängig zu erbringende, gesellschaftlich anerkannte bzw. institutionell sanktionierte Qualifikationen verstärkt. Natürlich war dieses Kapital am künstlerischen Werdegang Benns und Jüngers in vielfältiger Hinsicht beteiligt. Dennoch kommt ihm im Kontext unserer exemplarischen Studie nicht nur in Anbetracht seiner eben erwähnten, primär katalysatorischen Funktion, sondern nicht zuletzt deshalb eine untergeordnete Bedeutung zu, weil persönliche Kontakte und öffentliche Auseinandersetzungen unter Autoren deren Wahrnehmung durch Dritte generell maßgeblich prägen und insofern als integrale Bestandteile des von ihnen akkumulierten kulturellen und symbolischen Kapitals begriffen werden können. Von diesen Feststellungen unberührt bleibt freilich die Tatsache, dass Studien zum Erwerb und Einsatz von Sozialkapital bei Benn und Jünger keineswegs nur im Hinblick auf deren literarische Sozialisation lohnende Untersuchungsgegenstände darstellen. Generell zeigt die vorliegende Studie, dass auf der Basis von Bourdieus Kultursoziologie eine qualifizierte Weiterführung sozialgeschichtlicher Erkenntnisinteressen möglich ist. Während die sozialgeschichtliche Forschung der 1970er und frühen 80er Jahre gemäß der Bestandsaufnahme von Jürgen Fohrmann trotz einer Vielzahl überzeugender Einzelstudien weder verbindliche Regeln der Erstellung von Text-Kontext-Relationen noch eine umfassende, die Parameter der Gesellschaft und der Literatur stimmig vermittelnde Makrotheorie vorlegen konnte und deshalb heterogene, einander bisweilen widersprechende Untersuchungsergebnisse erbrachte (FOHRMANN 2000), gewährleisten die von Bourdieu bereitgestellten Theorieelemente eine reflektierte Forschungsarbeit auf einem elaborierten methodischen Fundament. Einerseits meiden sie die hegemoniale Begrifflichkeit der systemtheoretischen Modelle,

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die gegen Mitte der 80er Jahre als Reaktion auf das latente Theoriedefizit der älteren Sozialgeschichte eingeführt wurden und wegen der Beschaffenheit ihres abstrakten Analyserasters zu einer mitunter schematisch anmutenden, historische Differenzierungen über Gebühr nivellierenden Komplexitätsreduktion tendieren. Andererseits sind sie in Anbetracht der Tatsache, dass wohl kein Soziologe in den letzten 30 Jahren sich so intensiv wie Bourdieu mit den unterschiedlichsten symbolischen Formen der Kultur beschäftigt hat, auch für kulturwissenschaftliche Fragestellungen operationalisierbar. Unser Aufsatz hat die Leistungsfähigkeit von Bourdieus Theoriedesign bei weitem nicht ausgeschöpft - so wurde z. B. auf die Verwendung des für sie zentralen Begriffs des Habitus ganz verzichtet. Dennoch lassen sich mit seiner Hilfe einige wichtige Vorzüge dieses Theoriedesigns im Vergleich zu einer konventionellen sozialgeschichtlichen Untersuchungsmethode illustrieren: Wer mit Bourdieus Kategorien arbeitet, braucht literarisches oder literaturbezogenes Handeln nicht mehr im Spannungsfeld zwischen den problematischen Konstruktionen einer homogenen personalen Identität und einer als Bezugspunkt jenes Handelns fungierenden Gesamtgesellschaft zu verorten. Im Gegensatz zu solchen Konstruktionen trägt Bourdieus Feldtheorie der hochgradigen Ausdifferenzierung der modernen Zivilisation und der ihr korrespondierenden Spezialisierung in allen Bereichen menschlicher Produktivität Rechnung und gestattet deshalb wesentlich gegenstandsadäquatere Kontextualisierungen sämtlicher Phänomene des literarischen Lebens. Die Unterscheidung zwischen dem literarischen Feld und dem Machtfeld und die dadurch gegebene Option, Benns und Jüngers Kapitalakkumulierungsstrategien unter Berücksichtigung der in diesen Feldern gültigen Kapitalarten zu betrachten, haben Ergebnisse erbracht, die etwa mit einem personenbezogenen Identitätskonzept oder einer gesellschaftszentrierten Ideologiekritik nicht hätten gewonnen werden können. Der Umstand, dass sich Benns künstlerische Entwicklung im Kontext unserer Fragestellung ausschließlich vor der Folie des literarischen Feldes verorten ließ, während Jüngers Werdegang als Schriftsteller zusätzlich auf das Machtfeld bezogen werden konnte, belegt die Flexibilität der von Bourdieu bereitgestellten Begrifflichkeit: Nicht nur Sozialisationsprozesse von Akteuren, sondern generell alle sozialgeschichtlichen Phänomene können variabel erfasst und je nach Feldzugehörigkeit definiert werden. Dies ermöglicht eine polyperspektivische Betrachtungsweise, die sowohl durch objektspezifische Gegebenheiten als auch durch erkenntnisleitende Fragestellungen motiviert sein kann. Die Flexibilität von Bourdieus Analyseinstrumentarium darf allerdings nicht über dessen materialerschließende Kraft hinwegtäuschen. Trotz ihrer vielseitigen, gegenstandsnahe Forschungen garantierenden Anverwandlungsfähigkeit sind die Feld- und Kapitalbegriffe als heuristische Generalnenner zu betrachten, die das disparate sozialgeschichtliche Material bündeln und damit

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forschungspraktisch operationalisierbar machen. Der Kapitalbegriff fokussiert soziale Praxis im Hinblick auf eine Akkumulierungsstrategie und synthetisiert höchst unterschiedliche Formen dieser Praxis bzw. ihrer gesellschaftlichen Gratifikation. Der Feldbegriff definiert einen relativ autonomen, durch interne Netzwerkstrukturen konstituierten Handlungsbereich, in dem Akteure auf der Basis feldintern unstrittiger Regeln einen prinzipiell unabschließbaren Wettstreit über die in ihm auf dem Spiel stehenden Interessenobjekte, die feldinterne Rangordnung und die Definitionsmacht bezüglich der legitimen Doxa treten. Bourdieus Theorieelemente geben objektstrukturierende Verknüpfungsregeln vor, definieren unterschiedliche Relevanzgrade der sozialgeschichtlichen Kontextualisierung und erlauben Untersuchungen auf einem hohen Abstraktionsniveau.

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STEFANIE A R E N D

Ernst Jüngers Frühwerk im Fluchtpunkt von Maurice Barrés' Konzeption des Nationalismus

Unter dem Datum des 7. Juni 1977 lesen wir in Siebzig verweht in einer Notiz gerichtet an Alfred Andersch: „Sie rechnen mich nicht den KonservativNationalen, sondern den Nationalisten zu. Rückblickend stimme ich dem zu. Ich darf selbst sagen, daß ich das Wort erfunden habe; neulich bei der Lektüre seiner ,Cahiers' entdeckte ich eine merkwürdige Parallele zu Maurice Barrés. Er sagt dort: „...je suis né nationaliste. Je ne sais pas si j'ai eu la bonne fortune d'inventer le mot, peut-être en ai-je donné le premier définition" (JÜNGER 1981: 313). Dies habe ihn an den Tag erinnert, als Die Standarte gegründet wurde und an sein Plädoyer, daß man aus der Defensive heraustreten müsse und sich Nationalisten nenne solle (JÜNGER 1981: 313). Daß die Übereinstimmung mit dem französischen Journalisten, Politiker und Literaten nicht nur eine punktuelle war, gibt ein Eintrag unter dem 5. Februar 1983 ebendort an die Hand: „Barrés hat nach dem Ersten Weltkrieg stark auf mich gewirkt. Ein Gegengewicht war Huysmans, den ich zur gleichen Zeit entdeckte..." (JÜNGER 1993: 249). Und am 23. Oktober 1988 bestätigt Jünger die Vermutung Herviers, daß sein persönliches Schicksal mit denjenigen der jungen Franzosen nach der Niederlage 1871 zu vergleichen sei und wiederholt Barrés obengenanntes Zitat aus den Cahiers (JÜNGER 1993: 326). Neben diesen affirmativ anmutenden Äußerungen bezüglich Barrés finden sich auch verhaltenere. Wie Dreyfus, so lesen wir in den Strahlungen {Jahre der Okkupation) unter dem 29. April 1945, gehöre Barrés zu den „Fundgruben unserer Gemeinplätze" (JÜNGER 1979: 435); in Spitzbergen unter dem Eintrag des 27. Juli 1964 wird Barrés als „epochaltypisch" bezeichnet, als eine typische Person des fin de siècle, in der sich „Kraft und Schwäche" paarten (JÜNGER 1982: 463), und unter dem Eintrag des 11. Mai 1971 wiederum in Siebzig verweht subsumiert Jüngers Eintragung Barrés im Rückblick mehr oder weniger direkt unter die ,negativen Lehrmeister', die „Störungen der Generallinie" bewirkt hätten: „[...] auch Barrés hatte ich hinter mir" (JÜNGER 1981: 32). Bestimmte Werke nennen die Tagebucheintragungen nicht. Dennoch geht die Forschung heute gerne davon aus, daß besonders Barrés' Du sang, de la volupté et de la mort von 1894, dessen Übersetzung, seit 1907 unter dem Titel Vom Blute, von der Wol-

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Stefanie Arend

lust und vom Tod in Deutschland kurrent war, einen tiefen Einfluß auf Jünger ausgeübt hat. 1 Trotz dieser Äußerungen ist Barrés in der Jünger-Forschung erst spät zu einem festen Bezugspunkt avanciert. Sporadisch hatte Bohrer auf Du sang, de la volupté et de la mort als ästhetisches Vorbild hinsichtlich der Blutmetaphorik im Kampf als inneres Erlebnis hingewiesen. Seinem methodischen Ansatz verpflichtet will er ideologische Übereinstimmungen hieraus aber nicht ableiten. Jünger und Barrés bewegten sich aufgrund ähnlicher ästhetischer Verfahren in der Nähe der Décadence und des gesamteuropäischen Ästhetizismus' (vgl. BOHRER 1983: 120). Um Barrés blieb es aber weiter relativ still, bis schließlich seine Romane in den 90er Jahren neu aufgelegt wurden. Galt bis zu diesem Zeitpunkt sein Werk in Frankreich und auch in der deutschen Romanistik als ,Vermintes Gelände', wie die FAZ anläßlich der Neuauflage im Jahre 1994 titelte, wurde es nun in Frankreich und auch in Deutschland salonfähig (vgl. HANIMANN 1994). Dies zeitigt die vergleichende Untersuchung zur Bildlichkeit bei Jünger und Barrés von Anne Syndram: Rhetorik des Mythos. Syndram liest die Texte als weltanschauliche antinaturalistische Manifeste ähnlicher lebensphilosophischer, vitalistischer und antiintellektualistischer Sinnangebote durch Erinnerung an familiäre, heimatliche und geschichtliche Bindungen (vgl. SYNDRAM 1995: 265-271). Eine solch glatte Parallelflihrung fuhrt sie zudem auf die Biographien zurück, deren Ähnlichkeit einen „Vergleich des Ungleichzeitigen" nahelegten (vgl. SYNDRAM 1996: 189; 1995: 66). Biographistische Rückschlüsse auf die Texte sind jedoch methodisch fragwürdig und lassen ihre Eigenartigkeiten verschwinden, sowohl in ästhetischer als auch in ideeller Hinsicht. Lassen wir die Texte selbst sprechen, so entwerfen sie mit teils vergleichbaren ästhetischen Verfahren jedoch recht unterschiedliche kulturtheoretische und -anthropologische Entwürfe, mit Konsequenzen für den Begriff des .Nationalismus'. Zur Diskussion steht im Vergleich mit Jüngers Kampf als inneres Erlebnis vor allem Barrés' bereits erwähnter Text Du sang, de la volupté et de la mort in der deutschen Übersetzung Vom Blute, von der Wollust und vom Tod. Angesprochen wird aber auch sein erster Roman Sous l'œil des barbares, der erste Teil der Trilogie Le culte du moi und schließlich in einem zweiten Schritt Jüngers Politische Publizistik vor dem Hintergrund von Barrés' kulturpolitisch wichtigstem Manifest, den 1902 erschienenen Scènes et doctrines du nationalisme, die im Kern die Theorie seines Nationalismus enthalten. Werfen wir zunächst einen Blick in die deutsche Fassung Vom Blute von der Wollust und vom Tod. Aufgebaut in fünf größere Kapitel lassen einige der Paratexte - In Spanien, In Italien, In den Ländern des Nordens - auf die Gat-

1

Vgl. MÖHLER 2001: 176 [Anmerkungen]; WEIBMANN 1995: 133, 136; vgl. dazu vorsichtiger MARTUS 2 0 0 1 : 5 2 - 5 5 .

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tung des Reiseromans schließen. Das erste Kapitel jedoch nennt sich Ideologien der Leidenschaft, das letzte Drei psychotherapeutische Kurorte. Jedes von ihnen spricht indes dieselbe Sprache; reflektiert werden Erfahrungen der Fremdheit. Besonders durch den Erzählduktus liest sich das oft als ästhetizistisches Glaubensbekenntnis mißverstandene Buch als Manifest der Antidécadence, da die dekadenten Typen als Negativexempel vorgeführt und kommentiert werden - Negativfolien des wahrhaftig lebendigen, von natürlicher und dionysischer Selbstvergessenheit geprägten Menschen in Jüngers Kampf. Blut, Wollust und Tod sind im Blut, von der Wollust und vom Tod die letztmöglichen frissons, mit denen sich die dekadenten Typen noch Stimmungen zu verschaffen vermögen. Eine solche Figur entwirft gleich die erste Erzählung Amateur der Seelen. Delrio hat in seinem heimatlichen Dörfchen in Frankreich einen solchen ennui erlitten, daß er sich in das überhitzte und grelle Toledo zurückgezogen, sich freiwillig entwurzelt hat, um in der Fremde durch gleißende Farben und starke Düfte seltener Pflanzen Wollust zu empfinden. Dort, verloren in Träumereien, „vom Überdruss" erfüllt, „einsam und überreizt" (BARRÉS 1907: 5),1 kann er schließlich den Schönheiten, die ihm fremde Natur und Kunst bieten, auch nichts mehr abgewinnen. So wird zum Objekt seiner Wollust seine Halbschwester Simone, später Pia genannt. An ihr gedenkt er, „seine Begeisterung für die Herrschaft" über Menschen auszuleben und dafür, ihren „Gehirnen Leidenschaften zu geben" (4). Er ist als typischer Dandy gezeichnet, der den ,Kult des Bösen' betreibt, denn die kleine verzärtelte femme fragile hatte ein „Herz, fähig der allerschönsten Verwirrungen" (7). Seinem „Cynismus" und seiner „Teilnahmslosigkeit" (11), durch Anfälle von Sentimentalität unterbrochen, ist sie schließlich hilflos ausgeliefert. Zudem ist ihr das schwüle Milieu zwar „lustvoll", bringt sie zur Ekstase, betäubt und zerstört sie aber zu gleicher Zeit (10). Nicht nur aber an Delrio, sondern auch an der Fremde wird Pia krank. Der barresianische Rassismus spricht eine deutliche Sprache. Toledo nämlich ist eine typisch spanische Stadt, und die ,wilden' Leute besitzen für die zarte Französin eine zu „starke Ausdünstung" (13); Spanien ist ein Land für ,Wilde' oder ,Blasierte' (vgl. 16). Und Delrio tränkt die zartfühlende Pia mit den Eindrücken dieses Landes, auf Reisen setzt er sie synästhetischen Experimenten aus, bis sie vom Rausch immer melancholischer wird und sich schließlich einbildet, daß sie nur in ihm einen vertrauten Freund besitzt, denn nur dieser erinnert sie noch an die Heimat. Delrios Experimente evozieren in ihr eine todessüchtige Traurigkeit, bis sie sich schließlich tödlich mit einer Kugel verwundet. Der Bruder ringt ihr auf dem Sterbebett manipulativ ein Liebesgeständnis ab. Erst Anblick und Stöhnen der sterbenden Schwester vermögen ihn etwas von seiner Stumpfheit zu erlösen, in ihm endlich wieder

Im F o l g e n d e n i m laufenden Text zitiert mit Seitenzahl.

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ein frisson auszulösen. Die blutüberströmte Pia scheint ihm wie eine Nelke, er beginnt sie zu begehren, endlich wieder etwas zu fühlen: „und wie verlangt es mich nach dir unter dieser [...] Röte des Todes!" (36). Delrio und Pia gehören zu den Déracines, den Entwurzelten wie Barrés später einen seiner Romane nennen wird - , die, schon in ihrer Heimat durch den modernen Zeitgeist angegriffen, nun in der Fremde ganz die Fäden des Wurzelgeflechts verloren haben. Das déracinement führt schließlich zur gänzlichen Perversion der Empfindung, zur nekrophilen wollüstigen Geschwisterliebe angesichts blutüberströmter Leichen. Blut ist äußerstes Mittel, dem pervertierten, denaturalisierten Menschen synästhetische Reize zu verschaffen. Blut ist hier nicht Allegorie für einen natürlichen Organismus, und es ist auch nicht, wie oft vermutet, eingebunden in eine Blut-und-Boden-Mythologie, sondern Element einer Dekadenzkritik. Deutlicher moralistisch strukturiert ist die Erzählung Ein Besuch bei Don Juan. Der Ich-Erzähler, Reisender in Sevilla, schildert ein vanitas-Ensemble des Malers Valdes Leal, Leichen, Gesichter von Würmern zerfressen, Schädelknochen im Hintergrund, Auftragsarbeit des .mächtigen Wüstlings' Don Juan, eine ,Legende der modernen Sensibilität'. Der Kommentar des Erzählers: „Manche finden in der Tat eine bittere Lust an den Gräueln der Verwesung. Naturen, deren Nerven schon viele Arten der Erregung erschöpft haben, reizen diese Schrecken. Das rüttelt sie einen Moment lang auf, zerstreut sie, weckt ihre sonst stumpfe Sinnlichkeit. Die Wollust und der Tod, eine Geliebte und ein Skelett, sie allein sind ernsthaft noch imstande, unsere armselige Maschine, die alles ermüdet, noch etwas in Tätigkeit zu bringen; und wie schnell erlahmt sie selbst da!" (BARRÉS 1907: 97). Nur noch der Rausch des Todes vermag im modernen, von Raffinements gesättigten, Menschen zumindest momentane ,zerebrale Wollust' auszulösen. Dem gegenüber dient in Jüngers Kampf die positive Qualifizierung des Rausches dem Entwurf des lebendigen neuen Menschen, der die Bande zu seinem Ahnen, dem blutdürstigen ,Urmenschen', wieder zu knüpfen vermag. Dieser ,neue Mensch' ist jedoch - und dies ist der springende Punkt - nicht zweifellos ex negativo aus dem barresianischen Text heraus zu imaginieren, lediglich das Ideal des fest in seiner Heimat eingewurzelten Menschen, des enraciné. Dieses für den Barresismus konstitutive Bild des enracinement findet sich gleichwohl auch im Kampf, jedoch in einer etwas anderen Funktion, die, wie nun zu zeigen ist, eine andere Signifikanz der Blutmetaphorik nach sich zieht. In Jüngers Text finden wir die vitalistische Metapher des enracinement gleich zu Beginn: „Aufgebaut aus unzähligen Bausteinen ist auch der Einzelne. Die endlose Kette der Ahnen schleift ihn am Boden nach; er ist gefesselt und gesponnen mit tausend Bändern und unsichtbaren Fäden an das Wurzelgeflecht des Urwaldsumpfes, dessen gärende Wärme seinen Urkeim gebrütet"

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1960: 17). Verbildlicht sind hier die barresianischen Instanzen la terre et les morts, die Heimat und die Ahnen, und das Bild der Einwurzelung, des enracinement. Allerdings entfaltet Jüngers Kampf eine gegenläufige Dynamik. In Barrés' Texten, implizit durch xenophobische Einstreuungen im besprochenen Text und bereits in seinem ersten Roman Sous l'œil des barba(JÜNGER

res und explizit in den Scènes et doctrines

du nationalisme,

ist das

enracine-

ment Ziel- und Endpunkt einer Entwicklung zur ganzen Person, Bedingung für Eudaimonie sowohl des Einzelnen als auch für den Bestand der Nation. Ziel der Erziehung ist „raciner les individus dans la terre et dans les morts, dans la terre des nos morts" ( B A R R É S 1967: 92).2 Erstes Stadium dieser Einwurzelung ist etwa in Sous l'œil des barbares die vorherige Befreiung von den Zwängen der Außenwelt, vom Nicht-Ich, vom Non-moi, im Roman subsumiert unter dem Terminus ,Barbaren': 3 Eltern, Lehrer, Freunde, aber auch alle Ablenkungen des modernen Großstadtlebens, sogar die irdische Liebe verhindern dieses erste Stadium der Freiheit, das für das enracinement notwendig ist. Im Gegensatz zu der Einwurzelung als Zielpunkt idealer Entwicklung ist dieses in Jüngers Kampf präsumierter Ausgangspunkt für „Entfesselung" (JÜNGER 1960: 57) und Erneuerung. Die Bindung an die Ahnen, an les morts, an das „Wurzelgeflecht" (17), wird auch als Fessel und Behinderung begriffen; geht es im barresianischen Ichkult darum, jene Fäden, in die der Jüngersche Urmensch „gesponnen" ist (ebd.), wieder zu finden, wieder zu knüpfen, so ist es das Ziel des Urmenschen, seine Triebe freizusetzen, die Entfesselung, um etwas Neues zu schaffen. Diese Form von Einwurzelung als nährender Ausgangspunkt für die Entfesselung hypostasiert der Graben: Dort schlingt der Urmensch „gefräßig [...] Blut [...] in sich ein, um sein schwerfälliges Getriebe zu erhalten" (31); das gefräßige Gedächtnis an la terre et les morts ist gleichsam schon rauschartige Vorbereitung auf diese Erneuerungsbewegung, auf eine renovatio der Kultur, mit Hilfe des ,neuen Menschen' (77). Dieser wird neue Grenzen und neue Gemeinschaften bilden, „neue Formen [...] mit Blut" (ebd.), mit gelebter Tradition füllen. Der „Rausch, der Durst nach Blut" (19) bestimmt das Urverhältnis der Menschen zueinander. Einzig die „Wollust des Blutes" (ebd.) leistet das Paradox der Zerstörung und gleichzeitigen Innovation. Nun vom barresianischen Titel Vom Blute von der Wollust und vom Tod auf eine Systemreferenz zu schließen ist verführerisch, leitet aber in die Irre. Aufgrund der dargestellten gegenläufigen Dynamik - Einwurzelung hier als Endpunkt, dort als Ausgangspunkt einer idealen Entwicklung - kann von einer solchen nicht gesprochen werden. Fehlt im Barresismus auch das dionysische revolutionäre Moment, so übernimmt die Blutmetaphorik entsprechend eine Neuere Lesarten versuchen die Idee des enracinement bei Barrés vom Ideologieverdacht zu befreien. Vgl. etwa KLRSCHER 1998: 72-80; VAJDA2000: 162 f.

Vgl. dazu Barrés' vorstehende Erläuterungen zu seiner Trilogie im Examen des trois romans idéologiques. Vgl. BARRÉS 1994: 19-21.

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andere Funktion. Dient sie im Kampf einer affirmativen Paränese zur Tat und zur Entscheidung, funktionalisiert sie Barrés' Text negativistisch fur eine moralistische Dekadenzkritik. Positive Daseinsentwürfe finden wir ex negativo, explizit in seinem eng literarischen Werk nur punktuell, etwa im Roman Les Déracinés, der 1897 erschienen, als erster Teil der Trilogie Le Roman de l'Énergie nationale. Er erzählt von sieben Lothringern, die durch ihren Lehrer Bouteiller intellektuell verzogen und entwurzelt in Paris ihr Glück suchen, und die schließlich beim Begräbnis des Nationalhelden Victor Hugo eine Ahnung ihrer Bestimmung, der Idee des enracinement bekommen. Der Enthusiasmus der Masse verleiht eine Vorstellung der nationalen schlummernden Energie, des französischen Ideals, der Rolle, die der einzelne in diesem Organismus einnimmt durch seine Geburt, die ihn konditioniert (vgl. B A R R E S 1 9 9 4 : 7 2 9 ) . Es geht darum, diese Rolle zu akzeptieren, um sich seiner Rasse bewußt zu werden und schließlich der nationalen Tradition. Das Pathos über die nationale Energie, das der Text vage und meines Erachtens nicht ohne Ironie lanciert, verliert sich in der Feststellung der Determination und der Notwendigkeit der Akzeptanz seiner nationalen conditio. Es fehlt, und dies ist das Entscheidende, das Pathos des Aufbruchs, des Neuen, auch der Entscheidung.4 Ressentiments gegenüber anderen Nationen, insbesondere auch gegenüber Deutschland, finden sich im zweiten Teil L'Appel au soldat. Das Zentrale für Barrés' .integralen Nationalismus', wie er sich explizit schließlich in den Scènes et doctrines du nationalisme manifestiert, wird das Beharren auf der Tradition und die fast naturalistisch und desillusionistisch anmutende Vorstellung der Determination (vgl. B A R R É S 1 9 9 4 : 8). Jüngers Kampf aber und auch seine politische Publizistik leben von einem affirmativen Entwurf des ,neuen Menschen', des Visionären. Eine Definition des ,Neuen Nationalismus' zu liefern, wie er sich in Jüngers Publizistik manifestiert, und eine genaue Verortung in der politischen Ideenlandschaft der Zeit zwischen den Kriegen, ist zwar problematisch, jedoch läßt sich der bereits erhobenen Befund hier weiterverfolgen. Können wir im Kampf die Ambivalenz zwischen Einwurzelung und Entfesselung bzw. ihr Zusammenspiel beobachten, so ist strukturell maßgeblich in der Publizistik das Spiel zwischen Tradition und Aufbruch bzw. Revolution. Der Artikel Tradition, abgedruckt in der Standarte vom 8. November 1925, betont neben der Bindung des Menschen im „Blut der Väter", „in Reichen und Bindungen, die sie geschaffen, erhalten und verteidigt haben" ( J Ü N G E R 2 0 0 1 : 125), immer auch die Einbindung des Einzelnen in eine Zeitspanne, welche Vergangenheit und Zukunft umfaßt: „Der gegenwärtige Mensch ist der

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Ressentiments gegenüber anderen Nationen, insbesondere gegenüber Deutschland, finden sich im zweiten Teil der Trilogie, L 'Appel au soldat, hier eingekleidet etwa in Reflexionen über das Bildungssystem (vgl. BARRÉS 1994: 767-775).

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Brennpunkt zwischen dem gewesenen und dem zukünftigen"; durch „sein Wirken und seine Tat" (ebd.) legt er den Grund fur die Zukunft. Die Pflanzenmetapher allegorisiert diese schicksalhafte Auffassung von Geschichte, die Wurzeln der Tat „verschwinden im Grau der Vergangenheit", die „Früchte fallen in das Land der Erben" (126). Der Einzelne wird Mitglied der Nation durch Geburt, welche „uns in unser eigentliches Erdreich versenkt" und die „mit tausend symbolischen Fäden unseren Platz in der Umwelt bestimmt" (127); das enracinement leistet bereits die Geburt. Weil das enracinement Ausgangspunkt ist, warnt der Essay vor der Gefahr, die „Gegenwart" zu vergessen (128). Tradition müsse gelebt werden, eine Nation sei eben nicht wie eine „Korallengeneration", die ein Stockwerk auf das andere baue, sondern „ein neues Geschlecht" müsse „aus neuen Bedürfnissen heraus die Notwendigkeit wichtiger Änderungen" sehen (128). Sowohl der Einzelne als auch die Nation besitzt Verpflichtung und unbewußte Bindungen an die Vergangenheit einerseits, andererseits die Pflicht, er „selbst zu sein" (129). Dies heißt auch überaltete und untätige Formen „entzwei" zu schlagen (131) und neue zu bilden. Diese Rationalistische Revolution', wie ein gleichnamiger Artikel im selben Jahr überschrieben ist, ist deshalb eingebettet in eine mystische und teleologische Geschichtsauffassung, die mit antikem Begriffsarsenal geschmückt ist; ihre Legitimation erhält sie aus der Providentia, das etwaige Unmoralische, die ,erfrischende Gesetzlosigkeit' (vgl. 214) gebietet die Notwendigkeit, die Anangke. Wird von einer ,heiligen Pflicht' (vgl. 215) gesprochen, so sich vage auf ein ungeschriebenes ewiges Gesetz zurückgezogen, was immer schon als unfassbare Korrekturinstanz des geschriebenen ins Feld gefuhrt wird. Die ständige Wiederholung solcher Begrifflichkeiten wie Schicksal und Notwendigkeit beugen im Essay Nationalismus der Tat dem Verdacht eines ,Putsches' vor (vgl. 255). Und auch Das Sonderrecht des Nationalismus verwahrt sich vor dem Vorwurf der „Anarchie" und beruft sich auf die „höchste Ordnung" und auf das „Schicksal" (283). In Barrés' Scènes et doctrines du nationalisme suchen wir eine solche Begrifflichkeit vergeblich. Dieser Umstand ist auch dem Anlaß zu verdanken, aus dem sie entstanden. Das kulturpolitische Manifest ist unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre verfaßt, genaugenommen unter demjenigen der Revisionsprozesse, die 1899 in Rennes begannen und die das Blatt für Dreyfus wenden sollten. Obgleich Barrés in seinen frühen Artikel, und auch in seiner frühen Literaturkritik immer schon eine deutliche politische Sprache gesprochen hat, waren es die Scènes, die vielen seiner Anhänger die Augen geöffnet haben. Die Freundschaft mit Léon Blum und der bis dahin rege Kontakt mit Hermann Bahr gingen über dieser Schrift in die Brüche.

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Der letzte Teil der Scènces beschreibt in Einzelheiten die Vorgänge in Rennes, der erste Teil liefert für diese Darstellung das ideelle Fundament: eine Definition des heute sogenannten ,integralen Nationalismus'. Weitaus bedeutsamer als in Jüngers Publizistik ist der Gedanke der Determination: Barrés bringt die Sache auf den Punkt: „Nationalisme est acceptation d'un déterminisme" (BARRÉS 1967: 25). Determiniert ist der Einzelne duch die Ahnen, die Familie, die Rasse, die Nation, durch la terre et les morts. Jüngers Texte weisen freilich mit den Begriffen des Schicksals, des Blutes, der Wurzeln auf diese Formel hin, jedoch ist die Dynamik in den Scènes eine andere. Das Bewußtsein für diese Traditionen ist in den Scènes nicht gegeben und ein unbedingt wiedereinzuholender Zustand der kranken französischen Nation: hat sein Verlust doch erst dazu geführt, daß die Dreyfus-Affäre ihren Gang auf diese Weise nehmen konnte. Die Schrift ist deshalb ein pathologischer Befund der eigenen Nation, mithin eine Art Selbstanklage und natürlich Anklage der Intellektuellen. Diese setzten, wie Zola, selbst ein Entwurzelter, ein déraciné (ebd.: 53) nämlich naturalisiert, an die Stelle des Instinktes einen Skeptizimus, der Frankreichs gesunde Vernunft zerstört. Die Vorherrschaft der Intellektuellen und der Kosmopoliten, der Barbaren, eben der déracinés, habe zur politischen Katastrophe geführt (vgl. BARRÉS 1967: 56-65). Der Text spricht auch eine klare antisemitische Sprache. Finden wir hier ebenso wie in Jüngers Publizistik einen antiparlamentarischen Affekt, so geht es nicht um eine Revolution, um einen Sturz der Dritten Republik, sondern um eine Form innerer Heilung des Ganzen, um die Rekonstituierung der „saine raison française" (57). An keiner Stelle wird von Kampf, von etwas Neuem, von neuen Menschen etc. gesprochen, sondern von der Kollektivität, vom sozialen Ich, vom moi social (30), in das sich der Einzelne durch enracinement wieder eingliedern müsse. Die Bewegung ist rückwärts gewandt: „se retrouver dans la famille, dans la race, dans la nation" (32). Die Einbeziehung der Zukunft, aus der Jüngers Texte ihre besondere Bewegung erhalten, suchen wir vergeblich. Was allein zählt ist die Tradition und die Bewußtmachung ihres Wertes, so wie es die déracinés im gleichnamigen Roman während Victor Hugos Begräbnis erfahren. Diese Ausblendung des Visionären, Revolutionären und der Zukunft und die Beharrung auf den Gedanken eines auch lähmenden Determinismus zeigt sich auch im Verhältnis von Barrés zur Action française. Befreundet mit Charles Maurras lies er sich bisweilen zu Lesungen aus seinen Büchern einladen, jedoch lehnte er eine aktive Mitarbeit ab; er wollte sich nicht für eine Politik vereinnahmen lassen, die etwas ganz Neues an die Stelle des Gegebenen setzen wollte. Ging es der Action darum, kämpferisch und mit Hilfe der Arbeiterbewegung die gegenwärtigen Strukturen und auch als artifiziell erachteten Traditionen zu zerschlagen, so betrachtete Barrés diesen Ansatz als unhistorisch. Es geht darum, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind und sie

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aus diesem heraus zu entwickeln. In der Geschichte Frankreichs als ganze hatte auch die gegenwärtige Konstellation mitsamt ihren Krisen ihren teleologisch verankerten Ort. Barrés vertrat, so Sternhell in seinem Buch La droite revolutionäre en France, einen „nationalisme conservateur" (STERNHELL 1978: 351) bzw. wurde, wie Éric Roussel in seinem Vorwort zur Ausgabe Romans et voyages formuliert, zu einem „républicain de resignation" (ROUSSEL 1 9 9 4 : L X X I I ) .

Seine Texte desavouieren Barrés letztlich als konservativen Aufklärer, der sich auch dem lebensphilosophischen Duktus der Zeit in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg nicht anschmiegte. Sein Haltung war deshalb bereits für Hermann Bahr, einen der wohl besten Barrès-Kenner der Jahrhundertwende, Anlaß zur Kritik, die jedoch noch fern der nationalistischen Ideologie im Jüngerschen Sinne angesiedelt ist. In der Sammlung Buch der Jugend nutzt der Essay Die Bücher zum wirklichen Leben eine Pflanzenmetapher, um Barrés' kulturanthropologische Prämisse des Ahnenbewußtseins einer Kritik zu unterziehen. Den Modernen gehe es so wie der Schwärmeralge. Eigentlich nicht mehr als ein grüner Faden im Wasser schlägt sie aus der Art, wenn sie sich bewegt, und erscheint plötzlich wie ein Fisch. Man hält sie für entartet, ihr wird angst, und sie beschließt, ihr altes Kleid wieder anzuziehen. Sie gibt auf und „kehrt in die Tradition zurück, um fortan wieder eine stille Pflanze zu sein, wie es die Väter waren: die Vergangenheit hat über die Zukunft gesiegt, die Verwandlung ist abgeschlossen" (BAHR 1908: 147). Sie hört auf zu schwärmen und hält sich an den Rat Barrés': „Je ne puis vivre que selon mes morts." (BAHR 1908: 147). Wie auch dieser Pflanze ist dem Menschen aber der Drang nach Freiheit eingeboren, darin - und nicht in der Abhängigkeit von den Ahnen - besteht sein Determinismus. Ziel der Erziehung müsse die „Verachtung der Vergangenheiten" (148), die „Lust [...] zur neuen Menschheit" sein. Diffus entwickelt dieser wie auch viele der anderen Essays eine mithin lebensphilosophisch anmutende Fiktion vom ,neuen Menschen', die sich eklektizistisch bei kurrentem kulturphilosophischem Gedankengut bedient. Jüngers neuer Nationalismus synthetisiert die beiden Kontrahenten und fugt dem barresianischen enracinement die Bewegung in die Zukunft hinzu, ohne diese, wie Bahr es verlangte, von der Vergangenheit zu lösen. Gerade unter diesem Aspekt der Dynamik offenbaren sich weitreichende Dissonanzen in den kulturtheoretischen Entwürfen und für die Begriffe des Nationalismus. Und es stellt sich die Frage, ob nicht doch besonders die Ungleichzeitigkeit ihrer Genesen stärkere Beachtung finden sollte. Denn die barresianischen Texte sind geprägt von der Verarbeitung innenpolitischer Krisen, insbesondere der Dreyfus-Affäre. Ihr Blick ist auf das Innere eines Landes gerichtet, das Barrés als décerebrée ( B A R R É S 1967: 48) bezeichnet und das vorerst noch die Gesundung, die Einwurzelung vorzunehmen hat, die Jüngers Texte als vorhanden und in gewisser Weise unhintergehbar in der Natur des Menschen voraus-

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setzt. Barrés' Texte arbeiten auf der Grundlage der Vorstellung eines zutiefst zerrissenen Landes, die sich den zeitgeschichtlichen Umständen verdankt, die ihresgleichen suchen. Auch wenn die Texte auch ohne dieses Wissen eine unterschiedliche Sprache sprechen, so hilft es dennoch, diese Sprachen besser z u verstehen und zu kontextualisieren. Ein ,Vergleich des Ungleichzeitigen' muß sich ihren Dissonanzen stellen.

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ULRICH BARON

Ordnung der Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang Zur Lebenskunst Ernst Jüngers

Im Zuge der unlängst grassierenden Polarbegeisterung erschien neben zahlreichen Expeditionsgeschichten auch das Buch Shackletons Führungskunst, in dem es, wenn man den Pressetexten glauben darf, darum ging, was Manager von dem berühmten Antarktisforscher lernen könnten. Nun sind die Expeditionen, an denen Shackleton teilnahm und besonders jene, die er geführt hat, durchweg gescheitert. Doch Shackleton hat immerhin alle seine Männer retten können, was viele Manager tatsächlich noch lernen müssen. Auch den Expeditionen des 1895 geborenen Ernst Jünger war das Glück nicht hold. Sein Engagement in der Fremdenlegion war sehr knapp befristet, die Kriege, an denen er aktiv teilnahm, gingen beide verloren, und in der Politik siegten 1933 jene Kräfte, die es am billigsten machten. Seine beiden Söhne hat er nicht einfach nur überlebt, sondern auf tragische Weise verloren, und er ist dabei, bis zuletzt schreibend, über hundert Jahre alt geworden. Angesichts dieser Ausnahmebiographie wäre es unsinnig, Ernst Jüngers Leben als paradigmatisch auffassen zu wollen: Sein Weg durch Kaiserreich und Ersten Weltkrieg, Weimarer Republik, Naziherrschaft und Zweiten Weltkrieg, schließlich durchs geteilte und wiedervereinigte Deutschland erscheint als einzigartige Kette historischer und persönlicher Krisenerfahrungen, auf die Jünger in heute oft nur schwer nachvollziehbarer Weise reagiert hat. Naiv erscheinen vor diesem Hintergrund manche Erwartungen, noch der hochbetagte Autor hätte bestimmte inkriminierte Positionen seines Frühwerks korrigieren und möglicherweise sogar umschreiben sollen. Gerade sein Starsinn in dieser Hinsicht war Beharren auf Zeitzeugenschaft. Gleichwohl ließe sich die Akzentuierung kritisieren, zumal von einigen wichtigen Lebens- und Werkphasen Jüngers gewissermaßen nur die Akzente überliefert zu sein scheinen, die vor allem seine Kriegsbücher und seine radikal nationalistische politische Publizistik gesetzt haben. Unter dem Stichwort „Lebenskunst" sollen hier deshalb Hinweise darauf gesammelt werden, daß die besondere Akzentuierung des Jüngerschen Frühstwerks, der Kriegsschriften und politischen Publizistik zumal, nur einen

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kleinen Ausschnitt und diesen unvollkommen erfaßt, weil sie bestimmte Rollen und einen bestimmten publizistischen Gestus verabsolutiert. Einen Gestus, der durch das Umfeld, in dem die Werke erschienen, zumindest mitgeprägt worden sein dürfte. Das mindert keineswegs den Wert einschlägiger Analysen, verstärkt aber den Wunsch nach einer lebensgeschichtlichen Gesamtdarstellung, die bislang noch nicht vorliegt. Dabei ginge es zum einen um biographische Details vor allem auch jener Lebensphasen, die diaristisch nicht abgedeckt sind. Zum anderen aber auch um die Tatsache, daß Jüngers zentrales Werk, die Tagebücher, das Dokument einer in seiner zeitlichen Ausdehnung beispiellosen Versuchs sind, die Erfahrung eines ganzen Jahrhunderts literarisch zu fassen - um eine enorme Integrationsbemühung, die einem oft widersprüchlichen Leben in unruhigen Zeiten gewidmet ist. Ernst Jüngers Werk enthält, neben vielem anderen, auch die Geschichte eines mit Fassung, Würde und Neugierde erlebten Alterns - was ihm angesichts der demographischen Lage nicht nur in Deutschland zunehmende Aktualität verschaffen wird. Zur Lebenskunst Ernst Jüngers gehört freilich auch die Einsicht, daß aller Anfang schwer ist. Ungewöhnlich selbstironische Beispiele daftlr lieferte Jünger mit seinem 1970 erschienenen Erinnerungsbuch Annäherungen - Drogen und Rausch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in einem Hotel der Saale-Stadt Halle zu einer unschönen Szene. Ein junger, nur mit einem Pyjama bekleideter und offenbar von allen guten Geistern verlassener Hotelgast rannte in Panik über den Flur, riß wahllos Türen auf, lief barfuß die Treppen zur Rezeption hinab, stieß dabei Leute an und warf Koffer um (JÜNGER 1980: 218). Erst nach Intervention seiner mitreisenden Mutter beruhigte sich der Unruhestifter halbwegs und ward bald darauf von einem eilends hinzugezogenen Arzt durch Verabreichung einer starken Dosis Mokka wieder vollends zu Sinnen gebracht. Ein findiger Lokalreporter hätte seinen Bericht über diesen peinlichen Zwischenfall mit den Zusätzen garnieren können, daß es sich bei dem - vermutlich von einer akuten doch atypischen Fischvergiftung befallenen - Unruhestifter um den Apothekersohn Ernst J. gehandelt habe, um den Verfasser bekannter Kriegsbücher und einen der höchstdekorierten Frontsoldaten des Weltkriegs. Überliefert ist diese Geschichte freilich nur vom Unruhestifter selbst, der sie im Rückblick etwas vage auf „die ersten zwanziger Jahre" (JÜNGER 1980: 210) datiert und dafür enthüllt, daß nicht der offiziell inkriminierte und titelgebende Polnische Karpfen, den er mittags zuvor in einer Leipziger Bahnhofsgaststätte verzehrt hatte, der Auslöser seiner Panikattacke gewesen sei, sondern eine Überdosis Haschisch, das er in einer Gerümpelkammer der väterlichen Apotheke entdeckt hatte.

Ordnung der Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang. Zur Lebenskunst Jüngers

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Zwar ist die Datierung ungenau, doch muß Ernst Jünger damals schon auf die Dreißig zugegangen sein, und es ist doch erstaunlich, daß ein erwachsener Mann ausgerechnet eine Reise mit seiner Mutter nutzt, um an einem ihm unvertrauten Ort ein ihm unvertrautes Rauschmittel auszuprobieren. Zumal er mit der Dosierung nicht erst beim Haschisch Probleme gehabt hatte. Als „dicker Hund" (JÜNGER 1980: 209) habe es vielmehr zu ähnlich unangenehmen Erlebnissen mit Kokain und Chloroform kommen müssen, um ihn eine gewisse Vorsicht zu lehren, berichtet Jünger in den Annäherungen. Es geht hier nicht um die Macht der Räusche. Es geht um das Lachhafte der Situation: Ein Held des Weltkrieges, ein in einschlägigen Kreisen geachteter Kriegsschriftsteller, der sich gerade anschickte, zu einem der publizistischen Leitwölfe des soldatischen Nationalismus zu mutieren, hätte sich dabei beinahe abgrundtief kompromittiert. Angesichts dieser Szene scheint es ratsam, die Rollen, die Ernst Jünger als Soldat und als politischer Publizist einnahm, mit Skepsis zu betrachten - und das heißt eben, sie als Rollen ernst zu nehmen. Als Rollen die Jünger sehr ernsthaft und mit der ihm eigenen Zähigkeit spielte, ohne damit jedoch schon den angestrebten Platz im Leben gefunden zu haben. Fremdenlegionär, Soldat, Kriegsschriftsteller, politischer Pamphletist, Ästhet des Schreckens - all dies hat Jünger zeitweilig erfolgreich, aber nie auf Dauer verkörpert. Doch provozierte er immer wieder dazu, ihn auf diese Rollen festzulegen, obwohl sie in seinem über hundertjährigen Leben nur episodischen Charakter hatten. Als 91-Jähriger hat Jünger den Halleyschen Kometen zum zweiten Mal beobachten können, und dieses kosmische Ereignis legte es nahe, Bilanz zu ziehen. In Parabat notiert er am 19. April 1986: Einen Tag ohne Lektüre kann ich mir kaum vorstellen, und ich frage mich oft, ob ich nicht im Grunde als Leser gelebt habe. Die Welt der Bücher wäre dann die eigentliche, zu der das Erlebnis nur die erhoffte Bestätigung darstellte - und diese H o f f n u n g würde stets enttäuscht. Die Wirkung mag dadurch entstehen, daß die Autoren den Stoff in höherer Ordnung vortragen und er sich daher besser einprägt als das Gewebe der biographischen Zufälle. Wir sehen nur den Rücken des Gobelins. Daher finde ich mich auch besser in einem guten Roman als in der eigenen Biographie zurecht. (JÜNGER 1995: 50)

Wenn des Erleben die Hoffnungen stets enttäuscht, dann lohnt ein strategischer Rückzug. So kultivierte der Protagonist des soldatischen Nationalismus zwar den antibürgerlichen Affekt, schrieb aber am 2. August 1925 an seine „liebe Großmutter": Ich möchte dir nun mitteilen, daß ich mich in den nächsten Tagen zu verheiraten gedenke, und zwar mit dem Fräulein v. Jeinsen, mit dem ich j a bereits fast drei Jahre verlobt bin. Sie ist jetzt 19 Jahre alt und ich 30, und da wird es allmählich Zeit,

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daß ich an die Gründung einer Familie denke. Da die äußeren Verhältnisse zufriedenstellend sind, so bestehen hinsichtlich unserer Verbindung keine Bedenken mehr, ich habe das Bedürfnis in ein ruhigeres Leben einzutreten, (zit. nach SCHWILK 1 9 8 8 :

101)

Hier klingt eine gewisse haushälterische Sorge an, die Ernst Jünger freilich sehr bald an seine Gattin und später auch an diverse Sekretäre und sonstige Hilfskräfte zu delegieren gewußt hat. Wenn Umzüge anstanden, war der Hausherr meist gerade auf Reisen, um nach seiner Rückkehr dann etwa in Wilflingen am 21. November 1965 zu notieren: „Bestückung der neuen Bibliothek, deren Regale ich während der Reise aufrichten ließ" (JÜNGER 1980a: 222). Ebenfalls in Wilflingen, 23. Januar 1984 wird ein peinliches Versäumnis festgehalten: „Die Korrespondenz harrt seit zwei Jahren der Einordnung. [...] Die Hausfrau, neben vielem anderen auch Archivarin, wird den Anschub auf den aktuellen Stand bringen" (JÜNGER 1993: 317). Und am selben Ort sieht sich Ernst Jünger am 28. Februar 1985 vom Leben auf eine harte Probe gestellt: „Das Stierlein ist in Stuttgart. Ich mußte selbst ans Telefon und hörte aus Bonn, daß mir der Bundeskanzler am Morgen des 29. März hier in Wilflingen gratulieren wird. Ich weiß dies zu würdigen" (JÜNGER 1993: 493). Wenn Jünger am 30. April 1943 einen Brief von Helene Morand erhielt, in dem diese die Lebenskunst definiert als „die Kunst andere Leute zur Arbeit zu zwingen, während man selbst genießt" (JÜNGER 1980/11: 54), so mag in dieser Bemerkung auch eine leise Kritik gelegen haben, die der Empfänger freilich nicht auf sich bezog. Was Jünger genoß, war auch nicht die bloße Untätigkeit, sondern die Kontemplation, die Muße, die selbstbestimmte Tätigkeit, zu der auch Pflichten wie die ungemein umfangreiche Korrespondenz gehörten. Und auch beim vollkommenen Müßiggang bewahrte Jünger noch eine gewisse Disziplin. Aus dem norwegischen Eidsbygda schreibt er am 19. Juli 1935: Hier im Lande Romsdalen habe ich mich mit solchem Eifer aufs Faulenzen verlegt, daß mir kaum eine freie Minute mehr bleibt. Ich nehme mir dabei ein Beispiel an Celsus, den seine Frau, wenn er so barfuß, hemdärmlig und mit einem Fischnetz auf seinem Rücken daherkommt, zuweilen kopfschüttelnd betrachtet, wobei sie halb spöttisch halb anerkennend ,Herrgott, bist du heruntergekommen' sagt. Zum Glück stören uns die Patienten kaum, und wenn sich doch einer einfindet, nehmen wir ihn zum Fischen mit, und Celsus redet ihm dabei die Grillen aus. [...] Für solche, die durchaus nicht ohne Medizin gesund werden wollen, hat Celsus eine große Flasche mit ,tinctura ad longam vitam' stehen - das ist ein gelbes Elixier, das Wunder wirkt. (JÜNGER 1 9 4 9 :

16)

Am selben Orte schreibt er am 31. Juli 1935 auch: Was mich angeht, so würde ich, wenn ich von der Hand zu leben hätte, wohl als Fischer guter Laune sein [...]. Es gibt in diesem Berufe vieles, was meinen Neigungen

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und meinem Temperament entspricht - wie die stille Beobachtung verborgener Vorgänge. (JÜNGER 1949: 41)

Ein halbes Jahrhundert später dann fragt er in Wilflingen am 27. September 1984: Wie erklärt sich die nie endende Lust an der Pilzsuche, deren Mühe in keinem Verhältnis zum Ergebnis steht? Sie muß sehr weit zurückreichen. Dinge, die uns der Zufall bietet und die dem, der sie ergreift, gehören, besitzen einen besonderen Vorzug vor den käuflichen. (JÜNGER 1993: 434)

Mehr noch als für den Pilzsucher Ernst Jünger gilt dies für den Entomologen, der seinen Subtilen Jagden ein Buch und sehr viel Lebenszeit gewidmet hat. Das Bild vom Insektensammler mit dem Fangnetz - und es gibt hier auch von einem Nabokov ganz hinreißende Schnappschüsse - ist freilich ein Klischee, das der Ernsthaftigkeit dieser Leidenschaft nicht ganz gerecht wird. Der Sammler ist hier immer auch Systematiker, und wer seinen Namen einer Spezies anhängen kann, ist der Unsterblichkeit vielleicht näher als der Verfasser von Büchern. Aus seiner Rede anläßlich des Ernst-Jünger-Preises notiert er in Wilflingen am 9. Juni 1986: Doch nicht nur die Entoma locken, auch die Gesellschaft von Entomologen hat einen besonderen Reiz, der dem eines letzten Ordens vergleichbar ist. Man weiß voneinander, man hat seine geheimen Kennworte und Zeichen, man fordert sich gegenseitig ohne viel Aufhebens, man arbeitet con amore, die meisten als dienende Brüder und umsonst. (JÜNGER 1995: 104)

Glücklich, weil zumeist fern der Staatsgeschäfte hat Jünger sich in die Rolle des Autors, des Sammlers, des Waldgängers und Privatgelehrten eingerichtet, und auch seine nach 1945 fortgesetzten Drogenexperimente heben sich deutlich vom Hallenser Debakel ab. Als der Schweizer Chemiker und LSD-Entdecker Albert Hofmann Ernst Jünger Anfang Februar 1951 zum „großen Abenteuer" (HOFMANN 1993: 157) einlädt, hat er umsichtigerweise nicht nur „ärztlichen Beistand" organisiert und die Dosis, wie sich dann zeigen sollte, zu niedrig angesetzt. „Da die Reaktion eines so hochsensiblen Menschen wie Ernst Jünger nicht vorauszusehen war, wurde für diesen ersten Versuch vorsichtshalber eine niedrige Dosierung gewählt" (HOFMANN 1993: 157), schreibt der Gastgeber - so als wäre er schon damals in Halle dabei gewesen. Die Sitzung in Bottmingen verlief jedoch ohne Komplikationen und inspirierte Jünger zu seiner Erzählung Besuch auf Godenholm. Was ein Vierteljahrhundert zuvor noch beinahe zur Katastrophe geführt hätte, vollzog sich auf Schweizer Boden im gutbürgerlichen Rahmen und wurde auch in diesem Sinne beschlossen: „Die Ankunft im altvertrauten Sein wurde mit einem guten Abendessen, bei dem der Burgunder reichlich flöß, gefeiert." (HOFMANN 1993: 158).

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Bei einem anderen guten Essen war Jünger aber lange zuvor jener Polnische Karpfen noch einmal hochgekommen. Dank des Eingreifens der Mutter hatte sich die Affare seinerzeit statt zum Skandal lediglich zur familiären Anekdote entwickelt, an die Frau Jünger einmal und wie es scheint nicht ohne eine gewisse Süffisanz beim sylvesterlichen Karpfenessen im Kreise ihrer Kinder und Enkel erinnerte, als sie darauf hinwies, daß dieser Karpfen frisch und warum dies sehr wichtig sei: , D e n n ' , so fügte sie hinzu, ,was eine Fischvergiftung ist, das habe ich damals in Halle g e s e h e n . Ernst kann ein Lied davon singen, nicht wahr?' ,Ja, das war eine üble Sache', sagte ich und fühlte, daß ich rot wurde. 1980:

(JÜNGER

220)

Die Mutter hatte ihn in Verlegenheit gebracht, nachdem sie ihn seinerzeit aus einer viel größeren gerettet hatte. Ernst Jünger erzählt diese private Reminiszenz in Annäherungen. Drogen und Rausch aus der Distanz eines halben Jahrhunderts und kommentiert sie mit der Feststellung: „Mitleid geerntet, wo ich es am wenigsten verdient hätte." (JÜNGER 1980: 220). Doch um diese Ernte einfahren zu können, hatte Jünger es trotz seines Zustande damals geistesgegenwärtig geschafft, alle Schuld dem vollkommen unschuldigen Karpfen in die Schuhe zu schieben, was ihm Anlaß zu folgender Erwägung gibt: Hier m ö c h t e ich den erstaunlichen A u f w a n d an List w e n i g s t e n s streifen, d e s s e n wir fähig sind, während im Dachstuhl schon große Unordnung herrscht. Offenbar ist d i e s e List tiefer in uns verwurzelt als der Intellekt.

(JÜNGER

1980: 2 2 0

f.)

Auch wenn Ernst Jünger bei seinem Hallenser Auftritt durchaus nicht als der Souverän erscheint, der über den Ausnahmezustand gebietet, hat er ihn doch mit einem blauen Auge überstanden, das nur fur ihn selbst und vielleicht auch fur die Mutter sichtbar war. Will man im Falle Jüngers von Lebenskunst sprechen, so gehört dazu auch sein Talent solchen unverdienten Beistand zu finden und in Anspruch zu nehmen. Sei es den mütterlichen, sei es den eines präintellektuellen Instinktes, der hier als List erscheint. Ohne dieses Talent wäre sein Name nur einer von vielen in den Akten der Fremdenlegion, der Gefallenen des Ersten Weltkriegs, der Opfer des Dritten Reichs. Schwächeren Naturen hätte solch unverdiente Hilfe möglicherweise Gewissensbisse beschert. Für Jünger hingegen erscheint es als eine Art Naturprinzip, das - nebenbei bemerkt - in einem aparten Gegensatz zur Konzeption des Mutualismus, der gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, steht, die nicht nur von Anarchisten wie dem Fürsten Kropotkin, sondern auch von Ethologen und Evolutionsforschern erwogen wird. So notiert Jünger nach der Rückkehr von einer seiner zahlreichen Reisen in Bremerhaven am 7. Oktober 1965:

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Wie kommt es, daß ich immer wieder Freunde finde, deren Zuneigung ich nicht verdient habe? So Werner Traber, der mich zu dieser Reise, ich muß wohl sagen, überredet hat. So Heinrich Stülpnagel, der meinte, ich müsse nach der Konzeption des ,Arbeiters' unbedingt die russische Wirklichkeit sehen. Der französische Arzt auf dem Fort Saint-Jean, der Gefreite Hengstmann, der fiel, als er mich aus dem Feuer trug. Und immer wieder der Vater, der eingriff, wenn ich mich hoffnungslos verrannt hatte. Es muß ein Prinzip der unverdienten Hilfe geben, ohne daß wir alle verloren wären, und zwar von Anfang an. (JÜNGER 1980a: 209)

Statt den Soldaten und Rauschgiftesser Emst Jünger schlichtweg als leichtsinnig zu bezeichnen, ließe sich im Licht dieser Ausführungen sagen, er habe sich instinktiv auf jenes Prinzip der unverdienten Hilfe verlassen, das erst retrospektiv für ihn erkennbar wurde. Wer viel riskiert, wird unverhofft, aber nicht ganz unverdient, dafür belohnt, könnte die Maxime lauten. Der erstaunliche Umstand, daß Ernst Jünger den Krieg und andere Abenteuer überstand, während Millionen ihm zum Opfer fielen, wird damit aus dem unsicheren Terrain des blinden Zufalls in den Geltungsbereich höherer Lebensprinzipien hinübergerettet. Die literarische Sinngebung des Sinnlosen erfaßt rückblickend auch die private Lebensgeschichte. Deren wichtigstes Instrument ist das Tagebuch, das sich nicht in Positivismus erschöpft. Hierzu paßt eine Eintragung aus Wilflingen vom 20. März 1980, in der Jünger postuliert: „Ein Tagebuch ist wichtig, fast wie das Gebet, das es zum Teil auch ersetzt." (JÜNGER 1981: 587). Worum aber geht es beim Gebet? Doch wohl um die Anrufung einer höheren Macht, die einen nicht nur vor Unheil, sondern auch vor der Desillusionierung und Demoralisierung durch den Positivismus und naturwissenschaftlich geprägten Rationalismus bewahren soll. Letztendlich geht es darum, sich Glaube und Hoffnung zu bewahren, auch über den Lebenshorizont hinaus. Sein Buch über Drogen und Rausch hat Jünger Annäherungen genannt, und plädiert darin für eine Liberalisierung jener Gesetze, die den Gebrauch von Betäubungsmitteln regeln: In dieser Hinsicht sollte es von einem gewissen, etwa vom pensionsfähigem Alter ab keine Beschränkungen mehr geben - denn flir den, der sich dem Grenzenlosen nähert, müssen die Grenzen weit gesteckt werden. (JÜNGER 1980: 10)

Die Annäherungen, um die es hier geht, sind die an den Tod: Hat man auch nur im mindesten den Verdacht, daß es weitergehen könnte, und dafür sprechen Gründe, so sollte man wachsam sein. Dem folgt notwendig die Vermutung, daß es Qualitäten des Überganges gibt. (JÜNGER 1980: 10)

Solche Wachsamkeit verwundert nicht bei einem Mann, den der Tod so lange vergeblich verfolgt hat. Am Rande seiner Wiederbegegnung mit Halley's Kometen schreibt er in Parabat am 18. April 1986:

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M i c h b e s c h ä f t i g t v i e l m e h r seit l a n g e m die F r a g e des Ü b e r g a n g e s : ein irdener B e c h e r w i r d in G o l d v e r w a n d e l t u n d d a n n in Licht. D a r a n b e u n r u h i g t nur eines: ob d i e s e E r h ö h u n g n o c h z u r K e n n t n i s g e n o m m e n wird, n o c h ins B e w u ß t s e i n fällt. (JÜNGER 1 9 9 5 :

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Empirisch sind solche Übergänge bislang noch nicht belegt. „Der Positivismus und der Naturalismus lieferten doch nur grobe Ausschnitte, nur Oberflächenreliefs" (JÜNGER 1980/1: 19), postuliert Jünger deshalb auch im Vorwort der Strahlungen. Und fährt fort: „Hier läßt sich ansetzen. Im Sichtbaren sind alle Hinweise auf den unsichtbaren Plan." (JÜNGER 1980/1: 19). Als Sammler von Träumen und letzten Worten ist Jünger diesen Hinweisen nachgegangen. Lebenskunst heißt auch jederzeit bereit, jederzeit auf der Höhe zu sein: „So sind wir rastlos bemüht, die Lichterfluten, die Strahlengarben zu richten, zu harmonisieren, zu Bildern zu erhöhen. Leben heißt ja nichts anderes" (JÜNGER 1980/1: 13), heißt es an gleicher Stelle. Ganz in diesem Sinn hält Ernst Jünger dann am 27. Mai 1944 in Paris zwei Szenen fest, die zu den anstößigsten seines Werks gerechnet werden. Die erste ist ganz sachlich festgehalten: A l a r m e . Ü b e r f l i e g u n g e n . V o m D a c h e des , R a p h a e l ' sah ich z w e i m a l in R i c h t u n g v o n S a i n t - G e r m a i n g e w a l t i g e S p r e n g w o l k e n aufsteigen, w ä h r e n d G e s c h w a d e r in g r o ß e r H ö h e d a v o n f l o g e n . Ihr A n g r i f f s z i e l w a r e n die F l u ß b r ü c k e n . A r t u n d A u f e i n a n d e r f o l g e der g e g e n d e n N a c h s c h u b gerichteten M a ß n a h m e n deuten auf e i n e n feinen Kopf. (JÜNGER 1 9 8 0 / 1 1 : 2 7 0 )

Die zweite Szene schließt zwar unmittelbar daran an, wird aber vom Autor ausdrücklich dagegen abgesetzt: B e i m z w e i t e n M a l , bei S o n n e n u n t e r g a n g , hielt ich ein Glas B u r g u n d e r , in d e m E r d b e e r e n s c h w a m m e n , in der H a n d . D i e Stadt mit ihren roten T ü r m e n u n d K u p p e l n lag in g e w a l t i g e r Schönheit, gleich e i n e m Kelche, der zu tödlicher B e f r u c h t u n g ü b e r f l o g e n wird. Alles w a r Schauspiel, war reine, v o n S c h m e r z b e j a h t e und e r h ö h t e Macht. (JÜNGER 1 9 8 0 / 1 1 : 2 7 0 )

Die erste Szene steht im Zeichen des Positivismus, die zweite ganz im Zeichen der Erhöhung zu Bildern. In der ersten ist Hauptmann Jünger ein militärischer Beobachter. In der zweiten Ehrengast in der Loge, der einem grandiosen Schauspiel beiwohnt. Er hat die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Angriff nicht nur genutzt, um Burgunder und Erdbeeren zu bestellen, er hat die Position des Beobachters gegen die neronische Pose getauscht. Der Mann, der hier sein Glas in einen Himmel voller Bombenflugzeuge erhebt, könnte bald zu deren Opfern zählen - „qualis artifex pereo", könnte der Trinkspruch gelautet haben. Ernst Jünger ist später fur diese Szene ausgiebig kritisiert worden, wobei seine Kritiker übersahen, daß er darin vielleicht dem eigenen Tode zugeprostet hat. Doch es gehört zu seinem Fatum, daß er solch provozierenden Rollen und

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Posen so eindrucksvoll zu spielen vermochte. Aus Wilflingen schreibt er am 8. April 1981 an Carl Schmitt, der mit ähnlichen Erfahrungen zu kämpfen hat: Mein Image wurde nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen durch Kriegervereine und nach dem Zweiten durch Studienräte und Professoren, die während des Dritten Reiches den Mund gehalten hatten - daß ich es nicht getan, wurmte sie desto mehr. Damit muß man sich abfinden - das Gesicht bleibt für die Freunde reserviert. (JONGER 1993: 62)

Nur unzulänglich kann diese trotzige Haltung eine tiefgreifende Enttäuschung Jüngers kaschieren. Fünf Jahre später greift er das „Prinzip unverdienter Hilfe" in Parabat am 22. April 1986 noch einmal auf: Nach Mitternacht weckt mich eine Dankeswelle für Eltern, Lehrer, Kameraden, Nachbarn, unbekannte Freunde, ohne deren Hilfe ich nie mein Alter erreicht hätte. [...] Ob in leichten Havarien, ob in schweren Katastrophen - es war immer einer da. Das kann kein Zufall sein. (JÜNGER 1995: 57)

Doch ist das schon alles, was möglich gewesen wäre? Was hat also gefehlt - abgesehen davon, daß ich es in jedem anderen Land der Welt weiter gebracht hätte?", fragt sich Jünger: „Ich meine, es fehlte einer, der den Weg kennt, also ein Kundiger. Er hätte mir viel Umwege erspart. (JÜNGER 1995: 57 f.)

In der Gestalt des Nigromontan/Schwarzenberg hat dieser Kundige zumindest literarisch Gestalt gewonnen. Schwarzenberg ist der Name einer Stadt im Erzgebirge, wo Jünger als Kind wohnte, und sein Biograph Heimo Schwilk bemerkt in einer Bildunterschrift: Schwarzenberg „wurde ihm wie Hameln in der Erinnerung zum Inbegriff des Mittelalters und zum Fluchtpunkt seiner Sehnsucht nach einer unwiderruflich vergangenen, in ihrer Fülle und Geschlossenheit vorbildlichen Epoche." (SCHWILK 1988: 15). Der Kundige und die Welt als planvoll geschlossenes System gehören zu den nie erlangten Desideraten des Anarchen Ernst Jünger. Was ihm stets blieb, waren die kleinen Welten, die entomologischen Mikrokosmen, die Gärten, die Bibliothek und das Archiv. „Irgendwo im Universum muß Ordnung herrschen, und sei es nur in der einsamen Betrachtung" (JÜNGER 1981: 263), schreibt er in Wilflingen, 18. Dezember 1975 anläßlich eines entomologischen Fundortzettels. Sein ganzes diaristisches Spätwerk steht unverkennbar im Zeichen einer solchen Ordnung - der Welt und des eigenen Lebens. Und gilt dies nicht mittelbar auch für sein gesamtes Werk? HansHarald Müller hat in seinem Buch Der Krieg und die Schriftsteller sehr detailliert nachgezeichnet, wie Jünger sein Kriegserlebnis durch fortwährende Interpretation und Re interpretation mit Sinn zu versehen suchte. Es konnte nicht angehen, daß man lange Jahre für nichts vertan hatte. Auch war ihm der Gedanke einer Welt ohne Käfer unerträglich. Gegen das, was lange später Globalisierung und Artenschwund heißen sollte, hat er schon früh

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die alten Mythen mobilisiert, und als Tropenreisender hielt er in Cape Mount am 27. November 1975 fest: Am Abend beim Wein auf der Terrasse wieder einmal der vollkommene Selbstgenuß. Ist es nun ,Selbst'-Genuß oder das Verschmelzen mit der windstillen Wärme der tropischen Luft? Vielleicht Erinnerung an vergangene Erdalter - an Zeiten, in denen weder Federn noch Felle nötig waren und in denen es keinen Winter gab. (JÜNGER 1 9 8 1 : 2 7 9 )

Solche Erwägungen geben dem simplen Wohlbehagen eine Tradition nach geologischem Zeitmaß und setzen dem Selbstgenuß damit die Krone auf. Als unermüdlich sammelnder und schreibender Ordnungsstifter stand Jünger freilich vor dem Problem der wunderbaren Vermehrung seines Materials, die sich nicht nur im ständigen Anwachsen der Bibliothek zeigte. In Kuala Lumpur notiert er am 8. April 1986: Es wird behauptet, daß zwischen einer angeborenen Neigung und dem Altern Beziehungen bestehen. Was man oft und gern treibt, möchte man immer tun. Das spiegelt sich in den Vorstellungen der Paradiese - fur den Jäger sind es die Ewigen Jagdgründe. Zu den Jägern zählt auch der Sammler, gleichviel, worauf sich sein Trieb richtet. Sammler sind unersättlich; daher sollen auch Geizhälse sehr alt werden. (JÜNGER 1 9 9 5 : 2 7 )

In diesen Ewigen Jaggründen hätte Jünger sich schon zu Lebzeiten verlieren können, wenn er sich nicht selbst zur Ordnung gerufen hätte. In Wilflingen, notiert er am 4. Februar 1984: Ich darf mich nicht zu oft mit meinem Archiv beschäftigen. Während des Nachschlagens kam mir der Brief eines jungen Gefreiten Otto Mehrgardt zu Händen, der mir im Dezember 1939 vom Westwall aus seine Sorgen und seine Gedanken zur Lage mitteilte - damit könnte ich den Vormittag zubringen. (JÜNGER 1993: 322)

Ein ihm entfernt Geistesverwandter, der dies aber heftigst bestritten hätte, Arno Schmidt, hat einstmals mit dem Gedanken gespielt, einzuwachsen im Walde, um den Zeitläuften zu entkommen. Bei Jünger liest sich das so: Wilflingen, 24. Februar 1986. Seit nunmehr sechsunddreißig Jahren beobachte ich nach dem Aufstehen die Umfassung des Treibbeetes im Garten und schätze an ihr die Schneehöhe. Heut morgen war nicht nur zum ersten Mal der Pegel, sondern das ganze Beet unsichtbar geworden - weiß überdeckt. Trotzdem wird mein geheimer Wunsch, einmal völlig einzuschneien, hier kaum erfüllt werden. (JÜNGER 1995: 18)

Einschneien lassen, die große Welt aussperren lassen, um sich ganz den in Jahrzehnten gesammelten Schätzen widmen zu können. Geizhälse sollen sehr alt werden, hatte er noch im Frühjahr in einem seltenen Anflug von Selbstironie geschrieben. Doch selbst Geizhälse können nichts mitnehmen. Sechs Jahre später beschreibt Ernst Jünger ein anderes, fast nicht mehr irdisches und fast wieder kindliches Vergnügen: „Wilflingen, 28. Oktober 1992: Bei guter Sonne lasse ich Seifenblasen über den Garten und seine Blumen

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schweben; sie sind das Sinnbild des Vergänglichen. Und sie sind schön." (JÜNGER 1 9 9 7 : 9 5 ) .

Literaturverzeichnis HOFMANN, Albert (1993): LSD - mein Sorgenkind. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. JÜNGER, Ernst (1949): Myrdun. Briefe aus Norwegen. Tübingen: Heliopolis. Jünger, Ernst (1978-2001): Sämtliche Werke. 18 Bände und 4 Supplement-Bände. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1980): Annäherungen. Drogen und Rausch. Frankfurt/M., München, Berlin: Ullstein. JÜNGER, Ernst (1980a): Siebzig verweht I. In: Jünger 1978-2001, Bd. 4; 5 - 6 0 9 . JÜNGER, Ernst (1980/1 und 1980/11): Strahlungen. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1981): Siebzig verweht II. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1993): Siebzig verweht III. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1995): Siebzig verweht IV. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1997): Siebzig verweht V. Stuttgart: Klett-Cotta. MÜLLER, Hans-Harald (1986): Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler SCHWILK, Heimo (1988) (Hg.): Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Zeitstruktur und sozialgeschichtliche Aspekte in Jüngers Erzählung Die Zwille Erinnerung an Geschichte, Geschichten aus der Erinnerung - das könnte man vor die poetologischen Reflexionen Ernst Jüngers setzen, als er die Erzählung Die Zwille 1973 niederschrieb. Autobiographie und Fiktion schmelzen beim Schreiben in diesem Werk ineinander. An die Stelle des theoretischen Diskurses über den geschichtlichen Verlauf der Vorkriegsjahre rückt die Erzählung, die ständig durchbrochen wird mit Reminiszenzen an die eigene Vergangenheit und eingeflochtenen Anekdoten aus dem Alltag der damaligen Zeit. Durch eine bestimmte Erzählform versucht Ernst Jünger eine Episode der Geschichte in den Griff zu bekommen: die Erzählung, als Verlängerung und Übertragung seiner historisch-philosophischen Betrachtungen über die Zeit. Da bezieht sich das Werk auf eine außerliterarische vergangene Realität und legt dabei Potentiale frei, die dem Leser Anregungen zum Weiterdenken geben. Über die Erzählung hinaus schreibt Jünger die Geschichte von dem, was die Menschen damals, als er jung war, Wahrheiten nannten und von ihren Kämpfen um diese Wahrheiten. Mit anderen Worten: er zeigt, wie seine Figuren Regeln, Praktiken oder Grundsätzen folgen und damit ihrer Mitgliedschaft in der damaligen Gemeinschaft gerecht werden. Dieses Ensemble der Praktiken zu diesem bestimmten Zeitpunkt bringt ein einzigartiges historisches Gesicht hervor. Nach seiner darstellerischen Absicht ist die Kunst Ernst Jüngers magisch, sie will alle diejenigen Gefühle, von denen seine damaligen Landsleute unbewusst besessen waren, seinem Leserpublikum in bewusster Form mit Worten ausmalen. Die von ihm beschriebenen einzelnen kleinen Gemeinschaften sind nur im Zusammenhang mit der Gesamtheit der Polis zu verstehen. Die unbenannte Polis stellt den geschlossenen Rahmen der Erzählung dar, in der konkrete Geschehnisse und Fakten geschildert werden. Der Autor idealisiert sie nicht, ästhetisiert sie nicht ; es geht um die Wiedergabe alltäglichen Lebens mit seinen Licht- und Schattenseiten. In seinem Gemälde der Stadt steigert Jünger die Farben an äußerer Kraft wie an Intensität, bis es schmerzhaft wird vor Wirklichkeit. Um mit Gérard Genette zu sprechen gibt es in einer Erzählung „narrative Objekte", in Die Zwille ist das erste von ihnen das Bangen, die Angst Ciamors,

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das zweite, Oldhorst, das Dorf, woher er kommt, das dritte, der Platz, der zentral im Bild der im Buch dargestellten Stadt steht: An jeden Morgen fasste ihn das Bangen an, als ob die Riemen des Tornisters ihm die Brust zuschnürten. Er musste heftiger atmen und bekam doch keine Luft. „Japsen" nannte man das in Oldhorst. Und wenn er auf den Platz trat, packte ihn die A n g s t . (JÜNGER 1 9 8 8 : 9 )

Ciamors Angst ist tatsächlich der narrative Ausgangspunkt, der auf den roten Faden der Erzählung hinweist. Zugleich tritt Clamor auf, wenn nicht als Held der Erzählung, so doch als temporaler Referenzpunkt, indem die Dualität der erzählten Zeit, alt/neu, Dorf/Stadt durch sein subjektives Empfinden zum Ausdruck gebracht wird. Im ersten Satz des Textes werden die zeitlichen Anhaltspunkte gegeben, die dem Leser erlauben, Retrospektionen und Gegenwart wieder zu erkennen. Die Zwille beginnt also mit dieser geistigen Bewegung zwischen Erinnerung und Wahrnehmung des Gegenwärtigen, die für die Gesamtheit der Erzählung bestimmend ist. Die Reminiszenzen, die unwillkürlich der Erinnerung Ciamors entspringen, führen einen Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit ein, der dem Leser dazu verhelfen soll, sich des „ersten Ganges" einer neuen Zeit in die Geschichte bewusst zu werden. Betrachtet man die Anordnung der drei Teile in der Erzählung: (1: „Wie kam er hierher?", 2: „Die Pension" und 3: „Zielübungen"), so scheint sie der zeitlichen Abfolge der Ereignisse im narrativen Diskurs völlig zu entsprechen. Schaut man nur etwas genauer hin, merkt man aber, dass die ersten sechs Kapitel im ersten Teil sich auf Clamor beziehen, während die letzten sechs durch die Geschichte des Superas sich indirekt mit der Figur Teo befassen, so dass im Titel „Wie kam er hierher ?" eine Ambiguität liegt. Die Vorausdeutungsfunktion der Figur Clamor als narrativer Ausgangspunkt und strategische Schlüsselfigur ist klar erkennbar und zeigt schon, dass die Teos thematisch untergeordnet wird. Auch zeitlich erkennt man im ersten Teil einen Statusunterschied zwischen den beiden Unterteilen. Die ersten sechs Kapitel handeln in der Gegenwart der Erzählung, so dass sie, um mit Genette zu sprechen, als echte Ouvertüre betrachtet werden können, als Anfang der „Basiserzählung" (récitpremier), während die vom Superas erzählte Geschichte, zeitlich gesehen eine zweite Erzählung darstellt, die sich der Basiserzählung „aufpfropft" (GENETTE 1994: 32). In dieser zweiten Erzählung des Superas wird die klassische narrative Zeitlichkeit verwendet. Dessen vertrauliche Mitteilungen sind eigentlich die Antwort auf die im Titel gestellte Frage. Zuerst geht der Superas auf die Herkunft und Erziehung Ciamors ein und dann auf die Teos, seines Sohns. Folglich wird dem Leser klar, weshalb sie jetzt beide in der Pension des Professors untergebracht sind. In der Geschichte des Superas liegt eine Antizipation vor: die von Clamor dargestellte und positionierte Gegenwart, die erzählte Zeit (Günter Müller zit. n. GENETTE 1994: 21), als er sich auf den Weg zum Gymnasium macht, wird dann von Oldhorst aus, wo der Superas wohnt,

Zeitstruktur und sozialgeschichtliche Aspekte in Jüngers Erzählung Die Zwille

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also von der Vergangenheit aus betrachtet. Komplexe zeitliche Verschachtelungen liegen in beiden Unterteilen vor, sowohl in den wiedergegebenen Gedanken Ciamors wie auch in denen des Superas, doch haben sie nicht dieselbe Struktur. Die häufig anzutreffenden Antizipationen kommen bei Clamor oft als kurze Anspielungen vor. Sie nehmen im voraus auf ein Ereignis Bezug, das im zweiten Teil der Erzählung ausführlicher in einem Kapitel erzählt werden wird. Es handelt sich um „Vorhalte" {amorces), die ihre Bedeutung erst später im Verlauf der Erzählung finden. Als Clamor im Gymnasium angekommen ist, spielt er auf den Zorn Teos an: „Wirr war er aufgestanden nach jener ersten Nacht, in der er neben Teo geschlafen und seinen Zorn erregt hatte. Das war eine Geschichte für sich." (JÜNGER 1988: 16). In diesem Satz wird das sich im zweiten Teil befindende Kapitel „Missverständnis" vorweggenommen. Dieser Zeitsprung oder „Anachronie" entfernt sich vom gegenwärtigen Augenblick der erzählten Zeit in Richtung Vergangenheit und in entgegen gesetzter Richtung in der Zeit der sich aufrollenden Erzählung (GENETTE 1994: 21). So wird der Auftritt sämtlicher Figuren vorbereitet: Buz, Hilpert, Blumauer, der Professor, Paulchen und weitere unbedeutende Personen. Zeitsprünge, auf die der Superas in seinen Bekenntnissen dann zurückkommt. Der Leser kann aber schon von den ersten Kapiteln her die expliziten und formulierten Antizipationen des Superas über das Leben Ciamors in der Stadt als verfehlt beurteilen. „In der Stadt," meint der Superas, „würde [für Clamor] kein Mangel sein." Diese Phantasievorstellung des Superas wurde bereits durch die schon geäußerte bittere Klage Ciamors zunichte gemacht. Es geht dem Erzähler Ernst Jünger weniger darum einen ironischen Widersprach zum Ausdruck zu bringen, als vielmehr die Figur des Superas zu charakterisieren, der außerhalb der Stadt und damit außerhalb der Realität steht. Die Geschichte des Superas liegt dem zeitlichen durch Ciamors Weg zur Schule veranschaulichten Ausgangspunkt voraus und fokussiert nachträglich die schon geschilderten Gedanken oder, besser gesagt, Gefühle Ciamors. Auch wird so die Figur Teos unter einem bestimmten Blickwinkel eingeführt und charakterisiert: die des am Sohn leidenden Vaters. Zugleich wird die Figur Ciamors in derselben Perspektive positiv verwertet: [Clamor] wäre ein Sohn nach seinem Herzen gewesen, denkt der Superas, fern jeder Übertretung und von einer Schlichtheit, die alles Wissen übertraf. An Teo, den er seinen Marder nannte, hatte er nur Kummer erlebt. (45) Im Gegensatz dazu bemerkt man bei Clamor, dass auf die Rückwendungen 0retour en arrière) Sprünge in die bittere Gegenwart folgen, in das heutige Leben der Stadt, das ihm so viel zu schaffen gibt, dass er völlig in den gegenwärtigen und neuen Beziehungen aufgeht. Alle in seinen Gedankengängen auftauchenden Rückgriffe sind an den gegenwärtigen erlebten Augenblick zurück zu binden. Auch der Traum mündet zwangsläufig in die bedrückende und grausame Gegenwart:

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Danièle Beltran-Vidal Es konnte auch vorkommen, dass [Clamor] einfach zu träumen begann. Das war eine andere Zeit, in die er sich verlor, und, plötzlich erwachend, fand er sich wieder vor der Klassentür. Fast immer war es Hilpert, der die erste Stunde hatte, und ihn mit seinem Blick wie einen Schmetterling aufspießte. (16)

In der Erzählung ist Clamor zugleich Referenzpunkt der Zeit und der Interpretation. Seine Rolle besteht einfach darin, zu beobachten, da er in der erzählten Zeit noch nicht imstande ist, sich ein Bild von den Erlebnissen zu machen. Durch die logischen Erklärungen des Superas wird den in Ciamors Gedanken vorliegenden Rückgriffen ein Sinn verliehen, es wird eine Erklärung gegeben, die zum Zeitpunkt der Erzählung Clamor selbst nicht hätte formulieren können. Hier tritt der Fall „einer aufgeschobenen Interpretation" ein, was für Genette ein geradezu perfektes Beispiel für eine doppelte Erzählung, zuerst vom naiven Standpunkt (hier Ciamors), dann vom wissenden Standpunkt (hier des Superus), ist (GENETTE 1994: 37). Die Geschichte des Superas liegt wie bereits erwähnt außerhalb des Zeitfelds der Basiserzählung. Das heißt, der Superas spielt dann nur eine untergeordnete Rolle, er ist nur aufgetreten, um sowohl die Figur Ciamors wie die Teos einzuführen, von dem was sich dann in der Pension abspielt, hat er keine Kenntnis. Doch sind seine Überlegungen über Wesen und Handeln der beiden Hauptfiguren von entscheidender Bedeutung: In ihnen stecken die von Todorov genannten „vorherbestimmten Verwicklungen", die den Leser auf die psychologische und nicht zuletzt auf die philosophisch-historische Deutung des Geschehens vorbereiten. Auch wenn der Superas das tiefe Wesen der ihm anvertrauten Oldhorster Jungen sehr wohl durchschaut hat, ist er sich seiner Unfähigkeit bewusst, sich ein klares Bild von den sich ändernden Zeiten zu machen. Deshalb kann er als Geistlicher wie er selbst sagt „nur falsche Münze ausgeben." Seine Beichte und der erste Teil der Erzählung enden mit folgenden Worten: Ich weiß, dass ich falsche Münze ausgebe. Doch ich tue es mit schlechtem Gewissen - wie wird die Abrechnung sein? Dass ich es weiß, mag meine Schuld erschweren, dass ich darunter leide, für mich zu Buch schlagen. (74)

Die Pension, der Titel des zweiten Teiles, ist gerade dieser „Überschneidungspunkt", zu dem beide Unterteile des ersten Teiles konvergieren; an dem Punkt, wo dann die Basiserzählung, nachdem der Superas sich ausgesprochen hat, wieder aufgenommen wird. Im ersten Teil setzte die Erzählung nur zögernd, fast schleppend ein, denn sie wurde immer wieder unterbrochen durch den ständigen Wechsel zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit. Im zweiten und dritten Teil geht die Basiserzählung unter einer neuen Form weiter. Der Leser nimmt die Handlung nicht mehr durch die Erinnerungen Ciamors oder des Superas wahr, sondern er kann die Ereignisse unmittelbar verfolgen, wie sie im Laufe einer zeitlichen Folge das Bewusstsein verschiedener Personen afFizieren. Dieses komplexe

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Verfahren in der Ordnung des Diskurses ist nicht nur ein Mittel, um die Ankunft Teos theatralisch vorzubereiten, sondern auch eine Strategie, um wechselnde Zeitkonfigurationen simultan heraufzubeschwören, in denen es mehr um Relationen geht, als um Fakten. Die aufeinander folgenden Kapitel entsprechen dem chronologischen Ablauf unterschiedlicher Szenen, auf deren Thema die Titel hinweisen: „Eine Handvoll Krabben", „Beschattungen" etc. Unmittelbar nebeneinander stehen unterschiedliche Formen der Personenreden: eine fiktiv berichtete Rede, etwa die Erzählung von Gedanken, seltener die direkte Rede, die Icherzählung. Oft fehlt aber das deklarative Verb, so dass die Aussage die Gedanken der Figur wiedergeben, und dabei allgemeinen Charakter gewinnen, also auch die des Erzählers sind. Wie Flaubert zieht Jünger großen Nutzen aus dieser Zweideutigkeit, um seine eigenen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Der Erzähler kann so darüber hinausgehen, was die Figur wirklich wahrgenommen hat. Diese Erzählperspektive zeigt sich in den Vorgriffen, die sowohl im zweiten als auch im dritten Teil häufig anzutreffen sind. Clamor hätte gern gefragt, was man denn tun solle, wenn man nicht zu den Wölfen, sondern zu den Schafen zählte - doch ihm fehlte die Worte dazu. Das Schlimmste war wohl, wenn man sich als Wolf aufspielte. Das kam nicht zur Formulierung; es blieb ein vages Gefühl. Etliche Jahre später hätte er gut ripostiert. (135)

Dieser Hinweis auf die Zukunft Ciamors kann nur vom Erzähler stammen, der damit dem Leser warnen möchte, die Figur Ciamors im Vergleich zu der Teos nicht zu unterschätzen. Die gewählte Erzählform ist das wirksamste Mittel, um eine rasche Zirkulation des Sinns, die Interaktionsbeziehungen mit ihren ständig wechselnden Margen von Ungewissheit hervorzuheben. Aber im Grunde bleibt die narrative Instanz, der Erzähler, im Laufe der ganzen Erzählung die wichtigste Zeitbestimmung, die man als eine relationale bezeichnen kann, mit anderen Worten: die zentrale Zeitbestimmung ist die Position des Erzählers im Text. Die Eigenart der späteren Narration der früher vom Erzähler selbst erlebten Zeit besteht darin, dass sie im Bezug auf die erzählten Begebenheiten datiert werden kann, und zwar 1973, aber zugleich ein unzeitliches Wesen hat, da sie über keine eigene Dauer verfügt. Von der Erinnerung Jüngers könnte man wie von der Erinnerung Prousts sagen, dass sie ein der Zeitordnung „enthobener" Augenblick ist. Auf jeder Seite der Erzählung stoßen wir auf die Gegenwart des Erzählers, dem es darauf ankommt, seinen unterschwelligen Diskurs den Irrtümern seiner Figuren anzupassen. Durch diesen geheimen Diskurs ist die Erzählung beim Hier und Jetzt angelangt, die Geschichte hat die Narration eingeholt. In erster Linie geht es Ernst Jünger darum, durch einige Einzelheiten die allgemeine sozialgeschichtliche Situation der Vorkriegsjahre zu vergegenwärtigen. Diese thematische Beziehung zwischen Historie und Erzähler macht aus

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ihm einen leidenden Betrachter der eigenen Vergangenheit. Aber diese Einmischung des Erzählers in seinen Text nimmt nicht die Form eines autorisierten Kommentars an - wie er in seinen frühen Schriften anzutreffen ist - , sondern macht sich erst durch eine grammatische Kategorie der Zeit bemerkbar, den charakteristischen Modus der Wiederkehr in der Vergangenheit. Mit Ausnahme von einigen wenigen Begebenheiten erzählt der erste sich auf Ciamors Weg zur Schule eröffnende große Abschnitt die Wiederholung dessen, was in der Stadt immer wieder passierte, täglich, regelmäßig, rituell. So hofft Clamor jeden Morgen, dass auf dem Platz nicht exerziert würde (28): Das war ein Glücksfall ; meist hörte er schon die Trommeln und Hörner der übenden Spielleute. Dann war der Platz von Gruppen erfüllt, die regungslos verharrten oder über seine Fläche bewegt wurden. Die Kameraden sahen das gern. Besonders Buz vermochte sich von dem Schauspiel kaum zu trennen. [...] Ein besonderer Schreck durchzuckte Clamor, wenn (der fürchterliche Sergeant) Zünsler „angreifende Kavallerie" verkündete. Dazu ließ er blitzschnell die Gruppen zur Linie einschwenken und das vordere Glied hinknien. „Legt an!" und „Feuer!" kommandierte er dann. [...] Noch schlimmer war es, wenn er „Sturmangriff in geschlossener Ordnung" üben ließ. Dann kam die Abteilung von weitem in dichtem Haufen angerannt. Das Bajonett war aufgepflanzt, die Klingen funkelten. Wenn der Feind erreicht war, schrie Zünsler „Hurra!", und sein Schrei pflanzte sich fort, als ob er eine Rakete entzündet oder eine Lawine ausgelöst hätte, die niederfuhr. Das war unwiderstehlich, war zermalmend, war Zünslers Meisterstück. (29)

Durch die Verwendung des „wenn" wird klar, dass diese Beschreibung mehrere Fälle desselben sich rituell wiederholenden Ereignisses zusammenfasst. Da ragt das vom beschriebenen Schauspiel abgedeckte Zeitfeld ganz offenkundig weit hinaus über die Szene und die Erzählung, in die sie sich einfügt. Es handelt sich hier um eine dieser exemplarischen Szenen, in denen die Handlung stark in den Hintergrund tritt und der gesellschaftlichen und historischen Charakterisierung das Feld überlässt. Der historisch-politische Diskurs der Vorkriegsjahre, der in den Augen des jungen Ernst Jünger eindeutig war, wird in Bilder umgesetzt, in die Szene des Exerzierens auf dem Platz der Stadt. Exerzieren als Prachtentfaltung, mit der die Macht die damalige Bevölkerung faszinierte und terrorisierte. Die Erzählung wechselt ohne jede Vorwarnung von Variationen der Spaziergänge Ciamors zu einer elliptisch zusammengeballten Erinnerung des Autors, die den Krieg und seine Folgen, den Tod der gaffenden jungen Zuschauer, heraufbeschwört. Die Worte Rakete, schwarze Lawine, zermalmen sind in den Kriegsbüchern häufig anzutreffen. Die Gedächtnistätigkeit des Erzählers ist somit ein Faktor für die Emanzipation der Geschichte aus der erzählten Zeit. Aus dieser Perspektive der Zeit des Erzählens sammelt der Autor Praktiken und Beispiele, die die Beziehungen in der damaligen Gesellschaft veranschaulichen und aus denen er die Geschichte seiner Generation erklären möchte. Zum Verständnis der Masse seiner Generation im August 1914 gibt er ei-

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nen Einblick in die Verbreitung und Ausformung des militärischen Denkens der Jugendlichen. Er zeigt, worin für sie die Attraktivität dieses alltäglichen Militarismus beruhte, das Ansehen alles Militärischen überhaupt, sei es durch den Sergeant Zünsler oder den gutmütigen Major verkörpert. Das Exerzieren auf dem zentralen Platz der Stadt erweckte als Gemeinschaftserlebnis die Zuversicht, der Krieg werde als politischer Integrationsfaktor fungieren und könnte nur mit einem Sieg enden. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich war der Sieg selbstverständlich, keiner hegte Zweifel daran. Das in ganz Deutschland inszenierte Schauspiel des Exerzierens diente als Instrument zur Erzeugung einer bestimmten Mentalität, die als Gesinnungsmilitarismus in die Geschichte eingegangen ist. Als die Weber streiken und der Major vorbeireitet, kann er hören: „Aber wenn der Kaiser ruft - dann sind wir da." (32). Und tatsächlich erklärten auch die Arbeiter ihre Bereitschaft zum Kampf für die Nation. Die Geschichte erläutern besteht für Jünger darin, sie insgesamt wahrzunehmen, die scheinbar harmlosen Begebenheiten zurückzuführen auf datierte Praktiken, die die Geschichte objektivieren und diese Praktiken zu erklären, indem man nicht von historischen Ursachen und Wirkung ausgeht, sondern von allen angrenzenden Praktiken, in denen das damalige Leben verankert war. So etwa als der Superas in seinen Gedankengängen nebenbei bemerkt: „Immer noch wurde sowohl in den obersten wie in den untersten Schichten Blut gefordert; jeden Tag las man davon in den Zeitungen" (62) oder als Clamor die in den entlegensten Orten gekritzelten Überschriften entziffert „Ab nach Kassel und darunter: Der Kaiser auf Wilhelmshöh. Das war der böse Napoleon." (36). Von diesen damals vertrauten Banalitäten geht Jünger aus, um der von ihm erlebten Realität ihre geschichtliche Tiefe wiederzugeben. Man weiß, wie andere große Dichter, Thomas Mann etwa oder André Malraux, einigen ihrer Figuren die Aufgabe des „wissenschaftlichen" oder „historischen" Kommentars übertragen haben. Nichts dergleichen bei Jünger. Weder Clamor noch der Superas sind bei aller Schärfe der Registrierung und Beobachtung Werkzeuge der historischen „Wahrheit". Ihre Fehlschläge und Lächerlichkeiten sind aufschlussreicher als ihre Ansichten. Wie sich herausstellen wird, kann keine der auftretenden Figuren dem Leser sein Privileg auf die eigene Interpretation streitig machen, Ansatz zu einem „ideologischen" Kommentar, zu dem er letzten Endes von selbst kommen muss. Nichts wäre der Jüngerschen Poetik zu diesem Zeitpunkt seiner Autorschaft stärker entgegengesetzt, als den Leser mit einem theoretischen Imperialismus, einer selbstgewissen Wahrheit zu konfrontieren. Der historischpolitische Diskurs, dem damals seine Landsleute und die anderen Europäer verfallen waren, diese in allen Ländern herrschenden Reden der Verbitterungen und Hoffnungen beruhten auf einer binären Struktur, die die damaligen Gesellschaften über alle gesellschaftlichen Kämpfe hinaus durchzogen, wie etwa den der streikenden Weber. Man unterschied zwei Gruppen, zwei Kategorien von

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Menschen, „es standen sich zwei Armeen gegenüber" (FOUCAULT 1986: 12). Es war die Zugehörigkeit zu einem nationalen Lager, die es ermöglichte, die Wahrheit zu entziffern, die Illusionen und die Irrtümer aufzukündigen, mit denen man glauben machen wollte, dass man in einer friedlichen Welt lebte. Die damalige „Wahrheit" ist in der Publizistik zu lesen, deren historischpolitischer Diskurs treffend von Michel Foucault so zusammengefasst wurde. Der Krieg sei nicht zu Ende, weil gerade entscheidende Schlachten gerade erst vorbereitet werden, weil die entscheidende Schlacht erst zu gewinnen sei, d.h. die Feinde, die uns gegenüberstehen, uns weiterhin bedrohen und wir zum E n d e des Krieges nur gelangen können - nicht indem wir eine Befriedigung einklagen, sondern indem wir die Sieger sein werden. (FOUCAULT 1 9 8 6 :

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Mit den wenigen aus seinem Gedächtnis geschöpften Beispielen zeigt Jünger die Kraft des damaligen Diskurses, seine wesenhafte Zugehörigkeit zum sich ankündigenden Krieg und seine Präsenz in allen Schichten der Bevölkerung. W e n n nach dem Schlußappell die Husaren durch das von Schilderhäusern flankierte Tor ausschwärmten, hatte sich dort schon eine erwartungsvolle M e n g e gestaut, vor allem Mädchen, die den Ihren zu einem Gang ins Grüne oder auch in die vier W ä n d e abholten. Der Soldat in der Küche gehörte zum Dienstvertrag; er blieb bis kurz vorm Zapfenstreich. (JÜNGER 1988: 115)

Viele explizite Informationen werden dem Leser gegeben, deren Bestimmungen ans Licht gebracht werden müssen, weil sie heute unvorstellbar geworden sind. Durch die Gedanken seiner Figuren aktualisiert Jünger die Praktiken der Gesellschaft der Vorkriegsjahre. Für den biederen Professor etwa versteht es sich von selbst, dass „,die Armee nicht nur alle zwanzig Jahre neue Gewehre brauchte, sondern ein neues Modell. Wenn man innen nicht Schritt hielt, wurde man von außen überspielt"'(80), fügt er hinzu. Die Erinnerungen Ernst Jüngers zeigen durch die Gedanken des Professors dieses Gefühl der allseitigen Bedrohung, welches damals vorhanden war und im Glauben an die Unvermeidbarkeit des nächsten Krieges gipfelte. Deshalb sieht der Professor, wie viele seiner Zeitgenossen, Aufrüstung und Kriegsbereitschaft als notwendiges Übel. Der Professor ist einer der Vertreter des protestantischen Bildungsbürgertums, jener sozialen Gruppe, die den Krieg mit dem größten Enthusiasmus begrüßte. Auch wird ein Streifzug durch das Bewusstsein des jungen Buz unternommen, der sich „freiwillig melden will" (92). Sein Engagement wird als direkte Folge des von Zünsler inszenierten Schauspiels dargestellt. Nicht die Schrekken des Krieges dominieren das Bild, sondern Vorstellungen vom „lustigen" Krieg mit Kameradschaft, Abenteuer und Heldentum. Der Erzähler kommt dann darauf zurück, als er erklärt:„Bei den Totenköpfen zu dienen, war natürlich der Traum jedes Oldhorster Jungen, aber die hatten die Auswahl und nahmen nur Söhnen von Vollbauern." (93).

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So wird die fast allgemeine Akzeptanz des Krieges und die weit verbreitete Kriegsbegeisterung beim „Augusterlebnis" vorweggenommen. Jünger berichtet vom damaligen Leben in der Stadt, ohne es in irgendeiner Weise zu interpretieren. Verhaltensweise und Mentalität seiner Figuren bilden die damalige Praktik der Gemeinschaft, in der er selbst aufwuchs. Um den Leser darauf aufmerksam zu machen, beschreibt der Autor schlicht die Vorstellungen der Figuren und gibt ihre Aussagen wieder. Dafür bleibt er der unwissende Erzähler, der, wie seine Figuren, nicht weiß, wohin diese Praktik seine Landsleute führen wird. Sie können sie nicht analysieren, weil sie sich fur sie „von selbst" versteht. Das darf aber den Leser nicht daran hindern zu interpretieren und zwar den Absichten des Autors gemäß. Es wird schließlich gezeigt, wie ein kollektives Bewusstsein „stumme Bedingungen ausdrückt und theoretischen Wahrheiten gegenüber sich empfänglich zeigt" (FOUCAULT 1973: 227). 60 Jahre später ist es für den Autor eine müßige Frage zu untersuchen, welche Einstellung damals die richtige gewesen wäre, die seine Figuren hätten einnehmen müssen, um die Katastrophe zu verhindern. Dafür müsste sich der Autor auf Kategorien stützen, die keine Aussagen über die damalige Wirklichkeit machen. Sein Verfahren ist also nicht das eines Historikers. Geschichte ist für ihn in diesem Fall Geschichte von dem, was die Menschen Wahrheiten nannten. Es geht Jünger also vorrangig um die von ihm erlebte Wirklichkeit, wobei er im Gegensatz zu den Autoren des Realismus auf jegliche Form des rechtfertigenden Diskurses verzichtet. Von seinem Anteil an der Erzählung darf man aber sagen, dass er in einem nicht nur affektiven sondern auch moralischen Verhältnis zu ihr steht. Die Revolutionierung der narrativen Form besteht darin, dass der Erzähler, auch wenn er mehr als seine Figuren weiß, nicht im absoluten Sinne weiß und nicht die heutige Wahrheit gegen die frühere ausspielen möchte. Hier trennt sich das Werk von der Tradition des Bildungsromans. Der Erzähler kennt keine absolute Wahrheit, nur den weiteren Verlauf der Geschichte, die durch einige Vorzeichen und Ankündigungen vorausgedeutet wird. Durch die Charakterisierung der drei Oldhorster, Clamor, Teo und Buz wird jedesmal ein besonderer künftiger Typ der Geschichte hervorgerufen, Teo der Mauretanier, Buz als Nachfolger des Sergeants Zünsler, Clamor als Künstler. Die Besonderheit der Erzählung wirkt sich entscheidend auf die Beziehungen zwischen dem Erzähler und dem Leser aus. Beide wissen, was den jungen Helden bevorsteht, beide können die Irrtümer der Figuren und ihre Illusionen bemerken und doch macht die Konstruktion des Jüngerschen Werkes die ständige Mitarbeit des Lesers nicht überflüssig. Sie soll von ihm durchschaut werden und - sobald sie offen vor Augen liegt - soll er sie interpretieren. Nur durch die jeweilige Interpretation des Lesers findet das Werk die Allgemeinheit, die die abschließende Botschaft Jüngers ausmacht.

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Literaturverzeichnis FOUCAULT, Michel (1973): Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. FOUCAULT, Michel (1986): Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Berlin: Merve. GENETTE, Gérard (1994): Die Erzählung. München: Fink. JÜNGER, Ernst (1988): Die Zwille. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

SVEN OLAF BERGGÖTZ

,Eine Welt, die den Tod und die Liebe nicht kennt" Ernst Jünger und die USA

Einer der interessantesten Aspekte im Denken von Ernst Jünger ist sein Verhältnis zu den USA. Bemerkenswerterweise hat dieses Thema in der Forschung bislang noch keine Beachtung gefunden. Erstaunlich ist das deshalb, weil sich Jüngers langes Leben und Wirken ziemlich genau mit jener Epoche der Weltgeschichte überschneidet, der Henry Luce schon 1940 ihren Namen gegeben hat: dem amerikanischen Jahrhundert (vgl. LUCE 1941). Spätestens im April 1917, als der zweiundzwanzigjährige Jünger während der Kampfpausen in Flandern die Kladden füllte, aus denen später In Stahlgewittern hervorgehen sollte, markierte der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg deren künftige Weltgeltung. Während in späteren Jahren der Zweite Weltkrieg und schließlich das Ende des Kalten Kriegs die weltweite wirtschaftliche und politische Dominanz der USA weiter festigen, erfuhr der Schriftsteller Ernst Jünger seit den zwanziger Jahren in erster Linie die kulturellen Konsequenzen dieser weltpolitischen Entwicklung: das rasche Vordringen verschiedenster Elemente der amerikanischen Kultur in Deutschland und Europa. Über acht Jahrzehnte hinweg wuchs das Werk von Ernst Jünger parallel zur Amerikanisierung der Welt. Sie hat ihre Spuren darin hinterlassen - und Jünger in manchem weitaus mehr geprägt, als bislang angenommen wird. Ernst Jüngers Kenntnis der amerikanischen literarischen Tradition und der politischen sowie sozialen Verhältnisse in den USA, der Einfluß amerikanischer Autoren und ihrer Werke auf sein Denken und Schaffen, die Genese und Bedeutung seines offenen, latenten Antiamerikanismus in den zwanziger Jahren und die weitere Entwicklung seines Amerikabilds in den kommenden Jahrzehnten - all das hängt unweigerlich zusammen, kann jedoch in einem kurzen Beitrag nur ansatzweise thematisiert werden. Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen waren Jüngers einschlägige Äußerungen in seiner politischen Publizistik, so zum Beispiel im Juni 1927:

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Daher besitzt die amerikanische Politik und ihre Argumentation fur den Europäer, der selbst von der Plattheit noch ein gewisses Niveau verlangt, etwas sehr Naives und Kindliches, was sie jedoch in ihren Wirkungen keineswegs harmlos macht. Hier ist die liberalistische Phrase wieder ein Stück ursprünglicher Natur geworden. (JÜNGER 1927d: 337 f.)

Als prominenter Vertreter der extremen Rechten in der Weimarer Republik teilte und propagierte Ernst Jünger deren Antiamerikanismus, auch wenn dieser spezielle Aspekt nicht im Zentrum seiner vielen politischen Artikel stand. Woraus speiste sich diese generelle Ablehnung der USA, ab wann ist sie in Jüngers Schriften zu finden, gab es dabei Veränderungen, auch: Ist sie repräsentativ für das Denken der Rechten in dieser Zeit - oder weicht sie vom mainstream des damaligen Antiamerikanismus ab? Um diese Aspekte soll es im folgenden gehen. Schließlich kommt man in diesem Zusammenhang auch nicht an der wesentlichen Frage vorbei, ob Ernst Jüngers Antiamerikanismus der zwanziger Jahre lediglich eine Episode war, oder ob er eine Konstante des Jüngerschen Denkens darstellt. Einen ersten Hinweis darauf gibt bereits das sehr ungnädige Urteil, das Jünger noch im Jahr 1950 in einem Brief an Hans Speidel fällt: Die Nackten und die Toten1 empfehle ich Dir zur Lektüre, nicht aus den Gründen, aus denen das Buch gewöhnlich gelesen wird, sondern weil es den Übergang vom späten Liberalismus zur Diktatur in Amerika gut anschaulich macht.2 Wie läßt sich diese, milde ausgedrückt, recht seltsame Äußerung eines sonst so hellsichtig urteilenden Schriftstellers erklären?

Amerikanismus und Antiamerikanismus in der Weimarer Republik Schon lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 waren die USA aus Sicht vieler europäischer Intellektueller zur Chiffre für die moderne Maschinenwelt - in erster Linie für deren negative Seiten - geworden (vgl. SCHMIDTGERNIG 2000). Diese Sichtweise hatte sich mit dem wachsenden amerikanischen Einfluß in Europa nach Kriegsende weiter verstärkt (vgl. MAI 2001: 1 8 30; LÜDTKE/MARBOLEK/SALDERN 1996: 7-33). In Deutschland empfand man diesbezüglich nicht viel anders als in der Kulturkritik der übrigen Staaten Eur o p a s ( v g l . SCHMIDT 1 9 9 7 : 1 5 4 - 1 8 9 ; JUDT 1 9 9 2 : 1 9 0 - 1 9 2 ) . A u s

deutscher

Perspektive wurde die pauschale Kritik an der amerikanischen Kultur nach

2

Der 1948 erschienene Erstlingsroman The Naked and the Dead von Norman Mailer kam 1950 im Berliner Verlag W. Kahnert in deutsche Übersetzung heraus. Ernst Jünger an Hans Speidel, 27. September 1950: Nachlaß Speidel. Mein Dank gilt Frau Dr. Ina Saame, der Tochter von Hans Speidel, die mir den Zugang zum Nachlaß Ihres Vaters ermöglichte.

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1918 jedoch sofort in fataler Weise mit dem kriegsentscheidenden Eingreifen der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg und dem als „Verrat" empfundenen Verhalten von Präsident Woodrow Wilson auf der Friedenskonferenz in Versailles verknüpft. Statt eines allgemein erwarteten, wenn auch fur Deutschland harten, Kompromisses auf Basis der berühmten vierzehn Punkte, setzten sich Frankreich und Großbritannien gegen die Pläne des amerikanischen Präsidenten mit dem Konzept eines drakonischen Siegfriedens durch. Das diesbezügliche Nachgeben Wilsons wurde in Deutschland als Bruch expliziter Zusagen gewertet; Wilson zog sich die Ablehnung und den Haß weiter Teile der Deutschen, von der extremen Rechten bis zur extremen Linken, zu (vgl. BERG 1963: 9 - 4 7 ; DINER 2 0 0 2 : 6 6 - 6 8 ) .

Neben diesen politischen Motiven basierte der Antiamerikanismus in der Weimarer Republik vor allem auf einer Ablehnung des wachsenden wirtschaftlichen und kulturellen Einflusses der USA in Deutschland. Insbesondere in den Jahren der Stabilisierung der ersten deutschen Republik ab 1924 war die entsprechende Präsenz der Vereinigten Staaten deutlich zu spüren. Der in diesem Jahr von einer Kommission unter Leitung des amerikanischen Bankiers Charles G. Dawes konzipierte Dawes-Plan bildete die Grundlage der wirtschaftlichen Erholung in Deutschland; dennoch wurde er seitens der Rechten als „neues Versailles" heftig angegriffen (vgl. KOLB 1998: 66). Erhebliche amerikanische Auslandsinvestitionen im Deutschen Reich, so die Gründung der deutschen Ford-Werke in Köln, sowie die von den USA gewährten Anleihen wurden von vielen Deutschen als Verlust der Eigenständigkeit des deutschen Kapitals erfahren (vgl. DINER 2002: 77). Hinzu kamen die kulturellen Importe: Jazzmusik, neue amerikanische Tänze, die Emanzipation der Frau und der schnell als flach und niveaulos diffamierte amerikanische Film schürten Überfremdungsängste und wurden als Bedrohung der eigenen Kultur empfunden (vgl. W A L A 2000; SALDERN 1996: 217-230). Die Folgen der Weltwirtschaftskrise ab 1929 führten schließlich zu einer weiteren Verschärfung des deutschen Antiamerikanismus. Zum einen wurde sehr schnell die „Schuld" für den weltweiten Zusammenbruch der Aktien- und Kapitalmärkte in den USA verortet, zum anderen bedingte der krisenbedingte wirtschaftliche Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa eine weitere Verschlimmerung der schwierigen deutschen Wirtschaftslage (vgl. HARDACH 1993: 50-52; BREUER 1995: 57-59). Einen repräsentativen Eindruck von den Facetten und Stereotypen des deutschen Antiamerikanismus der Weimarer Republik vermittelt das 1927 erstmals erschienene Buch von Adolf Haifeld, Amerika und der Amerikanismus (vgl. HALFELD 1928; BERG 1963: 136-144). Haifeld hatte mehrere Jahre als Korrespondent deutscher Zeitungen im Mittleren Westen der USA verbracht; seine Darstellung enthält alle Elemente einer sich streng abgrenzenden deutschen Kritik an den amerikanischen Verhältnissen: Vom Unterschied zwischen der „geplanten Kultur" der Vereinigten Staaten zur „gewordenen" europäischen

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(HALFELD 1928: 3 - 1 6 ) über das Klischee vom amerikanischen „Geschäftsstaat" (53-77) bis hin zur bedrohlichen „Allmacht des Erfolgsgedankens" (121-146) in Amerika und der von dort ausgehenden Gefahr des „Kulturfeminismus" (209-227). All diese antiamerikanischen Vorurteile waren in Deutschland weit verbreitet. Während sich die Ressentiments der Rechten eher aus dem eigenen Nationalismus und der Erinnerung an den Frieden von Versailles speisten, stand die gemäßigte wie die extreme Linke in einer jahrzehntelangen Tradition des Antikapitalismus, aus dessen Sicht die USA Inbegriff aller Bedrohungen fur Arbeiter und Kleinbürger darstellten. Die politischen Parteien und ihre Repräsentanten aller Couleur machten diesbezüglich keine Ausnahme; lediglich Teile der SPD bemühten sich um einen sachlichen und vorurteilsfreien Umgang mit den Vereinigten Staaten. Insgesamt war der deutsche Antiamerikanismus der zwanziger Jahre somit in vielem eine ideologische Konstruktion, gleichermaßen bedingt durch schlechte wirtschaftliche und politische Erfahrungen wie die beginnende Amerikanisierung der eigenen Gesellschaft. Die USA wurden noch mehr als vor 1914 zum Beispiel für die dunkle Seite der Modernisierung; dementsprechend erachteten weiter Kreise der deutschen Bevölkerung die eigene Nation und Kultur als der amerikanischen überlegen. Eine der zahlreichen Konsequenzen dieser Entwicklung ist die paradox anmutende Tatsache, daß gerade in diesen Jahren der eigenen Amerikanisierung Teile der deutsche Literatur vom einem erheblichen Antiamerikanismus durchdrungen waren (vgl. OTT 1991: 2 3 5 242).

Jünger und die amerikanische Literatur Wie die meisten seiner Zeitgenossen im Deutschen Reich verfugte Ernst Jünger in den zwanziger Jahren nur über ein sehr begrenztes Wissen hinsichtlich der amerikanischen Literatur und Kultur. Hinreichend bekannt und oft erwähnt ist in diesem Zusammenhang die Verehrung Jüngers für das Werk von Edgar Allan Poe und dessen Einfluß auf sein eigenes Schaffen - Poe verfüge wie nur wenig über etwas, „was ihn den großen Erzählern aller Zeiten ebenbürtig macht". 3 Angeregt durch die Beschäftigung mit Baudelaire hat Jünger Poe bereits früh gelesen und ist immer wieder auf ihn zurückgekommen (vgl. JÜNGER 1980b: 439). Auch Jüngers späterer Dialog mit Carl Schmitt über das Œuvre von Herman Melville, insbesondere dessen Benito Cereño, gehört spätestens seit der Publikation des Briefwechsels zwischen Jünger und Schmitt zum gesicherten Kenntnisstand. Dennoch bleibt die Frage offen, wann und auf

Ernst Jünger an Rudolf Schlichter, 8. Oktober 1937. In: JÜNGER/SCHLICHTER 1997: 121.

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welche Weise Ernst Jünger die amerikanische Literatur rezipiert hat - und mit ihr die amerikanische Kultur und Gesellschaft. Die Lehrpläne eines Realgymnasiums im wilhelminischen Deutschland boten wenig Gelegenheit, mit der amerikanischen Literatur vertraut zu werden, zumal für einen notorisch unaufmerksamen Schüler wie Ernst Jünger (vgl. JÜNGER 1929a: 51). Auch Jüngers Englischkenntnisse blieben zeitlebens ausgesprochen gering. Im Gegensatz zur französischen vermochte er angelsächsische Literatur lediglich in Übersetzung zu lesen; so hat Ernst Jünger die Bekanntschaft mit Melvilles Hauptwerk Moby Dick erst in den vierziger Jahren, und dann ironischerweise in einer französischen Ausgabe gemacht.4 Jüngers Amerikabild wurde statt dessen durch seine eigene Jugendlektüre begründet: Selbstverständlich las er James Fenimore Cooper (vgl. JÜNGER 1958: 563), entdeckte im Alter von elf Jahren Mark Twains Tom Sawyer (vgl. JÜNGER 1995: 83), zudem Harriet Beecher-Stowes Uncle Tom's Cabin (vgl. JÜNGER 1947: 148) und die Abenteuergeschichten von Jack London.5 Nicht vergessen sollte man zudem den entsprechenden Einfluß der Romane von Karl May. Damit endete jedoch allem Anschein nach das Interesse Jüngers an amerikanischer Literatur. Das gewaltige Lesepensum des „Unfertigen" (vgl. N O A C K 1998: 55) während des Ersten Weltkriegs und in den folgenden Jahren bis 1925, die rauschhafte Lektüre des jungen Schriftstellers Ernst Jünger, wie er sie selbst in seiner 1923 publizierten Erzählung Sturm beschrieben hat (vgl. SCHWARZ 1962: 232 f.), scheint mit der genannten Ausnahme Edgar Allan Poe keine amerikanischen Autoren umfaßt zu haben. Alle Hinweise auf eine diesbezügliche Lektüre Jüngers stammen erst aus den dreißiger Jahren. Die mangelnde Vertrautheit mit der amerikanischen Literatur entsprach offenbar Jüngers geringer Kenntnis der politischen und sozialen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. Auch dies war typisch für seine Generation, in deren Ausbildung die USA so gut wie keine Rolle spielte. So ist es bezeichnend, daß Jünger erst im Alter von 63 Jahren die Federalist Papers, den epochalen Kommentar von Hamilton, Jay und Madison zur amerikanischen Verfassung, kennenlernte - weil dieser eben erst in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in einer deutschen Übersetzung vorlag.6 Kann es unter solchen Umständen verwundern, daß Ernst Jünger, wie viele andere Deutsche seiner Zeit, fehlende eigene Kenntnis amerikanischer Gesellschaft und Kultur durch ein Amerikabild kompensierte, das sehr viel mehr aus Vorurteilen und eigener Projektion bestand, als es mit der Realität zusammenhing?

4 5

6

V g l . E r n s t J ü n g e r an C a r l S c h m i t t , 2. A u g u s t 1941. In: JÜNGER/SCHMITT 1 9 9 9 : 123. V g l . E r n s t J ü n g e r an R u d o l f S c h l i c h t e r , 8. O k t o b e r 1937. In: JÜNGER/SCHLICHTER 1 9 9 7 : 121. V g l . E r n s t J ü n g e r an Carl S c h m i t t , 26. D e z e m b e r 1958. In: JÜNGER/SCHMITT 1 9 9 9 : 361.

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Jünger und die Amerikanisierung Deutschlands Ernst Jünger hat schon 1944 im Rückblick über seine persönlichen Erfahrungen in den zwanziger Jahren reflektiert und dabei unter anderem an Jenes Amerika, das im modernen Berlin mit jedem Jahre deutlicher zu spüren gewesen war" erinnert (vgl. JÜNGER 1949: 229). Gemeint ist damit seine Berliner Zeit zwischen Juli 1927 und Dezember 1933. Während dieser sechseinhalb Jahre verspürte Jünger mit seiner jungen Familie in der zu jener Zeit wohl lebendigsten Metropole der Welt sehr bewußt die Anziehungskraft und die Macht des American way of life. Neben den der Tagespresse entnommenen Informationen über die USA und der alltäglichen Begegnung mit einer zunehmend moderner und amerikanischer werdenden Welt dürfte Jünger damals vor allem durch seine regelmäßigen Kinobesuche einen neuen Zugang zur amerikanischen Kultur gefunden haben, was er eher negativ kommentierte: Ein amerikanischer Film nämlich gestattet mir, immerhin Beobachtungen am lebenden Objekt zu machen, er gibt mir etwa Aufschlüsse über die moderne großstädtische Sentimentalität, die dem flüchtigen und näselnden Schluchzen der Saxophone entspricht. (JÜNGER 1929b: 511 f.)

Die Wurzeln seines Antiamerikanismus reichen jedoch weiter zurück. Gewisse Vorurteile dürften sich vor allem auf seine intensive Lektüre des Werks von Oswald Spengler zu Beginn des Jahrzehnts zurückfuhren lassen. Spengler äußert sich in Der Untergang des Abendlandes zwar nur verhältnismäßig knapp zu den USA, die wenigen Passagen haben allerdings einen sehr abschätzigen Charakter (vgl. z. B. SPENGLER 1923: 696). Vor allen Dingen aber dürfte Ernst Jünger diesbezüglich viel von Nietzsche übernommen haben, den er nach 1918 erneut intensiv gelesen hat. In dessen Fröhlicher Wissenschaft stehen die USA paradigmatisch für die Zukunft in ihrer negativsten Ausprägung, werden gleichsam zum Symbol für Materialismus und „Geistlosigkeit"; letztlich reduziere die amerikanische Kultur alles bloß auf die nackte Kalkulation (vgl. NIETZSCHE 1999: 556 f.; CEASER 1997: 172 f.). In der Rezeption dieser Texte

liegt wohl eine der zentralen Ursachen fur Jüngers ausgeprägten Antiamerikanismus. Hinzu kam der in den Berliner Jahren erhebliche Einfluß seines fast gleichaltrigen Freundes Albrecht Erich Günther - „er gehört zu meinen intimen Bekannten"7 - auf Ernst Jünger. Günther beschäftigte sich in der von Wilhelm Stapel und ihm herausgegebenen Monatsschrift Deutsches Volkstum regelmäßig mit der zeitgenössischen amerikanischen Literatur und Politik, wobei er eine dezidiert antiamerikanische Position vertrat (vgl. z. B. GÜNTHER 1929 oder GÜNTHER 1931; SCHWABE 1976: 96). Jünger, der Günther wohl bereits seit dessen Rezension von Das Wäldchen 125 kannte (vgl. GÜNTHER 1925), äußerte in seinen politischen Aufsätzen der späten zwanziger Jahre eine be7

Ernst Jünger an Alfred Kubin, 27. November 1929. In: JÜNGER/KUBIN 1975: 22.

„Eine Welt, die den Tod und die Liebe nicht kennt". Ernst Jünger und die USA

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achtliche Zahl antiamerikanischer Vorurteile, die sich in ähnlicher Form bereits zuvor in Artikeln von Albrecht Erich Günther fanden. Die wesentlichen Züge des Jüngerschen Antiamerikanismus lassen sich wie folgt zusammenfassen. Zunächst zeigt Ernst Jüngers Antiamerikanismus eine ausgesprochen antikapitalistische Stoßrichtung. Jünger kritisiert immer wieder den „platten amerikanischen Geschäftigkeitssinn" als das genaue Gegenteil eines „tiefen, deutschen Gefuhl[s], das im Werte der menschlichen Tätigkeit und nicht in ihrem Nutzen das Wesentliche sieht" (JÜNGER 1926b: 249). Dem gegenüber stellt er das Ideal einer „staatlich geordneten Zentralisation" (JÜNGER 1926C: 269) und fordert dabei die „straffe Unterordnung der Wirtschaft unter den Staat" (JÜNGER 1927a: 287). Nur ein Arbeiterstaat habe Zukunft und könne über die schlimmen Auswüchse des Kapitalismus triumphieren (JÜNGER 1927a: 286). In dieser Hinsicht traf sich der rechte Nationalist Jünger mit der Argumentation der radikalen Linken, deren antiamerikanische Parolen nicht viel anders klangen. Im Gegensatz zu diesen ist Jüngers Antiamerikanismus allerdings zugleich stark antiegalitär. Jünger stellt der aus seiner Sicht für die USA typischen großstädtischen Masse „in der sich die Persönlichkeit ihrer Eigenart und Abgeschlossenheit abschleift zum Individuum" (JÜNGER 1927c: 325) Charakter und Eigenart gegenüber und preist die Vorteile einer ,,bodenständige[n] Kultur" im Vergleich zur ,,amerikanische[n] Zivilisation" (JÜNGER 1925c: 142). Dieser antiegalitäre Zug findet sich auf der Linken nur im Ausnahmefall, so beispielsweise im Denken von Kurt Hiller (vgl. RADDATZ 2001: 119; BOLZ 1989: 118125). Am extremsten ausgeprägt ist schließlich die antidemokratische Komponente von Jüngers Antiamerikanismus. Bereits in seinen ersten politischen Beiträgen polemisierte Ernst Jünger vehement gegen die Idee der allgemeinen Menschenrechte und des allgemeinen Wahlrechts, und damit auch gegen die fundamentalen Prinzipien der amerikanischen Demokratie (vgl. JÜNGER 1926a: 182; dazu KOSLOWSKI 1991: 48-55). Die Heimat von Woodrow Wilson habe mit dem Schlagwort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker das Paradebeispiel der von Jünger so verachteten ,,liberalistische[n] Phrase" geliefert (vgl. JÜNGER 1927d: 336; JÜNGER 1932: 167). Größter Feind des von Jünger in den zwanziger Jahren prominent vertretenen Nationalismus blieb für ihn durchweg „der liberalistische Staat" (vgl. JÜNGER 1927b: 295 f.), als dessen idealtypischer Verkörperung er die USA ansah (vgl. JÜNGER 1927d: 338). Mit solchen Ansichten war Ernst Jünger ein typischer Vertreter der zeitgenössischen deutschen Rechten und ihrer starken Vorurteile gegenüber den USA (vgl. SONTHEIMER 1994: 143-147; SCHWABE 1976: 97-105). Dennoch unterscheidet er sich in mancherlei Hinsicht von deren Position. Ein interessantes Beispiel dafür ist die affirmative Erwähnung von Walt Whitman in der Erstausgabe von Das Wäldchen 125:

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Sven Olaf Berggötz So zwischen Blumen und Gräsern den Leib an die Erde zu pressen, scheint uns eine heidnische Lust, ein pantheistischer Rausch, dessen Gefühl uns vielleicht nur noch der Amerikaner Walt Whitman durch Worte zu übermitteln weiß (vgl. JÜNGER 1925a: 158)

Jünger hat Whitmans Lyrik offenbar mit Emphase gelesen, der große amerikanische Dichter der Demokratie - den Jünger dann später offen als solchen anerkannte (vgl. JÜNGER 1993: 192) - wird von ihm mithin Mitte der zwanziger Jahre explizit gewürdigt, obgleich er gerade in dieser Zeit seinen Antiamerikanismus extrem betonte und Whitman aufgrund der Vereinnahmung von Seiten Thomas Manns in dessen berühmter Rede Von Deutscher Republik (vgl. MANN 1984: 138 f. u. 150 f.; dazu KURZKE 1990: 6 9 8 f.) für die deutsche Rechte tabu war. Eine zweite Abweichung vom rechten mainstream ist zudem die Tatsache, daß Jüngers Antiamerikanismus keine antisemitischen Züge trägt; Äußerungen über den angeblichen Einfluß der Juden in den USA lassen sich bei Jünger, im Gegensatz zu vielen anderen Vertretern der Rechten, (vgl. DINER 2 0 0 2 : 7 3 - 7 5 ) nicht nachweisen. Eine letzte und überaus bemerkenswerte Besonderheit stellt in diesem Zusammenhang Jüngers feines Gespür für die Vitalität und künftige Bedeutung der Weltmacht USA dar. Ungeachtet seiner Verachtung und expliziten Ablehnung der Amerikanisierung war ihm dennoch klar, daß die „brutale Wirklichkeit" (JÜNGER 1927c: 329) der modernen technischen Welt noch lange von einer amerikanischen Dominanz geprägt sein würde. Die „unendlichen, mit Motorpflügen bestellten Weizenfelder Nordamerikas" (JÜNGER 1925b: 55), die kaum zu unterschätzenden „Kraftreserven" (JÜNGER 1927e: 350) der Vereinigten Staaten sowie deren enorme Fähigkeit zu dem, was er „Arbeitsmobilmachung" (JÜNGER 1930: 611) nannte, hat Ernst Jünger gleichsam seismographisch erkannt. Auch darin unterschied sich sein Denken ganz erheblich von den Vorstellungen der meisten Vertreter der deutschen Rechten.

Der Wandel des Jüngerschen Amerikabildes Während das Amerikabild von Ernst Jünger in den zwanziger Jahren wie ausgeführt letztlich auf marginalen Kenntnissen der amerikanischen Literatur und womöglich noch geringerer der Kultur und Gesellschaft der USA beruhte, änderten sich diese Voraussetzungen in den dreißiger und vierziger Jahren. Maßgeblich dafür waren eine ganze Reihe von Faktoren. An erster Stelle muß dabei Jüngers beginnende Auseinandersetzung mit der amerikanischen Gegenwartsliteratur genannt werden. Bereits Ende der zwanziger Jahre hatte Jünger bekanntlich in Berlin bei einem der Feste von Ernst Rowohlt die Bekanntschaft von Thomas Wolfe gemacht, den er mit den knappen Worten „ein starker Trinker" (JÜNGER 1958: 430) trefflich charakterisierte. Jünger schätzte sowohl

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Wolfes genialischen Erstlingsroman Look Homeward, Angel, den er offenbar kurz nach Erscheinen der deutschen Übersetzung im Jahr 1932 las,8 wobei ihm insbesondere die Fähigkeit Wolfes zur Schilderung drastischer Szenen im Gedächtnis blieb (vgl. JÜNGER 1949: 51). Wenige Jahre später entdeckte er William Faulkner. Allerdings konnte Ernst Jünger mit dessen Meisterwerk Absalom, Absalom! zunächst wenig anfangen, über das er gleich nach Erscheinen der deutschen Übersetzung 1938 urteilte: Den Faulkner'sehen Roman habe ich auch begonnen, fand ihn aber leider unleserlich. Diese Bücher erinnern mich an ganze Ziegen und Rinder, die roh durch den Wolf gedreht sind - schon in den wüsten Perioden liegt eine starke Zumutung an den Leser. 9 Dafür gefiel ihm einige Zeit später The Pylon außerordentlich gut, geht es darin doch um die rauhe Männerwelt ehemaliger Kampfflieger aus dem Ersten Weltkrieg, „ein Buch, das ich nach Jahren repetiere, weil die abstrakte Hölle der Maschinenwelt genau in ihm gezeichnet ist." (JÜNGER 1949: 81). Zeitgleich nahm Ernst Jünger Notiz von Thornton Wilder. Die deutsche Übersetzung von The Bridge of San Luis Rey war zwei Jahre nach der Erstausgabe von 1927 erschienen. Jünger las das Buch im Frühjahr 1939 (vgl. JÜNGER 1942: 28) und erhielt nach entsprechenden Gesprächen vier Jahre später einen handschriftlichen Brief Wilders für seine Autographensammlung als Geburtstagsgeschenk von Florence Gould (vgl. JÜNGER 1949: 33). Mit anderen Worten: Erst als Mann von 40 Jahren setzt sich Ernst Jünger, nach Abschluß des Frühwerks und Beginn seiner zweiten Werkphase (vgl. MARTUS 2001: 101 f.), regelmäßig mit den Großen der amerikanischen Gegenwartsliteratur auseinander und bildet sich ein eigenes Urteil darüber, das sich dann des öfteren in seinem Schaffen niederschlägt (vgl. JÜNGER 1950: 253). Ein zweiter Katalysator für Jüngers Entdeckung der amerikanischen Literatur war Carl Schmitt. Die Jünger in so vielem prägende Begegnung mit Schmitt zeitigte ebenfalls Folgen für das Amerikabild Jüngers. Zugespitzt formuliert: Durch Carl Schmitt lernte Ernst Jünger zu Beginn der vierziger Jahre Tocqueville kennen und Melville schätzen. Schmitt, der mehrfach über amerikanische Themen publiziert hatte, 10 war mit der amerikanischen Kultur sehr viel vertrauter als Jünger und lenkte dessen Aufmerksamkeit auch auf das Feld der politischen Theorie. So hat Jünger die Souvenirs von Alexis de Tocqueville erst auf Anregung Schmitts erworben. 11 Ob er Tocquevilles Hauptwerk De la

9

10

"

Vgl. Ernst Jünger an Rudolf Schlichter, 2. Juni 1938: JÜNGER/SCHLICHTER 1997: 135. Vgl. Ernst Jünger an Rudolf Schlichter, 2. Juni 1938: JÜNGER/SCHLICHTER 1997: 135. Vgl. SCHMITT 1940 u. SCHMITT 1 9 7 0 : 1 5 7 - 1 5 9 . Siehe dazu ULMEN 1987. Vgl. Ernst Jünger an Carl Schmitt, 12. November 1941: JÜNGER/SCHMITT 1999: 136.

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Démocratie en Amérique - und damit eine der bedeutendsten Interpretationen der amerikanischen Gesellschaft und Kultur überhaupt - bereits vor der Begegnung mit Schmitt kannte, wissen wir nicht. Doch Jüngers intensive Lektüre des Werks während der Pariser Jahre, und auch danach (vgl. G N O L I / V O L P I / J Ü N G E R 2 0 0 2 : 7 8 ) geht zweifellos auf den Einfluß von Carl Schmitt zurück, mit dem Jünger bei einem Besuch in Berlin zu Beginn des Jahres 1944 gemeinsam den Schluß des zweiten Bandes gelesen hat (vgl. J Ü N G E R 1 9 4 9 : 2 2 9 ) . Und obgleich Ernst Jünger Herman Melvilles Billy Budd nachweislich bereits zuvor gelesen hatte, verdankt er erst der Anregung Schmitts die Kenntnis und Auseinandersetzung mit dessen Benito Cereño und Moby Dick.n Allerdings behielt in Jüngers persönlicher Wertschätzung, ganz im Gegensatz zu Schmitt, Poe weiterhin seinen Platz vor Melville.13 Als dritte Ursache für Jüngers wachsende Vertrautheit mit der amerikanischen Kultur muß die Begegnung mit Florence Gould während Jüngers Militärdienstzeit zu Beginn der vierziger Jahre in Frankreich Erwähnung finden. Die in Paris lebende Gattin des amerikanischen Milliardärs Frank Jay Gould stellte den Inbegriff kultivierten amerikanischen Geisteslebens und dessen Symbiose mit der französischen und europäischen Kultur dar. Ihr Salon in der französischen Metropole mit dem donnerstäglichen Literatentreff war der vielleicht prägendste Einfluß während der geistigen Entwicklung Ernst Jüngers vom deutschen Schriftsteller zu einem Autor von internationaler Statur in Frankreich. Für die Dauer zweier intensiver Jahre von März 1942 bis Sommer 1944, in denen Jünger drei seiner Geburtstage mit Florence Gould verbrachte, öffnete sie ihm nicht nur die Türen zur Pariser Gesellschaft, sondern zugleich zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der amerikanischer Literatur. Mit Florence Gould debattierte Jünger über The Sketch-Book of Geoffey Crayon, Gent von Washington Irving (vgl. J Ü N G E R 1949: 85) - in Jüngers Worten „eines der Werke der großen Literatur, deren Lektüre ich bislang versäumte" ( J Ü N G E R 1949: 116) - genauso wie über die Werke von Faulkner und Henry Miller. Gerade die Lektüre Millers, den Jünger also 1943 erstmals zur Kenntnis nahm und mit dem ihn fortan die gemeinsame Liebe zu Paris verbinden sollte (vgl. J Ü N G E R 1980a: 104 u. 395), dürfte ohne die Vermittlung durch Florence Gould kaum zustande gekommen sein. Jüngers hohe Wertschätzung der Prosa von Henry Miller belegt sowohl seine einschlägige Leseempfehlung an Rudolf Schlichter,14 wie auch sein späteres Eingehen auf Millers Werk in Über die Linie (vgl. J Ü N G E R 1950: 274; dazu M E Y E R 1990: 473). Jedenfalls kann der erhebliche Einfluß Florence Goulds auf Ernst Jüngers vertiefte Kenntnis der amerikanischen Literatur und Kultur kaum überschätzt werden. 12 13 14

Vgl. Ernst Jünger an Carl Schmitt, 3 März 1 9 4 1 : JÜNGER/SCHMITT 1 9 9 9 : 115. Vgl. Ernst Jünger an Carl Schmitt, 2 8 . August 1 9 4 1 : JUNGER/SCHMITT 1 9 9 9 , 127. Vgl. Ernst Jünger an Rudolf Schlichter, 2 3 . November 1 9 4 9 : JÜNGER/SCHLICHTER 1997:235.

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Schließlich darf Ernst Jüngers einzige persönliche Begegnung mit God's own country, seine Reise in die Vereinigten Staaten im Januar und Februar 1958, nicht vergessen werden. Es ist außerordentlich bemerkenswert, daß der große Reiseschriftsteller Jünger die Eindrücke dieser Fahrt in seinem Werk kaum je erwähnt hat; auch ein Reisetagebuch scheint zu fehlen. Jünger zählte zu diesem Zeitpunkt fast 63 Jahre; seine Eindrücke waren, wie die wenigen überlieferten Bemerkungen zeigen, außerordentlich negativ. So mußte er beispielsweise in New York die stärkste räumliche Depression erleben, die er je erfahren hat (vgl. JÜNGER 1980a: 103). Zudem fand er offenbar eine Reihe alter Vorurteile bestätigt: „Leute, die denken konnten, mußte man von jeher mit der Laterne suchen - allerdings war es in Athen leichter, sie zu finden, als etwa in New York" (JÜNGER 1980b: 454). Eine systematische Auswertung von Jüngeres Korrespondenz aus diesen Tagen dürfte seine negative persönliche Erfahrung mit den Vereinigten Staaten genauso bestätigen wie die entsprechenden Aussagen von Liselotte Jünger gegenüber dem Verfasser. 15 Insofern scheint das persönliche Erleben eher Jüngers kritisches Amerikabild der zwanziger Jahre als seiner späteren Wertschätzung der amerikanischen Literatur bestätigt zu haben. Dennoch dauerte Ernst Jüngers Auseinandersetzung mit zeitgenössischen amerikanischen Autoren an. So wissen wir von seiner Lektüre Norman Mailers, wobei ihm gerade dessen Charakterisierung typisch amerikanischer Personen zusagte (vgl. JÜNGER 1955: 22). Noch bemerkenswerter ist Jüngers Beschäftigung mit den Gedichten von Ezra Pound, auf dessen Grab in Venedig der siebenundachtzigjährige Jünger 1982 eine Rose niederlegte (vgl. JÜNGER 1993: 199). Und immer wieder kehrte Jünger zu Henry Miller zurück, dessen Werke in der deutschen Übersetzung fast komplett in der Wilflinger Bibliothek zu finden sind und dort den umfangreichsten Bestand eines amerikanischen Autors bilden; quantitativ damit messen können sich, wie nicht anders zu erwarten, lediglich die Ausgaben mit Werken von Edgar Allan Poe.

Zwei Welten Unzweifelhaft hatte Ernst Jünger während der Arbeit an seiner ersten Werkphase bis 1933 nur eine sehr geringe Kenntnis der amerikanischen Literatur und Kultur. Sein mit wenigen Abstrichen typischer, von Vorurteilen bestimmter Antiamerikanismus dieser Jahre war ohne größeres Fundament und umfaßte die meisten amerikakritischen Stereotypen der radikalen deutschen Rechten. Bemerkenswert ist in dieser Zeit lediglich Jüngers feines Gespür für die Be-

15

Ein treffliches Beispiel liefert Jüngers Beschreibung in einem Brief an Hans Speidel v o m 4. März 1959: Vgl. Nachlaß Speidel.

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deutung der Weltmacht USA und ihren globalen Einfluß; der Seismograph Ernst Jünger erwies sich damit als sehr viel kompetenter als der politische Publizist. In der zweiten Werkphase nach 1933 setzte sich Jünger dann allerdings sehr viel intensiver mit der amerikanischen Literatur auseinander und verschaffte sich diesbezüglich einen relativ breiten Überblick, wobei vor allem die Pariser Jahre 1940 bis 1944 und der Dialog mit Carl Schmitt und Florence Gould wichtig waren. An dieser oft betonten Wasserscheide in der künstlerischen Entwicklung von Ernst Jünger vom deutschen Autor zum bedeutenden Schriftsteller dürfte also unter anderem auch seine kritische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Literatur mit dazu beigetragen haben, daß sich Jünger für neue Einflüsse öffnete. Dennoch blieben bei Ernst Jünger auf dem Gebiet der amerikanischen Literatur zeitlebens erhebliche Defizite. So sehr er Poe und Melville schätze, so verblüffend ist - angesichts von Jüngers sonstigem literarischem Interesse seine Mißachtung von Nathaniel Hawthorne oder Ralph Waldo Emerson. Auch Henry David Thoreau scheint Jünger kaum beschäftigt zu haben, auch wenn er sich in seinen letzten Lebensjahren auf ihn berufen hat (vgl. GNOLI/VOLPI/JONGER 2002: 78). Ähnlich erstaunt, daß Ernst Jünger die Autobiographie von Henry Adams nicht gekannt zu haben scheint - so wenig wie die Romane von Henry James, obgleich er die französischen Realisten des 19. Jahrhunderts so schätzte. Ernst Jüngers persönliche Rezeption der amerikanischen Literatur war, was zum Teil wohl auch den fehlenden Sprachkenntnissen zugeschrieben werden muß, eine überaus selektive und idiosynkratische. Ähnliches gilt übrigens für seine Kenntnis der amerikanische Politik und Geschichte und die damit einher gehende Wertschätzung entsprechender historischer Persönlichkeiten. Die großen Staatsmänner und literarisch produktiven Feldherren sind geradezu ein Topos bei Ernst Jünger: Napoleon und Friedrich der Große, der Prince de Ligne und andere haben ihn jahrzehntelang beschäftigt. Aber es finden sich eben keine vergleichbaren Äußerungen zu George Washington, Thomas Jefferson oder Abraham Lincoln. Trotz Jüngers später expliziter Wertschätzung „der großen amerikanischen Literatur" (GNOLL/VOLPL/JÜNGER 2002: 77) hielt er allerdings immer an typisch europäischen, elitären Vorbehalten gegenüber der amerikanischen Kultur fest und bewahrte damit letztlich einen Teil seines frühen Antiamerikanismus bis ins höchste Alter. Ein Beispiel dafür ist die Reflexion des fast Hundertjährigen über den Satz „time is money", der nicht nur als typisch amerikanisch, sondern mit feiner Zurückhaltung zugleich als „unangenehm" empfunden wird (vgl. JÜNGER 1997: 153). Als überaus vielsagend erweist sich in diesem Kontext wiederum eine nach Jüngers Reise in die USA geschriebene Passage aus dem Brief an Hans Speidel vom März 1958:

„Eine Welt, die den Tod und die Liebe nicht kennt". Ernst Jünger und die U S A

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Die Neue Welt, obwohl ich sie quasi nur tangential berührte, hat mich recht deprimiert. Die Uhren gehen dort vor - und wie seinerzeit Tocqueville, so können auch wir heute ablesen, was uns blühen wird - eine Welt, die den Tod und die Liebe nicht kennt. Das hat mich unendlich bestürzt, obwohl es j a nur eine Bestätigung war. 16 Eine Welt, die den T o d und die Liebe nicht kennt. V o m zornigen Antiamerikanismus des j u n g e n Repräsentanten der radikalen Rechten während der W e i m a rer Republik bis zur resignativen, aber beharrlichen A b l e h n u n g der amerikanischen Kultur durch den reifen Schriftsteller hat Jünger eine umfassende Entw i c k l u n g durchgemacht. Dabei hat er das ihn u m g e b e n d e und z w a n g s l ä u f i g auch b e s t i m m e n d e amerikanische Jahrhundert und dessen F o l g e n auf unterschiedlichste W e i s e w a h r g e n o m m e n und kommentiert -

und d e n n o c h sind

Ernst Jünger die U S A und die amerikanische Kultur letztlich immer fremd geblieben.

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LOTHAR BLUHM

„Die Trauer vor Tod und Herrlichkeit" Zur Rezeption der Geschichte von der Messingstadt im Werk Ernst Jüngers

I

Im Ersten Pariser Tagebuch Ernst Jüngers findet sich unter dem Datum des 28. Januars 1942 der Hinweis auf eine Briefsendung des Malers, Zeichners und Schriftstellers Rudolf Schlichter: Unter der Post ein Brief von Schlichter mit neuen Zeichnungen zu »Tausendundeiner Nacht«. Besonders ein Bild der Messingstadt ist wunderbar gelungen - die Trauer vor Tod und Herrlichkeit. Der Anblick regte in mir Begierde nach dem Besitz des Blattes an - ich hätte es gern als Gegenstück zu seinem »Atlantis vor dem Untergang«. Das Märchen von der Messingstadt, für dessen Zauber mir mein Vater schon früh die Augen schärfte, zählt zu den schönsten dieses wunderbaren Buches, und Emir Musa ist ein tiefer Geist.1

Die Sendung gehört in den Kontext eines Veröffentlichungsplans, der darauf abzielte, eine Werkauswahl des Malers zu präsentieren, zu der Jünger eine Einleitung beisteuern sollte. Die Realisierung dieses Projekts wie auch das einer gesonderten Veröffentlichung mit Zeichnungen zu ausgesuchten Erzählungen aus den Tausendundein Nächten scheiterte indes. Schlichters Illustrationen zu den orientalischen Märchen erschienen erst 1993 in einer postumen Edition. 2 Auch Jüngers Bemühen, das Bild von der Messingstadt zu erwerben, war trotz verschiedener Anläufe erfolglos geblieben.

2

Ernst Jünger: Das Erste Pariser Tagebuch. In: JÜNGER 1949: 88. Siehe auch SW 7: 297 f. Eintrag vom 28. 1. 1942. Abbildungen der Federzeichnungen finden sich im Anhang von JÜNGER/SCHLICHTER 1997; die Messingstadt-Zeichnung s. 579, die Atlantis-Zeichnung s. 556. SCHLICHTER 1993. Siehe auch in der Einfuhrung: „Die Geschichte von der Messingstadt symbolisiert für Schlichter den Untergang des Abendlandes als Erstarrung einer Kultur. [...] Diese Wüsteneien und Kämpfe tierisch wilder Geister, die Zwingburgen und verödeten Städte, die mumifizierten Toten - all das kann auf dem

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Lothar Bluhm

Die von Jünger so geschätzte, der Tuschfederzeichnung zugrunde liegende Erzählung aus den 1001 Nächten findet sich seit den 1930er Jahren im Werk des Autors immer wieder angespielt oder aufgenommen. Die Erzählsammlung selbst wird schon in den Veröffentlichungen der späten 1920er Jahren relativ häufig erwähnt,3 wobei zum einen die Erinnerung an die Jugendlektüre in der älteren Weil'sehen Übertragung aus den 1840er Jahren,4 zum anderen die Neulektüre in der aktuellen, auch heute noch verbindlichen Edition Enno Littmanns aus den 1920er Jahren zum Tragen kam.5 Jüngers Beschäftigung mit den morgenländischen Märchen steht wie bei vielen anderen Autoren der Zeit erkennbar im Kontext des die Moderne begleitenden Unbehagens an der entzauberten Welt' der Gegenwart (vgl. B O L Z 1989).

II Die Geschichte von der Messingstadt erzählt von der Expedition des Emir Musa, der auf Befehl des Kalifen von Damaskus an den Küsten von Mauretanien nach diesem sagenumwobenen Ort sucht, um dort die Messingflaschen zu finden, in die einst König Salomo unbotmäßige Geister gesperrt hatte. Am Ziel der mühevollen Reise durch Gefahren und Wüsteneien erwartet die Expedition eine Totenstadt. Beladen mit Schätzen und im Besitz der Flaschen kehrt sie schließlich nach Damaskus zurück. Musa verzichtet nach seinen Erlebnissen in der Totenstadt auf Ämter und Ehren und unternimmt statt dessen eine Wallfahrt in die heilige Stadt Jerusalem, wo er schließlich auch stirbt.6 - Jüngers

3

Hintergrund zeitgenössischer Luftangriffe und Kesselschlachten als Memento mori und Epitaph auf eine Zivilisation gelesen werden." (11). Zur fortdauernden Lektüre vgl. etwa Ernst Jüngers Hinweise in SW 9: 54 (Jugendlektüre), 124 und 169; SW 3: 586 (Lektüre der Inselausgabe); SW 11: 439 (Jug e n d l e k t ü r e ) ; JÜNGER 1 9 9 7 : 1 2 5 u . ö .

4

5

6

TAUSEND UND EINE NACHT. Arabische Erzählungen. Zum ersten Male aus dem Urtext treu übertragen von Gustav Weil. 4 Bände. Berlin/Pforzheim 1841-44. - Die Edition aus der Bibliothek des Vaters befindet sich noch heute in Ernst Jüngers nachgelassener Büchersammlung. Vgl. SCHWILK 1988: 30. In Autor und Autorschaft erinnert sich Jünger an die erste Begegnung mit den Märchen: „»Tausendundeine Nacht« [...] begann ich als Neunjähriger zu lesen, im Juni des Jahres 1904; ich weiß es so genau, weil ich das Werk auf dem Geburtstagstisch der Mutter fand. Es war die vierbändige Übersetzung von Gustav Weil, zu der ich immer wieder wie zu einer Oase in der Wüste Zuflucht nahm, bis ich zu der zwölfbändigen von Enno Littmann überging." (SW 19: 143). Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten 1953. - In Eumeswil wird auch auf die erste Übertragung durch Antoine Galland (frz. 1704-17) hingewiesen. (SW 17: 26). Die Geschichte von der Messingstadt. Fünfhundertundsechsundsechzigste bis fünfh u n d e r t u n d a c h t u n d s i e b z i g s t e N a c h t . I n : D I E ERZÄHLUNGEN AUS DEN 1 0 0 1 NÄCHTEN 1976: IV, 2 0 8 - 2 5 9 .

Zur Rezeption der Geschichte von der Messingstadt

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Adaptation der weitschweifig erzählten Geschichte ist reduktiv. Er fokussiert sein Augenmerk auf einige wenige Erzählteile, wobei der allegorische Gehalt der Begegnung mit der Totenstadt in den Vordergrund tritt. In den 1001 Nächten voneinander getrennte Erzählteile werden zusammengezogen, gelegentlich wird die Reihenfolge verändert. Der wiederholte Rekurs Ernst Jüngers auf die Geschichte von der Messingstadt ist von der Forschung nicht unbemerkt geblieben. Gerade in der jüngeren Zeit häufen sich die Bezugnahmen: 1996 skizzierte Veronika Bernard in einer Miszelle der Zeitschrift Wirkendes Wort die Rezeption der Erzählung bei Ernst Jünger und Christoph Meckel; in der erweiterten Fassung im Rahmen ihrer voluminösen Habilitationsschrift zur literarisierten Stadt nahm sie 1999 noch Friedrich Wilhelm Mader hinzu. Der Blick auf Jünger ist vor allem der auf die Rezeption im Roman Eumeswil. Die „erzählerische Ebene des Originals", so das Resümee, „wird verlassen zugunsten von Interpretation und aktueller Anspielung mit doppeltem Boden [...]", wobei eher allgemein auf „die elementare Problematik von Sein und Schein" abgehoben wird (BERNHARD 1999: 294. S. auch BERNHARD 1996). 1999 geht auch François Poncet in seiner Untersuchung zum Motiv der Totenstadt bei Jünger en passant auf die Adaptation der Erzählung ein: „Das vollendete Stadt-Bild erweist sich als Fassung, die Lebendiges und Totes um- und zusammenfaßt" (PONCET 1999: 226), wobei der Jünger entlehnte Begriff der .Fassung' im Sinne von ,menschlicher Erkenntnis' verwendet wird. Ausführlich wendet sich - ebenfalls 1999 - Thomas Pekar in seiner Studie über Jünger und den Orient der Rezeptionsgeschichte zu. Ihm gebührt das Verdienst, die verschiedenen Erwähnungen der Erzählung im Werk des Autors zusammengetragen und in den Kontext der Jünger'sehen Orient-Rezeption gestellt zu haben. Im Orient-Diskurs werde, so Pekar mit Blick auf den Briefwechsel des Autors mit Schlichter, „eine imaginäre Alternative zunächst zur bürgerlichen Gesellschaft der Vorkriegszeit, dann zur nationalsozialistischen Diktatur entworfen" (PEKAR 1999: 105). Hinsichtlich der Messingstadt-Rezeption selbst verweist Pekar auf die von Jünger explizierten Themen Lebenspracht, Tod, Schmerz und Lust (PEKAR 1999: 105 f.). Jüngers Rezeption der Geschichte soll in der Folge mit Blick auf diese vom Autor besonders herausgestellten Momente, die allesamt konstitutiv fur sein Politik-, Mythos- und Kunstverständnis sind, weiter erhellt werden. Die Relationalität, Kontextualität und Funktionalität der jeweiligen Aufnahme mit Bezug auf das einzelne Werk werden dabei vernachlässigt, um statt dessen die Kontinuitäten, aber auch die Akzentverlagerungen dieses intertextuellen Rückgriffs in den Vordergrund zu stellen. Mit der Fokussierung des Blicks auf die topische Ausgestaltung der Märchenfiguren in der erzählerischen Adaptation soll vor allem der Blick für Jüngers in den 1930er Jahren einsetzende und in den Folgejahrzehnten konsequent weiterentwickelte (Selbst-)Stilisierung als

Lothar Bluhm

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auratischer Künstler geschärft werden.7 In der wiederholten Aufnahme der Geschichte von der Messingstadt - das sei vorweggenommen - sucht und schafft der Autor, wie an vielen anderen Stellen seines Werks auch, eine Folie für die Projektion seines empirischen Ichs. Er liefert dabei ein narratives Modell für sein künstlerisches Selbstverständnis und, en passant wenigstens, ein Beispiel fur eine verdeckte Strategie von Leserlenkung: Aus dem Krieger und Abenteurer wird im Rahmen narrativer Selbstzuschreibung zusehends die Gestalt eines poeta vates, des Dichters als Künders und geistigen Führers.

III In seinem Antwortschreiben an Schlichter nach Übersendung der Zeichnungen und dem ,Bild der Messingstadt' hatte Jünger am 29. 1. 1942 eine Summa seiner Lektüre der Emir Musa-Geschichte versucht: „Dieses Märchen hat selbst innerhalb des bedeutenden Rahmens seine besondere Tiefe, seinen besonderen Rang", schrieb er, ich glaube [...], daß ich erst bei den letzten Lektüren wirklich zum Kern des Märchens vorgedrungen bin. Ich finde darin eine Grundfigur, die auch uns Abendländer im Banne hält: die Konfrontierung von Lebenspracht und Tod, die uns zugleich mit Schmerz und Lust erfüllt. In diesem schmerzlichen Genüsse liegt auch eines der Elemente unserer Wissenschaft, insbesondere der Archäologie [...]. (JÜNGER/ SCHLICHTER 1 9 9 7 : 1 8 5 f . )

Jüngers Lektüreanalyse, der Hinweis auf den ,Kern des Märchens', die ,Grundfigur' einer ,Konfrontierung von Lebenspracht und Tod', die ineins mit , Schmerz und Lust' erfülle, verweist in ihrer Beschreibungstypik und Erkenntnislogik auf die zweite Fassung des Abenteuerlichen Herzens. Der Blick auf die Vielfalt der Erscheinungen wird zur Suche nach den übergeschichtlichen Grundkonstellationen: „Hinter der Fülle des Wiederkehrenden", so Jünger in der Prosasammlung von 1938, „verbergen sich Figuren von beschränkter Zahl." (SW 9: 325). Diese ,Figuren' spiegelten sich in einer jeden Individualisierung, zeigten sich aber besonders bildkräftig in Märchen, Mythen, außergewöhnlichen geschichtlichen Momenten, in Kunst, Natur und Traum. Ein Spezifikum der von Jünger fixierten ,Figuren' ist ihre substanzielle Polarität, die sich in der Verbindung etwa von Schönheit und Gefahr, Werden und Vergehen oder eben wie hier bei der Ausdeutung der Geschichte von der Messingstadt im Zusammenhang von .Lebenspracht' und ,Tod' manifestiere. Für Jünger eröffnen sich die Grundkonstellationen vor allem dort dem Betrachter, wo sie in ihren Individualisierungen eine - im wortgetreuen Sinne - bedeutende'

7

Zu Jüngers Modell unzeitgemäßen' Künstlertums in den 1970er Jahren etwa BLUHM 2002 [2003],

Zur Rezeption der Geschichte von der Messingstadt

77

Funktion gewonnen haben, wo ihnen Bildhaftigkeit zugekommen ist. „Bilder", so wird Jünger später beschreiben, „sind eindringlicher als Worte; sie brauchen nicht übersetzt zu werden und wirken unmittelbar."8 In ihnen gewinnen für Jünger Augenblicksmomente statuarische Funktion und zeigen im Moment des Ruhens symbolhaft als überzeitlich begriffene Grundverhältnisse der menschlichen Lebenswelt, die aufgrund der Bewegungsgeschwindigkeit in der modernen Zeit selbst nicht angemessen wahrgenommen werden können.

IV Der Verweischarakter solcher Bilder, die der Autor seit den 1930er Jahren sammelt und sprachlich und wahrnehmungsästhetisch präpariert, erfordert den Interpreten, und das heißt für Jünger den „Schriftgelehrten" und bei der Sinnbestimmung erneut den Künstler.9 Der Autor wird zu einem Archäologen, der — wieder der Jünger des Abenteuerlichen Herzens mit einem allerdings nicht ganz geglückten Bild - unter dem „flutenden Spiegel die festen Zeichen" (SW 9: 326) sucht. Ihm kommt wie dem Historiker und Archäologen jener .schmerzliche Genuss' zu, der sich aus dem eigenen Erkenntnisgewinn und der Bewunderung für das Relikt (sowie der zu ahnenden einstigen Pracht und Herrlichkeit) zum einen sowie der korrespondierenden und an jeder neuen Entdeckung sich erneut bestätigenden Einsicht in die Vergänglichkeit der individuellen Existenz zum anderen ergibt. Diese Ambivalenz in der Bewusstseinshaltung des Betrachtenden weist sicherlich auf die 1930 im Sizilianischen Brief an den Mann im Mond beschriebene Optik zurück, hat sich in der hier zu fixierenden Form allerdings erst in den späteren 1930er Jahren herauskristallisiert, wie ein Vergleich mit Jüngers wohl erster größeren Bezugnahme auf die Geschichte von der Messingstadt in Über den Schmerz nahe legt. Bereits in diesem Essay von 1934 wird die Erzählung aus den 1001 Nächten mit Blick auf die Leistung der „Archäologie" als einer „Wissenschaft, die dem Schmerz gewidmet ist", umfänglich herangezogen: In dieser ausgestorbenen und von Wüsten umringten Stadt liest der Emir Musa auf einer Tafel von chinesischem Stahl die Worte: „Ich besaß viertausend braune Rosse und einen stolzen Palast, und ich hatte zu Weibern tausend Töchter der Könige, hochbusige Jungfrauen, Monden gleich; ich war gesegnet mit tausend Söhnen gleich wilden Löwen, und ich lebte froh an Herz und Seele tausend Jahre lang; und Schätze häufte ich, wie sie alle Könige aller Striche der Erde nicht besaßen, denn ich glaubte, die Wonne werde bei mir verweilen. Aber unversehens überfiel mich der Vernichter aller Wonnen und der Trenner aller Gemeinschaft, der Veröder der

9

Die Schere, SW 13: 541. Siehe auch ebd. 600: „Bilder sind der Annäherung an das Unbegreifliche dienlicher als Begriffe; das Denken versagt eher als das verehrende Gefühl." Siehe ebd.: 542.

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Lothar Bluhm Wohnstätten, der Plünderer bewohnter Orte, der Mörder der Großen wie Kleinen, der Säuglinge, Kinder und Mütter - er, der kein Erbarmen hat mit dem Armen um seiner Armut willen und der den König nicht fürchtet, soviel er auch gebiete und verbiete. Wahrlich, wir lebten sicher und wohlbehalten in diesem Palaste, bis über uns kam das Gericht." Ferner stehen auf einem Tisch aus gelbem Onyx die Worte eingegraben: „An diesem Tische haben tausend Könige gespeist, die blind waren auf dem rechten, und tausend, die blind waren auf dem linken Auge, und nochmals tausend, die sehend waren auf beiden Augen, und alle sind dahingegangen aus der Welt und haben ihren Wohnsitz in den Gräbern und Katakomben aufgeschlagen." (SW 7: 150 f.)

Augenfällig und nicht zuletzt eben wohl der Bildhaftigkeit der Allegorie geschuldet ist, welch breiter Raum hier und auch in den späteren Adaptationen dem unmittelbaren Textauszug selbst gegeben wird. Autor und Leser10 gehen unübersehbar ineinander über: Jünger setzt damit sein eigenes Ideal von Leserschaft um: „Der ideale Leser", so später in Die Schere, „will weder handeln noch dichten noch in irgendeiner Weise, auch nicht moralisch, Partei nehmen; er schwelgt in der Anschauung." (SW 13: 527). In dem Maße, in dem der Autor seinem Leser selbst als Leser entgegentritt, nähert er sich diesem Leser als einer scheinbar gleichberechtigten Instanz an, unterlegt ihm unvermerkt indes seine auktoriale Lesart. Blickrichtung und Interpretation von Autor-Leser und lesendem Publikum gehen - von jenem bestimmt - ineinander über. Im eigene Lektüre präsentierenden und kommentierenden Schreiben nimmt die Adaptation der Geschichte von der Messingstadt im Essay über den Schmerz bereits ein Moment vorweg, dass die Entwicklung des diarischen Spätwerks in besonderer Weise beschreiben wird. Sehr viel stärker noch als im Früh- oder im mittleren Werk wird in den Spätschriften Jüngers Literatur zu einer Literatur auf zweiter Stufe' (vgl. GENETTE 1993). Der Tenor des Rückgriffs in diesem Essay von 1934 sind Trauer und Schmerz angesichts untergegangener Pracht und Glückseligkeit „tausend Jahre lang", wobei eine verdeckte zeitgeschichtliche Replik auf den Ewigkeitsanspruch nach einem Jahr tausendjährigem' Dritten Reich durchaus eingeflossen sein mag: Angesichts der indes nicht allein politischen, sondern mehr noch allgemein-menschlichen Hybris - „denn ich glaubte, die Wonne werde bei mir verweilen" - wird der Rekurs auf die Geschichte von der Messingstadt zum Modell einer, wie Jünger selbst akzentuiert, „pessimistischen Geschichtsbetrachtung" (SW 13: 151). So wie Emir Musa - der mythische Eroberer Nordwestafrikas (worauf der Historiker Vigo in Eumeswil hinweist) - bei seiner Begegnung mit den längst vergessenen Königen der Vergangenheit vor einen Spiegel tritt, der ihm im Märchen wie in der Adaptation seine eigene Vergäng10

In Die Schere liest man: „Der Leser lebt nur halb in dieser Welt - und halb in einer anderen, einer besseren sogar. [...] Die Dichtung fuhrt in eine freiere Welt, in der auch das Unmögliche bezwungen wird. Lust und Schmerz werden in einer anderen Dimension empfunden" (SW 19: 524 f.).

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lichkeit und wohl auch Hybris offenbart, soll dieser Spiegel auch dem zeitgenössischen (aber nicht nur diesem) Leser vorgehalten werden. Der Schmerz, der sich beim Betrachter intra- wie extradiegetisch aus dem Memento mori der Allegorie ergibt bzw. ergeben mag, entsteht aus der Einsicht, dass Pracht und Tod nicht zu trennen sind, aber auch aus der Erkenntnis einer grundsätzlich beschränkten menschlichen Freiheit: Was auch immer der Mensch unternimmt, ob als König, Bettler oder Narr: er ist eingebunden in die Nichtigkeit individuellen Lebens, an dessen Ende immer der große „Vernichter" steht.

V Auffällig bei dieser Jünger'schen Lektürebeschreibung im Essay von 1934 ist das Fehlen des wenige Jahre später so deutlich akzentuierten Moments der ,Lust' und des .Genusses', das im Briefwechsel mit Schlichter als eine dem Schmerz korrespondierende Empfindung genannt ist. Die Erweiterung in Jüngers Brief an den befreundeten Maler und die Betonung eines „bitteren Stolzes vor dem Untergang" (JÜNGER 1949: 298) in der Tagebuchnotiz zu dessen Sendung stehen sicherlich in der Konsequenz des insbesondere im Arbeiter konturierten heroischen Fatalismus des Autors und der Stilisierung des verlorenen Postens', der im Angesicht der Katastrophe ausharre und eine stoische Heiterkeit an den Tag lege.11 Der von Jünger propagierte Genuss beim Vorgang der Anschauung verdankt sich vor allem wohl wiederum jener an die Statik des Bildes gebundenen Wahrnehmungsästhetik des Autors. In einem vergleichbaren Kontext hatte Jünger in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens ganz explizit darauf hingewiesen, dass der „ungemeine Genuß des Aufenthaltes in solchen Werken" auf dem Phänomen beruhe, „daß wir ruhend erfassen, was sonst nur in der Bewegung erscheint [...]" (SW 9: 326). Das Relikt für den Archäologen und das Bild für den Künstler sind innerhalb dieser Ästhetik Medien einer Zeitüberschreitung: In ihnen zeigt sich das Kontinuum der Zeit definitiv aufgehoben - Vergangenheit, Gegenwart und letztlich auch Zukunft fallen in eins. Relevant ist dieses Moment nicht zuletzt in Hinblick auf Jüngers poetologisches Selbstverständnis: Das Vermögen der Zeitüberschreitung und damit letztlich der Zeitaufhebung ist eine zentrale Konstituente für die Vorstellung des Künstlers als poeta vates. Verdeckt kommt in Jüngers Ausführungen zur Geschichte von der Messingstadt im Austausch mit Schlichter dementsprechend auch eine poetologi11

Siehe etwa: „Demgegenüber bezeichneten wir als die Haltung eines neuen Geschlechts den Heroischen Realismus, der ebenso wohl die Arbeit des Angriffes wie die des Verlorenen Postens kennt, aber dem es von untergeordneter Bedeutung ist, ob das Wetter besser oder schlechter wird. Es gibt Dinge, die wichtiger und näher sind als A n f a n g und Ende, Leben und Tod." J Ü N G E R 1 9 8 2 : 8 2 (Kap. 2 8 ) .

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sehe Pointierung zum Tragen. Im Tagebucheintrag vom 28. 1. 1942 ist sie lediglich angedeutet, wird aber im unmittelbaren diarischen Umfeld des Notats ausführlich thematisiert. So erörtert Jünger im Tagebucheintrag vom 27. 1. 1942 mit ganz anderem Bezug etwa das Vermögen der Sprache, mittels der „Worte ein Gitter [zu] bilden" und dabei einen „Ausblick auf das Unaussprechliche" zu gewähren (JÜNGER 1949: 297). Und im Eintrag vom 30. 1. 1942 ventiliert er die „Frage", „wie denn der Prosa ein neuer Schritt, neue Bewegung zu verleihen sei, die Macht und Leichtigkeit vereint. Man muß", so Jünger weiter, „das ungeheure Erbteil, das dort verborgen liegt, mit neuen Schlüsseln aufschließen." (JÜNGER 1949: 298 f.). Der Hintergrund der sprachmagischen Studien, des ,Lobs der Vokale', 12 ist unübersehbar, aber nur eine Facette der Fragestellung. In einem Brief an den Bruder Friedrich Georg bekannte Jünger Anfang Januar 1938 mit Blick auf die zweite Fassung des Abenteuerlichen Herzens: „Ich möchte die Prosa in einer neuen Potenz handhaben und sie bis an die Grenzen der Zauberei vortreiben." (Brief vom 6. 1. 1938. In: SCHWILK 1988: 158) Die Absicht, in den Verlauf der Zeit einzugreifen, die schon die politische Publizistik der 1920er Jahre und - weniger augenfällig - die Essayistik der frühen und mittleren 1930er Jahre grundiert hat, bleibt auch Ende des Jahrzehnt und in den 40er Jahren für das Schreiben des Autors bestimmend. Selbst das Spätwerk seit Siebzig verweht ist noch im Horizont dieser Programmatik situiert. Entsprechend steht das ,Unaussprechliche', die Überwindung der ,Grenzen der Zauberei', des ,Nullpunktes', auch im Zentrum von Jüngers späterer Lektüre der Geschichte von der Messingstadt, wie sie sich insbesondere im Eingangsteil von Eumeswil [1980] spiegelt. Im Rahmen einer Vorlesung des Historikers Vigo, einer der Lehrer Martin Venators in Jüngers Roman, gewinnt neben dem nach wie vor zentralen Emir Musa noch eine weitere Figur Kontur: D e r greise A b d - e s S a m a d , der das » B u c h der v e r b o r g e n e n Schätze« b e s a ß u n d stern e n k u n d i g war, f ü h r t e die K a r a w a n e in vierzehn M o n a t e n zur M e s s i n g s t a d t . Sie rasteten in verlassenen Schlössern und z w i s c h e n den G r ä b e r n v e r f a l l e n e r F r i e d h ö f e . Z u w e i l e n f a n d e n sie W a s s e r in B r u n n e n , die I s k a n d e r hatte g r a b e n lassen, als er n a c h W e s t e n zog. A u c h die M e s s i n g s t a d t war a u s g e s t o r b e n und d u r c h eine R i n g m a u e r v e r s c h l o s sen; es w ä h r t e weitere z w e i M o n d e , bis S c h m i e d e u n d Z i m m e r l e u t e eine Leiter geb a u t hatten, die bis an die K r o n e hinanreichte. W e r sie erstiegen hatte, w u r d e d u r c h e i n e n Z a u b e r verblendet, so d a ß er in die H ä n d e klatschte u n d sich mit d e m R u f e » D u bist schön!« hinabstürzte. D e r a r t v e r d a r b e n n a c h e i n a n d e r z w ö l f v o n M u s a s G e f ä h r t e n , bis es endlich d e m A b d - e s S a m a d glückte, der B e r ü c k u n g zu widerstehen, i n d e m er, w ä h r e n d er hinanstieg, u n a b l ä s s i g d e n N a m e n A l l a h s ausrief u n d o b e n die V e r s e d e r R e t t u n g bettete. E r sah unter d e m T r u g b i l d w i e u n t e r e i n e m

12

V g l . E r n s t J Ü N G E R : L o b der V o k a l e . In: J Ü N G E R 1 9 3 4 : 4 7 - 8 5 . - 1 9 3 7 erschienen die R e f l e x i o n e n unter g l e i c h e m Titel als eigene Schrift, 1939 n o c h m a l s in der Zeitschrift Corona (Zürich) 4 ; 6 0 1 - 6 3 3 .

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Wasserspiegel die zerschmetterten Leiber der Vorgänger. Musa: »Wenn so ein Vernünftiger handelt - was wird dann ein Irrer tun?« (SW 17: 23 f.)

Dem Karawanenführer gelingt es schließlich, die Stadttore von innen zu öffnen. „Doch nicht diesen Abenteuern [...] galt die Erwähnung des Emir Musa", schließt die Vorlesung im Roman die ausfuhrliche Darstellung ab, „sondern seiner Begegnung mit der historischen Welt, die vor der Wirklichkeit des Märchens zum Scheinbild wird." (SW 17: 24). Dieselbe Passage wird kürzer, aber mit gleicher Akzentuierung schon in Annäherungen. Drogen und Rausch und dann erneut in Jüngers letztem Großessay Die Schere aufgenommen.13 Sie ist gewissermaßen ein narrativer Textbaustein des Spätwerks. Der Schmerz des Memento mori und das Moment der Lust im Akt des Betrachtens bleiben in dieser erzählerischen Aktualisierung des Lektüreerlebnisses erhalten. Gegenüber den 30er und 40er Jahren neu hinzugetreten ist ein Augenmerk für das Widerspiel von Schein und Wirklichkeit, das unverkennbar poetologische Implikationen aufweist. Die in der Tagebuch-Adaptation von 1942 noch schwache, weil indirekte thematische Verbindung mit dem Kunstdiskurs wird zentral. Sie zeigt sich besonders auffällig in der Figurengestaltung der Romanpassage: Der Mauer-Bezwinger Abd-es Samad wird als „sternenkundig" ausgewiesen und in Die Schere sogar zu einem „Propheten" gemacht. (JÜNGER 1990: 101 (= SW 19: 526)). Seine Funktion als Karawanenführer und sein Buchwissen, das überhaupt erst das Auffinden der Messingstadt ermöglicht, werden hervorgehoben14 und er ist es schließlich auch, der als einziger dem zauberischen „Trugbild" widerstehen kann, das bereits zwölf seiner Gefährten in den Tod gestürzt hat. Die Sprache der Erzählfigur wird als sakral und mit magischer Kraft versehen vorgeführt: Den Namen Allahs ausrufend und betend, gelingt ihr die Überwindung der Stadtmauer und die Öffnung der Tore für die übrigen Expeditionsteilnehmer. Die von der Märchenerzählung übernommene Konturierung der Figur gewinnt in der Konzentration eine topische Funktion und weist auf die Rolle des Künstlers hin,15 wie sie gerade im Jünger'sehen Spätwerk zum Tragen kommt. Als Hüter geheimen Wissens, der gleichermaßen die verborgenen Schätze der Vergangenheit wie die Geheimnisse des Zukünftigen zu schauen vermag, wird er als der tatsächliche Führer der Suchenden und der Einzige, der die Mauer zwischen dem Diesseits und der jenseitigen mythischen Welt zu überwinden vermag, hochgewertet. Er ist derjenige, der das Trugbild von der Wirklichkeit unterscheiden und die Verblendung der Anderen aufheben kann. In Jüngers 13

Vgl. JÜNGER: Annäherungen. Drogen und Rausch [1970], SW 11: 92 f.; JÜNGER

14

In den 1001 Nächten

1 9 9 0 : 1 0 0 f. ( = S W

19:526).

wird er einmal sogar als „des Volkes Führer" tituliert (IV:

241). 15

In Eumeswil wird auch der Wesir des Emir Musa, Thalib, zum „Dichter" umgedeutet (SW 17: 24).

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Notizblock zu »Tausendundeine Nacht«, Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, finden sich die verschiedenen Stichworte nochmals aufgenommen: Nicht zufällig beginnen die Notate mit Notizen zur „Theologie" und knüpfen damit an Forderungen nach einer ,neuen Theologie' an, wie sie bei Jünger seit den späten 1930er Jahren immer wieder erhoben werden. Der Kernbegriff ist dabei der der Identität: „Allah il Allah: Die einzige Gleichung, in der ,a = a' stimmt. Nur im Zeitlosen gibt es Identität. Dort wird das ,Ich' mit dem ,Selbst' identisch". (JÜNGER 1994: 2 (= S W 19: 423)) Diese Identität komme - so der Schluss des Notizblocks - lediglich dem Höchsten selbst zu, das - wie es heißt - „im Kosmos durch Götter und in der Geschichte durch Propheten" wirkt, (ebd.: 33. (= SW 19: 436)) Sie ist desgleichen mit dem Künstler verbunden. Mit dieser Vorstellung von Künstler und Künstlertum verkörperte der Autor in der bundesrepublikanischen Literaturgeschichte einen Brückenschlag, der quasi in persona die poeta vates-Vorstellungen der Klassischen Moderne an die Autorengenerationen der Spätmoderne weitervermittelte. So ist es kein Zufall, dass etwa der Begriff der ,Gesinnungsästhetik', der 1990/91 den neudeutschen Literaturstreit um Christa Wolf beherrscht hatte, verdeckt auf das Gegenmodell Jünger hinwies (vgl. BLUHM 1994: 29 f.) oder wenig später Botho Strauß, der selbst heftig umstrittene Autor eines literarischen Rechtsrucks, Jünger „zum Prototyp einer kommenden Kunst" erklärte (STRAUß 1 9 9 5 : 3 2 3 f.).

VI Jüngers Lektüre der Geschichte von der Messingstadt ist unverkennbar nietzscheanisch grundiert. Auf die Entwicklung dieses Beeinflussungsfaktors bis in die 1950er Jahre hat in jüngerer Zeit vor allem Reinhard WLLCZEK (1999) hingewiesen. Wenn sich die zwölf Kundschafter beim Versuch, die Stadtmauer zu übersteigen, mit dem Ruf „Du bist schön!" zu Tode stürzen, werden in der Jünger'sehen Übernahme poetologische Parameter aufgerufen, die Nietzsches Vorstellungen vom Dionysischen und Apollinischen verpflichtet sind und in einer Reihe etwa mit Gerhart Hauptmanns Griechischem Frühling oder dem Schneetraum-Kapitel in Thomas Manns Zauberberg stehen. Schönheit, Kunst, Kultur sind in diesem Vorstellungsraum einer zugleich schöpferischen wie zerstörerischen Elementarmacht verpflichtet und verdecken diese im gleichen Maße wie sie sie auch sinnfällig machen. Dass in der Geschichte von der Messingstadt die Schönheit nicht der Stadt resp. des Kunstwerks selbst, sondern ihr „Trugbild" die Verwirrung der Sinne und den Tod der Betrachter initiiert, wird in Annäherungen. Drogen und Rausch thematisiert: „Auch die Fata Morgana hat ihre Wirklichkeit", führt Jünger hier aus: „Der Trug liegt nur darin, daß sie falsch geortet wird. Ihr Ort wird verkannt; ein Abziehbild wird fur das Mei-

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sterwerk gehalten, das es vorspiegelt." (SW 11: 93). Die Verwendung des Begriffs .Meisterwerk' verrät einmal mehr den Kunstdiskurs, ebenso wie später in Die Schere die Kontextualisierung mit Hilfe der berühmten Platen-Verse „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben": „[...] das Kunstwerk", so Jünger in diesem Zusammenhang, „ruft, wo es sich dem Vollkommenen nähert, einen Augenblick der Bestürzung, ein Gefühl des Schwindels wie auf einer Klippe oder einer hohen Mauer hervor." (JÜNGER 1990: 100 (= SW 19: 526)). Vor diesem Hintergrund ist dann die Wirklichkeit des Scheins realer, jedenfalls wirkungsintensiver als die historische oder empirische Realität, die wiederum - in den einem Novalis abgelauschten Worten des Historikers Vigo aus Eumeswil - „vor der Wirklichkeit des Märchens zum Scheinbild wird" (SW 17: 24). Die Scheinhaftigkeit des historisch und empirisch Fixierbaren wird mit dessen Individualität und Kontingenz begründet, während die Wirklichkeit des künstlerischen oder mythischen Scheins in der Gestalthafitigkeit der entsprechenden Bilder und Erscheinungen liege.

VII Der Kunstdiskurs in Jüngers lesender Erkundung der Messingstadt-Geschichte zeigt sich - wie skizziert - bereits in der topischen Gestaltung des Karawanenführers. Sie ist dem spätestens seit der Romantik vertrauten Antagonismus von Ratio und Numinosem verpflichtet. Während die ,Vernünftigen' unter den Kundschaftern sich der Wirklichkeit des Scheins nicht gewachsen zeigen und sich beim Versuch die Mauer zu übersteigen zu Tode stürzen, vermag erst der über geheimnisvolles Buchwissen verfugende Abd-es Samad die Prüfung zu bestehen. Als Betender, als Prophet und in Emir Musas Rede indirekt als ,Irrer' apostrophiert, ist die Erzählfigur unverkennbar mit topischen Signalen eines auratischen Künstlertums versehen. Die Aufgabe des Künstlers, so der poetologische Subtext der Jünger'sehen Applikation, ist im eigentlichen Sinne nicht die Rückkehr zur mythischen Welt: Die Messingstadt ist vergangen und bleibt es auch; nur noch ihr Schein vermag Entzücken hervorzurufen. Dass dies nicht das Ziel der Begegnung mit ihr sein kann, zeigt das traurige Schicksal der Kundschafter. Die Hinfuhrung zur mythischen Welt dient - intra- wie extradiegetisch - vielmehr der vermittelten Begegnung mit dem Tod, dient dazu, Einsicht in die eigene Vergänglichkeit zu erwirken. So bleibt in Jüngers Lektüre des Märchens auch nicht zufällig die Figur des Emir Musa zentral. Ihm, dem mächtigen Statthalter, Eroberer und Tatmenschen, der für seinen Kalifen nach dem Besitz der - in der Lesart Jüngers machtversprechenden Messingflaschen strebt, bedeutet diese Begegnung eine völlige Erschütterung der bisherigen Existenz, so dass er immer, wenn er mittels einer Inschrift an die Vergänglichkeit des Lebens erinnert wird, in Tränen

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ausbricht. „Es berührt merkwürdig," schließt Thomas Pekar in seiner Analyse dieser Passage ein wenig ratlos, „daß sich der soldatische Mann' Jünger ausgerechnet diese überaus sentimentale Figur zum ,Liebling' erkor!" (PEKAR 1999: 105). Diese Erschütterung aber ist es eben, und das heißt entsprechend auch die durch den Künstler bewirkte Erfahrung einer Grenzüberschreitung, die Jünger an der Märchenallegorie fasziniert und ihn veranlasste, sie zu einem immer wieder aufgenommenen narrativen Textbaustein in seinem mittleren und späteren Werk werden zu lassen. Dass die weitere Geschichte der Erzählfigur nach der Begegnung mit dem Tod und nach der Erschütterung bei Jünger ausgeblendet wird, mag auf den ersten Blick von einem „Bewusstsein der Vergeblichkeit" (MARTUS 2001: 237) solcher ,Annäherung' an das Unfassbare zeugen, auf das in der Jünger-Diskussion gelegentlich mit guten Gründen hingewiesen wird. In der Jünger'sehen Aufnahme der Geschichte von der Messingstadt scheint mir aber eine andere Tendenz erkennbar, die in der dem Emir Musa korrespondierenden Figur des Karawanenfuhrers ihre Konkretisierung erfährt: Jünger reflektiert in dieser Figur die Möglichkeiten des Künstlers, der eben nicht (wie Emir Musa) nur die Grzraerfahrung macht, sondern dem (wie eben dem Karawanenfuhrer im Märchen) die Grenzüberschreitung gelingt. Es ist der Gang über den ,Nullpunkt' hinaus, wie Jünger ihn in Abgrenzung zu Martin Heidegger propagierte. Die Mitteilung dieser Grenzüberschreitung muss wiederum in bildhafter, mithin künstlerischer Weise erfolgen, ist gewissermaßen das Wiederzählen selbst, da die Sprache die Überschreitung zwar anzeigen, aber nicht adäquat wiedergeben kann: Dem Leser bleibt allein der .Schein'. Im lesenden Nachvollzug ist gleichwohl die Möglichkeit der Teilhabe gegeben. Das implizite Angebot an den Leser zielt auf Jüngerschaft.

VIII Die von Jünger explizierten Momente von Schein, Schmerz und Lust in der Messingstadt-Geschichte kreisen um das zentrale Ereignis des Todes und die Begegnung mit diesem. Vieles erinnert an die Beobachtungen und Beschreibungen des Ägyptologen Jan Assmann zu Tod und Jenseits im Alten Ägypten. Das Bewusstwerden von Endlichkeit gebe, so Assmann, dem Tod als Übergang eine besondere Relevanz ftir das konkrete Leben. Kultur sei die Welt, die der Mensch errichte, um mit dem Wissen um seine Sterblichkeit leben zu können, mehr noch sei das Wissen um die eigene Sterblichkeit ein ,KulturGenerator ersten Ranges', (vgl. ASSMANN 2001: 10). Das lässt sich auch auf Jüngers produktive Rezeption der Geschichte von der Messingstadt anwenden: Folgt man dieser Denkschiene, so spiegelt sich fur den Autor im Märchen modellhafi die Aufgabe der Kunst, die als eine Grenzüberschreitung individuelle Grenz- und Selbsterfahrung ermöglicht. Die auf das Memento mori der

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Erzählung fokussierende Rezeption formuliert den Prätext neu und vermittelt ihn Stafettenhaft weiter. Wie schon die erste Literarisierung realisiert sich in der produktiven Aufnahme erneut der Akt der ,Kultur-Generation', er ist - um diesen Jünger'sehen Begriff aufzunehmen - eine wiederholte ,Annäherung'. So wie in Emir Musas Begegnung mit dem Tod und der so augenfälligen existenziellen Erschütterung intradiegetisch die Chance eines Neubeginns liegt, mag der Geschichte aus den 1001 Nächten auch wirkungsästhetisch eine im engeren Sinne kathartische Aufgabenstellung zugewiesen werden. Als Modell ist sie Spiegelung einer transzendenten, letztlich unfass- und unsagbaren Wahrheit. Die Wiederaufnahme in der literarischen Adaptation nimmt die Spiegelung auf, hinter der aus der Perspektive des Autors mithin dieselbe grundlegende Wirklichkeit aufscheint. Auf den Stellenwert der Grenzerfahrung von Sterblichkeit und Tod bezogen, zeigen sich Konstanten, die das gesamte Jünger'sehe Werk bestimmen: Bernhard Gajek ist sicherlich zuzustimmen, wenn er fixiert, dass „Autorschaft [...] für Jünger Überwindung der Todesfurcht bedeutet ( G A J E K 1999: 218); daran anschließend heißt das gleichwohl nicht, dass der Tod überwunden oder aus dem Dasein verdrängt werden sollte - wie es die Rahmenhandlung der Schehrezâd in den 1001 Nächten vorführt - , der Tod wird vielmehr als Regenerator verstanden, in dem der Keim zu einer Erneuerung liegt.16 Literatur ist in diesem Verständnis nicht eigentlich eine Sinngebung des Unfassbaren, sondern eher der Versuch einer Sinngebung aus dem Unfassbaren heraus. Der Tod ist kein Ende, sondern ein neuer Anfang, fassbar in Kunst und Kultur.

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Die vielleicht bekannteste „Figur" (im Jünger'schen Sinne) dieser Grundkonstellation bietet die ,berühmt-berüchtigte' Eintragung vom 27. 5. 1944 aus dem Zweiten Pariser Tagebuch (JÜNGER 1949: 141; s. a. SW 2: 353. Vgl. dazu BLUHM 2002: 155-160).

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BLUHM, Lothar (2002): Begegnungen. Studien zur Literatur der Klassischen Moderne. Oulu: Yliopistopaino. BOLZ, Norbert (1989): Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München: Fink. GAJEK, Bernhard (1999): Ernst Jüngers Essay Philemon und Baucis. Der Tod in der mythischen und in der technischen Welt. In: Les Carnets Ernst Jünger 4; 205-223. GENETTE, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankf./M.: Suhrkamp. JÜNGER, Ernst (1934): Blätter und Steine. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. JÜNGER, Ernst (1949): Strahlungen. Tübingen: Heliopolis. JÜNGER, Ernst (1982): Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1990): Die Schere. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1994): Notizblock zu »Tausendundeine Nacht«. St. Gallen: ErkerVerlag. JÜNGER, Ernst (1997): Siebzig verweht V. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1978-99): Sämtliche Werke. 19 Bände. Stuttgart: Klett-Cotta. [Zitiert: SW + Band- und Seitenangabe] JÜNGER, Ernst / SCHLICHTER, Rudolf (1997): Briefe 1934-1955. Hg. von Dirk Heißerer. Stuttgart: Klett-Cotta. MARTUS, Steffen (2001): Ernst Jünger. Stuttgart: Metzler. PEKAR, Thomas (1999): Ernst Jünger und der Orient. Mythos - Lektüre - Reise. Würzburg: Königshausen & Neumann. PONCET, François (1999): Die humane Schicht. Zum Motiv der Totenstadt bei Ernst Jünger. In: Les Carnets Ernst Jünger 4; 225-237. SCHLICHTER, Rudolf (1993): Tausendundeine Nacht. Federzeichnungen aus den Jahren 1940-1945. Textauswahl und Einführung von Günter Metken. Berlin: Hentrich. SCHWILK, Heimo (1988) (Hg.): Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Stuttgart: Klett-Cotta. STRAUB, Botho (1995): Refrain einer tieferen Aufklärung. In: Günter Figal/Heimo Schwilk (Hg.): Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten. Stuttgart: Klett-Cotta; 323 f. WILCZEK, Reinhard (1999): Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier. DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN ( 1 9 7 6 ) . V o l l s t ä n d i g e d e u t s c h e

Ausgabe. Nach dem arabischen Urtext übertragen von Enno Littmann. [Leipzig 1923-28; erneuerte Ausgabe Wiesbaden: Insel, 1953]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

ROTRAUT FISCHER

Don Quijote oder Das abenteuerliche Herz Eine Annäherung an die Kunst Ernst Jüngers

Für Jörg

Von Cervantes, dessen „Ritter von der traurigen Gestalt" er mehr liebe als die Julien Sorels und die Fabricio del Dongos, spricht Ernst Jünger als von einem Mann, „dem Schwert und Feder mit tieferer Notwendigkeit beieinanderlagen" (JÜNGER 1979a: 57). Wie nahe diese Einschätzung seinem eigenen Selbstverständnis kommt, ahnt man, wenn in der ersten Fassung der Essaysammlung Das abenteuerliche Herz weiter zu lesen ist: Wie und weil das Leben durchaus kriegerisch ist, so ist es auch von Grund auf bewegt. Und wie man im grimmigen und prächtigen Augenfunkeln (...) die innere Bewegung des Gegners errät, so trifft zuweilen ein Satz, ein Ton, ein Vers oder ein Bild wie ein Pistolenschuß. (JÜNGER 1979a: 61)

So kann auch das Schauen nur „ein höchster und wildester Bewegungsprozeß" sein (JÜNGER 1979a: 62), und „das Schöne erschüttert uns durch eine Kette bunter Explosionen" (JÜNGER 1979a: 82). Das solcherart Bewegte, Flüchtige wird zur Beute allein dem „Jäger", die Begegnung selbst ist immer eine heftige, dem Kampf vergleichbare: „Jedes unserer Worte" solle eine „neue Berührung der Idee" sein. Die Sprache begleite uns dabei „auf dem Marsch" und verlange „eine neue Entfaltung bei jedem Gefecht" (JÜNGER 1979a: 88). Ziel des Angriffs ist ein „Kern", ein Inneres, das „die regenbogenfarbige Haut der Welt" jedoch nicht kampflos preisgibt. Und so ist auch die köstlichste Beute des Jägers die am Wesen (JÜNGER 1979a: 125 und 182). Im Wort scheint es auf: „Jedes Wort ist eine Trophäe, wie die Philologie eine feinere Art der Kriegsgeschichte ist." Und: „Jede Sprache ist ein Abenteuerbuch, in dem sich die Geschichte unerhörter Fischzüge und Beutefahrten niedergeschlagen hat." (JÜNGER 1979a: 125f). Die Beute, das sind die Worte; aus ihrer Verbindung wächst das „Abenteuerbuch" der Sprache, das vom Kampf zeugt, den führen muß, wer in den Wor-

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ten die „Idee" berühren will. Denn bei Jüngers ästhetischen Strategien geht es letztlich um die Gewinnung einer „Essenz", von etwas Verborgenem, das freilich nicht mit „Idee" im Sinne etwa der klassischen, auf ein unendliches „Ideal" projizierten Vorstellung der „Vollkommenheit" gleichzusetzen ist. Es bleibt vielmehr trotz unterschiedlicher Attribute eher dunkel und hat eine Quelle im gnostischen Schauen, dort, wo Philosophie und Theologie zusammentreffen. In diesen Überlieferungen lebt der Gedanke der mysthischen Schau ebenso wie der der ,plötzlichen Wahrnehmung' (vgl. KOSLOWSKI1991). Der Kampf des Schriftstellers Jünger richtet sich vor allem gegen jene Kräfte, die den begehrten „Kern" des Lebens verdecken und verborgen halten. Mit Schwert und Feder ficht er gegen den Verlust von Lebensintensität in den „zweckmäßigen" Formen des Lebens und das Nachlassen der symbolisierenden Kraft der Sprache. Er beruft sich in seiner Wendung gegen das „geborgte Licht" der Aufklärung, das nur die karge Oberfläche der Dinge beleuchte, auf Novalis, „einen der tiefsten Träumer" (JÜNGER 1979a: 72). Karl Heinz Bohrer nennt daher sein Werk eine Art Endpunkt der spekulativen Romantik (BOHRER 1983). Mit seinen romantischen Vorgängern teilt Jünger zwar die Auflehnung gegen die Verendlichung des Subjekts in der Welt der Zwecke, seine gesellschaftliche und seine Selbstentfremdung. Doch setzt er an die Leerstelle nicht deren „ironische" Thematisierung, die indirekt zu sagen hätte, was direkt nicht zu sagen ist, sondern das Ausdrückliche, die „Tat": In der Form des Abenteuers ist sie ein Protest gegen die „Konservierung und Sterilisierung des Seienden", die ihrerseits die „kosmische Bestimmung des Lebens" zwischen Zeugung und Tod zu zersetzen sucht (JÜNGER 1979a: 79). Der „lebendige" Rhythmus von Kampf und Abenteuer könne, so Jünger, die „maschinenmäßige" Monotonie des linearen Lebensablaufs durchbrechen, höchste Anspannung und Konzentration wechselten mit traumartig stillgestellter Zeit. Nur in solchem Ausbruch aus dem „Gewöhnlichen" gelinge es, „das stolze geheime Wild", die „saftigsten Früchte" des Lebens zu erhäschen (JÜNGER 1979a: 175 und 79). Die Annäherung an den Gegenstand geschieht gewaltsam. Ihre Heftigkeit ist motiviert aus ihrem Charakter als Gegenbewegung gegen die Monotonie und Langeweile in der von Jünger so genannten „mechanischen" Zeit, in welcher der Mensch zur „Maschine des Bösen" werde (JÜNGER 1979a: 79). Der Welt der „Arbeitgeber und -nehmer, der Krämer und des Geldes" (JÜNGER 1979a: 72) setzt Jünger die konvulsivischen Bewegungen des Herzens und des Blutes und die äußerste Anspannung im „gefährlichen Augenblick" entgegen, in denen sich höchste Intensität und Dynamik des Lebens zu konzentrieren scheinen. In der Beschleunigung der Zeit gewinnt das Erleben die nötige Fliehkraft, um der Lähmung im bürgerlich befriedeten Alltag zu entkommen. Einen Hinweis auf die Beschaffenheit des Subjekts, von dem diese „Jagden" ihren Ausgang nehmen, enthält Jüngers Berufung auf den Don QuijoteRoman, der sich auch lesen läßt als die Geschichte eines Helden ohne ange-

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messenen Gegenstand. Zwar müht sich der Herr von der Mancha redlich am Surrogat ab, das sich seine Einbildungskraft gebiert, indem der Ritter die „Gewöhnlichkeit" der Dinge, die ihm begegnen, geflissentlich übersieht; doch offenbaren seine Anfälle cholerischer Wut nur seine Objektlosigkeit, der sie auch eigentlich gelten. Seinen Gegenstand findet er nur in der Kunst. Aber Jünger begibt sich zunächst auf den Standpunkt des fahrenden Ritters, nimmt Krieg und Abenteuer ,beim Wort' und sucht in diesen Formen die Essenz. Höchste Erlebensintensität gewinnt er aus der Rekonstruktion eines Moments, in dem man dem Gegner gegenübersteht auf Leben und Tod, dem Augenblick also, in dem „das Weiße im Auge" sichtbar wird und es heißt: vernichten oder vernichtet werden. Die Erlösung, die in dieser Art Nähe zum Objekt liegt, hat offenbar zwei Quellen: die Annäherung an das Objekt, sein Gegenständlichwerden, und die Abwehr desselben; der Augenblick des Gleichgewichts zwischen diesen beiden Strebungen, der Annäherung und der Abwehr, erzeugt in der Raffung der Zeit eine einzigartige Dichte des Erlebens, die Jünger zunächst in Kampf und Krieg zu finden hofft als Möglichkeit, dem Objektverlust und der Reizlosigkeit des „normalen" Lebens zu entgehen. Nur an den „Rändern" des Todes, die der Abenteurer aufsucht, und auf den Grenzgängen zwischen Tag und Traum, im Unbewußten, Archaischen, das sich dort auftut, ist noch Unverbrauchtes zu gewinnen, ist das Land noch „wild" und nicht kartographisch verzeichnet. In seinen frühen Werken, etwa In Stahlgewittern (JÜNGER 1978a), hat Jünger den Versuch beschrieben, auf diesem Wege die „Lebensessenz" zu gewinnen. In den Schützengräben folgt ein plötzlicher Kampf Tagen und Wochen der Langeweile, in der die Soldaten sich selbst auf wunderliche Weise ausgeliefert waren. Da endlich ist es dann soweit, der Angriff ermöglicht den Aufbruch zur Tat, gibt ein Ziel vor, schreibt der diffusen Subjektivität ihre Grenzen, ihre „Rüstung" ein (JÜNGER 1979a: 168); zugleich kommt es, am äußersten Punkt des Geschehens, zu einer Verschmelzung bzw. Verdoppelung. Jeder der beiden Gegner ist Subjekt und Objekt zugleich, beide Seiten sind in der Brisanz des Augenblicks zur höchsten Empfindungskraft gesteigert. Doch ist solches Glück des Krieges nur selten beschieden. Die Geschichten von Kämpfen und von Abenteuern erzählen ein Mißlingen. Der Emphase des Kampfes wohnt die Desillusionierung des Kämpfenden inne. In den „Stahlgewittern" vernichtet der „Maschinenkrieg" die Möglichkeit der heroischen Begegnung und jeden individuellen Heldentums. Beides bleibt im Verschleiß des Grabenkrieges und der Massenschlachten stecken oder wird in der Begegnung der Apparate obsolet. Die vom Autor zornig angeklagten Verhältnisse haben sich auch der Stätten des Abenteuers und des Kampfes bemächtigt. Aber nicht nur der große Krieg, auch die Abenteuer, zu denen aufbricht, wer jung ist und das „gefährliche Leben" sucht (JÜNGER 1978b: 112), tragen den Keim der Enttäuschung darüber in sich, daß es die Zone, „in der der

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Kampf natürlicher Gewalten rein und zwecklos zum Ausdruck" komme (JÜNGER 1978b: 82), als realen Ort nicht gibt. Der jugendliche Held des stark autobiographisch inspirierten Romans Afrikanische Spiele zwar „vermutete mit Recht, daß man den natürlichen Söhnen des Lebens nur begegnen könne, wenn man seinen legitimen Orten den Rücken kehrt" (JÜNGER 1978b: 81), Doch im Verlauf seines afrikanischen Abenteuers bei der französischen Fremdenlegion lassen ihn die dortigen Erlebnisse spüren, daß der besondere Stoff des Lebens auf diese Weise nicht zu gewinnen sei. Die ursprüngliche Absicht, der Impuls des Aufbruchs, „die Führung des Lebens aus eigener Kraft, auf ungebahntem Weg" (JÜNGER 1978b: 174), ist zum Plagiat geraten. Die ,rohen' Formen des Kampfes und des Abenteuers halten demnach nicht, was sie versprechen und taugen nicht für die Darstellung des „lebendigen Kerns". Alles ist schon dagewesen, als Stoff des Erlebens verbraucht. „Ich mußte zurück, mußte leben wie die anderen auch."(JÜNGER 1978b: 241) In einem Leben, einer ,Wirklichkeit', deren „Gewöhnlichkeit" man mit „allen" teilt, müssen die Bezirke des „abenteuerlichen Lebens" anderswo liegen. Den „Robinsons unserer großen Städte" blieben nur der Alleingang des „abenteuerlichen Herzens" und geheime Bruderschaft; und so sind es die Bezirke des Traums, der „Studien" und der Kunst, in der „subtile Jagden" die geschätzte Beute bringen: die am „Wesen". In diesem Sinne beginnt das Geschehen in der Erzählung Auf den Marmorklippen mit einer Rückkehr aus dem Kampf; die Waffen werden „in die Rüstkammer eingeschlossen" und der Wunsch „nach einem Leben, das von Gewalt gereinigt" sei (JÜNGER 1978c: 287), erfaßt die beiden Brüder. Sie greifen ihre „alten Studien" wieder auf, und mit diesen wachsen die Kräfte, „den heißen Lebensmächten standzuhalten und sie zu bändigen, so wie man Rosse am Zügel führt" (JÜNGER 1978c: 259). Die Zeit der Studien löst die des Kampfes ab. Der Grund der Welt sei ein geistiger (JÜNGER 1979b: 55). Was nur heißen kann, daß es auch geistiger Waffen bedarf, ihn zu gewinnen. Doch bleiben Schwert und Feder, Geschützrohr und Fernrohr nahe beieinander; zur Bewältigung von jeder Art Stoff brauche es ,jene Wärme des Blutes, die unmittelbar Fühlung nimmt" (JÜNGER 1979b: 40). Solche Unmittelbarkeit ist in Jüngers Prosa die Fiktion, mit der er seine Leser in Bann schlägt und der wir nur ,zum Schein' erliegen dürfen. Am Beginn der Schaffung einer ,Welt', die der Gefahr der „Gewöhnlichkeit" entgeht, inszeniert Jünger das „Erstaunen" in der Begegnung mit dem Gegenstand als dessen unerwartete und genaue Wahrnehmung, deren erster Zugriff „unmittelbar" sei; gemeint ist jener „einfache Vorgang [...] den ich das Erstaunen nenne, jene Innigkeit im Aufnehmen der Welt und die große Lust, nach ihr zu greifen [...]" (JÜNGER 1979b: 40). Die Evokation vitaler Impulse beim Leser darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei den Gegenständen, die ihm in der Folge dargeboten werden, keineswegs um natürliche' handelt. Sie wer-

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den zugerichtet, auch präpariert, wenn man so will, damit sie preisgeben, was wir in ihnen finden sollen. Denn wer ahnen wolle, „was unveränderlich im Schreine der Erscheinung eingeschlossen ist" ( J Ü N G E R 1978c: 262), dessen Blick dürfe nicht an der Oberfläche der Dinge verweilen, sondern müsse diese durchdringen, um hinter dem Schein ein Wesentliches zu sehen. Dabei zieht Jünger eine strikte Trennungslinie zwischen seiner Kunst und „realistischen" Darstellungsweisen: Im Unterschied zum realistischen Schriftsteller, der „ein fesselndes Studium der Formen, der feinsten und diskretesten Abdrücke des Lebens [...] unter Verzicht auf seinen zarten wirkenden Kern" betreibe und darin der Photographie ähnlich sei, die nur „Zeichen zu erfassen vermag, die das Sein ins Leblose eingegraben hat" ( J Ü N G E R 1979a: 170), geht Jünger auf Jagd nach dem, was diese „Zeichen" bedeuten und zielt sein ästhetisches Verfahren auf eine Darstellung dessen, was er in den abgestorbenen Formen den „Kern" nennt. Sich „den Blick schärfen", zitiert der Erzähler den Bruder Otho in den Marmorklippen, sei „die Zeit absaugen" ( J Ü N G E R 1978c: 2 6 2 ) . Die Erscheinungen werden ihrer Zeitlichkeit und ihrer Geschichte entkleidet. Dabei ist Jüngers Rede vom „Kern" wörtlich zu nehmen. Wie Schalen fallen die Bedeutungen und die Zeit von den Dingen ab, oder sie werden ihnen abgezogen wie eine Haut; eine Zerstörung des Äußeren, Zeitlichen muß der Erkenntnis des Wesens vorausgehen. Stillgestellt und mortifiziert, also ohne Spuren von Bewegung und Veränderung, allgemeinen Kennzeichen des Lebens, erscheinen Lebewesen ebenso wie „Fundstücke" als Kunstdinge. Jüngers Antinaturalismus verstärkt sich hier im Verzicht auf den historisch-genetischen Blick. Die Dinge werden zu isolierten „Objekten"; sie stehen nicht mehr in einem genetischen und historischen Zusammenhang, sondern werden ,fur sich' in den Blick genommen. Doch isoliert Jünger seine Gegenstände nicht nur aus ihrer natürlichen Umgebung. Während der realistische Schriftsteller die Oberfläche seiner Gegenstände abbildet und diese in einen nachvollziehbaren natürlichen' Zusammenhang stellt, also auf diese Weise die Fiktion von Echtheit erzeugt, rückt Jünger dem isolierten Gegenstand selbst zu Leibe. Über die Arbeit des Schriftstellers am „Geröll" der Lebensmasse, das er auf seinen Gängen findet, schreibt Jünger in der zweiten Fassung der Essaysammlung Das Abenteuerliche Herz, also 1938, zu Beginn seiner mittleren Schaffensphase, und gleichsam eine erste, das eigene Werk reflektierende Bilanz ziehend. Ihm schwebe als Form des Mannigfaltigen eine jener Vertiefungen vor, wie man sie auf Alpengängen zuweilen in ausgetrockneten Bachbetten erblickt. Wir finden da grobe Stücke, geschliffene Kiesel, blinkende Splitter und Sand - ein buntes Geröll, wie es der Strudel im Frühling und Herbst aus den oberen Schichten zu Tale trug. Hin und wieder greifen wir ein Fundstück mit der Hand und wenden es vor den Augen hin und her - vielleicht einen Bergkristall, vielleicht ein zerbrochenes Schneckenhaus, an dem uns der Bau

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Rotraut Fischer der inneren Spindel überrascht, oder einen mondblassen Tropfsteinzacken aus den unbekannten Höhlen, in denen die Fledermaus ihre lautlosen Kreise beschreibt. (JÜNGER 1979b: 181)

Der Schriftsteller ergreift Gegenstände, die das Leben, das sie herantrug und prägte, bereits verlassen hat: Es sind die Ablagerungen, die sich dem Betrachter ohne eigene Bewegung darbieten. Der ästhetisch-philosophische Status dieser Bildungen liegt nicht im Symbolischen, stehen sie doch für nichts als für sich selbst. Sie erscheinen als hintergrundlos. Schon eher könnte man ihnen den Status einer Gestalt zubilligen, im Sinne Goethes, nach dem der Deutsche, wenn er das Wort „Gestalt" gebrauche, „von dem Beweglichen" abstrahiere und annehme, „daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert" worden sei. Er gibt jedoch zu bedenken, daß bei allen Gestalten, besonders im Bereich des Organischen, „nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt", sondern alles „in einer steten Bewegung schwanke"(GOETHE 1981a: 55). So betrachtet sind Jüngers Bildungen bereits künstliche Gebilde, hervorgegangen aus der Abstraktion von der lebendigen Bewegung. Jünger nimmt die „Bildungen" in ihrer gestalthaften Festigkeit nicht wie Goethe „stationär" (vgl. MATTENKLOTT 1984: 1 2 5 ) , sondern isoliert sie aus dem Lauf der „stetigen Bewegung"; er tilgt an ihnen die Zeit und macht sie damit zu einer res extensa, der ihre Herkunft aus „den oberen Schichten" und „den unbekannten Höhlen" wie ein Stempel eingeprägt ist. Diese Prägung ist keine „lebendige", etwa im Sinne einer Physiognomie, sondern Versteinerung, - eine Ablagerung, die das Leben abgesondert hat. Solche Bildungen fügen sich in die Szenarien einer durch den Künstler neu zu schaffenden Welt mühelos ein; an sie knüpfen sich in der zweiten Fassung der Sammlung Das abenteuerliche Herz Capriccios, „nächtliche Scherze, die der Geist ohne Regung wie in einer einsamen Loge und nicht ohne Gefährdung genießt" (JÜNGER 1979b: 181). Das ästhetische Schaffen selbst erscheint in seiner nunmehr vollzogenen Entbundenheit aus den Fängen von Metaphysik und Naturgesetz, aber auch des „Realismus", als eine Möglichkeit der Rückgewinnung von Haltungen und Bildern, die dem verschütteten „Kern des Lebens" und den verlorenen Gestalten des Selbst eine Form geben. Neben den Bezirken der Wildnis und des Traums hält Jünger auch solche der Ordnung besetzt. Da gibt es auch runde Granite, die in den Gletschermühlen geschliffen sind, an Punkten weiter Aussicht, an denen die Welt ein wenig kleiner, aber auch klarer und regelmäßiger, wie auf gestochenen Landkarten, erscheint, denn die hohe Ordnung ist im Mannigfaltigen wie in einem Vexierbild versteckt. (JÜNGER 1979b: 181)

Die „hohe Ordnung" ist im Mannigfaltigen also nicht anschaulich, sondern nur zu enträtseln. Ist nach Goethe, auf dessen „Urpflanze" Jünger hier zu sprechen

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kommt, dem „denkenden Auge" die „Idee" im Mannigfaltigen sichtbar - denn: „Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?" (GOETHE 1981b: 266), fragt er im Zusammenhang der Erörterung des Problems der Urpflanze so ist das Mannigfaltige bei Jünger verzerrt und die historische Möglichkeit, in einer Gestalt deren Platz in der Ordnung des Ganzen zu „sehen", ohnehin nicht mehr gegeben. Wie aber kann dennoch Wesentliches gesehen werden? Jünger selbst schlägt als Ausweg aus dem ,modernen' Dilemma die kristallische Bildung vor; sie ist der „ideale Gegenstand" und zugleich Ziel des künstlerischen Prozesses. Sie kann das Problem von Oberfläche und Tiefe restlos lösen. „Oft scheint uns der Sinn der Tiefe darin zu liegen", schreibt Jünger in der zweiten Fassung seiner Essaysammlung, „die Oberfläche zu erzeugen [...] Dann wiederum scheint dieses bunte Muster uns nur aus Zeichen und Buchstaben gefügt, durch welche die Tiefe zu uns von ihren Geheimnissen spricht" (JÜNGER 1979b: 182). Doch sind diese Zeichen eher eine Verrätselung und zu klären nur durch die Beseitigung des Unterschiedes, der Distanz: Die Oberfläche wird zur Tiefe, wenn zwischen beiden keine Kluft mehr besteht. Die durchsichtige Bildung ist die, an der unserem Blick Tiefe und Oberfläche zugleich einleuchten. Sie ist am Kristall zu studieren, den man als ein Wesen bezeichnen könnte, das sowohl innere Oberfläche zu bilden als seine Tiefe nach außen zu kehren vermag. (JÜNGER 1979b: 182)

Daraus können wir folgern: „Innere Oberfläche" und äußere „Tiefe" sind ein und dasselbe, da nichts ihre Differenz bezeichnet. Solche Bildungen haben, allen Behauptungen zum Trotz, als Gegenstände keinen zu erschließenden „bedeutenden" Grund, sondern nur eine Oberfläche. Ein Gegenstand, dessen Oberfläche durchsichtig ist auf ein „Inneres" hin, das aber seinerseits wiederum als „Oberfläche" erscheinen muß, um sichtbar zu werden, gibt diesem Sehen eine bestimmte zeitliche Struktur vor: die Gleichzeitigkeit. Das Erfassen der Tiefe geschieht visuell und gleichzeitig mit dem visuellen Erfassen des Gegenstandes überhaupt. Solche Simultaneität tilgt die Zeit, die zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis liegt und „denkender Betrachtung" Raum gibt. Es findet keine Annäherung an ein „Wesen" statt, sondern nur ein plötzliches Aufblitzen seiner als Oberfläche erscheinenden Struktur. Eine solche Erkenntnisform ist auf Sichtbarkeit angewiesen, nicht im Sinne Goethes, dessen Sehen Zeit braucht; vielmehr ist „die Erfassung der Urpflanze" nach Jünger (der selbst dieses Beispiel anführt) „nichts anderes als die Wahrnehmung des eigentlich kristallischen Charakters im günstigen Augenblick" (JÜNGER 1979b: 182). Die Zeit der „denkenden Betrachtung" ist auf den erregenden Augenblick eines plötzlichen Sehens zusammengeschrumpft. Zwischen dem Sehen der Oberfläche und dem , Sehen' der Tiefe dehnt sich eine Spanne der Reflexion, des deutenden Erschließens. Ist keine Differenz zu überbrücken zwischen Sehen und Wissen, da ohnehin schon alles „offensicht-

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lieh" ist, entfallen Distanz und Reflexion und damit möglicher Einspruch. Die Gewinnung der Zeitkategorie als eine Errungenschaft diskursiven Denkens und damit Lösung aus dem mythischen Weltverhältnis des „In-der-Welt-Seins" (i. S . V. C A S S I R E R 1 9 2 2 ) wird rückgängig gemacht; das bedeutet tendenziell und in dem Maße, in dem dies geschieht, eine erneute Verräumlichung des Weltverhältnisses und ein erneutes Anheimfallen an das mythische „In-der-WeltSein". Das hat Folgen für den , Betrachter' wie fur den Gegenstand. Der in Jüngers Schriften zu erkennende scheinbare Widerspruch zwischen „désinvolture" und mythischem „Im-Raum-Sein" erweist sich als aufeinander bezogen. Haltung ersetzt Reflexion. Wo der Zugriff der Räume umfassend ist, versetzt der Autor seine Helden in eine Art unverwundbar machende Trance, in einen Zustand anderer Ordnung, der für die Helden ein „Zum-Raum-Sein" ermöglicht wie in der besagten „Loge". Der Ich-Erzähler aus den „Marmorklippen" er- und überlebt auf diese Weise Momente höchster Gefahr und tiefen Grauens, als er sich der Schinderstätte des „Oberförsters" auf „Köppelsbleek" nähert. Ich sah das Bild in der Erstarrung und ohne zu wissen, wie lange ich vor ihm weilte - wie außerhalb der Zeit. Zugleich verfiel ich in ein waches Träumen, in dem ich die N ä h e der Gefahr vergaß. In solchem Stande gehen wir wie schlafend durch die Bedrohung - zwar ohne Vorsicht, doch dem Geiste der Dinge nah. [...] Ich hörte Geschosse auf der Lichtung singen [...] doch achtete ich ihrer nur wie einer tiefen Melodie, die mich begleitete [...]. (JÜNGER 1978C: 338f)

Ein Zustand „wie außerhalb der Zeit" schützt den Helden vor deren Wirkungen. Er begegnet der äußeren Welt, indem er sie ihrer eigenen Gesetzlichkeit beraubt und sie zu einem inneren Geschehen, einer bloßen „Melodie" macht, die ihn begleitet. Der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit, der gehäutete und auf einer Stange aufgepflanzte Kopf des jungen Burgunderflirsten, trägt in seinen Zügen einen Ausdruck, der dafür spricht, daß auch er sich innerlich von dem äußeren Geschehen lösen konnte. Auf dieser bleichen Maske, von der die abgeschundene Haut in Fetzen herunterhing und die aus der Erhöhung am Marterpfahle auf die Feuer herniederblickte, spielte der Schatten eines Lächelns von höchster Süße und Heiterkeit, und ich erriet, wie von dem hohen Menschen an diesem Tage Schritt für Schritt die Schwäche abgefallen war - so wie die Lumpen von einem König, der als Bettler verkleidet ging. (JÜNGER 1978c: 337)

Das geschundene Haupt gewährt einen Anblick der Vollendung und Erlösung. „Es ist vollbracht", könnte die heilsgeschichtliche Zuspitzung lauten. Der junge Fürst war uns vorgestellt worden als vom Alter seines Geschlechts und von der Jugend seiner Person gezeichnet, als „früher Greis" und „müder Träumer", am Ende der Begegnung auch aufrecht und heiter, „als ob er um die Lösung eines Rätsels wüßte" (JÜNGER 1978c: 92 und 97). Doch erst im Augenblick höchster Gefahr fallen die „Lumpen" der zeitbedingten Umstände, und der „hohe Mensch" wird kenntlich; erst in der Tortur, die er erleiden

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mußte, war, man könnte sagen, Schnitt für Schnitt, mit der Haut die verträumte „Schwäche", die ihn gekleidet hatte, von ihm abgefallen. So war er, zu sich selbst gekommen, auch für den Betrachter zur Vollendung gelangt. Aber um welchen Preis? Die radikalste Form der Durchdringung der trügerischen Oberfläche ist ihre gänzliche Zerstörung, das Abziehen der „Haut". Einen Gegenstand zu entstellen, um zu seiner tieferen Wahrheit zu gelangen, ist als Verfahren nicht neu, und auch die „Erhöhung" nach großem Leiden hat ihre Vorbilder. Aber während in antiken Bildwerken etwa von der Schindung des Marsyas durch Apoll der Augenblick vor der Tortur für die Darstellung gewählt wurde (vgl. HOFMANN 1973: 403-417), was noch bis ins 19. Jahrhundert hinein der klassisch orientierten Kunstkritik als „rechter Augenblick" galt, waren in der christlichen Bildtradition die Darstellung des Kreuzestodes Christi und der Martern derer, die sich zu ihm bekannten, durchaus gängig, jedoch häufig, man denke an Tizians Laurentiusmarter in der Gesuiti-Kirche in Venedig, geheiligt durch den Ausdruck der Verklärung auf dem Gesicht des Delinquenten, der hervorgerufen wurde durch die Vision zukünftiger himmlischer Freuden. Und während den an der Klassik geschulten Betrachtern dieser Anblick durchaus prekär war, gehörten fur Romantiker wie Friedrich Schlegel die Martyria zu den „günstigsten Gegenständen der Malerei", in denen die eigentliche Botschaft des Christentums aufleuchte (SCHLEGEL 1959: 93). Diese Tradition reicht in Literatur und bildende Kunst der Moderne hinein (vgl. MÜLLER-SEIDEL 1986). Das wohl bekannteste literarische Beispiel ist Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie. Darin wird dem Delinquenten zwar die Haut nicht abgezogen, aber sie wird mit Zeichen bedeckt, die, indem sie zu einem Sinngefuge wachsen, die Haut und damit das Leben des Gemarterten in einer langsamen und quälenden Prozedur zerstören. Jedoch scheint auch hier im Augenblick höchsten Leidens eine Wahrheit auf, die auf dem Gesicht des Opfers den Ausdruck der Verklärtheit und bei den Zuschauern eine Form der Teilhabe an dieser wahrhaft tiefen Einsicht erlaubt. „Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde!", heißt es bei Kafka. „Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen." (KAFKA 1996: 160). Und schließlich: Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit! (KAFKA 1996: 164) Die sechste Stunde ist auch im biblischen Bericht vom Sterben Jesu die Stunde der Wende. „Um die sechste Stunde", heißt es etwa bei Markus 15, „brach über das ganze Land eine Finsternis herein." Doch während sich in der Bibel der Triumph über den Tod erst in der österlichen Botschaft von der Auferstehung zeigt, wird er bei Kafka dargestellt in Anlehnung an eine christliche Kunsttra-

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dition und im Rückgriff auf die Wirkung ihrer Ausdrucksformen auf den gläubigen Betrachter. Denn die Darstellung eines Martyriums geschah stets um des Triumphes über Leid und Tod willen, der darin zur Anschauung zu bringen war; im Gesicht des Märtyrers steht der Ausdruck der göttlichen Liebe, die den Leidenden mit einer Ordnung außerhalb des Zugriffs seiner Peiniger verbindet. Der Delinquent in Kafkas Erzählung läßt diese höhere Ordnung noch einmal aufscheinen im Augenblick der Erkenntnis, der zum Moment der Erlösung wird. Doch „vergeht" die Gerechtigkeit im Augenblick ihrer höchsten Evidenz. Das geschundene Antlitz des Burgunderfursten blickt von seiner „Erhöhung am Marterpfahle" wie Christus von seiner „Erhöhung am Kreuz". Doch wie Kafka nimmt auch Jünger die Erlösung in das Bild mit auf, in welchem der Weg zu dieser Erlösung, das Leiden, gerade noch sichtbar ist. Die Schindung des Burgunderfursten zerstört die täuschende Hülle und bringt auch auf dessen Gesicht einen Ausdruck, der der erlittenen Qual spottet. Diese wird, wie in den „Martyria" der christlichen Kunst, das Tor zu einer höheren Wahrheit. Nimmt man die Haut als das, was sie primär ist, eine Hülle und Schutz des Lebens, so wird im Augenblick ihrer Zerstörung zwar etwas bisher Unsichtbares sichtbar, aber zugleich auch als Lebendiges ausgelöscht. Auf die Kunst übertragen heißt das nichts anderes, als daß im Augenblick der Zerstörung der Form ein „Eigentliches", Wesentliches hervortritt, was umgekehrt bedeutet, daß die Form das Wesen verhüllt. Nun sah die Romantik in der Form noch insofern einen Ausdruck des Wesens, als in ihr sich dieses Wesen symbolisierte, freilich war dieser Zusammenhang gebunden an den idealen Horizont eines Wahren und Göttlichen. Bei Kafka wie bei Jünger bleibt auch die Erlösung ohne metaphysische, göttliche Dimension. Seit Gott „tot" ist, kann die Form auf nichts mehr verweisen als auf sich selbst, und es wächst das Mißtrauen gegen sie. Die Moderne nimmt darum bei der Darstellung des Wesentlichen die Verhäßlichung, ja die Schändung ihres Gegenstandes billigend in Kauf. Und so ist es nicht ein blutrünstiger ästhetischer Geschmack, der etwa Kafka oder Jünger solche ekelerregenden Szenen eingibt, sondern der historisch wohlbegründete Versuch, der verbrauchten Oberfläche der Welt, ihrer dennoch uns „brennend beweg[enden]" „regenbogenfarbigen Haut", einen Blick auf ein Inneres abzugewinnen (JÜNGER 1979b: 182). Das geschieht nicht wie in einer „realistischen" Literatur, in der, wie Jünger schreibt, „alles was sich ins Gesicht treten läßt", an uns heranschleicht und, „sowie man mit ihm allein ist, sich auszuziehen beginnt". Hier werde dem Leben „ein Lumpen nach dem anderen vom Leibe gezogen [...] bis dann endlich die ganze Erbärmlichkeit erscheint." (JÜNGER 1979a: 169). Wir sehen: Nacktheit offenbart kein Wesen. Dieses tritt nur zutage, wenn wir unter die Haut selbst blicken, was freilich im tradierten Zeichen des Kreuzes geschieht. Denn diese Form des Erkennens ist mit äußerstem Schmerz, mit Kampf und Zerstörung erkauft.

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Kreuz und Schwert gehören zusammen. So heißt es in Das abenteuerliche Herz, zweite Fassung: Unsere Bilder liegen in weiteren, glänzenderen Fernen, in denen die fremden Siegel nicht mehr gültig sind, und zu unseren geheimsten Brüderschaften führt ein Weg, der durch andere Leiden geht. Auch hat unser Kreuz einen festen Griff und einen Balken, der aus zwiefach zugeschliffenem Eisen geschmiedet ist. (JÜNGER 1979a: 168)

Kreuz und Schwert, das bedeutet, daß der Weg zur Wahrheit durch äußerste Leiden und Kampf auf Leben und Tod fuhrt. Auch ist das Schwert die Waffe, die „Trugbilder" in Stücke haut; denn das Gesicht der Welt ist ein solches Trugbild, auch wenn es noch so sehr entblößt ist. Die Form, deren schöner Schein trügt und deren Zeichen verschlissen sind, muß zerstört werden. Doch ist dies bereits Teil der konstruktiven Arbeit des Schriftstellers. Er schafft die Dinge neu, indem er etwa damit beginnt, „die feinen Wurzeln zu lösen und abzusprengen, durch die unser Wesen dem Alltäglichen und Gewöhnlichen verhaftet ist." (JÜNGER 1979b: 268). Das geschieht in Vexierbildern, nach denen die Welt im Großen geordnet scheine; und der Bauplan folgt den Übungen des Magiers und Lehrers „Nigromontanus", nach denen die Geheimnisse der Welt „auf der offenen Oberfläche dalägen und es nur einer geringen Anpassung des Auges bedürfe, um die Fülle ihrer Schätze und Wunder zu sehen." Das wahre Bild der Welt sei dem gewöhnlichen als Vexierbild eingeschrieben (JÜNGER 1997b: 269). Seine Wirkung beruhe auf der „Erschütterung, die uns ergreift, wenn wir unvermutet im einen das andere sehen" (JÜNGER 1979b: 268). Wer solches sucht, der baut auf Sichtbarkeit, der vertraut mit Nigromontanus auf die Sinne, jenen „Zeugen eines goldenen Zeitalters", die der „Oberfläche in ihrer bunten Musterung geheime Aufschlüsse" abgewinnen (JÜNGER 1979b: 266). Die Bildungen einer Sprache, die „das eine im anderen" sichtbar machen, müssen selbst durchsichtig, „kristallisch" sein. Wir verfugen über zahllose Wendungen, denen sowohl eine handgreifliche als auch eine sehr verborgene Bedeutung innewohnt, und was in der Welt des Auges die Durchsichtigkeit, das ist hier die geheime Konsonanz. Auch in den Figuren, vor allem im Vergleich, liegt viel, was den Trug der Gegensätze überbrückt. (JÜNGER 1979b: 183)

Die Sprache hat hier gewissermaßen optische Funktion: im „Kunstgriff, der „das Wort erhellt und durchsichtig macht" (JÜNGER 1979b: 182), stellt sie einen Kontext her, in welchem die aus ihrem genetischen und damit auch sinnstiftenden Zusammenhang isolierten Dinge auf neue Weise bedeutend werden. Die Sprache „hat das Wasser wieder herbeizuzaubera, das mit und über diesen Gebilden spielt - ein Wasser, das zugleich bewegt und durchsichtig ist" (JÜNGER 1 9 7 9 b : 181).

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Der Sprachgeist selbst hefte sich freilich nicht an Worte und Bilder, sondern „er ist in die Atome eingebettet, die ein unbekannter Strom belebt und in magnetische Figuren zwingt" ( J Ü N G E R 1979b: 3 0 8 ) . Die atomisierten und rekonstruierten Gebilde, die zu einer fiktiven ,Welt' zusammengefügt werden, über denen das belebende und sichtbar machende, aber auch „vexierende" Wasser der Bildungen der Sprache fließt, sind der Kern von Jüngers konstruktivistischer Kunst. Sie erregt Anstoß, wo sie „realistisch" gelesen wird, denn sie nimmt keine Rücksicht auf ideologische oder moralische „Korrektheit". Die Zertrümmerung der Formen eines erstarrten Lebens bietet die Chance, daß dessen Substanz sich wieder rein gewinnen läßt. Im schäbigen Gewand des Schutts ebenso wie in den Bezirken, die die Moral noch nicht besetzt hält, verbirgt sich für den Autor scheinbar, was noch nicht abgenutzt und vereinnahmt ist. Diese Gegenstände sind wahrlich nicht gemacht, ein heroisches Verhältnis zu evozieren; sie müssen vielmehr verwandelt werden wie die Barbierschüssel zum Helm des Membrin und sind als verwandelte nur in der Kunst zu erschaffen. Durch ihren unterkühlten Ton und die Bindungslosigkeit ihrer Bilder schlägt sie in Bann. Zugleich fällt sie der Leere anheim, die zu füllen sie angetreten ist. Don Quijote wußte als Sancho Pansa davon und bewahrte doch heroische „Haltung", die, als genuin ästhetische, von Jünger beerbt wird.

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JÜNGER, Ernst (1978c): Auf den Marmorklippen. (Zuerst 1939). In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 15: Erzählende Schriften 1, Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1979a): Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung. (Zuerst 1929). In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 9: Essays III, Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1979b): Das abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. (Zuerst 1938). In: Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 9: Essays III, Stuttgart: Klett-Cotta. KAFKA, Franz (1996): In der Strafkolonie. In: Franz Kafka: Erzählungen. Hg. von Max Brod. Nach der Ausgabe Berlin 1935, Frankfurt a. Main: S. Fischer. KOSLOWSKI, Peter (1991): Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München: Fink. MATTENKLOTT, Gert (1984): Goethe als Physiognomiker. In: Goethe. Vorträge aus Anlaß seines 150. Todestages. Hg. von T. Ciasen und E. Leibfried. (= Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, Bd. 3) Frankfurt/Bern/New York: Lang. MÜLLER-SEIDEL, Walter (1986): Kafkas Erzählung In der Strafkolonie im europäischen Kontext. Stuttgart: J. B. Metzler. SCHLEGEL, Friedrich (1959): Zweiter Nachtrag alter Gemälde. In: Friedrich Schlegel: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Hg. von Ernst Behler, 4. Band, hg. von Hans Eichner. Paderborn/München/Wien: Schöningh.

ULRICH FRÖSCHLE

Oszillationen zwischen Literatur und Politik Ernst Jünger und „das Wort vom politischen Dichter"* [...] diese Schriftsteller sind es nicht, welche Aufruhr erwekken; sondern die allgemeine Stimme des Volks ist es, die durch diese Schriftsteller redet. Noch nie haben Bücherschreiber große Weltbegebenheiten bewirkt, sondern die veränderte Ordnung der Dinge wirkt im Gegentheil auf den Geist der Bücherschreiber. '

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Es liegt am Menschen, daß nie ein großes Vaterland die Menschen umschließen wird. Da ist zum Beispiel die Internationale, eine Idee, die wie ein neues Gestirn am Himmel hätte aufgehen sollen. Was hat der Mensch daraus gemacht? Eine Parteisache, klein und widerwärtig wie alle Parteisachen. Literarische oder politische Wegelagerer knüppeln Gerechte und Ungerechte damit nieder. Ach, über 2 unsere paradoxe Zeit, die das Wort vom politischen Dichter erfand.

Ernst Jüngers beredte, in einer bedeutungsvollen Pause nachhallende Klage in seinem expressiven zweiten Buch Der Kampf als inneres Erlebnis setzt „das Wort vom politischen Dichter" 1922 ineins mit einer „Parteisache" und der Assoziation von Wegelagerern. Dennoch wandte gerade er sich bald darauf der politischen Publizistik in einem Ausmaß und einer Radikalität zu, die heute an

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Frau Dr. Liselotte Jünger danke ich herzlich für die Genehmigung, aus unveröffentlichten Briefen Ernst Jüngers zu zitieren; Rechtsnachfolger Franz Schauweckers konnten bislang nicht ermittelt werden. Adolph Frh. Knigge, Josephs von Wurmbrand, kaiserlich abyssinischen ExMinisters, jezzigen Notarli caesarii publici in der Reichsstadt Bopfingen, politisches Glaubenbekenntnis, mit Hinsicht auf die französische Revolution und deren Folgen, Frankfurt, Leipzig 1792 [Reprint in: Sämtliche Werke Band 15, München u. a. 1992]: 142. Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922: 89.

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einem umfangreichen Band zu ermessen sind.3 So sollte der Journalist Ludwig Alwens, später überzeugter und idealistischer Nationalsozialist, 1929 im Vormarsch, einer ,Kampfschrift deutscher Nationalisten', unter dem bezeichnenden Titel ,Literatur als Kriegsmittel' über seinen guten Bekannten und Briefpartner Jünger gleichsam als politischen Dichter schreiben können: Ernst Jünger ist, wie die Leser dieses Journals' j a wissen, ein hervorragender Journalist. Sein Buch [Dai Abenteuerliche Herz-, U. F.] enthält Stellen, die man jedem werdenden Journalisten dringend zur Lektüre empfehlen möchte, aber auch solchen Arrivierten, die mit dem Zeppelin über den Ozean geschickt werden und nichts weiter sehen als die Oberfläche der Dinge, also nichts. Man wird sich gewöhnen müssen, unter der Bezeichung Journalist nicht länger dürftige Zeitungsschreiber, Feuilletonisten und Politikaster zu verstehen, sondern Köpfe, die die kriegerische, man möchte sagen artilleristische Wirkung der Rotationsmaschinen nicht durch die liberale Fragestellung der Freiheit der Meinungsäußerung bemäntelt sehen wollen. Das Beispiel Lenins, Mussolinis, j a auch Churchills zeigt, wie Staatsmänner im Gewand des Journalisten auftreten. Ernst Jüngers Buch legt den Gedanken nahe, daß sich auch Dichter dieser Maske bedienen können. 4

Knapp, aber prägnant sind hier wesentliche mediale und institutionelle Facetten eines kulturellen ,Kraftfeldes' angedeutet, das grundsätzlich „von den verantwortlichen Akteuren her stets in der Aktualisierung begriffen" ist:5 Die Produktion und Rezeption von Ernst Jüngers zeitgenössischen Texten werden durch die Strukturen besonders jener zwei von Alwens berührten Segmentfelder ebenso bedingt, wie sie diese selbst beeinflussen - der literarisch3

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Ders., Politische Publizistik 1919-1933, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven-Olaf Berggötz, Stuttgart 2001 [im folgenden: Berggötz/ Jünger]. Ludwig Alwens, „Literatur als Kriegsmittel", in: Der Vormarsch. Kampfschrift des deutschen Nationalismus (Berlin), 2 (1928/29), Nr. 9, Februar 1929: 267-268, hier: 268: Jüngers Buch Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und bei Nacht, Berlin 1929, wird hier explizit in einen politischen Zusammenhang gerückt. Zu Alwens und Jünger vgl. Sven-Olaf Berggötz, „Zwei Wege. Ernst Jüngers politischer Diskurs mit Ludwig Alwens", in: Les Carnets. Revue du Centre de Recherche et de Documentation Ernst Jünger (Montpellier/Gap), 6 (2001): 147— 165. Vgl. Hugo Fischers ambitionierte Theorie der Kultur. Das kulturelle Kraftfeld, Stuttgart 1965, zum Feldbegriff bes. 9-38, hier 10 f. Während der Beobachter des „physikalischen Felds", von diesem methodisch distanziert, im Experiment „wiederholt in denselben Wirkungen dieselben Bedingungskonstellationen" antrifft, ist „das kulturelle Kraftfeld in unwiederholbarer Einmaligkeit und personaler Vergegenwärtigung, d. h. in eminentem Sinne konkret. Der Beobachter und Beurteiler begegnet sich selbst im Felde als mitkonstituierendes Partikel" (21). Zumal dieses Feldmodell im Umkreis Jüngers entwickelt wurde, sei hier darauf verwiesen und nicht auf Bourdieu; vgl. schon Fischer, „Das kulturelle Feld. Ein neues Erkenntnismodell der Kulturforschung", in: Merkur (Stuttgart) 13 (1959), Nr. 7, Juli 1959: 640-652.

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publizistischen Schriftkultur einerseits und der politischen Diskurse in der ,Weimarer Republik' andererseits. Die schriftkulturelle Signatur des Mediensystems in den 1920er Jahren wurde durch die Rotationsmaschinen der Massenpresse und eine Vielfalt von Zeitschriften aller Art geprägt, aber eben auch durch den sehr ausdifferenzierten Buchmarkt; die zunehmende mediale Konkurrenz durch Photographie, Stumm- und Tonfilm sowie Rundfunk verwischte diese Signatur indes, ,die Gesetze des Marktes' ließen neben den traditionellen literaturfixierten Rollenbildern zunehmend ,hybride' Autorschaftsmodelle aufkommen: Idealtypisch entspricht diesem Transformationsprozeß des Mediensystems der mehr oder weniger flexible „Medienarbeiter", der schreibend diverse Medien in unterschiedlicher Orchestrierung und Komplexität zu bedienen lernte. 6 Analog dazu ließe sich auf der ästhetischen Ebene bei avancierteren Publizisten der Printmedien nicht nur von zunehmend intermedialen Texturen, 7 sondern - in Anlehnung an Roland Barthes' Kategorien - auch von einer gegenseitigen Durchdringung von transitiven und intransitiven Schreibweisen sprechen, die etwa zu inhaltlich zweckbezogenen Texten mit gleichzeitig spürbarer poetischer Funktion fuhrt. 8 Auf einen solchen ästhetischen Oszillationscharakter zwischen literarisch-kulturellen und politischen Diskursen zielte Alfred Döblins im Mai 1929 in der Literarischen Welt provokant gestellte Frage: „Gibt es politische und Tendenzdichtung, die zweifellos Kunstwerke sind? Antwort: Ja, siehe Die Hermannschlacht. Auch Die göttliche Komödie ist ein politisches Tendenzwerk. Bestimmte Zeichen charakterisieren es aber mit Sicherheit als Kunstwerk." Im Fortgang diskutiert

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Harro Segeberg, „Schriftsteller als Medienarbeiter. Carl Zuckmayer in der Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts", in: Gunther Nickel (Hrsg.), ZuckmayerJahrbuch 4: Zuckmayer und die Medien. Beiträge zu einem internationalen Symposion, St. Ingbert 2001: 137-154; diesem stehen die Vertreter eines „radikalliterarischen Diskurses" gegenüber, die weiter bzw. nun erst recht auf die Exklusivität des poetischen Textes setzten (ebd.: 137). Zur werkbiographischen Problematik dieser Transformationsprozesse für die kulturellen Produzenten vgl. beispielhaft Renke Siems, Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys, Oldenburg 2001 [Diss. Carl-vonOssietzky-Universität FB 11], Intermedialität findet sich etwa bei Ernst Jünger nicht nur in seinen Bild-TextBänden, sondern z. B. auch in der photo- und kinematographischen Metaphorik und Schreibweise; vgl. dazu Michael Neumann, Eine Literaturgeschichte der Photographie, Dresden 2004 [Diss. TU Dresden], darin bes.: „Instrumente eines technischen Bewußtseins'. Ernst Jüngers ,photographische Räume'". Roland Barthes, „Schriftsteller und Schreiber", in: ders., Literatur oder Geschichte, Frankfurt a. M. 1981: 44—53; diese Mischung von Zweckbezug und ästhetischem Mehrwert hat Gunther Nickel als Charakteristikum eines ganzen Publikationsorgans aufweisen können (Die Schaubühne - die Weltbühne. Siegfried Jacobsohns Wochenschrift und ihr ästhetisches Programm, Opladen 1996).

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Döblin dort, wie sich Kunst und Staat zueinander verhalten, um daraus abzuleiten, daß Kunst sich nicht auf eine heilige Unantastbarkeit zu berufen, sondern um ihre Freiheiten zu kämpfen habe. Kunstwerke seien nicht heilig und dürften verboten werden, denn, so Döblin: „,Die Kunst ist heilig' bedeutet [...] praktisch nichts weiter als: der Künstler ist ein Idiot, man lass ihn ruhig reden." Was er fordere, sei jedoch „nicht Politisierung der Kunst, sondern ars militans,

Wiederherstellung,

Renaissance

der Kunst und zugleich

der

einzige

Weg zu ihrer Rehabilitierung.''''9 Alwens wiederum versäumte es nicht, Jünger sogleich auf Döblins Stellungnahme mit der Bemerkung hinzuweisen, dies laufe doch auf nichts anderes hinaus als: die ,Literatur als Kriegsmittel'. 10 Der junge Journalist sah sich damit in dem Konzept bestätigt, das er drei Monate zuvor seinem Freund selbst auf den Leib geschrieben hatte: Jünger erscheint bei ihm genau als jener „neue Typus von Schriftstellern", wie ihn 1931 auch Siegfried Kracauer anstatt des aufs „Absolute" fixierten Dichters und entgegen einer „verbreiteten abschätzigen Beurteilung des Journalistenhandwerks" fordern sollte: „Statt kontemplativ verhalten sie sich politisch".11 Eine solche „Wiedereroberung des Politischen für die Literatur" entfaltete sich in einem ganzen „Spektrum von essayistischen, schildernd-deutenden, Literatursprache und Sachprosa verschränkenden Texten, das von den Schriften der Brüder Jünger bis zu der historischen Belletristik eines Emil Ludwig reicht" und für diese Zeit „ebenso bezeichnend wie späterhin verkannt" ist.12 Wenn Ernst Jünger nun aber Ende der 1920er Jahre zweifellos einer dieser „modernen", journalistisch orientierten politischen Schriftsteller war, wie verhält sich dazu dann seine eingangs zitierte, viel eher zu einem Vertreter des „Absoluten" passende Klage über den politischen Dichter', die er 1922 an der Schwelle zu seiner Existenz als Autor anstimmte? Im folgenden wird versucht, die Konstellationen um diesen Satz Jüngers historisch bis in den Sommer 1926 aufzufalten13 und dabei drei systematische Gesichtspunkte im 9

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A. Döblin, „Kunst ist nicht frei, sondern wirksam: Ars militans", in: Die literarische Welt (Berlin), 5 (1929), Nr. 19, 10. 5. 1929: 1 f. (gefolgt vom Widerspruch Willy Haas'). Wiederabdruck in Döblin, Ausgewählte Werke in Einzelbänden: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, hrsg. von Erich Kleinschmidt, Freiburg i. Br. 1989: 245-251, Kommentar 661. Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N., Nachlaß E. Jünger [im folgenden: DLA]: Alwens an Jünger am 15. 5. 1929. Siegfried Kracauer, „Über den Schriftsteller", in: Die neue Rundschau (Berlin), 42 (1931), Nr. 6: 860-862, hier: 860 f. Walter Schmitz, „Der verschüttete Born des Reiches - Reinhold Schneiders tragischer Blick auf die Geschichte", in: Theologie und Glaube (Paderborn), 90 (2000), Nr. 1: 39-63, hier: 40. Zur Analyse der politischen Entwicklung nach der ,Stahlhelm'-Phase vgl. bes. Harro Segeberg, „Revolutionärer Nationalismus. Ernst Jünger während der Weimarer Republik", in: Helmut Scheuer (Hrsg.), Dichter und ihre Nation, Frankfurt a. M. 1993: 327-343; Rolf-Peter Sieferle, „Revolutionärer Nationalismus

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Auge zu behalten: Ernst Jüngers Durchgang durch die politische Publizistik ist zum einen unter autorstrategischen Aspekten in einem medienhistorischen Zusammenhang zu sehen; zum zweiten bewegten sich seine Texte jener Zeit in einem bereits dicht besetzten Feld nicht nur der politischen, sondern auch der literarischen Rede, deren Elemente sie in produktiver Aneignung semantisch umcodierten und dabei doch einen gemeinsamen, geistesgeschichtlich klar zu umreißenden Rahmen nicht verließen; und drittens operierte der Autor als Produzent von Texten im politischen Feld, d. h. Jüngers Publizistik ist in ihrem pragmatischen Rahmen und ihrer inhaltlichen Ausrichtung unter dem Aspekt politischer Entscheidungen und Handlungen in konkreten Lagen zu beleuchten. Es wird sich dabei zeigen, wie Jünger in einer literarischen Annäherung insbesondere an den Expressionismus zentrale Konzepte übernahm und neu ausrichtete; im Kontext der Lageentwicklung war dies verbunden mit der Propagierung und Umsetzung eines kulturrevolutionären Konzepts. Damit arbeitete er sich jedoch nicht allein an einer existentiellen und politischen Problematik ab, sondern er versuchte auch, sein Profil als Autor in dem während der 1920er Jahre sehr lebhaften Marktsegment der Weltanschauungsliteratur einem ihm potentiell aufgeschlossenen Zielpublikum gegenüber zu schärfen. Abschluß dieser Profilierungsphase in politicis, die gegen Ende der 1920er Jahre mit einer zunehmenden Literarisierung und Ambivalenz der Schreibweise in einer wiederum veränderten Lage verbunden war, bildete dann - nach dem Abenteuerlichen Herzen - ein Buch, das Jünger vor diesem Hintergrund als wichtig gewordener Autor sehr überlegt am Markt piazierte: „Da ich seit Jahren mit meinen politischen Aufsätzen starken Anklang gefunden habe", schrieb Jünger 1930 an den Cotta-Verlag, „fühle ich mich bei der Herausgabe meines ersten politischen Buches verpflichtet, die Erwartungen zu rechtfertigen und ohne jede Ueberstürzung vorzugehen". 14 Es erschien schließlich 1932 unter dem Titel Der Arbeiter bei der Hanseatischen Verlagsanstalt in Hamburg, und an der Frage, in welcher Hinsicht es sich dabei um ein „politisches Buch" handelt, scheiden sich seither bekanntlich die Geister.

und planetarische Technik: Ernst Jünger", in: ders., Die konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt a. M. 1995: 132-163. 14

DLA, Cotta-Archiv: Abschrift eines Briefs von E. Jünger an Karl Rosner (J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger) vom 20. 12. 1930 (auch zit. in: Berggötz/Jünger [Anm. 3]: 847); vgl. ebd. den Briefwechsel zwischen Rosner und dem Verlagsinhaber Robert Kröner vom 22. bzw. 23. 12. 1930: Jünger versuchte offensichtlich früh, Neugierde zu wecken und mehrere Verlage gegeneinander auszuspielen; es kann sich bei der dort vagen Umschreibung des Buchprojekts nur um den Arbeiter handeln.

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II Ernst Jüngers In Stahlgewittern war noch nicht allzulange im Selbstverlag erschienen, als Franz Schauwecker, Weltkriegsoffizier und nunmehr fleißiger Autor, am 12. Oktober 1921 den fünf Jahre jüngeren, bei der Reichswehr dienenden Leutnant anschrieb, nachdem er dessen Buch gelesen hatte. Daraus entspann sich eine Korrespondenz, die für jene erste Schwellenzeit des angehenden Schriftstellers Jünger äußerst aufschlußreich ist, auch wenn sich nur die Briefe Schauweckers erhalten haben.15 Die positive Aufnahme des Erstlings hatte bereits sichtlich zum Selbstvertrauen Jüngers beim Schreiben beigetragen, wie ein Brief an die Mutter vom 1. November 1920 belegt: „Wenn jetzt erst mein bombiger Aufsatz im Militär-Wochenblatt erscheint", gemeint ist die ,Skizze moderner Gefechtsführung', „kommen noch viel mehr" Bestellungen. „Ich habe jetzt Vertrauen zu meiner Feder bekommen und bin dabei, den Stahlgewittern einen zweiten Band anzufügen, der lediglich das innere Erleben darstellen soll".16 Mit solcher wachsenden Selbstsicherheit hatte er sich auf Schauwecker, der nach dem Krieg mit bereits fünf Büchern hervorgetreten war, eingelassen und ihm auch seine neuesten literarischen Versuche geschickt; jener ,,zweite[..] Band" war im Herbst 1921 schon weit gediehen, wollte Jünger von dem älteren Autor doch nicht nur wissen, „ob man denn in dieser Zeit noch geldlich als ,freier Schriftsteller' leben" könne,17 sondern er bat auch um die Vermittlung eines Verlags für das Manuskript, das damals noch den Titel Kampfspiegel trug. Schauwecker begutachtete das Skript für seinen eigenen Verleger, den in Halle ansässigen Heinrich Diekmann,18 und erhielt von diesem auch noch zwei Novellen Jüngers zur Prüfung zugesandt, die zu einem ganzen Kranz gehörten.19 Differenzen mit dem Hallenser Verleger zeichneten sich allerdings schon Anfang 1922 ab,20 und so wurden diese Prosatexte schließlich anderswo publiziert. Während Jünger sein zweites Kriegsbuch unter dem auf Schauweckers Kritik hin geänderten Titel Der Kampf als inneres Erlebnis bei Mittler & Sohn unterbrachte, waren es vermutlich jene 15

16 17

18 19 20

Die Briefe Jüngers an Schauwecker sind in Berlin verbrannt (DLA: Brief Schauweckers an Ernst Jünger vom 5 . 3 . 1952). Zu Schauwecker vgl. U. Fröschle, ,„Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln'? Franz Schauwecker: ,Aufbruch der Nation' (1929)", in: Hans Wagener, Thomas F. Schneider (Hrsg.), Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, Amsterdam, Atlanta/GA 2003: 261-298. Berggötz/Jünger (Anm. 3): 665. DLA: Franz Schauwecker an Ernst Jünger vom 12. 1. 1922 (Antwort auf Jüngers Brief vom 15. 12. 1921). Ebd.: Briefe Schauweckers vom 31. 10. und 23. 11. 1921. Ebd.: Brief Schauweckers vom 12. 1. 1922 Vgl. ebd.

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„Novellen", die in einer umgeschriebenen Fassung im April 1923 als Folge von Abdrucken im Hannoverschen Kurier erschienen: Unter dem Titel Sturm wurden dort in einer Rahmenhandlung mehrere Erzählungen integriert. Wenn dem wirklich so gewesen sein sollte, reflektiert dieser Text seine eigene Genese, Komposition und poetologische Problematik selbst: Der Protagonist Sturm schrieb „zur Zeit an einer Reihe von Novellen, in denen er versuchte, die letzte Form des Menschen in ihren feinsten Ausstrahlungen auf lichtempfindliches Papier zu bringen", heißt es dort mit photographischer Metaphorik, auch wenn er gern „seine Kräfte in einen Roman versammelt" hätte. Sturm habe beabsichtigt, „eine Reihe von Typen in festgeschlossenen Abschnitten zu entwickeln, jede aus ihrem eigenen Zentrum heraus. Er plante, sie durch einen Titel zu verknüpfen, der das Gemeinsame ihrer Zeit, Unrast, Sucht und fieberhafte Steigerung, aussprechen sollte".21 Der Kampf

als inneres

Erlebnis

und Sturm

markieren nun genau jene

Schwelle, an der Ernst Jünger nicht nur eine Existenz als „freier Schriftsteller" erwog; als er diese beiden Texte publiziert hatte, war offensichtlich auch ein Prozeß der Orientierung abgeschlossen: Jünger verließ die Reichswehr, setzte dann aber nicht einfach den Weg als literarischer Autor mit einer sich etwa in Sturm deutlich abzeichnenden avancierteren Stil-, Themen- und Gattungswahl fort, sondern trat in eine Laufbahn als politischer Publizist ein, die anfangs vor allem auf eine forcierte Politisierung des Kriegserlebnisses baute, während er in seinen folgenden Buchproduktionen zunächst das Feld der Stahlgewitter weiter ausbeutete. Es ist zwar anzunehmen, daß die Okkupation der unter französischer Verwaltung stehenden ostpreußischen Memelgebiete durch Litauen sowie die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923, die anhaltenden Unruhen und Separatistenaufstände, eine galoppierende Inflation und die im Herbst stark ansteigende Arbeitslosigkeit entscheidend auch zu Jüngers politischer Radikalisierung beitrugen; diese Lageentwicklung, die französischen Übergriffe ebenso wie das innenpolitische Chaos, trafen bei ihm jedoch auf eine bestimmte Disposition, deren Formierung früher anzusetzen und nun genauer zu untersuchen ist. Gleich in seinem ersten Brief an Schauwecker auf dessen Initialschreiben hin hatte Jünger das Verhältnis zwischen „Wort" und „Tat" als zentrales und existentielles Problem aufgeworfen, indem er sich erklärte: „Das einzig

21

E. Jünger, „Sturm", in: ders., Erzählende Schriften I. Erzählungen, Stuttgart 1978: 9-74, hier: 31 ; unverkennbar zeichnet sich hier Jüngers Benn-Lektüre ab. Vgl. im übrigen die grundlegende Analyse des Sturm bei John King, „ Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende? " Writing and Rewriting the First World War, Schnellroda 2003: 221-245.

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erstrebenswerte ist die Tat. Alles andere ist Notbehelf'; 22 dann schickte er ihm noch eine „Dichtung" zu, woraufhin Schauwecker am 31. Oktober 1921 dem sechsundzwanzigjährigen Reichswehrleutnant schrieb: Ihre Dichtung ,Zwischen 2 Räuschen' habe ich eben gelesen. Sie fragen mich um meine Meinung darüber. Vorher möchte ich in Erinnerung Ihres ersten Briefes ein Nichtwissen bekennen, nämlich: Sie erklären für sich nur die Tat als einzig vertretbare Lebensform, alles andere für Notbehelf. Ich weiß also nicht, ob Sie Ihre literarische Tätigkeit mehr unter dem Gesichtswinkel des Nebensächlichen oder unter dem des Lebenswichtigen betrachten. Mit anderen Worten: ob Sie literarischen', Deutsch künstlerischen' Ehrgeiz haben oder nicht. Ihrem Buch [In Stahlgewittern\ U. F.] u. Ihren Briefen nach zu urteilen, müßte Ihnen Ihre literarische Tätigkeit eben nur Notbehelf und die Ansicht anderer darüber gänzlich gleichgiltig sein; entsprechend der dichterischen Begabung Ihrer Verse müßte Ihnen ,die dichterische Tätigkeit' [...] nicht nebensächlich erscheinen. 23

Schauweckers Antwort verlegt Jüngers Wort-Tat-Problematik umgehend in das literarische Feld, indem sie den künstlerischen Ehrgeiz ins Spiel bringt. Dem sich gern auf Goethe berufenden erfahreneren Autor war die Struktur dieser Fragestellung höchst bewußt, die schon im Faust als Suche nach der rechten Auslegung des Wortes λόγος - „Und schreibe getrost: im Anfang war die Tat\" - topisch war. Den aktuellen literarischen Ort, an dem Jünger seine Problemformulierung finden konnte, hatte Schauwecker bereits intuitiv bestimmt, ehe er das Gedicht,Zwischen zwei Räuschen' zu lesen bekam: Sie sprachen in ihrem Brief von , verrückten' Sachen, die Sie unter anderem Namen schreiben. Ich verstehe, daß man als Mensch der Tat dazu in der Zeit erzwungener Ruhe kommen kann. Darf man wissen, welche anderen Namen man nennen muß, um etwas davon zu lesen? Reiten Sie die ,Silbergäule'? 24

Eine zumindest lose Verbindung zu den „Silbergäulen", zum Kreis um diese in Hannover von Paul Steegemann edierte Schriftenreihe, war tatsächlich vorhanden, wie Jünger im Altersrückblick bestätigte: Er habe etwa Walter Serners Schriften nach dem Ersten Weltkrieg mit Genuß gelesen, „seine Editionen von Beginn an verfolgt" und auch dessen Letzte Lockerungen „im Original besessen, wie alle ,Silbergäule' Steegemanns, in dessen Gesellschaft ich damals zum Mißvergnügen meiner Vorgesetzten verkehrt[e]". Überdies erinnere er sich an Begegnungen mit „anderen seltsamen Hannoveranern jener Jahre wie Theodor Lessing und dem Antiquar Lafaire - dann an Bilder von Kirchner, Neonlicht und Experimente mit Kokain".25 22

23 24

25

Zit. in Schauweckers Brief vom 26. 10. 1921 (DLA) aus Jüngers Brief vom 18. 10. 1921. DLA: Brief Schauweckers vom 31. 10. 1921. Ebd.: Brief Schauweckers vom 26. 10. 1921; weder Gedicht noch Pseudonym wurde bislang gefunden. E. Jünger, Siebzig verweht III, Stuttgart 1993: 310 f. (Eintrag 12. 12. 1983): 314 (Eintrag 15. 1. 1984); auch ders., Annäherungen, Stuttgart 1978: 198, 201 ff. Zu

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Worauf Jünger hier verweist, ist seine vormalige Faszination vom Expressionismus, auf die auch Schauweckers Frage nach den , Silbergäulen' zielte: Die Überwindung der scheinbaren Dichotomie von Wort und Tat hatte ein, wenn nicht schlechthin das expressionistische Phantasma gebildet, das sich, sieht man von Herwarth Waldens ,Sturm'-Kreis ab, im Diskurs über den politischen Menschen' manifestierte und im politischen Dichter' seine Einlösung zu finden hoffte. Im Kontext lebens- und sozialreformerischer Bemühungen bestimmte die Formel vom politischen Menschen' - und in Bezug auf diesen die entsprechende Definition des ,Dichters' - insbesondere im Zusammenhang mit der Novemberrevolution' geradezu die Redeordnung dessen, was als Expressionismus bezeichnet wurde.26 Solchen „sehr Modernen" ordnete Schauwecker den dichtenden Leutnant auch ausdrücklich zu, wobei er ihn zugleich auf das ,Wort' und nicht die ,Tat' festlegte, indem er versicherte, er glaube „aus folgendem Grund an den Ernst" von Jüngers Schreiben: Sie haben sich gewiß technisch, verstechnisch gebildet u. zwar an sehr Modernen. Beweis m.E.: Die artikellosen Hauptwörter (Sternheim, der Artikelmeuchler), Wörter wie ,steil', .splittern' in ihrer häufigen Wiederkehr, die gehäufte Erotik, die ganze ekstatische Übersteigerung des Fühlens. Das sind Sie u. die Zeit verlorener Kriege u. kalt gestellter Tat. 27

Jüngers durch seinen Bruder Friedrich Georg angeregtes Interesse für Künstler- und Literatenszene ist nun schon länger bekannt, ebenso überliefertes expressionistisches Gedicht Zu Kubins Bild: Der Mensch, wurde dem bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt,28 obgleich sich brisante Filiationen eröffnen.

26

27 28

diese sein doch darin

Steegemanns Verlag vgl. Jochen Meyer, Der Paul-Steegemann-Verlag (1919-1935 und 1949-1960). Geschichte, Programm, Bibliographie, Stuttgart 1975; ders., Ulrich Krempel, Egidio Marzona (Hrsg.), Paul-Steegemann-Verlag 1919-1935, 1949-1955. Sammlung Marzona, Hannover 1994. Vgl. dazu Frank Almai, Expressionismus in Dresden. Zentrenbildung der literarischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Dresden 2004. DLA: Brief Schauwecker vom 31. 10. 1929. Vgl. Karl Prümm, Die Literatur des soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918-1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik, Kronberg/Taunus 1974: 130-170; Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986: 251 f.; King ( M m . 21): 125 f., 212 f., 240 f. Vgl. E. Jünger, Annäherungen (Anm. 25): 365: „Hinsichtlich der Modernen, zu denen ich nun [in Berlin, U. F.] überging, verdanke ich eine gute Vorwahl Friedrich Georg, der ein Jahr früher invalid geworden war. Er wies mich auf die Expressionisten hin, vor allem auf Trakl, dem ich durchaus treu geblieben bin".

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III Schon vor längerer Zeit hat Hans-Harald Müller auf die Ähnlichkeit von Jüngers ,,idealistische[r] Argumentationslinie" und jener der linken Aktivisten hingewiesen, wobei er freilich die Differenz der Ansätze in der geistesgeschichtlichen Situierung betonte. 29 Plausibel erscheint aber die Annahme, daß einer Differenz der intentional politischen Ausrichtung mehr als nur strukturelle Ähnlichkeiten gegenüberstehen. Es kann dabei freilich nicht um eine Aufwärmung jener moralisch aufgeladenen „Wegbereiter"-Verdikte gehen, wie sie mit Blick auf die der .Rechten' zugeordneten Intellektuellen gängig sind, aber auch gegen gemeinhin Jinks' verortete Exponenten des Expressionismus ins Feld gefuhrt wurden, etwa von Walter Muschg Anfang der 1960er Jahre und schon 1937 von Alfred Kurella zu Beginn der sogenannten „Expressionismusdebatte". 30 Erneut in den Blick zu rücken ist vielmehr die Interdiskursivität jener intellektuellen Redeordnungen der 1920er und frühen 1930er Jahre, die Manfred Gangl als Austauschdiskurse beschrieben hat. Gleichwohl bleibt auch nach den jeweiligen „Urszenen" zu fragen, die bestimmte Kollektivsymbole generierten und damit Austauschbeziehungen bis hin zum Wechsel des „Lagers" - mit einer Verschiebung der Semantik gemeinsam verwendeter Symbole und rhetorischer Muster - ermöglichten. 31

29

30

31

Müller, Der Krieg und die Schriftsteller (Anm. 28): 275. Müllers Buch bleibt eine der fruchtbarsten Studien zum frühen Jünger. Vgl. dazu Klaus Petersen, Ludwig Rubiner. Eine Einführung mit Textauswahl und Bibliographie, Bonn 1980: 2-4; Muschg (Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus, München 1961) wollte der ,,hysterische[n] Apotheose des kommenden Führers" bei den Aktivisten eine ungewollte Wegbereiterschaft ins ,Dritte Reich' bescheinigen, wogegen Wolfgang Rothe (Einleitung, in: ders. [Hg.], Der Aktivismus 1915-1920, München 1965) darauf beharrte, „in der aktivistischen Bewegung der Kriegs- und Revolutionsjahre eine respektgebietende Äusserung des deutschen Geistes zu sehen". Zur ,Expressionismusdebatte' vgl. Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.), Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt a. M. 1976; Dieter Schiller, Die ExpressionismusDebatte 1937-1939. Aus dem redaktionellen Briefwechsel der Zeitschrift „Das Wort", Berlin 2002. Vgl. dagegen die Haltung Karl Löwiths, der in seinem Erinnerungsrückblick (Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Stuttgart 1986) auch bei eindeutigeren Fällen von solchen schematisierenden Urteilen absieht: „Sie haben dem Nationalsozialismus Wege bereitet, die sie dann selbst nicht gingen. Aber wer von den radikaleren Menschen der im Kriege gereiften Generation hätte ihm nicht den Weg bereitet, nämlich durch die Anerkennung der Auflösung und die Kritik des Bestehenden" (24 f.). Manfred Gangl, „Interdiskursivität und chassés-croisés. Zur Problematik der Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik", in: Sven Hanuschek, Theres Hörnigk, Christine Malende (Hrsg.), Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg, Tübingen 2000: 29^18, bes. 42-48. Zur Gleichsetzung

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W e n n die Erinnerung stimmt, daß Jünger „alle ,Silbergäule' Steegemanns" besaß, mußte ihm auch eine Schrift bekannt sein, die 1919 unter dem Titel Gustav Wyneken 's Erziehungslehre und der Aktivismus als vierte N u m m e r der Reihe erschien. Ihr Autor war Kurt Hiller, der den Nationalrevolutionären g e g e n Ende der 1920er Jahre als politischen Gegnern Respekt zollte und sich mit ihnen intensiv auseinandersetzte, Jünger 1945 j e d o c h aus dem Exil mit Haß publizistisch angehen sollte. 3 2 Hillers in den 1910er Jahren ausgebildeter ,Aktivismus', der als die am schärfsten politisch profilierte Spielart des Expressionismus einzustufen ist, hatte in Deutschland und Europa eine „Geistpolitik" installieren wollen, deren Träger Eliten, deren Mittler und Führer die .politischen Dichter' waren. D i e s e s Konzept brachte ein ganzes Arsenal von Ideen und Formulierungen in Anschlag, die sich in frappierend ähnlicher Form von 1923 an auch in Ernst Jüngers politischer Publizistik freilich mit anderslaufender Stoßrichtung - gehäuft wiederfinden werden, auch w e n n er just diesem „politischen Dichter" 1922 eine Absage zu erteilen vorgab. Der Aktivismus sei, so formulierte Hiller 1917, [...] eine Bewegung, die, unter Führung Heinrich Manns und anderer, seit 1910 in Deutschland da ist, von akademischer Pathetik gelegentlich als Neu-Idealismus bezeichnet wird, sonst als Voluntarismus, Politizismus oder Aktivismus, und, so sehr ihr Kernwille in den einzelnen Vertretern differenziert, doch diese als ihre oberste Norm wohl durchwegs anerkennt: Umgestaltung der Welt nach dem Befehl der Idee. 33

32

33

„Der Schriftsteller als Intellektueller" vgl. den so betitelten Problemaufriß von Georg Jäger ebd.: 1-25, bes. 12-16. Zum Begriff des „Interdiskurses" vgl. Jürgen Link, „Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik", in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller, Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 3 1992: 2 8 4 307. Vgl. Krempel, Marzona, Meyer (Anm. 25): 108, Nr. 11.1. Zu Hillers Attacken nach 1945 vgl. E. Jünger, Gerhard Nebel, Briefe 1938-1974, hrsg. von U. Fröschle und Michael Neumann, Stuttgart 2003: 621, 678 f. Taugenichts - Tätiger Geist - Thomas Mann. Eine Antwort von Kurt Hiller, Berlin 1917: 4; vgl. Thomas Bleitner, „Zur Genese politischer ,Litteratur' im Expressionismus", in: Wolfgang Beutin, Rüdiger Schütt (Hrsg.), Zu allererst antikonservativ. Kurt Hiller (1885-1972), Hamburg 1998: 14-35. Juliane Habereder, Kurt Hiller und der literarische Aktivismus. Zur Geisgesgeschichte des politischen Dichters im frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M., Bern 1981, weist darauf hin, daß noch vor dem Weltkrieg neben den ,,Außenseiter[n] des Freistudententums" (so das Protokoll einer erweiterten ,Ziel'-Besprechung vom August 1917) unter Walter Benjamins Führung, dieser seinerzeit Präsident der Berliner Freien Studentenschaft, auch - Hans Blüher vom ,Altwandervogel' zum Aktivismus stieß (57). Benjamin stand seinerseits der Richtung Gustav Wynekens nahe.

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In der Tat war Heinrich Mann der eigentliche Inspirator einer Machtergreifung der „Ratio militans" auf dem Wege der Dichtung, wie man die Zielvereinbarung dieser sozialistisch inspirierten , Aktivisten' bestimmen kann. Schon 1905 hatte er in ,Choderlos de Laclos' ein Bild des Dichters als „Soldat der Revolution" entworfen: Der spätere napoleonische General erschien ihm als „der literarische Offizier, in dessen Briefen die Namen Voltaire und Rousseau so oft vorkommen wie die von Kriegsmännern"; dieser „siegreiche Typus" habe Europa die „Tatwerdung von Ideen [...] auf großen Siegeszügen" eingetränkt. Der politische Soldat und Literat Heinrich Manns unterwarf Europa in den Armeen Napoleons nicht als „Scherge", sondern suchte es als „Kulturbringer" zum Geist zu befreien.34 Epoche machte jedoch im vorliegenden Kontext Manns 1911 erstmals publizierter Aufsatz ,Geist und Tat', der programmatischen Stellenwert fur die Konstitution jenes von Jünger 1922 beklagten politischen Dichters' gewinnen sollte.35 Der Literat verband eine scharfe Kultur- und Gesellschaftskritik am wilhelminischen Deutschland mit der idealistischen Aufforderung an die Intellektuellen, sich gegen den „massigen Materialismus der modernen Monarchien", wie es anderswo heißt, zu erheben.36 Indem er seinen damaligen ideologischen Fixpunkt Rousseau als einen „Landstreicher" bezeichnet, „der ein Volk sucht und einen Staat erträumt",37 umschreibt Mann gleichsam sich selbst: Seinen Staat und sein Volk suchte er im republikanisch-imperialen Frankreich, da er für Deutschland konstatierte, daß Jeder einzelne sich lieber beschirmt und dienend sieht", und rhetorisch fragt: „wie sollte er", der Deutsche, „an die Demokratie glauben, an ein Volk von Herren"?38 Utopisch erschien hier jener republikanische „Traum eines Dichters", den „auf die Erde herabzureißen" eine „feurige Naivität" und ein „Glaube an den Geist" die Franzosen befähigt habe,39 denn: „Was mußte alles zusammenkommen, damit 34

35

36

37 38 39

Heinrich Mann, „Choderlos de Laclos", in: ders., Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. BandXI, Berlin 1954: 21-37, hier: 30, 34. H. Mann, „Geist und Tat", in: ders., Ausgewählte Werke (Anm. 34): 7-14; der Aufsatz erschien zuerst im Januar 1911 in der von Alfred Kerr hrsg. Berliner Zeitschrift Pan; Hiller druckte ihn 1916 im ersten Band seines danach verbotenen Jahrbuchs Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist (Berlin, München) ab. H. Mann, „Voltaire - Goethe" [zuerst 1910], in: ders., Ausgewählte Werke (Anm. 34): 15-20, hier: 15. Die an Nietzsche orientierte Polemik Manns gegen den Wilhelminismus findet sich ähnlich in der späteren nationalrevolutionären Kulturkritik, etwa in Hugo Fischers Nietzsche Apostata (1931) und Lenin, der Macchiavell des Ostens (1933), ebenso bei Alfred Baeumler: Nietzsche der Philosoph und Politiker (1931); vgl. dazu auch Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001: 275 f. H. Mann, „Geist und Tat" (Anm. 35): 7. Ebd.: 11. Ebd.: 8.

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dem Geist Krieger erstanden! Nordische Menschen, vom Blut und noch mehr von der Kultur des Südens durchdrungen", 40 ein „Volk mit literarischen Instinkten [...] und von so warmem Blut", daß ihm jede von der Ratio widerlegte Macht unerträglich werde. 41 Sind für Heinrich Mann somit die Franzosen durch eine spezifische Blutmischung qua ,Instinkt' zu einem republikanischen „Volk von Herren" prädisponiert, das „dem Geist, der das Geschlecht" des Revolutionsjahres 1790 „beseelte, die Welt zum Körper" zu geben vermag, hoffte er indes doch auch, dies mit den drögen Deutschen zu erreichen. Freilich hatten die „Geistesfuhrer Frankreichs, von Rousseau bis Zola, [...] es leicht", denn, so Mann: „sie hatten Soldaten". 42 In Deutschland mußten sich die „Geistesführer" solche Geisteskrieger erst schaffen, mußten zu „Agitatoren werden, sich dem Volk verbünden gegen die Macht". 43 Dieses Programm setzten aktivistische Dichter diverser Provenienz im expressionistischen Kontext zunächst in weiteren programmatischen Schriften um, wie schon Kurt Hillers Anbindung an Mann signalisiert. ,Der Dichter greift in die Politik' hieß etwa ein bekanntes Manifest Ludwig Rubiners, das 1912 in der Aktion mit stellenweise artilleristischer Vorkriegsmetaphorik verkündete: Wenn der Dichter, der Erschütterer, zur Politik kommt - bei diesem Umwandeln der Selbstgenüsse und Selbstzerfleischungen in Ekel des Handelns, beim tiefen seligen Auskosten der Schweinerei: Volksmann zu sein; beim unermeßlichen Glücksgefühl, wehrlos, im Wind eine Stimme für andere zu sein (wenn man bis dahin seine eigene war) - ; bei dieser unschätzbaren Selbstaufgabe [...]: bei dieser Umwandlung der Kräfte wird Unmeßbares an sittlicher Energie frei. Dies strahlt in den Raum, fährt mit Brisanzeffekt unter die Stühle von Literaten, Genießern, Politikern. [...] Der Geistige, der zum Volksmann wird, gibt von dem Geist ab. Er fühlt, er ,schraubt sich herab'. Aber in Wahrheit setzt er das Verlorene um. Der Dichter wirkt tausendmal stärker als der Politiker, der im Moment vielleicht fetter effektuiert. Der Dichter ist der einzige, der hat, was uns erschüttert, Intensität. 44

Johannes Robert Bechers Eingangsgedicht zum Zyklus ,An Europa' besingt im Ersten Weltkrieg den neuen Dichtertypus als einen, der „strahlende Akkorde" 40 41 42 43

44

Ebd.: 9. Ebd. Ebd.: 10. Ebd.: 13. Wenn auch die „Zusammenstellung Heinrich Manns mit Hans Blüher" in Hillers ersten Ziel-Jahrbuch „befremdet" (Elke Emrich, Macht und Geist im Werk Heinrich Manns. Eine Überwindung Nietzsches aus dem Geist Voltaires, Berlin, New York 1981: 217), ist auf der diskursiven Logik dieses Verfahrens zu beharren; vgl. auch Anm. 33. Ludwig Rubiner, „Der Dichter greift in die Politik" [zuerst 1912], in: ders., Künstler bauen Barrikaden. Texte und Manifeste 1908-1919, Darmstadt u. a. 1988: 70 f.; vgl. dazu Petersen (Anm. 30): 13-23.

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meidet, aber agitiert: „Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill. [/] Er reißt das Volk auf mit gehackten Sätzen". Das lyrische Ich zeichnet hier gleichsam in sein eigenes „noch unplastisches Gesicht" als Entwurf ein, was ihm vorschwebt: „Die Neue Welt". Die Einheit von Autor, zündendem Text und politischer Tat wird mit sakraler Geste als Dreieinigkeit im ,Werk' gestiftet: „O Trinität des Werks: Erlebnis Formulierung Tat." Lange vor Gottfried Benns Reflexion auf die Kunst und den totalen Staat dringt Bechers Text dabei auf das Ganze, die umfassende Gestaltung: Der neue, der heilige Staat Sei gepredigt, dem Blut der Völker, Blut von ihrem Blut, eingeimpft. Restlos sei er gestaltet. Paradies setzt ein.

Hasenclevers Gedicht ,Der politische Dichter', 1917 erstmals publiziert, zeigt die Herabkunft solchen „neuen Dichters" auf eine ,,[i]m Rohen" tanzende „wilde Masse [/] Mit Jakobinermützen; blutumbändert". Sein Auge „wittert" den Morgen: „Von seinem Geist umzittert [/] Baut sich die Erde auf und wird Erfüllung." Auf die Basis einer blutigen, in apokalyptischen Bildern ausgemalten Revolution hebt sich hier der Dichter hinab, und er hebt sich zugleich von ihr ab als ein unbeteiligt Beteiligter, der das Chaos deutend durchdringt, eine Textbewegung, die später auch Ernst Jünger in seiner prosaischeren Publizistik nachvollziehen wird. „Versöhnte Scharen" erhalten vom Dichter Richtung und Führung, er bewahrt sie vor der Anarchie und weist sie - „Gerechtigkeit, Gesetz der höchsten Rasse, [/] Vollende du die Welt, die sie verändert!" - in die neue Zeit. Hasenclevers politischer Dichter' darf folglich „nicht mehr in blauen Buchten" ländlichen Träumen nachhängen, sondern sieht großstädtisch aus Höfen helle Schwärme reiten. Sein Fuß bedeckt die Leichen der Verruchten. Sein Haupt erhebt sich, Völker zu begleiten.

45

Johannes R. Becher, „Eingang", in: ders., An Europa, Leipzig 1916, hier zit. nach ders., Gesammelte Werke I: Ausgewählte Gedichte 1911-1918, Berlin, Weimar 1965: 173 f.; seine auf den Eingang folgende Adresse „An die Dichter" insistiert: „Wer Dichter schreibt die Hymne an die Politik!?" (ebd.: 175). Vgl. dazu JensFietje Dwars, Abgrund im Widerspruch. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998: 74-78; Hasenclevers und Bechers Gedicht eröffnen in Kurt Pinthus' Anthologie Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Berlin 1920 [1919], das Kapitel .Aufruf und Empörung'. Zur Umformung der Welt nach den „Gesichten", d. h. der Schau des Dichters auch bei Max Bartheis vgl. Hugh Michael Fritton, Literatur und Politik in der Novemberrevolution 1918/19. Theorie und Praxis revolutionärer Schriftsteller in Stuttgart und München, Frankfurt a. M. u. a. 1986: 74 f.

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Er wird ihr Führer sein. Er wird verkünden. Die Flamme seines Wortes wird Musik. Er wird den großen Bund der Staaten gründen. Das Recht des Menschentums. Die Republik.

Zentrale Konzepte in diesem Zusammenhang - sie strukturieren naturgemäß auch Hillers ,Silbergäule' über den „Erzieher" Gustav Wyneken - sind „Erlebnis", „Führung" und „Gefolgschaft". Wenn besonders die Lyrik das „Erlebnis", um es inhaltlich transportieren zu können, formal generieren muß, wenn sie Führung und Gefolgschaft beschwört, verschwimmen folgerichtig die Grenzen zwischen Dichter und Politiker. Paul Zechs ,Anrufung' spricht so 1919 ihren imaginierten Adressaten zunächst als dichterisch beseelten Redner an: Und wenn des Volkes Willen dich zum Mittler wählt - : Laß deine Zunge aus dem Munde flattern, Daß sie mit Gottes Nähe sich vermählt,

um dann „Aus seinem Mund Gericht" zu fordern und ihn als politischen Täter und Erlöser zu proklamieren: Sintflut ist nicht genug! Die Fratzen, die die Welt entstellen, Gewalt, die alle Ordnung unterschlug: Muß brennen! Hörst du? Brennen! Die ganze wilde Welt ein Feuerherd Der Flammen, die du aus dem Götter-Alten Heraushaust: Stirn in Stirn gestellt. Und wenn Wir Volk uns höher falten Und die unendliche Stunde unser Ohr schon trifft Anrasender als die Gewalten Der großen Mörser: wird das Gift Von unseren Herzen schmelzen. Auf fährt uns der Elias-Lift.

Den im Feuer reingeschmolzenen Herzen öffnet sich auch in Zechs Gedicht beim Ausstieg aus dem „Elias-Lift" - die Aussicht auf jenes „Paradies", das bereits Bechers Gedicht schaute: ,Jfeilige Republik ist unser Reich". 47 Mit ähnlich sakralem Pathos, das delirierend in die metaphorischen Dimensionen

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Walter Hasenclever, „Der politische Dichter", in: ders., Tod und Auferstehung. Neue Gedichte, Leipzig 1917; das Gedicht entstand unter dem Einfluß von Hillers Aktivismus. Hasenclever orientierte sich aber seit Mitte der 1910er Jahre eher an Stefan Georges Dichterkonzeption; vgl. dazu Bert Kasties, Walter Hasenclever. Eine Biographie der deutschen Moderne, Tübingen 1994: 146-152. Paul Zech, „Anrufung", in: Rubiner (Hrsg.), Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution. Eine Sammlung, Potsdam 1919: 109-111.

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eines Alfred Schuler gleitet, besingt L u d w i g Rubiner nun ohne U m s c h w e i f e gleich den wortmächtigen Politiker selbst: Führer, du stehst klein, eine zuckende Blutsäule auf der schmalen Tribüne, Dein Mund ist eine rund gebogene Armbrust, du wirst schwingend abgeschnellt. [...] Du schwächliche Säule, Gottes Stoß hat deine Krummnase in die zitternden Massen geschwungen, Deine Ohren hohl beflügelt schweben wie leichte Vögel rosig auf bleiernem Volksgeschrei [...] Führer, sprich! Um dich ringen die Engel auf kristallenen Bergen hochstrahlend und heiß. A l s eine für vorliegenden Kontext entscheidende Urszene muß nicht nur die bei Heinrich Mann im Vordergrund stehende Französische Revolution, sondern hier nun insbesondere die russische Oktoberrevolution a n g e n o m m e n werden, die 1917 den Intellektuellen und Publizisten als politischen Führer in aktualisierter Form auf die Tagesordnung gesetzt hatte. 49 Kurt Hiller pries noch 1930 die revolutionäre „Organisierung der Humanität" durch „Geistige", explizit Literaten und Utopisten, ,,[d]rüben in Rußland", als Trotzki schon in der Verbannung saß und Bucharin aus dem Politbüro eliminiert war: Jene, die sie zu organisieren begonnen haben, waren Geistige: der Literat Lenin, der Literat Trotzki, der Literat Bucharin und andere Utopisten, in denen das Feuer der Verwirklichung brannte; an der Spitze faustkräftiger Scharen im richtig erfaßten psychologischen Moment losbrechend, durften sie Täter werden - herrlichstes aller herrlichen Geschicke! Mit der am 8. N o v e m b e r 1918 proklamierten .Bayerischen Republik' des Münchner Arbeiter- und Soldatenrats unter dem Journalisten und Theaterkritiker Kurt Eisner schien aus einer vordergründig ähnlichen Ausgangslage

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Rubiner, „Die Engel", ebd. 130 f.; auch dieser Text stand in Pinthus' Anthologie (Anm. 45) im Abschnitt, Aufruf und Empörung'. Vgl. Leo Trotzkij, Revolution und Literatur, übers, von Eugen Schaefer und Hans von Riesen, Berlin 1968 [zuerst 1924]; dazu Boris Groys, Stalin Gesamtkunstwerk. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München, Wien 1988; Hans Günther, Der sozialistische Übermensch. M. Gor'kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart, Weimar 1993; Derek Müller, Der Topos des Neuen Menschen in der russischen und sowjetrussischen Geistesgeschichte, Bern 1998: 121-177. Die Traditionen „politischer Dichtung" sind freilich viel älter; vgl. Werner Kohlschmitt, Wolfgang Mohr, „Politische Dichtung", in: dies. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Dritter Band, Berlin, New York 1977: 157-220. Hiller: Die Rolle des Geistigen in der Politik, in: Weltbühne, 1930 1. Halbjahr: 568; vgl. dazu Rolf von Bockel, Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (1926-1933). Ein Beitrag zur Geschichte der Friedensbewegung und der Szene linker Intellektueller in der Weimarer Republik, Hamburg 1990: 106-112.

Ernst Jünger und „das Wort vom politischen Dichter"

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heraus bereits 1 9 1 8 / 1 9 auch ein d e u t s c h e s M o d e l l für die ersehnte V e r m ä h l u n g d e s - insbesondere literarischen - G e i s t e s mit der M a c h t erstanden z u sein; 5 1 zahlreiche Journalisten, Publizisten, Literaten u n d Künstler ließen s i c h d e m Aktivisten-,

Sympathisanten-

und

Mitläuferspektrum

der

Rätesozialisten

zurechnen. In Berlin rief Kurt Hiller e i n e n ,Rat geistiger Arbeiter' ins L e b e n , scheiterte indes s c h o n an m a n g e l n d e r A k z e p t a n z bei den proletarischen Räten, b e v o r diese selbst durch die parlamentarische D e m o k r a t i e , die „Diktatur der Mittelmäßigkeit", substituiert wurden. 5 2 In D r e s d e n , e i n e m anderen Zentrum des E x p r e s s i o n i s m u s , bildete s i c h n a c h Hillers V o r b i l d unter der Leitung Heinar Schillings, der v o n 1 9 3 5 an fur Das Schwarze

Korps

der S S schreiben sollte, eine S o z i a l i s t i s c h e Gruppe

der

Geistesarbeiter', deren K o n z e p t i o n allerdings w e n i g e r elitär a n g e l e g t war als die d e s aktivistischen Theoretikers. 5 3 Hillers „ A u f f a s s u n g v o n der a u t o n o m e n Elite", s o formulierte es Juliane Habereder, intendierte „eine V e r b i n d u n g des autokratischen Rechts, Werte zu postulieren, a u s g e w i e s e n durch die höhere

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Vgl. Wolfgang Frühwald, „Kunst als Tat und Leben. Über den Anteil deutscher Schriftsteller an der Revolution in München 1918/19", in: ders., Günter Niggl (Hrsg.), Sprache und Bekenntnis. Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag, Berlin 1971: 361-389; Kurt Kreiler, Die Schriftstellerrepublik. Zum Verhältnis von Literatur und Politik in der Münchner Räterepublik. Ein systematisches Kapitel politischer Literaturgeschichte, Berlin 1978; Fritton (Anm. 45), beschränkt sich auf Fritz Rück, Max Barthel und Edwin Hoernle in Stuttgart, Toller und Mühsam in München; zum historisch-ideologischen Kontext Walter Fähnders, Martin Rector, Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik, Reinbek 1974; nur bedingt zuverlässig und essayistisch Jürgen Rühle, Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus, Köln, Berlin 1962; hagiographisch die Zusammenstellung von Hansjörg Viesel (Hrsg.), Literaten an die Wand. Die Münchner Räterepublik und die Schriftsteller, Frankfurt a. M. 1980; zu den Vorgängen in München vgl. allgemein Allan Mitchell, Revolution in Bayern. Die Eisner-Regierung und die Räterepublik, München 1967. Die von Christa Hempel-Küter und Hans-Harald Müller eingeforderte „Theorie politischen Verhaltens der literarischen Intelligenz" (80) ist bes. für die Weimarer Republik noch immer ein Desiderat („Ernst Toller: Auf der Suche nach dem geistigen Führer. Ein Beitrag zur Rekonstruktion der .Politisierung' der literarischen Intelligenz im Ernst Weltkrieg", in: Literatur, Politik und soziale Prozesse. Studien zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik, Tübingen 1997: 78-106, hier: 80). Der größtenteils mit der U S P D sympathisierende ,Rat geistiger Arbeiter' wurde bereits auf dem 2. Gesamtdeutschen Aktivistenkongreß (15. bis 22. 6. 1919 in Berlin) wieder aufgelöst; vgl. dazu Habereder (Anm. 33): 179-183. Hillers Polemik - zur Demokratie als dem ,,politische[n] Absolutismus der Durchschnittsmenschen" - ist aus seinem Aufsatz „Die Rolle des Geistigen in der Politik" (Anm. 50). Vgl. Almai (Anm. 26), bes. 2 0 1 - 2 5 1 (,Der Künstler und die Revolution'). Zu Heinar Schillings Laufbahn, die schon Anfang der 1920er Jahre vom Linksradikalismus zu völkischen Positionen führte, ebd. 317 f.

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Rangordnung als Träger von ,Geist', ,Rasse' und ,Willen' und der grundsätzlichen Distanz dem Volk gegenüber".54 Sein Rassebegriff ist freilich - ähnlich wie der Jüngers und Spenglers nicht der des Franzosen Gobineau oder jener eugenische des Briten Francis Galton bzw. der Rassehygieniker, wie er in manchen Theoremen der ,völkischen Bewegung' in Deutschland zusammengemischt wurde, sondern ein metaphorischer.55 Der von Nietzsche ausgehende Geistesaristokratismus Hillers hatte sich 1917/18, bereits vor der scheiternden Revolution, im Entwurf eines „Deutschen Herrenhauses" auf eine wenig populistische Weise konkretisiert, ein Plan, den sein Mitstreiter Alfred Wolfenstein in einer Auseinandersetzung mit ähnlichen Ideen des Berliner Kulturhistorikers Kurt Breysig schon 1912 geäußert hatte.56 Eine solche Institution sollte als „linkeste Stelle im Staat", so Hiller, „Menschen der Geist-Rasse, des unherrischen Herrentypus, der Befreiervorhut" vereinigen.57 Daß auch sie nicht Wirklichkeit wurde, ist bekannt.58

IV Auf dieses Tableau bezog sich Ernst Jüngers 1922 publizierte Klage: „Ach, über unsere paradoxe Zeit, die das Wort vom politischen Dichter erfand", und sie verweist auf die Distanz, die er inzwischen mit seinem zweiten Buch, bei allen einschlägigen Stilelementen, zum Expressionismus und insbesondere dessen Diskurs um den politischen Menschen' respective ,Dichter'

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Vgl. Habereder (Anm. 33): 55; vgl. auch Harald Lützenkirchen, Logokratie. Herrschaft der Vernunft in der Gesellschaft aus der Sicht Kurt Hillers, Essen 1989. Zum Einfluß von Gobineaus Rassentheorie vgl. u. a. Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 2 1996: 91-103; überdies Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 1997; zu völkischen Rassekonzepten Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbrich (Hrsg.), Handbuch zur „ Völkischen Bewegung" 1871-1918, München 1999: 224-251, 397-463. Vgl. Habereder (Anm. 33): 174. Hillers Artikel „Ein Deutsches Herrenhaus" war im Ziel, und zwar im zweiten der Jahrbücher für geistige Politik' (1917/18) erschienen. Zit. nach Habereder (Anm. 33): 176, aus: Hiller, „Ein deutsches Herrenhaus" und „Logokratie oder Ein Weltbund des Geistes". Während Hiller zunächst auf den „drei Hauptforderungen aktivistischer Politik" beharrte, dem Pazifismus, dem Sozialismus und dem Aristokratismus (Habereder [Anm. 33]: 183), und in der Folge seine Gruppe „Revolutionärer Pazifisten" betrieb, sollte sich der vormalige Weggefährte Rubiner sogleich fur die proletarische Weltrevolution erklären; vgl. Petersen (Anm. 30): 62 f.

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beanspruchte. Jüngers eigene Positionierungsversuche entwickelten sich dennoch weiterhin in jenem Spannungsfeld von ,Wort' und ,Tat', gewannen nun aber eine ganz andere Richtung und Dynamik. Bekanntlich war der hoch ausgezeichnete Frontoffizier nicht zu einem Pazifismus disponiert, wie er Hillers Aktivismus inspirierte, und er schien auch, als er Schauwecker im Herbst 1921 schrieb, bereits etwas „gemäßigt Expressionistisches" aufzuweisen, „unter Überwindung des MitleidMenschheitsschwarms", wie der ältere Autor konstatieren konnte, der das expressionistische Temperament des jüngeren gleichwohl weiter zu bändigen hoffte: „Ich finde, sie gehen zu draufgängerisch mit Ihrem Talent vor, zu ungebändigt und fessellos, nicht im Vers, sondern im Bild, in der Sache. Aber das ist Ergebnis des Bluts. Es kam Ihnen bestimmt drauf an, das zu Sagende so gleißend-lebendig u. haarscharf zu sagen, wie es möglich ist, und da sind Sie eben wild geworden".59 Er selbst gehöre ja, so Schauwecker über sich, „zu den - sozusagen - ,Allerjüngsten"': Ich bin mir dessen bewußt. Vollauf. U. mich quält das, was ich das ,lachende Kotzen' nenne, wenn ich die absichtlichen Gehirnekstasen der Expressionisten vom Schlage Becher, Hasenclever, Wolfenstein, Trakl usw. lese. Mich faßt etwas wie lachender Ekel, wenn ich diese Besoffenheit aus Morphium, Veronal, Opium lese u. sehe wie diese Epilepsien des Verses nicht aus einem schwirrenden Herzen u. Gefühl kommen sondern aus einem krampfigen Hirn u. Verstand lallen, wenn ich diese Leute in der Masse ihre Brüder umarmen sehe. Alles was man dort mit einigem Erfolg beobachten kann, ist m.E. einiges Technisches. 60

Schauweckers vorsichtige Kritik am - leider nicht aufgefundenen ekstatischen Gedicht ,Zwischen zwei Räuschen' des „wild" gewordenen Jünger, die er mit einer heftigen Absage an die Expressionisten verband, traf offensichtlich mit dessen eigener Abwendung von der damals generell abklingenden expressionistischen Bewegung zusammen; der junge Autor befand sich noch immer auf der Suche nach einem passenden stilistischen Profil. Biographisch gesehen hatte Jüngers Weg zur Autorschaft bereits in den Sozialisierungsinstanzen der Schule und der literarischen Bildung vor 1914 eingesetzt, mit eigenen Schreibversuchen, die durch den Krieg hindurch weiter fortgeführt wurden - möglicherweise als Versuche, die sinnstiftende, ordnende kulturelle Erzählung gegen das Chaos der Eindrücke und Schockerlebnisse fortzusetzen und nicht abreißen zu lassen.61 Mit dem ,Großen Krieg' hatte das thematische Arsenal der Literatur dann ganz banal - auch neuen Stoff zugeführt bekommen, den die einen in einem 59 60

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DLA: Brief Schauweckers vom 31. 10. 1921. Ebd.; er fugt hinzu: „Im übrigen habe ich vollständiges Verständnis für den Reiz des Orphischen, des Dämonischen und des Verfalls, gehe ihm deswegen höflich aus dem Wege, nachdem ich ihm einmal als Student 1913/14 verfallen war". Vgl. King (Anm. 21).

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großen Erinnerungsprojekt zur ,„Iliade' mit der Druckerpresse und gar Druckmaschine" (Karl Marx) zu verarbeiten suchten,62 die anderen als dunklen Grund für den Kampf um eine helle Zukunft nahmen. Für Jünger, der sich an gegebenen literarischen Größen orientierte,63 hatte dieser Krieg zunächst einen solchen autorschaftsstrategisch ausbeutbaren Stoff mit der Qualität eines außerordentliches „Erlebnisses" geboten, das alle aus der Schuljugend und Bildung übernommenen Themen und Topoi an „Intensität" (Rubiner) zweifellos übertraf, auch wenn der angehende Autor in der direkten Nachkriegszeit auf eine breite Konkurrenz an Kriegserlebnisliteratur - nicht zuletzt der Schauweckers - traf. Das starke Interesse für expressionistische Schreibweisen war nun gewiß in erheblichem Maß der Suche nach Ausdrucksformen geschuldet, deren sprachliche Intensität der existentiellen standzuhalten versprach - als Reaktion auf eine Sprachkrise, wie Wojciech Kunicki bereits mit Blick auf die Erstfassung der Stahlgewitter angemerkt hat: Das Versagen der Pathosformeln wilhelminischer Provenienz vor der Realität der Massenvernichtung in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs hatte zu jener eigenartigen Verschränkung von pathetischen Gesten und drastischer Realistik in Jüngers erstem Buch gefuhrt, die dort noch mit einer impliziten Distanz zu den extravaganten Stilattitüden der „Neutöner" verbunden war.64 In der direkten Nachkriegszeit war Jünger in Hannover auf eine Ikone der ,klassischen Moderne', Rimbaud, gestoßen, dessen Sonett ,Le dormeur du val' auch in einer überlieferten Gedichtskizze von 1919 anklingt: Über Hügel grün und rund Pfeift der Wind die alten Lieder Aus der Toten stummem Mund Spriessen Gras und weisser Flieder". 65

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Zur Gewichtung dieses Erinnerungsprojekt U. Fröschle, „Die ,Front der Unzerstörten' und der Pazifismus'. Die politischen Wendungen des Weltkriegserlebnisses beim Pazifisten' Carl Zuckmayer und beim ,Frontschriftsteller' Ernst Jünger", in: Gunther Nickel, Erwin Rotermund, Hans Wagener (Hrsg.), Zuckmayer-Jahrbuch, Bd. 2 - 1999, St. Ingbert 1999: 305-358, bes. 314-317, 325-331. Vgl. Jüngers Gedicht an die Mutter vom Januar 1916 in Paul Noack, Ernst Jünger. Eine Biographie, Berlin 1998: 14, und den Abdruck der Verzeilen von 1919 in Michael Gnädinger, Zwischen Traum und Trauma. Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt a. M. u. a. 2003: 229. Wojciech Kunicki, Projektionen des Geschichtlichen. Ernst Jüngers Arbeit an den Fassungen von „In Stahlgewittern", Frankfurt a. M. u. a. 1993: 30f f., 62. Er weist auf die Ähnlichkeit von Gustav Sacks anarchischem Temperament und einschlägigen Abneigungen hin. DLA, Nachlaß E. Jünger: Notizbuch (Datierung 1919); auch abgedruckt in Gnädinger (Anm. 63): 229; zur Rimbaud-Lektüre vgl. E. Jünger, Strahlungen IV [Siebzig verweht II], Stuttgart 1982: 478 (Eintrag vom 6. 5. 1979). Kunicki weist

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Die zunehmende Lektüre „der Modernen", die er dann in Berlin während seiner Arbeit in der Vorschriften-kommission der Reichswehr, also im Herbst 1920, begonnen haben will,66 führte den Jungautor zu Experimenten in der expressionistischen Stilrichtung, die er jedoch - schon aufgrund seiner Position als Offizier - vorsichtshalber unter Pseudonym publizierte und von der ihn schließlich Schauwecker endgültig abzubringen suchte. Der unter Klarnamen veröffentlichte - unter Schauweckers Einfluß allenfalls überarbeitete - Text Der Kampf als inneres Erlebnis zieht 1922 nun mit seiner direkten Stellungnahme gegen Barbusse und ,den Pazifismus' einen klaren inhaltlichen Trennstrich zu jenen mit dem Expressionismus eng verflochtenen linken politischen Dichtern', um auf eigene Strategeme vorauszuweisen: Der kampfbereite Pazifist wird als „Soldat der Idee", als potentieller Märtyrer, zwar ausdrücklich respektiert - es ist dies der Typus Kurt Hiller - , eine „Umgestaltung der Welt" nach dem Befehl der pazifistischen Idee aber auf der Basis einer pessimistischen Anthropologie definitiv für aussichtslos erklärt.67 Expressionistische Schlüsselbegriffe wie Ekstase, Rausch, Eros, Blut, Hirn, Spießbürger, entsprechende Metaphern und Bilder finden sich jetzt, auf der Ebene der Rationalisierung eines zweifellos verwandten Grundgefuhls, in den Dienst solcher politisch gegenläufigen Argumentationskomplexe gestellt.68 Auf der Textoberfläche findet man zudem weniger Walter Flex oder Hellingraths Hölderlin, sondern neben dem erwähnten Nietzsche literarische Figuren und Autorfigurationen wie den wüsten Vaganten François Villon, Grimmelshausens Landsknecht ,Simplicissimus', Ariosts ,Orlando Furioso' und den irren(den) Ritter ,Don Quixote' des Cervantes, die als literarische Signale gesetzt werden, um aus dem anarchisch-chaotischen Kriegserlebnis auf die Formierung einer neuen, vitalistisch-dynamischen Ordnungsvision am Ende hinzuleiten: „Alle Vielheit der Formen vereinfacht sich zu einem Sinn: dem Kampf. Der Körper des Volkes legt seine gesamte Kraft in einen Ausdruck: das Heer. Das fließt hier vorbei, der Wille zum Leben, der Wille zum Kampfund zur Macht".69 Im ,Stoßkeil' bzw.,Stoßtrupp' findet diese neue Ordnung ihre Apotheose und Elite: Das ist der neue Mensch. Die Sturmpioniere, die Auslese Mitteleuropas. Eine ganz neue Rasse, klug, stark und Willens voll. Was hier im Kampfe als Erscheinung sich offenbart, wird morgen die Achse sein, um die das Leben schneller und schneller

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auch auf die Affinität zu Baudelaire hin, die er besonders in Der Kampf als inneres Erlebnis erkennt (Anm. 64): 67 Vgl. Anm. 28. E. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (Anm. 2): 112, 36-45. Vgl. Kunicki (Anm. 64): 30. Vgl. auch Kunicki (Anm. 64). E. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (Anm. 2): 116.

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schwirrt. Über ihren großen Städten wird tausendfach brausende Tat sich wölben, wenn sie über die Asphalte schreiten, geschmeidige Raubtiere, von Kräften überspannt. Baumeister werden sie sein auf den zertrümmerten Fundamenten der Welt. Denn dieser Krieg ist nicht, wie viele meinen, Ende, sondern Auftakt der Gewalt. 70

Wird so ein den linksexpressionistischen Ideologemen zuwiderlaufendes Konzept noch in deren Gesten, Termini und Bildern präsentiert, ist die expressionistische Kunst dann im April 1923 in Jüngers formal und inhaltlich vielschichtigem Prosatext Sturm bereits eingereiht in ein - wie John King in der besten neueren Untersuchung des Jüngerschen Frühwerks gezeigt hat „proto-postmodernes" Tableau gescheiterter Versuchsvarianten, die vielschichtige „Krise der klassischen Moderne" zu bewältigen.71 Daß man indes „einiges Technisches" von der linksexpressionistischen Literatenszene zu lernen bereit war und sich dieses nicht allein auf die sprachlichen Mittel bezog, ließ eine aufschlußreiche Einlassung Schauweckers Anfang Dezember 1921 ahnen, die gleichsam ein aktivistisches Programm eigenen Zuschnitts formuliert: Gegen Sternheim u. Co., G. m. b. H. eine ,kleine, aber geschlossene Front', also so was wie einen ,Stoßkeil' zuzuspitzen, - verlockend. Man müßte sich nur vor dem meiner Ansicht nach übelsten, weil aus dem Gehirn entspringenden - Fehler jener hüten, nämlich vor der Aufstellung eines Programms. Das ist Progrom [!] der Dichtung, ist Schabionisierung der Persönlichkeit, Abklatsch und Pressung in Schranken. 72

Die von Schauwecker aufgegriffene Überlegung, eine „kleine, aber geschlossene Front" im literarischen Feld zu bilden, scheint von Jünger zu kommen. „Sternheim u. Co." steht dabei für arrivierte Autorschaft, und was sich hier Ende 1921 zunächst nur als innerliterarische Fragestellung gibt, birgt Implikationen, die auf drei Ebenen entfaltet werden können: einmal als Kritik inhaltlich-formaler Art, wie sie in Schauweckers wohl von Norbert Jacques inspiriertem Pejorativ vom „Artikelmeuchler" Sternheim zum Ausdruck kommt;73 zum andern als Ausdruck einer klassischen literatursoziologischen

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Ebd.: 74. King (Anm. 21): 240 f. King, der im Anschluß an Hans-Harald Müller die fragile Instabilität der frühen Jüngerschen Schreibakte überzeugend aufweist, spricht in der Analyse von Jüngers bis dahin avanciertestem literarischen Text Sturm angesichts darin ungelöster Aporien von der „tragischen Unmöglichkeit einer Wendung zur Postmoderne im Weimarer Deutschland des Jahres 1923"; seine knappen Ausführungen zu Jüngers Politisierung umgehen u. a. die Wort-Tat-Problematik in dessen Publizistik. DLA: Brief Schauweckers vom 5. 12. 1921. Ebd.: Brief Schauwecker vom 31. 10. 1921; vgl. Norbert Jacques, „Der Mut der Bekenntnis zum Artikel. Einige zeitgemäße Bemerkungen", in: Der Bücherwurm, 5 (1919), Nr. 5: 153 f.

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Konstellation: eine jüngere Autorengeneration sucht sich gegen die älteren zu profilieren, Aufmerksamkeitspotentiale zu binden sowie Macht- und Marktanteile zu gewinnen - Sternheim steht hier für die literarische Provokation, die in die Jahre gekommen ist und diskursive Prominenz errungen hat; und drittens als ein kulturrevolutionärer Impetus,74 der sich in den Folgejahren verstärken und der Wort-Tat-Problematik in der politischen Publizistik eine eigene Akzentuierung geben wird, dabei jedoch deutlich erkennen läßt, von wem man „einiges Technisches" gelernt hat - dies ist der Aspekt, der im folgenden besonders interessiert.

V. Fünf Monate nach dem Abdruck des Sturm im Hannoverschen Kurier erschien unter dem Titel Revolution und Idee' im Völkischen Beobachter Jüngers erster bekannter Beitrag in offen politischem Kontext. Der Neunundzwanzigjährige, der inzwischen aus der Reichswehr ausgeschieden war und wenig später ein Zoologiestudium in Leipzig antrat, sah sich nicht mehr an die Pflicht des aktiven Reichswehroffiziers zur politischen Zurückhaltung gebunden und reflektierte nun offen revolutionistisch über das Verhältnis von ,Wort' und ,Tat' in politicis: Überall in der Geschichte der großen Revolutionen ließ sich verfolgen, wie die Idee, zuerst in wenigen Köpfen geboren, in langer und mühsamer Arbeit der Verwirklichung nähergetragen war. Ob man die Reformation und die sich daranschließenden Bewegungen, die erste französische oder die sich vorbereitende russische Revolution betrachtete, nie fehlen die Sturmzeichen, eine große Literatur, Propheten und Märtyer, die für die Idee gelitten und geblutet hatten, mag die Idee auch falsch gewesen sein. 7 5

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,Kulturrevolutionär' im Sinne der nationalkommunistischen, immer wieder auf die französischen Jakobiner rekurrierenden Analysen, die Antonio Gramsci - aus einer Niederlage heraus nicht zuletzt angesichts der „passiven Revolution" des italienischen Faschismus - in seinen Gefängnisheften (Kritische Gesamtausgabe, 10 Bde., hrsg. von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Berlin, Hamburg 1991-2002) zur Rolle der Intellektuellen in kulturellen Systemen entwickelte: Sein Begriff einer kulturellen Hegemonie, die selbst politische Macht bildet und diese stabilisiert, erzwingt eine Strategiebildung im nur scheinbar ,vorpolitischen' kulturellen Feld zu politischem Machterwerb; vgl. auch Gramscis an Sorels Mythos-Konzept anknüpfenden Begriff des „historischen Blocks" (Band 3, 1992: 475, 490, A223 f.); dazu Walter L. Adamson, Hegemony and Revolution. A Study of Antonio Gramsci 's Political and Cultural Theory, Berkeley, Los Angeles, London 1980, bes. 169-201. E. Jünger, „Revolution und Idee", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 34 f. Der Text erschien am 23./24. 9. 1923 in: Der völkische Beobachter (München).

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Jüngers Text verkündet überdies, die erwartete neue Revolution werde, wenn sie nach den „Sturmzeichen" ausbricht, zur Diktatur fuhren und „ersetzen das Wort durch die Tat, die Tinte durch das Blut, die Phrase durch das Opfer, die Feder durch das Schwert".76 Dieser Text im Völkischen Beobachter erkennt die aktivistische Maxime einer „Umgestaltung der Welt nach dem Befehl der Idee", wie sie Hiller 1917 proklamiert hatte, unumschränkt an, ja er gesteht sogar der „falschen" Idee Berechtigung zu; der Wert der „Idee" erschließt sich ihm zunächst in ihrer mobilisierenden Qualität, „Neues" in die Welt setzen zu können.77 Seine rhetorische Prüfung solcher Mobilisierungsqualität, die er in Revolution und Idee' vornimmt, mißt nun die „sogenannte Revolution von 1918", also gleichsam die der „Idee" Hillers, an der „Geschichte der großen Revolutionen", der französischen und der russischen, um zum Verdikt zu kommen, daß „nicht die Idee es war", die jene deutsche Novemberrevolution angetrieben habe, „sondern die Beutegier, unterstützt von der Feigheit einer ausgehungerten und durch Schlagworte geblendeten Masse". Sie habe zwar einen Umsturz herbeigeführt, damit aber die Wirkungen dessen potenziert, was sie eigentlich bekämpfen wollte: „So wuchs der Kapitalismus durch ihre Hilfe mächtiger denn je, die politische Unterdrückung wurde grenzenlos, die Freiheit der Presse und des Wortes ein Kinderspott".78 Die Vorbildhaftigkeit der maßstabsetzenden „großen Revolutionen" zeigt sich auch in der Ikonographie und Symbolik, auf die Jünger am Eingang und Ende seines Artikels im Völkischen Beobachter rekurriert: die Barrikade und die roten Fahnen. Anders als den in seinen Augen zwar als Umsturz erfolgreichen, als Revolution aber gescheiterten deutschen Revolten von 1918/19 weist er den Zielen, „für die auf unseren Barrikaden gefochten wird", das Potential einer „echten und gerechten Empörung" zu: „Denn nicht das Geld [...], sondern das Blut, das in geheimnisvollen Strömen die Nation verbindet", werde die „bewegende Kraft" einer ,,echte[n] Revolution" sein.79 John King hat darauf hingewiesen, daß sich in Jüngers Originaltagebüchern der traditionelle Vaterlandsbezug, nach dem emphatischen „Augusterlebnis", im Verlauf des Kriegs in fortlaufender Entäuschung verflüchtigte.80 Vor diesem Hintergrund kann der Ansatz zum forciert ideologischen Rekurs im Sep76 77

78 79 80

Ebd.: 36. Hans-Peter Schwarz deutet Jüngers Fixierung auf die „Idee" in den Frühschriften geistesgeschichtlich als hegelianisch inspirierten Neoplatonismus (Der konservative Anarchist. Ernst Jüngers Politik und Zeitkritik, Freiburg i. Br. 1962: 31 f.); die „Platonisierung" Jüngers ist m. E. später anzusetzen; der antipositivistische „Zeitgeist", in dem sich der frühe Jünger und Hiller bewegten, ist jedoch zweifellos platonisch angereichert. Ders., „Revolution und Idee" (Anm. 75): 34 f. Ebd.: 33, 37. King (Anm. 21): 144, 149-151.

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tember 1923 mit einer nunmehr explizit völkischen Codierung der vitalistischen Blutsmetapher als später wieder verabschiedeter Versuch des angehenden Zoologie-Studenten gedeutet werden, die in der Vergangenheit allein in jenem vergeudeten „Augusterlebnis" epiphanisch erfahrene irrationale Triebkraft rational zu fassen - und zwar im Anschluß an ein geläufiges, in den zeitgenössischen Human- und Naturwissenschaften bereitstehendes Konzept -, 8 1 um dessen „potentielle Energie"82 auf diese Weise wieder einholbar zu machen: Damit wird die vorausgesetzte Triebkraft politisch operabel, die Empfänglichkeit fur Epiphanien der Idee und deren Nachhaltigkeit kann vorbereitet, eingeübt und vertieft werden. Der Entwicklung dieses Grundgedankens sollte sich Jüngers politische Publizistik in der Folgezeit widmen, nachdem der überhastete Putschversuch Hitlers und Ludendorffs in München eineinhalb Monate später zweifelsfrei erwiesen hatte, daß der intellektuelle und organisatorische „Aufmarsch" keineswegs planmäßig vorbereitet, geschweige denn abgeschlossen war - „wir haben keine Leute vom Schlage Mussolinis gehabt. Die Kräfte waren da, aber sie wurden nicht angesetzt, oder in dilettantenhaften Unternehmungen zersplittert".83 Nunmehr definitiv von der Tat auf das Wort verwiesen, griff Jünger interessanterweise nicht auf das tradierte Rollenbild des Kriegerpoeten zurück, wie es die in den Schulen des Kaiserreichs gelesene politische Lyrik der Befreiungskriege gegen Bonaparte reproduziert hatte, wirkungsmächtig etwa in Theodor Körners 1814 postum erschienener Sammlung Ley er und Schwerdt.M Vielmehr reflektierte er die Autorschaft im politischen Feld immer wieder am französischen Vorbild, so in seinem im Herbst 1924 ausgelieferten Buch Das Wäldchen 125: „Wir hatten - von dem einsamen Nietzsche abgesehen, dem wir fast alles verdanken, was uns am stärksten bewegt - nach dem Kriege, der unsere Einheit wieder begründete, keinen, der wie Balzac mit der Feder vollenden wollte, was mit dem Schwert begonnen war".85 Jünger, der 1922 den „politischen Dichtern" eine Absage erteilt hatte, griff nun deren Muster mit einer gegenläufigen ideologischen Zielrichtung auf. Als Autor in Deutschland maß er sich dabei selbst die Rolle eines Geistesfuhrers zu, der die „Tat" im „Geist" inaugurieren mußte, wie es Heinrich Mann nach 81

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Vgl. etwa Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz (Hrsg.), Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenkunde, München 1921. E. Jünger, „Der Krieg als äußeres Erlebnis", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 86. Ders., „Revolution und Frontsoldatentum", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 63. Der Text erschien am 31. 8. 1925 in: Das Gewissen (Berlin). Theodor Körner, Leyer und Schwerdt, einzig rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe, Berlin 1814 (1. Aufl.: 88 Seiten; 2. Aufl. 1815 - 5. Aufl. 1819: VIII, 101 Seiten). E. Jünger, Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918, Berlin 1925 [ausgeliefert im Oktober 1924]: 154.

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dem Vorbild Frankreichs gefordert hatte, um der „Idee die Welt zum Körper" geben zu können. In konsequenter struktureller Analogie zu Manns Konzept der politischen Dichtung mußte er seine Autorrolle als kulturrevolutionäre auffassen und zum „Agitatoren werden, sich dem Volk verbünden gegen die Macht" (Mann), die in Jüngers Fall die Staatsmacht der ,Weimarer Republik' war. In diesem Sinn übernahm er im Frühjahr 1924 einen zentralen Satz aus seinem Beitrag zum Völkischen Beobachter in das Vorwort zur fünften Auflage der Stahlgewitter - nach dem Scheitern von Hitlers „Marsch auf die Feldherrnhalle" mit entscheidenden Abwandlungen: „Wir werden", liest man dort, „wieder die Feder durch das Schwert [...], die Empfindsamkeit durch das Opfer ersetzen - wir müssen es, sonst treten uns andere in den Dreck". Mit ähnlichem „Brisanzeffekt" wie der „politische Dichter" Rubiner und europäisch perspektivierend wie Becher verkündet Jünger dort trotzig, es werde „über Krämer, Literaten und Schwächlinge [...] die Aufforderung zur Tat in das neue Europa fegen". 86 Eine konkrete Umsetzung des kulturrevolutionären Impetus zu solcher Neuformierung der durch Hitlers Scheitern zersprengten „Kräfte" kristallisierte sich im Sommer 1925 heraus, als der politisch seit längerem äußerst umtriebige nationalistische Journalist Helmut Franke begann, die „Dreißigjährigen", wie es immer wieder in Anlehnung an einschlägige Generationskonzepte hieß, um die Bundeszeitschrift der Veteranenorganisation ,Der Stahlhelm' zu sammeln;87 nun schlug der von Jünger bis dahin nur theoretisch verhandelte „Stoßkeil" in eine institutionalisierte kulturrevolutionäre Praxis um „die Feder" sollte zum einen erneut die Grundlagen dafür schaffen, daß sie „durch das Schwert" ersetzt werden konnte, zum anderen sollte sie à la Balzac etwas fortfuhren, „was mit dem Schwert begonnen war": Im Projekt eines ,Aufbruchs der Nation', wie es später bei Schauwecker hieß, sollte zugleich die im „Augusterlebnis" nur aufscheinende ,innere Einheit' der Nation hergestellt werden, die man als Voraussetzung für das erfolgreiche Bestehen künftiger Konflikte erkannte; das zentrale Phantasma bildete hier die Heeresorganisation mit ihren klar definierten Befehlsketten, die auf die staatliche Organisation projiziert wurde.

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Zit. nach Berggötz/Jünger (Anm. 3): 43 [Hervorhebung durch U. F.]. Zu Franke vgl. Berggötz/Jünger (Anm. 3): 709; zur Entwicklung dieses Kreises die detaillierte Studie von Leena Kitzberg Osteraas, The New Nationalists: Front Generation Spokesmen in the Weimar Republic, Ann Arbor/MI 1976; zu den politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918-1935, Düsseldorf 1966: 50-53, 91-109; zu zeitgenössischen Generationskonzepten vgl. Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge/MA 1979.

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In diesem Zusammenhang ist es auch kein Zufall, daß Jünger Oswald Spengler als Berater zu gewinnen versuchte und diesem am 7. August 1925 sein persönliches Programm offenlegte: Nach einer längeren Zeit des rein wissenschaftlichen und literarischen Studiums halte ich es auch für mich für wünschenswert, schärfer als bisher in das tatsächliche Leben einzutreten. Das hat mich veranlasst, den nationalen Bünden näherzutreten, von denen ich mich bis jetzt ferngehalten habe, indessen sind sie der einzige Faktor, in den der Machtgedanke augenblicklich hineingetragen werden kann, und was helfen alle Worte ohne eine feste Basis, ohne Verwirklichungsmöglichkeiten. Daher habe ich mit Vergnügen ein Angebot des .Stahlhelm' ergriffen, der mir wöchentlich eine Seite für eine Aufsatzreihe programmatischer Natur zur Verfugung stellt. Ich habe das Thema ,Der Frontsoldat und seine Aufgabe' gewählt, ich denke im ersten Teil diesem bisher fast lediglich empirisch angewandten Worte einen festen Charakter zu geben und im zweiten Teil zu einer bewussten Politik aufzurufen. 88

Jünger konnte sich in seinen publizistischen Stellungnahmen, so bereits im Vorwort zur 2. Auflage von Der Kampf als inneres Erlebnis im Herbst 1925, dabei auf „eine kleine Gruppe von Freunden" berufen, die in diesem Sinne mit ihm zusammen tätig sei:89 Den Kern der Gruppe bildeten neben Jünger vor allem Franke und Schauwecker; Franke übernahm in der neugeschaffenen ,nichtbundesamtlichen Führerbeilage' des Stahlhelm, die den Titel ,Die Standarte' trug, den pragmatisch-organisatorischen Part und verstand sich überdies als politisch-ideologischer Koordinator, Jünger besetzte als der durch seine „Kriegsbücher" ausgewiesene und in diesem Kreis höchstdekorierte Sprecher einer „Frontgeneration" das Feld der grundsätzlichen Leitartikel, 90 der auch durch allgemeine Belletristik profilierte Schauwecker übernahm die feuilletonistische Konzeption. Hier publizierte Jünger nun in schneller Folge eine Serie von Texten, die sich als Korpus eines ersten von insgesamt mindestens drei apokryphen Büchern dieses Autors in jener Zeit verstehen lassen. Im Herbst 1925 wurde in der Standarte das baldige Erscheinen eines solchen Buches angekündigt, und zwar unter dem Spengler gegenüber erwähnten Titel.91 Liest man jene Artikelserie aus der Führerbeilage des Stahlhelm in ihrer chronologischen Publikationsfolge als Kapitel dieses Buchs, ergibt sich folgende auch vom Aufbau her sofort einleuchtende Struktur:

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Bayerische Staatsbibliothek München [im folgenden: BStB], Handschriftenabteilung: Nachlaß Spengler. Berggötz/Jünger (Anm. 3): 93. Vgl. dazu Fröschle, „Die ,Front der Unzerstörten"'(Anm. 62). „Bücher unserer Mitarbeiter", in: Die Standarte. Beiträge zur geistigen Vertiefung des Frontgedankens. Sonderbeilage des Stahlhelm, 1 (1925), Nr. 3, 20. 9. 1925: 2: „Ernst Jünger | [...] In Vorbereitung: ,Der Frontsoldat und seine Aufgabe'. (Erscheint im Herbst im Stahlhelm-Verlage)".

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1. Unsere Politiker; 2. Wesen des Frontsoldatentums; 3. Abgrenzung und Verbindung; 4. Der Frontsoldat und die Wilhelminische Zeit; 5. Der Krieg als äußeres Erlebnis; 6. Die Materialschlacht; 7. Der Krieg als inneres Erlebnis; 8. Die Revolution; 9. Die Methode der Revolution; 10. Die Reaktion; 11. Die Tradition; 12. Der Pazifismus; 13. Der Internationalismus; 14. Der Frontsoldat und die innere Politik; 15. Blut und Intellekt; 16. Die Maschine; 17. Schluß. 92

Die Zeitschriftenartikel gewinnen damit sogleich einen Status jenseits des reinen politischen Zweckjournalismus: Dieses geplante Buch schien darauf angelegt, seinen Autor als politischen Schriftsteller mit nahezu philosophischem Deutungs- und Theorieanspruch zu profilieren, auch indem es durch direkte Bezugnahme Anschluß an bekannte Größen wie Spengler und Moeller van den Bruck sucht. Das Projekt einer ideologischen Durchbildung des Kollektivsymbols Frontsoldat' zu einem politischen Kampfbegriff wollte Jünger im übrigen ausdrücklich als eine „Transformierung" von Spenglers „Grundideen in tätige Energie" verstanden wissen, wie er diesem bei der Übersendung von F. G. Jüngers Aufmarsch des Nationalismus schrieb.93 Das Einleitungskapitel von Jüngers apokryphem Buch nun bestimmt unter dem Titel Unsere Politiker zunächst die Ausgangslage als Fortdauern des Kriegszustands unter dem Schein eines Friedens: „Das mag ein Frieden für die anderen sein, aber nicht für uns, die wir das Messer an der Kehle spüren". Daraus wird unmittelbar eine Umkehrung des Clausewitzschen Lehrsatzes abgeleitet: „Für uns ist die Politik eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln".94 Die Perspektiven einer solchen Politik bestimmt Jüngers Text für seine Adressaten als noch unklar, da „ihnen der große, klar umrissene Rahmen" fehle - den es mithin erst zu schaffen gilt. So sei der allenthalben vernehmbare „Ruf nach dem .starken Mann'" verständlich, doch lasse sich der „große Politiker [...] nicht rufen; er tritt auf, wenn seine Stunde gekommen ist. Wir können diese Stunde nur erhoffen, und uns durch Arbeit am eigenen Ich vorbereiten, hartes Material für eine harte Politik zu werden".95 Dieser „große Politiker der Zukunft" wird sodann prototypisch definiert als „ein moderner Machtmensch [...] von einer gewaltigen Energie", erwachsen „aus dem Geist" jener „gesteigerten Tätigkeit", wie sie „in unseren großen Städten", umgeben 92

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Der in der jungkonservativen Zeitschrift Das Gewissen am 31. 8. 1925 publizierte Aufsatz Revolution und Frontsoldatentum' (vgl. Anm. 83) umreißt gleichsam als Projektskizze den Argumentationskomplex des geplanten Buch. BStB, Nachlaß Spengler: Brief E. Jüngers vom 6. April 1926. Jüngers apokryphes Buch liegt als Folie dem Untergang des Abendlandes auf, dessen letztes Kapitel j a auch ,Die Maschine' betitelt ist. E. Jünger, „Unsere Politiker", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 64; ein von Jünger sehr wahrscheinlich hier verarbeiteter Prätext dürfte auch Erich Ludendorff, Kriegführen und Politik, Berlin 1922, sein. Ebd.

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„vom Takt eines Maschinenzeitalters", erkennbar sei; er habe „von überragendem Verstände" zu sein und „über den Parteiungen und Spaltungen" zu stehen.96 Schließlich müsse „der große Politiker der Zukunft auch ein Mensch von Rasse sein. Energie, Verstand und Rasse, das werden seine drei großen Eigenschaften sein".97 Der entscheidende Wille dieses neuen Politikertypus, das eigene Recht durchzusetzen, könne indes „nicht erworben werden, er springt in historischen Augenblicken wie ein Blitz auf die Massen über und verwandelt sich in Kraft". Bemerkenswert ist hier nicht nur das der Elektrotechnik entstammende Bild einer selbständigen Entladung, des elektrischen Lichtbogens, und der Gedanke einer energetischen Umsetzung in „Kraft". In Erinnerung auch an Nietzsches „Blitz aus der dunklen Wolke" wird der Gedanke einer Konditionierung adventistisch-revolutionär entwickelt: daß man sich vorzubereiten habe fur den historischen Moment, in dem der „große Politiker" auf den Plan tritt, dessen „Erscheinen" einem „Naturereignis" entspreche, damit dann der Funke auch tatsächlich überspringen könne.98 Bewußt operieren Jüngers Texte, auch hier Spengler folgend, mit einer Leerstelle, die man als ,Führer-Variable' kennzeichnen kann; letztlich gilt dies fur den gesamten politischen Diskurs der Weimarer Republik, wobei jene Variable in der pragmatischen Politik ebenso wie in den politischen Überlegungen diverser Provenienz immer wieder - gleichsam versuchsweise besetzt wurde: auf der Rechten etwa mit Namen wie Gustav Noske, Erich Ludendorff, Hans von Seeckt, Hermann Ehrhardt, Paul von Hindenburg, Kurt von Schleicher und Adolf Hitler, während die radikale Linke nach der konterrevolutionären Liquidierung Rosa Luxemburgs und Wilhelm Liebknechts auf Ernst Thälmann, trotz gelegentlicher Krisen, fest abonniert schien. Daß die Naherwartung eines solchen „Führers" sowie die entsprechenden sprachlichen Figurationen omnipräsent waren und nicht nur auf die radikalen Fraktionen beschränkt blieben,99 zeigt sich am Beispiel des

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Ebd.: 65. Ebd.: 66. Spenglers Cäsarismus-Konzept ist hier unverkennbar präsent, doch frappiert auch die Ähnlichkeit mit Hillers Elitenkonzept (vgl. Anm. 54). A u f die chiliastische Dimension dieser Bildlichkeit hat schon Schwarz (Anm. 77): 116 f., hingewiesen. Es ist g e w i ß kein Zufall, daß auch bei Heinrich v o n Kleist das Bild eines elektrischen Übersprungs - in nationalpädagogischem Zusammenhang am Beispiel der „Kleistschen Flasche" - zur A n w e n d u n g kommt; vgl. dazu W o l f Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i. Br. 1987: 341 f. Ein eingehender Vergleich v o n Jüngers mit Heinrich v o n Kleists Texten hinsichtlich der ästhetischpolitischen Oszillation wäre aufschlußreich. Vgl. auch Gerhard Kraiker, „Rufe nach Führern. Ideen politischer Führung bei Intellektuellen der Weimarer Republik und ihre Grundlagen im Kaiserreich", in: Jahrbuch der Literatur zur Weimarer Republik, hrsg. v o n Sabina Becker, St.

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pazifistisch-liberalen jungen Germanisten Walter A. Berendsohn, der aus der lebensreformerischen Jugendbewegung hervorging und sich neben seinen fachlichen Arbeiten auf den Freiheitskampf gegen die Trinksitten bzw. eine Erdgebundene Sittlichkeit konzentrierte: Auch er erkannte 1924 in dem „theatralischen Geschrei nach starker Führung", das u. a. von monarchistischen Kreisen veranstaltet wurde, einen ,,schwache[n] Abglanz von Recht": „Man kann auch von den Gegnern lernen. Mächtig taucht dahinter die Frage der Führerschaft auf, die nirgends brennender ist als in einer demokratischen Republik"; die Kategorien dieser politischen Führerschaft, die er für die Republik entwickelt, gleichen den revolutionären Jüngers. 100 So sehr die verschiedenen Exponenten in ihrer ideologischen Ausrichtung divergieren, entsprechen sich die Redeweisen umsomehr, und man war allenthalben bestrebt, „von den Gegnern zu lernen". In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sollte fur die Kreise um Jünger im übrigen dann auch der vormalige italienische Sozialist Mussolini mit seinem pseudorevolutionären , Marsch auf Rom' die Vorbildrolle zunehmend an Lenin als ,Hirn und Herz' der bolschewistischen Oktoberrevolution verlieren. Nachdem der deutsche ,Marsch auf Berlin' bereits in München kläglich gescheitert war, mußte das leninistische Kadermodell fast zwangsläufig an Attraktivität gewinnen. Die theoretische Aneignung kommunistischer Machtergreifungstechniken war freilich nur in jenem Klima allgemeiner Faszination denkbar, die das sowjetische Experiment in der Weimarer Zeit nicht nur auf die Intellektuellen ausübte, befördert u. a. durch die sogenannten „Russenfilme" und zahlreiche einschlägige illustrierte Bände. 101 Im nationalrevolutionären Spektrum hatte dies zu einer Art von „Deutschem Leninismus" gefuhrt, 102 der sich in einer überraschend intensiven Rezeption der Schriften dieses „Macchiavell des Ostens" niederschlug, wie er in Hugo Fischers nach der Machtergreifung' der reformistischen ,NS-Menschewiki' nicht mehr gedruckten Schrift genannt wurde. 103 Der Philosoph Alfred Baeumler, der 1919 als Wähler der Deutschen Demokratischen Partei den Weg in diese Republik begonnen hatte, bestimmte die Führer-Variable 1929 aus seiner spezifischen und inzwischen markant veränderten systemkritischen Sicht sogar mit einer entsprechenden Formel:

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Ingbert, 4 (1998): 225-273; er geht allerdings auf das semantische Feld des „politischen Dichters" als „Führer" nicht ein. Walter A. Berendsohn, Politische Führerschaft, Leipzig 1924: 8. Aufschlußreich ist seine Beschreibung des idealen „Führers zur Gemeinschaft": 23 f. Vgl. etwa Carl Zuckmayers Erinnerungen Als war 's ein Stück von mir, Frankfurt am Main 1969 [zuerst 1966]: 281-283. Vgl. zum Begriff die aus christlich-„reformatorischer" Sicht verfaßte Analyse von Adolf Ehrt, Totale Krise - Totale Revolution? Die „Schwarze Front" des völkischen Nationalismus, Berlin-Steglitz 1933: 36—43. Hugo Fischer, Lenin, der Macchiavell des Ostens, Hamburg 1933.

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„Lenin : Marx = χ : Nietzsche".104 In Jüngers politischem Buchprojekt von 1925 ist es anfangs aber durchaus noch „die Gestalt des Gefreiten Hitler", die in der „völkischen Bewegung" aus dem Dunkel auftaucht, „eine Gestalt, die unzweifelhaft schon wie die Mussolinis die Vorahnung" - aber eben nur die Vorahnung - „eines ganz neuen Führertyps erweckt, und in seinen Reihen stehen Arbeiter und Offiziere Schulter an Schulter".105 Die folgenden Kapitel von Jüngers apokryphem Buch widmen sich sodann der Frage nach den Kadern und deren Konditionierung, der „Arbeit am eigenen Ich", indem sie nach und nach verschiedene Aspekte abhandeln und damit dem skizzierten politischen Führertypus gezielt zuarbeiten. Wie „die Sozialdemokratie unter dem Begriff des Arbeiters nur den klassenbewußten Arbeiter versteht, dürfen wir als Frontsoldaten nur den anerkennen, der ganz bestimmten Voraussetzungen entspricht". Die „auf dem Erlebnis der männlichen Tat" begründete Gemeinschaft reiche dafür nicht hin, da sie vergangenheitsfixiert bleibe;106 interessiert ist Jünger vor allem an Vertretern eines Geistes „von höchst radikaler Natur, der aus dem bisherigen Bestände hauptsächlich die Gewaltanwendung zu übernehmen Willens war", um auf diese hin einen programmatischen und normativen Begriff des „Frontsoldaten" zu entwerfen: Dieser dürfe allein einem „Kern von Männern", einer „Auslese des großen Heeres" vorbehalten bleiben; in ihm müsse „sich der schärfste nationale Aktivismus konzentrieren".107 „Mitläufer" werden abgelehnt, die im Stahlhelm und ähnlichen Wehrverbänden üblichen Fixierungen auf die gedienten Frontsoldaten als Mitglieder jedoch kritisiert: „wir dürfen nicht kleinlich sein". Wichtig sei allein, daß „die Frontsoldatenbewegung wirklich eine Bewegung der Jungen" bleibe, was nicht vom Alter, sondern von der Einstellung abhänge; außerdem gelte es, „die Eingliederung der Offiziere" als „geschultes Führermaterial" zu betreiben.108 Den neuen Kadern bleibt in Jüngers Sicht nur der Anschluß an die erwiesene technische und militärische Leistungsfähigkeit übrig, alles andere wird für passé erklärt. Die außenpolitische Programmatik, die daran geknüpft wird, gibt sich als ein „nationaler Imperialismus", dessen transzendierende Idee „das Blut" sei: Nach der Zerschlagung der dynastischen Staatsgebilde zielt er auf die alte

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Vgl. dazu U. Fröschle, Thomas Kuzias, „Alfred Baeumler und Ernst Jünger. Mit einem Anhang der überlieferten Korrespondenz", in: Walter Schmitz, Jay W. Baird (Hrsg.), Kultur und Staatsgewalt. Formen und Folgen der Kulturpolitik in totalitären Staaten, Dresden 2004 (im Druck); dort auch weitere Hinweise zur nationalrevolutionären Lenin-Rezeption. E. Jünger, „Abgrenzung und Verbindung", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 77. Ders., „Wesen des Frontsoldatentums", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 66 f. Ebd.: 68 f. Ebd.: 73 f.

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,großdeutsche' Idee, die Vereinigung der in Europa lebenden Deutschen in einem Staat. Das Schlußkapitel des apokryphen Buches faßt das in den einzelnen Abschnitten in verschiedenen Aspekten weiter umrissene Programm bündig zusammen: Über „drei notwendige Stadien" führe „unser Weg". Im ersten müsse „das Blut, das nun metaphorisch für Instinktsicherheit steht, „sich den Verstand dienstbarmachen, damit er die Ziele umgrenzt und die Programme bestimmt". Im zweiten Stadium gehe es darum, „diesen Zielen und Programmen im Rahmen des Staates die Herrschaft zu erkämpfen", um sie sodann im dritten „der Außenwelt gegenüber" zu verwirklichen. Nach Klärung sowie Besetzung der Begriffe und Positionen soll also deren Durchsetzung innenpolitisch erfolgen, um schließlich die außenpolitische Umsetzung der zuvor bestimmten Ziele angehen zu können und für eine allenthalben erwartete „große Endauseinandersetzung innerhalb des abendländischen Kulturkreises" gerüstet zu sein.109 Jüngers in sich stringenter Ansatz einer von der personellen Basis ehemaliger Frontsoldaten ausgehenden Politisierung und einer Heranbildung derselben zu revolutionären Kadern ist hier nicht weiter auszuführen, die große Linie dürfte ersichtlich sein.110 Das damit skizzierte theoretisch-publizistische, gleichwohl strikt auf die politische Praxis gerichtete Programm hat seine kulturrevolutionäre institutionelle Umsetzung nicht nur in der genannten Führerbeilage und der darin bereits manifesten ideologischen Schulung gefunden. Parallel zu dieser publizistischen Politisierung des ,Stahlhelm' via ,Führerbeilage', die im Frühjahr 1926 aus dem Wochenblatt Stahlhelm ausgegliedert und zur eigenständigen, programmatischen Wochenschrift des neuen Nationalismus umfunktioniert wurde, war Jünger an einem weiteren einschlägigen Projekt maßgeblich beteiligt: Spätestens im Juli 1925 hatte er begonnen, als Lektor für den seit November 1922 fusionierten Verlag Habbel und Naumann zu arbeiten, wo er ein ambitioniertes Programm aufzubauen versuchte, um eine weitere Basis für den Kampf um diskursiven Einfluß und kulturelle Machtstellungen zu gewinnen.111 Oswald Spengler gegenüber führte Jünger hierzu aus, er denke konzeptionell einerseits an „eine zwanglos erscheinende Folge von Romanen, Novellen, Gedichten usw., andererseits eine Reihe von Schriften, die sich mit aktuellen Fragen beschäftigen", damit sowohl der künstlerische als auch der „Tatsachenmensch" angemessen vertreten sei: „Die Standpunkte sind 109 110 111

E. Jünger, „Schluß", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 164 f. Vgl. dazu Fröschle, „Die ,Front der Unzerstörten'" (Anm. 62): 331-341. Die Verlagsabteilungen beider Firmen wurden am 2. 11. 1922 vereinigt. Inhaber der neuen Firma sind Franz Ludwig Habbel, Regensburg, und Georg Naumann, Leipzig (C. G. Naumann G.m.b.H. Franz Ludwig Habbel [Geschäftsrundschreiben, Eingangsstempel 21. 11. 1922], Leipzig: Deutsche Bücherei, Buchmuseum).

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vollkommen frei, einzige Voraussetzung ist die nationale Grundstruktur." Jüngers Vision hierbei blieb jene „Synthese von Rasse und Intellekt", deren Vorbild ihm „an Stendhal und Nietzsche, an der Gestalt Mussolinis und vielen persönlichen Erscheinungen der romanischen Völker überhaupt" aufschien: Und nur aus dieser Verbindung heraus kann ich mir das Wesen der grossen Staatsmänner der Zukunft vorstellen, wie ich es nur durch sie möglich halte, z. B. die Sozialdemokratie nationalen Fragestellungen nahe zu bringen. Hier müssten auch schon Anlagen schlummern, die auf jede Weise anzuregen und zu fordern sind.112

Für ein solches Projekt schien ihm der Verlag „von Habbel und Naumann [...] deshalb besonders sympathisch, weil er politisch noch in keiner Weise hervorgetreten ist, und weil sich auf seiner Arbeitskraft ein vollkommen unabhängiges Programm aufbauen" lasse. Er hoffe so, „einen Querschnitt durch Alles, was an nationaler Kraft vorhanden ist, und das ist weit mehr, als die Nationalen ahnen, ziehen zu können". 113 Franz Ludwig Habbel und Georg Naumann trennten sich u. a. aufgrund finanzieller Schwierigkeiten des Verlags im Herbst 1925 wieder, wobei Naumann die bereits im Namen programmatische Verlags-GmbH „Der Aufmarsch" ins Leben rief und Teile des alten Programms übernahm. 114 In die Linie des Aufmarsch-Verlags wurden zunächst aus dem alten Bestand vier Romane Ernst Wiecherts eingepaßt, vor allem dessen völkischer Roman Der Totenwolf. Die eine der beiden von Jünger gegenüber Spengler avisierten Reihen präsentierte nun unter dem Titel ,Die Sammlung' sogenannte ,Weltliteratur'; in ihr erschienen zwei Romane, zuerst von „Afim-Assanga" der „Negerroman" Die schwarze Welle, dann Ernst Wiecherts Blaue Schwingen.115 In der zweiten, explizit politischen und programmatischen Reihe „Der Aufmarsch" brachte Ernst Jünger als ersten Band Schauweckers Kriegsautobiographie Der feurige Weg, dann Friedrich Georg Jüngers 112

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BStB, Nachlaß Spengler: undatiertes Brieffragment E. Jüngers an Spengler [vor 28. 7. 1925], Ebd.: Brief Jüngers an Spengler vom 7. 8. 1925 (Anm. 88). Ganz ähnlich definierte Jünger die Reihenpolitik auch gegenüber Paul Ernst, den er als Beiträger gewinnen wollte; vgl. E. Jünger an Paul Ernst am 4. September 1925 (DLA, Nachlaß Paul Ernst). Andere Teile nahm Habbel mit nach Regensburg, weitere gingen an den bündisch orientierten Verlag ,Der weiße Ritter' von Ludwig Voggenreiter; zu Voggenreiter vgl. Berggötz/Jünger (Anm. 3): 709. Afim-assanga, Die schwarze Welle. Ein Negerroman, bearb. und hrsg. von F[ritz] 0[swald] Bilse, Regensburg, Leipzig 1925; vgl. Deutsches Bücherverzeichnis 1921-25: „Enthält ferner: Tatsachen z. Negerfrage. Von Ludwig Schneyer. Der Roman ist auch außerhalb d. Reihe ,Die Sammlung' erschienen"; Ernst Wiechert, Die blauen Schwingen. Roman, Regensburg, Leipzig 1925.

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radikales Manifest Aufmarsch des Nationalismus, beide mit einem Vorwort von ihm selbst als Reihenverantwortlichem, heraus.116 Überdies kündigte er auch einen eigenen Roman an - Ferdinand Dark. Der Landsknecht und Träumer -, der jedoch nicht erschien; möglicherweise handelte es sich dabei um eine geplante Überarbeitung des Sturm. Jünger annoncierte außerdem ein weiteres eigenes Buch, dessen Titel theoretisch ambitioniert klang: Es sollte Grundlagen des Nationalismus heißen. Auch dieses ist im Aufmarsch-Verlag nicht erschienen.117 Das Leipziger Verlagsprojekt scheiterte wenig später wiederum an finanziellen Schwierigkeiten; nachdem überdies die Auskoppelung der Führerbeilage des Stahlhelm als eigenständiges Organ zu einem gesteigerten Radikalismus gefuhrt hatte, der im Sommer 1926 in grundsätzlichen Differenzen, der Kündigung Frankes und der Trennung der Brüder Jünger von der verbandsnahen Standarte resultierte, war somit die Politisierung des bedeutendsten „Kriegervereins" in Jüngers Sinn faktisch gescheitert. Zwar versuchte der Standarte-Kieis noch, in publizistischen Appellen die großen Verbände zu einer gemeinsam koordinierten außerparlamentarischen Fundamentalopposition zusammenzubringen, doch blieb dies ebenso ohne Erfolg. Jünger übernahm von da an die Mitherausgabe politischer Zeitschriften allenfalls formal, verlegte sich aber immer deutlicher - auch mit zunehmender Bekanntheit - auf die eigene publizistische Produktion, fabrizierte nebenher „Finanzierungsschinken"118 und begann sich schließlich der Arbeit an Das abenteuerliche Herz zuzuwenden. Er löste sich also weiter von institutionellen Bindungen, während etwa Schauwecker die Doppelstrategie von Verlagsarbeit und eigener literarisch-publizistischer Produktion im Frundsbergverlag des Stahlhelmfuhrers Seldte fortzuführen versuchte.119 Avancen von Seiten der erstarkenden NSDAP, die die ehemaligen Standarte-Publizisten an sich zu ziehen hoffte, entzog sich Jünger, der Ende der 1920er Jahre mit Niekischs Widerstands- Kre i s und dem linken NS-Flügel um Gregor Straßer sympathisierte sowie die nur zeitweise aufgegriffenen völkischen Formeln weitgehend ablegte. Wie Harro Segeberg herausstellte, blieb er „in der Auseinandersetzung mit einem sich ,verbürgerlichenden' Nationalsozialismus 116

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Außerhalb der Reihen erschienen außerdem noch Helmut Frankes politische Programmschrift Wir brechen Bahn! mit alten Aufsätzen und Schauweckers Roman Richard Hohen oder die Symbole. 1927 brachte dann das Stahlhelm-Jahrbuch, unter dem fur das Buch konzipierten Titel zusammengefaßt, vier Aufsätze, die zuvor in Zeitschriften erschienen waren: „Das Blut", „Der Wille", „Der Charakter" im Frühjahr 1926 in der Standarte-, „Vom Geiste" im April 1927 in Ernst Niekischs Widerstand, vgl. deren Wiederabdruck in Bergötz/Jünger (Anm. 3). Zit. nach Berggötz/Jünger (Anm. 3): 755. Vgl. dazu Fröschle, „Radikal im Denken" (Anm. 15): 269-277.

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ganz nationalistischer Fundamentalist",120 der mit zunehmendem Erfolg der NSDAP desto mehr auf der „Reinheit der Idee" beharrte.

VI Es bedarf nach allem kaum der Erläuterung, daß die „aktivistische" Zielvereinbarung des politischen Publizisten Ernst Jünger eine ganz andere war als die der politischen Dichter wie Hiller, Rubiner oder Hasenclever, obgleich sich der ideenfixierte Ansatz und zahlreiche Formeln auf der Oberfläche kaum unterscheiden. Dem Pazifismus, sozialistischen Internationalismus und einer universalistischen Menschheitskonzeption auf der Seite der politischen Dichter' des Expressionismus stehen nominalistischagonale Konzepte auf der nationalrevolutionären Seite gegenüber, auch wenn sich diese in den Folgejahren selbst auf einen Universalismus hin verschieben sollten.121 Ernst Jüngers kulturrevolutionäres publizistisches Projekt, mit dem er sich in eine politisch ausgerichtete Phalanx begab, basiert auf einer inhaltlich - scheinbar - anderen Konzeption von Politik bzw. des politischen Dichters, während Form- und Verfahrenselemente dieser Aktivisten übernommen wurden. Die Einflüsse expressionistischer Texte dürfen sicher auch nicht überbewertet werden; zweifellos zu veranschlagen ist etwa ebenso Jüngers in der Gymnasiastenzeit begeistert betriebene Lektüre von Maurice Barrés, bei dem die Momente „der .Intensität', des ,Fiebers', der Steigerung der Daseinserfahrung im Ausnahmezustand" zentral waren, dessen „culte du moi" und vitalistische Blutsmetaphorik den expressionistischen Dispositionen durchaus entsprachen, aber schon bei dem Franzosen in eine andere politische Richtung gefuhrt hatten.122 Der schmerzliche Ausruf „Ach" über die Zeit, die den Begriff des „politischen Dichters" hervorgebracht habe, und Jüngers implizites Gegenbild eines vorgeblich unpolitischen, gleichwohl höchst politischen Dichters Schloß, darauf ist hier wenigstens hinzuweisen, selbstverständlich auch an die Betrachtungen eines Unpolitischen an, die Thomas Mann in der

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Segeberg, „Revolutionärer Nationalismus" (Anm. 13): 332. Bei Friedrich Hielscher sind Ansätze einer Internationale der Nationalismen zu erkennen, während Jüngers Arbeiter die Vision eines universalistischen, transkontinentalen Imperialismus anklingen läßt; vgl. Fröschle/Kuzias (Anm. 102). Vgl. Karlheinz Weißmann, „Maurice Barrés und der Nationalismus' im Frühwerk Ernst Jüngers", in: Günter Figal, Heimo Schwilk (Hrsg.), Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundersten, Stuttgart 1995, 133-146, hier: S. 133.

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Auseinandersetzung mit dem eigenen, als Typus aufgefaßten, Bruder Heinrich entwickelt hatte. 123 Bei alldem bilden sowohl der linksradikale als auch der nationalrevolutionäre „Aktivismus" die lagebedingt modifizierten Aktualisierungen eines historischen Musters älterer Provenienz: Trotz der ideologischen Differenzmarkierungen kann von einem gemeinsamen geistesgeschichtlichen Rahmen gesprochen werden, der im Versuch eines Selbstbezugs auf die Französische Revolution, also gleichsam dem Versuch einer einschlägigen Traditionsstiftung besteht, wenn man nicht soweit gehen will, in dieser sogar jene Urszene anzunehmen, die beide Varianten hervorgebracht hat. 124 Grundsätzlich einzuschieben ist hier, was François Furet zum analogischen Vergleich der Konstellation des frühen zwanzigsten mit jener des späten achtzehnten Jahrhunderts geschrieben hat: Es handelt sich um eine Welt, die sich intellektuell wie politisch entscheidend von der [Französischen] Revolution unterscheidet, die aber dennoch - vermittelt über den Jakobinerclub - aus jener Zeit ihre Inspiration und ihr Modell bezieht. [/] Auf diesem noch kaum erforschten Weg bilden Marx und danach Lenin, der Erfinder der subjektivistischen Variante des Marxismus, die entscheidenden Etappen. Und durch den Bolschewismus hat die jakobinische Partei im 20. Jahrhundert eine große Zukunft.125 Vor diesem Hintergrund erscheint es zweifelsohne vertretbar, auch Jüngers literarisch-politische Praxis als eine Jakobinische" zu begreifen, wie nun kurz auszufuhren bleibt. Stand Hillers revolutionärer Aktivismus dem parlamentarisch-demokratischen System mit seinen Parteien als „Diktatur der Mittelmäßigkeit" äußerst kritisch gegenüber, bildete bei ihm und dem linksorientierten Expressionismus auch mit Blick auf die Lage in Deutschland stets die „Menschheit" den letztgültigen Bezugspunkt der Idee; die Nationalrevolutionäre stellten dagegen „das Deutsche" ins Zentrum ihres Bemühens. So verkündete Jünger Ende 1926, teilweise schon im Rückblick auf die eigene gescheiterte verbandsnahe Arbeit, man habe sich um eine „zentrale Idee" zu gruppieren,

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Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Nachwort von Hanno Helbling, Frankfurt a. M. 1983 [zuerst 1918], Vgl. etwa für die französischen Verhältnisse Marc Crapez, La gauche réactionnaire. Mythes de la plèbe et de la race dans le sillage des Lumières, Paris 1996, der den hébertistischen, d. h. vom radikalen Jakobiner Jacques René Hébert ausgehenden Traditionsstrang herausarbeitet. François Furet, „Jakobinismus", in: ders., Mona Ozouf (Hrsg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1996: 1160— 1179, hier: 1178.

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[...] wenn wir in diesem Staate und statt dieses Staates das Deutsche zur Herrschaft bringen wollen. Diese zentrale Idee eben nannten wir die deutsche Idee und ihre erstrebenswerte Form: den nationalen, sozialen, wehrhaften und autoritativ gegliederten Staat. Als den einzig möglichen Weg zu diesem Staat bezeichneten wir den einer Revolution und als Instrument dieser Revolution disziplinierte Gefolgschaften, einer obersten Befehlsgewalt unterstellt.

Dieses in allen bekannten Verlautbarungen der „Neuen Nationalisten" niemals näher bestimmte „Deutsche" bildet nun nicht nur die Vaterlandsidee als ein rationalisiertes Substrat besagter Mobilisierungsenergie - gezielt wird damit auf eine „volonté générale", um einen ähnlich unscharfen Begriff der politischen Philosophie anzuwenden, wonach der Gesellschaftsvertrag „donne au corps politique un pouvoir absolu sur tous les siens", wie es bei Rousseau heißt, „et c'est ce même pouvoir, qui, dirigé par la volonté générale porte [...] le nom de souverainité". 127 Harro Segeberg hat schon 1993 in seinem grundlegenden Essay über Jüngers revolutionären Nationalismus darauf hingewiesen, es sei „die zum Kampfstil revolutionärer Eliten radikalisierte Rousseausche Utopie eines die Individuen aus der Partikularität ihrer Parteien und Verbände wieder herauslösenden ,sittlichen' Allgemeinwillens, der bei Jünger - anders als bei Rousseau - jederzeit auch gegen einen abweichenden parlamentarischen Mehrheitswillen durchgesetzt werden müßte". 128 Zumal selbst bei dem französischen Philosophen eine diktatorische Vollstreckung solchen Gemeinwillens gegen Mehrheiten nicht prinzipiell ausgeschlossen scheint, 129 ist damit der Charakter des nationalistischen Projekts exakt beschrieben. Der nationalrevolutionäre Bezug auf die „Deutschheit" als volonté générale - einen Terminus Johann Gottlieb Fichtes adaptierend - veraeint notwendigerweise auch, weil sie keine etwa durch oder in Interessengruppen aufspaltbare volonté de tous ist, den Begriff der Partei und der „Parteisache", wie ihn Jünger im Kampf als inneres Erlebnis 1922 an der „Internationale" durch deren Fixierung auf partikulare Klasseninteressen zu bemängeln müssen glaubte. 126

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E. Jünger, „Nationalismus der Tat", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 251; der Text erschien am 21. 11. 1926 in: Arminius (München/Berlin). Jean-Jacques Rousseau, „Du Contract social; ou, Principes du droit politique", in: ders., Oeuvres complètes III, Paris 1964: 347-470, hier: 372. Segeberg, „Revolutionärer Nationalismus" (Anm. 13): 333. Schon Schwarz (Anm. 77) nannte Jünger einen „Rousseau des zwanzigsten Jahrhunderts" (15). Iring Fetscher räumt etwa ein: „Natürlich ist es prinzipiell auch denkbar, daß allein ein bestimmter Mensch oder eine kleine Gruppe das Gemeinwohl wünscht, weil sein oder ihr partikularer Wille ganz und gar mit dem Gemeinwillen übereinstimmt"; vgl. ders., Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriff, Frankfurt a. M. 3 1975: 118-133, hier 128; siehe auch die Diskussion bei Timothy O'Hagan, Rousseau, London, New York 1999: 109-132.

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Daß dies keinesfalls nur eine geistesgeschichtliche Engführung ist, offenbaren die zeitgenössischen Texte aus Jüngers Kreis selbst, die sich zwar nicht positiv auf Rousseau berufen, wohl aber in eine auf ihm fußende jakobinische Tradition stellen. Franz Schauwecker schrieb im Frühjahr 1926 in der Wochenzeitung Der Stahlhelm einen Artikel über seinen Mitstreiter Jünger, der an zentraler Stelle auf dessen Verhältnis zur Französischen Revolution eingeht und ihn dazu selbst zu Wort kommen läßt: Die französische Revolution ist ihm immer ein bereicherndes Studium gewesen, und in der Sendung des St. Just hat er die wahlverwandte Tätigkeit eines Mannes seiner Kampfgenossenschaft empfunden. ,Was die Gestaltung des Nationalismus betrifft, so ist mein Ideal eine Verschmelzung der Bewegungsenergie des Nationalismus von 1789 mit der geistigen Tiefe des deutschen Idealismus. Damals kam diese Durchdringung nicht zustande; heute dürfen wir sie vielleicht hoffen, weil die Revolution von 1918 die konservativen Bindungen zerstört und den Nationalismus befreit hat.' 130

Schaut man in eine kodifizierte Darstellung aus dem Wahrnehmungsraum des frühen Jünger, um zu sehen, auf welchen Stand des kulturellen Wissens sich der von Schauwecker bezeichnete Konnex beziehen kann, etwa in Meyers Großes Konversationslexikon der Vorkriegszeit, so ist dort im Eintrag zu Antoine Saint-Just zu lesen, daß dieser beabsichtigt habe, „[...] einen sozialistischen Staat [zu] gründen, in dem jedes persönliche Sonderleben unterdrückt wäre und der organisierte Gesamtwille der Gesellschaft unumschränkt herrsche. Er war ein ehrlicher, aber beschränkter und düsterer Fanatiker, der das Blut fließen ließ, weil er es für notwendig hielt". 131 1793 habe er, wie das Lexikon weiter ausfuhrt, im Elsaß, wo er die revolutionären französischen Truppen überwachte, die Guillotine in Permanenz verkündet, 1794 mit Robespierre und Couthon im Konvent das Triumvirat gebildet, bis er am Abend des 10. Thermidor zum Tode verurteilt und siebenundzwanzigjährig mit Robespierre, Couthon und 19 Anhängern selbst guillotiniert wurde. 132 In einem Standarte-Aufsatz finden wir im April 1926 auch hierauf direkt Bezug genommen, wenn Jünger schreibt: Wir schätzen die großen bluthaften Gestalten der französischen Revolution von Mirabeau bis Robespierre, jede aus ihrem eigenen Zentrum heraus, und unser Blick wird erst da nicht mehr durch die Gewalt des Lebens fasziniert, wo der kalte Barras

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Franz Schauwecker, „Ernst Jünger", in: Der Stahlhelm. Wochenschrift des Bunds der Frontsoldaten (Magdeburg), 8 (1926), Nr. 21, 23. 5. 1926. Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 17, Leipzig, 6. Aufl. 1909: 440-441. Zu Saint-Just vgl. u. a. Jörg Monar, Saint-Just. Sohn, Denker und Protagonist der Revolution, Bonn 1993; zu Robespierre Patrice Gueniffey, „Robespierre" in: François Furet/Mona Ouzuf (Hrsg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1996: 503-527.

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erscheint. Wir würden auch unsere Revolution schätzen, wenn Fülle des Blutes sie getragen hätte. 133

Eine Jakobinische Linie" wird von Jünger und seinem Kreis also aus der Historie rezipiert und voluntaristisch auf die eigene Situation projiziert, auch wenn man sich selbst nicht explizit als „Jakobiner" bezeichnen mochte. Das Selbstverständnis als die eigentlichen, die modernen und der spezifisch deutschen Lage adäquaten Erben jenes radikalen und revolutionären Geistes offenbart sich mit Blick auf die Bolschewiki, jene von Furet angesprochene Jakobinische Partei" mit Zukunft, wenn etwa Ludwig Alwens Anfang 1930 als Nationalrevolutionär in Bezug auf die nationalsozialistische Fraktion in offener Analogiebildung an Jünger schreibt, er sehe „Herrn Hitler auf dem weissen Schimmel Kerenskis durch die Siegesallee reiten. Er wird herunterfallen wie jener und man kann nur hoffen, dass es bis dahin noch eine gute Weile hat, damit wir dann zum Einsatz bereit sind".134 Aus dem hier behaupteten jakobinischen Charakter von Jüngers publizistischem Projekt ergibt sich auch die Oszillation seiner Texte zwischen transitiven und intransitiven Schreibweisen. So verhält es sich generell mit seinen in die Essayistik übergreifenden Leitartikeln und deren Ort, der politisch-kulturellen Zeitschrift, wie sie als Typus im literarischen Jakobinismus besonders ausgeprägt war, um für Deutschland nur den von Frans Theodor Biergans herausgegebenen Brutus, oder der Tyrannenfeind (Köln 1795) oder Christian Gottlob Wedekinds Der Patriot (Mainz 1792/93) zu nennen. Überdies finden sich in Jüngers Texten zahlreiche Elemente, wie sie für den historischen „literarischen Jakobinismus" typisch sind, beispielhaft etwa in der dialogischen Struktur des Standarte-Beitrags ,Der Pazifismus', eines Teils jenes ersten apokryphen Buchs, worin der Leser appellativ direkt angesprochen wird und zudem am Ende ein fiktiver Dialog eingebaut ist. Auch der Brief fällt unter diese dialogischen Genres, so die im Arminius unter Pseudonym publizierten ,Briefe eines Nationalisten', Vorabdrucke von Jüngers gemeinhin ,der Literatur' zugeschlagenem Buch Das abenteuerliche Herz, das somit auch von ihm selbst ausdrücklich in einen politischen Kontext gestellt wurde. Die in der Zeit um die Epochenschwelle 1800 herum beliebte Anknüpfung an liturgische Formen wie Gebet, Katechismus und Predigt löste sich - wie auch bei den Expressionisten Becher und Zech - in der frühen Jüngerschen Publizistik zum größten Teil vom harten Gerüst der Gattungen ab und 133 134

E. Jünger, „Blut", in: Berggötz/Jünger (Anm. 3): 195. DLA, Nachlaß E. Jünger: Brief Ludwig Alwens an Ernst Jünger vom 30. 1. 1930, auch zit. in: Berggötz, „Zwei Wege" (Anm. 4): 161. Zum Voluntarismus als Element des Jakobinismus vgl. die Bemerkung Antonio Gramscis im ,Achten Heft' seiner Gefangnisaufzeichnungen: §. Jakobinismus, in: ders., Gefängnishefte. Band 5 ( 1993 ; Anm. 74): 945.

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diffundierte in die sprachlichen Elemente der Texte hinein, wobei freilich schon die historischen literarischen Jakobiner in Deutschland bis in den Vormärz hinein auf eine eigene topische Tradition biblischer Textbezüge und religiöser Redeweisen in politisch-literarischen Mischdiskursen zurückgreifen konnten. 135 Der von Jünger abschätzig genannte Name Barras markiert im Sinne der von Schauwecker vorgetragenen Aussage nun jenen Thermidor, an dem das eigentlich revolutionäre und sozialistische Element der Französischen Revolution ausgeschaltet wurde, wie es Friedrich Sieburg in seiner 1935 erschienenen Biographie Robespierres dargestellt hat. 136 Am 30. Juni 1934, dem nationalsozialistischen Thermidor, hatte sich indes erwiesen, daß Hitler nicht Kerenski war, aber auch nicht Robespierre und nicht Barras. Die historischen Analogien, die bei den jakobinischen Nationalrevolutionären so beliebt waren und die Sieburg schließlich anspielungsreich auf Hitler als „Jakobiner" kritisch noch einmal ins Spiel zu bringen versuchte, 137 schienen sich hier erschöpft zu haben. Jüngers radikalem Intellektuellenkreis war spätestens damit definitiv vor Augen geführt, was Robert Michels in Italien 1933 in seinen „Historisch-kritischen Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen" festgestellt hatte: [...] zur Eroberung der Macht und zu deren längerer Konservierung sind andere Faktoren wie Energie, Glaube an sich selbst, Menschenkenntnis von weit größerer Wucht. Demnach bleibt der Einfluß der Intelligenz auf die Masse an der Oberfläche. Nur wenn er durch objektive Elemente sekundiert wird, löst er

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Zu den gemeinsamen Strukturelementen des literarischen Jakobinismus, der politischen Funktionalisierungen und den Weiterungen in der späteren engagierten Literatur vgl. den Überblick von Inge Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789-1806), Stuttgart 1976: 147-192; vgl. auch Hans-Wolf Jäger, Politische Metaphorik im Jakobinismus und Vormärz, Stuttgart 1971, zum jüdischchristlichen Bildbereich bes. 4 7 - 5 2 . Zur terminologischen und historischen Problematik hinsichtlich der „deutschen Jakobiner" der Epochenschwelle vgl. Anne Cottebrune, „Deutsche Freiheitsfreunde" versus „deutsche Jakobiner". Zur Entmythisierungdes Forschungsgebiets „Deutscher Jakobinismus", Bonn 2002. Friedrich Sieburg, Robbespierre, Frankfurt a. M. 1935. Vgl. Gunther Nickel, „Des Teufels Publizist - ein ,höchst komplizierter und fast tragischer Fall'. Friedrich Sieburg, Carl Zuckmayer und der Nationalsozialismus. Mit dem Briefwechsel zwischen Sieburg und Zuckmayer", in: ders., Erwin Rotermund, Hans Wagener (Hrsg.), Zur Diskussion: Zuckmayers ,Geheimreport' und andere Beiträge zur Zuckmayer-Forschung, Göttingen 2002: 2 4 7 - 2 9 5 , zur regimekritischen Lesart des Robespierre-Buchs, die ein Verständnis des NS als Jakobinismus nahelegt, bes. 2 7 1 - 2 7 3 .

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politische Bewegungen aus, die sehr tiefgehende Veränderungen in der Struktur des sozialen Körpers hervorbringen.

VII Blickt man abschließend noch einmal unter den drei eingangs erwähnten systematischen Gesichtspunkten auf diese Analyse eines Ausschnitts von Jüngers schriftstellerischer Entwicklung zurück, so bildet das Projekt seiner politischen Publizistik und der am Krieg orientierten Autorschaft Teil einer 1930 konstatierten „Totalen Mobilmachung" - der er sich im übrigen auch selbst zuordnete, wenn dort die Rede ist von jenem „Versuch, durch den die deutsche Kriegsliteratur das Allgemeinbewußtsein zu scheinbar nachträglichen, in Wirklichkeit jedoch höchst aktuellen Entscheidungen über kriegerische Dinge" zwinge.139 Der zeitgeschichtlich-politische Rahmen, in dem Jünger dieses Projekt betrieb und verschiedenen Modifikationen unterzog, war jener einer spezifischen „Kultur der Niederlage" nach dem verlorenen Krieg,140 zu deren Mobilisierungsleistungen die nationalrevolutionären Jakobiner ihr Teil beitrugen, bis sie von den effizienter organisierten und über die nötige Massenbasis verfugenden Kadern Hitlers an den Rand gedrückt und marginalisiert wurden. Hinsichtlich des autorschaftsstrategischen Aspekts ist auf die Einsichten Hans-Harald Müllers und Harro Segebergs zu verweisen, daß sich der angehende Schriftsteller Ernst Jünger in diesen Krisenjahren der klassischen Moderne vom Weltkrieg her über die Sprecherrolle der „Generation der Dreißigjährigen", der „Frontsoldaten", als Deuter der Zeit zunächst auf dem politischen Feld etablieren konnte. Aus der militärischen Fachprognostik heraus, die er an der Berliner Vorschriftenstelle der Reichswehr professionell betrieb und die sich in seinen wenigen militärfachlichen Arbeiten niederschlug, entwickelte sich eine existentiale Prognostik; diese blieb stets an die Frage nach dem Sinn des historisch-politischen Geschehens und der persönlichen Rolle darin geknüpft. In der politischen Publizistik schärfte sich das Profil des „Frontschriftstellers" zum einen durch die jakobinische Radikalität seines 138

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In: Robert Michels, Masse, Führer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsätze 1906-1933, mit einer Einführung von Joachim Milles, Frankfurt a. M. 1987: 189— 213, hier: 207. E. Jünger, „Die totale Mobilmachung", in: ders. (Hrsg.), Krieg und Krieger, Berlin 1930:9-30, hier: 19. Schivelbusch (Anm. 36): 227-318.

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Programms und Anspruchs, zum anderen wurde Jüngers auf Repräsentativität angelegte Analyse der Zeit zunehmend intellektuell anschlußfähig und interessant, nicht nur für nationalkonservative Leser, sondern im Sinne der Austauschdiskurse und dem verbreiteten Denken der Krise auch bei ideologischen Antagonisten: Mit wachsender Bekanntheit und Literarizität des Autors führte dies zu einer durch kritischen Respekt geprägten Kenntnisnahme von Seiten konkurrierender und gegnerischer „Lager", ja bis hin zum „Lagerwechsel" in das direkte Umfeld Jüngers.141 Möglicherweise läßt sich der Verzicht auf die Publikation der erwähnten frühen apokryphen Bücher vor diesem Hintergrund auch mit dem wachsenden Bewußtsein der eigenen Autorschaft und damit einhergehenden literarischen Skrupeln' erklären. Die Veröffentlichung des Arbeiter schließlich, seines „ersten politischen Buches",142 markiert - nur scheinbar paradox - den ersten Höhepunkt dieser Literarisierungsbewegung: Mit ihm ist die oszillatorische Schreibweise perfektioniert und überdies der von Spengler übernommene prognostische Gestus verfestigt zum Habitus des poeta vates, der universale Geschichtslandschaften aus großer Höhe überschaut und durch die Oberfläche in die Tiefen des Eigentlichen' blickt.143 An dieses Rollenmodell, wie es im Abenteuerlichen Herz 1929 offen zur Sprache kam, hielt sich Jünger im Grunde bis zuletzt: Hier ist es, wo Aufgabe und Verantwortung des Dichters beginnt, denn ihm ist die Wirklichkeit des Kreises offenbar, dem der einzelne angehört als ein Punkt seiner Peripherie. Er sieht dort, wo jeder für sich im Kampfe liegt, die durchlaufende Front. Daher ist es seine Stimme, die inmitten der Verwirrung von einer höheren Einheit Kunde gibt, oder die gleich der eines Meldeläufers bei Nacht das Herz in seiner Verlassenheit darüber beruhigt, daß der Anschluß besteht.

Insofern dem „Dichter" damit eine höhere Kompetenz für die deutende Durchdringung - und diese umfaßt stets auch Prognostik - der chaotischen Gegenwart überhaupt zugewiesen wird, übt er hier in seiner Sinnerkenntnis noch immer die Funktion dessen aus, der die Richtung weist erklärtermaßen auch im politischen Sinn, wie schon die ein Freund-FeindVerhältnis voraussetzende militärische Frontmetaphorik indiziert. Dabei hatten aber bereits in diesen „Aufzeichnungen bei Tag und bei Nacht" die intransitiven Züge von Jüngers Schreibweise und deren Ambivalenz so zugenommen, daß sich an diesem Buch die Kritik der politischen Aktivisten wie Goebbels entzündete - ihnen war der Jünger des Abenteuerlichen Herzens, der sich selbst durchaus noch politisch definierte, zu „literarisch": 141

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Etwa bei Valeriu Marcu, Rudolf Schlichter und letztlich wohl auch ausschlaggebend bei Ernst Niekisch. Vgl. Anm. 14. Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Mottel in diesem Band. E. Jünger, Das Abenteuerliche Herz (Anm. 4): 262.

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Dann Lektüre: Jünger ,Das abenteuerliche Herz'. Das ist nur noch Literatur. Schade um diesen Jünger, dessen ,In Stahlgewittern' ich jetzt noch einmal las. Die sind wirklich groß und heldisch. Weil ein blutvolles Erleben dahinter stand. Heute kapselt er sich ab vom Leben, und sein Geschriebenes wird deshalb Tinte, Literatur. 145 D e r Oszillationscharakter des Textes durchkreuzt eindeutige Lektüren und klare Zuschreibungen, w a s sich in der heterogenen Rezeption, der „Umstrittenheit", nun erstmals in voller Deutlichkeit abzeichnete und v o n da an z u m vorherrschenden S i g n u m des Jüngerschen ,Werks' werden sollte. 1 4 6

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Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, Hrsg. von Elke Fröhlich, München u. a. 1987, Bd. I: 436 (Eintrag vom 7. 10. 1929), vgl. auch ebd. 431 (Eintrag vom 26. 9. 1929). Die Literarizität und entsprechende Verfahren sind aber in den Frühschriften - am deutlichsten in Sturm - ebenfalls schon evident; vgl. dazu King (Anm. 21).

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Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil 1. Einleitung Ernst Jünger hat offenbar sein Leben lang persönliche Aufzeichnungen gemacht und einen Teil dieser Aufzeichnungen in Auswahl und in überarbeiteter Form auch veröffentlicht. Ernst Jünger hat seine Praxis mehrfach selbst kommentiert, ζ. B. in den Notizen einer Reise nach Südafrika: Dazu die Aufzeichnungen. Der Zwang dazu ist mir oft lästig, besonders wenn ich an die Abschrift der Stöße denke, die in Wilflingen liegen - es muß sich um einen Trieb handeln. (SV I 306) 1

Die veröffentlichten Aufzeichnungen machen einen wichtigen Teil seines Werkes aus. Sie umspannen fast 80 Jahre des 20. Jahrhunderts: von In Stahlgewittern (1920) bis zu den letzten Tagebucheinträgen der 90er Jahre in Siebzig verweht, und sie umspannen inhaltlich sehr weit auseinanderliegende Themen und Erfahrungsbereiche: von den Militärschlachten in Flandern im ersten Weltkrieg bis zu den Miniröcken und dem Ozonloch der 60er und 70er Jahre. Diese Themen sind einerseits ein Spiegel der Biographie und der persönlichen Anliegen des Verfassers, sie sind andererseits aber auch ein Spiegel öffentlicher Themen seines Jahrhunderts. Und so lesen wir über Käfer und Kriege, Tiere und Träume, Menschen und Maschinen, von Kultur und Unkultur, von

SV (= Siebzig verweht) V 56 f.: „Abschied von Überlingen, wo wir im Domizil oberhalb der Goldbacher Kapelle drei Wochen lang in Klausur gelebt haben, vor allem, um mit Siebzig verweht III etwas voranzukommen; wir schlossen den Jahrgang 1981 ab. [...] In der Jugend kaut man am Federhalter und ist um Stoff verlegen, der sich im Alter türmt. Wir brachten Körbe von Manuskripten und Typogrammen mit - wenigstens haben wir sie datiert. [...] Kein Tag ohne Linie". - SV V 156: „Die Schrift kristallisiert das Mannigfaltige; sie macht es begreiflich, bringt es in Griff'. Daselbst: „Den wesentlichen Teil meines Lebens habe ich als Leser verbracht. Damit meine ich nicht nur die Zeit, die ich den Büchern gewidmet habe, sondern auch deren Vorrang in meiner geistigen und physischen Existenz". - SV V 180: „Längst war mir klar geworden, daß mir ein gelungener Satz wichtiger war als ein gewonnenes Gefecht".

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Büchern und Briefen, vom Töten und Überleben, von Gammlern und Minirökken, von Gentechnik und Ozonloch und so fort in breiter Mischung. Soweit ich sehe, geht es dabei weniger um die Aussage als Zeitzeuge, sondern um Zeitdeutung und darüber hinaus darum, das Spektrum des Menschlichen auszuleuchten. Das Geschäft des Autors ist es, zur Kenntnis des Menschen beizutragen.2 Die veröffentlichten Texte der Aufzeichnungen folgen unterschiedlichen und vielgestaltigen ,Webmustern' (SV V 31 f.) mit eigenen Formen der sprachlichen Gestaltung. Im folgenden möchte ich anhand von drei Texten prüfen, welche Rolle Wortgebrauch und Wortschatz-Profil für die sprachliche Gestaltung spielen. Ich benutze dafür: IS = In Stahlgewittern (1920). Stuttgart: KlettCotta 1998, AS = Am Sarazenenturm. Frankfurt a. M.: Klostermann 1955, SV = Siebzig verweht I-V. Sonderausgabe in Kassette. Stuttgart: Klett-Cotta 1998 (v. a. Band I und Band V). Die folgenden Ausführungen haben einen bescheidenen Anspruch: sie sind erste Beobachtungen und Vorschläge zur Forschungs-Agenda.3

2. Themenstruktur und Wortschatz-Charakteristik Die Behandlung bestimmter Themen erfordert in der Regel einen eigenen themenspezifischen Wortschatz: Wortschatzelemente und Verwendungsweisen also, die in spezifischer Weise dazu dienen, bestimmte Themen zu bewältigen. Themen sind oft netzwerkartig organisiert mit Globalthemen, Teilthemen und typischen thematischen Übergängen und Zusammenhängen. Sprecher und Schreiber beherrschen Formen des Themenmanagements, dazu gehören auch sprachliche Formen der Kennzeichnung von thematischen Übergängen und thematischen Entwicklungen. Die Themenstruktur spiegelt sich - das ist ein naheliegender Gedanke - auch in der Wortschatzcharakteristik, aber diese Zusammenhänge können unterschiedlich eng sein.

2.1 Enges thematisches Wortschatz-Profil: In Stahlgewittern Das Wortschatz-Profil von In Stahlgewittern ist stark geprägt von den thematischen Aspekten der militärischen Lebensform und des Krieges. Aus den the„ Weder der Arzt noch der Richter darf sich der Antipathie anheimgeben. Dasselbe gilt für den Autor - Antipathie würde ihn, wie den Arzt von der Heilung, von der Kenntnis des Menschen ausschließen" (Am Sarazenenturm [AS] 131). Die folgenden Ausführungen sind - aus Zeitnot, trotz freundlicher Hinweise auf bereits vorliegende Untersuchungsergebnisse - ohne Berücksichtigung der Forschungsliteratur niedergeschrieben.

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matischen Teilwortschätzen dieses Bereichs möchte ich zwei herausgreifen: den Wortschatz für militärische Ereignisse und Ereignisumstände, sodann den thematischen Wortschatz fur Aspekte des Erlebens, der Wahrnehmung und der Einstellung in bezug auf militärische Ereignisse und den Krieg. Der thematischer Wortschatz für militärische Ereignisse und Ereignisumstände umfaßt zum Beispiel Bezeichnungen fur Waffentypen wie Abwehrkanone, Achtunddreißigzentimetergranate, Bajonett, Flachbahngeschoß, Flaschenmine, Kugelmine, Schrapnell, Ratscher, Granate, Bezeichnungen fur militärische Aktionen oder Ereignisse wie z. B. Annäherung, Bauchschuß, Feuer, aufräumen, säubern, abdrücken, Bezeichnungen für Personen und Personengruppen wie z. B. Bataillonsadjutant, Bursche, Divisionskommandeur, Gefechtsläufer, Gefreiter, Generalmajor, Grabenbauoffizier, Stoßtruppführer, Bezeichnungen für Aspekte der militärischen Topographie wie z. B. Brustwehr, Graben, Grabendreieck, Grabengewirr, Grabenmulde, Grabenstück, Grabenrand, Grabensohle, Grabenwand, Laufgraben, Schulterwehr, Feuerlinie, Front, Frontabschnitt, für Aspekte der militärischen Strategie wie z. B. Flügel, Flügelgruppe, Flügelposten, Schützenreihe, für militärische Verbände wie z. B. Flankierungsbatterie u. v. a. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß die Elemente des thematisch verwendeten Wortschatzes auch fachsprachlich geprägt sind (was nicht notwendigerweise so ist: man kann thematisch reden ohne fachsprachliche Mittel anzuwenden). Auffällig ist zum anderen die Rolle der Wortbildungen, vor allem im Bereich der Nominalkomposition: Ausdrücke wie Achtunddreißigzentimetergranate oder Flachbahngeschoß sind Mittel der präzisen Bezugnahme auf Gegenstände bzw. Arten von Gegenständen, wie sie für die fachliche Verständigung typisch sind. Ein zweites Beispiel für einen thematisch abgrenzbaren Wortschatzsektor sind die Bezeichnungen für Aspekte des Erlebens, der Wahrnehmung und für Einstellungen in bezug auf Krieg, Kriegsvorbereitungen und militärische Handlungen. Wenn man versucht, die Elemente dieses Sektors zusammenzustellen, dann ergibt sich zunächst eine Dreiteilung von Wortschatzsektoren, die mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen des Kriegs und von Kriegshandlungen zusammenhängt: (i) Kriegsbegeisterung, Rausch, Sehnsucht; (ii) Schauder, Grauen, erschauern, Eintönigkeit, zähneklappernd, Erschöpfung, Schreckensnacht, (iii) Gleichmut, Teilnahmslosigkeit, Gefühl der Unverletzbarkeit. Der Zusammenhang zwischen (i) und (ii) ist eine Form der Kontrastierung und der Polarisierung, wie er z. B. auch im Wortschatz von Texten der deutschen Romantik beobachtet wurde (BRAUN 1968); den Zusammenhang von (i) bis (iii) könnte man als Wortschatzelemente zu den Stufen eines Wegs betrachten, wie sie z. B. im Wortschatz der Mystik oder Pietismus beobachtet und beschrieben wurden (z. B. LANGEN 1968). Hinzu kommen Wortschatzelemente für Aspekte des akustischen Erlebens, des optischen Erlebens und für Gerüche: dunkles Murren, Donner, Getöse, (Geschosse) pfeifen, hinwegbrausen, heranheulen,

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Flammenmeer. Hier dienen Wortbildungen, metaphorische Verwendungen und Vergleiche als Mittel der Veranschaulichung und der ,intensiven Darstellung'. Im Titel-Ausdruck Stahlgewitter ζ. B. verbinden sich metaphorische Gebrauchsaspekte (Wer ein Ereignis X als Gewitter bezeichnet, der legt sich darauf fest, daß X besonders intensiv ist und besonders bedrohlich ist), konventionelle Gebrauchsaspekte und Wissenselemente über Gewitter (Gewitter kommen - genauso wie militärischer Beschüß - von oben, durch die Luft) und Aspekte der Wortbildung: Eisenblöcke brausten in unheimlicher Kürze heran ... Wir atmeten alle erleichtert auf, als wir das von den heraufziehenden Stahlgewittern des großen Endkampfes umgrollte Puisieux im Rücken hatten. (IS 306 f.)

Das Wort Endkampf in der soeben zitierten Textstelle bezieht sich auf eine zeitgenössische Sichtweise und Deutung der Ereignisse und dessen, was auf dem Spiel stand, zu der auch Fügungen wie Zukunft der Welt oder blutiges Fest gehören. Der Gebrauch solcher Ausdrücke trägt in ganz unterschiedlicher Weise zur Etablierung einer bestimmten Sichtweise von Ereignissen bei: beim Gebrauch von Endkampf ζ. B. deutet man an, daß Auseinandersetzungen in ein entscheidendes Stadium eingetreten sind. Wenn man den Gebrauch solcher Ausdrücke aus der Rückschau mit Befremden liest, sollte man sich vergegenwärtigen, daß Euphorie und Kriegsbegeisterung eine weit verbreitete Zeitstimmung war und sich sogar in Kommunikationsbereichen zeigte, wo man sie aus heutiger Sicht nicht ohne weiteres erwarten würde, ζ. B. in den Predigten: Liebe Gemeinde! Lastend liegt die Ungewißheit auf uns; wir harren auf Nachrichten und spüren alle, wie undurchdringlich die Zukunft für uns ist. Sehen wir auch mit Freude zurück auf das, was die letzten Tage uns brachten, wo unser Volk einträchtig und entschlossen zum Kampf auszog, so wissen wir doch, daß der Anfang noch nicht den Fortgang verbürgt. Wir warten. Es glüht die helle Hoffnung in unserer Seele, daß sich eine große Stunde nahe, die unserem Volk einen Fortschritt bringe, nach innen die verstärkte Einigung, nach außen die vermehrte Macht; (...). (Schlatter; in: KRIEGSPREDIGTEN 1 9 1 5 , L) 4

Demgegenüber sind in den Stahlgewittern keine oder nur distanziert zitierte Elemente der sog. Soldatensprache erkennbar, ζ. B. Offensivparfüm , Leichengeruch'. Diese Soldatensprache mit ihren Sarkasmen und beschönigenden Redeweisen hatte, wie Otto Maußer in seinem Buch Deutsche Soldatensprache (1917) schrieb, u. a. psychohygienische Funktionen im Umgang mit der alltäglichen Todesgefahr und dem Handwerk des Versuchs zu töten.

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Zu Adolf Schlatter vgl. RGG 5, 1420.

Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil

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Insgesamt kann man sagen, dass In Stahlgewittern ein enges thematisches Profil des Texts und - damit zusammenhängend - auch ein enges thematisches Wortschatz-Profil aufweist. Die thematischen Aspekte bedingen auch das Frequenz-Profil und prominente Wortbildungs-Nester, wie sie zum Beispiel anhand eines Ausschnitts aus einem Wortformen-Index zu In Stahlgewittern verdeutlicht werden können.5 FEUER 16,13 26,33 28,2 29,24 36,22 46,19 60,17 61,2 61,19 68,8 70,5 73,29 82,5 84,3 84,27 86,7 86,9 87,30 88,17 90,20 93,10 93,14 94,30 97,3 98,1 100,32 104,24 105,12 105,17 107,33 108,13 113,26 116,4 119,33 FEUERALARM 20,20 FEUERCHEN 118,14 FEUERLINIE 90,9 FEUERN 30,22 45,34 89,14 FEUERS 110,29 FEUERSPRITZE 20,22 FEUERSTEIGERUNG 96,35 FEUERSTURM 113,2 FEUERTÄTIGKEIT 48,34 FEUERTAUFE 27,27 FEUERTE 74,13 100,8 FEUERÜBERFALL 86,34 90,30 106,22 FEUERÜBERFÄLLE 86,5 FEUERVORBEREITUNG 26,5 FEUERWERK 87,14 FEUERWIRBEL 86,16 FEURIGEN 93,21

GRABEN 11,31 12,28 12,34 13,17 13,25 13,28 17,7 28,23 29,9 29.25 30,6 30,21 33,33 34,8 35,15 45,17 45,31 46,9 46,15 48,14 48.22 48,31 51,16 52,12 53,18 54,34 55,13 56,8 56,12 56,20 57,3 57,19 58,34 59,20 63,15 65,26 66,2 67,11 67,12 70,31 71,6 71,22 72,15 73,13 74,26 75,4 75,6 76,3 79,5 79,15 79,24 79,33 80,35 81,6 81.23 81,28 83,2 83,35 84,12 84,21 84,25 85,2 85,11 85,14 86,17 89,9 94,28 94,33 95,18 95.24 99,3 100,17 100,24 100,34 110,6 113,5 GRÄBEN 16,12 16,32 17,5 26,13 30.11 43,7 43,35 45,21 46,31 49,30 58,16 59,23 63,5 63,35 64,5 64,10 79,21 81,9 84,3 86,10 97,9 101,29 GRABEN! 56,5 GRABENBAU- 56,6 (-offizier) GRABENBESCHIEßUNG 97,25 GRABENDASEINS 101,16 GRABENDIENST 49,34 51,7 54,9 83,4 GRABENDREIECK 78,26 GRABENGEWIRR 14,24 32,13 68.26 GRABENKÄMPFER 57,16 GRABENKAMPFES 76,29 GRABENKLATSCH 55,25 GRABENMULDE 84,7 GRABENRAND 33,27 70,33 GRABENS 35,30 40,17 45,11 46.12 47,4 50,10 50,15 53,4 73,27

GRABENSOHLE 29,7 30,15 47,11 51,4 61,34 90,23 GRABENSTÜCK 31,34 90,31 GRABENSTÜCKE 10,34 30.33 71,13 GRABENSTÜCKES 33,20 GRABENTIEFE 47,22 GRABENVERKLEIDUNG 59,8 GRABENWAND 32,9 35,21 47,17 61,31 GRABENWÄNDE 59,27 67,31 GRÄBER 44,25 GRANATBESCHUß 10,34 GRANATE 9,13 9,26 17,13 39,27 44,3 69,6 70,32 91,20 92.34 98,25 109,27 116,2 118,4 119,7 GRANATECKE 9,27 GRANATEN 17,8 17,23 25,7 27,1 27,30 28,14 30,29 31,17 43.5 52,8 73,20 91,5 97,33 105,1 107,23 108,16 111,15 115,29 GRANATLOCH 85,5 119,9 GRANATLÖCHER 110,3 GRANATLÖCHERN 116,9 GRANATSPLITTER 66,19 73.6 94,2 114,32 GRANATTRICHTER 82,7 GRANATTRICHTERN 104,8 GRANATWALD 12,13 GRANATZÜNDER 44,16

Die Belegstellen mit Seite und Zeile sind hier nur für etwa ein Drittel des Werks wiedergegeben. - Für die Fortführung der Arbeiten an diesem und anderen Texten werde ich mich jeweils auf die Fassung der Sämtlichen Werke oder auf frühe Ausgaben stützen. Diese Arbeit ist Teil eines Projekts zum Wortgebrauch im 20. Jahrhundert. Sie wird durch Mittel des „Preises der Justus-Liebig-Universität Gießen für das Jahr 2003" unterstützt, für die ich herzlich danke.

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2.2 Weites thematisches Wortschatz-Profil: Am Sarazenenturm und Siebzig verweht Die Themen-Vielfalt und die assoziative Themenbehandlung in den späteren Aufzeichnungen bedingt auch ein sehr viel offeneres und diffuseres Wortschatz-Profil. Zunächst geht Jünger immer wieder auf,öffentliche' Themen ein und benutzt dabei auch den zeitspezifischen thematischen Wortschatz. Hierzu gehören etwa Ausdrücke wie Ozonloch, Atombombe, Minirock, Massenschlachtung (in bezug auf Wale), gammeln oder Bevölkerungsexplosion. Zu letzterem Ausdruck schreibt Jünger in Siebzig verweht (I 180): „»Bevölkerungsexplosion« - der Begriff gehört, ähnlich wie »Atombombe« oder »Bikini«, zum Vokabular unserer Epoche". Er gibt damit selbst einen Hinweis auf die prominente Stellung dieser Ausdrücke im öffentlichen Themenhaushalt der Jahre um 1970, ohne allerdings die Funktionsweise und die Rolle von Ausdrücken wie Bevölkerungsexplosion beim Zustandekommen von Sichtweisen öffentlicher Probleme zu kommentieren. 6 Neben diesen Wortschatzelementen zu öffentlichen Themenbereichen gibt es aber auch zahlreiche Wortschatzsektoren zu eigenen Jünger-Themen, etwa Bezeichnungen fur Gegenstände der Naturreiche: z. B. Dattelfeige, Brennpalme, Riesenschwimmwanz, Rosenquarz, Malachit. Hier ist ein Prinzip der Präzision der Bezeichnung erkennbar, das man als Zeichen der Ehrfurcht vor und der Vertrautheit mit den Erscheinungen, sodann aber auch als Ergebnis einer Beherrschung der Mannigfaltigkeit betrachten kann. Der Aspekt der Ehrfurcht vor den Naturerscheinungen und sein Zusammenhang mit der Beherrschung von sprachlich verfassten Kategorisierungen kommt z. B. in einer bissigen Nebenbemerkung zum Ausdruck: J u n g e Umweltschützer, die keine Eiche von einer Esche unterscheiden können" (SV V 57). Ein solcher Seitenhieb funktioniert sprachlich nur dann, wenn man einen Zusammenhang annimmt zwischen einer Einstellung (Respekt vor der Natur) und einer erwartbaren Fähigkeit (Kategorisierungs- und Unterscheidungsfähigkeit). Nur vor dem Hintergrund eines akzeptierten Zusammenhangs ist der Verweis auf die Diskrepanz sinnvoll. Der Zusammenhang von Wortgebrauch und Kategorisierung wird aber auch in Fällen deutlich, wo die Kategorisierung von Naturerscheinungen an Grenzen stößt oder scheitert: [...] und rauchgraue Jade - dazu Übergänge in allen Schattierungen. Wir können [...] nur markante Varianten herausgreifen. Die Benennung scheitert an der Mannigfaltigkeit. (SV 1167)

6

Vgl. hierzu die Beiträge im Sammelband Kontroverse Begriffe, hg. von Georg STÖTZEL und Martin WENGELER (1995), in denen u. a. die Rolle von sprachlichen Ausdrücken für das Zustandekommen von Sichtweisen im Rahmen öffentlicher Debatten behandelt wird. Zu Bevölkerungsexplosion siehe dort 702 f.

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Andere Themen mit eigenen Wortschatzsektoren sind z. B. die Fragen nach den Phänomenen im Bereich des Todes, des Totenkults, des Verhältnisses der Lebenden und der Toten {posthume Besuche, Totendienst, SV I 9) sowie des Übergangs zwischen Leben und Tod (Grenzgang, Zeitmauer, große Passage, Todesschwelle, Schwellenerlebnis, Grenzerlebnis, Übergang; SV V 37 ff.), aber auch nach Phänomenen des Traums, der Religion. Hinzu kommen u. a. Wortschatzsektoren zur sprachlichen Verarbeitung von Reise-Erlebnissen. Der Zusammenhang zwischen Themenentfaltung und Wortschatz-Profil ist also auch hier erkennbar, allerdings ist das Wortschatz-Profil der späteren Aufzeichnungen in thematischer Hinsicht sehr viel weiter verzweigt und offener.

2.3 Fachsprachliche Anteile am thematischen Wortschatz Wie schon angedeutet, ist thematischer Wortschatz nicht gleich Fachwortschatz. Man kann über viele Themen auch sprechen oder schreiben, indem man nichtfachlichen Wortschatz gebraucht, und fur manche Themen gibt es auch gar keine eigenen fachlichen Ausdrucksweisen. Versucht man, die fachsprachlichen Anteile in Jüngers Aufzeichnungen, die ja nicht an ein Fachpublikum gerichtet sind, zu bestimmen, dann fallen zunächst die klaren Fälle auf. Ernst Jünger verwendet an vielen Stellen seiner Aufzeichnungen fachliche Bezeichnungen; das betrifft zunächst zwei Gebiete, auf denen er selbst Fachmann war: das Militärwesen und die Entomologie, 7 aber auch andere Bereiche der Naturkunde. Im Bereich der Entomologie haben nicht nur einzelne Wörter fachlichen Charakter, die Wörter bilden zusammengenommen eine Terminologie mit Formen der Über- und Unterordnung, die auch in den Aufzeichnungen, die ja keine systematische Darstellung sein sollen, ansatzweise noch erkennbar sind. Im Bereich des Militärs haben wir einen eigenen Wortschatzsektor, dessen innere Ordnung die Sachlogik des Bereichs spiegelt und der in den Stahlgewittern breit belegt ist. An anderen Stellen sind Ausdrücke fachlicher Herkunft vereinzelt gebraucht: Am frühen Morgen zog der unermüdliche Senhor Tübben noch einmal in den Busch und brachte einen starken Riedbock mit. Als ich von meinem Berggang zurückkam, sah ich das stattliche Wild am Haken hängen, während Kitila es abwirkte. (SV I 354)

Jagdsprachlich gebraucht ist hier nicht nur der Ausdruck abwirken (vgl. DWb 1, 152 „bei den jägern"), sondern auch stark, das ζ Β. in Döbels Jäger7

Vgl. SV V 66: „daß ich mich in der Entomologie zu Hause fühle, doch mich als Randfigur betrachte, habe ich schon des öfteren betont. Ich kann mich dabei allerdings auf Clausewitz berufen, der den Wert des flankierenden Einsatzes rühmt. Diese Randfigur ist die des Liebhabers."

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Practica oder Der wohlgeübte und erfahrne Jäger (1746) an mehreren Stellen als jagdsprachliche Ausdrucksweise für eine bestimmte körperliche Beschaffenheit von Tieren vorgeschrieben wird: „Der Hirsch wird durchaus nicht schöne genennet; sondern: Er siehet gut aus am Leibe, oder es ist ein guter Hirsch oder ein recht guter Hirsch, desgleichen ein starker Hirsch, ein Capitalhirsch",8 An dieser und an anderen Stellen wird deutlich, daß diese Epitheta offenbar skalar organisiert sind und daß stark in der Skala ein recht hochrangiges Prädikat ist. Das Beispiel zeigt auch, daß man kein präzises Verständnis der Stelle in Ernst Jüngers Aufzeichnungen hat, wenn man den fachsprachlichen Gebrauch nicht kennt. Das alltagssprachliche Verständnis wird zwar in die selbe Richtung gehen, dennoch sind der Gebrauch und das Verständnis vor dem Hintergrund der jagdsprachlichen Skala anders. Immer wieder finden wir einzelne Wörter mit fachlichem Hintergrund oder mit fachlicher Entstehungsgeschichte, auch wenn sie vordergründig nicht immer erkennbar und dokumentierbar ist. So heißt es ζ. B. in einer Passage aus Am Sarazenenturm im Zusammenhang mit dem Versuch, Schlangen aufzulauern: Die Jagd hat ihren meditativen Teil, ihre innere, erwartende Seite; er ist sogar der wichtigste. Was wir sonst durch Übungen anstreben, bewirkt hier die natürliche Disziplin: Konzentration auf einen unsichtbaren Mittelpunkt. Sie setzt Entäußerung voraus. Der Augenblick des Jägers verwandelt sich in ein unbeschriebenes Blatt, die Wahrnehmung in ein gespanntes Trommelfell. Keine Regung des Wollens oder Denkens darf diesen Zustand trüben (...). (AS 116)

Das Wort Entäußerung in der hier vorliegenden Verwendungsweise hat ihren Ursprung offenbar in der mystisch-pietistischen Spiritualität. Beim Versuch, die Verwendungsweise mit Hilfe der Wörterbücher schnell und im Einzelnen zu dokumentieren, zeigt sich allerdings die Begrenzung unserer lexikalischen Hilfsmittel: die Verwendungsweise ist im DWb, bei Trübner und einigen anderen Wörterbüchern nicht dokumentiert. Allerdings findet man sie in der Studie zum Wortschatz des Pietismus von August Langen aus Tersteegen belegt (S. 146), die Bilder vom unbeschriebenen Blatt bzw. der unbeschriebenen Tafel und von der Freiheit von Denken und Wollen sind ζ. B. in Texten der Mystik des Mittelalters zu greifen. Der detaillierte Nachweis fachsprachlicher Hintergründe setzt derzeit immer noch ein gutes Maß an eigener Recherchearbeit voraus, die über die Wörterbücher hinausgeht. Der Hinweis auf fachsprachliche Hintergründe des Wortgebrauchs darf andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch weite Passagen in den Aufzeichnungen gibt, bei denen keine besondere fachsprachliche Prägung erkennbar ist.

Vgl. S. 30 im Neudruck.

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2.4 Elemente von Jüngers Weltsicht und ihre mots clefs Unter den eigenen Jünger-Themen sind auch solche, die besonders eng mit Jüngers Weltsicht, seiner Sicht von kulturellen Entwicklungen und von Leitbildern zusammenhängen. Es ist auffällig, daß es für bestimmte Aspekte dieser Weltsicht eigene Schlüsselwörter bzw. ganze Netze von Schlüsselwörtern gibt.9 Ich gebe einige Beispiele: Das Wort Arbeiter wird auch in den Aufzeichnungen als Schlüsselwort für eine Gestalt bzw. einen Typus gebraucht, der eine Tendenz kultureller Entwicklung repräsentiert.10 Zum Netz der Schlüsselwörter für diese Tendenz gehören auch andere Ausdrücke wie Technik, Ziffer oder Verzifferurtg. Während ein Ausdruck wie Verzifferung und sein spezifischer Gebrauch offenbar eine Jüngersche Neuprägung ist, werden andere Ausdrücke in traditioneller Weise gebraucht. So verwendet Jünger z. B. den Ausdruck ganz mit Bezug auf ein bestimmtes Leitbild menschlicher Bildung: „Ein Letzter aus Humboldts Schule; er und die Welt noch ganz" (SV I 65). Der Ausdruck ganz bezieht sich hier auf ein Ideal der abgerundeten und harmonisch ausgebildeten Persönlichkeit, das in kontrastierender Weise bezeichnet wird.11 Durch den vordergründig unscheinbaren Gebrauch von ganz in Verbindung mit der Kontrastierung (Letzter, noch) wird eine Sichtweise kultureller Entwicklung als Verlust und Abstieg eingeführt. Solche Tendenzen werden häufig auch mit Wortbildungen auf -ung oder anderen Nominalausdrücken gekennzeichnet, z. B. Entmythisierung, Verödung, Verzifferung, Urbanisation. Für all diese Schlüsselwörter gilt, daß sie in schlagwortartiger Verkürzung für z. T. schwer präzisierbare Positionen gebraucht werden (Was genau gehört zur Verzifferung und was nicht?) und daß sie in netzwerkartigen Zusammenhängen zueinander stehen. Entmythisierung und Verzifferung sind offenbar komplementäre Erscheinungen, und deshalb hängen die Ausdrücke für diese Erscheinungen systematisch zusammen. Vergleichbare Netzwerke von Schlüsselwörtern gibt es auch zu Sichtweisen des ,Aufbaus' der Welt und der Kultur. Um nur zwei Aspekte hervorzuheben: eine Gruppe von Ausdrücken bezieht sich auf die Auffassungen von einem systematischen Aufbau der Welt, der auf unterschiedlichen Zusammenhängen beruht. Hierzu gehören u. a. Wortbildungen zu Welt- ( Weltganze, Weltharmonie, Weltplan), der Gebrauch von Sympathie im alten alchemistisch-

9

Z u r Idee der m o t s clefs, der Schlüsselwörter: MATORÉ 1953/73.

10

Vgl. Der Arbeiter, SW, Band 8 (Fassung der dritten Auflage, 1942); erste Auflage 1932. Zur Tradition dieses Wortgebrauchs vgl. zum Beispiel eine prominente Stelle bei Goethe über Erwin von Steinbach: „ganze Seelen werden dich erkennen ohne Deuter".

"

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kosmologischen Sinn 12 oder auch Wortbildungen zu Web- und zu Erb- (Erbteil). Ein weiterer Aspekt im Denk-System ist die Idee einer Stufiing, einer Hierarchie, wie sie z. B. im Gebrauch von Rang13 zum Ausdruck kommt. Aber auch bestimmte Formen der Kontrastierung beinhalten teilweise Bezeichnungen fur gestufte Elemente, z. B. der Gebrauch von Masse vs. Elite: „Die Massen werden mächtiger, doch kleine Eliten werden ihnen eine neue Form geben" (SV V 119). Andere Ausdrücke kann man wohl nicht als Schlüsselwörter bezeichnen, sie sind zum Teil nur ad hoc gebrauchte Neubildungen. Sie beziehen sich unter anderem auf unterschiedliche Elemente der modernen Welt wie z. B. Betäubungsmaschinerie (SV I 119), Autohölle (SV I 442), Weltmannequin („immerhin ist der Abendländer heute der Weltmannequin"; SV I 355) oder Gewissensmelker: „Die Welt ist in eine Phase eingetreten, in der einer am schlechten Gewissen des andern zapft. Gewissensmelker, eine neuer B e r u f (SV I 344). 14 Sie tragen aber natürlich genauso wie die Schlüsselwörter dazu bei, einzelne Elemente der Weltsicht, z. B. Tendenzen kultureller Entwicklungen zu formulieren und zu bewerten. Diese Schlüsselwörter und Netzwerke von Schlüsselwörtern weisen nicht nur internen Zusammenhang auf, sondern auch unterschiedliche zeitliche Dynamiken, die mit der Entwicklung Jüngerscher Ideen zusammengehen. Schlüsselwörter für Ideen oder Positionen wie z. B. Arbeiter, Verzifferung oder auch Weltstaat erscheinen zu bestimmten Zeitpunkten im Werk, sie werden nicht selten in der Folgezeit auch in den Aufzeichnungen immer wieder weiterverwendet, wobei jeweils im Einzelfall zu prüfen ist, ob und inwiefern die damit verbundenen Positionen und Ideen sich im Lauf der Zeit verändert haben.

12

SV I 12: „Während dieser Notizen sitzt Amanda, unsere neue Siamesin, mir auf dem Schoß. Das Tierchen ist liebebedürftig; wenn ich es anspreche, antwortet es mit einem halb klagenden Schrei. Es berührt mich mit den Pfoten, reibt sein Köpfchen an meinem Knie. Ich bemühe mich, zu erraten, was es gerade denkt. Wozu eigentlich? Wir beide kennen den Text - was sollen die Übersetzungen? Die Sympathie reicht tiefer als jeder Gedanke hinab". Zur Geschichte der Verwendungsweisen von Sympathie u. a. im Sinne von ,(kosmische) Verbundenheit' vgl. u. a.

13

„Daß man der Schlange gegenüber nicht neutral bleiben kann, ist ein Zeichen tiefgründender Macht. ... Ist es der Tod ... und gilt ihm der Protestschrei, der wie ein Echo aus der Tiefe folgt? Ist es das Leben, das in prunkender Rüstung sich tänzerisch erhebt? Oder ist es ein Drittes, Mächtigeres, von dem die beiden Kräte wie Licht und Schatten, wie positiver und negativer Strom sich abspalten? Die Frage bleibt für uns im Subjektiven; ihr stellt sich der Mensch nach Rang und Eigenart" (AS 122). Hier wäre zu prüfen, ob diese Art von Ausdruck für Charaktere häufiger vorkommt und ob es Parallelen zum Wortschatz der Charaktere bei Canetti gibt.

SCHULZ/BASLER I V 6 4 7 f f .

14

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3. Wortwahl und , Webmuster' der Texte Unterschiedliche Aspekte des Wortgebrauchs und der Wortwahl tragen auch zum Webmuster, zur Gestaltung der Texte bei. In einem ersten Beispiel aus In Stahlgewittern, wo über eine Schußverletzung berichtet wird, beruht die subtile Einfuhrung einer bestimmten Sichtweise des Ereignisses wesentlich auf dem gleichgerichteten, teilweise ungewöhnlichen Gebrauch von Ausdrücken. Hier zunächst das Textbeispiel: Der Treffer hatte etwas Ausgeklügeltes· denn das Schrapnell war jenseits der Ziegelmauer, die unseren Hof umschloß, auf dem Boden explodiert. In diese Mauer hatte eine Granate ein rundes Fenster gebrochen, vor dem ein Oleanderkübel stand. Meine Kugel war also erst durch das Granatloch, dann durch das Oleanderlaub geflogen, hatte den Hof und die Haustür durchquert und sich im Flur unter den vielen Beinen, die dort zusammenstanden, das meine ausgesucht. - Nachdem mir die Kameraden einen flüchtigen Verband angelegt hatten, trugen sie mich über die beschossene Straße in die Katakomben und legten mich gleich auf den Operationstisch. Während mir der herbeigeeilte Leutnant Wetje den Kopf hielt, schnitt mir unser Oberstabsarzt mit Messer und Schere die Schrapnellkugel heraus, wobei er mich beglückwünschte, denn das Blei war scharf zwischen Schien- und Wadenbein hindurchgefahren, ohne einen Knochen zu verletzen. »Habent sua fata libelli et balli«, meinte der alte Korpsstudent, indem er mich einem Sanitäter zum Verbinden überließ. (IS 119)

Zur Sichtweise des dargestellten Ereignisses als Fügung und Bestimmung tragen mehrere sprachliche Verfahren bei. Da ist zum einen die Beschreibung des komplizierten Weges der Kugel, dessen Einschätzung mit etwas Ausgeklügeltes vorbereitet wird. Zum anderen trägt der Gebrauch von mein im ungewöhnlichen Sinne von ,mir bestimmt' in bezug auf die Kugel dazu bei. Zum dritten beobachten wir einen subtilen Verstoß gegen lexikalische Selektionsregeln von sich etwas aussuchen. Der Gebrauch von sich etwas aussuchen setzt normalerweise intentional oder zumindest planvoll handelnde Lebewesen als Subjekte voraus. Die Kugel wird dadurch als absichtsvoll handelnd dargestellt; ähnlich, wenngleich sehr viel weniger ausgeprägt, könnte man auch den Gebrauch von brechen in bezug auf die Granate einschätzen: hier sind wohl keine Selektionsbeschränkungen verletzt, gleichwohl ist das Teilereignis aktivisch dargestellt und erscheint als eine planvolle Maßnahme der Granate mit dem Ziel, den Weg für die Jünger bestimmte Kugel frei zu machen. Ein viertes Element der Darstellung schließlich ist die explizite lexikalische Deutung des Ereignisses durch den Gebrauch von fatum in der zitierten Äußerung des Oberstabsarztes. Man sieht an diesem Beispiel, wie textuelle Strategien der Darstellung (der Weg der Kugel; die Einrahmung der Darstellung durch Deutungshinweise wie etwas Ausgeklügeltes oder fata) und der Gebrauch lexikalischer Mittel ineinandergreifen bei der Erzeugung bestimmter Sichtweisen von Ereignissen.

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Ein ganz anderer Beitrag zum Webmuster hängt mit der assoziativen und thematisch sprunghaften Darstellungsform der späteren Aufzeichnungen zusammen. Es gibt einen kleinen und übersichtlichen Wortschatzsektor mit sprachlichen Mitteln zur Herstellung von Zusammenhängen und Übergängen. Hierzu gehören u. a. Verben wie erinnert an, sich etwas entsinnen, zu denken geben in Überleitungen wie: „Das Abenteuer gab mir nach verschiedenen Richtungen hin zu denken ..." (SV I 63), Wendungen wie Ich fragte mich ... oder Adverbien wie übrigens. Ausdrücke dieser Art sind Kohärenz-Joker, mit denen sich auch ungewöhnliche thematische Übergänge und Zusammenhänge sprachlich bewerkstelligen lassen (vgl. FRITZ 1982). Jüngers oftmals ungewöhnliche und überraschende Zusammenhänge stellen einen besonderen Reiz der späten Aufzeichnungen dar, und der Wortschatzsektor der Kohärenz-Joker ist eine der handwerklichen Grundlagen für diese Darstellungsform.15 Lexikalische Mittel dienen auch als Kennzeichner fur bestimmte Eintragstypen in den Aufzeichnungen. So werden zum Beispiel Berichte über Träume in stereotyper Weise mit Ausdrücken wie Nachts, heut nacht, zur Nacht u. ä. eingeleitet. Als Leser muß man die spezifische Funktion dieser Ausdrücke als Signalwörter erst lernen: sie dienen nicht nur der zeitlichen Situierung, sie kündigen auch eine bestimmte Art von Textbaustein (einen Traum-Bericht) und eine eigene Art von Realität (Traum-Realität) an. Den spezifischen Gebrauch lernt man als Leser unter anderem durch Unverträglichkeiten, die sich bei einer rein zeitlichen Deutung ergeben. Man fragt sich z. B., wie Jünger Nachts noch in Sardinien sein kann, morgens aber schon wieder am Wilflinger Schreibtisch... Fremdsprachige Elemente aus modernen Sprachen finden sich nicht selten in den Aufzeichnungen, in denen Reise-Erfahrungen verarbeitet werden. Sie dienen zum einen dazu, fremde Gegenstände oder Gepflogenheiten im deutschen Text zu bezeichnen, z. B. Speisen („Huhn mit Palmöl und Maniok wird Muamba, dagegen scharf mit Piri-Piri geröstet, Churasco genannt", SV I 329), Musikinstrumente (Marimba; SV I 368) oder Formen der Anrede („als Signora Bonaria nach ihrer Gewohnheit diese Dinge [...] auftischte"; AS 120). Die 15

In Siebzig verweht I spricht Jünger mit unverhohlener Anerkennung über Lichtenbergs Darstellungsweise: „Weiter im Lichtenberg, an Deck bei guter Sonne und ruhiger See. Ein Geist von sowohl assoziierender wie kombinierender Kraft. Die assoziierende erfaßt gleichzeitig, stets auf der Jagd oder, eher: auf dem Anstand nach Bildern, die kombinierende geht den Dingen im Nacheinander auf den Grund. Hier verfährt der Geist nach den Regeln der Kunst und der Anschauung, dort nach denen der Logik und des Wissens; hier bildhaft, folgerichtig dort. Hier spürt er den Zusammenhängen, dort den Ursachen nach. Selten wirkt beides ineinander, wie eben bei Lichtenberg" (SV I 44 f.). An anderer Stelle spricht er anerkennend von der „synoptischen Kraft" des Autors einer Pflanzenmonographie (SV I 191). - Anerkennende Äußerungen dieser Art sind vielleicht aufschlußreich auch im Hinblick auf Jüngers eigene Darstellungsprinzipien.

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Übernahme fremder Wörter ist ein einfacher und ökonomischer Weg, eine geeignete Bezeichnung zu finden. Der Gebrauch dieser Ausdrücke hat aber offenbar auch die zusätzliche Textfunktion, sprachliches Lokal- oder Situationskolorit zu liefern: „Wir setzten uns an den Tisch, nachdem wir uns an der umfangreichen Hausbar durch den sun-downer gestärkt hatten. Das ist der erste drink, den man sich gönnt" (SV I 325). Das Wort wird dann auch bei späteren Gelegenheiten weiterverwendet („Zum Abschied an Bord ein sun-downer"; SV I 368). Der Gebrauch von Wörtern wie drink, boy (auch Hausboy), sun-downer trägt mit dazu bei, die koloniale Lebensform von Jüngers Gastgebern im Südafrika der 60er Jahre zu vergegenwärtigen. Oder: bei der Charakterisierung einer amerikanischen Reisebekanntschaft heißt es: „Einen gewissen Standard vorausgesetzt, kommt dieses behaviour sogar billiger als an Land" (SV I 173). Der wie man annehmen kann zitierte Wortgebrauch trägt hier zur Charakteristik der Person bei. In ähnlicher Weise trägt der eingestreute Originalton zur Charakteristik der Sprecherin in der folgenden Stelle aus Am Sarazenenturm bei: Dann sagte ich: „Ich habe am Meer eine Schlange gesehen." Da verzerrte sich ihr Gesicht vor Haß und Abscheu, und sie spreizte die Finger wie Krallen aus. „Ah, bestia cattiva, Sie müssen sie totschlagen."

Schließlich sind Aspekte des Wortgebrauchs und der Wortwahl auch eine wichtige Grundlage für Formen der Kontrastierung, z. B. in kulturkritischer Absicht: „Mit Beton wird für schnellen Umsatz gebaut ... Da gibt es Unterkunft. doch keine Heimat mehr ..." (SV I 103). In diesem Beispiel beruht die Kontrastierung auf drei sprachlichen Elementen: auf dem Unterschied Unterkunft vs. Heimat, auf dem Gebrauch von doch als Gegensatz-Markierer und auch auf dem Gebrauch der Negation nicht/kein ... mehr, bei der gleichzeitig ein früher/jetzt-Kontrast erzeugt wird. Diese Beispiele sollten zeigen, wie Aspekte des Wortgebrauchs und der Wortwahl zur Textkonstitution, zum , Webmuster' der Texte beitragen können: (i) zur Erzeugung bestimmter Sichtweisen der Darstellung, (ii) als KohärenzJoker bei der assoziativen Themenbehandlung, (iii) als Signalwörter zur Einleitung von Traumberichten, (iv) zur Erzeugung von Lokal-/Situationskolorit und (v) als lexikalische Grundlage von Formen der Kontrastierung.

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4. Altväterliche Züge im Wortgebrauch Ernst Jünger gebraucht, wie in anderen Werken, z. B. in Auf den Marmorklippen, auch in seinen Aufzeichnungen nicht selten veraltete oder veraltende Wörter bzw. Verwendungsweisen, z. B. selbviert ,zu viert', weilen ,sich aufhalten' oder Gatte/Gattin. Auch gewisse Fremdwörter gehören altem bildungssprachlichen Fremdwortbestand an, z. B. rikoschettieren oder Breviloquenz. Diese Fremdwörter stammen überwiegend aus dem Französischen und Lateinischen und sind in den Fremdwörterbüchern vom Anfang des Jahrhunderts noch in großer Zahl verzeichnet.16 Zuweilen finden wir Formen der explizit ausgedrückten Distanzierung vom aktuellen Sprachgebrauch und damit verbunden Hinweise auf alternative Wortgebräuche: „Rizal wurde verurteilt, weil man ihn aufgrund seiner Romane und politischen Schriften für den geistigen Vater der Rebellion von 1896 hielt - oder für deren ,Wegbereiter', wie man heute zu sagen pflegt" (SV I 90). Für diese Tendenz zum altväterlichen Wortgebrauch könnte man mindestens drei Arten von Hintergründen sehen: zum einen die Auffassung, daß die alten Zeiten die besseren Zeiten gewesen sind und daß die neueren Wörter in der Regel die schlechteren sind. Zum anderen die biographische Bedingung, daß Jünger das bildungssprachliche Deutsch vom Anfang des 20. Jahrhunderts gelernt hat und dessen Elemente noch zur Verfügung hat, auch wenn er in der zweiten Hälfte und am Ende des Jahrhunderts schreibt. Und drittens war Jünger auch ein emsiger Leser älterer Texte, deren Sprachgebrauch möglicherweise auch als Vermittlungsquelle infrage kommt.

5. Wortbildungen und Formen der sprachlichen Kreativität Oben im Abschnitt 2.4 wurden schon ad hoc oder stabil gebrauchte Neubildungen für Aspekte der Jüngerschen Weltsicht kurz erwähnt, und im Abschnitt zu den thematischen Wortschätzen fielen komplexe Wortbildungen auf, die z. B. dem militärischen (Flachbahngeschoß) oder dem naturkundlichen Wortschatz zugehören (z. B. Schmetterlingsblütler, SV I 340; Affenbrotbaum, Kandelabereuphorbie SV I 365; Kuckuckslichtnelke SV I 381). Zwei wichtige Unterscheidungsaspekte bestehen hierbei darin, daß einige dieser Ausdrücke offenbar von Jünger geprägt wurden ( Verzifferung), andere aber nicht, zum Beispiel solche, die in den Fachsprachen schon etabliert waren wie z. B. Schmetterlingsblütler. Innerhalb der Gruppe der von Jünger neu gebildeten Ausdrücke finden wir zum einen stabil und längerfristig verwendete Elemente des Jünger-

16

Z. B . bei HEYSE/ LYON 1 9 2 2 oder bei GENIUS.

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sehen Sprachgebrauchs, zum anderen aber auch nur ad hoc gebildete und einmalig oder nur kurzlebig verwendete Ausdrücke wie z. B. Zwangsanstalt: Im Grunde furchtet der Mensch nichts so sehr wie die Freiheit - daher der Zulauf zu den Zwangsanstalten unserer Zeit. (AS 36)

Bei konventionellen Wortschatzelementen wie z. B. Krankenhaus bildet der etablierte Sprachgebrauch eine Grundlage fur das Verständnis der einzelnen Verwendungen von Ausdrücken und für halbwegs stabile Gebrauchskriterien bei der Entscheidung, ob etwas ein Krankenhaus ist oder nicht. Bei ad-hocBildungen dagegen sind das Verständnis und die Deutungsgrundlagen z.T. sehr viel offener, weil man sich nicht auf einen etablierten Sprachgebrauch stützen kann. Was soll man z. B. genau unter Zwangsanstalt im soeben zitierten Textabschnitt verstehen? Offenbar gibt es keine zuverlässigen und etablierten Gebrauchskriterien für eine Entscheidung darüber, ob etwas als Zwangsanstalt bezeichnet werden kann oder nicht? Ist zum Beispiel eine Schule eine Zwangsanstalt unserer Zeit? Ist ein universitäres Proseminar eine Zwangsanstalt unserer Zeifí Ein Krankenhaus? Und wenn ja: sind Schulen, Krankenhäuser und Proseminare im selben Sinne Zwangsanstalten unserer Zeit? Solche Überlegungen zum Wortgebrauch deuten daraufhin, daß es in manchen Passagen von Jüngers Aufzeichnungen nicht um Präzision und Gebrauchssicherheit von Wörtern geht, wie es manche Ideale, z. B. das Ideal des naturwissenschaftlichen und technischen Sprachgebrauchs oder das Sinnkriterium des jungen Wittgenstein und des Wiener Kreises vorsehen. Aber auch wenn wir keine präzisen Verifications- oder Falsifikationskriterien haben, hat diese Art des Sprachgebrauchs doch ihren Sinn: im Hintergrund steht in diesen Fällen der Typus der essayistisch-aphoristischen Rede. Hauptziel dieser Art des Sprachgebrauchs ist nicht die präzise Darstellung, Erklärung usw. von Sachverhalten und ihre Überprüfung im Hinblick auf das Wahre und das Falsche. Ziel ist es vielmehr, dem Leser zu Denken zu geben. Die Offenheit der Gebrauchsbedingungen von ad hoc gebildeten Neuerungen wie Zwangsanstalt ist eine wertvolle Grundlage für das essayistisch-aphoristische zu-Denken-geben. Die Offenheit der Gebrauchsbedingungen von Ausdrücken wie Jüngers Zwangsanstalt ist hierbei kein Manko, sondern eine wichtige Voraussetzung für den persönlichen Deutungs- und Denkensspielraum im Rahmen aphoristischer Prosa. Weitere und wenigstens teilweise etwas sicherer deutbare Beispiele für kreative ad-hoc-Bildungen sind Anbrüchigkeit (SV I 363), Wohlgewaschenheit (SV I 371) oder Anekdotier (SV I 439). Mitunter finden sich auch Wortbildungen, die weniger geglückt erscheinen, z. B. das Verb grellen, das vom Adjektiv grell abgeleitet ist: „Das Städtchen grellte in der Nachmittagssonne" (AS 13). Das wirkt angestrengt.

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6. Sprachbewußtsein und Wortschatz-Reflexion In den Aufzeichnungen gibt es zahlreiche Stellen, in denen Ernst Jünger Wörter, Verwendungsweisen von Wörtern, regionale Wortschatz-Varianten, fachsprachliche oder zeitgebundene Gebräuche, Etymologien und andere Fragen des Sprachgebrauchs thematisiert. So streut er immer wieder Beobachtungen zur Gebrauchscharakteristik von Wörtern ein: „Er [Goebbels, T.G.] hätte mich, wie der Fachausdruck lautet, »groß herausstellen« sollen, um mich wirklich zu schädigen" (SV I 7). Oder: „»Bevölkerungsexplosion« - der Begriff gehört, ähnlich wie »Atombombe« oder »Bikini«, zum Vokabular unserer Epoche" (SV I 180). Und in sprachkritischer Absicht beim Abriß eines Stadtviertels: „Das Wort Sanierung hat einen Beigeschmack" (SV I 207).17 Oder: „Daß einer ,umstritten' ist, wird ihm meist als Negativum angehängt. Immerhin schließt es ein, daß er Freunde besitzt" (SV V 82). Den naturkundlichen Wortschatz hat Jünger offenbar planvoll gesammelt und bei passender Gelegenheit regionale Varianten von den Einheimischen erfragt: „Für das Lungenkraut erfuhr ich von ihm einen neuen Namen: Hausanbrenner" (SV I 7). In ähnlicher Weise vermerkt er in Am Sarazenenturm sardische Bezeichnungen für Vögel. So beobachtet und identifiziert er dort einen Vogel und schreibt dann: „Der Fall ist einfach: der Vogel gehört ohne Zweifel den .Großen Limicolen' an. Ich finde ihn sogleich abgebildet, wie ich unter diesem Titel nachschlage. Es handelt sich um den Stelzenläufer, auch Strandreiter und von den Ungarn Storchschnepfe genannt - dieser Name ist der anschaulichste" (AS 27). Und später: „Ich beschreibe Signora Bonaria den Strandreiter. Der Vogel ist ihr bekannt. Sie nennt mir das sardische Wort ,menga', das ich nicht unterbringen kann. Es soll, wie sie sagt, daher kommen, ,daß er piekt' - sie kneift sich dabei mit zwei Fingern in den Unterarm" (AS 30). Die Passage enthält mehrere sprachreflexive Elemente: Gedanken zum Verhältnis Gegenstand, Gegenstandsklassifikation und Bezeichnung, zur Variation der naturkundlichen Bezeichnungen in Einzelsprachen und in verschiedenen Sprachen, Überlegungen zur Bezeichnungsmotivation, eine vergleichende Bewertung der Bezeichnungsmotivation {der anschaulichste), sie enthält 17

Im folgenden Eintrag ist nicht ganz sicher zu entscheiden, ob der Gebrauch der Anführungszeichen nur die originale Ausdrucksweise kennzeichnen soll, oder ob sie hier zur Markierung und Distanzierung von einem ungewöhnlichen oder seltsamen Sprachgebrauch verwendet sind. Der Eintrag auf einer Schiffsreise lautet: „Einladung des Kapitäns an ,die Exzellenzen' zum Empfangscocktail" (SV I 369). Die Gesamtheit der Schiffsgäste als Exzellenzen zu bezeichnen könnte als übertriebene Höflichkeit und - jedenfalls in Jüngers Sichtweise - vielleicht auch als übertriebene Gleichmacherei erscheinen. Aber der Gebrauch von Anführungszeichen als Distanzierungsmittel ist immer heikel, und so lasse ich das Verständnis dieser Stelle hier lieber offen.

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weiter den Versuch, lokale Bezeichnungen zur Ergänzung des Systems zu ermitteln,18 und in der Beschreibung von Signora Bonaria erneut einen Hinweis auf die Bezeichnungsmotivation. Das Wort und mehrere seiner Varianten ist übrigens im dreibändigen Dizionario etimologico Sardo von Max Leopold Wagner verzeichnet: im Band II auf Seite 104 f. Die Frage nach dem Zutreffen, der Anschaulichkeit usw. von Bezeichnungen findet sich auch an mehreren anderen Stellen thematisiert. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß es mehr oder weniger treffende bzw. zutreffende Bezeichnungen gibt: Vor kurzem, auf Taiwan, hatte sich mir das Bild der Caryota eingeprägt; sie wird von den Engländern die Fischschwanz-Palme genannt. Es ist immer ein Erlebnis, wenn wir für Bekanntes einen neuen, treffenden Namen erfahren - eine Art von Wiedergeburt, eine Bestätigung dessen, was wir beim ersten Anblick in der Tiefe geahnt haben. (SV I 190) Am Flughafen erfuhren wir, daß die nächste Maschine nach Zürich morgen früh um sechs Uhr startet; wir müssen eine Stunde eher am Schalter sein. Übrigens scheint mir avion besser geglückt als ,Flugzeug', doch ,Flieger' besser als aviateur. (SV I 372; Herv. TG)

Der Gebrauch von übrigens ist hier wieder ein typischer Kohärenz-Joker (vgl. Abschnitt 3), der es erlaubt, von der Flughafen-Situation und dem Gebrauch von Maschine für ,Flugzeug' sprunghaft zu einer kleinen sprachlichen Betrachtung über andere Bezeichnungen für Flugzeuge überzugehen. Der zentrale Ausdruck in der vergleichenden Bewertung ist hier {besser) geglückt. Nicht nur können Bezeichnungen also solche treffend, zutreffend, geglückt usw. sein, auch die Frage ob ein Ausdruck in einem bestimmten Kontext zutreffend gebraucht wird, finden wir an mehreren Stellen thematisiert: Es ging um den Aufstand von 1961, in dem zunächst eine große Zahl weißer Siedler mit ihrem farbigen Anhang und dann etwa die dreifach an Eingeborenen getötet wurde - oder vielmehr: ermordet; das ist unter solchen Verhältnissen das treffendere Wort. (SV 1312)

Hier geht es nicht um die Bezeichnungen, sondern um ihren Gebrauch in einer bestimmten Anwendungssituation: nicht von den Ausdrücken töten bzw. ermorden kann sagen, sie seien (zu-)treffend oder nicht, wohl aber von ihrer Anwendung in bezug auf bestimmte Ereignisse. In ähnlicher Weise werden an anderen Stellen Ausdrucksvarianten dem jeweiligen Anwendungszweck ange18

Ein anderes Beispiel: „Als wir auf die Hänge wechselten, die kaum beweidet wurden, tauchten andere Charakterpflanzen der Macchia auf, darunter besonders der Erdbeerbaum, Arbutus, hier Corbezzolo genannt. Er fuhrt von altersher den Beinamen Unedo, der bereits von Plinius erwähnt und damit erklärt wird, daß man ,nur eine ißt'. Stefano nennt ihn den ,Ölbaum der Armen'; beide Beinamen deuten kaum auf eine Leckerei" (AS 98).

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paßt: ζ. Β. „Exkursion zum Pingana, eher schon eine Expedition" (SV I 346 ). Der Gebrauchsaspekt, um den es hier geht, ist offenbar der Unterschied in der Größe der betreffenden Unternehmungen. Jünger war, wie andere Dichter auch - ζ. B. Rilke - , Wörterbuchleser. Einmal hatte das Wörterbuchlesen Folgen für den Nachtschlaf, und so erfahren wir etwas über seine Praxis: Ich dagegen hatte [im Traum; TG] unablässig die Konsonantengruppen bl und pl hin und her gewendet, im Anschluß an meine Abendbeschäftigung. Außer dem Lichtenberg habe ich ein Deutsches Wörterbuch mitgenommen und kämme den Wortschatz durch. Das ist eine Arbeit, die sich prisenweis verrichten läßt. Daß sie sich im Schlaf fortsetzt, ist nicht ungünstig, aber anstrengend. (SV I 42)

Ernst Jünger kommentierte wachsam aktuelle Wortschatzentwicklungen oder für ihn persönlich neue Wörter oder Verwendungen von Wörtern, ζ. B. das für ihn neue Wort black-out (SV I 59). Zuweilen verbindet sich die Wahrnehmung der aktuellen Entwicklung auch mit Kritik daran: ,Ansonsten'. Auch eines der Modewörter. Warum nicht einfach ,sonst'. Ähnlich auch ,zögerlich'. - Ich lese jetzt, selbst bei Philosophen: ,Das macht Sinn'. Bedeutung wird zugemessen und zugebilligt, doch Sinn wird nicht ,gemacht'. Sinn existiert. (SV V 56)

Auch seinen eigenen Sprachgebrauch hat Ernst Jünger an mehreren Stellen kommentiert. So verwendet er einmal das Wort Beifang in übertragener Weise und erläutert anschließend dann die Übertragung aus einem Bereich in einen anderen: Von diesen diamant-, smaragd- und rubinfarben schillernden Tieren [i.e. Goldwespen; TG] sind bereits weltweit an zweitausend Arten bekannt. Auch mir sind diese Edelsteine schon in der Kindheit aufgefallen, und später nahm ich auf Exkursionen den einen oder anderen zwecks näherer Betrachtung als ,Beifang' mit. Das Wort ,Beifang' stammt von den Fischern - meist werfen sie ihn wieder ins Meer. Es kann aber auch einmal etwas Besonderes darunter sein. So wurde der Quastenflosser, den man seit dem Devon fur ausgestorben gehalten hatte, auf einem Fischmarkt Ostafrikas entdeckt. Das nebenbei. (SV V 67)

Neben dem Hinweis auf die fachsprachliche Natur des Wortes Beifang und der übertragenen Verwendung in einem neuen Zusammenhang ist auch hier die Verwendung der Anführungszeichen bemerkenswert. Bei der ersten Verwendung dienen sie zur Markierung, daß die Verwendung des Wortes in irgendeiner Weise ungewöhnlich ist, an der zweiten Stelle dienen sie nur zur Kennzeichnung der Wortform. Vordergründig ist dies nur ein unscheinbares Detail, es ist aber auch Bestandteil der Sprachreflexion und des Aufmerkens auf Fra-

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gen des Wortgebrauchs. 19 Seine Bemerkungen zum eigenen Sprachgebrauch betreffen auch das politische Vokabular: Der ,Figaro' bringt einen Artikel Frédéric de Towarnickis über meine Pariser Jahre während der Okkupation. Er ist in freundlicher Absicht ein wenig zeitgemäß frisiert. So sage ich nur .Nationalsozialisten' und nicht .Nazis' - wie auch .Sozis' und .Stasi' nicht zu meinem Vokabular zählen (SV V 36)

Die Bemerkung charakterisiert in erster Linie den persönlichen Wortgebrauch Jüngers, ohne allerdings die Gründe dafür zu nennen. Die Charakterisierung schließt die Nennung von alternativen Ausdrucksweisen mit ein. Und schließlich deutet der Gebrauch von zeitgemäß darauf hin, welcher der beiden Sprachgebräuche aktueller ist. Der Jüngersche Wortgebrauch erscheint in dieser Darstellung als der konservative, als unzeitgemäß. Auch der Gebrauch von frisieren mit bezug auf sprachliche Darstellungen und Aspekte der Wortwahl ist bemerkenswert: zum einen im Hinblick auf die Wortgeschichte von frisieren, zum anderen aber auch im Hinblick auf die Rolle des Wortgebrauchs bei der Anpassung an bestimmte Nutzungsbedingungen von Texten, z. B. im Hinblick auf Zeit, Adressatenkreis oder politische Überzeugung. Ich breche die Besprechung der Beispiele hier ab. Die Funktion dieser Beispiele war es zu zeigen, daß der Autor an vielen Stellen in sprachreflexiver Weise ganz unterschiedliche Aspekte des eigenen Wortgebrauchs und des Wortgebrauchs in seinem Jahrhundert thematisiert.

7. Einige Punkte zur Ergänzung der Agenda Die bis hierher vorgetragenen Punkte sind - ich sagte es schon - erste Beobachtungen zum Wortgebrauch und zur Wortschatzcharakteristik. Ich möchte abschließend einige weitere Punkte der Agenda für die Wortschatzcharakterisierung wenigstens aufzählungsweise nennen: die Frage der Regionalismen, insbesondere aus dem Schwäbischen, z. B. Küchenfeschtle (SV V 48; vgl. auch SV V 25 für die OriginaltonStrategie in bezug auf die Lautung); -

19

20

die Frage nach Wortschatz-Veränderungen und Wortschatzvariation in unterschiedlichen Textfassungen; 20 Vgl. SV V 170: „1939, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, ist er, wie der Sohn schreibt, einem Unfall erlegen - das Wort ist in Anführungszeichen gesetzt". Es handelte sich offenbar um Selbstmord. Methodisch könnte man hier anknüpfen an die Wortersatzforschung (z. B. VORKAMPFF-LAUE 1906) und die Untersuchungen zur lexikalischen Varianz in breit überlieferten mittelalterlichen Dichtungen und Fachtexten (BESCH 1967; SCHNELL 1979).

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-

die Variation von Ausdrücken in ein und demselben Text (z. B. Mischung, Melange, S V I 370);

-

die Rolle von Eigennamen, z. B. Otho als Anspielung auf den Arzt und Botaniker Otho Brunfels in Auf den Marmorklippen oder die Rolle v o n N a m e n als Erinnerungsgeber;

-

die Frage, ob es für bestimmte Wortgebräuche, z. B. Seinsgrund ( A S 81) oder Seinsbrand ( A S 95), sprachliche Traditionen und/oder Vorbilder gibt.

D i e Liste ist damit sicherlich nicht erschöpft. Will man bei der Frage nach der sprachlichen Gestaltung der Aufzeichnungen über die Wortschatzcharakteristik hinausgehen, so erscheint besonders die Frage nach den typischen Darstellungsformen und sprachlichen Verfahren von Interesse, z. B. sprachliche Verfahren, mit denen man - w i e in den späten Aufzeichnungen - ungewöhnliche Zusammenhänge herstellen kann.

Literaturverzeichnis BESCH, Werner (1967): Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. München: Francke. BRUNFELS, Otho (1532): Contrafayt Kreüterbuoch Nach rechter vollkommener art/ vnnd Beschreibungen der Alten/ besstbertimpten ärtzt [...]. Straßburg (Hans Schott). Nachdruck Grünwald bei München 1975. DWb = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bände (32 Teile) und ein Quellenverzeichnis. Leipzig 1854-1971. Nachdruck München 1984: Deutscher Taschenbuch Verlag. DÖBEL, Heinrich Wilhelm (1746): Jäger-Practica oder Der wohlgeübte und erfahrne Jäger. Nach der ersten Ausgabe Leipzig hg von der Redaktion der Deutschen Jäger-Zeitung. Neudamm o.J. FRITZ, G. (1982): Reden über. In: Ders.: Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse. Tübingen: Narr; 149-204. GENIUS, Α.: Neues großes Fremdwörterbuch. Ein Handbuch zur Verdeutschung und Erklärung der gebräuchlichsten in der deutschen Schrift- und Umgangssprache vorkommenden fremden Ausdrücke aller Wissensgebiete [...]. Regensburg: Habbel. HEYSE, J. C . A . / LYON, O . ( 1 9 2 2 ) : A l l g e m e i n e s

verdeutschendes

und

erklärendes

Fremdwörterbuch. Neu bearbeitet von O. Lyon. 21. Auflage mit Nachträgen besorgt von W. Scheel. Hannover: Hahn. HORN, P. (1905): Die deutsche Soldatensprache. Zweite Ausgabe. Gießen: Töpelmann. JÜNGER, Ernst: Am Sarazenenturm. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1955. (zitiert mit der Sigle AS). JÜNGER, Ernst: Auf den Marmorklippen (1939). In: Jünger, Ernst: Auswahl aus dem Werk in fünf Bänden. Band 3. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, 5-109. JÜNGER, Ernst: Siebzig verweht I-V. Sonderausgabe in Kassette. Stuttgart: Klett-Cotta 1995-98. (Band 5 mit den „letzen Tagebucheintragungen des Autors aus dem Jahre 1996, die in 'Siebzig verweht V' bislang nicht enthalten waren"), (zitiert mit der Sigle SV).

Ernst Jüngers Aufzeichnungen und ihr Wortschatz-Profil

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JÜNGER, Ernst: In Stahlgewittern (1998). Stuttgart: Klett-Cotta. (zitiert mit der Sigle IS). KRIEGSPREDIGTEN aus dem großen Krieg 1914 und 1915 von verschiedenen Verfassern. Hg. von Paul Wurster. Dritte Auflage. Stuttgart: Verlag der Evangelischen Gesellschaft 1915. LANGEN, A. (1968): Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Zweite, ergänzte Auflage. Tübingen: Niemeyer. MATORÉ, G. (1953): La méthode en lexicologie. Domaine français. Paris: Didier. Édition refondue 1973. MAUBER, O. (1917): Deutsche Soldatensprache. Ihr Aufbau und ihre Probleme. Straßburg: Trübner. R G G (1986) = Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Sieben Bände. Dritte Auflage. Hg. von K. Galling u. a. Ungekürzte Studienausgabe. Tübingen: Mohr. SCHNELL, B. (1979): Stemma und Wortvarianz. Zur Rolle des Überlieferungsprozesses in der historischen Wortgeographie. In: Befund und Deutung. Festschrift Hans Fromm. Hg. von K. Grubmüller, H. Hellgardt, H. Jellissen und M. Reis. Tübingen: Niemeyer; 136-153. SCHULZ, H./ BASLER, O. (1913-1988): Deutsches Fremdwörterbuch. Fortgeführt vom Institut für deutsche Sprache. Sieben Bände. Berlin/New York: de Gruyter. STÖTZEL, Georg/ WENGELER, Martin (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. In Zusammenarbeit mit K. Boke, H. Gorny, S. Hahn, M. Jung, A. Musolff, C. Tönnesen. Berlin/New York: de Gruyter. VORKAMPFF-LAUE, A. (1906): Zum Leben und Vergehen einiger mittelhochdeutscher Wörter. Halle: Niemeyer. WAGNER, Max Leopold (1921): Das ländliche Leben Sardiniens im Spiegel der Sprache. Kulturhistorisch-sprachliche Untersuchungen. Heidelberg: Winter. (= Beiheft 4 zu „Wörter und Sprache"). WAGNER, Max Leopold (1964): Dizionario etimologico sardo. Vol. I—II. Heidelberg 1960-62. Vol. Ill: Indici delle voci e delle forme dialettali compilati da R. G. Urciolo. Heidelberg: Winter.

LUTZ HAGESTEDT

Ambivalenz des Ruhmes Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises

Vorträge führen in leeren Betrieb. Sie sind mit Reisen und Anstrengungen verbunden und zehren an der produktiven Zeit. Ihnen schließt sich meist unfruchtbares Gerede an. Zu rechnen ist auch mit der Enttäuschung, die aus dem Mißverhältnis zwischen der idealen Vorstellung vom Autor und seiner Person erwächst. (JÜNGER 1984: 19)' Für Jünger ist jeder Autor, „nur wissen die meisten nichts von ihrem Glück" (JÜNGER 1984: 46). Also auch der Wissenschaftler, für den der Vortrag freilich eine andere Funktion hat als für den Dichter, und mehr noch die Diskussion, die sich daran anschließt. Das Instrument, Ernst Jünger zu attackieren oder zu verteidigen, ist das Zitat. Für seine Gegner ist es das nützliche Instrument, die Zeitgenossen mit dem Werk eines Unverbesserlichen und Ewiggestrigen zu konfrontieren. Für seine Verteidiger birgt es die Möglichkeit, die Borniertheit seiner Gegner vorzufuhren, sich an Jüngers Radikalität zu delektieren und seine Repräsentanz zu erweisen - seine Repräsentanz für die ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, für die zentralen Gegensätze der Moderne - Individuum versus Gesellschaft und Autonomie versus Heteronomie. Für Jünger selbst schließlich ist das Zitat Selbstgespräch und Gespräch mit dem Leser: Sein Buch Autor und Autorschaft ist eine Sammlung eigener Maximen und Reflexionen, in der auch Bezug auf Texte fremder Provenienz genommen wird, darunter auf Goethe. Dessen Name markiert gleich im Einstiegstext eine epochale Orientierungsmarke für Jüngers Selbstsituierung (JÜNGER 1984: 5). Seine Tagebücher wiederum sind eine Prosamischform aus Reise-, Situations· und Lektürebericht, sind Selbstgespräch und indirektes Gespräch mit dem Leser: Der Autor zitiert aus Briefen, die er geschrieben oder erhalten hat und führt auf diese Weise eine Korrespondenz' mit vielen.

Es geht dann weiter: „Freilich gibt es auch hier Tenore, aber Schiller war ein schlechter Vorleser. [Absatz] Der Autor kann, aber soll kein Unterhalter sein. Vorlesen ist gut im Freundes- oder Familienkreis."

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Die Bekanntgabe des Goethepreises 1982 an Jünger sorgte für einen Skandal, obgleich von Seiten des Autors kein Normverstoß vorlag - zumindest kein aktueller. Aber gewöhnlich sorgen Auszeichnungen nur dann für Aufruhr, wenn ihnen moralische Bewertungen beigemischt werden: Die Nominierung für diesen renommierten und repräsentativen Preis bot die Möglichkeit der Zuspitzung und massenmedialen Neuinszenierung der langjährigen Diskussionen um den Autor - wobei sich das Problem nun auch für die Frankfurter Stadtverordneten stellte und für jenen Teil der Öffentlichkeit, der die moralische Auseinandersetzung mit Jünger aus gegebenem Anlass nachholen musste.

1. Bekanntgabe Doch zunächst ein Rückblick auf das Jahr 1982: Am 17. Mai entschied das Kuratorium des Frankfurter Goethepreises, Ernst Jünger auszuzeichnen. Am 18. Mai erfuhr Jünger auf einer Reise in Dalmatien durch Telefonanruf des Frankfurter Oberbürgermeisters Walter Wallmann (CDU) von der Auszeichnung. Ein Rückruf des Autors am 20. Mai bestätigte, dass die Wahl einstimmig erfolgt war (vgl. JÜNGER 1993: 142 f.). Am 18. Mai erfolgte auch die offizielle Bekanntgabe des Preisträgers, am 19. und 20. Mai wurde der Großteil der Agenturmeldungen publiziert. Am 31. Mai, zwei Tage nach Jüngers Rückkehr aus Jugoslawien, wurde er auch in seinem Wohnort Wilflingen zu dem Preis beglückwünscht.2 Die Meldung zeitigte danach zunächst keine weiteren Folgen, die öffentlich bekannt geworden wären, und auch die politischen Parteien im Frankfurter Römer kommentierten die Entscheidung nicht. Also haben wir Zeit, uns kurz der Preisgeschichte zuzuwenden.

2. Preisgeschichte Der Goethepreis wird als höchste Auszeichnung der Stadt Frankfurt seit 1927 in Goethes Namen an Persönlichkeiten verliehen, „die mit ihrem Schaffen bereits zur Geltung gelangt sind und deren schöpferisches Wirken einer dem Andenken Goethes gewidmeten Ehrung würdig ist" (zit. nach RÜHLE 1997).

„AM Vormittag kam Josef Mayer, Vorsitzender der Soldatenkameradschaft, als Gratulant." (JÜNGER 1993: 147). - Die Stadt Frankfurt publizierte 1982 die Dokumentation Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main an Ernst Jünger am 28. August 1982 in der Paulskirche, die neben Wallmanns Ansprache, Siedlers Laudatio, Jüngers Dankrede auch eine Kurzbiographie des Preisträgers, die Satzung der Verleihung des Goethepreises, die Zusammensetzung des Kuratoriums sowie einige Pressestimmen enthielt (vgl. GOETHEPREIS 1982).

Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises

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Erster Preisträger war 1927 Stefan George; ihm folgten unter anderem Gerhart Hauptmann (1932) und Carl Zuckmayer (1956). Wissenschaftler wurden ebenso ausgezeichnet wie Komponisten und Politiker. Seit 1949 wird der Preis alle drei Jahre verliehen, seit 1961 ist er / war er mit 50.000 Mark dotiert. Die drei Preisträger vor Jünger waren Arno Schmidt (1973), Ingmar Bergmann (1976) und Raymond Aron (1979).3 Zur Preisgeschichte gehört auch die Geschichte seiner Skandale: Sigmund Freud, Preisträger des Jahres 1930, wurde nur mit knapper Mehrheit (sieben zu fünf Stimmen) nominiert: „Die Linie Goethe zu Freud" sei „sehr dünn", urteilte ein Juror.4 Georg Lukács, 1970 ausgezeichnet, düpierte eine Abordnung der Jury mit der Bemerkung, Karl Marx sei der legitime Nachfolger Goethes und stiftete einen Teil seines Preisgeldes dem revolutionären Kampf des Vietkong (vgl. R Ü H L E 1 9 9 7 ) , 1 9 4 3 und 1 9 4 4 wurde der Preis nicht verliehen. Beide Male war Max Planck vom Kuratorium benannt worden, beide Male verhinderte die nationalsozialistische Gauleitung die Ehrung. Erst an Goethes Geburtstag 1945 konnte Max Planck den Preis entgegennehmen. Auch an Thomas Mann, als „Emigrant" im restaurativen Deutschland umstritten, entzündete sich 1949 eine heftige Auseinandersetzung, von der sogar Max Frisch in seinem Tagebuch 1946-1949 berichtet.5 Mann beurteilte den Streit als „Zwist zwischen zwei Ideen von Deutschland", als „Auseinandersetzung, nur anläßlich meiner, über die geistige und moralische Zukunft dieses Landes" (zit. nach R Ü H L E 1997).

3. Entscheidung und Debatte im Magistrat Das Kuratorium besteht aus dem Oberbürgermeister als Vorsitzendem des Gremiums; aus dem Stadtverordneten Vorsteher, dem Kulturdezernenten, dem Präsidenten der Johann Wolfgang Goethe-Universität, dem designierten Direktor des Freien Deutschen Hochstifts; einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens (in diesem Fall Rudolf Hirsch, der ehemalige Verleger), einem Vertreter der deutschsprachigen Schriftsteller, hier Joachim C. Fest, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und Gabriele Wohmann als Vertreterin der deutschsprachigen Dichter.6

3

V g l . GOETHEPREIS 1 9 8 2 : 2 9 .

4

Hans Naumann. Zit. nach Rühle 1997. Vgl. den Sammelband Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Tübingen (edition diskord) mit den Sitzungsprotokollen des Kuratoriums. ,,[I]n Frankfurt erwartet man Thomas Mann - wie ich den Zeitungen entnehme: mit

5

v i e l H a ß ..." (FRISCH 1 9 7 6 : 6 9 7 f.). 6

Nicht an der Entscheidung beteiligt war in diesem Jahr das hessische Kultusministerium, das sonst einen Vertreter entsendet. Vgl. Goethepreis 1982: 28.

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Die Kräfteverteilung im Stadtparlament sieht 1982 wie folgt aus: die CDU hat die absolute Mehrheit und stellt den Oberbürgermeister, SPD und Grüne bilden die Opposition. Erst zehn Wochen nach Bekanntgabe des Preisträgers, am 5. August, wird, ausgehend von der Fraktion der Grünen, öffentlich Widerstand laut. In einer Protestnote an den Magistrat, flankiert von einer Zitatensammlung, fordern die Grünen, die Empfehlung des Preis-Kuratoriums nicht umzusetzen: „Uns ist es relativ gleichgültig, ob Ernst Jünger ein guter oder schlechter Schriftsteller ist", heißt es in der Begründung. Jünger sei „ein durch und durch amoralischer Mensch", der „Krieg, Schmerzen, Blut usw. nur unter dem Gesichtspunkt der Erlebnisintensität fur sich selbst" betrachten könne, „nicht aber als grauenhafte Ereignisse, die Menschen wehtun".7 Die nächsten drei Wochen beherrscht der Streit die Fraktionen und die Öffentlichkeit. Politik und Medien präsentieren sich in ihrer Funktion der „Erhaltung und Reproduktion von Moral" ( L U H M A N N 1996: 64). Der Vorwurf der Grünen an Jünger lautet, bis heute „keine Aufarbeitung des Faschismus" geleistet, „keinen Bruch" vollzogen und sich im Gegenteil auf „scheinbar unpolitische Themen" zurückgezogen zu haben.8 Mit der Erklärung, die Beschlussfassung des Kuratoriums zugunsten Jüngers einfach „verpennt" zu haben, formulieren auch die Fraktionsmitglieder der SPD ihren späten Widerstand und fordern, den Ratsbeschluss zur „Gewissensentscheidung" zu machen.9 Nach einer mehrstündigen Debatte im Römer setzt sich die CDU mit ihrer Stimmenmehrheit durch; Hilmar Hoffmann (SPD), als Kulturdezernent Mitglied des Kuratoriums, hält ebenfalls an der Nominierung Jüngers fest. Für die Verleihungsurkunde wird folgender Wortlaut beschlossen: Die Stadt Frankfurt vergibt den Goethepreis 1982 an Ernst Jünger. Sie ehrt in ihm einen deutschen Schriftsteller, dessen Werk durch Engagement und geistigen Abstand gleichermaßen ausgezeichnet ist, und der durch alle Zeitläufte - bei leidenschaftlicher Anteilnahme - immer die Unabhängigkeit der Wahrnehmung bewahrt hat.10

7

8

Die Grünen im Römer, Presseerklärung. Antrag an das Frankfurter Stadtparlament. Rundschreiben vom 4. 8. 1982. Zit. nach: Relativ gleichgültig für Grüne. In: Frankfurter Allgemeine, 19. 8. 1997. Die Grünen im Römer. Antrag an das Frankfurter Stadtparlament, den diesjährigen Goethepreis nicht an Ernst Jünger zu verleihen. Presseerklärung vom 4. 8. 1982. Zit. n a c h DIETKA 1 9 8 7 : 3 0 3 .

9

10

Zit. nach güm: Ernst Jünger bringt die SPD durcheinander. In: Frankfurter Allgemeine, 17.8. 1997. Siehe auch nke: Magistrat bestätigt Votum für Ernst Jünger. In: Frankfurter Neue Presse, 14. 8. 1982. Die Urkunde ist faksimiliert wiedergegeben in JÜNGER 1988: 280. Vgl. auch nke: Magistrat bestätigt Votum. A. a. 0 . - Die Debatte dauert vier Stunden und vierzig

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J 71

Eine defensive Begründung, weil sie Jüngers Verhältnis zur Demokratie ausblendet. Diese Haltung kann jedoch nicht verhindern, dass sich die Debatte genau an dieser Frage weiter entzündet und bald landesweit Aufsehen erregt: Der Verband deutscher Schriftsteller in Hessen zeigt sich „entrüstet" über die Nominierung, und ein Jünger-Interview im >Spiegel< bringt weitere Gegner und Befürworter auf den Plan. Der seit Jahrzehnten geführte Streit um Jünger eskaliert. Seine Gegner bezeichnen ihn als Antisemiten, der den Krieg verherrlicht, den Faschismus mit herbeigeschrieben und den Nationalsozialisten die Stichworte („Totale Mobilmachung") geliefert habe; seine Verteidiger feiern ihn als bedeutenden Autor und Humanisten, der die Strömungen seiner Zeit benannt habe, frühzeitig auf Distanz zu Hitler gegangen sei und als Besatzungssoldat in Paris vielen Juden das Leben gerettet habe. Die Tatsache, dass Jünger von Rudolf Hirsch, dem einzigen Kuratoriumsmitglied jüdischen Glaubens, Remigrant und Berichterstatter im Auschwitz-Prozess, vorgeschlagen wurde, wird als Argument ebenso eingebracht wie die ansehnliche JüngerRezeption in Frankreich." SPD und Grüne erklären nach ihrer Abstimmungsniederlage, dem Festakt in der Paulskirche fernbleiben zu wollen; Bundespräsident Karl Carstens (CDU), als ehemaliges SA-Mitglied selber politisch unter Druck geraten, sagt, ebenso wie Hessens Ministerpräsident Holger Börner (SPD), seine Teilnahme ab. Prominente wie Golo Mann oder Peter Glotz ergreifen fur Jünger Partei, während der Ost-Berliner Sender „Stimme der DDR" gegen ihn Stellung bezieht: „Jüngers literarisches Werk zeige eine ,tiefe Verachtung dessen, was der Schriftsteller nur Pöbel nannte'." 12

4. Die Verleihung in der Paulskirche Zur Verleihung in der Paulskirche zeigt sich die Polizei gut gerüstet. Jünger muss durch ein Spalier protestierender Gegner schreiten, auf Spruchbändern und Flugblättern werden ihm Sätze entgegengehalten, die er ein Lebensalter zuvor veröffentlicht hat. Ein Zitat, das ihm hier in die Augen fällt, lässt Jünger von einem Kenner seines Werkes verifizieren: „Ich hasse die Demokratie wie die Pest" (vgl. J Ü N G E R 1993: 209 f.).13 Es findet sich in der ersten Auflage

" 12

13

Minuten. Vgl. ry: SPD boykottiert den Festakt. In: Frankfurter Neue Presse, 21. 8. 1982. GELLERSEN 1982, sowie AP: Plädoyers für und gegen Jünger. In: Süddeutsche Zeitung, 25. 8. 1982 dpa, AP: DDR-Kritik wegen Goethepreis an Jünger. In: Frankfurter Rundschau, 25. 8. 1982. Auch in: Süddeutsche Zeitung, 25. 8. 1982 (Plädoyers für und gegen Jünger). Wolfgang Theopold weist Jünger die Quelle nach.

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seines Kriegstagebuchs Das Wäldchen 125 (1925) und wurde in die späteren Auflagen nicht übernommen. Der Krieg der Zitate setzt sich in der Paulskirche fort, als Jünger seine Dankesrede als Blütenlese anlegt: Ich hätte bei diesem Anlaß gern über mein persönliches Verhältnis zu Goethe und seinem Werk gesprochen; es ist stark, da ich schon mit ihm aufgezogen worden bin. [...] Da die Diskussion aber gezeigt hat, daß es ihr wenig um Goethe und keinesfalls um Literatur geht, werde ich mich den Aspekten der Autorschaft als solcher, der Existenz des Autors in unserer Zeit, zuwenden. [...] Seit Jahren begleiten meine Lektüre Notizen über Autor und Autorschaft. Ich stoße dabei auf Fakten, die sich wiederholen, seitdem es Schriftsteller gibt, doch auch auf solche, die unserer Endzeit eigentümlich sind. Im Folgenden eine kleine Lese daraus. (JÜNGER 2003: 411; sowie in GOETHEPREIS 1982: 21) Diese Blütenlese hat einen taktischen Grund: „Ich hatte keine große Rede vorbereitet, sondern mich auf eine Auswahl von Maximen beschränkt, also auf eine in jedem Fall, auch jedem Zwischenfall, abgeschlossene Darbietung." (JÜNGER 1 9 9 3 :

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Jünger rechnet also, wie er im Tagebuch nachträglich proklamiert, mit Störungen. Einige der ,Maximen', die er vorträgt, wirken wie für den Anlass geschrieben: „Dem Zeitalter des Anstreichers ist das der Anbräuner gefolgt." ( J Ü N G E R 1984: 32). Oder: „Es scheint Leute zu geben, die Bücher lesen, bloß um sich zu ärgern." ( J Ü N G E R 1984: 80). In der Paulskirche werden nur Jünger-Leser die Sammlung Autor und Autorschaft gekannt haben, die im Vorjahr im 13. Band seiner Sämtlichen Werke erschienen ist. Für sie ist Jüngers Dankesrede nur in der Zusammenstellung der Zitate neu, nicht in der Substanz. 14

14

Jünger, Dankrede zum Goethepreis. Zitate aus Autor und Autorschaft. Zitiert nach der Ausgabe Stuttgart 1984. S. 11 („Denkmäler"), S. 11 („Der Autor"), S. 15 („Wie Zeitungen berichten"), S. 21 („Einem jungen Besucher"), S. 21 („Der alte Poet"), S. 21 („Auch der Autor"), S. 22 („Lieber Kollege"), S. 23 („Wissen Sie"), S. 28 („Von einem Buch"), S. 29 („Man kann nicht vermeiden"), S. 30 („Wer keine Partei ergreift"), S. 30 („Es ist dem Kritiker"), S. 30 („Auch die Inquisition"), S. 32 („Dem Zeitalter"), S. 33 („Nach Goethe"), S. 35 („Am Eigenen"), S. 40 („Ambivalenz des Ruhmes"), S. 40 („Ganz selten"), S. 41 („Man trifft ihn"), S. 63 („Der Andrang von Ideen"), S. 64 („Wenn zwei Sechzehnjährige"), S. 67 („Schöne Literatur"), S. 73 f. („Eine permanente Lektüre"), S. 77 („Ein allgemeines Unbehagen"), S. 80 („Es scheint Leute"), S. 83 („Das Material des Dichters"), S. 84 („Die Eitelkeit des Papiers"), S. 85 („Je mehr das Jahrhundert"), S. 86 („Der Autor hat der Sprache"), S. 97 („André Gide"), S. 105 („Hat der R u f ) , S. 128 („Mein Urteil"), S. 164 („Die stärkste Wirkung"), S. 172 („Paul Léautaud"), S. 176 („Worauf beruht"), S. 182 („Wenn die Deutschen"), S. 182 („Goethe"). Die Zitate sind sämtlich schon in der Erstausgabe (Sämtliche Werke, Bd. 13, Essays VII, Fassungen II, Stuttgart 1981: 389 ff.) enthalten. Vgl. GOETHEPREIS 1982: 21-25.

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5. Berichte in den Medien Was wir über unsere Gesellschaft erfahren, erfahren wir aus den Massenmedien, ob von einem fernen Krieg oder einem Literaturstreit in unserer Stadt (vgl. L U H M A N N 1996: 64). In der Berichterstattung zum Goethepreis - und in der Hauptsache handelt es sich hier um die Textsorte des „Berichts", geht es doch zunächst darum, zu informieren und den Sachverhalt darzustellen - fallt auf, dass selbst die schlichte Meldung von Begriffen aus dem Wortfeld des politischen Streites kontaminiert ist (Begriffe wie „Boykott", „Gewissensentscheidung", „Kontroverse"). Elliot Y. Neaman, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler, beobachtet, dass Kommentierung und Berichterstattung nicht sauber getrennt sind.15 Die Platzierung der Artikel hingegen ist eindeutig: Die Meldungen, Berichte, Kommentare fmden sich im Lokalteil, sofern sie die Arbeit des Magistrates und den Verlauf der Debatte in den örtlichen Gremien der Parteien etc. dokumentieren, und im Feuilleton, sofern sie Fragen der deutschen Streitkultur, der Moral, der ästhetischen Aspekte des Kulturstreits behandeln. Leserbriefe werden zumeist im politischen Teil in der entsprechenden Rubrik veröffentlicht. Zu den Autoren, die Jünger beispringen, gehört Golo Mann, selber Anwärter auf den Preis und Preisträger des Jahres 1985. Jünger sei ein „Einzelgänger", ja ein „Aussteiger" und ebenso ein „Grüner", schreibt Mann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ein „treuer Begleiter unseres Jahrhunderts", der es gar nicht verhindern könne, „sich mitverantwortlich zu fühlen für die Zukunft unserer Erde und ihrer Bewohner" ( M A N N 1982). Noch vor der eigentlichen Preisverleihung bekommt Jünger hier eine Laudatio, die freilich eher dazu angetan ist, den Streit um seine Person noch weiter anzuheizen.

6. Niederschlag im Werk: Autor und Autorschaft-, Siebzig verweht Da Jünger für die Zeremonie in der Paulskirche keine eigene Rede verfasst hat, gilt meine Aufmerksamkeit der Vorrede zu seiner Blütenlese, die im 22. Band der Sämtlichen Werke veröffentlicht wurde. In der erweiterten Ausgabe von Autor und Autorschaft, 1984 erschienen, hat sich der Goethepreis nicht niedergeschlagen. Anders die Tagebücher Siebzig verweht. Im dritten Band von 1993 werden die Jahre 1981 bis 1985 dargestellt. Auffallig ist, daß Jünger die Preisentscheidung verspätet und wie beiläufig registriert und den Streit selbst komplett ausblendet. Erst drei Monate spä-

„It is characteristic of German journalism and of the weight of the issue that commentary and reporting were not clearly separated." (NEAMAN 1999: 224).

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ter, in einem Eintrag vom 21. November, geht er auf seine Gegner ein (JÜNGER 1993:209-211).

7. Jüngers Konzept von Autorschaft Die Sekundärliteratur sieht den Streit um Jünger im Kontext der innenpolitischen Lage in Deutschland (vgl. NEAMAN 1999: 220-235). Die sozialliberale Koalition, die seit 1969 regiert, kommt 1982 an ihr Ende. Im konservativen Lager wird die Forderung nach einer „geistig-moralischen Wende" aufgebracht und zur Losung Helmut Kohls. In der Kohlära fungiert Jünger dann als „Aushängeschild eines modischen Neokonservatismus" (SEFERENS 1998: 41). Jünger verfolgt die Parlamentsdebatte, die schließlich zur Abwahl Helmut Schmidts fuhrt, im Fernsehen mit Distanz zum politischen Verfahren (JÜNGER 1993: 178 f.).16 Der Solitär wird in der Rezeption als Autor charakterisiert, dessen Dispositionen den damals im politischen Raum relevanten Merkmalen - ,ökologisches Bewusstsein', Individualismus', ,Distanz zur Gesellschaft' durchaus entsprechen (vgl. etwa SCHWILK 1988, SEFERENS 1998). Die Forschung reproduziert damit Jüngers Selbstbild, wie auch umgekehrt solche Zuschreibungen Eingang in Jüngers Werk finden: Was ihm einleuchtet, macht er sich zueigen. All das erklärt nicht, weshalb der Streit um Jünger derart eskalierte. Welche Erklärung bietet Jünger an? Jünger meint in der Debatte zu erkennen, „daß es ihr wenig um Goethe und keinesfalls um Literatur" gehe (JÜNGER 2003: 411). Er widmet sich daher in seiner Rede, quasi im Gegenzug, der Autorschaft „als solcher" (JÜNGER 2003: 411). Sein Aphorismenbuch, auf das er hierbei zurückgreift, spricht von der Initiation in die Kunst, liefert Modelle und bestätigt die eigene Berufung. Dort wie in seiner Rede fokussiert sich die Autorschaftsproblematik auf die Probleme der „Existenz des Autors in unserer Zeit" (JÜNGER 2003: 411; vgl. JÜNGER 1993: 5). Dabei fallen die Asymmetrien - um nicht zu sagen Paradoxien - der Jüngerschen Argumentation ins Auge. Man findet sie auf der Ebene der Wortwahl ebenso wie in der Wahl der politisch-historischen Bezugsgrößen und Bilder. Die Sprechinstanz wechselt dabei zwischen verschiedenen Rollen: Jünger spricht zum einen persönlich', indem er von seiner Mutter, seinem Vater, seinen Brüdern, seinen Freunden, seinen Lektüren erzählt, und er spricht zum anderen ,überpersönlich', indem er etwa überzeitliche Aspekte der Autorschaft diskutiert oder sich als Autor in eine Reihe historischer Leitbilder integriert als „ego in situ", als Zeitzeuge und geschichtlich Handelnder tritt er vor seine

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Jünger kritisiert das politische Handeln, „ein peinliches Kabinett", das den Interessen der Bürger auf falsche Weise dient und keine Gemeinschaft herstellt.

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Zuhörer in der Paulskirche: „Ich habe nicht geahnt, daß ich an diesem ehrwürdigen Ort einmal das Wort ergreifen dürfte." (JÜNGER 2003: 410). Die eigentliche Bezugsgröße in Jüngers Werk ist der Gegner. Ihn trifft er im Medium des Kampfes und auch in der Paulskirche, denn selbst die „Auszeichnung" ist mit „Widrigkeit" verknüpft, und Jüngers ,,bewegte[s] Dasein" und seine Form der ,Beweglichkeit' implizieren Gegnerschaft (JÜNGER 2003: 410). Kühn werden dabei Gegnerschaften ausgeblendet oder harmonisiert, wenn er seinen Lebensweg - als einen Weg vom „Nationalrevolutionär" zum Goethepreisträger - mit dem ,historischen Weg' vom Krieg zum Frieden parallelisiert. In Jüngers Interpretation dieser metonymischen Konstellationen ist die Kriegsgegnerschaft in Soldaten-Kameradschaft (immer schon) aufgehoben. Wenn er aber das Anstößige aus seiner Biographie und Autorschaft herausnimmt, indem er darauf besteht, dass sein Weg weder „Umweg" noch „Irrweg" gewesen sei, darf er nicht mit allgemeiner Zustimmung rechnen (JÜNGER 2003: 410). Ob sich die weltpolitischen Entwicklungen von Versailles bis zum Zeitpunkt der Rede ins Bild eines „langen Marsches, der vom Krieg zum Frieden fuhrt", fassen lässt, sei dahingestellt: Die politischen Wirren der Weimarer Republik, Hitlers Machtübernahme, der Anschluss Österreichs, der Zweite Weltkrieg, dessen Ende die Alliierten herbeigebombt haben, die Vertreibungen aus den Ostgebieten oder die Nachkriegsordnung der beiden großen Blöcke in West und Ost, Kuba und Vietnam oder der Nato-Doppelbeschluss lassen sich nicht in das Bild des Marsches fassen. Die Mobilisierungsvokabel des „Marsches" mit ihrem disziplinierenden und militanten Gestus wird hier in den Dienst einer ahistorischen Sinnstiftung gestellt - angesichts von historischen Kontexten, denen das Merkmal der Stabilität, die „feste Form", fehlt. Zu der vom Autor angesprochenen, auch in der Paulskirche verfehlten „deutschen Einheit unter Zustimmung aller", einem vielleicht utopischen Konstrukt, nimmt Jünger nicht direkt, mit Alternativen argumentierend, Stellung (JÜNGER 2003: 410). Sein Interesse gilt gar nicht dem politischen Raum, wo um Zustimmung zu werben wäre: Nun aber sind wir in andere, größere Bewegungen einbezogen, in denen tief unter der Weltgeschichte die Erde sich zu regen beginnt, und unser bald verflossenes Jahrhundert birgt Überraschungen im Schoß. Stärker denn je wird uns an der Jahrtausendwende das Lutherwort bewusst: „Mit unserer Macht ist nichts getan." (JÜNGER 2003: 411)

Mobilität ist auch hier wieder konstitutiv - und zugleich die Kategorie der Überzeitlichkeit. Aus , seinem' Jahrhundert, an einer Jahrtausendwende, rettet sich die Autorfigur in einen mythischen Bezugsraum. Er überblendet Luthers Psalm „Eine feste Burg ist unser Gott" (1528) mit Mutter Gäa und lässt die dabei entstehenden Widersprüche für sich arbeiten:

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Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit' für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. 17

So beginnt die zweite Strophe von Luthers Psalm. Wenn Jünger nur den einen Vers zitiert, blendet er die Instanz Christus und die heilsgeschichtliche Gewissheit des Reiches Gottes aus. Mit Luther wird (wiederum) eine Metapher des Kampfes bemüht. Als Rezept bietet Jünger Hoffnung an, aber ohne wiederum zu Luthers Modell Stellung zu nehmen, setzt er ein Selbstzitat an den Schluss seiner Argumentation. Der Dichter-Seher liefert ein Weltmodell, ohne explizit Orientierung in der Geschichte zu stiften: Indem man mit „Überraschungen" zu rechnen hat, installiert er sich weiterhin als Seismograph. In Autor und Autorschaft beispielsweise liefert Jünger eine Prognose der „apokalyptischen Vorzeichen" hinsichtlich des ,,Gang[s] der Titanen" und der Technik, des ,,Willen[s] der Erde und des ,,Gelingen[s] der Kernfusion" - auch hier steht am Ende das „Amt des Dichters" (JÜNGER 1984: 53 f.). In seiner Dankrede präsentiert er sich nicht als Redner, sondern mit der Form des Selbstzitats als Leser, als Autor für Leser, für ,seine' Leser, die mit seinem Werk, mit seinem Goethebild vertraut sind. Die Goethe-Spuren in Jüngers Werk sind reich. Konsultiert man Wimbauers Personenregister zu den Tagebüchern, so kommt Goethe auf knapp sechs Spalten Erwähnungen, gefolgt von Bruder Friedrich Georg (fünf Spalten), Nietzsche (drei Spalten), Hitler, Hölderlin und Schiller mit je zwei Spalten; abgeschlagen Dostojewski mit eineinviertel Spalten. Ohne weiteres hätte Jünger seine Blütenlese für die Preisverleihung epigonal aus lauter Bezugnahmen auf Goethe zusammenstellen können. In seiner ganzen Rede spricht Jünger untergründig über das Verhältnis von Macht/Politik und Autorschaft: Er lässt sich von der „Diskussion", die ein veritabler politischer Streit ist, quasi verbieten, über sein „persönliches Verhältnis" zu Goethe zu sprechen. Und wenn er den geliebten Goethe herbeizitiert, dann als den genialen Menschen, dem Napoleon huldigt. Und selbst wenn er sich historisch-politisch, etwa zur Paulskirche, äußert, und wenn er dem unliterarischen Streit ausweichend sich der Autorschaft zuwendet, so holt er sich bei Goethe Bestätigung: „Ich könnte mir denken, daß unser verehrter Alter mir nicht nur über die Schulter blickt, sondern zuweilen auch auf sie klopft, denn ich frage mich ja vor allem, ob er angesichts des heutigen Tages seiner Vaterstadt zustimme." (JÜNGER 2003: 411).

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Der 46. Psalm: „Deus noster reñigium et virtus". Zit. nach LUTHER 1995: 266 f.

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Dem korrespondiert eine Maxime, die Jünger seiner Sammlung Autor und Autorschaft entnimmt: „Man kann nicht vermeiden, daß man angespuckt wird, wohl aber, daß man sich auf die Schulter klopfen läßt." (JÜNGER 1984: 29). Nicht auf die Schulter klopfen lassen darf sich der Autor von gesellschaftlichen Instanzen. Jüngers Gegner haben entweder ihr Fernbleiben von der Feierlichkeit erklärt oder stehen Spalier und Spießrute draußen vor der Paulskirche: Hier wird man angespuckt, eine Ehre, denn der Autor steht nicht unter Naturschutz: Er „ist auf die freie Wildbahn angewiesen und muß ihre Gefahren in Kauf nehmen" (JÜNGER 1984: 11). Im Frankfurter Stadtparlament wurde ihm sein Verhältnis zur Demokratie zum Vorwurf gemacht und die Frage seiner literarischen Qualitäten bewusst ausgeklammert. Positive Bestätigung freilich sucht Jünger nur im innerliterarischen Raum: Wenn zwei Sechzehnjährige sich in der Mansarde oder auf einem Waldgang an dem Autor begeistern, den sie entdeckt haben, so ist das wichtiger als die Tagungs eines Schriftstellerverbandes oder die Verhandlung einer Akademie. (JÜNGER 1984: 446)

Angriffe von außen bestätigen für Jünger den Rang; so münzt er, der die Schwelle zum Ruhm überschritten hat, seine ,Umstrittenheit' um: „Von einem gewissen Format an hat jeder seine Verfolger vom Dienst" (JÜNGER 1984: 40). Wie sehr Jünger die Bereiche des Schöpferischen und des Öffentlichen für sich trennt, wird in den poetologischen Strategien der Tagebücher vollends deutlich. Die Nachricht von der Zuerkennung des Preises wird nicht unter dem Tagesdatum registriert, sondern von einer Landschaftsschilderung substituiert. Dass die Zypressen mit ihren Früchten wie „besternte Lanzen" leuchten, schafft eine Landschaft im Licht des Ersten Weltkriegs und zeugt vom Erlebnisraum eines lebendigen Museums - eines Subjektes zwischen zwei Zeiten. Die Nachricht wird am folgenden Tag nachgetragen, als Fortsetzung einer Traumerzählung, auf den ersten Blick lesbar selbst als Siesta-Traum, doch: „Das war in den Rahmen gefallen, den wir Realität nennen. Aber ich mußte es erst hineinrücken; mir fällt die Sonderung schwer." (JÜNGER 1993: 142). Sonst teilt Jünger wenig zur Preisverleihung mit: Der Streit bleibt, während er geführt wird, ausgeblendet, im Nachhinein werden nur sprechende Kuriosa der zahlreichen Glückwünsche mitgeteilt. 18 Jüngers abschließende Würdigung erfolgt im Selbstzitat. In einem Brief bedankt er sich bei Walter Wallmann für die „schöne und würdige Feier": Gern gedenken meine Frau und ich auch der Nachfeier im kleinen Kreise, in dem wir Ihre Gattin kennen lernen durften. Gefreut hat mich Ihre Tischrede mit der Erwähnung des Füsilier-Regiments 73, das eine Kameradschaft zwischen uns begrün-

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„Post korbweis und durchaus erfreulich" (JÜNGER 1993: 168).

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det, die wir hoffentlich bei Ihrem versprochenen Besuch in Wilflingen bald vertief e n k ö n n e n . (JÜNGER 1 9 9 3 : 1 6 8 f . )

Den Dichter begleitet nicht nur das grundlegende „kommunikationstheoretische Paradox" ( L U H M A N N 1984: 2 0 7 ) , verstanden und missverstanden zu werden. Er laboriert an einem Paradoxon der spezifischen Haltung des Autors zur Gesellschaft: nämlich in der Gesellschaft so zu handeln, als ob man nicht zu ihr gehörte. Jüngers Modell von Autorschaft arbeitet mit der Trennung von Ökonomie und Kunst - von „Macht und Nutzen" einerseits, „Schönheit und Gesang" andererseits (JÜNGER 1984: 5). Nullpositionen und Überdeterminationen, Implikationen und Verschiebungen machen deutlich, dass Jünger sich in einem unauflösbaren Konflikt positioniert. Denn der Einsame, der Anarch, versäumt es nicht, sich immer wieder historisch zu situieren und schneidert sich dabei ein Korsett aus Bezügen, das ihm mit seinen Unscharfen und Ambivalenzen zugleich Bewegungsfreiheit erlaubt. Es ist eine prinzipielle Doppelexistenz, in der Jünger die „sakrale und von den Umständen unabhängige Berufung" beschwört: „der Autor lebt im Volk, im Staat, in der Gesellschaft seiner Zeit und zugleich einsam im Walde, auf Patmos, im Sinai." ( J Ü N G E R 1984: 84). Jüngers Konzept der totalen Distanzierung, keinerlei Partei zu ergreifen ( J Ü N G E R 1984: 3 0 ) , korrespondiert mit Jüngers auffallig häufigen indirekten Positionierungen, sprich Absetzbewegungen. Generell muss Jünger immer wieder auf den Geist der Zeit Bezug nehmen, auf die „Konstellationen unseres dynamischen und der Dichtung ungünstigen Zeitalters" ( J Ü N G E R 1984: 5), um sein Genie zu konturieren. Als Autor sieht sich Jünger in einer „Endzeit" ( J Ü N G E R 2003: 411), und er gehört zu der Spezies, die es genießt zu kämpfen, um eine Spur zu hinterlassen: „Man wird sich fragen: Wie konnte in einer Zeit, die mit Stacheldraht und Splittern begann und in der Spaltung kulminierte, ein Bild, ein Gedicht, eine haltbare Prosa entstehen? Nach Olympia ohne Fackel, doch mit Gepäck." (JÜNGER 1 9 8 4 : 8 5 ) .

Literaturverzeichnis DIETKA, Norbert (1987): Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild der bundesdeutschen Kritik (1945 bis 1985). Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris: Lang. (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Bd. 1010). FRISCH, Max (1976): Tagebuch 1946-1949. In: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Zweiter Band. Hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz. Frankfurt am Main: Suhrkamp. GELLERSEN, Claus (1982): Der „Krieg" der Zitate: In: Frankfurter Rundschau, 2 1 . 8. 1 9 8 2 .

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GOETHEPREIS 1982: Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main an Ernst Jünger am 28. August ¡982 in der Paulskirche. Hg. v. Dezernat Kultur und Freizeit der Stadt Frankfurt am Main. Amt für Wissenschaft und Kunst. Geschäftsstelle des Goethepreises. JÜNGER, Ernst (1984): Autor und Autorschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1988): Leben und Werk in Bildern und Texten. Hg. von Heimo Schwilk. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1993): Siebzig verweht III. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (2003): Einleitung der Dankrede bei der Verleihung des Goethepreises. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 22. Späte Arbeiten. Verstreutes. Aus dem Nachlaß. Vierter Supplementband. Stuttgart: Klett-Cotta. LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp. LUHMANN, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag. LUTHER, Martin (1995): Kirche, Gottesdienst, Schule. Herausgegeben von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel. (= insel taschenbuch 1755). MANN, Golo (1982): Grobe Jagd auf subtilen Jäger. In: Frankfurter Allgemeine, 2 4 . 8. 1 9 8 2 .

NEAMAN, Elliot Y. (1999): A Dubious Past. Ernst Jünger and the Politics of Literature after Nazism. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. RÜHLE, Arnd (1997): Grundsätzliche Debatten zur geistigen Situation der Zeit. In: Frankfurter Allgemeine, 24. 8. 1997. SEFERENS, Horst (1998): „Leute von übermorgen und von vorgestern". Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim: Philo Verlagsgesellschaft.

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Denken auf Leben und Tod Literarische Reflexionen einer ethisch-politischen Problemkonstellation in der Zeit des Totalitarismus (Brecht, Jünger, Bergengruen) Beginnen wir mit Brecht: Brecht hat Ende der zwanziger / Anfang der dreißiger Jahre eine Serie von Stücken geschrieben, bei denen es um den „Umbau" und schließlich die Liquidation eines Menschen im Interesse eines höheren Zwecks geht. Diese Serie beginnt 1926 mit Mann ist Mann, dessen Held der Hafenpacker Galy Gay, zu allem Möglichen „umgebaut" wird, am Ende gar zu einer furchtbaren „menschlichen Kampfmaschine", an der nach einiger Zeit bekanntlich nicht einmal mehr der Erfinder Brecht Freude hatte. Den Höhepunkt erreicht diese Serie ist um 1930 mit den Lehrstücken, also dem Badener Lehrstück vom Einverständnis (1929/30), den Jasager- und Neinsager-Stücken (1929-31) und der Maßnahme (1930/31). Thema dieser zuletzt genannten Stücke ist nicht mehr nur - wie in Mann ist Mann - der „Umbau" eines Menschen, sondern, wie schon angedeutet, seine Liquidierung aus höherem, gemeinschaftlichem Interesse und aus sachlicher Notwendigkeit. Dies sei durch eine kurze Rekapitulation verdeutlicht: In der zweiten Fassung des Jasagers von 1930/31 herrscht in der Stadt, in der das Geschehen beginnt, eine Seuche, die es notwendig macht, Medikamente von einem Ort zu holen, der jenseits eines hohen Gebirges liegt und nur über einen ebenso gefährlichen wie schmalen Gratweg zu erreichen ist. Diese Aufgabe wird von einer Gruppe von Männern übernommen, zu der sich auch ein Knabe drängt. Er erkrankt auf dem Paß so sehr, daß er den Weg nicht fortsetzen kann, und da die übrige Gruppe weder warten noch umkehren kann, muß der Knabe allein zurückgelassen werden, was seinen lang sich hinziehenden Tod bedeutet. Die Gruppe verlangt von dem Knaben, daß er damit einverstanden ist. Dieser äußert Einverständnis, verlangt nun aber, daß man ihm einen rascheren Tod ermöglicht, indem man ihn ins Tal wirft. Damit muß die Gruppe einverstanden sein - und ist es auch. Der Knabe wird ins Tal geworfen. - In der Maßnahme (1930/31) wird von der Parteileitung in Moskau eine Gruppe von fünf Agitatoren nach China geschickt, um dort die Revolution vorzubereiten. Voraussetzung für die dort zu leistende „Arbeit" ist der Umbau der Persönlichkeit zum kaltblütigen

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Agitator, und das heißt: die völlige Preisgabe der Individualität und der bisher das Verhalten bestimmenden ethischen Normen. Durch das Fehlverhalten eines Genossen, der einige dieser Normen und Dispositionen, insbesondere sein Mitgefühl mit leidenden Menschen, nicht abstreifen kann, wird die Gruppe in Gefahr gebracht, was nicht nur ihre Entdeckung, Verhaftung und möglicherweise Vernichtung nach sich ziehen könnte, sondern auch den Ausbruch der Revolution gefährden oder gar verhindern würde. Eine Rettung der vier anderen Agitatoren und eine Sicherung ihrer revolutionsvorbereitenden Arbeit ist nur dadurch möglich, daß dieser unkontrolliert sich verhaltende Genösse, dessen Bild der Polizei durch sein emotional gesteuertes und taktisch unkluges Vorgehen bekannt wurde, getötet und restlos zum Verschwinden gebracht wird. Bekanntlich wird er um sein Einverständnis gebeten, und nachdem er dies gegeben hat, wird er durch einen Schuß in den Kopf getötet und in eine Kalkgrube geworfen. 1 Das Thema dieser Stücke ist also nicht die Tötung eines Feindes, sondern eines Freundes aus höherem Interesse und sachlicher Notwendigkeit. Ihr Spezifikum haben die Stücke darin, daß von dem Todgeweihten das ausdrückliche Einverständnis erwartet und verlangt wird. Der Jasager beginnt deswegen mit der Beschwörung dieses Postulats durch den Großen Chor: Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis. Viele sagen ja, und doch ist da kein Einverständnis. Viele werden nicht gefragt, und viele Sind einverstanden mit Falschem. Darum: wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis. (BRECHT 1988: 49)

Die Ideologie hinter diesen Stücken ist problematisch, aber nicht, weil sie japanischen Ursprungs ist, worauf ein Teil der Brechtforschung zur Salvierung Brechts gerne verweist, sondern weil sie durch und durch von Brechtschem Format und von Brechtscher Konsequenz ist. Glücklicherweise gibt es aber die Brechtforschung, die uns hilft, damit einverstanden zu sein, indem sie all das Unzumutbare, das Brecht von den Todeskandidaten seiner Stücke zumutet, legitimiert. So heißt es im ersten Band des neuen Brecht-Handbuchs·. Eine soziale Gemeinschaft kann dauerhaft nur Bestand haben, wenn im Konfliktfall die einzelnen Glieder dem Ganzen Opfer zu bringen bereit sind, wenn dem Gesamtinteresse Vorrang vor den Partikularinteressen eingeräumt wird: Dieser höchst unbequeme, auch gefahrliche (da missbrauchbare), gleichwohl kaum abweisbare Gedanke liegt dem Lehrstück zugrunde. Wenn der ,große Brauch' im Jasager sowohl die Befragung des Betroffenen als auch seine zustimmende Antwort vorschreibt, so

KNOPF (2000: 141 und 143) bemerkt hierzu, daß in der Maßnahme „glücklicherweise nicht wirklich gestorben" werde, der Tod vielmehr nur inszeniert werde. Das ist völlig richtig, zugleich aber von einer aberwitzigen Logik. Was wäre dann der Inhalt des Stücks, der Brecht dazu bewogen hat, ein Aufführungsverbot zu erlassen? Die angemessene Inszenierung des Todes auf der Bühne?

Denken auf Leben und Tod. Reflexionen einer Problemkonstellation

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in der Absicht, den Befragten zu veranlassen, diesen Grundsatz in voller Bewusstheit anzuerkennen. Die Befragung signalisiert nicht Entscheidungsfreiheit (das Lehrstück thematisiert Freiheit allenfalls im Sinne der Einsicht in die Notwendigkeit); sie gibt dem Betroffenen vielmehr Gelegenheit zu bekunden, dass er berechtigte Ansprüche der Gemeinschaft mit allen persönlichen Konsequenzen anzuerkennen bereit ist. (vgl. BRECHT-HANDBUCH 1/2001: 246)

Das könnte von Ernst Jünger sein, der 1932 in seinem Arbeiter meinte, daß für den von ihm skizzierten Typus des „Arbeiters", der die Aufgaben der neu zu gestaltenden Welt schultern werde, „Freiheit und Gehorsam [...] identisch" seien und daß der Vorgang der Umgestaltung der Welt, der Hekatomben von menschlichen Opfern fordern würde, sich notwendigerweise „unter Zustimmung selbst der Leidenden" vollziehen würde (JÜNGER 1 9 8 1 : 155 und 2 7 4 ) . Es ist aber, wie gesagt, von der neuesten Brechtforschung und will unser Einverständnis für etwas, zu dem bekanntlich die Berliner Schüler, denen das Lehrstück seinerzeit vorgeführt wurde, das Einverständnis nicht geben mochten. Die Konsequenz war, daß Brecht das Jasager-Stück um ein Neinsager-Stück ergänzte. In ihm sagt der Knabe, der allein zurückgelassen und dem Tod preisgegeben werden soll, entschieden „nein", und die Gruppe entschließt sich, ihn zurückzubringen, obwohl in der notleidenden Heimatstadt mit Unverständnis und Hohn zu rechnen ist. Bei der Publikation ließ Brecht anmerken, die beiden Stücke „sollten [!] womöglich [!] nicht eins ohne das andere aufgeführt werden" (vgl. BRECHT-HANDBUCH 1 / 2 0 0 1 : 2 5 2 ) . John Fuegi merkt in seinem Buch Brecht & Co. dazu wiederum an, daß ,JDer Jasager (nicht aber Der Neinsager) in deutschen Schulen innerhalb von sechs Monaten mehr als einhundertmal aufgeführt wurde" (vgl. FUEGI 1 9 9 9 : 3 5 5 ) . Verschiedentlich ist gesagt worden, daß Brecht und Weill, der die Musik zu diesen Schulopern schrieb, ebenso Eisler im Fall der Maßnahme, mit diesen geradezu rituell gestalteten Stücken Nachdenken initiieren und Widerstand provozieren wollten. Ich sehe dies anders: Es ging ihnen nicht darum, Widerstreben zu lehren, sondern Einverstanden-Sein. Dafür spielte die Musik eine große Rolle, wirkte als Narkotikum: Bei der musikalischen Aufführung 1930 in Berlin fand der Jasager ein uneingeschränkt positives Echo, während der Text allein auf massive Kritik stieß, (vgl. BRECHT-HANDBUCH 1 / 2 0 0 1 : 2 4 8 f.). Die Einverständnisthematik findet sich bei Brecht noch in einer anderen Version. In den Stücken geht es vorrangig um das Einverständnis mit der Liquidation eines Menschen durch seine Freunde, Angehörigen oder Genossen und nur nebenbei einmal um das Einverständnis mit dem Lauf der Welt und dem Gang der Geschichte. So gerät im Badener Lehrstück vom Einverständnis (1929) der große „Denkende" in einen lebensgefährlichen Sturm, den er aber überlebt, indem er aus seinem Wagen steigt, sich ganz entkleidet und sich ganz flach auf den Boden legt. Was daraus zu lernen ist, heißt:

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Wenn der Denkende den Sturm überwand, so überwand er ihn, weil er den Sturm kannte und er einverstanden war mit dem Sturm. Aus dem „Denkenden" des Badener Lehrstücks vom Einverständnis wurde in den Geschichten vom Herrn Keuner der Held der 1929 entstandenen Geschichte Maßnahmen gegen die Gewalt In der Zeit der Illegalität kam eines schönes Tages ein Agent der Macht zu Herrn Egge und fragte ihn: „Wirst du mir dienen?" Herr Egge diente im wortlos sieben Jahre, bis der Agent starb. Dann schleifte er ihn aus dem Haus, reinigte die Wohnung und sagte „Nein". So überlebte Herr Egge den Sturm, indem er mit ihm einverstanden tat. Brecht übernahm diese Geschichte von 1929 im Jahr 1938 in die erste Fassung des Leben des Galilei (BRECHT 1995: 469) - : ein Indiz dafür, daß ihn der 1929 imaginierte Vorgang um 1938 stark bedrängte; die wirkliche Geschichte hatte die imaginierte Geschichte eingeholt. Mithin ist es auch nicht verwunderlich, daß es Entsprechungen gibt. Eine profilierte findet sich in Werner Bergengruens Roman Der Großtyrann und das Gericht der 1935 erschien und als ein wichtiges Werk der sogenannten inneren Emigration gilt. Das Geschehen spielt in der italienischen Renaissance in einer Stadt, die von einem Tyrannen beherrscht wird, einem anerkannt tüchtigen Regenten, der nun aber einen Mitarbeiter umgebracht hat, dies aber nicht zugeben will, deswegen den Verdacht auf einen eben Verstorbenen Notablen lenkt und alle Untertanen durch Fahndungsmaßnahmen unter Druck setzt, so auch einen Geistlichen, Don Luca, einen weitabgewandten Bienenzüchter und Pflanzensammler, der jenem Verstorbenen die letzte Beichte abgenommen hat und nun von dem Großtyrannen aufgefordert wird, den Inhalt dieser letzten Beichte zur verraten, obwohl das Beichtgeheimnis dies verbietet und obwohl der Großtyrann ja weiß, daß der Verstorbene den Mord nicht gebeichtet haben kann; es handelt sich bei der Aufforderung zum Bruch des Beichtgeheimnisses um eine reine Terrormaßnahme. Der Priester weigert sich und bekommt drei Tage Bedenkzeit, die er in Qualen verbringt, pendelnd zwischen Todesangst und Gottvertrauen. Am dritten Tag setzt er sich in seinen Garten, der ihm ein Spiegel der göttlichen Ordnung ist. Plötzlich fällt ein Schatten auf ihn: Vor ihm stand einer der Kanzleidiener aus dem Kastell [des Großtyrannen]. Der Bote verneigte sich obenhin und reichte ihm einen Zettel. Don Luca fiel es nicht leicht, die Hand zu heben, um ihn entgegenzunehmen. Er entfaltete das Schreiben und las: „Der Mann, welcher in der Sakristei mit dir gesprochen hat [der Großtyrann], bittet dich, nicht zu vergessen, daß du in einer Bedenkfrist stehst. Es könnte sein, daß sie plötzlich abgelaufen wäre. Hast du ihm nichts zu sagen?" Don Luca antwortete, abgewandten Gesichts und mit brüchiger Stimme: „ N e i n . " (vgl. BERGENGRUEN 1987: 2 5 2 )

Die Frage ist nun nicht so sehr, ob Don Luca den „Sturm" überleben wird; er tut es, der Mordfall wird aufgeklärt, bevor Don Luca weiter behelligt wird. Die

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Frage ist vielmehr, wie die Antwort von Don Luca im Vergleich zu der von Herrn Keuner zu bewerten ist, und ob die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Don Luca und Herrn Keuner auf unterschiedliche ethisch-politische Grundhaltungen zurückzufuhren sind, die möglicherweise verschiedenen „Lagern" zuzuordnen sind. Es scheint, als gäbe es bei dem Marxisten Brecht eine im Vergleich zu dem konservativen und streng religiös orientierten Bergengruen größere Bereitschaft, im Sinne einer „unheroischen Ethik" (vgl. BRECHTHANDBUCH 3/2002: 145) aus Gründen des Überlebens ethische Normen außer Kraft zu setzen oder taktisch zu überspielen. Diese Vermutung bedürfte freilich weiterer Kontrollen, und sie besagte nichts über das tatsächliche Verhalten, sondern gilt nur für die gedankliche Auseinandersetzung dieser Autoren mit Fällen, in denen es auf Leben und Tod geht. Nun aber zu Ernst Jünger. Von ihm gibt es zwei Texte, die thematisch einschlägig sind. Der eine ist das „Traum"-bild Die Klosterkirche, das sich sowohl in der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzen von 1929 als auch leicht verändert - in der zweiten Fassung von 1938 findet: Während einer nächtlichen Feier eines Geheimordens in einer Klosterkirche wird der Anfuhrer einer kleinen separatistischen Gruppe von den orthodoxen Ordensbrüdern plötzlich ergriffen und am Altar auf eine rituelle Weise blitzartig getötet - : ein Vorgang, der den Beobachter „mit ungeheurer Angst erfüllt" und ihn „fortan wie ein zweites Bewußtsein begleitet", sein Leben also auf angsterfüllte Weise doppelbödig macht und verunsichert. Es ist anzunehmen, daß dieses „Traum"bild den Angstträumen entspricht, von denen die Mitglieder extremer politischer Gruppen, rechter wie linker, aufgrund entsprechender Erfahrungen befallen wurden. Und das heißt: Die Liquidierung eigener Leute, die sich abweichlerisch verhalten oder sich einen Fehler zuschulden hatten kommen lassen, gehörte zu den Obsessionen und wohl auch gemeinsam diskutierten Themen jener Gruppen. In Jüngers Klosterkirche wird deutlich, wie beängstigend und verunsichernd dies für die Mitglieder solcher Gruppen war. Der zweite Text ist eine kleine parabelhafte Erzählung, die unter dem Titel Der Steg von Masirah in den Roman Heliopolis eingefugt ist, und zwar in das achte Kapitel des ersten Teils mit der Überschrift „In der Kriegsschule". Die Erzählung dient in den Kursen dieser Kriegs- oder Offiziersakademie als Exempel nicht nur für die Frage, wann Gewalt erlaubt und gerechtfertigt ist, sondern auch für die Frage, in welcher Situation welche Opfer verlangt werden dürfen. Ein erster Ansatz zu dieser Erzählung findet sich in Jüngers Tagebuchaufzeichnengen vom 29. November 1942, also in jenen Kaukasischen Aufzeichnungen, die Jünger während seines erschreckenden Besuchs der östlichen Front- und Vernichtungsabschnitte machte. Ein zweiter Ansatz findet sich in den Tagebuchnotizen vom 21. September 1944. Jünger, aus der Armee entlassen und wegen seiner Nähe zu Widerstandskreisen gefährdet, hielt sich in Kirchhorst auf und befaßte sich intensiv mit dem Studium von Schiffbrü-

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chen. Dabei ist er wohl auch auf die folgende Geschichte gestoßen, von welcher er glaubte, daß sie geeignet sei, eine wichtige Erfahrung - und also auch ein wichtiges Problem - der Zeit zu reflektieren. Die Umsetzung brauchte allerdings noch einige Zeit und war offensichtlich quälend. Am 23. November 1944 meldet das Tagebuch in einem etwas resignativen Ton, daß Jünger die Geschichte beiseite gelegt habe. Schließlich fand sie Platz in dem 1949 erschienen Roman Heliopolis, wo sie, wie schon bemerkt, der ethischen wie taktischen Schulung von Offiziersanwärtern dient und von einem Ausbilder vorgetragen wird: Wir sind in unserem Kursus zur Besprechung einer Aufgabe gekommen, die den Titel ,Der Steg von Masirah' führt. Der Fall ist den Berichten eines alten Reisenden entnommen und modifiziert. Er findet sich in den Tagebüchern des Kapitäns James Riley, der mit seiner Brigantine ,Le Commerce' im Jahre 1815 an der Küste von Mauretanien scheiterte. An diesem unwegsamen und gefährlichen Gestade zieht sich ein alter Handelspfad entlang, der bald über hohe Dünen und Klippen fuhrt. Bei einem Orte, der Masirah heißt, springt das Gebirge halbmondförmig in die See hinaus. An seinem Fuß bricht sich die Brandung, während der Gipfel in die Wolken ragt. Der Stein ist eisenfarben und äußerst glatt. Hier fuhrt der Pfad in halber Höhe die steile Wand entlang - als kaum zwei Handbreit starker Saum, der eben für einen Menschenfuß, für einen Maultierhuf genügt, doch nur bei sicherem und schwindelfreiem Schritt. Das Auge darf sich auf diesem Gange weder abwärts senken zum weißen Kranz der Brecher, von dem es furchtbar angezogen wird, noch darf es sich aufwärts heben zu den Höhen, die der Albatros umkreist. Es muß sich an die glatte Felswand heften, an der die Hand sich tastend hält. Derart in schauerlicher Höhe, spinnt sich der Steg am Klippenrand entlang, in starkem Bogen, dessen Wölbung seewärts gerichtet ist. Er ist nur halb zu sehen, wenn man ihn betritt. Aus diesem Grunde pflegt man dort, wo beim Bogen die Sehne angeheftet wird, zu rasten, um sich zu vergewissern, daß der Steg nicht von der Gegenseite betreten wird. Das nun geschieht, indem man von der Felsenkanzel nach Art der Muezzine einen starken Ruf erschallen läßt. Wenn keine Antwort kommt, darf man die Bahn als frei betrachten und sich auf sie hinauswagen.

[...] Freilich ist das Gestade fast immer einsam und menschenleer. Er grenzt ein unwirtsames und stets bewegtes Meer von wasserlosen Wüsten ab. Daher ist auch kaum anzunehmen, daß jemals dieser Steg von zwei Seiten zu gleicher Zeit betreten wird. Und dennoch liegt Iblis, den Gott verdammen möge, stets auf der Wacht. Er ist der Herr des Zufalls, und bei Allah ist Sicherheit allein. So wird erzählt, daß in alten Zeiten sich das Unwahrscheinliche ereignet hat. Es kamen zwei Karawanen, die eine von Mittag, die andere von Mitternacht auf diesen Abgrund zu. Und beide verabsäumten den Warnungsruf. Sie trafen sich an dem Punkt, an dem der Bogen die höchste Spannung hat. Es heißt, daß jene, die von Süden kamen, aus Ophir Gold brachten. Die anderen, Juden aus dem Maghrib, hatten ihre Tiere mit Salz beladen und waren nach der großen Stadt im Inneren der Wüste unterwegs. Das Kismet wollte es, daß beide Karawanen mit ihren Lasten und Maultiertreibern sich am hohen Mittag auf dem Grat begegneten. Die Führer verhandelten bis zum Beginn der Nacht, zunächst im Guten, sodann mit Drohungen. Dann kam es zum Kampf; sie stürzten sich aufeinander

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u n d rissen sich, ineinander verbissen und v e r s c h l u n g e n in d e n T o d hinab. E s w i r d berichtet, d a ß keiner e n t k o m m e n ist. D e r Lizentiat hielt inne u n d f u g t e d a n n h i n z u : „ S o w e i t geht die E r z ä h l u n g R i leys; w i r n a h m e n sie als U n t e r l a g e f ü r u n s e r e n Fall. A u f diese W e i s e g e w a n n e n wir d a s M o d e l l f u r eine j e n e r scheinbar aussichtslosen L a g e n , aus d e n e n der M e n s c h f ü r sich das R e c h t ableitet durch den a n d e r e n h i n d u r c h z u g e h e n , (vgl. J Ü N G E R 1 9 8 0 : 1 9 1 - 1 9 3 )

Die Frage an die Kriegsschüler lautet nun: Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben? - Bevor die Antwort der Kriegsschüler wiedergegeben wird, sei angemerkt, daß Jüngers Erzählung 1951 in Nordrhein-Westfalen Gegenstand des Abitursaufsatzes war. Am 21. Januar 1951 schrieb Carl Schmitt an Armin Möhler, der damals Jüngers Sekretär war: „übrigens hat Anima [i.e. Schmitts einzige Tochter] vorgestern mit dem schriftlichen Abitur begonnen: erster Tag: Deutsch; großer Klassenaufsatz mit dem Thema. Wie wurden Sie den Fall des Steges von Masirah in Ernst Jüngers Heliopolis, Kapitel In der Kriegsschule beantworten? (vgl. SCHMITT 1995: 94) - In Jüngers Kriegsschule kommen die meisten Kadetten zu dem Befund, daß es nur den Angriff gebe und daß dieser unternommen werden müsse, in der Hoffnung, rasch die Oberhand zu gewinnen und durchzukommen, während der Gegend in den Abgrund stürzt. Nur einer der Kadetten kann eine überzeugende Alternative entwickeln. Bei ihm ergreift Abd-al-Salam, der Führer einer der beiden Karawanen, der „Vater des Heils", die Initiative: A b d - a l - S a l a m e r f a ß t im A u g e n b l i c k e der B e g e g n u n g die G e f a h r . Sie liegt v o r allem darin, d a ß die Spitzen h a n d g e m e i n w e r d e n u n d d a m i t sich im b l i n d e n Z o r n e das T o r des F r i e d e n s zuschließen. D a h e r gebietet er mit lauter S t i m m e , d a ß j e d e r an s e i n e m P l a t z z u b l e i b e n hat. D a n n trifft er die S i c h e r u n g e n , d i e n o t w e n d i g sind. Bei der B e u r t e i l u n g der L a g e g e h t er v o n f o l g e n d e r E r w ä g u n g aus. D e r S t e g ist so breit, d a ß ein Lasttier ihn beschreiten k a n n . D a m i t ist a n z u n e h m e n , d a ß ein M e n s c h a u f i h m vorsichtig u m z u k e h r e n i m s t a n d e ist. A u f diesen G e d a n k e n g r ü n d e t sich die V e r h a n d l u n g , in die er mit T r y p h o n tritt. E r fragt ihn n a c h d e m W e r t e der B e s p a n n u n g und n a c h d e m G e w i n n , den er aus seiner L a d u n g zu ziehen h o f f t . D e r Preis ist h o c h , d o c h stellt er n u r einen Bruchteil des G o l d e s dar, das A b d - a l - S a l a m mit sich f ü h r t . A b d - a l - S a l a m k a u f t T r y p h o n Tiere u n d Lasten ab u n d s c h w ö r t i h m d a ß er d i e S u m m e j e n s e i t s des Steges entrichten wir. D a n n gibt er B e f e h l , d e n Tieren die A u g e n zu v e r b i n d e n , u n d läßt sie in d e n A b g r u n d h i n a b s t ü r z e n . D a s M a n ö ver gelingt. T y p h o n und seine L e u t e k ö n n e n n u n w e n d e n u n d an den A u s g a n g s p u n k t z u r ü c k k e h r e n . A u f diese W e i s e wird der W e g f ü r A b d - a l - S a l a m s K a r a w a n e frei. Sie überschreitet glücklich die T o d e s b a h n . A m Ziel zahlt A b d - a l - S a l a m an T r y p h o n seine Schuld. E r f ü g t ihr n o c h eine B e l o h n u n g hinzu. A u c h läßt er an dies e m O r t z u m D a n k f ü r die E r r e t t u n g aus G e f a h r ein M a l errichten, das z u g l e i c h als W a r n u n g s z e i c h e n f u r d i e Z u k u n f t gilt. (vgl. J Ü N G E R 1 9 8 0 : 1 9 6 f.)

Damit habe ich das Material ausgebreitet: ein halbes Dutzend Geschichten aus der Zeit zwischen 1929 und 1949, denen gemeinsam ist, daß Menschen in eine Situation gebracht werden, in welcher der Tod droht und Rettung nur möglich zu sein scheint durch Prinzipienverrat (Herr Keuner) oder Opferung eines an-

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deren Menschen, gar eines Freundes ([Jasager) oder Genossen (Maßnahme). Die Frage ist nun: Wie sind diese Geschichten in zeitdiagnostischer Hinsicht zu verstehen und auszuwerten? Dazu einige Überlegungen. Zunächst einmal: Die Problematik, um welche diese Geschichten kreisen, ist keine neue und auch keine ganz und gar zeitspezifische. Als Carl Schmitt im November 1949 Heliopolis gelesen hatte, schrieb er an Ernst Jünger: Lieber Herr Jünger! Mit vielem Dank bestätige ich den Empfang Ihres stattlichen neuen Buches Heliopolis. Über die freundliche Widmung habe ich mich besonders gefreut. Den in ihr ausgesprochenen Wunsch erwidere ich aus ganzem Herzen. Das Buch habe ich natürlich gleich verschlungen. Ein Stück, Ortners Erzählung, ist ein Meisterstück, das manche Höhepunkte E.T.A. Hoffmanns überragt. Der ganze fabelhafte Ansatz einer moraltheologischen Problemstellung In der Kriegsschule hat mich fast überwältigt. Er enthält Elemente einer neuen, den Roman übersteigenden Kunstform, für die auf der einen Seite die Jahrhunderte alte Erörterung von Problemen wie dem des Brettes des Karneades, auf der andern die Weltdiskussion über Vitoria und das Problem der Conquista die Pole abgeben k ö n n t e n , ( v g l . SCHMITT / JÜNGER 1 9 9 9 : 2 4 1 )

Hier interessiert nun das Brett des Karneades, eine Exempelgeschichte, die auf den Philosophen Karneades von Kyrene (214-129 v. Chr.) zurückgeht, einen Vertreter der These, daß töricht sei, wer seine Kraft nicht einsetze, um sein Glück zu erreichen. Seit der Antike dient diese Geschichte dazu, die ethische Problematik einer Ausnahmesituation auf Leben und Tod zu illustrieren und das Recht des Stärkeren zu legitimieren. Der entsprechende Vorgang ist in Ciceros De officiis III, 23,89 und in De re publica III, 20 überliefert; die zweitgenannte Stelle ist der locus classicus, der hier zitiert sei: Er sagte nämlich: Es versteht sich, daß es zur Gerechtigkeit gehört, einen Menschen nicht zu töten und einen Fremden nicht einmal anzurühren. Was wird nun der Gerechte tun, wenn er etwa Schiffbruch erlitten und ein Schwächerer als er ein Brett ergriffen hat? Wird er ihn nicht von dem Brett herunterstoßen, um sich selbst darauf zu schwingen und sich mit seiner Hilfe zu retten, zumal er mitten auf dem Meere keinen Zeugen um sich hat? Ist er weise, so wird er es tun; denn tut er es nicht, so muß er sich selbst zugrunde. Will er aber lieber sterben, als einem anderen Gewalt antun, so ist er allerdings gerecht, aber ein Tor, daß er sein eigenes Leben nicht rettet, während er ein fremdes schont.

Ein uraltes Thema also, aber doch auch eines von großer Aktualität! Nicht von ungefähr hatte Schmitt seinen Freund Jünger schon einmal auf Karneades hingewiesen: Im März 1945 hatte er diesem zu seinem 50. Geburtstag gratuliert und zwei zeitgemäße Geschenke angekündigt: Dazu möchte ich Ihnen wenn Sie sie nicht schon besitzen, eine große 27(!) bändige Enzyklopädie aus den Jahren um 1780 „Du Naufrage" besorgen, die ein ungeheures Material zu Ihrem Thema enthält. Schließlich ein schönes, in aufgelegter Kreide radiertes Bild vom „Brett des Karneades", dem Urbild aller moralisch unlösbaren Probleme der sogenannten Ausnahmesituationen.

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Ich wende die Charakterisierung auf die referierten Geschichten an: Es sind Geschichten, die von Zuständen handeln, in welchen das überlebensnotwendige Handeln problematisch wird, weil es mit elementaren ethischen Normen kollidiert. Das ist, wie gesagt, weder neu, noch zeitspezifisch, aber doch charakteristisch für die Zeit des Totalitarismus: Zu ihr gehörte nämlich, wie Sebastian Haffner und andere deutlich gemacht haben, daß sie die Menschen unversehens in Situationen brachte, in denen es um „letzte Gewissensentscheidungen" (vgl. HAFFNER 2 0 0 1 : 1 2 ) ging und daß Überleben unter Umständen nur durch einen mörderischen Verrat und die Vernichtung der eigenen moralischen Person möglich war. Daher das große Interesse an solch kasuistischen Geschichten. Nun sind die referierten Geschichten aber nicht alle nur Wiederholungen von Karneades, sondern zum Teil auch bemerkenswerte Variationen. Dies gilt vor allem für Brecht, für den Jasager und die Maßnahme. Ging es bei Karneades um das nackte Überleben, und das heißt: um die Kollision des Selbsterhaltungsimperativs und des Tötungsverbots, so wird die Moral bei Brecht anderen Zielen geopfert. Ans Ziel des Marsches gelangen oder glücklich den Verfolgern entkommen können die einen nur, wenn sie den Willen zum Erfolg absolut setzen und den hinderlichen Freund oder Genossen töten. Das ist noch Karneades, wenn auch in einer zeitspezifischen Verschiebung des Problems, die durch die totalitären politischen Bewegungen der Moderne induziert war. Deutlich über Karneades hinaus geht Brecht aber, indem er von dem, der in einer solch lebensbedrohlichen Situation geopfert werden soll, das Einverständnis verlangt. Dies scheint mir eine neue, zeitspezifische Variante von Karneades zu sein, die eine entsprechende Ethik und - im Falle der Maßnahme - auch eine entsprechende Geschichtsphilosophie zur Voraussetzung hat. Und dem entspricht wiederum, daß Brecht - anders als Jünger - nach einem Ausweg gar nicht sucht, sondern im Jasager und erst recht in der Maßnahme eine Ästhetik des Einverständnisses mit hochgradig rituellem Charakter entwickelt, pointiert und - zunächst einmal unter inhaltlichen Aspekten - kritisch gesagt: salbungsvolle Sprüche, gemeinschaftliche Gesten, ziel- und siegesbewußte Phrasen im besten Parteitagsdeutsch, dazu Passionsmusik, die zugleich Agitationsmusik ist: D I E D R E I AGITATOREN

S o fragen wir dich: bist du einverstanden?

Pause. D E R JUNGE G E N Ö S S E

Ja. D I E D R E I AGITATOREN

Wohin sollen wir dich tun, fragten wir ihn. D E R JUNGE G E N Ö S S E

In die Kalkgrube, sagte er.

Helmuth Kiesel

190 DIE DREI AGITATOREN

Wir fragten: Willst du es allein machen? DER JUNGE GENÖSSE

Helft mir. DIE DREI AGITATOREN

Lehne deinen Kopf an unsern Arm Schließ die Augen. DER JUNGE GENÖSSE

unsichtbar.

Er sagte noch: Im Interesse des Kommunismus Einverstanden mit dem Vormarsch der proletarischen Massen Aller Länder Ja sagend zur Revolutionierung der Welt. DIE DREI AGITATOREN

Dann erschossen wir ihn und Warfen ihn hinab in die Kalkgrube. Und als der Kalk ihn verschlungen hatte Kehrten wir zurück zu unserer Arbeit. DER KONTROLLCHOR

Und eure Arbeit war glücklich [...]

Mit dem Verweis auf die „Interessen des Kommunismus" und auf den „Vormarsch" der proletarischen Massen ist nun die Voraussetzung für dieses Denken des Todes und für diese Ästhetik des Einverständnisses genannt: eine Ideologie, die mit solchen Heilsversprechungen aufwartete, daß die Instrumentalisierung, die Opferung des Einzelnen in solchem Maß gerechtfertigt zu sein schien, daß sogar sein Einverständnis erwartet, ja vorausgesetzt werden durfte. Dies ist, wie ich vermute, nicht spezifisch Kommunistisch, sondern Gemeinbesitz der Mobilisierungsbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch in Jüngers Arbeiter, der diese Bewegungen reflektiert und affirmiert, ist ja, wie schon zitiert, einmal davon die Rede, daß die Menschenmassen, die unter dem Umbau der Welt zu leiden haben, in dieses Leiden einwilligen sollten. Es scheint mir also nicht spezifisch Kommunistisch zu sein. Brecht hat die Idee der Opferung mit Einverständnis nur besonders radikal gefaßt, besonders konsequent durchdacht und - zusammen mit Eisler - besonders eindrucksvoll, ja bewundernswürdig gestaltet. Die Maßnahme ist aufgrund ihrer ideologischen und künstlerischen Konsequenz ein Stück, das trotz seines prekären Inhalts Bewunderung verdient. Ernst Jünger, von dem man etwas Ähnliches durchaus hätte erwarten können, hat dergleichen nicht geschrieben, und dafür gibt es, wie ich meine, drei Gründe: Zum ersten die Abkehr von der Mobilisierungsidee nach dem Arbeiter, die wohl durch die Beobachtung der deutschen Mobilisierung unter Hitler motiviert war, jedenfalls zeitlich mit ihr zusammenfiel; sie dürfte in ihm das Bewußtsein der Gefährlichkeit von Mobilisierungs- und Opferideen so weit gesteigert haben, daß er davor bewahrt war, die äußerste, von Brecht gezogene Konsequenz in affirmativer Weise darzustellen. Zum zweiten ein tiefsitzender humanistischer Widerstand gegen die Instrumentalisierung des Menschen,

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seiner moralischen Persönlichkeit und seiner Lebenszeit. Hierin m a g ihm Brecht letztlich nicht unähnlich gewesen sein, doch setzte er diesen Humanism u s in jenen Stücken außer Kraft und sei's auch nur aus experimentellen Gründen. Z u m dritten einen ebenso tief sitzenden Widerstand speziell gegen die zweckdienliche Tötung eines Freundes, Kameraden oder Genossen. Dies konnte - vermutlich auch aufgrund der militärischen Tradition, in der Jünger stand - keine Jüngersche Option sein. Dies sind zugegebenermaßen keine sehr starken Gründe für den erstaunlichen Umstand, daß Kameades von Brecht und von Jünger so unerwartet unterschiedlich aktualisiert wurde.

Literaturverzeichnis BERGENGRUEN, Werner (1987): Der Großtyrann und das Gericht. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. BRECHT, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. - Band 3 (1988): Stücke 3. Berlin und Weimar: Aufbau/Frankfurt am Main: Suhrkamp. - Band 18 (1995): Prosa 3. Berlin und Weimar: Aufbau/Frankfurt am Main: Suhrkamp. BRECHT-HANDBUCH: in fünf Bänden. Hrsg. von Jan Knopf. - Band 1 (2001): Stücke. Stuttgart/Weimar: Metzler. - Band 2 (2002): Prosa, Filme, Dramen. Stuttgart/Weimar: Metzler. FUEGI, John (1999): Brecht & Co. Biographie. Autorisierte, erweiterte und berichtigte deutsche Fassung von Sebastian Wohlfeil. Berlin: Ullstein. HAFFNER, Sebastian (2001): Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914— 1933. Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt. JÜNGER, Ernst (1981): Sämtliche Werke. Band 8: Der Arbeiter. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst (1980): Sämtliche Werke. Band 16: Heliopolis. Stuttgart: Klett-Cotta. JÜNGER, Ernst / SCHMITT, Carl (1999): Briefe 1930-1983. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Stuttgart: Klett-Cotta. KIESEL, Helmuth (1999): Die Maßnahme im Licht der Totalitarismustheorie. In: Maßnehmen: Bertolt Brecht/Hanns Eislers Lehrstück Die Maßnahme. Hrsg. von Inge Geliert, Gerd Koch, Florian Vaßen. Berlin: Theater der Zeit; 83-100. KNOPF, Jan (2000): Bertolt Brecht. Stuttgart: Reclam. SCHMITT, Carl (1995): Carl Schmitt - Briefwechsel mit einem Schüler. Hrsg. von Armin Möhler in Zusammenarbeit mit Irmgard Huhn und Piet Tommissen. Berlin: Akademie.

TOM KINDT / HANS-HARALD MÜLLER

„Es ist nicht die ,mittlere Linie', die wir einschlagen wollen..." Ernst Jünger und die Moderne der Zwischenkriegszeit

Das Werk Ernst Jüngers hat sich nach der Wende zum 21. Jahrhundert schneller von uns entfernt als zu vermuten war. Die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Œuvre, die nicht zuletzt im vorliegenden Sammelband zum Ausdruck kommt, ist kein Gegenargument, sondern eine Bestätigung der These, daß sein Werk die Zeitgenossenschaft eingebüßt und historische Züge angenommen hat. Die Ursache dafür ist nicht etwa darin zu suchen, daß Jüngers Werk nicht der Moderne angehörte. Im Gegenteil: Jünger ist ein eigenwilliger, aber zugleich typischer Repräsentant einer spezifisch deutschen literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts, die uns nicht mehr viel zu sagen hat. Wie ist dieser Typus der literarischen Moderne zu beschreiben? Wir ersparen uns hier allgemeine Erwägungen zum Begriff der literarischen Moderne und gehen medias in res. Karl-Heinz Bohrers groß angelegter Versuch, Jüngers Frühwerk einer Ästhetik des Schreckens aus der literarischen Dekadenz herzuleiten und es auf diesem Wege der ,klassischen europäischen Moderae' zu akkomodieren, ist auf eine lehrreiche Art gescheitert (vgl. BOHRER 1978). Jüngers Verhältnis zur literarischen Tradition nämlich erwies sich als ein grundsätzlich instrumentelles; Jünger beerbte von der völkischen Literatur über den Expressionismus bis zur Dekadenz nahezu die gesamte literarische Tradition. Eine größere Anziehungskraft als Bohrers Ästhetik des Schreckens übte auf die Jünger-Forschung in den neunziger Jahren die Entdeckung von unheimlichen Nachbarschaften' aus, die zwischen politisch und ästhetisch verschiedenen Gruppierungen zugehörigen Autoren der Zwischenkriegszeit bestanden (vgl. LETHEN 1987, 1994 und 1995). Derlei Nachbarschaften ermöglichten es, * JUNGER 2001 [1926]: 170.

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Tom Kindt / Hans-Harald Müller

Jünger unter dem Leitbegriff einer ,kalten Moderne' mit avantgardistischen Autoren wie Brecht, Benn u. a. zu vereinen. Diese Entdeckung war allerdings schon in den dreißiger Jahren gemacht worden, und überraschend war sie auch nur für jene Literarhistoriker, deren politisch verengter Blick an jene denkstrukturellen Gemeinsamkeiten der Literaturepoche nicht heranreichte, die Martin Lindner in seinem hervorragenden Buch über das Leben in der Krise unter dem Begriff der ,Lebensideologie' präzise herausgearbeitet hat (vgl. LINDNER 1994). Gleichwohl war die Entdeckung jener ,coincidentia oppositorum' am Ende der Weimarer Republik so erfolgreich, daß sie unter dem Begriff der „Austauschdiskurse" (GANGL/RAULET 1994) und des „philosophischen Extremismus" (BOLZ 1989) auch auf andere Gebiete ausgedehnt wurde. Die Kehrseite dieses Erfolgs war dann freilich eine extrem einseitige historische Konstruktion der deutschsprachigen literarischen Moderae der Zwischenkriegszeit. Gegenüber den Spielarten einer hybriden lebensideologischen Moderne geriet die Strömung der Avantgarde fast völlig in Vergessenheit, die jene Lebensideologie von Beginn an scharf kritisiert und sich von deren zynischer Anthropologie deutlich distanziert hatte (vgl. hierzu KINDT/MÜLLER 1995). Um Jüngers Position im Feld der Avantgarde der Zwischenkriegszeit zu bestimmen, werden wir im folgenden die verschiedenen anthropologischen Positionen genauer zu charakterisieren suchen, die für die literarische Moderne zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg bestimmend waren. Unser Augenmerk kann dabei nicht der Entwicklung der konträren Auffassungen oder den Auseinandersetzungen zwischen ihren Vertretern gelten, zu denen es - soweit wir sehen - kaum gekommen ist. Die fundamentale Opposition innerhalb der literarischen Anthropologie der Zwischenkriegszeit werden wir anhand der gegensätzlichen Antworten auf drei Fragen charakterisieren, die für die Schriftsteller zwischen 1918 und 1933 von entscheidender Bedeutung waren: die Fragen nach dem Verhältnis des Menschen (1.) zum Tier, (2.) zu Wissenschaft und Technik und (3.) zum Mitmenschen und zur Gesellschaft.1

1. Mensch und Tier In kaum einem Bereich zeigt sich die Kluft zwischen hybrider und kritischer Moderne so deutlich, wie in den Stellungnahmen zum Verhältnis von Mensch und Tier, die in fiktionalen und essayistischen Texten der Zwischenkriegsjahre zu finden sind. Vorherrschend blieb innerhalb der Avantgarde dieses Zeit-

Die Rekonstruktion der Jüngerschen Positionen zu den behandelten Fragen folgt MÜLLER 1986.

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raums eine Position, die vor dem Hintergrund der lebensphilosophischen Kritik an der Idee des ,animal rationale' bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hoch im Kurs stand - die Auffassung, daß zwischen Mensch und Tier im Wesentlichen kein Unterschied bestehe. Der Mensch, so wurde in der Nachfolge Nietzsches statuiert, ist das Tier, das zu seinem eigenen Schaden vergessen hat, daß es eines ist. Alle Versuche, eine grundsätzliche Differenz zwischen Mensch und Tier aufzuzeigen, verfehlten nach dieser Sichtweise das eigentliche menschliche Wesen; die Vernunftbegabtheit des Menschen, seine kreativen und sozialen Kompetenzen stellten Unterscheidungsmerkmale dar, die der menschlichen Tier-Natur äußerlich, wenn nicht gar gefahrlich seien.2 Eine solche Position, hinter der freilich keine analytische Intention, sondern ein kulturkritischer Impetus stand, zeigte sich beispielsweise in den seit der Jahrhundertwende wohlfeilen Klagen darüber, daß der moderne Mensch seine natürliche Robustheit eingebüßt habe. Jünger stimmte in den Briefen eines Nationalisten in sie ein: „Das Leben wird immer zarter und verletzlicher. Die Amöbe können wir noch spalten und dem Molch ein Bein abschneiden, das macht diesen Tieren nichts. Ja, selbst der Affe verträgt noch einen Axthieb, den der Mensch gewiß nicht mehr verträgt." (JÜNGER 1927: 2, 8). Das Ideal des Tier-Menschen lag aber auch den zahllosen Regressionsphantasien zugrunde, die in der Literatur der Zwischenkriegszeit gestaltet wurden - eines der bekanntesten Beispiele dafür sind Benns Gesänge, die der Sehnsucht Ausdruck geben, „daß wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor" (BENN 1988 [1913]: 47); anzutreffen sind sie beispielsweise aber auch in den zahlreichen ,Untergangsgedichten' Brechts, wie der Ballade Vom ertrunkenen Mädchen, die den Prozeß den Reintegration von Menschen in den Naturkreislauf beschreiben (vgl. dazu zuletzt M Ü L L E R / K I N D T 2002: 46-62). Jüngers Frühwerk feiert die Tier-Natur des Menschen in ständig wechselnden Beleuchtungen und Szenerien. ,,[U]nter immer glänzender polierter Schale, unter allen Gewändern, mit denen wir uns wie Zauberkünstler behängten", heißt es beispielsweise in Der Kampf als inneres Erlebnis, „blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der Steppe" (JÜNGER 1922: 3). Den Weltkrieg deutete Jünger in diesem Sinne als Befreiung des Menschen aus den Fesseln der Zivilisation: Zwischen 1914 und 1918 „entschädigte sich der wahre Mensch in rauschender Orgie fur alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch die Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft" (JÜNGER 1922: 3).3 An einer solchen Deutung seines Kriegserlebnisses sollte Jünger ebenso beharrlich

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Zum Gesamtzusammenhang vgl. auch RIEDEL 1996. Steffen Martus spricht mit Blick auf Jüngers Frühwerk zu Recht von einer „Anthropologie der Moderne aus dem Geist des Krieges" (MARTUS 2001: 24).

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festhalten wie an der aus ihr abgeleiteten Überzeugung, daß der Krieg das beste Mittel sei, die Tier-Natur des Menschen zu restituieren. Auch das Bewußtsein für die Bedeutung der Technik im Weltkrieg ließ Jünger von dieser Überzeugung nicht abrücken. Der Krieg galt ihm weiter als reinste Emanation des Lebens (vgl. etwa JÜNGER 1987 [1929]: 128); die Modernisierung deutete er kurzerhand vom entscheidenden Hemmnis zum Motor der menschlichen Reanimalisierung um. „Der Mensch in den Städten beginnt einfacher, das heißt [...] tiefer zu werden", so Jünger im Abenteuerlichen Herzen: „Er wird zivilisierter, das heißt barbarischer. Die Natur ergreift auf seltsame Weise wieder Besitz von ihm." (JÜNGER 1987 [1929]: 69). 4 Angesichts der Vielzahl von Schriftstellern der Zwischenkriegszeit, die sich auf unterschiedlichste Weise für die Wiederherstellung oder Entfesselung der Tier-Natur des Menschen einsetzten, darf nicht übersehen werden, daß ihnen ein Kreis von Autoren gegenüberstand, der die Annahme einer Sonderstellung des Menschen in der Welt zu verteidigen suchte. Explizit formuliert wurden solche traditionellen Position eher selten. Eine Ausnahme stellen hier zweifellos Ernst Weiß' Essays der 1920er Jahre dar, die unablässig um den Gedanken kreisen, daß der Mensch trotz seiner Begrenztheit und Vergänglichkeit das Bewußtsein für seine „Gottähnlichkeit" (WEISS 1982 [1922]: 173 f.) nicht verlieren dürfe. 5 Aus diesem Bewußtsein galt es Weiß zufolge „praktische Schlüsse zu ziehen und [...] nicht aus dem prähistorischen Menschen und seiner fragwürdigen Entwicklung" (WEISS 1982 [1925]: 85). Zumeist zeigte sich die Ablehnung der Konzeption der Tier-Natur des Menschen jedoch eher mittelbar, etwa in einem spezifischen Typus von Tierbildern, der im Umkreis des literarischen Expressionismus entstand (vgl. hierzu zuletzt ANZ 2002: 9396). Im Gegensatz zu den Verherrlichungen des Tiers, die für die hybride Moderne charakteristisch waren, sollten diese Tierdarstellungen nicht die Einheit des Menschen mit der Natur veranschaulichen, sondern dessen Erniedrigung durch die Gesellschaft. Tierbilder dieser Art, wie Kafka sie in seinen Texten zeichnete (vgl. FINGERHUT 1969), entwickelten keine Visionen der Zukunft; sie dienten vielmehr der Kritik an einer Gegenwart, die dem Menschen eine ihm angemessene Existenzform versagte.

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Vgl. dazu auch die im gleichen Zusammenhang stehende Bemerkung: „Ohne Zweifel ist der Mensch viel tiefer als er sich träumen läßt, vielleicht sogar ebenso tief w i e d a s T i e r " , JÜNGER 1 9 8 7 [ 1 9 2 9 ] : 79.

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Zum Werk von Ernst Weiß vgl. KINDT 2004.

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2. Mensch, Wissenschaft und Technik Kennzeichnend für die hybride Moderne der Zwischenkriegszeit war mit der Infragestellung des ,animal rationale' eine radikale Ablehnung der Wissenschaft und eine dämonisierende Deutung der Technik. Die Entfremdung vom Leben, die Nietzsche in seiner „unzeitgemäßen Betrachtung" über den Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben der professionalisierten Geschichtsschreibung attestiert hatte, war den Vertretern der Lebensideologie zufolge für die Wissenschaften insgesamt charakteristisch. Nur selten begnügte sich die Kritik dabei mit dem Vorwurf, daß die Erkenntnisse der Wissenschaften für das Leben ohne Relevanz seien. Gemeinhin waren die Angriffe grundsätzlicher und schärfer; sie klagten die Wissenschaften generell der Lebensfeindlichkeit an.6 Wie ein Kompendium der wissenschaftskritischen Stereotype der hysterischen Moderne liest sich Benns Einakter Ithaka von 1914. Hier schleudern der Assistenzarzt Rönne und zwei Studenten ihrem Pathologieprofessor Albrecht all die Einwände entgegen, die in der kommunen NietzscheRezeption gegen die Wissenschaft vorgebracht wurden. „Das Gehirn ist ein Irrweg", so faßt Rönne seine Warnungen vor den lebenszersetzenden Folgen der Wissenschaft schließlich zusammen: „Alle meine Zusammenhänge hat es mir zerdacht. Der Kosmos rauscht vorüber. Ich stehe am Ufer: grau, steil, tot. Meine Zweige hängen noch in ein Wasser, das fließt; aber sie sehen nur nach Innen, in das Abendwerden ihres Blutes, in das Erkaltende ihrer Glieder." ( B E N N 1990 [1914]: 25 f.). Wie für viele Intellektuelle der Zeit stellten auch für Jünger die Wissenschaften den Kulminationspunkt eines Degenerationsprozesses dar, der, wie er im Arbeiter festhielt, schlichtweg ein „Hochverrat des Geistes gegen das Leben" (JÜNGER 1932: 40) war. Das Studium der Zoologie, das er 1926 nach nur zweieinhalb Jahren enttäuscht abbrach, scheint Jünger in seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Wissenschaften bestätigt zu haben (vgl. dazu JÜNGER 1927: 2). Mit Blick auf die Technik kam es seit Mitte der zwanziger Jahre bei vielen Vertretern der hybriden Moderne zu einer grundlegenden Umorientierung: War die Technik zuvor, sofern man sie überhaupt als Phänomen sui generis wahrgenommen hatte, als Ursache von Entfremdung verstanden worden, so avancierte sie nun zum Gegenstand hyperbolischer Lobpreisungen, wie Brecht sie in seinem Gedicht 700 Intellektuelle beten einen Öltank an treffend parodierte: „Gestern warst Du noch nicht da, / Aber heute / Bist nur Du mehr." ( B R E C H T 1988 [1929]: 174). Wie Lindner überzeugend gezeigt hat, fiel diese Neubewertung der technischen Modernisierung nicht mit einem Umbruch in der ideologischen Orientierung der Zwischenkriegszeit zusammen. Denn sowohl den teils vitalistisch, teils idealistisch begründeten Vorbehalten gegen-

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V g l . z u m Z u s a m m e n h a n g KINDT/MÜLLER 2 0 0 4 .

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über der Technik vor 1925 als auch der forcierten Bejahung der Modernisierung in den Folgejahren lag die Ausrichtung am Leitwert ,Leben' zugrunde (vgl. L I N D N E R 1994: 167). Auch Jüngers Überlegungen zur Technik prägt weitgehend die für die hysterische Moderne charakteristische Unfähigkeit zu einer nüchternen Einschätzung technischer Innovationen. In seinem Frühwerk stand einer Auseinandersetzung mit der technischen Modernisierung das Bemühen im Wege, zu einer heroischen Interpretation des Weltkriegs zu gelangen. Erst als er um 1923 den Versuch einer Rekonstruktion seines individuellen Kriegserlebnisses zugunsten des Vorhabens aufgab, das politische Vermächtnis des Weltkriegs zu bestimmen, war Jünger auch in seinem literarischen Werk zu einer Neubestimmung der Rolle der Technik in der Lage. Nach einem rasanten Re-Interpretationsprozeß galt ihm die Technik nicht mehr als das Element, das eine heroische Interpretation des Krieges verhinderte, sondern als das effektivste Instrument des ,Willens zur Macht' (vgl. J Ü N G E R 1925: 66). Jünger konnte nun im Interesse des ,Lebens' fordern, „daß man der Zivilisation nicht in die Zügel fallen darf, daß man im Gegenteil Dampf hinter ihre Erscheinungen setzen muß" ( J Ü N G E R 1987 [1929]: 59 f.).7 Neben den kategorischen Stellungnahmen zu Wissenschaft und Technik aus dem Umkreis der Lebensideologie finden sich innerhalb der Avantgarde der Zwischenkriegszeit wesentlich differenziertere Betrachtungen der beiden Gesellschaftsbereiche. In den Reflexionen über die Wissenschaft, wie sie etwa in Brochs oder Musils Werken aus den 1920er anzutreffen sind, wird beharrlich vor dem innerhalb der hybriden Moderne verbreiteten Kurzschluß gewarnt, die evidenten Fehlentwicklungen innerhalb der Wissenschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum Anlaß für deren pauschale Verurteilung zu nehmen. Die Einwände gegen den Rationalismus seien nicht als Einwände gegen die Rationalität als solche mißzuverstehen. An die Stelle des Versuchs, zu einem prinzipiellen Urteil über den Sinn oder Unsinn szientifischen Erkennens zu gelangen, sollte nach Auffassung der kritischen Moderne eine vergleichenden Untersuchung der verschiedenen menschlichen Zugangsweisen zur Welt treten, ihrer jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen, ihrer wichtigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Wie musterhaft in Musils Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind deutlich wird, erschien die lebensideologische Wissenschaftskritik vor dem Hintergrund entsprechender Untersuchungen als Verwirrung über die Geltungsansprüche der Wissenschaft und Verabsolutierung der Zielsetzungen anderer Bereiche wie der Literatur oder der Religion. Musil blickte in seiner Spengler-Rezension von 1921 mit Argwohn auf die Tendenz,

7

Z u J ü n g e r s S i c h t d e r T e c h n i k v g l . a l l g e m e i n SEGEBERG 1 9 8 9 u n d 1 9 9 4 .

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daß man bis zum Extrem skeptisch in ratione ist (also gerade gegen das, was nichts andres hat als daß es wahr ist!), dagegen unerhört gläubig gegen alles, was einem gerade einfällt, daß man die Mathematik bezweifelt, aber an kunsthistorische Wahrheitsprothesen glaubt wie Kultur oder Stil, daß man trotz Intuition beim Vergleichen und Kombinieren von Fakten das gleiche macht, was der Empirist macht, nur s c h l e c h t e r , n u r m i t D u n s t statt d e r K u g e l s c h i e ß t . (MUSIL 1 9 7 8 [ 1 9 2 1 ] : 1 0 5 5 ) 8

In der Beurteilung der Technik grenzten sich die Vertreter der kritischen Moderne in entsprechender Deutlichkeit von den Positionen der hysterischen Moderne ab. Für sie stand früh fest, daß in der Teclinikskepsis der ersten Hälfte der zwanziger Jahre und dem Technikkult der zweiten Hälfte eine Grundhaltung zum Ausdruck kam, daß also die literarische Maschinenstürmerei ab 1925 eine Fortsetzung des Vitalismus mit anderen Mitteln darstellte. Weiß verdeutlichte diese Überzeugung in seinem Essay Das Unverlierbare, nicht ohne freilich zugleich Widerspruch gegen die Modernisierungseuphorie der Zeit anzumelden: Sollen wir wie die Tiere leben, stets auf der Suche nur nach Nahrung, Begattung, Schlaf? [...] Was soll uns [...] Technik und Zivilisation? Technisch vollendet ist das ,niederste' Tier viel mehr, als der höchste Mensch es j e sein wird, aber nicht das N o t w e n d i g e d e s T i e r e s t u t u n s n o t . (WEISS 1 9 8 2 [ 1 9 2 4 ] : 7 5 )

Der Haltung zur Modernisierung, die von der hybriden Moderne gepredigt wurde, suchte die kritische Avantgarde eine Deutung der Technik entgegenzustellen, die diese nicht als Schicksal, sondern als Instrument des Menschen verstand. Die Wirkung solcher Versuche einer Entdramatisierung der Technikdebatten in der Weimarer Republik blieb freilich gering.

3. Mensch, Mitmensch und Gesellschaft Die kontrastierenden Anthropologien in der Literatur der Zwischenkriegsjahre schlugen sich nicht zuletzt in grundlegend divergierenden Positionen zu der Frage nieder, wie ein Zusammenleben von Menschen möglich sein und geregelt werden könne. Für die Vertreter der hybriden Moderne ist mit Blick auf dieses Problem ein Verzicht auf ethische Reflexionen charakteristisch, der sich aus ihrer Annahme eines durch das Leben selbst gestifteten umfassenden Seinszusammenhangs ergibt, in dem alles Geschehen aufgehoben ist. Vor dem Hintergrund einer solchen Vorstellung erübrigte sich der Streit über verschiedene moralische Maßstäbe für die Beurteilung individueller Handlungen und sozialer Zustände, denn über den Wert einer Tat, eines Menschen oder einer Gesellschaft ließ sich dieser Auffassung zufolge einzig und allein aufgrund ihrer jeweiligen Beziehung zum Leben befinden. Der Gegensatz zwischen

Vgl. zum Zusammenhang (mit weiteren Literaturhinweisen) GNAM 2001.

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,lebendig' und ,leblos' ersetzte innerhalb der hybriden Moderne die Unterscheidung zwischen ,gut' und ,verwerflich'. Die Äußerungen von Jünger aus den 1920er Jahren, die eine solche Sichtweise zum Ausdruck bringen, sind in ihrer Vielzahl kaum zu überblicken. Schon in Der Kampf als inneres Erlebnis merkte er in diesem Sinne an: „Nicht wofür wir kämpfen ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen. [...] Das Kämpfertum, der Einsatz der Person und sei es für die allerkleinste Idee wiegt schwerer als alles Grübeln über Gut und Böse." (JÜNGER 1922: 76). Noch im Abenteuerlichen Herzen wurde er nicht müde, auf die Irrelevanz konkreter normativer Positionen hinzuweisen: „Es kommt darauf an, wollen und glauben zu können, ganz abgesehen von den Inhalten, die sich dieses Wollen und Glauben gibt." (JÜNGER 1987 [1929]: 110). Anders als oft angenommen wird, stieß die Haltung der hybriden Moderne zum Problem des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht erst im Verlauf der 1930er Jahre, sondern bereits seit Beginn der 1920er Jahre auf Widerstand (vgl. etwa LETHEN 1994: 131 f. und LINDNER 1994: 143 f.). Schon der kriti-

schen Avantgarde der unmittelbaren Nachkriegszeit war bewußt, was Hermann Broch in seinem Essay über Hofmannsthal und seine Zeit im Rückblick auf die Lebensideologie bemerkte: ,,[N]ur wo politisches Denken durch eine gottlose, dafür aber mystisch ästhetisierende Eschatologie ersetzt war, konnte eine derartige Verkehrung der ethischen Begriffe platzgreifen" (BROCH 1975 [1947/48]: 263). Die kritische Moderne wollte den Fragen der Ethik nicht ausweichen. Ansatzpunkt für ihre Überlegungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben war eine Sicht des Menschen, die nicht zuletzt durch die Grundhaltung der hybriden Moderne eine Bestätigung zu erfahren schien - die Auffassung, daß der Mensch aufgrund seiner prekären Stellung zwischen Gott und Tier zum Exzeß neige. Ausgehend von dieser Annahme entwickelte die kritische Avantgarde eine Konzeption der Ethik als existentielle Äquilibristik; sie trat für mittlere Tugenden, die Idee des Maßes und die Vorstellung der Mitte ein, die es dem Menschen möglich machen sollten, seine Neigungen zum Extrem unter Kontrolle zu halten und eine Position der Balance zwischen Gott und Tier einzunehmen. Ein elaborierter Vorschlag zu einer solchen Ethik ist Felix Weltschs Abhandlung Wagnis der Mitte von 1936. Im Geiste der Prager Kreise um Kafka, Brod und Werfel legte Weltsch mit seinem Buch gegen den Extremismus der Zeit eine Apologie der Mitte vor, der die Überzeugung zugrundelag, „daß die menschlichen Fähigkeiten nur dann fehlerlos funktionieren, wenn sie sich in einer Mittelzone bewegen, die zwischen dem Allzugroßen und dem Allzukleinen gelegen ist" (WELTSCH 1965 [1936]: 16). Das pointierteste Beispiel für die ethischen Reflexionen der kritischen Moderne aber sind zweifellos Weiß' 1935 publizierte Überlegungen mit dem Titel Aus dem Pariser Tagebuch:

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Im Maß liegt alles. Das Tier, die Pflanze mögen zwar von sich aus bis zur äußersten Grenze ihrer inneren und äußeren Möglichkeiten gehen, der Mensch darf es nicht. [...] Das Maß ist die Menschlichkeit. Der Mensch darf nicht dauernd bis zum letzten gehen. Dazu ist er zu stark, aber auch zu widerspruchsvoll. Zu klein, um faustisch mit Gott zu konkurrieren, zu groß, um buddhistisch gegen Gott zu verschwinden. Im Maß liegt seine Wachstumsmöglichkeit. [...] Im Ausgleich liegt sein Glück und seine Hoffnung auf Frieden. (WEISS 1935: 42)

4. Schluß Die literarische Moderne der Zwischenkriegsjahre, so hoffen wir durch unseren Blick auf drei Problemkomplexe der Zeit verdeutlicht zu haben, war geprägt durch das Neben- und Gegeneinander von zwei deutlich divergierenden anthropologischen Positionen. Den meisten Zuspruch unter den Autoren jener Jahre fand zweifellos die Idee der Bestimmtheit des Menschen - sei es in ihrer vitalistischen Ausprägung, der Jünger in der Formulierung einen emphatischen Ausdruck verlieh, daß der Mensch „das gefährlichste, blutdürstigste und zielbewußteste Wesen" sei, „das die Erde tragen muß" ( J Ü N G E R 1922: 114), sei es in ihrer idealistischen Spielart, fur die Leonhard Franks zum expressionistischen Leitspruch avancierter Buch-Titel Der Mensch ist gut stand. Verbunden war die letztere Auffassung zumeist mit Konzeptionen der .Wandlung' beziehungsweise mit Visionen des ,neuen Menschen', mit der Utopie also, den Menschen mit seiner Idee zur Deckung zu bringen. Solchen Vorstellungen der Bestimmtheit des Menschen stellte eine Reihe von Autoren der Zwischenkriegszeit die Idee der Unbestimmtheit oder - um es mit einem Begriff Musils zu sagen - der „Gestaltlosigkeit"9 des Menschen entgegen. In knapper Form wird diese Haltung durch zwei Variationen auf den Titel der Novellensammlung Leonhard Franks verdeutlicht: Im Tagebuch Musils heißt es: „Ist der Mensch gut? Er ist das und vieles andere" (MusiL 1976 [1919/21]: 1, 544) und Ernst Weiß formuliert bündig: „Der Mensch ist gut - zu allem." ( W E I S S 1982 [1921]: 22). Die Vertreter der kritischen Moderne verband eine grundlegende Skepsis gegenüber den Wandlungsideen, die von der hybriden Moderne propagiert wurden; eine Erneuerung des Menschen, so befürchteten sie, könnte dessen Ende bedeuten. Von der Literatur des 20. Jahrhunderts aber, so scheint es uns, ist nichts so radikal veraltet, wie deren Idee des ,neuen Menschen', der auch das Werk Ernst Jüngers seine Entstehung verdankt.

Vgl. dazu Musils Entwürfe zu der Studie Der deutsche MUSIL 1978 [1923]: 1353-1400 sowie VATAN 2000.

Mensch

als

Symptom,

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K A I KÖHLER

Nach der Niederlage Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten

Die Auseinandersetzung mit der nazistischen Fraktion des deutschen Faschismus war ein Thema, das Ernst Jünger über Jahrzehnte beschäftigte. Seine erste Reaktion war Begeisterung; in dem 1923 im Völkischen Beobachter publizierten Beitrag Revolution und Idee forderte er eine „wirkliche Revolution", deren „Banner das Hakenkreuz" sein solle ( J Ü N G E R 1923: 36). 1925 sah er Hitler als Gestalt, die unzweifelhaft „die Vorahnung eines ganz neuen Führertypus" erwecke ( J Ü N G E R 1925: 77). Hier deutete sich freilich bereits, bei aller Bejahung, eine Haltung der Überlegenheit an: Hitler ist aus Sicht dessen, der in die Zukunft blickte, eben nicht der Führer, sondern nur die Vorahnung eines kommenden Typus, dessen Merkmale der Betrachter besser zu erkennen beansprucht. Hier schon zeichnete sich eine bald entschiedenere Distanz ab. 1930 war dann aus Jüngers Sicht die Strategie der NSDAP immer noch zu legalistisch, und von 1933 ließ er sich nur noch durch seine freilich propagandistisch leicht verwertbaren Kriegsschriften durch das Regime vereinnahmen. Der gewisse Freiraum, den er genoß, war durch den politischen Gebrauchswert bedingt, den die Person des „Pour le Mérite"-Trâgers und sein Frühwerk für die Machthaber besaßen.1 Auch der zweite deutsche Versuch, auf militärischem Weg eine kontinentale Hegemonie zu erreichen, scheiterte und führte dazu, daß erneut der deutschen Bevölkerung Demokratie aufgezwungen wurde. Die Niederlage der NSFraktion war daher eine Niederlage der deutschen Rechten überhaupt, welche Haltung sie vor 1945 auch eingenommen haben mochte. Das galt auch außenpolitisch: Noch 1944 in Der Friede hatte Jünger, die Frage nach der Kriegsschuld vermeidend, ein universales Erlebnis von Schuld und Leid konstruiert und auf dieser Basis eine Nachskriegsordnung ohne Unterschied zwischen

Zu

Jünger

zwischen

1933

( 1 9 9 7 ) , NEAMAN ( 1 9 9 9 :

und

104-160).

1945

vgl.

SCHWARZ

(1962:

111-174),

KIESEL

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Kai Köhler

Siegern und Besiegten gefordert. Diese Variante hatte angesichts der Machtverhältnisse und vor allem angesichts der ungeheuerlichen deutschen Verbrechen keine Chancen. Politisch und militärisch blieb Deutschlands Souveränität über Jahrzehnte begrenzt, moralisch stand die Nation wohlbegründet als Verliererin da. Zu dieser Lage mußte Jünger sich verhalten. Sein eigenes Verhalten vor 1933 und die Wirkung seiner Kriegsschriften reflektierte er nur punktuell. Eine seiner Strategien war die Behauptung, verkannt zu werden: Mein Image wurde nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen durch Kriegervereine und nach dem Zweiten durch Studienräte und Professoren, die während des Dritten Reiches den Mund gehalten hatten - daß ich es nicht getan, wurmte sie desto mehr. Damit muß man sich abfinden - das Gesicht bleibt für die Freunde reserviert,

heißt es in einem Brief vom 8. April 1981 an Carl Schmitt (JÜNGER/SCHMITT 1999: 443). Mag hier auch der Adressatenbezug an den wichtigsten Juristen des ,Dritten Reichs' eine Rolle spielen - keineswegs fragt Jünger nach den Gründen der Er- oder Verkennung und ob wirklich die Kriegervereine ihn wirklich so zu Unrecht lobten. Es gibt andere Passagen in seinem umfangreichen Werk. Sehr allgemein stellte Jünger 1943 im Zweiten Pariser Tagebuch eine „gemeinsame Schuld" fest, „all die dämonischen Kräfte" freigelassen zu haben: „indem wir uns der Bindungen beraubten, entfesselten wir zugleich das Untergründige. Da dürfen wir nicht klagen, wenn das Übel uns auch als Individuen trifft." (JÜNGER 1949a: 42). Auch dieses vordergründige Klageverbot soll stoische Haltung vermitteln, doch heischt es fragwürdig nach Bewunderung; das unklare Kollektivsubjekt und das Lob einer tradierten Bindung, die sich allerdings offenkundig als zu schwach erwiesen hat, markieren das Schuldbekenntnis als Ausflucht, nicht aber als Analyse der konkreten historischen Vorgänge. Eine solche Analyse versucht Jünger in einer sich über mehrere Tage, vom 28. März bis zum 2. April 1946, erstreckenden Tagebucheintragung. Jedes der Notate setzt ein mit dem Motto „Provokation und Replik". Diese Abfolge gehöre „zu den großen Motiven der Geschichte": ,jedem Ausschlag folgt der Rückschlag, jeder Maßlosigkeit die Korrektur", wie es bereits im ersten Absatz heißt (JÜNGER 1949b: 605). Damit ist Hitler, dem Jünger vorwerfen wird, auf die Provokation von Versailles nicht allein eine Replik formuliert, sondern seinerseits zur Provokation übergegangen zu sein, als Exempel einer zeitübergreifenden Regel domestiziert; indem die Geschichte Maßlosigkeiten stets korrigiere, präsentiert Jünger zudem ein harmonisierendes Geschichtsbild. Die eigene Teilnahme an den rechtsradikalen Umtrieben jener Zeit leugnet er nicht; und deutlich wird die Gewalt, die der Redner Hitler zunächst auf ihn auszuüben vermochte (Vgl. JÜNGER 1949b: 608 ff.). Daß dies 1946 ein nicht nur taktisches Problem darstellte, zeigt der enorme Aufwand von gleich vier unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien.

Der Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten

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Die erste ist eine politische Argumentation, die sich auf angebliche Versäumnisse der Weimarer Demokraten bezieht; Hitler als „Replik": „Hier stand nun ein Unbekannter und sagte, was zu sagen war, und alle fühlten, daß er recht hatte. Er sagte, was die Regierung hätte sagen müssen, wenn nicht den Worten, so doch dem Sinn oder wenigstens der Haltung, dem Schweigen nach." ( J Ü N G E R 1949b: 610) Zweitens, völlig gegenläufig, ist das Engagement zur Informationsquelle des späteren Beobachters reduziert: „Immerhin war der Einblick nicht ohne Wert", heißt es zur desillusionierenden Tätigkeit für das Freikorps Rossbach ( J Ü N G E R 1949b: 608), wie auch Jünger seinen Besuch beim General Ludendorff vor allem unter phänomenologischem Gesichtspunkt beschreibt. Das verträgt sich keineswegs mit der religiös-existentialistischen Rechtfertigung der Entscheidung: „Beim Freispruch im Totengericht zählen nicht nur die guten Taten, es zählen auch Irrtümer. Nur die Lauen werden ausgespien"; insofern gelten Jünger auch 1946 noch die „Stunden der Hingabe" als „vielleicht das Beste" in der Lebensgeschichte von Individuen ( J Ü N G E R 1949b: 611). Viertens zeigt sich immer noch ein elitärer Gestus der Überlegenheit: So beklagt er, daß Hitler zu seinen späteren Schriften, die ihm „zum Ausstieg aus dem nationalstaatlichen und Parteidenken hätten nützen können", das Verhältnis gefehlt habe ( J Ü N G E R 1949b: 615). Die Möglichkeiten seines Werks, so sieht es Jünger, wurden unzureichend genutzt: Mir ging es w i e vielen, w i e den meisten Deutschen: ich sah, daß der Teil des Kapitals, den ich gesammelt hatte, verzehrt wurde. Man baut ein Haus und sieht e s im Großbrand in Rauch aufgehen. D a s besagt nichts über das Haus und seine Einrichtung. E s hätte Besseren zu Besserem gedient. (JÜNGER 1949b: 6 1 6 )

Die persönliche Einlassung, das wird zu zeigen sein, enthält sämtliche Elemente der literarischen Strategien Jüngers. Er entwickelte komplexe Mechanismen von Distanzierung, Relativierung und Sinngebung. Insgesamt entstand ein Patchwork von Ideologemen, das, der Stilisierung zum Dichter-Seher entgegen, auf durchaus pragmatische Absichten schließen läßt. Zwar verweigerte Jünger sich nach 1945, zum Leidwesen radikaler Adepten wie etwa Armin Möhler, direktem Aktionismus. Dennoch sind, wie Horst Seferens in seiner wichtigen Dissertation gezeigt hat, viele seiner späteren Texte ebenso von einer politischen Zielrichtung geprägt wie die frühere nationalrevolutionäre Propaganda.2 Die Zahl einschlägiger Passagen im umfangreichen Werk Jüngers nach 1945 ist groß. Etliche Tagebucheintragungen sind auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 bezogen; die Tagebücher aus der Kriegszeit gehören zum fraglichen Korpus, da sie nach 1945 bearbeitet und publiziert wurden. In Essays wie in erzählenden Werken kommt Jünger immer wieder auf diese Epoche zu sprechen. Um sein Vorgehen im Detail zu veranschaulichen, konzentriere ich mich 2

V g l . SEFERENS ( 1 9 9 8 ) .

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zunächst auf einen Essay: auf Der Gordische Knoten, zuerst erschienen 1953. Ich bestimme erstens die gröberen der Kriterien, nach denen Jünger hier Ost und West zu unterscheiden suchte; dieses Verhältnis bildet das Hauptthema des Essays. Nicht erst aus heutiger Perspektive ist leicht zu zeigen, daß er sich dabei in Unstimmigkeiten verheddert und mit historischen Beispielen äußerst lässig umgeht; bereits zeitgenössische Rezensenten übten hier Kritik.3 Die Willkür wird überdeckt vom Schreibgestus, den ich im zweiten Teil zeige. These ist, daß Jünger in konsequenter Zielgruppenorientierung durch seine Verfahrensweise im Text die mutmaßlich national und konservativ gesinnte Leserschaft zu einer virtuellen Gemeinschaft vereinigt. Der Essay ist, drittens, nicht nur Teil des Geredes von abendländischen Werten, mit dem die deutsche Rechte nach ihrer Niederlage von 1945 sich erfolgreich für längere Zeit durchschlug,4 und zudem schon qua Themenwahl Waffe im Kalten Krieg; sein Zweck ist zudem, und darin liegt die Verbindung zum Thema dieses Beitrags, mit dem Lob des Westens auch die deutsche Nation von den Verbrechen des deutschen Faschismus zu entlasten. Viertens nehme ich kurz einige andere Texte, in denen Jünger sich mit dem .Dritten Reich' auseinandersetzt, in den Blick und bestimme derart den Stellenwert des Essays.

I In der Reihe der umfangreichen politischen Essays Jüngers nimmt der Gordische Knoten eine Sonderstellung ein. Die anderen Entwürfe, angefangen mit Der Arbeiter (1932) über Der Waldgang (1951) bis schließlich wieder Der Weltstaat (1960), stellen planetarische Entwicklungen selbst dort in der Vordergrund, wo wie im Arbeiter einem Volk, dort genauer: den Deutschen eine privilegierte Rolle zugewiesen ist. In Der Gordische Knoten hingegen geht Jünger von einer ethnischen Entgegensetzung aus, der zwischen Osten und Westen. Dabei zeigt sich für den ersten Blick ein Nebeneinander von krudem Stereotyp und feinsinnigerer Verinnerlichung. Besonders die ersten Abschnitte evozieren das Klischee von grausamen Asiaten. Gleich im ersten Kapitel treten sie als Eroberer auf, mit denen man lieber nicht zu tun bekommen möchte:

3

4

Z u r R e z e p t i o n d e s E s s a y s vgl. NEAMAN ( 1 9 9 9 : 191 f.) s o w i e DIETKA ( 1 9 8 7 : 128

ff.). Reichhaltiges Material zu diesem Komplex findet sich in LÜTZELER (1992: 428 ff.) - Jüngers Essay fand in dieser Konstellation durchaus sein Publikum: 1962 war das 1 6 . - 2 0 . T a u s e n d i m H a n d e l ; v g l . SCHWARZ ( 1 9 6 2 : 2 5 5 ) .

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Knoten

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Mit den schlitzäugig Dunklen, den kleinen, lächelnden Gelben, den pferdehaarigen Reitern, den breitbackigen Riesen zieht eine andere Sonne auf. [...] Die großen Brände dampfen ihnen als Opferfeuer, das Blut von Massenmorden, der Schrei der Geschändeten verkünden die Geburt, den Anbrach ihrer Macht. (GK 6/377 f.)

Hier scheint der Gegensatz unüberbrückbar. Westliche Mäßigung steht gegen östlichen Blutrausch. Die Wertung ist eindeutig: Es handelt sich nicht einfach um eine „andere Sonne", sondern um eine mindere; wenig subtil dadurch suggeriert, daß nicht die Pferde, sondern ihre Reiter selbst „pferdehaarig", auf tierischer Ebene also, daherkommen. Tierhaft wieder sind Asiaten noch gegen Ende des Essays, wenn Jünger ihnen ein unproduktives Verhältnis zur Technik zuschreibt. Sie brauchen deshalb westliche Spezialisten: „Spezialist ist auch der Feinarbeiter, der einfach bei Nacht in asiatische Fabriken verschleppt wird, so wie ein Ameisenstamm sich feindliche Ameisen raubt." (GK 124/458) In der Forschung ist allerdings zu Recht auf die schon erwähnte Tendenz zur Verinnerlichung des anfangs geographisch-moralisch gefaßten Gegensatzes hingewiesen worden, wobei ihr Stellenwert umstritten blieb.6 Versöhnlich klingt schon im neunten Abschnitt die Formulierung, Europa und Asien seien „zwei Schichten des menschlichen Seins, die jeder in sich trägt." (GK 24/389 f.). Zusammenfassend heißt es dann, der Kampf werde „nicht zwischen Ländern, Völkern, Rassen und Kontinenten" ausgetragen, sondern „im Unvermeßbaren des Menschen, in seinem Innersten." (GK 141/469 f.). Dennoch gibt es keine klare Entwicklung, wie sie etwa Alfred Andersch als wohlwollender Rezensent des Essays sah.7 Bis zum Ende gewinnt Jünger seine Beispiele, indem er östliche und westliche Länder gegenüberstellt; auch wo der Konflikt ins einzelne Individuum verlagert ist, bleibt die mit Ost und West bezeichnete Abgrenzung, die ja Bedingung des postulierten Kampfes ist, bestehen. Dabei gibt es neben den inkonsequent zurückgenommenen Rassismen weitere Unterscheidungskriterien. Eines ist bereits im ersten Abschnitt angesprochen: „Freiheit und Schicksalszwang" (GK 5/377). Jüngers Begriff von Freiheit ist ethnisch begrenzt und mit einer deutlichen Wertung verbunden, indem „freier Geist", der im „Opfergange" die ihm zukommende Herrschaft über die Welt erkämpfen soll, den despotisch kommandierten Massen gegenübergestellt ist (GK 7/378). Die östliche Despotie zeichne Grausamkeit und Willkür aus. Daß dies nicht als anstößig

5

Der Essay wird im Text mit dem Kürzel „GK" nach dem Erstdruck von 1953 zitiert; ergänzend sind die entsprechenden Seiten aus den Sämtlichen Werken (Bd. 7: Betrachtungen zur Zeit) angegeben. In einer Reihe von Fällen hat Jünger stilistische Änderungen vorgenommen, die nicht eigens angeführt sind. Auf eine inhaltliche Verschiebung ist verwiesen.

6

V g l . SCHWARZ ( 1 9 6 2 : 2 2 0 ) ; BASTIAN ( 1 9 6 3 : 2 1 3 f.); MEYER ( 1 9 9 0 : 3 9 6 ) ; PEKAR ( 1 9 9 9 : 3 7 f.). V g l . ANDERSCH ( 1 9 5 5 : 3 8 3 ) .

7

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Kai Köhler

empfunden werde, liege auch an östlicher Schicksalsgläubigkeit: „Der Willkürakt wird im Osten eher die Größe eines Fürsten bestätigen, als daß er ihr Abbruch tut. Wer sich dem König nähert, tritt dem Schicksal entgegen, der Quelle, der das Gesetz entspringt." (GK 43/402).

II Über die Ebene des manifesten Inhalts hinaus besitzt die Metaphorik des Textes einen wichtigen Stellenwert. Die Perspektive, die Jünger sich hier als Betrachter von Geschichte und Gegenwart konstruiert, findet sich häufig bei ihm, über den Gordischen Knoten und über seine Beschäftigung mit dem deutschen Faschismus hinaus. Mit „Betrachter" habe ich einen Terminus gewählt, der aus dem Bereich des Optischen gewonnen ist. Das lag nahe, denn eine Metaphorik des Schauens durchzieht den Text von der ersten Seite an: „Es liegt an unserer Optik, daß sie vor allem den Glanz der Waffen festhält, der über dem Schauspiel liegt." (GK 5/377).8 Der Motivkreis von Blick und Bild integriert verschiedene Dimensionen. Er dient erstens dazu, dem Betrachter seine Gruppe, für die er in der ersten Person Plural spricht, zu formieren; in dieser Gruppe überkreuzen sich der Blickwinkel der folgsamen Leser und die prototypische Sichtweise der ganzen abendländischen Kultur. Das Blicken suggeriert zweitens Objektivität: Wiedergegeben werde, was dem unvoreingenommenen Auge sich darbiete. Hier mag der Grund dafür zu suchen sein, daß Jünger so häufig für seine präzisen Beobachtungen gerühmt wird; ein Lob, das freilich durch eine dritte Dimension zu relativieren ist: Der Betrachter geht nicht im Kollektiv des „wir" auf, sondern leitet es an, hinter den vielfältigen Erscheinungen die Urbilder zu sehen, deren Abbilder sie allem Anschein entgegen sein sollen. Jüngers 1930 im Sizilischen Brief an den Mann im Mond entwickelte „stereoskopische Sichtweise" besteht darin, gleichzeitig mit dem beweglichen Oberflächenphänomen das unveränderliche, sinntragende Muster wahrzunehmen.9

Zur Bedeutung des Visuellen bei Jünger vgl. BOEHM ( 1 9 9 5 ) . 9

Hier setzt die eingehendste Kritik an, die Jüngers E s s a y bisher gefunden hat. Carl Schmitt versucht in seinem Beitrag in der Festschrift zu Jüngers 6 0 . Geburtstag, gegen Jüngers Denken in überzeitlichen Polaritäten das geschichtlich Besondere der jeweiligen Situationen zu retten: „Das geschichtliche Denken ist Denken einmaliger Situationen und damit einmaliger Wahrheiten. A u c h alle geschichtlichen Parallelen dienen vernünftigerweise nur der schärferen Erfassung dieser Einmaligkeit; sonst werden sie hoffnungslos zu Ansätzen einer allgemeinen Gesetzlichkeit, eines funktionellen Ablaufs, den es in der Geschichte nicht gibt." (SCHMITT 1 9 5 5 : 1 4 7 ) Z u m konflikthaften Verhältnis zwischen Jünger und Schmitt vgl. TOMMISSEN ( 1 9 9 4 ) sowie Hellmuth Kiesel im Nachwort des Briefwechsels Jünger - Schmitt (JÜNGER / SCHMITT 1 9 9 9 ) ; zur theologisch-eschatologischen Grundlegung von Schmitts Geg-

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Wo er sich der Geschichte zuzuwenden sucht, sind horrende Ungenauigkeiten das Resultat der Wesenschau. Im Gordischen Knoten weiß Jünger fur östliche Despotie ein Beispiel: „Das gilt auch für die russische Krone, die bekanntlich viele ihre Träger durch Gewalt erwarben, während wenige glücklich endeten." (GK 46 f./405). Gerhard Loose hat sich der unmodern gewordenen Mühe unterzogen, die historischen und mythologischen Beispiele Jüngers zu überprüfen, und er kommt zum desillusionierenden Resultat, daß durchgehend „die Tatsachen den Meinungen nicht gerecht werden"; von 27 Zaren etwa waren nur fünf Usurpatoren, sieben kamen durch Gewalt ums Leben.10 Einer ernsthaften Prüfung halten Jüngers Behauptungen durchgehend nicht stand; zudem ist der geographische und zeitliche Rahmen so großzügig gewählt, daß sich bei etwas mehr Mühe für beliebige Thesen auch treffendere Beispiele hätten finden lassen. Die zahlreichen historischen Ungenauigkeiten im Gordischen Knoten tun der privilegierten Position des Betrachters indessen keinen Abbruch. Gerade weil der Deuter das irritierende Material nach einfachsten Kriterien klassifiziert, beansprucht er Nähe zu einem verborgenen und deshalb um so tieferen Wissen. Nicht zufällig spielt Schauspielmetaphorik eine bedeutende Rolle.11 Als „Schauspiel des Erwachens" ist der Beginn der Geschichtsschreibung bei Herodot beschrieben (GK 16/384). Als „Schauspiel" gilt auch, wie „insektenhaft" nach dem Tod eines Despoten die östlichen Untertanen sich dem Nachfolger unterordnen (GK 40/401), „täglich beobachten" könne man aber auch das „Schauspiel", wie sich zurückgebliebene Regionen technisieren (GK 53/409). Angesichts gegenwärtiger östlicher Grausamkeiten kehre „auch das Schauspiel von Städten wieder, die man bis an die Phase der letzten Schrecken hält." (GK 65/417). Endlich konstatiert Jünger, angesichts einer Vielzahl von Kaisern und Gegenkaisern in der Spätzeit der römischen Geschichte: „Das Auge ermattet vor solchen Schauspielen." (GK 105/445). Die Metapher bedeutet gegenüber der Blickmetaphorik einen weiteren Zugewinn an Souveränität. Der Betrachter verfügt völlig über die geschichtlichen Erscheinungen, die er vor seinem Auge zu seiner Erbauung und schließlich Ermüdung vorbeiziehen lässt, und bestimmt, welche Szene er auf einer imaginären Bühne vor seine Leser stellt. Zu dieser Position paßt der apodiktische Gestus fast jedes Satzes. Zudem profiliert der Betrachter sich als verantwortungsbewußter Repräsentant eines abendländischen Ethos. Von „Ethos" und Moral ist häufig im Essay die Rede. Dabei bedient sich Jünger einer doppelten

10

11

nerschaft an diesem Punkt vgl. MEYER (1990: 507, 674 f.); zum politischen Gehalt des stereoskopischen Blicks SEFERENS (1998: 154 ff.). Vgl. LOOSE (1957: 346 ff.); vernichtend überhaupt und gerade zur geschichtlichen Substanz des Essays die Rezension von SCHONAUER (1955: 138); insgesamt kritisch zur Enthistorisierung im Werk Jüngers nach 1945 vgl. PHILIPPI (1989: 186 ff.). Vgl. SCHWARZ (1962: 217), sowie in diesem Band den Beitrag von Jörg Sader.

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Wertung, die in wenige Absätze zusammengezwungen sein kann. Nach einigen Beispielen für eine östliche Bereitschaft zum Selbstopfer faßt Jünger einerseits zusammen: „Ist das ein höheres Ethos, ein geringeres? Es ist ein anderes." (GK 75/425). Wenige Sätze später heißt es dagegen: „Aber unter allen möglichen Haltungen des abendländischen Denkens ruht ein Ethos, das unbestechlich ist und das die Schranken kennt, innerhalb deren sowohl der Wille als auch das Leiden sinnvoll bleiben." (GK 76/425). Das zweite Zitat legt zumindest nahe, daß das morgenländische Ethos solche Schranken nicht kenne. Die Sichtweise insgesamt könnte als frühes Beispiel für einen aktualisierten Rassismus gelten: Nachdem die offen biologistische Variante durch die deutschen Verbrechen desavouiert ist, erkennt die Rechte kulturelle Verschiedenheit und begründet gerade daraus unvermeidbare Abgrenzung wie unterschiedliche Wertigkeit. Für die fingierte Betrachterposition ist das Changieren vorteilhaft, da an potentiell jedem Punkt des Essays eine doppelte Perspektive zur Verfügung steht: erstens eine Schau von außen, die eine objektivierte Übersicht nahelegt, und zweitens eine Innenperspektive, die der eigenen Gruppe die schmeichelhafte Überlegenheit zubilligt.

III In Jüngers Sämtlichen Werken ist der Gordische Knoten in den Band aufgenommen, der Betrachtungen zur Zeit betitelt ist. Damit ist nur bekräftigt, wovon bei Jünger stets auszugehen ist: daß noch die vorgeblich zeitenthobenste Behauptung einem präzise zu benennenden aktuellen Zweck dient. Der Rezensent Andersch las im Gordischen Knoten mit Kummer, daß trotz aller Verlagerungen des Konflikts ins Innere Jünger an der Entgegensetzung von Ost und West festhielt, und stellte die bange Frage, „ob hier nicht selbst ein Geist wie Jünger der Faszination heutiger politischer Propaganda-Formeln unterlegen ist." 12 Der Gegenwartsbezug auf den Kalten Krieg ist in der Tat unmißverständlich. 13 Im Gordischen Knoten sind mehrere Hinweise verstreut, daß die sozialistischen Staaten auch im Sinne der Jüngerschen Unterscheidung dem Osten zuzurechnen seien: So sei Rußland zur Zeit der späteren Zaren europäischer gewesen als zur Zeit Stalins, und Rio de Janeiro liege „heute tiefer im Abendlande als etwa Prag, zwar nicht dem geographischen, wohl aber dem ethischen Klima nach." (GK 25/390). Das Thema der absterbenden Gesittung und Kultur

12

ANDERSCH (1955: 382) zur politischen Prägung des Essays vgl. auch KAEMPFER

13

Zu diesem Aspekt vgl. auch SEFERENS (1998: 95 ff.).

( 1 9 8 1 : 5 1 f.), P R Ü M M ( 1 9 7 6 : 27).

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Knoten

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sei „so zeitgemäß wie nur je in den Ostseestaaten und in Polen, in Berlin, in Budapest und anderen Hauptstädten." (GK 108/447). Besonders viele Ausfälle gegen die sozialistischen Länder finden sich nicht; die Abwertung der vorgeblich asiatisch-barbarischen Sowjetunion war derart verbreitet, daß wenige Signale im Text genügten. Jünger findet sich damit hier, anders als im Waldgang zwei Jahre zuvor und 1960 dann im Weltstaaf, in der Systemauseinandersetzung auf der antikommunistischen Seite Erheblich mehr Mühe indessen verwendet Jünger auf eine oberflächlich betrachtet andere politische Frontstellung. Als gewichtiges Argument gegen seine Unterscheidung zwischen Ost und West könnte der deutsche Faschismus gelten. Jünger weicht diesem Problem nicht aus, sondern er deutet das ,Dritte Reich' als Beispiel einer möglichen Veröstlichung des Westens. Wie auch sonst im Essay, erscheint Geschichte hier als Herrschergeschichte, in der Exempel für eine überzeitliche Lehre gefunden werden. Diese stark personalisierte Sichtweise ist weitgehend auf Hitler konzentriert. Daneben ist Himmler genannt, um östliche Leibwache gegen westliches Soldatentum zu stellen: Die SS, die Jünger als Leibwache klassifiziert, habe 1934 und 1944 in zwei Schritten die soldatische Elite abgelöst - die Wehrmacht ist schon damit vom Vorwurf der Veröstlichung entlastet (GK 110 f./448 f.), anders als dies Jünger selbst noch in den 1949 publizierten Kaukasischen Aufzeichnungen dokumentiert hatte. 1942 hatte er bald nach seiner Ankunft an der Ostfront erkannt: Die gestrige Besprechung zeigt mir, daß ich zu einer Bestandsaufnahme in diesem Land nicht kommen werde: es gibt zu viele Stätten, die fur mich tabu sind. Dazu gehören alle, an denen man sich an Wehrlosen vergreift, und alle, an denen man durch Repressalien und Kollektivmaßnahmen zu wirken sucht. Ich habe übrigens keine Hoffnung auf Änderung. Derartiges gehört zum Zeitstil; das sieht man schon daran, daß es überall begierig ergriffen wird. Die Gegner sehen es voneinander ab. (JÜNGER

1949C:

442)

Die Rede vom „Zeitstil" und den „Technikern" abstrahiert von der konkreten deutschen Eroberungspolitik und ebnet Verantwortung ein - im Gordischen Knoten wählt Jünger die gegenläufige Strategie: Konkretisierung und dabei eine Personalisierung, die die ganze Nation entlastet. Hitler ist zu diesem Zweck durchgehend als östlicher Charakter beschrieben. Jünger wirft ihm vor, daß er „zwischen Diktatur und Despotie nicht scharf genug zu unterscheiden verstand." (GK 87/433). Den Krieg im Osten habe Hitler trotz vorhersehbarer Schwierigkeiten gerade wegen seines östlichen Ethos begonnen. Der Grund dafür lag in der inneren Möglichkeit, die Hitler in diese Richtung wies. Dort nämlich hatte er nicht mit dem Widerstand zu rechnen, der einer vorgeformten und andersartigen Auffassung von Größe entspricht. Die Art von Größe, die er verkörperte, war dort weder ungewöhnlich, noch anstößig." (GK 89 f./434)

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Schon hier deutet sich an, was Jünger noch an mehreren anderen Stellen suggeriert: Die Methoden der Kriegsführung im Osten seien von den Verteidigern vorgegeben worden; nicht mehr die „Gegner sehen es voneinander ab", sondern der eigentlich edle Deutsche ahmt in dieser Sicht nach, was ihm wesensfremd sein soll. Jünger nimmt Argumentationen vorweg, die ab den 80er Jahren neurechte Historiker wie Ernst Nolte, in den 90er Jahren dann Gegner der Wehrmachtsausstellung verwendeten. 14 Er benennt zwar durchaus die Besonderheit des Kriegs gegen die Sowjetunion, den er häufig thematisiert: „Die Deutschen führten im letzten Kriege an der Ost- und Westfront zwei grundverschiedene Feldzüge." (GK 56/412). Meist aber ist in diesem Zusammenhang die besonders rücksichtslose sowjetische Kriegsfuhrung angeführt. So gibt er etwa eine Schilderung verzweifelter deutscher Soldaten wieder, die von der Roten Armee überrollt sind, und zwar als ein Beispiel für die überzeitliche Bedrohung durch den grausamen östlichen Feind: „Die Panik, die das Heer ergreift vor der Aussicht, dem östlichen Sieger in die Hand zu fallen, schildert schon Xenophon." (GK 63/417). Die Übernahme der vorgeblich östlichen Kampfweise erscheint dann als Folge der Bedrohung: „Demgegenüber wird sich die Versuchung, den Modus anzunehmen und auf die zoologische Ebene hinabzusteigen, aufdrängen. Es wird sich sogar die Vorstellung entwickeln, daß ein anderer Weg unmöglich sei." (GK 118/453). Wo Jünger über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht schreibt, fallt es ihm zunächst einmal ein, in rassistischer Manier die sowjetischen Verteidiger als tierhaft zu verunglimpfen. Wo man sich verhalte wie diese Leute, ist in snobistischer Manier von „Mißgriffen" die Rede, von denen Jünger abrät: aus ethischen, aber vor allem aus praktischen Erwägungen: „Das Schädliche solcher Maßnahmen liegt in der Schwächung der eigenen Sache, der eigenen Gerechtigkeit, in ihrer Verstümmelung. Aber auch als Denkfehler sind sie verhängnisvoll." (GK 118/454). Die veröstlichte Kampfweise habe nämlich die gegnerischen Soldaten zu um so entschlossenerem Handeln gezwungen und die Bevölkerung zum Partisanenkrieg bewegt. Verglichen mit diesen eher nüchtern hingeschriebenen Erwägungen wirkt der Satz von den „zahllosen Dörfern und Städten, die in den deutschen Ostprovinzen auf schauerliche Weise ausgemordet wurden", pathetisch. (GK 112/450). Offenkundig verfolgt Jünger im Gordischen Knoten das Nationalinteresse, die Deutschen als Opfer darzustellen. Dabei macht er zwar Zugeständnisse, die die nationalistischeren seiner Leser kaum mit Vergnügen gelesen haben dürften. So spricht er das deutsche Massaker von Oradour an (GK 112/450) und klassifiziert gegenüber diesem Verbrechen die Bombenangriffe

14

Eine umfassende Darstellung dieser Debatten findet sich bei WIEGEL ( 2 0 0 1 ) . Zu Parallelen zwischen dem Gordischen Knoten und Nolte vgl. bereits SEFERENS (1998: 88 f.).

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auf deutsche Städte als militärische Aktionen: Da auch der Angreifer ein Risiko getragen habe, könnten sie nicht als Mord angeklagt werden. Aber auch hier folgt sofort ein Angebot an die nationalen Rezipienten: „Es bleibt anderes genug, das in Anrechnung gebracht werden kann, wenn man das überhaupt beabsichtigt." (GK 114/451). Diese Formel ist ideal, um nach der vernichtenden militärischen wie moralischen Niederlage eine erneute nationale Formierung abzusichern; Jünger erweist sich hier als präziser Konstrukteur des bewußt Vagen. Die vorgebliche Reserve, die der letzte Satzteil andeutet, deckt gegen mögliche Kritik. Sachlich enthält der Satz nichts, was irgendwie historisch diskutiert werden könnte und lädt gerade deshalb dazu ein, jede ressentimentgeladene Erinnerung aufzufrischen. Zudem ist hier nicht mehr zwischen Ost und West unterschieden. Der Satz erlaubt die Lesart, auch den Westalliierten Veröstlichung zu unterstellen. Dazu paßt, daß die „Junimassaker von 1934", die Leichenverbrennung in den Krematorien der Konzentrationslager und die Hinrichtungen nach den Nürnberger Prozessen unter dem Blickwinkel der Verweigerung einer Bestattung gleichgesetzt werden: Dem liegt die Angst zugrunde, daß die Toten an ihre Grabstätten als Geister zurückkehren und künftige Opfergänge, künftige Wallfahrten anziehen. W o sie Namen haben wie die in Nürnberg Gehenkten, wird diese Furcht besonders lebhaft; die Asche wird heimlich in die Winde verstreut. Das ist ein kainitischer Zug. In einem Geiste wie dem von Himmler mußte er sich in seiner vollen Schärfe ausprägen. (GK 60/414)

An dieser Passage läßt sich im Vergleich mit einer motivisch benachbarten Stelle zeigen, wie willkürlich Jünger mit dem Mythos umgeht: Zwei Abschnitte später ist erneut die Rede von Kain, der als Mörder einem „älteren, titanischen Gesetz" unterstehe und einer dunklen Vorzeit zugehöre. Das Kainitische bestehe fort: „Noch heute tritt jeder Mörder in diese frühe Nacht zurück, und der Instinkt der unter höherem Gesetz lebenden Gemeinschaft beantwortet diesen Rückfall, indem sie dem Gerichteten den Anteil am Friedhofe versagt." (GK 66/418). Beide Male geht es um Kain und um ein verweigertes ordentliches Begräbnis. Ist es jedoch im ersten Fall kainitisch, das Begräbnis zu versagen, so wird im zweiten Fall der kainitische Mörder auf dem Schindanger verscharrt. Der Mythos ist Draperie des jeweiligen argumentativen Zwecks. Wie mit der aufs Exempel reduzierten Geschichte schaltet der Essayist willkürlich und suggestiv mit dem zusammengelesenen Material.15 Geschichtliche Zusammenhänge werden getilgt. Jünger postuliert übergreifende Gesetze, die deutsche Verbrechen entweder als bloße Beispiele oder als

15

Kritisch zum Gebrauch des Kain-Mythos vgl. LOOSE (1957: 345).

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Folge östlicher Wesenart erscheinen lassen. Die Substanz des deutschen Volkes wird als unbeschädigt dargestellt: Das bringt uns auf die Frage der völkischen Herkunft der großen Veränderer. Tauchen, wenn von den Nationen tiefe, artbrechende Umwälzungen gefordert werden, die Vollstrecker von der Rändern, ja aus der Fremde auf? Man darf vermuten, daß hier zwar keine Regel, doch ein Gesetz verborgen ist, das sich auch in der Wahl der Henker andeutet. Selbst zu den großen Raub- und Kahlschlägen an unseren Wäldern nach 1945 mußte man ausländische Arbeiter anstellen. (GK 111/449) 16

Das Fällen von Bäumen ist ebenso Henkersarbeit wie das von Köpfen; Jünger schreibt über deutsche Verbrechen, um sie zu relativieren. Die Nation wird zudem abgesichert, indem Jünger die „Völkerkriege" gegenüber dem 18. und 19. Jahrhundert „in Verfall geraten" sieht (GK 69/420f.). Im Gegensatz zu ihnen sieht er den Bürgerkrieg, in dem rechtliche Schranken fallen und dem die beiden Weltkriege zugehören: Die Weltkriege, scheinbar als Nationalkriege beginnend, enthüllten sich in ihrem Verlaufe und während ihrer Pausen als bewaffnete Akte im weit ausgedehnteren Rahmen des Weltbürgerkrieges, der sie einspannte. Er brachte sein Ethos mit, das die soldatischen Traditionen angriff und verkümmerte. (GK 69/421)

Das geschlossen kämpfende Volk und eine vorgebliche traditionelle Soldatentugend in Gegensatz zu den gerade vergangenen Verbrechen zu rücken, soll Nation wie Militär entlasten. Der durch Regeln begrenzte Krieg zwischen Nationalstaaten, ein historischer Sonderfall, wird zur Norm erhoben, indem er dem vorgeblichen Verfallsstadium eines „Weltbürgerkrieges" entgegengesetzt wird. Jünger verwendet diesen an sich zutreffend deskriptiven Terminus ideologisierend, indem er gerade an dieser Stelle die Rettung eines eigentlich Deutschen in Naturgesetzlichkeit behauptender Bildlichkeit mit antisowjetischem Affekt und überzeitlicher Regel kombiniert: Springflut entsteht, wenn Mond- und Sonnenwirkung zeitlich zusammenfallen: dann treten die Wasser über jedes Maß hinaus. Das Außergewöhnliche unserer Zeit liegt darin, daß die Katastrophen des Weltbürgerkrieges sich, und zwar notwendig, treffen mit einer der durch lange Ebben getrennten Hochfluten der Ost-WestBegegnung und daß beide Bewegungen ihre Wirkung vereinigen. Rußland, die Hauptmacht der Weltrevolution, ist zugleich Vormacht in Asien. (GK 70/421)

Damit sind die beiden politischen Feinderklärungen zusammengeführt. „Rußland", real Opfer des deutschen Überfalls, wird so als Ursache einer außergewöhnlich brutalen Auseinandersetzung gebrandmarkt; auch hier findet sich eine Parallele zu den späteren Ausführungen Ernst Noltes, der Hitlers angeblich „asiatische" Verbrechen als Reaktion auf solche der Sowjetunion hin16

Das Adjektiv „völkisch" opfert Jünger bei der Überarbeitung; ein Beispiel, wie er sich dem Zeitgeist oberflächlich anzupassen weiß, ohne daß die Substanz sich ändern würde.

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stellt.17 Dieser Krieg selbst ist zu einer Manifestation eines immer schon Vorgegebenen reduziert: Es besteht eine Deckung des Bürgerkrieges mit der Ost-West-Begegnung, die nicht zufallig ist, sondern auf Verwandtschaft beruht. Das offenbart sich darin, daß beide Vorgänge tief in das alte Gesetz hineinfuhren und den untersten Grund aufschürfen. (GK 71/422)

Die denkbar allgemeine, ahistorische Unterscheidung von Ost und West dient also auch der Rettung einer viel kleineren Einheit, der deutschen Nation. Auf der Makroebene der gesamte, seit jeher und seit der Revolution 1917 ganz besonders drohende Osten, auf der Mikroebene die Verbrecher Hitler und Himmler sind von einem unbeschädigten deutschen Volk abgesetzt.

IV Im Essay wird insgesamt eine Vielzahl von ideologischen Bedürfhissen befriedigt. Von Originalität kann an kaum einer Stelle die Rede sein; dies macht sicher einen großen Teil von Jüngers Erfolg aus. Die Abendlandideologie, die entlastend personalisierte Geschichtsschau, die Schuldzuweisung besonders an die östlichen Opfer des deutschen Überfalls sind verfestigte Sichtweisen, die jede Wahrnehmung geschichtlicher Zusammenhänge verstellen. Ein im Ahistorischen verortetes Ethos und das vorgeblich tiefe Wissen des stellvertretend blickenden Deuters dementieren die offene Form, die den in viele Kapitelchen aufgesplitterten Essay nur für den ersten Augenschein auszeichnet. Dennoch hat die Genrewahl ihre Funktion: Seltsam gerade bei einem so sehr aufs Militärische bezogenen Autor wie Jünger, geht es ums Abwarten, Ausweichen, Hoffen und um Sinnstiftung. Die Essay-Form, die keinen Handlungszusammenhang fordert, ist in diesem Fall den Kräfteverhältnissen angemessen; es handelt sich hier um eine Form der Defensive. Dazu paßt, daß auch erzählende Texte Jünger zum Essay werden: Gespräche und Reflexionen überwuchern die Handlung, die irgendwann abbricht. Mehrfach entwickelt Jünger das Szenario für eine große Auseinandersetzung, die dann aber ausbleibt. Sowohl Auf den Marmorklippen als auch Heliopolis schließen damit, daß die Helden vor der als nihilistisch gezeichneten Herrschaft in einen sicheren Bereich fliehen. In beiden Fällen deutet Jünger an, daß die schlechten Regimes Phänomene einer Zwischenzeit sind, der eine erfülltere Epoche folgen soll. Auch Eumeswil endet ähnlich, mit dem Aufbruch des Herrschers und seines Gefolges zur „großen Jagd" in als phantastisch imaginierten Landstrichen, doch ist aus Jüngers Sicht 1977 das Ende noch resignativer. Der Erfolg der

17

Vgl. NOLTE (1986).

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verschollenen Jäger bleibt ungewiß; jedenfalls ist in Eumeswil am Ende die verhaßte Volksherrschaft wiedererrichtet. In diesem Roman, dessen Erzähler als Sprachrohr Jüngers aus ferner Zukunft auf das zwanzigste Jahrhundert zurückblickt, ist Hitler nur eine der vielen Erscheinungen von unten, die in jener Zeit wimmelten: Ein Großdemagog, der auftrat, als der Planet Pluto entdeckt wurde, dilettierte als Maler, wie Nero im Gesang. Er ließ Künstler verfolgen, deren Bilder ihm nicht zusagten. Er dilettierte auch auf anderen Gebieten, so als Stratege zum Unheil vieler, war aber technisch perfekt, Chauffeur nach jeder Richtung, der sich zuletzt selbst mit Benzin kremieren ließ. Die Umrisse zerfließen im Wesenlosen; der Anstrom von Ziffern löscht sie aus. Für den Historiker wie für den Anarchen ist wenig Ausbeute. Rote Monotonie, selbst in den Untaten. (JÜNGER 1977: 186)

Als trickreiche Historisierung des deutschen Faschismus ein Vierteljahrhundert vor jener Historisierung, die in unserer Gegenwart tatsächlich einsetzt, weist die Passage bemerkenswerte Ideologiemomente auf: Der elitär-konservative Anarch sieht Hitler als „rote Monotonie", als „Großdemagogen" und also, der Geschichte entgegen, als Repräsentanten der Unteren. Er ist nur eines unter vielen Exempeln: Ob man auf Hitler, ob man auf Nero zurückblickt, bedeutet keinen Unterschied. Das „Unheil vieler" war Folge dilettantischer Strategie, also wohl Unheil für die allzu mangelhaft geführten Soldaten. Krematorien, die bisher noch für die Vernichtungslager stehen, erfahren eine Verschiebung: „kremiert" wird allein der Demagoge. Als Verfolgte kommen allein die abweichenden Maler vor. Geschichtlichkeit ist auch hier dementiert, und zeitliche Orientierung erlaubt nur ein auf Natur bezogenes Ereignis, astronomisch gefaßt wie die Mond- und Sonnenbahnen im Gordischen Knoten, die für die „Springflut" des Weltbürgerskriegs verantwortlich sein sollten: Die Entdeckung des Planeten Pluto, die wohl als wichtiger erscheinen soll. Der Mord an den Juden, der hier in der Verbrennung des aufs Anekdotische reduzierten Diktators nur noch zu erahnen ist, kommt bei Jünger indessen mehrfach offen zur Sprache. Eine Möglichkeit unter den verschiedenen Varianten, die er erprobt, ist die der Sinngebung. Bereits in einem Tagebuchnotat vom 17. 4. 1945, also kurz nach der Einnahme Kirchhorsts durch US-Truppen, spekuliert er: „Auch der König Ahasveros konnte die Juden nicht ausrotten. Es läuft immer auf eine Beschneidung heraus, und damit auf eine Stärkung, auf neuen Ausschlag am alten Stamm. Getauften Völkern fehlt dieses zähe Harren durch die Jahrtausende." Da es, so Jünger, „unmöglich sei, daß solche Opfer nicht Frucht tragen", stehe vielleicht sogar das „Erscheinen des Zweiten Messias" (JÜNGER 1958: 415) bevor. Die Passage sollte nicht als die zynische Suggestion gelesen werden, als die sie auf den ersten Blick erscheint: die Juden sollten den Nazis sogar noch dankbar sein. Der Gedanke, daß jedes Opfer und daß jedes Geschehen seinen Sinn habe, überdeckt schon in den Kriegsbüchern

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der zwanziger Jahre, und da bezogen gerade auf deutsche Soldaten, die passagenweise Wahrnehmung von Realität. Etwas anders ist die Konstellation in Heliopolis. Hier sind tatsächlich Verfolgungen geschildert, nehmen die „Parsen" in Heliopolis die Stelle der vom autoritären Herrscher fürsorglich mit Siedlungsland versehenen Juden ein (Vgl. JÜNGER 1949d: 67). Politisch vom pöbelhaften Landvogt gewollt sind dann Ausschreitungen, die historisch älteren Pogromen nahekommen. In diesem Rahmen bewegt sich auch noch die große Parsenverfolgung nach dem Mord an seinem wichtigsten Helfer, die also an die Reichspogromnacht 1938 erinnert (Vgl. JÜNGER 1949d: 222-225). Der Schritt zu Konzentrationslager und systematischem Mord ist damit kaum vermittelt: Ein einziger alter Mann wird zum Opfer von Menschenversuchen. Gefangen auf einer Festung mit dem wohlklingenden Namen „Castelmarino" wird er in einer Karl-May-artigen Aktion vom Romanhelden Lucius de Geer befreit und stirbt, bevor er als Überlebender dauerhaft ans Verbrechen gemahnt. Hier dient der nur angedeutete Völkermord als Folie dafür, das Stoßtruppunternehmen eines Jüngerschen Idealsoldaten in um so hellerem Licht erscheinen zu lassen. Das ist nicht Jüngers einzige Haltung zum Massenmord. Bezogen auf die „Schinderhütte" in Auf den Marmorklippen reflektiert er viel später in Philemon und Baucis (1972): „Vielleicht habe ich die Schinderhütte noch etwas zu rosig ausgemalt. Getötet wird dort nicht mehr kainitisch, nicht im Zorn, noch aus Lust, sondern eher auf wissenschaftliche Art." (JÜNGER 1972: 470). Wo aber die Beschäftigung mit der Sache droht, weicht Jünger wieder ins Allgemeinste aus: Die Photos, auf denen Leichen „wie Massengüter zu Bergen aufgestapelt sieht, sind auch geistesgeschichtliche Belege - insbesondere für die Art, in der sich das Verhältnis zum Tode gewandelt hat. Hier wiegt nicht nur die Brutalität der Motive, sondern auch die Kaltblütigkeit der Aufnahme." Einerlei ist, wer die Verbrechen begangen hat, wer sie dokumentiert - alles wird unter ein einheitliches Bild des Zeitalters subsummiert. Nichts hat Jüngers Überlegung zu tun mit Diskussionen über die Abbildbarkeit der Shoah, über eine Fetischisierung von Bildern, wie sie etwa im Gefolge des „Holocaust"Films oder der gegen jedwedes Gedenken gerichteten Friedenspreisrede Martin Walsers geführt wurden. Es geht nicht um die Qualität von Bildern und ihrer medial vermittelten Rezeption, sondern um die nicht überprüfbare Haltung des Photographen, die sogleich zum Zeichen dessen abgestempelt ist, was er doch vor allem anklagen wollte. Der Völkermord und seine Dokumentaristen werden als Signum der Moderne von konkreten Ereignissen abgelöst und zum Anlaß einer allgemeinen Technik- und Nihilismuskritik. Deutlich bezieht sich Jünger auf Überlegungen, die er insbesondere 1950 im Heidegger-Essay Über die Linie, drei Jahre also vor dem Gordischen Knoten, ausgeführt hatte. Dieser Versuch von Verallgemeinerung zum Epochenbild und von Sinnstiftung ist ein weiteres Modell, mit

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dem Jünger auch den deutschen Faschismus zu erfassen sucht. Mit dem kainitischen Töten der despotischen Herrscher und der Weltkriegssieger im Gordischen Knoten ist dieser Strang nur locker verbunden, in wenigen Passagen, die Jünger der Technisierung des Ostens widmet. Vom Kainitischen zum Nihilismus - eine solche Entwicklung, das wird schon aus dem Erscheinungsdatum von Über die Linie deutlich, gibt es bei Jünger nicht. Ein knapper, unvollständiger Überblick soll dies verdeutlichen. Die „Schinderhütte", ihrerseits den Traumbildern des Abenteuerlichen Herzens verpflichtet, wird in Auf den Marmorklippen 1939 ausgemalt; 1942 schon muß Jünger im Kaukasus dem von ihm freilich auch schon 1932 im Arbeiter propagierten Charakter der Moderne in der Praxis erleben und seinem Idealtypus real gegenübertreten; in der in den letzten Kriegsjahren konzipierten und zuerst 1945 legal verbreiteten Friedensschrift gibt es dann doch wieder in für Jüngers Prosa altertümlicher Formulierung die „Schinderhütte, deren Ruch weithin die Luft verpestete" und in denen es „grauenhafte Feste, bei denen die Schergen und Folterknechte sich an der Angst, an der Erniedrigung, am Blute ihrer Opfer weideten" gibt; dies wohlgemerkt nicht als deutsches Spezifikum, sondern als globale Erscheinung, „vom Fernen Osten bis an die Hesperiden, vom Süden bis an das Eismeer" (JÜNGER 1945: 200). Deutschnationale Überhebung zeigt sich auch in diesem Text: nicht nur, indem das „Lemurengesindel", das „seine grauenhafte Künste im Dunkeln treibt", um nichts besser sein soll als die künstliche Entrüstung anderer Lemuren, die an die Luderplätze kamen, um das Verscharrte auszugraben und die verwesten Körper auszustellen, zu messen, zu zählen und abzubilden, wie es ihren Zwecken dienlich war. Die spielten die Kläger nur, um daraus für sich das Recht zu niederer Rache abzuleiten, die sie dann in den gleichen Orgien befriedigten. (JÜNGER 1945: 203)

Wer Fakten feststellt, um anzuklagen, wird dem Mörder gleichgestellt. Auch den Nihilismus, aus dem „die tiefste Quelle des Übels" (JÜNGER 1945: 225) springe, gibt es bereits in diesem Text. Und ausgerechnet „der Deutsche" habe gegen ihn „noch starke Reserven im Hintergrund. Sie werden sich offenbaren, wenn die Technokraten abdanken." (JÜNGER 1945: 227). Vergebens fragt man sich nach der Staatsangehörigkeit dieser Technokraten. Das Denkmodell des Nihilistischen bedeutet Historisierung und gleichzeitig die Projektion auf einen Weltmaßstab, an dem gemessen die je konkrete Schuld zum Zeichen fürs Allgemeine reduziert ist - das Modell des Kainitischen erlaubt es, das Geschehene in eine mythisch-ahistorische Sphäre des Grauens zu verschieben, die Alptraumcharakter annimmt. Die Vergangenheit wird dämonisiert und damit die Frage nach konkreten politischen Ursachen und konkreter Verantwortung zurückgedrängt. Das Kainitische und das Nihilistische existieren seltsam nebeneinander. Ohne daß das eine auf das andere rückführbar wäre, treten sie, wie in der Friedensschrift, mehrfach im Zusammenhang auf. Himmler, kainitisch im Gordi-

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sehen Knoten, wurde in der Hütte im Weinberg bereits wohl zutreffender und im Ton des Mißbehagens noch ganz anders gesehen: Was mich an diesem Mann immer seltsam berührt hat, das war die penetrante Bürgerlichkeit. Man möchte denken, daß ein Mensch, der den Tod von vielen Tausenden ins Werk setzt, sich sichtbar unterscheiden müsse von allen anderen und daß furchtbarer Glanz ihn umstrahle, luziferische Pracht. Statt dessen diese Gesichter, die man in jeder Großstadt findet, wenn man ein möbliertes Zimmer sucht und ein vorzeitig pensionierter Inspektor die Tür öffnet. (JÜNGER 1958: 455)

Jahrzehnte später bekommt der austauschbare Funktionär eine schicksalhafte Anlage zugeschrieben: „Die Unterschrift Hitlers, wie auch die Himmlers, deutet auf Selbstmord; man müßte dem bis auf seine Schulzeit nachgehen. Der Selbstmord scheint programmiert." (JÜNGER 1981: 606).18 Das ist nicht Positionswandel oder Vergeßlichkeit, sondern dauert fort. Über die Linie von 1950 entfaltet gerade vor den Erfahrungen der jüngstvergangenen Kämpfe die Nihilismus-These systematisch, zeigt den Zusammenhang von Nihilismus und abstrakter Ordnung (vgl. JÜNGER 1950: 247 ff.) und grenzt ihn vom Bösen ab (vgl. JÜNGER 1950: 255). Gleichzeitig steht auch hier die Behauptung, daß im nihilistischen Bereich „der Glanz kainitischer Feste" durchleuchte (JÜNGER 1950: 267). Der Gegensatz kann in ein Tagebuchnotat zusammengezwängt sein. So erhielt Jünger am 12. Mai 1945 einen Bericht über die „großen Schinderhütten", wie er die Konzentrationslager immer noch altertümelnd nannte. „Der rationale, fortschrittliche Charakter, die Technik des Verfahrens" hebe „das Bewußte, das Überlegte, Wissenschaftliche" des Vorgangs hervor; auf der gleichen Seite aber wird der Bericht über Krematoriums in einem „östlichen Lager", daß in den Abendstunden „wie ein periodisch ausbrechender Vulkan Feuer gespien und das Land mit Rauch erfüllt habe", als „kainitisches Bild" ins Schema gezwungen (JÜNGER 1958: 447). Insgesamt ist also nicht von einem konsistenten Erklärungsmodell zu sprechen, und auch nicht von einer Entwicklung. Je nach Text- und Suggestionszusammenhang bedient sich Jünger eines Arsenals von Mustern, die kaum zusammenpassen; dies verweist auf ein der Autorinszenierung entgegen pragmatisch bestimmtes Ziel des Schreibens. Jünger bleibt auch nach 1945 aktivistischer Zeitgenosse, gerade wo er seinen Lesern eine zeitenthobene Perspektive vorzugaukeln sucht. Deutsche Verbrechen spricht er zwar häufig an. Doch abstrahiert er sie zum Signum eines Planetarischen und nimmt dadurch eine gegenwärtige Tendenz vorweg, den Völkermord an den Juden von einem von Deutschen begangenen historisch konkreten Verbrechen zum Zeichen für jedwedes Menschheitsverbrechen zu abstrahieren.19 18

19

Der Gedanke scheint Jünger äußerst wichtig; in diesem Notât vom 7. Mai 1980 griff er kaum variiert eine Eintragung vom 9. November 1979 (JÜNGER 1981: 536) auf. Vgl. zu dieser fragwürdigen Verallgemeinerung affirmativ, doch materialreich LEVY / SZNAIDER 2 0 0 1 .

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Manche Unentschiedenheit ist dem nach der deutschen Niederlage begrenzten Spielraum der deutschen Rechten geschuldet; Jüngers Essays konnten stabilisierende, keine aktivierende Funktion einnehmen. Heute, wo derartige Begrenzungen nicht mehr bestehen, kann man abschließend fragen, ob Relativierungen, wie Jünger sie verwendete, noch wirksam sind. Das gilt sicherlich am wenigsten für die Technik- und Nihilismus-Kritik. Massenwirksam sind dagegen Techniken der Personalisierung und der Darstellung von Deutschen als Opfern: sie kommen seit einigen Jahren vor allem im Fernsehen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen vor. In diesem Schema figurieren einerseits einzelne Personen als „Hitlers Helfer", werden andererseits Bombenkrieg und die Vertreibung der Deutschen aus Mittelosteuropa als meist unverdientes, jedenfalls allzu hartes Kollektivschicksal dargestellt. Daneben findet sich das Muster, den deutschen Staat gerade wegen seiner früheren Verbrechen als zuständig für jedwede Intervention zu erklären. Totalitarismusforschung löst dabei die Diktaturen des 20. Jahrhunderts aus ihrem historischen Kontext und reduziert die Ereignisfolgen auf parallele Strukturen, wobei Strukturalisierung und Moralisierung eine eigentümliche Verbindung eingehen: Während Jünger geschichtsfeindlich die Pose des mythenbewanderten Sehers einnimmt, liefert die neuere Enthistorisierung scheinbar wissenschaftlich eine Entlastungsperspektive, für die eine zweifelhafte Schau durch die Jahrtausende gar nicht mehr notwendig ist. Die Relativierungen und Einordnungsversuche Jüngers erscheinen damit als historisch überholt, zudem von Wissen belastet, das heute als Bildungsmüll gilt. Der vorsichtige Jünger der Nachkriegszeit ist als politischer Autor und damit überhaupt historisch geworden.

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H A N S KRAH

Die Apokalypse als literarische Technik Ernst Jüngers Heliopolis (1949) im Schnittpunkt denk- und diskursgeschichtlicher Paradigmen

1. Text, Genre, Kontext - Explikation des Erkenntnisinteresses Jüngers Text Heliopolis entwirft eine Welt, der eine globale Katastrophe, ein Weltuntergang, vorausgeht, und fuhrt vor, wie eine solche Welt ,nach dem Ende' zu imaginieren ist. Damit ist der Text einem Genre zuzuordnen, das systematisch-strukturell im Spektrum zwischen Science Fiction, Fantasy und Utopie zu situieren ist und das über spezifische, differenzierende Grundmerkmale als Endzeitgenre klassifiziert werden kann (vgl. KRAH 2004). Historisch ist dieses Genre insofern zu verorten, als es erst ab den 50er Jahren in Erscheinung tritt. So sehr es auch bereits früher, insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Fiktionen des Weltuntergangs, Apokalypsen, gibt, so ist mit dem Datum 1945 ein signifikant anderer Denkhintergrund gegeben, der der ästhetisch-literarischen Bearbeitung des Themas einen radikal anderen Status als zuvor zuschreibt: Können in einer Zeit, in der die Fiktion einer globalen Katastrophe per se Gedankenspiel ist, reale Katastrophen (wie etwa der Erste Weltkrieg) als Weltuntergang metaphorisiert werden, da der Status als Bild gewährleistet ist, ändert sich dies und wird ein solcher Umgang zumindest problematisch, sobald sich diese Fiktion mit dem kulturellen Wissen um die Möglichkeit einer solchen globalen Katastrophe auseinander zu setzen hat, eine solche vom Bildbereich in den Bereich des eigentlich zu Verhandelnden wechseln kann. Der Weltuntergang kann, sobald er - beginnend mit den Bombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki, also dem Wissen und dem Bewusstsein um die atomaren Möglichkeiten - als ,real' jederzeit möglich gedacht werden kann, nicht mehr unhinterfragt als Metapher und Deutungsraster fur Weltphänomene - etwa Defizienzerfahrungen auf den verschiedensten Ebenen - verwendet werden. Der Weltuntergang wird vom Bezugssystem selbst zum mental zu verarbeitenden Phänomen.

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Jüngers Text von 1949 ist vor diesem Hintergrund als Zwischentext zu klassifizieren, da in ihm die Katastrophe noch funktionalisiert ist: Nicht um deren Bewältigung geht es, wie in den späteren Texten, das Motiv , globale Katastrophe' dient vielmehr anderen Zwecken. Mit diesem Verfahren steht Jünger nun nicht allein. Zeitgleich erscheint eine andere Weltuntergangsphantasie von einem Autor, der mit Jünger eher wenig in Verbindung gebracht wird, dessen Text aber signifikante Gemeinsamkeiten mit Jüngers Heliopolis aufweist. Die Rede ist von Oskar Maria Graf und dessen ebenfalls 1949 erschienenen Roman Die Eroberung der Welt, den Graf zehn Jahre später, 1959, in Die Erben des Untergangs umbenennt und dem er eine „Kleine, notwendige Vorbemerkung" voranstellt. Bereits dieser Vorgang weist eine Analogie zu Heliopolis auf: In meinem Beitrag beziehe ich mich ausdrücklich und alleinig auf die Erstausgabe von 1949, meine Beobachtungen gelten nicht (notwendig) für die Fassung, die Jünger 1964 in die Ausgabe seiner Werke aufgenommen hat. Auch wenn Jünger den Titel beibehält, so ist diese Fassung nicht nur gekürzt, sondern dabei auch stilistisch und inhaltlich deutlich verändert, gerade in solchen Passagen, auf die es mir ankommt. 1 Mein Interesse an Jüngers Heliopolis lässt sich somit explizieren: Es geht mir gerade um den Text als Dokument seiner Entstehungszeit, den späten 40er Jahren, und gerade um die Paradigmen und Diskurse, die er hier mit anderen teilt. Dementsprechend werde ich im Verlauf der Argumentation Grafs Text einbeziehen, da es mir gerade um Gemeinsamkeiten geht. Das Endzeitgenre ist für dieses Erkenntnisinteresse prädestiniert: Es scheint sich oberflächlich nicht auf die kulturelle Wirklichkeit zu beziehen, weist aber gerade dadurch eine seismographische Funktion auf, da es in Reinform diejenigen Denkprämissen verhandelt, die auch die der Kultur zugrunde liegenden sind; die in solchen Texten durchgespielten und angedachten Strukturen, ihre Problemkonstellationen und Problemlösungen, können als Modelle eines Wünschenswerten gelten. Der Zeitpunkt der späten 40er Jahre ist darüber hinaus von besonderem Interesse, da in diesen Texten als Zwischentexten das Denken der Frühen Moderne und ein verändertes Denken kookkurieren: Zum einen bleiben Jünger und Graf in ihren Endzeittexten den Denkkategorien der Frühen Moderne 2 verpflichtet und beziehen sich darauf als Ausgangspunkte der Textmodellie-

Ein Fassungsvergleich wäre lohnenswert, könnte er doch Aufschlüsse über eventuelle systematische Transformationen ergeben. Ein Bestandteil einer solchen Systematik dürfte darin bestehen, so meine Hypothese, dass Fremdreferenzen tendenziell abgebaut werden. Das Phänomen der verschiedenen Fassungen ist selbstverständlich nicht auf den Text Heliopolis beschränkt, sondern generell Kennzeichen des Umgangs Jüngers mit seinen eigenen Produktionen. 2

Vgl.

z u r K o n z e p t i o n e t w a WÜNSCH ( 1 9 8 3 ) , TITZMANN ( 1 9 8 9 ; 2 0 0 2 ) ,

(1994).

LINDNER

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rang, wie zu zeigen ist. Zum anderen gehen sie vereinzelt darüber hinaus, indem diese Denkkonstrukte in durchaus expliziter Verhandlung eben nur als Ausgangspunkte genommen werden, die zur Disposition gestellt werden und neuen Konzeptionen zu weichen haben.3

2. Weltentwurf und Problemkonstellation Heliopolis fokussiert nicht die Katastrophe, sondern zeigt eine Welt danach, und nicht ein individuelles Überleben, sondern eine gesellschaftliche Rekonstituierung. Diese Welt danach weist zudem eine chronologische Relation zur Jetztzeit, zur realen Weltgeschichte, auf, ist also als deren Zukunft gesetzt. Sie ist keine Parallel- oder Alternativwelt und ist nicht zeitlich-räumlich enthoben. Die Weltgeschichte gehört zur dargestellten Welt dazu, als deren diegetische Vergangenheit, und darauf wird im Text Bezug genommen - etwa durch die vielen literarischen Verweisungen, von denen die Rede ist.4 Die dargestellte Situation weist nun eine für sie wesentliche Vorgeschichte auf, die bereits nach der Katastrophe, die die Welt grundlegend verändert hat, situiert ist. Die Katastrophe selbst ist als längerfristiger Prozess gedacht, nicht punktuell, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einnehmend, ausgelöst durch den ,modernen' Menschen; ihr geht eine Zeit der Warnungen voraus: Dann kam die erste Warnung aus der Tiefe, das erste sichtbare Signal. Ein großes Luxusschiff, dem man den stolzen Namen Titanic gegeben hatte, zerschellte an einem Eisberg und ging zugrund. Die Katastrophe war in allen Einzelheiten symbolisch und beängstigend. (304) Der Geist, der Wille des Menschen waren zu stark geworden für die alte Fassung, für das gewohnte Gleichgewicht. Damit begann das Ende der Moderne, von wenigen erkannt. Zunächst zerbrach die Schranke im Innen, sodann die äußere Sicherheit. Legionen fielen unter allen Zeichen, unkundig der starken, überlegten Züge, die die Partie eröffneten. Sie litten namenlos in jenen grauen und roten Schmieden der neuen Promethiden, in denen der Stahl sich zischend im Blute härtete. (35)

3

4

Inwieweit diese selbst später wieder zurückgenommen werden, ist hier nicht von Interesse. Unterstellt werden sollen weder ein genereller, einmaliger Wandel noch ,Letztaussagen' bezüglich der Person Jüngers. Referiert wird etwa auf Homer (13), griechische Kulturgeschichte (28), Dante, Milton, Klopstock (306), Heinse (76), Novalis (91), Ritter (244), die Bergwerke zu Falun (16) und immer wieder, mehr oder weniger explizit, auf Goethe (so etwa durch die Relevanz der verschiedenen textinternen Farbenlehren). Zitiert nach Jünger (1949). Auch im Folgenden zitiert unter Angabe der Seitenzahl direkt nach dem Zitat.

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Den grundlegenden Einschnitt und Endpunkt dieser Katastrophe bildet „die Zeit der Großen Feuerschläge [...], in der man durch ihren Gluthauch Städte verbrannte und Reiche zu Wüsten wandelte" (300), in deren Verlauf die Ordnung der Welt, wie sie vortextuell-kulturell gegeben war, vollständig zusammenbricht, und die das Gesicht der Welt verändert. Die Katastrophe fuhrt aber relativ schnell zu einer Wende: Der Regent schafft aus dem Chaos eine neue Einheit, einen Weltstaat, wobei die Mittel nicht näher präzisiert werden, wie dies gelingt. Einziger Hinweis ist seine militärisch-technische Überlegenheit, da er das „Regal", das Monopol auf die „schweren Mittel" (233) besitzt, also u. a. auf die Anwendung der „uranischen Kräfte", wie im Text Atomwaffen benannt werden. Diese neue Einheit, die mit ,,hohe[r] Freiheit, [...] leichten Bauten und dem Komfort der großen Massen" (182) einhergeht, ist zum Zeitpunkt der Darstellung aber eine vergangene. Der Regent verlässt die Welt und die Ordnung, die er geschaffen hat, und zieht sich in „die kosmischen Residenzen" (182) zurück, ein Zustand, der im Text als Interregnum (12) bezeichnet wird und der den dargestellten Zustand kennzeichnet. Die Welt ist nun, nach dem „Auszug des Regenten" (71), erstens geprägt durch „in den Kosmos eingesprengte[...] Inseln wie Asturien, Antarktis, Heliopolis" (182) und zweitens von Herrschaftsverhältnissen, in denen ,,[n]ach dem Gesetz der Wiederholung [...] die aufgespaltenen Teile mit geringeren Kräften [...] um die Macht [kämpften]" (182). Der Exodus des Regenten wird begründet mit der Schlacht bei den Syrten, 25 Jahre vor Beginn der Handlung situiert und als „Weltbürgerkrieg" (191) bezeichnet. Hier besiegt der Regent seine Gegner (die Liga, von der nur über die Namen ihrer Kriegsschiffe Inhaltliches erschlossen werden kann) 5 vollständig, dieser Sieg motiviert aber gerade den Rückzug aus der Welt. Die räumliche Organisation der Welt, 6 auf deren Schilderung im Text immer wieder Wert gelegt wird und die dementsprechend breiten Raum einnimmt, ist primär horizontal ausgerichtet, wie an der Rolle des Meeres (auch an dessen Relevanz als Metapher) zu sehen ist. So heißt es über die neue Einheit, die der Regent nach der Katastrophe geschaffen hat: „Das Neue war Meer, war Element der uniformen Einheit und Verbindung, doch Schloß es das Alte gleich Inseln in sich ein" (181). Zusätzlich zu dieser, die Welt dominierenden horizontalen Bewegungsrichtung, ist eine vertikale etabliert, die nicht jedem zugänglich ist. Bildet die

6

Die Schiffe der Liga heißen Giordano Bruno, Brutus, Kopernikus und Robespierre (190 f.). Das Paradigma, das sie gerade in Abgrenzung zu den Schiffen des Regenten (Saint-Louis, Carolus Magnus, Chateaubriand - ebd.) bilden, ließe sich wohl am besten mit,Ketzer, Verräter und Revolutionäre' umschreiben. Zur Relevanz und Funktionalität räumlicher Strukturen bei der textuellen Bedeutungskonstituierung generell siehe im Überblick KRAH (1999).

Die Apokalypse als literarische Technik. Jüngers Heliopolis

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horizontale die Achse, die der Welt als Normalität entspricht, so ist die vertikale darüber hinaus zweifach funktional: Statisch dient sie der Semantisierung und Bewertung der Räume, die dort verortet werden, dynamisch, als Bewegung auf dieser Achse, ist sie generell mit einer symbolischen Bedeutung verbunden. So kann der Regent mit Hilfe von Raumschiffen die Erde verlassen und sich so in seinen kosmischen Residenzen aufhalten. Dies ist nur ihm und nur mit seiner Erlaubnis möglich, da er das Regal auf die Raumfahrt besitzt. In die Verhältnisse auf der Erde greift der Regent nicht mehr ein, obwohl er es könnte. Technisch werden dafür nicht die atomaren Mittel als Möglichkeit gedacht, sondern diese Macht ist primär durch Weltraumspiegel gegeben, mit deren Hilfe das Sonnenlicht zu bündeln ist und die wie ein Brennspiegel auf beliebige Punkte der Erde gerichtet werden und dort als „kosmische Gluten" (41) verheerende Wirkung ausrichten könnten.7 Auch Heliopolis, der fokussierte Handlungsraum und einer der autonomen und von den anderen Gesellschaften abgegrenzten (Stadt-)Staaten in dieser Welt, ist als Stadt ein topographisch genau strukturierter Ort, und in dieser Struktur spiegeln sich die Machtverhältnisse wider. Die gesellschaftliche Ordnung in Heliopolis ist durch einen Antagonismus gegeben, dessen eine Seite der Prokonsul, dessen andere der Landvogt repräsentiert, die um die Macht kämpfen. Beiden ist eine Reihe von Merkmalen zugeordnet, die eine klare, eindeutige und unüberschreitbare Grenze zwischen diesen beiden ideologischen Positionen begründen und eine Annäherung oder Vermischung dieser Positionen wesensmäßig ausschließen. In ihrem Kampf etabliert sich aber eine Art Gleichgewichtszustand, der den Status quo für Heliopolis darstellt. Dieses Gleichgewicht äußert sich auch räumlich, da für jeden Raum, der einer der beiden Parteien zugeordnet ist, gleichsam ein Pendant vorhanden ist. So liegen sich in der Meerenge, die Eingang zum Golf von Heliopolis gibt, zwei Inseln gegenüber, Castelmarino und Vinho del Mar. Erstere ist Gefängnis und Sitz des toxikologischen Instituts des Doktor Mertens, in dem Versuche am Menschen vorgenommen werden, dem Landvogt unterstellt; Letztere ist heterotoper8 Ausflugsort für die Bevölkerung von Heliopolis, geschützt durch einen Wachturm, dem Prokonsul verbunden. Der Prokonsul residiert im Palast in der Altstadt, der Landvogt im Zentralamt in der Neustadt. Der Palast ist oben situiert, überhöht die Altstadt und bildet ein in sich gewachsenes Ganzes: „Der Bau war einheitlich und imponierend, obgleich die Zeiten stets von neuem an ihm gewirkt hatten" (60). Das Zentralamt dagegen ist eines von den zwei Gebäuden der Neustadt, die die Feuerzeiten überdauerten, und im Unterschied zu der aus weißem Marmor

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Ein Detail, das der Vorstellung der Raumfahrt in der Frühen Moderne entstammt. Siehe KRAH (2002b). Begriff nach FOUCAULT (1990).

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ausgeführten Neustadt aus feuerfestem Glasbeton. An einen Höhenrücken klammert es sich fünfstrahlig „wie ein heller Seestern" (59 f.) an. Die Neustadt ist im Gegensatz zur Altstadt also nicht einheitlich, und das Zentralamt ein Fremdkörper. Zudem „schmiegte [es] sich [...] flach an den Felsen an" (60) und bot ,,[g]leich einem Eisberg [...] der Sicht nur den geringsten Teil. Es deckte helmartig die unterirdischen Gewölbe ab" (60). Der Raum geht in die Tiefe, in das Nicht-Sichtbare, Verborgene. Dieser unterschiedlichen Charakterisierung der Räumlichkeiten korrespondiert die gegensätzliche Charakterisierung der Antagonisten. So wird der Landvogt als alt und fett, als „unmäßig dick" (270) bezeichnet,9 als eine „unverhohlen animalisch geführte Existenz" (271). Im Zentralamt ist sein dunkles Büro, das gleichzeitig auch sein Schlafgemach ist, in der Tiefe situiert. Der Weg dahin wird wie folgt beschrieben: „Die Stahlglasgänge waren eng und dumpfig [...]. Ein Fahrstuhl führte sie in große Tiefe, dort Schloß sich ein neues Gewirr von Gängen an" (267 f.). Die jeweilige Macht und die Machtverteilung stützen und begründen sich auf unterschiedliche Faktoren. Die Position des Prokonsuls wird als legale, sichtbare Macht klassifiziert, deren Machtfaktor insbesondere das Militär ist. Sie stützt sich auf die Reste der alten Aristokratie, propagiert die „Bildung einer neuen Elite" (176) und strebt eine „historische Ordnung" (176) an. Dabei gilt es als legitim, aufgrund besseren Wissens und besserer Befähigung einiger weniger, auch ohne Mandat als richtig Erkanntes für die Mehrheit durchzusetzen: „So können Lagen kommen, in denen das Volk zu seinem Heil gezwungen werden muß. Der Einsichtige handelt dann als sein Treuhänder" (177). Die Legitimation begründet sich stattdessen darauf, dass es der Prokonsul „mit den Institutionen, dem Staat, dem Heer, der Kirche, der wohlgegliederten Gesellschaft [hielt]" (269). Das Zentralamt ist demgegenüber eine „atheistische Behörde" (181). Der Landvogt stützt sich auf die „Massen", seine Position wird rekurrent als politische bezeichnet: Demagogie und Politik sind im Verständnis des Textes identisch; zwischen Demokratie und Diktatur wird eine Wechselwirkung postuliert: „Die Diktatur der Massen wechselt mit der des Einzelnen. Die eine bringt stets die andere hervor" (89). „Die Herrschaft einer absoluten Bürokratie" (175), Indienstnahme der Technik und daraus folgend Spezialisierung und Nivellierung begründen dabei

Eine solche Physiognomik wird generell zur Bewertung und Abwertung von Figuren verwandt. So hat Thomas Beckett, Leiter der Abteilung für Parsenfragen in den Diensten des Landvogts, rote Haare, ein Merkmal, das mit der Zuschreibung b o s haft' korreliert (24 f.). Dieses Verfahren hat in den 50er Jahren durchaus Konjunktur, zumindest in Technikutopien; vgl. KRAH (2004) zu Grafs Erben des Untergangs und generell KRAH (2004).

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eine ,abstrakte Ordnung', die im Text als Unordnung bewertet wird. So wird differenziert, dass der Prokonsul Krieg will, um Ordnung zu schaffen, der Landvogt dagegen, um die Unordnung zu steigern und die Atomisierung des Volkes voranzutreiben. Zentrales Merkmal und Mittel des Landvogts, mit dem er diesen Einfluss auf die Massen hat, ist seine Stimme: Es war die Stimme, die jeder kannte, die Stimme, die in den Arenen die Massen beschworen und gebändigt hatte und dann begeisterte zum Orkan.[...] Dem Landvogt war das Wort das elementare Mittel, der Feuerstoff, aus dem sich die Politik gebiert. (268 f.)

Bezogen auf den Prokonsul, heißt es dagegen: „Auf solchen Kommandohöhen entscheidet, was, nicht wie man spricht" (269). Dem Prokonsul ist die Akademie, dem Landvogt das Institut zur Seite gestellt. Die Akademie repräsentiert die reine Wissenschaft, bei der die Gelehrten sich der „Freiheit der Forschung, die keinen anderen Gesetzen folgen sollte als jenen, die der Lichtstrahl der Erkenntnis an den Objekten zeigt" (54) verpflichtet fühlen und sich durch Begeisterung ihrem Gegenstand gegenüber auszeichnen, während die Wissenschaftler des Instituts rational, nüchternaufgeklärt, rein dokumentarisch ihren Gegenstand betrachten und mit dieser Zugangsweise vom Landvogt funktionalisiert und zu „Angestellten, zu Technikern, ja selbst zu Fälschern" (54) herabgedrückt werden. Dem Prokonsul ist die Kunst und sind die Künstler zugeordnet, allen voran die Leitfigur Ortner, ein Dichter und Gärtner, als „Homer von Heliopolis" (108) und „Freund des Prokonsuls" (108) tituliert; in dessen Gefolge sind des Weiteren Halder, ein junger Maler, und Serner, „ein freier Denker" (107),10 zu finden. Der Landvogt unterhält keine privaten, freundschaftlichen Beziehungen. Auf der Ebene des Kunstdiskurses korrespondieren nur genau diejenigen Künste mit ihm, die im Text als Nicht-Künste fungieren, da sie als Voraussetzungsbedingungen für die Macht des Landvogts gelten: ,,[V]or allem das Lichtspiel und die große Oper [bereiteten] das Klima für die Entfaltung dieser Typen vor" (272).11 Der Landvogt ist stattdessen mit sexueller Perversion und Grausamkeit korreliert. Figuriert wird dies in Messer Grande, dem Inquisitor und zweiten Mann nach dem Landvogt, dessen regelmäßig stattfindende nächtliche Orgie, mit „geblendeten Musikanten" (257), mit einer Beschreibung

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Eine Formulierung, die in der späteren Fassung ersatzlos gestrichen ist. Die Abwertung des Kinos wiederholt sich in Abgrenzung zum (positiv gesetzten) Gemälde, vgl. 302. Diese Bewertung findet sich in Jüngers früheren Werken so nicht, vgl. etwa die aufgeschlossene Position dem ,Lichtspiel' gegenüber in Der Arbeiter.

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bedacht wird, die das Abscheuliche dessen, was da passiert, in ihrer Metaphorik weniger erahnen lässt als erst inszeniert: Halbwüchsige mit der nackten und witternden Beweglichkeit von Ratten und Wieseln fluteten vorbei. Kein Callot, kein Daumier hätten Ähnliches erdacht. Man sah hier, was auf dem Grunde, was in der Tiefsee des Demos vor sich ging. Sie spie ihr Plasma in unbekannte Städte aus. Zuweilen drohten die Gesichter sich ganz zu deformieren; Hörner, Geweihe, Rüssel, Geschlechtstrophäen sträubten sich von ihnen ab, und Risse wie in alten Bäumen sprangen in ihnen auf. (258)

Doch damit nicht der Verdacht auftaucht, es könnte sich bei Messer Grande um eine Ausnahme im Gefolge des Landvogts handeln, ist en passant über dessen Chef des Protokolls zu erfahren, dass er einer der „Knabenfreunde [...], wie sie der Landvogt für seine Unterhändler- und Kulturbeamtendienste bevorzugte" (275), ist. Merkmale wie Ausschweifung, Unsittlichkeit, Körperlichkeit und Sexualität, Un-Natur und Nicht-Natürlichkeit werden also als Bündel mit der Position des Landvogts verbunden, der das Interesse des Prokonsuls für die Natur und das Gewachsene, allerdings als eine im Garten oder im Gewächshaus kultivierte und domestizierte Natur, gegenübersteht. Aus allen Merkmalen lassen sich als zentrale Paradigmen, die der Position des Prokonsuls zugrunde liegen und diese kennzeichnen, Maß und Begrenzung, eine als natürlich geltende Ordnung und eine als männlich geltende Ordnung erkennen, im Text als „geformte Institution" (273) auf den Punkt gebracht und der ,,elementare[n] Volkskraft" (273) gegenübergestellt. Für diese und damit für die Position des Landvogts wird postuliert, „wie Ortner einmal behauptet hatte" (273), was im Text unwidersprochen bleibt, dass sie als „maternitäre Kräfte" (273) gelten. Obwohl sich auch der Prokonsul (wie der Regent) dadurch auszeichnet, über technische Mittel zu verfügen, und diese auch durchaus positiv bewertet werden, 12 wird das Technische unter diesem Begriff im Text rekurrent dem Landvogt zugeordnet und ist rein im Sinne eines technokratischen Technikverständnisses zu verstehen. Verbunden ist es, etwa über die Techniker im Institut, mit den Attributen ,blaß', ,grau', ,staubig', ,langweilig'. Ein Ausdruck hierfür ist das Zentralarchiv, in dem eine „zugleich mechanisierte und raffinierte Intelligenz [waltete]. Es lag daran, daß die Statistik zu einer Grundmacht

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Exemplarisch ist dies anhand des ,,Oberfeuerwerker[s]" (309) Sievers zu sehen, eines ,Q-Verschnitts', dessen Waffenarsenal nichts zu wünschen übrig lässt und das sich mit den entsprechenden .Werkstätten' bei James Bond durchaus messen kann. Interessant und signifikant im Kontext des Technikdiskurses bleibt die Tatsache, dass der Begriff Technik abwertend verwendet und damit auf ein spezifisches Technikverständnis rekurriert wird (das dann zudem dem Mythos gegenübergestellt wird, vgl. 29 f.). Siehe hierzu allgemein WEGE (2000) und EMMERICH/WEGE (1995), ebenso KRAH (2003).

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herangewachsen war" (201 f.). Eine Technik also, die den Menschen berechenbar macht und die mit Computern verbunden wird: Hinzu kam, daß die registrierten und statistischen Unterlagen durch höchst intelligente Maschinen besorgt wurden. In unterirdischen Biblio- und Kartotheken fand eine immense Bienenarbeit statt. Sie glichen künstlichen Gehirnen. (38)

Den anderen Ausdruck für diesen Umgang stellen die Mauretanier dar: 13 Beiden Parteien in Heliopolis stehen Kräfte zur Seite, die von außerhalb stammen. Auf Seiten des Prokonsuls sind dies die Männer aus dem Burgenland, aus denen sich die Offizierselite rekrutiert. Die Mauretanier werden als Sekte geschildert, die sich vollständig auf den Logos und das Kalkül verlässt, damit über der Technik steht (die Mauretanier seien durch die Technik hindurchgegangen, wie es der Text formuliert) und alle menschlich-gefühlsmäßigen Regungen zurückgelassen hat. Gemäß dieser Grundbestimmung gelten die Mauretanier als überparteilich und nehmen Ämter an, „so wie man Sport betreibt" (36). Im Gefolge des Prokonsuls finden sich allerdings keine Mauretanier; diese stehen ausschließlich im Dienste des Landvogts.

3. Die aporetisch-komplexitätsreduzierende Utopie als Problemlösung Wie aus der Beschreibung der beiden Positionen hervorgehen dürfte, sind beide nicht gleichwertig im Text. Die Position des Prokonsuls ist eindeutig die positive, einzig akzeptable Variante - der Text folgt denn auch der Perspektive des Protagonisten Lucius de Geer, der als Burgenländer im Dienste des Prokonsuls steht. Als letztendliche Problemlösung wird dennoch nicht ein Sieg dieser Seite favorisiert. Um diese, das Modell der propagierten Lösung, vorzustellen, beziehe ich nun Grafs Die Erben des Untergangs zum Vergleich in die Argumentation ein.14 Hier, in Grafs Text, wird nach der globalen Katastrophe

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Die Mauretanier verweisen wie andere Textstrukturen und -motive auch (etwa ,Klippen', „ein abenteuerliches Herz" - 317) auf Jünger selbst zurück. Auf solche Selbstbezüglichkeiten und intertextuelle Werkbezüge wird hier nicht eingegangen. Dies ist für die Argumentation auch nicht unbedingt notwendig, so interessant diese Vernetzungen als eigenständiger Untersuchungsgegenstand auch sind, auch deshalb, da es sich nie um eine in sich kohärente, textübergeordnete Semantik handelt, die weitergeführt wird, sondern die Bezüge zumeist rein als Material und Bausteine für den neuen Text und dessen Weltentwurf dienen (so, wie dies dann auch der Text Heliopolis für den Text Eumeswil sein wird). Der Vergleich mit Grafs Die Erben des Untergangs könnte dabei noch schärfer konturiert werden, als dies im Folgenden geschieht. Verwiesen sei auf die Gefahr für die Weltordnung aus Asien („Die Städte, auf die sich die Asiaten stürzten, standen wie Fackeln in der Nacht" - 193), ein Topos, den beide bedienen, wenn dies

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in einem ersten Schritt ein demokratisches Parteiensystem, geleitet vom Hohen Rat als globaler Weltregierung, etabliert, das Ordnung zu stiften hat, da die die Katastrophe überlebenden Massen einer Führung bedürfen. In diesem politischen Bereich wird mit der Figur des Douraine ein Führertyp eingeführt, dessen zentrales Merkmal sein Rednertalent ist, mit dem er die Massen zu begeistern weiß: „Den Ton verstand die Menge" ( G R A F 1 9 9 4 : 9 7 ) . Beschrieben wird er wie folgt: Douraine [...] ließ andere Meinungen nur höchst selten gelten. [...] Gerade aber wegen dieser draufgängerischen Einseitigkeit, wegen seiner Kampflust und unversteckten, vitalen Herrschsucht hatte er in der Partei den größten Anhang. [...] Er wußte genau, was er mit Douraine gewinnen konnte: eine mitreißende populäre Figur, einen echten Volksmann. (Ebd.: 384)

Mit Douraine ist bei Graf eine analoge Figur zum Jüngerschen Landvogt gegeben: ein Führer, der die Massen über seine Stimme und körperliche Präsenz unter Ausschaltung von Argumentation zu lenken und zu begeistern weiß. Anders als bei Jünger, ist diese Figur bei Graf durchaus (temporär) positiv gezeichnet, doch darauf kommt es hier nicht an. Festzuhalten ist zum einen, dass diese Position auf den Kontext der Frühen Moderne verweist, wie sowohl im rekurrenten Reden von Massen zu sehen ist als auch in der Konzeption dieses Führertyps, der dann ja auch im Nationalsozialismus Konjunktur hat. Zentral ist im Vergleich mit Jünger zum anderen, dass diese Position des weltumspannenden Parteiensystems einen zentralen Gegner hat: den neu aufkeimenden Nationalismus. Doch diese Opposition - Weltparteien vs. Nationalismus - wird nur installiert, um vor diesem Hintergrund in einem zweiten Schritt eine zweite Ebene einzuführen, auf der sich dieser Konflikt dann relativiert und die zur einzig wahren Lösung fuhrt: Kämpfen zunächst der Hohe Rat und die Parteien gegen die Nationalisten, wird ab der Mitte des Textes eine neue Größe eingeführt, die das eingangs eingeführte System der demokratischen Strukturen und die ,siegenden' Parteien ablöst und die die am Ende erreichte Utopie fundiert: Diese ,neue' Größe ist der Papst, der einen Weg nach innen, zu einer jedem innewohnenden, ,,natürliche[n] Religiosität" ( G R A F 1 9 9 4 : 4 1 9 ) bewirkt. In Jüngers Heliopolis funktioniert dies analog: Der Kampf zwischen Prokonsul und Landvogt bedarf keiner Lösung, da er ohnehin nur Übergang ist. Die Lösung besteht nicht in einer weltinternen Veränderung, sondern in der Wiederkehr des Regenten, 25 Jahre nach dem Ende des dargestellten Geschehens, und diese Wiederkehr ist über die Merkmale des Regenten eindeutig als eine neue bzw. wiederholte Hinwendung zum Glauben zu interpretieren. Der

bei Jünger (im Gegensatz zu Graf) auch noch so marginal ist. Zu Grafs Erben siehe ausfuhrlich KRAH ( 2 0 0 3 a ) .

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Regent ist im Text aufgrund der ihm zugeschriebenen Merkmale als gottanalog gesetzt, er ist allmächtig, allwissend, „seine Entschlüsse waren unbekannt" (249), und dies bildet die vertikale Ebene räumlich ab. So ist die Raumfahrt denn weniger Technik, sondern als diese Technik transzendiert, 15 wie es auch die Herrschaft und das Herrschaftsverständnis des Regenten sind. Dieser will nicht durch Zwang herrschen, sondern nur, wenn man ihm diese Herrschaft freiwillig, aufgrund einer ,echten Entscheidung', nicht eines ,Willensaktes', wie unterschieden wird (426), zukommen lässt: So muß er warten, daß sich die Dinge von sich aus klären und daß man ihm die Schlüssel überreicht. Sie sannen auf dem Rückweg von den Türmen des Schweigens darüber nach, ob es wohl Punkte gäbe, an denen Macht und Liebe sich vereinen, und rührten damit das Geheimnis an. Die Lösung hängt von einer neuen Konzeption des Wortes Vater ab. (426)

Ein Theodizee-Konzept, das Antwort auf die Frage gibt, warum es so viel Böses in der Welt gibt. Dass sich vor diesem Hintergrund die eingangs aufgebauten Oppositionen verschieben, scheint klar. Nicht nur, dass der Konflikt zwischen Landvogt und Prokonsul nivelliert ist, es ergibt sich eine neue Konstellation: Eigentlicher Feind ist/war nicht der Landvogt, sondern wirklicher ideologischer Gegner sind - konsequenterweise - die Mauretanier: ,,[D]as Wesen dieses Ordens liegt darin, daß er die Welt [...] fur messbar hält. [...] Das setzt voraus, daß weder Freiheit, noch Unsterblichkeit besteht - nichts Göttliches, mit einem Wort. [...] Wir aber bestehen sowohl auf Freiheit wie auf Unsterblichkeit." „Dann ist wohl anzunehmen, daß der Regent auf Mittel verzichtet, die denen der Mauretanier ähnlich sind?" „Er zöge ihnen sogar die intelligente Bestialität des Landvogts vor." (428)

Die Hinwendung zur Religion und zu einer durchaus traditionellen Theologie wird im Text nicht nur durch die Metaphorisierung des Regenten geleistet. Bereits die räumliche Ordnung von Heliopolis verweist darauf, wenn es bei der Beschreibung heißt: „Das Richtungszeichen der Schiffe war jedoch [dieses jedoch bezieht sich auf das Zentralamt und den Palast] das Kreuz des Domes, der der Maria vom Meere gewidmet war. [...] Der Dom erhob sich in der höchsten Mitte" (60). Ein Dom, der zerstört und wieder aufgebaut wurde und der als Emblem den Vogel Phönix trägt. Wesentlich in diesem Kontext - und für den Text an sich - ist eine Figur, die als Sprachrohr des Regenten in der Welt fungiert und dort als unhinterfragbare Norminstanz aufgebaut ist, die alle anderen Positionen bewerten darf. Der Text Heliopolis ist formal in zwei Teile

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Die Raumfahrt in diesem Sinne - als positives Pendant zur Katastrophe - zu fiinktionalisieren ist eine gängige Strategie in den Endzeittexten der 50er Jahre; vgl. Krah (2004).

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untergliedert, die jeweils wiederum in Kapitel mit Überschriften unterteilt sind. Der erste Teil ist auf das letzte Kapitel mit dem Titel „Apiarium" ausgerichtet, wobei diese Ausrichtung beileibe keine rein formale ist. Der Weg des Protagonisten Lucius de Geer geht zielgerichtet zu diesem Ort, bereits von seiner „Rückkehr von den Hesperiden", dem ersten Kapitel, an. Dieses Apiarium, also Bienenhaus, ist zudem an räumlich höchster Stelle in Heliopolis situiert, auf dem Bergrücken Pagos, und hier findet sich der Eremit Pater Foelix, die korrespondierende Figur zu Grafs Papst. Wie dieser ist er eine Person ohne Prunk: So sitzt der Eremit „an einem rohen Tische, im grauen Arbeitskittel" (241), der Grafsche Papst sitzt an einem „roh gezimmerten Tisch" (GRAF 1994: 309) und ist mit einem „abgeschabten, ausgebleichten, grobleinernen Overall" (ebd.: 405) bekleidet. Und wie dieser ist er für alle da und von allen gefragt: „Selbst Angehörigen fremder Kulte und solchen, die gänzlich außerhalb des Glaubens standen, begegnete man bei ihm. Für alle fand er das rechte Wort" (243); „Er liebte alle Menschen" (439). Was sich hierin äußert, ist wesentlicher Bestandteil der aporetischkomplexitätsreduzierenden Utopie,16 die Konzeption der Vereinnahmung sämtlicher Lebensbereiche und Positionen, und sie ist mit einigen weiteren zentralen Denkprämissen und Grundkonstellationen korreliert: 1. mit Ordnungsdenken und festen Formen; 2. mit Entdifferenzierung von Lebensbereichen und damit Komplexitätsreduzierung; 3. mit Ganzheitsdenken und Favorisierung des Syntheseprinzips, der Einheit; 4. mit harmonischem Ausgleichsdenken, der Verbindung/Beibehaltung von eigentlich Unvereinbarem, sich Ausschließendem; 5. und dementsprechend mit Aporien. Ordnung und Eindeutigkeit sind in Heliopolis etwa an der Konzeption des Kunstdiskurses zu sehen. So gibt es genau drei Künstler, die alle einen je anderen Zuständigkeitsbereich aufweisen: Halder ist Maler, Ortner Autor, Serner Philosoph. Von jeder Sorte gibt es nur einen Vertreter. Konkurrenz oder verschiedene Ansichten sind damit per se ausgeblendet. Was die Einzelnen äußern, ist nicht-relativierbare Wahrheit. Gespräche sind damit keine Diskussionen, sondern maximal Einfühlung in den Bereich des Anderen. Zudem sind sie universell, d. h. für alles zuständig. So hat etwa Serner zu jedem Thema, das in Heliopolis von Relevanz ist, eine Abhandlung etc. verfasst bzw. sich zu diesem Thema geäußert (vgl. etwa 201). Analoges gilt fur die Wissenschaftler:

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Zur Modellierung der aporetisch-komplexitätsreduzierenden Utopie (und deren Pendant, der apodiktisch-restriktiven) siehe KRAH (2004).

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Taubenheimer ist der Ozeanologe, Fernkorn der Germanist - der zudem als „genialer Einfuhler" (41) gilt. Ganzheit bestimmt wissenschaftliche Erkenntnis wie künstlerische Produktion: Solange ich als Lehrer an der Akademie von Heliopolis verweile, werde ich immer darauf halten, daß alle Einzelbeobachtungen und Studien sich krönen, zusammenschießen müssen in Augenblicken solcher Art. Vom Ganzen kommt jede Wissenschaft und muß dem Ganzen zufuhren. (28) In jedem Autor, würdig dieses Namens, lebte ja ein Wille, der auf das Ganze zielte, ein Funke schöpferischer Macht. (94)

Propagiert wird ein idealistisch geprägtes Wissenschaftskonzept (das, historisch gesehen, spätestens in den 20er Jahren einem ,modernen' gewichen ist), für das gerne auf Goethe und Ritter als Bezugsgrößen verwiesen wird. Entdijferenzierung vollzieht sich insbesondere anhand der Bereiche Wissenschaft, Dichtung und Theologie. Wie zu zeigen ist, werden Wissenschaft und Dichtung nicht als verschiedene Diskurstypen angesehen. Ebenso werden Wissenschaft und Theologie enggefuhrt, wie das „Wunderwerk der theologische[n] Physik" (61) zeigt, das „einem blanken Schilde gleich den Mächten der spaltenden und diabolischen Vernichtung so siegreich entgegengehalten war" (61). Postuliert wird: Die rechte Lehre muß zu denselben Zielen fuhren, gleichviel ob man sich auf dem Wege der Wissenschaften oder des Glaubens naht. Auf hohen Stufen schmelzen die Theorien und Bilder ineinander ein. (105)

Auch Theologie und Dichtung werden miteinander verschmolzen, so etwa über den theologischen Roman, der „um die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts inmitten der Verwesung des alten Gesellschafts- und psychologischen Romanes so überraschend zur Blüte gekommen war" (332).17 Ebenso gilt das Diktum des Germanisten Fernkorn, dass Literaturgeschichte als wesentliches Mittel der Religionsgeschichte bedarf und Literaturwissenschaft „zunächst den Glaubensinhalt eines Autors [ermitteln muss], als Quelle der schöpferischen Kraft" (331). Komplexitätsreduzierung zeigt sich insbesondere an der Relevanz von und der Hinwendung zu den einfachen Dingen.18 So hat Ortner eine Studie über die

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Diese Passage fehlt 1964 (vermutlich weil es in der textexternen Realität dann doch anders gekommen ist und sich die ,Prophetie' nicht ganz bewahrheitet hat). Siehe hierzu auch KRAH (2002a) und KRAH (2004); Einfachheit ist wesentliche Voraussetzung fur die utopische Glückskonzeption: „So kommt es, dass einfache Menschen leichter auch glücklich sind" (135).

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einfachen Geräte verfasst (110 f.). Einfachheit ist die Kategorie, die eine positive Bewertung lenkt. So argumentiert Serner (als Philosoph!): Das unvergängliche Verdienst der Schrift [der Heiligen Schrift, also der Bibel] und ihrer Figuren liegt darin, daß sie das Verhältnis auf die einfachste Formel bringt. (120)

Die Aufhebung von Unterschieden wird zwar propagiert, doch darf, so ist zu schließen, diese Synthetisierung nicht zu amorphen Gebilden und völliger Strukturlosigkeit und Unordnung führen. 19 Aporetisch wird dem Rechnung getragen, indem in die Weltordnung eine Grenzziehung eingeführt ist, die zur Konturierung notwendig ist und deren Existenz außerhalb von Reflexion und Diskussion bleibt. Dienten hierzu bei Graf die Stillen - eine Sekte, die sich der ansonsten propagierten „Völkervermischung ohnegleichen" (GRAF 1994: 370) verweigert, die der Text gleichwohl als Vorbild für das Zusammenleben der Menschen allgemein setzt - , so sind dies bei Jünger die Färsen, die abgegrenzt von den übrigen Bewohnern von Heliopolis im „Parsenviertel" (66) leben, durch spezifisch eigene Sitten und Gebräuche gekennzeichnet sind,20 unter die Rubrik „Fremdvölker" (275) klassifiziert werden und, wie es explizit heißt, in der Nachfolge der Juden deren Funktion als Feindbild, Sündenbock und das Fremde schlechthin übernehmen. So „traten die Parsen die Erbschaft der Verfolgung an" (65). Hinterfragt werden diese Konstruktion und deren Denkprämissen nicht. Die Parsenpogrome, die Teil der Texthandlung sind, werden zwar von der Erzählinstanz bedauert, aber als quasi natürlicher Ausdruck der restlichen Gesellschaft und unvermeidlich gesetzt. Das Ausgleichsdenken wird im Text insbesondere anhand der zentralen Paradigmen Bewegung/Stillstand, alt/neu, Freiheit/Notwendigkeit, Ordnung vorgeführt. Gerade im letzten Paar zeigt sich wiederum die aporetische Struktur, da das Ordnungsdenken ja auf Totalität zielen müsste, dennoch aber ein systematisch eigentlich nicht vorhandener - Freiraum installiert wird, um den Eindruck von Totalitarismus und Fremdbestimmung zu vermeiden. Vorgeführt wird dies anhand des Protagonisten Lucius de Geer. Dieser ist zwar im Dienste des Prokonsuls, dennoch wird Lucius im Unterschied zu allen anderen - „sie alle wußten, was sie wollten und hielten Kurs" (238) - als der Einzige beschrieben, der keine eindeutige Position vertritt und der demgemäß ein Su-

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So ist Ordnung denn auch im Besäufnis zu finden, vgl. 188. So etwa durch ihre Bestattungsriten (vgl. 388 f.), bei denen der Leichnam in den Türmen des Schweigens von eigens dafür ,bestallten' Geiern vollständig abgenagt wird, um den Toten von allem Fleischlichen zu reinigen. Jünger referiert hierbei auf kulturelles Wissen über spezifische indische Sekten, und dieses Wissen findet sich auch in anderen Texten wieder, zumeist nicht positiv konnotiert wie bei Jünger, sondern als Horrorszenarium. So etwa in Reinhold Eichackers Die Fahrt ins Nichts von 1924.

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chender ist. In der dualistischen Ordnung erscheint er als Störung: „Er lebte in einer anderen Wirklichkeit, die die Parteiung nicht völlig aufspaltete. Es blieb da immer noch ein Drittes außer Freund und Feind." (179). In der Handlung äußert sich dies dann insofern, als er bei einem Unternehmen eigenmächtig von dem Auftrag abweicht und eigene Entscheidungen trifft, die den Erfolg des Auftrags beeinträchtigen. Dennoch führt der Text mit Lucius kein Element der Unordnung ein, d. h. ein wirkliches Drittes außer Freund und Feind und damit eine Graduierung von Unterschieden gibt es gerade nicht. Der Text löst das Problem, indem eine Dualität auf höherer Ebene eingeführt wird, eben die zwischen dem Regenten (und der Theologie) und dem irdischen Konflikt zwischen Landvogt und Prokonsul. Die Ordnung bleibt, so wie sie ist, erhalten, bleibt ein festes System. Lucius scheidet aus der Welt aus, sein vermeintlicher „Sturz", wie das betreffende Kapitel heißt, stellt sich aber als Himmelfahrt heraus, da er in den Dienst des Regenten aufgenommen wird. Dementsprechend wird Lucius' Verhalten von entscheidender Seite, von Ortner, denn auch nicht als Normverstoß bewertet: „Sie sind kein Aufrührer, und ihre Wandlungen entsprechen Ordnungen in Ihrem Inneren" (415). Der Verstoß gegen die Ordnung ist selbst einer Ordnung geschuldet und damit Ordnung. Lückenlose Perfektion, begrifflich im Text als Plan gefasst, wird abgelehnt:21 „,Sie wollen also auf den Plan verzichten, selbst wenn überlegene Weisheit ihn regiert?' ,Wenn er das Heil gefährdet, ja!'" (428), dennoch aber auch nichts außerhalb der Ordnung zugelassen: Die Morde, die Kriege, die Grausamkeiten liegen nicht außerhalb des Planes, da es nichts gibt, was außerhalb des Planes ist. Doch liegen sie zum großen Teil außer dem Gesetz. (248)

Deutlich artikuliert sich hier eine Aporie des Textes: zwei eigentlich unvereinbare Positionen, die dennoch gleichzeitig gelten sollen und auf die beide nicht verzichtet werden soll. Nicht aufgegeben wird die Allmacht Gottes, die nicht dadurch relativiert werden darf, dass man etwas außerhalb des Heilsplans zulässt. Zugleich muss diese Planwirtschaft dann aber von anderen abgegrenzt und muss vor allem der menschliche Eingriff bei Veränderungen auf ein kontrollierbares Maß beschränkt werden. Das folgende Zitat verdeutlicht die hierbei zugrunde liegende prinzipielle Struktur: Stets unveränderlich sind beide Größen uns gegeben: die Freiheit des Menschen und das Ganze dieser Welt. Das heißt, dass wir auch stets von neuem zu dem Versuche, sie sinnvoll zu verknüpfen, verpflichtet sind. (123)

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Vgl. dagegen die Konzeption in Der Arbeiter, siehe den Beitrag von Wünsch i.d.B.

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Quintessenz ist die Verknüpfung, die Synthese, ist der Blick auf das Ganze und damit auf die Ordnung, in der es einen (möglichst kontrollierbaren) Platz für das autonome Individuum zu schaffen gilt. Diesem Dilemma wird mit einer Trickster-Figur begegnet: 22 Über Christus heißt es: Christus war stärker als Plato, als Sokrates [...] Er hatte den Schwerpunkt der Geschichte transzendiert. Er hatte eine Unbekannte in sie eingeführt. Der Mensch war unberechenbar geworden. (412)

Dieses Unberechenbare wird als Opfer-Gedanke 23 ausgeführt, das Opfer ersetzt den Plan und liegt in einem genau angebbaren Rahmen, der christlichen Theologie. Mit diesem Trickster wird also eine geordnete Störung installiert. Das Unbekannte führt dabei nicht zu Neuem, wirklich Unberechenbarem, sondern immer wieder zu Bekanntem zurück und stabilisiert damit die Ordnung. Und wenn Pater Foelix eine Öffnung favorisiert, dann eben genau eine solche, die zu Altbekanntem zurückfuhrt, zu christlichen Moralvorstellungen. Stillstand wird als Bewegung verkauft. Die Welt soll geöffnet werden, zum Ruhme Gottes. So kann Serner als Philosoph postulieren: ,,[J]ene Kriege, die um seine [des Abendmahls] Gestalt gefuhrt wurden, sind sinnvoller als unsere ökonomischen" (119), und Pater Foelix kann sich (ausführlich) zu Themen wie Geburtenkontrolle, Sexualität und Selbstmord äußern, immer im Verweis und unter Berufung auf tradierte Autoritäten: Die Zeugung ist stets von Schuld begleitet und mehrt die Übel dieser Welt. Daher ist es verdienstvoll, wenn man sich enthält. Schon Paulus hat darüber das Nötige gesagt. Doch wird man fehlen, wenn man menschliche Pläne aussinnt, sei es um die Geburten zu vermindern, sei es um sie zu steigern zum Zwecke der Übermacht. (251 f.) Schlag nach, was Augustinus im Gottesstaate vom Selbstmord sagt. Du findest dort das Nötigste. (254)

Beide Verweisungen sind im Übrigen in der Ausgabe von 1964 nicht mehr vorhanden, ebenso wenig wie die folgende Sentenz von Pater Foelix, in der er sich über die großen Kriege der Vergangenheit äußert:

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Jüngers Eumeswil von 1977 liegt das gleiche Problem zu Grunde, hier wird es aber anders zu lösen versucht: über die Einführung des Anarchen und die Differenzierung in Anarch vs. Anarchist. Breiten Raum nimmt dieser Opfer-Gedanke auch im Unterricht in der Kriegsschule anhand der Geschichte vom ,Steg von Masirah' (223 ff.) ein. Siehe hierzu auch Kiesel i. d. B., dessen Bewertungen ich aus dem Kontext des Textes heraus nicht uneingeschränkt teilen kann.

Die Apokalypse als literarische Technik. Jüngers Heliopolis

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Stets leitet sie der Angriff auf die Klöster und die Eremitensitze ein [...] - nicht minder als die Einebnung der Schranken, die der zügellosen Mischung und Vermehrung errichtet sind. Gleich Eintagsfliegenschwärmen schwellen dann die Massen an. (252)

Als zentrales Paradigma artikuliert sich hier wieder das der Begrenzung und des Maßes, etwas, worin sich Jünger von Grafs Roman unterscheidet. Bei Graf ist (noch) eine der Frühen Moderne zuzuordnende Unbegrenztheitsideologie bestimmend, etwa was das Bild der Technik anbelangt. Jüngers ,Mäßigung' dürfte dem Diskurs der 50er Jahre zuzurechnen sein und hat dort, wie literarische Technikfiktionen zeigen (vgl. K R A H 2002a), eher generell für Wissenschaft und Technik zu gelten. Sprachrohr fur diese Paradigmenvermittlung ist vor allem Ortner: ,,[E]wig bleiben die Maße, wie ja auch ewig die Sonne aufund untergeht" (123), und sie zeigt sich insbesondere in dem - bereits 1949 als eigenständige Publikation erschienenen - Abschnitt „Ortners Erzählung" (138-170), in dem eine eigenständige Narration, die ir. der Manier der Teufelspaktgeschichten des 19. Jahrhunderts (speziell der Romantik)24 verfasst ist, eingebettet ist: Im Berlin der 20er Jahre situiert, wird der Mangelsituation des namenlosen Protagonisten durch die Augentropfen eines Dr. Fancy begegnet, durch die er unbegrenztes Wissen und unbegrenzte Macht erlangt, da er durch den nun gegebenen ungetrübten Blick Zusammenhänge erkennen kann und so prophetische und prognostische Fähigkeiten erwirbt. Diese Gabe, dieser Blick von außen, ist es aber gleichzeitig, die ihn von den Menschen entfremdet und zur Einsicht bringt, nicht nur selbst ,betrogen', sondern dabei zugleich gegen die Menschheit an sich funktionalisiert worden zu sein: „Mein Anschlag gegen die Menschen war ungeheuerlich, war der des Erzfeindes" (159). Im Unterschied zur Teufelspaktgeschichte des 19. Jahrhunderts ist es hier allerdings nicht zu spät. Katalysiert durch die Liebe zu einer einfachen, jungen, natürlichen Frau, ist die Gabe reversibel und kann die zu scheitern drohende Initiationsgeschichte des Subjekts - als parabolisch zu lesende Allgemeingültigkeit einer Begrenzungsideologie (166), die zugleich auch Emphase reduziert gerade noch positiv kanalisiert werden. Neben den expliziten Verhaltensvorgaben und Sentenzen gibt Pater Foelix als Imker auch ausführlich eine Bienenideologie (eine Bienenmetaphorik durchzieht darüber hinaus den gesamten Text) zum Besten: „Die Bienen sind ja in vielem vorbildlich, weil in ihrem Leben der Wille des Schöpfers, ohne durch die Vernunft getrübt zu werden, sich offenbart" (245). Inhaltlich soll darauf hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, erwähnenswert ist sie insofern, als sie eine Analogisierungsmöglichkeit bietet, an Denktraditionen partizipiert und im Diskurs der Zeit in vielfältiger Weise und ideologisch

24

Vgl. zu diesem Kontext HOFFMANN (1991); im Text findet sich denn auch ein expliziter Verweis auf Schlemihl (162).

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durchaus flexibel eingesetzt wird. Verwiesen sei auf Hermann Brochs Die Schuldlosen (1950), mit der Figur des alten Imkers und seiner Enkelin Melitta,25 auf Veit Harlans Storm-Verfilmung Immensee (1942) und auf die Reihe der Gedichte aus den 30er und 40er Jahren, die den Bienen gewidmet sind, namentlich Friedrich Bischoffs Die Bienenode (1935), deren letzte von 15 Strophen lautet: Und ich trank mich durch die Honigwürzen Blumengründe, Blütenwelten tausendfältig bunt. Vor dem letzten Tropfen, schon im Niederstürzen, Küßte Bienenvater Gott die Frage mir vom Mund. (BISCHOFF 1935: 22)

Hier artikuliert sich dann auch inhaltlich die Ordnung, die der Jiingersche Text propagiert. Eine Ordnung, die der Text aber als aus einem Übergang resultierend und somit als Veränderung und neue Ordnung setzt (analog Graf), ein Übergang, der literarhistorisch und denkgeschichtlich mit einer Abkehr von Paradigmen der Frühen Moderne korrespondiert. Der Weg geht von einer Männerwelt, die als männerbündnerische erscheint und durch Kälte, Entfernung, Panzer, solipsistische Existenz geprägt ist,26 wieder zu einer Männerwelt, nur dass diese nun hierarchisch strukturiert und eine väterliche Ordnung ist, die sich neben der Unterordnung unter den Vater - im Sinne der ,neuen' Konzeption des Wortes - durch Nähe („wie früher die Entfernung, war nun die Nähe eminent" - 421), Wärme („Budur war vielmehr Wärme" - 436) und Paarbildung auszeichnet und sich als natürliche Ordnung geriert.

4. Der Wandel des Konzepts der Person und das Verhältnis der Geschlechter Die Aufgabe des Konstrukts des gepanzerten Mannes, der seinen Ich-Panzer für andere Werte öffnet (und damit die Abkehr von Paradigmen der Frühen Moderne), wird im Text an der Wandlung des Protagonisten Lucius de Geer vorgeführt - und hierbei hat Pater Foelix den entscheidenden Anteil. Lucius stammt aus dem Burgenland, und dieser Raum steht für eine bestimmte Lebensphilosophie: Das Burgenland wird als ,jene Schicht [...], die ruhend ist und die doch der Bewegung zugrunde liegt" (342), als „Vaterland in seiner letzten Sublimierung" (361) apostrophiert, und steht für „eingeborene Kenntnis des guten Maßes" (359), für die „Reinheit der Rasse" (360), für Ord-

25

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Laut Brochs eigenem Kommentar zu ,Inhalt und Darstellungsmethode der Schuldlosen' ist der Imker die eigentliche Hauptperson des Buches. Siehe dazu allgemein LETHEN (1994), LINDNER (1994) und THEWELEIT (1982). Die Figur des Bergrats und das besondere Interesse an Edelsteinen/Bergkristallen bilden dieses Ideal von Kälte und Starre im Text mise-en-abyme ab.

D i e Apokalypse als literarische Technik. Jüngers Heliopoüs

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nung: „Von dort kehrt immer wieder die Ordnung in die Welt zurück" (361). Das Burgenland ist ein Raum, der sich der Technik und Technisierung verschließt, ein patriarchalisch organisierter (mittelalterlicher) Feudalstaat, eine nicht funktional ausdifferenzierte und insbesondere ideologisch geschlossene Gesellschaft, wenn es etwa heißt: „Das Gute und das Echte sind in unserer Sprache synonym" (359). Die Männer aus dem Burgenland sind durch eine Aura der Integrität und Autorität gekennzeichnet - über den Chef, den zweiten Mann nach dem Prokonsul, heißt es: „Es wohnte ihm ein Zug von angestammter Freiheit inne, der ihm unmittelbare Autorität verlieh" (81) - , die sie wesensmäßig von den übrigen Menschen der Welt im Allgemeinen und den Bewohnern von Heliopoüs im Besonderen ab- und hervorhebt. Obwohl die geographische Lage des Burgenlands nicht spezifiziert wird, bestehen dessen Bewohner aus ,,blonde[n] Sachsen und dunklere[n] Franken" (35 f.), so dass das Burgenland als die utopisch-idealistische Verbrämung und Wunschvorstellung eines deutschen Kulturraums zu erkennen ist (Lucius weist im Übrigen Anteile beider Stämme auf). Dieses ,Idealgebilde' Burgenland repräsentiert im Text letztlich einen Raum der Männerbünde, und das Leben nach deren Regeln erfordert einen spezifischen Umgang des männlichen Subjekts mit sich selbst. Für den Palast, der als Raum die Semantik des Burgenlands in Heliopoüs verkörpert, gilt: „Das Leben, das man im Palaste führte, setzte eine Art von Panzerung voraus, von großer Abgeschlossenheit" (298 f.). Diese Semantik als männlich dominierter Raum wird gerade dann deutlich im Text, wenn die zufällige Aufnahme der Halbparsin Budur als Ereignis, als Grenzüberschreitung im Lotmanschen Sinne,27 inszeniert wird. Hier gelten die Prinzipien, die sich aus der auf stoische Traditionen begründeten Lehre von Nigromontanus, des ersten Lehrers von Lucius und in dieser Funktion Vorgänger des Paters, ergeben. Bestimmend sind spezifische Korrelationen von Leben und Tod, die auf das Konzept des emphatischen Lebens der Frühen Moderne verweisen (vgl. etwa W Ü N S C H 1 9 8 3 ) . Zu sehen ist dies etwa in Formulierungen wie: „Und gerade die Bedrohung weckte ein neues, starkes Gefühl des Lebens a u f (95), oder: Die Oberfläche, das heißt, die Erde, ist Kampfplatz und Liebesbett der inneren und äußeren Mächte. [...] Daß beide ein und dasselbe sind, nur durch das Wort ,Es werde' aufgespalten, wirst du erfahren, wenn du den Tod als größten Liebesakt begreifst, der dem der Zeugung die Waage hält. (327)

So kann vom „Triumph des Todes" (180) gesprochen werden: „Dann mußte man versuchen, ein wenig Süße aus ihm [dem Tod, H.K.] zu saugen, wie sie im Schoß der Blütenkelche perlt, ein wenig Nektar als Raub und Lohn" (180).

27

Siehe hierzu einführend KRAH (1999).

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Der Tod ist Liebe, und Todesnähe gesteigertes Leben („Die Todesnähe steigerte die Lust" - 57), diese Vorstellung korrespondiert gleichzeitig mit einem spezifischen Verhältnis zum anderen Geschlecht. Denn dieses stellt die eigentliche Bedrohung fur den Mann dar. Vorgeführt wird dies anhand der Begegnung von Melitta und Lucius. Melitta, obgleich bereits durch Pater Foelix' Hände gegangen und beileibe keine femme fatale, wird als in der Gegend verwurzelt charakterisiert und weist trotz Domestizierung (durch den Pater) die der Frau an sich zugeschriebenen, innewohnenden, für den Mann bedrohlichen Merkmale auf. Bei der Annäherung zwischen Lucius und Melitta des Nachts in der Natur heißt es: „Man spürte, wie die uralten Kräfte rege wurden" (196). Und dann, über Melitta: Der Körper blühte in der Umarmung zu ihm empor, als Träger, als Inbild unerhörter Geheimnisse. Die Erde, die alte, starke Mutter rief aus ihm, sie, die im Schmuck der Blumen und Früchte sich erhöht und hier sich köstlich krönt aus mürbem Totengrund. (196)

Lucius kann in letzter Minute widerstehen: „Doch wie ein Schwimmer, bereits vom Purpurstrudel mächtig angesogen, riß er sich empor. Er faßte den Kopf des Mädchens zart mit beiden Händen und küßte es, brüderlich" (196). Sexualität wird also als ein Versinken im Meer metaphorisiert, doch hier kann sich Lucius der Frauenfluten noch erwehren, hier ist sein Panzer noch intakt.28 Der Text führt im weiteren Verlauf aber vor, dass dieser Panzer abzulegen ist, er also einer nicht mehr adäquaten Personenkonzeption entspricht. Freilich nicht, um sich ungezügelt der Sexualität hinzugeben und sich so zu entgrenzen, sondern selbst in funktionaler Absicht. Die Öffnung, die Pater Foelix anstrebt, ist eine, die dann auch gleich wieder gebunden wird. Zunächst wird im Text diese Öffnung, das Aufbrechen des Panzers, als metaphorische Penetration Lucius' durch den Pater beschrieben: 29 Lucius fühlte wie jeder, der sich dem Pater näherte, daß ihm gegenüber die Starre nicht aufrecht zu erhalten war. Sein Geist berührte sie wie ein Lichtstrahl, der das Eis zerschmolz. Er Schloß im die Brust auf, und neues Leben zog in ihn ein. Das war ein Einbruch, der wie eine große Liebesentdeckung zugleich schmerzlich und fruchtbar in höchstem Maße war. [...] Mit Beben fühlte er, daß er gebrochen wurde, und daß ihn die Macht verließ, die ihn umgürtete. (299)

Dergestalt entjungfert und vorbereitet, kann dann Budur Peri, die Halbparsin, den Platz einnehmen, den ihr der Pater bereitet hat, was dann auch in einer

28 29

Vgl. zu dieser Metaphorisierung allgemein THEWELEIT (1987). Wenn in diesem Kontext vom Pater als ,,Eremit[en] mit Liebeskraft" gesprochen wird, „umfassend wie ein Element" (298), dann sind damit die Bezüge zum Schlussakt von Goethes Faust II unübersehbar.

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vom Pater legalisierten Zweisamkeit mündet; eine Zweisamkeit allerdings, die wenig sexualisiert ist (und die lebbar nur im Himmel des Regenten ist).30 In der Narration wird dieses endgültige Aufbrechen des Panzers durch die Lorbeernacht, einen gemeinsamen Drogengenuss von Lucius und Budur, vorgeführt, in der in detaillierter Raummetaphorik ein Abstieg in die inneren Regionen, „in Tiefen, die sonst verriegelt sind" (394), unternommen wird und an deren Ende sich Budur schützend wie eine Mutter über Lucius wirft. Der Verlust des Panzers - „Der Panzer war gebrochen" (411) - ist dabei mit der Erkenntnis verbunden: „Er sah, daß er in einem wunderbaren und längst vertrauten Garten war. Und neues Leben zog ihn in ein" (402). Funktionalisiert werden hier Konzepte der Frühen Moderne, um aus dieser ,auszusteigen'. Denn der individuelle Abstieg in die eigene Tiefe, mithin die psychologische Dimension, die daraus resultierende Selbstfindung und die Belohnung, das ,neue Leben', haben mit Individuation und Personwerdung wenig zu tun - liegt das Neue doch in der Anerkennung einer subjektübergeordneten, allgemeinverbindlichen und traditionell-konservativen Normen- und Wertewelt und Einordnung in diese. Diese Anerkennung kann aber als .autonomer' Kampf im Innern der Person inszeniert werden: „Der letzte und stärkste Gegner, den man zu erlegen hatte, blieb das eigene Ich" (411). Diese Anerkennung ist auch nicht, wie es den Anschein haben könnte, mit einer Neukonzeption der Frauenrolle und der Geschlechterrollen verbunden. Budur ist bei diesem Prozess nur „das Medium, durch das neue, ihm unbekannte Kräfte sich in ihm verwirklichen" (413). Diese neuen Kräfte schließt Budur wie ein Gefäß in sich ein, und sie kann (und muss) davon dem Mann abgeben, zu dessen eigener Rekreation; dies ist ihre Aufgabe: Dort [in der Lorbeernacht] hatte versagt, was Panzer und hörnerne Härtung an ihm gewesen, doch hatte sich bewährt, was in ihr von innen nach außen getreten war. (436)

Bezüglich der Geschlechter bleiben spezifische Roilenzuschreibungen und Funktionskontexte ganz eindeutig erhalten. In Heliopolis zeigt sich zwar, wie Lucius resümiert, ein neuer Typus von Frau, doch der hat „nichts mit der frühen Emanzipation zu schaffen - dem Wettstreit mit der männlichen Gedankenwelt" (353). Männlich/weiblich bleibt als ideologische Grenze im Denken erhalten (und damit ist wiederum eine Grenze installiert, die von der utopi-

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Wer nicht eindeutig ist, muss die Welt verlassen. Deren Strukturierung als Entweder-oder-Ordnung wird damit implizit bestätigt und bekräftigt. Die Auslagerung in den Weltraum ist insofern als Problemlösung kohärent, ist dieser doch als Raum konzipiert, der konstitutiv über dieses Gegenmerkmal zur Welt verfugt. Über Phares, den blauen Piloten der Rakete des Regenten, heißt es: „Er kennt die schwerelosen Räume [...], dort gibt es unsere Gegensätze nicht" (424). Diese Problemlösung ist auch im Kontext des ,Ausweg'-Konzepts zu sehen.

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sehen Synthese unberührt bleibt, wiederum analog zu Graf). Ein Einbruch der Frau in die männliche Sphäre, die sich im Text insbesondere an den Wissenschaftsdiskurs klammert, wird nicht ins Kalkül gezogen. Im Gegenteil, wie die folgende Passage zeigt, und solche Passagen sind denn auch 1964 zumeist geblieben: Bei alldem hatte man nicht den Eindruck der gelehrten Frau. Die Geistigkeit blieb weiblich - zwar frei, doch anschmiegsam zugleich. Das Wissen war weniger ein Schlüssel zu den Dingen als zu ihr selbst. (332)

5. Text, Genre, Kunstthematik - das utopische Programm Jüngerscher Argumentation Ausgehend von der Lorbeernacht, dem gemeinsamen Rauscherlebnis von Lucius und Budur als Abgesang ,frühmoderner' Grenzerfahrung,31 lassen sich abschließend einige poetologische Implikationen anschließen, Grundpositionen des Textes betreffend. So wird der Weg durch die inneren Regionen immer mehr zu einer Kreisbewegung, die die Gefahr des Abschlusses und das Fehlen der, wie oben dargelegt, propagierten Kategorie der Öffnung anzeigt. Eigentlich ist aus diesem Raumsystem, und damit aus dem eigenen System selbst, kein Entrinnen möglich; die positive Lösung für Lucius, seiner eigenen Psyche zu entrinnen, ist nur mit Fremdhilfe Budurs von außen zu leisten. Was hier narrativ inszeniert ist, ist eine Konzeption, die sprachlich-verbal mit dem Begriff Ausweg umschrieben werden kann. Dieser Begriff ist lexikalisch rekurrent im Text zu finden (etwa 124, 127, 422, 435), und er ist literarhistorisch bedeutsam, da in ihm und mit seiner Metaphorik eine Konzeption zum Ausdruck zu kommen scheint, die auf das Weg-Ziel-Umweg-Modell der Frühen Moderne und dessen Relevanz bei Selbstfindungsprozessen Bezug nimmt (vgl. 32 WÜNSCH 1989), gleichwohl aber, als Phänomen der 50er Jahre, dieses transformiert. Nun werden andere Faktoren hierbei fokussiert. So verdeutlicht etwa die Formulierung „Wo blieb ein Ausweg in diesem Labyrinth" (386), dass nun die Umwelt des Subjekts verstärkt in den Vordergrund tritt (das Labyrinth) und das Verhältnis von Individuum und Umwelt Relevanz im Denken gewinnt. Diese Umwelt wird zudem als prinzipiell nicht veränderbar gedacht. Systematisch-raumverändernd kann das Individuum in für es selbst negativ bewertete

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In diesem Kontext ist es signifikant, dass in der Fassung von 1964 der Abschnitt „Gespräche über Rausch, Macht und Traum", in dem es überwiegend um Drogen geht, in „Gespräche in der Voliere" umbenannt ist und damit der ,Exzess' zumindest sprachlich kaschiert wird. Vgl. hierzu auch TITZMANN (2002). So auch in Hans Henny Jahnns Der staubige Regenbogen·, siehe KRAH (2001).

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Verhältnisse nicht mehr eingreifen, möglich ist nur mehr der Ausweg als punktuelle, nicht hundertprozentig befriedigende, da als ohne Alternative und somit als aufgezwungen erfahrene Lösung, die die Strukturen, so wie sie sind, unverändert zurücklässt. Diese resignative Komponente wird im Text aber kaschiert, indem das ,Labyrinth' eben durch die zu erwartende Utopie ersetzt wird - die im Übrigen dem Modell der Apokalypse des Johannes sehr nahe kommt. Für die Zukunft versprochen, hat sie literarisch aber schon stattgefunden: Der Erzählzeitpunkt von Heliopolis ist nach der Rückkehr des Regenten situiert. Die Erzählsituation des Textes ist eine auktoriale, wobei sich die Erzählinstanz des Textes nur an einer Stelle des Textes explizit artikuliert. Der Schlusssatz des Textes lautet: Ein Vierteljahrhundert war verflossen seit dem Treffen im Syrtenmeer. Und ebenso lange sollte es währen, ehe sie im Gefolge des Regenten zurückkehrten. Uns aber liegen diese Tage fern. (440)

Der Erzähler synthetisiert sich durch das vereinnahmende „Uns" mit der Gesamtheit aller potentiellen Leser, wobei diese entweder in toto als die Gemeinschaft der realisierten Utopie zu interpretieren und damit in der geschichtslosen Zukunft zu lokalisieren sind, oder es ist in toto und texttranszendierend der Rezipient gemeint, der von solchen utopischen Tagen noch „fern" ist. Beide Lesarten überlagern sich. Im einen Fall projiziert sich der Erzähler an den Zeitpunkt der Handlung zurück (dies ist kohärent mit dem Untertitel von Heliopolis, „Rückblick auf eine Stadt") und vernachlässigt, über die eigentliche Utopie zu berichten.33 Zugleich eröffnet sich die Möglichkeit, das „Uns" transzendiert zu sehen, dann katapultiert sich die Erzählinstanz als Seher in die

33

Dass es um Utopie und die Bedingungen ihrer Möglichkeit geht, wird im Text explizit verhandelt, etwa durch die „Notizen zu einer Utopie" (204, 219) des Bergrats, die als Alternativprogramm verworfen werden. Bereits die Ausgangssituation, die dargestellte Zukunft, die nach einer globalen und somit fundamentalen Katastrophe situiert ist, erhält durch das Merkmal der Diskontinuität die Möglichkeit eines Neuanfangs, bei dem die Frage nach einer möglichen Genese dieser Strukturen ausgeblendet werden kann, da sie sich evident durch den Einschnitt selbst zu plausiblisieren scheinen. Neue Ordnungen können also gesetzt werden und müssen nicht aus bestehenden hergeleitet werden, wobei von dieser Möglichkeit in den Texten der späten 40er Jahre kaum Gebrauch gemacht wird. Für Jünger wie fur Graf gilt, dass keine festen und gefestigten Ordnungen dargestellt werden, dennoch sind diese diskursbestimmend. Bei Graf wird der Weg zu solchen festen und natürlichen Ordnungen geschildert, ein Weg, der ab ovo als stringenter Weg zu einer solchen allumfassenden utopischen Ordnung führt; einer Ordnung, die dann aber nicht mehr Gegenstand des Textes ist. Das fertige Glück kann kurz abgehandelt werden, insbesondere deshalb, da es in diesem Zustand nichts mehr zu erzählen gibt. Bei Jünger ist das Ergebnis das Gleiche, wenngleich weniger fokussiert und etwas komplexer.

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Zukunft, um von diesem Standpunkt aus eine Schau in die Vergangenheit zu machen. Diese Vergangenheit ist aber ohne weiteres parabolisch als Verhandlung von Paradigmen der Textproduktionsgegenwart (Nachkriegsdeutschland) deutbar. In diesem Vermittlungsakt ist der Erzähler selbst utopisch, also aporetisch konzipiert, insofern die Größen Erzähler und Autor oszillieren. Nicht zufällig nimmt im Text ein Kunstdiskurs breiten Raum ein. Dieser betrifft zum einen die Aporie zwischen Unmittelbarkeit und Zeichen/Semiotik: Einerseits wird Kunst als nicht-semiotisch organisiert inszeniert, semiotische Prozesse werden zugunsten der Vorstellung einer natürlichen, ohne mediale Vermittlung ablaufenden und organistisch gedachten Konzeption negiert, so etwa, wenn die Malerei als Blutübertragung gesehen wird (112 f.), andererseits wird so ziemlich jeder Sachverhalt selbst zum Zeichen und erhält Bedeutung über sich hinaus - um Bedeutung zu haben. Kontingentes in der Welt (und rein Körperliches, Materielles) kann nicht als solches stehen gelassen werden, sondern ist immer zeichenhaft als Verweis auf eine ,höhere Ordnung' zu sehen und weist inhärent eine Abbildfunktion auf. Zu sehen ist dies etwa anhand von Geschlechtlichkeit und Paarung (104), der diversen Farbenlehren oder dann, wenn der Untergang der Titanic als Warnung gedeutet wird (vgl. Zitat oben); hier erscheint die dem zugrunde liegende Denktradition dann auch explizit begrifflich, wenn es eben heißt: „Die Katastrophe war in allen Einzelheiten symbolisch" (304, Herv. H.K.). Das Symbol und das Symbolische sind die Lösung der Aporie, die mit deren Hilfe zu überwinden, da aus dem Denken auszublenden ist. Zum anderen ist der Text selbstreferentiell, wenn Ortner darüber sinniert, welche Literaturform den Ansprüchen der zeitgenössischen Gegebenheiten genügen kann, und er sich dabei ausfuhrlich über den Roman auslässt (in diesem Kontext wird etwa das Tagebuch als Ausweg apostrophiert). Für den Roman wird postuliert, dass er „dem Ganzen in Ordnung zu begegnen" (122) weiß. Der Text argumentiert nun vor der Folie einer Entdifferenzierung zwischen Dichtung/Fiktion und ,Realität' im Allgemeinen34 und von Dichtung und Politik, im Sinne einer gesellschaftlichen Aufgabe, im Speziellen, so dass der Dichtung implizit eine soziale Funktion zugewiesen wird: die der Mahnung und des Gewissens. Literatur ist als Ausdruck moralischer Empfindung gesetzt, und damit soll der Autor zu einer außerhalb der gesellschaftlichen Gege-

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So heißt es etwa über das Burgenland: „Es liegt in einem Raum, in dem Dichtung von der Wirklichkeit noch ungeschieden ist" (361). Zu sehen ist dies auch bei den Vorbereitungen zur Lorbeernacht, wenn literarische Esoterik und eigentliche , Sachtexte' als Quellen zur Erkenntnis nicht unterschieden (323 f.) und Topoi wie die „Hohe Vermählung" (327) zitiert werden. Vgl. zu diesem kulturellen Kontext und seinem Bezug zur Frühen Moderne im Übrigen WÜNSCH (1991).

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benheiten stehenden, diese überblickenden Norminstanz etabliert werden, die von niemandem beeinflussbar und zugleich befähigt ist, diese Gegebenheiten zu kommentieren und zu bewerten - als natürliche Autorität, wie sich dies homolog aus dem Text anhand Ortners ergibt, des Repräsentanten eines solchen Autorenverständnisses. Wenn in diesem Kontext gesetzt wird: „Die Dichtung dringt weiter als die Erkenntnis vor" (19), wenn im Text zwischen echter Entscheidung und Willen unterschieden wird, und wenn zugleich die Gegensätze von Wille vs. Form und Wille vs. Anschauung installiert werden, wobei der Wille jeweils mit dem Landvogt korrespondiert und gegenüber dem jeweiligen oppositionellen Term abgewertet ist,35 dann wird in dieser Konstellation deutlich, dass damit letztlich Rationalität und Vernunft als Weltaneignungsparadigmen abgewertet werden. Eigenes Denken (von anderen) wird zugunsten von Vordenkern und Dogmen abgelehnt; Dogmen, die als Form Sicherheit geben. Nicht die Kategorie Form an sich wird also negiert, nur deren Füllung mit dem Panzer. Dieser wird als Form zunächst durch traditionelle Autoritäten ersetzt, die einem hierarchischen Gefüge entstammen, sich von diesem aber isolieren können und als solitäre, autonome und freie, also nicht Institutionen verpflichtete, Wahrsager erscheinen, wie dies zunächst durch Pater Foelix gegeben ist. In dieses Paradigma der alten Männer reiht sich dann textintern mühelos Ortner als Autor ein, der als Autor eben nicht einen ausdifferenzierten Lebensbereich und Bewohner des Elfenbeinturms repräsentiert, sondern als Gärtner in die Welt und ihre Belange bodenständig eingebunden ist. Als Gärtner wie als Autor, so lässt sich unterstellen, ist er um die Pflege der Natur bemüht - und diese Sinnstiftung ist Kennzeichen der Synthetischen Moderne.36

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35

36

Form vs. Wille wird als Gegensatz von Prokonsul und Landvogt gesetzt (269), Wille und Anschauung unterscheiden das Institut und die Akademie. Letztere Opposition ist auch in Lucius selbst fassbar (vgl. 92), wobei die Anschauung eindeutig als besser und adäquater gesetzt ist und es demnach gilt, den Anteil an Willen, der in einem steckt, zu überwinden. Vgl. zur Konzeption einer Synthetischen Moderne zur Beschreibung des Zeitraums v o n ca. 1 9 2 5 - 1 9 5 5 FRANK U. a. ( 2 0 0 4 ) .

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STEFFEN MARTUS

Scheitern als Chance Ernst Jüngers Kunst der Niederlage Jüngers Werk spielt eine Reihe von Grundmotiven mit einer erstaunlichen Kontinuität durch (vgl. dazu JÜNGER 1994: 198; JÜNGER 2001: 210).' Dazu gehört die Gedankenfigur der Verkehrung von Mißerfolg in Erfolg, der ich im folgenden nachgehe. 2 Damit möchte ich zugleich einen Deutungsvorschlag für eine dieser Kunst der Niederlage korrespondierende Werkform machen, die von Beginn an in Umarbeitungen und Selbstzitationen eine eigentümliche Art der Selbstbezüglichkeit aufbaut. Ausgehend von Wolfgang Schivelbuschs Beobachtungen zur Kultur der Niederlage in Deutschland nach 1918, verfolge ich zunächst die unterschiedlichen Facetten und Strategien, mit denen Jünger den verlorenen Ersten Weltkrieg in einen Sieg umdeutet. In einem zweiten Schritt skizziere ich die Übertragung dieser Gedankenfigur, die Jünger in Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg gewinnt, auf andere Felder, insbesondere auf das Feld der Ästhetischen. Ob man dabei - um es in den groben Alternativen zu sagen - von einer Ästhetisierung des Politischen oder umgekehrt von einer untergründigen Politisierung des Ästhetischen ausgehen muß, bleibt offen. Erkennbar werden sollte lediglich die Komplexität der von Jünger bezogenen Position, die seinem bisweilen hochgeschraubten Anspruch an die Kunst als einem , Gleichnis des Unaussprechlichen' nahekommt.

2

Für kritische Durchsicht danke ich Volker Mergenthaler. Vgl. zu Jüngers Werkstruktur, die Selbstgleichheit mit permanentem Scheitern der Diagnosen und Prognosen verbindet, den Beitrag von Harro Segeberg im vorliegenden Band.

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I. Das Trauma der Niederlage ohne Niederlage Der Kriegsbeginn im August 1914 wurde zu einer Art Neugeburt der Nation aus dem Geist gemeinschaftlicher Euphorie stilisiert (vgl. EKSTEINS 1 9 9 0 : 9 3 ff., 2 9 2 ff.; KEEGAN 2 0 0 1 : 1 1 3 ff.; JÜNGER 1 9 7 8 , Bd.l: 5 3 9 ff.). Zwar weiß man mittlerweile, daß der Eindruck kollektiver Kriegsbegeisterung sich einer selektiven Wahrnehmung verdankt (VERHEY 2 0 0 0 ; ULLRICH 2 0 0 1 : 2 6 3 ff.). Dennoch: Für viele Zeitgenossen blieb der nachhaltige Eindruck, mit dem Krieg beginne eine neue Zeit, der Kulissenzauber des Wilhelminismus werde endlich wieder durch das ,Leben' ersetzt, und diese Hoffnungen hielten sich bei aller Desillusionierung - nicht zuletzt der propagandistischen Kriegsberichterstattung wegen - durchaus bis zum Ende des Kriegs aufrecht (ULLRICH 2 0 0 1 : 4 1 0 , 4 2 4 ff., 4 7 1 ff., 5 5 5 ) . Der zäsurierende Effekt des Kriegsendes im Jahr 1918 konnte im Vergleich zum Mythos vom ,August 1914' wesentlich weniger zwingend erscheinen. Entgegen dem Waffenstillstandsabkommen, das klare Verhältnisse herbeiführte und die Kriegsschuld eindeutig verteilte, suchte und fand man einige Indizien, die das Ende des Kriegs oder zumindest dessen Einschätzung fragwürdig werden ließen. Zu dieser Unsicherheit trugen etwa die Aktivitäten der Kampfbünde und Freikorps bei (HLETALA 1 9 7 5 : 2 5 ) oder die Wirtschaftskrise, die bisweilen als Fortfuhrung des Ersten Weltkriegs mit ökonomischen Mitteln gedeutet wurde, so daß dann ,1933' in einer seltsamen Verdrehung der Verhältnisse zu einem Revenement des ,August-Erlebnisses' avancieren konnte. Sicherlich tat auch der jahrelang am Leben gehaltene Gedanke einer Regeneration durch den Krieg das seine (EKSTEINS 1 9 9 0 : 3 0 1 f f ) . Vor allem aber hinterließ die Kapitulation selbst einen seltsamen Eindruck, „weil nie zuvor eine Nation die Waffen gestreckt hatte, deren Armeen so tief in Feindesland standen" - gewiß hatte Deutschland nach dem Kriegseintritt der USA und der mißglückten Frühjahrsoffensive nicht mehr viel zu hoffen, aber in der ersten Hälfte des Jahres 1918 fielen in Paris oder London deutsche Bomben, während es in Berlin in dieser Hinsicht ruhig zuging, und für manche Beobachter erwachte der ,Geist von 1 9 1 4 ' am Ende des Krieges noch ein letztes Mal wieder (SCHIVELBUSCH 2 0 0 1 : 2 0 f., 2 2 9 , 2 8 3 f f . ; ULLRICH 2 0 0 1 : 5 5 2 ) .

Vielleicht lag der Gedanke an eine Kapitulation der deutschen Führung tatsächlich fern, als sie im Herbst 1918 den Waffenstillstand forderte. Wie Wolfang Schivelbusch, dessen Analyse der Kultur der Niederlage ich hier folge, verdeutlicht, wollte die OHL zu einer stabilen Ausgangslage und damit zu einer Position neuer Stärke finden, obgleich die Selbststilisierung zum Opfer und die Umwandlung der parlamentarischen Regierung in den schuldigen Täter ebenfalls von Bedeutung war (SCHIVELBUSCH 2 0 0 1 : 2 2 9 f.; ULLRICH 2 0 0 1 : 5 5 9 f., 563 f.). Daß die Alliierten darauf nicht eingingen und daß der Rückhalt in Deutschland fur dieses Vorgehen fehlte, gehört zu den Fehleinschätzungen, die

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dem Kriegsende dann einen eher zufälligen, auf jeden Fall jedoch wenig überzeugenden Charakter gaben. Man hatte nicht gewonnen - so viel war klar. Aber: Hatte man wirklich schon verloren? Was einigen Beobachtern fehlte, war das heroisch phantasierte letzte Aufbäumen, die finale Mobilisierung der Kräfte, kurzum: ein eindrucksvoller Untergang, der auch zur Rhetorik und Praxis der Totalisierung des Krieges gepaßt hätte (SCHIVELBUSCH 2 0 0 1 : 2 2 9 ff.; ULLRICH 2 0 0 1 : 4 4 0 f.). Weder ließ sich jedoch Wilhelm II. in den Heldentod schicken, wie man in Kreisen der OHL plante, noch fuhr die Flotte zu einer letzten Fahrt in den sicheren Untergang aus. So herrschte nicht nur in Deutschland, sondern auch bei gegnerischen Alliierten eine gewisse Irritation angesichts einer Niederlage, die zu den etablierten Mustern der Niederlage nicht recht passen wollte. Und dennoch bedeutete das Kriegsende, zumal in Deutschland, zweifellos einen radikalen Schnitt. Die Niederlage signalisierte einen Rückfall in die „deutsche Misere", die mit dem Sieg über Frankreich und der Reichsbildung im Jahr 1871 eigentlich als historisch überwundene Episode verbucht sein sollte (SCHIVELBUSCH 2 0 0 1 : 2 2 9 f f . , 2 3 5 , 2 4 0 , 2 4 2 f.; ULLRICH 2 0 0 1 : 5 6 7 f.).

Die extreme Rechte konnte mit dieser komplizierten Lage gut umgehen. Denn auf der einen Seite brauchte sie die Niederlage als Beweis dafür, daß Deutschland am Boden lag und nun neu wieder aufgebaut werden mußte; auf der anderen Seite sicherte sie sich durch das nur ungenügend markierte Kriegsende fortdauernde Relevanz. Der Frontsoldat, der ,im Felde unbesiegt' geblieben und durch das kathartische, die unbrauchbaren Reste einer überkommenen Zeit vernichtende , Feuer' des Kriegs gegangen war, mußte folglich die ideale Führungspersönlichkeit der Zukunft sein (SCHIVELBUSCH 2 0 0 1 : 2 5 1 , 2 7 5 ) . Während die Weimarer Demokraten nur die eine Seite der deutschen Niederlagenkultur gebrauchen konnten, nämlich die Niederlage als Zeichen des Kriegsendes, und damit als Beginn ihrer Erzählung keinen charismatischen Gründungsmythos zur Verfugung hatten, wahrten die Republikgegner insofern die Interpretationshoheit, als sie aus der Schwäche eine Tugend machten. Dies galt auch für die eigene Position in der politischen Auseinandersetzung: Gerade die Ausgrenzung der Frontsoldaten zeigte den Betroffenen, daß der Krieg seine Funktion der Umwertung aller Werte, wie es vulgär-nietzscheanisch immer wieder hieß, noch nicht ganz erfüllt hatte. Was für den Krieg galt, galt gleichermaßen für die Kriegsgegner: „Die Maßlosigkeit der Verneinung", erklärt 1927 ein Vormarsch-Artikel, zwinge dazu, „inniger nachzusinnen und nach den tieferen Werten des Blutes zu spüren" (JÜNGER 2 0 0 1 : 3 7 4 f.). Während die Demokraten also erfolgreich sein mußten, hatten die Antidemokraten Möglichkeiten, das Scheitern als Chance zu verkaufen oder zumindest einen ausbleibenden Sieg und einen andauernden Widerstand als Stimulanz zu verwerten. Ernst Jünger exerziert in seiner nationalrevolutionären Phase die entsprechenden Gedankenfiguren durch, und zwar, wie er selbst 1927 feststellt, bis

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zum Überdruß: „Es beginnt langweilig zu werden, betonen zu müssen, daß die Welt sich durch den Krieg und seine Folgen verändert hat, und daß die Reihenfolge dieser Veränderungen noch keineswegs abgeschlossen ist" (JÜNGER 2001: 370). Auf der einen Seite erklärt er, daß das von ihm immer wieder als Letztkategorie angerufene „Leben" sich eben auch „die Niederlagen dienstbar" mache (JÜNGER 2001: 217). Oder wie es verschiedentlich heißt: „Wir verloren den Krieg, weil wir ihn verlieren mußten" (JÜNGER 2001: 84). Auf der anderen Seite erklärt Jünger, der Krieg gehe weiter und daraus folge, „daß wir ihn noch nicht endgültig verloren haben können" (JÜNGER 2001: 64). Jünger vermittelt die beiden Einschätzungen - also die Negation und die Exaltation der Niederlage - über eine doppelte Geschichte des Ersten Weltkriegs. Im historischen Überblick markiert der Weltkrieg als Zäsur das Ende des bürgerlichen Zeitalters und den Beginn der durch und durch arbeitsförmigen Moderne. Der historische Verlauf des Weltkriegs selbst indes weist über sich hinaus und baut eine zeitliche Brücke, indem in den drei Stadien des Bewegungskriegs, der Stellungsschlacht sowie der durch technische Neuerungen wiederum gelockerten Fronten ein in die Zukunft weisendes Potential kenntlich wird (JÜNGER 2001: 53 f f , 598 ff.). 3 Dabei kehrt Jünger ein geläufiges Interpretationsmodell der ,Niederlagenphilosophie' um (SCHIVELBUSCH 2001: 32 f.): Niederlagen im Zeitalter der Nationalstaatenkonflikte konnten nämlich als Folge bloß materieller oder massenmäßiger Überlegenheit interpretiert werden. Der Sieg des Gegners ließ sich insofern schmälern, als er das ,Innere' des Verlierers, dessen Moral oder nationale Substanz, unangetastet ließ. Der Verlierer gewinnt moralische Überlegenheit, weil sowohl im Land des Verlierers als auch im Land des Siegers der Unterlegene die Zukunft des Überlegenen spiegeln kann. Die Geschichte stellt demzufolge eine Kette von Aufstiegs- und Abfallprozessen dar, so daß zu große Selbstsicherheit als Hybris erscheint und als Korrektiv des Blicks in den Abgrund bedarf. 4 Jünger geht genau den anderen Weg: Gegen die These, daß Deutschland „am Übermaße der Materie zerschellen mußte", wendet er ein: „wenn das wirklich so wäre, dann würde es sehr schlimm um uns stehen. [...] Unsere Erklärung liegt in der Erkenntnis, daß jener Instinkt, jene höhere Sicherheit gefehlt hat [...]. In dieser Erkenntnis liegt zugleich unsere Hoffnung begründet" (JÜNGER 2001: 83 f.). Deutschland war Jünger zufolge noch nicht reif für den Sieg, die Niederlage folglich berechtigt, und weil sie berechtigt war, gab es Hoffnung - Scheitern als Chance. Daß sich diese Sinngebung einem offensichtlich voluntaristischen Zugriff auf das historische Material verdankt, wird von Jünger keinesfalls verdeckt. 3

Vgl. zum Umbruch im Kriegsverständnis im Jahr 1916 EKSTEINS 1990, insbes. S. ff. Im gleichen Zug werden die Wahl eines falschen Bündnisses sowie der „Verrat von 1918" als Grund fur die Niederlage beiseite geschoben (JÜNGER 2001: 83).

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Wenn man im „Schicksalsraum" sein „Glück" finden will, dann muß man den Krieg für sinnvoll halten ( J Ü N G E R 2001: 126 f.). Aber: Was passiert, wenn man für das ,Schicksal', das ,Blut' und die anderen Favoriten des Modernen Nationalismus nichts übrig hat? „Wir müssen glauben, daß alles sinnvoll geordnet ist, sonst stranden wird bei den Scharen der innerlich unterdrückten [...]" ( J Ü N G E R 2001: 201). Oder noch deutlicher: Wäre der Krieg nicht sinnvoll gewesen, so müßten wir ihm schon deshalb einen Sinn zu geben suchen, weil wir eines fruchtbaren Friedens bedürftig sind, denn nur das Sinnvolle kann wirklich fruchtbar sein. Das Blut im großen Kriege kann nicht ,umsonst' geflossen sein. Dieser Krieg wurde nicht umsonst verloren - j a vielleicht ist es für uns wichtiger, daß er verloren, als daß er gewonnen wurde, wie manches Leben durch Schicksalsschläge besser als durch das warme Bad des Glückes geläutert und gehärtet wird. Taten des Herzens können nie vergebens sein, und nicht der Erfolg ist es, an denen sie zu messen sind. (JÜNGER 2001: 393)

Jünger überfuhrt hier Satz für Satz den .Willen' zur Sinngebung in das Sein der Geschichte und münzt damit die Niederlage in einen Sieg um. Er kann sich diesen geradezu provokativen Voluntarismus leisten, weil er damit performativ sein Ziel realisiert - nämlich: den Vollzug des Willens als Wille und aus einem bloßen Wollen heraus, das sich nicht mehr moralisch, politisch oder anderweitig begründen läßt. Mit Jünger gesagt: „Wir wollen also das Notwendige. Warum? Weil es das Notwendige ist!" ( J Ü N G E R 2001: 203) Diese unverschämte Tautologie stört Jünger ebensowenig wie offensichtliche Immunisierungen gegen Argumente.5 Die Exponierung des Willens bietet die Grundlage für Jüngers Niederlagenphilosophie. Der Wille zum Sinn auch und gerade des Scheiterns ist bei Jünger von seinen ersten Veröffentlichungen an präsent, aber er gewinnt im Laufe der Weimarer Republik an Radikalität, vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Legalitätskurs des , Stahlhelm' sowie mit den Nationalsozialisten. Auch hier muß Jünger sich wieder nach zwei Seiten verteidigen und profiliert daher seine Argumente. Gegen die Anbindung an das politische System der Weimarer Republik, die mit der Parole .Hinein in den Staat!' gefaßt wurde, hält Jünger an der Radikalopposition fest - bei aller propagandistischen Vollmundigkeit will er sowohl eine organisatorische als auch eine programmatische Verfestigung und Stabilisierung der nationalrevolutionären Position vermeiden (vgl. dazu S E G E B E R G 1993: 331 ff.); gegen den daraus resultierenden Vorwurf des .Literatentums' wiederum macht er die Bedeutung .geistiger' Festigung deutlich. Beides fuhrt dazu, daß die Ebene, auf die Jünger sich beruft, ins Unausdrückliche rückt. Das „Schicksalshafte hat die Eigenschaft, gegen Worte Ζ. B. beim Entwurf des .magischen Realismus" in Nationalismus und modernes Leben, 1927 im Arminius: „[...] doch geht dieses Leben nicht im Mechanischen auf, und doch ist diese Oberfläche nicht ohne Sinn, wenngleich von ihr aus der Sinn nicht zu erfassen ist" (JÜNGER 2001: 297).

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spröde zu sein: Wir fühlen es" (JÜNGER 2001: 209); oder: „Das Blut ist tiefer als alles, was man darüber sagen und schreiben mag" (JÜNGER 2001: 191). Zugleich läßt diese Unausdrücklichkeit den ,Sinn' des Geschehens „auf keiner Landkarte und in keiner Wirtschaftsstatistik" auftauchen (JÜNGER 2001: 50), macht ihn also auch unverwaltbar.6 Das Unausdrückliche ist eine Ebene jenseits von Sieg oder Niederlage, wie ich unten zeigen werde. Hier fallen die Gegensätze ineins und können daher von Jünger auch verkehrt werden. Um auf dieser Ebene zu argumentieren, ohne sich an die Profanität politischer Auseinandersetzung zu verraten, verwendet Jünger zwei Strategien: Die eine gipfelt in dem Essay Die totale Mobilmachung und läuft darauf hinaus, den Gegner in Selbstwidersprüche zu verstrikken bzw. dessen blinden Fleck zu finden, um so die Dialektik der Humanität und des Fortschritts vorzufuhren. Der Kampf um individuelle Freiheiten stellt demnach das Individuum infrage (JÜNGER 2001: 325), das Engagement für Humanität steigert die kriegerische Gewalt (JÜNGER 2001: 335). Die untergründige theologische Dimension wird vor allem zu Beginn von Jüngers Publizistik deutlich, wenn er den zur Materialschlacht ausgewachsenen Ersten Weltkrieg als „Strafgericht" interpretiert, mit dem „ein Geschlecht eine seit langem angehäufte Schuld" begleiche, und damit auf das Schema der dem Vergehen entsprechenden Höllenqualen zurückgreift7: „Ja, hier erleidet eine Zeit, die im Stoffe das höchste sah, durch den Stoff selbst ein furchtbares Strafgericht" (JÜNGER 2001: 105). Die andere Strategie des argumentationslosen Argumentierens leitet Jünger von Oswald Spengler ab, der die Langeweile zum Argument erhebt: Manche Positionen erledigten sich demnach von selbst, weil sie offensichtlich unattraktiv und reizlos sind (JÜNGER 2001: 318, 341 f., 511, 531, 630). Mag die Dialektik der Humanität noch Ansatzpunkte für eine intellektuelle Auseinandersetzung bieten, so bleibt der Rückgriff auf den Geschmack als politisches Sensorium ein erratisches Moment, und genau um die dem Streit entzogene Qualität des Geschmacksurteils geht es Jünger (JÜNGER 2001, ζ. B. S. 263). Er markiert durch diese Radikalisierung, die ins Unausdrückliche mündet, den Unterschied zweier Denkstile: Der eine kann die Niederlage als Erfolg werten, der andere nicht. Die entsprechenden Denkstile ordnet er - im Anschluß an Oswald Spengler - unter die beiden Rubra „Schicksal" und „Kausalität" (JÜNGER 2001, z. B. S. 104). Finalgenetisches und zweckorientiertes Denken richtet sich demnach am „Erfolg" aus - Scheitern bedeutet hier keine Chance. Das am , Schicksal' sich orientierende Denken, das Jünger immer wieder von einem bloßen Fatalismus abgrenzt (JÜNGER 2001, z. B. S. 86, 115, 555), hält demgegenüber den Einsatz selbst schon für entscheidend. Die von 6 7

Zur medialen Dimension der ,Kunst der Niederlage' vgl. SEGEBERG 1995. So in Dantes Divina commedia (MINOIS 1996: 215 ff.), die im Laufe der Bearbeitung eine gewisse Rolle in den Stahlgewittern spielt (KUNICKI 1993: 318 ff.).

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Jünger entsprechend als „heroischer Realismus" (JÜNGER 2001: 553 ff.) apostrophierte Haltung ist freilich nicht ohne jedes Erfolgsversprechen, denn die Verkündung einer kommenden Zeit, in der der Frontsoldat in , Gestalt' des ,Arbeiters' das Ruder der Geschichte übernimmt, gehört zum Standardrepertoire. Wenn der Gewinn am Erlebnis [des Kriegs, S. M.] sich auch nicht im augenblicklichen Erfolg ausdrückte, so ist er doch vorhanden, das Metall, das damals seine harte Prägung erfuhr, ist immer noch gut, und es werden Zeiten kommen, in denen man froh sein wird, darauf zurückgreifen zu können. (JÜNGER 2001: 100)

Jünger prägt damit die typischen Muster einer Niederlagenhistoriographie aus (SCHIVELBUSCH 2001: 14): das Faible für verdeckte Motivationen, untergründige Beziehungen und verborgene Zusammenhänge. Die ,Dolchstoß'-Variante ist für Jünger auch aus diesem Grund abwegig: „Dieses Bild [...] tut dem einzelnen zuviel Ehre an. [...] ebensowenig wie man einen Krieg ,machen' kann, kann man ihn beenden" (JÜNGER 2001: 108). Der ,heroische Realismus' markiert sich als ,modern', indem er den geschichtlich versicherten Kanon an Werten und Werken verabschiedet. Und er greift zugleich auf eine Ebene zu, die jenseits der aktuellen Problemstellungen liegt. Mit Jünger kann man das wahlweise einen symbolischen, symbolistischen, symptomatologischen oder ,stereoskopischen' Zugriff nennen (JÜNGER 2001: 80, 178, 300, 469, 508, 512, 554; vgl. Martus 2001: 84 ff.). Auch dies ist Ausdruck einer Verteidigung nach zwei Seiten. Denn weder will Jünger sich an geschichtliche Traditionen anbinden noch sich auf die Tagespolitik verpflichten lassen. Eigentlich ist daher nicht einmal die Rede vom Scheitern als Chance im Sinne Jüngers angemessen, denn Jünger stellt die Kategorie des ,Erfolgs' selbst infrage und damit eben auch die Oppositionsbegriffe wie Niederlage' oder,Scheitern'. Der Dialektik der Humanität steht daher bei Jünger die Einsicht in die Dialektik des Widerstands zur Seite. Das hängt wiederum mit Jüngers Radikalisierung zusammen: Die argumentative Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner bedeutet, daß man sich auf Gemeinsamkeiten einläßt. Aber Jünger will genau diese Gemeinsamkeiten aufkündigen. Er lehnt folglich selbst die Haltung des „Revolutionärs" ab, denn dieser „ist ein Mensch, der sich in Gegensatz gestellt hat, und somit abhängig von dem, was er bekämpft [...]" (JÜNGER 2001: 121). Auch die Auseinandersetzung mit dem Legalitätskurs der Nationalisten geht Jünger auf dieser Höhe an: Eine Partei zu bilden, heißt folglich „den Staat anerkennen", wohingegen Jüngers Nationalismus darauf zielt, „mächtiger [...] als der Staat" zu sein (JÜNGER 2001: 151). Kurzum: Jünger verzichtet in typisch lebensphilosophischer Manier (SCHNÄDELBACH 1991: 181 ff.) schlicht auf Widerlegung (JÜNGER 2001: 341 f.). Opposition bedeutet für ihn, in ein System involviert zu werden, das es an sich zu transzendieren gilt. Er will auf einer Ebene operieren, die der Negation als Voraussetzung von Argumentation

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und den entsprechenden Binäroppositionen von wahr / falsch, gut / böse oder gerecht / ungerecht vorausliegt (JÜNGER 2001, z. B. S. 65, 209 f., 353) - der „Nationalismus", so Jünger 1929, „sucht nicht das Meßbare, sondern das M a ß " (JÜNGER 2001: 536).

Um die Logik von Jüngers Niederlagenphilosophie kurz zusammenzufassen: Jünger wertet die Niederlage als Zeichen einer Übergangszeit, weswegen er sowohl das Ende als auch die Fortdauer des Kriegs für sein nationalrevolutionäres Projekt nutzen kann. Etwaige argumentative Widersprüche, die sich aus dieser Doppelstrategie ergeben, sind in zweifacher Weise fur ihn unproblematisch: Zum einen geht es um das schlichte ,Daß' einer radikalen Willensbekundung, zum anderen geht es letztlich um eine Ebene, die Widersprüche überhaupt begründet. Jüngers Kunst der Niederlage verhindert damit letztlich die Entscheidung über Erfolg und Mißerfolg. Ist die Niederlage als Voraussetzung des Siegs noch eine Niederlage?

II. Übertragungen Jünger prägt in der Niederlagenphilosophie der 1920er Jahre Interpretationsmuster aus, die für sein Geschichts- und Politikverständnis insgesamt signifikant sind. Dies macht beispielsweise die Wiederauflage der Opfermetaphysik der 1920er Jahre am Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich (vgl. ζ. B. JÜNGER 2001: 45 sowie JÜNGER 1978, Bd.7, z. B. S. 196). Daraus ergibt sich die Frage nach einer Wende in der Werkentwicklung am Ende der 1930er Jahre (und nach 1945), die in der Forschung an der .Wandlung' des auf Aktualität bedachten Nationalrevolutionärs in den planetarischen Beobachter und an der , Wandlung' des politischen Aktivisten in den zurückgezogenen Schriftsteller festgemacht wird (ζ. B. LIEBCHEN: 205 ff.). Bemerkenswerterweise liegt Jüngers Niederlagenphilosophie auch seinem Kunstverständnis in den 1920er Jahren zugrunde, so wie umgekehrt die Kunst als Ideengeber und Bildspender für die Verwandlung von Mißerfolg in Erfolg dient, und zwar bereits vor dem Abenteuerlichen Herzen: [...] aus einem Leben, in dem das Schicksal blutmäßig regiert, offenbart sich trotz aller Widersprüche, Fehltritte und Irrungen eine höchste Einheit und eine höchste Sicherheit. Es ist die Einheit des Kunstwerkes, eines Bildes, eines Dramas - da sind Farben wie überall und Worte wie alle anderen, und doch wie der durchsichtige Vorhang vor einer unbegreiflichen Welt, die uns das Göttliche ahnen läßt und uns auf die Knie zwingt. (JÜNGER 2001: 209)

Der „wahre Künstler" weiß um die Vergeblichkeit seines Tuns, aber gerade durch die künstlerische Schöpfung angesichts dieses Wissens um die Vergeblichkeit dokumentiert er - um es entsprechend tautologisch zu sagen - das ,Leben' des ,Lebens*.

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[...] da es das Gute und Gerechte auf dieser unvollkommenen Welt in reiner Gestalt nicht gibt, so muß der Mensch für seine symbolischen Verhüllungen leben und untergehen. Hinter jedem endlichen Ziele, das erfüllt wird, verbirgt sich auch das Unendliche. In dieses Unendliche geht der Krieger ein, der für ein Endliches stirbt, möge es nun Deutschland oder Frankreich heißen. (JÜNGER 2001: 205) Die in der Jünger-Forschung immer wieder untersuchte Relevanz des Ästhetischen fur das militaristische und nationalrevolutionäre Frühwerk, die zuletzt von Volker Mergenthaler plausibel gemacht wurde ( M E R G E N T H A L E R 2001), läßt sich von hier aus um einen Aspekt erweitern. Der Künstler, der in der politischen Publizistik der 20er und frühen 30er Jahre bei Jünger zwischen dem Krieger, dem Verbrecher, dem Heiligen und dem Märtyrer zu stehen kommt ( J Ü N G E R 2001: 322, 620), ist jedenfalls nicht umsonst der dandyeske Typus der Décadence. 8 Daran schließt sich die Frage an: Gewinnt Jünger, wie auch immer vermittelt, aus der Kunst das Interpretationsmuster vom Scheitern als Chance, und dies eben in einer Zeit, in der der Heros in der Materialschlacht untergeht und das religiöse Erlösungsmuster vom Scheitern im Diesseits als Erfolg im Jenseits an Plausibilität verloren hat? Jedenfalls läßt sich, wie Pierre Bourdieu gezeigt hat, gerade im Kunstsystem die besondere Dignität des Mißerfolgs erfolgreich ausagieren: Eine Linie des sich autonomisierenden Kunstsystems fuhrt zum Verkaufserfolg und zielt auf Anhäufung ökonomischen Kapitels. Diese Linie wird gekreuzt von einer zweiten, die auf die Akkumulation symbolischen Kapitals zielt. Hier kann ökonomische Schwäche als Zeichen künstlerischer Stärke gesehen werden, und dies umso mehr, als eine beschleunigte Abfolge von Innovationen den Erfolg von heute zum Mißerfolg von morgen werden läßt (BOURDIEU: 346 f.). Dabei übernimmt die Kunst des Scheiterns nicht zuletzt theologische Traditionsbestände im Typus des scheiternden Künstlers (PLUMPE 1990). Die darin immer wieder verarbeiteten christologischen 9 und apokalyptischen Dimensionen (VONDUNG 1994; LÖSCHNIGG 1994; KETELSEN 1995, insbes. S. 82 ff.; BROKOFF 2001: 99 ff.) haben eine längere Tradition, und auch die Verknüpfung von Krieg und Kunst hat strukturgeschichtliche Wurzeln (MARTUS 2000), so daß Jüngers Kriegsphilosophie als Kunst der Niederlage nicht direkt aus dem Ersten Weltkrieg abgeleitet werden muß. Jüngers Verhalten in den 1920er Jahren postfiguriert eher die Prinzipien der Avantgarde, die j a selbst Neben der Stenn-Novelle (dazu und zur Forschung: MARTUS 2001: 68 ff.) finden sich wichtige, später gestrichene Stellen in der Erstausgabe von Der Kampf als inneres Erlebnis (JÜNGER 1922, z. B. S. 49). Hier wäre für Jünger Albrecht Schönes Modell von der „Säkularisation als sprachbildende Kraft" nachzugehen, auch wenn Jünger nicht zu den Pfarrerssöhnen gehört (SCHÖNE 1968). Zur christologischen Dimension der Stahlgewitter vgl. MERGENTHALER 2001: 47 ff., 73 ff. Zu pietistischen Traditionslinien vgl. Ulrich FRÖSCHLES Beitrag im vorliegenden Band.

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auf eine militärische Semantik zur Selbstbestimmung zurückgreift (FISCHER 1987; LINDEMANN 2001), und überträgt diese auf das Feld der politischen Auseinandersetzungen, wo der „rücksichtslos tapfere Führer"10 nach und nach seine Verbindungen mit der breiten Basis des rechten Spektrums, insbesondere mit dem Frontsoldatenbund .Stahlhelm' und der nationalsozialistischen B e wegung', kappt. Zur politischen ,Avantgarde' in diesem Sinn wird Jünger, indem er in konsequenter Radikalisierung seines nationalrevolutionären Programms keine gesonderte Partei bildet, sondern eben Parteibildung überhaupt transzendiert, so wie die Avantgardebewegungen nicht diese oder jene Richtung der Kunst, sondern die Institution ,Kunst' selbst in Frage stellten (BÜRGER o. J.: 67 ff.).11 ,Geistige' Festigung ohne Programm, Gemeinschaft ohne gemeinschaftliche Kennzeichen, konzertierte Aktion ohne Organisation in diesen und ähnlichen Widersprüchen und Paradoxien bewegt Jünger sich in einem beständigen Überbietungsprozeß, dessen Bedeutung in seinem Vollzug selbst liegt, der die etablierten Diskursgrenzen unterläuft. Hans-Harald Müller hat als Entwicklungsmodell für Jüngers Werk in den 1920er Jahren eine Folge scheiternder Versuche, den Krieg zu bewältigen, vorgeschlagen ( M Ü L L E R 1986 u. 1995): Läßt sich diese Bewegung eines insistierenden und zugleich immer wieder neu ansetzenden Schreibens auch positiv wenden? Läßt sich die zunehmende Radikalisierung und damit auch Marginalisierung Jüngers in der Weimarer Republik, die in gewisser Weise konsequent auf ein Leben in der Provinz nach 1933 hinausläuft, auch als Motor einer essayistischen und künstlerischen Produktion verstehen, die gerade aus dem Mißerfolg ihre Energien gewinnt? Und gilt dies über den bislang behandelten Zeitraum hinaus? Ich möchte schematisch eine entsprechende These in drei Schritten auf werk-, rezeptions- und produktionsästhetischer Ebene skizzieren. Erstens fällt auf, daß in Jüngers erzählerischem Werk durchgehend scheiternde Helden auftreten, die aus dem Scheitern zumindest andeutungsweise Gewinn ziehen: Der Krieg endet fur Jünger mit der Verleihung des höchsten militärischen Ordens; während die Niederlage in der ersten Fassung der Stahlgewitter von 1920 gar nicht vorkommt, wird die Kunst der Niederlage in das Kriegstagebuch im Laufe der Bearbeitungen eingetragen, so daß Jünger schließlich nach der „Großen Schlacht" als Wendemarke des Krieges zum ersten Mal die Niederlage Deutschlands für möglich hält und zugleich „zum

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So in der Begründung fur die Verleihung des Ordens Pour le mérite (zit. nach PAETEL 1 9 6 2 : 1 6 ) .

11

Zur Einordnung des literarischen Werks von Jünger in die Avantgarde-Ästhetik vgl. BOHRER 1978, z.B. 267 ff.; zur Kritik an der Verbindung von Jünger und der historischen Avantgardebewegungen vgl. BRENNEKE 1992, z.B. 151 ff.

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ersten Mal in die Tiefe überpersönlicher Bereiche gefuhrt" wird (JÜNGER 1978, B d . 1: 2 6 7 ) . 1 2

Schon Sturm wird am Ende der gleichnamigen Novelle von 1923 mit seinen Freunden zwar von den anstürmenden Gegnern überrollt, aber er hat im Augenblick des Todes eben jenes in den Stahlgewittern nachgetragene Erlebnis höherer Welten, wenn er im „Wirbel einer uralten Melodie" versinkt (JÜNGER 1978, Bd. 15: 74.). Herbert Bergers Afrikanische Spiele (1936) stellen den Untergang der bürgerlichen Welt und ihrer romantischen Illusionen nach, wobei durch diese „Niederlage"- wie im Krieg - „neue und stärkere Kräfte" geweckt werden (JÜNGER 1978, Bd. 15: 245).13 Die Marmorklippen (1939) enden mit der Machtübernahme des Oberförsters und der völligen Zerstörung der Marina, die Protagonisten aber schreiten „durch die weit offenen Tore [des ,Talhofs' auf Alta Plana, S. M.] wie in den Frieden des Vaterhauses ein" (JÜNGER 1978, Bd. 15: 351.) und geben damit das Muster für die folgenden Romane: Nach dem Desaster der finalen Rettungsaktion fliegt Lucius de Geer aus Heliopolis (1949) mit Phares, dem Boten des Regenten, ab, damit gleichzeitig in einen Zustand der Traumwirklichkeit transzendierend (JÜNGER 1978, Bd. 16: 343.); ebenso zieht Martin Venator mit dem Regenten von Eumeswil (1977) zu einer Fahrt ohne Wiederkehr los, und auch wenn man nicht weiß, was mit ihm passiert, so ist das Ziel der Expedition doch erneut ein , anderer' Zustand, den Venators „Ablösung von der physischen Existenz" kurz vor der Abreise präfiguriert (JÜNGER 1978, Bd. 17: 377.). Selbst in Die Zwille (1973) und in Eine gefährliche Begegnung (1985), in der erzählerischen Anlage zumindest oberflächlich von den beiden Zukunftsromanen unterschieden, haben die Protagonisten am Ende kein Glück: Clamor Ebeling wird bei seinem finalen Angriff auf Konrektor Zaddeck erwischt, und die Detektive können den Fall nicht wirklich lösen, wobei nur in der Kriminalerzählung die für Jüngers Kunst der Niederlage typische Wende fehlt, denn Ebeling wird adoptiert und sieht einer glücklichen Zukunft entgegen. Zum zweiten läßt sich rezeptionsästhetisch an diesen Befund die Frage anschließen, ob Jüngers Kunst der Niederlage je spezifische Formen des Niederlagenbewußtseins bedient. Einige Indizien zumindest lassen sich dafür anfuhren. So wird man Jüngers Bekanntheit in der Weimarer Republik zwar nicht überschätzen dürfen (DORNHEIM 1987: 36), aber für spezifische Lesergruppen, 12

13

Vgl. demgegenüber die Stelle in JÜNGER 1920: 161. Die zweite Fassung des Tagebuchs deutet am Ende bereits die Fortdauer des Kriegs an, wenn es heißt: „Wir [Ernst und Friedrich Georg Jünger, S. M.] sollten uns bald an anderen Kämpfen beteiligen, als uns geträumt" (JÜNGER 1922: 248). Die Einsicht in eine mögliche Niederlage fehlt allerdings. Vgl. im vorliegenden Band dazu den Beitrag von Volker MERGENTHALER. Eine neue Perspektive im Blick auf den bis in die Materialästhetik nachvollziehbaren spielerischen' Umgang mit dem literarischen Material bei PRILL 2002: 54 ff., hier insbes. S. 55.

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Steffen Marius

die mit dem Problem der Kriegsniederlage befaßt waren, bieten seine Weltkriegsschriften doch wichtige Orientierungspunkte: Neben den Frontsoldaten ist dabei an die Militärs zu denken. Sie empfehlen die Stahlgewitter oder den Kampf als inneres Erlebnis als Material fur die Ausbildung in einer Zeit radikaler Überforderung des Soldaten im Krieg und ventilieren darüber die These von der entscheidenden Bedeutung des Menschen noch im Zeitalter des Maschinenkriegs (LIEBCHEN 1977: 93 f., 100 ff.)· Im Dritten Reich könnte man an die Funktion der Marmorklippen als eines ,Widerstandsbuches' denken und nach der bedingungslosen Kapitulation' an die geradezu endemische Verbreitung der Friedensschrift (MARTUS 2001: 123 ff., 163 ff.; DORNHEIM 1987: 36, 157 ff.). Für die BRD-Rezeption ließe sich etwa spekulieren, warum ζ. B. gerade Gläserne Bienen (1957) zu den größten Erfolgen Jüngers gehört, also die Geschichte einer scheiternden Konfrontation mit der technisierten Umwelt, die als Prüfung erfahren wird und zu einer Anstellung als Instanz über den konkurrierenden technischen Entwicklungen fuhrt, oder warum Jüngers Werk in den 1970er und Anfang der 1980er Jahre in einer Zeit der Enttäuschung emphatischer Veränderungshoffhungen 14 einen relativen Grad unbefragter Geltung bekommen hat (DORNHEIM 1987: 188, 281; MARTUS 2001: 172 ff.). Produktionsästhetisch scheint mir schließlich drittens fur Jüngers Kunst der Niederlage nicht zuletzt die massenmediale Repräsentation seines Habitus aufschlußreich, also seine gleichsam zur Autoren-,Gestalt' gewordene Form des Widerstands gegen Infragestellungen jeglicher Art. Dies betrifft beispielsweise den Umgang mit ad personam adressierten Attacken, etwa die zur Schau gestellte Unbetroffenheit von den politisch motivierten Kritiken vor allem der 60er und 70er Jahre, dies betrifft aber auch die Reaktion auf den gleichsam überpersönlichen Angriff des Allgemeinen aufs Besondere in den sich global durchsetzenden Strukturen des Arbeiterzeitalters. Jüngers Hauptwerk nach 1945 sind die sieben unter Strahlungen bzw. Siebzig verweht zusammengefaßten Tagebuchbände. Sie dokumentieren zum großen Teil die desillusionierende Suche nach Residuen des Vorzivilisatorischen auf Jüngers Reisen, wobei sich diese Enttäuschung in die Prophetie einer neuen Zeit verkehrt. Entscheidend ist auch hier wieder die Performanz: Die Bewegungslosigkeit der Deutungsperspektive und die permanente Bewegung der Deutungsfelder sind zwei Seiten einer Kunst der Niederlage, in der sich die Instabilität der Oberflächenphänomene mit der Stabilität der Tiefenstrukturen verbindet. Was auf der Oberfläche' als Scheitern erscheint, kann in der ,Tiefe' ein Erfolg sein. Um die intellektuelle Virulenz dieser Haltung in der BRD zu rekonstruieren, könnte man weiterhin etwa die Festschriftenkultur um Jünger analysieren, insbesondere die Beiträge Jüngers und Martin Heideggers für die Festschrift

14

Zur Rekonstruktion der kulturellen Situation ,nach 1968' im Licht einer „Ästhetik des Scheiterns" vgl. KÄMPER/VAN DEN BOOGAART 1992, insbes. S. 57 ff.

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des jeweils anderen, denn Heidegger kämpft ja gewissermaßen mit Jünger um die Interpretationshoheit über das Arbeiterzeitalter (MARTUS 2001: 178 ff.). Eine weniger esoterische und weiter ausgreifende Konstellation bietet die in der Forschung bislang zu wenig beachtete Zeitschrift Antaios, die Jünger gemeinsam mit Mircea Eliade zwischen 1959 und 1971 herausgibt. Bereits ein Blick in den ersten Jahrgang informiert über das intellektuelle Milieu, das einen idealen Nährboden für Jüngers Kunst der Niederlage bildet: Dies gilt beispielsweise für Eliades Eröffhungsaufsatz über das Motiv des ,magischen Flugs', der mit der initiationsrituellen Kombination von symbolischem Tod und Auferstehung eine Interpretationsfolie für die Reisen am Ende von Jüngers Heliopolis und Eumeswil liefert (ELIADE 1959, insbes. S. 3); man könnte aber auch an Carl Hentzes Ausführungen zu den Religiösen und mythischen Hintergründen zu „Turandot" anschließen, die einen Bereich „vor Geburt und Tod" anvisieren und damit - wie Jünger - einen Ort, der die Bildung von Gegensätzen überhaupt erst erlaubt (HENTZE 1959: 29.); und Rudolf Pannwitz' Essay über Das Schicksal des Individuums und seine Überwindung bewegt sich schließlich ohnehin in den post-nietzscheanischen Bahnen der 20er Jahre.15 Jünger selbst übernimmt im ersten Jahrgang von Antaios die Einleitung des zweiten und dritten Hefts mit Sgraffiti, also Notaten in der Nachfolge des Abenteuerlichen Herzens, sowie mit Ausschnitten aus An der Zeitmauer, dem Pendant zum Arbeiter - beide Beiträge ordnen sich umstandslos Jüngers Kunst der Niederlage zu, und dies auch deswegen, weil sie sich oft direkt auf die Gedankenfiguren der 1920er Jahre zurückführen lassen, etwa auf die Opfermetaphysik oder die Dialektik der Humanität.16 Die von Jünger rekonstruierte Situation An der Zeitmauer stellt eine entsprechende Schwelle dar: „Es ist eine Todesstunde, aber auch eine Geburtsstunde" (JÜNGER 1959a: 212). Und gerade 15

16

PANNWITZ 1959: 45: „Einem großen Menschen geht es ohnedies schon im engsten Leben nicht darum, als Ich zu leben, sondern das, wofür er lebt, zu einer unvergänglichen Macht zu steigern und festigen. Dies nannte man in der Antike, über alle Eitelkeit hinaus, Ruhm. [...] Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen nimmt die orientalisch-antike Aeonologie wieder auf. [...] Nietzsche wechselnden Zustände substantiieren oder gar transzendieren, in ihrer jedem aber mit ihm eins und selber ganz sein". Z. B. JÜNGER 1959a, zum Opfer S. 213 ff., zur Dialektik der Humanität S. 223 f., freilich mit den für Jüngers Entwicklung nach 1933 charakteristischen Abwandlungen: „Der humanitäre Geist ist weder , besser' als der heroische noch schlechter' in Nietzsches Sinn. [...] Es fragt sich, um ein Beispiel zu nennen, ob in unserer Zeit die heroischen oder die sozialen Theorien größere Blutopfer forderten. [...] Ganz unbestreitbar ist, daß in unserem Händen die humanen Ideale länger hielten und weiter führten als die heroischen. Das rührt [...] daher, daß sie älter sind, auf tieferen Bestand zurückgreifen. Er gibt die Substanz des Fortschritts, der an sich reine Bewegung ist. Das Humane siegt deshalb ob, weil es dem Kern des Menschengeschlechtes näher ist als das Heroische".

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diese apokalyptische Lage befähigt Jünger dazu, seine Vision zu entwerfen: „In einer Zeit, die soviel Niederes gebracht hat, hat man doch, gerade in und nach den Katastrophen, auch die verborgene Schönheit des Unaussprechlichen gesehen" (JÜNGER 1959b: 125). Dieses Unaussprechliche' stand, wie oben gezeigt, bereits in den 20er Jahren im Zentrum von Jüngers Kunst der Niederlage. Im ersten Notât von Sgraffiti und damit am programmatischen Beginn seiner Beiträge zu Antaios visioniert Jünger eine entsprechende auf Opfer, Niederlage und Aufhebung von Gegensätzen zielende Schrift: Sgraffito. Die Wand ist mit Mörtel beworfen, der den Grund verdeckt. Dort schwinden die Gegensätze von Gut und Böse, Licht und Schatten, Krieg und Frieden, Männlich und Weiblich, Schön und Häßlich, Leben und Tod. Die Paare erhöhen sich in der Verbindung; sie löschen sich nicht aus. Wenn wir uns vorstellen, daß Güte, Licht, Frieden, Glück, Schönheit, Liebe und Leben herrschen, so dürfen wir dabei weniger an Triumphe denken als an ein Bündnis, das nach erhörtem Opfer geschlossen wird. Wir treten Arm in Arm mit unserem Feinde, mit unserem Mörder in den Festsaal ein. Leben steht an der Pforte; der Tod hat es mit seinem Griffel durch den Mörtel geritzt. (JÜNGER 1959b: 113)

Die Kunst der Niederlage realisiert diesen ,unaussprechlichen' Zusammenfall der Gegensätze auf zweifache Weise: Zum einen markiert sie durch ihr Scheitern die Unvollkommenheit des Versuchs, die bloße Näherung: Die Kunst bietet wie alle Phänomene generell nur „Gleichnisse [...] im Vergänglichen" (JÜNGER 2001: 205) - daß Jünger 1961 eine entsprechende Ästhetik in einem Sammelband mit dem Titel L'Apocalypse skizziert, kann kaum verwundern (JÜNGER 1 9 7 8 , B d . 1 3 : 3 5 f f . ) .

Zum zweiten heben sich in der Paradoxie des Scheiterns als Chance die Gegensätze auf, weil das Scheitern als Voraussetzung des Erfolgs eigentlich schon kein Scheitern mehr ist. Oder anders: Nur von einer Position aus, die den eigentlichen Erfolg nicht sieht, kann das Scheitern als Scheitern erscheinen. Schon 1926 prophezeit Jünger in der Standarte: „Noch ist alles im Stadium des Tastens und des Versuchs, aber ein wenig mehr Glaube, ein wenig mehr Ernst - und wir stehen in einer anderen Welt" (JÜNGER 2001: 202). Vermutlich dürfte Jünger bei seiner nationalrevolutionären Umbruchbegeisterung der Selbstbezug entgangen sein. Entscheidend ist dabei allerdings die Diagnose einer Situation der Unsicherheit, die dann plötzlich in eine „andere[ ] Welt" umschlägt. Jüngers Kunst der Niederlage setzt damit zugleich die Alterität und Inkommensurabilität jener zwei Standpunkte in Szene, die er im Frühwerk mit Spengler unter den Gegensatz von „Schicksal" und „Kausalität" ordnet. Die Gedankenfigur vom Scheitern als Chance führt das Umspringen der Perspektive vor, das Jünger in seiner Theorie der Stereoskopie entfaltet. Diese Kippfigur bietet die Grundlage für eine Geschichtsphilosophie, die über Jahrzehnte hinweg das Szenario eines Umbruchs aufbaut, zu dessen Deuter Jünger sich macht. Damit wird deutlich, warum Jünger den Eindruck unberuhigbarer Dynamik vermitteln muß, sei es in der Verpflichtung politischer

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Aktion auf bloße „Bewegung", sei es in der permanenten Verflüssigung des literarischen Werks durch die Umsetzung der , Fassungspoetik' ( M A R T U S 2001: 233 ff.)· Den Punkt vor dem Schritt Über die Linie und An der Zeitmauer, den die beiden gleichnamigen Essays markieren, entspricht dem „Stadium des Tastens und des Versuchs", das Jünger schon früh in seinen Darstellungsverfahren umsetzt. Die Positionslosigkeit sich radikalisierender politischer Positionierung, die Unscharfe und Austauschbarkeit der Begriffe (vgl. dazu JÜNGER 2001: 408, 411, 542), die Konturlosigkeit seiner erzählerischen Welten, das ebenso Andeutungsreiche und wie Unkonkrete seiner essayistischen Entwürfe gehört zur Inszenierung einer Wendezeit, die die Gegensätze von Sieg und Niederlage ineinsfallen läßt und einen Indifferenzpunkt markiert, der argumentativ nicht zugänglich sein soll, sondern nur mit „Glaube" und „Ernst", wie Jünger schreibt, erfaßt werden kann. Die politische Funktion der Kunst der Niederlage nach 1945 ist dabei freilich so geheimnislos wie nach 1918. In den Notaten aus An der Zeitmauer schreibt Jünger über die gegenwärtige Situation einer historischen „Nahtstelle": Das kann zu einer vexierbildhaften Doppelsinnigkeit des Vorgangs führen, bei dem der Leidende den Rang gewinnt, den der Täter zu besitzen meint. Es liegt nicht daran, daß der Leidende ,besser' ist. Es liegt daran, daß er in das Leiden als in die dichtere Wirklichkeit eintritt und daß dort durch ihn Wichtigeres als durch den Täter geschieht. Der Leidende ist näher an der Geburt. Er zahlt den größeren Zoll, zahlt für die anderen mit. In Stalingrad ändert sich mehr als bei Sedan. Allerdings ist auch der Täter notwendig. (JÜNGER 1959a: 216)

Jünger unterläuft hier zunächst die Differenz von Täter und Opfer, indem er den Aggressor, nämlich Deutschland, zum , Leidenden' macht. Er setzt dann diesen ,Leidenden' als eigentlichen ,Täter' wieder ein, dies allerdings in Funktion des ,Opfers', das im Dienste der anderen Staaten eine welthistorische Rolle übernimmt und damit .wichtiger' als diese wird. Politisch ist diese Niederlagenphilosophie zweifellos gescheitert. Zu fragen bleibt also, ob das politische Scheitern für die Kunst der Niederlage eine Chance bedeutet. Wie auch immer man hier wertet: Zunächst gilt es, die Komplexität einer Kunst der Niederlage in den Blick zu bekommen, die sich von der Essayistik, über das erzählerische Œuvre bis zu den Tagebüchern verfolgen läßt und als formierendes Prinzip erkennbar wird. Denn auch die für Jüngers Gesamtwerk konstitutiven Verfahren von Umarbeitung und Selbstzitation verschränken Stabilität und Dynamik, Insistenz und Wandelhaftigkeit und deuten damit auf eine Kunst der Niederlage, die sich im Eingeständnis des Scheiterns selbst erhöht.

Steffen Martus

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VOLKER MERGENTHALER

Von Bord der Fremdenlegion' gehen Mythologisch-metaphorische Ichbildung in Ernst Jüngers Afrikanischen Spielen 1. „Reminiscences superficielles"? „Ein verdrossenes Ehepaar saß [...] am Tisch und nahm meine Kupferstücke mit einem Lächeln entgegen, das dem des trübsinnigen Charon glich, mit dem er den Obolus empfängt" (214).1 Mit diesen Worten kommentiert weit zurückblickend der Ich-Erzähler der Afrikanischen Spiele, Herbert Berger, am Ausgang des Buches seine Ankunft in einer ,jener Herbergen, die der Gast ohne Gepäck betritt, und wo man die Zeche im voraus bezahlt" (214). Das besagte Etablissement liegt in Nancy, derjenigen Stadt also, in der der Erzähler die Erinnerung an sein „afrikanisches Abenteuer" (188) enden läßt. Nichts - so mag es zunächst den Anschein haben - deutet darauf hin, daß man für die Adaption des Charon-Mythologems durch den Erzähler eine andere Erklärung finden könnte, ja überhaupt suchen sollte, als eben die naheliegende, die den mit den Produkten der Unterhaltungs- wie der Hochkultur gleichermaßen vertrauten „homme de lettres" (89) Herbert Berger bemüht. Auch sticht der Rekurs auf das Lächeln Charons keineswegs aus dem narrativen Gestus der Afrikanischen Spiele heraus, im Gegenteil, hat doch der Leser an dieser Stelle bereits eine Vielzahl formal nahezu identischer Vergleiche registrieren können, die das jeweils Erlebte im Bezug auf tradiertes Kulturgut, vorzugsweise auf literarische Texte, schärfer zu profilieren suchen: Von einem „weißefn], kegelförmigefn] Turm" etwa ist die Rede, der „auf einer der höchsten Zinnen" einer Baleareninsel „glänzte" und „den Zauberschlössern Ariosts [glich]" (121), vom ,,Gefreite[n] [...] Mélan, [...] der im Augenblick der Gefahr so schöne Sätze finden würde, wie man sie im Xenophon liest" (137), von einem Angehörigen der Tirailleurs Sénégalais, einem ,,riesige[n] Neger [...],

Ich zitiere fortlaufend im Text, wobei die von der Hanseatischen Verlagsanstalt besorgte erste Ausgabe zugrundeliegt: Ernst Jünger: Afrikanische Spiele. Hamburg

1936.

Volker Mergenthaler

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kohlschwarz wie die Mohren der Märchenbücher und in eine himmelblaue, mit leuchtend gelben Arabesken bestickte Uniform gehüllt" (74), vom „geschäftige[n] Treiben" in Metz, das am Flaneur vorüberziehe „wie die Szenen eines chinesischen Theaters oder wie die überraschenden Bilder einer Laterna magica" (38), oder, um ein letztes Beispiel zu nennen, von den Formen des Strafvollzugs „unserer Vorfahren", deren Details „man f...] bei Tacitus nachlesen kann" (163). Hat man es also mit Reminiszenzen zu tun, deren poetische Funktion in der Profilierung eines intellektuellen Erzählers und eines ihm ebenbürtigen Lesers zu suchen wäre?2 Nur wer bereits vertraut ist mit den überaus zahlreich eingestreuten Anspielungen, wer über ein breit spektriertes kulturelles Wissen verfugt, kann freilich „eine Vorstellung" (28) gewinnen von den Gegenständen, Eindrücken und Erlebnissen, mit denen es Herbert Berger während des „afrikanische[n] Abenteuerfs]" (188) zu tun hatte und - in der Erzählgegenwart neuerlich zu tun hat.3 Uneingeweihten dagegen müssen die Bedeutungsanreicherungen der in Erinnerung gerufenen Elemente durch die Verknüpfung mit der jeweiligen Bildungsreferenz versagt bleiben. Ebenso denkbar und überzeugend wäre es allerdings, die Anspielungen nicht nur als Gestus bildungsbürgerlicher Elitarisierung, sondern darüber hinaus als Versuche des Erzählers zu begreifen, wie Herberts Weggefährte Benoit eine besonders anschauliche Sprache zu finden, „eine Sprache, die Fenster" besitzt (113). Wenn die „so skeptischen und gebildeten Leser des 20. Jahrhunderts" (25) über das vom Text geforderte kulturelle Wissen verfugen, dann genügt die bloße Nennung der Lemmata, um die entsprechenden Vorstellungskomplexe - „Szenen eines chinesischen Theaters" (38), die „Zauberschlösser Ariosts" (121) oder die „Mohren der Märchenbücher" (74) - im jeweiligen Rezeptionshorizont zu aktualisieren4 und in eine hermeneutisch produktive Verbindung treten zu lassen zu den von Berger geschilderten Erlebnissen und 2

3

4

So z. B. RINK 2001: 20. RINK weiß, „wie sehr der Autor den Gepflogenheiten des Bürgertums verhaftet war, das allezeit seine Bildung vermittels Zitat vorzuweisen pflegte". Diese Dopplung wird in der Forschung gerne autobiographisch aufgelöst zugunsten einer Dopplung von erzähltem Ich und empirischen Autor, so z. B. von MEYER (1990: 243), der sich aller literaturtheoretischen Bedenken gegenüber einem solchen Schritt mit der Formel „Berger - wie Jünger sich nennt - " entledigt. Ähnlich verfahren auch Veronica Mary WOODS (1971: 280), die die Afrikanischen Spiele den „semi-autobiographical works" zurechnet und hinter dem Erzähler „Jünger's later ego" (287) zu erkennen glaubt, Luca CRESCENZI (1995: 179), der „auf der Erzählebene die Perspektive des Autors neben jene des Fremdenlegionärs" zu rücken versucht, und Klaus GAUGER (1997; 59), der „Berger" als sprechenden Namen begreift und als „literarisches ,alter ego'" des sich verbergenden Autors verbucht. Zur „Transformation der semiotischen Materialität in Merkmale einer quasiwahrnehmbaren Gegenständlichkeit" informiert eingehend Eckhard LOBSIEN (1990: 90).

V o n Bord der F r e m d e n l e g i o n ' gehen. Ichbildung in Jüngers Afrikanischen

Spielen

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Eindrücken - dem „geschäftige[n] Treiben" (38), das sich dem Flanierenden darbietet, dem während der Überfahrt nach Oran erspähten „kegelförmige[n] Turm" (121) auf der Baleareninsel, dem in einer der engen Gassen Marseilles angetroffenen Angehörigen der „senegalesischen Tirailleurs" (74). Beide Erklärungsversuche gehen allerdings über vom Text gegebene, versteckte Leseanweisungen hinweg und laufen Gefahr, den einzelnen Befund nivellierend zu behandeln. Einige der vom Erzähler angestellten Überlegungen - etwa zur Verknüpfung von Hermeneutik und zeitlicher Distanz - mahnen nämlich zur Vorsicht gegenüber einer möglicherweise vorschnellen Funktionsbestimmung, die jede einzelne Anspielung und damit auch diejenige auf Charon gleichmacherisch in die Phalanx der vermeintlich oberflächlichen Reminiszenzen stellt. 5 „Mit Gesichtern", so gibt der Erzähler anläßlich einer ersten Beschreibung Benoits zu bedenken, „geht es uns wie mit Bildern; obwohl sie uns auf den ersten Blick gefallen, erkennen wir doch erst viel später die Regeln, nach denen sie gebildet sind" (101). Problematisiert ist hier nicht irgendein, sondern der die Afrikanischen Spiele grundlegend strukturierende Mechanismus retrospektiver Durchdringung: die erst „heute" (101), d. h. nach „dem Weltkriege" (152), angestellte Analyse und Bewertung des „afrikanische[n] Abenteuer[s]" (188). Wenn demnach wie Gesichter und Bilder auch Texte über „Regeln" verfügen, die dem Rezipienten nicht schon beim ersten Besehen der Oberfläche, sondern ex post und als Resultat tiefergehender kognitiver Verarbeitung einsichtig werden, dann ist, in den Worten des Erzählers, „wohl ein kurzer Rückblick angebracht" (25), j a geradezu verlangt - ein Rückblick, der auch die naheliegenden Erklärungen für die Fülle der vermeintlich oberflächlichen Anspielungen einer kritischen Revision zu unterziehen hat.

2. „Rückblick" auf die Spuren Charons Auf die verwischten Spuren des antiken Fährmanns führt zunächst eine ganze Reihe terminologischer wie struktureller Übereinstimmungen zwischen dem Charon-Mythologem und den Afrikanischen Spielen. Die Suche nach dem „Rekrutierungs-Bureau" (49) der Fremdenlegion führt Herbert zu den Markthallen, deren lebhafter Morgentrubel schon von weitem zu hören war [...]. In der Gasse flöß ein trübes Rinnsal entlang und trieb die Köpfe welker Schnittblumen mit sich fort. Es mündete in ein Abflußrohr, das durch einen eisernen Rost verschlossen war. Hier blieb ich stehen und zog das Päckchen hervor, das ich in der Goldenen Glocke vorbereitet hatte, und das, in einen Zwanzigmarkschein eingewickelt, ein kleines goldenes Zehnfrankenstück nebst einiger Scheidemünze 5

Als „réminiscences superficielles de Berger" entziffert von François PONCET (1987: 110).

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enthielt. Es war so schmal, daß es sich mühelos zwischen zwei Stäben des Rostes hindurchschieben ließ. Nachdem die Opfergabe im schlammigen Abwasser verschwunden war, richtete ich mich auf, und mein erster Blick fiel auf einen wohlgenährten Polizisten, der als freundlicher Wächter zwischen den bunten Polstern der Astern und Dahlien stand. Er trug eine rote, goldbestickte Mütze und einen kurzen, schwarzen Radmantel, der ihm lässig nach hinten über die Schulter fiel. (46-47; meine Hervorhebungen)

Weniger an eine schon 1944 von Maria Bindschedler ausgegrabene Episode der Lebenserinnerungen des Heiligen Ignatius von Loyola ist hier zu denken (BINDSCHEDLER 1944: 338), als an den in den Afrikanischen Spielen immerhin genannten Fährmann. Gleich mehrere Elemente6 des Charon-Mythologems klingen an - wenn auch ,nur' subkutan: angefangen bei Herbert, der den „Eintritt in die Fremdenlegion" (45) wie „das Unterweltstor, das sich über Charon wölbt" (WASER 1898: 45), in der Nähe eines ,,trübe[n] Rinnsal[s]" sucht, das im nicht minder trüben Acheron eine mythologische Entsprechung findet,7 über das Verstauen der „Opfergabe" zwischen den „Stäben des Rostes", das das Motiv der Oboloi aufgreift, die den Charon anvertrauten Toten zwischen die Zähne gesteckt werden (vgl. WASER 1899: Sp. 2177), bis hin zu dem „freundlichen Wächter", dessen Habit, ein „schwarzefr] Radmantel" und eine „rote, goldbestickte Mütze", ikonographisch an der Ausstattung Charons orientiert zu sein scheint, der zumeist im Mantel und (wo Farbe im Spiel ist) mit einer roten Mütze dargestellt wird (vgl. WASER 1898: 46-47). Und wie der Fährmann den Wünschen seiner solventen Kunden entspricht und sie in die Unterwelt geleitet, so scheint auch der in Verdun angetroffene „Wächter"8 Herbert den passage in die so grundlegend anders erhoffte Welt der Fremde zu ermöglichen: „Ich bringe Sie", so verspricht er ihm schon wenig später, „zum Rekrutierungs-Bureau" (49). Zufällige Übereinstimmungen? Wohl kaum, wenn man in Betracht zieht, daß sich Herbert am Ende der Erzählung im Halbschlaf in einem „Gefährt aus grauem Eisen9 [...] zur Seite eines schweigsamen

6 7

8 9

Zur Ikonographie Charons vgl. WASER ( 1898: 40-60). Zur Nachlässigkeit im Umgang mit Gewässernamen, zwar nicht in der „historischen Geographie", wohl aber in poetischen Zusammenhängen, ermutigt der Erzähler der Afrikanischen Spiele selbst: „So begriff ich seitdem, wie unsere Vorväter nach der Schlacht im Teutoburger Walde römische Senatorensöhnchen an die vierzig Jahre lang als Kuhjungen beschäftigen konnten, ohne daß einem von ihnen die Rückkehr zum linken Rheinufer gelang, wie man das bei Tacitus nachlesen kann. In diesem Falle nannte sich der Fluß, der zu erreichen war, zwar nicht der Rhein, sondern die Muluya; aber es ist zu bedenken, daß solche Unterschiede wohl in der historischen, nicht aber in der magischen Geographie von Bedeutung sind" (163). Zu „Charon as a guardian" vgl. TERPENING (1984: 99). Portitor has horrendus aquas et ilumina servat terribili squalore Charon, cui plurima mento canities inculta iacet, stant lumina fiamma sordidus ex umeris nodo dependet amictus.

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Fahrers sitzen" (218) und „in die Flammen" (218) einer Höllenlandschaft treiben sieht, daß er und seine Weggefährten ,je einen Fahrschein nach Marseille" (61) erhalten, und „der Beamte [...] jedem [...] als Zehrgeld für unterwegs eine kleine Silbermünze zufschob]" (61), daß Herbert in den Augen des Militärarztes Goupil als Jemand" erscheint, „der in einem dunklen Tor verschwindet" (94), daß die via Marseille10 vorgenommene „Überfahrt" (212) nach Afrika mythologisch angereichert wird, diesmal in der Erinnerung an eine Äußerung Benoits, der seinen Beitritt zur Fremdenlegion als „Weg zur Hölle" (107) bezeichnet haben soll.

3. Passagier Herbert oder die Fremdenlegion als Charons Nachen Nicht nur einzelne Motive oder das vom Erzähler gewählte Vokabular, sondern auch der Ausgangspunkt der Afrikanischen Spiele, Herberts Vorhaben, „erst einmal die Grenze zu überschreiten" (8), um „aus der Ordnung in das Ungeordnete" (8) einzutreten, gerät in den Augen des den heuristisch so wichtigen „Rückblick" wagenden Lesers schon nach wenigen Seiten in das mythologische Fahrwasser Charons, desjenigen also, dessen wesentliches Geschäft der Mythos im Transfer seiner Passagiere von der Welt der Lebenden in die, ontologisch betrachtet, grundlegend andere Unterwelt erkennt. Einen nicht minder radikalen und zudem sprachlich exponierten „Übertritt" (20) - in der ersten Buchhälfte wird das Motiv der Grenzüberschreitung geradezu inflationär gebraucht11 - , visiert nämlich Herbert an: von der „Ordnung" der bürgerlichen Welt des Elternhauses, in der die Väter Gespräche „mit ihren heranwachsenden Söhnen über die Aussichten der verschiedenen Berufe zu fuhren pflegen" (10), durch das „Eingangstor zur afrikanischen Welt" (211) — gemeint ist die nordafrikanische Hafenstadt Oran - , in das „Ungeordnete" der „Fremde" (13), wie es die „weißen Flecken der Landkarte" (6) in Aussicht stellen. Mit der Flucht, die aus dem „friedlich im Wesertale schlummernde[n] Städtchen" (8) in das „eingebildete" (23) Afrika fuhren soll, steht allerdings

10

11

Ipse ratem conto subigit velisque ministrai Et ferruginea subvectat corpora cumba, iam senior, sed cruda deo viridisque senectus. P. Vergili Maronis Aeneidos. In: P. Vergili Maronis Opera. Hg. v. Friedrich Artur Hirtzel. Oxford 1966, VI, 298-304; meine Hervorhebung. Auf die Akzentuierung Marseilles als Übergangsort in den Afrikanischen Spielen hat bereits PONCET (1987: 92) aufmerksam gemacht. Sechzehn Mal fallen solche Formulieren in der ersten Hälfte des Buches (8, 20, 25, 36, 36, 40, 41, 42, 43, 52, 56, 57, 63, 85, 92, 105) und nur einmal in der zweiten (161), und dort deutlich als Rückblick auf die Hinfahrt markiert.

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nicht nur ein transkontinentaler passage12 zur Debatte, sondern auch ein entwicklungspsychologischer: Der „Sechzehnjährige" (II) 1 3 weiß sich eingelassen in die Zwänge und Strukturen der bürgerlich-familialen Ordnung und stellt der Heteronomie-Erfahrung den Anspruch auf unbedingte Autonomie des sich konturierenden Ich entgegen, das eine der freien Selbstentfaltung Raum gebende „Zone" (11) sucht. „Ich verlegte sie", so Berger, „in die tropische Welt" (11). Afrika steht in den Überlegungen des Heranwachsenden für eine Sphäre der Unstrukturiertheit, die anders als die zurückgelassene Welt nicht über Entfremdungspotentiale verfügen, sondern statt dessen die Möglichkeit bieten soll, in einer „noch nicht durch Grenzen abgeteilten" Umwelt und ohne jede „Verbindung zur zivilisatorischen Ordnung [...] das Leben zu fristen" (22). Wenn diesem so grundlegend anderen Bereich mit Afrika ein konkreter geographischer Ort zugesprochen ist, dann bleibt fur Herbert, wie es scheint, allein die Frage zu klären, „wie man sich am besten dem Gebiete [...] nähern könnte" (7), ob „als blinder Passagier, als Schiffsjunge oder als wandernder Handwerksbursche verkleidet" (7). Überlegungen, die er allesamt verwirft. Um nach Afrika, dem in seiner Alterität doppelschlächtigen, geographisch und zugleich ontologisch anderen Ort gelangen zu können, bedarf es offenbar eines besonderen Transportmittels, eines Transportmittels, das „den dunklen Mächten" (7) zugehört und daher ähnliche Leistungen zu erbringen vermag „wie Fausts Zaubermantel" (7),14 „Aladins Wunderlampe oder de[r] Ring Dschaudars" (10),15 und seine Passagiere nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch an den Ort des Anderen fuhrt: „Endlich verfiel ich darauf, mich als Fremdenlegionär anwerben zu lassen, um auf diese Weise wenigstens den Rand des

12

13

Im Sinne von VAN GENNEP 1986. Die Terminologie van Genneps hält bereits Thomas NEVIN (1997: 34) für geeignet zur Beschreibung von Herberts "Übertritt". Sechzehnjährige sind keine Seltenheit in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts. Man denke etwa an den „Sechzehnjährigen" Törleß (MUSIL 1978; 996) oder an Karl Roßmann, der „nächsten Monat sechzehn" werden soll (vgl. KAFKA 1983: 175).

14

V g l . GOETHE ( 1 9 8 6 : 5 9 1 ) ( V s . 2 0 6 3 - 2 0 6 6 ) .

15

Zur Lampe vgl. Die Erzählungen aus den tausend und ein Nächten (1922: 696-836, besonders 729-730) („Die Geschichte von 'Alâ ed-Dîn und der Wunderlampe"); sowie Tausend und eine Nacht, (o. J.: 62-150, besonders 77) („Geschichte Alaeddins und die Wunderlampe"). Zum Ring vgl. Die Erzählungen aus den tausend und ein Nächten. (1926: 384-448, besonders 397, 428) („Die Geschichte von Dschaudar und seinen Brüdern"), sowie TAUSEND UND EINE NACHT. Bd. 2. (o. J.: 381^102, besonders 395-396) („Geschichte Djaudars"). Zugrundegelegt sind Ausgaben, die in Ernst JÜNGER (1984: 146), Erwähnung finden: ,„Tausendundeine Nacht'", so heißt es dort, „begann ich als Neunjähriger zu lesen, im Juni des Jahres 1904; ich weiß es so genau, weil ich das Werk auf dem Geburtstagstisch der Mutter fand. Es war die vierbändige Übersetzung von Gustav Weil, zu der ich immer wieder wie zu einer Oase in der Wüste Zuflucht nahm, bis ich zu der zwölfbändigen von Enno Littmann überging".

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gelobten Landes zu erreichen und um dann auf eigene Faust in sein Inneres vorzudringen" (7). Wenn es aber zur Aufgabe der Fremdenlegion erklärt wird, den passage nach Afrika zu ermöglichen: über das Wasser in eine grundlegend andere Sphäre, dann wird sie für ein strukturell vergleichbares Geschäft in Anspruch genommen wie der für den passage über den Acheron in die Unterwelt zuständige Fährmann Charon. Mit dieser strukturellen Gemeinsamkeit zwischen der der Fremdenlegion zugeordneten Aufgabe und derjenigen des Fährmanns aus dem Mythos - dem Über-setzen in eine andere Sphäre - gewinnt die Charon-Reminiszenz ein poetisches und darüber hinaus hochreflexives Moment. Charon wird lesbar als Metapher für das entwicklungspsychologische Problem, das in den Afrikanischen Spielen zur Debatte steht: Herberts „Übertritt" (20) von der bürgerlichgeordneten Welt des Elternhauses und der Schule, von der Vaterordnung, in die andere, „den äußersten Grad der Freiheit" (21) verheißende „tropische Welt" (11) - eine Leistung, die Charon wie auf den Leib geschrieben ist, meint μετα-φορά doch nichts anderes als das Anderswohintragen, das Hinüberbringen, das Übersetzen.16 Ein komplexes Arrangement zeichnet sich auf diese Weise ab: als personifizierte Metapher steht Charon metaphorisch ein für den zentralen, seinerseits thematisch als Metapher beschreibbaren Problemkomplex der Afrikanischen Spiele·, das Hinüber-Bringen Herberts oder, aus seiner Sicht, das Hinüber-gebracht-werden-Wollen.

4. In Afrika ankommen Wohin aber überfuhrt die Fremdenlegion de facto ihren Passagier? Freilich nach Afrika, keineswegs aber, wie erhofft, in die „Zone" (11), an den Ort des Anderen. Das von Herbert in einem Verbundsystem von „Lesen und Träumen" (10) konturierte Afrika hält sein Versprechen in der Wirklichkeit des Erlebens nämlich nicht; es liefert vielmehr eine Reihe von (übrigens vielzitierten)17 „Entzauberungen" (211), die hinter dem „eingebildeten Lande" (23), hinter der von Herbert so emphatisch aufgeladenen „Fremde" (13), vertraute Strukturen und Muster zum Vorschein bringen: Ein in Oran angetroffener und „goldene Schlangen" verheißender „Steinhaufen", „das erste Stück vom Lande Afrikas, das sich ungestört betrachten ließ", erweist sich entgegen den Erwartungen Herberts nicht als „etwas Besonderes" - er „blieb ein Steinhaufen wie alle anderen auch" und „unterschied sich [...] in nichts von denen, die man in der Lüneburger Heide oder an jedem anderen Orte der Welt in Hülle und Fülle

16 17

V g l . ζ. B . PAPE ( 1 9 1 4 : 1 5 6 ) . A u s f ü h r l i c h h i e r z u HARTNIBBRIG ( 1 9 9 5 : 1 8 3 - 2 2 5 ) . V g l . PEKAR ( 1 9 9 9 :

177-178);

CRESCENZI ( 1 9 9 5 :

KUNICKI ( 1 9 9 1 : 2 5 4 ) ; LOOSE ( 1 9 5 7 : 1 4 1 ) .

1 7 3 ) ; DIETKA ( 1 9 9 4 :

90-91);

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beobachten kann" (125). Die während des Fluchtversuchs als Unterschlupf gewählten „merkwürdigen Pflanzen; sie waren stachlich wie riesige Disteln und trugen schwere Früchte", die Herbert „wie zackige Morgensterne ins Gesicht schlugen" (184), entpuppen sich nicht etwa als rohe, feindselige Natur. Herbert muß vielmehr entdecken, „daß dieser wilde Busch, bei Lichte besehen, nichts anderes als ein riesiges Artischockenfeld war, dessen stachlige Stauden sich in regelmäßigen Reihen weit ausdehnten" (189). Die Muscheln schließlich, „wie man sie nur aus den Träumen kennt - eine ganze Muschelbank, die in schillernden, selbstleuchtenden Farben auf blauem Grunde sich ausbreitete", verwandeln sich, von nahem besehen, „in einen Haufen glühender Kohlen". Sie rühren von einer ,,kleine[n] Werkstatt" her, die „oben am Rande der Klippen [...] lag" und „sich der Schlacken ihrer Öfen [...] entledigte" (211). Statt der erhofften Andersheit und „Fremde" (13) Afrikas, statt des ,,Inbegriff[s] der wilden, ungebahnten und unwegsamen Natur" (22), findet Herbert allenthalben Spuren von Zivilisation vor - eine Enttäuschung, die sich im Gebrauch der Attribute spiegelt, mit denen der Steinhaufen, der wilde Busch und die Muscheln vor und nach ihrer „Entzauberung" (211) versehen werden. In der Logik des Charon-Mythologems heißt das, daß Herbert das Fährschiff noch immer nicht verlassen hat, sich noch immer an Bord seines ,Transportmittels', der Fremdenlegion, befindet. Am deutlichsten markiert wird dies an einem im Horizont des mythologischen Bezugspunkts überaus signifikanten Abschnitt seiner Flucht, der Überfahrt von Marseille nach Oran. Vom Schiff aus bemerkt Herbert eine „Felseninsel" (120), auf der sich zu seiner Freude „keine Häuser oder Spuren einer menschlichen Ansiedlung" (121) ausmachen lassen, die vielmehr dem „Inbegriff der wilden, ungebahnten und unwegsamen Natur" (22) sehr nahe zu kommen scheint. Folgerichtig glaubt er sich am Ziel seines mythologisch unterlegten Transfers, „am Rand des gelobten Landes" (7), und versucht das Schiff - in der Sprache des Charon-Mythologems: den Nachen des Fährmanns - zu verlassen, um „drüben an Land zu gehn" (121): L a n g e Stunden des Nachmittags fuhren wir an dieser Insel entlang; oft so dicht, daß ich den Schlag der Brandung zu vernehmen glaubte, die sich an den Klippen brach. Sie erschien mir wie der Vorposten einer schöneren und kühneren Welt, oder wie ein Vorspiel zu Abenteuern von wundersamer Art. Besonders beschäftigte sich mein Sinn mit den Dingen, die ich jenseits des Turmes vermutete, und ich fühlte mich immer stärker verlockt, hinüberzuschwimmen, um drüben an Land zu gehn. Ich legte mir einen der Korkgürtel zurecht, die überall zahlreich hingen, und erwartete ungeduldig die Dunkelheit. Allein, noch ehe es dämmerte, führte unser Kurs weiter von der Insel ab, die endlich im Dunst verschwand. ( 1 2 1 )

Obwohl er das Ziel oder wenigstens einen „Vorposten" (121) desselben vor Augen hat, geht Herbert nicht von Bord, und zwar nicht nur in einer empirischen Lesart, sondern auch - und hierfür gibt diese Episode ein Bild - metaphorisch, in der Perspektive des mythologischen Bezugspunktes. Bis zuletzt bleibt Herbert in seinem ,Boot', im Einflußbereich der so geschmähten, durch

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den Vater, die Schule und schließlich auch durch die Fremdenlegion repräsentierten Sphäre der Ordnung, denn der verhinderte Ausstieg wird nachgerade zum Leitmotiv ausgebaut: in Oran angekommen, hätte er sich „gern [...] auf und davon gemacht, um [sjeiner Wege zu gehn" (123), wurde aber zu seinem Leidwesen „durch ein Kommando abgeholt, und [...] mußte [s]ich wohl oder übel entschließen, eine bessere Gelegenheit abzuwarten" (123). Einen ähnlichen Verlauf und Ausgang nimmt der Versuch, das „Fort Ste. Thérèse" (123) unerlaubt zu verlassen: zunächst gelte es, „auf den Untergang des Mondes zu warten" (131), um unentdeckt fliehen zu können, dann ist es „eine unbezwingliche Müdigkeit" (131), die ihn am Aufbruch hindert. „Ich hatte der Freiheit und der Einsamkeit gegenübergestanden, aber schon ihr erster Anhauch war zu stark gewesen für mich [...]. Ich hatte da eine Schlappe erlitten" (132). Am deutlichsten gespiegelt wird das Scheitern seines Vorhabens, mittels der Fremdenlegion in die „Zone" (11) zu gelangen, in einem weiteren, ausführlicher wiedergegebenen Fluchtversuch, der dem ersten eingelegt ist. Und auch diese Episode wird vom Rückschau nehmenden Ich in Tuchfühlung mit einem literarischen Prätext profiliert: Im wundersamsten Buche der Welt, in der Tausendundeinen Nacht, finden wir eine Reihe von Geschichten, die nach dem Muster der Erzählung von den zehn Einäugigen angelegt sind, und in denen sich eine wirkende Figur ersten Ranges verbirgt. Es handelt sich darum, daß man den Schlüssel zu einem bestimmten Raum erhält, den man jedoch nicht betreten darf, wenn man nicht in ein Abenteuer verwickelt werden will, bei dem man das Licht eines Auges verliert. [...] Ganz ähnlich war es auch hier (162).

Obwohl - oder, um genauer zu sein: gerade auch weil - Herbert das abschrekkende Beispiel all derer vor Augen hat, deren ausnahmslos mißglückte Fluchtversuche mit militärischen Strafen belegt worden sind, unternimmt er zusammen mit Benoit einen weiteren, letzten Anlauf, der Fremdenlegion zu entkommen und „in die unbewohnten Gegenden" (168) vorzudringen. Wie den anderen Fluchtwilligen wird auch ihm „das Schicksal des Einäugigen zuteil" (189): er wird schon am nächsten Tag von einem „Feldjägerposten" (189) auf eine „noch nicht einmal [...] besonders originelle Weise" (189) aufgegriffen, in einem „Triumphzuge der Autorität" (193) in die Kaserne zurückgebracht und statt in die erhoffte Freiheit in die „Arrestzellen" (195) der Legion .entlassen'.

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5. Einäugigkeit In einer mise en abyme also machen die Afrikanischen Spiele das in ihrem Zentrum stehende Problem zum Thema: der mißlungene Versuch, aus der Sphäre der Ordnung zu entkommen, wird verkleinert' abgebildet, mithin kommentiert durch die gescheiterte Flucht aus der Kaserne in „Sidi BelAbbès" (133), und die vom Sprecher ins Spiel gebrachte „Erzählung von den zehn Einäugigen" (162) wiederum unterlegt beiden Fluchtversuchen einen Kommentar. Das erscheint für sich genommen wenig spektakulär. Seine vermeintliche Harmlosigkeit büßt der Hinweis auf die Geschichte von den Einäugigen indes ein, sobald man sich über das vom Sprecher-Ich referierte „Muster der Erzählung" (162) hinaus informiert und selbst einen Blick in das „wundersamste Buch der Welt" (162) wirft. Die mit den zehn Einäugigen befaßte Episode ist Teil einer größeren, von Gustav Weil „Geschichte des dritten Kalenders" 18 , von Enno Littmann „Geschichte des dritten Bettelmönches" 19 genannten Erzählung. Ihr einäugiges Sprecher-Ich schildert in einer Rückschau auf seine Zeit als J u n g e r Mann" 20 eine Reihe von Erlebnissen, deren letztes zum Verlust seines Auges gefuhrt haben soll. Nachdem er Schiffbruch erlitten hatte und sich auf eine Insel retten konnte, habe er nämlich - und darin liegt der besondere Reiz der Aktualisierung dieses Prätextes durch die Afrikanischen Spiele -, um in das „Land des Friedens" 21 zu gelangen, einen auf wundersame Weise zur Verfügung gestellten „Nachen" 22 bestiegen (Abb. 1). „Es saß ein kupferner Mann darin [...], und der Mann ruderte bis zum neunten Tage mit mir fort" 23 , bis am Horizont "Inseln und Berge" 24 in Erscheinung treten. Vor dem Hintergrund der in den Afrikanischen Spielen ,,wirkende[n] Figur" (162) des Über-setzens können die strukturellen und ikonographischen Übereinstimmungen zwischen dem Charon-Mythologem, den beiden Fluchtversuchen Herberts und dem Schicksal des Einäugigen nur schwer noch zufällig genannt werden: Wie der Fährmann aus „dem wundersamsten Buche der Welt" (162) seinen Passagier dem sich in der Ferne mit „Inseln und Berge[n]" ankündigenden „Land des Friedens" in einem „Nachen" entgegenführt, so geleitet auch der antike Ferge die Passagiere seines Bootes in die Unterwelt, und so soll 18

19

20 21 22 23 24

„Die Kalender", so unterrichtet eine Fußnote in Tausend und eine Nacht (Weil), (o. J.), „sind ein bei den Mohammedanern sehr verrufener Derwischorden". Und diese Binnenerzählung ist ihrerseits wieder eingebunden in einen größeren narrativen Kontext, vgl. Tausend und eine Nacht (Weil), (o. J., Bd. 3), Bd. I; 5 1 113. Ebd.: 92. Ebd.: 87. Ebd. Ebd. Ebd.

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auch die Fremdenlegion ihren .Passagier' Herbert zunächst an den „Rand", später ins Zentrum „des gelobten Landes" (7) bringen, von dem sich „in der Dämmerung" des dreizehnten Tages der Flucht vom Fährschiff aus zunächst nur „verschwommene Umrisse von Bergen", später „eine Reihe von mächtigen Kuppen" (122) zeigen. Beide Ich-Erzähler, Herbert Berger und der dritte Kalender oder Bettelmönch, nehmen sich selbst im „Rückblick" (25)25 als „Jüngling" ins Visier, und beiden ist eine folgenreiche Übertretung unterlaufen, die sie mit dem Verlust eines Auges bezahlen mußten: der Märchenheld ,realiter', in der erzählten Wirklichkeit, Herbert dagegen, dem, wie er selbst sagt, „das Schicksal des Einäugigen zuteil geworden" (189)26 ist, in der performativen Wirklichkeit seines Sprechens.

Abb. 1: Tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen. Zum erstenmale aus dem Urtext vollständig und treu übersetzt von Dr. Gustav Weil. 8. Auflage. Β d.i. Berlino. J.; 87

25 26

Z u r Z e i t s t r u k t u r vgl. e b d . 84. V g l . a u c h 194.

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Und die Einäugigkeit bezeichnet - in der Logik der mise en abyme überaus konsequent - nicht allein den Preis für die mißlungene Flucht aus Sidi BelAbbès: sie strahlt vielmehr auch aus auf die im Zentrum der Afrikanischen Spiele stehende Flucht vor dem behüteten Dasein, das Herbert im Wesertale zu erwarten droht: in Nancy, am Ende der Heimreise also, zieht der Ausrücker ein ebenso vernichtendes wie hellsichtiges Resümee: „Ich hatte mich in die Tinte gesetzt, und die praktische Vernunft Goupils und des Alten hatte mich wieder herausgeholt. Das Experiment war mißglückt" (213). Bekräftigt wird dieses Fazit durch das noch weiter zurückblickende Ich, das sich der erlittenen „Niederlage" (219) nicht zufällig in der Metaphorik der Verwundung erinnert: „Dennoch fühlte ich mich in meinem Stolze verletzt und mochte an diesen Ausflug lange nicht rühren wie an eine Wunde, die spät vernarbt (219; meine Hervorhebungen). Nimmt man die Rede von der nicht etwa ausheilenden, sondern erst spät vernarbenden Wunde ernst, so ist, wie für den Jüngling aus dem „wundersamsten Buche der Welt" (162) auch für Herbert Berger das „Schicksal des Einäugigen" (189) in seiner Irreversibilität akzentuiert: er bleibt - freilich ,nur' in der Wirklichkeit seiner Rede - einäugig. Unter dieser Voraussetzung allerdings gerät eine für das Rückschau nehmende Sprecher-Ich eminent wichtige Passage am Ende der Afrikanischen Spiele in ein seltsames Licht: In der Herberge, deren Wirtsleute Herberts „Kupferstücke mit einem Lächeln entgegennahmen], das dem des trübsinnigen Charon glich" (214), steht Herbert im Halbschlaf am Fenster seines Hotelzimmers: Draußen spannte sich der Schnee wie eine flimmernde Leinwand aus; sein Anblick rief eine zweite und stärkere Müdigkeit hervor. Wider Willen Schloß ich die Lider fur einen Augenblick, und als ich sie gleich wieder öffnete, sah ich, daß das Fenster verschwunden war. Sein Rahmen umschloß nun ein mir wohlbekanntes Bild, das viele Jahre lang im väterlichen Hause über meinem Bette gehangen hatte - ein Bild, wie man es damals in vielen deutschen Bürgerhäusern fand: Napoleon und Bismarck auf der Straße von Donchery. Ich hatte dieses Bild gleich nach dem Erwachen so unzählige Male betrachtet, daß ich es in allen seinen Einzelheiten wiedererkannte als einen längst vertrauten Gegenstand. Da war die noch von Geschossen zerfetzte Pappelallee, an den Rändern mit Waffen und Ausrüstungsstücken bestreut, dann, in den Wagen zurückgelehnt, der gefangene Kaiser mit betrübtem und kränklichem Gesicht, und neben ihm auf mächtigem Rosse Bismarck in der Kürassieruniform. Da war auch, neben dem gefallenen Zuaven, der französische Infanterist, der an den Stamm einer Pappel gelehnt, dieses Schauspiel von Aufgang und Untergang mit den gleichgültigen Augen des Sterbenden betrachtete. ,Das Bild ist zu deutlich - ich muß das alles geträumt haben', schoß es mir durch den Sinn. Zugleich aber empfand ich das seltsame Gefühl, das uns ergreift, wenn der tote Gegenstand Leben gewinnt. Das starre Gemälde verwandelte sich; es dehnte sich zu stereoskopischer Tiefe aus und zog mich, nicht mehr als Betrachtenden, sondern als Handelnden in sich ein.

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Eine grausame Kälte herrschte in seinem Raum, obwohl nah und fern das Feuer mit der Gewalt von Schmiedeflammen aus der Erde fuhr. Auch der Wagen verwandelte sich in ein Gefährt aus grauem Eisen, in dem ich mich zur Seite eines schweigsamen Fahrers sitzen sah. Wir jagten mit großer Geschwindigkeit durch den Schutt zerstörter Siedlungen wie durch eine ausgestorbene Welt dahin und näherten uns erst dem Orte, der auf dem Bilde festgehalten war. Nun erkannte ich auch die Pappel und den sterbenden Mann - sein Gesicht hatte sich verändert; es war Benoit, der dort jenseits des gebahnten Weges kauerte. Ich erkannte ihn an den Augen, obwohl ein Verband sich ihm tief über die Stime zog. Unsere Blicke begegneten sich, während der Wagen vorüberfuhr, und wir lächelten uns zu. Ich fühlte, daß ich mich nicht umsehen durfte, denn wir fuhren wie unverletzliche Wesen in die Flammen hinein, und nur auf dem Wege war Sicherheit, obwohl sich gerade auf ihn das tödliche Feuer zusammenzog. (216-218; meine Hervorhebungen)

Ein „Bild" (217) dehnt sich vor dem Auge des Einäugigen zu „stereoskopischer Tiefe" aus, gewinnt „Leben" (217) und nimmt den „Betrachtenden [...] als Handelnden" (217) in sich auf? Allem Anschein nach projiziert Herbert .Ausschnitte' seines interpretatorisch überformten „afrikanische[n] Abenteuer[s]" (188) auf die vor dem Fenster sich ausbreitende „flimmernde Leinwand" (216) - eine Zuschreibung, die sich erst vor dem Hintergrund der von den Afrikanischen Spielen entwickelten und vom Charon-Mythologem inspirierten Logik des Über-setzens plausibilisieren läßt: Beschrieben wird Herberts „Übertritt" (20) „in die Flammen hinein" (218), in einem „Gefährt aus grauem Eisen" (218) und an der „Seite eines schweigsamen Fahrers" (218) - womit im Horizont des Charon-Musters die von Herbert als Transportmittel' für seinen passage ausgewählte Fremdenlegion abgebildet ist.

Abb. 2: Wilhelm Camphausen: Kaiser Napoleon III wird am Morgen nach der Schlacht von Sedan durch den Grafen Bismarck zu König Wilhelm geleitet, 1877, Deutsches Historisches Museum - Bildarchiv, Berlin

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Nicht der Heimkehrer, der Rückschau nehmende Erzähler ist es,27 der diesem „Übertritt" (20) eine entwicklungspsychologische Deutung unterlegt: „die Zeit der Kindheit war vorbei" (218). Das erinnerte und imaginativ überformte Gemälde28 gerät zur Metapher des ,,afrikanische[n] Abenteuer[s]" (188), setzt ins Bild, was die Afrikanischen Spiele zum Thema machen und zugleich narrativ vollziehen: den im Charon-Muster vorgestellten „Übertritt" (20) Herberts. Der Transfer wird an dieser Stelle allerdings in einer zweiten Dimension lesbar: im „Rückblick" des „Handelnden", des erzählten Ich, ist er bezogen auf die mißlungenen Versuche, von der Sphäre der Ordnung in das „Ungeordnete" einzutreten, im „Rückblick" des „Betrachtenden", des erzählenden Ich, ist er bezogen auf den entwicklungspsychologischen Gehalt des mißlungenen ,ersten' „Übertritts" (20). Und genau diese transzendentale Wende ist es, die das Gelingen des ,zweiten' „Übertritts" (20) garantiert, die das Aussteigen aus dem Boot ermöglicht. Ermöglichungsbedingung dieser Transzendentalität aber ist ausgerechnet die erlittene „Niederlage" (219) - in der Wirklichkeit des poetischen Sprechens: die Einäugigkeit. Nur demjenigen nämlich, der ein Auge und damit die Fähigkeit zur stereoskopischen Wahrnehmung29 verloren hat, stellt sich die Wirklichkeit so zweidimensional dar wie ein Gemälde. Konstruktiv gewendet kann der Sehgeschädigte einem zweidimensionalen Gemälde Dreidimensionalität genauso unterstellen wie der nur zweidimensional wahrgenommenen, realiter freilich aber dreidimensionalen Wirklichkeit. Und nur unter dieser Voraussetzung ist der „Übertritt" (20) Herberts in die imaginierte Bildwelt und damit seine Transformation in einen Gegenstand analytischer Durchdringung möglich. Den schmerzhaft erfahrenen „Inhalt dieser kurzen Wochen [...] ganz aus der Erinnerung zu verbannen wie einen närrischen und unzusammenhängenden Traum" (213), wie es der bereits wieder in Marseille angekommene Herbert sich zunächst noch vornimmt, hieße, einen unproduktiven Standpunkt zur eigenen Erfahrung einnehmen. Die Geschichte des mißlungenen Fluchtversuchs würde auf diese Weise verdrängt oder gar gelöscht, ihre Überfuhrung in

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„In dieser Nacht sah ich Dorothea zum letztenmal; die Zeit der Kindheit war vorbei" (218) - diese analytische Leistung ist nur retrospektiv möglich, da es zum Zeitpunkt des Geschehens (oder nur kurz danach) schwer möglich ist, vom letzten Treffen mit Dorothea zu sprechen. Zu Bildnisbegegnungen im Werk Jüngers vgl. den Beitrag von Rainer ZUCH in diesem Band. Das Konzept der „stereoskopischen Wahrnehmung" geht auf eine optische Apparatur zurück, die „den Augen zwei Bilder desselben Gegenstandes so darbietet, daß das eine nur dem rechten, das andere nur dem linken Auge sichtbar wird; hierdurch erhält der Beschauer den körperlichen Eindruck des Gegenstandes" (BROCKHAUS 1934: 141). Zur metaphorischen Erweiterung der Stereoskopie zur Anschauungsform in den Afrikanischen Spielen vgl. MEYER (1990: 247-249), im Werk Jüngers v g l . MARTUS ( 2 0 0 1 : 8 4 - 8 7 ) ; PEKAR ( 1 9 9 9 : 1 3 9 - 1 4 4 ) ; F I G A L ( 1 9 9 4 : 1 0 8 - 1 1 0 ) .

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das B i l d d a g e g e n macht die „Niederlage" p o e t i s c h produktiv, 3 0 sie wird v o m w a h r n e h m e n d e n Ich getrennt und „in e i n e andere Sphäre", diejenige d e s B i l des, „versetzt" 3 1 - ein fur beide, für den „Handelnden" und fur den „Betrachtenden" überaus folgenreicher „Übertritt" (20). V o m (nur n o c h theoretisch e i n n e h m b a r e n ) Standpunkt des h a n d e l n d e n Ich aus z e i c h n e t sich ab, w i e e s g e l i n g e n kann, „drüben an Land z u gehn" ( 1 2 1 ) , das e i g e n e Ich hinüberzubring e n a u f die andere Seite: poetisch, mit den Mitteln der R e f l e x i o n und der Fiktionalisierung. Bergers kritische R e v i s i o n des ,,afrikanische[n] Abenteuer[s]" ( 1 8 8 ) - „Eine s o l c h e Z o n e hielt ich für wirklich; ich verlegte sie in die tropis c h e W e l t " ( 1 1 ) - g e w i n n t vor d i e s e m Hintergrund e i n e n D o p p e l s i n n , der b e i d e n V o r s t e l l u n g e n v o n , Afrika' R a u m gibt und d e n „Übertritt" ( 2 0 ) nicht nur g e o g r a p h i s c h , sondern e b e n auch metaphorisch e r m ö g l i c h t . 3 2 E s ist die V e r l e g u n g der „ Z o n e " in die „ W i l d n i s der Tropen" 3 3 , z u der n e b e n

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n e k d o c h e und M e t o n y m i e e b e n a u c h die Metapher gehört, 3 4 die d e n „Übertritt" ( 2 0 ) ermöglicht. U n d das erzählende hat durch das Ü b e r - s e t z e n d e s erzählten Ich in d e n R a u m der D i c h t u n g nicht nur d e n Ort d e s Anderen, das ,Jenseits' der M e t a p h e r erreicht, sondern z u g l e i c h auch eine B e g r ü n d u n g v o n Autorschaft g e g e b e n , die n a c h d e m „Rückblick" auf die C h a r o n - R e m i n i s z e n z e n der

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Es greift daher zu kurz, die Afrikanischen Spiele lediglich als Schilderung eines „mißglückten Ausbruchsversuchs" (BRENNEKE 1992: 98), als „Manifestation des Konflikts, der sich aus der gefühlsmäßigen Bindung an den romantischen Traum und der Erfahrung der Wirklichkeit ergibt" (CRESCENZI 1995: 174), als „[farcically misfired] self-initiation" (NEVIN 1997: 34), als „Geschichte einer Enttäuschung" (LOOSE 1957: 141) zu lesen, ohne zugleich danach zu fragen, welche Effekte die Überfuhrung der „Enttäuschung" in eine „Geschichte" fur das erzählende Ich, fur einen Entwurf von fiktiver Autorschaft, zeitigt. Entscheidend ist nicht, wie PEKAR (1999: 178) resümiert, die schon geringfügigen hermeneutischen Anstrengungen sich darbietende Tatsache, daß „am Ende der Protagonist sich doch wieder der väterlichen Autorität beugt", sondern der poetische Umgang mit der mißlungenen „Inititation". Daß „die Gedankenfigur der Verkehrung von Mißerfolg in Erfolg" keinen Sonderfall darstellt, sondern vielmehr eine „erstaunliche Kontinuität" im Werk Jüngers besitzt und in der Tradition der nach dem Weltkrieg virulenten „Niederlagenhistoriographie" steht, arbeitet der Beitrag von Steffen MARTUS heraus. Diese Leistung konzediert der Metapher ζ. B. (TUMLIRZ 1919: 28). Nicht nur die „zwischen den Wendekreisen der erde liegende zone" heißt tropisch, sondern auch die „ b i l d h a f t e ] , bildlich[e]" Rede; (DEUTSCHES WÖRTERBUCH 1952: 893-894). Aus der semantischen Ambivalenz der „Tropen" schlägt bereits Walter Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay Kapital: Die Rede von der „Wildnis der Tropen" verlangt dort sowohl geographisch wie rhetorisch aufgelöst zu werden, denn nur auf diese Weise entfaltet der „Urwald, wo sich Worte als plappernde Affen von Bombast zu Bombast schwingen, um nur den Grund nicht berühren zu müssen, der es verrät, dass sie nicht stehn können, nämlich den Logos, wo sie stehen und Rede stehn sollten", seinen Doppelsinn (BENJAMIN 1925; H. 2: 128-129). Ebd. V g l . TUMLIRZ ( 1 9 1 9 : 2 6 ) .

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Gesamtheit der Bildungsanspielungen eine poetische Funktion zuweisen kann: das Über-setzen der ErfahrungsWirklichkeit in die poetische „Zone" (11) der Fiktionalität.

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HELMUT MOTTEL

„Vor Actium" Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur nach 1918 Für den Übergang von der Eisen- zur Strahlungszeit gab Röntgens Entdekkung (1895) das Signal. Ein neues Zeitalter, verkündet durch Sterndeuter und Propheten, schafft sich die Armatur. Das Lichtspiel schafft dem Weltstaat das Forum und die Tribüne; es bereitet ihn vor. Gewisse Unterschiede zum Cäsarismus lassen sich im Hinblick auf den technischen Fortschritt abklären. So jener der Ubiquität - das heißt: der Präsenz des Augustus, oder wie man ihn nennen mag, an jedem beliebigen Ort, etwa im Vorhof des Tempels von Jerusalem. Wurde sie bestritten, so dauerte es Wochen, bis die Nachricht nach Rom kam, sei es durch Stafetten oder Schiffsreisen. Das war auch der Grund, aus dem das Urteil über Paulus sich verzögerte. Heut würde es ihm, wo immer er sich befände, in Sekunden zugestellt. In einer Aussicht scheinen sich die Auguren einig - nämlich daß wir „vor Actium" stehen. Ernst Jünger; Die Schere. 1990

In der Seeschlacht bei Actium am 2.9. des Jahres 31 v. Ch. besiegte Octavian die Flotte des Antonius, beendete damit den römischen Bürgerkrieg und legte so die Basis zu seinem Prinzipat. Dieses wurde im Januar des Jahres 27 v. Ch. in einer Urszene charismatischer Herrschaftslegitimation endgültig befestigt. Vgl. Cancik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hrsg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 2. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1997, Sp. 308: „Augustus [legte, H. M..] am 13. Januar 27 seine außerordentlichen Vollmachten nieder und gab dem Senat die Verfügungsgewalt über die res publica zurück. Auf Zurufe hin erklärte Augustus sich jedoch bereit, weiter für den Schutz des Staates zu sorgen. Er behielt das Konsulat und übernahm ein auf zehn Jahre befristetes imperium proconsulare ... [das ihn zum Herrn über Krieg und Frieden in den noch nicht völlig befriedeten Provinzen des imperium romanum machte, H. M..] ... Zum Dank [!] wurde Augustus am 13. Januar die corona civica und am 16. Januar ... der Name ,Augustus' beschlossen. Das Tor seines Hauses wurde wie die Wohnung einiger Staatspriester mit zwei Lorbeerbäumen geschmückt und in der curia ein goldener Schild virtutis clementiae iustitiae pietatis erga deos patriamque aufgestellt. Seither überragte Augustus alle Bürger an auctoritas. Eichenkranz, duo laurea und clupeus virtutis wurden die Grundelemente einer monarchischen Bildpropaganda."

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Helmut Mortel Die ganze Entwicklung [zur allgemeinen Wehrpflicht] bedeutet im Erfolg eindeutig eine Steigerung der Bedeutung der Disziplin ... Ob im Zeitalter der Maschinenkriege die exklusive Herrschaft der Dienstpflicht das letzte Wort bleiben wird, steht dahin. ... Die Disziplin des Heeres ist aber der Mutterschoß der Disziplin überhaupt. Der zweite große Erzieher zur Disziplin ist der ökonomische Großbetrieb. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft.

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1. Vorbemerkung Prognosen2 sind ein riskantes, aber auch chancenreiches Geschäft. Nicht allein die Tatsache, daß man sich der Probe durch die Wirklichkeit auf Schritt und Tritt ausgesetzt sieht, macht die Voraussage zum gefährlichen Sprechakt par excellence. Weitreichender sind die pragmatischen Voraussetzungen, die diese Art von Aussagen implizieren, und deshalb werfen sie einen langen kulturgeschichtlichen Schatten. Es dreht sich dabei - streng genommen - außerhalb der Sphäre der gesellschaftlich legitimierten Voraussagen, die von den magischen Praktiken primitiver Gesellschaften bis zu den statistisch operierenden Wissenschaften unserer Tage reichen, um die Frage nach der Art des Zugangs zu arkanem Zukunftswissen und der Legitimität seiner Proliferation durch Laien. Auf der einen Seite lauert also, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Prognosen, die Gefahr, von wissenschaftlicher Seite der Scharlatanerie bezichtigt zu werden, da die intellektuellen Methoden des Propheten, der ja in der Regel auch ein Autodidakt ist, nicht dem jeweils historisch etablierten ,state of art' entspricht. Auf der anderen Seite eröffnet sich dem kulturhistorisch versierten Teilnehmer am gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß die Möglichkeit, aus dem Arsenal der Redegesten historisch ,überholte' Sprechrollen der Schau zur aktualisieren, um durch ihre Kombination mit adventistischen gesellschaftlichen Strömungen in historischen Umbruchssituationen kollektive Bedürfnissynthesen zu stiften. Freilich stellt sich im Falle Ernst Jüngers die Frage, inwiefern solche Bedürnissynthesen, auf die sein theoretisches Werk zwischen 1918 und 1933 abzielt, weniger analytisch gewonnen als vielmehr suggeriert und damit induziert werden.3 Im folgenden geht es also weniger um die Frage, ob

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Basis der Studie ist ein Vortrag des Autors bei der Jahrestagung des Vereins der Freunde und Förderer des Werks von Ernst und Friedrich Georg Jüngers im Frühjahr 2000, die sich mit der Bedeutung von Prognosen für das Werk der Brüder Jünger beschäftigte. Vgl. Jünger, Ernst: Die Schere. Stuttgart: Klett-Cotta 1990: 14: „Die Voraussage ist noch keine Prophezeiung, da sie sich durch Messung bestätigen oder widerlegen läßt. Sie bewegt sich innerhalb des Kalenders und der meßbaren Zeit, während der

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oder bis zu welchem Grade Ernst Jüngers gesellschaftsanalytische Prognosen, namentlich aus den Essays Die totale Mobilmachung und Der Arbeiter, Wirklichkeit geworden sind, sondern wie sie in einem Feld von zeitgenössischen prophetischen Redegesten sozialgeschichtlich und poetologisch lokalisierbar sind. Wie das Spiel mit der dichterischen Prophetenrolle Ernst Jüngers Autorschaftskonzept4 bis zu seinem Epos Auf den Marmorklippen beeinflußt, soll im folgenden untersucht werden. Um dorthin zu gelangen, möchte ich mich zunächst der Konstellation von dichterischer Rede und Charisma5 um 1920 zuwenden.

2. Die Konstellation von 1920 - soziologische Analyse und literarische Redegesten „Unsere Aufgabe wird es sein, gleich den alten Propheten im Namen der allbarmherzigen und weißglühenden Liebe Vernichtung und Zerstörung zu predigen..."6 Ernst Jünger inszeniert an dieser Stelle im Kontext seiner nationalrevolutionären Publizistik der späten zwanziger Jahre den Angriff auf die Weimarer Republik im Gestus des Propheten, der Feuer und Schwert zu handhaben weiß. Der prophetisch-apokalyptische Tonfall namentlich auch des Arbeiters und der Totalen Mobilmachung werden von der Forschung vermerkt - so spricht Harro Segeberg in einer luziden Deutung von Auf den Marmor klipp en, auf die später noch zurückzukommen sein wird, vom sozial-eschatologischen Initiationscharakter und der apokalyptischen Sehweise der frühen Texte7 -

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Prophet sich nicht nach Daten richtet, sondern Daten setzt. Das geschieht ohne oder gegen seinen Willen - es geschieht." Helmut Lethen hat bekanntlich Ernst Jüngers Autorschaft bruchlos in einem neusachlichen ,Pathos der Distanz' (Nietzsche) aufgehen lassen. Vgl. Lethen, Helmut: Die Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Dies scheint Jünger von der ,pontifikalen' (Brecht) Autorenlinie der deutschen Literatur a priori zu scheiden. Gleichwohl ist auf die in dieser Studie nachgezeichneten Austauschdiskurse und Intertextualitätsbeziehungen mit dem Autorschaftskonzept des ,poeta vates'-Modell, die j a bis ins Spätwerk reichen, nachdrücklich hinzuwiesen. Die Ekstasen des Dichterpropheten im technischen Zeitalter sind jedoch ästhetisch-kalte, die Gottesdiensrituale, die seine negative Theologie stiftet, sind schwarze Messen vgl. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München: Hanser 1978; 404-12. Vgl. Randow, Gero von: Narziß in der Rückkoppelungsschleife. Glückliche Deutsche: Sie haben ein Charismadefizit. Ein Streifzug durch die Führungsforschung, in: Franfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17. 2. 2002, Nr. 7: 67. Jünger, Ernst: Schlußworte zu einem Aufsatz, in: Widerstand, Jg. 5, Heft 1 (Januar 1930): 10. Segeberg, Harro: Prosa der Apokalyse im Medienzeitalter. Der Essay ,Über den Schmerz' und der Roman ,Auf den Marmorklippen, in: Müller, Hans Harald; Sege-

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ohne diese Einsicht systematisch zu vertiefen. Dabei sind Jüngers Texte eingebettet in eine Flut prophetischer Literatur, die bereits um 1900 einsetzt, um dann nach dem ersten Weltkrieg8 enorm anzuschwellen. Sie versucht eine Antwort auf den Epochenumbruch zu formulieren und leitet zugleich die Legitimation ihres forcierten Redegestus' aus dem Zusammenbruch auch der symbolischen Ordnung des Kaiserreichs ab. Letztlich überlappen sich, daran sei an dieser Stelle kurz erinnert, am Ende des ersten Weltkriegs in Deutschland vielleicht vier grundsätzliche gesellschaftliche Probleme, welche die bürokratischen, wissenschaftlichen und kulturellen Funktionseliten vor schier unlösbare Aufgaben stellten. Da ist zum einen die erste moderne Demobilisierungskrise,9 die die deutsche Gesellschaft bewältigen muß; in ihrem Kontext sind vor allem die Umstellung der Kriegs- auf eine Friedenswirtschaft, die Rückkehr der Soldaten auf den Arbeitsmarkt sowie die Lösung der offenen Frage der Finanzierung der Kriegs- und Kriegsfolgelasten zu nennen. Ihre besondere Dimension gewinnt diese Demobilisierungskrise - und dies ist der zweite Aspekt der oben angesprochenen Konstellation - dadurch, daß sie als Ausdruck eines umfassenden Zusammenbruchs der Systeme der sozialen Steuerung der alten wilhelminischen Gesellschaft unter den durch den Krieg beschleunigten Modernisierungsprozessen gesehen werden kann; die prophetische Literatur der zwanziger Jahre und namentlich Ernst Jüngers Essayistik können als Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Neujustierung dieser Steuerungsmechanismen verstanden werden. Drittens vollzieht sich dieser Prozeß in einer Phase, in der die traditionellen Funktionseliten der deutschen Gesellschaft im Kontext des verlorenen Krieges und der Revolution von 1918/19 sich in einer tiefen Legitimationskrise befanden. Dadurch wird viertens die Frage nach der strukturellen, institutionellen und personalen Legitimation von Herrschaft eine Dominante in den Redeordnungen, die unter dem Signum dieser Konstellation stehen. Diese Konstellation hat nicht nur im literarischen Diskurs, sondern insbesondere im damals jungen Fach der Soziologie zu Beginn der zwanziger Jahre intensive Bearbeitung gefunden. Namentlich Max Weber hat sich im Kontext seiner Modernisierungstheorie, nämlich bei der Beschreibung der Genese der

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berg, Harro (Hrsg.): Ernst Jünger und das 20. Jahrhundert. München: Fink 1995: 100. Vgl. dazu Schmitz, Walter; Schneider, Uwe: Völkische Semantik bei den Münchner ,Kosmikern' und im George-Kreis. In: Puschner, Uwe; Schmitz, Walter; Ulbricht, Justus H. (Hrsg): Handbuch zur .Völkischen Bewegung' 1871-1918. München, New Providence, London, Paris: K.G. Saur 1996: 711-46, bes. 719-29. Vgl. zum folgenden Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik. München: Oldenbourg 1988 2 : 143-83, und Michalka, Wolfgang (Hrsg.) : Der erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München: Piper 1994.

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institutionellen und rationalen Formung des neuzeitlichen Staates und der Legitimation von Herrschaft den beunruhigenden Aspekten des Umbruchs nach dem ersten Weltkrieg zugewandt. Steht der moderne Staat prinzipiell in der Spannung zwischen Rationalisierung und Bürokratisierung der Herrschaft auf der einen Seite, und der Notwendigkeit der Integration charismatischer Elemente zur Untermauerung von Loyalitätsbeziehungen auf der anderen Seite, so verschärft sich diese Spannung beim Übergang vom Kaiserreich in eine Gesellschaftsstruktur, die Legitimität von Herrschaft und Loyalität auf der Basis von Massendemokratien durch populistische Kampagnen10 herstellt. Damit gerät die Frage nach den Formen des Charismas neu ins Zentrum soziologischer Diskussion. Die deutsche Gesellschaft wird gezwungen, sich mit Formen charismatischer Herrschaftslegitimation auseinanderzusetzen, die seit 1789 in erster Linie mit den westlichen Demokratien assoziiert wurden. Die neuere soziologiegeschichtliche Forschung11 hat aus Max Webers soziologischer Beschäftigung mit den modernen Formen charismatischer Herrschaft gewissermaßen eine Theorie der ,Charisma-Trift' entwickelt, die für unseren Zusammenhang aufschlußreich ist. Folgende weberianische Modernisierungsthese liegt ihr zu Grunde: „Im Verlauf der historischen Rationalisierung und Entzauberung der Welt hängt die charismatische Legitimierung immer mehr an Ideen und weniger an den magischen und ererbten Qualitäten von Personen. Die historische Bewegung schreitet von der revolutionären Herausforderung, die dem persönlichen Charisma von Männern mit magischen Kräften (wie Jesus oder Thomas Müntzer) eigen ist, zu einem Charisma natürlicher Rechte fort, das keiner Personifizierung mehr bedarf."12 Gelangen auf diese Weise zunächst protestantische Sekten oder gegenreformatorische Formationen zu charismatisch gestützten Herrschaftsformen, so entfaltet sich im Zuge des Säkularisierungsprozesses im 18. und 19. Jahrhundert eine Quadriga säkularen Charismas: 10

Vgl. dazu Weber, Max: Politik als Beruf. 1919, in: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie. Fünfte, revidierte Auflage besorgt von Johannes Winkelmann. Tübingen: Mohr 1985: 850: „Man [muß H. M..] sich nach dem früher Gesagten klarmachen: die Leitung der Parteien durch plebiszitäre Führer bedingt die ,Entseelung' der Gefolgschaft, ihre geistige Proletarisierung, könnte man sagen. Um für den Führer als Apparat brauchbar zu sein, muß sie blind gehorchen, Maschine im amerikanischen Sinne sein, nicht gestört durch Honoratioreneitelkeit und Prätentionen eigener Absichten. Lincolns Wahl war nur durch diesen Charakter der Parteiorganisation möglich, ... Es ist das eben der Preis, womit man die Leitung durch Führer zahlt. Aber es gibt nur die Wahl: Führerdemokratie mit .Maschine' oder führerlose Demokratie, das heißt: die Herrschaft der .Berufspolitiker' ohne Beruf, ohne die inneren, charismatischen Qualitäten, die eben zum Führer machen."

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Vgl. zum folgenden Breuer, Stefan: Bürokratie und Charisma: zur politischen Soziologie Max Webers. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. Roth, Günter: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987: 147.

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Das Charisma der Vernunft, wie es sich im Anschluß an Vorstellungen des Naturrechts in der radikalen Phase der französischen Revolution am reinsten äußert.13 Das Charisma der Organisation als das marxistisch-leninistische Derivat des Charismas der Vernunft. Dabei gehen die vordiskursiven, quasi naturalen Legitimitätsansprüche einer rational-wissenschaftlichen Weltanschauung auf die Partei als Organisation.14 Das Charisma der Nation, fußend auf Vorstellungen Herders und der Romantik von der Individualität und Organizität der Nationen. Seine herrschaftslegitimierende Potenz äußert sich vielleicht am prägnantesten in den Konstellationen von 1813 und 1914.15 Das Charisma des Führers, das den Übergang in die moderne Massendemokratie markiert.16 Die letztgenannte Form des Charisma ist zweifellos die prekärste, zwingt sie doch die archaischste mit der modernsten Form von Herrschaftslegitimation zusammen.17 In Webers Horizont, seiner Hochschätzung bürokratischer Differenzierung und Rationalisierung von Herrschaft, versteht es sich a priori, daß die Demokratisierung von Massengesellschaften sich nicht in der Praxis der Administration sondern nur in der - ein Terminus von Weber - Demokratisierung der Führerauslese äußern kann.18 Die moderne Entwicklung stellt hierfür im wesentlichen zwei Formen bereit: die parlamentarische und die plebiszitäre 13 14 15 16 17

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Breuer (1994): 59 ff. A.a.O.: 84 ff. A.a.O.: 110 ff. A.a.O.: 144 ff. Weber (1985): 140: „.Charisma' soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie ... als Führer gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ... Standpunkt aus .objektiv' richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich den charismatisch Beherrschten, den ,Anhängern', bewertet wird, kommt es an. Das Charisma eines ,Berserkers' (dessen manische Anfälle man, anscheinend mit Unrecht, der Benutzung bestimmter Gifte zugeschrieben hat: man hielt sich in Byzanz im Mittelalter eine Anzahl dieser mit dem Charisma der Kriegs-Tobsucht Begabten als eine Art von Kriegswerkzeugen), eines ; Schamanen' (Magiers, für dessen Ekstasen im reinen Typus die Möglichkeit epileptoider Anfalle als eine Vorbedingung gilt), oder etwa des (vielleicht, aber nicht ganz sicher, wirklich einen raffinierten Schwindlertypus darstellenden) Mormonenstifters, oder eines den eigenen demagogischen Erfolgen preisgegebenen Literaten wie Kurt Eisner werden von der wertfreien Soziologie mit dem Charisma der nach der üblichen Wertung ,größten' Helden, Propheten, Heilande durchaus gleichartig behandelt." Vgl. Breuer (1994): 161 und Weber (1985): 851 ff.

„Vor Actium". Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur

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Führerauslese. B e i letzterer verdankt der Führer seine Stellung nicht seiner Bewährung innerhalb einer bürgerlichen Honoratiorenschicht, der letztlich immer der Geruch des Klüngels anhaftet, sondern seiner Vertrauensbasis bei den M a s s e n selbst, in der Weber eine antiautoritäre Umkehrung des Charismas sieht: eine Variante, bei der die Anerkennung durch die Beherrschten Grund, 19 nicht Folge der Legitimität ist. In Wirtschaft und Gesellschaft bezeichnet W e ber diese Form der Führerauslese auch als cäsaristisch, 2 0 die aus ihr hervorgehende Herrschaftsform als Cäsarismus, die „Herrschaft des persönlichen Genies". 2 1 W i e Weber die plebiszitäre Form der Führerauslese um 1920 einschätzte, ergibt sich aus einem Anschreiben v o m 19. Februar 1919 an Adresse der Sozialdemokratie anläßlich der Debatte um die Direktwahl des Reichspräsidenten im Kontext der Diskussion um die Weimarer Verfassung: ,Möchte sie [die SPD, H. M.] doch bedenken, daß die viel beredete ,Diktatur' der Massen eben: den ,Diktator' fordert, einen selbstgewählten Vertrauensmann der Massen, dem diese so lange sich unterordnen, als er ihr Vertrauen besitzt.' Das Recht der unmittelbaren Führerwahl sei die „Magna Charta der Demokratie", das Palladium der echten Demokratie, die nicht ohnmächtige Preisgabe an den Klüngel, sondern Unterordnung unter selbstgewählte Führer bedeutet. 22 D i e Legitimation von Herrschaft und ihre charismatische Begründung zählt also z u m heißen Kern der im prophetischen Diskurs der frühen zwanziger Jahre zirkulierenden sozialen Energie. 2 3 D i e in ihr virulente Idee einer Überblendung

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Weber (1985):157: „Der Wahlbeamte bedeutet überall die radikale Umdeutung der Herrenstellung des charismatischen Führers in einen ,Diener' der Beherrschten. ... Der Führerdemokratie ist dabei im allgemeinen der naturgemäße emotionale Charakter der Hingabe und des Vertrauens zum Führer charakteristisch, aus welchem sie Neigung, dem Außeralltäglichen, Meistversprechenden, am stärksten mit Reizmitteln Arbeitenden als Führer zu folgen, hervorzugehen pflegt. Der utopische Einschlag aller Revolutionen hat hier seine naturgemäße Grundlage. Hier liegt auch die Schranke der Rationalität dieser Verwaltung in moderner Zeit, - die auch in Amerika [insbesondere aber in Deutschland! H,M. vgl. Kershaw, Ian: Hitler 1936-1945. Stuttgart: DVA 2000: 745] nicht immer den Erwartungen entsprach." Vgl. zur Entfaltung des Begriffs aus dem Geist der Französischen Revolution von 1789 und ihrer Beendigung durch Napoleon I. sowie der Revolution von 1848 und ihrer Beendigung durch Napoleon III: Groh, Dieter: Cäsarismus: Napoleonismus, Bonapartismus, Führer, Chef, Imperialismus. In: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd.l. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1972: 726-71, zu Max Weber 768-71. Weber (1985): 156 f. Zit. n. Breuer (1994): 162. Zum Begriff der Zirkulation sozialer Energie' für die Verhandlungen von Kulturtechniken (der Macht, der Sexualität, der Inkorporation, der Alterität, des Todes) in diskursiven Formationen, kulturellen Praktiken und Artefakten einer gesellschaftlichen Formation vgl. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin: Wagenbach 1988: 7-24.

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von politischen Führungsqualitäten mit einem personenspezifischen Genie, ermöglichte es der Literatur mit einem Topos an die soziologischen und politischen Diskurse anzudocken, der gerade in der deutschen kulturellen Tradition einen schwer zu überschätzenden Stellenwert einnimmt. Zunächst ist festzustellen, daß der Geniegedanke in der deutschen literarischen Kultur einen überragenden Platz einnimmt. 24 Nirgendwo sonst widmete man sich diesem Gegenstand mit solch obsessiver Hingabe; Goethe und Schiller, nach dem ersten Weltkrieg dann vor allem Hölderlin, avancierten so zum Zentrum eine Kultes kultureller und ethischer Größe, der sich beispielsweise in der Erhebung von Weimar zur kulturellen Wallfahrtsstätte oder in den großen Centenarsfeiera und Editionsprojekten 25 manifestierte. Auf diese Weise konnte die Existenzform des Genies zur exemplarischen Hohlform kultureller Größe hypostasiert werden. Allerdings stellt dieser Bezug zur Dichterreligion der Kunstperiode, auf den später noch genauer einzugehen sein wird, nur eine Oberflächenströmung in der diskursiven Austauschökonomie zwischen Literatur und Charisma des Führer dar. Wenn es stimmt, daß sich der Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft hin zu einer Kulturwissenschaft daran ablesen läßt, wie sich das Erkenntnisinteresse neu darauf fokussiert, wie literarische Techniken mit den organisierenden Ritualen, Praktiken und Handlungsanweisungen des , Gewebes der Kultur' 26 vernetzt sind, dann muß sich auch für die Verknüpfung von

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Vergi. Breuer (1994): 145 und grundsätzlich Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 19882. Zur Geschichte der Hölderlin-Editionen im Kontext der nationalen Ekstase im deutschen Bildungsbürgertum im ersten Weltkrieg (Norbert von Hellingrath) und während des dritten Reichs (Norbert Beißner) vgl. Pieger, Bruno: Edition und Weltentwurf. Dokumente zur historisch-kritischen Ausgabe Norbert von Hellingraths, in: Volke, Werner; Pieger, Bruno; Kahlefendt, Nils; Burdorf, Dieter: Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993. Tübingen: Hölderlin-Gesellschaft 1993: 57114, bzw. Kahlefendt, Nils: „Im vaterländischen Geiste ..." Stuttgarter HölderlinAusgabe und Hölderlin-Gesellschaft (1938-1946), in: Hölderlin entdecken (1993): 115-63. In diesem Sinn Neumann, Gerhard: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft. In: Ders.; Weigel, Sigrid (Hrsg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München: Fink 2000: 19-52, hier 19: „[Der in Frage stehende Paradigmenwechsel, H. M..] läßt sich ... von drei Seiten her charakterisieren: Zum einen durch ein Interesse für Ritualisierungen im weitesten Verständnis dieses Begriffs [vgl. dazu Braungart, Wolgang: Ritual und Literatur. Tübingen: Niemeyer 1996: 1-41, H. M..], also durch eine verschärfte Aufmerksamkeit auch und gerade der Philologien auf kulturelle Praktiken, Ereignisse, Rituale und Objekte im Gewebe der Kultur und auf deren Funktion in literarischen Texten - eine Aufmerksamkeit auf solche Praktiken namentlich, die den Charakter inszenatorischer, ,theatraler' oder ,karnevalesker' Ereignisse haben; ,inszenatorische' Modelle der Zeichenproduktion mithin, nicht nur als Dispositive

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Autorschaftsinszenierungen, sozialen Gruppenritualen von Autoren und Schreibprogrammen mit dem prophetischen Diskurs nach 1918 ein kulturhistorisches Formular angeben lassen, welches die in Frage stehende Austauschbeziehung strukturiert.27 Neben der von Max Webers Herrschaftssoziologie ausgebeuteten christlich-paulinischen Traditionslinie des ,Charisma' als Gnadengabe, die zu einer besonderen Aufgabe in der Gemeinde prädestiniert (1. Kor. 12) kennt die abendländische Tradition in der Tat ein spezifisch literarisches Rollenmuster der Organisation der prophetischen Redeweisen, das poeta vates-Modell. Dieser bereits bei Hesiod28 auftauchende und in der pneumatischen Tradition tradierte Autorschaftstopos einer begeisterten, durch Götternähe legitimierten dichterischen Redeform, gewinnt seine literaturpolitische Zuspitzung in der römischen Literatur der frühen Kaiserzeit bei Horaz und namentlich bei Vergil. Entscheidendes trug zu dieser Akzentuierung die Einbettung prophetischer Dichterrede in eine konkrete soziale und politische Situation bei. Die Erfahrung der Bürgerkriege und der politischen Zerrüttung des römischen Staates im ersten vorchristlichen Jahrhundert - vor Actium -, dienen Horaz und Vergil als Folie einer politischen Dichtung, die, mit den kontrastiven Motiven der Apokalypse und adventistischen Vorstellungen operierend, ein neues goldenes Zeitalter29 durch die Heraufkunft eines charismatischen Führers propagiert. Bei Vergil schlägt sich die der Zeit innewohnende apokalyptische Stimmung zuerst und am unmittelbarsten nieder. Aus ihr erwächst ihm sein dichterisches Selbstverständnis und prophetisches Sendungsbewußtsein. Diese Sprechrolle läßt ihn in der vierten Ekloge zum ersten Künder der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters und damit eines eschatologisch-zyklischen Geschichtsmodells der Antike avancieren, was in der Altertumswissenschaft zu Spekulationen einer intertextuellen Referenz zur christlich-jüdischen Tradition gefuhrt hat. Darüber hinaus fuhrt die Sehnsucht nach der Erfüllung der Geschichte Vergil in der Aeneis und der Geórgica zu einer literaturpolitischen Position, die exponierter und herrschaftsheischender nicht sein könnte. Im Proömium zum dritten Buch der Geórgica phantasiert er sich als Sieger im Gesang neben Octavian-Augustus, dem Sieger von Actium. Die Parallelisierung von Dichter und Held, die in der grie-

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der Kultur und als Distributionsknoten sozialer Energie, sondern auch als Generatoren von Handlungs- und Erzählmustern in dichterischen Texten." Vgl. zum folgenden Tiedemann, Rüdiger von: Fabeis Reich. Zur Tradition und zum Programm romantischer Dichtungstheorie. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1978, insbesondere 36 f. Vgl. a.a.O. (1978): 12f und Havelock, Eric Α.: Preface to Plato. Oxford: Univ. Press 1963: 98. Vgl. dazu Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk von Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Tübingen: Niemeyer 19942: 84 ff.

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chischen Tradition namentlich bei Pindar30 vorgeprägt ist, geht über den Wunsch, am cäsarischen Ruhm zu partizipieren, hinaus. Die in der Figur des Herrschers ausgeprägte geschichtlich-politische Heilsvision erhält ihre symbolische Form durch den Gesang des Dichters, womit Herrscher und Dichter tendenziell auf eine Ebene gehoben werden.31 Führt man den locus classicus mit den Bezugslinien zum Geniegedanken in der deutschen Kultur um 1800 zusammen, so wird deutlich, daß der Dichtertopos vom poeta vates für die literarische Diskursform nach 1918 vielfaltige Anschlüsse an das Problem der Herrschaft und ihrer charismatischen Legitimation erlaubt, die im folgenden an drei konkreten Beispielen, dem Autorschaftskonzept und Schreibprogramm von Rudolf Pannwitz, dem Konzept des ,Dichters als Führer'32 bei Stephan George und Ernst Jüngers nationalrevolutionärer Programmatik verfolgt werden. Jüngers vollständige ,poetische Transfiguration'33 des poeta vates-Modell wird dabei als kulturelle Schnittstelle für komplexe Anschlußoperationen sichtbar: einmal in seiner Amalgamierung durch den Nationalsozialismus in Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens, andererseits in der Umformung durch den Autor selbst als Reaktion auf diese Vereinnahmung. Dabei schöpft der literarische Diskurs des Prophetismus seine Legitimation analog zur römischen Dichtung aus der zeitgenössischen Krisenerfahrung, differenziert sich jedoch nach der Rolle die einerseits den Traditionsbeständen der Goethezeit zukommt, des weiteren nach der Haltung, die zur ästhetischen Innovation der modernistischen Avantgarden eingenommen wird

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Zur Verbindung von antiker und goethezeitlicher heldischer Dichtung vgl. Beißner, Friedrich: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart: Metzler 1933, sowie Honold, Alexander: Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike. Berlin: Vorwerck 2002 sowie Mottel, Helmut: Leni Riefenstahls Inszenierung der Antike. In: Rehberg, Siegbert; Schmitz, Walter (Hrsg.): Kultur und Staatsgewalt. Totalitarismus und Kultur in den zwei deutschen Diktaturen 1933-1989. Dresden: Thelem 2002, sowie Most, Glenn W.: Heideggers Griechen, in: Merkur 634, (Februar 2002): 113-23. Tiedemann (1978): 37: „Ebenso wie in dessen [in der des Augustus, H. M..] Gestalt die Hoffnung auf eine geschichtliche Realisierung der Heilswelt ihren politischen Bezugspunkt findet, erhält sie durch die Person des Dichters ihren poetischen. Das goldene Zeitalter ist bei Vergil immer auch Inbegriff einer paradiesischen musischen Friedenswelt. Dichtung als fiktive Projektion einer solchen Welt setzt den Dichter in eine dem Herrscher durchaus gleichwertige Rolle. Wo letzterer der politische Stifter ist, ist ersterer der geistige." Vgl. zu dieser Programmatik in der Kreis-inspirierten Germanistik der Weimarer Republik Kommerell, Max: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Frankfurt a.M.: Klostermann 1982 3 (Erstausgabe 1928). Vgl. zum Begriff, der eine intertextuelle Austauschökonomie bezeichnet, bei dem das als Prätext fungierende literarische Modell tiefenstrukturell erhalten, doch an der Oberfläche vollständig umgebaut erscheint, Link, Jürgen: Hölderlin-Rousseau. Retour Inventif. Paris: Gallimard 1995: 35-38.

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und schließlich nach dem Grade, mit dem der sich beschleunigende gesellschaftliche Modernisierungsprozeß ins Blickfeld gerückt wird.

3. Rudolf Pannwitz' Schreibprogramm als deutschromantisches Syndrom Rudolf Pannwitz ist eine der Autorenpersönlichkeiten, die für Glanz und Elend des Amts des Dichterpropheten34 als paradigmatisch gelten können. So schreibt er in einer seiner drei Autobiographien über seine politische Programmschrift Deutsche Lehre von 1920: In der Deutschen Lehre, die eine alles umfassende Prophetie ist und der Demiurgos eines sich selbst vollendenden deutschen Typus werden sollte, ist Analysis und Synthesis, Kritik und Schöpfung, Schicksal und Freiheit, Zeit und Ewigkeit des eigenen Volkes in der Epoche zwischen seiner Revolution und Reaktion unter dem äußersten Drucke glühend krystallisiert, und dieses Biblion, das neben dem Faust und dem Zarathustra als drittes steht, hat binnen sieben Jahren noch nicht einmal 35 neu gedruckt werden müssen.

Das Signum seiner Autorschaft besteht in der Kopplung einer Dichterrolle nach dem poeta vates-Modell an ein Kombinat von utopisch-romantischen Politkonzepten zu einem antiquierten Schreibprogramm. Da der Autor nicht zum engeren Kanon der deutschen Literatur zählt, schicke ich einige biographische Informationen voraus. Pannwitz' intellektuelle Biographie begann mit einem Lehramtsstudium in Berlin und Marburg zwischen 1900 und 1906; den Lehrerberuf, den er bereits 34

Vgl. zum Umfeld von Rudolf Pannwitz die Kategorisierung der prophetischen Literatur nach 1918 bei Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995: 95-183. Zu Pannwitz' Autorenkarriere im Vergleich zu der dem Kosmiker-Kreis um Gustav Klages [s.a. Schmitz/Schneider (1996): 725] nahestehenden ,großen Blutleuchte' Ludwig Derleth Breuer (1995): 128: „Pannwitz Epos ,Die Hyperboräer' harrt mit seinen sechzigtausend Versen noch immer eines Verlegers. Daß beide [Derleth und Pannwitz, H. M..] schreiben und veröffentlichen konnten, verdanken sie den Frauen, die sich für sie opferten: Derleth erst seiner Schwester Anna Maria, dann seiner Schülerin und Frau Christine; Pannwitz neben seiner Frau Helene, einer ganzen Reihe von Geliebten, später, als er praktisch schon ein Sozialfall war, seiner Jüngerin und zweiten Frau Charlotte, die ihn mit ihrem Einkommen als Ärztin über Wasser hielt. ... So endeten die großen Propheten, die die Welt durch einen Männerbund erlösen und die Frauen ins .begrenzt Unselbständige' (Pannwitz) zurückzustufen getrachtet hatten, als unbegrenzt Unselbständige in einer von Frauen bestimmten Sphäre - eine Ironie, für die sie indes angesichts der notorischen Humorlosigkeit aller Propheten vermutlich nicht den geringsten Sinn gehabt haben dürften."

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Pannwitz, Rudolf: Selbstdarstellung, in: Pädagogik der Gegenwart Bd. 2, Leipzig 1926: 20 f.

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durch schulpädagogische Veröffentlichungen begleitete, übte er aber nur bis 1910 aus (Hoheneich bei Saalfeld, Agnetendorf im Riesengebirge und Oberau bei Garmisch). Zwischen 1910 und 1915 lebte er als freier Schriftsteller unterstützt durch den Herzog von Anhalt. Zwischen 1917 und 1921 arbeitet er als Journalist in Wien und Prag. In diese Zeit fällt die für unseren Zusammenhang zentrale tagespolitische Flugblattproduktion. Mit dem Jahr 1921 verschieben sich Pannwitz' Interessen von der Pädagogik und Politik zu einer von Nietzsches Zarathustra inspirierten esoterischen Privatmythologie, die ein Gesamtsystem des menschlichen Denkens zu rekonstruieren sich anschickt.36 Das politisch-prophetische Denken von Pannwitz schlägt sich exemplarisch in seiner Schrift Deutschland und Europa vom März 1918 nieder. Sie ordnet die Topoi des völkisch-nationalen Diskurses der Zeit, z.B. die Werte von 1789 als Todfeind einer neuen europäischen Kulturordnung, die Vorstellung der mittelständischen Zähmung des Kapitalismus durch Versittlichung der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit auf einer Matrix, die sowohl eine imperiale Utopie globalen Ausmaßes, als auch eine kulturpessimistische Dystopie 37 in nuce enthält. Nach diesen Vorstellungen erscheint die Fortentwicklung der europäischen Hochkultur rückgebunden an ein weltumspannendes Imperium unter deutsch-englischer Vorherrschaft.38 Die Legitimität dieser neuen Ordnung wird an eine geopolitische, eine philosophische und eine anthropologi-

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Ausführliche biographische Information liefert neben Rusker, Udo: Über den Denker Rudolf Pannwitz mit einer Selbstbiographie von und einer Bibliographie. Meisenheim: Hain 1970, Jäckle, Erwin: Rudolf Pannwitz. Ein Einfuhrung, in: Hugo von Hofmannsthal/Rudolf Pannwitz: Briefwechsel 1907-1926. In Verbindung mit dem deutschen Literaturarchiv herausgegeben von Gerhard Schuster. Mit einem Essay von Erwin Jaeckle. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1993: 649-99. Zu völkischen Utopien und Dystopien als literarische Genres nach 1918: Hermand, Jost: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus. Königstein i.T.: Athenäum (1988): 117ff, bzw. 133 ff. Diese geopolitisch inspirierte außenpolitische Programmatik bildet einen Knoten, der die völkische Rechte mit dem Nationalsozialismus verbindet. Zu Hitlers Präferenz fur ein imperialistisches Bündnis mit England Kershaw (2000), passim und in Hitler, Adolf: Mein Kampf. Eine Abrechnung. 2 Bde. München: F. Eher Nachf. 1925 und 1927: 154: „Wollte man in Europa Grund und Boden dann konnte dies im großen und ganzen nur auf Kosten Rußlands geschehen, dann mußte sich das neue Reich wieder auf der Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu gehen. Für eine solche Politik allerdings gab es in Europa nur einen einzigen Bundesgenossen: England. Nur mit England allein vermochte man, den Rücken gedeckt, den neuen Germanenzug zu beginnen. Das Recht hierzu wäre nicht geringer gewesen als das Recht unserer Vorfahren. Keiner unserer Pazifisten weigert sich, das Brot des Ostens zu essen, obwohl der erste Pflug einst "Schwert" hieß! Englands Geneigtheit zu gewinnen, durfte dann aber kein Opfer zu groß sein, Es war auf Kolonien und Seegeltung zu verzichten, der britischen Industrie aber die Konkurrenz zu ersparen."

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sehe Argumentationslinie geknüpft. Daß zu errichtende Imperium gehorche der geographischen Logik der Großräume, der Logik der Herrschaft der kulturell Entwickeltsten und schließlich der Logik der Volkscharaktere: Deutsche Festigkeit, Entschlossenheit und die Unüberwindlichkeit Englands zeichnen die neuen Herrscher aus, deren historisches Vorbild der Typus des Römers zur Zeit des kaiserlichen Imperiums abgibt.39 Vergegenwärtigt man sich eine der dystopischen Passagen in Pannwitz' Text, tritt der unpolitisch-ästhetische Charakter dieses scheinbar politischen Aktivismus ebenso offen zu Tage, wie sein naiver Rückbezug auf die romantische Opposition40 zwischen organizistisch gedachtem Staatskörper und rationalistischer Staatsmaschine: Eine ... schwerpunktlose, allein von Konstellationen abhängige Politik ist immer der Übergang zum Untergang ... Sie bewirkt, wie die mit ihr zusammenhängende alles in Relationen und Relativitäten auflösende Weltanschauung, ... die Entsachlichung der Sachen, die Entwertung der Werte, da alsbald nichts mehr es selbst, jedes nur noch Funktion von Funktionen ist. Sie hindert nicht nur jeden wahrhaft organischen Aufbau, sondern fuhrt zuletzt die von ihr zersetzten Komplexe hinab bis ins Amorphe, wie viele und imposante Scheinbauten sie auch ... auffähren möge. 41

Hugo von Hofmannsthal erhoffte sich, daß die jungen, nicht etablierten Autoren der zwanziger Jahre, unter die er Rudolf Pannwitz explizit rechnete - „Er ist auch Dichter, dieser unser Ungenannter ... vielleicht ist er mehr Prophet als Dichter, vielleicht ist er ein erotischer Träumer, er ist eine gefahrliche hybride Natur, Liebender und Hassender und Lehrer und Verfuhrer zugleich"42 - eine zunächst literarische Redekultur etablieren könnten, in der sich dann Themen um einen Terminus von Klaus Theweleit43 zu gebrauchen - des Machtpols diskutieren ließen: „Der Prozeß, von dem ich rede, ist nichts anderes als eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze deutsche Nation teilnehmen könnte."44 Rudolf Pannwitz' Schreibprogramm konnte allerdings diese Aufgabenstellung nicht einlösen, bleibt es doch 39

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Pannwitz, Rudolf: Deutschland und Europa. Grundriß einer europäischen Politik. Nürnberg: Verl. Hans Carl 1918: 75. Zum Rückgriff der Dichterpropheten auf die politische Romantik vgl. Schmitz/Schneider (1996): 715f, und Breuer Stefan: Anatomie der konservativen Revolution. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993: 9-11, sowie Hass, Ulrike: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert. München: Fink 1993. Pannwitz (1918): 24. Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, (1927), in: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Reden und Aufsätze III. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1980: 24^11, hier 32. Theweleit, Klaus: Buch der Könige Bd. 2. Orpheus am Machtpol. Basel u. a.: Stroemfeld/ Roter Stern 1994. Hofmannsthal ( 1927): 41.

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trotz des prophetisch modernistischen Redegestus' durch und durch den literarischen Strategien des 19. Jahrhunderts, ja letztlich der Romantik verpflichtet. Im Pannwitzschen Literatursystem entbindet der Autor den Sinn aus den Tiefen seiner Innerlichkeit und imaginiert sich als Herrn der Diskurse. Im Wechselspiel von Leben und Werk soll die Signatur der Epoche sichtbar werden, während der Autor in einer genealogischen Reihe großer Geister erscheint (GoetheNietzsche-Pannwitz), wie in der Deutschen Lehre von 1919.45 Auf diese Weise werden letztlich lediglich Schreib- und literarische Wirkungsstrategien des 19. Jahrhunderts in die zwanziger Jahre verlängert. Die von Hofmannsthal erhoffte Charismaübertragung von den begeisterten Propheten auf die Kulturnation und schließlich auf die Nation als Ganzes fand im Werk von Pannwitz keinen Anhalt. Rudolf Pannwitz' prophetischer Gestus kann nicht verbergen, daß er letztlich aus der Moderne desertierte.

4. Stephan Georges ästhetisches Simulakrum des ,anderen Deutschland' Auch Stephan Georges Inszenierung von Autorschaft 46 - die aber nur ganz kursorisch behandelt 47 wird - und sein prophetischer Redegestus erscheinen ohne den Rückbezug zur heroischen Phase der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1830 unverstehbar. Doch anders als bei Rudolf Pannwitz, kann bei ihm von einer Desertion aus der Moderne keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich bei seiner Position um die äußerste Radikalisierung des Theorems vom literarischen Souverän. 48 In seiner Lebenspraxis inszenierte Stefan George einen radikalen Antimodernismus. Er haßte die Rationalisierung und die Technik. Wirtschaftliche Tätigkeit hielt er für derartig niedrig, daß er sich lange Zeit weigerte, ein Bankkonto zu führen. Moderner Machtstaat und Interessenspolitik stießen ihn ab, Markt- und Geldwirtschaft und die damit einhergehende Abstraktion gesellschaftlicher Verkehrsformen lehnte er ab. Die Herausgeber des Zentralorgans des George-Kreises, des Jahrbuchs für die geistige Bewegung, forderten im dritten und letzten Band dazu auf „die fortschrittliche Versuchung", die

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Pannwitz, Rudolf: Deutsche Lehre. Nürnberg: Verl. Hans Carl 1919: 20. Vergi, zum folgenden Breuer (1994): 152 ff. Verwiesen sei auf die Gesamtdarstellungen von Braungart, Wolfgang: Ästhetischer Katholizismus. Georges Rituale der Literatur. Tübingen: Niemeyer 1997, und Kolk, Rainer: Literarische Gruppenbildung am Beispiel des George-Kreises 1890-1945. Tübingen: Niemeyer 1998. Vergi. Pornschlegel, Clemens: Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im GeorgeKreis. Freiburg: Rombach 1994, insbesondere 230 ff.

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unheilige Allianz von Protestantismus und Kapitalismus, deren Zusammengehörigkeit „durch die klassische Schrift Max Webers unwiderleglich begründet worden" sei, entschieden zu bekämpfen. „Wir glauben dass jetzt weniger darauf ankommt ob ein geschlecht das andre unterdrückt, eine klasse die andre niederzwingt, ein kulturvolk das andre zusammenschlägt, sondern dass ein ganz anderer Kampf hervorgerufen werden muss, der ... kämpf von Gott gegen Satan, von Welt gegen Welt."

Dergestalt vertrat der Georgekreis wohl die radikalste Form ästhetischer Opposition im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik. Seine Ablehnung galt der Modernisierung und Rationalisierung in all ihren Aspekten: der Verwissenschaftlichung des Daseins, der Technisierung und Organisierung, letztlich auch der immer weitergehenden Ausdifferenzierung autonomer gesellschaftlicher Wertsphären.50 In diesem Sinn stehen Georges Autorschaftskonzept und er selbst aber den Führer-Gefolgschafts-Inszenierungen auf der äußersten Rechten der Weimarer Republik nur auf höchst ambivalente Weise nah.51 Allerdings stößt man damit zur strukturellen Sollbruchstelle dieser Form des ästhetischen Charisma und seiner prophetischen Redegesten vor. Gerade aus der radikalen Autonomsetzung des Ästhetischen gewinnt George nämlich das Bewegungselement seiner Radikalopposition. In der Tradition der esoterischen Filiationen der Frühromantik, eines hermetisch verstandenen Hölderlinbildes und einer Rezeption der westeuropäischen Moderne unter dem Signum absoluter Ästhetisierung versucht Georges ästhetische Fundamentalopposition ja gerade entgegen den kulturpolitischen Ambitionen des Kaiserreichs, in dessen Programm die Blüte deutscher Kultur der Goethezeit als Vorschein der politisch-gesellschaftlichen Vollendung in der Reichgründung firmierte, das andere Deutschland einer authentischen Kultur vom modernen Machtstaat radikal zu trennen. Dieses strukturelle Spannungsverhältnis bleibt auch erhal49 50

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Jahrbuch für die geistige Bewegung 3, VIII zit. nach Breuer (1994), S 153. Vergi. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982: 229-94. Diese Ambivalenz haben Schmitz/Schneider (1996): 711-13, nachgezeichnet; zusammenfassend 713: „Zwiespältig schließlich ist die Stellungnahme Georges selbst. Dem Werben des Regimes hat er sich entzogen ... die ihm angetragene Präsidentschaft der .Preußischen Akademie fur die Dichtkunst' lehnte er ab. In seinem Absagebrief an den preußischen Kultusminister Rust beanspruchte er jedoch eben: ,Die Ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige Mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte, habe ich getan. Die Jugend, die heute um mich schart, ist mit mir gleicher Meinung. Das Märchen vom Abseits-Stehen hat mich das ganze Leben begleitet es gilt nur fürs unbewaffnete Auge. Die Gesetze des Geistigen und des Politischen sind gewiß sehr verschieden - wo sie sich treffen und wo Geist herabsteigt zum Allgemeingut, das ist ein äußerst verwickelter Vorgang. Ich kann den Herrn von der Regierung nicht in den Mund legen, was sie über mein Werk denken und wie sie seine Bedeutung einschätzen.'

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ten, wenn in der Entwicklung des Ästhetisierungsprogramms des Kreises eine Expansion des Ästhetischen phantasiert wird, die auf die Wiederverzauberung des Lebens zielt, auf eine Erneuerung des Mythos aus dem Geist der Kunst, nach der das Leben nicht nur politik- und wirtschaftsenthoben sein sollte, sondern Dichter und Helden wieder unbestritten Vorrang genießen sollten. Damit kehrt ein altes Motiv des poeta vates-Modells im George-Kreis wieder, freilich nicht wie bei Vergil in der Koinzidenz der Sphären von Geist und Macht, sondern in einer imaginierten Entdifferenzierung, die letztlich, und damit unterscheidet sich diese Position fundamental von den Modernitätsdeserteuren, nur durch eine, in dieser Radikalität nur in der Moderne mögliche Autonomiesetzung der Kunst möglich wird. Der George-Kreis wird auf diese Weise zum Prototyp der ästhetischen Sekte in der Umbruchsphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der prophetische Gestus des Sektenfuhrers bezieht sich dabei auf ein ,anderes Deutschland', in dem die Strukturen der symbolischen Ordnung und des imaginären Gesellschaftsbildes sich an den Maßgaben der Ermöglichung literarischer Souveränität ausrichten. In diesem Simulakrum können jedoch Formen sozialer Energie, z.B. die Fragen nach Herrschaft und ihrer Begründung aus verschiedenen Formen des Charisma in codierter Form verhandelt werden. 52 Stefan Georges ästhetischer Gegenstaat wird aber so auch zu einem Archiv konservativer und geistesaristokratischer Mentalitätsmuster im besten Sinn, die sich im fuhrenden Engagement von Kreis-Mitglieder, vor allem der Brüder von Stauffenberg, im konservativ-nationalen Widerstand gegen Hitler ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeschrieben hat.

5. Die gesellschaftsanalytischen Essays der zwanziger und frühen dreißiger Jahre und der prophetische Ton bei Ernst Jünger Anders als bei Stefan George nutzt Ernst Jünger die Topik des poeta vatesModells und den mit ihm verbundenen prophetischen Redegestus in Texten, die nicht seinem literarischen Werk im engeren Sinn zuzuschreiben sind und schon gar nicht in eine experimentell-hermetische, ästhetisch begründete Modellwelt fuhren. Ganz zu Beginn hatten wir aus der Zeitschrift Widerstand zitiert, die sich unmittelbar in den Kampf um die Definitionsmacht auf dem Feld des politischen Diskurses einmengte; in Die totale Mobilmachung und Der Arbeiter, auf die weiter unten noch explizit einzugehen sein wird, weitet er die Perspektive zu einer umfassenden Analyse der Problematik des modernen Krieges und der Struktur der zukünftigen Arbeitsgesellschaft, wobei sämtliche

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Vgl. z.B: die Schilderung der dynamischen Überbietungstopik des Charismatikers George durch Marianne Weber in Breuer (1994): 158.

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bildungsbürgerliche Reminiszenzen an die Welt des 19. Jahrhunderts fallengelassen werden.53 Diesen forciert modernistischen Impetus bestätigen dann auch nochmals die Paratexte,54 die in den Gesammelten Werken diesen Essays vorangestellt bzw. annotiert werden. Als Beleg sei hier nur aus dem Nachwort zur Totalen Mobilmachung zitiert: Rückblick. 23. August 1980. Fast fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen und seit langem mit anderen Fragen beschäftigt, habe ich diese Schrift, und nun endgültig, durchgesehen. ... Dem unbefangenen Leser wird nicht entgehen, daß [der] Kern nach wie vor gültig ist und es wohl noch lange bleiben wird.

Das poeta vates-Modell wird also hier zum direkten Zugriff auf Fragestellungen nach Herrschaft und ihrer Legitimation im technischen Zeitalter verwendet, wie wir sie oben im Kontext von Max Webers Modernisierungstheorie56 charakterisiert haben. Die Ausgriffe in die Tradition bleiben, zu Mal auf die deutsche Literatur um 1800, streng strukturell. D.h. Jünger spielt mit einem literarischen Modell in der Form intertextueller Austauschökonomie dergestalt, daß das als Prätext fungierende literarische Dispositiv, eben das poeta vates-Modell der römischen Literatur im Zeitalter von Augustus, tiefenstrukturell erhalten bleibt, jedoch an der semiotischen Oberfläche eine vollständige Umgestaltung erfährt: es kommt also zu einer vollständigen ,poetischen Transfiguration'57 des Modells - prophetische Dichtung einer stählernen Romantik.58 Die Autorrolle wird nicht aus der Stellung in einer geistesgeschichtlichen Reihe abgeleitet, sondern aus strukturanalogen sozio-politischen Konstellationen. Wie Vergil

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Vgl. Müller, Hans-Harald: „Im Grunde erlebt jeder seinen eigenen Krieg." Zur Bedeutung des Kriegserlebnisses im Frühwerk Ernst Jüngers, in: Müller/ Segeberg, (1995): 13-37, insbesondere 34-37, sowie Ketelsen, Uwe-K.: „Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen." Zu Ernst Jüngers ,Die totale Mobilmachung' (1930) und ,Der Arbeiter' (1932), in: Müller/ Segeberg (1995): 77-95, sowie Segeberg, Harro: Faschistische Medienästhetik? Ernst Jüngers ,Der Arbeiter' und Leni Riefenstahls ,Triumph des Willens', in: Fohrmann, Jürgen; Kasten, Ingrid; Neuland, Eva (Hrsg.): Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997. Bielefeld: Aisthesis 1999: 724-42. Vgl. aber auch das Vorwort zu ,Der Arbeiter' aus dem Jahr 1963, in: Jünger, Ernst: Der Arbeiter, in Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays II. Bd. 8. Der Arbeiter. Stuttgart: Klett-Cotta 1981: 11-320, hier: 11-13. Jünger, Ernst: Die totale Mobilmachung, in: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 7. Zweite Abteilung Essays I. Stuttgart: Klett Cotta 1980: 119-42, hier 142. Vgl. dazu die Vorstellung von Technik als dem Quellpunkt des ,Heiligen' und des ,Mythos' in Kiesel, Helmut: Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der Moderne. Max Weber und Ernst Jünger. Heidelberg: Manutius 1994, hier 204 ff. Link, Jürgen: Hölderlin-Rousseau. Retour Inventif. Paris: Gallimard 1995: 35-38. Zur kriegerisch-heroischen Anverwandlung der Romantik Jünger, Ernst: Der Arbeiter (1981): 56-63.

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auf die Krise der späten Republik und des beginnen Prinzipats des Augustus, wie Hölderlin auf den Untergang des heiligen römischen Reichs deutscher Nationen und Bonapartes Siegeszug, so antwortet der moderne Dichterprophet auf den Untergang des Kaiserreichs und des bürgerlichen Zeitalters in avantgardistischem Ton; zugleich erfolgt die Legitimation zur prophetischen Rede innerweltlich, aus dem Kriegserlebnis. So kommt es zu einer Spannungssteigerung zwischen topischem Inventar und avantgardistischer Analyse, wie sie größer nicht sein könnte. Ich möchte im folgenden, um Ernst Jüngers mit dem prophetischen Redegestus einhergehende literaturpolitische Strategie genauer zu akzentuieren, mich zunächst dem Schluß von Feuer und Blut zuwenden. 59

5.1. Die Geburt des Dichters: Feuer und Blut Die in Frage stehende Stelle am Ende von Feuer und Blut, die Schilderung der Kämpfe an der Straße Vraucourt-Mory im Spätherbst 1917, in deren Verlauf Ernst Jünger eine schwere Doppelverwundung davontrug, wird in ihrer Bedeutung dadurch hervorgehoben, daß sie In Stahlgewittern und in Feuer und Blut,60 gewissermaßen doppelt erzählt wird. 61 Geschildert werden die blutigen Kämpfe um die Besetzung der bewußten Straße. Ernst Jünger wird dabei in einem am Vortag erbeuteten Mantel eines englischen Offiziers den auszuziehen er beim Verlassen seines Unterstandes vergessen hatte, zwischen den Linien von eignen Leuten - friendly fire - angeschossen. Bevor er sich jedoch zurück zum Sanitätsplatz begibt, „[verliert er] noch einen Augenblick, um [seine] gestern erbeutete Kartentasche aufzuraffen, die neben dem verhängnisvollen Mantel liegt. Es ist [sein] Tagebuch darin." 62 Während seines Rückzugs wird er in einem Schützengraben ein weiteres Mal und weit fataler getroffen:

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Jünger, Ernst: Feuer und Blut, in: Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tagebücher I. Bd. 1. Der erste Weltkrieg. Stuttgart: Klett-Cotta 1978: 439-538. A.a.O.: 534-38, sowie Jünger, Ernst: In Stahlgewittern, in: Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tagebücher I. Bd. 1. Der erste Weltkrieg. Stuttgart: KlettCotta 1978: 9-300, hier 262-64. Vgl. Dempewolf, Eva: Blut und Tinte. Eine Interpretation der verschiedenen Fassungen von Ernst Jüngers Kriegstagebüchern vor dem politischen Hintergrund der Jahre 1920 bis 1930. Würzburg: Könighausen & Neumann 1992, hier 191-201. Dempewolf betont die Tatsache, daß es sich bei ,Feuer und Blut' und ,Das Wäldchen 125' um tagespolitisch motivierte Bücher handelte, die in unmittelbaren Zusammenhang mit Jüngers nationalrevolutionärem Engagement in den zwanziger Jahren zu lesen sei, während ,In Stahlgewittern' einen genuin ästhetischen Anspruch erhebt. Die in Frage stehende Episode fungiert als Scharnier und Urszene der Integration von Kunst und Leben. Vgl. dagegen Müller (1995): 29. Jünger: Feuer und Blut (1978): 535.

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Ich empfinde keinen Schmerz, aber ich habe das weit unangenehmere Gefühl, daß ich schwer getroffen bin - viel schwerer als damals bei Cambrai, als es quer durch den Stahlhelm ging. ... Behutsam suche ich den Gefechtsläufer auszuforschen, der hinter mir beschäftigt ist. ... Ich höre, daß zwei Löcher am Hinterkopf zu sehen sind; aber sie liegen so dicht beieinander, daß wohl nichts zu befürchten ist. Ich muß aber doch noch eine Frage stellen: ich bitte ihn, mir zu sagen, ob ,sonst noch etwas' zu sehen ist. Nein, sonst ist nichts zu sehen. Ich höre diese Antwort, wie je63 mand, der sein Todesurteil befürchtete, den Freispruch vernimmt." Mit diesem paradigmatischen Glied in einer Kette von Feuerproben, in denen der kriegerische neue Mensch gehärtet wird, endet der Text: „Dann falle ich in das Polster zurück, und ein Schleier senkt sich über die Fülle der bunten, schrecklichen und wunderbaren Bilder dieser Schlacht, die wie ein Traum aus blutig dunklen und feuerroten Farben das Herz den Prüfungen der Tiefe unterzog.

Ihren zentralen poetologischen Stellenwert erhält die Episode durch die Verknüpfung eines, während der Kampfhandlungen aufs äußerste sensibilisierten Wahrnehmungsapparates, mit drei Kontexten. Da ist zum einen die Auratisierung des Autographen, der als Basis der Kriegstagebücher dient, damit die exaltierten Wahrnehmungen des Kämpfers materialisiert und der Nachwelt überliefert; er tritt, soweit ich sehe, nur an dieser Stelle der Kriegstagebücher explizit an die Textoberfläche. Da ist zum zweiten die drohende Freilegung des Empfindungs- und Verknüpfungsorgans selbst, der Schaltzentrale,65 die materiell die Fäden der Textur zusammenhält und organisiert. Der hier zu Tage tretende Materialismus wiederspricht diametral einer geistesbasierten Sinngebung der Geschehnisse auf dem Schlachtfeld, etwa entlang etablierter hermeneutischer Kategorien vom organisch-ganzheitlichen Zusammenspiel von Teil und Ganzem. Die Zusammenziehung von Wahrnehmung, Schrift und organischer Basis des Denkprozesses unter dem Vorzeichen der Feuerprobe indiziert die wörtlich zu verstehende Konzeption eines neuen Autorentypus, der in den zwanziger Jahren aus der auf dem Schlachtfeld erfahrenen Umcodierung der Wahrnehmungsstruktur einen prophetischen Redegestus innerweltlich beglaubigen kann.66

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A.a.O.: 536. A.a.O.: 538. Zu Ernst Jüngers das Gesamtwerk durchziehenden biologischen Materialismus vgl. Jünger, Ernst: Die Schere (1990): 41: „Hinsichtlich der Transplantationen gleicht der menschliche Körper einer Festung, die Stück für Stück erobert wird. Daß auch das Gehirn in Angriff genommen wird, steht außer Zweifel - falls mit Erfolg, wäre die Zitadelle besetzt. Schon der Gedanke erweckt Probleme allgemeiner Art. Kann hier noch von einem Transplantat die Rede sein? In diesem Falle wäre eher der Körper die Nebensache; er wäre ein Anhängsel. Und dann zur Person. Ein chirurgisches Meisterstück bringt die Standesämter in Verlegenheit. Einerseits müßte der Spender ins Sterberegister eingetragen werden - andererseits ist er eigentlich jener, der überlebt." Auf die Verwandtschaft von Priester-, Dichter- und Kriegercharisma hat bereits Max Weber aufmerksam gemacht, vgl. Weber (1985): 140, wie schon in Anm. 16

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D a z u tritt nun auf der anderen Seite die Einlassung dieser innerweltlich beglaubigten poetischen Sprechrolle in die symbolische Ordnung PreußenDeutschlands. 6 7 Damit ist der Augustuskomplex des poeta vates-Modell angesprochen. A u c h diese Ebene des Autorschaftskonstrukts von Ernst Jünger zeigt in den Kriegstagebüchern zwei Abschattungen. D i e Geschichte der Rettung des Bruders Friedrich Georg 6 8 schreibt den Heroismus der Brüder einerseits auf die wilhelminisch deutsche Familientradition und andererseits, durch das Inzitament des Chronotopos Langemarck 6 9 in diesem Kontext, auf die Mentalitätsgeschichte der jungen wilhelminischen Intelligenz zurück. D i e Verleihung des Ordens Pour le Merit an Ernst Jünger, mit der In Stahlgewittern endet, 7 0 bindet schließlich das Kriegserlebnis institutionell in die Tradition der Verbindung von Kultur und Krieg in Preußen ein. 71 Der prophetische Redegestus wird bei Ernst Jünger also begründet aus der durch die technische Totalisierung der Kriegsfuhrung beförderten Überkreuzung und Verdichtung der Wahrnehmungs- und Codierungstechniken des Sprachkünstlers mit kollektiven Erfahrungskonfigurationen der Kriegsgenera-

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ausfuhrlich zitiert. Auf das Phänomen des Berserkertums, der Lust am Töten im Krieg und vice versa der Brutalisierung von Soldaten durch Kriegshandlungen macht aufmerksam: Bourke, Joana: An intimate history of killling: face-toface killing in twentieth-century warfare. London: Granta Books 1999. Vgl. Dempewolf ( 1992): 57-63. Jünger, Ernst: In Stahlgewittern (1978): 171-75. Vgl a.a.O: 180. Zum Konzept des ,Chronotopos' vgl., Bachtin; Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zu einer historischen Poetik. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1989: 7 f.; 60-77, sowie 170-90. Jünger, Ernst: In Stahlgewittern (1978): 300: „An diesem Tage, es war der 22. September 1918, erhielt ich vom General Busse folgendes Telegramm: ,Seine Majestät der Kaiser hat Ihnen den Orden Pour le mérite verliehen. Ich beglückwünsche Sie im Namen der ganzen Division'." Vgl. The New Encyclopaedia Britannica Vol. 9. Chicago u.a. : 1991 , s : 650: Der Orden steht paradigmatisch fur die Verknüpfung von kriegerischer Tapferkeit und kultureller Optimierung im preußisch-deutschen Staatsdenken bis 1933. Der Orden ,Pour le Mérite' wurde von Friedrich dem Großen 1740 eingeführt und ersetzte den ,Ordre de la Générosité', den Friedrich I. 1667 gestiftet hatte. Er besaß zwei Klassen, eine für Leistungen auf dem militärischen und eine für Leistungen auf dem wissenschaftlichen oder künstlerischen Gebiet. In der letzteren gehörten so prominente Wissenschaftler und Künstler zu seinen Trägern wie Savigny, Lessing, Mendelssohn, Schelling, August Wilhelm Schlegel, Tieck, Meyerbeer sowie die Gebrüder Grimm und Humboldt zu seinen Trägern; darüber hinaus stand er im 19. Jahrhundert für die Tradition des preußisch-deutschen Kosmopolitismus, den zu seinen zählten auch Chateaubriand, Faraday, Herschel, Daguerre, Liszt, Rossini und Carlyle. Im ersten Weltkrieg war der Orden die höchste militärische Auszeichnung für einen Einzelnen für Tapferkeit vor dem Feind. Im zweiten Weltkrieg wurde der Orden, den die Nationalsozialisten mit sicherem Gespür abgeschafft hatten, nicht mehr vergeben. Die Bundesrepublik Deutschland belebte ihn 1952 neu [Übersetzt und zusammengefaßt von H. M..].

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tion im institutionellen Netz der preußisch-deutschen Armee. Aus ihrem Geist beantwortet er in der Essayistik der Weimarer Republik die Zukunftsfragen; nach der Revolution von 1918 erscheint jedoch die zweite im poeta vatesModell angelegte Systemstelle, die des Augustus, unbesetzt. Zunächst hat diese Tatsache Ernst Jüngers zeitkritischen Schriften erhöhte Durchschlagskraft verliehen - diese Art „vor Actium" zu schreiben verknüpfte apokalyptische und adventistische Motive mit Technikvisionen; 72 nach 1933 zwang ihn dann allerdings die Medienpolitik der Nationalsozialisten, die seinen, aus avantgardistischer Position geborenen Typus des Arbeiterkriegers nicht nur bebilderte, sondern in schwarzen Messen 73 auch radikal ins Leben umzusetzen versuchte, zur Überprüfung der Legitimität dieses prophetischen literarischen Redegestus.

5.2. Aspekte der Totalvisionen einer technisierten Welt: Die totale Mobilmachung (Krieg, Geschwindigkeit, gesellschaftliche Steuerungsmedien) und Der Arbeiter (Vernetzung) Aus dem literaturpolitischen Begründungsdispositiv des ersten Weltkriegs geboren, lassen die hier in Frage stehenden Prognosen Ernst Jüngers bildungsbürgerliche Borniertheiten ebenso hinter sich wie ethische Haltesignale. 74 Das sichert ihnen bis heute, vor allem bei der ersten Lektüre, die verblüffte Aufmerksamkeit des Rezipienten. Ihre Anschlußfähigkeit an den gesellschaftstheoretischen Diskurs haben sie uneingeschränkt behalten. Dies ist an zwei Beispielen kurz zu illustrieren. In Die totale Mobilmachung baut Jünger bekanntlich ein Argument auf, das Krieg, Beschleunigung und die Möglichkeit gesellschaftlicher Globalsteuerung 72

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Vgl. zu Jüngers Verhältnis zur Welt der Technik, Strack, Friedrich (Hrsg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzbug: Könighausen & Neumann 2000. In dieser Entdifferenzierungstendenz im übrigen als Parallelaktion zum Stalinismus, vgl. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. München: Hanser 1996 2 , hier besonders 39-82, sowie Reichel, Peter: Der schöne Schein des dritten Reichs. Faszination und Gewalt des Faschismus. München: Hanser 1992, sowie a priori in systemvergleichender Perspektive Antono va, Irina; Merkert, Jörn (Hrsg.): BerlinMoskau/ Moskau-Berlin. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 3. 9. 19957 . 1 . 1 9 9 6 im Martin-Gropius-Bau, Berlin [ 1 . 3 . 1 9 9 6 - 1 . 7 . 1 9 9 6 in Moskau]. München, New York: Prestel 1995: 315-452. Segeberg (1999): 733, spricht von der polyperspektivischen Welt von ,Der Arbeiter', welche „die totale Identifikation mit einer ihrer politisch-ideologischen Ausprägungen kategorisch ausschließt." Gleichwohl muß festgehalten werden, daß die Sprachform des Textes ironische Distanzierung nirgends auch nur zuläßt und in ihrer apokalyptisch adventistischen Rede vom ,neuen Typus', der im und durch den Krieg gezeugt wurde, es dem Nationalsozialismus nicht gerade verboten haben, in Hitler den Augustus des kommenden Zeitalters des Arbeiters zu sehen.

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zusammenzieht. Der erste Weltkrieg habe bewiesen, so Jünger - und hier sehen wir Argumente von Max Weber wiederkehren - , daß die Massendemokratien des Westens schneller und umfassender die gesamten Ressourcen des Gesellschaftskörpers haben bündeln und zum gezielten Einsatz bringen können.75 Jünger geht dabei über eine Reihe von Oppositionen: während die nur partiell mobilmachende Monarchie an die Substanz gekettet blieb, entwickelten die total mobilmachenden Demokratien rasch ihre gesamte Potentialität.76 Dem entspricht auf der Ebene der Opferökonomie, der die Kombattanten unterworfen werden, eine Aristokratie des Opfers auf der Seite der Mittelmächte und eine Demokratie des Todes auf der Seite der Entente cordial, die dem Wesen des Massenkrieges besser angepaßt sei.77 Jüngers Argument gipfelt in der Vision einer neuen, teilweise schon Wirklichkeit gewordenen Welt, in der auch in Friedenszeiten die Geschwindigkeit und die Ökonomie der totalen Mobilmachung herrscht, und die alte Welt des 19. Jahrhunderts durch die entfesselten Energien der technisierten Naturwissenschaften und der politisierten Massen zerrieben werden.78 Man mag diese Einschätzung teilen oder ihr skeptisch gegenüberstehen, richtig und bis heute gültig bleibt doch Jüngers basale Einsicht, daß Gesellschaften um so effizienter gesteuert werden können, je abstrakter und angepaßter, mit Luhmann79 gesprochen, jene Kommunikationsmedien funktionieren, die ihre Subsysteme organisieren: fur die Schlagkraft einer modernen Gesellschaft sind schnelle Zirkulation und Umwandlung von Energie, Geld und Information80 weit bedeutender „als den Schwertarm zu rüsten."81 Hier antwortet dann Der Arbeiter gewissermaßen auf die Totale Mobilmachung, indem er die Stochastik des Maschinengewehrs und das Ethos des 19. Jahrhunderts in einer topographischen Ikone zusammenfuhrt, die den Triumph der abstrakten Organisation gesellschaftlicher Verkehrsformen in Ernst Jüngers ureigensten Bildfeldern gerinnen läßt: Es sei hier erinnert an den berühmten Angriff der Kriegsfreiwilligen-Regimenter bei Langemarck. Dieses Ereignis, das weniger kriegs- als geistesgeschichtliche Bedeutung besitzt, ist in Bezug auf die Frage, welche Haltung in unserer Zeit und in unserem Räume überhaupt möglich ist, von hohem Rang. Wir sehen hier einen klassischen Angriff zusammenbrechen, ungeachtet der Stärke des Willens zur Macht, der die Individuen beseelt, und der moralischen und geistigen Werte, durch die sie ausgezeichnet sind. Freier Wille, Bildung, Begeisterung und der Rausch der

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Jünger, Ernst: Die totale Mobilmachung (1980): 125. A.a.O.: 126 und 131. A.a.O.: 127fund 130. A.a.O.: 140 f. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997: 316-95. A.a.O. Bd. 2: 1082-87. Jünger, Ernst: Die totale Mobilmachung (1980): 126.

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Todesverachtung reichen nicht zu, die Schwerkraft der wenigen hundert Meter zu überwinden, auf denen der Zauber des mechanischen Todes regiert. ... Die Empfindungen des Herzens und die Systeme des Geistes sind widerlegbar, während ein Gegenstand unwiderlegbar ist - und ein solcher Gegenstand ist das Maschinengewehr.

Wie die technisierte und durch die Soziologie der Masse stratifizierte Gesellschaft anonyme Kraftfelder entwickelt - Jünger spricht an anderer Stelle von der Inflation als abstrakter aber um so wirksamerer Guillotine - , die den Gesellschaftskörper organisieren und die Subjekte nach ihren Maßgaben verteilen, so wird durch das stählerne Netz, daß das Maschinengewehr über das Schlachtfeld spannt, gewissermaßen ein unsichtbares Gravitationsfeld zum maßgeblichen Orientierungsfaktor, der über Leben und Tod entscheidet. Hier hat Jünger nicht nur ein ihm gemäßes Bild der Lebensbedingungen in der Moderne gefunden, sondern auch den prekären Status der Legitimation seiner Autorschaft mitreflektiert. Die Erfahrung, der sich der gesellschaftstheoretische Scharfblick verdankt, entzieht dem Subjektbegriff, der den Autor als Bürger im 19. Jahrhundert konstituiert, die Grundlage. An seine Stelle tritt ein Autorschaftskonzept, das aus einer vollständigen poetischen Transfiguration des poeta vatesModell in der elementaren Erfahrung des Kriegserlebnisses hervorgeht. Die Systemstelle der Augustusposition blieb unbesetzt - der charismatische Autor prophezeit keinen Führer, sondern ein Zeitalter. Doch die eklektizistische Myelographie, die der Nationalsozialismus in seinen Großinszenierungen und ihrer medienpolitischen Verwertung betriebt, amalgamiate sich nationalrevolutionäre Konzepte, ja speiste sich gerade zu deren Kollektivsymbolen, Metaphern und Denkfiguren. Dazu gehörten auch die Denkmuster aus Ernst Jüngers anspruchsvollen gesellschaftstheoretischen Texten, trotz der negativen Besprechung von Der Arbeiter im Völkischen Beobachter83.

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Jünger, Ernst: Der Arbeiter ( 1981 ): 113 f. Vgl. dazu Koslowski, Peter: Der Mythos der Moderne. Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München: Fink 1991: 68f, sowie Jünger, Ernst: Aus der Korrespondenz zum ,Arbeiter', in: Ders.: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays II. Bd. 8. Der Arbeiter. Stuttgart: Klett-Cotta 1981: 388-96, hier 389, Ernst Jünger an Henri Plard: „In Deutschland hat sich das Buch einer angenehmen Windstille erfreut. Es erschien 1932, kurz vor dem Dritten Reich, aber weder die Nationalsozialisten noch ihre Gegner konnten etwas damit anfangen. Am Schluß des ,Arbeiters' wurde gesagt, daß dessen Gestalt weder national noch sozial begrenzt ist, sondern planetarischen Charakter trägt. ,Die Technik ist die Uniform des Arbeiters.' Das wurde auf der Rechten wie auf der Linken unlieb vermerkt. Im , Völkischen Beobachter' erschien eine Besprechung, in der es hieß, daß ich mich jetzt ,in die Zone der Kopfschüsse' vorwagte." Eine bemerkenswerte journalistische Fehlleistung, wenn man sie vor dem Hintergrund der Urszenen der Jüngerschen Autorschaft in ,In Stahlgewittern' und ,Feuer und Blut' liest.

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5.3. Schwarze Messe: Rituale des Charismas in Leni Riefenstahls Propagandafilm Triumph des Willens84 Eigentlich hätte Ernst Jünger, wenn er Leni Riefenstahls Film überhaupt gesehen hat, was aber angesichts der Tatsache, daß der Streifen vom Regime massiv ,gepuscht' wurde, 85 nicht unwahrscheinlich ist, zur Kenntnis nehmen müssen, daß, um im Bild zu bleiben, der Wind mächtig aufgefrischt hatte. Die ,angenehme Windstille', 86 die seiner Auffassung nach die nationalrevolutionären Prophetien von der Heraufkunft eines neuen Zeitalters und eines neuen Menschen in Gestalt des Arbeiter-Kriegers in Deutschland noch 1932 umgaben, war einem veritablen Sturm gewichen. Obsessiv wie nur wenige Filme selbst des Nationalsozialismus versucht Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm Bildwelten des völkisch-nationalen, des national-konservativen und national-revolutionären Topenarsenals der Kultur der Weimarer Republik für den Nationalsozialismus zu vereinnahmen bzw. deren Vereinnahmung ikonographisch zu vollenden. Eines der im Zentrum stehenden Phantasmen bildet dabei die Verschmelzung zweier Phänotypen, des Arbeiters und des Kriegers, wobei die Konstituenten jener Anthropologie, die auch Ernst Jünger in seinen Kriegstagebüchern und prophetischen Essays verwendet hatte, von der Konzeption des neuen Menschen auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs über die Typisierung des Individuums bis zum stählernen Körperbild wiederkehren. Dienten diese Ingredienzien Jünger zur Formulierung einer avantgardistischen Ästhetik und Gesellschaftsanalyse, 87 so reimplantiert die nationalsozialistische Kultur, darin dem Umgang des Stalinismus mit dem Theorem des russischen Formalismus 88 vom Einreißen der Grenze zwischen Kunst und Leben verwandt, diese Phantasmen, um ihre identitätsbedrohenden Potentiale beschnitten, zurück ins Leben. Dieser Zusammenhang wird besonders in einer Sequenz augenfällig: der chorischen Inszenierung der 84

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Es liegt zugrunde eine Videokopie der Filmkopie aus dem BundesarchivFilmarchiv Berlin. Für die Filmanalyse ziehe ich im folgenden heran: Neale, Steve: Triumph of the Will. Notes on Documentary and Spectacle, in: Screen 20 (1979) No 1: 63-86, sowie, Loiperdinger, Martin: Der Parteitagsfilm ,Triumph des Willens' von Leni Riefenstahl. Rituale der Mobilmachung. Opladen: Leske + Büderich 1987: 59-120, sowie Karow, Yvonne: Deutsches Opfer. Kultische Selbstauslöschung auf den Reichsparteitagen der NSDAP. Berlin: Akademieverlag 1997: 155-78, sowie Segeberg, (1999): 733-42, sowie Rother, Rainer: Leni Riefenstahl. Die Verfuhrung des Talents. Berlin: Henschel 2001 2 : 73-8. Zur Produktions- und Verbreitungsgeschichte vgl. Loiperdinger (1987): 45-50, sowie Rother (2001): 81 f. Vgl. Anm. 82. So Segeberg (1999): 729-33, wobei der Autor besonders die polyperspektivischen Komparatistik betont, die Jüngers Texte inhaltlich mit der surrealistischen Avantgarde und medientechnisch mit den Medien Film und Photographie verbindet. Vgl. Groys(1996):49f.

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Metamorphose von sogenannten Arbeitsmännern des Reichsarbeitsdiensts zu Arbeitssoldaten,89 die der Geist von 1914 beseelt, ohne daß sie jemals den Schützengraben gesehen haben.90 In der in Frage stehende Sequenz V91 von Triumph des Willens bringt der Film die Transformation der Arbeitsdienstmänner in sogenannte , Soldaten der Arbeit' in einem choreographischen Ritual im Wortsinn zur Anschauung. 52000 Arbeitsmänner sind in Reih und Glied mit ihren Arbeitsspaten, die sie gleich exerzierenden Soldaten wie Gewehre zu handhaben wissen, sind zu einer Leistungsschau militärischen Drills angetreten. Schließlich wird der ornamentale Vollzug in einem Chorspiel verbalisiert, das den vermeintlichen Anspruch der Angetretenen auf wirkliches Soldatentum audiovisuell ins Bild setzt: „Wir standen nicht im Schützengraben, und nicht im Trommelfeuer der Granaten - und sind trotzdem: Soldaten! ... Hier steht des Reiches junge Mannschaft - wie einst bei Langemarck, bei Tannenberg, vor Lüttich, vor Verdun ,.."92. Die Inzitamente der Orte der großen Schlachten werden unterlegt durch die Melodie von ,Ich hatt' einen Kameraden', in diesem Augenblick verhärten sich die Gesichtszüge und Körperbilder der Arbeiter-Krieger. Dann eine Stimme: „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen," ... ein Paukenschlag - Stille - und die Antwort des Chors: „Ihr seid nicht tot, ihr lebt, in Deutschland."93 Eine wichtige Lesart der Sequenz - nämlich ihre Einbettung in die historischen Daten Kriegsbeginn 1914, selbstverschuldete Niederlage durch Verrat von 1918, Kampf gegen die Verräter 1918 bis 1933, Revision der Ergebnisse des ersten Weltkriegs durch einen neuen - mündet in die Auffassung, „daß sie [die Arbeiter-Krieger, H. M.] demonstrativ ihre Bereitschaft erklären, neues Land nicht nur mit dem Spaten zu gewinnen, sondern auch mit der Waffe zu erobern."94 Eine auf die medientechnische Realisierung von Traditionsbezügen abzielende Lesart eröffnet der Interpretation eine weitere Dimension. Die in Frage stehende Sequenz weist, wie der gesamte Film,95 eine klimaktische Struktur auf; der verbalen Agglomeration des Territorialkörpers Deutschlands aus seinen Regionen entspricht die mit jedem Sprecheinsatz wechselnde Kameraeinstellung, die aber sukzessiv die militärische Choreographie des gesamten Schauspiels offenbart. Schließlich mündet diese Bewegung in eine dreifache

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Segeberg (1999) verzichtet in seinem Vergleich von ,Der Arbeiter' und ,Triumph des Willens' auf eine Analyse dieser doch auch für Jüngers Konzept vom ArbeiterKrieger zentrale Sequenz. Vgl. zum folgenden Loiperdinger (1987): 80 f. Zur Taxonomie vgl. die Tabelle in a.a.O.: 66 f. Zit. nach a.a.O.: 80. Ebd. Loiperdinger (1987): 81. A.a.O.: 69 ff.

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Überblendung, die Standarten grüßen die Gefallenen des ersten Weltkriegs, die Musik stimmt das Lied ,Ich hatt' einen Kameraden' an, und in den Körperbildern der Lebenden kehren die Physiognomien der Gefallenen wieder. Damit wird jene Metamorphose im Bild vollzogen, die in Jüngers Kriegstexten beschworen werden und das Charisma der Kriegsgeneration begründen;96 das filmische Arrangement entwächst dergestalt aus drei Intentionen. Zum einen dient es zur Integration des Phantasmas vom Arbeiter-Krieger in die Kultur des Nationalsozialismus. Zum anderen soll jedoch das kriegerische Charisma, das dem heldischen Dasein zukommt, von den Kriegstoten auf die angetretenen Arbeiter-Krieger übertragen werden. Schließlich wird das Geschehen auf einer dritten Ebene durch das personale Charisma des Führers verbürgt, dessen Mythos zentral durch sein Kriegserlebnis - ,der Weltkriegsgefreite' - begründet erscheint. Auf diese Weise werden andere Teile zu der in Frage stehende Sequenz parallelisierbar: die Figur der Charismatransformation durchzieht den ganzen Film, der ja aus Ritualen des Totenkults97 aufgebaut erscheint, und läßt am Ende Hitler für jede Gruppierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft als einen Führer erscheinen, an dessen Herrschaftslegitimation das jeweilige Gruppenethos unmittelbar beteiligt ist. Wenn aber die kulturtheoretische Annahme richtig ist, daß Rituale „Distributionsknoten sozialer Energie"98 sind, dann läßt sich ihre Funktion in Triumph des Willens nach dem bisher entwickelten wie folgt anschreiben: die im Film zirkulierende soziale Energie ist das Charisma. In einer klimaktischen Folge von Ritualen des Totenkults werden Bestände des Charismas der völkischnationalen, der national-konservativen und der national-revolutionären Traditionen angezapft und auf die Versammelten und den Führer zurückgeschrieben. Das Medium dieser Form ritueller Charismatransformation ist aber der Körper

96

Vgl. zu Adolf Hitlers charismatischer Urszene - während er im Militärkrankenhaus in Pasewalk wegen einer Gelbkreuzvergiftung lag, bricht in Berlin die Revolution aus - Kershaw, Ian: Adolf Hitler. 1889-1936. Stuttgart: DVA 1998, S 142ff, sowie der vielzitierte unglückselige Entschluß in Hitler (1925): 225: „In den Tagen darauf wurde mir auch mein Schicksal bewußt. Ich mußte nun lachen bei dem Gedanken an meine eigene Zukunft, die mir vor kurzer Zeit noch so bittere Sorgen bereitet hatte. War es nicht zum Lachen, Häuser bauen zu wollen auf solchem Grunde? Endlich wurde mir auch klar, daß doch nur eingetreten war, was ich so oft schon befürchtete, nur gefühlsmäßig nie zu glauben vermochte. Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche. Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder. Ich aber beschloß, Politiker zu werden."

97

Vgl. zur Dialektik von Totenkult und Sebstauslöschung Karow (1997), passim. Neumann (2000): 52.

98

„Vor Actium". Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur

315

der Beteiligten und der Zuschauer. W i e in einem Übergangsritual 9 9 werden die Parteitagsteilnehmer zunächst ihren sozialen Milieus entfremdet, erfahren dann einen , anderen Zustand' und kehren schließlich als ,neue Menschen' in die V o l k s g e m e i n s c h a f t ' zurück. Liminalität, körperlich fühlbare Entgrenzungserfahrung induziert durch die Inszenierung von Übergangsritualen und deren exhibitionistischer Preisgabe im Film, ist der voyeuristische Köder, den Leni Riefenstahls Propagandafilm benutzt, um für den Nationalsozialismus zu werben.

5.4. Ernst Jüngers Reaktion: Elemente des E p o s in der Erzählung Auf den Marmorklippen Ernst Jünger hat auf die Machtübertragung auf die Nationalsozialisten in seiner öffentlichen Rolle als Autor - darin Stefan Georges ambivalentem Verhalten nicht unähnlich - mit ironischer Distanz reagiert; 100 in seinem literarischen Werk hat er durch seine Erzählung Auf den Marmorklippen101 die Unvereinbarkeit seiner Position mit der des Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht. Harro Segeberg hat in seiner bestechenden Analyse 1 0 2 vorgeschlagen, die Textur durch einen dreistufigen Lektüreprozeß zu erschließen. D e m Text

99

Vgl. dazu grundlegend Turner, Victor: The Ritual Process. Structure and AntiStucture. London: Routledge 1969, sowie Fischer-Lichte, Erika: PerformanceKunst und Ritual - Körper-Inszenierungen in performances. In: Neumann/ Weigel (2000): 113-32, hier S. 114 f.: „Diese Übergangsriten, [welche die Schwellensituationen Geburt, Taufe, Pubertät, Hochzeit, Krieg, Hungersnot, Tod begleiten H. M..], ... , sind anders als die übrigen Genres von ,cultural performances' mit einer im höchsten Maß symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft: mit sogenannter .Liminalität'. Sie gliedern sich in drei Phasen: die Trennungsphase, in der die zu Transformierenden ... ihrem sozialen Milieu entfremdet werden, die Transformationsphase, [die mit exaltierten Körper- und Bewußtseinserfahrungen einhergehen kann H. M..], die Inkorporationsphase, in der die nun Transformierten wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden."

100

Vgl. Segeberg (1999): 733, Anm. 21: „Diese ironische Distanz erlaubte es dem Autor des ,Arbeiter' auch ganz handlungspragmatisch, im Jahre 1933 die Berufung in die von allen Republikanhängern gesäuberte sogenannte ,Deutsche Akademie der Dichtung' mit dem Hinweis auf den die Borniertheit parteiamtlicher Kulturfunktionäre verspottenden § 59 seines Essays abzulehnen und zugleich dem Präsidenten dieser Akademie Werner Beumelburg die .allergrößte Hochachtung' zu versichern, j a sogar „ungeachtet mancher Verärgerung, wie etwa der Haussuchung, die in meinen Räumen stattgefunden hat,' die ,positive Mitarbeit am neuen Staate' in Aussicht zu stellen." Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen, in: Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Dritte Abteilung. Erzählende Schriften I. Erzählungen. Stuttgart: Klett-Cotta 1978: 2 4 7 352. Segeberg (1995): 110-23.

101

102

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Helmut Mottel

sei eine zeitkritische, eine parabolische und eine tiefensymbolische Denotationsebene einbeschrieben. Schon seit seinem Erscheinen wurde der Text als Roman der ,Inneren Emigration' gelesen, Hauptfiguren, beispielsweise der ,Oberförster', unmittelbar auf Größen des Nationalsozialismus wie Hitler oder .Reichsforstmeister' Goring zielten.103 Die Analyse der Vorgehensweise bestimmter Gruppierungen während der Machtkämpfe, die den Untergang der ,Marina' begleiten, kann als eine Mikrophysik faschistischer Machtpolitik gelesen werden. Außerdem hat Jünger die Praxis der Konzentrationslager angeprangert und sie als das bezeichnet, was sie jenseits aller technischen Perfektion der Vernichtung und Quälerei immer waren und sein werden: „Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und der Menschenfreiheit schauerlich ergötzt."104 Auf der zweiten, parabolischen Ebene105 stellt der Text eine Applikationsfolie kulturtheoretischer Interpretationsentwürfe dar. So sind beispielsweise Schichtungsmodellen von Zeit und Raum in der dargestellten Welt Blüte- und Verfallszyklen kultureller Großformationen parallelisiert.106 Jünger selbst hat diese Poetologie107 der Symbolwelten auch zu einer Zeit in Selbstdeutungen stark gemacht, als ihm eine zeitkritische Lektüre im Literaturbetrieb sehr genutzt hätte. Eine dritte Lektüreebene wird durch den Blick auf die Darstellungstechnik etabliert, die dem panoramatischen Untergangsszenario im letzten Drittel des Textes eigen ist.108 Hier gewinnt Jünger den Anschluß an Verfahrensweisen, wie sie aus den Filmmedien oder der aktuellen Diskussion um Literatur und Luftkrieg109 geläufig sind: die distanziert lautlose Vernichtung als reines Spiel des Sehsinns und der Sehsucht, wie sie aus Jüngers Feder auch aus den Pariser Tagebüchern bekannt sind.110

103 104 105 106

107

108 109

110

A.a.O.: 111. Jünger, Ernst: Auf den Marmorklippen (1978): 311. Segeberg (1995): 112 f. Zur Erzeugung mythopoetischer Räume bei Jünger vgl. Pekar, Thomas: Ernst Jünger und der Orient. Mythos - Lektüre - Reise. Würzburg: Ergon 1999. Zur Verfahrensweise des poetischen Geistes bei Ernst Jünger vgl. Mottel, Helmut: Technische Paradiese - Zur poetologischen Funktion der Metaphorisierung technischer Perfektion im Werk Ernst Jüngers. In: Strack (2000): 225-42. Segeberg (1995): 116 ff. Seebald, Winfried G.: Literatur und Luftkrieg. Mit einem Essay über Alfred Andersch. München: Hanser 1999. Vgl. dazu Fröschle, Ulrich; Mottel, Helmut: Medientheoretische und mentalitätsgeschichtliche Probleme filmhistorischer Untersuchungskategorien: das Beispiel Francis Ford Coppolas ,Apokalypse Now', in: Chiari, Bernhard; Rogg, Matthias; Schmidt; Wolfgang: Militär und Krieg im Film. Müchen: Oldenbourg 2002.

„Vor Actium". Ernst Jünger im Kontext des Diskurses der prophetischen Literatur

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Gleichwohl kann eine bruchlose Verbindungslinie der in Frage stehenden Erzählweise mit den ästhetischen Vorstellungen der Essayistik in der Zeit der Weimarer Republik in Frage gestellt werden. Meines Erachtens eröffnet sich für den Text zumindest noch eine vierte Lesart, die sich aus einer Fokussierung der Blickrichtung auf jene Funktion ergibt, welche die Elemente der Textgattung ,Epos' in der Erzählung spielen, um sie dann auf die dahinter sichtbar werdende Autorrolle zu befragen. Jünger unternimmt in Auf den Marmorklippen, nicht zuletzt wegen der Okkupation der Augustusposition durch Hitler, die Rücknahme der strategischen Kopplung von prophetischem Redegestus und amoralischen Modernismus. Dies indiziert ein ganz neuer Ton, wie er in der Distanzierung der beiden Protagonisten von den ,Mauretaniern' zum Ausdruck kommt, in deren Orden sie früher gedient hatten: Wir kamen bei den Mauretaniern um ehrenvollen Abschied ein ... . In diesem Orden hoch emporzusteigen, hätte es uns wohl nicht an Mut und Urteilskraft gefehlt; doch war die Gabe uns versagt geblieben, auf das Leiden der Schwachen und Namenlosen herabzusehen, wie man vom Senatorensitze in die Arena blickt. 111

Darüber hinaus zeigt ein Blick auf den Romananfang einen - im Sinne Goethes - merkwürdigen Befund. Es heißt dort bekanntlich: „Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift."112 Man befindet sich, streng genommen, dadurch, daß auf die Tradition mündlicher Vortragsweise in der Anrede einer Hörergemeinde angespielt wird, in einem Epos und nicht in einem modernen Erzähltext. Dieser Befund wird durch zwei weitere Beobachtungen gestützt. Da ist zum einen die Ubiquität, mit der diese Textgattung in der textimmannent inszenierten Literaturgesellschaft als aktuelle literarische Praxis vertreten ist: Wenn [der Hirte Belovar, H. M.] auf die Blutrachefehden zu sprechen kam, begannen seine Augen Glanz zu sprühen, und wir begriffen, daß das Herz des Feindes ihn anzog wie ein mächtiger Magnet, solange es lebendig schlug; und das der Nachglanz dieser Rachetaten ihn zu einem Sänger machte, wie es deren manche auf der Campagna gab. Wenn dort am Feuer zu Ehren der Hirtengötter getrunken wurde, geschah es häufig, daß einer aus der Runde sich erhob und dann in eingegebener Rede den Totschlag rühmte, den er am Feind vollzog. 113

Von entscheidender Bedeutung ist jedoch die Tatsache, daß der Text sich selbst als Epos inszeniert, das als ,Eburnum', in der Stammburg der Sunmyras, zu Aufführung kommt. Bekanntlich spricht Bruder Otho in diesem Zusammenhang das Haupt des Fürsten an, der in den Schinderhütten des Oberförsters das Martyrium erlitten hatte:

111 112 113

Jünger, Ernst: Marmorklippen (1978): 287. A.a.O.: 251. A.a.O.: 289.

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Helmut Mottel

Wir hielten die Amphore in guter Hut. Noch kannten wir nicht das Schicksal dieses Hauptes, das wir mit uns führten und das wir den Christen überlieferten, als sie den großen Dom an der Marina aus seinen Trümmern errichteten. Sie fügten es in seinen Grundstein ein. Doch vorher^ im Palas der Stammburg der Sunmyras, sprach Bruder Otho es im Eburnum an.

Damit wird insgesamt auf der Ebene der Funktionsbestimmung der Agenten auf dem literarischen Feld eine bemerkenswerte Neuakzentuierung vorgenommen. Der überlebende Erzähler - man müßte eigentlich von den Erzählern sprechen, da über lange Strecken der Text aus dem Modus des ,wir' vorangetrieben wird - generiert sich wieder als mündlich operierender Verwalter der Memoria in einer literarischen Festpraxis, während die Zukunft aus dem Geist des Opfers und seiner Repräsentation in der Pathosgeste des ,Ecce homo Motivs' gestaltet wird. Jünger inszeniert an dieser Stelle, unter dem Eindruck der radikalen Umsetzung avantgardistisch-modernistischer Theoreme in der gesellschaftlichen Praxis des Nationalsozialismus, archaische Erzählstrategien und christliche Bildtraditionen, um sich auch poetologisch vor einer Vereinnahmung zu schützen. Damit nimmt er einerseits seine, durch die 1941 konzipierte, ab 1944 in Abschriften zirkulierende und 1945 veröffentlichte Schrift Der Friede"5 bekundete, späte Läuterung im literarischen Text vorweg und steht damit allen jenen Autoren und Autorinnen aus dem rechten politischen Spektrum der Weimarer Republik nahe, die sich nach dem Ende des zweiten Weltkriegs durch eine christlich-abendländische Wende oder Kehre als Intellektuelle moralisch zu retten versuchten.

6. Zusammenfassung Die Frage nach der Begründung der Legitimität von Herrschaft im Übergang der deutschen Gesellschaft von einer bürgerlichen Honoratioren- zu einer modernen Massengesellschaft bildet den Machtpol, um den sich das diskursive Feld von 1920 bewegt. Dabei spielt der von Max Weber geprägte Begriff des Charisma in seinen verschiedenen historischen Formen eine zentrale Rolle. Die literarische Tradition kennt mit dem poeta vates-Modell ein Autorschaftskonzept, daß es erlaubt, charismatisch begründete Redegesten im literarischen Teilsektor der Öffentlichkeit durchzuspielen. Drei Positionen haben wir in unserer Analyse paradigmatisch hervorgehoben: den aporetischen Versuch, die Dichterreligion der Goethezeit und den mit ihr einhergehenden Autorschaftsbegriff zu einem Modernisierungpalliativ des untergehenden Bildungsbürgertums aufzubauen (Rudolf Pannwitz), die Bestrebung Stephan Georges, als 114 115

A.a.O.: 351. Jünger, Ernst: Der Friede, in: Ders.: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays I. Bd. 7. Betrachtungen zurZeit. Stuttgart: Klett-Cotta 1980: 195-236.

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Prophet seiner selbst eine ästhetische Gegenwelt zu inszenieren, in der literarische Souveränität in ihrem ursprünglichen Sinn noch einmal aufscheint, schließlich Ernst Jüngers innerweltlich begründetes und poetisch vollständig transfiguriertes poeta vates-Modell, das seinen eigenen poetologischen Anspruch radikal ernst nimmt und damit zu luziden prognostischen Ergebnissen gelangt. Als der Nationalsozialismus, ganz ähnlich übrigens wie zeitgleich der Stalinismus mit Konzepten der linken Avantgarde in der Sowjetunion verfuhr, Denkfiguren der nationalrevolutionären Avantgarde in hybriden Verkettungen mit seinen Machtritualen brachte, um eine eigene Mythographie zu begründen, reagierte Ernst Jünger auf der poetologischen Ebene, mit einem Rückzug auf traditionelle Bauformen des Erzählens und Autorschaftskonzepte.

CLAUS-MICHAEL O R T

Gullin Bursti und der Traum vom Mythos Zum Verhältnis von Mythologisierung und Bedeutungstilgung in Ernst Jüngers Erzählung Die Eberjagd (1952/1960) Die Kurzerzählung Die Eberjagd - 1952 zuerst publiziert und später in einer geringfügig aber signifikant veränderten Fassung in Jüngers Werkausgabe aufgenommen1 - ist schon 1965 von Henri Plard als einer der „wenig beachteten, doch wesentlichen" Texte Jüngers eingestuft worden (PLARD 1965: 129), kann aber nach wie vor allenfalls beiläufiges literaturwissenschaftliches Interesse verbuchen.2 Wie im folgenden zu zeigen sein wird, ermöglicht die vergleichende Analyse beider Fassungen eine Interpretation ihrer semantischen Differenz. Die Funktion des mythologischen Bedeutungsaufbaus in der ersten und der partiellen Bedeutungstilgung in der zweiten Fassung beschränkt sich dabei nicht allein auf,stereoskopische' Simultanwahrnehmung und einen synästhetischen, ,stereoskopische[n] Genuß" (JÜNGER 1950: 28), der mit der Überblendung divergierender Bedeutungen verbunden ist, sondern verdeutlicht darüber hinaus exemplarisch, wie eine derart ,stereoskopische' Ästhetik auf Jüngers Die beiden Fassungen werden ab jetzt mit den Siglen E 1 (JÜNGER 1952) und E 2 (JÜNGER 1 9 6 0 ) zitiert.

Die Interpretationen kreisen um die je unterschiedliche Bewertung der Bindung an die vom erlegten Keiler repräsentierte patriarchale Instanz: Während z. B. PLARD 1965 und 1995 mit Hinweis auf Sigmund Freuds Totem und Tabu (FREUD 1989) einseitig die Emanzipation vom getöteten Vater betont („nur wer den Vater in sich abtötet, darf sich zu der Brüdergemeinde der Männer rechnen", PLARD 1965: 131), unterstreicht MARTUS 2001 im Anschluß an ROZET 1996, daß der Protagonist Richard als Beobachter eines Zufallstreifers des Jagdeleven Breyer und durch ein „epiphanieartiges Initiationserlebnis eine mitleidende Rolle einnimmt, die später Clamor Elbling in Die Zwille und Martin Venator in Eumeswil auszeichnen wird" und die Erzählung damit eine „veränderte Haltung zum Töten" und den „Weg von der Metaphysik des Willens und der Gewalt zur Metaphysik des Opfers und des Mitleids" markiere (MARTUS 2001: 218 ff.). Im übrigen berücksichtigt lediglich ROZET 1996 die Divergenz der Fassungen und geht explizit auf E 1 ein.

322

Claus-Michael Ort

,Fassungspoetik' übertragen werden kann und es erlaubt, Relationen zwischen Textfassungen semantisch zu funktionalisieren.3 Dabei erweist sich nicht nur die simultane Interferenz von Zeichen - Signifikanten und Signifikaten - als Katalysator eines zwischen Semantisierung und Desemantisierung, zwischen Präsenz und Absenz oszillierenden Bedeutungszuwachses, sondern auch die Sukzession von Signifikaten in einer potentiell unabschließbaren Serie von Substitutionen, wobei Bedeutungen syntagmatisch durch andere ersetzt und in paradigmatische Latenz ,verschoben' werden.4 Jünger kennt beide Varianten „geistigefr] Stereoskopie", die „die Einheit im inneren Widerspruch [erbeutet]" ( J Ü N G E R 1987: 66): „Im gleichen Augenblicke, in dem sie [die doppelten Bilder, Anmerkung des Verfassers] in ein einziges Bild zusammenschmolzen, brach die neue Dimension der Tiefe in ihnen a u f ( J Ü N G E R 1934/42: 124) und: Es gehört zu den Belustigungen der Jagd, den oft nur winzigen Unterschied, der zwischen einem ausgestrichenen und dem darüber geschriebenen Wort besteht, zu betrachten wie einen Schnitt unter dem Mikroskop, [...]. Das eigentlich Stereoskopische, der innere Unterschied, tritt noch besser hervor, wenn das ausgestrichene Wort nicht mehr sichtbar ist. (JÜNGER 1987: 67)

Metaphern wie „erbeuten" und „Jagd" kennzeichnen die Suche nach der absenten - überschriebenen - Bedeutung als ,Jagd' auf semantische .Beute' und legen nahe, die in der Eberjagd dargestellten Ereignisse selbst als ,Jagd' nach solcher ,Beute' zu lesen, die jedoch in beiden Fassungen jeweils unterschiedlich ausfällt. Isabelle Rozet deutet vor diesem Hintergrund die Eberjagd nicht nur im Kontext mythologischer Jagd-Narrationen und im - für Jünger zentralen - „Bildernetz" der ,Jagd' ( R O Z E T 1996: 134), sondern weist darüber hinaus auf deren doppelte symbolische' Implikation hin: Einerseits versinnbildliche die erhoffte Tötung des Wildes als .Opfertier' die Unterdrückung der Triebe und die Tilgung des Natürlich-Animalischen, andererseits „stellt die Verfolgung des Wildes die Fahndung nach hinterlassenen Spuren dar und fordert zur gei-

Vgl. die zusammenfassende Darstellung der ,Fassungspoetik' Jüngers bei MARTUS 2001: 233-238 sowie des ,stereoskopischen Sprachmodells' in Das abenteuerliche Herz

b e i DRAGANOVIC 1 9 9 8 : 8 6 - 1 0 0 .

Ob und inwieweit eine solche „Semiotik der stereoskopischen Sprache" (DRAGANOVIC 1998: 88) Positionen des Poststrukturalismus und insbesondere von Derridas ,différance' (DERRIDA 1988) entspricht, muß in diesem Rahmen offen bleiben. Draganovió scheint dies zumindest nahezulegen: „Der Signifikant als schriftliche Spur des gesprochenen Wortes ist nicht die Bedeutung - er weist auf sie hin, oder besser: gewährt (,stereoskopischen') Durchblick zur Bedeutung. Das Präsente verweist somit auf das Nicht-Präsente. In der Schilderung synästhetischer Wahrnehmung wird also der Prozeß der Bedeutungskonstitution simuliert, indem, [...], die Materialität der Sprache in den Blick gerückt wird, um sie gleichzeitig für einen Durchblick auf Bedeutetes, jedoch Unaussprechliches durchsichtig zu machen." (DRAGANOVIC 1998: 88 ff.; Hervorhebungen im Original).

Gullin Bursti und der Traum vom Mythos. Jüngers Eberjagd

323

stigen Suche auf. Diese Verfolgung [wird] als eine Initiation in eine geweihte Welt erlebt" (ROZET 1996: 137 ff.) und akzentuiert weniger den tötenden als den aneignenden und bewahrenden Aspekt der Jagd als Akt eines ,Beuteholers'. Eine Jurij M. Lotmans Modell des ,semantischen Raumes', seiner topographischen wie topologischen ,Grenzen' und ihrer ,ereignishaften' Überschreitung durch den ,Helden' folgende (siehe LOTMAN 1 9 7 3 : 3 1 5 ^ 1 5 , RENNER 1 9 8 3 und zusammenfassend KRAH 1 9 9 9 ) , erzähltheoretische Analyse der zugrunde liegenden Initiationsgeschichte und eine paradigmatische Analyse der damit korrelierten semantischen Achsen (JAKOBSON 1 9 7 9 ; zu ,Paradigma' und ,Syntagma' vgl. auch BARTHES 1 9 7 9 : 4 9 - 7 3 und TITZMANN 1 9 9 3 : 8 6 - 1 7 9 ) erlauben es zum einen, die Eberjagd mit Jagd-Narrationen aus der Mythologie und mit solchen aus Jüngers Œuvre selbst zu vergleichen und ihre je spezifischen Räume, Grenzen und Grenzüberschreitungen zu beschreiben, wozu im gegeben Rahmen jedoch allenfalls Andeutungen erfolgen können. Zum anderen sind vor diesem Hintergrund jedoch auch die in der Eberjagd (Ε 1 und E 2) je textintern thematisierten Substitutionen als auch die zwischen E 1 und E 2 zu beobachtende Ersetzung zu analysieren. Gemeint ist damit zunächst die je textinterne Substitution der in Richards Wachbewußtsein präsenten Jagdwaffe durch das erlegte Opfer im Traum, die am Ende von E 1 und E 2 jeweils von einer Erzählinstanz vermittelt wird, welche das Bewußtsein des adoleszenten, personalen Perspektiventrägers Richard überschreitet. Darüber hinaus gilt es jedoch, auch die zwischen E 1 und E 2 erfolgte Substitution des in E 1 als ,Gullin Bursti' bezeichneten Keilers durch das Lexem ,Eber' in E 2 zu interpretieren (E 1: 18: „Das war der erste Abend, an dem Richard einschlief, ohne an das Gewehr gedacht zu haben; doch dafür trat Gullin Bursti in seinen Traum." und E 2: 308: „Das war der erste Abend, an dem Richard einschlief, ohne an das Gewehr gedacht zu haben; dafür trat nun der Eber in seinen Traum.").5 Mythologischen und literarischen Jagd-Erzählungen liegt, so kann zunächst präzisiert und zumindest selektiv illustriert werden, eine narrative Basisstruktur zugrunde, die von der Kreuzung der beiden paradigmatischen semantischen Achsen ,Leben versus Tod' und ,(menschliche) Kultur versus (animalische) ROZET 1996 deutet das Verschwinden ,Gullin Burstis' in der späteren Ausgabe, als Verheimlichung' einer „Hypostase" göttlicher Eigenschaften, deren Name „in die Göttersage der Nordgermanen ein[führt]" und das Wildschwein des Gottes Freyr bezeichnet, der „zusammen mit den anderen Stellvertretern des alten Göttergeschlechtes der Wanen die Fruchtbarkeit sicherte" (ROZET 1996: 141); vgl. zum mythologischen Kontext auch Grimm 1968: 176-178 und BACHTOLD-STÄUBLI 1987a: 517 ff. Aus dieser Verheimlichung' und der paradigmatischen Ersetzung von ,Gullin Bursti' durch ,Eber' zieht Rozet jedoch keine weiterführenden interpretatorischen Schlußfolgerungen.

Claus-Michael Ort

324

Natur' gebildet wird und ihre variierenden Sujets auf den sich daraus ergebenden vier Feldern realisiert. Als Normalfall des tötenden Beuteholers erweist sich somit derjenige ,Held', dem es gelingt, die Grenze zwischen ,Kultur' und ,Natur' in beiden Richtungen erfolgreich zu überschreiten und das erfolgreich erjagte Wild nicht nur als Beute in den Bereich der ,Kultur' zu integrieren, sondern dieses ,Ereignis' mit einer irreversiblen Überschreitung der Grenze vom Leben zum Tod durch das Wild zu verknüpfen, ohne diese Grenze selbst überschreiten zu müssen:6 NATUR tierisch

Jäger

LEBEN ~V5 TOD Beute

Die Tötung des Beutetiers kann dann zum hochrangigen Ereignis werden, wenn sie als Sakrileg die natürliche göttliche Ordnung stört und weitere Racheund Sühne-Handlungen nach sich zieht. Die oft reproduzierte Mythenerzählung über die desaströse Jagd von Meleagros und Atalante auf den Calydonischen Eber, dessen Wüten bereits eine Strafe der Artemis für unterlassene Opferung darstellt (vgl. OviD 1994: 8, 2 6 0 - 5 4 6 ) , folgt dieser Logik ebenso wie die kulturstiftende konstruktive Variante, wie sie die Jagd auf den Ephesischen Eber repräsentiert, dessen frevelhafte Tötung durch Androklos nur von der Gründung eines Artemis-Heiligtums - der Stadt Ephesus - gesühnt werden kann (zu beiden Varianten vgl. SCHERRER 2 0 0 0 ) . Die sanfte Variante dieses Erzählmusters verzichtet demgegenüber auf die Tötung des erjagten Wildes, vermeidet damit das Sühne fordernde Sakrileg und beschränkt sich auf die temporäre Gefangenschaft oder Domestikation des Beutetieres. So läßt Herkules bei der Erfüllung seiner dritten Aufgabe nach einjähriger Jagd die der Artemis geweihte, schnelle Hindin von Keryneia frei und trägt als vierte Aufgabe den Erymanthischen Eber zu Eurystheus, ohne ihn zu töten (vgl. MOORMANN/UITTERHOEVE 1995: 3 2 5 - 3 4 5 und wiederum SCHERRER 2 0 0 0 ) :

„Der Waldgang ist [...] in erster Linie Todesgang. Er fuhrt hart an den Tod heran ja wenn es sein muß, durch ihn hindurch. Der Wald als Lebenshort erschließt sich in seiner überwirklichen Fülle, wenn die Überschreitung der Linie gelungen ist" (JUNGER 1952: 78).

Gullin Bursti und der Traum vom Mythos. Jüngers Eberjagd

NATUR

KULTUR tierisch

menschlich

Jäger

LEBEN

325

Wild

Beute

TOD

Jünger, der beide Varianten von Jagd-Mythen in An der Zeitmauer thematisiert,7 weist darüber hinaus auf zwei komplementäre Zusatzbedeutungen hin, die mit der ersten, destruktiv tötenden Variante einhergehen können und die sich auch in der Eberjagd finden, nämlich die Verteufelung des tötenden Jägers und die Apotheose des getöteten Opfers: Im M y t h o s ist e s der Heros, der das Opfer bringt. A u f seinem Blut beruht die Gründung der Reiche, w i e die Stiftung auf dem sakralfähigen Blut. A u f dem Blut des Untäters beruht die Sühne und damit das Recht. Nicht v o l l z o g e n e Sühne bedeutet G e m e i n g e f a h r . (JÜNGER 1 9 9 8 : 8 1 )

Beide Fassungen der Eberjagd diabolisieren den Förster, den „fürchterliche[n] Moosbrugger" (E 1: 15; E 2: 305), der den vom Eleven Breyer durch Zufall erlegten Eber am Ende ausweidet und , frevelhaft' kastriert, „teuflisches" (E 1: 15, E 2: 305) und „schreckliches Lachen" (E 1: 16, E 2: 306) ausstößt, den unerwarteten Erfolg Breyers selbst mit dem Teufel in Verbindung bringt (E 1 : 16, E 2: 306: „zum Teufel, die jungen Leute hatten bei ihm gelernt") und dessen Handeln ungesühnt bleibt; nur in E 1 indessen entspricht die uneigentliche Diabolisierung Moosbruggers einer expliziten Sakralisierung des getöteten Opfertieres, dessen „Zauber" nun „profanen Blicken offenkundig lag" und das „schon ferne weilte, in den geheiligten Bezirken, die sich dem Unverletzlichen eröffnen, dem stolzen und ungebeugten Sein" (E 1: 16), bevor es in Richards Traum als der goldborstige Sonneneber (,Gullinborsti') des nordischen Fruchtbarkeitsgottes Freyr Eingang findet.8

7

„ D i e Jagd [ . . . ] ist mehr als ein Vergnügen der K ö n i g e [ . . . ] . Sie ist eine Erinnerung an Zeiten, in denen jeder König und Jagdherr war. [ . . . ] . D e n Mythos durchwebt die Schilderung gewaltiger Jagden, w i e der von Meleager und Atalante, und auch der Händel, die sich daran anschließen. Herakles als der Urfurst ist auch ein mächtiger Jäger vor dem Herrn" (JÜNGER 1998: 98).

8

GRIMM 1968: 176: „Freyr besaß einen eber Gullinbursti, dessen goldborstern die nacht gleich dem tag erhellten, der mit pferdes Schnelligkeit rannte und des gottes w a g e n z o g [ . . . ] . in Freyrs cultus erscheinen darum opfer von sühnebern [ . . . ] " (Hervorhebung im Original).

326

Claus-Michael Ort

In diesem Zusammenhang verdient eine weitere narrative Variante Erwähnung, die wiederum sowohl mythologisch als auch literarisch realisiert worden ist und bei Jünger (nicht nur in der Eberjagd) stark rekurrent belegt ist. Gemeint ist eine topologische Zustandsveränderung, die meist an topographische Grenzüberschreitungen in den Bereich des , Wilden' gebunden ist und entweder in einer aktiv aggressiven oder in einer passiv mitleidsvollen Färbung zu beobachten ist. Geht nämlich der Jäger zumindest topologisch irreversibel im natürlichen Gegenraum auf, unterliegt er seinerseits einer zumindest temporären atavistischen Animalisierung zum ,Wilden', gewinnt zugleich aber auch potentiell Merkmale des Gejagten, droht also selbst als Opfer einer Jagd getötet zu werden - wie der Jäger Aktaion, der zur Strafe für seine Übertretungen von Artemis in einen Hirsch verwandelt wird und schließlich von seinen eigenen Hunden gejagt und zerfleischt wird (vgl. erneut OviD 1994: 3, 138-252):

NATUR tierisch

Jäger -

-*l

Wild

Ohne deren je einzeltextspezifischen Funktionen hier weiter verfolgen zu können, mögen einige Textbeispiele immerhin verdeutlichen, welch zentrale Bedeutung der Jagd-Semantik in dieser Narrationsvariante in den Werken Jüngers zukommt. Dabei wird Krieg als Menschen-Jagd, die Jagd als Tier-Kampf oder auch Krieg als Kampf zwischen Tieren dargestellt: Da leuchtete mir mit entsetzlicher Klarheit ein, daß ich dem Oberförster dennoch ins Garn gegangen war. [...]. [...]. [...], ich selbst [war] das Wild, das durch die blaue Natter verlockt worden war! (Der Oberförster in: JÜNGER 1950: 49-53, hier: 53). Auf diese Weise glich das Scharmützel einem Jagen, [...] (JÜNGER 1975: 217). Der Bluthund nämlich war sorgsam abgerichtet, den Menschen aufzusuchen, den der Oberförster als bestes Wild bezeichnete; (ebd.).

Oullin Bursti und der Traum vom Mythos. Jüngers Eberjagd

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Immer eindeutiger wird der Mensch zum Wilde, die Jagdbeute zur Kriegsbeute (JÜNGER 1 9 9 8 : 1 2 6 ) .

Daß Wild und Jäger sich sehr ähnlich werden, wußten die Alten schon. Subtil wird endlich auch der Jäger, [...] (JÜNGER 1967: 334). Es muß eine enge Verwandtschaft geben zwischen dem verfolgten und dem, der ihn verfolgt. Die Jägermeister haben Totemköpfe; der Grand-Louvetier hat ein Wolfsgesicht. Man kann erraten, wer den Löwen, den Büffel, den Eber jagt (JÜNGER 1977: 47).

Daß der „die Zähne [...] fletschen[de] (E 1: 15, E 2: 305) und „im Gebüsch [verschwunden[e]", „fürchterliche Moosbrugger" (ebd.) den Namen des ,kranken', als unzurechnungsfähig internierten Prostituierten-Mörders in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften trägt, den man „während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten" hatte ( M U S I L 1978: 234), erweist sich vor diesem Hintergund als funktionalisierbar, ruft die Namensreferenz doch Merkmale des blutrünstigen Triebtäters ab, die atavistischen Verhaltensdispositionen des Försters der Eberjagd entsprechen. Auch dieser wird vorübergehend zum ,Tier': Seine Miene verrät vor dem Ausweiden des Ebers eine Art von Vorlust, wird „ganz altertümlich, durchleuchtet von einer Art feierlichem Grinsen" (E 1: 17, E 2: 307), und sein Handeln gewinnt zumindest aus der Perspektive Richards einen zeichenhaften Mehrwert, der das waidmännische Ritual überschreitet (E 1: 17, E 2: 308: „Moosbrugger wühlte mit beiden Händen in der Bauchhöhle und fuhr in den Brustkorb hinein, zog rotes und blaues Gescheide heraus, [,..]."). 9 Bevor die in E lund E 2 je divergierenden metaphorischen Semantisierungen des Ebers dargestellt werden, gilt es, die beiden Fassungen der Eberjagd zugrunde liegende narrative Struktur der Initiationsgeschichten des Eleven Breyer und Richards zu rekonstruieren. Im hier gegebenen, idealtypischen narratologischen Rahmen bildet die Eberjagd eine Variante der aggressiven Beuteholer- und Tötungserzählung, die jedoch aus der Perspektive des noch nicht sechzehnjährigen Richard, also eines von aktiver Teilnahme an der Jagd ausgeschlossenen und noch nicht aktiv initiationsfähigen Beobachters geschildert wird. Sein sehnlicher Wunsch, „daß der Vater ihm eine Büchse geben würde" (E 2: 301) 10 - „er kannte keinen heißeren, keinen zwingenderen" (E 2: 301 ff.) - erfüllt sich nicht, erst am „sechzehnten Geburtstag sollte ihm das Wunder zufallen. Es wurde ihm nicht leicht sich zu gedulden" (E 2: 303) und

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Was in E 1 dem „Untier" (E 1: 14) aus der Perspektive Richards unterstellt wird, nämlich „Mensch, Hund und Pferd" mit „furchtbarem Riß aufschlitzen" zu können (E 1: 14), vollzieht Moosbrugger nun seinerseits am erlegten Eber. Bei identischen Textstellen erfolgt ab jetzt nur noch Nachweis aus E 2.

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dem „knapp zwei Jahre älter[en] und kaum größer[en]" Eleven Breyer vorerst das Feld zu überlassen. Daß das .Wunder' der Initiation in den Zustand der Waffenfähigkeit und des Erwachsenseins für Richard mit sexuellen Potenzphantasien und Impotenzängsten einher geht, signalisieren die mit dem ersehnten Gewehr korrelierte, unverhohlene Phallussymbolik und der onanistisch-narzißtische Subtext der erotischen Wachträume Richards, die sich auf das Gewehr als Lustobjekt richten: Er träumte von dem blauen Stahl der Waffe, [...]. Wie leicht sie war, wie handlich, und wunderbarer als alle Spielzeuge. [...]. [...]. Man konnte den Abzug durch einen Stecher verfeinern - dann war es, als ob ein Gedanke den Schuß entzündete. Daß dieses Kleinod, dieses Wunder, zugleich das Schicksal, den Tod in sich beschloß: das freilich ging über die Phantasie hinaus. Richard fühlte, daß in ihrem Besitze eine Ergänzung für ihn verborgen lag, eine vollkommene Veränderung. Bevor er einschlief, sah er sich zuweilen mit ihr nach Art der Wachträume im Walde nicht etwa, um zu schießen, nein, nur um wie mit einer Geliebten mit ihr im Grünen sich zu ergehen. (E 2: 302)

Der „Wahrspruch" auf dem „Zechkrug" des Vaters, der ihm „dabei [...] in den Sinn kommt" - „Ich und du, wir beide / Sind uns genug zur Freude." (E 2: 302) - bringt die selbstgenügsame, die fehlende Beziehung zu einer Geliebten substituierende Dyade aus Richard und seinem phantasierten , Gewehr' auf die denkbar kürzeste Formel. Im Schlaf verwandelt sich der Wunschtraum jedoch manchmal in einen Angsttraum, der unschwer als genitaler Versagens„Albdruck" (E 2: 302) zu entschlüsseln ist: Auch wenn ihm die Augen zugefallen waren, spannen sich die Bilder fort. [...]: er hatte die Waffe gespannt und wollte schießen, doch verhinderte ein böser Zauber, daß sie Feuer gab. Sein ganzer Wille heftete sich dann daran, doch seltsam, je mehr, je heftiger er ihn spannte, desto gründlicher verweigerte die Büchse ihm den Dienst. Er wollte schreien, doch die Stimme versagte ihm. (E 2: 302)

Der ,böse Zauber', der den ,Schuß' verhindert oder auch nur hemmt oder ablenkt, kehrt anläßlich von Breyers vermeintlichem Fehlschuß semantisch reduziert wieder: Richard, vor seiner Initiation weder zum eigentlichen noch zum uneigentlich sexuellen .Schießen' fähig, erlebt aus nächster Nähe und „nun ganz zufrieden mit der Rolle des Zuschauers" (E 2: 305) das Versagen Breyers mit, der - „durch das Grobschwein erschreck[t]" (ebd.) - offenkundig ein „Loch in die Luft gesengt" hat (ebd.) und vom dämonisierten, nun .teuflisch lachenden' Moosbrugger seines Versagens bezichtigt wird („.Wissen Sie, was Sie jetzt gemacht haben?' [...]: ,[...]: ein leeres Rohr haben Sie gemacht.'" (ebd.).11 11

Zum Verhexen des Gewehrs im Volksaberglauben siehe BÄCHTOLD-STÄUBLI 1987c: 810 und 1987d: 582 („Weidmannsetzen"). - Die syntagmatische Nachbarschaft eines semantisch präsenten ,Teufels' (E 2: 305: „teuflisches Lachen", E 2: 306: „'zum Teufel'") und eines unerwartet erfolgreichen, ungezielten Schusses

Gullin Bursti und der Traum vom Mythos. Jüngers Eberjagd

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Unbewehrt zu sein, also auch nicht schießen zu können, bewahrt den Mann, so Richards Empfinden, vor der Schande und Schuld des Versagens. Daß sich Breyers Schuß nachträglich als blinder Zufallstreffer entpuppt, der den Eber tatsächlich niedergestreckt hat, ändert daran insofern für Richard nichts, als sich für ihn die darauf folgende Initiation Breyers in den Kreis der erfolgreichen Jäger und erwachsenen Männer als leeres Ritual diskreditiert, das Breyer auf der Grundlage eines nachträglich verleugneten Zufalls , stolz' und glücklich' macht und erhebliche Gratifikationen in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaftsordnung zu verschafften verspricht: Der junge Mann stand mit bescheidenem Stolz in ihrer Mitte und heftete das Reis an seinen Hut. Die Augen ruhten mit Wohlwollen auf ihm. Bei Hofe, im Krieg und unter Jägern schätzt man den glücklichen Zufall und rechnet ihn dem Manne zu. Das leitet eine Laufbahn günstig ein. (E 2: 306 ff.)

Ob Richard nach diesen Erfahrungen und unter solchen Bedingungen zu einer ähnlichen Initiation noch bereit, willens oder fähig ist, erscheint mit Blick auf den Schluß der Eberjagd zweifelhaft, zumal er aus seiner teilnehmenden Beobachtung der Eberjagd als ein vorzeitig und kontraproduktiv traumatisierter hervorgeht, aus dessen Wach-Wunschtraum nun nicht nur das Gewehr verschwindet, sondern in dessen Schlaftraum das ehrfurchtsvoll bemitleidete Opfer der Jagd, nämlich der ,Eber' selbst Eingang findet. Statt materieller Beute, wie sie sich die Jagdgesellschaft und Breyer und Moosbrugger zu sichern verstehen, schöpft Richard einen, besonders in Ε 1 beträchtlichen semiotischen Mehrwert ab und ermöglicht so dem toten und ,,geschändete[n]" (E 2: 308) Eber ein imaginäres ,Überleben' im Traum - als Symptom von Richards Traumatisierung und als Erinnerung an das Erlebte.

verweist darüber hinaus zumindest rudimentär auf eine Deutung des vermeintlichen ,Zufalls' als Folge von Teufelspakt und Treffzauber; vgl. zur Freikugel- und Freischützthematik BACHTOLD-STÄUBLI 1987b, c und d. Schon in Johann Friedrich Kinds Libretto zu Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz (1821 ff.), das auf Johann August Apels und Friedrich Launs Gespensterbuch (1810 ff.) zurückgeht, rufen Brautwerbung, Probeschuß und Treffzauber phallische Konnotationen ab (Kuno zu Max: „Dann mußt du entsagen! Leid oder Wonne, beides ruht in deinem Rohr!", WEBER 1996: 23).

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KULTUR

NATUR

MENSCH

TIER

„Knabe" Richard: Beobachter, noch nicht 16 Jahre alt „Jflgerbursche" Breyer:, „Eleve", „knapp z w e i Jahre a h e r "

J u n g e r Mann": erfolgreicher Schütze , j e c h n e t e ihn {den glücklichen ^ Zufall] d e m Manne zu"

NICHT-LEBEN: TRAUM imaginäre .Beule' Richards: „dafür trai Guilin Burst i