Politik, Religion und Recht [1 ed.] 9783428544196, 9783428144198

Der Sammelband unternimmt den Versuch, das Verhältnis von Politik, Religion und Recht unter besonderer Berücksichtigung

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Politik, Religion und Recht [1 ed.]
 9783428544196, 9783428144198

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 88

Politik, Religion und Recht Herausgegeben von Martin Schulte

Duncker & Humblot · Berlin

Politik, Religion und Recht

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 88

Politik, Religion und Recht Herausgegeben von

Martin Schulte

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wusterhausen Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-14419-8 (Print) ISBN 978-3-428-54419-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84419-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Sammelband fasst die Vortra¨ge eines wissenschaftlichen Fachgespra¨chs zusammen, das den Versuch unternahm, das Verha¨ltnis von Politik, Religion und Recht unter besonderer Beru¨cksichtigung der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht der christlichen Kirchen zu analysieren. Dazu sollten die Wechselwirkungen zwischen Politik, Religion und Recht (aus systemtheoretischer Perspektive die „Irritationen“) in einem zeitlichen La¨ngs- und einem thematischen Querschnitt untersucht werden. Entwicklungsgeschichte war dabei nicht zu erwarten. Vielmehr ging es um die mehr oder wenige zufa¨llige Emergenz von Ereignissen, die gleichsam als take-off eines evolutorischen Sprungs genutzt werden ko¨nnen. Ein erster solcher Sprung ko¨nnte in der sog. Gregorianischen Revolution des 11. bis 13. Jahrhunderts zu finden sein. In dieser Zeit gelang es dem Recht, sich als Korpus von Rechtsgrundsa¨tzen und Rechtsverfahren zu verselbsta¨ndigen; erstmals erstarkten kirchliche und weltliche Zentralgewalten; Europa erlebte die Gru¨ndung seiner ersten Rechtsschulen. All diese Umsta¨nde trugen zur „Bildung der modernen westlichen Rechtssysteme“ (Berman, Recht und Revolution, 1995, S. 193 ff.) bei, als deren erstes sich das Kanonische Recht der ro¨misch-katholischen Kirche herauskristallisierte. Vor seinem Hintergrund und in Konkurrenz zu ihm schufen auch die europa¨ischen Ko¨nigreiche ihre eigenen weltlichen Rechtsordnungen und die freien Sta¨dte Europas gaben sich ihr erstes Stadtrecht. Daneben waren aber auch religio¨se Kra¨fte am Werk. Und hier ist ganz maßgeblich die sog. pa¨pstliche Revolution zu nennen, allen voran das Wirken Papst Gregor VII., der 1075 die politische und juristische Oberhoheit des Papsttums u¨ber die ganze Kirche, letztlich aber auch in weltlichen Angelegenheiten proklamierte und die Unabha¨ngigkeit des Klerus von weltlicher Kontrolle forderte. Der sich anschließende sog. Investiturstreit zwischen Ko¨nigtum und Kirche fand mit dem Wormser Konkordat (1122) in einem bis heute fortwirkenden „Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem“ (Berman, ebd.) sein Ende (s. dazu vorliegend Hecke/Tyrell).

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Vorwort

Aber dabei wird man vermutlich nicht stehen bleiben du¨rfen. Mu¨ssen denn nicht auch die Konfessionalisierung des 16. Jahrhunderts (s. dazu vorliegend Krischer), die Sa¨kularisierung des 18. und 19. Jahrhunderts (s. dazu vorliegend Otto/Pollack) sowie die aktuellen Entwicklungen in Richtung auf eine von religio¨ser Pluralita¨t gekennzeichnete Multiple Moderne (s. dazu vorliegend Hense) als evolutorische Spru¨nge im Verha¨ltnis von Politik, Religion und Recht begriffen werden? Und welche Irritationen sind dadurch im Verha¨ltnis von staatlichem und kirchlichem Recht ausgelo¨st worden? Dieser zeitliche La¨ngsschnitt der Ko-Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht soll durch einen thematischen Querschnitt vertieft werden. Als Untersuchungsfelder bieten sich dabei das Organisations- und Personenrecht der christlichen Kirchen an. Aus dem Bereich des kirchlichen Organisationsrechts ko¨nnten insoweit das kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht, das kirchliche Stiftungsrecht und das kirchliche Bildungswesen besonders aufschlussreich sein. A¨hnliches la¨sst sich mit Blick auf das kirchliche Personenrecht fu¨r die Bereiche des kirchlichen Eherechts und des kirchlichen Strafrechts vermuten. Im Rahmen des Fachgespra¨chs wurden dabei erste Detailbeobachtungen zum kirchlichen Strafrecht (s. dazu vorliegend Rees) und zu den aktuellen Problemen des Kirchenaustritts (s. dazu Schulte) vorgenommen, von denen sich weiterfu¨hrende Erkenntnisse u¨ber die wechselseitige Verarbeitung von Irritationen im Verha¨ltnis von staatlichem und kirchlichem Recht erhoffen lassen. Den Autoren des Sammelbandes gebu¨hrt mein ganz besonderer Dank fu¨r ihre Mitwirkung und die große Geduld, die sie dem Entstehungsprozess eines solchen, spezifischen Eigengesetzlichkeiten gehorchenden Sammelwerkes entgegengebracht haben. Dem Inhaber und Gescha¨ftsfu¨hrer des Verlags Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon, danke ich ein weiteres Mal fu¨r die großzu¨gige Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm, diesmal in die Reihe der „Wissenschaftlichen Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“. Dresden, im Januar 2017

Martin Schulte

Inhaltsverzeichnis Simon Hecke und Hartmann Tyrell Religion, Politik und Recht. Die „pa¨pstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andre´ Krischer Die Konfessionalisierung des englischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . .

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Ru¨diger Otto und Detlef Pollack Der religio¨se Umbruch im ausgehenden 18. Jahrhundert . . . . . . . . .

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Ansgar Hense Shmuel N. Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“ und die Ordnungskonfiguration(en) von Staat und Religion. Anmerkungen aus europa¨isch-rechtswissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . 115 Wilhelm Rees Evolution im Strafrecht der ro¨misch-katholischen Kirche mit besonderem Blick auf die delicta graviora und die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete Strafrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Martin Schulte Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht. Dargestellt am Beispiel des Kirchenaustritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Religion, Politik und Recht Die „pa¨pstliche Revolution“ und ihre „dualistischen“ Rechtsfolgen Von Simon Hecke und Hartmann Tyrell, Bielefeld I. Einleitung ¨ berlegungen sind das Ergebnis einer GegenstandsDie nachfolgenden U beobachtung aus der „Außenperspektive“: Ihre Autoren sind weder Rechtsnoch Kirchenrechtswissenschaftler, auch keine Historiker der Religionsoder Politikgeschichte, sondern in der Hauptsache Soziologen. Sie sind Vertreter einer Disziplin, deren Kennzeichen gerade das Fehlen einer allgemein zuerkannten Zusta¨ndigkeit fu¨r die Beobachtung und Beschreibung eines bestimmten gesellschaftlichen Teilsystems – etwa das der Religion, des Rechts oder der Politik – beziehungsweise dessen jeweiliger Vergangenheit ist und deren eigener Gegenstandsbereich, alles Soziale, sich zu den unterschiedlichen sachlichen, zeitlichen und sozialen Unterscheidungen des Wissenschafts- und des Gesellschaftssystems „querliegend“ bzw. umfassend verha¨lt. Die Perspektive des Außenstehenden ist fu¨r die Soziologie daher keineswegs unu¨blich, ja fu¨r sie als wissenschaftliche Disziplin geradezu konstitutiv.1 Nachteil einer so verstandenen „Außenperspektive“ auf Pha¨nomene unterschiedlichster gesellschaftlicher Kontexte und Zeiten ist sicherlich ein gewisser „Dilettantismus“, den sich die Soziologie von an1 Vgl. dazu Andre´ Kieserling, Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beitra¨ge zur Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt am Main 2004, insb. S. 16 ff. u. S. 46 ff. Zum Verha¨ltnis der Soziologie zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen vgl. etwa auch Johannes F. K. Schmidt, Die Differenz der Beobachtung. Einfu¨hrende Bemerkungen zur Luhmann-Rezeption, in: Henk de Berg/Johannes F. K. Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie, Frankfurt am Main 2000, S. 8–37, hier S. 14 ff.; zur soziologischen „Außenbeobachtung“ des Rechts vgl. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 360 f. sowie ders., Vorwort, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beitra¨ge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1981, S. 7 ff.

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Simon Hecke und Hartmann Tyrell

deren wissenschaftlichen Disziplinen stets vorwerfen lassen muss: Nie wird sie die gleichen Kompetenzen fu¨r einen Gegenstand mit- und aufbringen ko¨nnen wie dies das Fach, das hier die Prima¨rzusta¨ndigkeit beansprucht, vermag. Sichtbeschra¨nkungen ko¨nnen jedoch bekanntlich auch Bedingung einer „Sichtermo¨glichung“ sein, und so ist es in vielen Fa¨llen gerade der Vorteil des soziologischen „zweiten Blicks“, dass er eine Perspektive auf einen Gegenstand entwirft, die sich von jenen der anderen wissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet, sich na¨mlich „inkongruent“2 zu ihnen verha¨lt und damit gu¨nstigenfalls nicht nur fu¨r die Soziologie selbst, sondern auch fu¨r die am Gegenstand interessierten anderen Beobachter neue und interessante Einsichten pra¨sentiert. Sind damit bereits die Sorgen u¨ber und der Anspruch an die hier gewa¨hlte Perspektive formuliert, so la¨sst sich diese jedoch inhaltlich noch weiter spezifizieren: Sie ist ihrerseits evolutions- und differenzierungstheoretisch interessiert, fokussiert auf historische Prozesse der Trennung und Autonomisierung von Religion, Politik und Recht, und sie nimmt dabei die These einer besonderen, fu¨r die Ausdifferenzierung der genannten gesellschaftlichen Teilbereiche geradezu „katalysatorischen“ Bedeutung dessen auf, was in der Literatur als Kirchenreform und Investiturstreit, bisweilen aber auch als „pa¨pstliche Revolution“ bezeichnet worden ist.3 Bereits die damit verwendete Begrifflichkeit verra¨t die Orientierung an vor allem zwei Autoren: an Niklas Luhmann und Harold J. Berman. Fu¨r die rechtstheoretische und rechtsgeschichtliche Bezugnahme auf beide zugleich spricht neben anderem, dass die spa¨ten gesellschaftstheoretischen Schriften Luhmanns das wohl prominenteste Exempel fu¨r die Rezeption von Bermans vieldiskutierter Studie Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition

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Zur „inkongruenten Perspektive“ der Rechtssoziologie vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 10 ff. Der Begriff selbst geht zuru¨ck auf Kenneth Burke, Permanence and Change: An Anatomy of Purpose, New York 1935, S. 95 ff. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hartmann Tyrell, Investiturstreit und gesell¨ berlegungen aus soziologischer Sicht, in: Karl Gabriel/ schaftliche Differenzierung – U Christel Ga¨rtner/Detlef Pollack (Hrsg.), Umstrittene Sa¨kularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, S. 39–77; vgl. dort aber auch die folgenden Historikerbeitra¨ge von Gerd Althoff, Wilfried Hartmann, Sita Steckel und Otto Gerhard Oexle; zuletzt auch Detlef Pollack, Die Genese der westlichen Moderne. Religio¨se Bedingungen der Emergenz funktionaler Differenzierung im Mittelalter, in: FMSt 47, 2013, S. 273–305; auch hier folgen auf historischer Seite Beitra¨ge von Sita Steckel und Gerd Althoff.

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innerhalb der Soziologie darstellen.4 Sind die Bezu¨ge Luhmanns auf das angesprochene Werk Bermans auch vergleichsweise zahlreich,5 so geht es dem Soziologen dabei in der Mehrzahl und Hauptsache doch um die Ausdifferenzierung und operative Schließung des Rechtssystems im 11./12. Jahrhundert.6 Als Bedingung fu¨r den „take off“ dieser rechts- wie gesellschaftsgeschichtlich so folgenreichen Entwicklung nennt Luhmann im Evolutionskapitel seiner Schrift Die Gesellschaft der Gesellschaft das Hinzutreten von „Zufallsereignissen wie die Entdeckung der ro¨mischen Rechtstexte des Corpus Iuris Civilis, die normannische Eroberung Englands mit der Folge einer gerichtlichen Durchsetzung des Ko¨nigsrechts und vor allem die Kirchenreform“ zu einer „gesellschaftlich eingebetteten Rechtspflege“ in einem knappen Zeitraum von nur „wenigen Jahrzehnten“.7

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Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt am Main 1991. Zur andauernden, vorwiegend rechtswissenschaftlichen Diskussion der erstmals 1983 im englischsprachigen Original erschienenen Studie vgl. aus einer Vielzahl von Rezensionen bereits fru¨h und kritisch Peter Landau, Review: Harold Berman, Law and Revolution, in: University of Chicago Law Review 51, Heft 3, 1984, S. 937–943; Kenneth Pennington, Review: Harold Berman, Law and Revolution, in: The American Journal of Comparative Law 33, Heft 3, 1985, S. 546–548; Rudolf Schieffer, „The Papal Revolution in Law“? Ru¨ckfragen an Harold J. Berman, in: Bulletin of Medieval Canon Law 22, 1998, S. 19–30; durchweg besta¨tigend Uwe Wesel, Die Revolution von 1075. Zu Harold J. Bermans bahnbrechender Studie, in: Die Zeit, Nr. 63, 1991, S. 46; sowie neuerdings auch die Beitra¨ge in der Rubrik „Forum“ eines ju¨ngeren Heftes ¨ berblick zu den der Zeitschrift Rechtsgeschichte 21, 2013, S. 156–227. Einen guten U Thesen Bermans und ihrer fru¨hen Rezeption in der Rechtswissenschaft bietet Richard H. Helmholz, Harold Berman’s Accomplishment as a Legal Historian, in: Emory Law Journal 42, Heft 2, 1993, S. 475–496. 5 Vgl. vor allem Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, S. 19 f. m. Anm. 22, S. 62 m. Anm. 38, S. 161 Anm. 56, S. 265 Anm. 57, S. 282 m. Anm. 87, S. 284 m. Anm. 92; aber auch ders., Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 227 m. Anm. 3; ders., Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 199 m. Anm. 19; oder ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 388 m. Anm. 346, S. 443 m. Anm. 59, S. 566 m. Anm. 273, S. 571 f. m. Anm. 282, S. 974 ff. m. Anm. 182. 6 Vgl. hierzu insb. Luhmann, Das Recht, S. 62. 7 Luhmann, Die Gesellschaft, S. 443 Anm. 59. Auch in Die Politik, S. 199 Anm. 19 za¨hlt Luhmann neben dem „Unabha¨ngigkeitsstreben der Papstkirche“ die „mit Hilfe von Recht straff organisierten Herrschaftsbildungen in den normannischen Eroberungsgebieten (England, Sizilien)“ sowie „die Anschubhilfe durch die neu gefundenen Texte des ro¨mischen Zivilrechts“ zu den Bedingungen und Indikatoren einer „revolutionsartigen Ausdifferenzierung“ des Rechtssystems.

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Simon Hecke und Hartmann Tyrell

Damit ist in groben Zu¨gen umrissen, worum es im Folgenden gehen soll. Im Vordergrund wird stehen, was bei Luhmann recht konventionell Kirchenreform, bei Berman aber Papstrevolution heißt,8 sich in beiden Fa¨llen jedoch nicht trennen la¨sst vom sog. „Investiturstreit“. Letzterer interessiert hier vor allem als ein Streit, als ein Konfliktsystem; nicht zuletzt als eines, in dem von beiden Parteien sowohl um das Recht als auch mit dem Recht gestritten wurde. Nicht ohne Beru¨hrung, aber durchaus nicht „eng gekoppelt“ mit diesem Streit hat sich dann jene so resonanzstarke Entdeckung des ro¨mischen Zivilrechts vollzogen. Dabei geht es um einen unbedingt lokalen, auf einen Ort, na¨mlich Bologna konzentrierten Vorgang, um eine Entwicklung von „rapider Schnelligkeit“, ausgehend von einer Stadt und im Wesentlichen gar von einer Person: dem als Kenner des ro¨mischen Rechts mit bald erheblicher Reputation ausgestatteten Irnerius.9 Bologna ist aber nicht nur der Ort der Wiederentdeckung der justinianischen Rechtssammlungen und der Entwicklung einer darauf bezogenen Rechtslehre; es ist auch der Ort, an dem seit ca. 1120 das Decretum Gratiani entsteht, also jene Sammlung, die in der Geschichte des Kirchenrechts gern als „Vollendung und Beginn zugleich“ beschrieben wird.10 Das fu¨hrt auf einen anderen, bei Luhmann11 nur angedeuteten maßgeblichen Befund: den der zwei Rechtssysteme, die sich in Europa seit dem 12. Jahrhundert in der mittelalterlichen Sozialstruktur festsetzen. Gemeint ist der „Dualismus von 8

Insb. kritisch gegen den Revolutionsbegriff bei Berman Schieffer, Ru¨ckfragen; Berman gegen diese Kritik verteidigend Gerhard Dilcher, Bermans „Law and Revolution“ – eine rechtshistorische Revolution?, in: Rechtsgeschichte 21, 2013, S. 164–171, hier insb. S. 165 f. m. Anm. 18. 9 Vgl. Herbert Grundmann, Vom Ursprung der Universita¨t im Mittelalter, 2. erw. Aufl., Darmstadt 1964, S. 40 f., Zitat: ebd.; Gerhard Otte, Die Rechtswissenschaft, in: Peter Weimar (Hrsg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, Zu¨rich/ Mu¨nchen 1981 (= Zu¨rcher Hochschulforum, Bd. 2), S. 123–142, hier S. 123 ff.; Peter Landau, Bologna. Die Anfa¨nge der europa¨ischen Rechtswissenschaft, in: Alexander Demandt (Hrsg.), Sta¨tten des Geistes. Große Universita¨ten Europas von der Antike bis zur Gegenwart, Ko¨ln et al. 1999, S. 59–74. 10 Vgl. Landau, Bologna, S. 64 f.; ders., Gratian and the Decretum Gratiani, in: Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington (Hrsg.), The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX, Washington, D.C 2008 (= History of Medieval Canon Law), S. 22–54, hier insb. S. 22 f.; ferner Hartmut Zapp, Art. „Corpus Iuris Canonici“, in: Lex.MA III, 1986, Sp. 263–270, hier Sp. 264, Zitat: ebd. 11 Vgl. etwa Luhmann, Das Recht, S. 284; ders., Die Gesellschaft, S. 974; ders., Die Politik, S. 199.

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kirchlichem und weltlichem Rechtssystem“, wie es bei Berman heißt.12 Dass es ums Recht, aber um zweierlei Recht geht, ist diesem ein wesentliches Anliegen.13 Mit Peter Landau kann man hinzufu¨gen: um „zwei Rechtssysteme […], die sich erga¨nzten, die aber von unterschiedlichen rechtserzeugenden Instanzen Ursprung und Geltung ableiteten: das weltliche Zivilrecht und das kanonische Recht“.14 Der vorliegende Beitrag will versuchen, die konstitutive Zweiheit des mittelalterlichen Rechts auf die sog. „pa¨pstliche Revolution“ zu beziehen. Dabei ist die hochmittelalterliche Bifurkation des europa¨ischen Rechts in ihrer Bedeutung fu¨r die weitere Rechts- und Gesellschaftsentwicklung kaum zu u¨berscha¨tzen. Wa¨hrend es bei Luhmann vor allem die Fru¨hzeitigkeit der Ausdifferenzierung und Autonomisierung des Rechtssystems im Ganzen ist, die fu¨r ihn eine im weltweiten Vergleich so auffa¨llige „Abweichung“ Europas von anderen Weltregionen und Rechtskulturen begru¨ndet,15 ist es bei Berman und Landau doch vor allem „die Koexistenz und Konkurrenz verschiedener Rechtsprechungen und Rechtssysteme in derselben Gesellschaft“, die interne Differenzierung des Rechts in ein kirchliches und weltliches, ja schließlich die „Tatsache dieser doppelten Rechtsordnung“ ro¨mischen und kanonischen Rechts, die die „Besonderheit der europa¨ischen Rechtskultur“ gegenu¨ber jenen anderer Weltregionen auszeichnet.16 „Der Dualismus von kirchlicher und weltlicher Rechtsprechung ist ein hervorstechender, vielleicht sogar einmaliger Zug der westlichen 12

Berman, Recht, S. 195. Vgl. etwa ebd., S. 16, S. 28 ff., S. 145 f., S. 195, S. 367 ff., S. 434 f. oder S. 439 ff. 14 Peter Landau, Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europa¨ische Rechtskultur, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europa¨ische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991 (= Schriften zur Europa¨ischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 3), S. 39–57, hier S. 39. 15 Vgl. insb. Luhmann, Das Recht, S. 62 – hier wie anderswo durchaus auch mit Verweis auf Berman. 16 Berman, Recht, S. 28 f., resp. Landau, Einfluß, S. 39. Bei Luhmann findet sich wiederum die Idee, dass die Differenzierung des Rechts in kirchliches und weltliches die Fru¨hzeitigkeit seiner gesellschaftlichen Ausdifferenzierung bedingt: „Das Rechtssystem“, so Luhmann, Die Gesellschaft, S. 566, „erreicht schon im 11./12. Jahrhundert eine bemerkenswerte Unabha¨ngigkeit vom Feudalsystem, das die Politik noch beherrscht, und von den dogmatischen Pra¨missen der Religion, weil es als Instrument der Differenzierung von Religion (kanonischem Recht) und Politik (Landrecht, Stadtrechte, Feudalrechte) und fu¨r den Aufbau einer territorial weitra¨umigen Herrschaftsorganisation sowohl der Kirche als auch der neu sich bildenden Territorialstaaten (England, Sizilien) eingesetzt wird und den damit gegebenen Anforderungen an Pra¨zision und A¨nderbarkeit genu¨gen muß“. 13

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Kultur“, heißt es bei Berman im Schlussabschnitt der seine Studie einlei¨ berlegungen Auf dem Wege zu einer gesellschaftlichen Theorie des tenden U 17 Rechts. Offensichtlich sind hier die gedanklichen Parallelen zu einem weiteren großen, fu¨r unseren Beitrag ebenso wichtigen Soziologen: Max Weber. Fu¨r Weber za¨hlt der mittelalterliche „Dualismus mit leidlich deutlicher Scheidung der beidseitigen Gebiete, wie sie in dieser Art anderwa¨rts nirgends existiert hat,“ zur Kernzone der rational disponierten „Eigentu¨mlichkeiten“ der abendla¨ndischen Sozialstruktur.18 Ohne das okzidentale Recht ist fu¨r ihn die Eigenart der okzidentalen Moderne gar nicht zu erfassen.19 Es lohnt sich folglich auch soziologischerseits, die dualistischen Rechtsfolgen der pa¨pstlichen Revolution genauer zu besehen und zu versuchen, mitzudenken bei der Frage, warum – greift man eine in Dresden benutzte Formulierung Martin Schultes auf – der „evolutiona¨re Sprung“ im Verha¨ltnis von Religion, Politik und Recht zu einem sich stabilisierenden Nebeneinander von zweierlei Recht gefu¨hrt hat. Der erste Teil (II.) dieses soziologischen „Gedankenbeitrags“ stellt einige ¨ berlegungen zum Verha¨ltnis, besser: zu Verha¨ltnissen eher typologische U von Religion und Politik an. Hier geht es uns vor allem um solche, in denen sich die Unterscheidbarkeit beider Funktionskontexte gewissermaßen von selbst zeigt. Der Dualismus von Religion und Politik nimmt dabei, gerade in seiner seit der Spa¨tantike fu¨r Europa eigentu¨mlichen Fassung, eine prominente Stellung ein. Jener Dualismus ist im Zeitraum von 1073 bis 1122, jenen Rahmendaten des sog. Investiturstreits, ein Dualismus des Konflikts, der beide Seiten, die des Papstes und die des Kaisers, nachhaltig auf das Recht verweist und sie beide, wenn man so sagen darf, auf den Rechtsweg schickt – wenn auch nicht gleichzeitig. Bologna stellt dafu¨r, ohne unmittelbar involviert zu sein, die Denkmittel bereit. Dies geho¨rt dann bereits in den zweiten Teil (III.) des Beitrags, der sich hauptsa¨chlich mit dem Dualismus von kirchlichem und weltlichem Recht befasst. Die, mit Luhmann gesprochen, „Ausdifferenzierung des Rechts“20 hat sich in der unwahrscheinlichen Stabilisierung von zweierlei Recht voll17

Berman, Recht, S. 81. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die wirtschaftlichen Ordnungen und Ma¨chte. Nachlaß. Teilband 3: Recht, hrsg.v. Werner Gephart/Siegfried Hermes, Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 22–3, Tu¨bingen 2010 (im Weiteren: MWG I/22–3), S. 544 f. 19 Vgl. Werner Gephart, Einleitung, in: MWG I/22–3, S. 56. 20 Luhmann, Ausdifferenzierung. 18

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zogen: einer Rechtsentwicklung im Neben-, Mit- und Gegeneinander. Jenseits des Kirchenrechts ist damit einerseits das in Bologna gelehrte ro¨mische „Idealrecht“ gemeint und andererseits die Diversita¨t der „weltlichen“ Rechtsordnungen, die sich im Mittelalter vom Ko¨nigsrecht bis hin zu den Stadtrechten entfaltet und vor allem im 13. Jahrhundert zu einer Vielzahl von Kodifikationen fu¨hrt.21 Der dritte Teil (IV.) gibt abschließend einen kurzen, aber langfristigen historischen Ausblick auf die weitere Entwicklung des kirchlichen und weltlichen Rechts. Darunter fa¨llt auch jene eindrucksvolle Entwicklung des kanonischen Rechts, die als die von einem „Gesellschaftsrecht“ im Mittelalter zu einem „Organisationsrecht“ in der modernen Gesellschaft bezeichnet werden kann. II. Religion und Politik: Typologien ihrer Verha¨ltnisse Im Folgenden geht es uns, was den gedanklichen Ausgangspunkt angeht, um Differenzierung, um gesellschaftliche Konstellationen, in denen Religion und Politik unterscheidbar werden. Dabei weicht die hier gewa¨hlte „korrelative“ Darstellungsart allerdings ab von der Art, in der Differenzierung bei Luhmann vorzugsweise zur Darstellung kommt, na¨mlich als Ausdifferenzierung jeweils eines bestimmten Funktionssystems gegenu¨ber seiner innergesellschaftlichen Umwelt.22 Die Rede Luhmanns etwa von der „Religion der Gesellschaft“ oder der „Politik der Gesellschaft“ ist in eben diesem Sinne zu verstehen.23 Uns ist es hier jedoch um die „Auseinanderentwicklung“ von Religion und Politik unter bestimmten Problem21 Auf die Bedeutung der Frage nach „der Beziehung dieses Pluralismus [gemeint ist jene Diversita¨t weltlichen Rechts; Einf. d. Verf.] zu dem Dualismus von weltlich und kirchlich“ hat Berman, Recht, S. 81, nachdru¨cklich hingewiesen. Wir kommen auf diesen Sachverhalt zuru¨ck. Zur Kodifizierungswelle vgl. Armin Wolf, Gesetzgebung und Kodifikationen, in: Weimar, Die Renaissance, S. 143–171, hier insb. S. 148 ff. 22 Vgl. hierzu und zum Folgenden bereits ausfu¨hrlich Hartmann Tyrell, Katholische Weltkirche und Religionsfreiheit. Christentumsgeschichtliche und differenzierungstheore¨ berlegungen, in: Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler (Hrsg.), Religionstische U freiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, Paderborn et al. 2010, S. 197–260, hier S. 212 ff. Dort auch zu den Anleihen, die die hier gewa¨hlte Darstellungsart bei Max Weber genommen hat. 23 Vgl. Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 269–357; ferner ders., Die Religion, u. ders., Die Politik.

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gesichtspunkten zu tun. Unter Beiseitelassung der modernen Trennungsordnung24 sind vier religio¨s-politische Problemstellungen gewa¨hlt, mit denen sich das kultur- und religionshistorische Material auf verschiedene Kontrasttypen hin ordnen la¨sst. Von allen vier Problembezu¨gen aus soll dabei jeweils ein Blick auf das europa¨ische Hochmittelalter, insbesondere auf das 11. und 12. Jahrhundert, geworfen werden. Das vierte Problem und mit ihm der fu¨r die europa¨ische Sozialstruktur typische Fall ¨ berdes religio¨s-politischen Dualismus fu¨hrt dann – gleichsam in seiner U tragung auf die Spha¨re des hochmittelalterlichen Rechts – in den zweiten Teil des Beitrags. Koextension – Dissoziation. Das erste Problem betrifft das Verha¨ltnis zwischen den kommunikativen Reichweiten und Grenzen von Religion einerseits und den politischen Gegebenheiten andererseits unter dem Gesichtspunkt ihrer Kongruenz bzw. Divergenz oder auch: „Koextension“ bzw. „Dissoziation“. Drei Konstellationen von Religion und Politik lassen sich in diesem Sinne unterscheiden, wobei – der Logik nach – eine auf der Seite der Kongruenz und Koextension religio¨ser und politischer Grenzen liegt, zwei hingegen auf der Seite ihrer Divergenz und Dissoziation. Den klassischen Fall einer koextensiven religio¨s-politischen Konstellation bildet die griechische Polis mit ihrer Stadtgottheit und ihrem stadteigenen Kult. Historische Fa¨lle, in denen hingegen der politische Verband u¨ber die religio¨sen Unterscheidungen hinausgreift, seine Reichweiten also jene der Religionen und Kulte u¨berbietet und damit die politischen und die religio¨sen Grenzen dissoziieren la¨sst, sind die antiken Großreiche, so etwa auch das (vorkonstantinische) ro¨mische Weltreich. Gerade im Falle des „Systems der ro¨mischen Reichsreligion“ war das Spektrum dessen, was als „zugelassene Religion“, was aber auch „unterhalb davon“ an fremden Kulten (sacra peregrina) geduldet wurde, ausgesprochen breit.25 Bekannt ist, dass das so politikferne fru¨he Christentum einer solchen religio¨s-pluralen und „toleranten“ Großreichskonstellation entstammt und dass seine missionarische Verbreitung nur innerhalb einer solchen mo¨glich war. Der zweite religio¨s-politische Dissoziationsfall ist jener, bei dem – in Umkehrung zum ersten – die kommunikativen Reichweiten auf der reli24 Vgl. etwa Horst Dreier, Sa¨kularisierung und Sakralita¨t. Zum Selbstversta¨ndnis des modernen Verfassungsstaates, Tu¨bingen 2013 (= Fundamenta Juris Publici, Bd. 2). 25 Vgl. Hubert Cancik, System und Entwicklung der ro¨mischen Reichsreligion: Augustus bis Theodosius I., in: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die Anfa¨nge des Christentums, Frankfurt am Main 2009, S. 373–396, hier S. 378 ff.

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gio¨sen Seite u¨ber die politischen Grenzen hinausgehen. Dies trifft empirisch nun vor allem auf das Verha¨ltnis von Religion und Politik im europa¨ischen Mittelalter zu. Die „europaweite Einheit der ecclesia im Kontrast zur Mehrzahl der regna (incl. des sacrum imperium)“ ist doch gerade die „fu¨r den Okzident grundlegende und bleibende religio¨s-politische Strukturdifferenz“ gewesen.26 Ersichtlich ist, dass dies auf kirchlich-christlicher Seite einen religio¨sen Universalismus voraussetzt, wie er fu¨r Weltreligionen bestimmend ist.27 Diese sind – ha¨lt man sich an Luhmann – „Religionen, die ihre Glaubensinhalte allen Menschen anbieten ohne ethnische, vo¨lkische oder territoriale Einschra¨nkungen“.28 Auch ein zwischen Religion und Politik verschiedener Raumbezug wird hier deutlich: Wa¨hrend fu¨r das Politische der Bezug zum Raum, zum Territorium, konstitutiv ist, ist er es fu¨r die religio¨sen Verha¨ltnisse und ihre Reichweiten – wie etwa auch fu¨r die wirtschaftlichen – durchaus nicht. Gerade fu¨r die europa¨ische Geschichte seit dem Mittelalter fa¨llt daher allenthalben die Differenz ins Gewicht, die sich zwischen der territorial segmentierten Staatenvielfalt hier und den „transnationalen“ kommunikativen Reichweiten, die die Religion zustande bringt, dort auftut.29 So gerade auch im hochmittelalterlichen Recht, wo die angesprochene Einheit des Religio¨sen und die Vielheit des Politischen mit der Differenz zwischen einem seit Mitte des 12. Jahrhundert „gesamteuropa¨ischen Rechtssystem“30 der Kirche und einer Vielgestaltigkeit und „Vielra¨umigkeit“31 des weltlichen Rechts korrespondiert. Dem kanonischen Recht ste26

Tyrell, Investiturstreit, S. 74. Auch dies unterscheidet diesen Dissoziationsfall vom koextensiven Fall der griechischen Polis, bei der doch Politik wie Religion partikularistisch orientiert sind. Vgl. dazu auch Hartmann Tyrell, Religion und Politik. E´mile Durkheim und Max Weber, in: Richard Faber/Frithjof Hager (Hrsg.), Ru¨ckkehr der Religion oder sa¨kulare Kultur? Kulturund Religionssoziologie heute, Wu¨rzburg 2008, S. 192–208, hier S. 193. 28 Luhmann, Die Religion, S. 276. 29 Vgl. Tyrell, Katholische Weltkirche, S. 216. Zur Raumgliederung der Kirche und ihrer Divergenz zu anderen, etwa politischen oder linguistischen „Mustern der ra¨umlichen Ordnung“ im mittelalterlichen Europa vgl. auch Hans-Joachim Schmidt, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa, Weimar 1999 (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 37), hier insb. S. 11 u. S. 23 ff. 30 Richard H. Helmholz, Kanonisches Recht und europa¨ische Rechtskultur, Tu¨bingen 2013, S. 1. 31 Karl Kroeschell/Albrecht Cordes/Karin Nehlsen-von Stryk, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 2: 1250–1650, 9., aktual. Aufl., Ko¨ln et al. 2008, S. 1. 27

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hen hier mit dem Reichsrecht, Ko¨nigsrecht, Lehnrecht, Stadt- oder Landrecht usw. verschiedenartige, teils miteinander verschachtelte, teils sich gegenseitig ausschließende Rechtskreise gegenu¨ber.32 Einheitlichkeit und Reichweite, die das kanonische Recht in seiner klassischen Periode auszeichnen, sind – und dies ist Teil der Bermanschen These – nicht von der pa¨pstlichen Revolution zu trennen.33 Mit der Kirchenreform beginnt ein Prozess der Zentralisierung, Verdichtung und Verbreitung kirchlicher Kommunikation in Europa, der die lateinische Kirche zu einem gesellschaftsweit etablierten und vergleichsweise hochorganisierten sozialen Gebilde werden la¨sst, dessen Hierarchie nur eine Spitze – den Papst – und dessen Raumgliederung nur ein Zentrum – Rom – kennt, das sich aber „von Sizilien bis nach Skandinavien, von den britischen Inseln bis ins Baltikum“ erstreckt.34 In der Papstrevolution gewinnt der kirchliche „Anspruch auf All-Erstreckung und Freiheit von jeglicher o¨rtlichen Schranke“, von dem schon Georg Simmel im Kontrast zum „Raumcharakter des Staates“ sprach,35 eine realistische Kontur. Ein neues Raumversta¨ndnis und Raumbewusstsein kennzeichnet die Pontifikate seit Leo IX., und es ließe sich in diesem Zusammenhang vielleicht von einer im Vergleich zum Fru¨hmittelalter auffa¨lligen „Entprovinzialisierung“ des Petrusamtes sprechen. Das vera¨nderte Raumversta¨ndnis la¨sst sich vor allem am Reise- und Kommunikationsverhalten der Reformpa¨pste festmachen. Weitra¨umiges Bereisen der Christenheit – ein „Novum in der Geschichte des Papsttums“ –, aber auch der Ausbau des Legationswesens oder eine regelrecht weltweit gefu¨hrte Korrespondenz vermo¨gen seit der Mitte des 11. Jahrhunderts den Akti32

Vgl. ebd. Vgl. Berman, Recht, hier insb. S. 193 ff. u. S. 327 ff. 34 Vgl. Schmidt, Raumgliederung, Zitat: ebd., S. 514. Zum Zusammenhang von Zentralisierung und Verbreitung kirchlicher Kommunikation vgl. insb. auch die beiden Ba¨nde von Jochen Johrendt/Harald Mu¨ller (Hrsg.), Ro¨misches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpa¨psten bis zu Innozenz III., Berlin et al. 2008 (= Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Go¨ttingen, Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge, Bd. 2: Studien zu Papstgeschichte und Papsturkunden); dies. (Hrsg.), Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter, Berlin 2012 (= Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Go¨ttingen, Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge, Bd. 19: Studien zu Papstgeschichte und Papsturkunden). 35 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen u¨ber die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11, Frankfurt am Main 1992, S. 690 ff., Zitate: S. 693 resp. S. 691. 33

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onsradius der Pa¨pste merklich zu vergro¨ßern.36 Gerade fu¨rs letztere ist Gregor VII. immer wieder von der Forschung als Pionier bezeichnet worden: Der Protagonist des Investiturstreits auf kirchlicher Seite ist nach Rudolf Schieffer zugleich „anscheinend der erste Papst, der darauf aus war, mit allen irgendwie erreichbaren Herrschern seiner Zeit in brieflichen Kontakt zu treten, gleich ob sie sich ihrerseits bei ihm gemeldet hatten oder nicht“.37 Das kanonische Recht ist in jenem Vorgang der Zentralisierung und Expansion kirchlichen Entscheidens Promotor und Produkt zugleich. Es fungiert zuna¨chst als eines jener zentralen „Instrumente“, so Hubert Mordek, mit denen das Reformpapsttum versuchte, „die Kirche bis in ihre feinsten Vera¨stelungen hinein, die Gesamtkirche eben, erstmals auch realiter unter seine einigende Leitung zu stellen“.38 Dabei ist sowohl die Rechtsfo¨rmigkeit (man denke an die Dekretalen39) als auch die Rechtsgebundenheit 36

Vgl. Jochen Johrendt/Harald Mu¨ller, Zentrum und Peripherie. Prozesse des Austausches, der Durchdringung und der Zentralisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter, in: dies., Ro¨misches Zentrum, S. 1–16, hier insb. S. 2 ff., sowie ferner Thomas Wetzstein, Wie die urbs zum orbis wurde. Der Beitrag des Papsttums zur Entstehung neuer Kommunikationsra¨ume im europa¨ischen Hochmittelalter, in: Johrendt/Mu¨ller, Ro¨misches Zentrum, S. 47–75, Zitat: S. 60. Zu den Papstreisen vgl. auch Jochen Johrendt, Die Reisen der fru¨hen Reformpa¨pste. Ihre Ursachen und Funktionen, in: Ro¨mische Quartalschrift fu¨r christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 96, 2001, S. 57–94. 37 ¨ ber die papstgeschichtliche Wende im 11. JahrRudolf Schieffer, Muto proprio. U hundert, in: Historisches Jahrbuch 122, 2002, S. 38; vgl. auch ders., Papst Gregor VII. Kirchenreform und Investiturstreit, Mu¨nchen 2010, S. 38 ff. sowie ders., Gregor VII. und die Ko¨nige Europas, in: Alphons Maria Stickler et al. (Hrsg.), La Riforma Gregoriana e l’Europa, Congresso Internazionale, Salerno, 20–25 maggio 1985, Bd. I: Relazioni, Roma 1989 (= Studi Gregoriani 13), S. 189–211. Fu¨r Wetzstein, Der Beitrag des Papsttums, S. 61, ist das Briefregister Gregors „nicht allein gleichsam durchzogen von einem programmatischen Postulat der Raumbeherrschung. Sein Adressbuch umfasst daru¨ber hinaus neben den Herrschern und Pra¨laten in Deutschland, Italien, Frankreich, England und in den drei spanischen Reichen auch die Ko¨nige von Da¨nemark, Norwegen und Schweden, den Herzog von Polen, die Ko¨nige von Rußland, Ungarn, Serbien, Kroatien und Dalmatien, den Kaiser in Konstantinopel, Herrscher in Irland, ja gar im islamischen Mauretanien.“ 38 Vgl. Hubert Mordek, Kanonistik und gregorianische Reform. Marginalien zu einem nicht-marginalen Thema, in: Karl Schmid (Hrsg.), Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vortra¨ge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Gerd Tellenbach, Sigmaringen 1985, S. 65–82, hier S. 79. 39 Vgl. hierzu Lotte Ke´ry, Dekretalenrecht zwischen Zentrale und Peripherie, in: Johrendt/Mu¨ller, Ro¨misches Zentrum, S. 19–45; zur Dekretalengesetzgebung ferner auch Peter Landau, Rechtsfortbildung im Dekretalenrecht. Typen und Funktionen der Dekretalen des 12. Jahrhunderts, in: ZRG KA 86, 2000, S. 86–131.

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(man denke an die Legaten und delegierten Richter40) der pa¨pstlichen Herrschaftsmittel wesentlich sowie der durch die entstehende Kanonistik zunehmend abgestu¨tzte Leitungsanspruch der Pa¨pste selbst.41 Die lateinische Kirche entwickelt sich im Zuge der Papstrevolution zu einer, wie Luhmann sagt, „amtshierarchischen Organisation“, die ihre „internen Operationen […] unmittelbar und quasi justizfo¨rmig durch das Recht“ reguliert.42 Ihre Entscheidungen nehmen dabei „die Form der Entscheidung u¨ber Recht und Unrecht bestimmter Meinungen, Begehren, Handlungsweisen oder Vera¨nderungen“ an.43 Dies stellt Anforderungen an das Kirchenrecht, die dieses wiederum selbst zunehmend zentralisiert und universalisiert erscheinen la¨sst: Wa¨hrend „dem dezentralen Charakter des politischen Lebens der Kirche“ vor dem spa¨ten 11. Jahrhundert ein „dezentrale[r] Charakter des Kirchenrechts“ entspricht,44 tritt an die Stelle jener starken regionalen Tendenzen fru¨herer Epochen nunmehr der Anspruch auf universale Geltung und zentralistische Rechtsfortbildung.45 „[S]eit dem Investiturstreit und dann vor allem durch die Dekretalengesetzgebung der großen Pa¨pste des Hochmittelalters, Alexanders III. und Innozenz’ III.,“ entsteht, so dru¨ckt es Hans Erich Feine treffend aus, „der weltumspannende Bau des 40 Vgl. etwa Claudia Zey, Stand und Perspektiven der Erforschung des pa¨pstlichen Legatenwesens im Hochmittelalter, in: Johrendt/Mu¨ller, Rom und die Regionen, S. 157– 166, zum Legatenwesen; zu dessen rechtlichen Grundlagen schon Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Ru¨cksicht auf Deutschland, Bd. 1, Berlin 1869 (= Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, Bd. 3), S. 498 ff., insb. S. 507 ff.; und Harald Mu¨ller, Entscheidung auf Nachfrage. Die delegierten Richter als Verbindungsglied zwischen Kurie und Region sowie als Gradmesser pa¨pstlicher Autorita¨t, in: Johrendt/Mu¨ller, Ro¨misches Zentrum, S. 109–131 zu den iudices delegati. 41 Die zentralisierende Wirkung des Kirchenrechts, dies heben Johrendt/Mu¨ller, Zentrum und Peripherie, S. 10 f., hervor, verdankt sich dabei nicht immer auch Impulsen aus der kirchlichen Zentrale. Gerade das Decretum Gratiani, das „ohne Frage zum entscheidenden Baustein einer rechtlich und ekklesiologisch homogeneren Kirche“ wurde, ist nicht auf eine pa¨pstliche Initiative hin entstanden, sondern ist eine Privatarbeit, die u¨berdies nie offiziell von einem Papst in Geltung gesetzt wurde. 42 Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1977, S. 275, Herv. i. Orig. 43 Ebd. 44 Berman, Recht, S. 194, Einf. d. Verf. 45 Peter Landau, Die Anfa¨nge der Verbreitung des klassischen kanonischen Rechts in Deutschland im 12. Jahrhundert und im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Kanones und Dekretalen. Beitra¨ge zur Geschichte der Quellen des kanonischen Rechts, Goldbach 1997, S. 411–429, hier S. 411.

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klassischen kanonischen Rechts, das im Corpus Iuris Canonici seine Zusammenfassung erha¨lt und seinen Stoff zwar […] a¨lteren Perioden des Kirchenrechts entnimmt, aber ihn zum neuen pa¨pstlichen Weltrecht der unter ro¨mischer Leitung stehenden abendla¨ndischen Universalkirche umgestaltet.“46 Jede „o¨rtliche Beschra¨nkung abstreifend, da im wesentlichen pa¨pstlich, ein gemeines und universales Recht“,47 entwickelt sich das kanonische Recht im Zuge der pa¨pstlichen Revolution zu einem umfassenden und weitgehend unabha¨ngigen Rechtssystem der Kirche, dessen gesellschaftsumspannende Grenze mit jenen deutlich enger gezogenen Grenzen der weltlichen Rechtsordnungen und politischen Einheiten stark kontrastiert. Zivilreligion – Erlo¨sungsreligion. Fu¨r den zweiten Problemgesichtspunkt, unter dem hier das Verha¨ltnis von Religion und Politik betrachtet werden soll, wird eine religionssoziologische Unterscheidung Max Webers aufgegriffen. Sie entstammt dem Bereich der Religionstypologien und verweist auf zwei Entwicklungslinien des Religio¨sen, die dahingehend unterschieden werden ko¨nnen, welchen sozialen Kontexten bzw. sozialen Einheiten prima¨r ein Bedarf an Religion zugeschrieben wird: im einen Fall trifft die religio¨se Bedu¨rftigkeit politische Kollektive, hier geht es etwa ums Schicksal, um Heil oder Unheil von bspw. Stadt, Reich oder Nation; im anderen Fall trifft sie jene des Individuums, dort geht es also um die Existenzno¨te des Einzelnen oder auch das, was man die „Wechselfa¨lle des Lebens“ nennt. Weber differenziert diesbezu¨glich zwischen Gemeinschaftskulten und Erlo¨sungsreligionen.48 Erstere, insbesondere diejenigen „der politischen Verba¨nde“, ließen, so Weber, „alle individuellen Interessen aus dem Spiel. Der Stammesgott, Lokalgott, Stadtgott, Reichsgott ku¨mmerte sich nur um Interessen, welche die Gesamtheit angingen: Regen und Sonnenschein, Jagdbeute, Sieg u¨ber die Feinde. An ihn wendete sich also die Gesamtheit als solche im Gemeinschaftskult“.49 Von Fragen des individuellen Seelenheils 46 Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd.1: Die Katholische Kirche, 5., durchges. Aufl., Ko¨ln/Wien 1972, S. 3 f. 47 Ebd., S. 271 f. 48 Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsa¨tze zur Religionssoziologie I, Tu¨bingen 1920, S. 243 ff. Zur Unterscheidung auch Martin Riesebrodt, Religio¨se Vergemeinschaftungen, in: Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt (Hrsg.), Max Webers ,Religionssystematik‘, Tu¨bingen 2001, S. 101–118, hier S. 105 ff.; ferner Jose´ Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago/London 1994, S. 45 f., dazu auch Tyrell, Religion und Politik, S. 197 f. 49 Weber, Religionssoziologie I, S. 243.

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ist diese Form des Religio¨sen also ga¨nzlich unbelastet. Als eine Religion der und fu¨r die Politik tra¨gt sie stark laikalen Charakter und ist priesterlich professionell und religio¨s intellektuell vergleichsweise schwach betreut. Alles, was von der antiken theologia civilis des Varro bis hin zu Robert Bellahs civil religion reicht, darf fu¨r sie als Beispiel gelten.50 Erlo¨sungsreligionen hingegen sind nicht auf die kollektiven, sondern auf die individuellen Problemlagen gerichtet – auf Krankheit, Unglu¨ck, Sterblichkeit, Leid. Als Ansatzpunkte erlo¨sungsreligio¨ser Entwicklung fallen diese Probleme fu¨r Weber zuna¨chst in den Zusta¨ndigkeitsbereich der ,magischen Seelsorge und Therapie‘.51 Von dort schla¨gt die religio¨se Evolution dann jedoch einen weiten und unwahrscheinlichen Weg hin zu den großen intellektuell bearbeiteten Heils- und Erlo¨sungsreligionen ein. Entscheidend ist im Vergleich mit der Entwicklung der Gemeinschaftskulte nun, dass dieser Weg weitgehend abseits vom Politischen verla¨uft und auf religio¨ser Seite zu eigensta¨ndigen, „rein religio¨s“ bestimmten Gemeinschafts- und Gemeindebildungen fu¨hrt.52 Wa¨hrend Gemeinschaftskulte mit Blick auf das Verha¨ltnis von Religion und Politik stark an der politischen Seite ha¨ngen – an ihnen la¨sst sich Politisches und Religio¨ses nicht scharf unterscheiden und bleibt folglich im Wesentlichen undifferenziert –, ist die Erlo¨sungsreligiosita¨t vergleichsweise eindeutig auf das religio¨se Feld verwiesen, indem sie als „Gemeindereligiosita¨t“, so Weber, „die Emanzipation vom politischen Verbande am tiefsten vollzieht“.53 Vor Augen tritt natu¨rlich sogleich das anfangs so politikferne und in besonderer Weise auf das je individuelle Seelenheil konzentrierte Christentum. Fu¨r seine Distanz gegenu¨ber der Zivilreligion muss man nur an die ihm selbst unvergessliche Verweigerung gegenu¨ber dem ro¨mischen Kaiser-

50 Zu Varro vgl. etwa Jo¨rg Ru¨pke, Die Religion der Ro¨mer. Eine Einfu¨hrung. Mu¨nchen 2001, S. 121–125; klassische Referenz fu¨r Bellahs (von Rousseau angeregter) These u¨ber die US-amerikanische „Zivilreligion“ ist Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 96, 1967, S. 1–21. 51 Vgl. Weber, Religionssoziologie I, S. 243 f., S. 511. 52 Vgl. zum „rein Religio¨sen“ und seinem Bezug zur Differenzierung Hartmann Tyrell, „Religion“ in der Soziologie Max Webers, Wiesbaden 2014, S. 19 ff. 53 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die wirtschaftlichen Ordnungen und Ma¨chte. Nachlaß. Teilband 2: Religio¨se Gemeinschaften, hrsg.v. Hans G. Kippenberg, Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 22–2, Tu¨bingen 2001, S. 372.

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kult in seinen ersten drei Jahrhunderten erinnern.54 Die Option der Delegitimierung des Politischen – etwa in der clausula Petri, also dem Wort, dass Gott mehr zu gehorchen sei als den Menschen (Apg 5, 29) – bleibt im semantischen Haushalt des Christentums eine stabil verfu¨gbare Gro¨ße. Was nun die christliche Religion als eine Erlo¨sungsreligion angeht, so sei hier angemerkt: Das christliche Heilsversprechen trug „zugleich individuellen und universellen Charakter“, wie Weber formuliert: „Heil fu¨r den Einzelnen und fu¨r jeden Einzelnen“, der sich taufen ließ.55 Angesprochen waren also alle Menschen individuell, dabei jedoch gleichermaßen, also unabha¨ngig von ihrer ethnischen, verwandtschaftlichen oder sta¨ndischen Zugeho¨rigkeit. Gerade die „Destratifizierung“ (Andre´ Kieserling) der religio¨sen Inklusion in einer sonst doch prima¨r stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft ist hier bemerkenswert.56 Das individuelle Seelenheil ist vom Schichtstatus prinzipiell entkoppelt: Die A¨rmsten und Letzten, ansonsten weitgehend exkludiert, finden im Christentum Beru¨cksichtigung als Personen (und nicht etwa nur als „Ko¨rper“57) und du¨rfen gerade aufgrund ihrer leidvollen Stellung „in dieser Welt“ auf eine Erlo¨sung „in jener Welt“ hoffen. Fu¨r das Zeitalter der pa¨pstlichen Revolution la¨sst sich nun mit Blick auf die Unterscheidung von Zivil- und Erlo¨sungsreligion von einer versta¨rkten Trennung und dadurch versta¨rkten Verselbststa¨ndigung beider Formen des Religio¨sen sprechen. Dies wird gerade an der sich im und durch den religio¨s-politischen Konflikt a¨ndernden religio¨sen Rolle des weltlichen Herrschers deutlich. Die von kirchlicher Seite damals begonnene und anhaltende Negation der Herrschersakralita¨t und eine auf die scha¨rfere Scheidung zwischen Weltlichem und Geistlichem folgende „Verdra¨ngung des Ko¨nigtums aus dem Bereich des Sacerdotiums“ fu¨hrte nicht – jedenfalls nicht unmittelbar – zu einer „Entsakralisierung“ der mittelalterlichen Monarchie, sondern schickte diese, wenn man so will, versta¨rkt auf die Suche nach eigenen, a¨lteren wie neuen, sakralen wie sa¨kularen Quellen der Herrschafts54 Vgl. Hartmut Leppin, Politik und Pastoral – Politische Ordnungsvorstellungen im fru¨hen Christentum, in: Graf/Wiegandt, Anfa¨nge, S. 308–338. 55 Weber, Religionssoziologie I, S. 244. 56 Zu stratifizierten Gesellschaften vgl. den entsprechenden Abschnitt bei Luhmann, Die Gesellschaft, S. 678 ff. 57 Vgl. ebd., S. 618 ff. „Wa¨hrend im Inklusionsbereich Menschen als Personen za¨hlen, scheint es im Exklusionsbereich fast nur auf ihre Ko¨rper anzukommen.“ (ebd., S. 632 f.).

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legitimation.58 Dass die mittelalterlichen Ko¨nige auch ohne kirchliche „Legitimita¨tszuschu¨sse“ durchaus nicht ohne Eigensakralita¨t dastanden, darauf hat bereits Marc Bloch in seiner Studie zu den „wunderta¨tigen Ko¨nigen“ eindrucksvoll hingewiesen.59 „[N]un erst recht die Gottunmittelbarkeit und Erhabenheit des christlichen Ko¨nigs zu betonen“, ist nach Gerd Tellenbach eben eine von „zweierlei Weise[n]“, mit denen der „Staat“ der „Anfechtung“ des Gregorianismus zu begegnen versuchte.60 In der anderen Weise habe er sich hingegen auf die sa¨kulare Rechtfertigung seiner Herrschaft besonnen und diese im wiederauflebenden ro¨mischen Recht sowie im Naturrecht gefunden.61 Was hingegen die Seite der Erlo¨sungsreligion im genannten Zeitraum angeht, so ist ihre Differenzierung und Autonomisierung auch hier an der Behandlung der religio¨sen Rolle des Ko¨nigs zu erkennen. Ihrer Selbstbeschreibung und ihrem Herrschaftsanspruch nach inkludiert die mittelalterliche Kirche alle Gesellschaftsmitglieder.62 Fu¨r jedes ist hier eine partizipative Rolle vorgesehen: entweder auf Seiten der Kleriker oder auf Seiten der Laien. In Canossa wird sichtbar, dass dies selbst fu¨r den Ko¨nig gilt: entgegen dem a¨lteren rex et sacerdos-Gedanken ist dieser nun eindeutig als Laie bezeichnet. Heinrich III. war dagegen noch als „ein Dritter“, als „mediator cleri et plebis“ aufgetreten.63 An der kirchlich-religio¨sen Behandlung 58

Vgl. Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralita¨t im Mittelalter. Von den Anfa¨ngen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, S. 200 ff., Zitat: S. 213 f. 59 Marc Bloch, Die wunderta¨tigen Ko¨nige, Mu¨nchen 1998. 60 Gerd Tellenbach, Die Bedeutung des Reformpapsttums fu¨r die Einigung des Abendlandes, in: ders., Ausgewa¨hlte Abhandlungen und Aufsa¨tze, Bd. 3, Stuttgart 1988, S. 999–1023, hier S. 1013. 61 Vgl. ebd. Zum ro¨mischen Recht als Legitimationsquelle vgl. etwa Tilman Struve, Die Salier und das ro¨mische Recht. Ansa¨tze zur Entwicklung einer sa¨kularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Investiturstreits, Stuttgart 1999. 62 Vgl. hierfu¨r und zum Folgenden Tyrell, Investiturstreit, S. 54 f. 63 Jenseits der bina¨ren Unterscheidung von Klerikern und Laien ist eine dritte Position nicht vorgesehen. Bei dem Gregorianer Honorius Augustodunensis, zit. n. Wilfried Hartmann, Gregor VII. und die Ko¨nige: Auf dem Weg zur Hierokratie?, in: Karl Gabriel et al., Umstrittene Sa¨kularisierung, S. 101–133, hier: S. 122, heißt es entsprechend: „Entweder ist der Ko¨nig Laie oder Kleriker. Ist er kein Laie, dann ist er Kleriker. Und wenn er Kleriker ist, dann ist er entweder Ostiarier oder Lektor oder Exorzist oder Akoluth oder Subdiakon oder Diakon oder Presbyter. Wenn er keinen dieser Grade besitzt, dann ist er eben kein Kleriker. Wenn er dagegen weder Laie noch Kleriker ist, dann ist er Mo¨nch. Aber das dies nicht zutrifft, zeigen Frau und Schwert.“ Vgl. dazu Bloch, Ko¨nige, S. 212 f., der erga¨nzt,

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seines Nachfolgers und Sohnes, Heinrich IV., wird nun die „Nichtidentita¨t von sacerdotium und imperium“64 besonders deutlich: Zwischen dem Feld der Politik und jenem der Religion vergro¨ßert sich in Bezug auf den Ko¨nig gewissermaßen die Statusinkonsistenz – mag er auch im einen Feld die entscheidende und ho¨chste „Leistungsrolle“ innehaben, so wird ihm im anderen doch nun eine, wenn auch eine privilegierte „Publikumsrolle“ zugewiesen.65 Indem er in Canossa die Kirchenbuße „[w]ie ein gewo¨hnlicher Laie“ auf sich nahm, hat der Ko¨nig gezeigt, dass auch er und seinesgleichen dem geistlichen Richteramt des Papstes unterworfen sind.66 Eine versta¨rkte „Emanzipation vom Politischen“, eine individuelle und (weitgehend) universalistische Ansprache seiner Adressaten la¨sst sich also hier an der christlichen Religion als einer Erlo¨sungsreligion beobachten. Herrschaft und Heil – Einheit oder Zweiheit. Mit dem Begriffspaar „Herrschaft und Heil“ ist auf den Titel einer Studie von Jan Assmann angespielt, die die religio¨s-politischen Verha¨ltnisse des alten A¨gypten mit denen des alten Israel vergleicht.67 Es sind – im Zuge der Evolution des Politischen – ausgesprochen kontingente, aber u¨beraus folgenreiche historische Umsta¨nde gewesen, die zur Herrschaftsbildung in den fru¨hen Hochkulturen gefu¨hrt haben. „Bei den Indern“, so Max Weber, „ist das Fu¨rstentum ersichtlich aus der rein weltlichen Politik, aus den Kriegszu¨gen charismatischer Kriegsha¨uptlinge, herausgewachsen. In China dagegen […] aus dem Oberpriestertum. Welche historischen Vorga¨nge die Entstehung dieses u¨berall ho¨chst wichtigen Gegensatzes der Einheit oder Zweiheit der politischen und priesterlichen ho¨chsten Gewalt in diesem Fall erkla¨ren, dafu¨r ist wohl ausgeschlossen jemals auch nur bis zu hypothetischen Vermutungen

dass „die Mo¨nche, von denen viele nicht die Weihen besaßen, […] trotzdem dem Klerus zugerechnet“ wurden. 64 Tyrell, Investiturstreit, S. 73. 65 Vgl. dazu auch etwa Berman, Recht, S. 191. Zur Differenz von „Leistungs-“ und „Publikums-“ bzw. „Komplementa¨rrollen“, vor allem mit Blick auf den historischen Prozess der Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Funktionssystemen, vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 13 ff. Fru¨h dazu am Bsp. der Religion auch Luhmann, Funktion, S. 234 ff. 66 Vgl. Wilfried Hartmann, Der Investiturstreit, 3., u¨berarb. u. erw. Aufl., Mu¨nchen 2007, S. 25, Zitat: ebd. 67 Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in A¨gypten, Israel und Europa, Mu¨nchen 2000.

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¨ berlegungen, die Weber hier im Rahzu gelangen.“68 Die vergleichenden U men seiner Indienstudie, ausgehend von einem Interesse an der sozialen Stellung der Brahmanen, anstellt, fu¨hren ihn von der Gegenu¨berstellung der altindischen und altchinesischen Verha¨ltnisse auf einen grundlegenden „universalhistorischen“ Gedanken: Im Vergleich der verschiedenen Hochkulturen macht es einen entscheidenden Unterschied, ob die beiden herrschaftsbildenden Funktionskomplexe von Krieg hier und Magie/Kult dort in den zentralen Herrschaftsinstitutionen zusammenfallen oder aber auseinandertreten. Einheit von Herrscher- und Priesteramt oder ihre Zweiheit (und damit ihr institutionelles Nebeneinander) ist eine kulturell ho¨chst folgenreiche „religio¨s-politische Frage“; sie soll hier unsere dritte Problemsicht auf das Verha¨ltnis von Religion und Politik leiten. Assmanns Monographie ist – wie angedeutet – mit der Entgegensetzung des alten A¨gypten und Israels, dabei aber auch mit der Selbstentgegensetzung Israels (bzw. des Judentums) gegen A¨gypten, befasst. Der theokratische Fall des alten Israel kennt zuna¨chst nur Jahwe als Ko¨nig gegenu¨ber und im Bund mit seinem Volk. Das spa¨tere Ko¨nigtum, fast widerwillig etabliert, weiß neben sich ein Priestertum, vor allem aber rechnet es mit dem Widerspruch Gottes aus dem Munde der Propheten. Eine Entwicklung, die sich nun – und so von Assmann getan – als eine auf die religio¨s-politischen Verha¨ltnisse A¨gyptens reagierende, sie na¨mlich negierende und sich von ihnen absetzende Entwicklung lesen la¨sst. A¨gypten ist fu¨r Assmann der undifferenzierte Fall, an dem die religio¨se und politische Spha¨re nicht auseinanderzuhalten sind. Es ist der „starke“ und monokratische, auf eine ausgepra¨gte politische Theologie gebaute Staat: Der Ko¨nig, Pharao, „repra¨sentiert“, wie Assmann formuliert, „die Gottesherrschaft gegenu¨ber den Menschen, und er repra¨sentiert die menschliche Gemeinschaft gegenu¨ber den Go¨ttern“.69 Auch das ro¨mische Kaisertum hat bekanntlich seine Sakralfunktionen gepflegt, von Beginn an das Priesteramt des pontifex maximus an sich gezogen und damit eine Mittlerstellung zwischen den Menschen und der Go¨tterwelt fu¨r sich geltend gemacht. Das Christentum hat sich – auf der Linie der ju¨disch-alttestamentarischen Tradition – der Teilnahme am Kaiserkult verweigert. Der Titel des „Obersten Priesters“ aber ist nach seiner Niederlegung durch Kaiser Theodosius I. im Zuge der Christianisierung des ro¨mischen Reiches dem Bischof von Rom zugewachsen. Titel und zi68 Max Weber, Gesammelte Aufsa¨tze zur Religionssoziologie II, Tu¨bingen 1920, S. 139, Herv. d. Verf. 69 Assmann, Herrschaft, S. 48 f.

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vilreligio¨se Funktion des pontifex maximus wurden Sache des Papsttums, eines Papsttums, an dessen Seite es dann seit dem spa¨ten 5. Jahrhundert keinen westro¨mischen Kaiser mehr gab. Peter von Moos hat – von Assmann angeregt und von der „imperialen Staatskirche des 4. Jahrhunderts“ her – mit Blick auf die pa¨pstliche Revolution von der „latenten ,a¨gyptischen‘ Versuchung des Papsttums“ gesprochen.70 „[H]ierokratische Wunschvorstellungen“, so Moos, ha¨tten dort „mit Hilfe schleichender Ru¨ck-Umbuchungen religio¨ser auf politische Termini, kontraktueller auf vikariale Repra¨sentationskonzepte schließlich im Postulat pa¨pstlicher plena potestas explizit werden […] ko¨nnen“.71 Seinen formulierten Ho¨hepunkt erreicht dieses Anspruchsdenken des Papsttums in der Bulle Unam Sanctam Bonifaz’ III.; zunehmend „manifest“ wird es jedoch schon gut zweieinviertel Jahrhunderte zuvor: Zwar nimmt Gregor VII. eine vicarius Christi-Formel nicht fu¨r sich in Anspruch; alles ist bei ihm auf den von Christus selbst eingesetzten und mit Binde- und Lo¨segewalt ausgestatteten Apostelfu¨rsten Petrus konzentriert.72 Doch auch der Nachfolger Petri leitet nicht nur die societas christiana; er ist das Haupt aller Christen als seiner „,subditi‘“, fu¨r deren Taten er „einst im go¨ttlichen Gericht verantwortlich sein wird“.73 Vielfach ist die Papstrevolution Gregors, so von Wilfried Hartmann vor nicht allzu langer Zeit, als „Versuch zur Errichtung einer Hierokratie, einer Herrschaft der Priester auch u¨ber den weltlichen Bereich“ gedeutet worden.74 Nach Hartmann ließe sich sogar sagen, dass fu¨r die Zeit nach etwa 1100 sich „eine noch engere Verschra¨nkung von religio¨sen und weltlichen Zusta¨ndigkeiten“ ergibt als in den Jahrhunderten zuvor, „wenn auch nicht unter der Fu¨hrung des weltlichen

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Peter von Moos, Krise und Kritik der Institutionalita¨t. Die mittelalterliche Kirche als „Anstalt“ und „Himmelreich auf Erden“, in: Gert Melville (Hrsg.), Institutionalita¨t und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Ko¨ln et al. 2001, S. 293–340, hier S. 319. 71 Ebd., Herv. i. Orig. 72 Walter Ullmann, Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter. Idee und Geschichte, Graz et al. 1960, S. 410 f. 73 Ebd., S. 413. Zu Gregors Terminologie der societas christiana vgl. ebd., insb. S. 396 f. m. Anm. 36. 74 Hartmann, Gregor VII., S. 104. Bekannt etwa auch die Charakterisierung Gregors bei Horst Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, 5., durchges. Aufl., Mu¨nchen 1997, S. 92 f., als „[d]er sendungserfu¨llte Hierokrat“. Zentral sind die hierokratischen Absichten des Papsttums vor allem auch fu¨r Ullmann, Die Machtstellung, S. 383 ff.

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Herrschers, sondern unter der Fu¨hrung des Papstes“.75 Gleichwohl muss man sehen, dass Gregor mit seinem Anspruch auf die unbeschra¨nkte pa¨pstliche Verfu¨gungsgewalt nicht nur u¨ber die geistlichen, sondern auch u¨ber alle weltlichen Wu¨rden auf Erden scheiterte,76 und gerade dieses Scheitern wesentlich strukturbildende Effekte hatte. Dualismus und Konflikt. Fragen nach dem Aufbau einer pa¨pstlichen Hierokratie, gerichtet gegen ein sakrales Kaisertum im Zuge der pa¨pstlichen Revolution, fu¨hren hier bereits auf den vierten und letzten Problemgesichtspunkt zu. Die Dualismusformel geho¨rt in eine Dreiertypologie religio¨s-politischer Verha¨ltnisse, wie sie bei Weber und anderen formuliert worden ist, und findet darin zwischen den beiden Polen „Ca¨saropapismus“ und „Theokratie“ ihren Platz.77 Wa¨hrend die zwei letztgenannten Typen die Dominanz und Kontrolle der politischen u¨ber die religio¨se bzw. die der religio¨sen u¨ber die politische Seite bezeichnen, insofern also in Bezug auf das Verha¨ltnis von politischer und religio¨ser Autorita¨t nicht ausbalanciert sind, nimmt der Dualismus im Dreierschema eine Mittelstellung ein, die fu¨r den Fall der institutionellen Trennung und Koexistenz beider Herrschaftsordnungen steht.78 Weber hat dieser Typologie in seiner Herrschaftssoziologie einen – auch fu¨r unseren Zusammenhang – wesentlichen Gesichtspunkt noch hinzugefu¨gt: Das, was sich je kulturell als „Theokratie“, als „Ca¨saropapismus“ oder als „Dualismus“ institutionell konsolidiert, sieht er als Resultat von Ka¨mpfen und Konflikten an. „[D]er offene oder latente Kampf weltlich-politischer mit theokratischen Gewalten“ war dem So75

Hartmann, Gregor VII., S. 101. Das hier angedeutete Umkehrungsmotiv von ko¨niglich/kaiserlicher Theokratie zur pa¨pstlichen Hierokratie finden wir besonders deutlich bei Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 294, Herv. i. Orig.: „Nach dem Tode Heinrichs III. (1056) wandte sich das gehobene Papsttum gegen das Kaisertum selbst, um sich, wie seinerzeit das Mo¨nchtum, aus der Laienherrschaft zu lo¨sen, die ku¨nftigen großen Forderungen zuna¨chst theoretisch aufzustellen (Dictatus papae Gregors VII. 1075), darauf selbst die religio¨se und politische Fu¨hrung des Abendlandes anzutreten und schließlich den Versuch zu machen, das Reich und die werdende Staatenwelt in den gewaltigen Bau einer pa¨pstlichen Hierokratie einzuordnen. Also eine vo¨llige Umkehr des bisherigen Verha¨ltnisses von Kirche und Reich, das Gegenstu¨ck zur karolingischen Theokratie.“ Bei Feine, ebd., S. 299 ff. vgl. auch den Abschnitt zur „pa¨pstliche[n] Hierokratie“ (Einf. d. Ver.). 76 Vgl. Schieffer, Papst Gregor, S. 101. 77 Zur typologischen Unterscheidung Webers vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die wirtschaftlichen Ordnungen und Ma¨chte. Nachlaß. Teilband 4: Herrschaft, hrsg.v. Edith Hanke in Zus.-Arb. m. Thomas Kroll, Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 22–4, Tu¨bingen 2005 (im Weiteren: MWG I/22–4), S. 579 ff. 78 Vgl. Assmann, Herrschaft, S. 28.

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ziologen etwas, das – „die ganze Struktur des sozialen Lebens beeinflussend“ – „u¨berall an der Pra¨gung von Staat und Gesellschaft am Werk gewesen“ ist.79 Fu¨r die verschiedenartige „Kulturentwicklung“ von Orient und Okzident sind in Webers Augen diese Ka¨mpfe und ihre Resultate daher von entscheidender Bedeutung gewesen. Auf der Seite des Okzidents geho¨rt die Auseinandersetzung zwischen geistlicher und weltlicher Macht im Zuge des Investiturstreits mit dessen langfristigen soziokulturellen Folgen wesentlich zu ihnen. Was die, wenn man so sagen darf, „Ha¨ufigkeits- und Wahrscheinlichkeitsverteilung“ der drei Typen religio¨s-politischer Machtstellungen im historischen und interkulturellen Vergleich anbelangt, so hat Weber im theokratischen Typus eher einen Ausnahmefall und auch im Dualismus etwas durchaus Voraussetzungsvolles gesehen: nur fu¨r den Fall einer Sakralisierung ihrer Organisationsstruktur schien ihm die religio¨se Seite stark genug, den ca¨saropapistischen Tendenzen der Gegenseite zu widerstehen.80 Entscheidend schien Weber die Frage, ob die „betreffende Religiosita¨t […] eine go¨ttlich verordnete, von der weltlichen Gewalt gesonderte Form der Kirchenverfassung kennt oder nicht“.81 Die katholische Kirche, die „mit ihrem eigenen, auf ro¨mischer Tradition ruhenden, Amtsapparat, der fu¨r ihre Bekenner divini juris ist“ und diese Bedingung im hohen Maße erfu¨llt, hat daher „ca¨saropapistischen Neigungen den hartna¨ckigsten und, nach notgedrungenen Konzessionen in Zeiten der Bedra¨ngnis, schließlich erfolgreichen Widerstand entgegengesetzt“.82 Der Dualismus von lateinischer Kirche und weltlichen Institutionen stellt in den Augen des Soziologen ein zentrales Charakteristikum des Okzidents dar: Er ist von weichenstellender Bedeutung fu¨r den „Sonderweg“ gewesen, den die okzidentale Entwicklung historisch eingeschlagen hat.83 Diese Entwicklung ist es, der hier nun unter dem „dualistischen Aspekt“ und im Zeitraum von Spa¨tantike bis Hochmittelalter unsere Aufmerksamkeit gilt.

79 Max Weber, Agrarverha¨ltnisse im Altertum, in: ders., Gesammelte Aufsa¨tze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tu¨bingen 1924, S. 1–288, hier S. 44, Herv. i. Orig., sowie ders., MWG I/22–4, S. 584 f. 80 Vgl. Tyrell, Investiturstreit, S. 44. 81 MWG I/22–4, S. 611 f., Herv. i. Orig. 82 Ebd., S. 612. 83 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Tyrell, Investiturstreit, S. 44 ff.

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War die christliche Kirche, was ihre Selbstbeschreibung angeht, in ihrer Fru¨hzeit eine Gemeinschaft von „Heiligen“ und „Bru¨dern“ (und nicht: „von dieser Welt“), so entwickelt sie sich seit dem zweiten Jahrhundert mehr und mehr zu einer „Besserungsanstalt fu¨r Su¨nder“ (Werner Dahlheim) unter der Aufsicht von Bischo¨fen und professionellen Klerikern.84 Die institutionelle Konsolidierung und Hierarchisierung la¨sst den Bischof von Rom gegen Ende des 5. Jahrhunderts die Dualsemantik explizit aufnehmen und, was Kaiser und Papst, Ko¨nig und Priester angeht, von „zwei Gewalten“ sprechen, einer Zweiheit der Arbeitsteiligkeit und Funktionstrennung.85 Zugleich aber geht es um eine isomorphe Art der Hierarchiebildung, die das Imitieren, das Geben und Nehmen der Herrschaftssymbole einschloss.86 Im Reich Karls des Großen bildet dann das Papsttum gleichsam eine „zweite Spitze“ neben Ko¨nig bzw. Kaiser, na¨mlich „diejenige geistlicher Art“.87 Die vom Papst vollzogene Kaiserkro¨nung Karls fu¨hrt dort zu einer Konstellation, in der die Karolinger die pa¨pstliche Oberhoheit fu¨r die Kirche ihres Reiches anerkennen und sichtbar zur Geltung bringen.88 Eine dezidierte Entgegensetzung von „geistlich“ und „weltlich“ lag sowohl in diesem wie auch im ottonischen Reich fern, denn „Herrscher und Staat, Bischof und Kirchenvolk verstanden sich als geschlossenes ,corpus christianum‘, und nur innerhalb dessen bildeten Ko¨nig und Bischof zwei Gewalten“.89 Daru¨ber hinaus ist der Ko¨nig hier wie dort „Sakralperson“, nicht nur als defensor der Kirche und Sachwalter in dieser, sondern,

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Vgl. Werner Dahlheim, Die Welt zur Zeit Jesu, Mu¨nchen 2013, S. 393 ff.; Georg Scho¨llgen, Die Anfa¨nge der Professionalisierung des Klerus und das kirchliche Amt in der Syrischen Didaskalie, Mu¨nster 1998 (= Jahrbuch fu¨r Antike und Christentum, Erg.Bd. 26). 85 Vgl. Walter Ullmann, Der Grundsatz der Arbeitsteilung bei Gelasius I, in: Historisches Jahrbuch 97/98, 1978, S. 41–70, insb. S. 49 ff. 86 Vgl. Tyrell, Investiturstreit, S. 45 f.; zu den Kro¨nungsordines vgl. Percy Ernst Schramm, Die Kro¨nung in Deutschland bis zum Beginn des salischen Hauses, in: ZRG KA 24, 1935, S. 184–332, sowie Ullmann, Die Machtstellung, passim; zu den Kaiserinsignien des Papstes ebd., S. 453 ff. 87 Arnold Angenendt, Das Fru¨hmittelalter: Die abendla¨ndische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart et al. 1990, S. 460. 88 Vgl. ebd. 89 Ebd., S. 304.

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gerade in fra¨nkischer Zeit, als rex et sacerdos, der Bischofssynoden einberuft und deren Beschlu¨sse zu besta¨tigen hat.90 Der Investiturstreit ist die Aufku¨ndigung dieser „affinen“ Art von Dualismus im religio¨s-politischen Verha¨ltnis – von Rom her und im Konflikt, einem Konflikt innerhalb der societas Christiana von bisher „unerho¨rtem“ Tiefgang und so grundlegend, dass daru¨ber sogar, wie Claudius Sieber-Lehmann eindrucksvoll gezeigt hat, die Zahl Zwei einen neuen Sinn erha¨lt: In ihrer Deutung und Wertung des spa¨ten 11. und des 12. Jahrhunderts verweist die Zweizahl nicht auf die arbeitsteilig koha¨rente Zweiheit der Gewalten, der Schwerter usw., sondern auf die scissura dualitatis: die unfriedliche Zweiheit der Parteienbildung im Konflikt. Die Zwei entwickelt sich zum Unwort, jedes Segens entbehrend, und dru¨ckt wa¨hrend und im Gefolge des großen Streits vor allem den schmerzlich empfundenen Mangel an Einheit aus.91 Die pa¨pstliche Seite setzt an die Stelle des bestrittenen dualistischen ein von ihr propagiertes monistisches Prinzip, das auf einer eindeutigen Hierarchie beider Spha¨ren basiert. Wie Feine formuliert, finden das „Papst¨ berordnung der Kirtum und das kanonische Recht […] die Einheit in einer U che u¨ber den Staat, in der Einordnung weltlicher Herrschaft in die Hierokratie der Papstkirche, eine Unterordnung, welche die civitas terrena im Sinne Augustins gegenu¨ber der civitas Dei, die in der Kirche ihre irdische Gestalt findet, auf sich nehmen muß, um u¨berhaupt als Teil der go¨ttlichen Weltordnung, der Christianitas auf Erden, zu gelten.“92 Nach diesem kirchlichen Modell stehen geistliche und weltliche Gewalt zueinander in einem Verha¨ltnis, das sich mit dem Begriff der hierarchischen Opposition wohl treffend bezeichnen la¨sst, einem Begriff des franzo¨sischen Anthropologen Louis Dumont, der von Rudolf Stichweh in seinen Arbeiten mehrfach aufgegriffen und dabei auch auf das Verha¨ltnis von Kirche und Staat bzw. Reich angewendet worden ist.93 „Der Begriff der hierarchi90 Vgl. ebd. Fu¨r die ottonische und salische Zeit spricht Ullmann, Die Machtstellung, S. 336 ff., Einf. d. Verf., jedoch von einer „Kaiserliche[n] Hegemonie“. 91 Claudius Sieber-Lehmann, Um 1079. Warum es fu¨r das Verha¨ltnis von Kaiser und Papst kein erfolgreiches Denkmodell gab, in: Bernhard Jussen (Hrsg.), Die Macht des Ko¨nigs. Herrschaft in Europa vom Fru¨hmittelalter bis in die Neuzeit, Mu¨nchen 2005, S. 150–164; dazu auch: Tyrell, Investiturstreit, S. 73. 92 Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 300, Herv. i. Orig. 93 Vgl. Rudolf Stichweh, Der fru¨hmoderne Staat und die europa¨ische Universita¨t. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1991, S. 15 ff. – mit den entsprechenden

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schen Opposition“, so Stichweh, „meint eine Unterscheidung, in der die eine der beiden Seiten der Unterscheidung die andere Seite unter sich begreift oder in sich einschließt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn in der mittelalterlichen Unterscheidung von Staat und Kirche der Staat als der weltliche Arm der Kirche aufgefasst wird und insofern sowohl als Gegenu¨ber der Kirche wie auch als eine ihrer Subeinheiten fungiert.“94 Entsprechend diesem Modell hat Gregor VII. der saecularis potestas, der Ko¨nigsgewalt, ihre Funktion durchaus zuerkannt, aber auch sie ist fu¨r ihn der „richterlichen Aufsicht“ des Papstes unterstellt und hat – ohne Eigensakralita¨t – eine der ro¨mischen Kirche dienende und gehorsamsverpflichtete zu sein.95 Im Dictatus Papae nimmt der Papst fu¨r sich in Anspruch, „Kaiser abzusetzen“ (XII.), sowie das Recht, dass „alle Fu¨rsten“ (omnes principes) nur ihm die „Fu¨ße ku¨ssen“ (IX.).96 Das duale Nebeneinander, das von Seiten Heinrichs IV. mit Hilfe der Zwei-Schwerter-Lehre anfangs noch verteidigt wird,97 wird hier von einer Seite her aufgeku¨ndigt, die fu¨r sich selbst Oberherrschaft und Suprematie in Anspruch nimmt und von der anderen Seite Gehorsam fordert.98 Herrschaftsbezogen wird der Akzent in der Sprache Gregors dabei immer dreifach gesetzt: die Vollmacht des Petrusnachfolgers ist die ho¨chste, sie ist einzigartig, und sie ist universell.

Referenzen auf Dumont. In spa¨teren Arbeiten Stichwehs ist der Begriff der hierarchischen Opposition vor allem auf das Verha¨ltnis von Inklusion und Exklusion in der modernen Gesellschaft bezogen, vgl. dazu etwa ders., Inklusion und Exklusion, insb. S. 60 ff. u. S. 187 ff. 94 Rudolf Stichweh, Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und Exklusion, in: ders./Paul Windolf (Hrsg.), Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden 2009, S. 29–42, hier S. 37. 95 Vgl. Schieffer, Gregor VII., S. 208 f. Zur Schutzfunktion des Ko¨nigs vgl. ebd., S. 194 ff., sowie Ullmann, Die Machtstellung, S. 395 f. u. 419 ff. 96 ¨ bersetzung der 27 thesenhaften Sa¨tze findet sich bei Schieffer, Papst Eine dt. U Gregor, S. 35 f. 97 Zu Heinrichs IV. ideologischen Gegenwehr gegen Gregor zuna¨chst mit der ZweiSchwerter-These des Aachener Notars Gottschalk vgl. Ullmann, Die Machtstellung, S. 501 ff., ferner auch Tilman Struve, Der „gute“ Kaiser Heinrich IV. Heinrich IV. im Lichte der Verteidiger des salischen Herrschaftssystems, in: Gert Althoff (Hrsg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (= Vortra¨ge und Forschungen, Bd. 69), S. 161–188. 98 Vgl. klassisch Gerd Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, Stuttgart 1936 (= Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, Bd. 7), S. 184 ff.; ferner aber auch Gert Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausu¨ben“. Pa¨pste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013, S. 39 ff.

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In den Kontext der „a¨gyptischen Versuchung“ des Papsttums geho¨rt ferner auch eine Arbeit daran, jene Semantik, an der die innergesellschaftliche Selbstunterscheidung der Kirche herko¨mmlich befestigt war, ins Hierarchische bzw. (mit Bourdieu) ins Distinktive zu wenden. Gemeint sind hier die zwei tragenden (und bis heute semantisch nachwirkenden) Varianten kirchlicher Selbstbeschreibung, die als innergesellschaftliche Selbstunterscheidung der Kirche formuliert worden sind: die Unterscheidung Kleriker/Laien zum einen und die der System/Umwelt-Unterscheidung Luhmanns so a¨hnliche von geistlich/weltlich zum anderen.99 Bei beiden Unterscheidungen geht es um asymmetrische Begriffspaare, die jeweils vom kirchlichen Boden her konstruiert und evaluiert sind: von der kirchlichen Seite her positiv bestimmt, bleibt der anderen Seite von dort aus nur die Bestimmtheit als das Negative. Die Kleriker/Laien-Unterscheidung ist eine sta¨ndische; sie geht vom ordo sacerdotalis, vom Stand geweihter Priester aus und behandelt die Restpopulation als Laien. Solche Negativita¨t und Devaluation gilt – samt Su¨ndenna¨he – zuna¨chst sta¨rker noch und seit den christlichen Urzeiten fu¨r die Begrifflichkeit der „Welt“, „dieser Welt“. Mit der Semantik des „Weltlichen“ oder „Sa¨kularen“ wird von Seiten der Kirche auf eine in sich nicht weiter differenzierte, residuale Umwelt referiert, gleichwohl gewinnt dieses Vokabular gerade in der Zeit des Investiturstreits ein deutlicheres politisches Profil.100 Mit Rudolf Schieffer gilt: die Kirchenreform geht zwangsla¨ufig zusammen mit einer „immer bewußtere[n] Differenzierung von Klerus und Laien, von geistlicher und weltlicher Gewalt“.101 Die Forderung der libertas ecclesia, die – etwa als Kampf gegen die Simonie – den innerkirchlichen Lai99 Vgl. hierzu auch Tyrell, Investiturstreit, S. 65 ff., sowie ferner – freilich aus anderer Perspektive und mit anderen Akzenten – Berman, Recht, S. 181 ff. 100 Zur Undifferenziertheit der „Welt“ bzw. des „Sa¨kularen“ vgl. auch Jose´ Casanova, Secularization, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences Bd. 20, 2001, S. 13786–13791, hier S. 13788; dort auch mit dem wichtigen Hinweis auf das „double dualist system of classification“ im westeuropa¨ischen Christentum: „There was, on the one hand, the dualism between ,this world‘ (the City of Man) and ,the other world‘ (The City of God). There was, on the other hand, the dualism within ,this world‘ between a ,religious‘ and a ,secular‘ sphere.“ (ebd., S. 13787, Herv. d. Verf.). Die devaluative Semantik des „Weltlichen“ ist also immer auf die innergesellschaftliche Umwelt der Kirche bezogen, nicht auf die außergesellschaftliche, jenseitige „Welt“ der Religion. Zur Politisierung der Semantik des „Weltlichen“, „Zeitlichen“ und „Sa¨kularen“ im Zuge der pa¨pstlichen Revolution vgl. auch Berman, Recht, S. 183 ff. 101 Schieffer, Papst Gregor, S. 101.

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eneinfluss zuru¨ckdra¨ngen will, hat gesellschaftsweit das strenge Auseinandererhalten von Klerikern und Laien zur Voraussetzung.102 Der Widerstand gegen die Priesterehen hat die Andersheit und Distinktion des geistlichen Standes im Sinn: „Reinheit“, die einen Rangunterschied macht. Im Konflikt mit dem Ko¨nig bleibt dann nichts, als eben auch diesen als Laien erkennbar zu machen. Die Kleriker/Laien-Unterscheidung tangiert alle und la¨sst, wie oben bereits beschrieben, im Sinne des tertium non datur nun auch Ko¨nige und Kaiser nicht aus. In den Briefen Gregors VII. findet man u¨berdies den Papst wiederholt mit dem Vergleich des priesterlichen Ranges mit dem Ko¨nigsprestige befasst. Gerade das Sich-messen an den Ko¨nigen fu¨hrt immer wieder zu einer Selbstbeschreibung priesterlicher Ho¨herrangigkeit und zur Ho¨chstrangigkeit des Nachfolgers Petri, der von Christus selbst mit der Binde- und Lo¨segewalt ausgestattet ist und mit dem alle einschließenden regimen totius ecclesiae zugleich.103 Von solch „einsamer Ho¨he“ aus kann dann – von der geistlichen Seite aus – selbst die Verbindlichkeit der Unterscheidung geistlich/weltlich fraglich werden. Gregor schreibt: „Wenn der heilige und apostolische Stuhl durch die ihm von Gott u¨bertragene einzigartige Vollmacht das Recht hat, u¨ber geistige Dinge zu urteilen, warum dann nicht auch u¨ber weltliche?“104 Turmhoch steht das Geistliche u¨ber dem Weltlichen, und daran ist impliziert: was dem sacerdotium gegebenenfalls offen steht, bleibt in der Gegenrichtung dem regnum oder imperium rechtlich streng verwehrt. Es ist bekannt, dass Gregors Hierarchisierungsanstrengungen in der Konfrontation mit dem regnum gescheitert sind, aber umso nachhaltiger war die Unterscheidung von spiritualia und temporalia in ihrer Folgezeit – gerade auch durch ihre konfliktlo¨sende Funktion im Wormser Konkordat – institutionell befestigt. Der „religio¨s-politische Strukturwandel“, der sich im und durch den sog. Investiturstreit vollzieht, tut dies vor allem als „Entzweiung“, als Konflikt, und hat eine sta¨rkere Trennung der Funktionsbereiche von Religion und Politik zur Folge.105 „Das Auseinandertreten 102

Umfassend zum „Programm“ des Reformpapsttums vgl. Tellenbach, Libertas. Vgl. Ullmann, Die Machtstellung, S. 405 f. 104 Zit. nach ebd., S. 406 Anm. 65: „Quodsi sancta sedes apostolica divinitus sibi collata principali potestate spiritualia decernens dijudicat, cur non et saecularia?“ Die Spi¨ berordnung ritualia sind hier mit „geistig“ u¨bersetzt. Vgl. auch im selben Sinn der U Gregors Gebet an die Apostelfu¨rsten von 1080, abgedruckt bei Schieffer, Papst Gregor, S. 78. 105 Vgl. Tyrell, Investiturstreit, insb. S. 73, Zitat: ebd. 103

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von geistlicher und sa¨kularer Autorita¨t […] als Resultat der Papstrevolution ausgeben“, so hat Schieffer in einer kritischen Auseinandersetzung mit Bermans Studie bemerkt, ko¨nne man nur dann, „wenn man sich daru¨ber hinwegsetzt, daß dies in seiner Wechselseitigkeit den pa¨pstlichen Vorstellungen natu¨rlich zuwiderlief“.106 Richtig ist, dass die „Freiheit des Staates“, wenn man es einmal so formulieren will, zu den „unbeabsichtigten Folgen“107 eines auf die „Freiheit der Kirche“ gerichteten Handelns der Pa¨pste za¨hlt; aber sie za¨hlt eben doch zu dessen Folgen.108 Wenn man den Investiturstreit, den ja auch Berman unter seinen Begriff der „pa¨pstlichen Revolution“ subsumiert,109 mit Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung verknu¨pfen will, erscheint es daher sinnvoll, die Perspektiven zu unterscheiden, mit denen man diese Vorga¨nge in den Blick nehmen will:110 Richtet man den Fokus auf die Ausdifferenzierung der Religion – hier kann, mit Einschra¨nkungen, auf die im Konflikt seitens der Kirche geltend gemachten „Freiheitsanspru¨che“ verwiesen werden, die die bekannte Studie Tellenbachs zum Gegenstand hat;111 oder fokussiert man auf die Ausdifferenzierung der Politik und deutet etwa wie Bo¨ckenfo¨rde „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Sa¨kularisation“, den dieser mit dem Investiturstreit einsetzen la¨sst.112 Als dritte Mo¨glichkeit kann man aber auch das religio¨se und das politische Feld gemeinsam und aufeinander bezogen in den Blick nehmen. Hier interessiert sich der Soziologe wohl am ehesten fu¨r die „Anfa¨nge der funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung“, wie sie etwa FranzXaver Kaufmann – an Berman anschließend – ebenfalls mit dem Investiturstreit in Verbindung gebracht hat.113 In diesem Sinne ließe sich dann 106

Schieffer, Ru¨ckfragen, S. 29, Herv. d. Verf. Klassisch zum Begriff der Aufsatz von Robert K. Merton, The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action, in: American Sociological Review 1, 1936, S. 894–904. 108 So auch Pollack, Genese, S. 281 u. S. 302. Formuliert man genauer noch, so sollte es – und nun erst recht unter Vorbehalt – „Freiheit des Staates von der Kirche“ bzw. „Freiheit der Kirche vom Staat“ heißen. 109 Vgl. Berman, Recht, S. 790. 110 Vgl. hierzu und zum Folgenden Tyrell, Investiturstreit, insb. S. 41 ff. 111 Vgl. Tellenbach, Libertas, insb. S. 151 ff. 112 Der beru¨hmte, gleichnamige Aufsatz wurde zuletzt abgedruckt in: Ernst-WolfgangBo¨ckenfo¨rde, Der sa¨kularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, Mu¨nchen 2006, S. 43–72. 113 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise. Wie u¨berlebt das Christentum?, Freiburg 2011, S. 61 ff. 107

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auch die Rede Bermans selbst von den verschiedenen „Seiten“ der „Totalvera¨nderung“, als welche er die „pa¨pstliche Revolution“ zum Abschluss seiner Studie bezeichnet hat, verstehen: Allein eine kirchlich-religio¨se, eine politische, eine wirtschaftliche und eine universita¨r-wissenschaftliche Seite der Papstrevolution werden dort von Berman unterschieden, und, der Autor fu¨gt hinzu: „Es gab noch mehr Seiten.“114 III. Zweierlei Recht: Der Dualismus von kirchlichem und weltlichem Recht Der zweite Teil des Beitrags setzt auf die Weiterfu¨hrung des Dualismus von Geistlich und Weltlich auf dem Felde des Rechts und schließt dabei ebenfalls vor allem an Harold Berman an. Dieser hat in der Papstrevolution den Ausgangspunkt fu¨r die Entstehung des Kirchenrechts als des „ersten modernen westlichen Rechtssystems“ gesehen.115 „Im Gefolge der pa¨pstlichen Revolution“, so Berman, sind „ein neues System des kanonischen Rechts und neue sa¨kulare Rechtssysteme“ entstanden.116 Dabei kommt es dem Autor ebenso sehr auf den „Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem“ wie auf den „Pluralismus weltlicher Rechtssysteme“ an.117 Die Zweiheit des europa¨ischen Rechts ist gema¨ß der oben bereits beschriebenen „religio¨s-politischen Strukturdifferenz“, die die okzidentale Gesellschaft so nachhaltig pra¨gt, vornehmlich seit dem Hochmittelalter eine Zweiheit von geistlicher Einheit und weltlicher Vielheit: „Das kanonische Recht war eines, ebenso wie das neue kirchliche Gemeinwesen eines war; das weltliche Recht dagegen war vielfa¨ltig entsprechend den verschiedenen Arten weltlicher Gemeinwesen: Es gab das kaiserliche, ko¨nigliche, feudale, Guts-, Handels- und Stadtrecht.“118 Auf der Seite des Geistlichen hat man es also mit Recht im Singular – dem kanonischen Recht –, auf der Seite des Weltlichen indes mit Recht im Plural – den verschiedenen sa¨kularen Rechtssystemen und auch dem ro¨mischen Recht – zu tun. In drei Schritten wollen wir uns im Folgenden dem Dualismus von kirchlichem und weltlichem Recht und seinen beiden verschiedenen Seiten widmen: Zu114 115 116 117 118

Vgl. Berman, Recht, S. 790, Zitate: ebd. Vgl. insb. ebd., S. 327 ff. Ebd., S. 195. Ebd., Herv. d. Verf. Ebd., S. 439, Herv. d. Verf.; vgl. dazu auch ebd., S. 29.

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na¨chst werfen wir noch einmal einen genaueren Blick auf den Zusammenhang von pa¨pstlicher Revolution und Kirchenrecht, als dies oben bereits geschehen ist. In einem zweiten Schritt bescha¨ftigen wir uns dann mit dem Verha¨ltnis von kanonischem Recht und Kanonistik zur Legistik und Theologie, was uns schließlich zum Verha¨ltnis von „zweierlei Recht“ im engeren Sinne fu¨hrt: dem Dualismus von kanonischem und ro¨mischem Recht. Die Vielzahl der weltlichen Rechte gegenu¨ber dem kanonischen und ro¨mischen Recht bleibt weitgehend unberu¨cksichtigt.119 Die pa¨pstliche Revolution und das Kirchenrecht. Bereits im ersten Teil des Beitrags hatten wir das Kirchenrecht gleichzeitig als ein Produkt und einen Promotor der pa¨pstlichen Revolution bezeichnet. Der Aufstieg des Papsttums, beginnend mit der Kirchenreform, war eine wesentliche Voraussetzung fu¨r die tiefgreifenden Vera¨nderungen des kanonischen Rechts, die sich dann vor allem im 12. Jahrhundert vollziehen.120 Nicht selten wird die Verbindung des Reformpapsttums zum Kirchenrecht in der Literatur als eine gleichsam notwendige gesehen. Fu¨r Landau etwa impliziert der Kampf fu¨r die libertas der ro¨misch gefu¨hrten Kirche geradezu zwangsla¨ufig ein gesteigertes Interesse an der kanonischen Tradition und damit am Recht generell.121 Auch Tellenbach sieht es fu¨r „fast selbstversta¨ndlich“ an, „dass die Pa¨pste und ihre Helfer einen derartig lebhaften und ta¨tigen Anteil an der Feststellung, Reinigung und Erkla¨rung des kirchlichen Rechtes nehmen mussten. Denn ihre Aufgabe“, so fa¨hrt der Autor fort, „sahen sie ja auch in einer La¨uterung des kirchlichen Lebens und einer Erneuerung der Ordnung der Kirche und der gesamten christlichen Welt“.122 Das Papsttum wird seit der Mitte des 11. Jahrhunderts Teil und zunehmend Fu¨hrer eines „heftige[n] und aggressive[n] Aufbruch[s]“ mit „A¨nderungsprogrammen“, der von ehemals „eher peripheren Problemen“ ausgeht, dann aber „zu zentralen ekklesiologisch ho¨chst gewichtigen Auffassungen“ fu¨hrt.123 Besonders „gewichtig“ gestaltet sich dabei – und dies auch im Ver119 Vgl. hierzu vor allem Manilo Bellomo, Europa¨ische Rechtseinheit. Grundlagen und System des Ius Commune, Mu¨nchen 2005. 120 Vgl. Peter Landau, The Development of Law, in: David Luscombe/Jonathan Riley-Smith (Hrsg.), The New Cambridge Medieval History. Vol. IV c. 1024–c. 1198, Part 1, Cambridge, UK 2004, S. 113–147, hier S. 116. 121 Vgl. ebd. 122 Tellenbach, Bedeutung, S. 1010 f. 123 Gerd Tellenbach, „Gregorianische Reform“. Kritische Besinnungen, in: Schmid, Reich und Kirche, S. 99–113, hier S. 100, Ausl. u. Einf. d. Verf. Vgl. ebd., S. 101 ff.,

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gleich zu den Reformanliegen der Beka¨mpfung von Simonie, Priesterehen und Laieneinfluss – die Wandlung der Funktion des Papsttums selbst.124 Sie folgt der Vorstellung, dass die Pa¨pste „nicht bloß spirituell das Haupt der Kirche auf Erden gegenwa¨rtig machen, sondern in allen ihren Beziehungen rechtlich und politisch ein wahres Regiment fu¨hren sollten“.125 Damit werden zugleich die Anspru¨che an ein Kirchenrecht gesetzt, das den Legitimations- und Kontrollbedu¨rfnissen der angestrebten vollen und universalen pa¨pstlichen Gewalt genu¨gt. Es ist also zum einen wohl die im gesteigerten Maße als problematisch empfundene Diskrepanz zwischen herko¨mmlicher Rechtspraxis und u¨berlieferten Rechtssa¨tzen im kirchlichen Bereich, zum anderen aber auch die zunehmend rechtsbasierte Herrschaftsform einer entstehenden kirchlichen Zentralgewalt, die das Reformpapsttum nachdru¨cklich auf das kanonische Recht verweist und dabei auch „die Behandlung“ desselben „in neue Bahnen“ lenkt.126 Gleichwohl darf die Verbindung von Papsttum und Kirchenrecht zur Zeit der Reform – und auch darauf weist die Literatur ausdru¨cklich hin – nicht als „zu eng“ oder „zu direkt“ verstanden werden. In ihren diesbezu¨glichen Untersuchungen haben z. B. Horst Fuhrmann und Hubert Mordek zur Vorsicht vor Annahmen eines unmittelbaren Einflusses des Reformpapsttums auf die zeitgeno¨ssische Kanonistik und das Kirchenrecht geraten.127 Im Gegensatz zu ihrer „grundsa¨tzlichen Bedeutung“, so Mordek, sei etwa die „kontempora¨re[…] Wirkkraft […] der strengen gregorianischen Kanonistik“ nur begrenzt gewesen. Statt in den „nur ma¨ßig rezipierten ,reinen‘ Rechtswerken der Reform“ florierte das kirchliche Recht vor allem in historisch geordneten und systematischen Sammlungen,128 auch zu der Frage, wie und warum Simonie, Priesterehen und die Stellung von Laien in der Kirche um die Mitte des 11. Jahrhunderts u¨berhaupt so relativ plo¨tzlich zu Problemen werden, die es nach Ansicht der Reformbewegung zu lo¨sen gilt. 124 Vgl. ebd., insb. S. 108. 125 Ebd., S. 100. 126 Vgl. zum ersteren etwa Schieffer, Papst Gregor, S. 14; sowie Landau, Einfluß, S. 43, dort auch mit dem Bezug zu einer sich aus der Diskrepanz zwischen Rechtspraxis und Rechtssa¨tzen ergebenen Rechtsunsicherheit, auf die dann das kanonische Recht wiederum zu reagieren versucht; zum letzteren etwa Horst Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, Sigmaringen 1973 (= Vortra¨ge und Forschungen, Bd. 17), S. 175–203, Zitat: S. 198. 127 Vgl. ebd.; Mordek, Kanonistik. 128 Ebd., S. 82.

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die zwar seit der Mitte des 11. Jahrhunderts „in der Umgebung des Papsttums“ entstehen, sich ihre Entstehung selbst jedoch – jedenfalls der Quellenlage nach zu urteilen – in keinem einzigen Fall auf „eine direkte Veranlassung durch einen Papst“ zuru¨ckfu¨hren la¨sst.129 Dennoch nimmt der Bischof von Rom in den meisten Reformsammlungen eine durchaus prominente Rolle ein: in ihnen „deutet […] sich der Gedanke an“, so Fuhrmann, „daß der Papst am Recht der gesamten Kirche konstitutiv und wesensma¨ßig beteiligt sei“.130 Das Papsttum erscheint nach Hartmann in den Sammlungen zunehmend als Quelle und Richtpunkt des kirchlichen Rechtssystems.131 Es bildet sich hier die Auffassung aus, „dass nur die von den Pa¨psten gesetzten oder die von ihnen autorisierten Rechtssa¨tze allgemeine Geltung in der gesamten Kirche beanspruchen du¨rfen“.132 Der Grund fu¨r eine ¨ bereinstimmung zwischen den kirchenrechtlichen Samm„weitgehende U lungen der Reform und pa¨pstlichen Anschauungen vornehmlich seit Gregor VII.“ liegt fu¨r Fuhrmann daher etwa nicht, oder zumindest nicht allein, „in einer Initiative des ro¨mischen Bischofs, der die Werke angeregt ha¨tte, ¨ berzeugung, daß eine sondern in der gemeinsamen Ekklesiologie: In der U ¨ bereinheilswirksame Lebensform innerhalb der Gesamtkirche nur in U 133 stimmung mit der ro¨mischen Kirche mo¨glich sei“. Schon Paul Fournier hat in der Suche, Sammlung und Sichtung des kirchlichen Rechtsmaterials durch die Kanonisten der Fru¨hreform, vor allem in der Zeit des Pontifikats Gregors VII., eine erste Phase der von ihm konstatierten „Wende in der Geschichte des Rechts“134 gesehen, der sich dann – nach der Erschließung und Bereitstellung der historischen Quellen des Kirchenrechts – eine mit Papst Urban II. einsetzende zweite Phase der kritischen Arbeit am Text und der Erprobung neuer Methoden 129 Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 199 f. Vgl. zur geringen Verbreitung von Rechtstexten des Reformpapsttums Rudolf Schieffer, Rechtstexte des Reformpapsttums und ¨ berlieferung und Geltung ihre zeitgeno¨ssische Resonanz, in: Hubert Mordek (Hrsg.), U normativer Texte des fru¨hen und hohen Mittelalters, Sigmaringen 1986 (= Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter, Bd. 4), S. 51–70; zu den angesprochenen Rechtssammlungen vgl. Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 199 ff., ferner etwa auch Landau, Development, S. 120 ff. 130 Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 201. 131 Vgl. Hartmann, Investiturstreit, S. 60. 132 Ebd. 133 Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 201, Herv. d. Verf. 134 Paul Fournier, Un tournant de l’histoire du droit (1060–1140), in: Nouvelle Revue historique du droit français et e´tranger 41, 1917, S. 129–180.

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der Textarbeit anschloss.135 Die Sammlungen, die im Umfeld der Kirchenreform entstehen und deren Reihe „[v]om Beginn des Pontifikates Gregors VII. ab […] besonders dicht“ wird, haben zweifellos auf die großen kirchenrechtlichen Werke der nachfolgenden Jahrzehnte gewirkt.136 „[M]an u¨bersehe nur“, so Tellenbach, „aus welchen Quellen Gratians Dekret gespeist wird, um zu ermessen, wie die Kanonistik namentlich unter dem Einfluss des Reformpapsttums, zu einer gemeineuropa¨ischen Wissenschaft geworden ist“.137 Die Anstrengungen der systematischen Erschließung und Gliederung des kirchlichen Rechts mu¨nden in die große Arbeit des Bologneser Rechtsgelehrten, die, fertiggestellt gegen Mitte des 12. Jahrhunderts, fast augenblicklich die Anerkennung als maßgebliche Darstellung des kanonischen Rechts gewinnt und so zum Ausgangspunkt der klassischen kanonistischen Wissenschaft werden konnte.138 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung hat man u¨ber den Einfluss Gregors VII. auf das Kirchenrecht und die Kanonistik viel diskutiert.139 Fest steht wohl, dass Hildebrand-Gregor, wie die anderen Reformpa¨pste auch, keine juristische Bildung im engeren Sinne besaß.140 Seine zahlreichen Briefe zeugen „weder von tieferer Rechtskenntnis noch von einer kanonistischen Schulung“,141 sondern enthalten „vielerlei eher impulsive und ¨ bernahme in die kirbegrifflich unscharfe Formulierungen, die sich zur U

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Vgl. Mordek, Kanonistik, S. 67; sowie dazu auch Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 198 f. 136 Vgl. Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 199 ff., Zitat: S. 199; Tellenbach, Bedeutung, S. 1010. 137 ¨ bersicht bei Landau, Gratian, Ebd. Vgl. zu Gratians Quellen etwa die gute U S. 25 ff. 138 Vgl. Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 202; sowie Berman, Recht, S. 332 ff. 139 Vgl. vor allem Horst Fuhrmann, Papst Gregor VII. und das Kirchenrecht. Zum Problem des Dictatus Papae, in: Stickler et al., La Riforma, S. 123–149, sowie ders., Reformpapsttum, S. 187 ff. 140 Vgl. ebd. Nach Fuhrmann, ebd., S. 176 f., nennen der Liber Pontificalis in seinem bis kurz vor das Jahr 900 reichenden a¨lteren Teil und die Papstbiographien bis ins 11. Jahrhundert keinen einzigen Papst, der eine Rechtsausbildung durchlaufen ha¨tte. Welch Kontrast zu den nahezu ausnahmslos (mindestens) am Kirchenrecht geschulten sog. „Juristenpa¨psten“ des spa¨ten 12. und dann vor allem 13. Jahrhunderts, deren Reihe man in der Regel mit dem Pontifikat Alexanders III. (1159–1181) beginnen la¨sst. Vgl. dazu ebd., 196 ff. 141 Ebd., S. 188.

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chenrechtliche Quellenliteratur wenig eigneten“.142 Gregor war daher nur ein schwaches Fortleben im Rechtsgeda¨chtnis der Kirche beschieden; der Anteil seiner rechtlichen Verlautbarungen etwa am maßgeblich gewordenen Decretum Gratiani fiel verschwindend gering aus.143 Allerdings ist auch Gregors Interesse an den u¨berlieferten Kanones und Dekretalen der Kirchengeschichte hinla¨nglich bekannt; dieses richtet sich vor allem auf die Frage, was aus ihnen u¨ber die Vorrechte des Petrusamtes abzuleiten war.144 Die „rapide Zuspitzung des Kirchenrechts auf den ro¨mischen Primat“ wird zu den vom beru¨hmten Reformpapst nachhaltig „befo¨rderten Entwicklungen“ geza¨hlt.145 Gratian hat in seinem Dekret denn auch „gregorianische“ Rechtssammlungen, wie etwa die des engen Gefa¨hrten Gregors, Anselm von Lucca, rezipiert. „This“, so Landau, „doubtless puts him substantially in line with Gregorian legal thought, e. g. when he stresses that the pope is entitled to modify canon law as he sees fit“.146 Dass der Papst nach Gratian das ius condendi canones (C. 25 q. 1 c. 16) besitzt, ist eine Formulierung, die jener im Dictatus Papae Gregors VII. entspricht – dort heißt es unter Punkt VII.: „Quod illi soli licet pro temporis necessitate novas leges condere […]“.147 Auch wenn Gregors A¨ußerungen in seinem Dictatus selten wortgetreu in die zeitgeno¨ssischen kanonistischen Werke aufgenommen worden sind, so wurden doch seine Prinzipien nach Landau

142 Schieffer, Papst Gregor, S. 101; Zur Rezeption der Briefe Gregors im Kirchenrecht vgl. auch John Gilchrist, The Reception of Pope Gregory VII into the Canon Law (1073– 1141), in: ZRG KA 59, 1973, S. 35–82. 143 Vgl. Schieffer, Papst Gregor, S. 101. „[E]s ist gewiß kein Zufall,“ so Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 190 Anm. 33, „daß Gratian in sein Dekret von keinem Papst der Zeit von 1061–1118, von Alexander II. bis Paschal II., so wenige Texte rezipierte wie von Gregor VII.“. 144 Vgl. Schieffer, Papst Gregor, S. 34. Ein bekanntes Zeugnis dieses Interesses ist ein Brief des Petrus Damiani, geschrieben 1059 an den ro¨mischen Archidiakon Hildebrand, den spa¨teren Papst, in dem ersterer sagt, Hildebrand ha¨tte ihn damit beauftragt, eine Sammlung aller Statuten, die sich auf die Vorrechte des pa¨pstlichen Stuhls beziehen, zu erstellen. Vgl. dazu Landau, Development, S. 120. Die genannte Sammlung entsteht durch Damiani nicht, weshalb wohl Hildebrand-Gregor selbst anfa¨ngt entsprechende Rechtsquellen zu sammeln. Vgl. Schieffer, Papst Gregor, S. 34. 145 Ebd., S. 101. 146 Landau, Development, S. 129. 147 Vgl. Landau, Gratian, S. 44.

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zu einem integralen Bestandteil des Kirchenrechts der folgenden 150 Jahre.148 Mit dem von Gratian systematisierten und durch die pa¨pstlichen Dekretalen der Folgezeit weiterentwickelten kanonischen Recht – die epistolae decretales nehmen „seit Beginn des Pontifikates Alexanders III. 1159 in geradezu inflationa¨rer Weise“ zu149 – wird im Hochmittelalter eine gemeinsame Grundlage der europa¨ischen Rechtskultur gelegt.150 In seiner Eigenschaft als ein, wie Landau sagt, „spa¨testens 1234, also in der Zeit des beru¨hmten Gesetzbuchs Liber Extra von Papst Gregor IX., voll entwickeltes Rechtssystem“, hatte das kanonische Recht eine Vorbildfunktion fu¨r das neuzeitliche weltliche Recht.151 Es ist, etwa im Armenrecht, die „zeitlich erste Rechtsordnung gewesen, in der die auch fu¨r uns heute selbstversta¨ndlichen Faktoren der Rechtsfortbildung: Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft – fu¨r die Zeitgenossen erfahrbar geworden sind“.152 Diese Entwicklung – und damit kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zuru¨ck – baut in wesentlichen Teilen auf dem wechselseitigen Bedingungsverha¨ltnis von pa¨pstlicher Revolution und Kirchenrecht auf: Einerseits setzt der Aufstieg des Papsttums auf die Sammlung, Systematisierung und Interpretation des „vorher zersplittert tradierten“ alten Kirchenrechts; andererseits sind Einheitlichkeit, Praktikabilita¨t, Wandlungsfa¨higkeit und universaler Geltungsanspruch, die das sog. „klassische“, aber in vieler Hinsicht doch so neue kanonische Recht charakterisieren, nicht ohne die „Eta-

148 Vgl. Landau, Development, S. 121. Zum Dictatus Papae vgl. auch Fuhrmann, Papst Gregor, oder auch Schieffer, Papst Gregor, S. 35 ff., zu seiner geringen – man mo¨chte nun erga¨nzen: „wortwo¨rtlichen“ – zeitgeno¨ssischen Rezeption ders., Rechtstexte, S. 56 ff. 149 Landau, Rechtsfortbildung, S. 86. Die Dekretalen entwickeln sich nach Landau, ebd., S. 87 ff., im Hochmittelalter von ehemals pa¨pstlichen Rechtsa¨ußerungen in Einzelfragen und Einzelfa¨llen zu zunehmend generalisierten, den Konzilskanones als gleichwertig, dann sogar vorga¨ngig betrachteten pa¨pstlichen Entscheidungen in Rechtsangelegenheiten. Schon Gratian kommt in seinem Dekret zu dem Schluss einer Gleichrangigkeit von Kanones und Dekretalen; erst die nachgratianische Kanonistik hat dann aber, unter dem Eindruck der Pontifikate Alexanders III. und Innozenz‘ III., den Vorrang der Dekretalen vor allem u¨brigen Kirchenrecht endgu¨ltig festgeschrieben. Vgl. zum ersteren ebd., S. 89 ff.; zum letzteren ebd., 92 ff., sowie vor allem Mordek, Kanonistik, S. 72. Zum Dekretalenrecht insgesamt vgl. auch Landau, Development, S. 132 ff. 150 Vgl. Landau, Anfa¨nge, S. 411. 151 Vgl. Landau, Einfluß, S. 41. 152 Ebd., Herv. i. Orig.

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blierung des Papsttums als zentrale Institution“ zu verstehen.153 „Canon law“, so du¨rfen wir hier noch einmal Landau zitieren, „was the institutional foundation of the medieval papacy; but it also, and increasingly, became itself the product of that same, unique institution“.154 Die Kanonistik zwischen Legistik und Theologie. Der von Max Weber gewa¨hlte Zugang zum Recht ist ein vergleichender, zumal einer, der die verschiedenen religio¨sen Rechte vergleichend in den Blick nimmt.155 Dabei hatte Weber vor allem Differenzierung, „Sonderung“, wie er sagt, im ¨ berlegungen Sinn,156 und darauf kommt es auch uns in den folgenden U an. Weber interessiert sich im Vergleich der zeitlich wie geographisch so verschiedenen Rechtsbildungen vor allem fu¨r die Ursachen und Folgen von historisch gewachsenen Trennungen oder aber verbleibenden Vermengungen religio¨sen und profanen Rechts als den entscheidenden Mo¨glichkeitsoder aber eben Unmo¨glichkeitsbedingungen einer „Sa¨kularisation des Rechts“, der „Herausdifferenzierung eines streng formal juristischen Denkens“, schließlich: einer umfassenden Rationalisierung der Rechtskultur.157 „Entweder“, so schreibt Weber, „lo¨ste sich das heilige Gebot als ,fas‘ von dem ,ius‘ als dem gesatzten Recht fu¨r die Schlichtung der religio¨s indifferenten Interessenskonflikte der Menschen. Dann war diesem letzteren eine autonome Entwicklung zu einem je nachdem mehr logisch oder mehr empirisch gearteten rationalen und formalen Recht mo¨glich und ist auch in Rom ebenso wie im Mittelalter eingetreten. […] Oder jene Lo¨sung der heiligen Gebote vom weltlichen Recht fand nicht statt und die spezifisch theokratische Vermischung von religio¨sen und rituellen mit rechtlichen Anforderungen blieb bestehen: Dann entstand ein verschwommenes Ineinanderschieben

153 Fu¨r die Zitate vgl. Tellenbach, „Gregorianische Reform“, S. 109. Zu den zentralen Gebieten, in denen das kanonische Recht des 12. bis 14. Jahrhunderts gegenu¨ber jenem des ersten Jahrtausends ein „ius novum“, ein wesentlich neues Recht war, vgl. Landau, Anfa¨nge, S. 411. Zur Frage der Durchsetzung neuen Rechts im genannten Zeitraum vgl. ders., Die Durchsetzung neuen Rechts im Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts, in: Gert Melville (Hrsg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, Ko¨ln et al. 1992 (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Fru¨her Neuzeit, Bd. 1), S. 137–155. 154 Landau, Development, S. 117. 155 Vgl. MWG I/22–3, S. 510 ff., hier insb. S. 520 ff. 156 Vgl. ebd., S. 511 ff. 157 Vgl. ebd., Zitate: ebd., S. 511.

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Welche Alternative – ,Lo¨sung‘ oder ,Vermischung‘ religio¨sen und profanen Rechts – historisch jeweils eingetreten ist, ist fu¨r Weber abha¨ngig zum einen von den oben bereits zur Sprache gebrachten unterschiedlichen Machtverha¨ltnissen zwischen religio¨ser und politischer Fu¨hrerschaft, zum anderen von der „Struktur“ der politischen Herrschaft selbst.159 Zum Dritten aber auch von der, so Weber, „inneren Eigenart der betreffenden Religion und ihrem prinzipiellen Verha¨ltnis zu Recht und Staat“.160 Insbesondere mit Blick auf das kanonische Recht ist dieses „prinzipielle Verha¨ltnis“ der Religion, des Christentums also, „zu Recht und Staat“ relevant geworden. Der „klare[…] Dualismus“, in dem es dem profanen Recht gegenu¨berstand sowie, dass es „wesentlich formaler und sta¨rker formal juristisch entwickelt [war] als die anderen heiligen Rechte“, hebt es fu¨r Weber aus der Gruppe der religio¨sen Rechtsbildungen deutlich hervor.161 Als eine entscheidende Ursache fu¨r den „relativ rationalen Charakter“ des okzidentalen Kirchenrechts fu¨hrt der Soziologe eine „Sonderung“ an, die wir im Folgenden na¨her besehen wollen. Dabei kommt es uns vor allem auf deren Unwahrscheinlichkeit und Sto¨rbarkeit an: „Im Mittelalter“, so na¨mlich Weber, „sonderte […] die abendla¨ndische Universita¨tsbildung den Lehrbetrieb der Theologie auf der einen Seite und den des weltlichen Rechts auf der anderen Seite von der kanonischen Rechtslehre und hemmte so die Entstehung theokratischer Mischbildungen, wie sie u¨berall sonst eingetreten sind“.162 Die Weber’sche Pointe ist hier: stabilisierte Distanz der Kanonistik zur Theologie und zur Legistik zugleich und das innerhalb des Lehrbetriebs der mittelalterlichen Universita¨t. Die erste Sonderung, um die es uns geht, ist die von der Theologie. Manche Literatur dazu nimmt diesen Punkt vergleichsweise leicht. Man liest etwa, das kanonische Recht habe sich im 12. Jahrhundert „als eigensta¨ndige Wissenschaft“ von der Theologie – immerhin der scientia domini – „ge-

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Ebd., S. 512 f., Herv. i. Orig. Vgl. ebd., S. 513. Ebd. Vgl. ebd., S. 544 f., Zitate: ebd., Einf. d. Verf. Ebd., S. 545.

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lo¨st“.163 Bei Berman sto¨ßt man entsprechend auf eine Dekompositionsfigur von Differenzierung: Zuna¨chst „Verflochtenheit“ (Stephan Kuttner) von kanonischem Recht und Theologie, dann beidseitige Verselbststa¨ndigung.164 Richtig ist daran zuna¨chst, dass noch bis Mitte des 12. Jahrhunderts die na¨here Befassung mit Fragen des Kirchenrechts relativ selbstversta¨ndlich als ein (praktisch) theologisches Unterfangen verstanden und beschrieben worden ist.165 Selbst Gratian, dessen Dekret sich ja in den folgenden Jahrzehnten zur Grundlage der klassischen kanonistischen Wissenschaft entwickeln sollte, scheint noch ebenso sehr Theologe wie Jurist gewesen zu sein.166 Mit der Dekretistik der 1150er Jahren beginnen jedoch theologische und juristische Beobachtungsschemata sich allma¨hlich voneinander zu lo¨sen.167 Schon Stephan von Tournai, so James A. Brundage, 163 Georg Miczka, „Utrumque Ius“ – eine Erfindung der Kanonisten?, in: ZRG KA 57, 1971, S. 127–149, hier S. 149; vgl. auch Zapp, Corpus, Sp. 264. 164 Vgl. Berman, Recht, S. 327 ff., insb. S. 330 ff. Ganz auf die Autonomiebegrifflichkeit setzend, dabei jedoch mit prima¨r dem Recht (kanonischem und ro¨mischem zugleich) im Blick: Bellomo, Rechtseinheit, insb. S. 47 ff. bzw. S. 60 ff. 165 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch John van Engen, From Practical Theology to Divine Law. The Work and Mind of Medieval Canonists, in: Peter Landau/Joers Mu¨ller (Hrsg.), Proceedings of the Ninth International Congress of Medieval Canon Law. Mu¨nchen, 13–18 July 1992, Citta` del Vaticano 1997 (= MIC, Ser. C, Bd. 10), S. 873– ¨ berlegungen zur Entstehung der Kanonistik als Rechtswissenschaft, 896; Herbert Kalb, U ¨ AKR 41, 1992, S. 1–28; sowie ders., Juristischer und theologischer Diskurs und die O ¨ ARR 47, 2000, S. 1–33. Entstehung der Kanonistik als Rechtswissenschaft, O 166 Vgl. Landau, Gratian, S. 53. Zur sta¨rkeren ,Sakramentalisierung‘ und ,Juridifizierung‘ des Kirchenrechts bei Gratian vgl. auch Peter Landau, Wandel und Kontinuita¨t im kanonischen Recht bei Gratian, in: Ju¨rgen Miethke/Klaus Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erkla¨rungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 215–233, hier insb. S. 229. Kritisch zur These des beru¨hmten Rechtshistorikers Rudolf Sohm, nach der mit Gratian eine Phase ,altkatholischen Sakramentenrechts‘ zum kro¨nenden Abschluss gekommen sei sowie nach Gratian eine Phase ,neukatholischen Ko¨rperschaftsrechts‘ begonnen habe, ebenfalls Peter Landau, Sakramentalita¨t und Jurisdiktion, in: Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/Klaus Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. 2: Zur Geschichte des Kirchenrechts, Gu¨tersloh 1995, S. 58–95. Zur These Sohms vgl. hier auch Berman, Recht, S. 331 ff. 167 Vgl. dazu auch Stephan Haering, Gratian und das Kirchenrecht in der mittelalterlichen Theologie, in: MThZ 57, 2006, S. 21–34, hier S. 27 ff., fu¨r den mit der Dekretistik der Prozess einer „gewisse[n] Entfremdung zwischen Theologie und Kirchenrecht“, und damit zugleich der einer „Verselbststa¨ndigung des Kirchenrechts gegenu¨ber der Theologie“ einsetzt (ebd., S. 28). Das Dekret Gratians selbst la¨sst sich daher im Ru¨ckblick fu¨r Haering (ebd., S. 31, a¨hnlich S. 27) auch als die „Geburtsstunde einer eigensta¨ndigen Kirchenrechtswissenschaft“ bezeichnen.

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„writing between 1166 and 1168, reckoned that theologians and canon lawyers showed different interests and distinct viewpoints even when, as often happened, they dealt with the same texts“.168 In der zweiten Ha¨lfte des 12. Jahrhunderts beginnen Kanonisten damit, auf moralische Problemstellungen dezidiert „legalistische“ Ansa¨tze anzuwenden.169 Sie fokussieren zunehmend trennscharf allein die juristischen Aspekte einer gegebenen ¨ berSachlage und lassen demgegenu¨ber von moralischen bzw. ethischen U legungen ab: „Lawyers“, so noch einmal Brundage, „confined themselves to deciding what was lawful in a particular situation, and left it to theologians to puzzle out what was right and just“.170 Um die Mitte des 13. Jahrhunderts zirkuliert bereits eine Liste mit Punkten, in denen sich die Lehrmeinungen der Kanonisten von denen der Theologen unterscheiden;171 am Ende desselben Jahrhunderts gelten dann den meisten Zeitgenossen Kanonistik und Theologie als zwei unterschiedliche und voneinander getrennte wissenschaftliche Disziplinen.172 Eine wesentliche Voraussetzung fu¨r diese Entwicklung scheint neben den vorbereitenden Ordnungs-, Systematisierungs- und Interpretationsleistungen Gratians sowie den regen Austauschbeziehungen zwischen Kanonistik und Legistik, den wir uns im Folgenden noch zuwenden werden, auch die ebenfalls seit Mitte des 12. Jahrhunderts so versta¨rkt einsetzende Dekretalengesetzgebung der Pa¨pste zu sein. Durch sie werden die pa¨pstlichen Rechtsa¨ußerungen zur dominanten Quelle gegenwa¨rtigen, also „neuen“ Rechts und zum zentralen Objekt des kanonistischen Studiums neben den Kanones der Konzilien und Synoden.173 Mit Stefan Meder kann man sagen: Es ist diese zweiseitige „Bildung 168 James A. Brundage, The Medieval Battle of the Faculties: Theologians v. Canonists, in: Uta-Renate Blumenthal/Anders Winroth/Peter Landau (Hrsg.), Canon Law, Religion, and Politics. Liber Amicorum Robert Somerville, Washington 2012, S. 272–283, hier S. 278; Quellenangabe zur Summa Stephans und weiterer Literatur ebd., Fn. 29. 169 Vgl. ebd., S. 279. 170 Ebd. 171 ¨ berlieferung dieser „Differenzienliste“ wurde durch Rudolf Die a¨lteste bekannte U Weigand, Ein Zeugnis fu¨r die Lehrunterschiede zwischen Kanonisten und Theologen aus dem 13. Jahrhundert, in: RDC 24, 1974, S. 63–71, bekannt gemacht. Vgl. dazu Herbert Kalb, Bemerkungen zum Verha¨ltnis von Theologie und Kanonistik am Beispiel Rufins und Stephans von Tournai, in: ZRG KA 72, 1986, S. 338–348, hier S. 341 f. sowie ferner Brundage, The Medieval Battle, S. 279; Haering, Gratian, S. 31. 172 Vgl. ebd., S. 30 ff.; Brundage, The Medieval Battle, S. 279. 173 Vgl. ebd., S. 278. Vgl. dazu auch Landau, Development, S. 132 f., der den Einsatz der fru¨hen Dekretalistik (im Gegensatz zur Dekretistik) mit dem Erscheinen der be-

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eines eigenen Textkanons“, mit dem das kanonische Recht „gegenu¨ber der Theologie jenes Maß an Unabha¨ngigkeit [gewinnt], die fu¨r die Ausdifferenzierung eines selbststa¨ndigen Wissenschaftszweiges unerla¨ßlich ist“.174 Doch auch wenn, wie Stephan Haering formuliert, „die bald nach Erscheinen von Gratians Dekret einsetzende Emanzipation des Kirchenrechts von der Theologie rasch zu einer Verfestigung der Eigensta¨ndigkeit der Kanonistik gefu¨hrt hat“,175 so war dieser Prozess doch sicherlich kein „Selbstla¨ufer“. Berman hat auch dies im Blick, wenn er, nah an Weber formulierend, auf den „Kampf“ und die „Spannung“ zwischen den „rationalen, wissenschaftlichen und formalistischen Haltungen einerseits“ und den „mythischen, poetischen und charismatischen Haltungen andererseits“ eingeht, die den Vorgang der Differenzierung von Kanonistik und Theologie in seinen Augen begleitet haben.176 Die „neue Jurisprudenz“, so fa¨hrt Berman fort, brauchte immerhin „drei Generationen, um Fuß zu fassen“ sowie „Jahrhunderte, um voll in Gang zu kommen“.177 Man kennt diesbezu¨glich die von monastisch-mystischer Seite lebhaft vorgetragenen Klagen u¨ber die am pa¨pstlichen Hofe angeblich herrschenden und tolerierten Appellationsmissbra¨uche.178 Bernhard von Clairvaux richtet sein Traktat De Consideratione (1148) eigens an seinen zum Papst aufgestiegenen Schu¨ler Eugen III. und prangert darin u. a. das Unwesen der Advokaten, Richter und Prokuratoren am ro¨mischen Hof an.179 Auch a¨ußert der beru¨hmte Zisterziensermo¨nch in seinem Schreiben sein Missfallen am ro¨mischen Recht, indem er etwa in belehrendem Ton den Vorwurf erhebt, „im Papstpalast fa¨nden die ru¨hmten Dekretalensammlung Bernhard von Pavias in Zusammenhang bringt. Bernhards Breviarium extravagantium decretalium versammelte alle Dekretalen seit 1140 und „joined“, so Landau (ebd., S. 133), „the Decretum as a fundamental textbook of canon law, the source for all study of the decretals“. 174 Stephan Meder, Rechtsgeschichte. Eine Einfu¨hrung, 3. u¨berarb. u. erg. Aufl., Ko¨ln et al. 2008, S. 137, Einf. d. Verf. 175 Haering, Gratian, S. 30, Herv. d. Verf. 176 Berman, Recht, S. 323 f.; vgl. hier aber auch schon S. 322, Herv. d. Verf.: „Die Ableitungsschritte der westlichen Jurisprudenz aus der Theologie des 11. und 12. Jahrhunderts waren nicht so natu¨rlich, wie sie den Beteiligten vielleicht erschienen sind.“ Man mo¨chte erga¨nzen: Auch nicht so natu¨rlich, wie sie manchen Unbeteiligten aus heutiger Sicht erscheinen. 177 Ebd., S. 324. 178 Vgl. Adriaan H. Bredero, Bernhard von Clairvaux. Zwischen Kult und Historie, Stuttgart 1996, S. 27. 179 Vgl. ebd.

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Gesetze Justinians sta¨rkere Beachtung als die Weisungen des Herrn“.180 In diesem Zusammenhang darf dann auch an die Konzilien des 12. Jahrhunderts erinnert werden, an Reims (1131) und Tours (1163), die den Mo¨nchen und Teilen des Weltklerus das Studium des weltlichen Rechts untersagen.181 Die Bedenken, die das kanonische Recht zuna¨chst wohl nicht mittangiert haben, richten sich dabei teils auf Gewinnsucht und Ehrgeiz, teils auf Schicklichkeit (der Mo¨nch als Advokat); spa¨ter geht es auch um die Hebung und Sicherung des Theologiestudiums im Verha¨ltnis zu den sog. scientiae lucrativae, zu den neben der Medizin und der Legistik dann auch die Kanonistik geza¨hlt wird.182 Es ist ein „ganz unziemliche[r] Vorrang“ der Mediziner und Juristen gegenu¨ber den Theologen „bei ihren Lebenschancen“, so Ju¨rgen Miethke, auf den die vielzitierten Verse des 12. Jahrhunderts Dat Galienus opes et sanctio Iustiniana / Ex aliis paleas, ex istis collige grana… anspielen.183 Vor allem Brundage hat den „mittelalterlichen Kampf der Fakulta¨ten“ von Theologie und Kanonistik wunderbar beschrieben und auch auf seine Bedeutung fu¨r die Entstehung der juristischen Profession seit Ende des

180

Ebd.; vgl. dazu auch Berman, Recht, S. 323. Vgl. ebd.; Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 195 f. 182 Zu denken ist in diesem Zusammenhang an das Lehrverbot fu¨r ro¨misches Recht an der Pariser Universita¨t, das Papst Honorius III. 1219 mit seiner Dekretale Super specula aussprach. Eine folgenschwere Entscheidung, wie Brundage, The Medieval Battle, S. 279, festha¨lt, die „not only seriously diminished the size of the law faculty there, but also gravely handicapped Parisian students of canon law as well.“ Vgl. zu Honorius, dem Lehrverbot und seinen Folgen auch Stephan Kuttner, Papst Honorius III. und das Studium des Zivilrechts, in: Ernst von Caemmerer et al. (Hrsg.), Beitra¨ge zum Zivilrecht und internationalen Privatrecht. Festschrift fu¨r Martin Wolff, Tu¨bingen 1952, S. 79–101; sowie James A. Brundage, The Medieval Origins of the Legal Profession. Canonists, Civilians, and Courts, Chicago/London 2008, S. 231 ff. 183 Ju¨rgen Miethke, Karrierechancen eines Theologiestudiums im Spa¨teren Mittelalter, in: ders., Studieren an mittelalterlichen Universita¨ten. Chancen und Risiken, Leiden/ Boston 2004 (= Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, Bd. 19), ¨ bersetzungsvorS. 97–131, hier S. 109 f., Erg. d. Verf.; vgl. mit dem entsprechenden U schlag „Reichtu¨mer schenkt Dir Galen und die Justinianische Weisung, Hole aus anderem Stroh, aus diesen Korn Dir zur Speisung…“ dazu auch ders., De potestate papae. Die pa¨pstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tu¨bingen 2000, S. 4; vor allem aber immer noch Stephan Kuttner, „Dat Galienus opes et sanctio Justiniana“, in: Alessandro S. Crisafulli (Hrsg.), Linguistic and Literary Studies in Honor of Helmut A. Hatzfeld, Washington, DC 1964, S. 237–246. 181

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12. Jahrhunderts aufmerksam gemacht.184 Die Kanonisten lassen sich sei¨ bergang zum nes Erachtens als die erste Berufsgruppe bezeichnen, die im U Spa¨tmittelalter eine professionelle Identita¨t im engeren Sinne dieses Begriffs entwickelt ha¨tten.185 Der Kanonist wird zu einer „Leistungsrolle“ des Rechtssystems, dessen Einsatzmo¨glichkeiten auch jenseits der kircheigenen Rechtsprechung und Administration vielfa¨ltig sind.186 Bald schon, so Stichweh, „steht dem im kanonischen Recht gebildeten und mit Pfru¨nden ausgestatteten Kleriker nahezu jede administrative und beratende Position am Hof und in der Verwaltung des Fu¨rsten offen, so daß Klerikerjuristen als eine generalistische Elite spa¨tmittelalterlicher europa¨ischer Gesellschaften aufgefaßt werden ko¨nnen“.187 Kennzeichnend fu¨r die Kirche jener Zeit ist aber – und der Autor bemerkt, dass „diese Besonderheit […] dem Katholizismus bis heute erhalten geblieben“ ist, – „daß sie Theologie und kanonisches Recht als zwei alternativ gelehrte Wissenssysteme und zwei alternative Studienwege kennt, die beide in kirchliche Elitepositionen fu¨hren ko¨nnen“.188 Die zweite Sonderung, die uns hier interessiert, ist nun jene des kanonischen Rechts gegenu¨ber der Legistik. Als Lehrfach fu¨r das ro¨mische Recht hat sich diese um 1130 in der Schu¨lergruppe des Irnerius bereits etabliert, 184 Vgl. fu¨rs erste Brundage, The Medieval Battle, zum letzteren James A. Brundage, Medieval Canon Law, London/New York 1995, S. 61 ff., inzwischen vor allem aber ders., The Medieval Origins, S. 75 ff., hier insb. S. 125. 185 Vgl. Brundage, Medieval Canon Law, S. 63; dazu vor allem auch ders., The Rise of Professional Canonists and Development of the Ius Commune, in: ZRG KA 81, 1995, S. 26–63; mit einem vierstufigen Phasenmodell der kanonistischen Professionalisierung (ebd., S. 30 ff.). Zum – auch aus professionssoziologischer Sicht u¨berzeugenden – Professionsbegriff des Autors vgl. ebd., S. 26 ff., insb. S. 30; ferner auch ders., Medieval Canon Law, S. 62 f. m. Anm. 57; sowie ders., The Medieval Origins, S. 2. 186 Fu¨r Literatur zum Begriff der „Leistungsrolle“ s. Anm. 65; zu den Einsatzmo¨glichkeiten der Juristen auch u¨ber den kirchlichen Bereich hinaus Brundage, Medieval Canon Law, S. 67 ff. 187 Stichweh, Der fru¨hmoderne Staat, S. 351; zum „generalistische[n] Moment des Klerikerstatus“ vgl. auch ebd., S. 175 f. Der privilegierte Status der Klerikerjuristen la¨sst sich noch bis in die Fru¨he Neuzeit beobachten, jenem historischen Ort, an dem sich nach Stichweh, ebd., S. 352 ff., der Juristenstand zunehmend aus den kirchlichen Zusammenha¨ngen lo¨st. Ausschlaggebend dafu¨r ist dem Autor nach nicht zuletzt der Primatswechsel der System/Umwelt-Beziehungen der fru¨hmodernen Universita¨t von Kirche/Religion hin zu Politik, welcher die Stellung und Dominanz professioneller Berufsgruppen, darunter eben auch die der Kanonisten, merklich verschiebt (vgl. ebd., S. 365). 188 Ebd., S. 351, Herv. i. Orig.

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als etwa zeitgleich, ebenfalls in Bologna, durch Gratian die wesentliche Grundlage fu¨r das Studium des kanonischen Rechts, den „zweiten Zweig der Rechtswissenschaft“, gelegt wird.189 Trotz ihrer Verspa¨tung entwickelt sich die Kanonistik, wie Hartmut Zapp formuliert, jedoch „bald zur ebenbu¨rtigen Schwester der aufblu¨henden weltlichen Jurisprudenz“.190 Eine Ebenbu¨rtigkeit, die vom 13. Jahrhundert an den Dualis des ius utrumque fu¨r die „beiden Rechte“, das ro¨mische Zivilrecht und das kanonische Recht, ermo¨glicht.191 Legisten und Kanonisten betreiben das gleiche intellektuelle Gescha¨ft: das Glossieren und Kommentieren von Rechtssammlungen – des Corpus Iuris Civilis hier, des Decretum Gratiani und der ihm nachfolgenden Dekretalensammlungen dort.192 Beide Gruppen haben dabei nach Berman auch die grundlegenden Theorien u¨ber das Wesen und die Funktionen des Rechts sowie die grundlegenden Methoden der Analyse und Synthese von Gegensa¨tzen gemeinsam – „Theorien und Methoden“, wie er sagt, die die Kanonisten „ebensosehr von den Vertretern des ro¨mischen Rechts entlehnten wie diese von ihnen“.193 Der Wissenstransfer zwischen Legistik und Kanonistik scheint damit jedenfalls keine „Einbahnstraße“ gewesen zu sein. Neben Theorien und Methoden werden nach Berman auch spezielle Rechtsbegriffe und -institutionen aus der neuen Wissenschaft vom kanonischen Recht in die ro¨mische Rechtswissenschaft der damaligen Zeit u¨bernommen.194

189 Vgl. Landau, Bologna, S. 64, Zitat: ebd.; zur Entstehung des Rechtsstudiums in Bologna und der Legistik dort auch S. 60 ff. sowie ders., Development, S. 123 ff. 190 Zapp, Corpus, Sp. 264 f. 191 Vgl. Winfried Trusen, Anfa¨nge des Gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Fru¨hrezeption, Wiesbaden 1962 (= Recht und Geschichte, Bd. 1), S. 22 ff., hier insb. S. 24. Zur Begrifflichkeit und ihrer Geschichte vgl. auch Miczka, „Utrumque Ius“, der den Term in seiner dem spa¨teren Mittelalter und uns heute vertrauten Bedeutung als eine „Erfindung der Kanonisten des 12. Jahrhundert“ ausmacht (ebd., S. 143). 192 Auf kanonischer Seite bu¨rgert sich im 13. Jahrhundert die Rede vom Corpus Iuris Canonici ein; das geht bis zur Einheitsbetonung: „corpus iuris dividitur in ius canonicum et civile“. Vgl. dazu Zapp, Corpus, Sp. 263; zur „Analogie zwischen ro¨mischer Rechts- und der Kirchenrechtswissenschaft“ auch Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 195; zu den gemeinsamen „Literaturgattungen“ der Rechtslehre in Bologna auch Landau, Bologna, S. 65 f., sowie ders., Development, S. 129 ff. 193 Berman, Recht, S. 338. Brundage, Medieval Canon Law, S. 59 f. spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „symbiotic relationship between the two learned laws“. 194 Vgl. Berman, Recht, S. 338.

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Gleichwohl – und darauf kommt es uns hier an – fu¨hren allerlei Austausch und Gemeinsamkeiten von Kanonistik und Legistik nicht zu deren Fusion. Beide bleiben „zwei verschiedene ,iurisprudentiae provinciae‘“195, verschiedenen Rechtsquellen verpflichtet. Fu¨r Landau ist es die Synthese juristischer und theologischer Zuga¨nge, die die Wissenschaft des kanonischen Rechts von der des ro¨mischen Rechts scharf unterscheidet.196 Diese Differenz setzt voraus, dass einerseits der bereits oben beschriebene „Entfremdungsprozess“197 der Kanonistik von der Theologie ¨ bernahme legistischer Ansa¨tze setzend – – obwohl doch stark auf die U fu¨r erstere auch la¨ngerfristig keine „sa¨kularisierenden“ Folgen hat; andererseits aber auch, dass sich die Legistik gegen die Schwesterdisziplin – die, wie Landau sagt, „in der Epoche von 1300 bis 1500 […] zur beherrschenden Wissenschaft der Zeit“198 wird – auf Dauer behaupten kann. Fu¨r die Kanonistik, von der aus wir hier die „Sonderungen“ im Weber’schen Sinne betrachten, la¨sst sich jedenfalls formulieren, dass sie als Universita¨tsfach zwar eine Distanz zur Theologie entwickelt, dabei aber auch eine Distanz gegenu¨ber der Legistik beha¨lt. Sich als Rechtswissenschaft zu etablieren und zugleich als selbststa¨ndige Disziplin gegenu¨ber der Legistik auftreten zu ko¨nnen, baut nach Landau auf eine „Sakramentalisierung“ und „Juridifizierung“ des kirchlichen Rechts, die vor allem von Gratian in seinem Decretum geleistet worden sei.199 Sie fu¨hre zu der „eigentu¨mlichen Zwischenstellung“ der Kanonistik „zwischen Theologie und Recht“, die bereits ihre beru¨hmten zeitgeno¨ssischen Vertreter wie Stephan von Tournai im 12. oder Hostiensis im 13. Jahrhundert bescha¨ftigt ha¨tten.200 Wie schon im 195

Trusen, Anfa¨nge, S. 22. Vgl. Landau, Development, S. 132. 197 Haering, Gratian, S. 31. 198 Peter Landau, Schwerpunkte und Entwicklung des klassischen kanonischen Rechts bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Martin Bertram (Hrsg.), Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des allgemeinen Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert, Tu¨bingen 2005 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 108), S. 15–31, hier S. 30. 199 Vgl. Landau, Wandel, S. 229. 200 Vgl. mit Zitaten ebd. Die Gastmahlszene im Prolog der Summe des Stephan von Tournai ist nach Landau, ebd., Anm. 74, wohl der erstmalige Versuch, die Stellung der Kanonistik zwischen Theologie und Jurisprudenz methodologisch zu bestimmen. Vgl. dazu auch Herbert Kalb, Studien zur Summa Stephans v. Tournai. Ein Beitrag zur kanonistischen Wissenschaftsgeschichte des spa¨ten 12. Jahrhunderts, Innsbruck 1983 (= Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte, Bd. 12), S. 29–83; ders., Bemerkungen, 196

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Verha¨ltnis zur Theologie wird auch im Verha¨ltnis zur weltlichen Rechtswissenschaft die kanonistische Unabha¨ngigkeit durch „getrennte Studienga¨nge, getrennte Fakulta¨ten und getrennte Examina“ (Gero Dolezalek) institutionell gestu¨tzt.201 Und auch hier halten eine wechselseitige Beobachtung mit Distinktionsbedu¨rfnissen und Ho¨herwertigkeitsambitionen die eigene Disziplin zur anderen in sicherem „Konkurrenzabstand“.202 Der Dualismus von kanonischem und ro¨mischem Recht. Mit der Beziehung der kanonischen Rechtslehre zur Legistik ist jenes Verha¨ltnis, das uns hier drittens und abschließend bescha¨ftigen soll, bereits wesentlich beru¨hrt. Ausgehend von der Beobachtung, dass die konstitutive Zweiheit des europa¨ischen Rechts im Mittelalter eine Zweiheit von geistlicher Einheit und weltlicher Vielheit ist, hatten wir den Dualismus von kanonischem und ro¨mischem Recht als das Verha¨ltnis von „zweierlei Recht“ im engeren Sinne bezeichnet. Gleichwohl gilt das „Gegenu¨ber“ von kirchlichem und ro¨mischem Recht weithin als der repra¨sentative Fall – und dies nicht nur fu¨r die Dualita¨t des Rechts, sondern auch fu¨r die der mittelalterlichen Sozialstruktur insgesamt. Feine etwa versteht das Corpus Iuris Civilis und das Corpus Iuris Canonici „zusammen als Ausdruck der großen Zweiheit von Imperium und Sacerdotium, in die fu¨r den mittelalterlichen Menschen das irdische Weltganze gegliedert ist“.203 Indem sich beide Rechtskorpora S. 346 f.; sowie zu Hostiensis Knut Wolfgang No¨rr, Der Kanonist und sein Werk im Selbstversta¨ndnis zweier mittelalterlicher Juristen. Eine Exegese der Proemien des Hostiensis und Durandi, in: Klaus Herbers/Hans Henning Kortu¨m/Carlos Servatius (Hrsg.), Ex ipsis rerum documentis. Beitra¨ge zur Media¨vistik, Festschrift fu¨r Harald Zimmermann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1991, S. 373–380, hier S. 376; Brundage, The Medieval Battle, S. 280 f. 201 Vgl. dazu auch Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 195. Universita¨ten, wo kanonisches und ro¨misches Recht eine einzige Fakulta¨t bilden, sind jedoch bekannt: In Padua und Montpellier kann nach Miczka, „Utrumque Ius“, S. 131, sicherlich seit Beginn des 14. Jahrhunderts der Doktor beider Rechte als doctor in utroque iure auf Grund einer einzigen Pru¨fung erworben werden. 202 Vgl. fu¨r die Seite der Legisten etwa Peter G. Stein, Ro¨misches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur, 3. Aufl., Frankfurt am Main, S. 68 f.; auf kanonistischer Seite trifft man im Proo¨mium der Dekretalensumme des Hostiensis auf die Idee eines heilsgeschichtlichen Nacheinanders von ro¨mischem und kanonischem Recht, wa¨hrend Gratian, hundert Jahre zuvor, noch kaum u¨ber kategorisierende und hierarchisierende Einteilungen des ro¨mischen Rechts hinausgekommen war. Vgl. dazu Knut Wolfgang No¨rr, ¨ ber drei Schnittstellen im Recht der mittelalterlichen Kirche, in: Recht und Religion. U ZRG KA 79, 1993, S. 1–15, hier S. 2 ff. 203 Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 4, Herv. d. Verf.; a¨hnlich ebd., S. 299.

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„[e]benbu¨rtig“ gegenu¨bersta¨nden, seien sie „Zeugen fu¨r die geistlich-weltliche Zweiheit der mittelalterlichen Lebensordnung“.204 Eindrucksvoll stellt sich damit die Tatsache dieser Differenzierung in zweierlei Recht, und dabei Recht im selben Sinne und durchaus gleichen Ranges, fu¨r den zeitgeno¨ssischen wie gegenwa¨rtigen Beobachter dar. Gleichwohl ist eine damit suggerierte eindeutige Zuordnung des kanonischen Rechts zum geistlichen Bereich und des ro¨mischen Rechts zu dem des Weltlichen nicht unproblematisch. Dies ist der erste Aspekt des Verha¨ltnisses von kanonischem und ro¨mischem Recht, dem wir uns im Folgenden zuwenden wollen. Zuna¨chst ist wichtig, die „Polarisierung von kanonischem Recht als Papstrecht und weltlichem Recht als Kaiserrecht“ als ein Ergebnis der geistlich-weltlichen Auseinandersetzungen, die in diesem Beitrag bereits ausfu¨hrlich zur Sprache gekommen sind, zu verstehen.205 Das staufische Kaisertum reagiert auf die starke Verrechtlichung der Kirche und die Ausdehnung ihrer Regelungskompetenzen in den weltlichen Bereich mit der Appropriation und Indienstnahme des ro¨mischen Rechts.206 Auch ist bekannt, dass sich die Gelehrten im ro¨mischen Recht sta¨rker an den deutschen Ko¨nig und Kaiser hielten; „fru¨hzeitig“ schon, wie Fuhrmann dazu bemerkt, „noch bevor das staufische Kaisertum mit Nachdruck an das antike anknu¨pfte und Friedrich Barbarossa sich in Nachfolge der großen legislatoren Konstantin, Valentinian und Justinian sah“.207 Die Kirche, so liest man bei Johannes Fried, nahm die Bologneser doctores zwar ebenfalls bald in ihren Dienst; ihre Mitwirkung blieb dabei jedoch weitgehend auf Streitigkeiten zu pecuniaria res beschra¨nkt.208 Der Papst „mutete den ,legum doctores‘ keine politisch relevanten Aufgaben zu“ und verzichtete folglich

204

Ebd., S. 273, Herv. d. Verf. Diese „Zeugenschaft“ hat wie der religio¨s-politische Dualismus eine weit zuru¨ckreichende Historie: Von den Anfa¨ngen der Christenheit an werden schon die canones als die kirchlichen Normen von den leges als den weltlichen Normen unterschieden. Vgl. dazu Helmholz, Kanonisches Rechts, S. 3. 205 Vgl. Meder, Rechtsgeschichte, S. 139. 206 Vgl. ebd., S. 138 f.; dazu auch Hartmann, Investiturstreit, S. 121. 207 Fuhrmann, Reformpapsttum, S. 194, Herv. i. Orig., dort auch zu Irnerius und seiner Beziehung zu Heinrich V. Vgl. zu Irnerius Haltung ferner auch Landau, Development, S. 123; zum Zusammenhang vor allem Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena, Ko¨ln/Wien 1974 (= Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 21), S. 46 ff. 208 Vgl. ebd., S. 61 f., zur Beschra¨nkung S. 64.

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auch darauf, „Legisten gegen den Kaiser einzusetzen“.209 „Die ro¨mische Kurie“, so Fried weiter, „bedurfte ihres juristisch-politischen Rates nicht“.210 Dass es sich beim Codex Iustinianus um ein weltlich-kaiserliches Gesetzbuch handelt, mag dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben: Die Pa¨pste zeigten gegenu¨ber dem ro¨mischen Recht, wie Udo Wolter schreibt, „eine merkwu¨rdige Zuru¨ckhaltung, da sie als Gesetzgeber fu¨r den kirchlichen Bereich ihre Unabha¨ngigkeit von der kaiserlichen Gewalt demonstrieren wollten“.211 Sie selbst setzten – dies haben wir oben bereits eingehend beschrieben – zunehmend auf das kircheneigene Recht der Kanones und Dekretalen. Die politisch motivierte Indienstnahme oder aber Meidung einer der beiden Seiten des gelehrten Rechts in der religio¨s-politischen Auseinandersetzung des Hochmittelalters suggeriert eine Entgegenstellung von kanonischem und ro¨mischem Recht, die aber u¨ber deren enge und teils komplementa¨re Beziehung nicht hinwegta¨uschen sollte. So hatten wir bereits in Bezug auf das Verha¨ltnis von Kanonistik und Legistik auf einen wechselseitigen Theorien- und Methodentransfer zwischen den Disziplinen aufmerksam gemacht – mit Fried gilt hier: „Es war ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten.“212 Aber nicht nur „Theorien“ und „Methoden“, sondern auch das „Rechtsmaterial“ war Gegenstand von Austauschprozessen. So wurde etwa auf kanonistischer Seite das ro¨mische Recht vielfa¨ltig genutzt und rezipiert und im 13. Jahrhundert dann sogar ausdru¨cklich als „subsidia¨re und konfirmative Rechtsquelle“ fu¨r das kanonische Recht akzeptiert.213 Schon Gratian hatte bekanntlich den Vorschlag gemacht, in allen durch die kirchlichen Normen nicht geregelten Fa¨llen, dem ro¨mischen Recht zu folgen.214 Als Subsidiarita¨tsregel gilt dies dann auch zugleich in anderer Richtung, na¨mlich fu¨r den Fall, dass das ro¨mische Recht etwas nicht oder nicht sicher entscheidet und mit der Anwendung des kanoni209

Ebd., S. 64 u. S. 65, Herv. d. Verf. Ebd. Auf niedrigeren Ebenen wie an Bischofsho¨fen und bei gro¨ßeren Abteien scheint dies nach Fried jedoch anders gewesen zu sein. Vgl. dazu ebd., S. 65 ff. 211 Udo Wolter, Ius canonicum in iure civili. Studien zur Rechtsquellenlehre in der neueren Privatrechtsgeschichte, Ko¨ln/Wien 1975 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 23), S. 27 f. 212 Fried, Entstehung, S. 62. 213 Wolter, Ius Canonicum, S. 28. Zur „fortschreitenden Romanisierung der kanonistischen Wissenschaft“ seit dem spa¨ten 12. Jahrhundert auch Kuttner, Honorius, S. 89 f. 214 Vgl. Wolter, Ius canonicum, S. 28. 210

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schen Rechts der Gerechtigkeit mehr gedient sei.215 Die von solcherart Austausch, Kooperation und Subsidiarita¨t getragene Einheit von kanonischem und ro¨mischem Recht ru¨ckt im Laufe der Jahrhunderte deutlich in den Vordergrund, sodass im Spa¨tmittelalter beides dann nur noch ius commune heißt.216 Bezogen darauf gibt es dann auch rechtshistorische Stimmen, die „[d]ie reine Trennung der beiden Rechte, des Zivilrechts und des kanonischen Rechts“, als „eine moderne Konstruktion, nicht anders als jene vollkommene Trennung von Kirche und Staat“, ansehen.217 Bei vielerlei „Gemeinem“ von kanonischem und ro¨mischem Recht gibt es aber auch Unterschiedliches und Trennendes, das hier zweitens zur Sprache kommen soll. Eine grundlegende Differenz im Verha¨ltnis der gelehrten Rechte zueinander, die auch Berman betont, ist, „daß das kanonische Recht das positive Recht der Kirche war, wa¨hrend das ro¨mische Recht nicht das positive Recht irgendeines bestimmten politischen Gebildes im Westen war“.218 Dort wird das Recht Justinians „als ein ideales Recht verstanden, eine geschriebene Verko¨rperung der Vernunft, ratio scripta, deren Grundsa¨tze alle Rechtsvorschriften u¨berhaupt in der Kirche wie in der weltlichen Politik bestimmen sollten“.219 Gegenu¨ber dem kanonischen Recht, das „zwar aus der Vergangenheit u¨berliefert, aber nicht abgeschlossen“ ist und sich durch die kirchliche Rechtsprechung, Gesetzgebung und die gelehrte Reflexion in steter Entwicklung und Fortbildung befindet, besitzt das ius civile gleichsam den Status eines Rechts ,an sich‘: kontinuierend, „abgeschlossen und unvera¨nderlich“, ein Recht, das man „nur noch neu auszulegen, aber nicht mehr zu vera¨ndern“ hat.220 Nach Berman dient 215

Vgl. Trusen, Anfa¨nge, S. 25 Vgl. ebd., S. 22 ff., insb. S. 23; so auch Wolter, Ius canonicum, S. 23 f.; ferner Helmholz, Kanonisches Recht, S. 22. Vgl. zum ius commune die knappe, aber pra¨zise Beschreibung bei Brundage, Medieval Canon Law, S. 60 f., umfassender jedoch Bellomo, Rechtseinheit. 217 Ermini zitiert nach Trusen, Anfa¨nge, S. 22. 218 Berman, Recht, S. 338 f., Zitat: S. 338. 219 Ebd. 220 Vgl. ebd., S. 340 f., Zitate: S. 340. Fu¨r Berman (ebd.) ist die Differenz zwischen der Abgeschlossenheit und Invarianz des ro¨mischen Rechts einerseits und der „organischen Entwicklung“ und dem „Wachstum“ des kanonischen Rechts andererseits „[v]ielleicht der wichtigste Unterschied zwischen dem ro¨mischen und dem kanonischen Recht“. Diese Gewichtung erkla¨rt sich daraus, dass der Autor im „Glauben an den Entwicklungscharakter des Rechts“ einen der „Hauptzu¨ge der westlichen Rechtstradition“ erkennt (vgl. 216

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das ro¨mische Recht daher auch vorrangig als Quelle des positiven Rechts; Unterstu¨tzung aus ihr beziehen sowohl Kaiser als auch Pa¨pste.221 Positives Recht des westlichen Kaiserreiches oder der westlichen Kirche selbst wird es aber nur dann, wenn es „ausdru¨cklich durch Gesetzgebung oder juristische Auslegung eingegliedert“ wird.222 Mit Manilo Bellomo la¨sst sich zwischen der Benutzung und Anwendung des ro¨mischen Rechts als Teil des ius commune unterscheiden, um die wichtige praktische Bedeutung auch dieser Seite des „gelehrten Rechts“223 in seiner Funktion als Wertmaßstab, Darstellungsmodell und Versta¨ndigungsmittel fu¨r die angewandten Rechte der weltlichen Gemeinwesen und das der Kirche nicht zu u¨bersehen.224 Es stellt fu¨r diese – bald auch gemeinsam mit dem kanonischen Recht – juristische Figuren und Prinzipien, Termini und Argumentationstechniken zur Verfu¨gung und pra¨gt auf diese, na¨mlich mittelbare Weise auch die Rechtspraxis in Europa entschieden mit.225 Dem kanonischen Recht kommt, wie angedeutet, demgegenu¨ber vor allem Bedeutung in seiner Eigenschaft als das „positive Recht der Kirche“ zu. Es findet schon fru¨hzeitig praktische Anwendung, als es sich seit dem spa¨ten 12. Jahrhundert als ein „vom weltlichen Recht prinzipiell unabha¨ngiges“, na¨mlich „autonomes Rechtssystem“ etabliert.226 Mo¨glich wird dies vor allem durch die schon fru¨h hoch entwickelte Gerichtsbarkeit der Kirche, in der studierte Berufsrichter, sog. Offiziale, in Vertretung des jewei-

ebd., insb. S. 24 u. S. 27 f.) und dem kanonischen Recht hier eine Vermittlungsleistung zuschreibt (vgl. ebd., S. 340 f.). 221 Vgl. ebd., S. 338 f. 222 Ebd., S. 339. 223 Fu¨r eine Problematisierung des Begriffs des „gelehrten Rechts“ und seiner „Verwandten“ vgl. Kenneth Pennington, Learned Law, Droit Savant, Gelehrtes Recht: The Tyranny of a Concept, in: Syracuse J. Int’l L. & Com. 20, 1994, S. 205–215. 224 Vgl. Bellomo, Rechtseinheit, insb. etwa S. 84 f. u. S. 161 ff., der die Praxisfrage vor allem fu¨r das Verha¨ltnis des ius commune zu den iura propria, den Partikularrechten, aufwirft. Vgl. zu Bellomo hier auch Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa. Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon, Mu¨nchen 2010, S. 235: „Der Jurist benutzt das ius commune, um das ius proprium anzuwenden.“ 225 Vgl. Bellomo, Rechtseinheit, etwa S. 93 f., S. 100 f. o. S. 190. 226 ¨ berblick AnVgl. Landau, Einfluß, S. 40 ff., Zitat: S. 40; dazu auch im guten U dreas Hetzenecker, Die vergessenen Wurzeln der abendla¨ndischen Rechtstradition, in: JZ 61, Heft 6, 2006, S. 292–293, hier S. 293.

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ligen Bischofs Recht sprechen ko¨nnen.227 Im Gegensatz zur „zersplitterten weltlichen Gerichtsbarkeit“ arbeiten die kirchlichen Gerichte „wesentlich effizienter und oftmals weit weniger parteiisch“.228 Durch festgelegte, um Rationalita¨t bemu¨hte Verfahrens- und Beweisregeln mit Anspruch auf allgemeine Gu¨ltigkeit, durch ein umfassendes Appellationsrecht sowie einen geregelten Instanzenzug gewa¨hrt die Kirche den Menschen im Mittelalter ein ihnen bislang vo¨llig unbekanntes Maß an Rechtssicherheit.229 Vor allem Landau hat darin einen entscheidenden Beitrag des kanonischen Rechts zur europa¨ischen Rechtskultur gesehen.230 Ein weiterer wird von ihm mit dem „spannungsreichen Gleichgewicht[…] zwischen Gesetzgebung und Wissenschaft“, das die Zeit des klassischen kanonischen Rechts auszeichne, in Verbindung gebracht: Der enge Bezug und „die Wechselwirkung von Rechtswissenschaft und Legislation“ im Falle des kanonischen Rechts ha¨tten das 12. Jahrhundert zu einer „spezifisch juristischen Epoche“ gemacht und letztlich dazu gefu¨hrt, „daß man vom Recht fortan vor allem Rationalita¨t erwartete“.231 Das kanonische Recht habe durch die Entstehungsbedingungen von Recht in seiner klassischen Periode eine einzigartige Rolle bei der Rationalisierung der europa¨ischen Kultur gespielt; ein Zusammenhang, der zuerst in der universalgeschicht-

227

Vgl. ebd.; ebenso Landau, Einfluß, S. 48 f.; sowie ders., Development, S. 144. Zur Entwicklung und Funktion der Offizialate vgl. auch Winfried Trusen, Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: ders.: Gelehrtes Recht im Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, Goldbach 1997, S. 343–380 (zuerst in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europa¨ischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter, Mu¨nchen 1973, S. 467–504); sowie ders., Anfa¨nge, S. 34 ff. 228 Hetzenecker, Wurzeln, S. 293. 229 Vgl. ebd. 230 Vgl. Landau, Einfluß, S. 42 ff. 231 Ebd., S. 47. Der Zusammenhang von Rechtswissenschaft und Gesetzgebung ist nach Landau, Durchsetzung, S. 144, in der Zeit vor dem Pontifikat Innozenz’ III. so stark, dass sich dort „Rechtsneubildungen nur in einem Verha¨ltnis der Wechselwirkung von Papsttum und kanonistischer Wissenschaft vollziehen, wobei zuna¨chst eher die Wissenschaft als der sog. Gesetzgeber rechtsscho¨pferisch aktiv ist. Im 12. Jahrhundert hat die Wissenschaft der Kanonistik weitgehend die Funktion des legem condere, und nicht zuletzt darin muß die rechtsgeschichtliche Bedeutung dieser Epoche gesehen werden.“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch Berman, Recht, S. 336, sowie ferner die Ausfu¨hrungen von Ke´ry, Dekretalenrecht, S. 37 ff., zum Einfluss der Kanonistik auf die Ausbildung des Dekretalenrechts und ihre Kennzeichnung der Rechtsschule von Bologna als eine „NebenZentrale“ (ebd., S. 44) der Rechtsbildung gegenu¨ber dem kirchlichen Zentrum in Rom.

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lich orientierten Rechtssoziologie Max Webers erfasst worden sei.232 Fu¨r Weber, und darauf weist auch Landau an dieser Stelle hin,233 ist das kanonische Recht „doch von allen heiligen Rechten am meisten an streng formaler juristischer Technik orientiert“ und – in einem, wie er sagt, „zwischen sacralem und profanem Recht sonst nirgends bestehende[n] Verha¨ltnis“ – „fu¨r das profane Recht geradezu einer der Fu¨hrer auf dem Wege zur Rationalita¨t“ geworden.234 Eine weitere Besonderheit des klassischen kanonischen Rechts, die – wenn wir es richtig sehen – bisher weder von der rechtsgeschichtlichen noch rechtssoziologischen Literatur ausreichend gewu¨rdigt worden ist, dieses aber gegenu¨ber allen weltlichen Rechten, inklusive dem ro¨mischen Recht, auszeichnet, ist dessen Institutionalisierungsgrad. Bereits im ersten Teil unseres Beitrags hatten wir auf die Inkongruenz und Dissoziation bezu¨glich der Grenzen kirchlichen und weltlichen Rechts hingewiesen. Nur die lateinische Kirche kann in der hoch- und spa¨tmittelalterlichen Zeit als eine „allumfassende Rechtsgemeinschaft“ verstanden werden.235 Sie schließt, geographisch gesehen, den ganzen christlichen Okzident in sich ein,236 nicht nur das kontinentale Westeuropa, sondern etwa auch England, Skandinavien, Bo¨hmen oder Ungarn.237 Auch mit Blick auf seinen Adressaten- und Betroffenenkreis ist das kanonische Recht ferner, wie eben die lateinische Kirche zu jener Zeit selbst, nahezu vollsta¨ndig inklusiv: „Jedermann in der westlichen Christenheit“, so dru¨ckt es Berman aus, „lebte unter dem kanonischen Recht und unter einem oder mehreren weltlichen Rechtssystemen“.238 Wenn der Autor im Weiteren aber festha¨lt, dass keines dieser „nebeneinanderbestehenden Rechtssysteme“ – auch nicht jenes des Kirchenrechts – fu¨r sich beanspruchte, „allumfassend oder allkompetent zu sein“,239 so ist damit ein (im Falle der Kirche immer wieder und fu¨r lange Zeit widerwilliger) Verzicht auf Allzusta¨ndigkeit, also eine Selbstbeschra¨nkung in sachlicher Hinsicht, nicht jedoch der Institutionalisierungsgrad der 232

Vgl. Landau, Einfluß, S. 47. Vgl. ebd., Anm. 24. 234 MWG I/22–3, S. 547. 235 Vgl. Ulrich Eisenhartd, Deutsche Rechtsgeschichte, 5., u¨berarb. Aufl., Mu¨nchen 2008, S. 32, Zitat: ebd.; sowie Brundage, Medieval Canon Law, S. 2 f. 236 Kroeschell et al., Rechtsgeschichte, S. 1. 237 Wesel, Geschichte, S. 236. 238 Berman, Recht, S. 371. 239 Ebd. 233

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Rechtssysteme, nicht der Umfang ihrer „sozialen Unterstu¨tzung“ in der Gesellschaft gemeint: Im Gegensatz zu allen weltlichen Rechtssystemen handelt es sich beim Kirchenrecht in seiner klassischen Periode um ein gesellschaftsweit institutionalisiertes Recht, ein Recht also, das – mit Luhmann gesprochen und gedacht – zwar nicht in jeder Sache jeden adressiert oder gar betrifft, aber doch in jeder Sache „jeden beliebigen Dritten als Mittra¨ger in Anspruch nehmen kann“.240 In dieser sozialen Hinsicht spricht man von der ro¨mischen Kirche als „allumfassender“ oder auch „universaler Rechtsgemeinschaft“241 sicherlich zu Recht. Das kanonische Recht weist seit dem Hochmittelalter die gro¨ßte und im Grunde mit der Gesellschaft identische Tra¨gergruppe auf und kann daher fu¨r diese Zeit auch als ein „Gesellschaftsrecht“ bezeichnet werden.242 Diesem Status als Gesellschaftsrecht entspricht, dann wiederum in sachlicher Hinsicht, dass die vom kanonischen Recht im Mittelalter adressierten Sachbereiche und Personengruppen zwar durch konkurrierende Zusta¨ndigkeitsanspru¨che weltlicher Rechtssysteme begrenzt,243 aber – von moderner Warte aus betrachtet – ungemein umfangreich sind: Wa¨hrend noch das Kirchenrecht des Fru¨hmittelalters, das sog. ius ecclesiasticum, wohl am ehesten als 240 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 256, Herv. d. Verf.; vgl. hierzu und zum Folgenden Simon Hecke, Kanonisches Recht. Zur Rechtsbildung und Rechtsstruktur des ro¨mischkatholischen Kirchenrechts, Wiesbaden 2017, insb. S. 40 ff.. 241 Kroeschell et al., Rechtsgeschichte, S. 1. 242 Entsprechend gilt, dass der „gesellschaftsweit etablierten Organisation“ der Kirche im Hoch- und Spa¨tmittelalter „der Titel ,Institution‘ gebu¨hrt.“ Vgl. dazu Tyrell, Investiturstreit, S. 68 f., Zitat: S. 69. Zur Unterscheidung der Begriffe „Organisation“ und „Institution“ (vor allem auch am kirchlichen Fall) vgl. ders., Religion – Organisationen und Institutionen, in: Bernhard Scha¨fers/Justin Stagl (Hrsg.), Kultur und Religion, Institutionen und Charisma im Zivilisationsprozess. Festschrift fu¨r Wolfgang Lipp, Konstanz 2005, ¨ brigen natu¨rlich nicht im S. 25–56. Der Begriff des „Gesellschaftsrechts“ wird hier im U rechtswissenschaftlichen Sinne verwendet, wo er ein Gebiet des Privatrechts bezeichnet und nicht den Institutionalisierungsgrad einer Rechtsordnung meint. 243 Weber, MWG I/22–3, S. 548, Einf. d. Verf., sieht hier vor allem das ro¨mische Recht – gleichwohl mit legitimatorischer Unterstu¨tzung der Kirche – am Werk: „Die prinzipielle Schrankenlosigkeit des Anspruchs auf materiale Beherrschung der gesamten Lebensfu¨hrung, welche es [gemeint ist das kanonische Recht] mit allen theokratischen Rechten teilte, blieb im Occident fu¨r die juristische Technik um deswillen relativ unscha¨dlich, weil in Gestalt des ro¨mischen Rechts ein formal zu ungewo¨hnlicher Vollendung gediehenes und durch die historische Kontinuita¨t zum universalen Weltrecht gestempeltes profanes Recht ihm Konkurrenz machte: die alte Kirche selbst hatte das ro¨mische Imperium und sein Recht als fu¨r die Dauer der diesseitigen Welt endgu¨ltig bestehend behandelt.“

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ein Recht fu¨r und nicht als ein Recht von der Kirche bezeichnet werden kann – es umfasst in erster Linie weltliche (kaiserliche, ko¨nigliche, feudale) Gesetze zur inneren Ordnung und zum Schutze der Kirche –, handelt es sich beim Kirchenrecht im Gefolge der pa¨pstlichen Revolution, dem ius canonicum, bereits um ein „von der Kirche, aber bei weitem nicht nur fu¨r die Kirche gesetztes Recht“.244 In seinen Regelungsmaterien und in der Ausdehnung der geistlichen Gerichtsbarkeit greift das kanonische Recht in seiner klassischen Epoche weit in Gebiete aus, die man heute ganz selbstversta¨ndlich der staatlichen Rechtsordnung zurechnen wu¨rde, wie etwa das Erb- und Eigentumsrecht, das Familien- und darin insbesondere das Eherecht, das Vertrags-, das Prozess- sowie das Strafrecht.245 Die Kirche beansprucht innerhalb dieser Rechtsbereiche gegenu¨ber den weltlichen Ordnungen eine „sachbezogene Jurisdiktionsgewalt“, und zwar dies in all jenen Fa¨llen, in denen „sogenannte geistliche und mit solchen zusammenha¨ngende Angelegenheiten“ betroffen sind.246 Zu diesen za¨hlen hauptsa¨chlich solche, die mit Sakramenten, Testamenten, Pfru¨nden inklusive der Verwaltung des Kircheneigentums, Kirchena¨mtern und Kirchensteuern, Eiden und Gelu¨bden und schließlich Su¨nden, die Kirchenstrafen nach sich ziehen, zu tun haben.247 Die sachbezogene Jurisdiktion der Kirche erstreckt sich in den bestimmten juristischen Fa¨llen grundsa¨tzlich auf alle Personengruppen, auf Kleriker und Laien gleichermaßen.248 Daneben existiert allerdings noch ein „personenbezogener“ kirchlicher Jurisdiktionsanspruch, nach dem das kanonische Recht nicht – wie bei der sachbezogenen Jurisdiktion – in bestimmten Fa¨llen fu¨r alle Personen,

244

Vgl. Wesel, Geschichte, S. 159; Berman, Recht, S. 332; Zitat: Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europa¨ischen Geschichte von den Anfa¨ngen bis ins 21. Jahrhundert, Mu¨nchen 2009, S. 41. 245 Vgl. ebd.; Wesel, Geschichte, S. 159; Brundage, Medieval Canon Law, S. 70 ff. 246 Berman, Recht, S. 368. 247 Vgl. ebd.; sowie Trusen, Die gelehrte Gerichtsbarkeit, S. 361 f. Insbesondere ihr Anspruch auf Rechtsprechungskompetenz im Falle su¨ndhafter Vergehen ermo¨glichte der Kirche ihren Jurisdiktionsanspruch auch insgesamt gegenu¨ber den weltlichen Gewalten auszudehnen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts etwa formulierte Papst Innozenz III. in Anbetracht der erstarkenden weltlichen Gewalt das kirchliche Recht, jede juristische Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt der Su¨nde vor ein kirchliches Gericht zu bringen (vgl. ebd., S. 362, sowie auch Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte, Berlin 1993, S. 143). 248 Vgl. Berman, Recht, S. 368.

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sondern fu¨r bestimmte Personen in allen Fa¨llen anzuwenden ist.249 Zu den Personengruppen, u¨ber die die Kirche eine personenbezogene Jurisdiktion beansprucht, za¨hlen zuvorderst natu¨rlich die Geistlichen und die Mitglieder ihrer Haushaltungen, in der Regel aber auch Studenten, Kreuzfahrer, sog. personae miserabiles wie Arme, Witwen und Waisen,250 Juden in Fa¨llen, in die auch Christen verwickelt sind, und schließlich Reisende.251 Der Klerus ist also – anders als etwa die Mehrzahl der Laien – in allen seinen Angelegenheiten Adressat des kanonischen Rechts. Dem sog. privilegium fori nach du¨rfen Prozesse gegen oder von Klerikern allein vor kirchlichen Gerichten gefu¨hrt werden.252 IV. Historischer Ausblick Wir wollen unseren Beitrag mit einem bewusst knapp und abstrakt gehaltenen Ausblick auf die weitere Geschichte des Dualismus von kirchlichem und weltlichem Recht beschließen und knu¨pfen dazu an das soeben Gesagte unmittelbar an: Im Laufe seiner weiteren Entwicklung bu¨ßt das kanonische Recht erheblich an seinem Institutionalisierungsgrad ein. Wa¨hrend es eben im Hoch- und Spa¨tmittelalter als im Grunde genommen gesellschaftsweit institutionalisiert gelten darf, beschra¨nkt sich seine Geltung in der Moderne ausschließlich auf den Bereich der innerkirchlichen Kommunikation, dessen Grenzen nach innerreligio¨sen „Reformations-“ sowie umfassenderen gesellschaftlichen „Sa¨kularisierungsprozessen“ nicht la¨nger mit den Grenzen des Religions-, geschweige denn mit denen des Gesellschaftssystems „identisch“ sind. Knappe Hinweise auf diesen bemerkenswerten, soziologischerseits indes kaum recht begriffenen rechtshistorischen Vorgang findet man bei Hans Erich Feine. Dieser beschreibt in Anlehnung an Ulrich Stutz die Geschichte des kanonischen Rechts als Entwicklung, die von einem pa¨pstlichen „Weltrecht“ im Hoch- und Spa¨tmittelalter hin zu einem „Sonderrecht“ der „gro¨ßten christlichen Gemeinschaft“ im Gefolge der Reformation fu¨hrt.253 Durch die Gegenreformation und die Reformbeschlu¨sse des Trienter Konzils habe ein „Umbau des kanonischen Rechts“ stattgefunden, aus dem heraus ein Kirchenrecht entstanden sei, „das man wegen sei249 250 251 252 253

Vgl. ebd.; Trusen, Die gelehrte Gerichtsbarkeit, S. 359 ff. Vgl. dazu etwa Helmholz, Kanonisches Recht, S. 128 ff. Vgl. Berman, Recht, S. 368; Brundage, Medieval Canon Law, S. 71. Vgl. Berman, Recht, S. 368. Vgl. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 1 ff.

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ner Beschra¨nkung auf die katholische Kirche, die nicht mehr die einzige Kirche des Abendlandes war, als das ,katholische Kirchenrecht‘ bezeichnet hat“.254 Die Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, oder mit Berman (als „zweite“, der „pa¨pstlichen Revolution“ folgend): die „protestantische Revolution“,255 „sprengt“ die Einheit des mittelalterlichen Corpus Christianum; „durch Segmentierung“, so Luhmann, geht die „Kongruenz von korporativ organisierter Kirche und Religionssystem“256 unweigerlich verloren. Das Christentum zerfa¨llt nun – neben der bestehenden Spaltung in einen orthodoxen und einen lateinischen Teil – in mehrere Konfessionen, was schließlich zur Bildung einer Vielzahl von Kirchen neben der ro¨misch-katholischen Kirche fu¨hrt und dabei auch: zu einer Vielzahl von Kirchenrecht. Nicht nur der pa¨pstlichen, sondern auch der protestantischen Revolution kommen mithin dualistische Rechtsfolgen zu: letztere spaltet das bereits durch erstere vom weltlichen Recht geschiedene Kirchenrecht seinerseits in katholisches und evangelisches, und wie schon im Falle des Dualismus von kirchlichem und weltlichem Recht kommt es auch hier zu einem 254 Ebd., S. 450, Herv. i. Orig. Mit dem „katholischen Kirchenrecht“ ist bei Feine (ebd.) nur eine von zwei Perioden in der Geschichte des kanonischen Rechts der Neuzeit angesprochen, die er selbst – im Unterschied zu Stutz – als „[d]as nachkanonische, tridentinische Kirchenrecht“ bezeichnet. Fu¨r die Zeit seit dem 19. Jahrhundert spricht er dann vom „Vatikanischen Kirchenrecht“ (vgl. ebd., S. 600 ff.). Diese „letzte Kirchenrechtsperiode“ ist fu¨r ihn gekennzeichnet „durch weitgehende Abstreifung der kirchlichen Temporalien wie vor allem durch eine fortschreitende Spiritualisierung des Kirchenrechts und des gesamten kirchlichen Lebens […]. Außengebiete sto¨ßt die Kirche ab und konzentriert ihr Wirken und ihr Recht auf einen inneren Lebensbereich, vermag aber andererseits weit sta¨rker als bisher die Laienwelt fu¨r religio¨s-kirchliche Belange einzusetzen.“ (ebd., S. 4) Die erste Ausgabe von Feines Kirchlicher Rechtsgeschichte erschien 1950. Die Entwicklungen des Katholizismus, der katholischen Kirche und ihrem Recht in der zweiten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts – insbesondere jene im Zuge und Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils – waren zum damaligen Zeitpunkt, wie Feine, ebd., S. 5, selbst bereits formuliert, „fu¨r den Historiker noch nicht u¨berschaubar“. 255 Vgl. Berman, Recht, S. 42. Berman sieht die westliche Rechtstradition hervorgebracht und vera¨ndert durch eine Abfolge von sechs großen Revolutionen, worunter er nach der pa¨pstlichen eben die protestantische, dann die englische, die amerikanische, die franzo¨sische und schließlich die russische Revolution fasst (vgl. ebd., S. 41 f.). In seinem zweiten großen Band zur europa¨ischen Rechtsgeschichte hat Berman zudem zwischen einer „ersten“ und „zweiten“ protestantischen Revolution unterschieden und sich entsprechend mit der „deutschen“ und mit der „englischen Revolution“ auseinandergesetzt. Vgl. Harold J. Berman, Law and Revolution II. The Impact of the Protestant Reformations on the Western Legal Tradition, Cambridge/London 2003, hier insb. S. 3, S. 5 ff. u. S. 8 ff. Zur Abfolge der „six Great Revolutions“ vgl. dort auch S. 3 ff. 256 Luhmann, Funktion, S. 291.

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eigentu¨mlichen Gegenu¨ber von Recht im Singular und Recht im Plural: Wa¨hrend sich die katholische Seite im Gefolge der protestantischen Revolution um die Einheit des kanonischen Rechts bemu¨ht, produziert die protestantische Seite eine Vielheit an evangelischem Kirchenrecht. Beides ist dabei aufs Engste mit Prozessen der Konfessionalisierung und Territorialisierung verknu¨pft.257 Vor allem territorialen Grenzen kommt „als Symbol fu¨r Systemgrenzen“258 sowohl fu¨r die allgemeine Rechtsentwicklung wie auch fu¨r die Entwicklung von Kirchenrecht beiderlei Konfession ganz entscheidende Bedeutung zu.259 Nach Luhmann ermo¨glichen sie die Selektion und Spezifikation normativer Erwartungen durch den symbolischen, vor allem aber eindeutigen Bezug von Systemgrenzen auf ein bestimmtes Territorium.260 Eine „genaue Parallele“ zu diesem rechtsbildenden Prinzip erkennt der Soziologe „unterhalb der Ebene des gesamtgesellschaftlichen Systems im modernen Organisationswesen, wo die Eindeutigkeit der rollenma¨ßigen Unterscheidung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern die gleiche Funktion erfu¨llt, na¨mlich Grenzziehung und eingehende Detaillierung einer hochgradig selektiven normativen Struktur zu ermo¨glichen“.261 In diese Richtung denkt dann auch einer der beiden Autoren des vorliegenden Beitrags, wenn er an anderer Stelle, aber ebenfalls mit Mitteln der systemtheoretischen Rechtssoziologie, die langfristige Entwicklung des kanonischen Rechts als die von einem „Gesellschaftsrecht“ im Mittelalter zu einem „Organisationsrecht“ in der modernen Gesellschaft deutet.262 Anders als noch in der Periode des klassischen kanonischen Rechts ko¨nnen demnach die normativen Verhaltenserwartungen des ro¨misch-katholischen Kirchenrechts unter modernen Bedingungen nicht la¨nger auf die unterstellbaren Erwartungserwartungen jeglicher, sondern nur noch bestimmter, wenn auch im Einzelnen weiterhin unbeteiligter und unbekannter Dritter gestu¨tzt werden. Nicht mehr der abwesende und anonyme „Jedermann“, sondern nur noch Organisationsmitglieder „mit ,jedermann‘-Quali-

257 Zum Zusammenhang von Territorialisierung und Konfessionalisierung vgl. auch Stichweh, Der fru¨hmoderne Staat, S. 38 f. Dieser sieht in der Territorialstaats- und Konfessionsbildung – da die traditionellen Universalita¨tsanspru¨che von Reich und Kirche limitierend – „das bestimmende Moment der fru¨hneuzeitlichen und modernen Entwicklung von Staatlichkeit und Kirchlichkeit“ (vgl. ebd., S. 22). 258 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 126. 259 Vgl. fu¨r die allgemeine Rechtsentwicklung ebd., S. 126 ff. 260 Vgl. ebd., S. 127. 261 Ebd., S. 127 Anm. 179, Herv. i. Orig. 262 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hecke, Kanonisches Recht, insbes. S. 21 ff.

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ta¨t“263 stehen heute zur Unterstu¨tzung kanonisierter Rechtsnormen bereit. Fa¨llt die Erwartungsgrenze des kanonischen Rechts im Mittelalter daher noch weitestgehend mit der Gesellschaftsgrenze in eins, so stellt sie in der Moderne eine konfessions- bzw. kirchenbezogene, schließlich sogar lediglich kircheninterne Mitgliedschaftsgrenze dar: Zuna¨chst sind, mit Luhmann gesprochen, bloß noch Mitglieder der ro¨misch-katholischen Kirche, dann nur noch die Mitglieder der soziologisch sog. „engeren“ oder auch „beruflichen Organisation kirchlicher Arbeit“264 in ihrem Handeln und Erwarten an die Normativita¨t seiner Erwartungen gebunden; „andere verhalten sich dem System gegenu¨ber lediglich kognitiv und passen sich dessen Normierung lernend an“.265 Die Unterscheidung von Kirchenmitgliedern und Nicht-Kirchenmitgliedern, dann die von „amtstragenden“ und „einfachen“ Kirchenmitgliedern266 konstituiert unter modernen Bedingungen eine Bezugsgruppe des kanonischen Rechts, die die Funktion erfu¨llt, „partielle und damit differenzierbare Institutionalisierung“267 in einer Gesellschaft zu ermo¨glichen, in der eine gesellschaftsweite und in vielen Fa¨llen selbst kirchenweite Institutionalisierung kirchenrechtlicher Normen nicht la¨nger zu erreichen ist. Im Gegensatz zum kanonischen Recht, das also langfristig gesehen in seinem Prinzip der Rechtsbildung von der Systemebene der Gesellschaft auf die der Organisation – widerwillig und von Kirche und Kanonistik weitgehend unreflektiert – ¨ ber„heruntersteigt“,268 wird, mit Luhmann gesprochen, das weltliche Recht im U gang zur Moderne mehr und mehr zum „Mittel gesamtgesellschaftlicher Integration“; insofern jedenfalls, als es „zumindest in den territorialen Grenzen politischer Systeme die Erwartung von jedermann“ repra¨sentiert.269 Seine erwartungs263

Luhmann, Rechtssoziologie, S. 79. Niklas Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: Jakobus Wo¨ssner (Hrsg.), Religion im Umbruch. Soziologische Beitra¨ge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwa¨rtigen Gesellschaft, Stuttgart 1972, S. 245–285, hier S. 259; resp. ders., Funktion, S. 300. 265 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 256. 266 Vgl. zur Unterscheidung vor allem Luhmann, Funktion, S. 299 ff. Zu den insgesamt drei Formen der Kirchenmitgliedschaft, die Luhmann in seinen fru¨hen religionssoziologischen Studien ausmacht, vgl. ebd., S. 298 ff. u. ders., Organisierbarkeit, S. 258 f. 267 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 78. 268 Zur Ebenenunterscheidung vgl. klassisch Niklas Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufkla¨rung 2. Aufsa¨tze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 9–20; zur weiterfu¨hrenden Diskussion nun aber Bettina Heintz/ Hartmann Tyrell, Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen, Sonderheft der Zeitschrift fu¨r Soziologie, Stuttgart 2015. 269 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 79. 264

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sichernde Bedeutung fu¨r das Gesamtsystem der Gesellschaft ist Luhmann zufolge „so unerla¨ßlich, daß das Recht sogar seine religio¨se Legitimation verliert, wenn diese nur noch bezugsgruppenrelativ institutionalisiert werden kann; daß es eher auf seine Heiligkeit als auf gesamtgesellschaftliche Erwartungen verzichten kann“.270 Neben seiner Vereinheitlichung und Institutionalisierung im staatlichen, spa¨ter dann: nationalstaatlichen Rahmen werden damit also auch fu¨r das weltliche Recht, um auf der Gesellschaftsebene gebildet zu werden, Prozesse der Sa¨kularisierung zur Notwendigkeit, denn wie das kirchliche Recht wurde ja auch dieses im Mittelalter als letztlich auf das ewige Gesetz Gottes, die lex aeterna, bezogen und dadurch begru¨ndet gedacht.271 Die Zuweisung der gesellschaftlichen Rechtsbildung an „lokale politische Systeme“ fu¨hrt nach Luhmann bald jedoch zu jener „zunehmende[n] Diskrepanz zwischen dem Gesellschaftssystem auf der einen Seite, das eine globale Einheit anstrebt, und dem positiven Recht auf der anderen Seite, das innerhalb territorialer Jurisdiktionsgrenzen in Geltung gesetzt wird“.272 Dieser Widerspruch zwischen den Anspru¨chen gesamtgesellschaftlicher Rechtsbildung und der Entstehung einer (einzigen) „Weltgesellschaft“273 betrifft dann aber nur noch die eine Seite des urspru¨nglichen Dualismus von kirchlichem und weltlichem Recht: na¨mlich jene letztere, auf der die Erwartungsgrenze des entsprechenden Rechts an territoriale bzw. nationale Grenzen (man denke hier an das Territorialita¨ts- und Personalita¨tsprinzip), und nicht, wie bei der ersteren, an die Mitgliedschaft in einer religio¨sen Organisation geknu¨pft wird, die sich als eine nicht-staatliche Vereinigung sowohl trans-, sub- oder auch international gestalten kann.274

270

Ebd. Christoph Link, Art. „Go¨ttliches Recht“, Enzyklopa¨die der Neuzeit, Bd. 4, Sp. 1056–1059, hier Sp. 1056. 272 Vgl. dazu Luhmann, Rechtssoziologie, S. 333 ff., Zitate: S. 333, Ausl. u. Herv. d. Verf. 273 Zum Begriff der „Weltgesellschaft“ vgl. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: ders., Soziologische Aufkla¨rung, S. 51–71; Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000; sowie ders., Das Konzept der Weltgesellschaft. Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems, Rechtstheorie 39, 2008, Sonderheft „Weltrecht“ hrsg.v. Martin Schulte u. Rudolf Stichweh, S. 329–355. 274 Vgl. zur ro¨misch-katholischen Kirche in diesem Zusammenhang Stefan Nacke, Die Kirche der Weltgesellschaft. Das II. Vatikanische Konzil und die Globalisierung des Katholizismus, Wiesbaden 2010. 271

Die Konfessionalisierung des englischen Strafrechts1 Von Andre´ Krischer, Mu¨nster I. Sa¨kularisierung im Konfessionellen Zeitalter? Fu¨r eine Geschichte von Sa¨kularisierungsvorga¨ngen scheint die Fru¨he Neuzeit auf den ersten Blick eine ganz entscheidende Epoche gewesen zu sein. Denn zwischen 1500 und 1800 vollzogen sich die entscheidenden Wandlungen von einer durch und durch religio¨s impra¨gnierten Welt des Mittelalters zu jener Moderne des 19. Jahrhunderts, deren sa¨kulare Dimensionen nicht zu u¨bersehen waren. Fu¨r Ernst-Wolfgang Bo¨ckenfo¨rde vollzog sich „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Sa¨kularisation“ im Wesentlichen in dieser Epoche.2 Diese Sichtweise auf die Fru¨he Neuzeit als Transformationsepoche auf dem Weg zu einer sa¨kularen Moderne ist allerdings in ju¨ngerer Zeit vermehrt in die Kritik geraten. Dazu drei Punkte: 1. Zum einen wehren sich Media¨visten gegen das Bild ihrer Epoche als einer umfassend von Religion durchdrungenen Zeit, die dann nur den Ausganspunkt fu¨r Sa¨kularisierungsprozesse darstellte, selber aber keine sa¨kularen Tendenzen aufweisen wu¨rde.3 2. Horst Dreier hat in einem Beitrag von 2001 zur Diskussion gestellt, ob das konfessionelle Zeitalter tatsa¨chlich fu¨r einen Sa¨kularisierungsschub steht, den Bo¨ckenfo¨rde ihm zugeschrieben hatte. Der damals entstehende Staat habe sich u¨ber die konfessionellen Konflikte gesetzt, die religio¨se Wahrheitsfrage suspendiert und sich als weltliche Rechts- und Friedensinstanz etabliert. Religion sei zur Privatsache geworden. Unter Ru¨ckgriff auf 1 Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten, die Anmerkungen auf das No¨tigste beschra¨nkt. 2 Bo¨ckenfo¨rde, S. 75 – 94. 3 Etwa Steckel, S. 134 – 175.

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die Ergebnisse der historischen Forschung zum konfessionellen Zeitalter (Heinz Schilling, Wolfgang Reinhard) sieht Dreier ganz im Gegensatz zu Bo¨ckenfo¨rde allerdings eine Intensivierung der Verzahnung von Religion, Recht und Politik. Dies dokumentierte sich etwa in der Absicht der Obrigkeit, vermittels von Policey-, Kirchen- und Gerichtsordnungen auch u¨ber die religio¨se und sittliche Lebensfu¨hrung der Untertanen zu verfu¨gen. Dreier zieht daraus zwei Konsequenzen: Zum einen konservierten gerade das Alte Reich und seine Territorien die Bedeutung von Religion in einem Maße, dass hier wohl, u¨berspitzt formuliert, Sa¨kularisation und Sa¨kularisierung zusammenfielen, und zwar erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Und das ist auch schon die andere Konsequenz: Sa¨kularisierung war ein Fundamentalprozess, der zeitlich auf jeden Fall spa¨ter angesetzt werden muss als fu¨r das konfessionelle Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts.4 3. Ein Autorenteam um den Historiker Matthias Pohlig hat vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass der Begriff Sa¨kularisierung eine Großkategorie darstellt, die sich in der historischen Forschung kaum operationalisieren la¨sst.5 Das kann man ganz konkret an Charles Taylors „A Secular Age“ zeigen: Dieses gewaltige, fast 900 Seite starke Werk zeichnet die Ideengeschichte der Verweltlichung von 1500 bis zur Gegenwart nach.6 Man kann der Darstellung im Großen und Ganzen nicht widersprechen, im Detail aber ist sie ho¨chst unbefriedigend, simplifizierend und teils schlicht falsch. Die Darstellung operiert auf einer Ebene, die fu¨r eine an genauen Unterscheidungen, Details und Mikroprozessen interessierte Geschichtsschreibung nicht anschlussfa¨hig ist. Die Konsequenz daraus: Das Pha¨nomen Sa¨kularisierung muss genauer auf bestimmte Gegensta¨nde bezogen werden, die dann fallstudienartig untersucht werden. Alle drei Einwa¨nde haben mehr oder weniger Recht: Das Mittelalter la¨sst sich tatsa¨chlich nicht einfach als Startpunkt eines in die Moderne verlaufenden Sa¨kularisierungsprozesses konzeptualisieren. Ob man das Mittelalter deswegen auch oder zumindest punktuell als ein Secular Age einstufen kann, weiß ich nicht. Ein Punkt ist aber, dass sich intuitive Annahmen ¨ bergang vom Mitetwa u¨ber das Verha¨ltnis von Recht und Religion im U telalter zur Fru¨hen Neuzeit als unzutreffend erweisen ko¨nnen. Ein Beispiel dafu¨r aus dem Bereich des Strafrechts: Fu¨r die Historiker der Fru¨hen Neu4 5 6

Dreier, S. 1 – 13. Pohlig. Taylor.

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zeit schien die o¨ffentlich vollzogene Hinrichtung mit ihren religio¨sen Ritualen tief in der mittelalterlichen Tradition zu stehen. Tatsa¨chlich aber, so der Bielefelder Media¨vist Peter Schuster, wurde die Hinrichtung erst seit der Reformation von christlichen Interpretationen unterlegt und als Ausdruck go¨ttlichen Willens dargestellt.7 Diesen Befund von der „Verchristlichung der Todesstrafe“ im 16. Jahrhundert kann man auch als Besta¨tigung fu¨r Dreiers These u¨ber die Intensivierung des Verha¨ltnisses von Recht und Religion im konfessionellen Zeitalter sehen. Darum wird es mir in diesem Beitrag gehen, und zwar am Beispiel des Strafrechts in England. Damit nehme ich also auch die Anregung von Pohlig u. a. auf, mit Fallstudien zu arbeiten, nur dass es hier nicht um Sa¨kularisierung allgemein, sondern um eine Fallstudie u¨ber Sakralisierungen bzw. die Nicht-Sa¨kularisierung im 16. und fru¨hen 17. Jahrhundert geht. II. Sakralisierung des englischen Staatswesens im 16. Jahrhundert In England hatte es keine Reformation gegeben wie man sie aus Mitteleuropa kennt. In der ersten Ha¨lfte des 16. Jahrhundert gab es dort weder den Typus der sta¨dtischen Reformation noch den der Fu¨rstenreformation wie etwa in Sachsen und anderen Territorien des Alten Reichs. Als sich Heinrich VIII. mit der Suprematsakte von 1534 von der ro¨mischen Kirche lossagte, ging damit keineswegs auch ein theologischer Bruch einher. Wenn sich der Ko¨nig zum Oberhaupt der englischen Kirche erkla¨rte, dann zielte er damit auf die Abrundung seiner politischen Macht, nicht zuletzt auch in Bezug auf seine dynastischen Planungen.8 Anha¨nger der neuen Lehre waren in seiner Regierungszeit in der Minderheit, seine Tochter Maria versuchte in den 1550er Jahren sogar die Wiedervereinigung mit Rom. Auch unter Elisabeth, die seit 1556 regierte, blieb England konfessionell in einem zumindest indifferenten Zustand: Die Ko¨nigin sah sich selbst als katholisch an, freilich nicht als ro¨misch-katholisch. Erst ihre Exkommunikation im Jahr 1571 fu¨hrte zu expliziteren Abgrenzungen: Der Papst wurde als Feind konzeptualisiert, die Jesuiten als Agenten des Bo¨sen, die der Ko¨nigin nach dem Leben trachteten. Anti-Papismus (nicht: Antikatholizismus!)

7 8

Schuster, S. 213 – 233. Zuletzt dazu Sheils.

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avanciert zu einer Art von Staatsra¨son.9 Damit war der Bruch mit der alten Kirche aber nun deutlich geworden, die religio¨se Praxis in England trat als Reformation und damit als Schisma in Erscheinung. Aus diesem Grund erwies sich das englische Staatswesen unter Elisabeth allerdings als im ho¨chsten Maße legitimationsbedu¨rftig, und zwar nicht nur, weil es von einer Frau regiert wurde, sondern auch, weil sich die Frage stellte, in welcher Tradition seine weltliche und geistliche Ordnung eigentlich gru¨ndete.10 Fu¨r diejenigen Gelehrten, die sich dieser Legitimationsprobleme annahmen – und das waren Juristen, Theologen und Humanisten – stellte sich die Aufgabe, die Umrisse eines englischen Staates zu zeichnen, der auf zwei Sa¨ulen ruhte, na¨mlich auf einer ungebrochenen Rechtstradition und seiner Gottgefa¨lligkeit. Die erste Sa¨ule a¨ußerte sich in Form des Diskurses u¨ber die sogenannte ancient constitution, womit eine in ,graue Vorzeit’ (times out of mind) zuru¨ckreichende Tradition von Rechten postuliert wurde, die von den Tudor-Monarchen nur wiederbelebt, nicht aber neu geschaffen wurden.11 Die Beschreibung eines gottgefa¨lligen Kirchenregiments wurde vor allem durch Richard Hookers monumentale Laws of Ecclesisastical Polity geleistet, deren erste Teile 1593 erschienen.12 Worauf es mir hier ankommt ist, dass diese Diskurse tatsa¨chlich ho¨chst folgenreich waren und daran mitwirkten, die Institutionen, die sie beschrieben, Ko¨nigsherrschaft und Kirchenregiment, mit den Beschreibungen zugleich auch hervorzubringen.13 Man kann hier von einer performativen Macht dieser Diskurse sprechen, die im Medium des Buchdrucks weite Verbreitung erfuhren. Das Politische war um 1600 noch weit davon entfernt, ein operativ geschlossenes, selbstreferenzielles Politiksystem zu sein. Es war offen fu¨r unterschiedliche Codierungen, und es war ein Kennzeichen des konfessionellen Zeitalters zumindest in England, dass hier das politische, aber auch das rechtliche Feld in einem Maße von religio¨ser Semantik durchdrungen wurde, die in der Moderne nicht mehr vorstellbar wa¨re.14 Wenn es einen Zusammenhang zwischen Sa¨kularisierung und funktionaler Differenzierung gibt, dann ist es nicht verwun9

Lake, S. 72 – 106. Collinson. 11 Pocock. 12 Hooker. 13 Vgl. Asch (2004), S. 121 – 148. 14 Pecˇar (2011). 10

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derlich, wenn es unter den vormodernen Bedingungen nicht ausdifferenzierter Funktionssysteme zur Sakralisierung des Politischen gekommen ist.15 Zur Abwehr des Schisma-Vorwurfs, aber auch gerichtet gegen die radikalprotestantischen Puritaner, inszenierte sich Elisabeths Nachfolger, Ko¨nig Jakob I. etwa als Priesterko¨nig, als Theologe und Prophet.16 Aber auch hier haben wir es durchaus nicht einfach mit mittelalterlichen Traditionen eines immer auch schon irgendwie religio¨s grundierten alteuropa¨ischen Ko¨nigtums zu tun, sondern mit Innovationen des konfessionellen Zeitalters. III. Sakralisierung des Strafverfahrens Das Gleiche gilt nun auch fu¨r das Strafrecht, bzw. fu¨r das Strafverfahren. Die rechtsgeschichtliche Entwicklung in England war im Spa¨tmittelalter anders verlaufen als auf dem Kontinent. Wa¨hrend dort infolge der Rezeption des ro¨mischen Rechts der Inquisitionsprozess ausgebildet wurde, hielt man in England im Prinzip an den dinggenossenschaftlichen Verfahrensweisen fest. Der Strafprozess in England war und blieb damit ein zeitlich begrenztes und zusammenha¨ngendes Interaktionssystem mit Zuschauern.17 Auch dieses Interaktionssystem war im besonderen Maß offen fu¨r Deutungen, die im Laufe der Zeit zur Institution wurden und die Institution Gerichtsverfahren mit ausmachten. Wa¨hrend des sogenannten Hundertja¨hrigen Krieges zwischen England und Frankreich im 15. Jahrhundert etwa lobten englische Juristen den Umstand, dass man nur in England vor aller Augen u¨ber einen Verbrecher richte und daher jeder sehen ko¨nne, dass man nicht, wie im franzo¨sischen Inquisitionsprozess, auf die Folter zuru¨ckgriff.18 Damit war der Topos der o¨ffentlichen Strafrechtspflege in den Diskurs eingespeist worden, der im 19. Jahrhundert bekanntlich von den fru¨hliberalen Strafrechtsreformern wie Feuerbach und Mittermaier wieder aufgegriffen und fu¨r Deutschland als vorbildlich dargestellt werden sollte. Auch fu¨r die englischen Theologen des konfessionellen Zeitalters war das Strafverfahren in mehrfacher Hinsicht interessant. Denn a¨hnlich wie bei der politischen-religio¨sen Ordnung Englands im Ganzen ging es ihnen auch bei dem Strafverfahren darum, ihm den Charakter einer gott15 16 17 18

Asch (2014). Pecˇar (2008), S. 207 – 234. Langbein. Raffield, S. 18 – 47.

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gefa¨lligen protestantischen Institution zu verleihen. Die Theologen entwarfen daher ausgefeilte Verfahrenslehren, die sie selbst allerdings nicht bloß als Erga¨nzung des weltlichen Rechts erachteten, sondern die mit dem Anspruch einhergingen, alle Normen der irdischen Rechtspflege vollsta¨ndig zu enthalten. Aufgrund der go¨ttlichen Einsetzung aller weltlichen Rechts- und Herrschaftsverha¨ltnisse reklamierten die Theologen fu¨r sich eine Rolle als Lehrer auch in Rechtsfragen. Diesen Anspruch konnten sie immer wieder konkret geltend machen. Denn die Sitzungsperioden der Gerichte in London und in der Provinz, die sogenannten assizes, begannen jeweils mit einer Predigt vor den lokalen Honoratioren oder sogar vor dem Ko¨nig selbst, auf jeden Fall stets vor Juristen.19 In diesen Predigten, die in aller Regel gedruckt wurden und eine massenhaft u¨berlieferte Quellengattung darstellen20, entwarfen die Juristen eine Theologie des Strafverfahrens: Eine Begru¨ndung, Ausdeutung und Normierung von Gerichtsverfahren in religio¨ser Sprache.21 Bei einer Predigt am Beginn der Assisen in Hertford 1619 mahnte der Prediger William Pemberton die Iudges and all ministers of iustice, seinen Ausfu¨hrungen und Belehrungen genau zuzuho¨ren, denn sie handelten hier im go¨ttlichen Auftrag (The Charge is from God). Im iudiciall processe spreche nicht der Richter das Urteil, sondern Gott (for the iudgement is Gods), dessen Willen wiederum erst durch die Predigt verdeutlicht werde.22 Die Theologen scheuten sich nicht, den Richtern und Juristen ewige Verdammnis anzudrohen, wenn sie sich bei den Verhandlungen nicht an den christlichen Grundsa¨tzen orientierten. Der Theologe Antony Fawkner scha¨rfte den Richtern 1627 bei seiner Predigt anla¨sslich der Ero¨ffnung der Assisen von Oakham etwa ein: I beseech you, and not onely you, but all the inferiour Judges, even Iurours, and the like to whom the whole scope of my Sermon is as applicable … that you will beare a few words of exhortation. They are but a few. To day is Dies Criticis, a blacke and gloomy day of ludgement: a little Doomesday, a type of the great one. … If then you peruert iustice while the staffe is in your hand, expect a deserued misery.23 19

Hugh, S. 423 – 441. Shapiro, S. 1 – 28. 21 Zu diesem performativen Versta¨ndnis von Spache im Sinne von John Pococks Konzept der „political language“ vgl. Pec´ar, S. 21 – 28. 22 Pemberton. 23 Fawkner, iv. 20

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Fawkner stellte sich Gerichtsprozesse also als Vorwegnahme des Ju¨ngsten Gerichts im Diesseits vor. Dabei galt der Ju¨ngste Tag den Theologen keinesfalls als Tag der Abrechnung, sondern vielmehr als ein Tag, an dem Gnade vor Recht erging. Genau dies verlangten die Theologen des 17. Jahrhunderts immer wieder von den Juristen. Der Erzdiakon von Gloucester, Samuel Burton (1568 – 1634), mahnte die Richter bei den Assisen von Warwick 1619, sich an den Bischo¨fen der alten Kirche ein Beispiel zu nehmen, bei denen es die consuetudinem intercedendi pro reis gab: But if the manner of ancient Bishops was to intreat and begge for pardon, it is not meet for us to call for vengeance and blood out of the Pulpit. It is better to answer God for mercy, the for iustice; and safer for a Magistrate to saue the liues of many malefactors, the to cast away one innocent. For if a malefactor chance to escape at one time, the Hand of God is able to reach him at another (…).24

Nur in Fa¨llen von horrible transgressions, in haynous and crying sinnes, mu¨sse man die Todesstrafe anwenden. Statt abschreckender Strafen sei ¨ bel bei der Wurzel zu packen. Die Wirtsha¨user es allerdings sinnvoller, das U geho¨rten geschlossen und die Kirchenzucht mu¨sse zur Grundlage der Gesellschaft werden. 1623 predigte Thomas Scot in Suffolk, dass ein rein rechtlich begru¨ndetes Urteil die gro¨ßte Ungerechtigkeit sein ko¨nne: Judges … sometimes in strict obseruance of iustice doe the greatest iniustice25. Entgegen verbreiteter Annahmen aber gingen Gnade und Recht problemlos miteinander einher: Mercy and Iustice; they are no such opposites as is thought, for they kisse and embrace each other; yea, that is no true mercy which is vnjust, nor that good iustice which is cruell26. Einen Anlass fu¨r Gnade sahen die Theologen immer dann, wenn der Angeklagte Zeichen von Reue und Zerknischung a¨ußere. In diesem Fall sei, so George Macey 1597 in Chard, der Richter gehalten, im Angeklagten einen christian brother zu sehen und not to take his brother by the throate for a hundred pence.27 24

Burton, vi. Batchelar, S. 14. 26 Ebd., S. 24. 27 Macey, S. 28. Gnade als Grundsatz gottgefa¨lliger Gerichtsbarkeit blieb allerdings ein Pha¨nomen der juristischen Theologie des 17. Jahrhunderts. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts traten Theologen vermehrt mit Forderungen nach harten und gnadenlosen Strafen hervor. Dieser Wandel reflektiert nach meinem Dafu¨rhalten Differenzierungsprozesse von Recht und Religion: Die Strafverfahrenspraxis wurde immer mehr nach rechtsinternen Codierungen durchgefu¨hrt, die kaum noch Anknu¨pfungspunkte fu¨r eine biblizistische Nachrationalisierung zulie25

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Diese Deutung war im Diskurs des 17. Jahrhunderts topisch, und ließ sich auch umkehren: Das Ju¨ngste Gericht wurde den Gla¨ubigen von den Theologen wiederum als ein Grand Assize vorgestellt und visualisiert. Dabei war Gott der lord Chief Justice, der mit einer scarlet robe auf dem Richterstuhl sitzt, wa¨hrend die zwo¨lf Apostel als Geschworene, ein Erzengel mit Trompete als Gerichtsdiener und der Teufel als Ankla¨ger und Henker fungierten. Die Theologen wollten ihren Zuho¨rern auf diese Weise die Analogie zwischen the proceedings … in that last and generall Assises und the formes of temporall judgemen klarmachen. Diese Analogie sollte allerdings keineswegs nur den Zuho¨rern helfen, eine Vorstellung von den Geheimnissen des Glaubens zu erlangen. Es ging den Theologen vielmehr darum, dass die irdische Gerichtsbarkeit nach genau den gleichen Prozessgrundsa¨tzen ablief wie das Ju¨ngste Gericht auch.28 Ein eigenes Beweisrecht hielten die Theologen daher fu¨r u¨berflu¨ssig. Das ist insofern interessant, als es so etwas um 1600 tatsa¨chlich noch nicht gab. Im politisch-juristischen Diskurs konnten sehr genau der rituelle Auftakt eines Verfahrens und seine ebenso hochritualisierten Schlusssequenzen beschrieben werden. Was aber „dazwischen“ passierte, also bei der eigentlichen Wahrheits- und Entscheidungsfindung, dafu¨r hatten den Juristen bislang buchsta¨blich noch die Worte gefehlt. Es gab zwar dickleibige Kompendien zum materiellen Strafrecht, aber eben noch kein Strafprozessrecht und keine verbindlichen Regelungen fu¨r die Wahrheits- und Entscheidungsfindung vor Gericht. Das interaktive Geschehen vor Gericht war aber auch nicht einfach schon durch jahrhundertealte Praktiken vorgeformt worden, hatte sich der englische Gerichtsprozess doch erst im 15. Jahrhundert von einem Zweikampf zu einem nur verbal ausgetragenen Konflikt gewandelt.29 Und genau dieses interaktive Geschehen suchten die Theologen mit religio¨ser Sprache zu interpretieren. Ihre Interpretationen traten dabei allerdings in Konkurrenz zu ersten Ansa¨tzen der Juristen zur Entwicklung eines Prozess- und Beweisrechts. ßen. Die Folge war ein vermehrtes Interesse der Theologen an der Todesstrafe, die sie als Vorwegnahme der Ho¨llenqualen im Diesseits betrachteten. Nicht zufa¨llig geho¨rten gerade auch Theologen zu den Gegnern der Kritiker des traditionellen Strafregimes; vgl. dazu Krischer (2012). Mit Luhmann ko¨nnte man sagen, dass die Emanzipation des Rechts von der Religion bei diesem System zu Fundamentalisierungstendenzen fu¨hrte. 28 Vgl. dazu Krischer (2013), S. 107 – 125. 29 Krischer (2014), S. 210 – 225.

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Abb. 1: Frontispiz zu Samuel Smith, The Great Assize: Or, Day of Jubilee, London 1663, Kupferstich British Museum, Inv. Nr.: 1895,1031.956

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¨ berlegungen etwa, wie man die Glaubwu¨rdigkeit eines Zeugen graduell U bewerten ko¨nne30, hielten die Theologen fu¨r su¨ndhafte Spitzfindigkeiten. Wenn man Zeugen verho¨ren wolle, dann brauche man u¨berhaupt keine subtilen Erwa¨gungen u¨ber deren Glaubwu¨rdigkeit, sondern nur das achte Gebot: Thou shalt not beare false witness against thy Neighbour. Fu¨r die Theologen war die Frage, wie man vor Gericht Wahrheit finden wollte, stets schon dadurch gelo¨st, dass die wichtigsten Akteure: Zeugen, Geschworene, aber auch der Richter, unter Eid standen, und deswegen schlicht zum Wahrsprechen verpflichtet waren, so wie auch schon Paulus gelehrt habe: an oath for confirmation … is an end of all strife. Fu¨r die Theologen war das Gerichtsverfahren nichts anderes als eine o¨ffentliche Gewissenserforschung mit einer sowohl diesseitigen wie jenseitigen Sanktionsbewehrung. Der o¨ffentliche Prozess spiegelte dabei das Su¨ndenbekenntnis vor der Gemeinde. Und genau so, wie man auch bei der perso¨nlichen Gewissenserforschung oder beim o¨ffentlichen Su¨ndenbekenntnis nicht versuchen sollte, sich aus der Sache herauszureden, ebenso wenig ko¨nne man das auch vor Gericht. Das war also an den Angeklagten adressiert, der seine Verhandlung dazu nutzen sollte, um seine Su¨nden und seine Verbrechen zu bekennen – sofern er schuldig war. Beim Strafverfahren gehe es also stets um Verbrechen und Su¨nde, es sei daher nicht nur ein tryall of a criminal, sondern auch ein tryall of the sinner. Jeder Christ tue deswegen gut daran, vor Gericht bei der Wahrheit zu bleiben und sich die Konsequenzen einer Lu¨ge vor Augen zu fu¨hren. Wie Immanuel Bourne 1623 in Derby predigte: Let the view of these Aßises whisper to your conscience a Memorandum of those vniuersall Assises: remember in all your projects and courses, that the Lord Iudge, and your Conscience the Witnesse, doe now stand watching what you doe, and will discover all, when you shall stand to your trial for life or death.31

Dabei, so Borne, entlarve das Gewissen die Lu¨gen keineswegs erst beim Ju¨ngsten Gericht, sondern auch schon im diesseitigen Verfahren: a mans conscience is as a thousands witnesses to acquite or condemne before God and men, and the voyce of conscience is far more sure than the report of many others … the

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Shapiro, S. 285 – 207. Bourne, v.

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report of others may oftentimes deciue thee, but thy conscience neuer, that will giue true euidence with or against thee […].32

Das Gewissen sei also der beste Zeuge, und sein Zeugnis ko¨nne man in Erfahrung bringen, wenn man den Sprecher genau beobachte. Wenn jemand mit einem guten Gewissen und damit die Wahrheit spreche, dann ko¨nne man das sehen. Die Theologen erinnerten in diesem Kontext an die Schilderung des Verho¨rs des Paulus vor dem Hohen Rat in der Apostelgeschichte, wo es hieß: Festen Blicks sah Paulus den Hohen Rat an und sprach: ,Ihr Ma¨nner, Bru¨der, bis auf den heutigen Tag bin ich mit vo¨llig gutem Gewissen vor Gott gewandelt. Jeremiah Dyke folgerte 1635 daraus: Q5) „Here is a marke of a good Conscience in his lookes, as well as in his words, in his face, as well as in his speeche. Paul is here convented before the Councill. With what face is he able to behold them? And Paul earnestly beholding the Councell. A good Conscience makes a man hold vp his head even in the thickest of his enemies. I can looke them in the faces, and out-face a whole rabble of them assembled on purpose to cast disgrace on it. […].33

Paulus habe weder pale and blanke ausgesehen, noch habe er betru¨bt seinen Kopf ha¨ngen lassen (hang downe his head, or droope with a deiected countenance), was also im Umkehrschluss auf ein schlechtes Gewissen und damit auf die Unwahrheit einer Unschuldsbehauptung hindeute: as contrarily guilt deictes both a mans spirits, and his lookes, and (…) makes him hang downe the head. Wer ein gutes Gewissen habe, der schaue seinen Gegnern mit festem Blick in die Augen und mache sie verlegen. Das gute Gewissen makes the face to shine. Wegen dieser Pflicht zum Wahrsprechen und der Notwendigkeit, den Angeklagten dabei zu beobachten, hielten die Theologen Strafverteidiger fu¨r vo¨llig u¨berflu¨ssig und fu¨r eine Pervertierung des Gerichtsverfahrens. Strafverteidigung sei eine Beleidigung Gottes, und Anwa¨lte seien Iustifier of the wicked. Sie sollten sich gesagt sein lassen: For he who knowingly promotes and willingly joins with a Person in an unjust Cause, is no less guilty than the Person himself. Ein Angeklagter wiederum, der nach einem Anwalt verlange, sollte sich in Erinnerung rufen, dass er sich beim Ju¨ngsten Gericht auch keinen Rechtsbeistand nehmen ko¨nne. Wozu braucht er dann einen vor dem irdischen Gericht? 32 33

Ebd. Dyke.

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Tatsa¨chlich durften sich Angeklagte in Kapitalsachen vor Gericht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht von einem Anwalt verteidigen lassen. Die theologische Anwaltskritik und ihre Deutung des Gerichtsverfahrens als eine o¨ffentliche Gewissenserforschung hatten einen massiven Anteil daran, diese fu¨r den Angeklagten u¨beraus preka¨re Lage zu institutionalisieren. Erst 1836 bekamen die Angeklagten das Recht, sich vollsta¨ndig von einem Anwalt vertreten zu lassen. Die Zulassung von Strafverteidigern ist daher auch ein Beispiel fu¨r die Sa¨kularisierung des Verfahrens.34 IV. Schluss Was man an diesen Beispielen hoffentlich sehen konnte: Das konfessionelle Zeitalter la¨sst sich eigentlich nicht als „evolutiona¨rer Sprung“ in der Geschichte der Sa¨kularisierung bezeichnen. Es ist im Vergleich zum Mittelalter kaum durch ein weniger an Religion zu beschreiben. Auch Ansa¨tze zur Differenzierung von Religion, Recht und Politik, wie Bo¨ckenfo¨rde sie fu¨r das Alte Reich beschrieben hat, sind in der neueren Forschung infrage gestellt worden bzw. ko¨nnen durchaus nicht pars pro toto fu¨r Alteuropa insgesamt stehen. Zumindest in Bezug auf England war das konfessionelle Zeitalter eine Phase der – zum Teil bewusst gestalteten – Sakralisierung von Politik und Recht. Damit wurden aber nicht womo¨glich bereits vorhandene Differenzierungen von Religion und anderen gesellschaftlichen Feldern wieder aufgegeben, bereits Sa¨kularisiertes wieder resakralisiert. Die Vorstellung von der Einmaligkeit der Sa¨kularisierung als Nebeneffekt von Modernisierung im Sinne funktionaler Differenzierung scheint mir auch weiterhin Bestand zu haben. Sie setzte eben nur spa¨ter ein. Der Unterschied des konfessionellen Zeitalters zum Mittelalter besteht nun darin, dass der religio¨se Charakter politischer und rechtlicher Institutionen nicht im Ungefa¨hren belassen wurde, sondern genau spezifiziert und zum Gegenstand eines von Druckmedien getragenen Diskurses wurde. Religion wurde, und das ist diskursgeschichtlich, nicht modernisierungstheoretisch gemeint, von einer mittelalterlichen Mentalita¨t zu einer politischen Sprache. Als druckmedial verbreitete politische Sprache wurde Religion seit dem 16. Jahrhundert in expliziter Weise zu einem o¨ffentlichen Thema, dass dann aber auch auf- und angegriffen werden konnte. Das ist fu¨r den hier zur Debatte stehenden Fall auch der Punkt, an dem spa¨testens im 34

Krischer (2012), S. 252 – 279.

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18. Jahrhundert Sa¨kularisierungstendenzen anknu¨pfen konnten: Die unu¨bersehbare religio¨se Sprache war fu¨r Strafrechtsreformer ein Punkt, an dem sie ansetzen konnten, um ihre eigene, an funktionaler Differenzierung orientiert Semantik dagegenzusetzen. Das heißt natu¨rlich auch, dass Sa¨kularisierung durchaus als ein Kenn¨ bergangs von der alteuropa¨ischen zur modernen Gesellschaft zeichen des U gesehen werden kann, ebenso wie es einen engen Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und Sa¨kularisierung gab. Die Einwa¨nde der Historiker beziehen sich vor allem darauf, diese Transformationen genauer zu beschreiben, nicht aber, die „Große Erza¨hlung“ von der Sa¨kularisierung in Bausch und Bogen abzulehnen. Fu¨r mich besteht diese genauere Beschreibung in einer pra¨zisen Analyse des Zusammenhangs von Systemstruktur und Semantik. Genauso wenig wie ich als Historiker Religion im Sinne von Bewusstseinszusta¨nden erforschen kann, kann ich auch nicht annehmen, dass Sa¨kularisierung einen Abbau von individuellen religio¨sen ¨ berzeugungen darstellt. Dafu¨r gibt es empirisch weder fu¨r die Fru¨hmoU derne noch fu¨r die Weltgesellschaft der Gegenwart empirisch belastbare Daten. Aber ich sehe das Hinausdra¨ngen religio¨ser Sprache in den sich ausdifferenzierenden Funktionssystemen Recht und Politik seit dem 18. Jahrhundert. Quellen Batchelar, Thomas Scot: Vox Dei: iniustice cast and condemned In a sermon preached the twentieth of March 1622. At the assises holden in St. Edmunds Bury in Suffolke, London 1623. Bourne, Immanuel: The anatomie of conscience Or a threefold reuelation of those three most secret bookes: 1. The booke of Gods prescience. 2. The booke of mans conscience. 3. The booke of life. In a sermon preached at the generall assises holden at Derby, in Lent last. 1623, London 1623. Burton, Samuel: A sermon preached at the generall assises in Warwicke, the third of March, being the first Friday in Lent, London 1620. Dyke, Jeremiah: Good conscience, or, A treatise shevving the nature, meanes, markes, benefit, and necessitie thereof, London 1635. Fawkner, Antony: Nicodemus for Christ, or The religious moote of an honest lawyer: deliuered in a sermon, preached at the assises at Okeham, in the county of Rutland, March. 10. 1627, London 1630. Hooker, Richard: Of the lavves of ecclesiasticall politie Eyght bookes, London 1593.

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Macey, George: A sermon preached at Charde in the countie of Somerset, the second of March 1597 being the first day of the assises there holden, London 1601. Pemberton, William: The Charge of God and King, To Iudges and Magistrates, for execution of Iuistice. (…), London 1619.

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Der religio¨se Umbruch im ausgehenden 18. Jahrhundert Von Ru¨diger Otto, Leipzig und Detlef Pollack, Mu¨nster I. Einleitung ¨ berlegungen bildet Den Ausgangspunkt fu¨r die hier anzustellenden U die Beobachtung eines umfassenden Ru¨ckgangs der kirchlichen Integrationsfa¨higkeit und Glaubensbindung in der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts. Fu¨r den Katholizismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts stellte Michel Vovelle (1973) in seinen seriellen Untersuchungen von Testamenten in den Jahren zwischen 1750 und 1780 einen Umbruch der Mentalita¨ten fest. In den Jahren nach 1750/60 verringerte sich der Anteil der gestifteten Messen, der sogenannten Seelenmessen, die nach dem Ableben des Verstorbenen zur Verku¨rzung seines Aufenthaltes im Fegefeuer gegen Entgelt gelesen werden, vor allem – bei beachtlichen regionalen Differenzen – in großen Sta¨dten sowie bei Ho¨hergebildeten, bei Ma¨nnern, bei Kaufleuten, Richtern und Beamten.1 Wa¨hrend vor 1750 in den von ihm untersuchten Testamenten die Anrufung der Heiligen und Marias im Zentrum stand, dominierte in den Jahren danach die Bezugnahme auf Gott und Christus. Den Untersuchungen Rudolf Schlo¨gls zufolge, der nach dem Vorbild der Annales-Schule den Anteil der Testamente mit Messstiftungen in katholischen Sta¨dten Deutschlands (Ko¨ln, Aachen, Mu¨nster) analysiert hat, trat die Fro¨mmigkeit des katholischen Bu¨rgertums auch in Deutschland nach 1730 in ein „Stadium langsamer, aber kontinuierlicher Auszehrung“, das bereits 1780 weit fortgeschritten war.2 Tendenzen zuru¨ckgehender kirchlicher Integrationskraft lassen sich aber auch im Protestantismus konstatieren. Lucian Ho¨lscher (2005) hat in seinen Untersuchungen zum Wandel der Kirchenbindung fu¨r das 18. Jahrhundert eine Abschwa¨chung der Abendmahlsbeteiligung unter 1 2

Vovelle, S. 140 f. Schlo¨gl (1993), S. 108; ders. (1995).

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den Protestanten in Deutschland nachgewiesen. Um 1700 war der Kirchen- und Abendmahlsbesuch in den meisten deutschen Regionen sowohl auf dem Land als auch in den gro¨ßeren Sta¨dten noch weitgehend intakt. In dieser Zeit bewegte sich der sog. Abendmahlsquotient – das heißt, der Anteil der Abendmahlsbesuche pro Jahr an der Zahl der Einwohner – innerhalb der evangelischen Bevo¨lkerung in Sachsen und Schlesien bei 200 bis 300 %. Rechnet man die in der Einwohnerzahl enthaltene religionsunmu¨ndige Jugend heraus, so wird man annehmen ko¨nnen, dass die erwachsene Bevo¨lkerung in dieser Zeit durchschnittlich noch etwa drei bis vier Mal im Jahr zum Abendmahl ging, wie es die lutherischen Kirchenordnungen vorschrieben. In den Vorsta¨dten von Breslau sank diese Zahl auf 135 % im Jahre 1750 und auf 31 % im Jahre 1800, in der Dresdener Innenstadt auf 100 %, in der Innenstadt von Berlin auf 40 % und im reichen Hannover gar auf 16 %. Die Zahlen weisen ein klares Nord/Su¨d-Gefa¨lle auf. Auf dem Lande setzte der Ru¨ckgang der Abendmahlsbeteiligung etwas spa¨ter ein, meist erst nach dem Siebenja¨hrigen Krieg, und erreichte nicht denselben Umfang wie in den Sta¨dten, wohl aber ebenfalls signifikante Ausmaße. Im Katholizismus sind in demselben Zeitraum sowohl fu¨r Frankreich als auch fu¨r Deutschland ru¨ckla¨ufige Zahlen von Berufungen zum Geistlichen, von Neuaufnahmen in Priesterseminare und Klo¨ster sowie von Erstkommunionen belegt.3 Verbunden war die Abschwa¨chung der kirchlichen Bindungen, wie sie in den aufgefu¨hrten Indikatoren zum Ausdruck kommt, mit Umbauten in der dominanten religio¨sen Semantik. Im 18. Jahrhundert lassen sich Tendenzen der Subjektivierung, der Privatisierung, der Immanentisierung und Entkonkretisierung des Religio¨sen ausmachen, die auf eine Relativierung der Objektivita¨t der christlichen Glaubensgehalte hinausliefen und die Distanz zur Institution Kirche befo¨rderten. Dabei manifestierten sich die Subjektivierungstendenzen in der Herausbildung pietistischer Konventikel, die auf das individuelle Glaubenserlebnis, die perso¨nliche Gottesbeziehung und die ta¨gliche intensive Selbsterforschung ebenso viel Wert legten wie auf einen subjektiv verantworteten sittlichen Lebenswandel, gleichfalls aber auch im Methodismus, in der Herrnhuter Fro¨mmigkeit oder auch im Jansenismus. Diese protestantischen und katholischen Erneuerungsbewegungen stimmten in ihrer Kritik an der verweltlichten, mit der politischen Herrschaft verflochtenen Kirche sowie in ihrer Betonung des indi3

Nipperdey, S. 403; McLeod (2003), S. 7; Ziemann, S. 46.

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viduellen Glaubenslebens weitgehend u¨berein. In kritischer Wendung gegen eine als vera¨ußerlicht und erstarrt wahrgenommene Kirche strebten sie die subjektive Verinnerlichung des christlichen Glaubens an. Einen spa¨ten Ausdruck fand diese Subjektivierung des Religio¨sen noch in der Theologie Schleiermachers, der Religion im Gefu¨hl des Menschen verankerte und kategorial von Moral und Wissen unterschied. Auch in der religio¨s-pathetischen Dichtung und in der entsprechenden Dichtungstheorie der Zeit – beispielsweise in der pietistische gepra¨gten ersten Hallischen Dichterschule oder bei den Schweizer Theoretikern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger – wird die Steigerung des Gefu¨hls und die subjektive Komponente in der heilig-erhabenen Poesie proklamiert. Ausdruck dieser Haltung und klassisches Zeugnis ist Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias, der das Weltendrama Jesu Christi in einer neuartigen erhaben-gefu¨hlsschwangeren Sprache schildert. Bilden in Klopstocks Poesie noch die Worte und Taten des Erlo¨sers den Gegenstand des Epos, so wird in der Klopstock-Reminiszenz in Goethes Werther der religio¨se Anlass bedeutungslos und nur noch die Hoheit des Gefu¨hls besungen. Wenn es im Faust schließlich heißt, „Nenn’s Glu¨ck! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen dafu¨r! Gefu¨hl ist alles; Name ist Schall und Rauch“, dann bekommen wir eine Ahnung davon, welche gegenstandsauflo¨sende Wirkung von der Subjektivierung des Religio¨sen ausgehen kann. Mit der Subjektivierung der religio¨sen Semantik verknu¨pften sich Tendenzen zur Privatisierung und Intimisierung der christlichen Glaubenspraxis. Privatkommunionen kamen in Mode. Beerdigungsfeiern fanden im Kreis der Verwandten und Freunde statt, aber nicht mehr unter Anteilnah¨ ffentlichkeit. Kleine pietistische Kreise trafen sich me der kommunalen O ¨ berzeugungsgehalzu Andacht und Gebet. Dem Wandel der christlichen U te entsprachen Vera¨nderungen in der religio¨sen Praxis. Auch setzten sich Tendenzen zur Verdiesseitigung religio¨ser Gehalte in dieser Zeit immer mehr durch. Glaubenslehren wurden rationalisiert, unversta¨ndliche Passagen und umsta¨ndliche Formulierungen aus der Liturgie entfernt. Das klassische Ideal der Versta¨ndlichkeit, Einfachheit und Scho¨nheit fand auch auf die Feier des Gottesdienstes Anwendung. Jesus galt der aufkla¨rerischen Theologie nicht mehr in erster Linie als Retter und Erlo¨ser, sondern als Erzieher und Sittenlehrer. An das Predigtamt wurde die Frage nach seiner sozialen Nu¨tzlichkeit gestellt. Gebetszeiten, Wallfahrten, Prozessionen, Feiertage nahmen nicht wenige aufkla¨rerische Reformer als ver-

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lorene Arbeitszeit wahr.4 Immer wieder ging die Staatsmacht gegen Orden vor, sofern sich die Mo¨nche und Nonnen nicht karitativ oder erzieherisch beta¨tigten. In der Zeit der Josephinischen Reformen erging sogar ein Erlass zur Aufhebung von Klo¨stern und Bruderschaften mit rein kontemplativer Ausrichtung. Zudem brachen seit Mitte des 18. Jahrhunderts Generatoren der religio¨sen Sinnbildung wie Erbsu¨nde, Ho¨llenstrafen oder Teufel zunehmend weg, da sie alltagsweltlich wie theologisch an Plausibilita¨t verloren hatten.5 Dagegen wurden religio¨se Ta¨tigkeiten aufgewertet, die wie Seelsorge, Unterricht oder Sozialfu¨rsorge einen unmittelbaren diesseitigen Zweck erfu¨llten. Die Bewertung religio¨ser Gebra¨uche und Traditionen nach dem Grad ihres o¨konomischen, politischen und moralischen Nutzens, die Devaluation von Gebet und Kontemplation, die Ersetzung von Erlo¨sungslehren durch moralische Gebote illustrieren auf anschauliche Weise die Umorientierung von der Erlangung jenseitiger Gu¨ter auf die Erho¨hung des irdischen Nutzens. Im Vordringen sogenannter „stiller“ Beerdigungen ohne Beisein des Pfarrers und geistlichen Segen dru¨ckt sich diese Abwendung von der Konzentration auf die jenseitige Welt ebenfalls aus. Doch ist es wirklich u¨berzeugend, die Abschwa¨chung jenseitiger Orientierungen als eine Verlustgeschichte christlicher Bindungen zu interpretieren oder stellt sie nicht vielmehr nur „einen Formenwandel in den sozialen Konfigurationen, die den Bezug auf Transzendenz trugen“, dar, bedeutet sie also nicht lediglich die Ausho¨hlung einer barocken Variante des Christentums, nicht aber eine Dechristianisierung? 6 Die Deutung von quantitativen Prozessen als qualitative Formvera¨nderungen erfreut sich in der historischen und sozialwissenschaftlichen Religionsforschung seit einiger Zeit einer auffa¨lligen Beliebtheit. Die religio¨sen Abbruchsprozesse in der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts als bloßen Formenwandel zu interpretieren, du¨rfte die Radikalita¨t der Umbru¨che indes unterscha¨tzen. Wenn sich der Schwerpunkt der Konzentration vom Jenseits auf das Diesseits verschiebt und religio¨se Besta¨nde mehr und mehr auf ihre Tauglichkeit fu¨r die Verfolgung irdischer Ziele gepru¨ft werden, handelt es sich nicht einfach nur um das Abstreifen u¨berlebter Transzendenzvorstellungen und ihre Umformung in zeitgema¨ße Glaubensformen, sondern um einen Mentalita¨tswandel grundsa¨tzlicher Natur. Eine Verschiebung im Verha¨lt4 5 6

Schlo¨gl (2013), S. 95. Schlo¨gl (2013), S. 16. Ho¨lscher (1995), S. 270 – 273; Kselman (2003); Ziemann, S. 47, 50.

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nis von Immanenz und Transzendenz beru¨hrt die zentrale Unterscheidung, die allen religio¨sen Kommunikationen zugrunde liegt. Schrumpft die Relevanz der Transzendenz im religio¨sen Diskurs, schwa¨cht sich daher mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung von Religion ab. Fu¨r diese Annahme spricht, dass die Umbauten in der religio¨sen Semantik mit gravierenden Vera¨nderungen in der religio¨sen Praxis einhergingen. Es liefen im 18. Jahrhundert, besonders in seiner zweiten Ha¨lfte, nicht nur Prozesse der religio¨sen Subjektivierung, Entkonkretisierung und Verdiesseitigung ab, sondern auch Prozesse der religio¨sen Aktivita¨tszuru¨cknahme und des zunehmenden religio¨sen Disengagements. Hinzu kommt die la¨nderspezifisch unterschiedlich ausgepra¨gte Religions- und Kirchenkritik, deren Wirkungen man zwar nicht u¨berscha¨tzen, aber auch nicht unterscha¨tzen sollte. Selbstversta¨ndlich fasste diese Kritik nur bei den bu¨rgerlichen und adligen Eliten Fuß. In den do¨rflichen Gemeinschaften7 hing man nach wie vor halb magischen, halb christlichen Praktiken an, mit deren Hilfe man auf das Wirken der undurchschaubaren Naturkra¨fte Einfluss zu nehmen versuchte, sei es um die Ernte zu sichern oder Schaden von Mensch und Tier abzuhalten.8 Die religio¨sen Erneuerungsbewegungen wurden jedoch von denselben sozialen Gruppen getragen, aus denen auch die religions- und kirchenkritischen Aufkla¨rer stammten: vom Kaufmanns-, Handels- und Bildungsbu¨rgertum sowie vom mittleren Land- und Amtsadel.9 Auch wenn die Spannungen zwischen den Frommen im Lande und den Philosophen, den Pietisten und Aufkla¨rern im Hinblick auf ihr Menschen- und Weltbild sowie auf ihr Religionsversta¨ndnis erheblich waren und sie die Erlo¨sungsbedu¨rftigkeit des Menschen und die Vernu¨nftigkeit des Glaubens unterschiedlich einscha¨tzten, hatten beide doch den gleichen sozialen Na¨hrboden und entstammten beide den gebildeten Eliten.10 Es du¨rfte daher nicht unberechtigt sein, zwischen den Tendenzen zur religio¨sen Subjektivierung und Verdiesseitigung und den Impulsen der Religions- und Kirchenkritik einen engen sozialen und geistigen Zusammenhang anzunehmen. Und tatsa¨chlich trafen sich beide Be7 Die Aufgeschlossenheit fu¨r religio¨se Fragen war im 18. Jahrhundert trotz der aufkla¨rerischen Religions- und Kirchenkritik teilweise auch in den Sta¨dten hoch. Fu¨r den Fall Leipzig vgl. Otto (2015). 8 Stollberg-Rilinger, S. 104. 9 Ho¨lscher (1990), S. 603. 10 Stollberg-Rilinger, S. 112.

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wegungen nicht nur in ihrer Ablehnung von kirchlichem Machtmissbrauch und religio¨s begru¨ndeter Gewalt und auch nicht nur in ihrer Distanzierung von vera¨ußerlichtem Ritualismus und objektiviertem Dogmatismus, sondern auch in ihrem Bemu¨hen um eine Zentrierung des Subjekts. Offenbar vollzog sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein umfassender Wandel der kirchlichen und religio¨sen Bindungen.11 Er betraf nicht nur die religio¨sen Diskurse und Semantiken, die religio¨sen Transzendenzvorstellungen und christlichen Glaubensinhalte, sondern auch die religio¨sen Praktiken und Gebra¨uche, zeigt also sowohl eine prinzipiell vera¨nderte Haltung gegenu¨ber religio¨sen Inhalten als auch eine abgeschwa¨chte Praxis an und kann insofern nicht nur als religio¨ser Formenwandel und auch nicht nur als Entkirchlichung verstanden werden. Vielmehr mu¨ssen wir ihn als einen mehrdimensionalen Prozess der Sa¨kularisierung fassen. Die in Kirchenfeindschaft ausmu¨ndende Franzo¨sische Revolution und die Herrschaftssa¨kularisationen zu Beginn des 19. Jahrhundert im Reich, in Italien, Spanien und anderswo fu¨gten diesem Prozess weitere Dimensionen hinzu. Mit der Franzo¨sischen Revolution und den großen Sa¨kularisationen wurde die politische und materielle Herrschaftsbasis der Katholischen Kirche angegriffen. Nennenswerter Protest gegen die Enteignung des Kirchenvermo¨gens regte sich nicht, noch nicht einmal unter den Katholiken.12 Insofern mu¨ssen die Herrschaftssa¨kularisationen wohl als integraler Bestandteil eines umfassenderen Sa¨kularisierungsprozesses angesprochen werden. Die in der Franzo¨sischen Revolution vollzogene Umgru¨ndung der politischen Herrschaft vom ko¨niglichen Gottesgnadentum auf die Souvera¨nita¨t rechtsgleicher, freier Bu¨rger und die damit in Zusammenhang stehende Erkla¨rung der Menschen- und Bu¨rgerrechte entspricht der Umorientierung der allta¨glichen Lebensfu¨hrung vom jenseitigen auf das diesseitige Leben. Bekanntlich war die Gewa¨hrung der Religions- und Gewissensfreiheit mit der Anerkennung aller anderen Freiheitsrechte eng verflochten.

II. Fragestellung Aus den hier vorgestellten Ausgangsbeobachtungen ergibt sich die Frage, welche Gru¨nde sich fu¨r den „religio¨sen Tiefstand“ im ausgehenden 11 12

Vgl. auch Gibson, S. 8. Schlo¨gl (2013), S. 132.

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18. Jahrhundert13 geltend machen lassen. Der nahe liegende Hinweis auf die Wirkungen der revolutiona¨ren Ideen von 1789, die vor allem in den Sta¨dten Europas schnell Verbreitung fanden, u¨berzeugt nur partiell, da nicht zuletzt in Frankreich selbst der Prozess der Dechristianisierung seinen Startpunkt vor 1789 hatte. Auch die Vera¨nderungen in den o¨konomischen Verha¨ltnissen taugen nur eingeschra¨nkt als Erkla¨rung, denn die Industrialisierung setzte nach den hier beschriebenen grundlegenden religio¨sen Wandlungsprozessen ein. Zwar sieht Antonius Liedhegener in seinen Untersuchungen zu Christentum und Urbanisierung eine Korrelation zwischen Entkirchlichung und Industrialisierung. Vor allem fu¨r die Fru¨hphase der Industrialisierung konstatiert er einen Ru¨ckgang der Kirchenbindung.14 Andere wie Lucian Ho¨lscher haben jedoch herausgearbeitet, dass die Anfa¨nge der Kirchendistanzierung der Industrialisierung vorausgingen.15 McLeod bestreitet, dass es u¨berhaupt einen Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Entkirchlichung gibt.16 Wenn also weder die Franzo¨sische Revolution noch die Industrialisierung fu¨r die Bedeutungsru¨ckga¨nge von Religion und Kirche im ausgehenden 18. Jahrhundert verantwortlich gemacht werden ko¨nnen und diese mit der politisch-o¨konomischen Doppelrevolution allenfalls korrespondieren, dann muss fu¨r die Erkla¨rung des radikalen religio¨sen Wandels nach anderen Einflussfaktoren Ausschau gehalten werden. Im Folgenden sollen in Form tastender Suchbewegungen vier Hypothesen getestet werden, die vielleicht in der Lage sind, uns na¨her an eine plausible Erkla¨rung heranzufu¨hren: die Differenzierungs-, die Markt-, die Pluralisierungs- sowie die Horizonterweiterungshypothese. III. Die Differenzierunghypothese Im Konfessionellen Zeitalter fielen auf territorialer Ebene Staat und Religion noch selbstversta¨ndlich zusammen. Nachdem in der Reformation die Einheit der Kirche zerbrochen war, bemu¨hten sich die Territorialherrscher um die Bewahrung der religio¨sen Einheit in ihren Gebieten. Politi13

Ehrhard, S. 10. Liedhegener (1997), S. 553 – 561; ders. (2001), S. 204 f.; vgl. auch Brown (1992). 15 Ho¨lscher (1990), S. 600 f., ders. (1991), S. 243 – 249. 16 McLeod (2007), S. 26. 14

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sche, religio¨se, soziale und rechtliche Ordnung sollten zur Deckung kommen. Daher waren Eherecht, Sittenzucht, Schulwesen und Armenfu¨rsorge ebenso kirchliche Aufgaben, wie es zu den Funktionen der politischen Herrschaft geho¨rte, fu¨r die religio¨se Wahrheit und die reine Lehre zu sorgen.17 Recht, Staat und Obrigkeit galten nach reformatorischer Lehre als go¨ttliche Stiftungen. Auch wenn die lutherische Zweiregimentenlehre den weltlichen Arm nur fu¨r die Ordnung der Welt als zusta¨ndig ansah, hatte er fu¨r die Durchsetzung der Gebote und der wahren Lehre doch gleichwohl Verantwortung zu tragen. Aus der Sorge fu¨r das Evangelium war er nicht entlassen. Vielmehr oblag es der von Gott eingesetzten Obrigkeit, fu¨r das Heil ihrer Untertanen zu sorgen. Andernfalls ha¨tte sie sich vor dem Scho¨pfer und Richter der Welt schuldig gemacht. Ebenso wie die politische Herrschaft als go¨ttlich legitimiertes Regiment religio¨se Aufgaben zu erfu¨llen hatte, u¨bernahm die Kirche herrschaftliche Funktionen. Aufgrund ihrer Allianz mit dem fru¨hmodernen Staat agierte die Kirche im Konfessionellen Zeitalter in Stadt und Land nicht selten als dessen Repra¨sentant. Sie u¨bte u¨ber Kirchenzucht und soziale Kontrollmechanismen, aber auch u¨ber Predigt, Seelsorge und die Verbreitung von Andachts-, Gebets- und Gesangbu¨chern einen unmittelbaren Einfluss auf die Ausbildung von Normen im Glauben, Denken und Verhalten der Menschen aus, trug durch ihr Engagement in Erziehung, Eheangelegenheiten und Armenfu¨rsorge zur sozialen Disziplinierung bei und war auf diese Weise im gesellschaftlichen Leben, in Schule und Verwaltung allgegenwa¨rtig. Heinz Schilling hat diese wechselseitige Durchdringung von Kirche und Staat, Schule und Predigtamt, Glaube und Familie auf u¨berzeugende Weise dargelegt.18 Im nachkonfessionellen Zeitalter traten kirchliche und weltliche Ordnung allerdings zunehmend auseinander. Aufgrund der Erfahrungen des Dreißigja¨hrigen Krieges und seiner Folgen gewann die Einsicht an Boden, dass die konfessionelle Einheit nicht durchsetzbar und die faktische Differenz zwischen den Konfessionen anzuerkennen ist. Die Staatszwecklehre a¨nderte sich. Nicht la¨nger kam dem Staat die Aufgabe zu, als Beauftragter Gottes die Verku¨ndigung des Evangeliums zu sichern und fu¨r die 17

Sehling, S. 8. Schilling (1988), ders. (1993), ders. (2009); Dingers (1991). Zum Konfessionalisierungsansatz vgl. auch die Arbeiten von Reinhard (1995, 2004). Zur Kritik vgl. Greyerz, S. 65 f., Fa¨tkenheuer, S. 39. 18

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Wahrheit einzutreten. Vielmehr trat an die Stelle der religio¨sen Zweckbestimmung des Staates die Staatsra¨son – „das Wohl, der Nutzen des Staates, die salus publica“.19 Politische Gebilde existierten nicht um der Kirche willen, der Staat – so wollten es die Naturrechtslehren von Pufendorf, Pfaff, Boehmer und anderen – habe sein Ziel vielmehr in der Sicherung der o¨ffentlichen Ordnung. Die Sorge um die Religion nahmen die Naturrechtslehrer ausdru¨cklich von den Staatspflichten aus. Mehr und mehr fand religio¨se Vielfalt faktische Anerkennung, wenn auch aus Gru¨nden der Staatsra¨son der religio¨sen Einheit der Vorzug eingera¨umt wurde, wie natu¨rlich auch die Ansicht gu¨ltig blieb, dass Religion fu¨r den Zusammenhalt des Staats, fu¨r die allgemeine Moral und die Einhaltung von Vertra¨gen von Nutzen sei.20 Seit Ende des 18. Jahrhunderts kam es in Europa und den Vereinigten Staaten zur zunehmenden Differenzierung von Religion und Politik. 1791 wurde die Trennung von Kirche und Staat in den USA in der Verfassung verankert, 1795 in Frankreich, obschon bereits 1801 wieder ru¨ckga¨ngig gemacht, 1796 in den Niederlanden. Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 wurden die Kirchen, die einst mit dem Anspruch aufgetreten waren, fu¨r die Durchsetzung der wahren Lehre Sorge zu tragen, zur rechtlichen Organisationsform eines Vereins oder einer „geistlichen Gesellschaft“ herabgestuft.21 Die mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und den anderen Sa¨kularisationen vorgenommenen Enteignungen der katholischen Kirche bedeuteten auf der politischen Ebene die Abschaffung der geistlichen Fu¨rstentu¨mer und trugen insofern gleichfalls zur Differenzierung von Religion und Politik bei. Natu¨rlich galten Religion und Kirche in der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts nach wie vor als politisch nu¨tzliche Einrichtungen. Predigt und Seelsorge erbra¨chten unverzichtbare Dienstleistungen fu¨r den Bestand von Staat und Gesellschaft, denn der Staat ko¨nne zwar die Einhaltung der Gesetze erzwingen, aber nicht Sittlichkeit und Tugend garantieren und fu¨r die Einhaltung von Vertra¨gen sorgen. Dies vermo¨ge nur die Religion, die fu¨r den Staat daher „die Quelle gro¨ßten Segens“ sei – das war eine verbreitete Position in der deutschen Aufkla¨rungsphilosophie.22 Ob der 19 20 21 22

Sehling, S. 35. Schlaich, S. 78 f. Hattenhauer, S. 542 – 584. Aner, S. 127.

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geistliche Stand entbehrlich oder sogar scha¨dlich sei, wurde in der Zeit zwar bereits diskutiert, die Antwort aber fiel im Großen und Ganzen noch immer zugunsten von Religion und Kirche aus. Gleichwohl hatte sich die Deckungsgleichheit von Staatseinheit und Religionseinheit inzwischen weitgehend aufgelo¨st. Der oberste Zweck des Staates bestand nach allgemeiner Auffassung nicht mehr im Schutz der Kirche, sondern in der Sicherung von Recht und Frieden. Von dort her wurde insbesondere von den Kameralisten, die die Sa¨kularisierung des Staates vorantrieben, auch der Sinn und Zweck der Religion betrachtet. Insoweit Religion den Interessen des Staates zuwiderlief, unterzog man sie der Kritik. So wurde im Habsburger Reich die Zahl der kirchlichen Feiertage eingeschra¨nkt und Wallfahrten u¨ber Nacht verboten, da diese Mu¨ßiggang und Ausschweifung befo¨rderten und vom produktiven Wirtschaften abhielten. Ebenso griff der josephinische Staat in die Dio¨zesanregelungen ein, wo diese den staatlichen Autonomieanspru¨chen zuwiderliefen.23 Und wo u¨bernationale kirchliche Organisationsstrukturen wie etwa der Jesuitenorden nationalen Interessen im Wege standen, erfolgte auch da der Angriff auf sie.24 Die Verha¨ltnisbestimmungen zwischen Staat und Kirche zeigen, worin die Kennzeichen funktionaler Differenzierung bestehen: Nicht darin, dass Politik und Religion nichts miteinander zu tun haben und friedlich, schiedlich nebeneinander bestehen, sondern darin, dass sie sich interaktiv aufeinander beziehen, sich mo¨glicherwiese wechselseitig stu¨tzen und erga¨nzen, sich aber auch, wo die eigene Autonomie gefa¨hrdet ist, voneinander abgrenzen und Fremdanspru¨che abwehren. Nicht nur im Verha¨ltnis zwischen Politik und Religion lassen sich im 18. Jahrhundert Prozesse der funktionalen Differenzierung beobachten, sondern auch zwischen Religion und Bildung, Religion und Wissenschaft, Religion und Ethik, Religion und Kunst usw. Um 1800 setzte sich in Deutschland die Idee durch, Bildung und Erziehung zu eigensta¨ndigen, von Herkunft und Stand, aber auch von Tradition und Autorita¨t unabha¨ngigen Zielen zu erkla¨ren, bestimmt nicht mehr durch Geburt, sondern durch Talent und Leistung.25 Die kirchliche Verfu¨gung u¨ber die Schule wurde gelockert. In Preußen u¨bernahm der Staat 1794 die Kontrolle

23 24 25

Schlo¨gl (2013), S. 96. Cognet, S. 442. Nipperdey, S. 60.

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u¨ber die Erziehung.26 Im Allgemeinen Preußischen Landrecht heißt es: „Alle o¨ffentlichen Schul- und Erziehungsanstalten stehen unter der Aufsicht des Staats, und mu¨ssen sich den Pru¨fungen und Visitationen desselben zu allen Zeiten unterwerfen“.27 Zwar sollten die Prediger des Orts bei der Schulaufsicht mitwirken. Die geistliche Schulaufsicht aber war mit den Bestimmungen des Allgemeinen Preußischen Landrechts abgeschafft und zur staatlichen Schulberatung umgebaut worden. Auch die Universita¨ten gewannen konfessionelle Unabha¨ngigkeit. An die Stelle der konfessionell getragenen Universita¨t trat die Universita¨t als Staatsanstalt.28 In dieselbe Zeit fiel auch das Aufkommen neuer Formen des politischen, sozialen und ethischen Denkens, das von allen religio¨sen Bezu¨gen frei war, etwa der Ansatz des Utilitarismus eines Beccaria oder Bentham, der die menschliche Moral am Prinzip „of the greatest happiness of the greatest number“ ausrichtete.29 Die Unabha¨ngigkeit des wissenschaftlichen Denkens von Theologie und Kirche manifestierte sich auch darin, dass es sich bewusst der Diskussionen von religio¨sen und theologischen Themen enthielt. So wurden Religion und Politik aus den Verhandlungen der neu gegru¨ndeten Bayrischen Akademie der Wissenschaften thematisch ausgeschlossen.30 Die Bedeutung funktionaler Differenzierung zeigte sich aber vor allem darin, dass es nun mo¨glich wurde, Religion und Kirche von einem außerkirchlichen Standpunkt aus zu kritisieren. Nicht mehr war wie noch im Konfessionellen Zeitalter die theologisch begru¨ndete Auffassung das Argument, das alle anderen Argumente schlug. Vielmehr erlaubte die Unabha¨ngigkeit des Denkens von theologischen Gesichtspunkten, zum Beispiel wenn in der historisch-kritischen Betrachtung die Heiligen Schriften denselben Kriterien wie profane Werke der Literatur unterworfen wurden, ein hohes Maß an unbefangener Kritik.31 26

Ebd. S. 56. Allgemeines Landrecht (1794) 2. Teil, 12. Titel, § 9. 28 Nipperdey, S. 65. 29 McLeod (2003), S. 7 f. 30 Du¨lmen, S. 127. 31 Die Vermeidung der dadurch entstehenden theologischen Probleme durch Umorientierung der Sinnvermittlungsinstanzen ist interessant. Im Streit um die Wertheimer Bibel la¨sst sich die Tendenz beobachten, den Streit um die Gu¨ltigkeit der Bibel, etwa um die von Johann Lorenz Schmidt bezweifelte Gu¨ltigkeit der Messiasweissagungen des Alten Testaments, zu umgehen und die Vermittlung religio¨ser Aussagen stattdessen u¨ber ihre Poetisierung vorzunehmen (vgl. Goldenbaum 27

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Die Kirche verlor im nachkonfessionellen Zeitalter, so la¨sst sich zusammenfassend festhalten, also mehr und mehr die Kontrolle u¨ber andere gesellschaftliche Bereiche wie Schule und Universita¨t, Politik und Staat, Wis¨ ffentlichkeit senschaft und Recht, aber auch u¨ber Ehe und Familie sowie O und u¨ber den o¨ffentlichen Diskurs mit der Folge, dass auch ihr Einfluss auf das Denken und Handeln der Menschen in den unterschiedlichen Lebensbereichen zuru¨ckging. Mo¨glicherweise manifestierte sich der Einflussverlust im Ru¨ckgang religio¨ser Praxis und in der alltagsweltlichen Umorientierung von der Erlangung jenseitiger Gu¨ter auf die Erho¨hung irdischen Nutzens, so dass der Differenzierungshypothese vielleicht eine gewisse Erkla¨rungskraft zugeschrieben werden kann. Welches die antreibenden Motoren der aufgezeigten Differenzierungsprozesse waren, bleibt in unserer Argumentation bislang allerdings offen. IV. Die Markthypothese Von der Differenzierungshypothese zu unterscheiden, doch mit ihr in engem Zusammenhang steht die Markthypothese. Sie besagt, dass im 18. Jahrhundert aufgrund der sta¨rkeren Auseinanderziehung unterschiedlicher Konstitutionsebenen des Sozialen gesellschaftliche Institutionen, Ordnungen und andere Systeme der Handlungskoordination wie Staat, Kirche, Kommunen, Sta¨dte, Sta¨nde, Zu¨nfte nicht mehr jenen unmittelbaren Zugriff auf das Denken, Fu¨hlen und Handeln der Individuen besaßen, wie das im Konfessionellen Zeitalter der Fall war, und sich daher in Wirtschaft, Wissenschaft und o¨ffentlichem Leben zunehmend marktfo¨rmige Beziehungen mit ho¨heren Freiheitsgraden fu¨r das Individuum herausbildeten. Die Herrschaft des Staates u¨ber den Glauben der Untertanen war das Kennzeichen des Konfessionellen Zeitalters.32 Die Obrigkeit hatte fu¨r 2004: 62 – 66). Noch Herder blendet in der A¨ltesten Urkunde des Menschengeschlechts die kritischen Fragen aus und vertraut stattdessen auf die a¨sthetische und suggestive Wirkung des Textes. Man ko¨nnte von einer Art Sakraltransfer sprechen. Ein solcher Sakraltransfer ist allerdings erst mo¨glich, wenn sich Religion und Wissenschaft sowie Religion und Poesie in ihrer Funktion und ihrer Semantik voneinander unterscheiden lassen. Dann kann die wissenschaftlich umstrittene Behandlung religio¨ser Aussagen umgangen und stattdessen ihre a¨sthetische Wirksamkeit in Anspruch genommen werden. 32 Stollberg-Rilinger, S. 94.

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die Verpflichtung der Untertanen auf das christliche Bekenntnis Sorge zu tragen und u¨bte in religio¨ser, aber auch in politischer, o¨konomischer wie sozialer Hinsicht ein hohes Maß an Kontrolle u¨ber das gesamte Leben der Bevo¨lkerung aus. Aus dem Grundsatz cuius regio eius religio resultierte der Ausschluss abweichender religio¨ser Bekenntnisse aus dem Territorium des Landesherrn. Mit der Tolerierung andersartiger Lehren wu¨rde sich dieser, wie gesagt, vor Gott schuldig machen. Hatte der Landesherr die religio¨se Wahrheit „fu¨r seine Person erkannt, so hat[te] er [folglich] nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, seine Untertanen zu dem gleichen Bekenntnisse zu zwingen und Widerstrebende von seinen Staatsgrenzen auszuschließen“.33 Wer dem Bekenntnis des Landesvaters aus Gewissensgru¨nden nicht folgen konnte, war aufgefordert, das Land zu verlassen, besaß unter bestimmten Bedingungen aber auch das Recht dazu. In Frankreich mussten die Protestanten, die weder zum katholischen Glauben konvertieren noch emigrieren wollten, mit Galeerenstrafen rechnen. Im freiheitlicheren England – A¨hnliches galt fu¨r Wales und Schottland – waren unterschiedliche Glaubensrichtungen zwar geduldet; die Toleranz gegenu¨ber den Dissenters implizierte jedoch nicht ihre Gleichberechtigung, wenn es etwa um die Besetzung o¨ffentlicher A¨mter ging; Katholiken waren von der Duldung bis 1829 ohnehin ausgenommen. Von religio¨ser Freiheit konnte im Konfessionellen Zeitalter also lediglich in einem sehr ¨ ber die Kirchenzucht, die der eingeschra¨nkten Sinne die Rede sein. U Staat im Auftrag der Kirche ausu¨bte, wurde das Leben der Menschen ¨ ffentlichkeit, sondern auch in Ehe und Familie, ja bis nicht nur in der O hin zur individuellen Glaubenspraxis und privaten Gewissensu¨berzeugung diszipliniert. Die Gla¨ubigen wiederum nahmen die Kirche „als Teil der ihnen auch sonst auferlegten Herrschaft wahr“.34 Das Cuius-Regio-Prinzip gab dem Landesherrn nicht nur das Recht, seine Konfession zu wa¨hlen. Es hatte auch Auswirkungen auf die individualrechtliche Spha¨re. Das mit ihm verbundene ius emigrandi ero¨ffnete dem Individuum erstmals einen individuellen Freiheitsbereich und stellt insofern eine Vorwegnahme der Religions- und Gewissensfreiheit dar. Aufgrund der religio¨sen Konversionen der Landesherren, der Migrationsbewegungen in der Bevo¨lkerung, der Gewa¨hrung von Ausnahmerechten fu¨r die, die im Normaljahr (1624) keinem Bekenntnis zuzuordnen waren, und an33 34

Sehling, S. 8. Schlo¨gl (2013), S. 58.

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deren Umsta¨nden konnte die konfessionelle Einheitlichkeit jedoch zunehmend weniger durchgesetzt werden. Auch nicht mit Gewalt. Die Landesherren sahen sich daher geno¨tigt, Abweichungen von der Staatsreligion mehr und mehr zu dulden. Die Praxis lief den rechtlichen Fixierungen voraus und trug zur Anpassung der Prinzipien an die Praxis bei. So setzte sich seit Ende des 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts – unterstu¨tzt durch die Argumentation der Aufkla¨rungsphilosophie – faktisch eine Relativierung des Konfessionszwanges durch.35 Die staatliche Religionsaufsicht blieb zwar erhalten. Trotz staatlicher Kirchenhoheit unterstu¨tzte der Staat die Kirche jedoch nicht mehr bei der Umsetzung kirchlich verha¨ngter Strafen. Die Kirchenzucht wurde damit de facto abgeschafft und erhielt auch kaum noch gesellschaftliche Unterstu¨tzung. Auch wenn die Aufsicht der Staatsgewalt u¨ber die Religionsausu¨bung der Untertanen weiterhin in Geltung blieb, erstreckte sie sich doch mehr und mehr nur noch auf die a¨ußeren Umsta¨nde des kirchlichen Lebens und immer weniger auf Fragen des Glaubens oder theologische Fragen. In der Zeit, als die Territorialmacht zunehmend geno¨tigt war, Abweichungen im Bekenntnis zu tolerieren, gewannen auch Staatstheorien an Boden, die die staatliche Herrschaft nicht mehr religio¨s legitimierten, sondern sie auf die freie Entscheidung souvera¨ner Bu¨rger zuru¨ckfu¨hrten. Die vera¨nderte Religionspraxis der Territorialfu¨rsten ero¨ffnete fu¨r die Diskussion und Aufnahme der Vertragstheorien eines Hobbes, Rousseau und Locke neue Gelegenheitsstrukturen. Nun konnten sich die Herrscher der Toleranzforderungen der Aufkla¨rung zur Rechtfertigung ihrer politischen Praxis bedienen. Ein Staat, der der auf Freiwilligkeit beruhende Zusammenschluss mu¨ndiger Bu¨rger sei, ko¨nne niemals Zwang u¨ber die Gewissen derjenigen ausu¨ben, die ihn erst konstituiert ha¨tten. Der Glaube 35 In den Niederlanden waren Konfessionsdifferenzen de facto geduldet. In ¨ bertritt von Kurfu¨rst Johann Sigismund zum CalBrandenburg waren mit dem U vinismus im Jahr 1613 und dem Widerstand der Sta¨nde gegen eine Calvinisierung ebenfalls konfessionelle Differenzen entstanden, die mit der Zusicherung des Bestands des lutherischen Bekenntnisses sogar rechtlichen Schutz erfuhren. In England und Wales (1689) sowie in Schottland (1712) wurden die konfessionellen Differenzen ebenfalls gesetzlich geschu¨tzt (McLeod [2003], S. 6). Die Unterscheidung von o¨ffentlichen Kirchengesellschaften mit den Privilegien einer Staatsreligion, privaten Religionsgemeinschaften, die in privaten Ha¨usern zum Gottesdienst zusammenkommen durften, und Sekten, die sich trotz individueller Glaubensfreiheit nicht außerhalb der Familie zum Gottesdienst zusammenfinden durften, blieb freilich in Geltung.

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entziehe sich der staatlichen Kontrolle. Er sei etwas ho¨chst Individuelles. Allenfalls die a¨ußere Glaubenspraxis unterliege der staatlichen Aufsicht. Gerade diese aber mache nicht den Kern des Christentums aus. Neue politische Gelegenheitsstrukturen, Forderungen nach religio¨ser Toleranz, Kritik an der a¨ußerlichen Zwangsgestalt der Kirchen und Tendenzen der religio¨sen Individualisierung verbanden sich miteinander. Der Konfessionszwang, wo er denn noch ausgeu¨bt wurde, erwies sich als Anachronismus. Immer deutlicher wurde, dass sich der Glaube nicht la¨nger von der Obrigkeit vorschreiben ließ, dass der Staat nicht fu¨r das Seelenheil seiner Untertanen sorgen kann und er dem Individuum das Recht auf Selbstbestimmung einra¨umen muss. Die Lockerung des staatlichen Zugriffs auf den Einzelnen erlaubte eine Freisetzung bislang gebundener gesellschaftlicher Kra¨fte. In den sich wirtschaftlich erholenden Territorien entstanden soziale Freira¨ume. Die Buchund Zeitschriftenproduktion explodierte. Im Sturm und Drang brach sich ein alle u¨berkommene Regeln und Abha¨ngigkeiten sprengendes Lebensgefu¨hl Bahn. Eine neue urbane Geselligkeits- und Freizeitkultur bildete sich heraus. Das ist die These Lucian Ho¨lschers, der damit jene sozialen Kra¨fte benennt, die erodierend auf die kirchlichen Bindungen einwirkten. Lucian Ho¨lscher36 stellt fest, dass es vor allem nach dem Ende des Siebenja¨hrigen Krieges vornehmlich in Nord- und Mitteldeutschland zu einer raschen Entfaltung des urbanen Lebens, zu einer zunehmenden Mobilita¨t der Bevo¨lkerung, zur Entstehung eines wachsenden literarischen Markts, zum Aufbau nichtkirchlicher Erziehungssysteme sowie zur Ausbreitung von neuen Kommunikations- und Geselligkeitsformen kam. Aufgrund des Ausbaus des Straßensystems und der Verbesserung der Postverbindungen beschleunigte sich der Verkehr zwischen den ho¨fischen und sta¨dtischen Zentren. Der Abriss der alten Stadtmauern und der damit verbundene Wegfall der Sperrstunden der Stadttore trugen zur Belebung des Verkehrs mit dem sta¨dtischen Umland bei. Mit der Weitung der literarischen und ¨ ffentlichkeit entstand eine vo¨llig neue bu¨rgerliche Freizeitkultur. sozialen O Fahrten ins Gru¨ne und ausgedehnte Spazierga¨nge in der Natur, Kaffeeha¨user und Theatervorstellungen, literarische Zirkel sowie Tee- und Tanzveranstaltungen erfreuten sich einer wachsenden Beliebtheit. Das Theater trat als Anstalt zur moralischen Belehrung und Weltdeutung geradezu in Konkurrenz zum kirchlichen Gottesdienst, nicht zuletzt auch dadurch, dass die 36

Ho¨lscher (1990), S. 603; ders. (2005), S. 96 ff.

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Auffu¨hrungen teilweise zeitgleich am Sonntag stattfanden. Mit der Errichtung sa¨kularer Schulen wie dem Philanthropinum in Dessau bildeten sich konkurrierende Sozialisationsinstanzen. Diese aufblu¨hende urbane Freizeit-, Bildungs- und Geselligkeitskultur stellte die bislang unangefochtene Monopolstellung des Gottesdienstes als Kommunikationszentrum der Sta¨dte und Gemeinden in Frage.37 Im Laufe des 18. Jahrhunderts a¨nderte sich auch das Leseverhalten der gebildeten Schichten. Die intensive Lektu¨re wandelte sich zur extensiven. Statt wieder und wieder die stets gleichen Schriften zu lesen – Erbauungsbu¨cher, Gebetsbreviere, Andachtsbu¨cher und natu¨rlich die Bibel –, wurde nun immer neuer Lesestoff konsumiert. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wurden neue Zeitschriften gegru¨ndet, allgemeine Gelehrtenzeitschriften ebenso wie spezielle Zeitschriften auf philosophischem, juristischem oder pa¨dagogischem Gebiet. Theologische Zeitschriften waren ¨ berzahl.38 Ins Leben gerufen wurden Zeitungen dabei keineswegs in der U mit Hinweisen auf das europa¨ische Wissenschaftsleben, auf Vero¨ffentlichungen in europa¨ischen Zeitschriften und auf neu erschienene Bu¨cher sowie Rezensionszeitschriften.39 Manche wie die Acta eruditorum40 berichteten neutral u¨ber Buchinhalte, andere wie die Monatsgespra¨che41 a¨ußerten sich meinungsfreudiger, teilweise sogar polemisch und satirisch. Aber auch politische Zeitschriften, die Hofberichterstattung in großem Stil betrieben und akribisch u¨ber milita¨rische Vorga¨nge berichteten, kamen in Mode, ebenso Intelligenzbla¨tter mit Lokalanzeigen und moralische Wochenschriften, die Tugendlehren verbreiteten, sich in unterhaltsamer Art u¨ber Tabaksucht, Schwatzhaftigkeit und religio¨ses Eifertum ausließen, abfa¨llige Kommentare u¨ber die aufkommenden Ritterromane und andere Erzeugnisse der Trivialliteratur abgaben42 und ein Forum fu¨r – tatsa¨chliche

37

Auch dra¨ngten sich im Rechts- und Verwaltungswesen, in den Wissenschaften und Ku¨nsten, in Fragen des Geschmacks und des Anstands, ja selbst der Moral konkurrierende Gesichtspunkte vor. Religion konnte man nunmehr auch außerhalb der Kirchen finden, in der Natur, in der Kunst, in der Wissenschaft. 38 Kirchner, S. 110 – 139. 39 Habel, 2007. 40 (Erscheinungsbeginn: 1682). 41 (Erscheinungsbeginn: 1688). 42 Martens, 1971.

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und fingierte – Leserzuschriften boten.43 Das Zeitschriftenwesen erlebte in Deutschland im 18. Jahrhundert eine Blu¨te, die ihresgleichen sucht. In erster Linie waren die Zeitschriften ein Medium der Information, der Belehrung und Erziehung, der Werbung und des intellektuellen Austausches. Sie waren aber auch eine Form der Ablenkung von religio¨ser Lektu¨re und der konfessionellen Neutralisierung. Einige von ihnen setzten sich kritisch mit der Theologenschaft auseinander, viele waren konfessionell neutral, die meisten u¨bten Zuru¨ckhaltung in „theologicis“. Ihre sa¨kularisierende Wirkung ging weniger von der in ihnen geu¨bten Kritik an Theologie und Kirche als von der durch sie getragenen Interessenverschiebung aus: weg von theologischen und religio¨sen Inhalten und hin zu Themen des wissenschaftlichen, kulturellen, politischen und allta¨glichen Lebens, weg von seelischer Erbauung und hin zu Unterhaltung, Zerstreuung und Vergnu¨gen, weg von der Ausrichtung auf das jenseitige Schicksal und hin zu aktuellen Themen des Hier und Jetzt. Die Zeitschriften und Bu¨cher der Zeit vera¨nderten das Verha¨ltnis zu religio¨sen Fragen also weniger aufgrund ihrer kritischen Bescha¨ftigung mit den Ungereimtheiten der Theologie und den Misssta¨nden der Kirche als aufgrund der mit ihrer Konsumtion unausweichlich verbundenen Distraktion und Aufmerksamkeitsabsorption. Es ist offensichtlich, dass durch das Aufkommen dieser neuen Geselligkeits- und Freizeitkultur sowie durch die Ausweitung des Zeitschriften-, Zeitungen- und Buchmarktes, an dem Pastoren, Pastorenkinder oder ku¨nftige Pastoren einen betra¨chtlichen Anteil hatten, Kirche und Theologie herausgefordert waren und ihre soziale Zentralstellung durch die neuen Konkurrenzangebote in Wissenschaft, Freizeit und Kultur beeintra¨chtigt wurde. Bis ins letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhundert sahen sich die Theologen durch die kulturelle Vervielfa¨ltigung in der Regel nicht bedroht.44 Das wurde erst aufgrund der Wirkungen der Franzo¨sischen Revolution an43

Mlitz, S. 132 – 146. Der Zwang zur Teilnahme an den kirchlichen Riten lockerte sich zwar im Laufe des 18. Jahrhunderts. Diesen Ru¨ckgang nahmen viele Geistliche jedoch „lange Zeit mehr mit Bedauern als mit wirklicher Besorgnis zur Kenntnis“ (Ho¨lscher [2005], S. 104). Die Mehrzahl der aufgekla¨rten Geistlichen neigte dazu, den Befund optimistisch zu deuten. Die Menschen gingen zwar weniger zur Kirche, aber sie ha¨tten sich von einem magischen zu einem aufgekla¨rten Religionsversta¨ndnis gewandelt und seien moralisch auf dem Weg der Besserung (106). Erst durch die kirchenfeindlichen Ausschreitungen der Franzo¨sischen Revolution fu¨hlten sich die Geistlichen alarmiert. Zunehmend scha¨lte sich nun das Bild vom Niedergang des kirchlichen Lebens heraus. 44

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ders.45 Unabha¨ngig davon, wie die Vera¨nderungen interpretiert wurden, trug der mit der kulturellen Pluralisierung einsetzende Wettbewerbsmechanismus aber wohl entscheidend zur Schwa¨chung der kirchlichen Position und zu einer Vielzahl von semantischen Umorientierungen und praktischen Verhaltensa¨nderungen im religio¨sen Leben des ausgehenden 18. Jahrhunderts bei. Die Kra¨fte der urbanen Geselligkeitskultur wirkten hier gewissermaßen als Pull-Faktoren, wobei ihre Wirkung durch Kirchenund Bibelkritik und religio¨sen Skeptizismus, also durch push-Faktoren, noch versta¨rkt worden sein du¨rfte. V. Die Pluralisierungshypothese Die Pluralisierungshypothese unterscheidet sich von der Markthypothese insofern, als es in ihr nicht um die Auswirkungen von jenseits des religio¨s-kirchlichen Feldes aufkommenden sa¨kularen Alternativen geht, sondern um die Auswirkungen der Vervielfa¨ltigung religio¨ser Alternativen selbst, also um die Auswirkungen eines entstehenden innerreligio¨sen Pluralismus. Die neuerdings von Religionsgeschichtlern aufgestellte These, die europa¨ische Religionsgeschichte sei seit der Antike durch religio¨sen Pluralismus gekennzeichnet46, macht einen Nebengesichtspunkt zum Hauptmerkmal. Schon die Anfa¨nge des Christentums ko¨nnen als ein Versuch, den religio¨sen Synkretismus in der Umwelt des Christentums innerchristlich zu u¨berwinden, interpretiert werden.47 Erst recht war die europa¨ische Religionsgeschichte des Mittelalters vor allem durch die Ausgrenzung, Abwehr und Marginalisierung nichtchristlicher Religionsgemeinschaften sowie die Beka¨mpfung innerchristlicher Abweichungen gepra¨gt. Dass in einem Staatswesen nur eine Religion herrschen kann, war im Mittelalter selbstversta¨ndlich.48 Um die Suprematie des Papsttums innerhalb der einen heiligen Kirche und u¨ber alle anderen gesellschaftlichen Bereiche ging denn auch der Streit seit den Hildebrandschen Reformen des 11. Jahrhunderts.49 Noch dem Konfessionellen Zeitalter war der Gedanke einer Parita¨t unterschiedlicher Religionen oder Konfessionen in einem Territorium 45

Ho¨lscher (2005), S. 94. Gladigow (1995); Kippenberg S. 59; Kippenberg/Ru¨pke/von Stuckrad, S. 1; Ru¨pke, S. 9. 47 Markschies (2003). 48 Sehling, S. 8. 49 Althoff (2013); Steckel (2013); Pollack (2013a, b). 46

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fremd. Das Zerbrechen der Einheit der Kirche in der Reformation kam insofern einer mentalen Revolution gleich. Die Entstehung unterschiedlicher Konfessionen stellte fu¨r die Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts eine Herausforderung dar, von deren Ausmaß wir uns heute kaum noch einen Begriff machen ko¨nnen. Der konfessionelle Pluralismus unterminierte den Glauben an die eine christliche Wahrheit. Die gewaltsamen Versuche der Gegenreformation, die Religionseinheit im Reiche trotz der bereits eingetretenen konfessionellen Spaltung doch noch durchzusetzen und eine konfessionelle Entscheidung zu erzwingen, zeugen nicht nur von den Dominanzanspru¨chen der katholischen Seite, sondern auch davon, wie unfassbar sich der Gedanke einer konfessionellen Pluralita¨t damals ausnahm. Gerade aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen setzte sich jedoch immer sta¨rker die Einsicht durch, dass die Einheit des Reiches nur zu bewahren ist, wenn die bisherige Deckungsgleichheit von Staat und Religion aufgegeben wird. Da eine Einigung u¨ber die religio¨se Wahrheit auf friedlichem Wege nicht erreicht werden konnte, sich in den Konfessionskriegen des 17. Jahrhundert aber auch keine Seite auf milita¨rischem Wege durchzusetzen vermochte, sah man sich zur Duldung der konfessionellen Differenzen geno¨tigt. Die Duldung war keineswegs gewollt und kann insofern auch nicht als Ausdruck einer aufgekla¨rten Geisteshaltung und als eine aus der Zeit herausfallende Vorwegnahme der neuzeitlichen Kultur angesehen werden50, sie wurde durch die milita¨rische Pattsituation erzwungen. Das Reich definierte sich als religio¨s neutral und installierte ein Reichskirchenrecht, das weder evangelisch noch katholisch, sondern konfessionell indifferent war.51 Der Staat wurde von der Pflicht entbunden, fu¨r das Heil seiner Untertanen zu sorgen. Religion und Politik traten funktional auseinander, womit u¨brigens die Frage nach der Legitimita¨t der politischen Herrschaft neue Dringlichkeit gewann und ein weiteres Einfallstor fu¨r den Rekurs auf Vertragstheorien und Ideen der Volkssouvera¨nita¨t entstand. Im Westfa¨lischen Frieden wurde das gleichberechtigte Nebeneinander der katholischen, lutherischen und reformierten Reichssta¨nde besiegelt. Das Aufsichtsrecht der Obrigkeit u¨ber die Religion ihrer Untertanen auf Territorialebene blieb dabei unangetastet. In den Territorien galt also nach wie vor die staatliche Kirchenhoheit, die auf der Einheit von Kirche 50 51

Heckel, S. 71. Heckel, S. 69.

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und Staat beruhte. Konfessionell neutral war der Staat nur auf der Reichsebene. Die nicht intentional herbeigefu¨hrte Differenzierung von Religion und Politik auf der Reichsebene hatte freilich Folgen, die die religionsrechtlichen Bestimmungen und Praktiken auf der Territorialebene nicht unbeeinflusst ließen. Sie zeigte, dass es fu¨r die Staatsgewalt oft zutra¨glicher war, „sich von Fragen der Glaubenswahrheit u¨berhaupt zu entlasten und einen Standpunkt oberhalb der streitenden Parteien einzunehmen“.52 Das Pla¨doyer fu¨r die konfessionelle Neutralisierung des Staates um des in¨ berzeugungskraft. Wa¨hrend in Frankneren Friedens willen gewann an U reich Ludwig XIV. das Toleranzedikt von Nantes aufhob und Thron und Altar bis ins spa¨te 18. Jahrhundert hinein eng verbunden blieben, sorgte die kurfu¨rstliche und ko¨nigliche Politik in Brandenburg und Preußen fu¨r ein ertra¨gliches Auskommen zwischen den unterschiedlichen Bekenntnissen – mit nu¨tzlichen Folgen fu¨r Stadt und Land. In Frankreich war eine blutige Revolution erforderlich, um das Bu¨ndnis von Thron und Altar zu sprengen. In Preußen und anderen Staaten des Reiches hingegen verlief die Entwicklung zu einer Entkopplung von Religion und Politik undramatischer und evolutiver. Besta¨rkt durch die Kirchen- und Religionskritik der Aufkla¨rung erlangte die Vorstellung des unkonfessionellen Staatkirchenrechts immer mehr Zuspruch. Aufgeladen durch die kirchenkritische Philosophie der Aufkla¨rung sprang diese Vorstellung gewissermaßen u¨ber vom Reich auf die Territorien.53 Noch allerdings blieb die Kirchenhoheit fest in der Hand der Fu¨rsten und wurde von ihnen trotz beobachtbarerer Lockerungen zur Reglementierung der individuellen Religionsausu¨bung eingesetzt. Die Pluralisierung des religio¨sen Feldes wirkte also wie eine Schleuse, ¨ ffnung eine Vielzahl von parallel laufenden Prozessen in Gang setzderen O te. Die mit der Reformation einsetzende religio¨se Pluralisierung brachte die Neutralisierung des Reichskirchenrechts und damit die Differenzierung von Religion und Politik auf Reichsebene hervor. Sie trug zur Plausibilisierung der Idee eines religionsindifferenten Staates bei und damit zur Relativierung des Konfessionszwanges in den La¨ndern. Sie erzwang eine konfessionelle Abweichungen stillschweigend duldende landesherrliche kirchenpolitische Praxis. Sie erlaubte die weltanschaulich-aufkla¨rerische Aufladung konfessionsneutraler Ideen. Die in ihrem Gefolge ausbrechenden 52 53

Stollberg-Rilinger, S. 96. Heckel, S. 72.

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Glaubenskriege schlugen sich schon in den Schriften Pierre Bayles, dann aber auch bei vielen anderen Gelehrten der Zeit in der gru¨ndlichen Diskreditierung der christlichen Konfessionskirchen nieder. Bedingt durch die religio¨se Pluralisierung breitete sich also auch ein neues Christentumsversta¨ndnis aus, das die theologisch ausgearbeitete Unterscheidung zwischen Institution und Glaube verscha¨rfte und die innerliche Glaubenserfahrung deutlich von der a¨ußeren Zwangsgestalt der Kirchen absetzte. Damit bereitete die innerchristliche Pluralisierung der Entstehung von subjektivistischen Glaubensformen den Boden. Vor allem aber wurde mit der Pluralisierung der religio¨sen Bekenntnisse und ihrer damit notwendig gewordenen faktischen wechselseitigen Anerkennung die Gu¨ltigkeit der einen christlichen Glaubenswahrheit in Frage gestellt. Wenn sich die Kirchen nicht auf ein gu¨ltiges Bekenntnis einigen ko¨nnen, schwa¨chen sich unweigerlich die Motive ab, den Lehren der Kirche zu glauben, ihre Gebote zu befolgen und der Wirksamkeit ihrer Rituale zu vertrauen. In einem langen und durch weitere Faktoren beeinflussten Prozess relativieren sich die Gehorsamsanspru¨che der Konfessionskirchen schließlich gegenseitig. Mit dem Zerbrechen der religio¨sen Einheit durch die Reformation kam es mithin zu einer Art soziokultureller Entriegelung, in deren Folge sich Prozesse der funktionalen Differenzierung, der Kirchendistanzierung, der religio¨sen Subjektivierung und der religio¨sen Relativierung Bahn brachen, die das religio¨se Feld grundlegend dynamisierten. Die Pluralisierungshypothese scheint fu¨r die Analyse der hier in Frage stehenden Vera¨nderungen von religio¨ser Praxis und Vorstellungswelt ein beachtliches Aufkla¨rungspotential zu besitzen. VI. Die Horizonterweiterungshypothese Die Horizonterweiterungshypothese nimmt eine kulturgeschichtliche Perspektive ein, die in gewisser Weise quer zu den bereits pra¨sentierten Hypothesen steht. Gleichwohl soll auch sie hier auf ihre Tragfa¨higkeit gepru¨ft werden. Sie besagt, dass es im 17. und 18. Jahrhundert zu einer Weitung des der Menschheit zugedachten Zukunftshorizontes kam, die mit einer Verzeitlichung der dem Menschen zugetrauten Gotteserkenntnis verbunden war.

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Seit der ,Sattelzeit‘ in der zweiten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts traten, so die bekannte und viel zitierte These von Reinhart Koselleck54, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zunehmend auseinander und o¨ffneten sich – zuna¨chst in den gebildeten Schichten Westeuropas, dann auch in anderen Bevo¨lkerungsgruppen – vo¨llig neue geschichtliche Perspektiven.55 War das Zukunftsbild bis zum Dreißigja¨hrigen Krieg noch durch die Erwartung des nahe bevorstehenden Weltendes gepra¨gt und die Deutung der Gegenwart pessimistisch geto¨nt, dehnte sich der Zukunftshorizont in der Zeit danach zunehmend aus und gewann die Zukunft den Charakter eines „Glu¨cksversprechens“ (Mortier). Philipp Jakob Spener ersetzte schon in seinen Pia desideria von 1675 die Prognose eines baldigen Weltendes durch die Hoffnung besserer Zeiten, da durch Gottes Wirken eine Bewegung in Gang gekommen sei, die die irdischen Zusta¨nde (der Kirche) zum Besseren wenden werde.56 In seiner „Hoffnung besserer Zeiten“ von 1692 deutete er Ereignisse, die bisher als Nachweis des baldigen Weltendes genommen worden waren, nicht mehr als Vorzeichen eines bevorstehenden Endes aller Zeiten, sondern erkla¨rte, dass das Ende nicht so rasch eintreten werde. Johann Joachim Spalding dehnte den Zukunftshorizont noch weiter und hielt die Erfu¨llung der Bestimmung des Menschen sogar jenseits des Weltendes fu¨r vorstellbar. Und in seiner „Naturgeschichte des Himmels“ von 1755 behauptete Immanuel Kant schließlich, dass die Welt niemals aufho¨ren wu¨rde zu bestehen. Mit der Ero¨ffnung neuer Zukunftsperspektiven a¨nderte sich auch die Einstellung zur Gegenwart, die nun nicht mehr nur als ein Jammertal, dessen sich Gott in seiner unendlichen Gu¨te demna¨chst barmherzig annehmen werde, angesehen wurde, sondern als ein Ort von Dauer, als ein Ort des Durchgangs und der Vera¨nderung, der eine Vielzahl von Verbesserungen erlaube und damit auch ein aktiveres Weltverha¨ltnis erfordere. Der bisher weitgehend geschlossene Geschichtsraum, in welchem die Ordnung des Seins durch ein ho¨chstes Seiendes zusammengehalten, die Weltdeutung durch ein Notwendigkeitsdenken gepra¨gt und daher das Welter¨ berraschung und Kontingenz gestimmt war, wurde aufgebroleben auf U chen und durch ein Weltbild ersetzt, in dem Wirklichkeit und Mo¨glichkeit auseinandertraten und mit der Kontingenz des Geschehens stets gerechnet 54

(1972: XIII ff.; 1989a). Die These Kosellecks wird rezipiert und weiter ausgearbeitet von Ho¨lscher (2005), S. 91 ff., dem wir hier weitgehend folgen. 56 Greschat, S. 208 – 291. 55

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werden musste. Die Welt wurde als ein Gegenstand menschlicher Gestaltungsmo¨glichkeiten sichtbar, verlor damit aber auch ihre selbstversta¨ndliche Einbettung in einen Gewissheit vermittelnden ontologischen Rahmen. Mit Luhmann (1990) ko¨nnte man sagen, dass die leitende Semantik von Gefahr auf Risiko umgestellt wurde und die Gegenwart dadurch in die Lage geriet, als ein Raum der Bewa¨hrung, mo¨glichen Scheiterns, aber auch erzielbarer Gewinne in Erscheinung zu treten. Im 17. und 18. Jahrhundert vollzog sich jedoch auch eine Vera¨nderung der Einstellung zur Frage nach der Erkennbarkeit Gottes.57 Von der Scholastik bis Luther ging die Theologie davon aus, dass den Seligen trotz der Erfahrungen von Gottesferne die Unmittelbarkeit des Gottesbezugs, die visio beatifica, die glu¨ckseligmachende Anschauung, anstrengungslos gegeben sei. In der vollkommenen Erkenntnis Gottes (visio Dei) finde der menschliche Geist seine Vollendung. Die Endlichkeit des Menschen mu¨sse zwar mitbedacht werden, der Selige aber erkenne das Wesen Gottes unmittelbar (lumen gloriae). Wenn er Gott unmittelbar schaue, erkenne er auch das Kreatu¨rliche u¨ber seinen Anteil an Gott. Diese Erkenntnis werde ihm geschenkt. Vom lumen gloriae sei das lumen naturae, die natu¨rliche Erkenntnis, getrennt. Das eine fu¨hre nicht zum anderen. In der Zeit der Aufkla¨rung erfuhr dieses Erkenntnisideal eine Verzeitlichung. Erkenntnis Gottes wurde nun als eine Fortsetzung der diesseitigen Erkenntnis verstanden, nicht mehr als ein Bruch. Das Erkenntnisziel aber ko¨nne niemals erreicht werden. Die Unmittelbarkeit der Erkenntnis Gottes ho¨rte auf denkbar zu sein. Glu¨ckseligkeit war folglich nicht mehr eine Form der Vollendung, ein Ruhen in Gott, sondern ungehindertes Fortschreiten, unendliche Perfektibilita¨t. Koselleck58 konstatiert fu¨r die Zeit nach 1750 insgesamt eine Verzeitlichung von Perfektionsidealen. Diesseits und Jenseits ru¨cken zusammen. Das jenseitige Leben wird zu einer Fortsetzung des diesseitigen. Damit aber weiten sich nicht nur die Horizonte der Menschheit. Es fallen auch menschliche Erkenntnis und Erkenntnis Gottes prinzipiell auseinander. Mit Kants Widerlegung der Gottesbeweise wird Gott zu einem Postulat der Vernunft, das durch einen den Bedingungen

57

Hier folgen wir einer Argumentation von Michael Firsching, die dieser in einem unvero¨ffentlichten Papier (Visio beatifica: Zur Umformulierung und Beendigung eines Diskurses im 18. Jahrhundert) entwickelt hat. 58 (1989b: 320 f.).

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der Zeit und des Raumes unterworfenen Verstand nicht eingeholt werden kann. Ebenso wie Kant stellt sich auch Lessing in seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“ die in der Offenbarung des Johannes und von den Schwa¨rmern des Mittelalters verheißene Vollkommenheit als ein langsames Voranschreiten vor. „Das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit na¨her bringt“, wu¨rde „durch kleinere schnellere Ra¨der in Bewegung gesetzt […], deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert“.59„Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch (der fru¨her, der spa¨ter) erst durchlaufen haben.“ (§ 93) Den Weg zur Vollkommenheit ko¨nne der Einzelne aber nicht in einem einzigen Leben bewa¨ltigen. Vielmehr fu¨hrt Lessing hier den Gedanken der Seelenwanderung ein, um die Vervollkommnung des Einzelnen als denkmo¨glich auszuweisen. In seiner wiederholten Ru¨ckkehr auf die Erde ha¨ufe der Mensch so viele neue Kenntnisse und Fertigkeiten an, als er zu erlangen geschickt sei (§ 98). Die Vorstellung der Seelenwanderung erlaubt es Lessing, den Lauf des individuellen Lebens ins Ewige auszudehnen und die Vervollkommnung des Einzelnen als einen ins Unendliche ausgreifenden Prozess der Aus¨ ber die Verknu¨pscho¨pfung seiner individuellen Potenziale zu begreifen. U fung der Bahn des individuellen Lebens mit dem Gang der Menschheitsgeschichte versieht Lessing die menschliche Geschichte mit einem heilsgeschichtlichen Sinn. Damit aber ist das diesseitige Leben des Menschen und der Menschheit utopisch aufgewertet, ja bis ins Jenseitige verla¨ngert.60 Gleichzeitig ist die Vorstellung einer unmittelbaren Gotteserkenntnis, eines unvermittelten Einsseins mit Gott, einer differenzlosen Glu¨ckseligkeit aufgegeben. Die Perfektionsidee wird in einen Gradualismus u¨berfu¨hrt, der dem Menschen die Vervollkommnung durch eigene Anstrengung zutraut.

59

Lessing, 1956 [1781], § 92. Treffend heißt es bei Habermas (1985: 142), auf den ersten Blick schlo¨ssen sich geschichtliches und utopisches Denken aus. „Tatsa¨chlich aber hat das moderne Zeitbewusstsein einen Horizont ero¨ffnet, in dem das utopische mit dem geschichtlichen Denken verschmilzt. Dieses Einwandern utopischer Energien ins Geschichtsbewusstsein kennzeichnet jedenfalls den Zeitgeist, der die politische ¨ ffentlichkeit der modernen Vo¨lker seit den Tagen der Franzo¨sischen Republik O pra¨gt.“ 60

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In den Vorstellungen von Zeit, Diesseits, Jenseits, Endlichkeit und Erlo¨sung hat sich innerhalb von nur 150 Jahren ein fundamentaler Wandel vollzogen. Aus dem irdischen Jammertal ist ein Ort der Vervollkommnung geworden, der gleich mehrfach durchschritten wird. Aus der himmlischen Erlo¨sung ein vom Irdischen aus anstrebbares Perfektionsideal. Aus dem erwarteten Bruch der Menschheitsgeschichte ein ins Unendliche gehendes Fortschreiten des Menschengeschlechts. Go¨ttliche Vorsehung und menschliches Bestreben werden hier noch als vereinbar gedacht. Mit der Verzeitlichung des Perfektionsideals aber ist die apokalyptische Endzeiterwartung bereits fallen gelassen und das Diesseits freigegeben fu¨r einen weit ausgreifenden menschlichen Gestaltungsoptimismus. In der optimistischen Umwertung des Diesseits besteht die wesentliche Konsequenz des Wandels der Zeit- und Jenseitsvorstellungen, denn nun wird der irdischen Zeithorizont nicht nur ins Unendliche geweitet, sondern damit die Welt auch als Gestaltungsaufgabe sichtbar, als eine Gelegenheit, die moralische Besserung des Menschen herbeizufu¨hren, vernu¨nftige Zusta¨nde herzustellen und Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kunst zu reformieren. Erbsu¨ndenlehren, Erlo¨sungshoffnungen und Ho¨llenstrafen verlieren an Plausibilita¨t, das Diesseits ist ta¨tiges Leben.61 Erst aufgrund der Preisgabe der apokalyptischen Endzeiterwartung konnte der Gedanke irdischen Fortschritts im aufkla¨rerischen Denken Einzug halten. Fortschritt bildet den Schlu¨sselbegriff fu¨r die Erwartung einer zielgerichteten geschichtlichen Entwicklung.62 Er erlaubt es, politische Konzeptionen einer besseren Gesellschaft aus dem imagina¨ren Raum der Utopie herauszuholen, in die Zukunft zu projizieren und damit in den Raum der Geschichte und der Politik hineinzustellen.63 Mit dem Verzicht auf die Erbsu¨ndenlehre und auf die Vorstellung des kurz bevorstehenden Weltendes sind freilich wesentliche Triebfedern der christlichen Heilsvorstellungen verloren gegangen. Sofern es im 18. Jahrhundert tatsa¨chlich zu einer Verlagerung des Interesses vom Jenseits zum Diesseits, zu einer Transzendenzschrumpfung, zu einem Ru¨ckgang der Messstiftungen und einer Liberalisierung der Glaubenspraxis gekommen sein sollte, wa¨re das aus den beschriebenen Umbauten der eingenommenen

61 62 63

(Goethe). Rosa, S. 440. Ebd.

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Zeitperspektive gut versta¨ndlich zu machen. Was aber hat die Ausweitung des Zukunftshorizontes ausgelo¨st? Denkbar wa¨re, dass die Horizonterweiterung mit der fu¨r das 18. Jahrhundert nachgewiesenen Beschleunigung des sozialen und technischen Wandels sowie der Senkung der Mortalita¨t zusammenha¨ngt. Aufgrund des Wachstums der Produktivita¨t in der Landwirtschaft, des Ausbaus der Infrastruktur und effektiverer Handwerks-und Manufakturbetriebe erho¨hte sich das Tempo des technologischen Wandels. Aufgrund verbesserter landwirtschaftlicher Anbaumethoden, der Erho¨hung der landwirtschaftlichen Nutzfla¨che, der Einfu¨hrung neuer Kulturpflanzen sowie der Entwicklung der o¨ffentlichen und privaten Hygiene stieg aber auch die Lebenserwartung an.64 Pandemien verschwanden, die Anzahl der Hungersno¨te reduzierte sich, und auch die durch Kriege verursachte Sterblichkeit nahm ab. Infolge des beschleunigten sozialen und technologischen Wandels sowie der ho¨heren Lebenserwartung wurde soziale Vera¨nderung erstmals individuell erfahrbar.65 War Zukunft bislang die Verla¨ngerung der Vergangenheit, so trat sie nun als eine andersartige, als Bruch mit der Vergangenheit in Erscheinung. Es erscheint plausibel, dass die Erfahrbarkeit geschichtlicher Vera¨nderung die Herausbildung dynamischer Zeitvorstellungen befo¨rdert hat. Zweifellos aber hat die Dynamisierung der Zeitvorstellungen zu einem Verblassen der Endzeiterwartungen und einer Umkehrung der Blickrichtung vom Jenseits auf das Diesseits, zu einer Aufwertung der diesseitigen Welt und ihrem Verschmelzen mit utopischen Zukunftsvisionen beigetragen. Sollte daran etwas Richtiges sein, dann ka¨me es darauf an, die Gru¨nde fu¨r die Vera¨nderung der Temporalvorstellungen genauer ins Auge zu fassen. Gewiss ist dafu¨r nicht nur die Agrarkonjunktur im 18. Jahrhundert sowie die ho¨here Lebenserwartung verantwortlich zu machen. Vielmehr spielen hier auch die infolge einer verbesserten Infrastruktur ansteigende Mobilita¨t, das Aufkommen einer neuen urbanen Geselligkeits-, Bildungs- und Freizeitkultur, die Erweiterung des Zeitschriften- und Buchmarktes sowie u¨berhaupt der steigende Wohlstand eine zentrale Rolle. Vermutlich wirkten all diese Vera¨nderungen an der Aufmerksam64

Marschalck, S. 26; Wrigley, S. 77. Wie Jan Assmann und Reinhart Koselleck vermuten, vermag das kommunikative soziale Geda¨chtnis nicht mehr als 80 – 100 Jahre zu umfassen. Die Wahrnehmung von Vera¨nderung wa¨re dann, so schlussfolgert Rosa (2005, S. 177 f.), daran gebunden, dass sich signifikante Wandlungsprozesse innerhalb von drei bis vier Generationen vollziehen. 65

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keitsverschiebung vom Jenseits zum Diesseits mit. Das hieße, zwischen sozialstrukturellen und semantischen Vera¨nderungen einen engen Zusammenhang zu unterstellen. VII. Fazit Bei einem Ru¨ckblick auf die hier diskutierten Hypothesen fa¨llt es schwer, eine von ihnen als unbegru¨ndet auszuschließen. Vielmehr scheint allen eine gewisse Erkla¨rungskraft zuzukommen. Es du¨rfte plausibel sein, einen Zusammenhang zwischen dem Auseinandertreten von religio¨ser und weltlicher Ordnung und dem Ru¨ckgang kirchlicher Kontrolle u¨ber nichtreligio¨se Bereiche wie Schule, Universita¨t, Politik, Staat, Wissenschaft, Ehe und Familie anzunehmen und eine damit zusammenha¨ngende Abschwa¨¨ berzeugungen und Praktichung des kirchlichen Einflusses auf religio¨se U ken. Nicht minder plausibel du¨rfte es sein, davon auszugehen, dass die Entstehung urbaner Geselligkeitsra¨ume und eines gebildeten Bu¨rgertums den Zugriff des Landesherrn auf die religio¨sen Verhaltensweisen seiner Untertanen und ihre Gewissen zuru¨ckdra¨ngte. Aber es leuchtet auch die Behauptung ein, das Zerbrechen der religio¨sen Einheit des Reiches und die mit der Reformation entstehende religio¨se Pluralita¨t habe den Geltungsanspruch religio¨ser Wahrheit unterminiert und die aus der konfessionellen Zersplitterung resultierenden Glaubenskriege ha¨tten die Neutralisierung des Reichskirchenrechts erforderlich gemacht, der funktionalen Differenzierung von Religion und Politik vorgearbeitet und der aufkla¨rerischen Kirchenkritik Nahrung gegeben, also als eine Art Entriegelung fungiert. Wie auch die Annahme, die Preisgabe der Unmittelbarkeit des Gottesbezugs und die gleichzeitige Vergeschichtlichung utopischer Perfektionsvorstellungen habe zu einer Aufmerksamkeitsverschiebung von Jenseitshoffnungen zu diesseitigen Fortschrittskonzeptionen gefu¨hrt, unmittelbare Evidenz fu¨r sich beanspruchen kann. Erst recht u¨berzeugt es, alle diese Vera¨nderungen auf sozialstrukturelle Wandlungsprozesse zu beziehen und ihren engen Zusammenhang mit Prozessen des Bevo¨lkerungswachstums, des Sterblichkeitsru¨ckgangs, des wirtschaftlichen Produktivita¨tszuwachses, der Versta¨dterung, des Bildungsanstiegs, der Mobilita¨tserho¨hung usw. herauszustellen. Und besonders bestechend ist das Argument, dass die Spezifik dieser miteinander verbundenen Vera¨nderungen eben genau in ihrem intrikaten Verflechtungszusammenhang liegt. Ja, tragen nicht die durch die religio¨se Pluralisierung ausgelo¨sten Konflikte zur funktionalen Differenzierung und diese zum kirchlichen

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Einflussverlust sowie zur Sta¨rkung nichtreligio¨ser Gesichtspunkte bei, und werden nicht umgekehrt nichtreligio¨se Kriterien der Lebensfu¨hrung, des Diskurses und der Erfahrung auch durch das Aufkommen sta¨dtischer Bildungs- und Kommunikationskulturen befo¨rdert, die zugleich ein Ausdruck funktionaler Differenzierung sind, aber ohne Produktivita¨tszuwa¨chse, Bevo¨lkerungswachstum, Mobilita¨t und Bildungsanstieg ebenso undenkbar wa¨ren? Zu schweigen von der Tatsache, dass die gebildeten Schichten die Tra¨ger der aufkla¨rerischen Kirchenkritik sind, die wiederum allerdings auch mit der grundlegenden Diskreditierung der christlichen Kirchen durch die Konfessionskriege zusammenha¨ngt, die gleichzeitig zur Verscha¨rfung des Gegensatzes zwischen a¨ußerer Kirchlichkeit und innerem Glaubensleben und damit zur religio¨sen Individualisierung und damit wiederum zur Distanzierung von der staatlichen Obrigkeit beigetragen hat. Offenbar vollzog sich der gesellschaftliche und mentale Wandel in den unterschiedlichen Spha¨ren von Politik, Recht, Religion, Sozialstruktur, Wirtschaft, Wissenschaft zu gleicher Zeit. Eben darin scheint das wesentliche Merkmal fundamentalen Wandels zu bestehen, dass viele gesellschaftliche Spha¨ren von ihm betroffen sind. Die Verflechtung mit den anderen Bereichen macht den religio¨sen Wandel des 18. Jahrhunderts weltgeschichtlich so einzigartig. Literatur Althoff, Gerd (2013): Differenzierung zwischen Kirche und Ko¨nigtum im Mittelalter: Ein Kommentar zum Beitrag Detlef Pollacks, in: Fru¨hmittelalterliche Studien, Jahrbuch des Instituts fu¨r Fru¨hmittelalterforschung der Universita¨t Mu¨nster, 47. Band, 2013, 353 – 367. Aner, Karl (1929): Die Theologie der Lessingzeit. Halle: Niemeyer. Brown, Callum G. (1992): A Revisionist Approach to Religious Change, in: Bruce, Steve (Hg.) (1992): Religion and Modernization: Sociologists and Historians Debate the Secularization Thesis. Oxford: Oxford University Press, 31 – 58. Cognet, Louis (1970/1985): Der Jansenismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts, in: Jedin, Hubert (Hg.): Handbuch der Kirchengeschichte 5: Die Kirche im Zeitalter des Absolutismus und der Aufkla¨rung. Freiburg/Basel/Wien: Herder, 409 – 461. Dingers, Martin (1991): Fru¨hneuzeitliche Armenfu¨rsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17: 5 – 29.

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Shmuel N. Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“ und die Ordnungskonfiguration(en) von Staat und Religion Anmerkungen aus europa¨isch-rechtswissenschaftlicher Perspektive Von Ansgar Hense, Bonn I. Einleitende Bemerkungen zur Lage Die religio¨sen Landschaften wie das „religio¨se Feld“ erfahren gegenwa¨rtig Vera¨nderungen in der Wahrnehmung und Verortung, die verbunden sind mit Grundsatzdiskussionen u¨ber das Verha¨ltnis von Moderne und Religion.1 Gehen die verschiedenen Varianten und Versionen des Sa¨kularisierungsparadigmas (noch) davon aus, dass unter den Voraussetzungen „der Moderne“ das Religio¨se geradezu notwendigerweise an Bedeutung fu¨r die Gesellschaft verlieren werde, wird diese Annahme aktuell vielfach als nicht mehr zutreffend erkannt, wenngleich es nach wie vor durchaus valide Zusammenha¨nge zwischen Modernisierung eines Landes und zuru¨ckgehender Bedeutung des Religio¨sen gibt.2 Mag ein Bedeutungsverlust des Re1 Exemplarisch etwa folgende Sammelba¨nde: U. Willems u. a. (Hrsg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernita¨t und Sa¨kularisierung, 2013; K. Gabriel/C. Horn (Hrsg.), Sa¨kularita¨t und Moderne, 2016. Ferner Christof Wolf/Mathias Koenig (Hrsg.), Religion und Gesellschaft (Sonderheft 53, Ko¨lner Zeitschrift fu¨r Soziologie und Sozialpsychologie), 2013. 2 Ebenso grundlegend wie gru¨ndlich dazu die umfassende Studie von Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, 2015. Siehe dazu die differenzierte kritische Wu¨rdigung von Thomas Kern/Insa Pruisken, Wohin geht der religio¨se Wandel?, in: Soziologische Revue 39 (2016), 337 – 349. Einer Darstellung und Analyse der unterschiedlichsten Erkla¨rungsansa¨tze und theoretischen Konzeptionen zum Thema Religion und Sa¨kularisierung bietet Thomas M. Schmidt/A. Pitschmann (Hrsg.), Religion und Sa¨kularisierung. Ein interdisziplina¨res Handbuch, 2014.

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ligio¨sen zumindest apriorisch nicht zu unterstellen sein und damit einer linearen, eindeutigen religio¨sen Wirkungsrichtung der Moderne eine Absage erteilt werden,3 so vera¨ndert sich das religio¨se Feld doch nicht unerheblich und provoziert die durchaus ergebnisoffene Frage, wie sich dieser religio¨se Wandel erfassen und analysieren la¨sst. Geht man davon aus, dass das Religio¨se nicht an Bedeutung verliert, so hat es doch aktuell weitgehend seine Einheitlichkeit eingebu¨ßt. Nicht zuletzt die bundesrepublikanische Konstellation la¨sst sich als fortschreitende religio¨se Pluralisierung beschreiben.4 Bei diesen Tendenzen lassen sich a¨ußere und innere Pluralisierungsprozesse unterscheiden, die verdeutlichen, dass „es verfehlt wa¨re, von einer einzigen Sozialform der Religio¨sita¨t in der Gegenwart auszugehen“.5 Wa¨hrend die Außendimension etwa durch das Anwachsen der Bevo¨lkerungsanteile gekennzeichnet ist, die sich zu anderen als christlichen Religionen bekennen, nehmen die inneren Pluralisierungsprozesse etwa die Vera¨nderungen innerhalb einer Religionsgesellschaft oder religio¨sen Glaubensrichtung in den Blick. Gerade mit der (a¨ußeren) Pluralisierung wird seit der Jahrtausendwende eine zunehmende Intensita¨t und Dynamik von Konflikten verbunden, die sich insbesondere in gerichtlichen sowie rechts- und religionspolitischen Auseinandersetzungen u¨ber die Zula¨ssigkeit o¨ffentlicher religio¨ser Symbolik (vom Kopftuch u¨ber die Vollverschleierung bis zum MoscheeBau und Muezzin-Ruf) manifestiert.6 Der Umstand, dass sich „islamische Themen“ als problemanfa¨lliger und damit praktisch relevanter erweisen, la¨sst die Pluralita¨t bzw. Vervielfa¨ltigung von Konstellationen bei anderen Religionen (z. B. Orthodoxie, katholische Ostkirche) eher in den Hintergrund treten.7 Die grundlegende Vera¨nderung der religio¨sen Landschaft in 3

Vgl. Kern/Pruisken (o. Fn. 2), in: Soziologische Revue 39 (2016), 337 (339 f.). 4 Instruktiv zu Erscheinungsformen, Varianten u. a. der Pluralisierungsprozesse Christoph Bochinger, Neue Religio¨sita¨ten zwischen Sa¨kularisierung und spiritueller Vielfalt: Religion(en) in moderner Gesellschaft, in: Freiburger Universita¨tsbla¨tter, 52. Jg., Heft 201, September 2013, 83 – 93; ders., Ist religio¨se Vielfalt etwas Gutes? Pluralismus und Pluralita¨t in der Religionswissenschaft, in: A. Adogame u. a. (Hrsg.), Alternative Voices. A Plurality Approach for Religious Studies, 2013, S. 285 – 307. 5 Dazu Bochinger (o. Fn. 4), in: Freiburger Universita¨tsbla¨tter, 52. Jg., Heft 201, September 2013, 83 (87 f., Zitat: 91). 6 Ulrich Willems, Herausforderung religio¨se Vielfalt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66. Jg., Nr. 52/2016, 41 ff. 7 Die gegenwa¨rtigen Migrationsbewegungen fu¨hren zu bemerkenswerten religio¨sen Mischungsverha¨ltnissen: Die Flucht von Angeho¨rigen der katholischen

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Deutschland ist quantitativ vor allem mit dem Wandel der religions-statistischen Verha¨ltnisse verbunden. Nicht selten gilt es als ausgemacht, dass zum einen der deutsche Staat religionspolitisch aktiver agieren mu¨sse und es zum anderen wohl tiefgreifender A¨nderungen des deutschen Religionsrechts bedu¨rfe, zumal mit der bestehenden grundgesetzlichen Ordnung nicht bloß Asymmetrien zugunsten der christlichen Kirchen verbunden werden, sondern Gleichbehandlungsdefizite, die hinsichtlich der normativen Verarbeitung religio¨ser Pluralita¨t Ma¨ngel aufweise.8 Dem deutschen Staatskirchenrecht wird zwar prinzipiell eine „Verarbeitungskapazita¨t“ hinsichtlich der Parita¨t der christlichen Kirchen zugestanden, hinsichtlich der Pluralita¨t der Religionen wird diese Kapazita¨t aber skeptischer beurteilt.9 Die Erosion der volkskirchlich gepra¨gten Homogenita¨tsstruktur und ihr Wandel zu einer pluralen Religionslandschaft ko¨nnten den Staat demnach zu Neuordnungen verpflichten oder zumindest vor neue Ordnungsaufgaben stellen.10 Diese skizzierten vorstehenden Andeutungen richten ihren Blick auf ho¨chst unterschiedliche Aspekte und Dimensionen. Wa¨hrend die Absage Ostkirche, fu¨r die es eine eigene gesamtkirchliche Rechtsgrundlage mit dem 1990 promulgierten „Codex canonum Ecclesiarum Orientalium“ gibt, fu¨hrt in Deutschland zu Herausforderungen in der Seelsorge, die sich auch in kirchenrechtlichen Fragen spiegeln. Dazu Philipp Thull, Miteinander glauben, fu¨reinander da sein. Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Seelsorge an Flu¨chtlingen, die einer katholischen Ostkirche angeho¨ren, in: Pastoralblatt 8/2016, 247 – 254. 8 In diesem Sinn wohl Willems, Herausforderung (o. Fn. 6). Grundsa¨tzlich scheint dies eine recht weitgehend konsentierte Grundannahme des Mu¨nsteraner Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ zu sein. Siehe etwa auch Thomas Großbo¨lting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, 2013, S. 201 ff. und passim. Es sei an dieser Stelle schon vermerkt, dass sich aus rechtswissenschaftlicher wie rechtsdogmatischer Perspektive, die Herausforderungen, die mir der religionsverfassungsrechtlichen Inklusion „des Islams“ stellen, nicht so einfach u¨ber den Leisten der – schematischen – Gleichbehandlung schlagen lassen. Rechtsgrundsa¨tzlich zu den Fragen Jost-Benjamin Schrooten, Gleichheitssatz und Religionsgemeinschaften. Die gleichheitsrechtliche Behandlung von Religionsgemeinschaften nach den Bestimmungen des Grundgesetzes, der EMRK und der EU-Grundrechte-Charta unter besonderer Beru¨cksichtigung ihrer Organisationsformen, 2015. 9 Dazu etwa Hermann Lu¨bbe, Zivilisationsdynamik. Ernu¨chterter Fortschritt. Politisch und kulturell, 2014, S. 395 ff. 10 Zu vielen Aspekten und Dimensionen dieser Tendenz die Beitra¨ge in: U. Willems u. a. (Hrsg.), Ordnungen religio¨ser Pluralita¨t. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, 2016.

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oder Relativierung des Sa¨kularisierungsparadigmas auf einen umgreifenden, globalen modernisierungstheoretischen Aspekt abzielt, betrifft anderes eher rechtsanwendungstechnische Details der grundgesetzlichen Ordnung oder einfachgesetzlicher Regelungen des deutschen Rechts. Da man sich von „einer evolutiona¨r konzipierten einseitigen Beziehung zwischen Modernisierung und Sa¨kularisierung“ verabschieden mu¨sse, pla¨dieren Soziologen wie Karl Gabriel ausdru¨cklich fu¨r den Multiple-ModerneAnsatz Shmuel N. Eisenstadts, da dieser „von einer Vielfalt von Konstellationen zwischen religio¨sen, sa¨kularen und sa¨kular-religio¨sen Kra¨ften im Kontext von multiplen Modernisierungsprozessen“ ausgehe.11 Es erscheint durchaus fragwu¨rdig, welche Bedeutung der Kategorie der „multiple modernities“ im Rahmen einer soziologischen Theorie des Rechts12 als zeitlicher La¨ngsschnitt-Perspektive zugemessen werden kann, um die Evolution von staatlichem und religio¨sem Recht zu erkla¨ren und mo¨glicherweise sogar einen evolutiona¨ren Sprung zu markieren.13 Wenn man so mo¨chte, erfa¨hrt die Konzeption Shmuel N. Eisenstadts daru¨ber hinaus gegenwa¨rtig zudem eine sa¨kularisierungstheoretische Erga¨nzung oder Fortschreibung mit der Frage nach „multiplen Sa¨kularita¨ten“.14 Der religionsverfassungsrechtliche Gebrauchswissenschaftler sieht sich vor der Herausforderung, sich einerseits ganz unvoreingenommen dem nachbarwissenschaftlichen Ansatz zu na¨hern und diesen andererseits dar11

Karl Gabriel, Jenseits von Sa¨kularisierung und Wiederkehr der Go¨tter, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 52/2008, S. 9 (14 f.); ders., Bilanz 20 Jahre nach der Wende: Sa¨kularisierung oder multiple Modernen?, in: Soziologische Revue 36 (2013), 162 (167); ders., Der aktuelle Diskurs u¨ber Sa¨kularita¨t und Moderne in der Soziologie, in: ders./Horn (o. Fn. 9), S. 78 (90 ff.). 12 Zum theoretischen Kontext Martin Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011. 13 Martin Schulte, Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht, in: Aarnio u. a. (Hrsg.), Positivita¨t, Normativita¨t und Institutionalita¨t des Rechts. Festschrift fu¨r Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, 2013, 323 (338). 14 Christoph Kleine/Monika Wohlrab-Sahr, Research Programme of the HCAS „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“, Ma¨rz 2016; Marian Burchardt/Monika Wohlrab-Sahr, Von Multiple Modernities zu Multiple Secularities: kulturelle Diversita¨t, Sa¨kularismus und Toleranz als Leitidee in Indien, ¨ sterreichische Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2013), 355 – 374; Monika Wohlin: O rab-Sahr/Marian Burchardt, Vielfa¨ltige Sa¨kularita¨ten. Vorschlag zu einer vergleichenden Analyse religio¨s-sa¨kularer Grenzziehungen, in: Denkstro¨me. Journal der Sa¨chsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 7/2011, 53 – 71. Siehe auch Gabriel, Diskurs u¨ber Sa¨kularita¨t (o. Fn. 11).

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aufhin zu u¨berpru¨fen, ob sich das Konzept Eisenstadts fu¨r die Verha¨ltnisbeschreibung von Staat und Religion verwenden la¨sst. Dieser Unvoreingenommenheit ist eine gewisse theoretische Naivita¨t eigen, weil es sich gleichsam um eine Froschperspektive handelt: Nicht aus der Vogelperspektive ¨ berblicks soll das Konzept der multiplen Modernen verortheoretischen U tet und kritisch gewu¨rdigt werden, sondern ganz einfach gefragt werden, was heißt u¨berhaupt multiple Modernen und wie konfiguriert Eisenstadt seinen konzeptionellen Ansatz (II.). Im na¨chsten Schritt geht es dann um die Adaption dieses Ansatzes auf Staat-Religion-Verha¨ltnisse (III.). II. Rekonstruktion des makrotheoretischen Konzepts „multiple modernities“ Shmuel Noah Eisenstadts Das immense Werk Eisenstadts wird nicht selten als das Opus eines modernisierungstheoretischen „Grenzga¨ngers“ qualifiziert,15 dessen Wirkungsgeschichte „nicht ohne Hindernisse verlaufen“ sei.16 Gegenwa¨rtig erfreue es sich aber insoweit erheblicher Resonanz, als kaum eine Publikation, die sich mit Moderne – und auch Religion – auseinandersetzt, ihm nicht zumindest eine gewisse – zustimmende oder kritische – Referenz erweist.17 Der Topos der „Vielfalt der Moderne(n)“ des „geistreichen, weisen und kosmopolitischen Soziologen“18 Eisenstadts ist dabei zu einer geflu¨gelten Wendung geworden, die sich bisweilen schon durchaus kreativ verselbsta¨ndigt zu haben scheint. Die Idee einer Vielfalt der Moderne(n) scheint so etwas wie eine Evidenz anzuhaften, die diesen Topos so attraktiv und unmittelbar einsichtig macht.19 Die – soweit ersichtlich – gro¨ßte Aufmerksamkeit wird dem Werk und Denken Eisenstadts im soziologischen Schrift-

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Wolfgang Kno¨bl, Spielra¨ume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, 2001, S. 222. 16 Matthias Koenig, Shmuel Noah Eisenstadt: Kulturtheoretische Zivilisationsanalyse, in: S. Moebius/D. Quadflieg (Hrsg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, 2006, S. 571(577). 17 Als deutschsprachige monographische Darstellung siehe etwa Gerhard Preyer, Zur Aktualita¨t von Shmuel N. Eisenstadt. Einleitung in sein Werk, 2011. 18 So die Charakterisierung bei Fritz Stern, Fu¨nf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, 3. Aufl. 2007, S. 352. 19 Pollack/Rosta, Religion in der Moderne (o. Fn. 2), S. 36.

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tum zuteil.20 Bisweilen wird das Konzept Eisenstadts im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, das einen Bezug zur Thematik Moderne aufweist, zwar registriert, aber nicht konzeptionell rezipiert.21 Wenn – rechtstheoretisch – eingehender auf Eisenstadt referiert wird, geschieht dies in vor allem weltrechtlichen Zusammenha¨ngen.22 Eine wesentlich intensivere Rezeption erfa¨hrt Eisenstadt aber neben anderen modernisierungstheoretischen Ansa¨tzen im theologischen Schrifttum23 und auch die Literaturwissenschaft24 nimmt mitunter seinen Ansatz in den Blick. Schließlich ist Eisen20 Hans Joas/Wolfgang Kno¨bl, Sozialtheorie, 2004, S. 446 – 462; Kno¨bl, Spiel¨ sterreichische Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 ra¨ume (o. Fn. 15), S. 221 – 261. Die O (2013), Heft 4 widmete sich schwerpunktma¨ßig den „Multiple Modernities. Chancen und Grenzen eines Konzepts“. Eingehend behandelt immer wieder der Heidelberger Soziologe Thomas Schwinn die Vielfalt der Moderne: ders., Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen. Ein Literaturbericht in konstruktiver Absicht, in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2009), 454 – 476; ders., ¨ sterreichische Aspekte und Probleme eines pluralen Moderne-Versta¨ndnisses, in: O Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2013), 333 – 354; ders., Zur Neubestimmung des Verha¨ltnisses von Religion und Moderne. Sa¨kularisierung, Differenzierung und multiple Modernita¨ten, in: Wolf/Koenig (o. Fn. 1), S. 73 – 97; ders., Multiple ¨ berlegungen im Anschluss an Max Weber, in: Transit. Europa¨ische Modernities. U Revue 46 (Winter 2014/15), 24 – 44. Ansonsten siehe auch Armin Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, 2003, S. 128 f., 209 ff. 21 Siehe etwa Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 5 f. mit Fn. 17, 86 Fn. 60. Ferner dies., Privatrechtsentwicklung in der Moderne. Ein Triptychon, in: D. Grimm u. a. (Hrsg.), Rechtswege. Kontextsensible Rechtswissenschaft vor der transnationalen Herausforderung, S. 13 – 34. 22 Werner Krawietz, Juridische Kommunikation im modernen Rechtssystem in rechtstheoretischer Perspektive, in: W. Brugger u. a. (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 181 (186 – 190). Vgl. Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 225 f. 23 Besonders umfassend – und geradezu leitmotivisch – Boris Krause, Religion und die Vielfalt der Moderne. Erkundungen im Zeichen neuer Sichtbarkeit von Kontingenz, 2012, S. 273 – 332. Ferner Oliver J. Wiertz, Katholische Kirche und Moderne. Welche Moderne – welche Kirche?, in: ders. (Hrsg.), Katholische Kirche und Moderne, 2015, S. 1 (18 – 24). Sowie die Publikationen Karl Gabriels (o. Fn. 11). Daru¨ber hinaus auch Stephan Goertz, Quellen der Autonomie. Zur Bestimmung theologischer Ethik in der multiplen Moderne, in: Theologische Perspektiven aus Saarbru¨cken (Universita¨tsreden 63), 2006, S. 53 – 72. Ferner Hans-Joachim Ho¨hn, Gewinnwarnung. Religion – nach ihrer Wiederkehr, 2015, insbes. S. 32 ff. 24 Exemplarisch Gerhart von Graevenitz, Theodor Fontane: a¨ngstliche Moder¨ ber das Imagina¨re, 2014, S. 11 – 19. ne. U

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stadt mit seinem Konzept der multiple modernities zu einem „wichtigen Stichwortgeber des neuen weltgeschichtlichen Denkens geworden“.25 Der verstorbene Go¨ttinger Soziologe Willfried Spohn du¨rfte – vielleicht neben dem Heidelberger Soziologen Thomas Schwinn und Gerhard Preyer – einer der nachdru¨cklichsten Eisenstadt-Fu¨rsprecher sein und ha¨lt dessen soziologischen Ansatz der vergleichenden Zivilisationsanalyse fu¨r eine der wichtigsten heterodoxen Rahmenorientierungen in der gegenwa¨rtigen soziologischen Theorielandschaft,26 an die anzuknu¨pfen und die fortzuentwickeln sich gerade fu¨r eine multi-perspektivische globale historische Soziologie ebenso anbiete wie lohne.27 Ansonsten wird Eisenstadt nicht selten bloß eine ho¨fliche Aufmerksamkeit zuteil, weil man aufgrund der voraussetzungsvollen Annahmen des Multiple-Moderne(n)-Konzept ihn nur „am Rande“ behandeln ko¨nne, aber zumindest seine Warnung vor einer allzu eurozentrischen Perspektive der Moderne teilt.28 1. Basischarakterisierung: Makrosoziologischer Kontrapunkt im Konzert theoretischer Konzeptionen von Moderne und Modernisierung Es ist schon recht fru¨h das erkla¨rte Anliegen von Shmuel N. Eisenstadt, sich „gegen die Sichtweisen einiger klassischer Modernisierungstheorien“ zu wenden.29 Inmitten der Theorielandschaft gilt sein Konzept als kriti25 Gangolf Hu¨binger, Geschichtsdenken, kulturelle Evolution und sozialer Darwinismus, in: ders., Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf, 2016, S. 64 (75). Vgl. auch Sebastian Conrad/Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: S. Conrad u. a. (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansa¨tze, Themen, 2007, S. 7 ff. (insbes. S. 18 f.). Ferner Ju¨rgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009, S. 1281 ff. 26 Willfried Spohn, Eisenstadt u¨ber multiple Modernita¨t, in: Soziologische Revue 25 (2002), 242. 27 Willfried Spohn, Zur globalen historischen Soziologie Shmuel Noah Eisenstadts (1923 – 2010) – eine Wu¨rdigung, in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 40 (2011), 156 – 163. 28 So Sita Steckel, Differenzierung jenseits der Moderne. Eine Debatte zu mittelalterlicher Religion und moderner Differenzierungstheorie, in: Fru¨hmittelalterliche Studien 47 (2013), S. 307 (314 Fn. 17). 29 Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zuru¨ck auf die ¨ berlegungen zu den „Multiple Modernities“, in: R. Hohls u. a. (Hrsg.), ersten U

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scher Gegenentwurf zu den „vorherrschenden Varianten der Modernisierungs-, Globalisierungs- und Weltsystemstheorien als auch den Varianten ihrer postmodernistischen Kritik“.30 Eisenstadts Denkbewegung und Forschungsprogramm dient dabei aber nicht einem polemischen l’art pour l’art. Sie findet ihr Ziel nicht in einem dezisionistischen Entweder-oder, sondern ist durch ein unterscheidendes Sowohl-als auch gekennzeichnet. Matthias Koenig hebt bei Eisenstadt das permanente Wechselspiel von theoretischen und historisch-komparativen Fragestellungen sowie die integrative, gerade nicht konfrontative Theoriediskussion als charakteristisch hervor.31 Die Multiple Modernities-Perspektive wird als ein u¨bergreifender Rahmen der Moderne begriffen.32 Es sei ein „fortlaufendes Forschungsprogramm“ bzw. eine „Abfolge von Forschungsprogrammen“33, das soziologische Abschlussformeln vermeiden wolle.34 2. Die Distanzierung Eisenstadts vom „klassischen“ Moderne-Diskurs Das Tableau der Diskurse u¨ber Moderne und Modernisierung erscheint als unu¨bersichtliches und bisweilen verwirrendes Gela¨nde. Was ist u¨berhaupt „modern“ oder gar „die Moderne“? Haftet der Modernisierung als Prozessbegriff nicht auch etwas Schillerndes an? Es nimmt nicht wunder, dass bereits eine begriffsgeschichtliche Analyse der Worte „modern“ bzw. „Moderne“ Mehrdeutigkeiten zutage fo¨rdert.35 Substanziell verdichtet wird die Moderne durch die Modernisierungstheorie als „Groß-Narrativ“. Die „klassische“ Modernisierungstheorie legte das Fundament nicht nur fu¨r einen „orthodoxen Konsens innerhalb der Soziologie u¨ber die Bedeutung der Moderne“ (Klaus Lichtblau), sondern formulierte daru¨ber hinaus Europa und die Europa¨er. Quellen und Essays zur modernen europa¨ischen Geschichte, 2005, S. 169. 30 Spohn (o. Fn. 26), in: Soziologische Revue 25 (2002), S. 242. Siehe auch Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 221 f. und Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 13 ff. 31 Matthias Koenig, Shmuel Noah Eisenstadt, in: D. Kaesler (Hrsg.), Aktuelle Theorien der Soziologie, 2005, S. 41 (43). 32 Schwinn (o. Fn. 20), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2009), 454 (455). 33 Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 9, u. 33. 34 Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 34. 35 Klassisch dazu Hans Ulrich Gumbrecht, Artikel „Modern, Modernita¨t, Moderne“, in: O. Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4 (1978), 93 – 131.

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die wesentlichen, u¨ber einen engeren soziologischen Fachzusammenhang hinausreichenden Grundannahmen.36 Eine Basisannahme ist dabei die Kerndifferenz zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften, die streng dualistisch gepra¨gt ist und eine Inkompatibilita¨t zwischen Tradition und Moderne postuliert. Traditionale und moderne Gesellschaften werden damit in einen kontradiktorischen Gegensatz positioniert. Diese konstitutive Basisannahme la¨sst sich in verschiedene Merkmale entfalten und ist etwa hinsichtlich des Religionsthemas mit dem Sa¨kularisierungsparadigma verbunden.37 Auf das Ganze gesehen ist die Verwirklichung der Moderne Schluss- und Endpunkt eines – grosso modo – einheitlichen, evolutiona¨rprogressiv gedachten Geschichtsverlaufes, der auf die Verwirklichung moderner Gesellschaftsverha¨ltnisse hin angelegt ist. Der Modernisierungsfortschritt verdankt sich dabei im Wesentlichen einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autonome Teilsysteme. Grundsa¨tzlich liegt den meisten Moderne-Konzeptionen die optimistische Annahme zugrunde, die von einer Entwicklung zum Guten und Besseren hin ausgeht. Dieser optimistischen Sichtweise ist aber schon der deutsche Historiker Detlev K. Peukert entgegen getreten und hat gerade die letztgenannte Annahme stark relativiert, indem er auf die Janusko¨pfigkeit und Krisenhaftigkeit der Moderne hingewiesen hat.38 Mit dem Herausarbeiten des negativen Modernepotenzials wird dem optimistischen Moderne-Mainstream ein ebenso nachdru¨cklicher, aber letztlich mo¨glicherweise nicht minder einseitiger Gegenpol entgegengesetzt.39 Wenn sich Eisenstadt von dem vorstehend andeutend skizzierten „orthodoxen“ Moderneversta¨ndnis distanzierte,40 so sprang er aber nicht auf den Zug der Postmoderne auf. Vielmehr setzt Eisenstadt auf der Basis und innerhalb des Modernediskurses seine durch Heterodoxita¨t gepra¨gte Moderne-Konzeption. Er multiplizierte den Modernebegriff und o¨ffnete 36

Hierzu Wiertz, Welche Moderne (o. Fn. 23), S. 1 (6), der sich auf Klaus Lichtblau, Differentiations of Modernity, in: Theory, Culture & Society 16 (1999), 1 (4) bezieht. 37 Sehr hilfreich dazu Wiertz, Welche Moderne (o. Fn. 23), S. 1 (7). 38 Siehe insbesondere Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, 1987, S. 11 f., 266 ff. 39 So Thomas Raithel, Konzepte der ,Moderne‘ und Ansa¨tze der ,Postmoderne‘, in: A. Wirsching (Hrsg.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch: Neueste Zeit, 2. Aufl. 2009, S. 267 (272). 40 Vgl. Joas/Kno¨bl, Sozialtheorie (o. Fn. 20), 446 ff.

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ihn damit fu¨r Pluralita¨t und Diversita¨t und la¨sst zutage treten, wie „die Moderne“ diese beiden Pha¨nomene wiederum in sich aufhob.41 Verbunden ist dies mit einem „Abschied von einer geschichtsphilosophischen Teleologie“.42 Eisenstadt distanziert sich nicht etwa strikt von Ausgangspra¨missen der Modernisierungstheorie, er kommt aber zu vo¨llig anderen Schlu¨ssen.43 Gerade weil der Topos von der Vielfalt der Moderne(n) – im Singular oder Plural – zu einer Assoziations- und Projektionsfla¨che mutiert zu sein scheint, ist es aus der Sicht des rechtswissenschaftlichen Betrachters sinnvoll, Eisenstadts Denkweg zu rekonstruieren, bevor es zu bedenken gilt, ob und inwieweit sein Konzept Ansatzpunkte fu¨r juristische Perspektiven bietet. Die ganze Vielfalt des Eisenstadt’schen Denkweges und seine eigene genetische Verortung etwa in Beziehung zu Max Weber – Eisenstadt als Weberianer u. a¨.m. – kann dabei nicht behandelt werden.44 3. Herkunft und Kontinuita¨tslinien Eisenstadts vom Zivilisationsvergleich bis zum Programm multipler Moderne Auf dem Weg zu seinem Konzept multiple modernities legte Eisenstadt verschiedene Etappen zuru¨ck und selbst seine 2000 unter dem Titel „Die Vielfalt der Moderne“ publizierten Max-Weber-Vorlesungen sah er – bescheiden45 – nur als „eine Art Zwischenbericht“ an.46 Bis zu seinem Tode sind weitere Publikationen erschienen, die sich der Konzeption der Vielfalt der Moderne widmeten.47 Eisenstadts Denkbewegung wird for41

Vgl. Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 274, 275. Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 276. 43 So Julien Winandy, Multiple Modernities (Eisenstadt), in: Schmidt/Pitschmann (o. Fn. 2), S. 164. 44 Dazu etwa Wolfgang Kno¨bl, Die neuere Globalgeschichte, Max Weber und das Konzept der „multiple modernities“, in: T. Schwinn/G. Albert (Hrsg.), Alte Begriffe – Neue Probleme. Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen. 2016, S. 401 – 419. 45 Spohn (o. Fn. 26), in: Soziologische Revue 25 (2002), 242. 46 S. N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, 2000, S. 7. 47 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: T. Schwinn (Hrsg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, 2006, S. 37 – 62; ders., Multiple modernities: Analyserahmen und Problemstellung, in: T. Bonacker/A. Reckwitz (Hrsg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, 2007, S. 19 – 45. 42

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melhaft als Weg „von der vergleichenden Zivilisationsforschung zu den Multiple Modernities“ beschrieben.48 a) Andeutende Rekonstruktion von Grundelementen der Konzeption des „fru¨hen“ und „mittleren“ Eisenstadts Schon fru¨h widmete sich Eisenstadt, der als Schu¨ler von Talcott Parsons strukturfunktionalistisch gestartet war, einer „kritischen Neubewertung der evolutionstheoretischen Perspektive in den Sozialwissenschaften“.49 Vor dem Hintergrund empirisch-historischer Analysen konstatierte Eisenstadt, dass unter a¨hnlichen strukturellen Voraussetzungen politische (Welt-) Reiche im Vergleich keine einheitlichen Formen von institutionellen Ordnungen erkennen lassen, sondern sich ganz im Gegenteil auf jeder Differenzierungsstufe statt dessen eine Vielzahl von Ordnungsoptionen zeigen.50 Die Herausbildung der Ordnungsprozesse ist fu¨r Eisenstadt nicht eindeutig auf Zielerreichung hin programmiert, sondern kann ebenso durch Weiterentwicklung, Zusammenbruch, Regression oder Stagnation gekennzeichnet sein.51 Fu¨r Eisenstadt gibt es in der sozialen EntwickSiehe auch Shmuel N. Eisenstadt, Die institutionellen Ordnungen der Moderne. Die Vielfalt der Moderne aus einer weberianischen Perspektive, in: ders., Theorie und Moderne. Soziologische Essays, 2006, S. 141 – 165. 48 Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 35 und passim. 49 Shmuel N. Eisenstadt, Sozialer Wandel, Differenzierung und Evolution (1969), in: W. Zapf (Hrsg.), Theorien sozialen Wandels, 3. Aufl. 1971, S. 75 (76). Siehe im Einzelnen die differenzierte, mit unterschiedlichen Akzentuierungen versehene Nachzeichnung der Denkbewegungen Eisenstadts bei Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 222 ff.; Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 278 ff. 50 Eisenstadt, Sozialer Wandel (o. Fn. 49), S. 75 (81): „Bei modernen und sich modernisierenden Gesellschaften verschiedener Entwicklungsstufen kann man eine noch gro¨ßere Vielfalt konkreter institutioneller Typen finden. Moderne Gesellschaften unterscheiden sich voneinander bekanntlich nicht nur im Grad der wirtschaftlichen und politischen Differenzierung, sondern auch in den grundlegenden Integrationsprinzipien und in ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Symbolen. Auf jeder Differenzierungsstufe gibt es eine Vielzahl institutioneller Ordnungen.“ Eisenstadts 1963 publizierte Studie „The Political Systems of Empire“ gilt bereits als „bahnbrechende“ modernisierungstheoretische Studie. So Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (47). 51 Eisenstadt, Sozialer Wandel (o. Fn. 49), S. 75 (87). Vorher heißt es: „Das heißt also, dass Wandlungsprozesse bestimmte Mo¨glichkeiten ero¨ffnen, bestimmte andere aber blockieren ko¨nnen; die Institutionalisierung einer bestimmten Lo¨sung

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lung jeweils eine Variationsbreite, die eine große, wenn auch nicht unbegrenzte, Vielfalt der Strukturen und Integrationsmechanismen mo¨glich macht.52 Eisenstadts Anliegen, „bei der Betrachtung der Institutionalisierung sozialer Ordnung eine umfassendere Perspektive einzunehmen“,53 manifestiert sich neben der handlungstheoretischen Erweiterung, die etwa (kollektive) Akteure wie Eliten, religio¨se Intellektuelle mitberu¨cksichtigt, auch in der historischen Perspektivenerweiterung, die selbst weit in der Vergangenheit zuru¨ckliegende Weichenstellungen als gegenwa¨rtig relevant qualifiziert und Geschichte nicht bloß als Vorspiel der Gegenwart ansieht.54 Damit wird perspektivisch bereits beim fru¨hen Eisenstadt das Verha¨ltnis von Tradition und Moderne abweichend von anderen theoretischen Konzepten der Moderne (und Modernisierung) justiert. Zudem sensibilisiert der Akteursbezug Eisenstadt fu¨r den Aspekt Kampf und Konflikte, die in konkreten Konstellationen vorschnelle Schlu¨sse u¨ber vermeintlich unilineare Entwicklungen und universale Evolutionsmodelle verhindern und die Kontingenz von Entwicklungszusammenha¨ngen bewusst halten.55 Es existiert fu¨r Eisenstadt „keine globale Moderne im Sinne eines einzigen Musters bzw. Entwicklungspfades der Modernisierung“.56 Es war Eisenstadts explizites Ziel, gerade keine evolutionistische Theorie zu entwickeln.57 In seiner wissenschaftsbiographischen Retrospektive ra¨sonniert Eisenstadt zu dieser Phase seiner Denkentwicklung: „Und doch scheint mir heute, dass ich eben jene Vielfalt damals lediglich als inha¨rente Varianten des vorherrschenden westlichen Modells ansah. Letztlich ging ich implizit davon aus, dass die verschiedenen Dimensionen von Modernita¨t, na¨mlich die strukturelle, institutionelle und kulturelle Dimension, einem Trend zur Angleichung gehorchen wu¨rden“.58 Damit reflektierte Eisenstadt spa¨ter einen ihm nicht selten gegenu¨ber vorgebrachten Einwand.59 kann sogar jede weitere Entwicklung ,einfrieren‘ oder zu Stagnation oder Zusammenbru¨chen fu¨hren (ebda., S. 84). 52 Eisenstadt, Sozialer Wandel (o. Fn. 49), S. 75 (87). 53 Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 282. 54 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 224 f. 55 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 226. 56 Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 47. 57 Joas/Kno¨bl, Sozialtheorie (o. Fn. 20), S. 452. 58 Eisenstadt, Ein Blick zuru¨ck (o. Fn. 29), S. 169.

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Unter dem Einfluss seines weiteren Lehrers Edward Shils und dessen ¨ berlegungen zur Bedeutung des Heiligen, des Charisma und der TradiU tion als gesellschaftsstabilisierende Funktionselemente entwickelte Eisenstadt seinen konzeptionellen Ansatz fort.60 Die Stabilisierungsfunktion basiert nach Shils nicht zuletzt darauf, dass es ein Zentrum gibt, das die Ordnung der Symbole, Werte und Glaubensvorstellungen umfasst, die in einer Gesellschaft vorherrschen.61 Schon in seinem Fru¨hwerk konstatierte Eisenstadt, dass soziale Modernisierungsprozesse ha¨ufig konflikttra¨chtig sind und immer von Formen der Desorganisation begleitet werden.62 Dies geho¨rt fu¨r ihn durchaus grundsa¨tzlich zur „Normalita¨t“. Die bei Shils wohl etwas starre Konzeptionalisierung des Zentrums wird von Eisenstadt dynamisiert und geo¨ffnet.63 Hierbei geht Eisenstadt zum einen davon aus, dass (nur) charismatische Eliten fa¨hig sind, in sensiblen Institutionalisierungsprozessen die erforderliche Gefolgschaft zu finden.64 Nur die charismatischen Eliten sind in der Lage, die symbolischen u. a. Grundannahmen in soziale Grundregeln sozialer Interaktion zu transformieren.65 Die Fragilita¨t von Gesellschaften zeigt sich gerade in den Zentrum-Peripherie-Konstellationen, wobei bereits das Zentrumsinnere durch das Mit-, aber auch Gegeneinander von Eliten gepra¨gt ist und sich dies nicht erst dann zeigen muss, wenn von der Peripherie her sekunda¨re Eliten ins Zentrum streben.66 Eisenstadt verfu¨gte – nach Kno¨bl – seit Beginn der 59 Selbst wenn Eisenstadts Konzept weit davon entfernt ist, Zivilisationen als statische Versa¨ulungen aufzufassen, die einander undurchla¨ssig gegenu¨ber stehen, so wurde und wird ihm doch immer wieder der Vorhalt gemacht, ob er seinen Ansatz nicht doch zu einer Einheitlichkeit von Zivilisationen hin konzipiert und endogen beschra¨nkt. Zum Problem siehe Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 259 f.; Joas/Kno¨bl, Sozialtheorie (o. Fn. 20), S. 461; Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 331 f. 60 Umfassend Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 228 ff.; Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (48 f.); nur sehr knapp hierzu Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 282. 61 Vgl. Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 232. 62 Na¨her Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 233 f. 63 So Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 235 f. 64 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 234. 65 Vgl. Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (50). 66 Na¨her mit Belegen Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 235 f. Zu den Zentren als „Kristallisationspunkten“ der Institutionalisierung sozialer Ordnung fu¨hrt Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (51), weiter aus: „Die Spezifizierung von Grundregeln sozialer Interaktion und Konstruktion von Zentren werden jedoch

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1970er Jahre dann mit den begrifflichen Analyseinstrumenten Charisma, Zentrum/Peripherie u¨ber das Handwerkszeug, um besser und realita¨tsada¨quater als andere Modernisierungskonzeptionen sowie unterschiedliche Wandlungskonstellationen erfassen und analysieren zu ko¨nnen.67 Das Ordnungsproblem der Gesellschaft ist dabei gekennzeichnet durch eine generalisierende („symbolische“) Struktur, die soziale Interaktionen nicht bloß als freies Spiel der Kra¨fte ansieht, sondern die Freiheiten durch die strukturellen Vorgaben gerahmt ansieht. Zugleich sind die strukturellen Vorgaben fu¨r Eisenstadt historisch variabel.68 Die Institutionalisierung sozialer Ordnung ist eine prinzipiell unabschließbare Aufgabe, die immerzu Wandlungsdynamiken generiert.69 Eisenstadt „Struktur-Ansatz“ sieht die Institutionalisierung von Ordnung als ein Zusammenspiel aus (individuellem und kollektivem) Handeln sowie von Sozialstruktur und Kultur an. Die Segmente Sozialstruktur und Kultur als Kondensat symbolischer Orientierungen sind dabei durchaus als zu differenzierende autonome Sachbereiche anzusehen. Die traditionale Grundierung des Aspekts Kultur wird von Eisenstadt aber nicht in einem kulturalistisch-identita¨ren Sinne verengt,70 sondern ganz im Gegenteil in seinem Bedeutungsgehalt extrem ausgeweitet, so dass die grundlegende, von der klassischen Modernisierungstheorie formulierte Dichotomie von Tradition und Moderne unterlaufen wird.71 Tradition wurzelt in einem „tiefsitzenden, in den jeweiligen Kulturen und Zivilisationen verankerten kulturellen Programm, das u¨berall je unterschiedlich und unterschiedlich schnell die Wandlungsprozesse steuert bzw. antreibt“.72 Mit der kulturtheoretischen Weitung des Traditionsbegriffs intendiert Eisenstadt einerseits eine Sensibilita¨t fu¨r die in der Gesellschaft ablaufenden makrosozialen Prozesse,73 andererseits eine Absage an unilineare immer als kontingent erfahren und daher – das ist die destruktive Seite des Charismas – zum Ausgangspunkt alternativer Ordnungsvisionen, von Protestbewegungen und Konflikten. 67 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 238. 68 Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (49). 69 Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (50). 70 Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (52). 71 S. N. Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernita¨t, 1979, S. 128 ff. 72 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 239. 73 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 242.

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Evolutionsnarrative und eine Skepsis gegenu¨ber Konvergenzannahmen zwischen Gesellschaften.74 Die Moderne selbst wird von Eisenstadt als neue ,große Tradition‘“ aufgefasst.75 Unterschiedliche Traditionen schaffen unterschiedliche Modernisierungspfade. Die Unterschiedlichkeit von Entwicklungswegen liegt nicht darin, dass sie traditional fundiert sind, sondern darin, dass sie durch „andersartige“ Traditionen programmiert werden. Die Eigensta¨ndigkeit eines europa¨isch-nordamerikanischen Weges ist insofern eine spezielle Tradition, der Eisenstadt zum einen „Einzigartigkeit“ attestiert, die zum anderen aber durchaus vorbildhafte, paradigmatische Anstoßwirkung auch fu¨r Wandlungsprozesse in anderen Kontinenten und La¨ndern geben konnte, ohne jedoch eine hegemoniale, homogenisierende Wirkung zu entfalten.76 Um diese je unterschiedlichen kulturellen Programmierungen mit ihren je Wandlungsdynamiken sicht- und beschreibbar zu machen konzeptionalisiert Eisenstadt einen zivilisationsvergleichenden Ansatz, dessen maßgeblicher Schlu¨ssel er mit dem Topos „Achsenzeit“ verbindet.77 Mit dem Konzept der Axialita¨t konnotiert Eisenstadt einen „eigensta¨ndigen analytischkomparativen Zugriff auf die Besonderheiten einzelner Zivilisationen“.78 Sattelzeitpunkt bzw. Zeitenwende sind fu¨r Eisenstadt nicht die europa¨ische Neuzeit oder „die Moderne“, sondern das Achsenzeitalter.79 Das basale Fundament fu¨r den Durchbruch „der Moderne“ – bzw. den Durchbru¨chen zur Moderne – liegt fu¨r Eisenstadt nicht in dem unmittelbar historischen Vorlauf, sondern wird auf einen weit fru¨heren Zeitraum vor-verlagert,80 74 Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 283. Siehe daru¨ber hinaus auch Schwinn (o. Fn. 20), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2009), 454 (459). 75 Eisenstadt, Tradition (o. Fn. 71), S. 227 ff. 76 Eisenstadt, Ein Blick zuru¨ck (o. Fn. 29), S. 169 (170): „Diese Kultur der Moderne, bzw. dieses spezifische kulturelle Programm mit seinen Konsequenzen auf der Ebene der Institutionen kristallisierte sich in Westeuropa heraus und verbreitete sich anschließend in anderen Teilen Europas, auf den zwei amerikanischen Kontinenten und spa¨ter in der ganzen Welt. Damit war der Anstoß fu¨r sich kontinuierlich vera¨ndernde kulturelle und institutionelle Muster gegeben, die ihrerseits wiederum nicht zu einer gemeinsamen homogenen Moderne fu¨hrten, sondern vielmehr, […] zu der besagten Vielfalt der Moderne“. 77 Vgl. auch Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 91 ff. Ferner Joas/Kno¨bl, Sozialtheorie (o. Fn. 20), S. 452 ff. 78 Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (55). 79 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 253. 80 Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 291 f.

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womit eine neuartige, Tiefenstrukturen erfassende Perspektive auf die Moderne ero¨ffnet wird.81 Wenn Eisenstadt hier zwar das Achsenzeit-Konzept des Philosophen Karl Jaspers anknu¨pft, so variiert er doch dessen zeitliche Referenz. Wa¨hrend die Achsenzeit fu¨r Jaspers die Zeitspanne von 800 bis 200 vor Christus umfasst, verortet Eisenstadt sie – grundsa¨tzlich – von 500 vor Christus bis ins erste nachchristliche Jahrtausend bzw. zur Entstehung des Islam.82 Der entscheidende Axial-Marker ist fu¨r Eisenstadt die Distinktion zwischen einer transzendenten und weltlichen Ordnung.83 Mit dieser Unterscheidung ist fu¨r Eisenstadt eine Spannungslage zwischen Diesseitigem und Jenseitigem verbunden, die es zu u¨berbru¨cken gilt. Eisenstadt konstruiert insofern seinen Ansatz vor allem als einen religionssoziologischen.84 Die von Eisenstadt konstatierte „Rekonstruktionsbedu¨rftigkeit der weltlichen Ordnung“ ergab sich daraus, dass achsenzeit-zivilisatorisch die jenseitige Ordnung den diesseitigen Ordnungsvorstellung(en) hierar-

81

Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (55 f.). „Unter Achsenkulturen verstehen wir jene Kulturen, die sich wa¨hrend der Zeit von 500 v. Chr. bis zum Aufstieg des Islams herausbildeten. In dieser Zeit entstanden neue ontologische Visionen, Vorstellungen von einer Spannung zwischen der transzendenten und der weltlichen Ordnung, und dies in vielen Teilen der Welt: im alten Israel, im Judentum des Zweiten Tempels und im Christentum, im alten Griechenland; nur teilweise im zarathustrischen Iran; im fru¨hen kaiserlichen China, in Hinduismus und Buddhismus; und, schon nach der eigentlichen Achsenzeit, im Islam.“ S. N. Eisenstadt, Die Achsenzeit in der Weltgeschichte, in: H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2. Aufl. 2005, S. 40. An anderer Stelle findet sich aber auch als axialer Zeitraum die Zeit der tausend Jahre vor Christi Geburt bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert, so S. N. Eisenstadt, Die Antonomien der Moderne. Die jakobinischen Grundzu¨ge der Moderne und des Fundamentalismus, Heterodoxien Utopismus und Jakobinismus in der Konstitution fundamentalistischer Bewegungen, 2. Aufl. 2015 (1. Aufl. 1998), S. 8. 83 „Das Neue, das sie brachten, waren Vorstellungen von einer Kluft zwischen der transzendenten Ordnung und der weltlichen Ordnung. Diese neuen ontologischen Konzeptionen wurden zuerst von kleinen Gruppen autonomer, relativ ungebundener ,Intellektueller‘ (einem neunen sozialen Element zu jener Zeit), insbesondere von den Tra¨gern kultureller und sozialer Ordnungsmodelle, entwickelt, bis sie schließlich zu den ,herrschen‘ Pra¨missen der jeweiligen Kultur geworden, d. h. institutionalisiert waren. Das bedeutet, sie wurden zu den dominanten Orientierungen sowohl der regierenden als auch viele sekunda¨rer Eliten und waren damit in die Zentren oder Subzentren ihrer Gesellschaften eingezogen.“ Eisenstadt, Achsenzeit (o. Fn. 82), S. 40 f. 84 Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (412). 82

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chisch u¨bergeordnet wurde85; oder anders formuliert: die weltlich-politische Ordnung geringer bewertet wurde als die transzendente.86 Damit einher gingen dann Ideologisierungen der Konflikte. Das heterodoxe Potential der Axialzivilisationen la¨sst sich kulturspezifisch unterschiedlich auflo¨sen,87 wobei zwischen religio¨ser oder sa¨kularer Auflo¨sung unterschieden werden kann.88 Der Soziologe Kno¨bl fasst dabei Eisenstadts These dahingehend zusammen, „dass nur Zivilisationen, die aufgrund ihrer religio¨sen Verfasstheit eine innerweltliche Orientierung ermo¨glichten, zu stark beschleunigten Wandlungsprozessen fa¨hig waren“.89 Die je eigene Wandlungsgeschwindigkeit der durch die Religionen konstituierten Zivilisationen ergibt sich fu¨r Eisenstadt unter anderem aus der jeweils spezifischen Auflo¨sung der transzendent-mundanen Spannungslagen.90 Die Achsenzeit ist fu¨r Eisenstadt dabei so etwas wie die „Urform der Modernisierung“ und damit der Grundstein fu¨r die Dynamiken etwa des neuzeitlichen Europas.91 Mit der Referenz Achsenzeitkulturen wird die Freisetzung spezifischer kultureller Grammatiken verbunden, „die bis in die Gegenwart fortwirken und nicht auf die Aktivita¨ten der aktuellen

85 „Aus den Vorstellungen von einer Kluft zwischen dem Transzendenten und dem Profanen erwuchs das Bestreben, die profane Welt – die menschliche Perso¨nlichkeit, die soziopolitische und die wirtschaftliche Ordnung – nach Maßgabe der transzendenten Vision zu gestalten, die in Religion, Metaphysik und/oder Ethik formulierten Prinzipien einer ho¨heren Ordnung in dieser Welt zu verwirklichen.“ Eisenstadt, Achsenzeit (o. Fn. 82), S. 40 (41). Weiterhin: „Die politische Ordnung als einer der zentralen Orte der weltlichen Ordnung wurde gewo¨hnlich fu¨r weniger bedeutsam gehalten als die transzendente Ordnung und hatte sich folglich nach den Prinzipien dieser letzteren neu zu gestalten“. So Eisenstadt, Antinomien (o. Fn. 82), S. 12. 86 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 250. 87 Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (56). 88 Na¨her Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 251 f. Dazu, dass die Auflo¨sung der axialen Spannung innerhalb des Christentums zwischen diesen beiden Polen hinund herschwankte siehe weiterhin Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (55). 89 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 252. Vgl. auch Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 297: „So gestaltete sich sozialer und kultureller Wandel, […], in außerweltlich orientierten Zivilisationen mit einer anderen Dynamik als etwa in Zivilisationen der außerweltlich und zugleich innerweltlich orientierten monotheistischen Religionen“. 90 Vgl. Joas/Kno¨bl, Sozialtheorie (o. Fn. 20), S. 459. 91 Vgl. Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 256.

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Religionstra¨ger reduziert werden du¨rfen“.92 Die axiale Weichenstellung wirkte fort etwa in den großen europa¨ischen Revolutionen, die den Durchbruch der Moderne in Europa ermo¨glichen.93 Die in den Achsenzeitzivilisationen „aufgestaute Spannung“ zwischen dem Transzendenten und dem Mundanen war Voraussetzung fu¨r „totale Wandlungsprozesse“ wie sie Revolutionen eigen ist.94 Eisenstadt konstatiert damit aber keine bruchlosen ¨ berga¨nge. Anders als die meisten makrosoziologischen, modernisierungsU theoretischen Konzeptionen geht er nicht von scharfen Za¨suren aus, sondern sieht in den revolutiona¨ren Wandlungen Fortsetzungen dessen, was in der Achsenzeit grundgelegt, aber in seiner Eruption von konkreten soziokulturellen Umsta¨nden abha¨ngig ist. Demzufolge sind derartige „Entwicklungen“ auch Ausdruck von Kontingenz. Reformation, europa¨ische Aufkla¨rung, die Revolutionen in Europa und Nordamerika sind fu¨r Eisenstadt Neubearbeitungen bzw. Transformationen der sich aus der Achsenzeit ergebenden Problemstellungen und Spannungslagen.95 „Trotz ihrer dramatischen Vehemenz stellen diese Revolutionen sicherlich nicht den einzigen, hauptsa¨chlichsten oder gar weit reichendsten Typus von Wandel dar – sei es in vormoderner oder in moderner Zeit. In anderen Kombinationen struktureller und institutioneller Faktoren wie z. B. in Japan, Indien, Su¨dasien oder Lateinamerika ko¨nne sich andere Wandlungsprozesse vollziehen und andere politische Regime entstehen, was eben nicht einfach als ,fehlgeschlagene‘ potentielle Revolutionen interpretiert werden darf. In solchen Fa¨llen kann die Revolution als Bewertungsmaßstab nicht dienen; es zeigen sich vielmehr andere mo¨gliche Wandlungsmuster – ,legitime‘ und Sinn tragende Gesellschaftstransformationen-, die unabha¨ngig von Revolutionen

92 So Schwinn (o. Fn. 20), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2009), 454 (461). Bei Schwinn heißt es weiter: „Die kulturellen Erbschaften haben den Entwicklungspfad einer Gesellschaft oder Region mitgeformt, und dies wirkt fort trotz des Mitgliederschwunds heutiger Kirchen“ (ebda.). 93 Shmuel N. Eisenstadt, Die großen Revolutionen und die Kulturen der Moderne, 2007, S. 144: „Die großen Revolutionen stellen den Ho¨hepunkt und die Konkretisierung der sektiererischen und heterodoxen Potentiale dar, die sich in den Achsenzeit-Kulturen entwickelten – besonders in den Kulturen, in denen das politische Forum zumindest eines der Foren fu¨r die Umsetzung der transzendentalen Vision angesehen wurde“. 94 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 253. Vgl. ferner Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 301 f. 95 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 256.

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bestehen und dementsprechend analysiert werden sollten“.96 Revolutiona¨re „Eintritte“ in die Moderne sind fu¨r Eisenstadt demnach nicht die einzige Mo¨glichkeit fu¨r evolutiona¨re „Durchbru¨che“.97 Der Vollsta¨ndigkeit halber sei hier nur am Rande erwa¨hnt, dass Eisenstadt sich daru¨ber hinaus gerade den Wandlungsprozessen nicht-axialer Kulturen wie etwa der Japanischen sehr eingehend widmet.98 b) Eisenstadts Forschungsansatz der multiple modernities Der Vielfalt der Achsenkulturen korrespondiert eine Vielfalt der Moderne.99 Fu¨r Eisenstadt ist der „beste Weg, die Gegenwartsgesellschaft und schließlich die gesamte Geschichte der Moderne zu verstehen, […], diese Moderne als eine Geschichte der Formierung und Neukonstitution multipler, sich wandelnder und oft strittiger und miteinander konfligierender ,Modernen‘ im Plural (multiple modernities) zu lesen“.100 Eisenstadt geht von einer „konflikthaften Entwicklung mehrerer Arten der Moderne“ aus,101 die die Moderne nicht als „hegemoniales und homogenisierendes Projekt“ konzeptionalisiert. Insofern erteilt Eisenstadt allzu weitreichenden gesellschaftlichen Konvergenz-Tendenzen eine Absage: „Vielmehr haben sich die verschiedenen institutionellen Komplexe der Moderne, die Wirtschaft und die Politik, die Bildung und die Familie, unabha¨ngig voneinander in unterschiedlichen Gesellschaften und zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf verschiedene Weise entwickelt.“102 Die Entfaltung von Vielfalt realisiert die Moderne dadurch, dass sie ihren „Kern nicht inhaltlich und statisch fixiert, sondern dynamisch“.103 96 Shmuel N. Eisenstadt, Die Dimensionen komparativer Analyse und die Erforschung sozialer Dynamik. Von der vergleichenden Politikwissenschaft zum Zivilisationsvergleich, in: ders., Theorie und Moderne (o. Fn. 47), S. 39 (53 f.). 97 Vgl. Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 147. 98 Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), insbes. S. 110 – 173. Siehe zudem etwa ders., Japan und die Vielfalt kultureller Programm der Moderne, in: ders., Theorie und Moderne (o. Fn. 45), S. 307 – 324; Japan: Paradoxien einer nicht-axialen Modernisierung aus weberianischer Sicht, ebda., S. 325 – 364. 99 Eisenstadt, Achsenzeit (o. Fn. 82), S. 40 (67). 100 Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (20). 101 Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 9. 102 Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (21). 103 Schwinn (o. Fn. 20), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2009), 454 (457).

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Eisenstadt schließt damit aber keineswegs per se aus, dass es zu Konvergenzen kommen kann. Er will sich aber zum einen von der modernisierungstheoretischen Zwangsla¨ufigkeit dezidiert absetzen, die vielleicht allzu eindimensional, linear evolutive Entwicklungs- und Wandlungsprozesse mit relativ genauen Zielbildern konstruieren will. Zum anderen will Eisenstadt darauf hinweisen, dass die Anna¨herung bisweilen eher vordergru¨ndig oder allgemein-oberfla¨chlich erfolgt. Es gilt fu¨r ihn, den Blick offenzuhalten fu¨r die „variierenden kulturellen Komponenten unterschiedlicher Modernita¨tskonfigurationen in ihren kontinuierlichen Spannungen, Widerspru¨chen und Antonomien“104. Fu¨r Eisenstadt erscheint die Moderne „besta¨ndig auf dem Pru¨fstand“ (Leszek Kolakowski).105 Gefundene moderne Ordnungsstrukturen sind einer besta¨ndigen Suche nach alternativmodernen Ordnungen ausgesetzt.106 Eisenstadt leugnet keineswegs die Wichtigkeit sozialer Differenzierungsprozesse, nur stellt er die Variationsoptionen und damit die Mo¨glichkeit, sehr unterschiedliche Ordnungskonfigurationen zu generieren, wesentlich sta¨rker als andere Theoretiker in den Vordergrund. Um die „dynamische Multiziplita¨t der Moderne(n)“ erkennen und analysieren zu ko¨nnen, aus denen „besondere Kombinationen von institutionellen, strukturellen und kulturellen Elementen sowie deren Antinomien erwachsen“, pla¨diert Eisenstadt dafu¨r, diese elementaren Dimensionen auseinanderzuhalten.107 Eisenstadt konzeptionalisiert seinen Ansatz nicht „von oben“, d. h. von den Strukturierungsprozessen wie sozialer und funktionaler Differenzierung, Sa¨kularisierung o. a¨., sondern gleichsam „von unten“, indem er den Blick lenkt auf die „kulturellen Komponenten von Modernita¨t und ihren konstellativen Kombinationen mit diesen strukturellen Prozessen“.108 Damit erweitert Eisenstadt den modernisierungstheoretischen Fokus, der sich vor allem auf strukturelle und institutionelle Aspekte konzentriert, um die Komponente kulturelles Programm.109 Bei der prinzipiellen Annahme der „Mehrzahl unterschiedlicher Modernisierungspfade“ schließt Eisenstadt nicht nur Konvergenzen nicht aus, sondern weist auch darauf hin, dass dem europa¨ischen Modernisierungs104

So Spohn (o. Fn. 26), in: Soziologische Revue 25 (2002), 242 (243). Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (35). 106 Eisenstadt, ebda. 107 Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (36). Ders., Ein Blick zuru¨ck (o. Fn. 29), S. 169 (171). 108 Spohn (o. Fn. 26), in: Soziologische Revue 25 (2002), 242 (243). 109 Wiertz, Moderne (o. Fn. 23), S. 1 (19). 105

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weg durchaus etwas Vorbildhaftes eigen ist,110 welches der „Ausgangs- und Bezugspunkt fu¨r unterschiedlichste Entwicklungsprozesse verschiedenster Gesellschaften weltweit“ gewesen sei, ohne sich aber in einem einzigen institutionellen Muster oder einem einzigen Zivilisationsmodus auszuformen.111 Die westeuropa¨ische Moderne ist fu¨r Eisenstadt ursprunghaft.112 Die Erstauffu¨hrung des „Dramas der Moderne“ in Europa macht die europa¨ische Moderne nicht zur „Moderne u¨berhaupt“.113 Vielmehr stellt Eisenstadt die Vielfalt der Moderne bereits innerhalb des Westens fest:114 „Zu den spezifischen Kennzeichen der europa¨ischen Moderne kann geza¨hlt werden, dass das moderne Europa durch besta¨ndige Umbildungs- und Neubildungsprozesse seiner Zentren und seiner nationalen Gemeinschaften gepra¨gt wurde“.115 Moderne und Modernisierung sind fu¨r Eisenstadt insofern etwas Besonderes und Singula¨res, bei dem sich jeweils ein spezifischer Weg herauskristallisiert. Selbst wenn der europa¨ische Weg durchaus Vorbildcharakter besitzt, wird er in anderen kulturellen Zusammenha¨ngen umgebildet, was Eisenstadt am Beispiel der USA und der (nicht-axialen) Kultur Japans na¨her erla¨utert.116 Wenn auch fu¨r Eisenstadt im globalen Rahmen keine einheitliche Gestalt der Moderne existieren kann,117 lo¨st er gleichwohl Moderne nicht in einer Erscheinungsform postmoderner Oberfla¨chenbuntheit auf oder fasst Moderne auch nicht als bloßes Nebeneinander distinkt alternativer, unverbunden existierender oder sich entwickelnder Moderne-Muster auf. Eisenstadt erweist sich als Modernisierungstheoretiker, weil seine These multipler Modernen „bestimmte Annahmen u¨ber die Eigenart der Moderne“ voraussetzt.118 Eisenstadts spezifische Sicht auf die Moderne als multiple modernities geht davon aus, dass die Moderne einen neuen Typus der Zivilisation markiert und damit eine besondere, unterscheidbare Form aus110

Als neue, zweite Achsenzeit bezeichnet bei Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 99 ff. 111 Vgl. Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (21 f.). 112 Umfassend dazu Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 9 ff. 113 Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 45. 114 Vgl. Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (56). 115 Eisenstadt, Ein Blick zuru¨ck (o. Fn. 29), S. 169 (171). 116 Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 46 ff., 110 ff. 117 Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 110. 118 Eisenstadt, Zeitalter der Globalisierung (o. Fn. 47), S. 37.

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pra¨gt, die die Kristallisation eines bestimmten Weltbildes darstellt.119 Den Kern dieser Kultur – vielleicht besser: Zivilisation120 – verankert Eisenstadt ¨ ffnung’ und Ungewissheit“.121 Der „Verlust der „in einer beispielslosen ,O Gewissheitszeichen“ bedingen Vielfalt und Wandel der Moderne.122 Trotz der von Eisenstadt konstatierten, mit der Moderne verbundenen Gewissheitsverluste ist das kulturelle Programm der Moderne fu¨r ihn nicht „kernlos“. Den „Kern des Projekts der Moderne“ dynamisiert und pluralisiert er aber, indem er ihn auf „mehrere ideologische wie institutionelle Pra¨missen“ zuru¨ckfu¨hrt. Hierbei reichert Eisenstadt seinen modernisierungstheoretischen makrosoziologischen Ansatz mit mikrosoziologischen, handlungstheoretischen Elementen an,123 da der Projektkern der Moderne „vor allem eine erhebliche Verschiebung im Versta¨ndnis menschlichen Handelns“ impliziert.124 Zwei Zentralperspektiven sind Eisenstadt in diesem Zusammenhang wichtig: zum einen die tiefgreifende Reflexivita¨t und zum anderen, dass die gesellschaftliche Ordnung durch zielgerichtetes menschliches Handeln als vera¨nderbar interpretiert werden kann.125 Fu¨r Eisenstadt gibt es „immer multiple Visionen und Modelle, und sie alle sind bestreitbar“. Dieser Umstand verklammert letztlich die Modernen und la¨sst eine „Einheitlichkeit“ nicht in den Ergebnissen, wohl aber in den Herausforderungen erkennen: „Was immer auch die einzelnen Unterschiede zwischen den multiplen Formen der Moderne ausmachen, sie alle teilen angesichts der Wandelbarkeit und interpretativen Offenheit des kulturellen Programms der Moderne die Herausforderung, besta¨ndig auf solchen Wandel reagieren zu mu¨ssen: Diese Fa¨higkeit auszubilden ist letztlich das Hauptproblem aller modernen Gesellschaften.“126 Die Moderne motorisiert die Ordnungsherstellung letztlich zu einer Daueraufgabe, die

119

Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (24). ¨ bersetzungen fa¨llt die Dominanz des Topos „Kultur“ In den deutschen U auf. Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 297 mit Fn. 179 u. o¨., tauscht die Begrifflichkeiten in der Regel aus. 121 Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (24). 122 Eisenstadt, Die institutionellen Ordnungen (o. Fn. 47), S. 141 (144, 151). 123 Zu diesem Aspekt vor allem Spohn (o. Fn. 26), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 40 (2011), 156 (157 und passim). 124 Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (26). 125 Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (26 f.). 126 Eisenstadt, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 19 (41). 120

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mit allgegenwa¨rtigen Spannungen und Konflikten verbunden ist.127 Die sich sta¨ndig wandelnden Programme der Moderne werden – auch – durch Antinomien und Widerspru¨che gekennzeichnet, die sich bis hin zu „erheblichen zersto¨rerischen Mo¨glichkeiten“ zeigen ko¨nnen.128 Die Antinomien – oder Paradoxien – des in der Moderne angelegten kulturellen Programms sind fu¨r Eisenstadt aber keine Fehlformen, sondern inha¨rente Erscheinungsformen von Moderne und Modernisierung, die die Institutionalisierung des kulturellen Programms mit der konfliktreichen Dialektik von Autonomie und Kontrolle belastet.129 c) Die Religionen in der Moderne – die Moderne der Religionen Eisenstadt widmet aufgrund seines letztlich religionssoziologisch fundierten Ansatzes der kulturpra¨genden Dimension der Religion im Projekt Moderne große Aufmerksamkeit,130 womit er wiederum einen Kontrapunkt zum seinerzeitigen Mainstream der Sa¨kularisierungsthese setzte.131 Eine seiner letzten Vero¨ffentlichungen gilt gerade „neuen religio¨sen Konstellationen“.132 Die Konnexita¨t von Moderne und Religion kristallisierte sich in Europa heraus. Der Soziologe Matthias Koenig formuliert plastisch: Nach Eisenstadt „la¨sst sich die kulturelle Konstruktion der Moderne in Europa als Resultat heterodoxer Bewegungen innerhalb des Christentums beschreiben, welche die axiale Spannung zwischen transzendenter und mundaner Ordnung sowohl radikalisierten als auch durch innerweltlichen Aktivismus zu u¨berbru¨cken versuchten“.133 Eisenstadt hat demnach in die Moderne fundamental religio¨se Elemente eingelassen und tritt damit einseitigen Sa¨kularisierungsgesetzma¨ßigkeiten entgegen. Zudem konstatiert

127

Na¨her Eisenstadt, Zeitalter der Globalisierung (o. Fn. 47), S. 37 (40 ff.). Eisenstadt, Die institutionellen Ordnungen (o. Fn. 47), S. 141 (161 f.). 129 Vgl. Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 104 f. 130 Dazu und zum Folgenden Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 319 f. 131 Winandy, Multiple Modernities (o. Fn. 47), S. 164 (169). 132 Shmuel N. Eisenstadt, Die neuen religio¨sen Konstellationen im Rahmen gegenwa¨rtiger Globalisierung und kultureller Transformation, in: Willems u. a. (Hrsg.), Moderne und Religion (o. Fn. 1), S. 355 – 377. 133 Matthias Koenig, Kulturelle Konstruktionen und institutionelle Varianten der Moderne in der Weltgesellschaft, in: Reckwitz/Bonacker (o. Fn. 47), S. 71 (84). 128

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er einen gro¨ßeren Stellenwert der Religion in der Gegenwart.134 Bemerkenswerterweise ist dies fu¨r Eisenstadt aber mit Transformationen und der Herausbildung neuer „Konstellationen von wesentlichen Komponenten religio¨ser Erfahrung und Organisation“ verbunden, die keineswegs eine „einfache Ru¨ckkehr zu traditionellen Formen von Religion“ bedeutet, „sondern eher eine umfassende Umbildung der religio¨sen Dimension“.135 Eisenstadts Konzept der multiplen Modernen entlastet den Ansatz der klassischen Modernita¨tstheorie von der Zwangsla¨ufigkeit der Profanierung vor allem des o¨ffentlichen Bereichs und wird demnach teilweise als ein „makrotheoretisches Mittel zur Bestimmung des Verha¨ltnisses von Moderne und Religion“ qualifiziert, zumal durch die „Reduzierung der theoretischen Geltungsreichweite von Sa¨kularisierungsthesen“ keine definitiven Aussagen u¨ber Sa¨kularisierungsprozesse getroffen werden.136 Bei Eisenstadt werden sowohl religio¨se Alleingeltungsanspru¨che als auch Sa¨kularisierungszwangsla¨ufigkeiten aufgehoben. Es gibt prinzipiell die Glaubensoption (Hans Joas) ebenso wie die „sa¨kulare Option“ (Charles Taylor). „Makrosoziologisch heißt das, dass es sowohl stark religio¨se als auch stark sa¨kulare moderne Gesellschaften geben kann und dass sich diese jeweiligen Tendenzen aus unterschiedlichsten Gru¨nden in die eine oder andere Richtung vera¨ndern ko¨nnen“.137 Das religio¨se Feld ist fu¨r Eisenstadt aber gerade keine monolithische Struktur. Vielmehr – so Eisenstadt deutlich ein einem seiner letzten Texte – ergeben sich in allen Religionen neue religio¨se Konstellationen. Derartige Verschiebungen brachten – so Eisenstadt jedoch „nicht einfach eine Wiederkehr traditioneller Formen religio¨ser Organisationen, Autorita¨ten oder Praktiken mit sich, sondern fu¨hrten vielmehr zu einer weitreichenden Re-Konstituierung der religio¨sen Komponenten in den umfassenden kulturellen und institutionellen Formen“.138 Religio¨se Orientierungen vervielfachen sich und privatisieren sich auch und konstituieren dabei auch ¨ ffentlichkeit, in denen sich „alternative Modernen“ zeineue Formen von O 139 gen. 134 135 136 137 138 139

Vgl. Eisenstadt, Zeitalter der Globalisierung (o. Fn. 47), S. 37 (48). Eisenstadt, ebda., S. 48 f. So Krause, Religion (o. Fn. 23), S. 323, 325. Winandy, Multiple Modernities (o. Fn. 43), S. 164 (169). Eisenstadt, Konstellationen (o. Fn. 132), S. 353 (357). Vgl. Eisenstadt, Konstellationen (o. Fn. 132), S. 353 (363).

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Das darin enthaltene Kontingenz-Potential verortet Eisenstadt, was auf den ersten Blick verwundern mag, auch (!) in einer (in bestimmten Dimensionen bestehenden) „Modernita¨t des Fundamentalismus“, die er mit der paradoxen Wendung „moderne Bewegung gegen die Moderne“ na¨her charakterisiert.140 Indem sowohl die fundamentalistischen Bewegungen wie auch andere religio¨se Akteure an der Herstellung und Transformationen der sozialen Ordnung beteiligen, partizipieren sie an dem in der Achsenzeit grundgelegten, dann in der Neuzeit durchgebrochenen Glutkern der multiplen Moderne und ihrer Reflexivita¨t, denen es um die Herausbildung alternativer Formen von Modernita¨t geht.141 „Modern“ sind fundamentalistische Bewegungen fu¨r Eisenstadt insofern, als sie sich in das politische Zentrum dra¨ngten und gesellschaftliche Transformationen, Vera¨nderungen anzustoßen suchten. Eisenstadt stellt dabei keineswegs in Abrede, dass fundamentalistische Bewegungen „antimoderne oder vielmehr antiaufkla¨rerische Ideen verku¨nden“.142 In der Verdeutlichung des Zusammenhangs von Fundamentalismus und sozialem Wandel wird eines der „spannendsten Ergebnisse“ der Forschungen zu dieser Thematik Eisenstadts gesehen, zumal fundamentalistische Bewegungen nicht selten „zusa¨tzliche Differenzierungsschu¨be“ in modernen Gesellschaften bewirkten.143 Fundamentalistische Stro¨mungen verortet Eisenstadt insbesondere in den Gesellschaften der Achsenzeitzivilisation, so dass sie nicht nur in islamischen Gesellschaften beobachtet werden, sondern ebenso auch in christlichen oder ju¨dischen sichtbar wu¨rden.144 ¨ brigen tangieren die Vera¨nderungen im religio¨sen Feld nachhaltig Im U auch das „Gefu¨ge der Moderne“: „Die beschriebenen Vera¨nderungen waren eng mit zunehmenden Kontroversen innerhalb jeder Religion 140

Na¨her Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 174. Weiter ders., Zeitalter der Globalisierung (o. Fn. 47), S. 37 (54 f.). Schließlich ders., Antonomien (o. Fn. 82). Sowie das Nachwort von Georg Stauth, Geschichte, Modernita¨t, Fundamentalismus. Eisenstadts zivilisationstheoretischer Ansatz zum vergleichenden Studium moderner fundamentalistischer Bewegungen, ebda., S. 131 – 152. Zudem Eisenstadt, Konstellationen (o. Fn. 132), S. 353 (359 und passim). 141 Vgl. Spohn (o. Fn. 26), in: Soziologische Revue 25 (2002), 242 (244). 142 Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 182. 143 Stauth, Geschichte (o. Fn. 140), S. 131 (149, 150). 144 Vgl. Eisenstadt, Vielfalt (o. Fn. 46), S. 176, 182. Eisenstadt deutet den Fundamentalismus als „moderne, totalita¨re Umformung heterodoxer, utopischer Bewegungen der monotheistischen Achsenzeitreligionen“. So Koenig, Eisenstadt (o. Fn. 31), S. 41 (57).

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u¨ber die richtige Interpretation ihrer grundlegenden Pra¨missen, u¨ber ihre Beziehung zur modernen Welt und u¨ber die Verortung von Autorita¨t in ihnen selbst verbunden. Diese Kontroversen wurden auch zwischen verschiedenen religio¨sen Organisationen, Bewegungen und Funktionseliten ausgetragen. Alle diese neuen globalen Gemeinschaften, Netzwerke und Organisationen stellten nicht nur ein neuartiges organisatorisches oder strukturelles Element im gegenwa¨rtigen Weltgeschehen dar, sondern bildeten zugleich wichtige Zentren fu¨r die Re-Konstituierung kollektiver Identita¨ten und kultureller Perspektiven“.145 Es darf – wohl – in diesem Kontext nicht irritieren, dass das Zitierte im Praeteritum formuliert ist. Es ist im Pra¨sens zu lesen bzw. lesbar. Eisenstadt sieht die erheblichen Vera¨nderungen und Umschreibungen innerhalb der Religionen genauso, wie er aber auch die Bedeutung der Religion fu¨r das ebenso stabilisierende wie flexibilisierende Fortschreiben kollektiver und kultureller Identita¨t hervorhebt. Sein letzter Beitrag schließt er mit den Worten: „Die Analyse der Entwicklungen in den religio¨sen Arenen, die oben ausgefu¨hrt wurde, legt nahe, dass diese nicht nur wichtige Vera¨nderungen in verschiedenen Aspekten oder Dimensionen von religio¨sem Handeln, religio¨sen Praktiken, Glauben und Organisationen darstellen. Sie sind auch eine u¨beraus bedeutsame Komponente einer weitreichenden Transformationen von kulturellen Rahmen und Pra¨missen sowie des Ortes von Religion innerhalb dieser Rahmen, die weit u¨ber jene Dynamiken hinausreicht, die sich in der klassischen Achsenzeit und der Fru¨hmoderne entwickelt haben“.146

III. Religionsverfassungsrechtliche Relecture des Multiple-Modernities-Konzept 1. Selbstbeschra¨nkung als Ausgangspunkt Der juristische Leser einiger Publikationen Eisenstadt zum Konzept multipler Modernen wird sich nicht in der Lage sehen, diese soziologisch oder modernisierungstheoretisch zu wu¨rdigen und kritisieren zu ko¨nnen.147 Ebenso wenig ist ein theoretisches Modell juristischer Moderne 145

Eisenstadt, Konstellationen (o. Fn. 132), S. 353 (360 f.). Eisenstadt, ebda., S. 376. 147 Dazu in konstruktiver Absicht Detlef Pollack, Modernisierungstheorie – revised: Entwurf einer Theorie moderner Gesellschaften, in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 45 (2016), 219 – 240. 146

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oder eine juristische Modernisierungstheorie zu entwickeln. Es fa¨llt – wie erwa¨hnt – zumindest auf, dass dem Ansatz und Analyserahmen Eisenstadts – soweit ersichtlich – in juristischer Fachliteratur (z. B. der Rechtssoziologie) so gut wie keine Aufmerksamkeit gezollt wird.148 Allenfalls scheint Ei¨ berlegungen zu einem „Weltrecht in der Weltsenstadt im Kontext der U gesellschaft“ einen Platz finden zu ko¨nnen.149 Das Potential von Eisenstadts Konzept du¨rfte – zumindest vorrangig – eher in großfla¨chigen, globalen bzw. globalgeschichtlichen Vergleichskonstellationen liegen. Als unbefangener Leser und ungeachtet der Eisenstadt immer wieder attestierten Gelehrsamkeit und der mit dem multiple modernities-Ansatz verbundenen „luziden Diagnose“150 wirkt der Topos wie ein „Passepartoutbegriff“ (Umberto Eco). Es ist insofern geradezu tro¨stlich, wenn der Soziologe Kno¨bl hervorhebt, dass ihm „selbst immer unklarer wird, was man eigentlich unter ,Moderne‘ oder ,Modernen‘ zu verstehen habe“.151 Und doch la¨sst sich dem Konzept der Vielfalt der Moderne auch fu¨r religionsverfassungsrechtliche Zusammenha¨nge etwas Inspirierendes abgewinnen, weil die von Eisenstadt profilierte „Weltsicht“ nach Armin Nassehi ein Kontingenzbewusstsein stimuliert,152 Moderne als Problem zu erfassen und die Option unterschiedlicher Modernisierungspfade zu registrieren. Das Konzept Multiple Moderne dient der Weitung der Wahrnehmung, die Bru¨che und Mehrdeutigkeiten in der Multipolarita¨t der Welt sta¨rker ins Bewusstsein hebt und sie weder vorschnell zu harmonisieren oder „wegzuschreiben“ sucht. Eisenstadts Absage an ein unilineares, der Moderne geradezu naturma¨ßig innewohnendes Evolutionsziel ist eine nicht unerhebliche modernisierungstheoretische „Entspannungsu¨bung“, die die Frage nach den Bedingungen und Spezifika einer Vielfalt von Moderne in den Vordergrund treten la¨sst, ohne sie aber einfach in einer unverbundenen Pluralita¨t von Gesellschaftsstrukturen mu¨nden zu lassen.153 Moderne ist 148 Die Gießener Zivilrechtlerin Marietta Auer, die sich eingehend dem Thema Rechtswissenschaft und Moderne zuwendet, klammert das Forschungsprogramm Eisenstadts ausdru¨cklich aus. Siehe oben Fn. 21. 149 Dazu nur Schulte, Theorie (o. Fn. 12), S. 184 ff. 150 Nassehi, Geschlossenheit (o. Fn. 20), S. 212. 151 Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (412). 152 Nassehi, Geschlossenheit (o. Fn. 20), S. 209. 153 Preyer, Aktualita¨t (o. Fn. 17), S. 108.

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kein Masterplan oder vorgegebenes Muster. Innerhalb des Konzepts multiple Moderne stellt sich aber durchaus die keineswegs triviale Frage, „wieviel ,Modernen‘ es denn bitte scho¨n sein du¨rfen. Eine, drei, 15, 200?“.154 Die nachfolgenden Bemerkungen sind – wie eingangs schon hervorgehoben – aus der assoziierenden „Froschperspektive“ eines eher auf juristische Gebrauchswissenschaft getrimmten Lesers geschrieben. Sie sind asso¨ bersetzung des voraussetzungsvollen ziierend, weil keine systemische U Konzepts Multiple Moderne(n) in rechtswissenschaftliche Zusammenha¨nge intendiert ist. Die Ausfu¨hrungen sind zudem thematisch beschra¨nkt und gerichtet auf eine religionsverfassungsrechtliche bzw. katholisch-kirchenrechtliche Perspektive,155 die das Eisenstadt’sche Konzept als Reflexionsreferenz nimmt und darauf hin zu bedenken sucht, was dieser Ansatz zu gegenwa¨rtigen Problemstellungen und Herausforderungen zu sagen bzw. anzustoßen vermag. Dieser Zugang bzw. diese Rezeption la¨sst sich rechtfertigen, weil sich beobachten la¨sst, dass das Eisenstadt’sche Forschungsprogramm in der Regel selektiv rezipiert wird und nicht selten als Baustein aus einem gro¨ßeren Theorie-Baukasten genutzt wird. Fu¨r den religionsverfassungsrechtlichen Fragezusammenhang mag die stark durch Religion gepra¨gte Perspektive des Ansatzes von Eisenstadt daru¨ber hinaus kein Nachteil sein.156 2. Multiple Moderne(n) im Verha¨ltnis von Staat und Religion(en) a) Eisenstadt – juristisch rezipiert oder rezipierbar? Das Grand-Design des Eisenstadt’schen Theorie-Geba¨udes will natu¨rlich keine konkreten staatskirchenrechtlichen Fallgestaltungen lo¨sen. Ebenso wenig entha¨lt es magistrale, substanziellen Hinweise zur Schaffung von konkreten religionsverfassungsrechtlichen Ordnungskonfigurationen. Vielmehr bietet es ein nachhaltiges Pla¨doyer dafu¨r, sich mehrperspektivisch den Pha¨nomenen und Ordnungskonfigurationen zu na¨hern, um diese dann nicht voreilig in einer Konvergenzannahme aufzulo¨sen, sondern Di154

So durchaus su¨ffisant Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (414). Diese nicht unerhebliche Einschra¨nkung liegt darin begru¨ndet, dass der Verfasser nicht allzu sehr seine Fachkompetenzen u¨berschreiten mo¨chte. 156 Ansonsten wird eine um macht- und herrschaftstheoretische Erweiterung seines Ansatzes fu¨r erforderlich gehalten. Dazu nur Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (413). 155

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vergenz und Diversita¨t als Option, Ordnungsmo¨glichkeit zuzulassen. Die Moderne hat „in der Evolution von Gesellschaft und Recht kein allgemeingu¨ltiges, normativ fixes, institutionell auf Dauer gestelltes Muster der Modernisierung hervorgebracht“.157 Es la¨sst sich mit guten Gru¨nden die Frage aufwerfen, ob Eisenstadt mit seiner sehr ergebnisoffenen Konzeptionalisierung des Projekts Moderne nicht ein Spiel ohne Grenzen ero¨ffnet, bei dem die Konturen und die Einheit „der Moderne“ letztlich aus dem Blick geraten oder zumindest sehr unscharf werden. ¨ ffnung und Pluralisierung Wenn der Mulitiple-Moderne(n)-Ansatz O bedeutet, wu¨rde sich immer wieder auch die Frage nach Grenzziehungen wie dem Verha¨ltnis von Einheit und Vielfalt der Moderne u¨berhaupt stellen,158 wenn man nicht sogar davon ausgeht, dass bei Eisenstadt die Fraglichkeit von Universalita¨t und Partikularita¨t konzeptionell bereits aufgehoben ist.159 Es lassen sich Vermutungen daru¨ber anstellen, weshalb Eisenstadts Ansatz und Konzept im juristischen Schrifttum weitgehend so unbemerkt und ohne gro¨ßere theoretische Resonanz bleibt. Ko¨nnte es daran liegen, dass seine modernisierungstheoretischen Lockerungsu¨bungen und Erweiterungen des Wahrnehmungshorizonts dem juristischen Denken bereits inha¨rent sind? 160 Die juristische Perspektive muss wegen ihres Bezuges auf zu unterscheidende Rechtskreise und Rechtsebenen per se multipel sein und Kontingenz(en) juristisch verarbeiten ko¨nnen. Das Gefu¨ge von national-staatlichen Rechtsordnungen und u¨bernationalen Rechtszusammenha¨ngen mit den Pha¨nomenen – realexistierender oder vermeintlicher – Rechtspluralismus, Vielheit von Rechtsquellen u.v.a.m. la¨sst sich nicht an157

So Krawietz, Juridische Kommunikation (o. Fn. 22), S. 181 (187). ¨ sterrei¨ berlegungen dazu bei Schwinn (o. Fn. 20), in: O Grundlegende U chische Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2013), 333 ff. 159 In diesem Sinn Krawietz, Juridische Kommunikation (o. Fn. 22), S. 181 (187). 160 Dazu, dass die Rechtswissenschaft in einem engeren Sinn, als rechtsdogmatische, anwendungsorientierte Wissenschaft keine Konzeption der Moderne entwickelt hat siehe nur Thomas Gutmann, Art. ,Rechtswissenschaft‘, in: F. Jaeger u. a. (Hrsg.), Handbuch Moderneforschung, 2015, S. 216. Anders sieht es in den grundlagenorientierten Sektoren der Rechtswissenschaft wie Rechtstheorie, Rechtssoziologie u. a. aus. Hier finden sich durchaus konzeptionelle Ansa¨tze fu¨r eine „Normative Moderne“. Prononciert dazu Gutmann, Thomas, Religion und Normative Moderne, in: U. Willems u. a. (Hrsg.), Moderne und Religion (o. Fn. 1), S. 447 – 488. 158

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hand monokausaler, linearer Rechtsbeschreibungen ada¨quat erfassen. Derartige Spekulationen sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen ist zu unterstellen, dass Eisenstadts Ansatz als hinterfragende Reflexionsfla¨che fu¨r rechtliche Ordnungszusammenha¨nge und einer Problematisierung von mo¨glicherweise implizit unterstellten Annahmen dienen kann. Heuristischer, inspirierender Wert kann Eisenstadt auch aus juristischer Perspektive nicht a priori abgesprochen werden. Dem Transfer Eisenstadts auf juristische Kontexte steht daru¨ber hinaus mo¨glicherweise dessen Referenz auf (westliche und nicht-westliche) Zivilisationen entgegen. Ein auf Rechtsanwendung kaprizierter Jurist wird aber, wenn er nicht per se theoretisch ein Ende des Zeitalters der Staatlichkeit o. a¨. beklagt, nicht allgemein auf zivilisatorische Einheiten rekurrieren wollen, sondern auf den Staat als Handlungs- und Wirkungseinheit (Hermann Heller) sowie dessen Rechtsordnung; ggf. in der Erscheinungsform eines „Staatenverbundes“ wie die Europa¨ische Union. Es ergibt sich demnach die Anfrage, ob Eisenstadt die Bedeutung der (National-) Staaten fu¨r die Moderne nicht unterscha¨tzt.161 Eine religionsverfassungsrechtliche Relecture von Eisenstadt wird hier eine Anfrage formulieren mu¨ssen und mo¨glicherweise einen „Knackpunkt“ markieren, der zumindest einem bruchlosen Anschluss von Eisenstadt an rechtswissenschaftliche Problemstellungen fragwu¨rdig erscheinen la¨sst. Dem la¨sst sich aber durchaus entgegenhalten, dass die Pointe der Position Eisenstadts gerade darin liegt, einen methodologischen Nationalismus ebenso vermeiden zu wollen wie eine bloß konvergenztheoretische Perspektive einer Weltgesellschaft.162 b) Religion und Moderne – Staaten und Religion aa) Globale Perspektive: das „universelle“ Menschenrecht der Religionsfreiheit Schon bei oberfla¨chlicher Betrachtung la¨sst sich Eisenstadts Forschungsprogramm mit verschiedenen religionsfreiheitsrechtlichen und religionsverfassungsrechtlichen Kontexten in Beru¨hrung bringen. Mit dem 161 So der Einwand von Conrad/Eckert, Globalgeschichte (o. Fn. 25), S. 7 (19). Ebenso schon vorher Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 260. 162 Vgl. Gerda Bohmann/Hein-Ju¨rgen Niedenzu, Multiple Modernities – ¨ sterreichische Zeitschrift fu¨r SozioloChancen und Grenzen eines Konzepts, in: O gie 38 (2013), 327 (328).

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Aspekt Religionsfreiheit ist das Problem der Universalita¨t der Menschenrechte angeschlagen und dra¨ngt sich umgehend die Frage auf, kann es unterschiedliche Standards von Religionsfreiheitsgewa¨hrleistungen geben? Rechtfertigt nicht mo¨glicherweise ein Forschungsprogramm wie das Konzept der multiplen Modernen derartige Unterschiedlichkeiten? Die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg hat zwar zu Absicherungen der Religionsfreiheit in Vo¨lkerrechtspakten gefu¨hrt,163 insgesamt ist die globale Lage der Religionsfreiheit aber ho¨chst preka¨r. Ein freiheitsorientierter europa¨ischer Jurist wird intuitiv bemu¨ht sein, den durch die Europa¨ische Menschenrechtskonvention (EMRK) fundamentierten regionalen Menschenrechtstandard global auszudehnen und zum universalen Maßstab zu erheben.164 Aus juristischer Perspektive wu¨rde Eisenstadts Ansatz als normatives Rechtsfertigungsprogramm gelesen sicherlich auf Vorbehalte und in der Regel sogar Widerstand stoßen. Ist das Konzept der Vielfalt der Moderne ebenso normativ zu verstehen wie ansonsten vielfach der Begriff „Moderne“ „normativ hochgradig positiv besetzt“ wird? 165 Eisenstadts Ansatz Vielfalt der Moderne wird aber vom unbefangenen juristischen Leser nicht in einem solch pra¨skriptiv-legalisierenden oder legitimierenden Sinne gelesen.166 Als nicht expliziter rechtswissenschaftlicher Dialogpartner ha¨lt Eisenstadt aber bewusst, dass Modernita¨t (einer Gesellschaft und eines Staates) und Freiheitlichkeit – global betrachtet – nicht streng akzessorisch miteinander verknu¨pft sein mu¨ssen. Es kann durchaus Spannungen und Kra¨fte zwischen Menschenrechte und kulturellen Traditionen geben. Dies gilt aber nicht nur in globaler Perspektive, sondern la¨sst sich durchaus auch auf regional-europa¨ischer und nationaler Ebene beobachten.167 Eisenstadts Ansatz ha¨lt diese Ambivalenz der Moderne bewusst und gibt – gerade vor dem Hintergrund seines religionsoziologischen Bezugrahmens – Anhaltspunkte dafu¨r, weshalb dies so sein ko¨nnte. 163 Siehe nur Markus Kotzur, Religionsfreiheit als Thema der Vo¨lkerrechtsordnung, in: Grundrechtspolitik und Rechtswissenschaft. Beitra¨ge aus Anlass des 70. Geburtstages von Helmut Goerlich. Hrsg. von L. Jaeckel u. a., 2015, S. 129 (insbes. S. 134 ff.). 164 Zu dem Universalisierungsaspekt von Freiheitsrechten siehe Ludger Ku¨hnhardt, Die Universalita¨t der Menschenrechte, 2. Auf. 1991. Ferner Matthias Koenig, Menschenrechte, 2005, insbes. S. 113 ff. 165 Zu dieser Frage Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (414). 166 Dieses Ergebnis aus soziologischer Perspektive besta¨tigend, Kno¨bl, ebda. 167 ¨ berlegungen dazu bei Christian Tomuschat, Menschenrechte Eingehende U und kulturelle Traditionen, Europa¨ische Grundrechte-Zeitschrift 2016, 6 – 17.

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bb) Sa¨kularita¨t des Staates Die europa¨isch-nordamerikanische Perspektive geht von der Sa¨kularita¨t des Staates – „der Moderne“ – aus. Die Entstehung des Staates wird selbst als Vorgang radikaler Verdiesseitigung aufgefasst, der die von Eisenstadt achsenzeitlich verorteten Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz, mundane und sakrale Ordnungsvorstellungen vereinseitigt zu einem Vorrang der sa¨kularen Ordnung, weil ansonsten die Konflikthaftigkeit der widerstreitenden religio¨sen Grundvorstellungen nicht in einem schiedlich-friedlichen Sinne aufhebbar wa¨ren bzw. sind. An die Stelle des religio¨sen Gottes – zumindest in Konkurrenz zu ihm – und seinen Ordnungs- und Verhaltenserwartungen trat im modernen Staat in einem gewissen Sinn die Verfassung „als Gott“.168 Ob der moderne Verfassungsstaat in diesem Sinn nur die Wahrheitsfrage fu¨r die weltlichen Ordnungszusammenha¨nge dispensiert oder seine Modernita¨t solange ein unvollendetes Projekt bleibt, bis die Religion(en) „aus der Welt geschafft“, d. h. in den Privatbereich und das Forum internum zuru¨ckgedra¨ngt wurde(n), wird immer wieder kontrovers diskutiert. Die von der „Normativen Moderne“ propagierte kategorische Ablehnung sa¨mtlicher religio¨s-theologischer Begru¨ndungsinhalte im staatlichen Recht und die damit verbundene strikte Entkopplung religio¨s-theologischer und staatlich-sa¨kularer Ideen und Konzepte,169 wird durch den Eisenstadt’schen Ansatz nachdru¨cklich in Frage gezogen. Zielrichtung und Dynamik der Moderne sind eben nicht aus einem „Guss“, „sondern das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken“.170 168 Vgl. Wolfgang Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalita¨tsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1715 – 1794, 1988, S. 57 ff. 169 Siehe etwa Gutmann, Religion und Normative Moderne (o. Fn. 160), S. 447 (456 f.), der bsp. den „begru¨ndungsaktiven Kern“ der Menschenrechte rein sa¨kular und damit vo¨llig losgelo¨st von religio¨sen Gehalten und Begru¨ndungsansa¨tzen sieht. Andere Auffassungen gehen davon aus, dass sich urspru¨ngliche reli¨ bergang zum modernen Verfassungsstaat nicht gio¨se Rechtsgrundierungen beim U nur bloß transformiert haben, sondern substituiert worden seien. In diesem Sinn Horst Dreier, Sa¨kularisierung und Sakralita¨t. Zum Selbstversta¨ndnis des modernen Verfassungsstaates, 2013, S. 72 ff. 170 So treffend Lutz Raphael, Das Konzept der „Moderne“. Neue Vergleichsperspektiven fu¨r die deutsch-italienische Zeitgeschichte?, in: T. Großbo¨lting u. a. (Hrsg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und italienischen Geschichtswissenschaft, 2013, S. 95 (104).

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Aus globaler Makroperspektive ist die Sa¨kularita¨t des Staates mo¨glicherweise eher ein Projekt der westlichen Moderne. Selbst aus einer Meso-Perspektive nur westlicher Modernita¨t zeigen sich bei genauerem Hinsehen nicht unerhebliche Graduierungen von staatlicher Sa¨kularita¨t und durchaus Neubewertungen von Religion und Moderne.171 Eisenstadts Konzept ko¨nnte dafu¨r sensibilisieren, „dass immer offen bleibt, in welche Richtung sich die Moderne je nach historischen und geographischen Kontext entwickeln wird, dass Prozesse, die in unterschiedlichen Modernisierungsphasen stattgefunden haben, nie unumkehrbar sind, und dass dementsprechend auch nie abschließend gekla¨rt werden kann, in welchem Verha¨ltnis Religion und Moderne zueinander stehen oder stehen sollten“.172 Eisenstadts Konzept als Hintergrund relativiert – besser: relationiert – die verschiedenen Ansa¨tze, das Verha¨ltnis von Staat und Religion rechtstheoretisch, rechtswissenschaftlich zu konzeptionalisieren. Das Dogma von der religio¨sen Determinination der Rechtsordnung wird seiner Zwangsla¨ufigkeit ebenso beraubt wie das Gegenteil der zwangsla¨ufigen „Totalsa¨kularisierung“ der o¨ffentlichen Ordnung und Verbannung des Religio¨sen in den privaten Raum. Damit wird aber strenggenommen nicht ausgeschlossen, dass es unter Umsta¨nden solche Einseitigkeitsordnungen geben ko¨nnte. Eisenstadts Konzept der multiplen Modernen macht bewusst, dass es unterschiedliche Wege und Ordnungskonfiguration in zivilisatorischen Zusammenha¨ngen geben kann. Das Problem an Eisenstadts Konzept ist vielleicht, dass es zur Bestimmung des Projekts Moderne doch nur auf der formalen Annahme reproduktiver Selbstreflexion beruht, so dass es eben sehr divergente Varianten „der Moderne“ geben kann, bei denen Moderne dann eher eine Chiffre ist, die sich beliebig fu¨llen la¨sst. Das Konzept multipler Modernen ko¨nnte selbst als derart kontingent aufgefasst werden, dass die Grenze zwischen modern und nicht-modern nicht (mehr) – substanziell – bestimmbar ist, sondern nur formal u¨ber die Grenzlinie Selbstreflexionsfa¨higkeit hinsichtlich der jeweiligen axialen Grundvoraussetzungen liefe. Der Soziologe Armin Nassehi sieht in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und Eisenstadts Focus auf die soziale Kon171 Exemplarisch Ju¨rgen Habermas, Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung fu¨r ein sa¨kulares Selbstversta¨ndnis der Moderne, in: ders., Philosophische Texte, Bd. 5: Kritik der Vernunft, 2009, S. 387 – 407. Ferner Ulrike Spohn, Den sa¨kularen Staat neu denken. Politik und Religion bei Charles Taylor, 2016. 172 So sehr plastisch Winandy, Multiple Modernities (o. Fn. 43), S. 164 (170).

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struktion und Relevanz kollektiver Identita¨ten den zentralen Bezugspunkt, der die „Adressierbarkeit“ von Gesellschaft bzw. Kollektivita¨t zum strukturellen Theoriekern macht.173 Die Sta¨rke des Eisenstadt’schen Ansatzes la¨ge dann darin, dass er strukturell konzipiert ist und nicht apriori mit Inhalt und Substanz aufgeladen wird. c) Assoziierende Adaption von Eisenstadt auf kultur- und religionsverfassungsrechtliche Zusammenha¨nge aa) Tradition und Moderne – Geschichtlichkeit und Pfadabha¨ngigkeit Selbst wenn im rechtswissenschaftlichen Kontext im Allgemeinen und im religionsverfassungsrechtlichen im Besonderen die Spannung zwischen Tradition und Moderne immer schon in einer gewissen Wertscha¨tzung des historischen Kontextes und seiner Entstehungszusammenha¨nge zu beobachten war, ohne dass die historisierende Betrachtung in Rechtsauffassungen zementierende Tendenzen eines „original intents“ aufgehen musste, so ist die von Eisenstadt profilierte Spannungseinheit von Tradition und Moderne um der reflexiven Relationierung willen ebenso hilfreich wie notwendig. Lange wird man sich auch daru¨ber streiten ko¨nnen, ob die Bedeutung der Achsenzeit und der Achsenkulturen bei Eisenstadt historisch zutreffend ist174 und ob sie als Referenz nicht doch vielleicht „u¨bertriebenen zivilisatorischen Homogenita¨tsunterstellungen Vorschub“ leisten und damit den Blick auf „modernita¨tsimmanente Varianzen und Dynamiken“ ein wenig verstellen.175 Die von Eisenstadt immer wieder hervorgehobene Achsenzeit-Relevanz erscheint fragwu¨rdig: „Eisenstadt betreibt wesentlich mehr Aufwand, um die achsenzeitliche Konstellation in ihrem Entstehungskontext darzustellen, als deren Persistenz oder kontinuierliche Weiterentwick-

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Nassehi, Geschlossenheit (o. Fn. 20), S. 210, 212. Dazu grundlegend – in kritisch-wu¨rdigender Absicht – Stefan Breuer, Kulturen der Achsenzeit. Leistung und Grenzen eines geschichtsphilosophischen Konzepts, in: SAECULUM 45 (1994), S. 1 – 33. Ein allgemeines Achsenzeit-Modell positiv wu¨rdigend Hans Joas, Was ist die Achsenzeit? Eine wissenschaftliche Debatte als Diskurs u¨ber Transzendenz, 2014. 175 Schwinn (o. Fn. 20), in: Transit. Europa¨ische Revue 46 (Winter 2015/ 2015), 24 (41). 174

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lung in den folgenden Jahrhunderten zu plausibilisieren“.176 Ungeachtet der sicherlich sehr gewichtigen Bedenken macht Eisenstadt aber mit seinem Ansatzpunkt darauf aufmerksam, dass analytisch eine historische Langzeitperspektive fruchtbar sein kann, um unterschiedliche historische Situationen und Handlungskontexte zu identifizieren und im Vergleich auch historisch zu spezifizieren. Vor diesem Hintergrund la¨sst sich Eisenstadts Konzept vielfa¨ltiger Modernen vor allem den Aspekt entnehmen lassen, dass sich das Verha¨ltnis von Religion zu politischen Einheiten wie dem Staat zum einen verschieden – wenn man mag: kontingent – gestalten kann, es also keinen Modernita¨tsstandard gibt, der deterministisch erreichbar wa¨re, und zum anderen in unterschiedlichem Maße durch traditionale Kontexte und Entwicklungsga¨nge vorgepra¨gt sind. Die „Vielfalt der Moderne“ relativiert eine wie auch immer konzeptionalisierte normative Kraft vermeintlicher „Hauptwege“ von Moderne gegenu¨ber ihren Sonderwegen.177 Religionsverfassungsgeschichtlich – also aus rechtswissenschaftlicher Perspektive – ist es nahezu unstreitig, dass es eine besondere Affinita¨t zwischen diesem Rechtsgebiet und der Geschichte gibt. „Kaum in einem anderen Rechtsgebiet bildet die Gegenwart so sehr die Quersumme ihrer Vergangenheiten als gerade hier – und darum bezahlen abstrakt-idealtypische Lo¨sungen fu¨r den Vorteil systematische Stimmigkeit und Modelltreue oft genug mit dem Verzicht auf ausgewogene Sachgerechtigkeit“.178 Eingedenk des Umstands, dass geschichtliche Betrachtungen immer auch historiographische Konstruktionen sind,179 so verdeutlicht doch die Beru¨cksichtigung historischer Ausgangspunkte wie Entstehungszusammenha¨nge, dass, um eine Wendung des Soziologen Thomas Schwinn aufzugreifen, „Sa¨kularisierung und Differenzierung […] als bloßer Trennungsvorgang unterbestimmt [sind]. Die fest im Sattel sitzenden Wertspha¨ren und Lebensordnungen ko¨nnen die Ei-

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So Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (413). Siehe von Graevenitz, Moderne (o. Fn. 24), S. 16. 178 Christoph Link, Neue Entwicklungen und Probleme des Staatskirchenrechts ¨ sterreich, in: I. Gampl/C. Link, Deutsches und o¨sterreichiin Deutschland und O sches Staatskirchenrecht in der Diskussion, 1973, S. 25 (33). 179 Hierzu, aber auch zum weiteren Julian Kru¨per, Vier Wege zur Verfassungsgeschichte. Das Verha¨ltnis von Staat, Religion und Kirchen im Spiegel verfassungsgeschichtlicher Methoden, Zeitschrift fu¨r das Juristische Studium 2012, 9 – 23. 177

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erschalen des historischen Entstehungskontexts nicht vo¨llig abwerfen“.180 Eine soziologische Beobachtung des Rechts kann hier vielleicht sogar etwas von geschichtsbewusster Rechtswissenschaft lernen. Moderne und Modernita¨t zeigen sich in Varianten; es besteht eine Vielfalt von Modernisierungspfaden. Den Aspekt einer denkbaren Pfadabha¨ngigkeit etwa fu¨r das deutsche Religionsverfassungsrecht ist – bemerkenswerterweise ohne Bezug auf Eisenstadt – von dem Soziologen Matthias Koenig na¨her bedacht worden.181 Eisenstadts Neubestimmung des Verha¨ltnisses von Tradition und Moderne mittels der Aufhebung ihrer streng dichotomischen Gegenu¨berstellung ruft ins Bewusstsein, dass unterschiedliche Pfade zur Ordnung des Staat-Religion-Verha¨ltnisses durchaus modernita¨tskompatibel sein ko¨nnen. Eisenstadt ha¨lt eine dialektische Schwebe, die Traditionen oder traditionale Aspekte nicht zementiert oder zu substantialistischen Identita¨tskernen hochzont. Indem Eisenstadt darauf aufmerksam macht, dass Traditionen in der Moderne nicht einfach abbrechen, sondern in modifizierten Formen u¨berleben und Faktoren fu¨r die Ausbildung eigensta¨ndiger Formen von Modernita¨t sind,182 hilft er das Verha¨ltnis von Kontinuita¨t und Diskontinuita¨t in der Balance zu halten. Eisenstadt konzeptionalisiert keine prima¨r evolutiona¨re Entwicklungstheorie.183 Wenn auch seine Kontinuita¨tssensibilita¨t fu¨r die je spezifische Zivilisationskomplexe die historischen Umbru¨che weniger stark als scharfe oder markante Za¨suren in Erscheinung treten la¨sst als dies bei anderen makrosoziologischen, modernisierungstheoretischen Konzepten der Fall ist, so sieht Eisen¨ berga¨nge von der vormodernen stadt gleichwohl, dass keine bruchlosen U zur modernen Gesellschaft geben muss.184 Damit scheint Eisenstadt evolutiv-linear fundierten Rechtsentwicklungen genauso skeptisch gegenu¨ber zu stehen wie mo¨glicherweise „unerwarteten ,jumps‘“185. Eisenstadts Konzepts ha¨lt letztlich allen theoretischen und normativen Perspektiven den 180 Schwinn, Neubestimmung (o. Fn. 20), S. 73 (83). Aufgegriffen auch von Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (415). 181 Mathias Koenig, Pfadabha¨ngigkeit und institutioneller Wandel im deutschen Religionsrecht, in: Heinig/Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht. Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, 2007, S. 91 – 103. 182 Vgl. Schwinn, Die Vielfalt und die Einheit, in: ders. (Hrsg.), Vielfalt (o. Fn. 47), S. 7 (11). 183 Spohn (o. Fn. 27), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 40 (2011), 156 (157). 184 Kno¨bl, Spielra¨ume (o. Fn. 15), S. 256, 258. 185 Vgl. Schulte, Theorie (o. Fn. 12), S. 86.

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Spiegel vor. Es bietet demnach den Vorteil, „von einem allzu dogmatischen und monoperspektivischen Moderneversta¨ndnis abzuru¨cken“ zu wollen.186 bb) Unterschiedlichkeit und Vielfalt religionsverfassungsrechtlicher Ordnungen der westlichen Moderne Die „richtige“ Ordnung von Staat und Religion ist eine besta¨ndig diskutierte Frage. Vom Ansatz der multiplen Moderne(n) ist sie keine richtig gestellte Frage. Es lassen sich je unterschiedliche Ordnungskonfigurationen von Staat und Religion vor dem Hintergrund dieses Konzepts situieren und ihre je eigene Institutionalisierung makroperspektivisch erkla¨ren. Das Konzept der multiplen Moderne(n) sensibilisiert fu¨r die Pfadabha¨ngigkeiten. Eine religionspolitische Pra¨ferenz fu¨r das amerikanische Verha¨ltnis von Staat und Kirche187, wie sie etwa Hermann Lu¨bbe vertritt,188 ist sicherlich diskutabel, aber Eisenstadts Konzept la¨sst nicht nur dessen historischen Kontext und die Bedingungen des Entstehungszusammenhangs deutlicher in der Vordergrund treten, sondern auch den Umstand, dass es gerade nicht „die“ – gleichsam ideale – Ordnung von Staat und Religion gibt. Vielmehr gibt es unterschiedliche Wege der Verha¨ltnisbestimmung.189 Bereits die westliche – europa¨isch-nordamerikanische – Moderne zeigt hier je eigene Konstellationen und Wege. Und selbst eine europa¨ische (Binnen-) Perspektive bietet gerade hier reichhaltiges Anschauungsmaterial fu¨r die Vielfalt der Moderne. Eisenstadt hat durchaus auf die „Multiziplita¨t“ der europa¨ischen Konstellationen hingewiesen, so dass sich sein Konzept nicht nur auf globale Konstellationen und der Abwehr eines Transfers ¨ sterreichische Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 Schwinn (o. Fn. 20), in: O (2013), 333 (347). Anschaulich von Graevenitz, Moderne (o. Fn. 24), S. 16: „Die Modernisierungsgeschichte Europas, auch die Entwicklungen vor Ort, zeigen sich dann als Geflechte von vorwa¨rts und ru¨ckwa¨rts gerichteten Impulsen, von vielschichtigen Zeitebenen und richtungslosen Befunden, die sich nur mu¨hsam und von sehr weit oben betrachtet einfu¨gen lassen in einen normengeleiteten Gesamtprozeß der Moderne“. 187 Zu den (nord-) amerikanischen Besonderheiten siehe vor allem John Witte, Religion and the American Constitutional Experiment. Essential Rights and Liberties, 2000. 188 Lu¨bbe, Zivilisationsdynamik (o. Fn. 9), S. 403 ff. 189 In diesem Sinn auch Kno¨bl, Globalgeschichte (o. Fn. 44), S. 401 (415) zum religionsaversen franzo¨sischen Trennungssystem gegenu¨ber dem religionsfreundlichen amerikanischen. 186

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allzu westlicher Vorstellungen auf diese beziehen muss. Die Bandbreite der Zuordnungsmodi von Staat und Religion ist bereits in Europa von bemerkenswerter Vielfa¨ltigkeit.190 Sie reicht vom franzo¨sischen System der Laizita¨t bis zur staatskirchlichen Ordnung. Zwischen diesen beiden Polen existieren graduierbare Zwischenformen von der eher distanzierten bis kooperativen Zuordnungskonfigurationen von Staat und Religion. Dabei lassen sich, wie etwa Gerhard Robbers hervorgehoben hat, religionsverfassungsrechtliche Konvergenzen beobachten,191 doch kann der Theoretiker Eisenstadt hier als Kronzeuge dafu¨r herangezogen werden, dass es sich nicht um zwangsla¨ufige, gleichsam geschichtsteleologische Anna¨herungsprozesse handelt, sondern um Konvergenzen, die selbst kontingent sind. Eisenstadt la¨sst bewusst werden, dass die nationalen Ordnungskonfigurationen von Staat und Religion durch traditionale Grundmuster wohl mehr vor-gepra¨gt werden als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies kann Aspekte wie ¨ berhang“ gerade der „institutionellen Hilfe“ der den „staatsrechtlichen U grundgesetzlichen Ordnung betreffen,192 weil die aus der Weimarer Reichsverfassung u¨bernommenen Vorschriften die korporative Dimension des Staat-Religion-Verha¨ltnisses sta¨rker zu Tage treten lassen als es in anderen europa¨ischen Rechtsordnungen oder etwa der Europa¨ischen Menschenrechtskonvention (EMRK) der Fall ist, die sich der Beziehung von Staat und Religion vorrangig unter dem Blickwinkel individueller Religionsfreiheit zuwenden, den Aspekt der Organisation von Religion aber „kulturbedingt“ eher zuru¨cktreten lassen. Die Vielfalt der Moderne zeigt sich aber nicht nur in religionsverfassungsrechtlichen Basisvoraussetzungen oder Grundmodellen der Zuordnung von Staat und Religon, sondern auch in den Details. Beispielhaft dafu¨r sei genannt: Der o¨sterreichische Modus, spezialgesetzliche „Konfes190 Aus dem nahezu unendlichen Schrifttum siehe etwa Winfried Brugger, Varianten der Unterscheidung von Staat und Kirche: Von strikter Trennung und Distanz u¨ber gegenseitiges Entgegenkommen bis zur Na¨he, Unterstu¨tzung und Kooperation, in: ders., Integration, Kommunikation und Konfrontation in Recht und Staat. Gesammelte Aufsa¨tze. Hrsg. von S. Kirste und H. Brugger, 2013, S. 105 – 139. Vgl. ferner Felix Hammer, Das Verha¨ltnis von Staat und Kirchen in Europa zwischen staatskirchlichen Privilegien und weltanschaulich neutraler Dis¨ V 2006, 542 – 549. tanz, DO 191 Na¨her Gerhard Robbers, Staat und Religion, in: VVDStRL 59 (2000), S. 232 (236 ff., 257 f.). 192 Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespra¨che zum Thema Staat und Kirche, 25 (1991), S. 104 (112 f.).

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sions-Regelungen“ (Islam-Gesetz u. a.) zu treffen,193 unterscheidet sich erheblich vom deutschen Modus eher vertraglicher (kontraktueller) Religionspolitik.194 Bei der o¨sterreichischen Vorgehensweise lugt zu einem erheblichen Anteil ein josephinistisches Erbe durch, dass sta¨rker etatistisch und staatlich regulierend gepra¨gt ist.195 Grundsa¨tzlich werden sich fu¨r abschichtende staatliche Rechtsstellungsgesetze genauso gute Gru¨nde ins Feld fu¨hren lassen wie fu¨r Staatskirchenvertra¨ge/religionsverfassungsrechtliche Vertra¨ge. Letztlich zeigen sich hierin Pfadabha¨ngigkeiten. Ein Rekurs auf Eisenstadt nimmt den unterschiedlichen Ordnungswegen ihren pejorativen „Sonderwegscharakter“, da letztlich alle Wege je spezifisch sind und sich der Annahme eines hegemonial dirigierten, „allein richtigen“ Ordnungsmusters widersetzen (du¨rfen). Den unterschiedlichen Ordnungen von Staat und Religion werden keine apriorischen theoretisch konzipierten Idealoder Zielannahmen u¨bergestu¨lpt, sondern den historisch fundierten ebenso pluralen wie kontingenten Entwicklungszusammenha¨ngen und Kausalita¨ten zu ihrem „Eigenrecht“ verholfen, ohne sie damit aber gegen Wandlungen, Transformationen zu impra¨gnieren. Dies zeigt aktuell etwa das Exempel Luxemburg. In diesem europa¨ischen Staat kam es innerhalb sehr kurzer Zeit zu einem vo¨lligen Umbau der nationalen Ordnung von Staat und Religion.196 Der Ansatz multipler Moderne stimuliert die Frage danach, weshalb dies so gekommen ist und welche Faktoren eine sol193

Umfassend Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht, 2003. Speziell Christian Grabenwarter/Barbara Gartner-Mu¨ller, Das o¨sterreichische Islamgesetz und seine rechtliche Genese, in: Kirche und Recht, 2015, 47 – 73. Siehe auch Katharina ¨ sterreich, in: K. Abmeier u. a. (Hrsg.), Monitor Pabel, Das neue Islamgesetz in O Religion und Politik. Ausgewa¨hlte Beitra¨ge 2015, 2015, S. 51 – 59. 194 Vor dem Hintergrund der deutschen Rechtsordnung fu¨r kooperativ, kontraktuelle Religionspolitik exemplarisch Ansgar Hense, Konkordate und Kirchenvertra¨ge, § 132, in: H. Kube u. a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. II (2013), S. 1437 – 1446. 195 Hans Michael Heinig, Welcher Weg? Das o¨sterreichische Islamgesetz ist kein Vorbild fu¨r Deutschland. Es steht in der Tradition des Obrigkeitsstaates, in: FAZ vom 5. Ma¨rz 2015 – Nr. 54 -, S. 6. 196 Informativ die Schrift von Erny Gillen, Neue Verha¨ltnisse in Luxemburg zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Zu den neuen Konventionen vom 26. Januar 2015, 2015. Ferner Daniel Bogner, Avantgarde oder Krisenindikator?, in: Herder-Korrespondenz 68 (2014), 423 – 427. Zur Vorgeschichte insbesondere Mathias Schiltz, Kirche und Staat in Luxemburg: Ju¨ngere und ju¨ngste Entwicklungen im gegenseitigen Verha¨ltnis, in: W. Rees u. a. (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im Religionsrecht europa¨ischer Staaten, 2013, S. 587 – 616.

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che Neuvermessung der Grenzen von Staat und Religion in Luxemburg und ihrer Neudefinition durch Staat-Religions-Vertra¨ge maßsta¨blich mitgewirkt haben. Es mag in diesem Zusammenhang dann nicht mehr so ganz u¨berraschend wirken, den Artikel 17 des Vertrages u¨ber die Arbeitsweise der Europa¨ischen Union (AEUV) ins Spiel zu bringen. In dessen Absatz 1 steht geschrieben, dass die Union den Status, den Kirchen und religio¨se Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und nicht beeintra¨chtigt. Der religionsverfassungsrechtliche Ansatz der Europa¨ischen Union ruht insofern auf der Annahme, Vielfalt der europa¨ischen Moderne und bildet diesen auch prima¨rrechtlich durch die zitierte Norm ab. Shmuel Eisenstadt war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die theoretische Referenz bei der Genese der Norm, deren historisch-genetischer Erkla¨rungszusammenhang sich vielleicht eher ganz nu¨chtern in politischen Interessenkonstellationen u. a. verorten la¨sst. Aber sein Konzept der multiple modernities kann zumindest als theoretische Hintergrundfolie dafu¨r herangezogen werden, dass es sich hier um einen klugen Regelungsmechanismus handelt, der ein europa¨isches Religionsverfassungsrecht in einer „Einheit in der Unterschiedenheit“ verortet197 und dabei unterschiedliche Modernita¨ten als plausibel beschreiben la¨sst. Eisenstadts Analyserahmen der multiple modernities scha¨rft zudem ein, terminologische Gleichkla¨nge wie Laizita¨t o. a. von vornherein auf die historischen Entstehungszusammenha¨nge und Regelungskontexte zu bedenken und zu spezifizieren, also eher davon auszugehen, dass ein Begriffsinhalt zuvo¨rderst kontextsensibel zu ermitteln ist und immer eine gewisse widerlegliche Vermutung dafu¨r streitet, von Unterschiedlichkeiten in der sprachlich-inhaltlichen Verwendung auszugehen.198 Unmittelbar einsichtig wird dies schon daran, dass nicht selten Laizita¨t mit Varianten des

197 Vgl. auch Ansgar Hense, Auf dem Weg zu einem europa¨ischen Religions¨ berlegungen aus deutscher Perspektive, in: I.-J. verfassungsrecht? Aktuelle U Werkner/A. Liedhegener (Hrsg.), Europa¨ische Religionspolitik, 2013, S. 175 – 196. 198 Dazu etwa Schwinn (o. Fn. 20), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2009), 454 (468): „Gleichlautende Gebilde ko¨nnen jedoch auf einer unterschiedlichen kulturellen Basis stehen“.

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Topos „sa¨kular“ (Sa¨kularita¨t, Sa¨kularismus, Sa¨kularisierung) in Beziehung gesetzt wird.199 Die vorstehenden Andeutungen dazu, ob und inwieweit staatliche Ordnungsaufgaben Im Politikfeld von Religion sich mit Eisenstadts Konzept in Beziehung setzen lassen, sind eine eher formale Positionierung, die ein Pla¨doyer fu¨r die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenu¨ber der Pluralisierung von Entwicklungslinien und die Variabilita¨t der Ordnungsmuster formuliert. Angesichts des hohen Grads an Allgemeinheit, die dem Konzepts Eisenstadts von vornherein anhaftet, mag der methodisch-konzeptionelle Ertrag eher bescheiden anmuten. Gleichwohl ist sie – auch praktisch-juristisch – erforderlicher als es den Anschein haben mag. An der Regelung des Art. 17 Abs. 1 AEUV ließe sich dies sub specie EU europaweit veranschaulichen, da der funktionalistische Sog der Union dahin tendiert, sachbereichspezifische Unterschiede in den mitgliedsstaatlichen Ordnungen gerade der institutionellen Aspekte des Verha¨ltnisses von Staat und Religion zu planieren und regelungstechnisch zu uniformieren. Mit Willfried Spohn als einem Soziologen, der sich der Konzeption Eisenstadts besonders verbunden fu¨hlt und ihn auf europawissenschaftliche Zusammenha¨nge adaptiert, ko¨nnte man dann formulieren: „Die Konzeption der multiplen europa¨ische Modernita¨t schla¨gt dagegen eine Vermischung von top-down- und bottum-up-Perspektive vor, die den Europa¨isierungsprozess als Interaktions- und Mischungsverha¨ltnis zwischen den multiplen nationalen Institutionen und Kulturen und den multiplen Auswirkungen des sich formierenden europa¨ischen Institutionen- und Kulturgefu¨ges konzeptionalisiert und 199 Na¨her zur Thematik Sylvie Toscer-Angnot, Zur Genealogie der Begriffe ,Sa¨kularisierung‘ und ,Laizita¨t‘, in: M. Koenig/J.-P. Willaime (Hrsg.), Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, 2008, S. 39 – 57; Jean Baube´rot, Sa¨kularismus und Laizita¨t, in: Transit. Europa¨ische Revue, Nr. 39 (Sommer 2010: Themenheft: „Den Sa¨kularismus neu denken – Religion und Politik in Zeiten der Globalisierung), S. 45 – 57. Neben dem Vorstoß eine „positive Laizita¨t“ zu konzipieren, Nicolas Sarkozy, Der Staat und die Religionen, 2008, befasste sich unter dem Vorsitz von Bernard Stasi eine vom damaligen franzo¨sischen Staatspra¨sidenten Jacques Chirac eingesetzte Kommission mit der „Anwendung des Laizita¨tsprinzips in der Republik“; diese sog. Stasi-Kommission publizierte unter dem 11. Dezember 2003 ihren Abschlussbericht. Dazu Jean-Paul Willaime, Laizita¨t und Privatisierung der Religion – gesellschaftliche Befriedung oder agnostische Gegenkultur, in: G. Besier/H. Lu¨bbe (Hrsg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bu¨rgerfreiheit, 2005, S. 342 – 358. Bemerkenswert auch aus nordamerikanischer, kanadischer Perspektive Jocelyn Maclure/Charles Taylor, Laizita¨t und Gewissensfreiheit, 2011, S. 17 ff.

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analysiert“.200 Dass das europa¨ische Religionsverfassungsrecht sich den durchaus unterschiedlichen mitgliedsstaatlichen Regelungen mit einer gewissen Achtsamkeit na¨hert, la¨sst sich gut mit dem Anliegen Eisenstadts in Verbindung bringen, selbst wenn er sich nicht konkret und zugespitzt in einem solchen Sinne gea¨ußert hat. cc) Kollektive Identita¨t – Kulturelle Identita¨t Im letzten Jahrzehnt wurden immer wieder Diskussionen daru¨ber gefu¨hrt, ob und inwieweit die grundgesetzliche Ordnung von Staat und Religion Ausdruck dessen kultureller Identita¨t und damit ebenso Erbe des christlichen Entstehungszusammenhanges und hieran gebunden sei.201 Nicht selten wird die Diskussion um „kulturelle Idenita¨t“ als Kontroverse um ein „Plastikwort“ apostrophiert, die eine spezielle Identita¨tspolitik auslo¨se.202 Der Diskurs la¨sst sich aber auch als eine „neue Sehnsucht nach Substantialita¨t“ charakterisieren.203 Die Diskussion, daru¨ber, ob die grundgesetzliche Ordnung kulturalistisch, verfassungsliberal oder laizistisch zu interpretieren sei,204 sei hier weder umfassend dargestellt noch im Einzelnen gewu¨rdigt. Die Bedeutung, die Eisenstadt der Konstruktion kollektiver 200 Willfried Spohn, Interdisziplina¨re Europastudien: der Ansatz der multiplen Modernita¨t, in: T. Beichelt u. a. (Hrsg.), Europa-Studien. Eine Einfu¨hrung, 2006, S. 435 (445). 201 Programmatisch Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identita¨t, 2004; ders., Staat-Kirche-Kultur, 2004, S. 65 ff. Als umfassendere – nicht unkritische – Wu¨rdigung dazu etwa Gu¨nter Ellscheid, Der Begriff der kulturellen Identita¨t im Verfassungsdiskurs, in: Festschrift fu¨r Winfried Hassemer. Hrsg. von F. Herzog u. U. Neumann, 2010, S. 19 – 35. 202 Lutz Niethammer, Kollektive Identita¨t. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, 2000. Ferner Thomas Meyer, Identita¨tspolitik. Vom Mißbrauch kultureller Unterschiede, 2002. Meyers Buch erschien 1997 in einer anderen Fassung unter dem Titel: „Identita¨tswahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds“. Meyer hebt hervor, dass Modernisierung und Sa¨kularisierung nicht zu identifizieren sein, sondern den religio¨sen Argumenten und Argumentationen auch in modernen Gesellschaften relevant seien und eine durchaus zentrale konstruktive Rolle zukommen ko¨nne. 203 ¨ ber eine neue Sehnsucht Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits des Sinns. U nach Substantialita¨t, in: MERKUR 59 (2005), 751 – 761 (Sonderheft „Wirklichkeit! Wege in die Realita¨t“). 204 Zu diesen drei typologischen Religionsparteien siehe Rolf Schieder, Sind Religionen gefa¨hrlich? Religionspolitische Perspektiven fu¨r das 21. Jahrhundert, 2. Aufl. 2011, S. 255 ff.

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Identita¨ten zumisst, verdeutlicht aber, dass eine solche Diskussion mit Fug und Recht gefu¨hrt werden darf.205 Soweit aber damit die Perpetuierung eines Ordnungsmusters in Form einer Bevorrechtigung christlicher Kirchen verbunden werden sollte, wu¨rde ein Ru¨ckgriff auf den Ansatz von Eisenstadt dies vielleicht nicht apriorisch ausschließen, aber gleichwohl keinesfalls als religionsverfassungsrechtliche Gewissheit qualifizieren lassen. Denn es ist gerade das Kennzeichen der Moderne, dass sie mit Gewissheitsverlusten verbunden ist und Ordnungsmuster nicht per se einfach auf Dauer stellt, sondern kennzeichnend ist vor allem der Konflikt, der die Auseinandersetzung u¨ber solche Ordnungszusammenha¨nge fu¨hrt. Fu¨r Eisenstadts Modernekonzeption ist ihre strukturelle Ausrichtung und letztlich ihre weitgehende inhaltliche Abstinenz kennzeichnend, was zum einen ihre Gestaltbarkeit impliziert, aber eben auch ihre A¨nderbarkeit.206 Hinter einem konsequentialistischen Ansatz mit Ewigkeitscharakter setzt Eisenstadt ein kra¨ftiges Fragezeichen und ggf. die Herausforderung, diesen nicht einfach zu unterstellen, sondern valide zu rechtfertigen. 3. Multiple modernities – auch in Religionen? Der Religionssoziologe Karl Gabriel als einer der theologischen „HauptRezipienten“ von Eisenstadt sieht in dem Konzept der multiplen Modernen die „besseren Chancen, die religio¨s-kirchliche Lage einsichtig und verstehbar zu machen“.207 Es stellt sich mo¨glicherweise die Frage, ob das Konzept nicht nur im dem Gefu¨ge von Politik-Religion-Recht, sondern auch binnenperspektivisch angewandt werden ko¨nnte. Eisenstadt selbst ging wohl davon aus.208 Der ebenso bemerkenswerte wie vielleicht auch versto¨rende Umstand, dass sich Eisenstadt der Fundamentalismus-Thematik und sie als „Alternativen in der Moderne und nicht als Alternativen zur Mo-

205 Siehe nur Shmuel Eisenstadt, Die Konstruktion kollektiver Identita¨t im modernen Nationalstaat, in: ders., Theorie und Moderne (o. Fn. 47), S. 193 – 206; ders., Die Konstruktion nationaler Identita¨ten in vergleichender Perspektive, ebda., S. 207 – 221. 206 Vgl. Nassehi, Geschlossenheit (o. Fn. 20), S. 128. 207 Gabriel (o. Fn. 11), in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52/2008, 9 (15). 208 Deutlich la¨sst sich dies entnehmen aus Eisenstadt, Konstellationen (o. Fn. 132).

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derne“ konfiguriert,209 scheint hinsichtlich verschiedener Weltreligionen geradezu evident zu sein, wenn man sich die ambivalente Modernita¨t islamisch-fundamentalistischer Richtungen anschaut oder sich bestimmten Pha¨nomenen im katholischen Bereich zuwendet.210 Traditionalita¨t und Radikalita¨t scheinen nicht apriorisch moderne-avers zu sein. Modernisierungsprozesse innerhalb von Religionen sind genauso ambivalent wie es die Moderne u¨berhaupt ist, zumal Religion nachdru¨cklich in der Moderne zu verorten ist und nicht in das modernisierungstheoretische Jenseits mehr verschoben werden kann oder sollte.211 Die Rolle von Religion wird zudem hinsichtlich Politik und Recht als „ko-evolutiona¨r“ profiliert.212 Im Rahmen einer neuen reflexiven Aufkla¨rung („Aufkla¨rung zweiter Ordnung“),213 die fu¨r das demokratische Gemeinwesen begru¨ndend wie „belastend“ wirken ko¨nne.214 Anders formuliert: zwischen beiden Sektoren besteht eine dialektisch konzipierte doppelte Relation: „dem ,Verha¨ltnis des Widersprechens‘ und dem ,Verha¨ltnis des Entsprechens‘.“215 Von Kirche und Religion kann demzufolge durchaus eine „sinnstiftende Unruhe“216 fu¨r den modernen Verfassungsstaat ausgehen. Der Religion wird bei der Reflexion der Grundlagen des sozialen Zusammenlebens ebenso eine Bedeutung zugemessen, wie auch Religionsgemeinschaften bei der „Koproduk-

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Formulierung bei Gabriel, (o. Fn. 11), in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52/2008, 9 (15). 210 Zum katholischen Sektor siehe Karl-Heinz Menke, Die traditionalistischen Wurzeln der Piusbruderschaft, in: Internationale katholische Zeitschrift COMMUNIO 38 (2009), 297 – 318; Stephan Haering, Rom und die Piusbruderschaft, in: Mu¨nchener Theologische Zeitschrift 60 (2009), 247 – 257. 211 Siehe auch Karl Kardinal Lehmann, Ambivalenz als Signatur der Moderne und Herausforderung der Kirche, in: Wiertz (Hrsg.), Katholische Kirche (o. Fn. 23), S. 323 – 348. 212 Udo Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, 2. Aufl. 2009, bsp. S. 99, 142. 213 Di Fabio, Gewissen (o. Fn. 212), S. 99 ff., insbes. S. 100. 214 Na¨her Di Fabio, Gewissen (o. Fn. 212), S. 121 ff. 215 Eberhard Ju¨ngel, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Die Trennung der Ma¨chte in der Reformation, in: ders., Ganz werden. Theologische Ero¨rterungen V, 2003, S. 137 (147, 149). 216 Georg Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und sa¨kularer Zivilgesellschaft, 2004.

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tion“ von Staatlichkeit eine Rolle spielen.217 Die Frage, die sich aufdra¨ngt ist die: Kann man dies auch umkehren? Kann Kirche vom Staat lernen, oder anders formuliert: Religion von Politik und (weltlichem) Recht? So plausibel der Ansatz der Bedeutung des Religio¨sen fu¨r den modernen Verfassungsstaat ist, so sehr ist dies doch eine einseitig gerichtete Wahrnehmung, die zwangsla¨ufig die Umkehrung des Reflexiven vom Staat auf die Religion provoziert und damit vielleicht erst die „Wechselseitigkeit“ des oder der Verha¨ltnisse analytisch-beobachtend in den Blick zu nehmen sucht. Der juristische Leser Eisenstadts mag die Frage danach, ob sich dessen Konzept auf religio¨s-theologische Lebensbereiche spiegeln la¨sst, nicht ada¨quat anzudenken, geschweige denn abschließend zu beantworten. Die dem Konzept inha¨rente Vagheit mag sich aber auch in diesem Kontext als Inspirationsquelle fu¨r assoziative Beobachtungen anbieten, die sich fu¨r eine engere juristische Perspektive fruchtbar machen lassen ko¨nnten. Religionen verhalten sich in der Moderne und zur Moderne. Die Behandlung der Thematik des sog. Modernismus (bzw. dessen „antimodernistische“ Gegenposition) la¨sst sich ebenso beobachten218 wie die Frage danach aufwerfen, ob sich religio¨se Differenzierung – in der europa¨ischen Variante der Gegenreformation als Konfessionalisierungsmotor – als Modernisierung auffassen la¨sst.219 Das Zweite Vatikanische Konzil wird wegen seines Aggiornamento – etwas der Verso¨hnung mit dem modernen freiheitlichen Verfassungsstaat durch die Konzilserkla¨rung u¨ber die Religionsfreiheit – als nachholende Selbstmodernisierung qualifiziert.220 Wenn mit dem 217 Zu diesem bemerkenswerten Ansatz Gunnar Folke Schuppert, When Governance meets Religion. Governancestrukturen und Governanceakteure im Bereich des Religio¨sen, 2012, S. 40 ff. und passim. Vorher schon allgemeiner ders., Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzu¨gen, 2010, S. 38, 168 ff. 218 Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, 2009; Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, 2007. 219 Grundlegend Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters (1997), in: ders., Ausgewa¨hlte Abhandlungen, 1997, S. 77 – 101. Zu diesem Aspekt nunmehr auch Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550 – 1850, Bd. 1 (2015), S. 7 ff. und passim. 220 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Die nachholende Selbstmodernisierung des Katholizismus? Kritische Anmerkungen zu Karl Gabriels Vorschlag einer interdisziplina¨ren Hermeneutik des II. Vatikanums, in: Peter Hu¨nermann (Hrsg.): Das

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Konzil als Weltereignis – wie gerade Stefan Nacke nachdru¨cklich dargelegt hat – ein qualitativer Globalisierungssprung zu einer Kirche der Weltgesellschaft verbunden ist,221 ko¨nnte sich zum einen die Frage stellen, ob dies eine sta¨rkere Homogenisierung der Kirche bedeutet oder die Koexistenz verschiedener Optionen und Ordnungswege ermo¨glicht. Letzteres wa¨re ein Aspekt, der sich mit Eisenstadts Fragestellung in Beziehung setzen ¨ ber Eisenstadt hinaus ginge wohl die Frage, ob mit der Globalisieließe. U rung des Katholizismus speziell weltgesellschaftliche Struktur(ierungs)vorga¨nge verbunden wa¨ren.222 Wenn der juristische Leser ganz naiv Eisenstadts Konzept u¨ber einige speziell kirchliche – im engeren Sinn kirchenrechtliche – Herausforderungen legt, zeigt sich u. a. Folgendes: Die schroffe Entgegensetzung von Tradition und Moderne ist nicht sinnvoll. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat das Modernisierungspotential bestimmter – vergessener, u¨bersehener, verdra¨ngter – Traditionslinien untersucht.223 Wolf konstatiert letztlich, dass Kirchenreform immer nur mit und nicht gegen die Tradition funktionieren wird. Die katholische Positionierung des Modernismus/Antimodernismus war vielleicht vor allem deshalb eine misslungene Antwort an die Moderne,224 weil sie – ganz unkatholisch – auf einem „Entweder-oder“ basierte und nicht die Weite eines „Sowohl-als auch“ („et-et“) in den Blick bekam. Kirchenrechtlich gewendet la¨sst sich mit dem Konzept der multiplen Moderne die Frage aufwerfen, ob und inwieweit sind ortskirchliche Besonderheiten, die mo¨glicherweise Abweichungen von gesamtkirchenrechtlichen Vorhaben darstellen, Ausdruck moderner Optionen-Vielfalt und Wahlmo¨glichkeiten sind, um das religio¨se Basisziel „optimaler“, ortsada¨quater umzusetzen. Hier wa¨ren dann unterschiedlichste normative Konstellationen zu untersuchen. Es sei nur auf ein paar Aspekte aufmerksam II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen, S. 49 – 65. 221 Stefan Nacke, Die Kirche der Weltgesellschaft. Das II. Vatikanische Konzil und die Globalisierung des Katholizismus, 2010. 222 Vgl. Nacke, Weltgesellschaft (o. Fn. 221), S. 217. 223 Hubert Wolf, Krypta. Unterdru¨ckte Traditionen der Kirchengeschichte, 2015. 224 Peter Neuner, Modernismus und Antimodernismus. Eine misslungene Antwort der Kirche auf die Herausforderungen der Moderne, in: Gabriel/Horn (o. Fn. 1), S. 225 – 252.

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gemacht. Prinzipiell wird man davon auszugehen haben, dass die Religionen in modernen Gesellschaften nicht automatisch gemeine Ordnungsmuster und Organisationsvorstellungen einfach kopieren mu¨ssen. Gleichwohl wird es Wechselwirkungen geben. Untersuchenswert ist in diesem Kontext etwa die staatlicherseits im Kulturkampf den katholischen Kirchengemeinde oktroyierte Organisation pfarrlicher Vermo¨gensverwaltung: Die monokratisch „pfarr-herrliche“ Alleinverwaltung des Pfarrers wurde durch verpflichtende Einfu¨hrung eines „Kirchengemeindeverwaltungsrats“ hinsichtlich der vermo¨gensrechtlichen Vertretung der Kirchengemeinde „demokratisiert“/„parlamentarisiert“ und damit an die verpflichtende Mitwirkung eines kollegial strukturierten Partizipationsorgans gebunden.225 Interessant ist es aber auch, mo¨gliche Flexibilisierungsmodi des universalen Kirchenrechts aus zu buchstabieren. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Kontext die Regelung des c. 3 CIC/1983 (ebenso schon im CIC/1917), die einen Vorrang des Konkordats vor dem Codex normiert, sofern nicht gegen kirchenverfassungsgestaltende Grundentscheidungen verstoßen wird.226 Damit wird eine multi-moderne „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“ ermo¨glicht, die bemerkenswert ist. Gewohnheitsrechtliche Derogationsmo¨glichkeiten u. a.m. ließen sich ebenfalls als Optionsvielfalt ermo¨glichende Normen anfu¨hren. Unterschiedliche Ordnungsmuster sind demnach keine kanonistische Unmo¨glichkeit und umfassende Uniformita¨t nicht zwingende kirchenrechtliche Notwendigkeit. Optional lassen sich demnach normative Anhaltspunkte dafu¨r finden, dass „multiple Modernen“ durchaus dem katholischen Kirchenrecht nicht fremd sein mu¨ssen.

225

Na¨her dazu das (noch) unvero¨ffentlichte „Rechtsgutachten einige Fragen die vermo¨gensrechtliche Vertretung der Pfarreien und das pa¨pstliche Indult vom 12. Januar 1984 betreffend dem Erzbistum Hamburg“ erstattet von Ansgar Hense vom 17. Oktober 2013. 226 Die Norm lautet: „Die Canones des Codex heben die vom Apostolischen Stuhl mit Nationen oder anderen politischen Gemeinschaften eingegangenen Vereinbarungen weder ganz noch teilweise auf; diese gelten daher wie bis jetzt fort ohne die geringste Einschra¨nkung durch entgegenstehende Vorschriften dieses Codex“.

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IV. Zum Schluss – nichts Abschließendes! Eine rechtswissenschaftliche, im engeren Sinn religionsverfassungsrechtliche Relecture des Konzept multiple modernities la¨sst sich auf das paradox anmutende Re´sume´ bringen: Eisenstadts Opus ist eine Kurzformel dafu¨r, dass es keine Kurzformeln gibt. Dies entlastet den juristischen Leser auch ein wenig davon, dass er noch nicht einmal ansatzweise eine genauere Beleuchtung der „Interaktion“ der Systeme Religion, Politik und Recht unter dem Focus einer Vielfalt der Moderne zu entwickeln suchte. Eisenstadt hat pionierhaft modernisierungstheoretische (Selbst-) Gewissheiten in Frage gestellt, die gleichsam natu¨rliche Ziele geschichtlicher Entwicklungen markierte, er hat zudem darauf verwiesen, dass es paradoxe Dimensionen von und in Moderne gibt.227 Was wa¨re also zu „ent-wickeln“ gewesen? Entlastete man Eisenstadt z. B. von bestimmten Annahmen seiner Achsenzeit-Focussierung228, so ließe sich die multiple Moderne als eine Spannungsgeschichte weltlicher und religio¨ser Lebensordnungen beschreiben,229 die zwischen Frieden und Konflikt ebenso changiert wie zwischen Kontinuita¨t und Diskontinuita¨t, durch Spannungen und Balancen zwischen religio¨sen und sa¨kularen Handlungen wie Weltdeutungen gekennzeichnet wird.230 Ob und inwieweit Eisenstadts Ansatz etwa die Problematik Tu¨rkei/Europa fruchtbar machen la¨sst – eine Thematik die explizit der Soziologe Thomas Schwinn aufgeworfen hat –, sei hier nur der Vollsta¨ndigkeit halber erwa¨hnt.231 Dem soziologisch, geschichtsphilosophisch naiven juristischen Leser dra¨ngt sich hinsichtlich seiner Eisenstadt-Relecture die Frage auf, ob sich in seinem Konzept nicht eine ganz erhebliche Leerstelle in Sachen Freiheit als Modernita¨tskriterium auftut? So sehr seine moder227

Es ließen sich Beziehungen und Bezu¨ge etwa zu Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, 2. Aufl. 2012, aufzeigen. Zu Bauman siehe nur Wiertz, Moderne (o. Fn. 23), S. 1 (11 – 15). 228 Die zeitliche Situierung der Achsenzeit bei Eisenstadts erscheint durchaus fragwu¨rdig. Wenn schon Reinhart Koselleck abgerungen wurde, dass es nicht nur einen auf um 1750 datierten Sattelzeit-Punkt geben muss, sondern dass es „mehrere Verdichtungszonen und Beschleunigungsvorga¨nge“ geben kann (dazu Hu¨binger, Geschichtsdenken [o. Fn. 25], S. 64 [81]). 229 Gangolf Hu¨binger, Erfahrung und Erforschung der ,Sa¨kularisierung‘, in: ders., Beobachter (o. Fn. 25), S. 77 (91). 230 Sehr aufschlussreich zu alldem Hu¨binger, ebda., S. 77 (85 und passim). 231 Na¨her Schwinn (o. Fn. 20), in: Zeitschrift fu¨r Soziologie 38 (2009), 454 (469).

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nisierungstheoretischen „Lockerungsu¨bungen“ – durchaus im Großen und Ganzen – goutiert werden, so sehr sind mit ihnen Fragereflexe verbunden. Ist Eisenstadts Ansatz eventuell zu formal ist und letztlich in materialer – vor allem freiheitsrechtlicher Sicht – etwas unterbestimmt? Mu¨ndet er dann doch zu sehr in der Registration einer Pluralita¨t von Ordnungen und fragt zu wenig nach der „Ordnung der Ordnungen“? 232 Eisenstadts sehr großes Verdienst ist es sicherlich, dass er unilinearen und unhistorischen Betrachtungsweisen von Moderne Einhalt geboten hat. Er hat herausgearbeitet, dass das Besondere an ,Moderne‘ gerade die Vielfalt ihrer Merkmale und Bedeutungen ist.233 Damit hat Eisenstadt angestoßen, weiter zu fragen. Auf der wissenschaftlichen Landkarte der Interaktionen der Systeme Religion, Politik und Recht sind jedenfalls noch genu¨gend weiße Flecken, die es zu entdecken gilt und die sich vor allem dann erschließen lassen, wenn modernisierungstheoretisch von Vielfalt und Unterschiedenheit ausgegangen wird.234

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Vgl. zu einer a¨hnlichen Fragestellung Michael Borgolte, Intellektuelle und die Ordnungen der Welt, in: MERKUR 70 (2016), S. 26 (35). Vergleichbar auch Schwinn, Neubestimmung (o. Fn. 20), S. 73 (93). 233 Formulierung im Anschluss an Christof Dipper, Moderne, Version 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 25. 8. 2010 [http://docupedia.de/zg/Moderne], S. 16. 234 Neuere Ansa¨tze wie etwa die „Vorgeschichte der Gegenwart“ (dazu Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl. 2012) lassen sich auch religionsverfassungsrechtlich, religionsverfassungsgeschichtlich aktivieren und neue Untersuchungsfragen und Perspektiven an das konflikthafte Verha¨ltnis von Staat und Religion herantragen. Aber auch auf lange Sicht gibt es bemerkenswerte Moderne-Typologie, die sich – bezogen auf Deutschland – fu¨r das Staatskirchenrecht als „Reformationsfolgerecht“ (Hans Michael Heinig) nutzen lassen. Zu denken ist etwa an Kittsteiners Modellierung von Stufen der ,Moderne‘: Stabilisierungsmoderne (1640 – 1689/1715), die evolutive Moderne als Subjekt ihrer Selbst (1770 – 1880), die heroische Moderne (1880 – 1945/89). Dazu na¨her Heinz Dieter Kittsteiner, Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, 2006, S. 25 ff. Kittsteiners Modell ist zumindest ein bemerkenswerter und diskutabler Ansatz zur „Ordnung“.

Evolution im Strafrecht der ro¨misch-katholischen Kirche mit besonderem Blick auf die delicta graviora und die von Papst Benedikt XVI. in die Wege geleitete Strafrechtsreform Von Wilhelm Rees, Innsbruck Die katholische Kirche, die nach ihrem Selbstversta¨ndnis von Jesus Christus gestiftet wurde, ist nicht etwas rein Spirituelles und Abstraktes, etwas, das auf ein Jenseits vertro¨stet und hofft. Sie existiert – modern gesprochen – nicht im Cyberspace. Als konkrete Gemeinschaft von glaubenden und hoffenden Menschen lebt sie hier und heute, in einer konkreten Zeit und innerhalb einer bestimmten weltlichen Gemeinschaft. So hat es auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965), die große Kirchenversammlung vor rund 50 Jahren, in der Konstitution „Gaudium et spes“ u¨ber die Kirche in der Welt von heute zum Ausdruck gebracht (vgl. VatII GS). Als menschliche Gemeinschaft braucht die Kirche auch rechtliche Normen, ja sogar ein eigenes Strafrecht. Mehr als 30 Jahre sind vergangen seit das kirchliche Gesetzbuch, der Codex Iuris Canonici (CIC/1983), am 25. Januar 1983 promulgiert worden und am 27. November 1983 in Kraft getreten ist. Das Strafrecht dieses Gesetzbuchs bzw. einzelne Bestimmungen sind immer wieder auf Kritik gestoßen, sowohl o¨ffentlich und medial als auch kirchenintern, nicht zuletzt auch aufgrund der Skandale des sexuellen Missbrauchs Minderja¨hriger durch Kleriker vor einigen Jahren. So stand Papst Benedikt XVI. (2005 – 2013) bereits kurz nach seinem Amtsantritt einer Reform des kirchlichen Strafrechts der ro¨misch-katholischen Kirche sehr offen gegenu¨ber. Ein konkreter Entwurf ist bereits im Jahr 2011 den Bischofskonferenzen und anderen wichtigen Einrichtungen der ro¨misch-katholischen Kirche zu einer Stellungnahme u¨bermittelt worden.

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Im Folgenden sollen zuna¨chst gewisse Stationen in der Entwicklung des kirchlichen Strafrechts bis hin zum CIC/1983 aufgezeigt werden. Ferner sollen die delicta graviora, d. h. die schwerwiegenderen Straftaten (sexueller Missbrauch usw.), in den Blick kommen. Schließlich soll die von Papst Benedikt XVI. eingeleitete Reform des kirchlichen Strafrechts, sofern sein Nachfolger Papst Franziskus dies so will, als Zukunftsperspektive skizziert werden. I. Evolution des kirchlichen Strafrechts von den Anfa¨ngen der Kirche bis hin zum CIC/1917 1. Strafrechtliche Entwicklungen in der Fru¨hzeit der Kirche Es war fu¨r die fru¨he Kirche eine bittere Entta¨uschung und eine schmerzliche Erfahrung, gleichsam ein schwerer Schock und ein ernsthaftes Problem, als einzelne Glieder dem hohen Ideal, das ihr von Jesus Christus mitgegeben worden war, nicht entsprechen konnten. Deutlich wurde, dass die „Gemeinde der Heiligen hineingestellt war in das Spannungsfeld zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Anspruch und Erfu¨llung“1. Die Kirche hat daher von ihren Anfa¨ngen an gegen schwerwiegendes Versagen, das ihre Ordnung sto¨rte oder die Gemeinde in Misskredit brachte, mit Strafen reagiert. Ziel dieser Maßnahmen war nicht nur, das Funktionieren des Gemeinschaftslebens zu sichern. Im Hintergrund stand auch die Sicherung der Heiligkeit und Heilsfunktion der Kirche. Ausgangspunkt fu¨r die Strafe der Exkommunikation und zugleich auch fu¨r die Entstehung und Ausbildung eines kirchlichen Strafrechts ist das Mattha¨us-Evangelium, na¨herhin Mt 18,15 – 182. Ein su¨ndiges Gemeindemitglied, das nach zweimaliger Zu-

1 Richard A. Strigl, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR1, S. 923 – 929, hier S. 923; s. zum Ganzen Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 41), Berlin 1993. Der Vortragsstil wurde fu¨r die Druckfassung beibehalten. 2 Ausdru¨cklich Walter Doskocil, Der Bann in der Urkirche. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (= MthStkan, Bd. 11), Mu¨nchen 1958, S. 27; s. auch ebd., S. 30 – 38; ferner auch Claus-Hunno Hunzinger, Art. Bann. II. Fru¨hjudentum und Neues Testament, in: TRE, Bd. 5 (1980/1993), S. 161 – 167, hier S. 164 – 167; Walter Radl, Art. Buße (liturgisch-theologisch). B. Buße im NT, in: LexMA,

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rechtweisung zuna¨chst unter vier Augen, dann unter Beiziehung von Zeugen auch auf die versammelte Gemeinde nicht ho¨rt, soll „wie ein Heide oder ein Zo¨llner“, d. h. wie ein o¨ffentlicher Su¨nder, betrachtet werden. Zwar kann nicht eindeutig gesagt werden, ob diese Stelle bei Mattha¨us die Annahme einer Institution des Kirchenbannes rechtfertigt. Es kann jedoch „kein Zweifel bestehen, daß die Erreichung des Zweckes, den su¨ndigen Bruder zur Abkehr zu bringen, nicht allein mit ethischen Mitteln angestrebt wurde, sondern durch eine autoritative Maßnahme im Anschluss an ein gerichtliches Verfahren“3. Auch Paulus schließt einen Mann, der Unzucht treibt, aus der Gemeinde von Korinth aus (1 Kor 5,1 – 11) und hebt die eucharistische Mahlgemeinschaft auf (vgl. 1 Kor 5,9.11; 2 Thess 3,14; 2 Kor 2,5 – 11; 1 Kor 11,27 – 30). Ein Gemeindemitglied sollte dann aus der Gemeinschaft und von der Eucharistie ausgeschlossen werden, wenn es diese Gemeinschaft nicht mehr verdient (vgl. Gal 5,19 – 21). Ziel dieses Ausschlusses war jedoch immer die Wiedergewinnung des Gemeindemitglieds (vgl. 1 Tim 1,20; 2 Tim 2, 17) 4. Wie die Geschichte zeigt, waren in den ersten christlichen Jahrhunder¨ ffentlichkeit der Kirchenbuße Kirchenzucht und Bußten aufgrund der O sakrament eng miteinander verbunden5. Wer sich durch eine geheime, d. h. ¨ ffentlichkeit nicht bekannte Su¨nde gegen die Gemeinschaft oder in der O die Lehre der Kirche verfehlt hatte, war damit automatisch von der EuchaBd. 2 (1983), Sp. 1124 f., hier Sp. 1125; Wilhelm Rees, Art. Strafe, Strafrecht. A. Kanonisches Recht, in: LexMA, Bd. 8 (1997), Sp. 196 f. 3 Richard A. Strigl, Das Funktionsverha¨ltnis zwischen kirchlicher Strafgewalt ¨ ffentlichkeit. Grundlagen, Wandlungen, Aufgaben (= MthStkan, Bd. 21). und O Mu¨nchen 1965, S. 8 f. 4 Vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 40 – 43; s. auch ders., „Geh zu Jesus, er vergibt Dir“. Zur Frage theologischer und kirchenrechtlicher Neuansa¨tze im Fall von „Scheitern“ in der ro¨misch-katholischen Kirche, in: Geist – Kirche – Recht. Festschrift fu¨r Libero Gerosa zur Vollendung des 65. Lebensjahres. Hrsg. von Ludger Mu¨ller und Wilhelm Rees (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 62), Berlin 2014, S. 295 – 326, bes. S. 300 – 303; ders., Die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten. Kritische Anfragen aus kirchenrechtlicher Perspektive, in: ZKTh 136 (2014), S. 135 – 145, bes. S. 136 f. 5 Zur Geschichte vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 116 – 171, m. w. N.; grundsa¨tzlich auch ders., Strafrecht in der Kirche. Kritische Anfragen und Son¨ AKR 44 (1995 – 97) (= Hugo derheiten gegenu¨ber dem weltlichen Recht, in: O Schwendenwein zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Johann Hirnsperger, Herbert Kalb und Richard Potz), S. 243 – 264; Christoph H. F. Meyer, Art. Kirchenbuße, in: HRG2, Bd. 2 (2012), Sp. 1781 – 1786.

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ristie als dem Zentrum des christlichen Lebens ausgeschlossen. Dieser Ausschluss war ohne ein Dazwischentreten der Kirche gegeben (sakramentale Exkommunikation). Sobald die Verfehlung der Kirche bekannt wurde, reagierte sie darauf, indem sie das Mitglied in den Bu¨ßerstand versetzte (Bußexkommunikation). Ausfu¨hrlich hat Tertullian in seinem Traktat „De paenitentia“ die o¨ffentliche Buße am Ende des 2. Jahrhunderts beschrieben6. Anton Ziegenaus sieht drei wesentliche Stationen gegeben, na¨mlich die ¨ ffentreale Exkommunikation (durch das Bekanntwerden der Tat in der O lichkeit) und die liturgische Exkommunikation (Einweisung in den Bu¨ßerstand) sowie die Rekonziliation (Wiedereingliederung in die Gemeinschaft) 7. Hatte sich ein Kleriker verfehlt, so kam – außer der Verha¨ngung der Exkommunikation – bereits im dritten Jahrhundert die Deposition, d. h. die Amtsentsetzung, zur Anwendung. Diese entzog alle Rechte aus Weihe und Amt und entsprach damit der spa¨teren Degradation, d. h. dem Ausschluss aus dem Klerikerstand8. Die Deposition war fu¨r schwere Straftaten vorgesehen, die Laien gegenu¨ber mit der Exkommunikation bestraft wurden. Zudem wurde sie fu¨r verschiedene Amtsvergehen und Verfehlungen gegen die Amtspflichten oder fu¨r eine Lebensfu¨hrung, die dem Klerikerstand nicht entsprach, angedroht9. Seit Ende des 3. Jahrhunderts wurden Straftaten von Laien durch eigene bischo¨fliche Gerichte, jene von Klerikern und Bischo¨fen durch die Provinzialsynode geahndet10. Durch die im Februar 313 zwischen Konstantin und Licinius in Mailand getroffene Vereinbarung, den Christen Religionsfreiheit zu gewa¨h6 Vgl. Tertullian, De paenitentia, 9 – 12, in: CSEL 76, S. 162 – 164; dazu Herbert Vorgrimler, Buße und Krankensalbung (= HDG IV, 3), Freiburg/Basel/ Wien 1978, S. 44 – 50. 7 Vgl. hierzu Anton Ziegenaus, Umkehr, Verso¨hnung, Friede. Zu einer theologisch verantworteten Praxis von Bußgottesdienst und Beichte, Freiburg/Basel/Wien 1975, S. 19 – 21. 8 Dazu Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 118 f. 9 Vgl. Franz Kober, Die Deposition und Degradation nach den Grundsa¨tzen des kirchlichen Rechts historisch-dogmatisch dargestellt, Tu¨bingen 1867, S. 594. 10 Vgl. Godehard J. Ebers, Grundriß des Katholischen Kirchenrechts. Rechtsgeschichte und System, Wien 1950, S. 22; zu den Synoden siehe Wilhelm Rees, Synoden und Konzile. Geschichtliche Entwicklung und Rechtbestimmungen in den kirchlichen Gesetzbu¨chern von 1917 und 1983, in: ders./Joachim Schmiedl (Hrsg.), Unverbindliche Beratung oder kollegiale Steuerung? Kirchenrechtliche ¨ berlegungen zu synodalen Vorga¨ngen (= Europas Synoden nach dem Zweiten U Vatikanischen Konzil), Freiburg/Basel/Wien 2014, S. 10 – 67.

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ren11, wurde das Christentum den u¨brigen Kulten im ro¨mischen Weltreich gleichgestellt. Die dadurch ermo¨glichte weitere Ausbreitung der Kirche und die Entfaltung ihrer Lehre, ihrer Verfassung und ihrer gottesdienstlichen Feiern erforderten auch eine detaillierte Ausgestaltung des kirchlichen Strafrechts, die weithin unter Einfluss des ro¨mischen Rechts erfolgt ist12. Die Exkommunikation blieb die ha¨ufigste Strafe gegen Laien. Ein Gemeindemitglied, dessen schwere Verfehlung o¨ffentlich bekannt oder durch die ¨ bernahme der o¨ffentlichen Buße offenkundig geworden war, verlor U den guten Ruf und war somit von wesentlichen kirchlichen Rechten ausgeschlossen13. Neben der Exkommunikation entstand eine weitere kirchliche Strafe, die die Teilnahme am Gottesdienst und an der Kommunion untersagte und spa¨ter als „Kleine Exkommunikation“ bezeichnet wurde14. Eine weitere Strafe kam im 4. Jahrhundert hinzu, na¨mlich die zeitweilige (ad tempus) Suspension von den kirchlichen Gliedschaftsrechten, das spa¨tere perso¨nliche Interdikt15. Die Strafe untersagte das Betreten einer Kirche und die Teilnahme am Gottesdienst. Der Unterschied zwischen den beiden zuletzt genannten Strafen zeigte sich darin, dass die Kleine Exkommunikation – im Sinn der spa¨teren Terminologie – medizinalen Charakter hatte, also auf die Besserung des sich verfehlenden Gemeindemitglieds abzielte, die Suspension hingegen vorwiegend vindikativen Charakter besaß, d. h. der Su¨hne diente16. Gegen Kleriker kamen neben der Absetzung (Deposition) die Amtsentsetzung ohne Ausschluss aus dem Klerikerstand und die Ru¨ckversetzung auf eine niedrigere Weihestufe als durchaus mildere Strafen hinzu. Sie betrafen die Rechtsstellung eines Klerikers und entzogen bestimmte Rechte fu¨r immer. Die genannten Strafen unter11

Vgl. Jochen Martin, Art. Konstantin(os), ro¨m. bzw. byz. Kaiser: K. I. d. Große, in: LThK3, Bd. 6 (1997), Sp. 295 – 298, hier Sp. 295 f.; Raban v. Haehling, Art. Toleranzedikte, in: LThK3, Bd. 10 (2001), Sp. 101. 12 Vgl. Strigl, Funktionsverha¨ltnis (Fn. 3), S. 33 – 44; Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 119 – 124. 13 Vgl. Georg May, Bemerkungen zu der Frage der Diffamation und der Irregularita¨t der o¨ffentlichen Bu¨ßer, in: MThZ 12 (1961), S. 252 – 268. 14 Vgl. Johannes Baptist Sa¨gmu¨ller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Bd. 2, Freiburg im Breisgau 31914, S. 355. 15 Vgl. erstmals Synode von Elvira (305), cc. 21 und 56, in: Mansi 2, Sp. 9 und 15; dazu Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Ru¨cksicht auf Deutschland (= Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland), Bd. 4, Berlin 1888 (= Nachdruck Graz 1959), S. 713 f. 16 Dazu Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 120 f.

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schieden sich von der Suspension, die vorwiegend – wie auch heute noch – auf die Besserung des Strafta¨ters zielte17. Wie das ro¨mische Recht verstand ¨ ffentlichkeit getreauch das kirchliche Recht eine Straftat als eine in die O tene Verletzung eines Gesetzes, die mit Strafe bedroht war. Eine Straftat unterschied sich somit von der reinen Gedankensu¨nde, die keiner Bestrafung im a¨ußeren Rechtsbereich unterlag18. In den ersten Jahrhunderten gab es keinen fest umschriebenen Kanon kirchlicher Straftaten. Bestraft wurden hauptsa¨chlich Mord, Abfall vom Glauben, Unzucht, daneben vereinzelt Wucher, Simonie, Erhebung falscher Anklagen sowie der Umgang mit einer exkommunizierten Person19, bei Klerikern auch die Verletzung von Amtspflichten und der Pflicht zum Gehorsam sowie eine Lebensfu¨hrung, die dem Klerikerstand nicht entsprach. Das bereits bestehende Recht der Bischo¨fe, Handlungen zu bestrafen, die nicht von einem Strafgesetz erfasst waren, blieb weithin aufrecht. Allerdings schra¨nkten Synoden im sechsten Jahrhundert diese bis heute gegebene Mo¨glichkeit (vgl. c. 1399 CIC/1983) auf schwere Vergehen ein, so dass nur im a¨ußersten Fall so vorgegangen werden durfte20. Die Kirche hatte im 4. Jahrhundert aus dem ro¨mischen Recht den Anklage- / Akkusationsprozess u¨bernommen21. Damit oblag der anklagenden Person die Pflicht, den Nachweis u¨ber die einer Person angelastete Straftat zu erbringen. Gelang dies nicht, so traf sie die Strafe,

17 Vgl. ausfu¨hrlich Franz Kober, Die Suspension der Kirchendiener nach den Grundsa¨tzen des canonischen Rechts dargestellt, Tu¨bingen 1862. 18 Dazu Franz Kober, Der Kirchenbann nach den Grundsa¨tzen des canonischen Rechts dargestellt, Tu¨bingen 21863, S. 130 f., unter Hinweis auf Synode von Neoca¨sarea (zwischen 314 und 325), c. 4. 19 Vgl. im Einzelnen Paul Hinschius, Art. Gerichtsbarkeit, kirchliche, in: Realencyclopa¨die fu¨r protestantische Theologie und Kirche. Begru¨ndet von Johann Jakob Herzog, hrsg. von Albert Hauck, Bd. 6, Leipzig 31899, S. 585 – 602, hier S. 586. 20 Vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 122 f. 21 Vgl. Eduard Eichmann, Das Prozeßrecht des Codex Iuris Canonici, Paderborn 1921, S. 17 f.; s. auch Konrad Breitsching, Das kirchliche Strafverfahren in seinen geschichtlichen Auspra¨gungen und seiner gegenwa¨rtigen Gestalt, in: Iustitia in Caritate. Festgabe fu¨r Ernst Ro¨ßler zum 25ja¨hrigen Dienstjubila¨um als Offizial der Dio¨zese Rottenburg-Stuttgart. Hrsg. von Richard Puza und Andreas Weiß (= AIC, Bd. 3), Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 101 – 124; Hartmut Zapp, Art. Akkusationsprozeß, in: LexMA, Bd. 1 (1980), Sp. 253.

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die auf das Vergehen gesetzt war (poena talionis) 22. Im Fall der Straftat eines Klerikers konnte das Verfahren von Amts wegen eingeleitet werden23. Ferner fu¨hrten Selbstanklage oder ein Gesta¨ndnis zur Ero¨ffnung eines Verfahrens. So genannte Tatstrafen, d. h. Strafen, die ohne das Dazwischentreten eines Gerichts automatisch mit der Begehung der Tat eintreten, sind fu¨r die fru¨he Zeit der Kirche nicht nachweisbar. Die Zusta¨ndigkeit fu¨r die Bestrafung von Klerikern und Laien lag beim Dio¨zesanbischof; zweite Instanz war die Provinzial- oder die Metropolitan¨ ber einen Bischof richtete die Provinzialsynode vorbehaltlich synode24. U der Berufung an den Papst25. Die Kirche hat sich bereits in dieser Zeit zur Vollstreckung der von ihren Gerichten gefa¨llten Strafurteile der Hilfe des Staates bedient26. Zunehmend vertraten weltliche Herrscher die Auffassung, dass Abweichungen von der Lehre der Kirche eine Gefa¨hrdung der Staatsordnung mit sich brachten. So wurden außer der Ketzerei rein kirchliche Straftaten, wie z. B. die Blasphemie oder die Verletzung von Gelu¨bden, mit weltlichen Strafen bedroht und somit als weltliche Straftaten gesehen27. Der befreite Gerichtsstand (privilegium fori), der die Verurteilung von Klerikern nur vor einem kirchlichen Gericht gestattete, kam zuna¨chst nur den Bischo¨fen zu. Er wurde mit dem Jahr 412 auf alle anderen Kleriker ausgeweitet28. 22 Vgl. Johann B. Haring, Grundzu¨ge des katholischen Kirchenrechtes, Graz 1916, S. 879; s. auch Theodor Mommsen, Ro¨misches Strafrecht, Leipzig 1899 (= unver. Nachdruck Darmstadt 1955), S. 496 f. 23 Vgl. im Einzelnen Heinrich Keller, Das Buß- und Strafverfahren gegen Kleriker in den sechs ersten Jahrhunderten. Eine historisch-kirchenrechtliche Abhandlung, Trier 1863. 24 Vgl. Hermann Josef Sieben, Selbstversta¨ndnis und ro¨mische Sicht der Partikularsynode. Einige Streiflichter auf das erste Jahrtausend, in: Hubert Mu¨ller/ Hermann J. Pottmeyer (Hrsg.), Die Bischofskonferenz. Theologischer und juridischer Status, Du¨sseldorf 1989, S. 10 – 35, hier S. 14 – 16. 25 Vgl. Peter Landau, Art. Kirchenverfassung, in: TRE, Bd. 19 (1990/2000), S. 110 – 165, hier S. 117, Z. 12 – 24. 26 Vgl. Edgar Loening, Geschichte des deutschen Kirchenrechts, Bd. 1: Das Kirchenrecht in Gallien von Constantin bis Clodevech, Straßburg 1878, S. 287 f. 27 Vgl. Wilhelm Rees, Ha¨resie, Apostasie und innerchristliche Gewalt in kirchenrechtlicher Sicht, in: Heinz-Gu¨nter Stobbe/Georg Plasger (Hrsg.), Gewalt gegen Christen. Formen, Gru¨nde, Hintergru¨nde, Leipzig 2014, S. 295 – 327. 28 Vgl. Eduard Eichmann, Das Strafrecht des Codex Iuris Canonici, Paderborn 1920, S. 9, unter Hinweis auf Karl Harburger, Das privilegium fori im deutschen 2

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2. Kirchliches Strafrecht in der germanischen Welt Eine neue Situation ergab sich fu¨r die Kirche, als die Goten im Jahr 375 ins ro¨mische Reich eingefallen waren und in der Folgezeit verschiedene Germanenreiche entstanden sind. Zunehmend haben daher germanische Rechtselemente das Straf- und Gerichtswesen der westlichen Kirche beeinflusst29. So nahm die Strafe der Exkommunikation Elemente an, die die fra¨nkische Acht und Friedlosigkeit30 kennzeichneten. Aufgrund der engen Verbindung von geistlichen und weltlichen Angelegenheiten, die das karolingische Staatskirchentum mit sich gebracht hatte, drohte die Kirche vermehrt Strafen weltlichen Charakters an, wie die Pru¨gelstrafe fu¨r Unfreie und Personen niederen Standes, Freiheitsentzug in Form der Einweisung in ein Kloster31, die Verbannung, die Vermo¨genskonfiskation, die Geldstrafe oder den Verlust weltlicher A¨mter. Wenngleich die Vollstreckung dieser Strafen den weltlichen Organen u¨berlassen blieb, waren es doch „kirchliche Maßnahmen“32. Zu den bisherigen schweren Straftaten, na¨mlich Abfall vom Glauben, To¨tung und den so genannten Fleischesvergehen (Ehebruch, Inzest, Notzucht, Kuppelei, Bigamie), kamen die Erhebung falscher Anklagen, Meineid, Unterschlagung von Oblationen sowie die Entehrung der Heiligen Eucharistie hinzu. Die steigende Zahl von Klerikern hatte ein Anwachsen der Disziplinarvergehen zur Folge33. Als ha¨rteste Strafe gegen Kleriker wurde die Deposition (Absetzung) verha¨ngt, die zugleich die Entlassung aus dem Klerikerstand und die Unfa¨higkeit zur Erlangung von Kirchena¨mtern zur Folge hatte. Weiterhin fanden die Amtsentsetzung ohne Entlassung aus dem Klerikerstand, Recht, Berlin 1915, S. 16 ff. und S. 19 ff.; s. auch Eichmann, Prozeßrecht (Fn. 21), S. 16; Richard Puza, Art. Privilegium fori, in: LexMA, Bd. 7 (1995), Sp. 228 f. 29 Zu Geist und Praxis des germanischen Strafrechts s. Strigl, Funktionsverha¨ltnis (Fn. 3), S. 44 – 75; ferner auch Karin Nelson-von Stryk, Art. Gerichtsverfahren, in: HRG2, Bd. 2 (2012), Sp. 178 – 192, bes. Sp. 178 – 180; insgesamt Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 124 – 130. 30 Vgl. Dieter Strauch, Art. Acht, in: LexMA, Bd. 1 (1980), Sp. 79 – 81; Friedrich Battenberg, Art. Acht, in: HRG2, Bd. 1 (2008), Sp. 59 – 65; Hans-Georg Hermann, Art. Friedlosigkeit, in: HRG2, Bd. 1 (2008), Sp. 1826 f.; Karl Kroeschell, Art. Friedlosigkeit, in: LexMA, Bd. 4 (1989), Sp. 930 f. 31 s. dazu Thomas Krause, Art. Klosterhaft, in: HRG2, Bd. 2 (2012), Sp. 1904 f. 32 Vgl. im Einzelnen Strigl, Funktionsverha¨ltnis (Fn. 3), S. 64 – 66, hier S. 64. 33 s. im Einzelnen Hinschius, System 4 (Fn. 15), S. 830 und S. 834.

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die spa¨tere privatio beneficii, ferner die Ru¨ckversetzung auf eine niedrigere Weihestufe, der Entzug des kirchlichen Einkommens und die ko¨rperliche Zu¨chtigung fu¨r junge Kleriker und Kleriker mit niederen Weihen Anwendung. Hinzu kamen fu¨r Kleriker u. a. die o¨ffentliche Ru¨ge, die Infamie34, die Konfiszierung von Vermo¨gen und die Verbannung. Fu¨r Willibald M. Plo¨chl ist es sicher, dass vom sechsten Jahrhundert an nur die Absetzung vindikativen, d. h. vergeltenden Charakter hatte, die anderen kirchlichen Strafen jedoch u¨berwiegend oder ausschließlich der Besserung dienten35. Es ist davon auszugehen, dass die Kirche die Strafe der Exkommunikation und die Absetzung eines Klerikers (Deposition) als den schwersten Eingriff in die Rechts- und Gliedschaftsstellung eines Gla¨ubigen bzw. eines Klerikers nur im a¨ußersten Fall verha¨ngen wollte. So erkla¨rt sich das Aufkommen bestimmter Zwangsbußen im 6. Jahrhundert, die die Verha¨ngung schwerer Strafen vermeiden sollten36. Die Zwangsbuße entsprach dem Zwang, der nach fra¨nkischem Recht zur Beilegung einer Fehde mo¨glich war37. Die iro-schottische und ebenso die angelsa¨chsische Kirche kannten im Gegensatz zur Bußpraxis auf dem Festland nur die private Buße, die eine immer wieder erfolgende Su¨ndenvergebung in einem geheimen Verfahren zwischen dem Priester und der beichtenden Person ermo¨glichte, nicht jedoch eine o¨ffentliche Buße und die damit verbundene Exkommunikation38. Die Verbreitung dieser eigensta¨ndigen, besonderen Form der

34 s. Rudolf Weigand, Art. Infamie, in: LexMA, Bd. 5 (1991), Sp. 412; ferner auch Georg May, Die Infamie im Strafmittelsystem der westgotischen Kirche. Ein Beitrag zur Geschichte des kirchlichen Strafrechts, in: ZKTh 83 (1961), S. 15 – 43; ders., Die Belegung kirchlicher Vergehen mit Infamie durch den Staat im ro¨mi¨ AKR 15 (1964), S. 177 – 188; ders., Can. 18 schen und westgotischen Reiche, in: O der Synode zu Macon vom Jahre 583. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafrechts in der fra¨nkischen Kirche, in: MThZ 11 (1960), S. 237 – 247. 35 So ausdru¨cklich Willibald M. Plo¨chl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 1, Wien/Mu¨nchen 21960, S. 253. 36 Vgl. Eichmann, Strafrecht (Fn. 28), S. 10. 37 Vgl. Heinrich Mitteis/Heinz Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch (= Kurzlehrbu¨cher fu¨r das juristische Studium), Mu¨nchen 171985, S. 94. 38 Vgl. Gustav Adolf Benrath, Art. Buße. V. Historisch, in: TRE, Bd. 7 (1981/ 1993), S. 452 – 473, hier S. 458 f.; Franz Nikolasch, Art. Buße (liturgisch-theologisch). D. Westkirche I Bußdisziplin, in: LexMA, Bd. 2 (1983), Sp. 1130 f., hier Sp. 1130.

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Buße39 seit dem 7. Jahrhundert in Westeuropa und schließlich in der gesamten Westkirche hatte zur Folge, dass seit dem 9. Jahrhundert fu¨r alle o¨ffentlichen schweren Vergehen (Su¨nden) o¨ffentliche Buße geleistet werden musste, fu¨r Su¨nden aber, die geheim geblieben sind, die geheime Buße genu¨gte. Diese Entwicklung fu¨hrte zur Unterscheidung zwischen Straftat und Su¨nde und damit zur Auflo¨sung der bisherigen Verbindung von Exkommunikation und Buße. Die Exkommunikation wurde zu einem reinen Strafmittel40. Fu¨r das unterschiedliche Wirken der Kirche im Buß- und Gerichtsverfahren kamen mit Beginn der Hochscholastik die Bezeichnungen „forum poenitentiale“ und „forum iudiciale“ auf 41. Bereits im 6. und 7. Jahrhundert zeigten sich deutlich erkennbare Ansa¨tze der spa¨teren so genannten Tatstrafen. Ein Strafverfahren wurde durch Erhebung einer Anklage, durch Selbstanzeige oder Gesta¨ndnis oder auch von Amts wegen, wenn die Straftat offenkundig war, in Gang gesetzt42. Als Beweismittel wurden die germanische Reinigung mittels Eid und Eideshelfern als „purgatio canonica“43 und das Gottesurteil44 als „purgatio vulgaris“ in dieses Verfahren aufgenommen. Bereitwillig stellte der Staat aufgrund der engen Verbindung mit der Kirche seinen „weltlichen Arm“ (brachium saeculare) zum Vollzug kirchlicher Strafurteile zur Verfu¨gung. 39 Zu den in den Bußbu¨chern festgelegten Bußleistungen vgl. Franz Kerff, Libri paenitentiales und kirchliche Strafgerichtsbarkeit bis zum Decretum Gratiani. Ein Diskussionsvorschlag, in: ZRG Kan. Abt. 75 (1989), S. 23 – 57; Raymund Kottje, Art. Bussbu¨cher. I. Definition und II. Lateinische Bußbu¨cher, in: LexMA, Bd. 2 (1983), Sp. 1118 – 1122. 40 Vgl. Klaus Mo¨rsdorf, Art. Exkommunikation, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe. Hrsg. von Heinrich Fries, Bd. 1, Mu¨nchen 1962, S. 375 – 382, hier S. 378. 41 Dazu Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 96 – 102. 42 Vgl. Georg May, Anklage- und Zeugnisfa¨higkeit nach der zweiten Sitzung des Konzils zu Karthago vom Jahre 419, in: ThQ 140 (1960), S. 163 – 205. 43 Vgl. Hinschius, System 4 (Fn. 15), S. 840; Ekkehard Kaufmann, Art. Reinigungseid, in: HRG, Bd. 4 (1990), Sp. 837 – 840. 44 Vgl. Gu¨nter Lanczkowski, Art. Gottesurteil. I. Religionsgeschichtlich, in: TRE, Bd. 14 (1985/1993), S. 100 – 102; Hans-Wolfgang Stra¨tz, Art. Gottesurteil. II. Mittelalter, ebd., S. 102 – 105; Wolfgang Schild, Art. Gottesurteil, in: HRG2, Bd. 2 (2012), Sp. 481 – 491; Hermann Nottarp, Gottesurteilstudien (= Bamberger Abhandlungen und Forschungen, Bd. 2), Mu¨nchen 1956; Charlotte Leitmaier, Die Kirche und die Gottesurteile. Eine rechtshistorische Studie (= Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten, Bd. 2), Wien 1953. Ein ausdru¨ckliches Verbot der Gottesurteile erfolgte auf dem IV. Laterankonzil (1215). Vgl. c. 9 X 3, 50.

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Die exkommunizierte Person verlor die Gnade des Ko¨nigs, sie wurde vom Hof und von den Hofa¨mtern, vom Richteramt, vom Klagerecht und vom Zeugnis ausgeschlossen und schließlich einer gea¨chteten Person gleichgestellt45. Seit der Mitte des 6. Jahrhunderts war die Kirche bemu¨ht, die staatliche Gerichtsbarkeit u¨ber den Klerus zuru¨ckzudra¨ngen. Das auf der Großen Reichssynode von Paris im Jahr 614 erlassene Edikt Clothars II. kam diesbezu¨glich den Forderungen der Kirche mit Blick auf die Diakone und Kleriker mit ho¨heren Weihen (Priester), nicht jedoch die Kleriker mit niederen Weihen nach46. Erstere sollten vor der Verurteilung durch ein weltliches Gericht einem kanonischen Verfahren unterworfen werden, wodurch die Entlassung aus dem Klerikerstand mo¨glich war47. 3. Das klassische kanonische Strafrecht In dieser Periode erfuhr das kanonische Recht seine volle und gru¨ndliche Ausbildung. Zugleich erfolgte eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Recht. Die Exkommunikation wurde weithin in feierlicher Form als Anathem verha¨ngt. Wenngleich die Rechtsfolgen identisch waren, fu¨hrte diese feierliche Form der Verha¨ngung die Schwere der Verfehlung wohl intensiver und deutlicher vor Augen48. Das Dekret Gratians (Concordia discordantium canonum; zwischen 1125 und 1140) und das 3. Laterankonzil (1179) forderten vor Verha¨ngung einer Strafe zwingend eine Mahnung zur Buße und Umkehr. Dadurch sollte eine vorschnelle Verurteilung vermieden werden. Zudem wurde der Blick sta¨rker auf die Frage der Schuld und die gerechte Beurteilung und somit auf die Person des Strafta¨ters bzw. der Strafta¨terin gerichtet. 45 Vgl. Georg May, Art. Bann. IV. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE, Bd. 5 (1980/1993), S. 170 – 182, hier S. 173, Z. 20 – 38; ferner Eduard Eichmann, Acht und Bann im Reichsrecht des Mittelalters (= Go¨rres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland, Sektion fu¨r Rechts- und Sozialwissenschaft, H. 6), Paderborn 1909, S. 5 – 26. 46 s. dazu Anton Nissl, Der Gerichtsstand des Clerus im fra¨nkischen Reich, Innsbruck 1886, S. 104 – 136, hier S. 104; Hinschius, Gerichtsbarkeit (Fn. 19), Sp. 588. 47 Vgl. Harburger, Das privilegium fori (Fn. 28), S. 34 – 36. 48 Vgl. Wilhelm Rees, Art. Anathema, in: RGG4, Bd. 1 (1998), Sp. 457; s. insgesamt Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 130 – 146.

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Seit der zweiten Ha¨lfte des 12. Jahrhunderts kamen in der kirchlichen Gesetzgebung die Begriffe excommunicatio maior und excommunicatio minor auf. Zugleich erfolgte eine genaue Festlegung der Unterschiede49. Erstere hatte nach wie vor den umfassenden Entzug der kirchlichen Gliedschaftsrechte zur Folge. Letztere schloss vom Empfang der Sakramente und von der Ausu¨bung des Weihesakraments aus und war fu¨r den verbotenen Umgang mit exkommunizierten Personen angedroht. Seit dem 14. Jahrhundert wurde es Brauch, exkommunizierte Personen in der Kathedralbzw. der entsprechenden Pfarrkirche o¨ffentlich bekanntzugeben. Dieses Vorgehen diente einerseits der Abschreckung und Sicherstellung der Beobachtung der Strafwirkungen, andererseits kam dadurch auch der Gemeinschaftscharakter der Kirche zum Ausdruck. Es sollte klar sein, wer volles Mitglied dieser Gemeinschaft bzw. wer dies nicht mehr ist. Die Zeitumsta¨nde des 10. und 11. Jahrhunderts ließen eine neue Strafe entstehen, na¨mlich das Interdikt. Die Kirche suchte in dieser Zeit nach einer Mo¨glichkeit, sowohl das kirchliche Vermo¨gen als auch den Klerus ¨ bergriffe weltlicher Herrscher, von Feudalherren und ebenso der gegen U Bevo¨lkerung zu schu¨tzen. Sie fand in der Strafe des Interdikts hierfu¨r eine Lo¨sung. Das lokale Interdikt verbot die Vornahme gottesdienstlicher Handlungen an dem Ort, u¨ber den es verha¨ngt worden war. Dieser Strafe lag u. a. das germanische Prinzip der Verantwortung der Sippe fu¨r das Verhalten einer Einzelperson zugrunde50. Zunehmend wurde die Verha¨ngung als ungerecht empfunden, da die Strafe schuldige und unschuldige Personen in gleicher Weise traf 51. Gerade letztere Gla¨ubige mussten der Feier der Eucharistie und anderer Gottesdienste ohne eigenes Verschulden entbehren. Das perso¨nliche Interdikt entzog vor allem das Recht zur Teilnahme am Gottesdienst, und zwar an allen Orten, an die sich die bestrafte Person

49 s. im Einzelnen May, Bann (Fn. 45), S. 178, Z. 16 – 26; Angel Marzoa Rodrı´guez, La censure de excomunio´n. Estudio de su naturaleza juridica en ss. XIII–XV, Pamplona 1985. 50 Vgl. Georg May, Art. Interdikt, in: TRE, Bd. 16 (1987/1993), S. 221 – 226, hier S. 221, Z. 5 – 25. 51 Vgl. Franz Kober, Das Interdict, in: AfkKR 21 (1869), S. 3 – 45, 291 – 341; 22 (1869), S. 3 – 53, hier 21 (1869), S. 29 – 37; zu spa¨teren Milderungen s. May, Interdikt (Fn. 50), S. 224 f., m. a. N.; s. auch Hartmut Zapp, Art. Interdikt, in: LexMA, Bd. 5 (1991), Sp. 466 f.

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begab52. Vom 12. bis zum 16. Jahrhundert fand ein so genanntes gemischtes Interdikt (interdictum mixtum, interdictum ambulatorium) Anwendung, das sich auf jeden Ort erstreckte, an dem sich die interdizierte Person aufhielt53. Die Ausbildung des Interdikts brachte mit sich, dass die Suspension auf die strafweise Dienstenthebung reduziert wurde54. Wa¨hrend bisher die Bezeichnungen depositio und degradatio durchaus synonym verwendet wurden, erfolgte gegen Ende des 12. Jahrhunderts eine deutliche Abgrenzung. Degradation wurde die Bezeichnung fu¨r die schwerste Strafe, die einen Kleriker treffen konnte, na¨mlich die Entlassung aus dem Klerikerstand55. Unter Deposition verstand man im Sinn des bisherigen Sprachgebrauchs die Absetzung, die den Verlust des Amtes und des Benefiziums sowie aller damit verbundenen Einku¨nfte und Vermo¨gensrechte zur Folge hatte. Auch durften die mit der Weihe u¨bertragenen Vollmachten nicht mehr ausgeu¨bt werden. Da die Person jedoch weiterhin dem Klerikerstand angeho¨rte, war sie vor der Strafverfolgung durch ein weltliches Gericht geschu¨tzt56. Auch in dieser Zeit kamen gegen Kleriker und Laien weltliche Strafen zur Anwendung57. Einen wesentlichen Grund fu¨r die vermehrte Androhung von Tatstrafen sieht Georg May in dem Umstand, „daß sich die geistliche Gewalt mit der Abschwa¨chung der mittelalterlichen Theokratie, der Verselbsta¨ndigung des Staates und der Beschra¨nkung der kirchlichen Zusta¨ndigkeit in versta¨rktem Maße auf das Gewissen der Gla¨ubigen stu¨tzen mußte“58. Die Tatstrafe er¨ ffentlichmo¨glichte die Bestrafung von Straftaten und -ta¨tern, die in der O keit nicht bekannt geworden sind. Die steigende Androhung von Tatstrafen59, die keineswegs angebracht gewesen zu sein schien, verfehlte jedoch ihr Ziel. Sie fu¨hrte zu schweren Gewissensa¨ngsten, zu Rechtsunsicherheit 52 Vgl. Alban Haas, Das Interdikt nach geltendem Recht mit einem geschichtlichen Ueberblick (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 2), Bonn 1929 (= unv. Nachdruck Amsterdam 1963), S. 1 f. 53 Vgl. May, Interdikt (Fn. 50), S. 224, Z. 20 – 23. 54 Vgl. Richard Puza, Art. Suspension, in: LexMA, Bd. 8 (1997), Sp. 332. 55 Dazu im Einzelnen Kober, Deposition (Fn. 9), S. 130 – 178, hier S. 130; zu den mit Deposition bestraften Vergehen seit der Fru¨hzeit der Kirche s. ebd., S. 586 – 807. 56 Vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 133 f. 57 Vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 135. 58 May, Bann (Fn. 45), S. 179, Z. 3 – 7. 59 Dazu Kober, Kirchenbann (Fn. 18), S. 59 f.

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und schließlich zu einer Missachtung der Strafwirkungen. Den entscheidenden Schritt zur dringend erforderlichen Reduzierung der Tatstrafen unternahm erst Papst Pius IX. (1846 – 1878) in der Apostolischen Konstitution „Apostolicae Sedis“ vom 12. Oktober 186960. In enger Beziehung zu den Tatstrafen standen die generellen Exkommunikationen (excommunicationes generales), die im 12. Jahrhundert aufgekommen sind. Pa¨pste, Bischo¨fe und Konzilien drohten fu¨r gewisse Straftaten allgemein die Exkommunikation an, u. a. fu¨r die Lieferung von Waffen durch Christen an Sarazenen oder gegen Ketzer. Eine Zusammenfassung dieser Exkommunikationen erfolgte in einer besonderen Bulle, der so genannten Abendmahlsbulle61. Das Dekret Gratians enthielt keinen eigenen strafrechtlichen Teil, vielmehr fanden sich Strafbestimmungen an verschiedenen Stellen. In den weiteren Teilen des spa¨ter als Corpus Iuris Canonici bezeichneten Werkes, dessen ersten Teil das Dekret Gratians bildete, war das Strafrecht nach der von Bernhard von Pavia aufgestellten Gliederungsstruktur jeweils im 5. Buch enthalten. Die Strafbestimmungen des Corpus Iuris Canonici galten zusammen mit weiteren strafrechtlichen Normen, die vom Konzil von Trient und von den Pa¨psten bzw. den neu entstehenden Kongregationen der Ro¨mischen Kurie62 erlassen worden sind, bis zum Inkrafttreten des Codex Iuris Canonici von 1917 fu¨r die gesamte ro¨misch-katholische Kirche. Bereits Peter Abaelard (1079 – 1142) 63 hat den Versuch unternommen, den Begriff „Straftat“ (crimen) na¨her zu kla¨ren64. Gratian brachte in dieser Frage keine Weiterentwicklung65. Seine Aussagen konnten sogar „eher verwirren als kla¨ren“66. Erst die Dekretisten, d. h. die Erkla¨rer des Decretum 60

Dazu unten I. 4. Dazu unten I. 4. 62 Vgl. Georg May, Kirchenrechtsquellen. I. Katholische, in: TRE, Bd. 19 (1990/2000), S. 1 – 44, hier S. 33 f.; zu den Strafbestimmungen des Corpus Iuris Canonici s. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 137 – 140. 63 Vgl. Georg Wieland, Art. Abaelard (Abailard), Peter, in: LThK3, Bd. 1 (1993), Sp. 9 f.; Reinhold Rieger, Art. Abaelard, Petrus, in: RGG4, Bd. 1 (1998), Sp. 4 f. 64 Vgl. Stephan Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. Systematisch auf Grund der handschriftlichen Quellen dargestellt (= SteT, Bd. 64), Citta` del Vaticano 1935, S. 4 – 6. 65 Ausfu¨hrlich Kuttner, Schuldlehre (Fn. 64), S. 6 – 8. 66 Kuttner, Schuldlehre (Fn. 64), S. 8. 61

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Gratiani, legten fest, dass zwar jede Straftat eine Su¨nde, nicht jedoch jede Su¨nde eine Straftat ist67. Schwere Su¨nde, a¨ußere Handlung und A¨rgernis fu¨r die Kirche kennzeichneten damals eine Straftat. Auffallend fu¨r diese Zeit ist die Bescha¨ftigung mit der Frage der Zurechenbarkeit (imputabilitas) einer Straftat und der erschwerenden bzw. mildernden Umsta¨nde. Unter Papst Innozenz III. (1198 – 1216) wurde der Begriff Beugestrafe (censura) auf die Exkommunikation, das Interdikt und die Suspension beschra¨nkt. Dadurch setzte eine deutlichere Unterscheidung zwischen Beuge- und Su¨hnestrafen ein. Die Konzentration der Regierungsgewalt in den Ha¨nden des Papstes schlug sich auch auf das kirchliche Strafrecht nieder68. So legte bereits Papst Innozenz III. (1198 – 1216) fest, dass nur der Papst die Absetzung von Bischo¨fen vornehmen ko¨nne. Auch A¨bte und andere hohe kirchliche Wu¨rdentra¨ger wurden strafrechtlich dem Papst unterstellt. Rechtliche Grundlage waren die Vormachtstellung des Papstes, aber auch Privilegien, insbesondere Schutzbriefe des Papstes, die die begu¨nstigten Personen vor der Strafverfolgung durch andere kirchliche oder weltliche Instanzen schu¨tzen sollten69. Die Strafgewalt der Bischo¨fe erfuhr nicht nur durch den Apostolischen Stuhl, sondern auch durch zahlreiche andere kirchliche Organe, wie Domkapitel, Orden und Universita¨ten, eine Einschra¨nkung70. Von einer generellen Strafvollmacht der Pfarrer konnte keine Rede sein; diese wurde ihnen sogar ausdru¨cklich abgesprochen71. Folge der Einheit der kirchlichen und staatlichen Interessen war es, dass verschiedene Straftaten, wie z. B. Ha¨resie, Verletzung kirchlicher Freiheiten, Mord, Meineid usw., von der Kirche mit der Exkommunikation, vom Staat mit der Acht oder anderen Strafen bedroht waren (kumulative Kompetenz) oder die Exkommunikation auch im weltlichen Bereich Wir-

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Vgl. Kuttner, Schuldlehre (Fn. 64), S. 8 – 22. Die Vorrangstellung des Papstes erreichte unter Papst Bonifatius VIII. ihren Ho¨hepunkt, der die Unterordnung der weltlichen Gewalt unter das Papsttum gefordert hat. Vgl. Andreas Thier, Art. Bonifatius VIII. (um 1235 – 1303), in: HRG2, Bd. 1 (2008), Sp. 646 f. 69 Vgl. Ruth Schmidt-Wiegang, Art. Schutz, -herrschaft, in: LexMA, Bd. 7 (1995), Sp. 1594 f. 70 Vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 142 f. 71 Vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 143, Fn. 97. 68

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kungen entfaltete72. Der befreite Gerichtsstand der Kleriker in Strafsachen (privilegium fori) wurde reichsgesetzlich anerkannt73, so dass die Bestrafung eines Klerikers durch ein weltliches Gericht erst nach der Entlassung aus dem Klerikerstand (Degradation) erfolgen konnte. Eine wesentliche Neuerung im kirchlichen Gerichtswesen bildeten die Sendgerichte, die im 8. Jahrhundert aus den bischo¨flichen Visitationen hervorgegangen waren74. Unter Papst Innozenz III. (1198 – 1216) ersetzte die publica fama u¨ber eine Straftat die Anklage, so dass der Richter in diesen Fa¨llen von Amtswegen die Wahrheit zu erforschen (inquirere) hatte. Der bisherige ¨ bung. In engem Zusammenhang mit dem Akkusationsprozess kam außer U neu entwickelten Inquisitionsverfahren stand die Ketzerinquisition, nicht zuletzt auch die Hexenverfolgung75. 72 Vgl. Eichmann, Acht und Bann (Fn. 45), S. 64 – 110; ders., Kirchenbann und Ko¨nigswahlrecht im Sachsenspiegel, in: Historisches Jahrbuch 31 (1910), S. 323 – 333; May, Bann (Fn. 45), S. 177 f.; s. auch Christiane Birr, Art. Bann, kirchlicher, in: HRG2, Bd. 1 (2008), Sp. 429 – 432; Katrin Kastl, Art. Bann, weltlicher, ebd., Sp. 432 – 436. 73 Vgl. Lotte Ke´ry, Art. Kleriker, in: HRG2, Bd. 2 (2012), Sp. 1890 – 1895, hier Sp. 1893; Bernhard Diestelkamp, Das privilegium fori des Klerus im Gericht des Deutschen Ko¨nigs wa¨hrend des 13. Jahrhunderts, in: Festschrift fu¨r Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag. Hrsg. von Karl Kroeschell, Sigmaringen 1986, S. 109 – 125. 74 Vgl. Hartmut Zapp, Art. Send, -gericht, in: LexMA, Bd. 7 (1995), Sp. 1747 f.; ferner auch Albert Michael Koeniger, Die Sendgerichte in Deutschland, Bd. 1 (= Vero¨ffentlichungen aus dem Kirchenhistorischen Seminar Mu¨nchen III, 2), Mu¨nchen 1907; Albert Michael Koeniger, Quellen zur Geschichte der Sendgerichte in Deutschland. Mit Unterstu¨tzung der Savignystiftung herausgegeben, Mu¨nchen 1910. 75 Dazu Henry Kamen, Art. Inquisition, in: TRE, Bd. 16 (1987/1993), S. 189 – 196; Winfried Trusen, Vom Inquisitionsverfahren zum Ketzer- und Hexenprozeß. Fragen der Abgrenzung und Beeinflussung, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat. Hrsg. von Dieter Schwab, Dieter Giesen, Joseph Listl und HansWolfgang Stra¨tz, Berlin 1989, S. 435 – 450; Rees, Gewalt (Fn. 27), S. 302 f.; ders., Die ro¨misch-katholische Kirche und das Bo¨se. Anmerkungen aus kirchenrechtlicher Perspektive, in: Forum Katholische Theologie 26 (2010), S. 24 – 49, bes. S. 27 – 30; s. auch Christian Wagnsonner, Kreuzzu¨ge, Inquisition, Hexenverbrennungen. Beispiele aus der sog. „Gewaltgeschichte des Christentums“ (2007), in: Werner Freistetter / Christian Wagnsonner (Hrsg.), Friede und Milita¨r aus christlicher Sicht I (= Institut fu¨r Religion und Frieden – Ethica Themen), Wien 2010, S. 157 – 166, bes. S. 161 – 165; Mathias Schmoeckel, Art. Inquisition, in: HRG2, Bd. 2 (2012), Sp. 1236 – 1242; Peter Segl, Art. Inquisition. II. Geschichtliche

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Aus der im 11. Jahrhundert aufkommenden Praxis des Apostolischen Stuhls, sich gewisse Su¨nden und Kirchenstrafen zur Lossprechung vorzubehalten, entwickelte sich ein so genanntes Reservationsrecht, das seit dem 12. Jahrhundert auch Bischo¨fe vermehrt in Anspruch nahmen76. Die Reservationen dienten der Strafverscha¨rfung. Die bestrafte Person konnte nicht den nahe gelegenen und generell zusta¨ndigen Kirchenoberen um den Erlass der Strafe angehen, sondern musste bei einem weit entfernten oder wenigstens schwerer erreichbaren darum ansuchen77. Fu¨r den Erlass von Strafen, die dem Apostolischen Stuhl zur Nachlassung vorbehalten waren, entstand im 13. Jahrhundert ein eigener pa¨pstlicher Gerichtshof, die Apostolische Po¨nitentiarie78. 4. Entwicklung des kirchlichen Strafrechts vom 15. bis zum 19. Jahrhundert Zunehmend versuchte der moderne Staat den Einfluss der Kirche auf das o¨ffentliche Leben zuru¨ckzudra¨ngen. Andererseits bemu¨hte sich die Kirche, den bisher erreichten Rechtsstand aufrechtzuerhalten. So wurde das kirchliche Strafrecht in der Folgezeit kaum mehr vera¨ndert. Lediglich die Tatstrafen fanden in der seitens des Staates heftig angefeindeten Abendmahlsbulle „In coena Domini“ und spa¨ter in der Apostolischen Konstitution „Apostolicae Sedis“ Papst Pius’ IX. (1846 – 1878) vom 12. Oktober 1869 eine eingehende Regelung79. Die so genannte Abendmahlsbulle war eine Sammlung der im Lauf der Geschichte aufgestellten, von selbst eintretenden und zugleich dem Papst zum Erlass vorbehaltenen BeugestraEntwicklung und kirchenrechtliche Aspekte, in: RGG4, Bd. 4 (2001), Sp. 164 – 166. 76 Vgl. Kober, Kirchenbann (Anm. 18), S. 473 – 505; Casimir J. Stadalnikas, Reservation of censures. A commentary with historical notes on the nature of the reservation of censures (= CLS, No 208), Washington D. C. 1944. 77 Nur im Fall der Todesgefahr konnte jeder Priester von jeglicher Beugestrafe lossprechen. 78 Vgl. Emil Go¨ller, Die pa¨pstliche Po¨nitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V., 2 Bde. (= Bibliothek des Kgl. Preussischen Historischen Instituts in Rom, Bd. 3 und 7), Rom 1907 und 1911. 79 Dazu Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 147 – 155. Die Bulle Papst Urbans VIII. (1623 – 1644), „In coena Domini“ nach der Konstitution „Pastoralis Romani pontificis“ vom 1. April 1627 ist abgedr. in: Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des ro¨mischen Katholizismus, Tu¨bingen 41924, n. 513, S. 369 – 371.

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fen, die in Rom jedes Jahr am Gru¨ndonnerstag verku¨ndet sowie immer wieder erga¨nzt worden ist. Aus heutiger Sicht wurde ihre Bedeutung von den Zeitgenossen „bei weitem u¨berscha¨tzt“80. Der entscheidende Schritt zur Reduzierung der Kirchenstrafen erfolgte durch Papst Pius IX. (1846 – 1878) in der Konstitution „Apostolicae Sedis“ vom 12. Oktober 186981. Auch wurde die Befugnis zum Straferlass eindeutig festgelegt82. Na¨herhin wurden vier Gruppen von Beugestrafen unterschieden, je nachdem, ob der Straferlass dem Apostolischen Stuhl in einfacher oder in besonderer Weise oder dem Bischof oder niemandem, d. h. keiner ho¨heren kirchlichen Autorita¨t, vorbehalten war83. Die Konstitution war letztlich das Ergebnis der Vorarbeiten zum Ersten Vatikanischen Konzil (1869 – 1870). Zahlreiche Bischo¨fe und einzelne Bischofskonferenzen, die seit 1830 entstanden waren84, hatten ein zeitgema¨ßes und vereinfachtes kirchliches Strafrecht gefordert85. 80 So Willibald M. Plo¨chl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 5, Wien/Mu¨nchen 1969, S. 46; s. auch Peter Leisching, Art. Abendmahlsbulle, in: LKStKR, Bd. 1 (2000), S. 4 f.; ders., Art. Abendmahlsbulle, in: LexKR (2004), Sp. 1 f.; Peter Kra¨mer, Art. Abendmahlsbulle, in: RGG4, Bd. 1 (1998), Sp. 54. 81 Pius IX., Const. „Apostolicae Sedis“ vom 12. Oktober 1869 qua ecclesiaticae censurae latae sententiae limitantur, in: Pii IX Acta, Pars I, Vol. 5, S. 55 – 72; abgedr. in: ASS 5 (1869/70), S. 305 – 331; CIC-Fontes III, n. 552, S. 24 – 31; dazu Hans Barion, Art. Apostolicae Sedis moderationi, in: RGG3, Bd. 1 (1957), Sp. 509 f. 82 s. im Einzelnen Rupert Mittermu¨ller, Ueber die Reformen der kirchlichen Censuren, in: AfkKR 26 (1871), S. 153 – 164; ferner auch Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 151 – 155. 83 Von den nicht vorbehaltenen Beugestrafen konnte jeder Priester mit Beichtvollmacht lossprechen. 84 Wilhelm Rees, Die Bischofskonferenzen – Entwicklungen, Tendenzen, Kontroversen, in: Theologia et Jus Canonicum. Festgabe fu¨r Heribert Heinemann zur Vollendung seines 70. Lebensjahres. Hrsg. von Heinrich J. F. Reinhardt, Essen 1995, S. 325 – 338; ders., Plenarkonzil und Bischofskonferenz, in: HdbKathKR3, S. 543 – 576.. 85 Zu den Wu¨nschen auf dem Ersten Vatikanischen Konzil s. Hugo Laemmer, Zur Codification des canonischen Rechts. Denkschrift, Freiburg im Breisgau 1899, ¨ berblick u¨ber die Entwicklung des kirchlichen Strafrechts S. 119 f. Einen guten U seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bietet Charles Lefebvre, Les pouvoirs dans l’E´glise, in: Laurent Chevailler / Charles Lefebvre / Rene´ Metz, Le droit et les institutions de l’E´glise catholique latine de la fin du XVIIIe sie`cle a` 1978. Organismes colle´giaux et moyens de gouvernement (= Histoire du Droit et des Institutions de l’E´glise en Occident, Tome XVII), Paris 1982, S. 189 – 299, hier S. 279 – 299.

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Vor der Promulgation des Codex Iuris Canonici von 1917 kannte das kirchliche Strafrecht keine Definition der Straftat. Grundlegend blieb, was Augustinus (354 – 430) bereits formuliert hatte: „Crimen enim est grave peccatum, accusatione et damnatione dignissimum“ (c. 1 D. 91). In diesem Sinn hatte auch die mittelalterliche Kanonistik die Straftat als eine im Rechtsbereich gelegene Untat verstanden, die nach außen in Erscheinung getreten war, und somit deutlich zwischen Straftat und Su¨nde unterschieden86. Auf eine vorausgehende Strafandrohung (sanctio canonica praevia) wurde weithin kein Bezug genommen87. Die kirchliche Strafe wurde als ein ¨ bel“ (malum) verstanden. Sie hatte vorwiegend die Besserung zum Ziel, „U aber auch die Abschreckung bzw. Pra¨vention sowie die o¨ffentliche Su¨hne88. Es wurden daher Besserungs- (poena medicinales seu censurae) und Su¨hnestrafen (poenae vindicativae) unterschieden. Hinzu kamen so genannte Zwangsbußen (Poenitentiae) 89. Wa¨hrend das germanische Strafrecht entscheidendes Gewicht auf den Erfolg einer Tat gelegt hatte, spielte fu¨r die Kirche die Frage nach der Schuld und Zurechenbarkeit eine große Rolle. Schuld konnte auf Vorsatz oder auf Fahrla¨ssigkeit beruhen90. In den von Gratian entwickelten Versuchsbegriff (cc. 6 – 9 D. 1 de poen), den die Dekretisten weiter ausgefaltet haben, fanden versta¨rkt die Ansa¨tze des weltlichen Strafrechts Eingang91.

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Vgl. oben I. 3. Vgl. Klaus Mo¨rsdorf, Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici. Eine kritische Untersuchung (= Go¨rres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland, Vero¨ffentlichungen der Sektion fu¨r Rechts- und Staatswissenschaft, H. 74), Paderborn 1937 (= unv. Nachdruck Paderborn 1967), S. 362, Anm. 7, m. a. N.; s. insgesamt Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 155 – 171. 88 Vgl. Joseph Hollweck, Die Kirchlichen Strafgesetze. Zusammengestellt und commentiert, Mainz 1899, § 21, S. 84. Der Eichsta¨tter Kanonist Joseph Hollweck hat das vor dem CIC/1917 geltende kirchliche Strafrecht nach dem Vorbild der staatlichen Strafgesetzbu¨cher in eine Form gebracht, die fu¨r den CIC/1917 grundlegend wurde. Vgl. Klaus Zeller, Der Eichsta¨tter Kanonist Joseph Hollweck – ein „extremer Papalist“?, Roma 2012, bes. S. 63 – 91 und S. 248 – 258. 89 Vgl. Christian Meurer, Die rechtliche Natur der Po¨nitenzen der katholischen Kirche in rechtshistorischer Entwicklung, in: AfkKR 49 (1883), S. 177 – 217. 90 Dazu Kuttner, Schuldlehre (Fn. 64), S. 65 – 84 und S. 185 – 247; Plo¨chl, Geschichte 5 (Fn. 80), S. 61 – 67. 91 Vgl. Kuttner, Schuldlehre (Fn. 64), S. 51 – 56; ferner Heinrich Lu¨nenborg, Der Versuch im Strafrecht des Codex Iuris Canonici, in: AfkKR 111 (1931), S. 369 – 399. 87

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Die Verha¨ngung kirchlicher Strafen war Sache der Tra¨ger kirchlicher Jurisdiktionsvollmacht. Das Konzil von Trient hatte die Stellung der Dio¨zesanbischo¨fe in ihren Dio¨zesen gesta¨rkt und ihnen alle Strafsachen in erster Instanz zugewiesen. Dadurch wurde die Strafgewalt den Archidiakonen und anderen untergeordneten Amtstra¨gern innerhalb einer Dio¨zese, denen eine solche durch Partikularrecht oder Gewohnheit zugekommen war, entzogen92. Ausgenommen von der bischo¨flichen Strafgewalt waren jene Straftaten, die von Rechts wegen dem Apostolischen Stuhl zur Ahndung vorbehalten waren, oder Fa¨lle, die der Papst an sich gezogen hatte93. Am 11. Juni 1880 ermo¨glichte die Sacra Congregatio Episcoporum et Regularium fu¨r Italien ein vereinfachtes Verfahren in Disziplinar- und Strafsachen von Klerikern94. Dieses so genannte summarische Verfahren fand als verwaltungsgerichtliches Strafverfahren Eingang in den CIC/191795. Im Sinn eines Partikularrechts beabsichtigten die Bischo¨fe des ehemaligen Preußen eine eigene „Instructio pro Borussicis Curiis Ecclesiasticis quoad modem procedendi in causis disciplinaribus et criminalibus clericorum“ zu erlassen, die aber u¨ber einen Entwurf nicht hinausgekommen ist96. 92 Vgl. Concilium Tridentinum, sess. XXIV, c. 20 de ref.; lat. / dt. in: Josef ¨ kumenischen Konzilien, Bd. 3: Konzilien der Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der O Neuzeit – Konzil von Trient (1545 – 1563), Erstes Vatikanisches Konzil (1869/70), Zweites Vatikanisches Konzil (1962 – 1965), Indices, Paderborn/Mu¨nchen/Wien/ Zu¨rich 2002, S. 772 f.; Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, Ko¨ln/Graz 41964, S. 534 f. 93 Vgl. Concilium Tridentinum, sess. XIII, c. 8 de ref.; lat. / dt. in: Wohlmuth, Dekrete (Fn. 92), S. 701; sess. XXIV, c. 5 de ref., ebd., S. 763; sess. XXIV, c. 20 de ref., ebd. S. 772 f. 94 Vgl. SC Ep et Reg, Instr. vom 11. Juni 1880 fu¨r die geistlichen Gerichte u¨ber das summarische Verfahren in Disciplinar- und Strafsachen der Geistlichen; ital. / lat. in: ASS 13 (1880), S. 324 – 336; dt. in: AfkKR 46 (1881), S. 3 – 9; Philipp Hergenro¨ther, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2., neu bearbeitete Aufl. von Joseph Hollweck, Freiburg im Breisgau 1905, S. 602 f. 95 Vgl. Klaus Mo¨rsdorf, Rechtsprechung und Verwaltung im kanonischen Recht, Freiburg im Breisgau 1941, S. 73 f. und S. 91; s. auch Philipp Hofmeister, Das summarische Prozeßverfahren im Codex Iuris Canonici, in: Pontificium Institutum Utriusque Iuris, Acta Congressus Iuridici Internationalis VII saeculo a decretalibus Gregorii IX et XIV a Codice iustiniano promulgatis, Romae 12 – 17 Novembris 1934, Vol. IV, Romae 1937, S. 433 – 467. 96 Das Trierer Offizialat hatte dazu mit Datum vom 4. Dezember 1890 ein Gutachten erstellt. Vgl. dazu Ludwig Kaas, Die geistliche Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche in Preussen in Vergangenheit und Gegenwart mit besonderer Beru¨cksichtigung des Westens der Monarchie, Bd. 2 (= KRA, H. 86/87), Stuttgart

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Wa¨hrend nach bisherigem Recht keine Person verurteilt werden durfte, wenn sie nicht der Straftat u¨berfu¨hrt worden war oder sie freiwillig eingestanden hatte, gestattete das Konzil von Trient den Ordinarien, Klerikern infolge einer geheimen Straftat außergerichtlich die Ausu¨bung der Weihe oder kirchlicher A¨mter zu untersagen97. Daraus entwickelte sich ein geheimes Disziplinarverfahren gegen Kleriker, bei dem der Bischof nach Wissen und Gewissen (ex informata conscientia) vorzugehen hatte98, das durch eine Instruktion der Propaganda Fide vom 20. Oktober 1884 eingehend geregelt wurde99. Dieses Verfahren fand Eingang in den CIC/1917, wegen gravierender Bedenken vor allem mit Blick auf den Rechtsschutz jedoch nicht mehr in den CIC/1983. Die Vera¨nderungen im Verha¨ltnis von Kirche und Staat seit dem 14. Jahrhundert, insbesondere aber seit der Reformation, hatten eine Einschra¨nkung der kirchlichen Strafgerichtsbarkeit und eine Ru¨ckfu¨hrung auf den ihr eigenen Bereich zur Folge. Der Staat bediente sich hierzu des so genannten recursus ab abusu100. Na¨herhin nahm er fu¨r sich das Recht in 1916, S. 166 f. Erst am 1. Mai 1911 erließ Bischof Karl Joseph Schulte von Paderborn eine „Gescha¨ftsanweisung fu¨r das Bischo¨fliche Offizialat zu Paderborn“, die fu¨r die kirchliche Gerichtsbarkeit der deutschen Dio¨zesen Vorbildcharakter hatte und auch eine Strafprozessordnung enthielt. Vgl. Kaas, ebd., S. 133 und S. 252. 97 Vgl. Concilium Tridentinum, sess. XIV, c. 1 de ref.; lat. / dt. in: Wohlmuth, Dekrete (Anm. 92), S. 714. 98 Vgl. Theodor Gottlob, Die Suspension ex informata conscientia. Ein Beitrag zum kirchlichen Prozeß- und Strafwesen, Limburg a. d. Lahn 1939; Kober, Suspension (Fn. 17), S. 67 – 75; Constantin Hohenlohe, Das Prozessrecht des Kodex Iuris Canonici, Wien 1921, S. 91 f. 99 SC PropFid, Instr. „Omni tempore“ vom 20. Oktober 1884 ad Episcopos et Praelatos Regulares Catholicorum Missionum supra suspensionibus, quae irrogantur ex informata conscientia, in: ASS 19 (1886/87), S. 561 – 563; abgedr. in: CICFontes VII, n. 4907, S. 509 – 511; im Einzelnen Augustin Arndt, Die Suspension „ex informata conscientia“, in: AfkKR 73 (1895), S. 141 – 170; Friedrich Wilhelm ¨ AKR 11 (1960), S. 189 – Kremzow, Die Suspension ex informata conscientia, in: O 221, bes. S. 190 – 195. 100 Vgl. Eduard Eichmann, Der recursus ab abusu nach deutschem Recht mit besonderer Beru¨cksichtigung des bayerischen, preußischen und reichsla¨ndischen Kirchenrechts. Historisch-dogmatisch dargestellt (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, H. 66), Breslau 1903 (Neudruck Aalen 1971), bes. S. 34 – 69 und S. 141 – 161; s. auch Joseph Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 7), Berlin 1978, S. 152 f.

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Anspruch, den kirchlichen Richter zur Aufhebung eines aus staatlicher Sicht ungerechten Urteils zu zwingen. Die Gesetzgebung der Aufkla¨rungszeit beseitigte den befreiten Gerichtsstand der Kleriker und ebenso das Asylrecht. Die Kirche verzichtete auf Strafen rein weltlichen Charakters101. Nur die Geldstrafe und der Freiheitsentzug in Form der Aufenthaltsbeschra¨nkung fu¨r Kleriker sind in den CIC/1917 u¨bernommen worden. 5. Auswirkungen des Ersten Vatikanischen Konzils und das Strafrecht des CIC/1917 Infolge der Auflo¨sung des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) konnte die allgemein als notwendig empfundene Reform des Kirchenrechts nicht mehr beraten werden102. Diese erfolgte erst durch das kirchliche Gesetzbuch von 1917 (CIC/1917), das Papst Benedikt XV. (1914 – 1922) mit der Apostolischen Konstitution „Providentissima mater ecclesia“ vom 27. Mai 1917 promulgiert hatte103. Der CIC/1917, der am 19. Ma¨rz 1918 in Kraft getreten war, enthielt das materielle Strafrecht, d. h. die Normen u¨ber die Straftat im Allgemeinen, die Strafmittel und die einzelnen Strafandrohungen, im 5. Buch „De delictis et poenis“ (cc. 2195 – 2414 CIC/1917), das formelle Strafrecht, d. h. die Normen u¨ber die Strafverha¨ngung bzw. -feststellung, im 4. Buch „De processibus“ (cc. 1552 – 2194 CIC/1917). Im Unterschied zum deutschen Strafgesetzbuch wurde in den c. 2195 § 1 CIC/1917 eine Definition der Straftat aufgenommen104. Der kirchliche Gesetzgeber unterschied rein kirchliche (delicta mere ecclesiastica), rein staatliche (delicta mere civilia) und sogenannte gemischte 101

Zu den Strafen der damaligen Zeit s. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 166 – 168. Zur Forderung auf dem Ersten Vatikanischen Konzil nach einem umfassenden kirchlichen Gesetzbuch vgl. Anton Scharnagl, Das neue kirchliche Gesetzbuch. Eine Einfu¨hrung mit besonderer Beru¨cksichtigung des bayerischen Rechtes, Mu¨nchen/Regensburg 21918, S. 6 f.; Ulrich Stutz, Der Geist des Codex iuris canonici. Eine Einfu¨hrung in das auf Geheiss Papst Pius X. verfasste und von Papst Benedikt XV. erlassene Gesetzbuch der katholischen Kirche (= KRA, H. 92/93), Stuttgart 1918 (= unver. Nachdruck Amsterdam 1961), bes. S. 153 f.; s. auch May, Kirchenrechtsquellen (Fn. 62), S. 34 f. 103 Benedikt XV., Ap. Konst. „Providentissima mater ecclesia“ vom 27. Mai 1917 u¨ber die Promulgation des Codex iuris canonici, in: AAS 9 (1917), Pars II, S. 6 – 8; abgedr. in: AfkKR 98 (1918), S. 87 – 90; die Urfassung des CIC/1917 s. in: AAS 9 (1917), Pars II, S. 11 – 521. 104 Dazu Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 175 f. 102

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Straftaten (delicta mixta). Die Bestrafung rein kirchlicher Straftaten oblag ausschließlich der Kirche. Sie beanspruchte jedoch nach wie vor das Recht, sich der Vollstreckungshilfe durch den Staat (brachium saeculare) zu bedienen (vgl. c. 2198 CIC/1917). Die Bestrafung rein staatlicher Straftaten war dem Staat u¨berlassen, vorbehaltlich des befreiten Gerichtsstands der Kleriker in Strafsachen (vgl. c. 120 §§ 1 – 3 CIC/1917; c. 1553 § 1, 38 CIC/ 1917), der jedoch in Deutschland aufgehoben war. Fu¨r Straftaten, die sowohl Gesetze des Staates als auch der Kirche verletzt haben, wie z. B. Meineid (vgl. c. 2323 CIC/1917; §§ 154 – 156 StGB), Sto¨rung der Totenruhe (vgl. c. 2328 CIC/1917; § 168 StGB) und die Doppelehe (vgl. c. 2356 CIC/1917; § 171 StGB), waren sowohl die Kirche als auch der Staat zusta¨ndig (vgl. c. 2198 CIC/1917). Fu¨r den Fall, dass bei Laien eine hinreichende Bestrafung durch den Staat erfolgt war, konnte der Ordinarius, d. h. in der Regel der Dio¨zesanbischof, von einer kirchlichen Strafverha¨ngung absehen (vgl. c. 1933 § 3 CIC/1917; c. 2223 § 3, 38 CIC/1917). War ein Laie im Fall eines schweren gemischten Vergehens vom Staat verurteilt worden, wie z. B. wegen Mordes, Ko¨rperverletzung usw., so verlor er automatisch die kirchlichen Ehrenrechte und jede kirchliche Anstellung (vgl. c. 2354 §§ 1 und 2 CIC/1917; s. auch c. 2357 § 1 CIC/1917 bez. schwerer Sittlichkeitsvergehen, wie sexuellem Missbrauch). Die Unterscheidung in Beuge- und Su¨hnestrafen wurde beibehalten, ebenso wurde auch an den Tatstrafen festgehalten. Die Verha¨ngung von Strafen sollte auf dem Gerichtsweg erfolgen (c. 1933 §§ 1 und 2 CIC/1917). Sie geschah jedoch, sofern die Kirche u¨berhaupt Strafen verha¨ngt hat, eher auf dem Verwaltungsweg (c. 1933 § 4 CIC/1917). Auch die Dienstenthebung nach Wissen und Gewissen (vgl. cc. 2186 – 2194 CIC/1917) kam nach wie vor zur Anwendung, wenngleich sie in Folge des mangelhaften Rechtsschutzes zunehmend auf Kritik stieß. Der eingeschra¨nkte Rechtsschutz wurde auch bei der Strafverha¨ngung auf dem Verwaltungsweg beklagt. Insgesamt gesehen konnte sich das Strafrecht des CIC/1917 durchaus mit den Strafgesetzbu¨chern einzelner Staat messen105. Große innerkirchliche Vera¨nderungen durch das Zweite Vatikanische Konzil fu¨hrten zur Kritik am kirchlichen Strafrecht106. In der Praxis war 105 Vgl. die Wu¨rdigung des Strafrechts des CIC/1917 durch Rene´ Metz, Das Strafrecht im Codex Iuris Canonici von 1917, in: Concilium 11 (1975), S. 460 – 465; des CIC/1917 im Ganzen durch May, Kirchenrechtsquellen (Anm. 62), S. 37 f.; s. insgesamt auch Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 172 – 323. 106 Vgl. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 318 f.

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das kirchliche Strafrecht nur noch gegen Kleriker und Ordensleute anwendbar, es verschwand jedoch aus dem Bewusstsein der Gla¨ubigen, d. h. der Laien. Joseph Listl sah einen Grund fu¨r die geringe Anwendung des kirchlichen Strafrechts auch darin, dass die Dio¨zesanbischo¨fe „unter vielen Ru¨cksichten fu¨r ihr Leitungsamt ausgewa¨hlt“ wu¨rden, „nicht jedoch unter der Ru¨cksicht, ob sie auch gute kirchliche Strafrichter sind“107. Bereits in fru¨heren Zeiten war es zur Infragestellung einer kirchlichen Strafgewalt gekommen, sei es, dass die kirchliche Strafgewalt u¨berhaupt geleugnet oder der Kirche nur kraft staatlicher Verleihung zugesprochen worden war. Verwiesen sei auf Marsilius von Padua, der in seinem „Defensor pacis“ Stellung gegen ein eigensta¨ndiges kanonisches Strafrecht bezogen hatte108. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an John Wyclif, Jan Hus sowie die Systeme des Konziliarismus, Episkopalismus und Gallikanismus, aber auch an die Infragestellung eines kirchlichen Strafrechts in der Literatur, wie sie z. B. durch Rudolph Sohm und Josef Klein erfolgt ist109. Insbesondere sah sich die Kirche im Lauf der Neuzeit veranlasst, gegenu¨ber Nationalstaaten bzw. absoluten Herrschern ihre Eigensta¨ndigkeit und ihre Befugnis zur Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zu verteidigen110. Von daher erkla¨rte der CIC/1917 die Verha¨ngung von Stra107 Joseph Listl, Die Aussagen des Codex Iuris Canonici vom 25. Januar 1983 zum Verha¨ltnis von Kirche und Staat, in: EssGespr. 19 (1985), S. 9 – 32, hier S. 28 f.; abgedr. in: ders., Kirche im freiheitlichen Staat. Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht. Hrsg. von Josef Isensee und Wolfgang Ru¨fner i. V. m. Wilhelm Rees (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 25), Berlin 1996, S. 1032 – 1058, hier S. 1054 f. 108 Vgl. Ju¨rgen Miethke, Art. Marsilius v. Padua, in: LThK3, Bd. 6 (1997), Sp. 1416 – 1419. Seine These „Quod tota ecclesia simul iuncta nullum hominem punire potest punitione coactiva, nisi concedat hoc imperator“ wurde am 23. Oktober 1327 von Papst Johannes XXII. durch die Konstitution „Licet iuxta doctrinam“ verworfen. Vgl. Johannes XXII., Konst. „Licet iuxta doctrinam“ vom 23. Oktober 1327 = DH (371991), Nr. 941 – 946, hier Nr. 945, S. 398 f., hier S. 399. 109 Dazu im einzelnen Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 43 – 50, m. w. N.; vgl. auch Reinhold Sebott, Fundamentalkanonistik. Grund und Grenzen des Kirchenrechts, Frankfurt am Main 1993; Marietherese Kleinwa¨chter, Das System des go¨ttlichen Kirchenrechts. Der Beitrag des Kanonisten Hans Barion (1899 – 1973) zur Diskussion u¨ber Grundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts (= FzK, Bd. 26), Wu¨rzburg 1996, bes. S. 273 – 333. 110 Vgl. allgemein Joseph Listl, Die Lehre der Kirche u¨ber das Verha¨ltnis von Kirche und Staat, in: HdbKathKR2, S. 1239 – 1255; ders./Alexander Hollerbach,

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fen gegen Gla¨ubige als das angeborene und eigene Recht der Kirche, das unabha¨ngig von jedweder menschlichen Autorita¨t ist (vgl. c. 2214 § 1 CIC/1917). Das Zweite Vatikanische Konzil hat bedeutsame, richtungsweisende Grundentscheidungen fu¨r die Reform des kanonischen Rechts und die Revision des CIC/1917 getroffen111, die letztlich in der neuen Ekklesiologie dieses Konzils gru¨nden. Diese Sicht sollte auch in das kirchliche Strafrecht eingehen112. Gema¨ß Leitsatz 1 der Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant113, die fu¨r die Reform des kirchlichen Gesetzbuches maßgeblich waren, sollte das geplante Gesetzbuch Rechtscharakter besitzen und nicht nur Glaubens- und Sittenregel sein bzw. pastorale Mahnungen enthalten. Gema¨ß Leitsatz 2 sollten forum internum und forum externum optimal koordiniert werden. Leitsatz 3 stellte den Dienstcharakter des kirchlichen Rechts heraus. Ausdru¨cklich betonte der fu¨r die Reform des kirchlichen Strafrechts wichtige Leitsatz 9 „De recognoscendo iure poenali“, dass der Kirche die Strafgewalt (ius coactivum) nicht abgesprochen werden ko¨nne. Er begru¨ndete in Kontinuita¨t zum CIC/1917 dieses Recht mit dem Charakter der Kirche als einer in dieser Welt existierenden Gemeinschaft. Zugleich forderte Leitsatz 9 eine Reduzierung der Strafen. Sie sollten in der Regel im a¨ußeren Bereich verha¨ngt und nachgelassen werden. Tatstrafen sollten nur fu¨r schwere Vergehen vorgesehen werden.

Grundmodelle einer mo¨glichen Zuordnung von Kirche und Staat, ebd., S. 1256 – 1268. 111 Vgl. Heribert Schmitz, Der Codex Iuris Canonici von 1983, in: HdbKathKR3, S. 70 – 100, hier S. 72 f. 112 So Klaus Mo¨rsdorf, Grundfragen einer Reform des kanonischen Rechtes, in: MThZ 15 (1964), S. 1 – 16, hier S. 3. 113 Vgl. PCR, Principia quae Codicis Iuris Canonici recognitionem dirigant, in: Communicationes 1 (1969), S. 77 – 85; abgedr. in: Ochoa Leges III, Nr. 3601, Sp. 5253 – 5257; zu den Leitsa¨tzen und den einzelnen strafrechtlichen Entwu¨rfen im Rahmen der CIC-Reform s. Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 324 – 362, m. w. N.; ders., Ganz und gar in die kanonistische Sprache u¨bersetzt. Zur Umsetzung der Lehren und Weisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 und noch zu leistende Aufgaben, in: Roman Siebenrock (Hrsg.), 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil (im Erscheinen).

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II. Entwicklung der kirchlichen Strafbestimmungen in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bis heute 1. Strafbestimmungen des CIC/1983 Mit der Apostolischen Konstitution „Sacrae disciplinae leges“ vom 25. Januar 1983 hat Papst Johannes Paul II. (1978 – 2005) den Codex Iuris Canonici promulgiert114. Er ist am 27. November 1983 in Kraft getreten. Der kirchliche Gesetzgeber ist Vorstellungen, die fu¨r eine Abschaffung des kirchlichen Strafrechts insgesamt oder fu¨r eine Umwandlung in eine disziplina¨re Kirchenordnung pla¨diert hatten115, nicht gefolgt. Er betont vielmehr – a¨hnlich wie bereits im Jahr 1917 – gleich zu Beginn der kirchlichen Strafbestimmungen das der Kirche angeborene und eigene Recht (ius nativum et proprium), Gla¨ubige, die straffa¨llig geworden sind (christifideles delinquentes), „durch Strafmittel (poenalibus sanctionibus) zurechtzuweisen“ (c. 1311 CIC/1983). Versta¨rkt wurde eine theologische Grundlegung nicht nur des Kirchenrechts im Allgemeinen, sondern auch des kirchlichen Strafrechts gefordert116. Wie Aymans / Mo¨rsdorf / Mu¨ller betonen, kann „die Legitimita¨t von Sanktionen in der Kirche […] nicht aus einem Rechtsdenken weltlicher, genauer gesagt: staatlicher Provenienz be¨ berpru¨fung der theologigru¨ndet werden. Notwendig ist vielmehr eine U schen, genauer gesagt der ekklesiologischen Daten“117. Zugleich weisen die Autoren darauf hin, dass es „trotz aller A¨hnlichkeiten […] einige auf114 Der authentische Text ist vero¨ffentlicht in: AAS 75 (1983), Pars II (Separatfaszikel), datiert vom 25. Januar 1983, XXX und 317 S. 115 Vgl. Peter Huizing, Die Kirchenordnung, in: MySal 4/2 (1973), S. 156 – 182, hier S. 178; ders., Delikte und Strafen, in: Concilium 3 (1967), S. 657 – 664, hier S. 658. Eine Auflistung der Ressentiments gegen kirchliche Strafen bei Alphonse Borras, L’E´glise peut-elle encore punir?, in: NRTh 113 (1991), S. 205 – 218, hier S. 207 – 210. 116 Vgl. Hubert Mu¨ller, Communio als kirchenrechtliches Prinzip im Codex Iuris Canonici von 1983?, in: Im Gespra¨ch mit dem dreieinigen Gott. Elemente einer trinitarischen Theologie. Festschrift zum 65. Geburtstag von Wilhelm Breuning dargebracht von Kollegen, Freunden und Schu¨lern. Hrsg. von Michael Bo¨hnke und Hanspeter Heinz, Du¨sseldorf 1985, S. 481 – 498, hier S. 489 f. 117 Aymans/Mo¨rsdorf/Mu¨ller, KanR IV, S. 80; s. auch Dagmar Schaaf, Der kirchliche Strafanspruch. Die Begru¨ndung der kirchlichen Strafgewalt vom Ius Publicum Ecclesiasticum bis zum CIC/1983 (= AIC, Bd. 43), Frankfurt a. M. u. a. 2007.

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schlußreiche Unterschiede zwischen dem Canon des kirchlichen Gesetzbuchs von 1917 und jenem des CIC/1983 (gibt): Es wird nicht mehr betont, daß die Kirche bei der Ausu¨bung ihrer Sanktionsgewalt von jeder menschlichen Gewalt unabha¨ngig ist; es ist nicht mehr die Rede von den Untergebenen der Kirche, sondern von den Christgla¨ubigen; es wird nicht mehr gesagt, daß die Strafmittel sowohl geistlicher als auch weltlicher Art sein ko¨nnen. Auf diese Weise wird der in c. 1311 CIC/1983 aufrechterhaltene Sanktionsanspruch der Kirche nicht mehr so sehr in erster Linie der staatlichen Strafgewalt nachgebildet und dem Staat gegenu¨ber formuliert“118. Auch die in c. 2198 CIC/1917 enthaltene Bestimmung, bei der Verfolgung von kirchlichen Straftaten staatliche Hilfe (brachium saeculare) in Anspruch nehmen zu ko¨nnen119, ist im CIC/1983 fallengelassen worden. Manche Autoren hatten in dieser Forderung die Mo¨glichkeit „der Ausu¨bung eines a¨ußeren Glaubenszwanges“ gesehen120. Weggefallen ist auch die Strafandrohung fu¨r den Fall, dass Katholiken an staatliche Instanzen appellieren in der Absicht, mit deren Hilfe Urteile kirchlicher Gerichte aufzuheben oder die Ta¨tigkeit der Bischo¨fe und anderer kirchlicher Amtstra¨ger zu behindern (recursus ab abusu). Ebenso kommen Strafen rein weltlicher Art, wie sie in der Zeit des Fru¨h- und Hochmittelalters nicht selten von kirchlichen Gerichten verha¨ngt worden sind, heute nicht mehr in Betracht121. Generell erhebt der kirchliche Gesetzgeber von 1983 einen Strafanspruch nur gegenu¨ber Gla¨ubigen, die straffa¨llig geworden sind (christifideles delinquentes). Gla¨ubige sind jene, die in der katholischen Kirche getauft 118 Aymans/Mo¨rsdorf/Mu¨ller, KanR IV, S. 90; s. auch Ludger Mu¨ller, Communio-Ekklesiologie und Societas-perfecta-Lehre: zwei Quellen des kirchlichen Verfassungsrechts?, in: Sabine Demel/Ludger Mu¨ller (Hrsg.), Kro¨nung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, Trier 2007, S. 265 – 293, hier S. 279 – 282. 119 Vgl. im einzelnen Richard A. Strigl, Kirchlicher Anspruch auf das brachium saeculare heute. Erwa¨gungen zu einem staatskirchenrechtlichen Problem, in: Ius sacrum. Klaus Mo¨rsdorf zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Audomar Scheuermann und Georg May, Mu¨nchen, Paderborn, Wien 1969, S. 817 – 835; Wilhelm Rees, Art. Brachium saeculare, in: LThK3, Bd. 2 (1994), Sp. 625; ders., Art. Brachium saeculare, in: LexKR (2004), Sp. 133 f. 120 Vgl. Peter Kra¨mer, Religionsfreiheit in der Kirche. Das Recht auf religio¨se Freiheit in der kirchlichen Rechtsordnung (= Canonistica, Bd. 5), Trier 1981, S. 16 f. 121 Vgl. Rees, Strafrecht in der Kirche (Fn. 5), S. 247.

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oder in sie aufgenommen worden sind (vgl. c. 11 CIC/1983) 122. Insgesamt gesehen liegt dem kirchlichen Strafrecht die Auffassung zu Grunde, „daß jeder Gla¨ubige einen Anspruch darauf hat, auch im Fall seines vo¨lligen Versagens frei zu bleiben von kirchlichen Zwangsmitteln, die dem Geist des Evangeliums widersprechen“123. Festgehalten wird an den drei traditionellen Beugestrafen, und zwar der Exkommunikation124, dem Interdikt und der Suspension. Anstelle der in den cc. 2291 und 2298 CIC/1917 aufgeza¨hlten 23 Su¨hnestrafen finden sich in c. 1336 CIC/1983 nur mehr fu¨nf. Die geplante Strafrechtsreform wird jedoch wieder weitere aufnehmen. Das Strafrecht des CIC/1983 ist durch einen weiten Ermessensspielraum des Bischofs bzw. des kirchlichen Richters bei der Strafverha¨ngung gekennzeichnet. Weil damit fu¨r den Bischof und den Richter zugleich eine „odiose Last“ verbunden ist, meldete Winfried Aymans bereits kurz nach der Promulgation des CIC/1983 erhebliche Zweifel an, „ob diesem Teil des Gesetzbuches eine praktikable Zukunft beschert ist“125. Letztlich empfiehlt der kirchliche Gesetzgeber den Ordinarien, nur dann Strafen zu verha¨ngen, wenn sie erkannt haben, „daß weder durch bru¨derliche Ermahnung noch 122

Can. 12 CIC/1917 war davon ausgegangen, dass rein kirchliche Gesetze alle Glieder der Kirche, d. h. alle Getauften mit Einschluss der nichtkatholischen Christen, verpflichten, sofern fu¨r Nichtkatholiken nicht ausdru¨ckliche Ausnahmen bestanden, wie z. B. bezu¨glich der Beachtung der kirchlichen Eheschließungsform (vgl. c. 1099 § 2 CIC/1917). Getaufte Nichtkatholiken wurden weithin als Ha¨retiker gesehen, die der Strafe der Exkommunikation unterlagen und daher keine Rechte in der katholischen Kirche ausu¨ben durften. S. insgesamt Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 363 – 414. 123 Vgl. Peter Kra¨mer, Menschenrechte – Christenrechte. Das neue Kirchenrecht auf dem Pru¨fstand, in: Ministerium Iustitiae. Festschrift fu¨r Heribert Heinemann zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Hrsg. von Andre´ Gabriels und Heinrich J. F. Reinhardt, Essen 1985, S. 169 – 177, hier S. 172; s. auch Ansgar Grochtmann, Justitiabilita¨t der Gewissensfreiheit. Rechtsvergleichende Analyse zur kirchlichen Strafverha¨ngung und zum Schutz des forum internum im Vo¨lkerrecht (= AIC, Bd. 47), Frankfurt am Main u. a. 2009. 124 Ausfu¨hrlich Alphonse Borras, L’excommunication dans le nouveau code de droit canonique. Essai de de´finition, Paris 1987, S. 137 – 209; s. auch Wilhelm Rees, Art. Exkommunikation, in: LThK3, Bd. 3 (1995), Sp. 1119 f.; ders., Art. Exkommunikation, in: LexKR (2004), Sp. 277 f. 125 Winfried Aymans, Einfu¨hrung, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Einfu¨hrung in das neue Gesetzbuch der lateinischen Kirche (= Arbeitshilfen 31), Bonn 1983, S. 7 – 28, hier S. 27; ders., Einfu¨hrung in das neue Gesetzbuch der lateinischen Kirche, in: Theologisches Jahrbuch 1984, Leipzig 1984, S. 275 – 276, hier 275.

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durch Verweis noch durch andere Wege des pastoralen Bemu¨hens ein A¨rgernis hinreichend behoben, die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Ta¨ter gebessert werden kann“ (c. 1341 CIC/1983). „Nicht der Strafanspruch der Kirche steht“ daher, wie Klaus Lu¨dicke betont, „im Vordergrund, sondern die Frage nach der wirklichen Notwendigkeit, u¨berhaupt zu strafen, und gegebenenfalls die Pru¨fung, wie weit bei der Verha¨ngung von Strafen gegangen werden muß“126. Der kirchliche Gesetzgeber anerkennt in c. 1321 §§ 1 und 2 CIC/1983 den Grundsatz „nulla poena sine lege“, der dem Rechtsdenken der Aufkla¨rung entstammt und erstmals in c. 2195 § 1 CIC/1917 seinen Niederschlag gefunden hat (vgl. auch § 103 Abs. 2 GG; § 1 Abs. 1 OeStGB; Art. 7 Abs. 1 EMRK) 127. Zugleich ha¨lt er im Sinn des Rechtsschutzes des einzelnen Christgla¨ubigen fest, dass kanonische Strafen „nur nach Maßgabe des Gesetzes“ verha¨ngt werden du¨rfen (vgl. c. 221 § 3 CIC/ 1983). Das kirchliche Strafrecht weiß sich somit dem Legalita¨tsprinzip verpflichtet. Wie c. 2222 § 1 CIC/1917 ermo¨glicht jedoch auch c. 1399 CIC/ 1983 – außer in den Fa¨llen, die im kirchlichen Gesetzbuch oder in anderen kirchlichen Gesetzen geregelt sind – eine Bestrafung fu¨r a¨ußerlich erkennbare Verletzungen eines go¨ttlichen oder kirchlichen Gesetzes auch dann, „wenn die besondere Schwere der Rechtsverletzung eine Bestrafung fordert und die Notwendigkeit dra¨ngt, A¨rgernissen zuvorzukommen oder sie zu beheben“128. Die Forderung nach einer gerechten Beurteilung ist unbe¨ berblick vor 1341, Rdnr. 2 Klaus Lu¨dicke, Kommentar, in: MK CIC, U (Stand November 1993); s. auch ders., ebd., c. 1341 (Stand November 1993). 127 Zur historischen Entwicklung vgl. Hans-Ludwig Schreiber, Art. Nulla poena sine lege, in: HRG, Bd. 3 (1984), Sp. 1104 – 1111; Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz. Einfu¨hrung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poene sine lege“, Berlin/New York 1983. 128 Kritisch zu der dem heutigen Rechtsempfinden nicht leicht versta¨ndlichen Allgemeinen Norm: Rene´ Pahud de Mortanges, Zwischen Vergebung und Vergeltung. Eine Analyse des kirchlichen Straf- und Disziplinarrechts (= Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft, 3. Folge, Bd. 23), Baden-Baden 1992, S. 180 – 182; Bruno Primetshofer, Vom Geist des Codex Iuris Canonici 1983, in: Ecclesia peregrinans. Josef Lenzenweger zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Karl Amon, Bruno Primetshofer, Karl Rehberger, Gerhard Winkler und Rudolf Zinnhobler, Wien 1986, S. 405 – 417, hier S. 416; abgedr. in: ders., Ars boni et aequi. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Josef Kremsmair und Helmuth Pree (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 44), Berlin 1997, S. 205 – 224, hier S. 222 – 224; Klaus Lu¨dicke, Kommentar, in: MK CIC, c. 1399 (Stand November 1993); Thomas J. Green, Penal Law: A Review of Selected Themes, in: Jurist 50 126

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streitbar. Die kanonische Billigkeit verlangt jedoch, dass im Fall eines schwerwiegenden A¨rgernisses eine Bestrafung nicht ausgeschlossen ist, weil eine entsprechende Strafandrohung fehlt129. Jeder Schein von Willku¨r u. a. muss jedoch ausgeschlossen sein. Zwar geht der kirchliche Gesetzgeber davon aus, dass die Strafe grundsa¨tzlich Urteilsstrafe ist, d. h. in einem geregelten Verfahren verha¨ngt wird. Im Zug der Vorarbeiten fu¨r den CIC/ 1983 hielt die Codex-Reformkommission jedoch daran fest, dass auf Tatstrafen (poenae latae sententiae), d. h. auf Strafen, die mit der Begehung der Tat von selbst eintreten, im kirchlichen Gesetzbuch nicht verzichtet werden ko¨nne130. Allerdings wurden die diesbezu¨glichen Straftatbesta¨nde gegenu¨ber dem CIC/1917 auf 12 reduziert. Auch hat sich der Apostolische Stuhl nur noch in 5 Fa¨llen die Lossprechung vorbehalten131. Trotz nach wie (1990), S. 221 – 256, hier S. 244 – 247; ders., Book VI: Sanctions in the Church (cc. 1311 – 1399), in: New Commentary on the Code of Canon Law. Commissioned by The Canon Law Society of America. Hrsg. von John P. Beal, James A. Coriden und Thomas J. Green, New York, Mahwah 2000, S. 1527 – 1604, hier S. 1604. 129 Vgl. bereits Georg May, Das geistliche Wesen des kanonischen Rechts, in: AfkKR 130 (1961), S. 1 – 30, hier S. 22 f.; s. auch Wilhelm Rees, Bestrafung ohne Strafgesetz. Die strafrechtliche Generalklausel des c. 1399 des Codex Iuris Canonici, in: Iuri Canonico Promovendo. Festschrift fu¨r Heribert Schmitz zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Winfried Aymans und Karl-Theodor Geringer unter Mitwirkung von Peter Kra¨mer und Ilona Riedel-Spangenberger, Regensburg 1994, S. 373 – 394; Bernd Eicholt, Geltung und Durchbrechungen des Grundsatzes „Nullum crimen nulla poena sine lege“ im kanonischen Recht, insbesondere in c. 1399 CIC/1983 (= AIC, Bd. 39), Frankfurt a. M. u. a. 2006, bes. S. 147 – 176; ferner auch Christoph Becker, Art. Billigkeit, in: HRG2, Bd. 1 (2008), Sp. 587 – 592, bes. Sp. 590; Hans-Ju¨rgen Becker, Art. Aequitas, in: LexMA, Bd. 1 (1980), Sp. 184 f.; Pier G. Caron, Art. Aequitas canonica, ebd., Sp. 185 f. 130 Vgl. Communicationes 8 (1976), S. 170 f.; dazu Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 102 – 106. Reinhold Sebott, Das kirchliche Strafrecht. Kommentar zu den Kanones 1311 – 1399 des Codex Iuris Canonici, Frankfurt am Main 1992, S. 32, Fn. 14, ist der Auffassung, dass im Fall der Abschaffung der Tatstrafe wieder der Vorbehalt von Su¨nden eingefu¨hrt werden mu¨sste. S. auch Sabine Demel, Tatstrafe contra Spruchstrafe? Ein Vergleich des CIC/1983 mit dem CCEO/1990, in: AfkKR 165 (1996), S. 95 – 115. 131 Im CCEO nur teilweise vorbehalten, jedoch mit der großen Exkommunikation belegt: die Entehrung der eucharistischen Gestalten (c. 1367 CIC/1983; vgl. c. 1442 CCEO), die Anwendung physischer Gewalt gegen den Papst (c. 1370 § 1 CIC/1983; Vorbehalt: c. 1445 § 1 CCEO), die Lossprechung eines Mitschuldigen (c. 1378 § 1 CIC/1983; vgl. c. 1457 CCEO), die Bischofsweihe ohne pa¨pstlichen Auftrag (c. 1382 CIC/1983; vgl. c. 1459 § 1 CCEO) und die direkte Verletzung des Beichtgeheimnisses durch den Beichtvater (c. 1388 § 1 CIC/1983; vgl. c. 1456

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vor bestehender Bedenken gegen diese der ro¨misch-katholischen Kirche eigentu¨mliche Strafform bleibt die Regelung der Tatstrafe durch die geplante Strafrechtsreform unberu¨hrt. Im Unterschied zu c. 2195 § 1 CIC/1917 entha¨lt der CIC/1983 keine Definition der Straftat. Er wird jedoch dem Schuldprinzip besser gerecht als sein Vorga¨nger, da er von den unterschiedlichen Formen des Interdikts, die im Lauf der Geschichte entstanden sind, nur noch das perso¨nliche Interdikt aufrecht erha¨lt und eine Reihe von Schuldausschließungs- und Schuldminderungsgru¨nden kennt. Jedoch ist auch eine Strafverscha¨rfung mo¨glich fu¨r den Fall, dass es sich beim Strafta¨ter um ho¨her stehende Personen bzw. Fu¨hrungskra¨fte in der Kirche bzw. Amtsmissbrauch handelt132. Der CIC/1983 sieht in der Regel nur die Bestrafung von vorsa¨tzlich begangenen Straftaten vor. Die Strafbarkeit fahrla¨ssig begangener Taten muss im Gesetz oder Verwaltungsbefehl eigens erwa¨hnt werden (vgl. c. 1321 § 2 CIC/1983). Dadurch unterscheidet sich das kirchliche Strafrecht wesentlich vom weltlichen, da hier gerade Fahrla¨ssigkeitsdelikte gegenu¨ber Vorsatzdelikten zunehmend an Bedeutung gewonnen haben133. Auch findet sich im CIC/1983 keine Vorsatzvermutung mehr (vgl. c. 2200 § 2 CIC/ 1917: „dolus praesumitur“), wodurch der angeklagten Person der Nachweis der Unschuld u¨bertragen wurde. Es wird jedoch die Zurechenbarkeit vermutet (vgl. c. 1321 § 3 CIC/1983). Somit besteht ein grundsa¨tzlicher Unterschied zum staatlichen Strafrecht und der international anerkannten

§ 1 CCEO). Vgl. dazu im Einzelnen Wilhelm Rees, Einzelne Straftaten, in: HdbKathKR3, S. 1615 – 1643; ders., Unterschiedliche Strafen in der einen katholischen Kirche? Ein Vergleich zwischen CCEO und CIC, in: Ius Canonicum in Oriente et Occidente. Festschrift fu¨r Carl Gerold Fu¨rst zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Hartmut Zapp, Andreas Weiß und Stefan Korta (= AIC, Bd. 25), Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 939 – 958, hier S. 947 f. Die noch im CIC/1917 getroffene Unterscheidung des Vorbehalts in einfacher (simpliciter), in besonderer (speciali modo) und in ganz besonderer Weise (specialissimo modo) wurde nicht aufrechterhalten. Vgl. oben I. 4. 132 Kritisch hierzu Klaus Lu¨dicke, Kommentar, in: MK CIC, c. 1326, Rdnr. 10 (Stand November 1992); zum Strafta¨ter s. auch Wilhelm Rees, Straftat und Strafe, in: HdbKathKR3, S. 1591 – 1614, hier S. 1594 – 1598. 133 So ausdru¨cklich Raimund Sagmeister, Das neue kirchliche Strafrecht und der Schutz des Lebens, in: Recht im Dienste des Menschen. Eine Festgabe. Hugo Schwendenwein zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Klaus Lu¨dicke, Hans Paarhammer und Dieter A. Binder, Graz/Wien/Ko¨ln 1986, S. 493 – 516, hier S. 501, unter Hinweis auf das deutsche und o¨sterreichische Strafrecht.

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Unschuldsvermutung (vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK) 134. Der kirchliche Gesetzgeber von 1983 ha¨lt an den beiden Wegen der Strafverha¨ngung fest, die im Lauf der Geschichte entstanden sind, dem Gerichts- und dem Verwaltungsweg. Can. 1342 CIC/1983 sieht den Strafprozess als den ordentlichen Weg der Strafverha¨ngung bzw. -feststellung vor. Bedenklich erscheint jedoch, dass gema¨ß c. 1342 § 1 CIC/1983 bereits „bei Vorliegen eines gerechten Grundes“ die Entscheidung fu¨r den Verwaltungsweg getroffen werden kann135. Im Unterschied zum staatlichen Strafrecht, das kontinuierlich neue Straftatbesta¨nde einfu¨hrt, hat der kirchliche Gesetzgeber von 1983 den besonderen Teil des Strafrechts von 101 Kanones im CIC/1917 auf 36 Kanones im CIC/1983 gestrafft136. Diese Straffung des bisherigen Strafrechts hat jedoch zu Verallgemeinerungen gefu¨hrt, was die Anwendung der Normen in der Praxis nicht immer erleichtert hat. Dies gilt auch mit Blick darauf, dass der kirchliche Gesetzgeber nicht selten eine gerechte Strafe (iusta poena) und damit eine unbestimmte Strafe androht. So u¨berrascht es nicht, dass die gegenwa¨rtig geltenden Strafbestimmungen des CIC/1983 in der Literatur keine ungeteilte Zustimmung erfahren. Na¨herhin hat bereits Georg May darauf hingewiesen, dass das kirchliche Strafrecht nur noch ein „Schatten seiner selbst“ ist137. Fu¨r Hans Paarhammer bleibt „das unbefriedigende Gefu¨hl“, dass es sich beim Strafrecht des CIC/1983 „nur um eine Zusammenstutzung des bisherigen Normenkomplexes handelt, nicht um ein wirklich neues Konzept, das aufbaut auf dem wegweisenden Kirchenbild des II. Vatikanischen Konzils und auf den tatsa¨chlichen Gegebenheiten des kirchlichen Lebens und kirchlichen Dienstes“138. So sah sich die Kirche veranlasst, neue Straftatbe-

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Vgl. Helmuth Pree, Imputabilitas – Erwa¨gungen zum Schuldbegriff des ka¨ AKR 38 (1989), S. 226 – 243, hier S. 238 f. nonischen Strafrechts, in: O 135 Vgl. Knut Walf, Einfu¨hrung in das neue Kirchenrecht (= Arbeits- und Studienbu¨cher Theologie), Zu¨rich/Einsiedeln/Ko¨ln 1984, S. 238. 136 Vgl. im Einzelnen Rees, Strafgewalt (Fn. 1), S. 424 – 489; ders., Einzelne Straften (Fn. 131). 137 Georg May, Kritische Bemerkungen zu dem neuen Codex Iuris Canonici, in: Theologisches – Beilage der „Offerten-Zeitung fu¨r die katholische Geistlichkeit Deutschlands“ 36 (1983), Nr. 6 – Nr. 158 / Juni 1983, Sp. 5240 – 5250, hier Sp. 5249. 138 Hans Paarhammer, Das spezielle Strafrecht des CIC, in: Lu¨dicke/Paarhammer/Binder, Festgabe Schwendenwein (60) (Fn. 133), S. 403 – 466, hier S. 404.

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sta¨nde einzufu¨hren, vor allem mit Blick auf schwerwiegendere Vergehen, sowie ihr Strafrecht erneut zu u¨berdenken. 2. Die delicta graviora Versta¨rkt sind in den letzten Jahren Fa¨lle sexuellen Missbrauchs in die ¨ ffentlichkeit gedrungen. Sie haben zu großem Entsetzen sowohl in der O Gesellschaft als auch in der Kirche gefu¨hrt. Wenngleich die katholische Kirche sexuellen Missbrauch Minderja¨hriger durch Kleriker seit fru¨hester Zeit mit Strafen bedroht hat (vgl. vor allem auch c. 2359 § 2 CIC/1917; c. 1395 § 2 CIC/1983; Normae2001), kamen diese in den zuru¨ckliegenden Jahren nicht immer zur Anwendung. Mit den Normen der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre vom 21. Mai 2010 (Normae2010) haben die so genannten delicta graviora (schwerwiegendere Straftaten), zu denen auch der sexuelle Missbrauch Minderja¨hriger durch Kleriker za¨hlt, eine Neuordnung erfahren139. Dieser Schritt der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre ist letztendlich im Zusammenhang mit erneuten Fa¨llen sexuellen Missbrauchs von Minderja¨hrigen durch Kleriker und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen Teilen der Welt, aber auch im europa¨ischen und vor allem im deutschsprachigen Raum erfolgt140. 139 Vgl. Kongregation fu¨r die Glaubenslehre, Normae de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010, in: AAS 102 (2010), S. 419 – 430; dt.: http://www.vatican.va/re sources/resources_norme_ge.html (eingesehen 04. 03. 2017); ferner die Beifu¨gungen: Rescriptum ex Audientia vom 21. Mai 2010, in: AAS 102 (2010), S. 419; ferner unter: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/ rc_con_cfaith_doc_20100521_rescriptum-ex-audientia_lt.html (eingesehen 04. 03. 2017); Kongregation fu¨r die Glaubenslehre, Lettera ai Vescovi della Chiesa Cattolica e agli altri Ordinari e Gerarchi interessati circa le modifiche introdotte nelle Normae de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010, in: AAS 102 (2010), S. 431; dt.: Schreiben an die Bischo¨fe der katholischen Kirche und die anderen Ordinarien und Hierarchen u¨ber die Vera¨nderungen in den Normae de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010: http://www.vatican.va/resources/resources_lettera-modifiche_ ge.html (eingesehen 04. 03. 2017); Kongregation fu¨r die Glaubenslehre, Breve relazione circa le modifiche introdotte nelle Normae de gravioribus delictis riservati alla Congregazione per la Dottrina della Fede vom 21. Mai 2010, in: AAS 102 (2010), S. 432 – 434; dt.: Kurze Zusammenfassung der Vera¨nderungen in den Normae de gravioribus delictis, die der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre vorbehalten sind: http://www.vatican.va/resources/resources_rel-modifiche_ge.html (eingesehen 04. 03. 2017). 140 Vgl. Wilhelm Rees, Sexueller Missbrauch von Minderja¨hrigen durch Kleriker. Anmerkungen aus kirchenrechtlicher Sicht, in: AfkKR 172 (2003), S. 392 –

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Mit den Normae2010 wurden erstmals die entsprechenden Bestimmungen amtlich und o¨ffentlich promulgiert. Dies war fu¨r die bisher geltenden Normen, die Papst Johannes Paul II. mit dem Motu Proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ vom 30. April 2001141 „fu¨r promulgiert erkla¨rt“142 hatte, nicht geschehen. Vielmehr konnten diese Normen von 2001 (Normae2001) 143 nur aus dem genannten, in den Acta Apostolicae Sedis publizierten Motu Proprio und einem ebenso darin vero¨ffentlichten Brief der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre an alle Bischo¨fe vom 18. Mai ¨ bergriffe durch Kleriker. Die Rechte 426, bes. S. 393 – 397; s. auch ders., Sexuelle U von Opfern und Ta¨tern gema¨ß dem Strafrecht der ro¨misch-katholischen Kirche und neuere Entwicklungen, in: Adrian Loretan (Hrsg.), Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte. Religionsrechtliche Studien. Teil 2 (= Edition NZN bei TVZ), Zu¨rich 2011, S. 287 – 330; ders., Zur Aktualita¨t des kirchlichen Strafrechts. ¨ bergriffe durch Kleriker, Kirchenaustritt und Priesterbruderschaft St. Sexuelle U Pius X. – mit einem Blick auf den actus formalis, in: o¨arr 58 (2011), S. 156 – 191, bes. S. 156 – 170; ders., Zur Novellierung des kirchlichen Strafrechts im Blick auf sexuellen Missbruch einer minderja¨hrigen Person durch Kleriker und andere schwerwiegende Straftaten gegen die Sitten. Gesamtkirchliches Recht und Maßnahmen einzelner Bischofskonferenzen, in AfkKR 180 (2011), S. 466 – 513; Michael Mitterhofer, Der Umgang mit Straftaten in der katholischen Kirche. Anmerkungen aus der Sicht des kanonischen Rechts, in: Jo¨rg Ernesti/Ulrich Festill/Martin M. Lintner (Hrsg.), Heilige Kirche – Su¨ndige Kirche. Chiesa santa – Chiesa di peccatori (= Brixner Theologisches Jahrbuch – Annuario Teologico Bressanone, Bd. 1), Brixen/Bressanone und Innsbruck 2011, S. 93 – 112, bes. S. 102 – 105; Johann J. Reißmeier, Sexueller Missbrauch im kirchlichen Strafrecht. Verfahren – Zusta¨ndigkeiten – Strafen. Eine Handreichung, Innsbruck/Wien 2012. 141 Vgl. Johannes Paul II., Litterae Apostolicae „Sacramentorum sanctitatis tutela“ vom 30. April 2001 Motu Proprio datae, quibus Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis promulgantur, in: AAS 93 (2001), S. 737 – 739; lat. / dt.: AfkKR 170 (2001), S. 144 – 147; dt.: http://www. uni-tuebingen.de/uni/ukk/nomokanon/quellen/023.htm (eingesehen 04. 03. 2017). 142 Vgl. hierzu Klaus Lu¨dicke, Kirchliches Strafrecht und sexueller Missbrauch Minderja¨hriger. Eine Problemanzeige, in: In Mandatis meditari. Festschrift fu¨r Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Stephan Haering, Johann Hirnsperger, Gerlinde Katzinger undWilhelm Rees (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 58), Berlin 2012, S. 619 – 638, hier S. 620. 143 Vgl. Johannes Paul II., Normae substantiales und Normae processuales des Apostolischen Schreibens Motu Propio „Sacramentorum Sanctitatis Tutela“ vom 30. April 2001; abgedr. in: AfkKR 171 (2002), S. 458 – 466; kritisch zu den Normae2001 Klaus Lu¨dicke, Rechtsschutz gegen kirchliche Sanktionen, in: Ludger Mu¨ller/Alfred E. Hierold/Sabine Demel/Libero Gerosa/Peter Kra¨mer (Hrsg.), „Strafrecht“ in einer Kirche der Liebe. Notwendigkeit oder Widerspruch? (= Kirchenrechtliche Bibliothek, Bd. 9), Berlin 2006, S. 87 – 90.

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2001144 erschlossen werden. Alfred E. Hierold forderte damals zu Recht die Promulgation der Normen, „um nicht den Hauch von Geheimniskra¨merei und Vertuschung aufkommen zu lassen“145. Na¨herhin hatte die Kongregation fu¨r die Glaubenslehre bereits im Jahr 1997 eine Kommission eingesetzt, die sich eingehend mit dem Strafrecht der beiden kirchlichen Gesetzbu¨cher bescha¨ftigen sollte, „um die schweren Straftaten gegen die Sittlichkeit und bei der Feier der Sakramente festzulegen, und auch um Vorschriften fu¨r besondere Strafverfahren sowie zur Erkla¨rung und Verha¨ngung von Kirchenstrafen zu beschließen, weil die bis dahin geltende, von der heiligen Kongregation des heiligen Offiziums am 16. Ma¨rz 1962 herausgegebene Instruktion Crimen sollicitationis anhand der inzwischen neu vero¨ffentlichten kirchlichen Gesetzbu¨cher u¨berpru¨ft werden musste“146.

144 Vgl. Kongregation fu¨r die Glaubenslehre, Epistula ad totius Catholicae Ecclesiae Episcopos aliosque Ordinarios et Hierachas interesse habentes de delictis gravioribus eidem Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis vom 18. Mai 2001, in: AAS 93 (2001), S. 785 – 788; lat. / dt.: AfkKR 170 (2001), S. 147 – 152; dt. unter: http://www.uni-tuebingen.de/uni/ukk/nomokanon/quellen/023.htm (eingesehen 04. 03. 2017). 145 Alfred E. Hierold, Pa¨dophilie und Ephebophilie: Rechtsschutz fu¨r Opfer und Beschuldigte, in: Mu¨ller / Hierold / Demel / Gerosa / Kra¨mer, Strafrecht (Anm. 143), S. 171 – 181, hier S. 179; s. auch Heribert Schmitz, Der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre vorbehaltene Straftaten, in: AfkKR 170 (2001), S. 441 – 462, hier S. 442; ders., Delicta graviora Congregationi de Doctrina Fidei reservata, in: DPM 9 (2002), S. 293 – 312, hier S. 306; abgedr. in: ders., Studien zur kirchlichen Rechtskultur (= FzK, Bd. 34), Wu¨rzburg 2005, S. 72 – 91; Ulrich Rhode, Zweierlei Recht?, in: StdZ 228 (2010), S. 505 f. 146 Kongregation fu¨r die Glaubenslehre, Schreiben vom 21. Mai 2010 (Anm. 139); s. auch Suprema Sacra Congregatio Sancti Officii, Instructio de modo procedendi in causis sollicitationis ad omnes Patriarchas, Archiepiscopos, Episcopos aliosque locorum Ordinarios „etiam Ritus Orientalis“ vom 16. Ma¨rz 1962, Typ. Pol. Vat. 1962; ferner unter: http://www.bishop-accountability.org/resources/resourcefiles/churchdocs/CrimenLatin.pdf (eingesehen 04. 03. 2017); engl.: http://www.vati can.va/resources/resources_crimen-sollicitationis-1962_en.html (eingesehen 04. 03. 2017); fu¨r Ordenleute s. Suprema Sacra Congregatio Sancti Officii, De modo procedendi contra religiosos reos criminis pessimi, 1. August 1962; abgedr. in: Ochoa, Leges III, Nr. 3072, Sp. 4302; s. auch Suprema Sacra Congregatio Sancti Officii, Instructio de modo procedendi in causis de crimine sollicitationis vom 8. Juni 1922 (nicht vero¨ffentlicht).

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Die Normae2010147 regeln – wie bereits die Normae2001 – nicht den Erlass von Tatstrafen, die dem Apostolischen Stuhl zur Nachlassung vorbehalten sind, wie sie die ro¨misch-katholische Kirche im Unterschied zu den katholischen Ostkirchen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart kennt148. Vielmehr wird festgelegt, dass der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre die verfahrensma¨ßige Behandlung bestimmter Straftaten vorbehalten ist und dies im Einzelnen geregelt. Diese Tatsache ist, wie Heribert Schmitz zu Recht betont, „keine Neuerung“. Der bereits fru¨her gegebene Vorbehalt der Zusta¨ndigkeit sei auch in den CIC/1983 eingegangen, „wenngleich an versteckter Stelle“, na¨mlich „innerhalb der Normen u¨ber die Verja¨hrung“149. Eindeutig legen die Normae2010 die Zusta¨ndigkeit der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre fu¨r die Beurteilung und Ahndung der schwerwiegenderen Straftaten fest (Art. 1 § 1 Normae2010; vgl. Art. 1 § 1 Normae2001). Als schwerwiegendere Straftaten „gegen den Glauben“ werden „Ha¨resie, Apostasie und Schisma gema¨ß cann. 751 und 1364 des Kodex des kanonischen Rechts und cann. 1436 § 1 und 1437 des Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen“ genannt (Art. 2 § 1 Normae2010) 150. Des Weiteren werden als schwerwiegendere Straftaten „gegen die Heiligkeit des eucharistischen Opfers und Sakraments“ der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre zuna¨chst vier Straftaten zur Ahndung vorbehalten: „18 Das Entwenden oder Zuru¨ckbehalten in sakrilegischer Absicht oder das Wegwerfen der konsekrierten Gestalten nach can. 1367 des Kodex des kanonischen Rechts und can. 1442 des Kodex der 147

s. dazu grundlegend Thomas J. Green, Sacramentorum Sanctitatis Tutela: Reflections on the Revised May 2010 Norms on More Serious Delicts, in: Jurist 71 (2011), S. 120 – 158. 148 Vgl. oben II. 1. 149 Schmitz, Delicta (Fn. 145), S. 296 f., m. a. N.; ders., Kongregation (Fn. 145), S. 444. Can. 1362 § 1, 18 CIC/1983: „Eine Strafklage verja¨hrt in drei Jahren, außer es handelt sich um: 18 Straftaten, die der Glaubenskongregation vorbehalten sind.“ Zur geschichtlichen Entwicklung des Zusta¨ndigkeitsvorbehalts s. Wilhelm Rees, Koordiniertes Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch – Die Normen der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre u¨ber die delicta graviora vom 21. 05. 2010, in: Heribert Hallermann / Thomas Meckel / Sabrina Pfannkuche / Matthias Pulte (Hrsg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fa¨llen von sexuellem Missbrauch (= WTh, Bd. 9), Wu¨rzburg 2012, S. 67 – 135, hier S. 74 – 79. 150 Vgl. Reinhold Sebott, Art. Apostasie, in: LKStKR, Bd. 1 (2000), S. 126 – 128; Wilhelm Rees, Art. Ha¨resie, in: LKStKR, Bd. 2 (2002), S. 211 f.; ders., Art. Schisma, in: LKStKR, Bd. 3 (2004), S. 507 f.; ders., Art. Schismatiker, ebd., S. 508 – 510.

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Kanones der orientalischen Kirchen. 28 Der Versuch, das eucharistische Opfer zu feiern gema¨ß can. 1378 § 2, 1o des Kodex des kanonischen Rechts. 38 Das Vorta¨uschen der Feier des eucharistischen Opfers nach can. 1379 des Kodex des kanonischen Rechts und can. 1443 des Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen. 48 Die in can. 908 des Kodex des kanonischen Rechts und can. 702 des Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen verbotene Konzelebration, von der in can. 1365 des Kodex des kanonischen Rechts und can. 1440 des Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen die Rede ist, zusammen mit Amtstra¨gern von kirchlichen Gemeinschaften, welche die apostolische Sukzession nicht besitzen und die sakramentale Wu¨rde der Priesterweihe nicht kennen“ (Art. 3 § 1, 18-48 Normae2010; vgl. Art. 2 Normae2001) 151. Hinzu kommt die Straftat, „die in der in sakrilegischer Absicht erfolgten Konsekration einer oder beider Gestalten innerhalb oder außerhalb der Eucharistiefeier besteht. Wer diese Straftat begeht, soll je nach Schwere des Verbrechens bestraft werden, die Entlassung oder Absetzung nicht ausgeschlossen“ (Art. 3 § 2 Normae2010; vgl. Art. 2 Normae2001). Die Normae2001 nannten in einem dritten Abschnitt „Straftat gegen die Sitten“ nur einen Straftatbestand, na¨mlich einen Teil des c. 1395 § 2 CIC/1983 (keine Parallele CCEO), der den sexuellen Missbrauch betraf, ohne dass sie auf das kirchliche Gesetzbuch ausdru¨cklich Bezug genommen haben. Das in die Normae2001 aufgenommene schwerwiegendere Vergehen des sexuellen Missbrauchs Minderja¨hriger durch Kleriker wird in den Normae2010 erga¨nzt und zugleich modifiziert152. Zudem sind weitere Vergehen gegen die Sitten als schwerwiegendere Straftaten aufgenommen worden153. Grundsa¨tzlich 151 Vgl. in diesem Zusammenhang: Exkommunikation – Frau Dr. Phil. Martha Heizer vom 12. Juni 2014 und Exkommunikation – Herr Mag. Theol. Gert Heizer vom 12. Juni 2014, in: Dio¨zesanblatt. Amtliche Mitteilungen der Dio¨zese Innsbruck, 88. Jg., Nr. 4, Juli / August 2014, Nr. 40, S. 6 f., wegen Vorta¨uschung des eucharistischen Opfers. 152 Die Kongregation fu¨r die Glaubenslehre hat in einem Anhang zu ihrem Brief vom 21. Mai 2010 ausdru¨cklich auf die Erga¨nzungen und Neuerungen aufmerksam gemacht. Vgl. Kongregation fu¨r die Glaubenslehre, Kurze Zusammenfassung (Fn. 139). Der kirchliche Gesetzgeber reiht den sexuellen Missbrauch unter die Su¨nden gegen das sechste Gebot des Dekalogs, wenngleich dieses Gebot nur den Ehebruch erfasst. 153 Vgl. Mark L. Bartchak, Child Pornography and the Grave Delict of an Offense Against the Sixth Commandment of the Decalogue Committed by a Cleric with a Minor, in: Jurist 72 (2012), S. 178 – 239; s. auch Rafael M. Rieger, De gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis. Anmerkungen aus

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ha¨lt Ludger Mu¨ller die bisherige kirchenrechtliche Sichtweise fu¨r „korrekturbedu¨rftig“. Sexueller Missbrauch sei „nicht in erster Linie als besonders schwerer Fall eines Zo¨libatsverstoßes anzusehen, sondern als Verbrechen gegenu¨ber den Opfern“154. Mit Blick auf eine Strafverfolgung im Fall des sexuellen Missbrauchs Minderja¨hriger durch Kleriker wurde bereits in den Normae2001 – im Unterschied zu den Bestimmungen des CIC/ 1983 (vgl. c. 1395 § 2 CIC/1983) – das Alter der Person, mit der ein Kleriker diese Straftat begeht, von 16 auf 18 Jahre heraufgesetzt (vgl. Art. 4 § 1 Normae2001) 155. Dieses Alter ist auch in den Normae2010 beibehalten worden (vgl. Art. 6 § 1, 18 Normae2010). Als minderja¨hrig gelten somit Personen unter 18 Jahren, d. h. jene, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (vgl. c. 97 § 1 CIC/1983; c. 909 § 1 CCEO). Die Normae2010 stellen einer minderja¨hrigen Person von 18 Jahren eine Person gleich, „deren Vernunftgebrauch habituell eingeschra¨nkt ist“ (Art. 6 § 1, 18 Normae2010) 156. Zudem wurde „der Erwerb, die Aufbewahrung und die Verbreitung pornographischer Bilder von Minderja¨hrigen unter vierzehn Jahren in jedweder Form und mit jedwedem Mittel durch einen Kleriker in u¨bler Absicht“ unter die der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre zur Beurteilung vorbehaltenen schwerwiegenderen Straftaten gegen die Sitten aufgenommen (Art. 6 § 1, 28 Normae2010). Hier erfolgte wohl eine der Praxis zu den schwerwiegenderen Straftaten bei der Feier der Sakramente und gegen die Sitten, deren Behandlung der Glaubenskongregation vorbehalten ist, in: o¨arr 59 (2012), S. 327 – 345. 154 Ludger Mu¨ller, Sexueller Missbrauch in der Kirche. Kirchenrechtliche Aspekte, in: ThPQ 159 (2011), S. 61 – 70, hier S. 65. Wenn man Mu¨ller zustimmt, muss Missbrauch als ein „Vergehen gegen Leben und Freiheit des Menschen“ gesehen werden (vgl. Titel VI des II. Teils von Buch VI CIC/1983). 155 Vgl. dazu Richard Potz, Zur Frage der Verja¨hrung der schwereren Delikte gegen die Sittlichkeit, im Besonderen des sexuellen Missbrauchs von Minderja¨hrigen, im geltenden katholischen Kirchenrecht, in: Recht in Kirche und Staat. Joseph Listl zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Wilhelm Rees (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 48), Berlin 2004, S. 271 – 282, hier S. 281 f.; Peter Platen, Das kirchli¨ berlegungen zur kirche Strafrecht – eine (leider?) vernachla¨ssigte Disziplin. U chenrechtlichen Ahndung des sexuellen Missbrauchs Minderja¨hriger durch Geistliche, in: Kirche und Recht (KuR) (2010), Leitziffer 330, S. 192 – 208, bes. S. 199 – 201. 156 Na¨herhin Ru¨diger Althaus, Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis – Vorschriften u¨ber schwererwiegende Straftaten, die der Glaubenskongregation vorbehalten sind, in: ders./Klaus Lu¨dicke, Der kirchliche Strafprozess nach dem Codex Iuris Canonci und Nebengesetzen. Normen und Kommentar (= MK CIC, Beiheft 61), Essen 2011, Art. 6, Rdnr. 3.

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¨ sterreich als Anna¨herung an weltliches Recht, das sowohl in der Republik O auch in der Bundesrepublik Deutschland entsprechende Strafnormen kennt157. Ein Kleriker, der die genannten schwerwiegenderen Straftaten gegen die Sitten begangen hat, „soll je nach Schwere des Verbrechens bestraft werden, die Entlassung oder Absetzung nicht ausgeschlossen“ (Art. 6 § 2 Normae2010; vgl. Art. 4 § 2 Normae2001) 158. Bereits durch Art. 5 § 1 Normae2001 wurde die Verja¨hrungsfrist fu¨r eine Strafklage im Fall von sexuellem Missbrauch Minderja¨hriger durch Kleriker gegenu¨ber den Vorgaben der kirchlichen Gesetzbu¨cher (vgl. c. 1362 § 1, 28 und § 2 CIC/1983; c. 1152 § 2, 28CCEO) von fu¨nf auf zehn Jahre ausgedehnt. Zudem wurde durch Art. 5 § 2 Normae2001 festgelegt, dass der Lauf der Verja¨hrung (vgl. c. 1362 § 2 CIC/1983; c. 1152 § 3 CCEO) „erst mit dem Tag (beginnt), an dem die Person das 18. Lebensjahr vollendet hat“159. Mit diesen Neuregelungen kamen erstmals die Opfer sta¨rker in den Blick der katholischen Kirche160, um die sie sich bislang eher wenig bzw. gar nicht geku¨mmert hat. Grundsa¨tzlich haben die Normae2010 bei allen schwerwiegenderen Straftaten, die der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre zur Beurteilung vorbehalten sind, die Verja¨hrungsfrist auf zwanzig Jahre angehoben (Art. 7 § 1 Normae2010), unbeschadet des Rechts der Kongregation, von der Verja¨hrung in einzelnen Fa¨llen zu derogieren (vgl. Art. 7 § 1 Normae2010). Allerdings macht Ru¨diger Althaus wohl zu Recht kritisch darauf aufmerksam, 157 ¨ sterreich § 207a StGB: Pornographische Darstellungen Minders. fu¨r O ja¨hriger und § 215a StGB: Fo¨rderung der Prostitution und pornograhischer Darbietungen Minderja¨hriger; ferner auch Bundesgesetz vom 31. Ma¨rz 1950 u¨ber die Beka¨mpfung unzu¨chtiger Vero¨ffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefa¨hrdung (BGBl. 1950/97); fu¨r Deutschland s. u. a. § 184b StGB. 158 Damit ha¨lt der kirchliche Gesetzgeber an der verpflichtenden, aber unbestimmten Bestrafung fest, wie sie bereits c. 1395 § 2 CIC/1983 (iusta poena) und Art. 4 § 2 Normae2001 formuliert haben. 159 Vgl. hierzu Klaus Lu¨dicke, Sexueller Missbrauch und kirchliches Strafrecht – Eine neue Herausforderung fu¨r die kirchlichen Gerichte, in: DPM 11 (2004), S. 71 – 92, hier S. 75 f. 160 Vgl. auch Alessandro Calcagno, Die EU verbessert den Schutz von Opfern von Straftaten: http://www.comwcw.eu/europeinfos/de/archiv/ausgabe144/article/ 4365.html (eingesehen 04. 03. 2017); Richtlinie 2012/29/EU des Europa¨ischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 u¨ber Mindeststandards fu¨r die Rechte, die Unterstu¨tzung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. Nr. L 315, S. 57): https:// beck-online.beck.de/default.aspx?toc=bibdata/ges/EWG_RL_2012_29/toc/EWG_ RL_2012_29.G4.toc.htm&vpath=bibdata/ges/ewg_rl_2012_29/cont/ewg_rl_ 2012_29.htm (eingesehen 04. 03. 2017).

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dass eine Verla¨ngerung der Verja¨hrungsfrist „in der Praxis zu dem Problem (fu¨hrt), dass der eigentlich angezielte Rechtsfrieden so nicht umgesetzt werden kann“161. Wa¨hrend bei den u¨brigen angefu¨hrten schwerwiegenderen Straftaten162 „die Verja¨hrung […] nach can. 1362 § 2 des Kodex des kanonischen Rechts und can. 1152 § 3 des Kodex der Kanones der orientalischen Kirchen“ la¨uft, beginnt sie „bei der Straftat nach Art. 6 § 1, 1o“, d. h. bei sexuellem Missbrauch einer minderja¨hrigen Person unter achtzehn Jahren und einer Person, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschra¨nkt ist, – abweichend von den Bestimmungen der kirchlichen Gesetzbu¨cher ¨ berein(vgl. c. 1362 § 2 CIC/1983 und c. 1152 § 3 CCEO), jedoch in U stimmung mit den Normae2001 – „mit dem Tag zu laufen, an dem der Minderja¨hrige das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat“ (Art. 7 § 2 Normae2010; vgl. Art. 5 § 2 Normae2001). Eine Strafverfolgung ist daher – ungeachtet der oben angesprochenen Mo¨glichkeit der Verla¨ngerung der Verja¨hrungsfrist – bis zum Vortag des 38. Geburtstags mo¨glich163. Nach wie vor ist ein Ordinarius bzw. Hierarch im Fall des erwiesenen Verdachts einer schwerwiegenderen Straftat zur Meldung an die Kongregation fu¨r die Glaubenslehre verpflichtet (Art. 16 Normae2010), wie dies bereits seit 2001 (vgl. Art. 13 Normae2001) gefordert ist. Der Dio¨zesanbischof bzw. Hierarch hat daher nicht mehr die Vollmacht bzw. Mo¨glichkeit, das weitere Vorgehen nach c. 1718 § 1, 18–38 CIC/1983164 bzw.

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Althaus, Normae (Fn. 156), Art. 7, Rdnr. 2. Vgl. oben in diesem Abschnitt. 163 Vgl. Althaus, Normae (Anm. 156), Art. 7, Rdnr. 4. Sofern die Tat vor Inkrafttreten der Normae2001 begangen wurde, gilt auf Grund des Ru¨ckwirkungsverbots (vgl. c. 9 CIC/1983 und c. 1494 CCEO) die ku¨rzere Verja¨hrungsfrist des kirchlichen Gesetzbuchs von 5 Jahren vom Zeitpunkt der Tat an (c. 1362 § 1, 28 und § 2 CIC/1983; vgl. c. 1152 § 2, 28 CCEO). S. dazu Norbert Lu¨decke, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester aus kirchenrechtlicher Sicht, in: MThZ 62 (2011), S. 33 – 60, hier S. 50, Fn. 102; Lu¨dicke, Problemanzeige (Fn. 142), S. 624 f. Entsprechendes gilt mit Blick auf die Anhebung der Frist von zehn auf zwanzig Jahre. 164 Can. 1718 § 1, 18 – 38 CIC/1983: „Wenn genu¨gend Anhaltspunkte gesammelt sind, hat der Ordinarius zu entscheiden, ob: 18 ein Verfahren zum Zweck der Verha¨ngung oder der Feststellung einer Strafe eingeleitet werden kann; 28 dies unter Beachtung von can. 1341 tunlich ist; 38 ein gerichtliches Verfahren stattfinden muss oder ob, falls gesetzlich nicht verboten, mittels eines außergerichtlichen Dekretes vorzugehen ist.“ 162

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c. 1469 §§ 1 und 2 CCEO165 zu entscheiden. Vielmehr muss er die Kongregation fu¨r die Glaubenslehre informieren und deren Weisungen abwarten. Dabei steht es der Kongregation frei, „in einzelnen Fa¨llen von Amts wegen oder auf Antrag des Ordinarius oder Hierarchen […] auf dem Weg eines außergerichtlichen Dekrets vorzugehen“, wobei unbefristete Su¨hnestrafen „nur im Auftrag der Kongregation fu¨r die Glaubenslehre verha¨ngt werden“ ko¨nnen (Art. 21 § 2, 18 Normae2010). Die Verha¨ngung von Strafen auf Dauer auf dem Verwaltungsweg hatte der kirchliche Gesetzgeber bisher generell ausgeschlossen (vgl. c. 1342 § 2 CIC/1983 und c. 1402 § 2 CCEO). Neben dem sexuellen Missbrauch Minderja¨hriger durch Kleriker kam in den letzten Jahren versta¨rkt auch die Frage nach dem Kirchenaustritt in den Blick, wenngleich zuna¨chst unter eherechtlichen Aspekten. Fu¨r die deutschen und o¨sterreichischen Bischo¨fe bzw. deren jeweilige Bischofskonferenz spielten jedoch sehr bald auch finanzielle und strafrechtliche Aspekte eine Rolle166. Hier wurden eindeutige Regelungen getroffen, die die Wahr165 Can. 1469 §§ 1 und 2 CCEO: „ § 1 Wenn die Untersuchung zu einem hinreichenden Ergebnis gelangt zu sein scheint, muß der Hierarch unbeschadet der cann. 1403 und 1411 entscheiden, ob ein Verfahren zur Verha¨ngung von Strafen veranlaßt werden soll, und, wenn er zustimmend entscheidet, ob im Wege eines Strafprozesses oder eines außergerichtlichen Dekrets vorzugehen ist. § 2 Der Hierach muß seine Entscheidung widerrufen oder a¨ndern, wenn es ihm richtig erscheint, daß aufgrund neuer Tatbesta¨nde oder Umsta¨nde anderes zu entscheiden ist.“ 166 Vgl. Wilhelm Rees, Der Kirchenaustritt und seine kirchenrechtliche Pro¨ sterreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), blematik, in: Generalsekretariat der O Zugeho¨rigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Kla¨rungen zu den pastora¨ sterreichischen Bischofskonferenz (= Die o¨sterreichischen len Initiativen der O Bischo¨fe 10), Wien 2010 (= Bischof DDr. Klaus Ku¨ng zur Vollendung des 70. Lebensjahres), S. 38 – 61; Burkhard Josef Berkmann, Neue Fragen zum Kirchen¨ sterreich, in: Wilhelm Rees/Marı´a Roca/Bala´zs Schanda (Hrsg.), austritt in O Neuere Entwicklungen im Religionsrecht europa¨ischer Staaten (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 61), Berlin 2013, S. 27 – 60; s. auch Elmar Gu¨thoff, Kirchenstrafrechtliche Aspekte des vor dem Staat vollzogenen Kirchenaustritts, in: Thomas Holzner/Hannes Ludyga (Hrsg.), Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts. Ausgewa¨hlte begrifflich-systematische, historische, gegenwartsbezogene und biographische Beitra¨ge (= KStKR, Bd. 15), Paderborn/Mu¨nchen/Wien/Zu¨rich 2013, S. 449 – 466; ders., Kirchenstrafrechtliche Aspekte des vor dem Staat vollzogenen Kirchenaustritts, in: ders./Stephan Haering/ Helmuth Pree (Hrsg.), Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht (= QD 243), Freiburg/Basel/Wien 2011, S. 124 – 144; Georg Bier, Abfall von der Kirche – „Kirchenaustritt“ – Schisma. Ein Rundschreiben des Pa¨pstlichen Rates fu¨r

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nehmung der Rechte einer ausgetretenen Person in der kirchlichen Gemeinschaft erheblich einschra¨nken, wenngleich in diesem Zusammenhang ¨ sterreich nicht von Strafmaßnahmen gesprochen wird. Die zumindest in O Einschra¨nkungen entsprechen jedoch weithin den Folgen, die die Strafe der Exkommunikation nach sich zieht. 3. Die geplante Reform des kirchlichen Strafrechts Die Bestimmungen des kirchlichen Strafrechts, wie sie sich gegenwa¨rtig im sechsten Buch des CIC/1983 finden, haben seit Inkrafttreten des kirchlichen Gesetzbuchs am 27. November 1983 die Anwendung des kirchlichen Strafrechts in der Praxis der Kirche nicht unbedingt erleichtert. Zudem haben sie keineswegs den Stellenwert erhalten, der ihnen in der Intention der Kirche und als Instrument der Hirtensorge der Bischo¨fe bzw. als Instrument der Pastoral und Seelsorge allgemein zukommen ko¨nnte bzw. sollte. Dieser Umstand ist nicht zuletzt auf Ku¨rzungen, Vereinfachungen und Verallgemeinerungen in den Textformulierungen, die gegenu¨ber dem Strafrecht des CIC/1917 vorgenommen worden sind, zuru¨ckzufu¨hren. Vor allem hat die Formulierung des c. 1341 CIC/1983 Ortsbischo¨fe davon abgehalten, Strafmaßnahmen zu verha¨ngen. Besagt dieser Kanon doch – etwas u¨berspitzt formuliert –, dass diese das kirchliche Strafrecht u¨berhaupt nur dann anwenden sollen, wenn alles andere keinen Erfolg hat. Vielfach ist es bei Ermahnungen und pastoralen Hinweisen geblieben. Zum Teil wurde u¨ber bestehendes Recht sogar einfach hinweggesehen. Zu dieser Tatsache hat sicher auch die im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil herrschende Auffassung beigetragen, Probleme eher pastoral bzw. praktisch als mit den Mitteln des Strafrechts zu lo¨sen. So hat die Nichtanwendung des kirchlichen Strafrechts bei manchen Gla¨ubigen, sowohl Klerikern als auch Laien, zu Irritationen und Nichtverstehen gefu¨hrt und damit auch die Kirche bzw. die in der Kirche verantwortlichen Personen in Misskredit gebracht sowie der Glaubwu¨rdigkeit der Kirche geschadet. die Gesetzestexte und seine rechtlichen Konsequenzen, in: Kirchenrecht und Theologie im Leben der Kirche. Festschrift fu¨r Heinrich J. F. Reinhardt zur Vollendung seines 65. Lebensjahres. Hrsg. von Ru¨diger Althaus, Klaus Lu¨dicke und Matthias Pulte (= MK CIC, Beiheft 50), Essen 2007, S. 73 – 102, bes. S. 96 – 101; Wilhelm Rees, Kirchenrechtliche Aspekte der Kirchenfinanzierung und das Kir¨ sterreich, in: Ludger Mu¨ller/Wilhelm Rees/Martin Krutzchenbeitragssystem in O ler (Hrsg.), Vermo¨gen der Kirche – Vermo¨gende Kirche? Beitra¨ge zur Kirchenfinanzierung und kirchlichen Vermo¨gensverwaltung, Paderborn 2015, S. 17 – 70.

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Andererseits hat die Kirche – nicht zuletzt auch unter dem Druck der me¨ ffentlichkeit – das bestehende Strafrecht erga¨nzt, so insbesondere dialen O im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs Minderja¨hriger durch Kleriker, aber auch in anderen Bereichen, wie z. B. der verbotenen Weihe einer Frau. Interessanterweise hat Papst Benedikt XVI. bereits in der ersten Audienz, die dem Pra¨sidenten und dem Sekreta¨r des Pa¨pstlichen Rates fu¨r die Gesetzestexte am 28. September 2007 in Castel Gandolfo gewa¨hrt wurde, „sofort volle Unterstu¨tzung dafu¨r (zugesagt), eine Revision des Liber VI formell in Angriff zu nehmen“167, nachdem der Papst bereits mit Blick auf die Delicta graviora ta¨tig geworden war168. Der Pa¨pstliche Rat fu¨r die Gesetzestexte hat einen neuen Entwurf des sechsten Buches des CIC vorgelegt (Schema Recognitionis Libri VI Codicis Iuris Canonici, Typis Vaticanis 2011), der an die Bischofskonferenzen der Welt zur Begutachtung versandt worden ist. Die Initiative des Pa¨pstlichen Rates fu¨r die Gesetzestexte zur ¨ berarbeitung des geltenden kirchlichen Strafrechts ist nicht nur zu begru¨U ßen, sondern zum Wohl der Kirche auch geboten.

167 ¨ bersetJuan Ignacio Arrieta, Die geplante Revision des Liber VI CIC (U zung des Vortrags beim Internationalen Studientag „Neuerungen und aktuelle Tendenzen im Kanonischen Recht“ am Klaus Mo¨rsdorf-Studium fu¨r Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universita¨t Mu¨nchen am 24. / 25. Mai 2012 durch Helmuth Pree), Manuskript S. 1 – 21, hier S. 6; ders., Il progetto di Revisione del Libro VI del Codice di diritto Canonico, in: AfkKR 181 (2012), S. 57 – 74, hier S. 61; s. auch Benedikt XVI. , Ansprache an die Teilnehmer der vom Pa¨pstlichen Rat fu¨r die Interpretation von Gesetzestexten veranstalteten Studientagung anla¨ßlich des 25. Jahrestages der Promulgation des Codex des kanonischen Rechts am 25. Januar 2008: http://www.clerus.org/bibliaclerusonline/de/c02.htm (eingesehen 04. 03. 2017); ferner auch: https://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/ speeches/2008/january/documents/hf_ben-xvi_spe_20080125_testi-legislativi.html (eingesehen 04. 03. 2017). 168 Vgl. Juan Ignacio Arrieta, Der Einfluss Kardinal Ratzingers bei der Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung (La Civilta` Cattolica, 4. Dezember 2010): http://www.vatican.va/resources/resources_arrieta-20101204_ge.html (eingesehen 04. 03. 2017); s. auch ders., Kardinal Ratzinger und die Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung. Eine entscheidende Rolle (L‘Osservatore Romano, 2. Dezember 2010): http://www.vatican.va/resources/resources_arrieta-20101202_ge.html (eingesehen 04. 03. 2017); ferner auch Rees, Koordiniertes Vorgehen (Fn. 149), S. 124 – 126.

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In das geplante Strafrecht sollen eine Definition der Straftat, aber auch andere Definitionen aufgenommen werden169. Na¨herhin wurden eine Verdeutlichung bei allgemeinen und die Bestimmungen des CIC/1917 verku¨rzenden Formulierungen sowie Erga¨nzungen, die notwendig erschienen oder durch Rechtsa¨nderungen seit Inkrafttreten des CIC/1983 erforderlich geworden sind, vorgenommen170. Bisher freigestellte Bestrafungen werden in verpflichtende Bestrafungen umgewandelt. Dies fu¨hrt zu einer deutlichen Verscha¨rfung des kirchlichen Strafrechts. Verscha¨rfungen finden sich auch im Bereich der einzelnen Straftatbesta¨nde171. Insgesamt gesehen soll das kirchliche Strafrecht wieder als ein positives „Mittel der Pastoral“ gesehen und genutzt werden. Versta¨rkt mu¨ssten jedoch auch der Rechtsschutz im Blick auf Strafta¨ter / Strafta¨terin ausgebaut172 und das Problem der Tatstrafe gelo¨st werden. Somit erscheinen wohl weitergehende A¨nderungen – als bisher vorgenommen – notwendig. III. Schluss Die Kirche muss sich immer fragen, ob ihr gegenwa¨rtiges Recht tatsa¨chlich das Recht ist, das den Anforderungen an die Leitung der Kirche gerecht wird und dem Heil der einzelnen Christgla¨ubigen dienlich ist, wenngleich die Spannung zwischen Stabilita¨t und Reform bleibt. So hat die Kirche im ¨ berblick u¨ber die im ersten Teil des Strafrechts Vgl. Elmar Gu¨thoff, Ein U des CIC (cc. 1311 – 1363) geplanten A¨nderungen, in: AfkKR 181 (2012), S. 75 – 89; Wilhelm Rees, Grundfragen des kirchlichen Strafrechts, in: HdbKathKR3, S. 1569 – 1590, bes. S. 1588 – 1590; ders., Straftat (Fn. 132). 170 Diese betreffen vor allem die Delicta graviora. Auch soll die Verletzung des Pa¨pstlichen Amtsgeheimnisses, u. a. im Fall der delicta graviora, als Straftatbestand aufgenommen werden. 171 ¨ berblick u¨ber die im zweiten Teil des Strafrechts Vgl. Elmar Gu¨thoff, Ein U des CIC (cann. 1364 – 1399) geplanten A¨nderungen, in: Clarissimo Professori Doctori Carolo Giraldo Fu¨rst. In memoriam Carl Gerold Fu¨rst. Hrsg. von Elmar Gu¨thoff, Stefan Korta und Andreas Weiß (= AIC, Bd. 50), Frankfurt am Main u. a. 2013, S. 157 – 165; Rees, Einzelne Straftaten (Fn. 131). 172 Vgl. Wilhelm Rees, Rechtsschutz im kirchlichen Strafrecht und in kirchlichen Strafverfahren, in: Ludger Mu¨ller (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (= Kirchenrechtliche Bibliothek, Bd. 15), Wien/Berlin 2011, S. 75 – 105; ders., Faire Verfahren in der Kirche. Rechtsschutz in der ro¨misch-katholischen Kirche, besonders in kirchlichen Strafverfahren, in: Martha Heizer/Hans Peter Hurka (Hrsg.), Mitbestimmung und Menschenrechte. Pla¨doyer fu¨r eine demokratische Kirchenverfassung (= Topos Taschenbu¨cher, Bd. 763), Kevelaer 2011, S. 255 – 295. 169

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Lauf der Geschichte ihr Strafrecht immer wieder den vera¨nderten Zeitumsta¨nden angepasst. Manche Elemente sind seit den Anfa¨ngen der Kirche die gleichen geblieben. Es hat Phasen der Anpassung an das weltliche Recht und der starken Kooperation mit der weltlichen Macht gegeben. Andererseits hat sich die Kirche immer wieder auf ihr Proprium besonnen. Strenge und Milde haben sich abgewechselt. So scheint die geplante Strafrechtsreform – trotz des Hinweises auf Milde, die dem kirchlichen Strafrecht bzw. dem kirchlichen Richter zu Eigen sein muss – in Richtung einer Verscha¨rfung des bisherigen kirchlichen Strafrechts zu gehen. Insgesamt bleibt wohl abzuwarten, welchen Weg Papst Franziskus mit Blick auf das kirchliche Strafrecht in Zukunft gehen wird. Ausdru¨cklich hat der Papst versta¨rkt den sexuellen Missbrauch Minderja¨hriger durch Priester angeprangert und weitere Maßnahmen dagegen in die Wege geleitet, wie u. a. auch die Mo¨glichkeit, Bischo¨fe im Fall der Nichtahndung bzw. Vertuschung absetzen zu ko¨nnen.173

173 Vgl. Franziskus, Apostolic Letter issued Moto proprio „As a loving Mother“ vom 4. Juni 2016: http://w2.vatican.va/content/francesco/en/motu_proprio/docu ments/papa-francesco-motu-proprio_20160604_come-una-madre-amorevole.html (eingesehen am 04. 03. 2017); s. auch Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Amoris laetitia“ an die Bischo¨fe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die christlichen Eheleute und an alle christgla¨ubigen Laien u¨ber die Liebe in der Familie vom 19. Ma¨rz 2016, bes. Nr. 45: https:// w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_ esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia.html (eingesehen am 04. 03. 2017); Andrea Spalinger, Kindsmissbrauch durch Priester. Franziskus’ Lippenbekenntnisse (20. 01. 2017): https://www.nzz.ch/international/neues-buch-des-enthuellungsjour nalisten-fittipaldi-der-vatikan-vertuscht-weiter-kindsmissbrauch-durch-priester-ld. 140854 (eingesehen am 04. 03. 2017); Australien: Missbrauchfa¨lle sind „katastrophales Scheitern“ (24. 02. 2017): http://de.radiovaticana.va/news/2017/02/24/aus tralien_missbrauchsf%C3 %A4lle_sind_%E2 %80 %9Ekatastrophales_scheitern% E2 %80 %9C/1294703 (eingesehen 04. 03. 2017).

Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht Dargestellt am Beispiel des Kirchenaustritts Von Martin Schulte, Dresden Fragt man nach dem Verha¨ltnis von staatlichem und kirchlichem Recht, so scheint die Welt fu¨r große Teile der Kirchen- und Staatskirchenrechtsdogmatik noch in Ordnung zu sein: „Das weltliche Recht fu¨r die Religionsgesellschaften einerseits und deren Binnenrecht andererseits sind als zwei voneinander grundsa¨tzlich vo¨llig unabha¨ngige Normenordnungen zu betrachten. Sie ko¨nnen die Geltung von Normen der jeweils anderen Ordnung nicht beeinflussen: der Staat kann kein Kirchenrecht setzen, die Kirche kein weltliches Recht.“1 Allenfalls sporadisch wird diese a¨ußerst statische Betrachtungsweise des Verha¨ltnisses von staatlichem und kirchlichem Recht, hinter der rechtstheoretisch nichts anderes als die alte „Was-Frage“2 steht, einmal durchbrochen. Aus ju¨ngerer Zeit ist hier etwa das Zapp-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu nennen, das zumindest eine „ha¨ufig schwer zu u¨berblickende Gemengelage von staatskirchenrechtlichem und innergemeinschaftlichem Recht“ anerkennt.3 In eine a¨hnliche Richtung weist auch die Feststellung, dass sich die Bedeutung des kanonischen Rechts keineswegs auf die innerkirchliche Rechtsspha¨re beschra¨nkt, viel1 Reimer, Der Kirchenaustritt zwischen Landesrecht, Bundesrecht und Kirchenrecht. Zugleich Besprechung von BVerwG, Urteil vom 26. 9. 2012 – 6 C 7.12 –, JZ 2013, 136, 137; vgl. auch de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 4. Aufl., 2014, § 1 Rn. 2: „Im Recht der Bundesrepublik Deutschland gibt es aber, von wenigen Konflikten in Einzelfragen abgesehen, keine grundlegenden Probleme in Abgrenzung und Zuordnung von Kirchenrecht und staatlichem Recht.“; Puza, Katholisches Kirchenrecht, 2. Aufl., 1993, S. 1 ff.; instruktiv, weil differenzierend Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Versta¨ndnis der evangelischen und katholischen Kirche, 2010, S. 70 ff., 272 ff. 2 Siehe dazu mit Blick auf Begriff und Funktion des Rechts Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011, S. 30 ff. 3 BVerwG, Urteil vom 26. 9. 2012 – 6 C 7.12 –, ZevKR 58 (2013), 90, 100.

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mehr sei sein Einfluss auf die Herausbildung des modernen weltlichen Rechts ebenso eminent wie fortwirkend.4 Die Annahme solcher Wechselwirkungen zwischen staatlichem und kirchlichem Recht bleibt aber – wie gesagt – in der Kirchen- und Staatskirchenrechtsdogmatik eher die Ausnahme. Und dennoch scheint darin – wie ich nachfolgend zeigen mo¨chte – ein interessanter Wechsel der Beobachtungsperspektive zu liegen, letztlich der Verzicht auf eine statische zugunsten einer dynamischen Verha¨ltnisbestimmung. Damit ist schlicht und ergreifend die „Wie-Frage“5 der Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht aufgeworfen. Vor diesem Hintergrund ist die Vorfrage, ob eine Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft, vorliegend des Rechtssystems, u¨berhaupt mo¨glich ist6, zwangsla¨ufig positiv zu beantworten.7 Allerdings ist die KoEvolution von staatlichem und kirchlichem Recht durch einige Besonderheiten gekennzeichnet, die die Ausgangslage a¨ußerst komplex, vor allem aber theoretisch weitgehend unerforscht erscheinen lassen. So sind an ihr zuna¨chst einmal gleich drei Funktionssysteme der Gesellschaft (Politik, Religion und Recht) maßgeblich beteiligt. Mit Staat und Kirche, die sich bei oberfla¨chlicher Betrachtung als Organisationssysteme von Politik und Religion einordnen ließen, ist zudem zwei gesellschaftlichen Organisationen die Rechtsetzung u¨bertragen, die sich in besonderer Weise durch ihre „Multireferenz“8 auszeichnen, d. h. die Fa¨higkeit, sich kommunikativ mit 4

Mu¨ckl, Kirchenrecht, in: Kube/Mellinghoff/Morgenthaler/Palm/Puhl/Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. II Staat und Bu¨rger, 2013, § 131 Rn. 3. 5 Dazu ebenfalls Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 30 ff. 6 Das Matrjoschka-Problem einer systemtheoretisch fundierten Gesellschaftstheorie. Siehe dazu schon Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 557 ff. 7 In diesem Sinne bereits Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 87 ff. 8 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „u¨ber“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 273; dies./Wehrsig, Zur komplementa¨ren Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 49; von „Multireferentialita¨t“ und der „Perspektive multipler Programmierung“ spricht in diesem Zusammenhang Bora, ¨ ffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialita¨t der O Programmierung organisatorischer Kommunikationen, ebd., S. 170, 171 ff.; vgl. auch Drepper, Organisationen der Gesellschaft, 2003, S. 200.

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unterschiedlicher Gewichtung an verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft zu orientieren. Und bei na¨herer Betrachtung lassen sich gleich auf Anhieb eine Reihe von bislang unbearbeiteten Forschungsfragen ausmachen: Wie darf man sich die Funktionsweise der Organisationssysteme Staat und Kirche, vor allem in Funktionssystemen, speziell dem Rechtssystem, vorstellen? Haben wir es mit Irritation zu tun und was kennzeichnet diese, und zwar zwischen Funktionssystemen, zwischen Organisationssystemen und vielleicht sogar zwischen Funktions- und Organisationssystemen? Gibt es Kopplungen zwischen den Funktionssystemen Politik, Religion und Recht? Gegebenenfalls, handelt es sich dabei um operative oder strukturelle Kopplungen? Welche Bedeutung kommt insoweit dem u¨ber Art. 140 Grundgesetz – sprich der Verfassung als struktureller Kopplung von Recht und Politik – garantierten Staatskirchenrecht zu? Erscheint eine strukturelle Kopplung der Funktionssysteme Politik, Religion und Recht vielleicht auch u¨ber Organisation, also Staat und Kirche als Organisationssystemen, denkbar? Fragen u¨ber Fragen, aber wir wollen der Reihe nach vorgehen. Fu¨r das Verha¨ltnis von Funktions- und Organisationssystemen kann ganz allgemein von einem „Komplementa¨rverha¨ltnis“ ausgegangen werden. Aber auch fu¨r das Verha¨ltnis von Politik, Religion und Recht zu „ihren“ Organisationen, namentlich Staat und Kirche, du¨rfte diese Charakterisierung zutreffend sein.9 Dabei ist zuna¨chst in Erinnerung zu rufen, dass nur Organisationen als Sozialsysteme in der Lage sind, mit Systemen ihrer Umwelt zu kommunizieren. Funktionssystemen fehlt genau diese Kommunikationsfa¨higkeit.10 Dies bedeutet fu¨r den vorliegenden Zusammenhang, dass Politik, Religion und Recht nicht als Einheit nach außen kommunizieren ko¨nnen. Dazu bedarf es vielmehr in ihren Funktionssystemen 9 Ausdru¨cklich in diesem Sinne, und zwar allgemein und mit Blick auf das Religionssystem, Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 234 ff.; nicht weit davon entfernt erscheint mir das Versta¨ndnis von Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementa¨ren Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 41 ff., 42, die von einem Verha¨ltnis „vertikaler doppelter Kontingenz“ sprechen und in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es um ein „Verha¨ltnis unterschiedlicher Ebenen“ geht, „die zur eigenen Systembildung wechselseitig auf die Strukturen der jeweils anderen Ebene angewiesen sind.“ 10 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 842 f.

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der Bildung von Organisationen, z. B. von Staat, Kirche und Gerichten. Sie statten die Funktionssysteme erst mit externer Kommunikationsfa¨higkeit aus. Dabei darf man sich das Zusammenwirken der einzelnen Organisationssysteme nicht so vorstellen, dass es sich bei den genannten Organisationen (Staat, Kirche, Gerichte) etwa um „Subsysteme“ von Politik, Religion und Recht handele. Eine solche theoretische Zuordnung von Organisationssystemen „zu“ Funktionssystemen ist na¨mlich mit den Grundannahmen der Systemtheorie, sprich operativer Geschlossenheit und Autonomie der Systeme, nicht vereinbar. Soziale Systeme vermo¨gen nur sich selbst, nicht aber ihre Umwelt festzulegen.11 Dies schließt eine beobachtungstheoretische Formulierung des Zuordnungsproblems der Gestalt allerdings nicht aus, dass sich Systeme im operativen Vollzug ihrer Autopoiesis beobachtend auf sich selbst und ihre Umwelt beziehen.12 ¨ berlegungen zum VerNeben diesen eher systematisch ausgerichteten U ha¨ltnis von Funktions- und Organisationssystemen ist aber aus der Perspektive eines an der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft orientierten Beobachtungs- und Beschreibungsansatzes das Augenmerk vor allem auf den funktionalen Beitrag von Organisationssystemen („in“ und zwischen Funktionssystemen) zu richten. Organisationen erweisen sich dabei zuna¨chst einmal als Schrittmacher der gesellschaftlichen Evolution.13 Sie produzieren fortlaufend Konflikte, die auf der Ebene der Funktionssysteme Widerspru¨che generieren. Diese Widerspru¨che in der Selbst- und Fremdbeschreibung ko¨nnen von den Funktionssystemen nicht als Konflikt kommuniziert werden, da sie – wie bereits erwa¨hnt – zu solcher Kommunikation nicht fa¨hig sind. Hier 11 Tacke, Funktionale Differenzierung als Schema der Beobachtung von Organisationen. Zum theoretischen Problem und empirischen Wert von Organisationstypologien, in: dies. (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 141, 149. 12 Dies., ebd. 13 Zum Folgenden ausfu¨hrlich Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementa¨ren Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 50 ff., 56, 58; zur Bedeutung von Organisation siehe aber auch ju¨ngst Heintz/Tyrell (Hrsg.), Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen, Sonderheft der Zeitschrift fu¨r Soziologie, 2015, passim.

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kommen Organisationen ins Spiel.14 Sie stellen sich mit ihren Entscheidungsstrukturen den gesellschaftlichen Funktionssystemen fu¨r Programma¨nderungen zur Verfu¨gung und machen gerade damit Konflikte entscheidbar. Wirklich nachhaltig wird die Programma¨nderung der Funktionssysteme allerdings erst dann, wenn es dazu kommt, dass andere Organisationen aufgrund der wechselseitigen Beobachtungsverha¨ltnisse auf diese Vera¨nderungen Bezug nehmen. Diese Reflexivita¨t der Vera¨nderungsprozesse in den Funktionssystemen macht deutlich, dass wir es letztlich mit einer „laufenden Selbstirritation der Funktionssysteme“ zu tun haben. Organisationen sorgen damit innerhalb der Funktionssysteme fu¨r Stabilita¨t (insb. durch die Entscheidung von Konflikten), lo¨sen aber zugleich an anderer Stelle Irritationen aus und bearbeiten diese. In unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Entscheidungsbezug steht eine weitere wichtige Funktion von Organisationen in und zwischen Funktionssystemen. Ich denke dabei an das Merkmal der Interdependenz, das mit Blick auf das Rechtssystem, dessen relevante Ereignisse Entscheidungen sind, auf genau diese zu beziehen ist.15 Organisationen, die sich gerade durch die Operation der Entscheidung von anderen autopoietischen Systemen unterscheiden, kommt dabei gleich eine doppelte Funktion zu. Zum einen erweisen sie sich als die „wesentlichen Tra¨ger von Interdependenzunterbrechungen“,16 zum anderen sind sie an der Ru¨ckseite von Interdependenzunterbrechung, na¨mlich der Strukturierung und Herstellung von Interdependenz zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen maßgeblich beteiligt.17 Was aber meint Interdependenz? Wenn Interdependenz nicht heißen soll, dass einfach alles mit allem zusammenha¨ngt,18 dann wird man diese als Systemvariable begreifen mu¨ssen, „deren jeweiliger Wert sich aus 14 Dazu Lieckweg/Wehrsig, ebd., S. 50 ff., die Konflikte in und zwischen Organisationen unterscheiden. 15 Luhmann, Systemtheoretische Beitra¨ge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beitra¨ge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 241, 252. 16 Ders., Organisation und Entscheidung, 2000, S. 395. 17 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 237 ff. 18 Zu den Unzula¨nglichkeiten einer solchen Begriffsbestimmung Luhmann, Systemtheoretische Beitra¨ge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beitra¨ge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 241, 251 f. m.w.N.; vgl. auch die Bemu¨hungen von Eichler, Gesetz und System, 1970, S. 50 ff.

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dem Zusammenhang mit den Werten anderer Variabler ergibt, sich also Beschra¨nkungen der Kompatibilita¨t mit anderen Systemerfordernissen fu¨gen muss“.19 Fu¨r das ganz maßgeblich durch seinen Entscheidungsbezug gepra¨gte Rechtssystem bedeutet dies, das Ausmaß erforderlicher Interdependenz – verstanden als selektive Festlegung einer Entscheidung, die eine andere nach sich zieht20 – immer auch mit Blick auf die sonstigen Systemerfordernisse zu bestimmen und vor allem zu begrenzen.21 Der solchermaßen konkretisierte und operationalisierte Begriff der Interdependenz gestattet es dabei, der Funktion von Organisationen als wesentlichen Tra¨gern von Interdependenzunterbrechungen, dem sog. loose coupling22, etwas intensiver nachzugehen.23 Diese Funktionszuschreibung ist zuna¨chst einmal ganz maßgeblich mit der Emergenz der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne verbunden.24 Sie ist durch einen besonderen Grad an struktureller Komplexita¨t gekennzeichnet, der Organisationen als Interdependenzunterbrechungen geradezu erfordert. Hintergrund dafu¨r ist, dass sich die einzelnen Funktionssysteme in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in einem spezifischen Wechselseitigkeitsverha¨ltnis zueinander befinden. Und zwar steigert funktionale Differenzierung „wechselseitige Unabha¨ngigkeit und Abha¨ngigkeit der Funktionssysteme miteinander, also zugleich; denn jedes Funktionssystem ist in der Erfu¨llung der eigenen Funktion autonom, aber zugleich davon abha¨ngig, dass die anderen Funktionssysteme ihre jeweilige Funktion auf ada¨quatem Leistungsniveau erfu¨llen“.25 Dieses strukturelle Wechselseitigkeitsverha¨ltnis verhindert aber, dass funktionale Differenzierung die notwendigen 19

Luhmann, ebd., S. 252. Ders., ebd.; zum allgemein-systemtheoretischen und kybernetischen Hintergrund der Begriffsbestimmung siehe Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 232 ff. m.w.N. 21 Erscheinungsformen dieser „limitierten Interdependenz“ sind bspw. die juristischen Argumentationstopoi der Rechtskraft und der Verja¨hrung. 22 Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 394; siehe dazu auch Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 157 f. 23 Dazu und zum Folgenden eingehend Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 232 ff.; Luhmann, ebd., S. 394 ff. 24 Zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Differenzierungsform und Interdependenzunterbrechung siehe Drepper, ebd., S. 235, dort insb. mit Blick auf segmenta¨re Differenzierung; Luhmann, ebd., S. 396, dort insb. mit Blick auf segmenta¨re und stratifikatorische Differenzierung. 25 Luhmann, ebd. (Hervorhebung i.O.). 20

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Interdependenzunterbrechungen selbst leistet, die erforderlich sind, um unkontrollierbare, nicht lokalisierbare Irritationen, die sta¨ndig auf das System einwirken, zu unterbinden.26 Und genau an dieser Stelle kommt das loose coupling von Organisationen ins Spiel, das komplexen Systemen die Mo¨glichkeit ero¨ffnet, ihre eigene Irritabilita¨t zu steigern, gleichzeitig aber ihre eigene Stabilita¨t zu wahren.27 Sichtbar wird damit ein Beziehungsgeflecht von Funktions- und Organisationssystem, in dem das Entstehen von Organisationen „zur Differenzierung des Gesellschaftssystems und seiner Funktionssysteme gegen die Autopoiesis der Organisationen und, mit Hilfe dieser Autopoiesis, zur Differenzierung der Funktionssysteme gegeneinander und gegen ihre jeweilige Umwelt“ beitra¨gt.28 Organisationen sind nun aber – wie bereits erwa¨hnt – nicht nur an der Interdependenzunterbrechung, sondern auch an deren Ru¨ckseite, na¨mlich der Interdependenzherstellung in und zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen beteiligt. Im Sinne strukturierter Interdependenz wirken sie daran mit, dass trotz operativer Geschlossenheit und klarer Systemgrenzen kommunikative Zusammenha¨nge in und zwischen Funktionssystemen mo¨glich werden und bleiben.29 Konkret ist damit vor allem ihre Beteiligung an der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen angesprochen. Sicherlich geht man dabei nicht fehl, wenn die gesellschaftliche Funktion von

26 Ders., Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/ Scharpf (Hrsg.), Systemrationalita¨t und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195; siehe auch mit Blick auf das Rechtssystem ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 359 f.: „Entscheidungen in einem Subkomplex du¨rfen nur in wenigen Hinsichten auf andere durchschlagen, so wie umgekehrt die notwendige Information u¨ber das Recht bei allen Entscheidungen in Schranken gehalten werden muss, weil man anders nicht fu¨r unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche Entscheidungsmo¨glichkeiten bereithalten ko¨nnte.“ 27 Genau das meint ders., Organisation und Entscheidung, S. 396: „ … eben deshalb muss die Gesellschaft u¨ber funktionale Differenzierung hinausgehen und ein anderes Prinzip der Systembildung verwenden, um sich mit Ultrastabilita¨t und mit hinreichender lokaler Fa¨higkeit der Absorption von Irritationen zu versorgen, na¨mlich Organisation“. 28 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 846 f.; zur Bedeutung von Organisationen als „Muster der teilsystemischen Binnendifferenzierung“ in den Funktionssystemen der Gesellschaft siehe auch Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 235. 29 Drepper, ebd., S. 237.

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Organisationen insoweit als „Verdichtung von strukturellen Kopplungen zwischen Funktionssystemen“ beschrieben wird.30 Vor dem Hintergrund der damit im Allgemeinen beschriebenen Funktionen, die Organisationen bei der Interdependenzunterbrechung, aber auch bei der Interdependenzherstellung in und zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen wahrnehmen, soll nachfolgend im Besonderen untersucht werden, in welcher Weise Staat und Kirche als klassische Organisationssysteme an der Interdependenzunterbrechung und Interdependenzherstellung im Verha¨ltnis von Politik, Religion und Recht beteiligt sind. Als Referenzbeispiel wird dafu¨r die Beurteilung der Problematik des Kirchenaustritts im staatlichen und kirchlichen Recht dienen.31 Auch fu¨r das Kirchenaustrittsrecht gilt, dass die Beteiligung von Staat und Kirche an den Interdependenzen im Verha¨ltnis von Politik, Religion und Recht ihre ganz eigene Geschichte hat. Sie reicht zuru¨ck bis in die Zeit des Kulturkampfs um die Mitte des 19. Jahrhunderts und findet – ungeachtet einzelner Vorla¨uferregelungen32 – im „Preußischen Gesetz, betreffend den Austritt aus der Kirche vom 14. Mai 1873“ ihren historischen Ausgangspunkt.33 Mit der Kulturkampfgesetzgebung des preußischen 30

So Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/Scharpf (Hrsg.), Systemrationalita¨t und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195; allerdings la¨sst sich die Trennscha¨rfe in der Beobachtung und Beschreibung dadurch deutlich optimieren, dass zwischen Organisation als Voraussetzung fu¨r strukturelle Kopplung, Organisation als strukturelle Kopplung und Organisation als Vermittler struktureller Kopplung unterschieden wird, so Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „u¨ber“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 275 ff.; siehe dazu auch Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 150 ff., 175 ff. 31 In a¨hnlicher Weise ließe sich die Funktion von Staat und Kirche mit Blick auf die Fragen der Interdependenzunterbrechung und der Interdependenzherstellung vermutlich am Beispiel der Behandlung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften im staatlichen und kirchlichen Recht verdeutlichen. 32 Dazu im Einzelnen Schmal, Das staatliche Kirchenaustrittsrecht in seiner historischen Entwicklung, 2013, S. 81 ff. m.w.N.; vgl. aber auch schon Lo¨ffler, Ungestraft aus der Kirche austreten? Der staatliche Kirchenaustritt in kanonistischer Sicht, 2007, S. 48 ff. 33 Zur Entstehungsgeschichte eingehend Schmal, ebd., S. 155 ff.; siehe aber aus religionssoziologischer Perspektive auch Breuer, Religio¨ser Wandel als Sa¨kularisierungsfolge. Differenzierungs- und Individualisierungsdiskurse im Katholizismus, 2012, S. 207 ff.; vgl. ferner aus historischer Perspektive auch Liedhegener, Sa¨kularisierung als Entkirchlichung. Trends und Konjunkturen in Deutschland

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Staates teilt das Kirchenaustrittsgesetz allerdings nur den a¨ußeren, gesetzessystematischen Zusammenhang, da es Bestandteil des „einheitlichen Gesetzespakets“ der Maigesetze war. Ohne eigentliches Kulturkampfgesetz zu sein, ging es ihm im Wesentlichen um eine „scha¨rfere Abgrenzung der staatlichen und kirchlichen Machtspha¨re“.34 Hintergrund dafu¨r waren unbewa¨ltigte Interdependenzen, die ihre tiefere Ursache darin fanden, dass die restriktive preußische Kirchenaustrittsregelung des § 17 der Verordnung von 1847 mit der im Art. 12 Satz 2 der Preußischen Verfassung von 1850 garantierten negativen Religionsfreiheit nicht zu vereinbaren war. Die selektive Festlegung einer Entscheidung des preußischen Staates, na¨mlich die verfassungsrechtliche Verankerung der negativen Religionsfreiheit, zog auf kurz oder lang eine andere Entscheidung nach sich, und zwar die gesetzliche Normierung der Rahmenbedingungen des Kirchenaustritts.35 Die zu erwartende Irritation des Religionssystems war erfolgreich. Nachdem Papst Pius IX. schon die Gedanken der Religions- und Gewissensfreiheit als Irrtum und verderblich fu¨r das Seelenheil verurteilt hatte36, erkla¨rte er in seiner „Enzyklika an die Erzbischo¨fe und Bischo¨fe des preußischen Reiches“ vom 5. 2. 1875 die Maigesetze ausdru¨cklich fu¨r ungu¨ltig, „da sie der go¨ttlichen Einrichtung der Kirche ganz und gar widerstreiten“.37 Wer als Katholik an der Entstehung der Gesetze beteiligt war oder sich am

von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in: Gabriel/Ga¨rtner/Pollack (Hrsg.), Umstrittene Sa¨kularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2012, S. 481, 513 ff. 34 Siehe dazu insb. Gallenka¨mper, Die Geschichte des preußischen Kirchenaustrittsrechts und Aspekte seiner heutigen Anwendung, 1981, S. 114 ff.; vgl. ferner schon Caro, Gesetz, betreffend den Austritt aus der Kirche. Vom 14. Mai 1873. Textausgabe mit Einleitung, Anmerkungen und Sachregister, 1911, S. 13 ff. 35 Zu den rechtstatsa¨chlichen Einzelheiten dieser Interdependenz von negativer Religionsfreiheit und staatlichem Kirchenaustrittsrecht siehe eingehend Gallenka¨mper, ebd., S. 122 ff. 36 Dazu insb. Lo¨ffler, Ungestraft aus der Kirche austreten?, S.57 m.w.N. in Fn. 266. 37 Siehe in deutscher Fassung Huber/Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. II, Nr. 307, S. 651, 652.

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Vollzug derselben beteiligte, verfiel „gema¨ß den heiligen Canones rechtlich und thatsa¨chlich der gro¨ßeren Excommunication“.38 Außerhalb des Religionssystems blieben die durch das Kirchenaustrittsgesetz vom Mai 1873 ausgelo¨sten Irritationen aber u¨berschaubar, um nicht zu sagen, kaum nennenswert. Nach dem Untergang des wilhelminischen Staates war die erste deutsche Republik politisch und o¨konomisch viel zu sehr mit sich selbst bescha¨ftigt, als dass sie auch noch solch diffizilen Problemen des Staatskirchenrechts gro¨ßere Aufmerksamkeit zu schenken vermochte. Erst nach dem Ende des ersten Weltkriegs trat das Kirchenaustrittsrecht mit dem sog. Erleichterungsgesetz wieder auf den Plan der politischen und rechtlichen Agenda. Dahinter verbirgt sich das „Preußische Gesetz zur Erleichterung des Austritts aus der Kirche und aus den ju¨dischen ¨ bergangsrecht einer nicht Synagogengemeinden vom 13. 12. 1918“. Als U demokratisch legitimierten Regierung im Verordnungswege entstanden erfuhr es allerdings das Schicksal, vom Erlass der Weimarer Reichsverfassung und der in diesem Zusammenhang entwickelten Vorstellung einer vo¨lligen Neuregelung des Kirchenaustrittsrechts u¨berholt zu werden. Deshalb knu¨pft eigentlich erst das „Gesetz, betreffend den Austritt aus den Religionsgesellschaften o¨ffentlichen Rechts vom 30. 11. 1920“ wieder an das „Maigesetz“ zum Austritt aus der Kirche von 1873 an. Es sah sich dabei mit der Tatsache konfrontiert, dass Politik und Recht zwischenzeitlich u¨ber die Weimarer Reichsverfassung bestimmte Eigenarten ihrer Umwelt dauerhaft voraussetzten und sich strukturell darauf verließen39. Die Verfassung beschaffte politische Lo¨sungen fu¨r das Selbstreferenzproblem des Rechts und rechtliche Lo¨sungen fu¨r das Selbstreferenzproblem der Politik40. Politik und Recht waren – kurz gesagt – strukturell gekoppelt41. Vor diesem Hintergrund kam Art. 137 Abs. 3 WRV besondere Bedeutung zu. Demzufolge ordnet und verwaltet na¨mlich jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbsta¨ndig innerhalb der Schranken des fu¨r alle geltenden Gesetzes. Vom „ordnen und verwalten“ umfasst sind dabei die autonome Rechtsetzung, Rechtsanwendung und der Rechtsvoll38 Zum Nachweis siehe dies., ebd., S. 653; zur Resonanz in der Rechtswissenschaft, bei den Kirchen und im Bildungsbu¨rgertum siehe insb. Schmal, Das staatliche Kirchenaustrittsrecht in seiner historischen Entwicklung, S. 183 ff. 39 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 441. 40 Ders., ebd., S. 478; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 782 f. 41 Eingehend dazu Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, S. 136 ff. m.w.N.

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zug, aber auch das Recht, im Konfliktfall durch eine autonome Rechtsprechung u¨ber die Anwendung des eigenen Rechts zu entscheiden. Weil die Religionsgemeinschaften aber nicht komplett aus der staatlichen Rechtsordnung herausgenommen sind, vermag der Staat u¨ber das „fu¨r alle geltende Gesetz“ Grenzen ihrer autonomen Beta¨tigung zu ziehen.42 Das damit umrissene „Spannungsfeld von Freiheit und Selbstbestimmung einerseits und Schranken der Rechtsordnung, innerhalb derer sich auch die Kirche und ihr Recht halten mu¨ssen, andererseits“43 vermag als Beleg dafu¨r zu gelten, dass Kirchenrecht und staatliches Recht sich eben nicht beziehungslos gegenu¨ber stehen. Art. 137 Abs. 3 WRV erga¨nzte vielmehr die strukturelle Kopplung von Politik und Recht (durch die Weimarer Reichsverfassung) um eine opera¨ ber den Begriff der „eitive Kopplung von Politik, Religion und Recht. U genen Angelegenheiten der Religionsgesellschaften“ war es den Kirchen mo¨glich, ihr Versta¨ndnis von Kirchenzugeho¨rigkeit in den Rechtsetzungsprozess einzubringen; und u¨ber den Begriff der „Schranken des fu¨r alle geltenden Gesetzes“ vermochte der Staat seine auf eine generelle Austrittsmo¨glichkeit gerichtete Schutzpflicht gegenu¨ber den Mitgliedern religio¨ser Gemeinschaften und die damit einhergehende staatliche Regelungskompetenz zur Geltung zu bringen.44 Auf diese Weise kommt es zu einer – operative Kopplungen kennzeichnenden – Verdichtung und Aktualisierung der wechselseitigen Irritationen von Politik, Religion und Recht.45 Wie schon zur Zeit der Weimarer Republik ist das Kirchenaustrittsrecht auch unter der Geltung des Grundgesetzes letztlich ein Randthema des Staatskirchenrechts geblieben. Ursa¨chlich dafu¨r ist zuna¨chst einmal zweifelsohne, dass sich der Kirchenaustritt aus der Sicht des Staates als Ausdruck einer „Krise zwischen Individuum und Religionsgemeinschaft“46 darstellt, so dass sich die Debatte um das Kirchenaustrittsrecht durchaus nachvoll-

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Siehe insb. de Wall/Muckel, Kirchenrecht, § 1 Rn. 3. Dies., ebd., Rn. 5. 44 Im Einzelnen nachgezeichnet bei Schmal, Das staatliche Kirchenaustrittsrecht in seiner historischen Entwicklung, S. 222 ff. 45 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 788. 46 Siehe dazu auch Heckel, Kontinuita¨t und Wandlung des deutschen Staatskirchenrechts unter den Herausforderungen der Moderne, ZevKR 44 (1999), 340, 372. 43

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ziehbar vor allem in den Bereich des Kirchenrechts verlagerte.47 Der Staat hielt hingegen an seiner aus der Schutzpflicht fu¨r die austrittswilligen Mitglieder religio¨ser Gemeinschaften und seiner daraus abgeleiteten staatlichen Regelungskompetenz fest, so dass sich die staatskirchenrechtliche Dogmatik und die Rechtsprechung im Wesentlichen auf die Ausgestaltung der einzelnen landesrechtlichen Kirchenaustrittsregelungen konzentrierte.48 Einen Schwerpunkt bildete dabei bereits in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Zula¨ssigkeit sog. „modifizierter Kirchenaustrittserkla¨rungen“. Dabei erkla¨rt der Kirchenaustrittswillige bei seinem Kirchenaustritt vor der zusta¨ndigen staatlichen Stelle, dass sich sein Austritt nur auf die (steuerberechtigte) o¨ffentlich-rechtliche Ko¨rperschaft beziehe, er aber Mitglied der Religionsgemeinschaft bleiben wolle. Rechtsprechung und staatskirchenrechtliche Dogmatik fanden damals in dieser Frage zu keiner einheitlichen und abschließenden Lo¨sung des Problems.49 Allerdings la¨sst sich mit Blick auf den „modifizierten Kirchenaustritt“ gerade in ju¨ngster Zeit eine fu¨r das Verha¨ltnis von staatlichem und kirchlichem Recht interessante „redescription“ im Sinne einer Neubeschreibung von Beschreibungen50 ausmachen. Sie geht zuru¨ck auf „Zweifel und Anfragen“ von Bischo¨fen, Offizialen und Fachleuten des Kanonischen Rechts zur Kla¨rung des sog. „actus formalis defectionis ab ecclesia catholica“, die 2006 den Pa¨pstlichen Rat fu¨r die Gesetzestexte erreichten und ihn zu einer an die Pra¨sidenten der Bischofskonferenzen gerichteten Interpretation dieses in den Canones 1086, § 1, 1117 und 1124 enthaltenen, mittlerweile aber durch Moto Proprio vom 26. 10. 2009 gestrichenen Begriffs

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Im Einzelnen nachgezeichnet von Schmal, Das staatliche Kirchenaustrittsrecht in seiner historischen Entwicklung, S. 272 ff. Im Vordergrund stand dabei der Rechtscharakter der Taufe, der jedenfalls nach dem Kirchenrecht der katholischen Kirche (character indelibilis, c. 87 CIC) einen Kirchenaustritt unmo¨glich macht. 48 Zu den Einzelheiten dieser Auseinandersetzungen siehe erneut Schmal, ebd., S. 278 ff. 49 Zur Behandlung der Problematik in der Rechtsprechung siehe die Nachweise bei Lo¨ffler, Ungestraft aus der Kirche austreten?, S. 70 Fn. 333; zur unterschiedlichen Problembeurteilung in der Staatskirchenrechtsdogmatik siehe Schmal, ebd., S. 281 f. m.w.N. 50 Der Begriff geht zuru¨ck auf Mary Hesse, Models and Analogies in Science, 2. Aufl., 1970, S. 157 ff.

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veranlassten.51 Gerade einmal gut einen Monat spa¨ter hat dieses Rundschreiben den Sta¨ndigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz zu einer Erkla¨rung bewogen, welche die benannten „weltkirchlichen Bestimmungen unter Beru¨cksichtigung der deutschen Rechtstradition“ auf die deutschen Dio¨zesen anwende.52 Gleichsam im Sinne eines „no order from noise“53 geht man davon aus, dass es sich beim bezeichneten Rundschreiben des Pa¨pstlichen Rates fu¨r die Gesetzestexte lediglich um eine „Klarstellung“ zum kirchlichen Eherecht handele, welche die in der deutschen Rechtstradition stehende staatliche Regelung fu¨r den Kirchenaustritt nicht beru¨hre. Das Rundschreiben schaffe kein neues Recht, sondern halte an der geltenden Rechtslage fest und besta¨tige die bewa¨hrte Praxis. Diese zuna¨chst einmal zumindest ku¨hn anmutende Feststellung hat erwartungsgema¨ß in der Kanonistik eine a¨ußerst lebhafte Diskussion u¨ber den Zusammenhang von Kirchenaustritt und „actus formalis defectionis ab ecclesia catholica“ ausgelo¨st.54 Die Diskussion um den Kirchenaustritt, seine Voraussetzungen und Rechtsfolgen, ist jedoch nicht auf den Bereich des kirchlichen Rechts begrenzt geblieben. Im staatlichen Recht hat vielmehr der „Fall Zapp“ die Problematik staatskirchenrechtlich u¨berformt. Dahinter verbirgt sich der 51 Siehe im Einzelnen Pa¨pstlicher Rat fu¨r die Gesetzestexte (PCLT, Pontificium Consilium de Legum Textibus), Actus formalis defectionis ab Ecclesia catholica, Prot. N. 10279/2006 v. 13. 3. 2006, AfkKR 175 (2006), 158 – 160. 52 Erkla¨rung der Deutschen Bischofskonferenz zum Austritt aus der katholischen Kirche v. 24. 4. 2006, AfkKR 175 (2006), 160 – 162. 53 In Umkehrung des bekannten, auf Heinz von Foerster zuru¨ckgehenden Selbstorganisationsprinzips der „order from noise“. 54 Siehe nur Dietlein/Hannemann, Katholisch ohne Kirchensteuer? Bleibende Unklarheiten nach dem Allgemeinen Dekret der Deutschen Bischofskonferenz vom 15. Ma¨rz 2011, AfkKR 181 (2012), 467 ff.; Gruber, Actu formali ab ecclesia deficere. Zur Problematik des vor staatlicher Stelle vollzogenen Kirchenaustritts vor dem Hintergrund des Zirkularschreibens des Pa¨pstlichen Rates fu¨r die Gesetzes¨ sterreichischen Bischofskonfetexte vom 13. Ma¨rz 2006 und der Erkla¨rung der O renz zum Kirchenaustritt vom Ma¨rz 2007, 2009, passim; Graulich, Ist der Kirchenaustritt ein actus formalis defectionis ab Ecclesia catholica? – Ein Beitrag zur Diskussion, KuR 2008, 1 ff. (Hervorhebung i.O.); Nelles, Der Kirchenaustritt – Kein „Actus Formalis Defectionis“, AfkKR 175 (2006), 353 ff.; Schmitz, Kirchenaustritt als „Actus Formalis“. Zum Rundschreiben des Pa¨pstlichen Rates fu¨r die Gesetzestexte vom 13. Ma¨rz 2006 und zur Erkla¨rung der Deutschen Bischofskonferenz vom 24. April 2006. Kanonistische Erla¨uterungen, AfkKR 174 (2005), 502 ff.

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Streit um das schon dargestellte Pha¨nomen des sog. „modifizierten Kirchenaustritts“, genauer gesagt die Frage, wie das Zusatz-Verbot des § 26 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KiStG BW rechtlich zu werten ist, wonach nicht nur die Kirchenaustrittserkla¨rung selbst, sondern auch die Begleitumsta¨nde eines Kirchenaustritts keinen „Zusatz“ enthalten du¨rfen. Im Fall des Freiburger Theologen Hartmut Zapp hatte dieser versucht, (zur Vermeidung der Kirchensteuerpflicht) durch den Zusatz „ro¨misch-katholisch, Ko¨rperschaft des o¨ffentlichen Rechts“ im Formular „Austritt aus einer Kirche, Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft“ seinen Austritt aus der Ko¨rperschaft o¨ffentlichen Rechts zu erkla¨ren, seine Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche als Glaubensgemeinschaft aber beizubehalten. Die Frage, ob eine solche Austrittserkla¨rung nach staatlichem Recht zula¨ssig ist, wird von der kirchenrechtlichen Frage u¨berlagert, ob in einer solchen Erkla¨rung eine Straftat, gar ein Schisma i.S.d. Canones 1364 § 1 i.V.m. Canon 751 Hs. 2 CIC/1983, zu sehen ist. Dies verdeutlicht die vom Bundesverwaltungsgericht auch ausdru¨cklich so bezeichnete „ha¨ufig schwer zu u¨berblickende Gemengelage von staatskirchenrechtlichem und innergemeinschaftlichem Recht“.55 Im Ergebnis geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass derjenige, der aufgrund staatlichen Rechts aus einer Religionsgemeinschaft, die Ko¨rperschaft des o¨ffentlichen Rechts ist, austreten wolle, seine Erkla¨rung nicht auf die Ko¨rperschaft o¨ffentlichen Rechts unter Verbleib in der Religionsgemeinschaft als Glaubensgemeinschaft beschra¨nken du¨rfe. Allerdings sei fu¨r die Auslegung der Austrittserkla¨rung nicht auf begleitende Umsta¨nde, sondern allein auf die Eindeutigkeit der Erkla¨rung selbst abzustellen.56 Mit seiner Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht57 erneut – wie schon in den 70er Jahren – eine breite kirchen- und staatskirchenrechtliche Diskussion um den Kirchenaustritt hervorgerufen.58 55 BVerwG, Urt. v. 26. 9. 2012 – 6 C 7.12 -, ZevKR 58 (2013), 91, 99 f.; in diesem Sinne auch Reimer, Der Kirchenaustritt zwischen Landesrecht, Bundesrecht und Kirchenrecht, JZ 2013, 136, 137. 56 BVerwG, ebd., 91 ff. 57 Siehe zuvor bereits VG Freiburg, Urt. v. 15. 7. 2009 – 2 K 1746/08 – und VGH Baden-Wu¨rttemberg, Urt. v. 4. 5. 2010 – 1 S 1953/09. 58 Siehe dazu insb. Augsberg, „Wer glauben will, muss zahlen“? Erwerb und Aufgabe der Kirchenmitgliedschaft im Spannungsfeld von Kirchenrecht und Religionsverfassungsrecht, Ao¨R 138 (2013), 493 ff.; Lo¨hnig/Preisner, Verha¨ltnis von Kirchenaustritt zur Kirchensteuerpflicht, NVwZ 2013, 39 ff; Muckel, Nochmals: Verha¨ltnis von Kirchenaustritt und Kirchensteuerpflicht, NVwZ 2013, 260 ff.;

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Die Auseinandersetzungen um den sog. „Fall Zapp“, aber sicher auch die vielen Kirchenaustritte vor dem Hintergrund der zahlreichen Missbrauchsskandale in der Katholischen Kirche haben wiederum die deutschen Bischo¨fe zu einem Allgemeinen Dekret der Deutschen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt veranlasst.59 Darin wird ausdru¨cklich festgestellt, dass die Erkla¨rung des Kirchenaustritts vor der zusta¨ndigen zivilen Beho¨rde als o¨ffentlicher Akt eine „willentliche und wissentliche Distanzierung von der Kirche“ darstelle und eine „schwere Verfehlung gegenu¨ber der kirchlichen Gemeinschaft“ sei. Sie beinhalte einen Verstoß gegen die „Pflicht, die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren (c. 209 § 1 CIC), und gegen die Pflicht, seinen finanziellen Beitrag dazu zu leisten, dass ders., Bloßer „Ko¨rperschaftsaustritt“ (nur) formal mo¨glich – Anmerkung zu BVerwG, Urteil vom 26. 9. 2012, Az.: 6 C 7.12, KuR 2012, 209 ff.; zur Entscheidung der Vorinstanz (VGH Baden-Wu¨rttemberg) siehe schon Kuntze, Zur Erkla¨rung des Kirchenaustritts vor staatlichen Stellen, Anmerkungen zu VGH Baden-Wu¨rttemberg, Urteil vom 4. 5. 2010, Az.: 1 S 1953/09, ZevKR 55 (2010), 416 ff.; Lo¨hnig/Preisner, Aus aktuellem Anlass: Zu den Folgen eines Kirchenaustritts nach den Landeskirchenaustrittsgesetzen, Ao¨R 137 (2012), 118 ff.; Muckel, Kein „Ko¨rperschaftsaustritt“ als „Kirchensteueraustritt“ – Anmerkung zu VGH Baden-Wu¨rttemberg, Urteil vom 4. 5. 2010, Az.: 1 S 1953/09, KuR 2010, 26 ff.; vgl. auch allgemein zur Problematik Muckel, Ko¨rperschaftsaustritt oder Kirchenaustritt? Der sogenannte Kirchenaustritt im Schnittfeld von staatlichem Verfassungsrecht und katholischem Kirchenrecht, JZ 2009, 174 ff.; ders., Kirchenaustritt, „Ko¨rperschaftsaustritt“ und das Vorgehen Roms, KuR 2010, 188 ff.; Stuhlfauth, ¨ V 2009, 225 ff.; Zapp, Ko¨rperDas Recht zum Austritt aus der Kirche, DO schaftsaustritt wegen Kirchensteuern – kein „Kirchenaustritt“, KuR 2007, 66 ff.; ders., Ro¨misch-katholisch „im Geltungsbereich des Kirchensteuergesetzes“, in: Staat und Religion, hrsg. v. Ebner/Kraneis/Minkner//Neuefeind/Wolf, Tu¨bingen 2014, S. 209 ff.; siehe dazu unmittelbar auch Isensee, Buchbesprechung, Go¨ttingische Gelehrte Anzeigen 267 (2015), 228, 244 ff. vgl. ferner – noch immer grundlegend – Listl, Verfassungsrechtlich unzula¨ssige Formen des Kirchenaustritts, JZ 1971, 345 ff.; siehe auch umfassend Gu¨thoff/Haering/Pree (Hrsg.), Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht, 2011, passim; vgl. ferner ju¨ngst BayVerfGH, NVwZ-RR 2016, 681 ff. 59 DBK, Allgemeines Dekret der Deutschen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt vom 20. 9. 2012, ABl. der Erzdio¨zese Freiburg 2012, Nr. 24, S. 343 f.; siehe dazu aus kirchenrechtlicher Perspektive insb. Althaus, Zur Bewertung der Erkla¨rung eines Kirchenaustritts aufgrund des neuen Allgemeinen Dekretes der Deutschen Bischofskonferenz, ThGl 103 (2013), 390 ff,; Haering, Die Gemeinschaft mit der Kirche allzeit wahren. Zum Gesetz der Deutschen Bischofskonferenz u¨ber die Folgen des Kirchenaustritts vor der staatlichen Beho¨rde, in: Bier (Hrsg.), Der Kirchenaustritt. Rechtliches Problem und pastorale Herausforderung, 2013, S. 113 ff.

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die Kirche ihre Aufgaben erfu¨llen kann (c. 222 § 1 CIC i.V.m. c. 1263 CIC)“. Mit der soeben dargestellten Fallerfahrung des „modifizierten Kirchenaustritts“ mo¨chte ich abschließend eine These zu den Irritationen und Interdependenzen im Verha¨ltnis von Politik, Religion und Recht verbinden. Unter der Geltung des Grundgesetzes kommt der Interpretation von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV fu¨r das kirchliche Selbstversta¨ndnis von Kirchenzugeho¨rigkeit und den Umfang der staatlichen Schutzpflicht zur Garantie einer Kirchenaustrittsmo¨glichkeit zentrale Bedeutung zu. Kirchliche Rechtspraxis, Rechtsprechung, Kirchenrechtslehre und Staatskirchenrechtsdogmatik haben sich schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und ebenso in ju¨ngster Zeit mit der Herausforderung konfrontiert gesehen, das Spannungsverha¨ltnis zwischen den „Angelegenheiten der Religionsgesellschaften“ und den „Schranken der fu¨r alle geltenden Gesetze“ aufzulo¨sen. Und das u¨brigens nicht nur mit Blick auf die Problematik des Kirchenaustritts. Aktuelle Rechtsprechung zum sog. Dritten Weg im kirchlichen Arbeitsrecht und damit verbundene rechtsdogmatische Kontroversen besta¨tigen diesen Befund.60 Ko¨nnte dies nicht Anlass sein, unter Bezugnahme auf Niklas Luhmanns ¨ berlegungen zur kategorialen Struktur des Rechts in Art. 140 GG i.V.m. U Art. 137 Abs. 3 WRV eine sog. „zentral vermittelte Interdependenz“ zu sehen.61 Demzufolge ha¨ngt dann nicht jedes Element von jedem anderen, sondern alle ha¨ngen von einem zentralen Element ab. Beispielhaft erwa¨hnt Luhmann in diesem Zusammenhang den Begriff der unerlaubten Handlung. Viele Entscheidungen wu¨rden diesen Begriff verwenden, ohne des60

Siehe dazu nur Schlink, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, JZ 2013, 209 ff, 211, m.w.N. auf die Rechtsprechung, insb. 214 ff.; Neureither, Erwiderung zu Schlink, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, JZ 2013, 1089 ff.; Schlink, Schlusswort zu Neureither, JZ 2013, 1089 ff., JZ 2013, 1093 f.; vgl. aber auch Joussen, Grundlagen, Entwicklungen und Perspektiven des kollektiven Arbeitsrechts der Kirchen, in: Ka¨mper/Tho¨nnes (Hrsg.), Das kirchliche Arbeitsrecht vor neuen Herausforderungen. Essener Gespra¨che zum Thema Staat und Kirche 46 (2012), S. 53 ff.; Thu¨sing, Grund und Grenzen der besonderen Loyalita¨tspflichten des kirchlichen Dienstes – Gedanken zu den verfassungsrechtlichen Garantien und europarechtlichen Herausforderungen, ebd., S. 129 ff.; siehe ferner auch Ka¨mper/Puttler (Hrsg.), Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht, 2013, passim. 61 Siehe dazu Luhmann, Systemtheoretische Beitra¨ge zur Rechtstheorie, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 241, 253.

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halb aber voneinander abzuha¨ngen. Andererseits gebe es aber auch Leitentscheidungen, die diesen Begriff als solchen thematisieren, u¨ber ihn also mitentscheiden wu¨rden und davon hingen dann wiederum eine Vielzahl anderer Entscheidungen ab. In diesem Zusammenhang komme dann der juristischen Dogmatik eine besondere Funktion zu, na¨mlich auf solche Leitstrukturen aufmerksam zu machen und solche Interdependenzen zu verdeutlichen, aber sie eben auch darauf zu beschra¨nken.62 ¨ berlegungen zum Begriff der „unerlaubten Handlung“ lassen Diese U sich durchaus auf den Begriff der „Angelegenheiten der Religionsgesellschaften“ u¨bertragen. Schon die einschla¨gige Rechtsprechung zum „modifizierten Kirchenaustritt“ legt davon beredtes Zeugnis ab. Ganz besonders ist aber die Kirchen- und die Staatskirchenrechtsdogmatik ihrer Funktion, die Beliebigkeit von Variationen einzuschra¨nken, die mo¨glich werden, wenn eine Beziehung (na¨mlich diejenige von Norm und Fall) als zweiseitig variabel gedacht wird63, – wie dargestellt – nachhaltig gerecht geworden. Durch ihre begrifflich-klassifikatorische Durcharbeitung des Rechtsstoffes tra¨gt sie – ungeachtet aller Irritationen im Verha¨ltnis von Politik, Religion und Recht – maßgeblich dazu bei, dass sich die in der „ha¨ufig schwer zu u¨berblickenden Gemengelage von staatskirchenrechtlichem und innergemeinschaftlichem Recht“64 angesiedelten Probleme des Kirchenaustritts, aber z. B. auch des kirchlichen Ehe-, Straf- und Arbeitsrechts, nicht aus der Rechtsordnung „hinausspiralen“, sondern dem Rechtssystem verpflichtet bleiben.65 Die konkrete Problemlo¨sung bleibt dann der evolutionsoffenen Zuordnung zum staatlichen oder kirchlichen Recht vorbehalten.

62 63 64 65

Ders., ebd. Ders., Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 18. BVerwG, Urteil vom 26. 9. 2012 – 6 C 7.12 –, ZevKR 58 (2013), 90, 100. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 18.

Autorenverzeichnis Simon Hecke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl fu¨r Soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie der Universita¨t Bielefeld und Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology. Forschungsinteressen: Soziologische Theorie, Historische Soziologie, Organisations- und Rechtssoziologie. Zuletzt erschienen: Kanonisches Recht. Zur Rechtsbildung und Rechtsstruktur des ro¨misch-katholischen Kirchenrechts, Wiesbaden 2017. Ansgar Hense, apl. Professor Dr. iur., Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakulta¨t, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universita¨t Bonn, Direktor des Instituts fu¨r Staatskirchenrecht der Dio¨zesen Deutschlands und Leiter des Kanonistischen Instituts an der Universita¨t Potsdam Andre´ Krischer, Studium der Geschichte, Philosophie und Anglistik, Promotion 2005, Habilitation 2015; Leiter der Arbeitsstelle Geschichte Großbritanniens und des Commonwealth an der Universita¨t Mu¨nster, Forschungen zur britischen Rechtsund Verfassungsgeschichte, zur Stadt- und Kriminalita¨tsgeschichte Ru¨diger Otto, 1989 – 2000 Mitarbeiter an der Leibniz-Edition der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin bzw. Potsdam (Politische Schriften), seit 2000 Mitarbeiter an der Edition des Briefwechsels von Johann Christoph Gottsched der Sa¨chsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Detlef Pollack, Professor fu¨r Religionssoziologie an der Universita¨t Mu¨nster, Sprecher am dortigen Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“. Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, Osteuropa-Forschung, Systemtheorie. Letzte Vero¨ffentlichung: Religion in der Moderne: Ein internationaler Vergleich. Frankfurt/M; New York: Campus, 2015. Wilhelm Rees, Prof. Dr. theol. habil., Lehrstuhl fu¨r Kirchenrecht am Institut fu¨r Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakulta¨t der Leopold-FranzensUniversita¨t Innsbruck; Forschungsschwerpunkte: kirchliches Verfassungsrecht; kirchliches Strafrecht; kirchliches Verku¨ndigungsrecht/Religionsunterricht; Religionsrecht; Verha¨ltnis Staat und Kirchen/Religionsgemeinschaften Martin Schulte, seit 1994 Universita¨tsprofessor an der Juristischen Fakulta¨t der TU Dresden, Gastprofessuren: Katholische Universita¨t Nijmegen (1989 – 1991); Emory University Atlanta (1998), Verleihung des Preises „Geisteswissenschaften In-

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Autorenverzeichnis

ternational“ des Bo¨rsenvereins des Deutschen Buchhandels fu¨r die Monographie „Eine soziologische Theorie des Rechts“ im Jahre 2011. Hartmann Tyrell, geb. 1943, Soziologe, seit 2008 pensioniert; zuvor apl. Prof. an der Fakulta¨t fu¨r Soziologie der Universita¨t Bielefeld; dort auch seit 1999 und bis zur Pensionierung Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift fu¨r Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, Geschichte der Soziologie, Gesellschaftstheorie.