Narrative der Grenze: Die Etablierung und Überschreitung von Grenzen [1 ed.] 9783737015554, 9783847115557

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Narrative der Grenze: Die Etablierung und Überschreitung von Grenzen [1 ed.]
 9783737015554, 9783847115557

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Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 16

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Anna Pastuszka / Jolanta Pacyniak (Hg.)

Narrative der Grenze Die Etablierung und Überschreitung von Grenzen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Maria-Curie-Skłodowska-Universität Lublin, Polen. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Traktat o granicy (Traktat über die Grenze), Graphik von Svieta Butsan Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1555-4

Gewidmet Herrn Professor Janusz Golec zu seinem 70. Geburtstag

Inhalt

Anna Pastuszka / Jolanta Pacyniak (UMCS Lublin) Narrative der Grenze. Von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Hartmut Eggert (Berlin) Rezeption und Kontexte. Olga Tokarczuks »Die Jakobsbücher« und ich als Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Richard Brittnacher (Berlin) Zwischen Orthodoxie und Häresie – das Bild der Juden bei Karl Gutzkow (Der Sadducäer von Amsterdam, Novelle, 1834; Uriel Acosta, Drama, 1846) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Irmela von der Lühe (Berlin) »Noch eine kleine Weile, da reisen wir über die Grenze«: Robert Neumanns Exodus-Roman »An den Wassern von Babylon« (1939/1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Michaela Holdenried (Freiburg) Von den Segnungen eines festen Rockes. Reisende Frauen als Grenzgängerinnen der Welterkundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Dorota Tomczuk (KUL Lublin) »Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Verlorensein auf dem Erdenrund«: Erfahrung des Exils bei Alfred Polgar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Konrad Łyjak (UMCS Lublin) Grenzen der Menschlichkeit in einer Welt ohne Grenzen am Beispiel von George Orwells »1984«, Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« und Arthur C. Clarkes »Die letzte Generation« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Katarzyna Wójcik (UMCS Lublin) Die Grenze zwischen den historischen Narrativen und der NS-Propaganda in der Monatsschrift »Kolonistenbriefe« 1941–1944

. . .

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Anna Pastuszka (UMCS Lublin) Über Grenzen und ihr Überschreiten in »Lapidaria I–VI« von Ryszard Kapus´cin´ski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Jerzy Kała˛z˙ny (Poznan´) Die ehemalige innerdeutsche Grenze als Gegenstand reisejournalistischer Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Joanna Firaza (Łódz´) Dimensionen der Grenzüberschreitung in Ingo Schulzes »Orangen und Engel. Italienische Skizzen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Urszula Bonter (Wrocław) Eine literarische Grenzüberschreitung: Die »Dirndl«-Reihe von Andreas Karosser zwischen Heimatkrimi und Pornographie . . . . . . . . 137 Beate Sommerfeld (Poznan´) »Körpergefühle« – Friederike Mayröckers entgrenzende Affektpoetik . . . 147 Monika Wolting (Wrocław) »Die verfluchten Zwischenwelten.« Literarische Darstellungen der Hindernisse auf der Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Marek Jakubów (KUL Lublin) Die erlebte Grenze in »Przewóz« von Andrzej Stasiuk

. . . . . . . . . . . 179

Jolanta Pacyniak (UMCS Lublin) Grenzüberschreitungen als Konstruktionsprinzip in Thomas Glavinic’ »Das größere Wunder« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Anna Pastuszka / Jolanta Pacyniak (UMCS Lublin)

Narrative der Grenze. Von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der Literatur

Das Interesse für die Grenze und die damit zusammenhängenden Phänomene – Grenzraum, Grenzgang, Grenzgänger, Grenzbereich – hält seit etlichen Jahrzehnten an. Als transdisziplinäre Kategorie wird die Grenze in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften, in der Literaturwissenschaft und in den Kulturwissenschaften eingehend untersucht. Die Erkenntnisse der einzelnen Disziplinen bereichern das Wissen über die Grenze(n), die unabhängig von ihren Kontextualisierungen eine vordergründig territoriale Erscheinung, tiefergehend eine anthropologische Konstante bleiben. Die Grenzen sind ein künstliches Konstrukt, sie werden von Menschen gemacht. Die Grenzen zwischen politischen Lagern können benachbarte Länder zum voneinander abgeschirmten Feindesland machen. Die Grenze trennt und verbindet, man kann sie überqueren, überschreiten, überwinden. Eva Geulen und Stephan Kraft stellten zwar bereits 2010 einen ubiquitären Gebrauch des Begriffs Grenze fest1, doch trotz unterschiedlicher Ansätze und Perspektivierungen ist das Thema der Grenze weiterhin nicht erschöpft. Seit den 1970er Jahren werden die Grenzen in der Sozial- und Geschichtswissenschaft zunehmend als sozialpolitische und kulturelle Konstrukte aufgefasst, die durch entsprechende offizielle Staats- und Kulturpolitik, herrschende Praktiken und vorherrschende Imaginationen zur Nationsbildung im hegemonialen Diskurs aufrechterhalten werden. Die Relativität und Historizität von Grenzen2 heben nicht ihre realpolitische Auswirkung und ihre territoriale Existenz auf. In diesem Band finden sich Untersuchungen des Einflusses der Grenzen, deren extreme Gestalt die Mauer ist, auf das Leben literarischer Figuren, die für viele historische und gegenwärtige Migranten oder Geflüchtete repräsentativ sind. 1 Geulen, Eva; Kraft Stephan (Hrsg.): Vorwort. In: Dies.: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. Zeitschrift für deutsche Philologie. Sonderheft 129, 2010, S. 1–4, hier S. 1. 2 Vgl. Breitenfellner, Helene/Crailsheim, Eberhard/Köstlbauer, Josef/Pfister, Eugen: Einleitung. In: Dies.: Grenzen – kulturhistorische Annäherungen. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 7.

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Anna Pastuszka / Jolanta Pacyniak

Karl Schlögel stellt in Bezug auf das 21. Jahrhundert fest, dass Grenzen, Zentren und Schauplätze wandern.3 Das könnte man aber genauso gut auf alle anderen Epochen beziehen. Mit den verschobenen Grenzen verändern sich Zentren, die an Bedeutung verlieren und zu Peripherien mutieren, und auch umgekehrt, Territorien, die einst im Landesinneren gelegen und dicht besiedelt waren, werden plötzlich zu Grenzgebieten. Mit den Grenzen wandern Menschen, gezwungen durch äußere Umstände: Krieg, Hunger, Vertreibungen oder Not. Der Verlust der Grenzen bedeutet nicht zuletzt einen Verlust der Sicherheit. Die Grenzen können als Schutz dienen, indem sie eine innere, wenn auch fragwürdige Gemeinsamkeit schaffen.4 Mit ihrem Schwund oder ihrer Verschiebung verlieren die Bewohner das Gefühl der Zusammengehörigkeit und sehr oft ihren Besitz, der hinterlassen werden musste. Dinge wechseln Besitzer und überschreiten ebenfalls Grenzen. Im Kontext der Literatur taucht die Frage auf, welche narrativen Konstruktionen Grenzverschiebungen und Überschreitungen generieren, wie Flucht, Vertreibung, Migration im literarischen Text dargestellt werden. Die Grenze lässt sich in philosophischer Hinsicht nicht so eindeutig definieren. Mit den definitorischen Unklarheiten gehen Erkenntnisse über den ambivalenten Charakter der Grenze einher. Sie hat zwei unterschiedliche Funktionen: »Sie schließt einerseits ein, was zur jeweiligen Sache gehört, und sie schließt andererseits aus, was nicht zu ihr gehört.«5 Die eindeutige negative Assoziation fällt damit weg, denn es gibt in diesem Zusammenhang auch den positiven Aspekt: »Sie grenzt ein und konstruiert damit allererst einen identifizierbaren Sachverhalt.«6 Bei der Identitätsbildung spielt die Grenze eine konstruktive Rolle, ohne Mitmenschen und eine Abgrenzung von ihnen kann sich ein Individuum nicht identifizieren. Trotz der negativen Konnotation scheint sie unentbehrlich zu sein, obwohl sie im räumlichen Aspekt in der Menschheitsgeschichte viel Leiden mit sich brachte. Die Grenzen werden und wurden meistens mit Gewalt verschoben. Auf der einen Seite beobachtet man heutzutage im wissenschaftlichen Diskurs die Auflösung und Durchdringung der einst scharf gezogenen Grenzen zwischen Natur und Kultur, Mensch und Tier oder zwischen Geschlechtsidentitäten, andererseits verschärft sich in der Öffentlichkeit die starre Grenzziehung zwischen 3 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopoetik. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2006, S. 34. 4 Anselm, Sigrun: Grenzen trennen, Grenzen verbinden. In: Literatur der Grenze – Theorie der Grenze. Hrsg. von Richard Faber/Barbara Naumann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 207. 5 Wokart, Norbert: Differenzierungen im Begriff »Grenze«. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs. In: Faber/Naumann (Hrsg.): Literatur der Grenze. 1995, S. 275–289, hier S. 279. 6 Ebd.

Narrative der Grenze

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Kulturen, Religionen, Weltanschauungen bzw. Ideologien oder Geschlechtern. Diese entgegengesetzten Tendenzen – der Offenheit und der Grenzauflösung versus Abschottung in der eigenen, engen, scheinbar sicheren Welt – existieren heute parallel nebeneinander. Die Befürworter verschlossener und bewachter Grenzen möchten die Welt der stabilisierten und althergebrachten Ordnung bewahren: diese Welt ist die Welt der starren, territorialen und mentalen Grenzen und ihrer Verteidigung. Aber ohne die Überschreitung von Grenzen, mit der die Welt- und Wirklichkeitserkenntnis, die Gewinnung von Freiheit und Autonomie, das Kennenlernen des Anderen geschieht, würde kein Fortschritt stattfinden. Wie Ryszard Kapus´cin´ski betont, zeigt die Geschichte plausibel, dass die gegenüber Fremden verschlossenen Kulturen zugrundegingen. Und er warnt vor einer allgemeinen menschlichen Denkneigung: »Unser Denken weist apodiktische, vereinheitlichende Tendenzen auf, es will alles identisch und gleich haben, nur unsere Kultur, unsere Werte seien von Bedeutung, die wir – ohne die anderen zu fragen – als die einzig vollkommenen und universalen betrachten. Darin liegt die ganze Widersprüchlichkeit der Welt: die Widersprüchlichkeit zwischen ihrer faktischen, objektiv existierenden Mannigfaltigkeit und dem hartnäckigen Streben unseres Denkens, diese durch die Sicht einer einheitlichen homogenen Welt zu ersetzen.«7

Auf die Wahrnehmung der Grenzen hatten in den letzten Jahrzehnten einerseits die Globalisierungs- und Europäisierungsprozesse, andererseits terroristische Attentate, die Wirtschaftskrise und insbesondere die Migrationskrise einen immensen Einfluss. Wurde in den 1990er Jahre die These über borderless world8 aufgestellt und unsere Wirklichkeit als »flüchtige Moderne«9 bezeichnet – beides als Signale der Grenzauflösung (debording), so werden jetzt die Grenzen angesichts der Migrationskrise verstärkt und rekonstruiert (rebording) und die Frage der Sicherheit wird über die der individuellen Freiheit und die des freien Verkehrs gestellt. Die »Renaissance der Grenze« führt zu einer Wiederkehr der hegemonialen Machtpraktiken und macht die humanistische Dimension der Grenze zunichte.10 Auch diese Prozesse finden in den analysierten literarischen Texten ihren Widerhall. 7 Kapus´cin´ski, Ryszard: Notizen eines Weltbürgers. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. München, Zürich: Piper 2008, S. 241. 8 Oehme, Kenichi: The Borderless World. New York: Harper Collins 1990. 9 Bauman, Zygmunt: Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press 2000 (deutsch: Flüchtige Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003). 10 Vgl. dazu Pastuszka, Anna: Die Grenze und die Grenzziehungen in der Essayistik von KarlMarkus Gauß. In: Acta Philologica, 58 (2022), S. 107–118 (DOI: 10.7311/ACTA.58.2022.10). Die Bezeichnung entstammt dem Essay von Gauß »Die Renaissance der Grenze. Fünf Variationen.« In: Ders.: Die unaufhörliche Wanderung. Wien: Zsolnay 2020.

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Anna Pastuszka / Jolanta Pacyniak

Die Phänomene der Abgrenzung und der politischen, kulturellen, sozialen Grenzziehung beruhen auf der Einteilung in das Eigene und das Fremde, die sich in Krisenzeiten oft in ein dichotomisches Freund-Feind-Denken verwandelt. Somit ist auch die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden unter dem Gesichtspunkt der literarischen Ästhetik zu überlegen. Wie werden ihre Entstehung, ihre Funktionen und Mechanismen in den Kulturtexten widergespiegelt und hinterfragt? Wie werden durch Grenzen die Identitäten konstituiert? Wie reflektiert die zeitgenössische Literatur das Spannungsverhältnis zwischen Begrenzung und Entgrenzung, zwischen Verschärfung der Grenzlinien und ihrer Auflösung? Das Nachdenken über Grenzen beinhaltet notwendigerweise auch eine Reflexion über die Grenzüberschreitung. Hier eröffnet sich ein weites Feld von ›Grenzphänomenen‹: Grenzraum als ein Gebiet von Konflikten oder Überschneidungen, Grenzgang als Figur der Überschreitung, Grenzgänger als Kulturmittler oder transitorische Identitäten, Grenzbereich als eine Zone des Dazwischen, wo die Grenze auch liminale Phänomene mit einbezieht und begründet. Die Grenzüberschreitungen bekommen im Sinne von Jurij Lotman eine konstruierende Dimension, indem sie ein Ereignis konstruieren. Die Literatur ist das Medium, die die Grenze samt ihren dazugehörigen Phänomenen seit jeher abbildet, konstruiert oder hinterfragt. Angesichts der neuen Kriege, durch die die Gültigkeit der bestehenden Grenzen in Zweifel gezogen wird, fällt der Literatur die Rolle des Mediums der Grenze zu, das die einstigen Grenzgebiete und Grenzziehungen verewigt und gleichzeitig das Leid der Menschen, die von diesen Kriegshandlungen betroffen werden, beschreibt. Die Literatur der Grenze11 bleibt damit immer aktuell und eröffnet neue Interpretationsansätze, die in den Beiträgen dieses Bandes sichtbar sind. In einem stellenweise sehr persönlichen Ton schildert Hartmut Eggert die Rezeption und die Kontexte des Romans »Jakobsbücher« von Olga Tokarczuk, die von Reflexionen über den historischen Roman als Gattung, über die überregionale Bedeutung des Buches und den grenzüberschreitenden, europäischen Kontext der historischen Erscheinungen, bis hin zu seiner individuellen »Erkundung des Raumes« zwischen Weichsel und Dnjepr führen. Der Roman über die verschollenen Landschaften (Podolien, Wolhynien) auf der Landkarte Europas wird vor dem Hintergrund seiner privaten und beruflichen Reisen in Polen und in der Ukraine gelesen. Der um die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen polnischen, ukrainischen und deutschen Germanisten sehr verdiente emeritierte Professor der Freien Universität Berlin verflicht die Lektüre des

11 Dieter Lamping: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 7–18.

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Romans mit seinen Erinnerungen an Land und Leute, die er dank den KollegInnen aus Polen und aus der Ukraine kennenlernte. Hans Richard Brittnacher beschreibt einen religiösen Grenzgänger aus »Der Sadducäer von Amsterdam« (1834) und »Uriel Acosta« (1846) von Karl Gutzkow. Der rebellierende Uriel Acosta überschreitet die Grenzen, die von der religiösen Orthodoxie gezogen sind, und wird zur symbolischen Figur des Freiheitskampfes schlechthin. Das Zurechtschneidern dieser historischen Gestalt nach den Vorstellungen Gutzkows zieht jedoch eine Reihe Stereotype in der Gestaltung der jüdischen Gemeinde nach sich, die dabei von einer eher eigenwilligen Deutung des Philosemitismus durch Gutzkow zeugen. Irmela von der Lühe stellt die tragischen Ausgrenzungserfahrungen der jüdischen Exilanten kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs dar. Zur Überwindung von unterschiedlichen Grenzen – nationalen, geographischen und existentiellen – gezwungen, erfuhren sie die Grenzen als geschlossene und befestigte Grenzübertritte. Das Offene und Durchlässige der Grenze im modernen Diskurs lässt sich nicht auf die damalige Zeit anwenden, in der die Grenzen einen scharf bewachten »ethnisch-nationalen Raum« (so die Autorin) sicherten. Indem der Exodus-Roman »An den Wassern von Babylon« von Robert Neumann die gescheiterten Versuche der jüdischen Flüchtlinge zeigt, im Jahre 1938 nach Palästina, das biblische »Gelobte Land«, auszuwandern, greift er auf die biblische Geschichte vom Exodus der jüdischen Bevölkerung zurück. Die Grenze zwischen der biblischen Erzählung und der Zeitgeschichte verwischt sich, die Wüstenwanderung der zeitgenössischen Juden scheitert an dem durch britische Grenzwächter bewachten Grenzübergang. Die mittels einer modernen Montage erzählten zeitaktuellen Geschehnisse werden als eine überzeitliche Parabel von Verfolgung und Katastrophe gelesen, die die Grenzen der historischen Epoche und des konkreten Raums überschreitet. In dem Beitrag von Michaela Holdenried werden die Porträts der reisenden Frauen als »Grenzgängerinnen der Welterkundung« skizziert. Es wird untersucht, wie die mutigen und neugierigen weiblichen Reisenden die geschlechtstypischen Rollenerwartungen unterwandern, transgressiv ihre Geschlechterrollen verlassen und liminale Räume betreten. Symbolisch ist bereits die Wahl des soliden Schuhwerks – erst in festen männlichen Schuhen konnte man die Welt erforschen. Das historische Panorama der Frauenreisen macht die weibliche Reiselust anschaulich. Die Autorin stellt die Frage, ob die Erfahrung der eigenen ›Alterität‹ tatsächlich die weiblichen Reisenden mit einem ›Doppelwissen‹, einer besonderen Wahrnehmungsfähigkeit (nach Annegret Pelz) ausstattet. Die Beschreibungen der Weltreisen von Ida Pfeiffer und Caecilie Seler-Sachs verorten die beiden als Forscherinnen, die außerhalb des universitären Rahmens die Natur und fremde Sitten darstellten. Sie lassen sich auch als Wegbereiterinnen des heutigen Naturverständnisses mit dem Schutz der Biodiversität und dem

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Bewusstsein der Gleichwertigkeit von unterschiedlichen Lebensformen auffassen. Dorota Tomczuk beschäftigt sich mit der Erfahrung des Exils im Schaffen Alfred Polgars, eines Feuilletonisten und Kritikers der Zwischenkriegszeit, der wegen seiner jüdischen Herkunft Österreich verlassen musste. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Erschließung der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden im Exil und auf Polgars Reflexionen von Fremdsein, Flucht und Emigrantenschicksalen. Konrad Łyjak befasst sich mit dem Phänomen der Grenze in George Orwells »1984«, Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« und Arthur C. Clarkes »Die letzte Generation«. Die Grenze wird zuallererst geographisch erwogen, was jedoch in der dargestellten Welt der genannten Werke ein ganz anderes Grenzverständnis zur Folge hat. Trotz der Aufhebung der vielen Grenzen ist die Gesellschaft in der Vision Orwells keinesfalls von Erschütterungen frei. In »Schöne neue Welt« wird die Grenze zwischen dem Reservat und der Zivilisation gezogen, was nach Łyjak keinesfalls eindeutige Rückschlüsse nach sich zieht. Die Zivilisation erweist sich als die »schlechtere Seite der Grenze«, sie vergiftet und zerstört die Menschen aus dem Reservat. In »Die letzte Generation« scheint die Auflösung der Grenzen zum Verlust der schöpferischen Kraft zu führen. Łyjak kommt zum Schluss, dass eine Welt ohne Grenzen nichts anderes als die Hölle auf Erden ist. Katarzyna Wójcik erforscht in ihrem Artikel die Grenze zwischen historischen Narrativen und der NS-Propaganda in der Monatsschrift Kolonistenbriefe, die in den Jahren 1941–1944 für Volksdeutsche im in der Region Zamos´c´ herausgegeben wurde. In Anlehnung an die von Kenneth White vorgenommene Unterscheidung von geschichtlichen Ereignissen und sprachlichen Fakten sowie seine Feststellung des narrativen Charakters der Vergangenheitsdarstellung wird von der Autorin die in der indoktrinativen Zeitschrift propagierte deutsch-völkische Weltanschauung untersucht. Das von Kenneth Burke eingeführte pentadische Schema der historischen Narrative dient folglich zur Analyse der ideologischen Presseinhalte, die durch eine selektive Geschichtsdarstellung zum Ziel hatten, bei den Kolonisten das »Herkunftsbewusstsein« zu stärken und das Konzept der »Volksgemeinschaft« zu festigen. Anna Pastuszka skizziert das Denken und die »transgressive Erkenntnishaltung« von Ryszard Kapus´cin´ski anhand der Lektüre seiner sechsbändigen Aufzeichnungen »Lapidarium I–VI« aus den Jahren 1990–2007. Der Reporter und Schriftsteller erscheint hier als Befürworter der respektvollen Begegnung und des Dialogs unter Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, als Feind von rassischer und sozialer Aufteilung, Gegner von Stammesdenken und mentaler Provinzionalität. Kapus´cin´ski, ein homo transgressivus, träumt von einer planetarischen Multikulturalität und beklagt die immerwährende politische, soziale und ideologische Grenzziehung. Die Überschreitung von Grenzen bildet für den

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Autor einen Akt der Transzendenz, während der Mauerbau (die Chinesische Mauer, Limes, die Berliner Mauer) eine irrationale Verschwendung menschlicher Energie, feindselige Haltung und sinnlose Abschottung gegen den Anderen symbolisiert. Jerzy Kała˛z˙ny erforscht die Darstellung der ehemaligen innerdeutschen Grenze im aktuellen deutschen Reisejournalismus. Die Reiseprosa von Fred Sellin, Dieter Kreutzkamp und Andreas Kielling zeigt den deutsch-deutschen Grenzraum als »Raum der Ungleichzeitigkeit«, so Kała˛z˙ny, die Fußwanderung wird auch zur Erinnerungsreise in die eigene Kindheit und Jugend in der DDR. Ihre Reiseberichte dokumentieren den Wandel des einstigen Todesstreifens zu einem umweltfreundlichen »Grünen Band« in den zwanzig Jahren nach der Öffnung der Grenze, das Verschwinden der deutsch-deutschen Grenze als einer materiellen Begebenheit, aber auch die Anwesenheit der Grenze in den Köpfen der Einwohner. Sie bleibt als die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden anwesend, sie markiert für die Autoren aus der DDR auch metaphorisch eine Grenze zwischen eigener Vergangenheit und der Gegenwart. Die Darstellungen der Wanderung entlang der Grenze zeigen eine »(Selbst-)Erkenntnisreise« (Sellin), grenzen nahe an touristische Werbung voll von pointierten Vereinfachungen (Kreutzkamp) oder vermitteln eine abenteuerliche Geschichte von der Flucht aus der DDR (Kielling). Joanna Firaza nimmt in ihrem Beitrag Bezug auf Grenzüberschreitungen in Ingo Schulzes »Orangen und Engel. Italienische Skizzen«. Ausgehend von Grenzsituationen, die Teil der Erfahrungswelten der Protagonisten darstellen, erkundet die Autorin geographische, Sprach- und Zeitgrenzen sowie auch Grenzen zwischen Lebenswirklichkeit und Traum in der literarischen Italienreise Schulzes. Schulze verweist auf die Dynamik des Grenzbegriffs, der Umwandlungen unterliegt: die verschwindenden Grenzen generieren gleich neue. Urszula Bonter geht den gattungsspezifischen Grenzüberschreitungen nach und erkundet die »Dirndl«-Reihe von Andreas Karosser im Spannungsverhältnis zwischen den Genres Kriminalroman und Detektivgeschichte, Erotik- und Heimatliteratur versus Thriller. Bonter zeigt die analysierten Romane Karossers in ihrem grenzüberschreitenden Potenzial auf, indem sie auf die Abweichungen von den gattungstypischen Merkmalen des Kriminalromans wie das Fehlen eines Happy Ends oder die ausbleibende Bestrafung aller Täter hinweist. Die äußerst kontroverse Figurenkonstellation aus der Pornobranche markiert eine weitere Überschreitung der Grenzen. Beate Sommerfeld betrachtet in ihrem Artikel über die Affektpoetik von Friederike Mayröcker die Überschreitung der Text- und Gattungsgrenzen, die Entgrenzung des Subjekts und die Transzendierung der Grenze zwischen Mensch und Tier. Sie analysiert die Dichtung der österreichischen Autorin unter dem Gesichtspunkt der affektiven Beziehungen, indem sie sich auf das Ver-

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ständnis von Affekten als einer intensiven Beziehung zwischen verschiedenen Entitäten stützt, die die körperliche Energie freisetzen. Grenzenlose Offenheit gegenüber der Welt und der Natur löst ekstatische Zustände aus und verwischt die Subjekt-Objekt-Grenze. Die »Welt-Zärtlichkeit« der Dichterin betrifft ebenfalls das Nicht-Anthropomorphe. Neben Pflanzen und Tieren, die die »Affizierbarkeit durch die Natur« freisetzen, ist es auch die Kunst, die ein überpersönliches Affekt-Geschehen auslöst und zur pathetischen Erfahrung des AußerSich-Seins führen, stellt Sommerfeld fest. Im Beitrag von Monika Wolting werden literarische Darstellungen der heterotopischen Orte, »Zwischenwelten«, in denen die Flüchtlinge unter häufig extremen körperlichen und psychischen Belastungen auf der Flucht verweilen müssen, eingehend untersucht. Der Fokus liegt auf den neuesten Fluchtnarrativen, wobei die Grenzen jene Orte bilden, an denen sich die Handlung beschleunigt oder entschleunigt. Die Flucht wird als ein dynamischer, gewaltsamer Prozess dargestellt, ein Schwebezustand in limbo, in dem alles ungewiss bleibt. Der Artikel widmet sich der Auslotung dieses Zustandes im Dazwischen in ausgewählten Gegenwartsromanen. Am Ende wird die Hoffnung ausgedrückt, dass gerade literarische Werke deutlicher als andere Medien soziale und politische Missstände beleuchten und durch ihr kreatives Potential an fiktiven Geschichten den realen Krisensituationen vorbeugen können. Marek Jakubów setzt sich mit dem Phänomen der erlebten Grenze im Roman »Przewóz« (2021) von Andrzej Stasiuk auseinander. Der Fluss Bug, der bei Stasiuk als natürliche Grenze fungiert und künstlichen Schranken entgegengesetzt ist, wird zum Bündelpunkt vieler Lebensläufe im unruhigen Jahr 1941. Jakubów stellt narrative Strategien dar, deren sich Stasiuk bedient, um aufzuzeigen, wie die Grenze je nach der politischen Situation und den persönlichen Lebensumständen erlebt wird und wie sich die Grenzlandschaft als Pars pro toto des ganzen Landes gestalten lässt. Jolanta Pacyniak geht von dem Begriff der Grenze bei Jurij Lotmann aus, der in »Die Struktur literarischer Texte« die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes als Ereignis definiert. Erforscht werden Grenzüberschreitungen in »Das größere Wunder« des österreichischen Autors Thomas Glavinic. Die Überschreitungen der zeitlichen und räumlichen Grenzen, die gewöhnlich in einem Romanverlauf in ihrer Ereignishaftigkeit markiert werden, bekommen bei Glavinic eine unerwartete Dimension und werden immer wieder hinterfragt. Sogar die Grenze zwischen Leben und Tod wird von dem Protagonisten ausgelotet und die ständige Annäherung an sie führt schlussendlich zur Linderung der immer präsenten Angst vor dem Tod. Der vorliegende Sammelband ist als Festschrift für Professor Janusz Golec gedacht, den hervorragenden Literaturwissenschaftler, der seit 1976 an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin tätig war und die hiesige Ger-

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manistik mitgestaltet hat. Den feierlichen Anlass bietet sein 70. Geburtstag im August 2022. Die ihm gewidmete Festschrift soll als Ausdruck unserer tiefen Anerkennung für sein Forschungswerk und seine organisatorischen Verdienste gelten. An dem Band beteiligen sich seine KollegInnen von unterschiedlichen Germanistikinstituten in Deutschland und Polen, ehemalige Doktoranden und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistik der UMCS. Die Beiträge widmen sich insgesamt der Problematik der Grenzen und ihrer Überschreitung, den Grenzphänomenen und Grenzgängern – Themen, die von Professor Golec oftmals unter verschiedenen Blickpunkten untersucht wurden. Die Erforschung der »Literatur im Kulturgrenzraum« (so hieß die Reihe von drei internationalen Tagungen, deren Ergebnisse mit gleichnamigem Titel als Sammelbände 1992, 1994 und 1997 erschienen sind) blieb sein besonderes Anliegen. Er forschte über Galizien, Ostpreußen, jüdische Identitätssuche, Heimatverlust und Heimatkonstruktionen, Kulturvermittlung und Völkernachbarschaft in den Werken zahlreicher deutschsprachiger Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Über seinen wissenschaftlichen Weg, seine Lesesozialisation und sein Interesse für die deutsche Sprache sowie den Aufbau der Germanistik an der UMCS erzählte er ausführlich in einem Interview in Wiadomos´ci Uniwersyteckie.12 Die Verfasser des vorliegendes Bandes wünschen dem geehrten Jubilar alles Gute und hoffen, dass ihm die Lektüre der Beiträge mit ihrer Vielstimmigkeit, darunter auch sehr persönliche Erinnerungen an die Berliner und Lubliner Zusammenarbeit (vide der Beitrag von Hartmut Eggert), viel Freude bereiten wird. Lublin, August 2022

12 Pastuszka, Anna: Literatura jest refleksja˛. Wywiad z prof. dr. hab. Januszem Golcem. In: Wiadomos´ci Uniwersyteckie UMCS, Nr. 10/281, 2021 https://phavi.umcs.pl/at/attachment s/2021/1124/133145-wu-281-net.pdf.

Hartmut Eggert (Berlin)

Rezeption und Kontexte. Olga Tokarczuks »Die Jakobsbücher« und ich als Leser

»[…] oder Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt/ mit der Methode der Konjektur/ aus mancherlei Büchern geschöpft/ und bereichert durch die Imagination, die größte göttliche Gabe des Menschen./ Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung.«1

I.

Literaturnobelpreis und der historische Roman

Der Literaturnobelpreis gilt vielen als Aufnahme in den Olymp. Schaut man in dessen Geschichte, so findet man darin viel Vergängliches. In der Welt des internationalen Buchmarktes wirkt er aktuell als ein Aufmerksamkeitsverstärker und Überschreiter von Sprachgrenzen. In den letzten Jahren ist es dem schwedischen Literaturpreiskomitee erfolgreich gelungen, der Kritik zu begegnen, im Grunde sei der Nobelpreis nur ein europäischer Literaturpreis. Mit der Vergabe an arabische, nord- und lateinamerikanische, japanische und afrikanische Autor*innen konnte es diesem Eindruck begegnen, auch wenn vielfach Personen darunter waren, die ihren Schreibort in Europa hatten. Im Sinne Alfred Nobels waren es nicht vorrangig ästhetische Qualitätskriterien, sondern moralisch-politische, die die Entscheidung beförderten (In Alfred Nobels Testament heißt es, den Preis solle derjenige bekommen der »in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat«2 – das klassische Konzept zur »Beförderung der Humanität« scheint durch). Standen

1 Tokarczuk, Olga: Die Jakobsbücher. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Zürich: Kampa 2019. Text auf dem Titelblatt der deutschen Ausgabe. 2 Alfred Nobels Testament: in the field of literature, produced them outstanding work in an idealistic direction; nobelprize org.

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Hartmut Eggert

früher häufiger sozialkritische Aspekte des Werkes im Vordergrund, so in den letzten Jahren mehr Werke ›Wider das Vergessen‹. Als Herta Müller 2009 den Nobelpreis für »Atemschaukel« erhielt, war die Autorin einem engeren Kreis deutscher Literaturkenner bekannt; sie war über die Grenzen des deutschen Sprachraums unbekannt, aber auch vielen deutschen Lesern. Manche Deutschen fragten »Wer ist Herta Müller?« Die »Atemschaukel«, ein Roman über das Schicksal eines jungen Mannes aus Siebenbürgen im russischen Arbeitslager (Klappentext), war erst im gleichen Jahr erschienen, als sie den Nobelpreis für den – anfangs mit Oskar Pastior erarbeiteten – Text erhielt. Ob später noch viele diesen ästhetisch herausragenden Roman gelesen haben, mag man bezweifeln, auch wenn er derzeit 30 Auflagen erreicht hat und als Taschenbuch in Deutschland erhältlich ist. Als Olga Tokarczuk den Nobelpreis 2018 zusammen mit Peter Handke 2019 bekam (die Preisübergabe war 2018 wegen der Corona-Pandemie ausgefallen), stand sie ganz im Hintergrund der Kontroverse um Peter Handkes politisches Serbien-Engagement. Dem Komitee war es nicht gelungen, allein Handkes Sprachkunst von dem politischen Diskurs abzugrenzen. Bei Olga Tokarczuk hieß es in der Laudatio, dass sie ausgezeichnet werde »für ihre narrative Vorstellungskraft, die in Verbindung mit enzyklopädischer Leidenschaft, für das Überschreiten von Grenzen als einer neuen Form des Lebens steht.«3 Die deutschen Feuilletons mussten wegen des Handke-Effekts kräftig nachhelfen, die »Jakobsbücher« in die Aufmerksamkeit zu rücken. Die deutsche Übersetzung des 2014 in Polen erschienenen historischen Romans war rechtzeitig im Schweizer Kampa-Verlag fertig geworden. Das 1180 Seiten starke Opus lag zu Weihnachten 2019 auf dem deutschen Büchertisch mit dem Aufdruck »Literaturnobelpreis«. Den deutschen Literaturkritikern war zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass die »Jakobsbücher« in Polen keineswegs auf ein durchgehend positives Echo gestoßen waren, sondern politisch von konservativer Seite heftig kritisiert wurden. Martin Sander eröffnete seine Besprechung im angesehenen Literaturmagazin »lesenswert« des Südwestrundfunk SWR2 mit der folgenden Passage: »Olga Tokarczuks »Jakobsbücher« führen in eine Welt, die nationalbewusste Polen heute gern als Reich der Freiheit und Toleranz idealisieren. Es geht um die polnischlitauische Adelsrepublik des 18. Jahrhunderts, genauer gesagt, um den armen Südosten der Republik, wo Juden und Christen in enger Nachbarschaft lebten. Die frisch gekürte Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk schaut ohne nationale Verklärung auf diese Welt. Sie erzählt, auf historischen Quellen beruhend, von selbstherrlichen Adligen und überheblichen Kirchenfürsten, von sozialen und religiösen Spannungen, von Juden-

3 The Nobelprize in Literature 2018 »for a narrative imagination that with encyclopedic passion represents the crossing of boundaries as a form of life.« nobelprize. org 2019.

Rezeption und Kontexte. Olga Tokarczuks »Die Jakobsbücher« und ich als Leser

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hass. Das sei, so ihre Kritiker, eine Hetzjagd auf die polnische Nation, die Autorin eine Nestbeschmutzerin, die man des Landes verweisen müsse.«4

Solche Kritik am historischen Roman war und ist nicht neu, das Verhältnis von Fiktion und Historiographie, aus dessen Spannung er seinen Reiz für den Leser bezieht, lädt gerade dazu ein, ihn als Tendenzroman5 abzuqualifizieren, ein Begriff, der ihm seit dem 19. Jahrhundert anhaftet. Allerdings wurde er meistens angewendet, wenn der Roman dem aufkeimenden und sich verstärkenden Nationalbewusstsein widersprach. Für die bürgerlichen Nationalstaatsbewegungen in manchen europäischen Staaten waren historische Romane ein Medium der Selbstverständigung und historischen Fundierung und Legitimierung. Das gilt wohl auch für die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts, als bei der fehlenden Staatlichkeit in der Zeit der ›polnischen Teilungen‹ ihr eine kulturell und politisch bewahrende Funktion zukam. Olga Tokarczuks Roman »Die Jakobsbücher« ist dieser Tendenz entgegengesetzt, ja sie fordert schon im Titel »den Landsleuten zur Besinnung« auf. Freilich weiß sie auch, dass der Roman seit jeher unter dem Motto »delectare und prodesse« (Vergnügen und Nutzen) steht.6 Verlässt ein Roman seinen Ursprungsort und seine Entstehungszeit als Kontext für den Leser, wird immer stärker die Fiktion als Quelle des Lesevergnügens wahrgenommen. Die Glaubwürdigkeit als historische Quelle wird sekundär, und das ganze Werk erscheint als literarisches Kunstwerk, welcher literarischen Qualität auch immer. Um die überregionale Bedeutung hervorzuheben, greift die Jury des Nobelpreises für Literatur dann auch immer zu allgemeinen Formeln der Ethik und Ästhetik. In Deutschland werden die Leser »Die Jakobsbücher« ganz anders lesen als polnische Leser. Die Überschreitung der Grenzen des geschichtlichen Raumes und der Sprache der Autorin in der Form der Übersetzung schaffen anders geartete Rezeptionsbedingungen und Kontexte im Horizont der Leser. Aber – und das soll in den Vordergrund gerückt werden – der topographische und geschichtliche Raum, in dem die Frankistenbewegung entstand, ist in der Regel auf der politischen Landkarte ein weißer Fleck, das hat historische Gründe. Podolien und Wolhynien als Grenzraum zwischen dem heutigen Ostpolen und 4 SWR 2 lesenswert Magazin vom 27. 10. 2019. https://tinyurl.com/5n6h4fd6. 5 Eggert, Hartmut: Der historische Roman des 19. Jahrhunderts. In: Handbuch des deutschen Romans. Hrsg. von Helmut Koopmann. Düsseldorf: Bagel 1983, S. 342–355. 6 In der »bibliographisches Notiz« zu den »Jakobsbüchern« schreibt Olga Tokarczuk: »Wie gut, dass ein Roman als Fiktion angesehen wird und man deshalb vom Autor/von der Autorin keine detaillierte Bibliographie erwartet. Zumal eine solche wissenschaftliche Aufstellung im diesem Fall unnötig viel Platz in Anspruch nähme.« – Da war ihr früherer Kollege Viktor von Scheffel ganz anderer Meinung. Der Verfasser des »Ekkehard«, des erfolgreichsten historistischen Romans des ausgehenden 19./ beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland. Er fügte dem Roman 285 wissenschaftliche Fußnoten an.

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der westlichen Ukraine gehört zu den »verschollenen Landschaften« auf der europäischen Landkarte. Karl Schlögel reflektiert in seinem wundervollen Buch »Im Raume lesen wir die Zeit« (2003) die Veränderungen der Raumwahrnehmung in den Jahren nach 1989/90 und schreibt von der »Reaktivierung und Revitalisierung historischer (Grenz-)Regionen«7. Er betont die Chancen, die nun bestünden, nationale Phänomene als europäische zu thematisieren: »Europäische Erscheinungen, die den Rahmen der nationalen Historiographie sprengen, können nun im europäischen Kontext und grenzüberschreitend bearbeitet werden.«8 In diesem Sinne ist auch die Vergabe des Nobelpreises an Olga Tokarczuk zu verstehen.

II.

Meine Entdeckung des Raumes. Reisen und Lektüren

Die Loslösung der Fiktion von der historischen Realität, auf die sich der historische Roman bezieht, führt zur Auflösung zwischen Gattungsgrenzen innerhalb des Spektrums der Romangeschichte. Der jeweilige historische Roman wird dann wie jeder andere Roman gelesen, der keinerlei Anspruch erhebt, historisches Geschehen zu spiegeln oder »historische Wahrheiten« zu verbreiten. »Die Jakobsbücher« kann man so als die Geschichte eines Exzentrikers lesen, der durch frühere Zeiten geistert: »Jakob Frank war eine sehr kontroverse, mehrdeutige, komplizierte Gestalt, sehr charismatisch auch. Er wurde als Nachfahre sephardischer Juden geboren. Als selbsternannter Messias brachte er ein ziemliches Durcheinander über die polnisch-litauische Adelsrepublik. Diese Geschichte ist so unglaublich, dass allein schon das anspornt, sie zu erzählen.« (Olga Tokarczuk im Interview)9

Die Lektüre historischer Romane kann aber auch in die Gegenrichtung wirken, nämlich als Kristallisationspunkt für Interesse an spezifischen historischen Ereignissen und Phänomenen. Diesen Vorgang kann man häufig bei Jugendlektüren beobachten, wenn sich die literarische Ausgestaltung eines historischen Stoffes in das spätere Interesse an der Geschichte selbst verwandelt. Das sind

7 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Hanser 2003, S. 467. 8 Ebd., S. 474. Die Rückkehr nationalstaatlicher Grenzen im Zeichen der Corona-Pandemie als Bedrohungsszenarien haben der Mobilität einen erheblichen Dämpfer versetzt. Aber auch die Migrationsbewegungen im Europa der letzten Jahre hat einem nationalistischen Populismus den Weg bereitet. 9 SWR 2 lesenswert Magazin, ebd.

Rezeption und Kontexte. Olga Tokarczuks »Die Jakobsbücher« und ich als Leser

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intellektuelle »Sozialisationsprozesse«, die in der biographischen Leseforschung thematisch geworden sind.10 Ich möchte hier einige Facetten der Veränderung meines Polenbildes und die Entdeckung des Raumes zwischen Weichsel und dem Dnjepr als geschichtlichen Kulturraum darstellen, die für meine Lektüre der »Jakobsbücher« bedeutsam sind.11 1. In den elterlichen Bücherschränken – soweit es sie gab – standen Gustav Freytags »Soll und Haben« (ein beliebtes Konfirmationsgeschenk der Großeltern), Felix Dahns »Ein Kampf um Rom«, Conrad Ferdinand Meyers »Jörg Jenatsch« und ähnliches. Sie hatten sich von der Erwachsenenlektüre zum »Jugendbuch« gewandelt und standen nun in der Nähe zu Gerstäckers »Die Regulatoren von Arkansas« und den Winnetou-Romanen Karl Mays und Coopers »Lederstrumpf« (zurechtgestutzt als »Ausgabe für die Jugend«). Aus dem späteren Blick des politisch sensibilisierten Erwachsenen konnte es beunruhigen, wenn man sich die Weltbilder rekonstruierte, die diesen Romanen innewohnen. Was war davon vielleicht hängengeblieben? Um es konkreter zu machen: Wie »germanisch« waren die Helden, die im Kampf um Rom im Zeichen des zeitgenössischen ›Kulturkampfes‹ untergingen (»Wir sind die letzten Goten, wir tragen einen Toten…..«)? Was war mit der Apotheose des Jörg Jenatsch zum Machtmenschen im Stile Bismarcks oder was war das für ein Polenbild in Gustav Freytags »Soll und Haben«? Heute, fast 60 Jahre später, habe ich für letzteres eine Antwort gefunden, warum ich keinerlei Erinnerung an die Polen-Passagen in diesem bildungsbürgerlichen Bestseller habe: Gelesen haben ich und meine Freunde »Soll und Haben« als Abenteurerroman im wilden Westen im Stile Karl Mays (die WesternFilme gab es für uns noch nicht). War das in der Lektüre wichtig, wo die Prärie lag und welche Massaker unter den Indianern wirklich angestellt worden waren? In der heutigen Forschungsliteratur zu Gustav Freytag kann ich nachlesen, dass die Polen in diesem Roman als »Wilde« nach den Stereotypen für Indianer in der Literatur des 19. Jahrhunderts konstruiert waren und das »wilde Polen« als unzivilisierte Prärie der endlosen Weiten. Freytag hatte das zeitgenössische Amerikabild der verbreiteten Amerika-Romane zum Vorbild genommen, als der

10 Graf, Werner: Leseporträts. Die biographische Wirkung der Literatur. Mit einer Einführung in die qualitative Leseforschung. LIT Verlag: Münster 2018. 11 Dies möge man auch als Hommage an meine Lubliner und Kiewer Kolleginnen und Kollegen – allen voran Janusz Golec – lesen, die mir geholfen haben, diesen Raum Schritt für Schritt zu entdecken.

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Oberschlesier sein Polenbild literarisch-propagandistisch konzipierte. Wir mussten gar nicht stutzen, dass hier Historisches im Spiel sein könnte.12 Meine erste berufliche Polenreise unternahm ich 1973 nach Wroclaw (mit Freytags Breslau-Bild im Hinterkopf ?). Jedenfalls war es nicht nur für mich eine ehemalige deutsche Stadt in Schlesien, in der nicht mehr Deutsch gesprochen wurde, außer bei den Germanisten, meinen Gastgebern. Revanche-Fantasien hatte ich nicht. Die Brandt-Politik der Anerkennung der polnischen Westgrenze hatte meine Zustimmung. 2. 1988 sprach mich in unserem Fachbereich Germanistik der FU ein Doktorand an, er sei DAAD-Lektor an der Katholischen Universität in Lublin/Ostpolen. Ich müsse doch nicht immer nach China fahren, um ausländische Germanistikstudenten zu unterrichten….! Ohne eine konkrete Vorstellung von der Region reiste ich im November 1988 – noch vor der Wende im »Ostblock« – nach Lublin. Martin Sander, der oben zitierte Rezensent der »Jakobsbücher«, war es, der mich zu einer Autofahrt nach Naleczow einlud. Er wolle einer älteren jüdischen Polonistin aus der westlichen Ukraine den ehemaligen großbürgerlichen Kurort zeigen. Auf meine Frage nach dem Ort ihrer Tätigkeit: »Drohobycz« – »Wie bitte?« »Drohobycz«. »Nie gehört.« 1989 lud ich Dora Kaznelson, Expertin für Adam Mickiewicz, tätig an der pädagogischen Hochschule in Drohobycz an die FU in mein Seminar ein. Das Honorar wollte sie für das jüdische Altenheim zu Hause verwenden; solches Geld einzusammeln sei gegenwärtig ihre Haupttätigkeit.13 Als ich jetzt in meinem »Stielers Handatlas« von 1905 (Europäisches Russland Bd. 3) nachschaute, wo Rohatyn liege, der erste in den Jakobsbüchern genannte Ort, stieß ich auf eine mir bekannte »Literaturlandschaft« des jüdischen Galizien. Rohatyn liegt zwischen Drohobycz, dem Ort von Bruno Schulz (dessen »Zimtläden« schon lange in meinem Bücherregal stehen), und Brody, dem Geburtsort und Ort der Kindheit und Jugendjahre von Josef Roth. Beides sind Orte der zerstörten Schtetl-Kultur im Umkreis von Lemberg. Im Gegensatz zu seiner Selbstdarstellung war Roths Welt des Aufwachsens keineswegs so arm und heruntergekommen: »Roth berichtete von einer von Armut und Dürftigkeit geprägten Kindheit und Jugend. Demgegenüber weisen Fotografien aus der Zeit und die Berichte seiner Verwandten zwar nicht auf Wohlhabenheit, aber auf durchaus bürgerliche Lebensumstände hin:

12 Surynt, Izabela: Das ›ferne‹, ›unheimliche‹ Land. Gustav Freytags Polen. Dresden: Thelem Verlag 2004. 13 Dora Kaznelson ist heute auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben. Sie kam mit 79 Jahren 2000 aus gesundheitlichen Gründen nach Berlin, wo sie 2003 starb.

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Seine Mutter hatte ein Dienstmädchen, Joseph erhielt Violinunterricht und besuchte das Gymnasium.«14

3. Die Diskrepanz zwischen dem Image dieses galizischen Landstrichs und den historischen Befunden, zwischen der Vorstellung einer kulturell armen und schwach besiedelten Gegend und dem tatsächlichen multikulturellen Raum zu thematisieren ist der Anspruch von Olga Tokarczuk. Das Bild eines rückständigen, dünn besiedelten Landstrichs Polens und der Ukraine war es auch, das die deutsche Propaganda der deutschen Bevölkerung bei dem Einmarsch der Wehrmacht (1939 »Überfall auf Polen«) zu vermitteln suchte, mit beträchtlichem Erfolg. Als ich in den 90er Jahren regelmäßig, aufgrund der Partnerschaft mit den beiden Lubliner Germanistik-Instituten (UMCS15 und KUL16) in die Region fuhr, war dies für mich zunächst in erster Linie die »Strecke des Todes«, die die deutsche Besatzung des 2. Weltkrieges hinterlassen hatte: Majdanek – Trawniki – Bełz˙ec – Sobibór. Meinem Wunsche, diese »Stätten der Endlösung«, der Ermordung europäischer Juden durch die Generation meiner Väter, zu besuchen, wurde immer entsprochen. Den Lubliner Kolleginnen und Kollegen war es aber auch wichtig, dass ich die Besuche nicht allein auf diese Orte des Schreckens konzentrierte. Sie fuhren mit mir in die baulichen Renaissance-Städtchen Kazimierz Dolny und Zamos´c´, zu den prächtigen Schlössern der polnischen Adligen in Łan´cut und Lubartów, zu den Klöstern und Kirchen der »goldenen Kuppeln« von Przemys´l, zur Burg und Altstadt von Sandomierz über die Weichsel hinüber und, und, und. Die Altstadt von Lublin wurde erst seit Mitte der 90-er Jahre wiederhergestellt. Auf der Burg konnte man nach einer Weile die restaurierten prächtigen russisch-byzantinischen Fresken der Schlosskapelle der Heiligen Dreifaltigkeit bewundern… Allmählich begriff ich die Bedeutung des Denkmals für die Lubliner Union am Plac Litewski, des hohen stählernen Obelisken von 1826. Die Adelsrepublik Polen-Litauen, die Rzeczpospolita, gegründet auf dem Reichstag von Lublin 1569, bildet den politischen Rahmen für den ersten Teil der »Jakobsbücher«, so lese ich es heute. Wer von den deutschen Lesern kennt diesen Kontext? Martin Sander schreibt in seiner Rezension von 2019: »Die Mächtigen der polnisch-litauischen Adelsrepublik entpuppen sich in den »Jakobsbüchern« überwiegend als zwielichtige Gestalten. Das Paradebeispiel liefert der im Roman immer wieder auftauchende Bischof Kajetan Soltyk. Im Pantheon der polni-

14 Joseph Roth: Kindheit und Jugend. https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Roth (Zugriff am 20. 12. 2021). 15 UMCS = Maria-Curie-Skłodowska-Universität (polnisch: Uniwersytet Marii Curie-Skłodowskiej). 16 KUL = Katholische Universität Lublin (polnisch: Katolicki Uniwersytet Lubelski).

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schen Nationalhelden nimmt der Soltyk bis heute einen führenden Platz ein. Demnach kämpfte er wie kein anderer für den Glauben und die Freiheit Polens.«17

Jetzt verstand ich in meiner Lektüre, warum die ausführliche Darstellung seiner Spielschulden und deren Kompensation durch die Verleumdung der Juden als Kindsmörder mit den ihr folgenden Pogromen soviel konservative Empörung auslösen konnte.18 4. Das Fortwirken der politischen Grenzen seit den »Polnischen Teilungen« und den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts realisierte ich eindrücklich, als ich 2009 mit Marek Dziuba19 am westlichen Ufer des Bugs bei Włodawa stand und in die »weißrussische« Landschaft schaute. Nach dem Besuch Sobibors und der restaurierten Synagoge von Włodawa (ein Ort heute ohne Juden) zeigte der bekennende Katholik mir das nahegelegene restaurierte orthodoxe St.-OnufryKloster in Jabłeczna. Mir das Nebeneinander von alten historischen christlichen und jüdischen Orten am Bug zu zeigen war ihm wichtig. (Dass es hier schon die Grenze zwischen dem heutigen Polen und Belarus war, habe ich erst jetzt mit Blick auf die Karten realisiert.) Drei Jahre später besuchte ich von Kiew aus Schitomyr, dem Ort, an dem Soltyk residierte; das erfuhr ich in der Lektüre der »Jakobsbücher«, später wurde er Bischof in Kiew und in Krakau. Das war damals für mich der ergänzende Blick auf die Region Wolhynien/Podolien, diesmal von Osten nach Westen mit dem Bug als strenger ukrainischer Westgrenze. Er fügte zwei Teile – wie in einem Puzzle – zusammen, was einst eine historische Landschaft gewesen war. Mit den ukrainischen Germanisten20 hatten wir ein Jahr zuvor in Czernowitz getagt, der einstmals deutschsprachigen Kulturinsel in der nördlichen Bukowina während der Habsburger Monarchie, für mich die Geburtsorte von Paul Celan und Rose Ausländer aus dem jüdischen Bürgertum.21 Die religiöse Vielfalt sol17 SWR 2 lesenswert Magazin vom 27. 10. 2019. 18 Das Bild des adeligen Bischofs Kajetan Soltyk entspricht dem stereotypierten Bild des korrupten, spielsüchtigen Adligen, wie er in das das deutsche Stereotyp von der »Polnischen Wirtschaft« eingegangen ist. Vgl. Hubert Orlowski: ›Polnische Wirtschaft‹. Zur Tiefenstruktur des deutschen Poleinbildes. In: Harth, Dietrich (Hrsg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1994, S. 113–136. 19 Marek Dziuba starb im April 2021 nach schwerer Krankheit. Ihm habe ich viel zu verdanken als Dolmetscher in zahlreichen offiziellen Auftritten, als äußerst versierter Landeskundler und unermüdlicher Autofahrer durch Ostpolens Region. 20 Das Doktoranden-Seminar ukrainischer Germanisten, das von der FU-Germanistik mit Mitteln des DAAD betreut wurde (Koordinatorin Dr. Almut Hille) fand mehrere Jahre statt. Prof. Jewgenia Woloschtschuk (Kiew), die Koordinatorin der ukrainischen Germanisten in diesem Programm, hatte mich eingeladen, an der dortigen Pädagogischen Hochschule von Schitomyr einen Vortrag zu halten. 21 Der Celan-Forscher Petro Rychlo war nicht nur ein kundiger Stadtführer, sondern er machte mich auch mit der ganzen deutschsprachigen Lyrik der Bukowina bekannt, die er in einer

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cher Orte tat sich in den Gebäuden auf: Das prächtige heutige Hauptgebäude der Universität war einst die Residenz des griechisch-orthodoxen Metropoliten. Der Besuch des nahegelegenen Sadagora, ein bedeutendes Zentrum des Chassidismus, ergänzte zwar im Baulichen den Eindruck der zerstörten multireligiösen Region, zeigte aber auch dessen ganze Armseligkeit nicht nur im heutigen Zustand. Mit einem Ausflug nach Kamieniec Podolski und der Burg als Festung am Dnjestr22 gegen das osmanische Reich vervollständigte sich mir das Bild einer historischen Region, von der in den »Jakobsbüchern« das Nebeneinander, aber auch die Konflikte erzählt werden. Ohne die Lektüre der »Jakobsbücher« hätte ich nie realisiert, dass hier 1557 die 7-tägige Disputation zwischen den Frankisten (dem »Messias« Jakob Frank) und der jüdischen Orthodoxie über die Bedeutung des Talmud stattgefunden hat.23 5. Erst anlässlich der Roman-Lektüre las ich aufmerksam eine Passage in dem Buch »Die Judenstadt von Lublin« des polnisch-jüdischen Historikers Majer Balaban von 1919, das Janusz Golec und ich 2012 als Reprint herausgegeben hatten: »In Podolien erstand der Pseudomessias Frank, ein geistiger Nachfolger Sabbatai Zwi’s. Er sammelte um sich den Rest der alten Sabbatianer und verkündete seine Gottheit allen Menschen. Die Verfolgungen der podolischen Landsmannschaft trieben den Sektierer in die Arme der Kirche, und hier fand er einen mächtigen Gönner in dem Bischof von Kamieniec Podolski, Dembowski. Die polnische Landsmannschaft wurde von Bischof gezwungen, ihre Rabbiner zu einer in Kamieniec angeordneten Disputation zu entsenden, und hier neigte sich der Pseudomessias der katholischen Kirche zu. Der Bann in Brody, geschleudert von einer zahlreichen Rabbinerversammlung am 20. Siwan 1756, auf Anordnung des Judenreichstages, war die Antwort darauf, und die Folgen des Bannes ließen nicht lange auf sich warten. Frank und seine Anhänger wurden überall von den Juden verfolgt und aus den Gemeinden vertrieben.«24

Im Roman wird aus der Perspektive eines Gefährten Franks erzählt, wie die Kutsche auf dem Wege von Lemberg nach Warschau von den örtlichen Juden vertrieben werden sollten:

Anthologie gesammelt und ins Ukrainische übersetzt hat: Die verlorene Harfe. 2. Auflage. Cernivci (Czernowitz) 2008. 22 Ab 1373 stand sie unter polnischer Herrschaft als Sitz der Woiwodschaft Podolien; von 1672 bis 1699 gehörte die Stadt zum Osmanischen Reich. Seit dem 14. Jahrhundert war Kamieniec eine der bedeutendsten polnischen Festungen in der Woiwodschaft Podolien. 23 Tokarczuk, Jakobsbücher. 2019, S. 769ff. Später wurde die Disputation zuweilen verglichen und überhöht mit Luthers Auftritt vor dem Reichstag in Worms. 24 Balaban, Majer: Die Judenstadt von Lublin, Mit Zeichnungen von Karl Richard Henker. Berlin: Jüdischer Verlag 1919. Nachdruck der Ausgabe von 1919, hrsg. von Hartmut Eggert und Janusz Golec. Lublin: Os´rodek Brama Grodzka 2012, S. 74f.

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»Als wir zwei Tage später die Vorstadt von Lublin erreichten, die Kalinowszczyzna heißt, prasselte plötzlich ein Steinhagel auf uns nieder. Die Wucht des Angriffs war so groß, dass die Wurfgeschosse Löcher ins Holz des Kutschkastens und in die Wagenschläge rissen und das Dach durchschlugen. Da ich neben Jakob saß, warf ich mich mit meinem Körper auf ihn, um ihn zu schützen.«25

So könnte der Roman fast wie ein Wildwest-Roman gelesen werden, wenn dem ungeduldigen Leser nicht immer wieder die theologischen Diskurse und Differenzen zwischen orthodoxen Juden, den »Talmudisten« im Roman, und der jüdischen Reformbewegung der Frankisten, aber auch zum polnischen Katholizismus und Islam des osmanischen Reiches »dazwischen kämen«. So aber entsteht im Roman ein differenziertes Bild der historischen Landschaft, das nicht nur die ethnischen Differenzen, die politischen Streitigkeiten in der Adelsrepublik und sozialen Lebenswelten enthält, sondern auch der religiösen Überzeugungen und Weltbilder. Ich nenne das die »Metaphysik« einer Landschaft, die die reale Topographie und ihre Grenzen überwölbt. Die Lektüre der »Jakobsbücher« regt an, sich der spirituellen und rituellen Grundlagen dieser monotheistischen Religionen zu vergewissern. Die »ökumenische Perspektive«, die die Erzählerin Tokarczuk einnimmt, kann natürlich den Widerspruch aller konservativen Vertreter der jeweiligen Religionen auf den Plan rufen. Das »multikulturelle Erbe« Polen-Litauens26 prägte denn auch meine kurzen Reisen durch diese Region; wie ein Spurenleser folgte ich meinen jeweiligen Gastgebern und Reiseführern. Warschau und Wien als politische Zentren der Adelsgesellschaften des 18. Jahrhunderts, die späteren Stationen des Hofstaates des Jakob Frank, waren mir schon länger vertraut. Dass der Sektenanführer als »Baron von Offenbach« in der deutschen Geschichte fortlebte, war mir gänzlich neu. Ich sollte vielleicht doch einmal in die Maingegend bei Frankfurt fahren und mir das »Isenburger Schloss« anschauen. Dort starb Jakob Joseph Frank 1791.

25 Tokarczuk, Jakobsbücher. 2019, S. 488. 26 Norman Davies, der englische Historiker, charakterisiert die religiöse Landschaft der Adelsrepublik Polen-Litauens so: »Rund um die römisch-katholische Mehrheit gruppierte sich ein Allerlei von Sekten und Konfessionen: Calvinisten, Lutheraner, Arianer bzw. Unitarier; Orthodoxe und Altgläubige; strenggläubige Juden, Chassidim, Karaiten und Frankisten.« Davies, Norman: Im Herzen Europas. Geschichte Polens. München: C.H. Beck 2000, S. 287.

Hans Richard Brittnacher (Berlin)

Zwischen Orthodoxie und Häresie – das Bild der Juden bei Karl Gutzkow (Der Sadducäer von Amsterdam, Novelle, 1834; Uriel Acosta, Drama, 1846)

Karl Gutzkow (1811–1878), zu seinen Lebzeiten ein emsig gelesener und von der Obrigkeit erbittert bekämpfter Schriftsteller, zählt mittlerweile zu den fast vergessenen Erzählern des 19. Jahrhunderts – unter den vielen Vergessenen des langen Jahrhunderts vielleicht der am gründlichsten Vergessene.1 Allenfalls Experten der Literatur des Vormärz, jener nach der gescheiterten französischen Juli-Revolution sich formierenden Gruppe von fortschrittsbegeisterten, oppositionellen Dichtern und Literaten, ist er gelegentlich noch ein paar Zeilen wert – gelesen aber wird er kaum noch. Dem scheint zu widersprechen, dass immerhin einer seiner Romane, Wally die Zweiflerin, noch auf dem Buchmarkt – bei Reclam2 – greifbar ist. Dabei handelt es sich um einen seiner eher schwächeren und im Vergleich mit Gutzkows Monumentalprojekten wie Der Zauberer von Rom oder Die Ritter vom Geiste, die beide jeweils neun Bände umfassen und jeweils mehrere tausend Seiten füllen, auch einer seiner schmaleren Romane. Bemerkenswert aber ist auch Wally die Zweiflerin: Ungewohnt für einen Roman von 1835 sympathisiert der Erzähler deutlich mit seiner Heldin, einer freigeistigen, um religiöse und sexuelle Emanzipation ringenden Frau. Ihr legt er provozierende Sätze in den Mund: »Was Religion!«, empört sich Wally, »Was Weltenschöpfung! Was Unsterblichkeit! Roth oder blau zum Kleide, das ist die Frage.«3 Das war 1835 nicht nur unerhört, es galt dem zeitgenössischen Kritiker Wolfgang Menzel, den Ludwig Börne später als »Franzosenfresser« unsterblich machen sollte, als »unsittlich und gotteslästerlich«4 und trug seinem Autor wegen – so lautete das Urteil – »verabscheuungswürdigsten Schmähungen (…) und über1 Vgl. Rolf Vollmanns resignierte Besprechung einer Neuausgabe von Erzählungen und Briefen Gutzkows in der FAZ vom 29. 08. 1998; vgl. ergänzend dazu auch Vollmann, Rolf: Macht ihr Geschichte, wir wollen Romane schreiben. Gutzkow und die Nihilisten von 48 – Ein Nachspiel zur Religion. In: Neue Zürcher Zeitung 60 vom 13.–14. 3. 1999. 2 Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Studienausgabe mit Dokumenten zum zeitgenössischen Literaturstreit. Hrsg. von Günter Heinz. Stuttgart: Reclam 1983. 3 Gutzkow, Wally. 1983, S. 47. 4 Menzel, Wolfgang: Wally, die Zweiflerin. In: Gutzkow, Wally, S. 274–291, hier S. 281.

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haupt durch die zügellosesten Verhöhnungen jedes religiösen Glaubens« eine Gefängnisstrafe ein.5 Zuvor schon war Gutzkows Roman im deutschen Bundestag zu Frankfurt den Zensurbehörden Preußens und des deutschen Bundes willkommener Anlass gewesen, den Autoren des »Jungen Deutschlands« – also: Heine, Wienbarg, Laube, Börne und Mundt – die Verbreitung ihrer Schriften zu untersagen. Es war einer jener seltenen Fälle, in denen die Zensur der Literaturwissenschaft einen hilfreichen Dienst erwies, weil sie für eine Gruppe von Vormärzliteraten einen heute noch gebräuchlichen Epochennamen fand. Gleichwohl, um die melancholische Eingangsbemerkung zu wiederholen: heute ist Gutzkow, der immer im Schatten Büchners und Heines stand, fast vergessen, obwohl Schriftsteller wie Arno Schmidt und der Literaturkritiker Rolf Vollmann lebhaft für seine Wieder- und Neuentdeckung gestritten haben,6 Vollmann auch mit Hinweis auf Gutzkow nicht nur als Romancier und Erzähler, sondern auch als lesenswerten Chronisten Berlins. Unvergleichlich etwa sei Gutzkows »Schilderung von Schleiermachers Vorlesungen, in die er sich als Bub geschlichen hatte – er erzählt, wie, nachdem Schleiermacher während der Cholera von 1831 in seinen Kollegs immer geweint hatte, danach kaum noch Studenten zu ihm wollten, unvergesslich sind auch die Sätze, in denen er schildert, wie nachts die Choleratoten durch die leeren Straßen weggefahren wurden.«7

Dass Gutzkows Roman Wally die Zweiflerin konfisziert wurde, dass sein Autor ins Gefängnis musste, verweist immerhin auf die Macht des literarischen Wortes im Restaurationszeitalter, in dem die Karlsbader Beschlüsse noch gültig waren und die Zensurbehörden aufmerksam alle aliberalen und nationalen Tendenzen im nach-napoleonischen Deutschland registrierten und gegebenenfalls mit po5 Urteil des preußischen Oberzensurkollegiums vom 18. September 1833, in: Gutzkow, Wally, S. 291f., hier S. 291. 6 Schmidt, Arno: Die Ritter vom Geist. Von vergessenen Kollegen. Karlsruhe: Stahlberg 1965. Schmidt hat in Gutzkow einen Vorläufer von James Joyce entdeckt. Eine Liebhaberausgabe von Gutzkows Ritter vom Geiste im Rahmen der Arno Schmidt gewidmeten Reihe der Haidnischen Alterthümer war zwar ein buchhändlerischer Erfolg, die vom Roman selbst prätendierte Bedeutung als erstes Beispiel für einen »Roman des Nebeneinander« wurde im 19. Jahrhundert aber schon von zeitgenössischen Kritikern wie Julian Schmidt bezweifelt. Vgl. dazu http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-belletristik-nur-in -tropfen-einnehmbar-11308490.html (letzter Zugriff: 14. 04. 2022). Nach wie vor liegt keine vollständige Werkausgabe vor; der – mittlerweile in Konkurs gegangene – Oktoberverlag in München hat einige Bände einer Werkausgabe herausgebracht, die teils in Printausgaben, teils in digitaler Form erschienen sind. Andererseits ist Gutzkow in der literaturwissenschaftlichen Forschung nach wie vor präsent, u. a. wird seinen Novellen nachgesagt, dass sie »zum Besten gehören, was diese Zeit zu bieten hat.« Vgl. Lukas, Wolfgang: Novellistik. In: Zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Hrsg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München: Hanser 1998, S. 251–280, hier S. 279. 7 Vollmann, FAZ 29. 08. 1998.

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lizeilichen Maßnahmen eingriffen.8 Fontane, der Gutzkow nicht schätzte und ihn herablassend als einen »brillant[en] Journalist[en], der sich das Dichten angewöhnt hatte«9 qualifizierte, übersah wohl die belebende Kraft von Gutzkows politisch engagierter Literatur. In Gutzkows poetologischen Texten, die um die Behandlung der sozialen Frage in der Literatur kreisen, bezichtigt sich der Autor selbst immer wieder eines Deliktes, um den kriminellen, weil obrigkeitsfeindlichen Charakter seiner Schriften zu markieren: den Schmuggel. Mal spricht er vom »Ideenschmuggel«,10 den seine Texte betreiben, weil sie im Gewand bekömmlicher Literatur rebellische Gedanken vermittle, mal – in einem Brief an Büchner, dessen außerordentliches literarisches Talent er entdeckt hatte – vom »Schmuggelhandel der Freiheit«, weil er an der wachsamen Zensur vorbei die Idee der Freiheit in den publizistischen Diskurs seiner Zeit einschleuste: »Treiben Sie wie ich den Schmuggelhandel der Freiheit: Wein verhüllt in Novellenstroh, nicht in seinem natürlichen Gewande.«11 Die den Deutschen so liebe Gattung der Novelle – des »deutschen Hausthiers«, wie Theodor Mundt einmal abschätzig bemerkte12 – sei die geeignete Form, den unpopulären Gedanken der Freiheit bekömmlich zu machen. Die Novelle wird zum Trojanischen Pferd, das rebellischen Ideen Einlass in das von der Zensur bewachte Restaurationsdeutschland verschafft. Zu den literarischen Texten, die Gutzkows liberales, aufklärerisches Engagement dokumentieren, zählt auch die Novelle Der Sadducäer von Amsterdam, die 1834, also ein Jahr vor der Veröffentlichung des Skandalromans, im Morgenblatt für gebildete Stände erschien. Der titelgebende »Sadducäer« von Amsterdam ist der jüdische Philosoph Uriel Acosta bzw. Uriel da Costa, eine historische Figur, in dem viele einen Wegbereiter Spinozas sehen. Mit kleinen, aber charakteristischen Abweichungen von den geschichtlichen Quellenvorgaben, mit Konzentration auf wenige prägnante Monate und auf melodramatische Aspekte im

8 Grundsätzlich zur Relevanz Gutzkows in der Vormärzliteratur vgl. Vonhoff, Gert: Vom bürgerlichen Individuum zur sozialen Frage. Romane von Karl Gutzkow. Frankfurt/M.: Lang 1994; Frank, Gustav: Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Dt. Univ. Verlag 1998. 9 An Wilhelm Hertz, 17. Dezember 1878. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898. Hrsg. von Kurt Schreinert und Gerhard Hay. Stuttgart: Klett 1972, S. 205. 10 Gutzkow, Karl: Briefe eines Narren an eine Närrin. Werke und Briefe. Bd. 1. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Hrsg. von Richard J. Kavanagh, Münster: Oktober Verlag 2003, S. 122. 11 An Büchner, 17. März 1835. In: Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. 2 Bde. Hrsg. von Henri Poschmann. Bd. 2: Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 398. 12 Mundt, Theodor: Moderne Lebenswirren, zitiert nach: Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Hrsg. von Karl Konrad Polheim, Tübingen: Max Niemeyer 1970, S. 71.

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Lebenslauf des jüdischen Gelehrten erzählt Gutzkow seine Geschichte als Parabel auf das Schicksal eines Rebellen in Zeiten der Repression.13 Aufgewachsen als Sohn getaufter portugiesischer Juden und tätig als katholischer Rechtskanonikus, gelangt Uriel nach gründlichem Studium der christlichen Glaubenslehre zur Absage an das Christentum und zu der Entscheidung, mit seiner Familie wieder zum Judentum zurückzukehren. Um sich und die Seinen den absehbaren Schikanen der portugiesischen Inquisition zu entziehen, emigriert er in das freie Amsterdam, das vielen Juden im 17. Jahrhundert zur neuen Heimat wurde, woran die ersten Zeilen der Erzählung pathetisch erinnern: »Glückliche Juden, die ihr einst zwischen Hollands Poldern und Deichen euer Asyl suchtet! Habt Ihr je in der Fremde euer Pessahlamm in solcher Ruhe genossen und zu den Laubhütten so viel Zweige von den Bäumen brechen dürfen, als an dem Meerbusen I? (…) Die Holländer fürchteten sich weder vor Eurem Gelde, noch vor Euren Bärten, noch vor euren schönen Töchtern, noch vor Jehova, der sich prächtige Tempel in ihrem Lande baute und mit Wachskerzen, unartikulierten Tönen, ja selbst mit recht unduldsamen, ketzersüchtigen und orthodoxen Priestern und Leviten verehrt wurde.« (7)14

Obwohl im toleranten Holland in Sicherheit, bleibt in Uriel der skeptische Geist, der ihn »zuvörderst das historische Gewand von der Christuslehre« (16) hatte reißen lassen,15 aktiv und lässt ihn bald auch die jüdische Religion in Zweifel ziehen: »Hatte ich mich nicht von einem Symbol an das andere verkauft, von einer Ceremonie an die andere, von einem Zwange an den anderen?« (17) Als ihm private Aufzeichnungen, denen er seine Zweifel an der Existenz Gottes anvertraut hatte, von Handlangern des misstrauischen Rabbinats gestohlen wurden, kommt es zum offenen Ausbruch eines seit langem schon schwelenden Konflikts. Beim Besuch seiner Geliebten Judith, die freilich von Kindheit an Uriels Vetter, Ben Jochai versprochen ist, in der idyllischen Villa des reichen Manesse Vanderstraaten,16 erscheinen die Würdenträger der Synagoge und verhängen den cherem, 13 Madeira, Rogerio Paulo: Die Darstellung des religiösen Konflikts zwischen Individuum und Gemeinde und Karl Gutzkows Der Sadducäer von Amsterdam. In: Kommunikation und Konflikt. Kulturkonzepte in der interkulturellen Germanistik. Hrsg. von Ernest W. B. HessLüttich, Ulrich Müller, Siegrid Schmidt und Klaus Zelewitz. Frankfurt/M., Berlin, Bern: Lang 2009, S. 189–199, hier S. 195. Zum historischen Uriel da Costa vgl. Niewöhner, Friedrich: Uriel da Costa. In: Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Andreas B. Kilcher, Ottfried Fraisse u. Yossef Schwartz. Stuttgart: Metzler 2003, S. 146–148. 14 Gutzkow, Karl: Der Sadducäer von Amsterdam. In: Ders.: Die Selbststaufe. Erzählungen und Novellen. Hrsg. von Stephan Landshuter. Passau: Verlag Karl Stutz 1998, S. 7–66. Ich zitiere nach dieser Ausgabe parenthetisch im Text. 15 Gutzkows Erzählung erschien 1834, mithin ein Jahr, bevor David Friedrich Strauss mit seinem Das Leben Jesu eine solche radikal historisierende Perspektive einnahm, was zu einem lebenslangen kirchlich-staatlichen Berufsverbot führte. 16 Mag Fontane Gutzkow auch nicht geschätzt haben – gelesen hat er ihn und war sich auch der Bekanntheit von dessen Werk bei seinem Lesepublikum sicher. Denn der Held seines Romans

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den jüdischen Bannfluch über Uriel. Sie sprechen ihn mit so gehässiger religiöser Autorität aus, dass Gutzkow alle Register der pathetischen Rede ziehen kann, um die anmaßende Selbstherrlichkeit der religiösen Orthodoxie zu veranschaulichen: »›Wehe Wehe‹, riefen alle eintönig, ›dir (…) gilt der Fluch, meineidiger Verräter an dem ewigen Gesetze des ewigen Gottes, Schützling der abgefallenen Engel und geheimes Werkzeug der gottlosen Feinde Jehovas (…) Das schmutzige Tier, das wir verachten, wird Dir nachlaufen, und jedes Wasser, in dem du dich reinigen willst, wird sich vor Deinen Augen trüben. (…) der Himmel (…) wird eher dem verzeihen, der seinen Vater erschlug als dir (…)‹«. (23f.)

Schon diese wenigen Zeilen aus dem weit umfangreicheren Fluch dürften die einschüchternde rhetorische Wucht dieses Banns veranschaulichen, der sogar dazu führt, dass sich die verängstigte Judith von Uriel abwendet, was den von der Geliebten Verlassenen zur Flucht und zur Verzweiflung treibt.17 Nur in Baruch Spinoza, zu dieser Zeit »ein Knabe von [erst] sieben Jahren« (28), aber schon so außerordentlich begabt, dass der Text von einem »göttliche[n] Kind« (28) spricht, findet er Trost und stößt die Worte aus, mit denen er sich nach dem Modell der christlichen Präfiguration, das in Johannes den Propheten Jesu erkennt, als Vorläufer eines nach ihm erst Kommenden bescheidet: »Veniet alter, que me major erit« (29) – dereinst werde ein anderer kommen, der größer sei als er. Trotz dieses Bewusstseins eigener Größe wird Uriel von Selbstzweifel gequält, immer wieder fragt er sich, ob er seine Sache nicht geschickter hätte führen müssen, um Judith und seiner Familie die Konsequenzen des über ihn gesprochenen Fluches zu ersparen, als Bar Jochai, der Vetter Uriels und der Judith schon im Kindesalter versprochene Bräutigam auftaucht, eine Wiederbegegnung der Liebenden herbeiführt und eine Aussöhnung zwischen Synagoge und Uriel in L’Adultera, der Commercienrath Van der Straaten pflegte auf die »nie ausbleibende Frage nach seinen näheren oder ferneren Beziehungen zu dem Gutzkow’schen Vanderstraaten (…) dahin zu beantworten, dass er jede Verwandtschaft mit dem (…) so bekannt gewordenen Vanderstraaten ablehnen müsse (…).« Theodor Fontane: L’Adultera. Große Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Gabriele Radecke. Berlin: Aufbau Verlag 1998, S. 6. Detailliert und gründlich zu Fontanes Beziehung zu Fontane vgl. Bernd Balzer: »Zugegeben, daß es besser wäre, sie fehlten, oder wären anders, wie sie sind« – Der selbstverständliche Antisemitismus Fontanes. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Fontanes. Bd. 1. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmut Nürnberger. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 196–209. 17 Auch Janice Hansen hat auf die Macht der rituellen Performance der Rabbiner hingewiesen: »Keiner kann die Illusion durchschauen und jeder wird völlig eingezogen.« Hansen, Janice: Kunst und Kunst des Schauens. Karl Gutzkows Uriel Acosta. In: Karl Gutzkow (1811–1878). Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit. Hrsg. von Wolfgang Lukas und Ute Schneider. Wiesbaden: Harassowitz 2013, S. 163–176, hier S. 168.

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Aussicht stellt, wenn dieser es über sich brächte, sich von seiner Kritik zu distanzieren. Grundlage für eine auch den orthodoxen Vorstand der Gemeinde zufriedenstellende Revision seiner häretischen Gedanken sei die Einschätzung des Gelehrten da Silva, der zuvor den ersten Bannfluch gegen Uriel unterstützt hatte, mittlerweile aber in einem Gutachten zu der Einsicht gelangt sei, die Lehre des Verfluchten ziele keineswegs darauf, »das Christentum zu empfehlen« (36); vielmehr füge er sich mit seinen Aussagen in die Tradition der »ausgestorbenen Sekte der Sadducäer«. (36) Diese stand zwar im Gegensatz zu der pharisäischen Orthodoxie, war sich mit ihr aber in der Abweisung der Lehren Jesu einig gewesen. Uriel durchschaut nicht die Intrigen Bar Jochais, einer Jagohaften Gestalt voll raffinierter Bosheit: »Ben Jochai war jünger als Uriel, kleiner von Wuchs, die Gesichtszüge zusammengedrängter und orientalischer, in seinem ganzen Wesen lag viel freiwillige Unterwerfung.« (14) Diese unvorteilhafte Darstellung seiner äußeren Erscheinung wird später noch vervollständigt durch Hinweise auf seine Heimtücke, auf das von ihm an den Tag gelegte »unverschämte Lächeln der Vertraulichkeit« (23) und seine »Maske theilnehmender Freundschaft«. (53) Der gutgläubige Uriel willigt in den Handel ein, den Ben Jochai vorgeschlagen hat. Zwischen Uriel und Judith kommt es rasch zu einer Wiederbelebung der Liebe, die freilich durch Uriels intellektuellen Hochmut und seinen Spott über ihren kindlichen Jenseitsglauben gedämpft wird. Auch die offizielle Aussöhnung verläuft anders als von Uriel erhofft und von Bar Jochai versprochen: Nachdem er lange im Ungewissen im Kerker warten muss, wird der zweite Widerruf zum Tribunal, einem Schauspiel, wie die Autorität mit einem doppelt Abtrünnigen verfährt: »Man entkleidete ihn, übergab ihm weite Bußkleider, die er anlegen mußte, in seine Hand drückte man eine brennende Kerze und winkte ihm, jetzt in diesem demüthigenden Aufzuge ihnen zu folgen.« (59)

Zunächst muss Uriel öffentlich widerrufen, dann wird er dem malqut, einer neunundreißigfachen Rutenzüchtigung unterzogen, und muss sich nach der Auspeitschung auf die Schwelle der Synagoge legen, wo die ganze jüdische Gemeinde beim Verlassen des Gotteshauses »grausam auf den sich krümmenden Leib des Unglücklichen« (63) trat, der nach dieser Demütigung, außer sich vor Zorn, »wie ein Rasender (…) von dem Ort seiner Erniedrigung fort (…) in die Wohnung der Seinigen [stürzte]. Mit totenbleichem Angesicht, bluttriefend, mit zerrissenen Kleidern trat er vor seine versammelte Familie, die er in Tränen und Wehklagen aufgelöst fand.« (63f)

Wieder ist es nur der kleine Spinoza, der ihm Trost gewährt und den Uriel zum Zeugen seines Martyriums berufen kann: »Knabe; was an mir geschehen ist,

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bleibt unerhört unter der Sonne, (…) Du segnest meine Rache! Du versprichst mir, meine Rache zu Ende zu bringen.« (64) Nach zwei Tagen, in denen er sich eingeschlossen und sein Schicksal beklagt hat, greift er sich zwei Pistolen, um sich zu rächen. Im Hause Vanderstraatens wird er jedoch Zeuge der Hochzeit von Judith und seinem Vetter – er schießt auf Bar Jochai, aber trifft Judith und richtet schließlich sich selbst. Die letzten Zeilen der Erzählung erinnern an Goethes Werther, dessen Sarg bekanntlich kein Priester begleitete. Auch Uriel wurde nicht an der Seite seiner Geliebten Judith, sondern »in einem entfernten Winkel des Friedhofs gebettet.« (63) Nur Uriels Schwester besucht sein Grab und »Baruch Spinoza sah man oft an seines unglücklichen Oheims endlicher Freistatt. Aus der Erinnerung an diesen theuern Dulder schöpfte er die Kraft zu den Leiden, die auch er in Zukunft zu ertragen hatte.« (65f.)

Geschickt spiegelt die Erzählung den zentralen Konflikt auf drei zeitlich verschiedenen Ebenen:18 auf der Ebene der Handlung, also im frühen 17. Jahrhundert, steht ein aufrechter, selbstständiger Denker gegen die Vielen, die dem (religiösen) Gesetz sklavisch ergebene Orthodoxie. Durch die Anspielung auf die Sadducäer und ihre Rivalität mit den Pharisäern zur Zeit der Evangelien des Neuen Testaments – der in den Schriften da Costas explizit keine Rolle spielt19 – wird der Konflikt »aus dem allein individuell-biographischen Zusammenhang«20 heraus gelöst und historisch als grundsätzlicher religiöser Konflikt zwischen Fundamentalismus und reformbereiter Religion perspektiviert.21 Aber schließlich wird der Konflikt auch aktualisiert, indem er im Rahmen der Erzählgegenwart unmissverständlich als »politische und religiöse Opposition gegen Restauration und staatliche wie religiöse Orthodoxie«22 erscheint. Ausdrücklich und mit Blick auf die politischen Nöte der Zeit wird der Leser aufgefordert, auch das Zusammenbrechen Uriels nachsichtig zu beurteilen: »Entziehen wir dem unglücklichen Manne darum unsere Theilnahme nicht, weil wir ihn hier eine seiner vielen Prüfungen schlecht bestehen sehen, Wir, die wir gewohnt sind, in einer gleichsam angebornen, fortwährenden Märtyrerschaft unserer Ueberzeugung zu leben, werden leicht zur Hand sein, über einen Mann den Stab zu brechen, welcher gegen die Satzungen einer fanatischen, intoleranten Religion aufzutreten den Mut hatte

18 Vgl. Plett, Bettina: Zwischen »gemeinem Talent« und »Anempfindungskunst«. Zwiespalt und Übergang in Karl Gutzkows Erzählungen. In: Geschichtlichkeit und Gegenwart. Festschrift für Hans Dietrich Irmscher. Hrsg. von Hans Esselborn und Werner Keller. Köln, Weimar: Böhlau 1996, S. 267–290, hier S. 276. 19 Madeira, Darstellung. 2009, S. 192f. 20 Eke, Norbert Otto: Einführung in die Literatur des Vormärz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 117. 21 Vgl. dazu auch Madeira, Darstellung. 2009, S. 193. 22 Plett, Talent. 1996, S. 276.

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und später im Stande sein kann, zu den Hand, die ihn züchtigte, wieder heranzukriechen.« (37)

Der Fall Acosta, so Norbert Otto Eke, »ist ein exemplarischer: er zeigt die Situation der intellektuellen Opposition der Vormärzzeit, die sich gegen politische, geistige und religiöse Bevormundung zur Wehr setzt – und antizipiert ihr Scheitern.«23 Pathetischer und mit deutlichem biographischen Bezug hat es Hans-Wolfgang Krautz formuliert: Uriel Acosta werde »zum geheimen Vorbild des eigenen Lebens und Denkens, zur idealisierten Ich-Imago des Wahrheitszeugen und Vorkämpfers der Gewissensfreiheit mit unverkennbar märtyrerhaften Zügen.«24 Tatsächlich nützt Gutzkow den Konflikt Christi mit den Pharisäern erkennbar als Vorlage seiner Fabel: auch hier steht der Versöhnungsbereite gegen eine uneinsichtige, verhärtete Orthodoxie, auch hier wird der Held öffentlich verurteilt, ausgepeitscht, der Verachtung preisgegeben. Auch seine Passionsgeschichte kennt einen Verräter, der mit der Obrigkeit gemeinsame Sache macht: Ben Jochai. So gesehen, erscheint der Uriel des 17. Jahrhunderts als exemplarischer Freiheitskämpfer, der seiner Überzeugung wegen ein Martyrium zu erdulden hat – wie Moses darf er das gelobte Land nicht erreichen, aber er hat den Weg gewiesen, den nach ihm Spinoza gehen wird. In den Augen der von den Polizeibehörden drangsalierten, freiheitlich denkenden Intellektuellen des Vormärz, die durch die anhaltende Repression entmutigt waren und mit einer Erfüllung ihrer revolutionären Hoffnungen noch zu Lebzeiten nicht mehr rechnen konnten, diente auch ein Dulder wie Uriel, mochte ihm auch der Erfolg versagt bleiben, durchaus als tröstliches Vorbild. Allerdings handelt es sich bei Uriel um eine Identifikationsfigur mit erheblichen Schwächen. Da ist zum einen seine Abhängigkeit von der als capricenhaft gezeichneten Judith; Die zweifache Trennung von der Braut, einer ganz der väterlichen und der religiösen Autorität ergebenen jungen Frau, stürzt den selbstbewussten Uriel in haltlose Krisen, die eine überprotektive Mutter dem innig geliebten Sohn gerne erspart hätte. Schon zu Beginn der Erzählung hat die Mutter im Vertrauen auf die hellseherische Wirkung des Traums in Judith den Grund für den Niedergang des Sohnes gesehen: »›Judith Manasse?‹ sagte sie feierlich, ›ich schwöre Euch bei dem ewigen Gott, die wird ihn zu Grunde richten.‹« (10) Gutzkow hat mit dieser Zeichnung des weiblichen Personals teil an der traditionellen Geschlechterideologie, die nur dem Mann den mutigen Schritt zur Lösung aus überkommenen Bindungen zutraut, während sich die Frau an diese 23 Eke, Einführung. 2005, S. 115. 24 Krautz, Hans-Wolfgang: Nachwort. In: Uriel da Costa: Exemplar humanae vitae – Beispiel eines menschlichen Lebens. Hrsg. von Hans-Wolfgang Krautz. Tübingen: Stauffenberg 2001, S. 51–80, hier S. 74.

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klammert, weil ihr konservativer Charakter den Zweifel nicht erträgt.25 Während Wally im bürgerlichen Milieu, wenn auch gegen den erbitterten Widerstand der Männer der Familie, eigene Überzeugungen äußern kann, kommen diese der Tochter eines jüdischen Patriziers nicht einmal in den Sinn. Als Uriel seine Skepsis am Jenseitsglauben bekräftigt, reagiert Judith mit der lehrbuchgerechten performance einer Hysterikerin: »Sie krümmte sich wehklagend in dem Zauberkreis seiner Worte, beschwor ihn, seine Formeln zurückzunehmen, und richtete sich, wie athemlos, mit der letzten Frage an ihn: ob denn auch die Schwüre ihrer Liebe verhallen müßten in das Nichts, und sich Liebende im Jenseits nicht wieder finden würden?«(50)

Dass Uriel sich aber zuvor von Judiths Reaktion auf den rabbinischen Bannfluch gegen ihn so nachhaltig hat beeindrucken lassen, spricht auch ihm die vorgebliche Autonomie ab bzw. kratzt am Nimbus seiner Männlichkeit – und seiner rebellischen Entschlossenheit. Die Bereitschaft zum introvertierten Grübeln, zu schwermütigen Selbstzweifeln, zur tränenreichen Selbstanklagen sind nicht eben das Markenzeichen eines Empörers. Nur schwer nachvollziehbar ist, dass der Bannfluch der Rabbiner bei ihm, der sich von der religiösen Bevormundung gelöst hat, eine so verheerende Wirkung entfalten konnte, »daß sich Uriel völlig der Illusion des Fluches hingab, nirgend festen Fuß faßte, sondern ohne Zweck und Ziel von einem Orte zum anderen pilgerte.« (29f.) Mit dieser Darstellung des Verfluchten als des gehetzten Ewigen Juden reproduziert Gutzkow nicht nur ein sehr vitales antisemitisches Klischee,26 er konzipiert seinen Helden hier wie auch anderen Stellen nach dem Bild eines Zerrissenen: »Er lag gegen sich selbst in Feindschaft und verfolgte sich mit einem Grolle, als hätte sein Wesen sich in zwei Hälften getheilt.« (41) Seine Reflexivität, die ihm zu seiner Apostasie von der religiösen Tradition verhilft, wirkt zuletzt zersetzend auf ihn selbst: »Das Dämonische seiner Natur kehrte sich immer mehr heraus. Er empfand nicht, ohne nicht auch zugleich seine Empfindung zum Gegenstand seiner Reflexion zu machen.« (42) Der Zerrissene ist eine charakteristische Sozialfigur der nachromantischen Epoche, den man in Texten von Immermann, Mörike, Spielhagen, Grillparzer und anderen finden kann. Alexander von Ungern Sternberg hat dem Zerrissenen einen ganzen Roman, der auch diesen Titel trägt, Willibald Alexis immerhin eine Novelle, Ein Zerrissener in Algier,27 gewidmet. Johann Nestroy hat schließlich 25 Vgl. Lukas, Wolfgang: Nachwort. In: Karl Gutzkow, Die Selbsttaufe, S. 389–411, hier v. a. S. 390f. 26 Vgl. zur Vitalität des Klischees: Körte, Mona: Ahasvers Spur: Dichtungen und Dokumente vom »Ewigen Juden«. Hrsg. von Mona Körte. Leipzig 1995. 27 Vgl. Lukas, Nachwort, S. 391; Begemann, Christian: Zerrissenheit. Überlegungen zum romantischen Thema des Identitätskonflikts. In: Begegnung mit dem Fremden, Grenzen –

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1844 in seiner »Posse mit Gesang« Der Zerrissene diesen Typus des Intellektuellen lächerlich gemacht, aber ihm auch zu theatralischer Präsenz verholfen. Nestroys Posse entstand in Anlehnung übrigens an die französische »comédievaudeville« L’homme blasé von Felix Auguste Duvert und Adolphe Theodore de Lauzanne de Vauxroussel, und die ursprüngliche Bezeichnung als ›blasierter Mensch‹ verleiht diesem Typus des Intellektuellen einen soziologischen Index. Zerrissen meint mehr als mit sich uneins, psychisch gespalten oder, modern gesprochen, an bipolaren Störungen laborierend, sondern meint das Leiden des sozial Gutgestellten, dessen ennui ihm das Leben vergällt. Der typische Zerrissene der Restaurationszeit ist der Intellektuelle, der trotz oder gerade wegen seines Reichtums oder vielleicht auch nur seines Mangels an Geldsorgen keine Freude am Leben hat und angewidert davon ist, mit welcher Leichtigkeit er allen Schwierigkeiten und Abenteuern ausweichen kann. Der solcherart dank seiner sozial komfortablen Situation von der Welt Ab- und auf sich selbst als den Quell aller Sorgen Hingewiesene wird zum Grübler und Zweifler, zu einer Gestalt, die mit querulatorischer Intensität ungelöste soziale oder religiöse Probleme diskutiert – nicht zum Revolutionär, der, mag er selbst auch scheitern, doch seinen Gleichgesinnten den richtigen Weg gewiesen hat. Gutzkow hat den Stoff nur zwölf Jahre später, 1846, in das fünfaktiges Versdrama Uriel Acosta verwandelt und dabei entscheidende Veränderungen vorgenommen, indem er die historische Problematik der häretischen Sadducäer aus dem Titel entfernte, Figuren anders charakterisierte, ihren Anteil an den Vorgängen anders gewichtete und so den Konflikt zwischen Geistesfreiheit und Orthodoxie/Restauration weit schärfer akzentuierte. Da Silva, der theologische Gegenspieler in der Novelle, dem der Vorname Judas im christlichen Verständnis unmissverständlich die Rolle des Verräters und Renegaten zugewiesen hatte, erscheint in der Tragödie als Lehrer Uriels: Der theologische Konflikt bekommt damit unweigerlich auch einen antiautoritären Charakter. Wie der Erzähler der Novelle stimmt da Silva zu Beginn des Dramas Lob auf das freiheitsliebende Holland an: »Denn jedes Volk, das selbst erfahren hat, Wie weh die Knechtschaft tut, wird Brüder nicht Aus einem blinden Vorurteil verfolgen. Der Niederländer schuf aus seinen Ketten Schwerter – Und aus den sieggekrönten Schwertern wieder

Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanistik-Kongresses. Hrsg. von Eijiro Tawasaki, Tokyo 1990, Bd. 2, S. 227–235, vgl. zur Darstellung des ›Zerrissenen‹ bei Grillparzer auch Brittnacher, Hans Richard: Die gequälte männliche Seele. Grillparzers Das Kloster bei Sendomir und der Wiener Biedermeier. In: Sprachkunst 52 (2021), 1. Halbband, S. 5–21.

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Für andre Dulder Sklavenketten schmieden, Das wahrlich tut kein edeldenkend Volk.«28

Was er an den Niederländern lobt, verweigert er selbst jedoch seinen Schülern, von denen er bedingungslosen Gehorsam erwartet. Die Zuneigung zu seinem begabtesten Schüler, der – anders als in der Novelle – seine Skepsis an der Geltung der Religion in Schriften öffentlich zum Ausdruck brachte, lässt ihn im Konflikt einlenken, indem er Uriel anbietet, sich als Marrane auf sein Christentum zu beziehen und sich damit der Zuständigkeit des jüdischen Rabbinats zu entziehen: »Der Autor ist kein Jude.«29 Diesen Ausweg lehnt Uriel entschlossen »als Hintertür des falschen Mitleids«30 ab und nimmt im Unterschied zum Uriel der Novelle den Kampf mit der Orthodoxie auf, an deren Spitze ein steinreicher Ben Jochai steht, der an die Stelle des tückischen Verräters der Novelle getreten ist. Vor allem in der Frauengestalt bzw. im Einsatz des sentimentalen und erotischen Kapitals der Liebe unterschieden sich Novelle und Drama: Judith, ursprünglich Schülerin des geistvollen Uriel, hat sich in den Lehrer verliebt und ist entschlossen, ihn zu heiraten, auch wenn sie sich dadurch offen gegen die Familientradition stellt: »Ihr wißt, bei unserm Volk herrscht die Familie / der Vater will, das Kind gehorcht.«31 Ben Jochai, hier wie in der Novelle auch in erotischer Hinsicht der Gegenspieler Uriels, erkennt, dass Uriels Christentum seinem Interesse dient – eine jüdische Tochter, einem Juden versprochen, darf keinen Christen heiraten. Erst als Ben Jochai seinen beträchtlichen ökonomischen Einfluss geltend macht, um die Familie Judiths unter Druck zu setzen, unterzieht sich Uriel wie in der Novelle, aber in deutlich strategischer Absicht, einem »demütigenden offentlichen Exerzitium, das ihm die Rückkehr in die Gemeinde erlauben soll.«32 Den Ruin des Vaters vor Augen, hat Judith – übrigens nicht nur hier ist die Nähe zu Schnitzlers Fräulein Else flagrant33 – in die Ehe mit Ben Jochai eingewilligt, tötet sich aber, bevor diese vollzogen werden kann, Uriel folgt ihr: Die Liebenden sind nun, was sie zu Lebzeiten nicht sein durften, im Tode vereint. Dem zynischen Kommentar des Oberrabbiners Santos: »Der Glaube siegt, zwei 28 Gutzkow, Karl: Uriel Acosta. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Reinhard Gensel, 15 Teile in sieben Bänden. Bd. 3, Berlin: Deutsches Verlagshaus Bong & Co 1912, S. 5–69, hier S. 12. 29 Gutzkow, Uriel Acosta. 1912, S. 30. 30 Gutzkow, Uriel Acosta. 1912, S. 30. 31 Gutzkow, Uriel Acosta. 1912, S. 24. 32 Eke, Einführung. 2005, S. 121. 33 Eine Kenntnis der Novelle, erst recht des seinerzeit vielgespielten Dramas, bei dem belesenen Schnitzler ist nicht auszuschließen: Auch Judith hat sich vertraglich verpflichten müssen, sich dem künftigen Ehemann nackt zu zeigen, sie handelt aus Sorge um das ökonomische und leibliche Wohl des Vaters, sie nimmt Gift, um ihrer desolaten Situation zu entkommen.

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Opfer sind gefallen«34 entgegnet ein geläuterter Da Silva, der sich den liberalen Humanismus seines einstigen Schülers zu eigen gemacht hat, mit Worten, die an die Zerknirschung der Capulets und Montagues an den Särgen ihrer Kinder in Shakespeares Romeo und Julia erinnern: »Richtet nicht, denn wie wir hier Erstarrt vor Schrecken steh’n, die wahren Mörder Des stummen Paars sind wir! O geht hinaus Und predigt: Schonung, Duldung, Liebe!«35

Fassen wir kurz die wesentlichen Unterschiede zusammen. Der Uriel der Novelle wird seines (privaten) Denkens wegen verfolgt, nur durch Diebstahl können die ihn kompromittierenden Dokumente beschafft werden, er ist ein unsteter, unglücklicher, von der Liebe Judiths abhängiger Charakter, den eine starrsinnige Orthodoxie und ein Ränke schmiedender Vetter in einem ungleichen Kampf besiegen; der Uriel des Dramas hingegen erfreut sich der bedingungslosen Liebe seiner Braut, bekennt sich öffentlich zu seinem Atheismus, wehrt sich – gleichsam auf Augenhöhe – gegen einen Gegenspieler, der mit offenen Karten spielt, sich weniger finster und zuletzt durchaus einsichtig zeigt. Auch der Uriel des Dramas scheitert, aber nicht als hilfloses Opfer einer Intrige und am eigenen unbeständigen Charakter, sondern mit einem Freitod aus freien Stücken. Darauf hat Gutzkow in einem später geschriebenen Vorwort zu seiner Tragödie großen Wert gelegt: Uriel sterbe nicht als charakterloser Held, sondern als »Held der Konsequenz«:36 im Wie seines Überzeugtseins, mit dem Märtyrertum einer idealen Anschauung, habe Uriel trotz seines Unterliegens gesiegt. Einerseits wird so das Rebellentum und das Heroische des Freiheitskampfes rehabilitiert, andererseits wird es im Liebestod, der an den von Romeo und Julia oder von Luise Miller und Ferdinand erinnert, wieder aufgekündigt. Um dem Handeln eines religiösen Apostaten aus dem vergangenen Jahrhundert jenen rebellischen Trotz zu verleihen, der ihm auch im eigenen Restaurationszeitalter die Aktualität eines Freiheitskämpfers sichert, muss sein Handeln über jeden Zweifel erhaben, müssen die Traditionen, aus denen Uriel sich löst, die institutionelle Ordnung, gegen die er sich freikämpft, so rückständig und repressiv wie möglich scheinen. Das freilich nötigt Gutzkow, mag er auch durchaus ein Parteigänger der Judenemanzipation gewesen sein,37 zu literari-

34 Gutzkow, Uriel Acosta. 1912, S. 69. 35 Gutzkow, Uriel Acosta. 1912, S. 69. Vgl. dazu William Shakespeare: Romeo und Julia, V, 3. In: Shakespeare: Sämtliche Werke III: Tragödien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 179–261, v. a. S. 261. 36 Gutzkow, Uriel Acosta. 1912, S. 9. 37 Ausführlich und um Ausgewogenheit bemüht ist die Darstellung von Steinecke, Hartmut: Gutzkow, die Juden und das Judentum. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und

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schen Retuschen, die das Bild der jüdischen Frau, der jüdischen Familie, des jüdischen Charakters und vor allem der jüdischen Religion betreffen und so, gewiss gegen den erklärten Willen des Autors, zu einem xenophoben, teilweise offen antisemitischen Judenbild beitragen: Das betrifft das Bild der Mutter, die ängstlich auf die Unbescholtenheit ihres Sohnes bedacht, abergläubisch Traumeingebungen folgt, und ihre bedingungslose Zuneigung zu den Kindern, bei der soziale Bindungen das Nachsehen haben gegenüber den familiären Banden: »Sie ist egoistisch, grausam gegen andere, gewissenlos, die Familienzärtlichkeit der Juden, aber sie ist voller Hingebung und Aufopferung für die Ihrigen.« (8) Der Loyalität der jüdischen Mutter zum eigenen Blut tritt die Kapriziösität der schönen Jüdin Judith im Umgang mit dem Geliebten zur Seite: »sie aber, der nichts recht war, weder die Halskrause, noch die Verschlingung der goldenen Brustkette (…) hatte viel an ihm zu stutzen und zu ordnen, ehe sie ihrer glühenden Küsse ihn für würdig hielt.« (21) Zum Klischee des jüdischen Charakters zählt nicht nur das Verschlagene des Verräters Bern Jochaj, auch die zersetzende Rationalität des Helden, die keinen Wert unangetastet lassen kann, vervollständigen das Vorurteil einer mehr von Berechnung und Intellekt als von den Gesetzen des Herzen geleiteten Mentalität. Vollends deutlich wird der antisemitische Vorbehalt bei der Darstellung der jüdischen Rabbiner und ihrer archaischen Liturgie. »[R]echt unduldsame[], ketzersüchtige[] und orhodoxe[] Priester[] und Leviten« (7), »Männer mit langem Talar und ungeschorenem Barte« (23) rufen das Bild von in zänkische Glaubensdispute verstrickten Eiferern wach. Dass die Juden in ihrer finsteren Frömmigkeit mit »unartikulirten Tönen« (7) beten, passt zu der Vorstellung einer befremdlich fanatischen und finsteren Religion, die Flüche schleudert und mitleidlos den sozialen Tod des Abtrünnigen verfügt. Die schlussendliche Aburteilung fügt dem Sündenregister des archaischen jüdischen Glaubens noch den Vorwurf einer sadistischen Lust am Demütigen und Quälen der geschundenen Kreatur hinzu. Dass am Ende der Novelle wegen eines verfehlten Schusses die Geliebten sterben, der Intrigant ungeschoren davonkommt, richtet den Glauben der jüdischen Orthodoxie als wahre Ursache fehlender Menschlichkeit und bestätigt im Nachhinein dem Helden das Recht auf seine Apostasie als einem Akt der Freiheit. Das kann den Antisemitismus des Textes nicht entschuldigen, aber eine eigenwillige Deutung des Philosemitismus von Gutzkow begründen, auf die bereits Friedrich Niewöhner hingewiesen hat, indem er an das theologische Substrat der Erzählung erinnerte. Im Jahr der Erzählung, 1834, hatte Gutzkow Gabriel Riesser kennengelernt, den berühmten Vorkämpfer für die Emanzipation der Juden. deutschsprachige Literatur. Hrsg. von Hans Otto Horch. Tübingen: Niemeyer 1989, T. 2, S. 118–129.

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Hans Richard Brittnacher

Riesser hatte 1830 die Schrift Über die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Konfessionen vorgelegt, in der er vehement für die Emanzipation der Juden eintrat – und eine kritische Erwiderung des Geheimrats Paulus herausforderte, der die Emanzipation sehr skeptisch beurteilte: Die jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln. Allen teutschen Staatsregierungen und landständischen Versammlungen zur Erwägung gewidmet, was wiederum Riesser zu einer Gegenveröffentlichung anregt. Der Unterschied beider Einschätzungen des Judentums liegt im unterschiedlichen Begriff der Nation, wie Riesser erläutert: »Was Dr. Paulus für seine Ansicht anführt, läuft alles darauf hinaus, dass die Juden nach eigenen Gesetzen leben.«38 Damit meinte Riesser jedoch lediglich die aus der Religion hervorgegangenen Ritualgesetze, während Paulus behauptete, diese Gesetze würden auch »bürgerliche Gegenstände« betreffen. Wir befinden uns hier, im Jahre 1831, also in einer sehr aktuellen Diskussion: Darf es einer Religionsgemeinschaft erlaubt sein, als Staat im Staate, nach eigenen Gesetzen zu leben? Der historische Da Silva hat in seinem kurz vor seinem Freitod geschriebenen Exemplar humanae vitae über die staatliche, legislative und exekutive Anmaßung des Amsterdamer Rabbinats heftig geurteilt: »Über eines unter vielem staune ich – und es ist wirklich erstaunlich, wie Pharisäer, die unter Christen leben, so große Freiheit genießen können, daß sie sogar Gerichtsbarkeit ausüben dürfen. Und ich kann wahrhaftig sagen, daß, wenn Jesus von Nazareth, den de Christen so sehr verehren, heute in Amsterdam predigen und es den Pharisäern gefiele, jenen erneut mit Geißeln zu schlagen, deswegen weil er ihre Überzeugungen bekämpfte und ihnen Heuchelei vorwürfe, sie dies freizügig tun könnten.«39

Als Gutzkow im Sommer 1834 seine Novelle schrieb, waren ihm diese Zusammenhänge bekannt und er zeichnet, wohl in bester Absicht, um die Freiheit des Einzelnen gegen die Tyrannei der Mehrheit zu verteidigen, das Bild einer finsteren jüdischen Gerichtsbarkeit, einer mit dem Segen des Rabbinats verübten Lynchjustiz, die in Uriel Acosta ihr wehrloses Opfer findet, was sie nicht von weiteren Grausamkeiten abhält. Gutzkows Novelle bestätigt die Unterstellungen von Paulus – im Drama jedoch schließlich weicht dieser gehässige Blick auf das selbstherrliche Rabbinat, einen Staat im Staate, dem Blick auf den Kampf eines Freidenkers um seine Liebe. Mit Worten, die an Shylock denken lassen, setzt Gutzkow einen ganz neuen Akzent: »Die Juden sind nicht anders als die Christen, sie lieben wie diese, hassen wie diese und verzweifeln wie diese.«40 38 Zit. nach Friedrich Niewöhner: Menschliche Konflikte im farbenprächtigen Gewand. Kolportage und Emanzipation. Uriel Acosta in Gutzkows Novelle Der Sadducäer von Amsterdam. In: FAZ 9. 9. 1998. 39 Uriel da Costa: Exemplar humanae vitae. 2001, S. 33. 40 Niewöhner, Konflikte.

Irmela von der Lühe (Berlin)

»Noch eine kleine Weile, da reisen wir über die Grenze«: Robert Neumanns Exodus-Roman »An den Wassern von Babylon« (1939/1945)

In der deutschsprachigen Exilliteratur spielt die poetisch-politische Auseinandersetzung mit Grenzerfahrungen und gescheiterten Versuchen, lebensbedrohliche Grenzen zu überschreiten., naturgemäß seine sehr große Rolle. Oft zeigen dies schon die Titel an: Anna Seghers’ Roman »Transit« (1944), Lion Feuchtwangers »Wartesaal«-Trilogie (1939), Alfred Döblins »Babylonische Wanderung« (1934) gehören zu den prominentesten Beispielen für eine exiltypische Ausgrenzungserfahrung, die als Konfrontation mit geschlossenen Grenzen, verweigerten oder in letzter Minute doch noch erlaubten Grenzübertritten identitätsbildend werden konnte und nicht selten auch wurde. In seinem Gedicht »An die Nachgeborenen« hat Bertolt Brecht dafür eine zum Topos gewordene lyrische Form gefunden: »öfter als die Schuhe die Länder wechselnd«1 vollzog sich das Leben der aus Deutschland geflohenen Emigranten und Emigrantinnen; es war ein Leben nicht nur in Grenzen, sondern im Zwang zur Überwindung nationaler, politisch-geographischer und damit stets auch existenzieller Grenzen. Dieser in der Literatur des deutschsprachigen Exils vielfältig und variationsreich thematisierten Grenzerfahrung2 liegt eine Semantik der Grenze zugrunde, die im modernen Denken über trennende oder verbindende Grenzen gern übersehen, häufig gar ignoriert wird. Die Erfahrung nämlich, dass Grenzen unüberwindbar, dass sie todbringend und damit topographischer Ausdruck einer Epochensignatur sind, der an Grenzschließung, Grenzbefestigung und damit an einer gewaltsam-kriegerischen Sicherung des ethnisch-nationalen Raumes gelegen war.

1 Brecht, Bertolt: An die Nachgeborenen. In: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u. a. Berlin, Frankfurt/M: Suhrkamp 1988. Bd. 12, S. 85–87, hier S. 87. 2 Vgl. u. a. Gätje, Hermann/Singh, Sikander (Hrsg.): Grenze als Erfahrung und Diskurs: Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen. Tübingen: Narr Francke 2017. Darin insbesondere Schlör, Joachim: »Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.« Die Überschreitung der deutschen Grenze in Emigrationsberichten. S. 217ff.

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Bis zu welchem Grad sich diese Erfahrung radikalisieren, dass sie zur Revision und Perversion des biblischen Exodus-Geschehens führen konnte, dafür liefert die Geschichte des Palästina-Exils, d. h. der strikten Beschränkung jüdischer Einwanderung ins britische Mandatsgebiet, das historisch politische Beispiel.3 Ein besonderes literarisches Beispiel für den verweigerten Grenzübertritt ins »Gelobte Land«, der einer zerstörten Heilserwartung gleichkommt, liefert der Schriftsteller Robert Neumann (1897–1975) mit seinem Roman »An den Wassern von Babylon« (1939/1945).4

I.

Zur Entstehung, Komposition und Rezeption des Romans

Als »tragische(s) Decameron des Judentums«5 hat Richard A. Bermann den Roman von Robert Neumann bezeichnet, den der durch seine genialen Parodien (»Mit fremden Federn« 1927) in jungen Jahren berühmt gewordene Autor 1937 begonnen und 1938 in Sanary-sur-Mer beendet hatte. 1939 erschien er unter dem Titel »By the Waters of Babylon« sowohl in einem englischen als auch in einem amerikanischen Verlag, brachte es auf sechs Auflagen und wurde im November 1939 »Evening Standard Book of the Month«6. Robert Neumann, der seit 1934 im Londoner Exil lebte, dessen literarische, publizistische und politisch-institutionelle Aktivitäten im Rahmen der Free Austrian Movement, des Exil-PEN und seiner Neugründung 1947 inzwischen umfassend erforscht und beschrieben wurden7, hat diesen Roman angeblich für seinen besten gehalten und später erzählt:

3 Held, Ludger: Palästina/Israel. In: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn, Patrik v. zur Mühlen u. a. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 349–358; sowie Joachim Schlör: Endlich im Gelobten Land? Deutsche Juden unterwegs in eine neue Heimat. Berlin: Aufbau Verlag 2003. 4 Neumann, Robert: An den Wassern von Babylon. Roman. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1987. Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 5 Und zwar in seinem Gutachten für das Preisausschreiben der American Guild for German Cultural Freedom. Zit. nach Wiemann, Dirk: Exilliteratur in Großbritannien 1933–1945. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 1998, S. 191, Anm. 2. 6 Wagener, Hans: Robert Neumann. Biographie. München: Wilhelm Fink 2007, S. 73. Vgl. außerdem: Jäger, Anne Maximiliane: »Einmal Emigrant, immer Emigrant«: Zur literarischen und publizistischen »Remigration« Robert Neumanns 1946–1965. In: Yearbook of the Research Centre of German and Austrian Exile Studies 8 (2006) S. 179–196; Jäger-Gogoll, Anne Maximiliane: Umschrift und Einmischung. Robert Neumanns Schreiben zwischen Selbst(er)findung, Parodie und Engagement. Heidelberg: Winter Verlag 2015. 7 Helmut Peitsch: Peitsch, Helmut: »No Politics«? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933–2002 (= Schriften des Erich-Maria-Remarque-Archivs, Band 20). Göttingen: V&R unipress 2006. Jäger, Anne Maximiliane (Hrsg.): Einmal Emigrant – Immer Emigrant? Der Schriftsteller und Publizist Robert Neumann (1897–1975). München: Text & Kritik 2006.

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»Eine dänische Ausgabe wurde am Tag der Auslieferung von der eben in Kopenhagen angelangten Gestapo beschlagnahmt, aber nach Prüfung des Titels wieder freigegeben, da es sich offenbar um etwas Religiöses handelte.«8

1945 erschien in 500 vom Autor signierten Exemplaren die deutsche Originalfassung. Die erste Ausgabe in Deutschland besorgte 1954 der Kurt Desch Verlag. Als eine »großartige Naturgeschichte der Juden« hat Heinz Liepmann den Roman 1960 in der Welt bezeichnet und ergänzt, »wer immer etwas über das Eigentümliche, die Tiefen und Untiefen des jüdischen Schicksals erfahren […] und zugleich eines der schönsten Bücher deutscher Prosa lesen«9 wolle, der möge zu diesem Roman greifen. Ob dieses Urteil zutrifft, soll hier nicht erörtert werden. Freilich ergibt sich schon aus einem oberflächlichen Blick auf die Komposition des Romans, dass es gerade nicht um eine »Naturgeschichte der Juden« geht. Stattdessen komponiert Robert Neumann in einer Abfolge von zehn Einzelgeschichten, die durch eine Rahmenhandlung verbunden sind, ein Panorama jüdischer Geschichte in der Diaspora, wenn nicht gar eine literarische »Historiografie der modernen Diaspora«.10 Und damit gehört er unzweifelhaft in einer Literaturgeschichte der »Etablierung und Überwindung von Grenzen«. Darüber hinaus liefert Robert Neumann die literatur- und kulturgeschichtliche Ausgestaltung eines kanonischen Psalmverses (»An den Wassern von Babylon«), der sich musikalisch seit Heinrich Schütz’ gleichnamiger doppelchöriger Motette (1619), über Gustav Fauré, Anton Dvorak, Franz Liszt und William Walton bis zum Broadway einiger Beliebtheit erfreut hat; sieht man von Heinrich Heines Erinnerung an Jehuda ben Halevi im »Romanzero« ab, so hat dieser Vers indes kaum je eine anspruchsvolle literarisch-ästhetische Reminiszenz bzw. Transformation erfahren. Die nun bietet auf ebenso originelle wie aktuelle Weise Robert Neumann; und zwar vor allem, weil er das Geschehen in der ost- und westeuropäischen Diaspora seit dem 19. Jahrhundert situiert und weil er die religiöse Semantik und ihre liturgische Kodifizierung im Horizont der jüdischen Verfolgungsgeschichte, der Ereignisse seit 1933 und des drohenden Krieges ins Aktuell-Politische überführt. Grenzen und Grenzüberschreitungen bestimmen Komposition und Intention, Ausgangs-und Fluchtpunkt des erzählten Geschehens. Der Roman beginnt buchstäblich an der Grenze (9–13) und zwar mit dem Bericht von einem gescheiterten Versuch zur Rückkehr nach Zion. Der Versuch,

8 Wagener, Robert Neumann. 2007, S. 73. 9 Wagener, Robert Neumann. 2007, S. 74. 10 Schneider, Ulrike: Die Erinnerungsfigur des Exodus als literarisches Mittel einer zeitgeschichtlichen jüdischen Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte 58, 3 (2006), S. 241–262, hier S. 245.

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die Grenze zu durchbrechen misslingt; ein Busunglück verhindert die Einreise ins Gelobte Land. Die geographisch-politische Grenze Palästinas liefert also den Rahmen des Erzählzyklus, an ihr beginnt und endet das Geschehen und zwar wenig überraschend als Ende aller Hoffnungen, als Zerstörung der Heilserwartung, zugleich aber in repetitiver Bekräftigung biblischer Verheißungen. In Duktus und Diktion imitiert Neumann die biblische Exodus-Erzählung, imitativ gestaltet er sprachlich und semantisch ein mit jeder Erzählung neu einsetzendes Verfolgungsgeschehen. In vier großen Abschnitten lässt Neumann die Lebensgeschichten von zehn Personen und Milieus Revue passieren. Wie diese Geschichten zu verstehen, welche Konsequenzen aus ihnen zu ziehen sind, das wird freilich gerade nicht dem Leser überlassen, es wird durch die mit Titeln versehene Abschnittsgliederung vorgegeben. Die Erzählungen von Reb Mojsche Wasservogel, Kommerzienrat Meier Borscht und vom jungen englischen Lord Henry Melville stehen unter der Überschrift »Die Erben« (15–82) und rufen die Pogrome in Osteuropa, das Revolutionsgeschehen in Russland und die Vertreibung der sephardischen Juden auf. Es schließen sich drei Geschichten an, die unter dem Titel »Die Verwirrung« (85–158) eine moderne Esther-Adaption in Gestalt einer Liebes-und Spionageaffäre aus der europäischen Finanzwelt mit der Erzählung von einem proletarisch-jüdischen Boxer, der in Amerika zum Medienstar avanciert, und schließlich mit einem Kriminalfall aus verletzter Ehre verknüpft. Es folgen unter dem Titel »Die Schwärmer« (159–208) zwei Erzählungen, die vom naiven sozialen und politischen Engagement der österreichischen Juden handeln und die Kontinuität des Antisemitismus in kommunistischen und faschistischen Gesellschaftsentwürfen entlarven. Den Schluss bilden die Geschichten vom liberalen Schriftsteller Marcus und vom umtriebig-opportunistischen Industriellen Schlessing; sie fungieren als Repräsentanten für die – so die Überschrift für Abschnitt vier – »Zerstörung durch das Hirn« (209–302). Wiewohl thematisch und historisch wohlgeordnet und in eine übergreifende systematische Perspektive eingefasst, wird jede einzelne Erzählung zu einem kleinen Kosmos. Nach Auswahl der Figuren, Milieus und Mentalitäten zielt Neumann auf eine Topographie und Typologie des diasporischen Judentums und strukturiert aber die jeweilige Erzählung anekdotisch-episodisch. Ereignisorientiert und von explodierender Erzählfreude beherrscht, rechnen die einzelnen Novellen mit einem atemlosneugierigen, faszinierten und zugleich erschütterten Leser, dem die historischen Kontexte bekannt, die Kontinuität individuell und kollektiv erfahrener Schrecken indes beklemmend erscheinen mögen. Der für Robert Neumann typische rhetorisch-stilistische Überbietungsgestus prägt auch seinen Novellenzyklus »An den Wassern von Babylon«.

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Die kompositorische Besonderheit besteht wie erwähnt in dem Umstand, dass alle zehn Geschichten in divergenten, räumlich und sozial eng begrenzten, aber typischen Milieus angesiedelt sind: im osteuropäischen Schtetl, in der englischen und französischen jüdischen Finanzaristokratie, im Wiener Kontor reicher Industrieller, im Literatencafé, in der Zuhälterszene Argentiniens, im sowjetischen Parteisekretariat, im Pariser Verlagshaus. Zeitlich spannt sich der Bogen vom Jahre 1492 bis in die Gegenwart des »Anschlusses«, topographisch von Leningrad bis Konstantinopel, von Wien bis London, Paris, New York und Buenos Aires. Den divergenten Milieus auf unterschiedlichen Kontinenten, der Vielfalt jüdischer Lebenswelten und Mentalitäten korrespondiert ein Erzählverfahren in nachgerade allen Gattungen des Erzählens: als Brief und als Plädoyer, als Bericht und Bekenntnis, als Reportage, lyrisches Porträt, als Kriminalroman und Sozialsatire. Anders aber als in den großen Novellenzyklen der Weltliteratur, anders auch als in Giovanni Boccaccios »Il Decamerone« (1348–1353), dessen Rahmen die in Florenz wütende Pest und die damit erzwungene Exilierung der aristokratischen Oberschicht bildet, fehlt in Neumanns Erzählzyklus eine übergeordnete Erzählinstanz. An ihre Stelle tritt am Ende jeder Erzählung die Entscheidung des Protagonisten zur Auswanderung nach Palästina, zum Aufbruch ins Gelobte Land, zum Ausbruch aus dem Exil, zum Exodus. In Neumanns novellistischem Panorama wird die Gesamtgeschichte jüdischer Diaspora-und Verfolgungserfahrungen in Personen und Motiven, auf buchstäblich allen Kontinenten, im sephardischen und im ostjüdisch-aschkenasischen Raum präsentiert, stets orientiert an einzelnen Schicksalen, in säkularen oder in religiösen Kontexten. Sie intonieren aus unterschiedlichen Perspektiven eine entweder spontane oder langsam gewachsene Entscheidung; die materiell und existenziell erzwungen ist und doch stets auf der Überwindung innerer Widerstände beruht; ihr gehen Erfahrungen des Scheiterns, der Verfolgung und Zerstörung voraus, die in den Entschluss zur Reise nach Palästina münden. Nicht das diasporische Abschiedsversprechen »Nächstes Jahr in Jerusalem«, sondern die in aussichtsloser Lage getroffene Entscheidung »nach Palästina« aufzubrechen, also den Exodus aus der Diaspora zu versuchen, bildet den roten Faden, den Schlusspunkt und die Quintessenz aller zehn Geschichten.

II.

Zur erzählerischen Intention

Ausführlich und nicht selten drastisch, anschaulich und dabei auch gern exklamativ-expressionistisch, stets analytisch und immer wieder pathetisch entwickelt Robert Neumann in seinem Roman ein erzählerisches Feuerwerk, das modischen Hybriditäts-, Palimpsest-und Obliterations-Theorien abgelauscht

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erscheinen könnte, wäre da nicht ein ganz anderes, ein Anliegen, das über rein Literarisches weit hinausweist. Denn im Medium des Erzählens und im Raum eines Novellenzyklus mit Rahmenhandlung liefert Neumann eine politische Amplifikation und Aktualisierung von Psalm 137 und damit die Transformation einer biblischen Klage in eine zeitgeschichtliche Anklage; anders gesagt die Überwindung und Negation der Grenze zwischen biblischer Erzählung und politischer Gegenwart. Die wird freilich nicht auktorial, als prophetische Fluchrede, als mosaische Racheandrohung oder als Untergangsvision formuliert, sondern in vielfacher perspektivischer Brechung. Was der Protagonist der einen repräsentiert, das kann der Held der folgenden Erzählung bereits wieder relativieren; wo im ersten Falle aus schierer materieller, da erfolgt im nächsten Falle die Entscheidung zur Alija in der Hoffnung auf Verwirklichung eines Friedensideals, das über ein Ende existenzieller Not hinausreicht. Und doch wählt Neumann für seine Rahmenhandlung eine Figur, die nicht nur im Exodus-Geschehen von zentraler Bedeutung ist.11 Im vorliegenden Falle wurde sie freilich nicht im Schilf ausgesetzt und von einer ägyptischen Prinzessin gefunden und aufgezogen, sondern sie stammt aus dem osteuropäischen Judentum, ist von Kindheit an Opfer von Pogromen, darunter die berühmt-berüchtigten des Jahres 1903 von Kischinau.12 Der spätere Reb Mojsche Wasservogel steigt gerade nicht vom Berg Horeb herab, um sein Volk ums Goldene Kalb tanzen zu sehen und ein Strafgericht zu veranstalten; nicht einmal mit den Tafeln kommt er herab, er kommt gar nicht erst ins Land, sterbend sieht er es lediglich von der Grenze aus. Die vorangehende Wüstenwanderung der 14 Protagonisten aus den anderen Erzählungen ist ein unvollendeter, ein gescheiterter, ein an den Einwanderungs-und Quotenregeln der britischen Mandatsregierung zerschellender Exodus. Für die erzählerische Intention – so wurde bereits deutlich – ist die Rahmung der zehn Geschichten von entscheidender Bedeutung, denn sie motiviert und strukturiert die einzelnen Episoden nicht nur; sie gibt ihnen ihre zeitlos-zeitgeschichtliche Signatur, ordnet das Einzelne zu einem Ganzen und versteht dieses Ganze als ein uneingelöstes und durch die Gegenwart neuerlich gebrochenes Heilsversprechen.13 Dabei wird dieser Befund dem erzählten Geschehen nicht etwa als Botschaft, Einsicht, Merksatz vorgeschaltet oder zugrunde gelegt. Er ergibt sich aus dem 11 Vgl. hierzu das Kapitel »Juden. Von Überall« Robert Neumanns »An den Wassern von Babylon«. In: Wiemann, Exilliteratur. 1998, S. 191–227; sowie Schneider, Erinnerungsfigur. 2006, S. 241–262. 12 Hohmann, Andreas/Mu¨ mken, Jürgen: Kischinew. Das Pogrom 1903. Lich: Edition AV 2016. 13 Ich folge hier der Interpretation von Dieter Lamping: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. S. 92–95.

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Erzählen, stellt sich nachgerade im Erzählen her; die Komposition selbst, insbesondere die Rahmenhandlung liefert den narrativen Vollzug, die performative Realisierung einer Einsicht in die Heillosigkeit von Heilsversprechen. An der Eingangserzählung und am Schluss-Kapitel lässt sich dies besonders gut zeigen. 14 Reisende – man hat sie alle in den vorangegangenen Erzählungen mit ihren jeweiligen Schicksalen kennengelernt – müssen an der letzten Bahnstation zwischen Ägypten und Palästina wegen einer maroden Brücke die Fahrt ins Gelobte Land mit einem Autobus fortsetzen. Kaum dass diese Fahrt zu nachmitternächtlicher Stunde beginnt, fallen alle Insassen in tiefen Schlaf und als sie wenig später aufwachen, finden sie sich nicht nur in veränderter Landschaft, sondern in radikal veränderter Verfassung. Und zugleich finden sich Leser und Leserinnen sprachlich-stilistisch in einer anderen, nämlich in der Welt der Exodus-Erzählung aus der hebräischen Bibel. »Die Wüste« wird zum neuen Schauplatz, vor allem zu einem zwischen Traum und Wirklichkeit, Urvätergeschichte und Gegenwart oszillierenden Grenzraum, in dem alle uns bekannten Figuren zu Refigurationen oder Wiedergängern der biblischen Erzählung werden. Sie verkörpern einen von Moishe Wasservogel angeführten Wüstenzug, in dem sich Erinnerungen an die abrahamitische Verheißung mit dem Kampf gegen die Amalekiter und schließlich mit einer Um-und Rückkehr zu zukunftsfrohem Gottvertrauen verknüpfen. Dem dies alles zu verdanken ist, ist natürlich kein anderer als der »große Beter«, Reb Mojsche Wasservogel. Unter seiner Führung sprechen die Flüchtlinge plötzlich im biblischen Zitat: »Und da er voranschritt und auszog in die Finsternis, zogen sie hinter ihm und strauchelten nicht und wurden selbst ergriffen. Einer erst und dann noch einer, und bogen sich und schlugen sich die Brüste mit ihren Fäusten. Ihr Schreien war eine Wildnis, so da antritt wider den großen Wind, daß sie waren ein Heerhaufen Gottes. Und sie schrien: Erweis dich an uns, wir lassen dich nicht, du tätest denn ein Wunder.« (319)

Man kennt den Wortlaut, der denn auch zu der bekannten Replik aus göttlichem Munde führt: »Da drang dieses Heerhaufens Schreien an des Herrn Ohr, und er sprach: Ziehet hin, so wird es an euch geschehen.« (319) Das »Wunder« geschieht tatsächlich, denn die beiden Kinder zweier Protagonisten, die man »an Amalek« bereits verloren glaubte, kommen plötzlich hinter einem Felsen hervor. In Reaktion auf dieses unerwartete Geschehen wird die berühmte Frage aus der Pessach-Haggada gerufen: »Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?« Und auch die Antwort folgt sofort: »Es ist dies die Nacht, da der Herr sein Volk heimführt aus der Ägypter Land« (319). Freilich muss die so freudig überraschte Reisegruppe plötzlich feststellen, dass man während der nächtlichen Wüstenwanderung im Kreis gegangen ist. Und auch diese Wahrnehmung kleidet sich ins Exodus-Zitat, wird Anlass zur Aktivierung und Realisierung von Worten aus der Thora; durch sie wird der »Ir-

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rende« zum »Streiter« und schließlich zum »Schlafwandler« Gottes. Schließlich fährt der Text fort: »Sind wir nicht gezogen in dieser Wüste vierzig Jahre und leben immer noch? Und einer sagte Vierzig Jahre, aber ihm war es wie eine Stunde. Es war dunkel, man sah seine Züge nicht. Ein großer Wind war gewesen, der hatte geweht aus der Finsternis in die Finsternis. Nun aber war er verloschen. Der Franzose sagte leise: Ein Uhr siebenundfünfzig. Eine Stunde. Er hielt eine teure und ein wenig eitle Uhr in der Hand, doch war sie im großen Mondlicht nicht mehr als ein geringes Gerät wie irgendeins. Das Automobil stand da in der Finsternis. Der Mann Schlessing tat daran seine Griffe. Da sprang das Licht auf, da sprang der Motor an, da stand das Fahrtier und zitterte… Einer sagte: Noch eine kleine Weile, dann wird der Himmel grau. Noch eine kleine Weile, da reisen wir über die Grenze.« (320)

Die aus aller Welt und über alle Grenzen geflohenen und verfolgten Juden reisen eben gerade nicht »über die Grenze«. Und eben diesen Sachverhalt illustriert Robert Neumann in seinem Erzählzyklus mit grenzmarkierenden literarischen Mitteln: mit der Montagtechnik. Das Exodus-Geschehen wird semantisch und sprachlich-stilistisch aktualisiert, freilich nicht im Sinne einer politischen Umdeutung, einer Übertragung der alttestamentlichen Überlieferung in eine moderne Welt. Die Transformation vollzieht sich ohne Überleitung, ohne Erläuterung, als ein Herstellen von Simultaneität, des unkommentierten Übergangs, eines gleichsam selbstverständlichen Grenzübertritts aus der Erzählwelt im Palästina des Jahres 1938 in diejenige der Exodus-Erzählung und umgekehrt. So selbstverständlich vollzieht sich diese hermeneutisch-literarische Horizontverschmelzung, dass weder Figuren noch Situationen, weder Erzähler noch Leser erklärende Kommentare erhalten. Stilistisch und syntaktisch basiert dies auf der gehäuften Verwendung der deiktischen Konjunktion »da«: »da sprang das Licht auf, stand das Automobil, stand das Fahrtier und zitterte« (320); an der abstrahierend-anonymisierenden Markierung der sprechenden Figuren: »einer sagte«, »der Betende« (320) sagte; und schließlich in der gleichsam rituellen Verbindung beider Stilfiguren »da frohlockte einer« (320). In den zwanziger Jahren war Robert Neumann mit seiner Kunst der Parodie (»Mit fremden Federn«) berühmt geworden, imitierend und zugleich verballhornend hatte er die großen literarischen Zeitgenossen täuschend echt nachgeahmt, darunter Thomas Mann und Franz Kafka, Max Brod u.v.a. In »An den Wassern von Babylon« stellt er diese Kunst in den Dienst einer novellistischen Chronik der jüdischen Verfolgung, der Diaspora und des Exils, der Sehnsucht nach Erez Israel. In Duktus und Diktion adaptiert er im Schlusskapitel den hohen Ton biblischer Erzählung und Erfahrung. Episodisch verschwimmen dabei die Grenzen zwischen Wüstenwanderung, Exodus-Erzählung und dem Zeitgeschehen des Jahres 1938 an der Grenze zum »Gelobten Land«, dem britischen Mandatsgebiet Palästina mit seiner undurchlässigen Grenze, ganz direkt. Die

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Flüchtlinge sprechen im hohen Ton der hebräischen Bibel, ohne dass solche stilistischen Adaptionen als Exempel für die Rückbesinnung auf die Thora und das Exodus-Geschehen fungieren. Robert Neumanns Roman erzählt gerade nicht von einer durch Pogrom- und Verfolgungserfahrung ausgelösten Rückkehr zu den Quellen des biblischen Judentums; und er plädiert literarisch keineswegs dafür, die Gegenwart des Jahres 1938 auf der Folie von babylonischem Exil und neuerlichem Exodus zu verstehen und zu deuten. Das letzte Kapitel des Romans endet zwar mit der Verheißung: »Aber deine Kinder werden nicht untergehen« (321), und es wird als Schlussakkord einer Textmontage aus 5. Mose 3, 24 und 4. Mose 27, 15 intoniert, so dass der Mose der Thora und der im Sterben diese Verse lesende Mojsche Wasservogel sich gegenseitig beglaubigen. Und doch liefert die Gesamtanlage des Romans eine andere Konsequenz. Die zur Wüstenfahrt aufbrechenden 14 Reisenden werden bereits im ersten Kapitel aus der Perspektive der Grenzsoldaten präsentiert, die den sich nähernden Autobus beobachten, den Schlagbaum herunterlassen, den Wagen auf eine gefährliche Schotterstrasse hart am Abgrund zwingen und nach nur wenigen Minuten dann tatsächlich den tödlichen Unfall des Fluchtfahrzeugs bestätigen. Die Entscheidung zur nächtlich-biblischen Wüstenfahrt, von der im letzten Kapitel im Modus der Exodus-Erzählung berichtet wird, ist durch das erste Kapitel bereits als vergeblich und tödlich endend vorweggenommen. Die biblischen Verheißungen, die der fromme Moishe Wasservogel im Schlussbild sterbend lesen wird, sind durch die einleitende Erzählung vom Geschehen an der Grenze bereits revoziert. Ähnliches gilt für das dem Roman vorangestellte Motto aus Hesekiel 18, 31/32: »Warum willst du sterben, du Haus Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tode dessen, so da stirbt, spricht der Herr. Darum wende dich, und lebe« (5). Als eine erzählerisch beglaubigte Botschaft wird man dieses Motto kaum verstehen können, ihren messianischen bzw. zionistischen Gehalt mag dies nicht tangieren; aber weder in religiöser noch in politischer Hinsicht erfüllt das erzählte Geschehen die Struktur seiner Vorlage. Das Exodus-Geschehen erzählt vom Auszug aus dem Elend und von einer glücklichen Rettung. Eben diese Struktur widerlegt nicht nur der Neumann’sche Erzählzyklus, er negiert sie zugunsten einer Vorstellung von der zyklischen Wiederkehr von Exil und Vertreibung, vom unaufhebbaren »absoluten Exil«.14 Und ausgerechnet im Herbst 1938 und buchstäblich an der Grenze zum britischen Mandatsgebiet vollzieht sich diese Negation, die ihrerseits durch das zweite Motto des Romans bzw. seine kurze Vorbemerkung bestätigt wird. Es heißt dort:

14 Lamping, Von Kafka bis Celan. 1998, S. 95.

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»Was in diesem Buch berichtet wird, greift weit zurück, und auch der Vorfall an der Grenze ereignete sich vor kaum mehr vorstellbarer Zeit – noch vor dem letzten Kriege.« (7)

III.

Fazit

Aus der Perspektive moderner literarischer und kulturtheoretischer Grenz-und Grenzüberwindungsnarrative mögen die vielfältigen Fort-und Umschreibungen der Exodus-Geschichte wenig Neues liefern. Und doch hat Jan Assmann in seiner einschlägigen Studie zu Recht konstatiert: »Sie (die Exodus-Geschichte, IvdL) erzählt von einer Wende, die sie dann im Zuge ihrer Nacherzählungen und Umdeutungen selbst herbeigeführt hat, und ist zum narrativen Muster und Symbol grundlegender geistiger, religiöser und politischer Wenden überhaupt geworden.«15

»An den Wassern von Babylon« aus dem Jahre 1939/45 lässt sich als Bestätigung für Assmanns Bilanz lesen. Robert Neumann, der sich als Schriftsteller unter schwierigsten Umständen zu bewahren suchte, hat einmal bekannt: »Ich betrachte die Literatur als einen Annex zum Leben und nicht das Leben als einen Annex zur Literatur«16. So auch lassen sich Konzeption und Intention seines Novellenzyklus »An den Wassern von Babylon« verstehen. Als ein literarisches Vermächtnis, das der Wirkungsmacht biblischer Verheißungen und messianischer Hoffnungen ein Denkmal setzt, indem es ihre politisch bedingten Grenzen markiert, ja von ihrem radikalen Scheitern erzählt; ein literarisches Vermächtnis, das alle nur denkbaren Erzählmuster und narrativen Formen aufbietet, um ein Verfolgungsgeschehen zu tradieren und zugleich zu gestalten, das grenzüberschreitend Jahrhunderte und Kontinente umgreift. Vor-und zeitgeschichtlich ist es gleichermaßen verbürgt, und es präsentiert sich als ein zyklisches Wiederholungsgeschehen. Und doch zielt Robert Neumann in gut säkularer Absicht mit seiner radikalen Profanierung der Exodus-Erzählung auf eine politische Katastrophe, durch die der Exodus von mal eben 14 Juden aus aller Welt am Grenzregime einer britischen Mandatsregierung scheitert. Durch seine Rahmenhandlung ist Robert Neumanns Roman im Grenzraum zwischen Ägypten und Palästina situiert; er evoziert damit die Wüstenwanderung des Volkes Israel unter Moses’ Führung, und er artikuliert im biblischen Zitat, in der Montage aus Hesekiel-Versen, Worten des Psalmisten und Passagen aus der Thora Empörung und Entsetzen über den Triumph eines weltpolitischen Grenzregimes, durch das die Verheißungen der hebräischen Bibel nicht nur 15 Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München: C. H. Beck 2015, S. 402. 16 Zit. nach Wagener, Robert Neumann. 2007, S. 25.

»Noch eine kleine Weile, da reisen wir über die Grenze«

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ignoriert, sondern pervertiert erscheinen und gegen das im Modus montierenden modernen Erzählens gleichwohl Einspruch erhoben wird.

Michaela Holdenried (Freiburg)

Von den Segnungen eines festen Rockes. Reisende Frauen als Grenzgängerinnen der Welterkundung

Reisende Frauen sind vor dem 19. Jahrhundert eine Rarität, bemerkenswert eigensinnige Wesen, die die Einschränkung ihrer Mobilität durch Behinderungen infolge geschlechtstypischer Sozialisierung und familiärer Verantwortlichkeiten und sogar ausdrückliche Reiseverbote mit List und Tücke, einer gehörigen Portion Courage und festem Rock und Schuhwerk durchbrechen. Selbstverständlich dürften auch Frauen immer schon gereist sein, doch haben wir erst relativ späte Kunde von diesen Unternehmungen. Eines der ersten Zeugnisse ist das »Book of Margery Kempe«, der Bericht einer Pilgerreise im Jahre 1413 ins Heilige Land, das allerdings erst 1934 entdeckt wurde. »An einem Hochsommertag des Jahres 1413 setzte sich Margery Kempe unter einen Baum in ihrem Garten, zitierte ihren Gatten und Vater ihrer vierzehn Kinder herbei und erklärte ihm, sie habe jetzt genug. […] Fortan dürfe er sich um die Kinder kümmern, während sie auf Reisen ginge.«1

Nachdem sie die Reise unbeschadet überstanden hatte, kehrte sie kurz an den heimischen Herd zurück, um dann erneut zu einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela aufzubrechen. Ihren Bericht diktierte sie, da sie nicht schreiben konnte. Insbesondere die englischen Frauen scheinen ein Muster der Unerschrockenheit gewesen zu sein; mit dem typisch britischen Humor beschreiben sie, wie sie Gefahren überstanden; ironischerweise in manchen Fällen gerade wegen der unpraktischen Kleidung. So schildert die viktorianische Reisende Mary Kingsley, wie sie auf ihrer Reise 1894, mit 32 Jahren, durch das heutige Gabun (damals Französisch-Kongo) in eine Großwildfalle stürzt: »Das sind die Augenblicke, wo die Segnungen eines guten festen Rockes so richtig zur Geltung kommen. Hätte ich mich […] für männliche Kleidung entschieden, wäre ich 1 Aeckerle, Susanne: Einleitung. In: Strapazen Nebensache. Abenteuerliche Frauen reisen. Hrsg. von Dies. München/Zürich: Piper Taschenbuch 1996, S. 7–11, hier S. 7. Inwiefern dies eine Retrojektion aus heutiger Sicht ist, sei einmal dahingestellt. Ein ähnliches Muster lässt sich allerdings in Bezug auf solche protoemanzipatorischen Akte auch bei Maria Sibylla Merian und Ida Pfeiffer erkennen.

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jetzt bis auf die Knochen durchbohrt gewesen. So aber saß ich, abgesehen von einer Menge Schrammen, dank der Stofffülle meines Rockes vergleichsweise gemütlich auf neun Ebenholzstacheln von gut zwölf Inches Länge und rief frohgemut um Hilfe.«2

Der postkolonial geschärfte Blick zeigt uns, dass reisende Frauen bedauerlicherweise nicht die besseren Reisenden waren: Kingsleys Reisebericht ist von unübersehbar xenophoben Tönen durchzogen: Schwarze sind nach Kingsleys Ansicht faul, schmutzig, indolent. Doch lohnt sich ein Verfahren, wie Edward Said es insbesondere für den viktorianischen Roman vorschlug, auch hier: Contrapuntal reading, so neuere Forschungsbeiträge, ergibt eine weitaus ambivalentere, ja, multiple voiced Perspektive, gar ein Schreiben mit vielfachen Widersprüchen, wie Kennedy feststellt.3 So inszeniert sie sich zwar als reisende Frau, der Habitus ist aber der eines männlichen »intrepid explorer« (»Always have your revolver loaded in good order.«).4 Und die Haltung einer überzeugten Imperialistin hindert sie wiederum nicht daran, gerade den männlichen weißen Jäger als imperiales Symbol besonders sarkastisch aufs Korn zu nehmen. Gerade in Bezug auf Frauen wird aufgrund ihrer eigenen marginalisierten Position gerne angenommen, sie würden ›anders sehen‹, einen ›Doppelblick‹ haben. Kingsleys hybride Textproduktion ist allemal lohnenswertes Sujet für weitere Untersuchungen: Intensivere Textuntersuchungen erweisen diese als sehr genaue Beobachterin, etwa der Mangroven – deren Beschreibung sie nutzt, »to train[] her eyes in order to be mentally and intellectual ready for the experience.«5 Die xenophoben Elemente werden dadurch natürlich nicht aus dem Text eskamotiert, es entsteht durch intensiveres close reading aber doch ein etwas differenzierteres Gesamttableau mit Abstufungen auch des xenophoben Gehalts. Reisen war lange Zeit nicht nur für Frauen eine Tortur. Im Römischen Reich hatte es zwar bereits ein gut ausgebautes Straßennetz gegeben, das Poststationen und Gasthäuser aufwies, doch war mit dem Zerfall des Reiches auch das imperiale Monument römischer Straßenbaukunst dem Verfall anheimgegeben. Frauen in früheren Jahrhunderten konnten, wenn sie reich waren, sich in Sänften tragen lassen oder die Kutsche benutzen; erst die Einführung von Postkutschenlinien machte das Reisen auch für die Mittelschicht erschwinglich. An2 Kingsley, Mary: Die grünen Mauern meiner Flüsse. In: Strapazen Nebensache. Abenteuerliche Frauen reisen. Hrsg. von Susanne Aeckerle. München/Zürich: Piper Taschenbuch 1996, S. 13– 34, hier S. 13. 3 Kennedy, Valerie: Kingsley’s Multiple Voices in Travels in West Africa. In: In-Between Two Worlds. Narratives by Female Explorers and Travellers 1850–1945. Hrsg. von Béatrice Bijon/ Gérard Gâcon. New York u. a.: Peter Lang 2009, S. 153–165, hier bes. S. 154. 4 Ebd. 5 Gâcon, Gérard: Mary Kingsley: The Mangrove Deciphered. In: In-Between Two Worlds. Narratives by Female Explorers and Travellers 1850–1945. Hrsg. von Béatrice Bijon/Ders. New York u. a.: Peter Lang 2009, S. 167–175, hier S. 170.

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sonsten gingen die pilgerreisenden oder ›fahrenden‹ Frauen zu Fuß. Goethe erwähnt in seiner »Italienischen Reise« (1816/17), wie er immer wieder gebeten wird, Mädchen in der Kutsche mitzunehmen.6 Ein- und Aussteigen war für die Frauen bereits ein mühseliger Akt, mussten doch diverse Lagen sich bauschender Stoffhüllen in Bewegung gebracht und sittsam gerafft werden; von der Korsettage ganz zu schweigen. Marie von Bunsen schreibt zum Aufwand des Packens noch Ende des 19. Jahrhunderts: »Das Einpacken eines jeden Kleides war mit Ausnahme des sportlichen Strapazierkleides so eine Sache. Rüschen, geraffte Überwürfe, Falbeln, die vollen Ärmel, die mit Streifengaze abgefütterten, mit Balayeusen unterlegten Röcke verlangten Raum, die Hutkoffer wurden immer umfangreicher. Aber das alles musste so sein«7

– jedenfalls, wenn man standesgemäß reisen wollte; dann gehörten Hutschachteln und in Bunsens Fall sieben (!) Sonnenschirme zur Reisegarderobe; »[d]as reichte zur Not.«8 Eine Weltreisende wie die Österreicherin Ida Pfeiffer pries überschwänglich die Segnungen festen Schuhwerkes.9 Damenschühchen waren für solche Strapazen natürlich nicht gemacht, wie George Sand ironisch-leidvoll beschrieb: »Die feinen Schuhe waren in zwei Tagen zerrissen; […] ich war beständig verschmutzt, ermüdet, erkältet und sah Schuhwerk und Kleidungsstücke mit entsetzlicher Geschwindigkeit zugrunde gehen, ganz zu schweigen von den Samthütchen, die von der Dachtraufe ruiniert wurden.«10 Sand zog daraus die Konsequenz und nähte sich Männerkleidung, die wie die Herrenstiefel und Zigarren zu ihrem Markenzeichen wurde. Ein unerhörter Vorgang, der ihr insbesondere in ihrem »Winter auf Mallorca« (1842),11 den sie zusammen mit Chopin und ihren Kindern verbrachte, das Wohlwollen der einheimischen Mitmenschen nachhaltig verscherzt hat. An George Sand kann man vieles studieren; insbesondere interessant ist die Geschlechterrolleninversion, auf die vielfach hingewiesen wurde; Sand hatte in der Patchworkfamilie auch gegenüber Chopin wohl buchstäblich ›die Hosen an‹. Dass die Mallorquiner sie heftig ablehnten, zeigt nur besonders exemplarisch, was reisende Grenzgängerinnen in Frage stellen: Sie betreten liminale Räume, verlassen damit transgressiv die ihnen zugewiesenen Rollen – und werden dafür entschieden sanktioniert. 6 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter u. a. München: Hanser 1992. Bd. 15.1. Hrsg. von Andreas Beyer. Bd. 15.1, z. B. S. 25. 7 Zit. n. Backes, Ingrid: Das Frauen Reise Buch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 1986, S. 94. 8 Ebd. 9 Vgl. Pfeiffer, Ida: Eine Frau fährt um die Welt. Die Reise 1846 nach Südamerika, China, Ostindien, Persien und Kleinasien. Wien: Promedia 1992. 10 Zit. n. Backes, Frauen Reise Buch. 1986, S. 94f. 11 Vgl. Sand, George: Ein Winter auf Mallorca. Hrsg. und ins Deutsche übertragen von Ulrich C. A. Krebs. Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg 1975.

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Praktisch war weibliche Kleidung natürlich nur in Ausnahmefällen wie dem erwähnten; reisende Frauen wählten aber nicht nur aus diesem Grund oft männliche Kleidung, bis dann um 1900 die bahnbrechende Erfindung der Reformkleidung die Frauen aus dem Würgegriff der Korsettage befreite. In vielen Fällen war Verkleidung überhaupt die einzige Möglichkeit, der Sehnsucht nach der Ferne folgen zu können. Weibliche Matrosen waren auf den Segelschiffen der Entdeckungsreisenden nicht vorgesehen, sodass nur die Maskerade half. In Bougainvilles Reisebericht ist von der Entdeckung einer Weibsperson in Bedientenkleidung die Rede; Mutmaßungen hatte es schon vorher gegeben, doch erst die Tahitianer entdecken sofort ihr wahres Geschlecht. »Wie konnte man aber glauben, dass Baré von weiblichem Geschlecht wäre, da man ihn als einen unermüdlichen und erfahrenen Botaniker seinen Herrn […] begleiten […] hatte sehen? Sein Herr nannte ihn wegen seines Mutes und seiner Kraft nur sein Lasttier.«12 Zu ihrer Rechtfertigung gibt die illegale Matrosin an, dass sie elende Umstände und die Neugierde getrieben hätten, mitzugehen: »Sie ist gewiß die erste Weibsperson, die eine solche Reise tut. Ich muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass sie sich auf der ganzen Reise sehr klug und ehrbar aufgeführt hat.«13 Ob sie wirklich die erste war, sei dahingestellt; nach ihr jedenfalls haben wir Kunde von vielen Frauen, die als Männer verkleidet reisten, auch um sich vor Übergriffen zu schützen. Dies war etwa der Fall bei Isabelle Eberhardt, die die Wüste Arabiens durchquerte,14 und auch bei Bettina von Brentano, um nur zwei zu nennen. Die schon erwähnte Ida Pfeiffer beharrte hingegen auf dem Musselinkleid; auf Abbildungen sieht dieses allerdings sehr verdächtig nach einem Vorläufer der Reformkleidung aus und war mithin nicht gerade ausgesprochen ›weiblich‹. ›Crossdressing‹ ist nicht nur bei Sand Ausdruck eines Willens zur Grenzüberschreitung, wie es bei Baré Mittel einer Mittellosen war, die die Welt sehen wollte. Auch Kingsley und andere okkupieren ›männlich‹ konnotierte Sphären, mit Rock und Gewehr. Und sie tun dies, indem sie Grenzen überschreiten und sie damit negieren.15 Damit einher gehen auch Veränderungen in der Publikationspraxis: Konnten lange Zeit Werke von Frauen nur ›gerahmt‹ 12 Bougainville, Louis Antoine de: Reise um die Welt, Berlin: Rütten & Loening 1972, S. 243. 13 Ebd. 14 Vgl. Eberhardt, Isabelle: Sandmeere. Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Christian Bouqueret, ins Deutsche übertragen von Grete Osterwald. Berlin/Schlechtenwegen: MÄRZ Verlag 1982. 15 Auf die ausufernde Literatur der letzten Jahrzehnte zu Schwellen und Grenzen kann hier nicht eingegangen werden. Verwiesen sei hier lediglich auf einen neueren Band von Horváth und Katschthaler (Konstruktion – Verkörperung – Performativität. Genderkritische Perspektiven auf Grenzgänger-Innen in Literatur und Musik. Bielefeld: transcript Verlag 2016), und hier insbesondere Esther Pabis Auseinandersetzung mit dem Grenzbegriff (Frauen unterwegs. Dimensionen der Fremdheit in »Grenzgänger_innengeschichten« zeitgenössischer Autorinnen), bes. S. 17–22.

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durch männliche Autoritäten (etwa ein Vor- oder Geleitwort) erscheinen, oder noch häufiger nur anonym, so nehmen im 19. Jahrhundert Publikationen unter eigenen Namen zu. Für manche Autorinnen, wie Ida Pfeiffer, wird das Werk gar zur unabdingbaren Finanzierungsbasis einer anhaltenden Reisetätigkeit. Neben dem Pilgern war das Baden und Kuren ein unverdächtiger Reisegrund; Ausgrabungen beweisen, dass es bereits in römischer Zeit eine ausgeprägte Kurbadekultur gab; im 16. Jahrhundert war das Heilbaden eine feste Institution und zwar für Frauen und Männer gleichermaßen. Anhand von Graffiti an den berühmten Bauwerken Griechenlands und Ägyptens lässt sich schließlich beweisen, dass auch Frauen solche Bildungsreisen unternommen haben, die durchaus mit den Badereisen kombiniert sein konnten – heutzutage würde man dies wohl als ›Package‹ bezeichnen. Andere Möglichkeiten der Frauenreisen können hier nur gestreift werden; einiges davon mutet etwas skurril an, ist es bei näherem Hinsehen aber nicht. So existierten sog. Reiseehen, Ehen also, die nur für die Dauer einer Reise geschlossen wurden; schließlich reisten Frauen in der kämpfenden Truppe, etwa in Peru, wie Flora Tristan berichtet,16 aber auch im Lützower Freikorps, das Napoleon zurückschlug. Ferner waren Frauen als Piratinnen, Bettlerinnen und Prostituierte unterwegs. Frauen gelangten zudem als ›Weihnachtsgaben des Mutterlandes an die Kolonie‹ 1898 etwa nach Namibia, ehemals Deutsch-Südwest;17 in puncto Herrenmenschentum standen sie den kolonialistischen Gatten in spe nicht nach, jedenfalls wenn ihre Auswanderung freiwillig und nicht etwa aufgrund familiären Zwanges erfolgte (weil die Töchter in der Heimat nicht »an den Mann gebracht« werden konnten). Schließlich war ihr Reiseimpuls ja oft der einer Stärkung der Kolonie durch ›Zuführung frischen Blutes‹ aus der Heimat. Und schließlich reisten Frauen gezwungenermaßen, aus Not und nicht zum Vergnügen (wie es ja auch bei Bougainvilles enttarnter Bediensteter anklang). Marketenderinnen und Schauspielerinnen der fahrenden Bühnen galten gleichermaßen als nicht ehrlich, auch wenn die Kunst der letzteren ihnen oft zur Berühmtheit verhalf. Massenauswanderungen wie Mitte des 19. Jahrhunderts waren ebenfalls ein Motiv zur Reise, wenn auch einer unfreiwilligen. Für die riesige Auswanderungswelle in die Neue Welt um 1850 liegen Frauentagebücher aus dem Wilden Westen vor, die naturgemäß weniger die Verlockungen der Ferne besingen als Not und Gefahren der Reise. Als mixtum compositum aus Haushalts- und Tagebuch geben diese Zeugnisse Einblick in die

16 Vgl. Tristan, Flora: Meine Reise nach Peru. Fahrten einer Paria. Hrsg., übersetzt und eingeleitet von Friedrich Wolfzettel. Frankfurt/Main: Societäts-Druckerei 1983, S. 225f. 17 Vgl. in diesem Zusammenhang Smidt, Karen: »Germania führt die deutsche Frau nach Südwest«. Auswanderung, Leben und soziale Konflikte deutscher Frauen in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1884–1920. Eine sozial- und frauengeschichtliche Studie. Magdeburg 1997.

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sonst kaum für beschreibenswert erachteten Umstände der Reise (Zwischen- und Überfälle, Finanzen, Sorgen um die Kinder, Krankheiten etc).18 Bis ins 19. Jahrhundert war das Reisen eindeutig eine männliche Domäne, und die Zahl der Reiseberichte von Frauen ist entsprechend überschaubar. Allerdings hat sich seit Ende der 1970er Jahre – mit dem fast gleichzeitigen Aufschwung der Reiseliteraturforschung und der Institutionalisierung von Frauenforschung, die sich das ›archäologische‹ Ziel setzte, Literatur von Frauen überhaupt zugänglich zu machen, indem sie aus Archiven gezogen, entstaubt und in Neueditionen veröffentlicht wurde – der Umfang der nun bekannten Reiseliteratur von Frauen vervielfacht.19 Einschränkungen dieses umfangreichen Materials ergeben sich daraus, dass immer wieder die gleichen ›Vorzeigereisenden‹ genannt werden; neuere Anthologien und Sammelbände machen aber immerhin aufmerksam auf eine Vielzahl noch zu erforschender Dokumente der weiblichen Reiselust.20 Bevor exemplarisch zwei Reisende des 19. Jahrhunderts näher in den Blick genommen werden, soll hier kursorisch noch auf einige der ›berühmteren‹ Damen in der Zeit davor eingegangen werden. In keinem Überblick darf Lady Mary Wortley Montagu fehlen, die ihrem Diplomatengatten nach Konstantinopel folgte und dort 1716–18 die erst nach ihrem Tod im Jahr 1762 veröffentlichten »Letters of the East« an verschiedene Größen ihrer Zeit schrieb.21 Diesen Reisebriefen war aus verschiedenen Gründen großer Erfolg beschieden; einer davon, nicht der unwichtigste, war, dass sie als Frau Zugang zu kulturellen Tabuzonen wie dem Frauenbad und dem Harem 18 Vgl. Schlissel, Lilian (Hrsg.): Women’s diaries of the westward journey. New York: Schocken Books 1982. 19 Vgl. etwa Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Deutsche Literatur von Frauen, 2 Bde. München: C.H. Beck 1988; Pelz, Annegret: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1993; Gnüg, Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hrsg.): Frauen, Literatur, Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999; und Habinger, Gabriele: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Wien: Promedia 2006. Besonders erwähnt sei die verdienstvolle Bibliographie von Griep, Wolfgang/Pelz, Annegret: Frauen reisen. Ein bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Frauenreisen 1700 bis 1810. Bremen: Edition Temmen 1995. 20 Hier sei für die Zeit nach 2000 nur auf wenige verwiesen: Amoia/Knapp (Great women travel writers. From 1750 to the present. New York/London: Continuum 2005), Bijon/Gâcon (InBetween Two Worlds. Narratives by Female Explorers and Travellers 1850–1945. New York u. a.: Peter Lang 2009). Zum Transitorischen in der Literatur haben wir den Sammelband von Pacyniak/Pastuszka vorliegen, in dem neben den Herausgeberinnen dieser Festschrift auch Janusz und Izabela Golec wichtige Beiträge verfasst haben (Zwischen Orten, Zeiten und Kulturen. Zum Transitorischen in der Literatur. Frankfurt/Main: Peter Lang 2016). 21 Vgl. Montagu, Mary Wortley: The letters and works of Lady Mary Wortley Montagu. 2. Bde. Hrsg. von Lord Wharncliffe. London: Bell 1887. Die Ausgabe von Malcolm Jack und Janet Todd führt den Titel The Turkish Embassy Letters (London: Virago 1994).

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hatte. Die Briefform war ein anderer Grund, drückte sich doch gemäß der Poetologie des 18. Jahrhunderts (Gottsched, Gellert) insbesondere im Frauenbrief die natürliche Lebendigkeit und Subjektivität des freien Gesprächs aus.22 Im Vorwort einer Lady Astell wünscht diese den Briefen Montagus denn auch mit folgenden Worten den ihnen gebührenden Erfolg: »Ich bin, ich bekenne es, boshaft genug, zu wünschen, dass die Welt sehen möge, wie die Damen weit besseren Nutzen aus ihren Reisen zu ziehen wissen als die Herren, dass, da die Welt mit Männerreisen bis zum Ekel überladen worden ist, die alle in dem nämlichen Ton geschrieben und mit denselben Kleinigkeiten angefüllt sind, eine Dame die Fähigkeit hat, sich eine neue Bahn zu eröffnen und einen abgenutzten Stoff mit einer Mannigfaltigkeit von neuen und zierlichen Bemerkungen zu verschönern.«23

Montagu ist nicht nur als reisende Diplomatengattin ernst zu nehmen, sondern auch als versierte Briefschreiberin; bekanntlich haben die ›vorästhetischen Räume‹ des Briefes vielen Frauen erst zum literarischen Schreiben verholfen. Briefe eignen sich aber auch als Kassiber in gesellschaftspolitischer Hinsicht, wie Katrina O’Loughlin gerade am Beispiel Montagus zeigen kann. In ihren Spiegelungen bricht sich der reflektorische Blick auf das heimische England, indem es den Harem und das ›coffeehouse‹ analogisiert. Ergebnis dieser erstaunlichen Nähe ist es, so O’Loughlin, dass es Lady Montagu gelinge, im Modus des Genres Brief »[to] articulate a significant phase in the development of new public, secular, and sociable modes of British identity«.24 Eine weitere Reisende, die auch vielen nicht einschlägig Informierten zumindest von der Abbildung auf dem 500-DM-Schein her bekannt war, ist Maria Sibylla Merian; auch sie eine ›Vorzeigereisende‹, allerdings eine, deren weite Reise nach Surinam weniger wegen der Reise selbst als vielmehr wegen deren ästhetischem und wissenschaftlichem Ertrag rezipiert wurde. Ihre Biographie ist aufgrund der erstaunlichen Unabhängigkeit von gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen für HistorikerInnen wie etwa Natalie Zemon Davis von größtem Interesse.25 Der Band über die Surinamesischen Insekten von 170526 gilt einigen ForscherInnen als ein Gründungsdokument der Entomologie, der Insektenfor22 Vgl. zusammenfassend Holdenried, Michaela: [Art.] Brief/Briefkultur. in: Metzler-Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung. Hrsg. von Renate Kroll. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 44f. 23 Zit. n. Frederiksen, Elke: Der Blick in die Ferne – Zur Reiseliteratur von Frauen. In: Frauen, Literatur, Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann. Stuttgart: Metzler 1999, S. 147–165, hier S. 153. 24 O’Loughlin, Katrina: Women, writing, and travel in the eighteenth century. Cambridge: Cambridge University Press 2018, S. 60. 25 Vgl. Davis, Natalie Zemon: Drei Frauenleben: Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Kaiser. Berlin: Wagenbach 1996. 26 Vgl. Merian, Maria Sibylla: Das Insektenbuch. Metamorphosis insectorum Surinamensium. Frankfurt/ Main/Leipzig: Insel-Taschenbuch 2002.

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schung also. In kulturwissenschaftlicher Perspektive wäre es wohl möglich, zwischen dem graphischen Werk, den Kupferstichen, für die sie als Abkömmling der Kupferstecherdynastie Merian bekannt war, dem wissenschaftlichen Ertrag und dem, was man das ›anthropologische Flair‹ ihrer Werke nennen könnte, Verknüpfungen herzustellen. Eine eigenständige Veröffentlichung der Reiseerlebnisse unterblieb jedoch; sie sind nur als Annex zu ihrem berühmten Insektenbuch verschriftlicht; interessant sind ihre Reisen also eher durch die ›Leerstellen‹, mit denen sie sie nicht beschreibt. Lediglich in Bemerkungen zu Pflanzen etwa sind kulturgeschichtlich interessierende Details einer ›Topographie des Fremden‹ auszumachen, beispielsweise bezüglich der Abtreibungspraktiken, die sie mit der Flos Pavonis (i. e. Schmetterlingsblume) verbindet.27 Erst exakt 100 Jahre später landete Alexander von Humboldt an der Küste Südamerikas, mit dem Merian auch durch ihr organologisches Verständnis der Natur – dem, was man heute Biodiversität nennen würde –, enger verbunden ist, als es auf den ersten Blick scheint. Beide zuletzt genannten Reisen von Frauen im 17. Jahrhundert waren entschieden außergewöhnlich, drangen sie doch in Räume ein, die zu jener Zeit nicht einmal Männern zugänglich waren. Erst durch technische Errungenschaften, wie die der Eisenbahn, wird das Reisen für eine wachsende Zahl von Frauen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts leichter – und das Schreiben darüber selbstverständlicher. Italien wird nicht nur von Goethe verewigt, sondern auch als Ziel von bildungsreisenden Frauen beliebt. Fanny Lewald, eine der ersten Berufsschriftstellerinnen mit ungeheurem Erfolg, wandelt auf den Spuren Goethes,28 ebenso ihre Konkurrentin Gräfin Ida Hahn-Hahn;29 Sophie von La Roche reiste in die Schweiz, durch Frankreich, Holland, England;30 Johanna Schopenhauer nach England und Schottland.31 Die endgültige ›kopernikanische Wende‹ im Reisegewerbe aber markiert die Weltreise von Frauen;32 von wohlgemerkt alleinreisenden Frauen wie Ida Pfeiffer33 oder Sophie Döhner.34 Europäische Frauen

27 Vgl. Ebd., Tafel 45. 28 Vgl. Lewald, Fanny: Italienisches Bilderbuch. Ungekürzte Neuausgabe der Originalfassung von 1847. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ulrike Helmer. Frankfurt/Main: Helmer 1992. 29 Vgl. Hahn-Hahn, Ida: Jenseits der Berge. 2. Bde. Leipzig: Brockhaus 1840. 30 Vgl. von La Roche, Sophie: Reisetagebücher. Aufzeichnungen zur Schweiz, zu Frankreich, Holland, England und Deutschland. Hrsg. und mit einer Einführung versehen von Klaus Pott. Konstanz/Egginen: Ed. Isele 2006. 31 Vgl. Schopenhauer, Johanna: Reise durch England und Schottland. 2. Bde. Leipzig/Frankfurt/ Main: Brockhaus 1830. 32 Vgl. Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. 1993, S. 215: »Die Reisen der Österreicherin Ida Pfeiffer, der berühmtesten Weltreisenden des 19. Jahrhunderts, markieren diese ›kopernikanische Wende‹ in der Geschichte des Frauenreisens und der Reiseliteratur von Frauen.« 33 Vgl. Pfeiffer, Eine Frau fährt um die Welt. 1992.

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erobern sich auf Reisen die anderen Kontinente: Caecilie Seler-Sachs etwa Mexiko und Guatemala;35 Mary Kingsley Westafrika;36 Amalie Dietrich erkundet Australien. Sehr wahrscheinlich, dass auch die Anfänge des organisierten Massentourismus zum Aufbruch der Frauen im 19. Jahrhundert beigetragen haben, die genannten Reisen bleiben jedoch Ausnahmeerscheinungen, auch wenn man sie mit ›männlichen‹ Unternehmungen vergleicht. Ob die Erfahrung eigener ›Alterität‹ die weiblichen Reisenden tatsächlich mit einer Art ›Doppelwissen‹37 für das Fremde ausstattet, soll nun mit dem Fokus auf zwei forschungsreisende Frauen genauer untersucht werden. Nach Stefan Fisch kann Ida Pfeiffer als die »bekannteste deutsche Forschungsreisende«38 gelten; auf alle Fälle aber war sie eine der bekanntesten Reiseschriftstellerinnen; die Berlinerin Caecilie Seler-Sachs hingegen ist auch heute noch eher unbekannt. Unterschiedliche Grundstrukturen der Wahrnehmung kennzeichnen jeweils ihre Beiträge zur Forschung, insbesondere der Ethnologie (und Archäologie). Pfeiffer brach mit 55 Jahren zu Reisen auf, die sie in einem Zeitraum von 16 Jahren in alle Weltgegenden führte, bis sie nach einer Malaria-Erkrankung auf Madagaskar in Wien verstarb. Seler-Sachs begleitete ihren Gelehrtengatten auf Reisen nach Mittelamerika und unternahm eine Reise allein nach Brasilien. Ich beschränke mich hier auf Pfeiffers Weltreise, »Eine Frauenfahrt um die Welt« (1850, neu erschienen 1992 unter dem Titel »Eine Frau fährt um die Welt«), und Seler-Sachs’ »Auf alten Wegen in Mexiko und Guatemala«, erschienen 1900, neu ediert ebenfalls 1992.39 Zur Forschung kamen die forschungsreisenden Frauen durch einen Quereinstieg, nicht auf direktem Wege. Das galt, wie oben angedeutet, schon früher für Merian; es galt für Amalie Dietrich, die schließlich Mitarbeiterin am Hamburger Botanischen Museum wurde; die begüterte Alexine Tinné, die eine aufwändige Nilexpedition ausstattete und berühmte Afrikaforscher in Dienst nehmen konnte; Therese von Bayern, die Südamerika beforschte. Vergessen werden 34 Vgl. Döhner, Sophie: Weltreise einer Hamburgerin 1893–1894. Aus dem Reisetagebuch. Hamburg: Meißner 1895. 35 Vgl. Seler-Sachs, Caecilie: Auf alten Wegen in Mexiko und Guatemala. Reiseerinnerungen aus den Jahren 1895 bis 1897. Hrsg. von Gabriele Habinger. Wien: Promedia 1992. 36 Vgl. Kingsley, Mary: Travels in West Africa. Congo Français, Corisco and Cameroons. London: Cass 1965. 37 Vgl. Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. 1993; im zweiten Kapitel zu Italien wird dieses »Doppelwissen« als besondere Wahrnehmungsfähigkeit entfaltet. 38 Fisch, Stefan: Forschungsreisen im 19. Jahrhundert. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 383–405, hier S. 399. 39 Vgl. dazu ausführlicher Holdenried, Michaela: Botanisierende Hausfrauen, blaustrümpfige Abenteurerinnen? Forschungsreisende Frauen im 19. Jahrhundert. In: Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Hrsg. von Anne Fuchs/Theo Harden Heidelberg: Winter 1995, S. 152–171.

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sollte aber in diesem Zusammenhang nicht, dass noch die männlichen Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts keineswegs immer wissenschaftlich ausgebildet waren.40 Was nun aber waren die Ergebnisse der Reisen, wenn man diese durchaus legitimer Weise als Forschungsreisen betrachtet? Pfeiffer erhielt die goldene Medaille für Wissenschaft und Kunst vom König von Preußen; Seler-Sachs veröffentlichte und hielt Vorträge. Beide werden als Pionierinnen der Ethnologie vereinnahmt.41 Ida Pfeiffers Impuls war es, »die Welt zu sehen«42; diesem glühenden Wunsch waren das Sammeln und Botanisieren, die Jagd auf Insekten und das Beobachten fremder Sitten und Gebräuche eher nachgeordnet; ihr rasendes Reisetempo war einem einlässlicheren Studium nicht zuträglich. Seler-Sachs hingegen brach zur Reise schon im Status einer ›außeruniversitären Privatgelehrten‹ auf; sie nutzte ihre Begleittätigkeiten zu eigenständiger Forschung. Gesammelt haben beide Damen. Ein Gespräch mit dem Leiter des Botanischen Gartens zu Berlin vor einigen Jahren ergab, dass dorthin 5796 Pflanzen von Seler und Seler-Sachs gelangten. 60 neue Arten wurden nach den beiden Eheleuten benannt.43 Selbsterlegte Vögel sammelte Seler-Sachs auf der Brasilienreise; archäologische Grabungen nahm sie ebenfalls häufig anstelle ihres gesundheitlich geschwächten Mannes vor. Mit ihren Sammlungen hat das Ehepaar zu einer Bestandsvermehrung auch des Dahlemer Völkerkundemuseums beigetragen; eine heute durchaus sehr zwiespältig gesehene Form, Kunstwerke durch ihre Entnahme aus dem kulturellen Kontext zu bewahren. Was die ethnologischen Erträge anbelangt, so kann man für beide autodidaktisch gebildeten Frauen nicht von hochgesteckten Forschungszielen ausgehen. Festgehalten werden muss aber auch, dass die Ethnologie als Wissenschaft noch jung war und das methodische Instrumentarium unsicher. Das gilt für weibliche wie männliche Reisende. Charakteristisch für die Einstufung aber gerade von Frauen als »dilettante« – sei dieser Begriff nun positiv besetzt oder nicht –, sind die Einlassungen Ottmar Ettes zu Pfeiffer, die trotz der redundanten Betonung ihrer Außergewöhnlichkeit »unsere reisebegeisterte Frau«44 doch im Gestus der Zweitrangigkeit, im Grunde als staunenswerte Kuriosität, situieren. 40 Vgl. Fisch, Forschungsreisen im 19. Jahrhundert. 1989, S. 383. 41 Vgl. Beer, Bettina: Frauen in der deutschsprachigen Ethnologie. Ein Handbuch. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2007. 42 Pfeiffer, Eine Frau fährt um die Welt. 1992, S. 5. 43 Vgl. Habinger, Gabriele: Vorwort. In: Ida Pfeifer: Eine Frau fährt um die Welt. Die Reise 1846 nach Südamerika, China, Ostindien, Persien und Kleinasien. Wien: Promedia 1992, S. V–X, hier S. VI. 44 Ette, Ottmar: ReiseSchreiben. Potsdamer Vorlesungen Zur Reiseliteratur. Berlin/Boston: de Gruyter 2019, hier S. 520. Ette stellt klar, dass »unsere reisebegeisterte Frau« nicht »mit wissenschaftlicher Zielsetzung, sondern […] aus innerem Drang« gereist sei. Die Nostrifizierung durch Possessivpronomen ist ein sehr entlarvender Zugriff auf Frauen, ebenso wie

Von den Segnungen eines festen Rockes

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Seler-Sachs hat zu Trachten und Nahrung der Indianer Mexikos und Guatemalas veröffentlicht und Vorträge auf Amerikanisten-Kongressen gehalten (1890). Sie selbst schränkt ihre Einsicht in das Leben der Bevölkerung ein, habe sie dort doch vor allem das Leben einer Fremden geführt. Auch Pfeiffer räumt ein, sie habe »Sitten und Gebräuche [zu wenig kennengelernt], um im Stande zu sein, ein geeignetes Urteil darüber abzugeben«45. Bei beiden fällt auf, dass sich ein grundsätzliches Interesse für die Lebensbedingungen von Frauen durch ihre Veröffentlichungen zieht. Findet sich bei Pfeiffer dem untergemischt das zwiespältige Urteil, wonach Unabhängigkeit von Frauen in Sittenlosigkeit münde (!), so enthält sich Seler-Sachs solcher Kommentare ebenso wie meist auch xenophober Urteile. 1919 veröffentlicht sie ein Werk mit dem Titel »Frauenleben im Reiche der Azteken«,46 das bis heute den einzigen quellen- und androkritischen Versuch einer historischen Rekonstruktion darstellt. Vermutlich hat sie damit auch auf das verbreitete Werk Albert Friedenthals »Das Weib im Leben der Völker« (1911) reagiert,47 dessen erotischen Zoten sie nüchterne Beobachtungen und Quellenstudien entgegensetzte. Geschlechterkonflikte hat sie wohl nach einem Bonmot Karl von den Steinens gelöst, den sie augenzwinkernd zur Rolle des Mannes zitiert: »Er ist ihr Herr und Gebieter und tut, was die Frau will.«48 Eine weitere Anekdote zeigt, dass sie ihre Listen hatte, um schließlich doch zum (wissenschaftlichen) Endziel zu gelangen. Einen Gastgeber, der kundtut, dass er grundsätzlich nicht mit Damen reite, der Weg sei auch zu schlecht, trickst sie aus, indem sie die Herren vorausreiten lässt und einfach nachreitet; sie will unbedingt das Bauwerk im Urwald »zu meiner eigenen Belehrung sehen«49 und ihrem Mann helfen; im Übrigen – so kommentiert sie ironisch –, komme es bei schlechten Wegen nur auf ein gutes Pferd an. Mit ihrer eigenen exotischen Position in der Fremde setzten sich beide Frauen auf unterschiedliche Weise auseinander. Pfeiffers Ambivalenz zeigt deutlich nicht nur eine defensive Position, sondern im allzu nüchternen Blick auf das Fremde auch eine Abwehr des Phantastischen, des Überschusses über die eigene bürgerliche Ökonomie hinaus; das eher haushälterische Umgehen mit der Fremde bleibt für ihre Reisen kennzeichnend, auch wenn sie im Stande war, Vorurteile zu korrigieren. Seler-Sachs hingegen konnte mit viel größerer

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die quasi-familiäre Benennung nur mit dem Vornamen – besonders gerne werden die Romantikerinnen als ›Bettine‹, ›Caroline‹ etc. adressiert; man stelle sich vor, es ginge um ›Friedrich‹, ›Clemens‹ oder ›Achim‹…Hier nun also schlicht: »Ida« (S. 527). Pfeiffer, Eine Frau fährt um die Welt. 1992, S. 33. Vgl. Seler-Sachs, Caecilie: Frauenleben im Reiche der Azteken. Ein Blatt aus der Kulturgeschichte Alt-Mexikos. Berlin: Reimer 1919. Vgl. Friedenthal, Albert: Das Weib im Leben der Völker. 2 Bde. Berlin: Verlagsanstalt für Litteratur und Kunst 1911. Seler-Sachs, Frauenleben im Reiche der Azteken. 1919, S. 66. Seler-Sachs, Auf alten Wegen. 1992, S. 216.

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Selbstverständlichkeit reisen; an das Fremde passt sie sich aus Interesse an. Was sie mit dem Ideal der Aufklärung viel mehr verbindet als Pfeiffer, ist die Gelassenheit im Umgang mit Differenzen: Am »Kerne der Menschheit«, so ist sie überzeugt, haben die Jahrtausende nichts geändert, »und alle Fremdheit und Verschiedenheit […] [beruht] nur im Äußeren.«50 An dieser sehr modern anmutenden Überzeugung, einem zutiefst im Besten der Aufklärung verwurzelten Denken, haben weibliche Reisende mit ihrem Doppelwissen oft festgehalten. Neue Reiseformen heutzutage, in neuen medialen Formen wie Reiseblogs oder -vlogs, sind den Vorläuferinnen subkutan oft mehr verpflichtet, als die moderne Anmutung es vermuten lässt. Dies gilt aller Hybridisierung zum Trotz etwa für die Nutzung generisch bewährter Formen wie dem Tagebuch, es gilt aber auch für die Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller Lebensformen, und mögen sie noch so fremdartig erscheinen.

50 Seler-Sachs, Frauenleben im Reiche der Azteken. 1919, S. 2.

Dorota Tomczuk (KUL Lublin)

»Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Verlorensein auf dem Erdenrund«: Erfahrung des Exils bei Alfred Polgar

Alfred Polgar (1873–1955), oft als Meister der kleinen Form bezeichnet, gehörte zu den angesehensten und vielseitigsten Feuilletonisten und Kritikern der österreichischen Zwischenkriegszeit. Anfang der zwanziger Jahre machte er Berlin zu seinem Lebens- und Schaffensmittelpunkt, wo er schnell zu einem vielgelesenen und in der Welt des Theaters bekannten Autor wurde. Nachdem er 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung Berlin fluchtartig verlassen musste und ins Exil gegangen war, wurde er auf immer seiner Heimat beraubt. Aus diesem Grund wurden Themen wie Migration und Heimatverlust immer wieder facettenreich in seinen Texten reflektiert. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Erschließung der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden im Exil sowie auf Polgars Reflexionen von Fremdsein, Flucht und EmigrantenSchicksalen, die er in seinen Texten zum Ausdruck bringt. Die Literaturwissenschaft richtete bisher nur wenig Aufmerksamkeit auf Polgar, der zu seinen Lebenszeiten als König der Gattung gepriesen wurde. Das geringe Interesse der Forschung an Polgars Werk habe laut Evelyne Polt-Heinzl sowohl mit einer vorsichtigen Haltung der Germanistik den kleinen Formen gegenüber als auch mit den Schwierigkeiten bei der Analyse von Polgars Humor und Sprachwitz zu tun.1 Feuilletontexte des Exils stellen dabei zweifellos ein besonders vernachlässigtes Forschungsfeld dar, denn ein Schwerpunkt der Feuilletonforschung bildet nach wie vor das Feuilleton der Weimarer Republik. Die Zeit danach wurde nur sehr punktuell in den Blick genommen. Infolge dessen sei das deutschsprachige Feuilleton nach 1933 nur ansatzweise erforscht.2 Nach Bettina Braun mag ein Grund dafür, dass die Forschung sich erst vereinzelt mit dem Feuilleton des Exils beschäftigt, auch dieser sein, dass während in Deutschland Ende der 1930er Jahre wieder mehr Feuilletons in Buchform veröffentlicht wurden, von den Autor*innen, die ab 1933 ins Exil gingen, zwischen 1 Polt-Heinzl, Evelyne: Alfred Polgar. (Zugriff am 05. 02. 2022). 2 Ebd.

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1933 und 1945 fast keine Feuilletonsammlungen mehr erschienen sind.3 Das Verständnis des Exils ist dabei von besonderer Bedeutung für die Literaturwissenschaft, denn laut Strelka ist es »[…] in einem sehr direkten, engeren, historischen und politischen Sinn ein Grundanliegen vieler literarischer Werke und eine Grundvoraussetzung zu ihrem Verständnis. […] Die Hauptprobleme bei der Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur seit 1933 sind mit deren Eigenart auf das engste verknüpft, und zwei der wichtigsten Merkmale dieser Eigenart bestehen darin, dass es sich erstens um eine Massenerscheinung und zweitens um ein überaus heterogenes Phänomen handelt.«4

Dem Feuilleton des Exils blieb also eine literaturkritische Bewertung und Anerkennung eher verwehrt. Nach Bettina Braun lässt sich an der Rezeption der Feuilletonsammlungen Franz Hessels, Robert Musils und Alfred Polgars zeigen, dass in der Literaturkritik des Exils vor allem der Zeitbezug und politische Aspekte akzentuiert werden.5 In Alfred Polgars Feuilletons bilden sowohl die Kritik an den politischen Verhältnissen als auch die Selbstreflexion grundlegende Momente, aber obwohl er im Zusammenhang mit der Kleinen Form immer wieder erwähnt wird, ist sein feuilletonistisches Werk überraschend wenig erforscht und noch kaum im Kontext der Exilliteratur betrachtet worden. In der folgenden Analyse werden also einige Texte von Polgar in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, die eben im Exil entstanden sind und die mit Heimatverlust verbundenen Probleme thematisieren. Die erste Station von Polgars Emigration war Prag, dann fuhr er nach Wien, das bis 1938 sein Hauptwohnsitz blieb. Zu dieser Zeit besaß er sehr eingeschränkte Publikationsmöglichkeiten, so dass seine Veröffentlichungen fast nur im Prager Tagblatt und in Exilzeitschriften erscheinen konnten. 1935 gelang es ihm, in Amsterdam den Skizzenband In der Zwischenzeit herauszugeben, der Polgars politische Befürchtungen widerspiegelte. In demselben Jahr begann er regelmäßig an der in Bern herausgegebenen antifaschistischen Wochenschrift Die Nation mitzuarbeiten, wo er seine eigene Rubrik Streiflichter führte. 1937 wurde der Sekundenzeiger – ein Skizzenband mit politischen Glossen in Zürich veröffentlicht. Als es 1938 zum »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich kam, begann damit auch seine Flüchtlingsexistenz, denn in der Schweiz wurde ihm durch den Schweizer Schriftstellerverband eine Aufenthaltsbewilligung verweigert, so dass er nach Paris weiterreisen musste. 1939 erfuhr Polgar von der Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft, und 1940 floh er vor den 3 Braun, Bettina: Das Feuilleton des Exils. Veröffentlichungen in der Basler National-Zeitung 1933–1940. Basel: Schwabe Verlag 2022, S. 61. 4 Strelka, Joseph: Probleme der Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur seit 1933. In: Colloquia Germanica 10, 1976/77, Nr. 2, S. 140. 5 Braun, Feuilleton des Exils. 2022, S. 28.

»Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Verlorensein auf dem Erdenrund«

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einmarschierenden deutschen Truppen aus Paris nach Süden. Im Oktober kam er in New York an, um nach einem kurzen Aufenthalt eine Weiterreise nach Hollywood zu unternehmen. Dort begann er (zusammen mit Alfred Döblin und Walther Mehring) mit der Arbeit als Drehbuchautor im Studio der Metro Goldwyn Meyer, obwohl dieser Vertrag für ihn wie für viele andere europäische Autor*innen nur eine rettende Geste der MGM darstellte, denn keiner von ihnen konnte sich in Hollywood als nützlich erweisen.6 1943 erschien in Zürich der noch in Paris vorbereitete Auswahlband Geschichten ohne Moral. Polgar siedelte nach New York über, in demselben Jahr erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft, die er bis zu seinem Lebensende als Zeichen des endgültigen Heimatverlustes in Europa behielt. Polgars Schaffen der ganzen Exil-Periode ist deutlich durch Kriegs- und Exilreflexionen geprägt, denn den Krieg empfand er als schmerzhafte Erfahrung der ganzen Generation und als Grund seiner Emigration. Er bezieht sich oft auf das Verhältnis zwischen Heimat und Fremde, indem er mit der Heimat zahlreiche Erinnerungen, bekannte Orte und Vertrautheit assoziiert, und das alles vermisst er in dem Land, mit dem er sich emotional keinsefalls verbunden fühlt. Seine Einstellung zum Emigranten-Schicksal brachte er 1936 in dem kurzen Text Schicksal in drei Worten zum Ausdruck: Er führte dort die Geschichte von einem Herrn und einer Frau X, deutschen Emigranten, an, die viele Versuche unternommen haben, »[…] anderswo als im Vaterland, wo ihnen dies unmöglich gemacht worden war, Erwerb zu finden und eine neue Existenz aufzubauen. Es glückte aber nirgends, in keinem europäischen Land.«7

Schließlich bot man dem Mann eine Stellung in Sidney an, was ein Bekannter mit Bedauern kommentierte, das sei doch sehr weit. Der Held erwiderte mit ruhiger Resignation: »Weit?… Von wo?«, was sich nach Polgar als die prägnanteste Formel für »Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Verlorensein auf dem Erdenrund«8 bezeichnen lässt. Der Schriftsteller kannte diese Gefühle aus eigener Erfahrung, denn auch für ihn bedeutete die Periode nach 1933 eine bedrückende Abwesenheit von Heimat. Er litt nicht nur unter Heimatlosigkeit im geographischen Sinn, sondern auch unter psychischen Belastungen nach dem Verlust seines fundamentalen Sicherheitsgefühls. Dazu kam auch der alltägliche Kampf um das materielle Überleben, denn Polgar sprach zwar die amerikanische Sprache, er 6 Mehr dazu: Tomczuk, Dorota: Das Paradigma des Lebens im feuilletonistischen Werk Victor Auburtins und Alfred Polgars. Lublin: Wydawnictwo KUL 2008, S. 202. 7 Polgar, Alfred: Schicksal in drei Worten. In: Kleine Schriften. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1982. Bd. I: Musterung, S. 145. 8 Ebd.

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erlangte die Staatsbürgerschaft der USA, die Vereinigten Staaten garantierten ihm Sicherheit und Freiheit, er vermochte aber nicht in dieser fremden Sprache zu arbeiten und er blieb »[…] als Amerikaner, deutscher Schriftsteller.«9 Die Feststellung von der Lage eines »[…] aus seiner Muttersprache vertriebenen deutschen Schriftstellers, des Schriftstellers, der nur noch in sprachlicher Verkleidung an die Öffentlichkeit treten konnte«,

wie er dies in einer am 27. Februar 1942 im New Yorker Aufbau erschienenen Notiz zum Selbstmord von Stefan Zweig formulierte10, lässt sich auch auf seine eigene Situation beziehen, in der er ständig von einer schmerzhaften Sehnsucht nach der Muttersprache begleitet wurde. 1947 erschien Polgars Auswahlband Im Vorübergehen, und 1948 der Band Andererseits , der auch die Glossenreihe Der Emigrant und die Heimat enthielt, die die wichtigsten Beobachtungen und Überlegungen des Schriftstellers über Heimatlosigkeit und das Emigrantenschicksal umfasst. Sie setzt sich vor allem aus drei umgearbeiteten und gekürzten Glossen zusammen, die zuerst im Aufbau veröffentlicht wurden: Die und Wir aus dem Jahr 1945, Post aus der Heimat von 1946 und Der Künstler aus dem Jahr 1947.11 Laut Wulf 12 zeichnet sich diese Glossenreihe durch eine essayistische Form aus, die für Polgar, der für seine stilisierten Feuilletons, die vorrangig aus Theaterkritiken bestehen, eher untypisch sei. Schwedler13 bemerkt den formalen Unterschied auch im Fehlen des Humoristischen, das Polgar sonst charakterisiere, und hier durch dem Thema adäquate Sachlichkeit und Eindeutigkeit ersetzt wird. Der Emigrant und die Heimat, wo Polgar unterschiedliche Etappen und Aspekte der Emigration reflektiert, gleicht einem »[…] Beitrag zur Psychologie des Exils, in dem die persönliche Betroffenheit eines Literaten, was der Tag ihm zutrug und was er ihm entriß, dokumentiert wird.«14

Der Autor beschreibt die Lage derjenigen, die gezwungen waren, ihre alte Heimat zu verlassen, und dabei das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, die eine feste Heimstätte vermittelt, gegen das Unbekannte und das Fremde eintauschen mussten: 9 Bohn, Volker: Kritische Erzählungen. Zur Prosa Alfred Polgars. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang GoetheUniversität zu Frankfurt/M. 1978, S. 48. 10 Zit. nach: Bohn, Erzählungen. 1978, S. 48. 11 Genauer Quellennachweis in: Polgar, Musterung. 1982, S. 496. 12 Wulf, Philipp: »Aber Tote weinen nicht«. Komisches Schreiben im Nachexil bel Alfred Polgar, Albert Drach und Georg Kreisler. Heidelberg: Springer Verlag 2020, S. 100. 13 Schwedler, Rainer: Das Werk Alfred Polgars. Die Spiegelung der politischen und sozialen Realität in der Kurzprosa des Wiener Feuilletonisten. Hamburg: Univ. Diss. 1973. S. 147. 14 Weinzierl, Ulrich: Vorwort zu Alfred Polgars Taschenspiegel. Wien: Löcker Verlag 1979, S. 9.

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»Der Weg ins Exil war hart für die meisten von den vielen, die ihn gehen mußten. Nicht wenige blieben auf der Strecke. Tausende verdarben und starben im fremden Land, das Zuflucht schien und Falle wurde.«15

Sein analytischer Verstand weiß dabei drei Gruppen von Exilanten zu unterscheiden. Die erste bilden diejenigen, denen es trotz allerlei Schwierigkeiten und persönlichen Dramen gelungen war, ein scheinbar sicheres Ziel zu erreichen: »Die das Glück hatten, durchzukommen, lernten vorher die Schrecken und Ängste der Flucht und des Verfolgt-Seins gründlich kennen, gingen durch das Grauen der französischen Lager und Gefängnisse, vegetierten Monate, Jahre lang in übelsten Verstecken, stürzten immer wieder in der steeplechase über die Grenzen: zu überleben.«16

Die ersehnte und geträumte Ankunft ans Ziel erwies sich für sie leider oft nur als eine Illusion der Ruhe, indem sie zum alltäglichen Kampf mit materieller Not und emotionalen Problemen gezwungen wurden. Als zweite Gruppe nennt Polgar diejenigen, die im Land der Nationalsozialisten geblieben sind, und zwar »[…] jene, denen es gefallen hatte, dort zu bleiben.«17 Zuerst fühlten sie sich geborgen und finanziell abgesichert, bis wider Erwarten auch für sie alles vom Krieg zerstört wurde: »Und die zu Hause Gebliebenen mußten durch die Stationen, die die Davongegangenen zu passieren hatten: durch Not, Furcht, Hilflosigkeit und alle Tücken eines höchst ungewissen Daseins. Sie erlitten in der Heimat Emigranten-Schicksal.«18

Polgars Glossen sprechen ausführlich von den Leiden der Exilierten, verdammen aber nicht alle, die im Land geblieben sind, sondern drücken Bewunderung aus vor denen, die Widerstand geleistet haben. Der Autor betont deutlich, dass in dieser Zeit, »[…] als das deutsche Volk sich dem Teufel verschrieb«19, nicht nur Anhänger, sondern auch viele Gegner des Pakts im Land geblieben sind: »[…] Einfach weil sie keine Möglichkeit hatten fortzukommen. Andere, die hätten fortgehen können, taten’s nicht: etwa weils sie sich dem Abenteuer der Emigration nicht gewachsen fühlten; weil sie an eine kurze Lebensdauer der Teufelei glaubten; weil sie außer unterm Himmel der Heimat, so finster er auch jetzt über ihnen hing, nicht atmen konnten.«20

Der durchaus humanistisch gesinnte Polgar war immer darum bemüht, jedem Mitmenschen gegenüber Verständnis zu zeigen sowie verschiedene menschliche Motivationen beim Treffen von schwierigen Entscheidungen zu begreifen; er 15 16 17 18 19 20

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versuchte auch vorschnelle Urteile und voreilige Anschuldigungen zu vermeiden. Indem er das Phänomen des Exils analysierte, nahm er noch eine dritte Gruppe der davon Betroffenen wahr: »Es gibt noch eine dritte schmale Kategorie von solchen, die, obschon sie hätten emigrieren können, die Heimat nicht verlassen haben. Sie hielten dort aus, um gegen das Regime zu wirken.«21

Mit Bedauern musste er jedoch feststellen, dass andere Personen, die eher zum Opportunismus geneigt hatten, viel öfter anzutreffen waren: »Und nicht verschwiegen darf auch werden, dass es viele im Nazi-Reich gab, die zu den schmutzigen und blutigen Ereignissen dort zwar nicht laut ›Nein‹ sagten, aber immerhin die keineswegs ungefährliche Charakterstärke aufbrachten, nicht laut ›Ja‹ zu sagen.«22

Polgar nennt sie »brave Schüler in der Schule der Verdummung und Verrohung«23 und beschreibt ironievoll ihre Arbeit für das Regime: »Sie mußten, so hart es ihnen fiel, hinein in die Schrifttums-Kammer, die KulturKammer, die Theater-Kammer, die Presse-Kammer. Wenn ich sie nicht recht von Herzen bedauern kann, so deshalb, weil mein Mitleid aufgebracht wird für die, die in die Gaskammer mußten.«24

In diesem auf brutale Weise erhellenden Wortspiel klingt eindeutig Polgars Verurteilung solchen Haltungen gegenüber, die er früher anscheinend beinahe zu rechtfertigen versuchte. Scheichl macht dabei den Leser darauf aufmerksam, dass dieses Wortspiel durch die unterschiedliche Orthographie verschärft wird, weil die diversen Kammern des Dritten Reiches mit, und die »Gaskammer« ohne Bindestrich geschrieben sind.25 Ein solches Verfahren zeigt, wie meisterhaft sich Polgar unterschiedlicher rhetorischer Mittel bediente: »Ob er sich mit grimmigem Witz, beißender Satire oder dem Pathos der Trauer und Empörung zu Wort meldete, immer war es Protest gegen Gewalt und Inhumanität und die Gleichgültigkeit einer Welt, die das Mitleid verlernt hatte. Obwohl er wußte, wie ohnmächtig die Stimme des Schriftstellers angesichts der Ereignisse im ›Dritten Reich‹ bleiben mußte, zögerte er nie, sich zu exponieren.«26

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 212. Mehr dazu: Scheichl, Sigurd Paul: Alfred Polgar nach 1945 – kein Amerikaner in Wien. In: Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945. Hrsg. von Jörg Thunecke. Wuppertal: ARCO Verlag 2006. S. 208ff. 26 Weinzierl, Ulrich: Alfred Polgar im Exil. In: Alfred Polgars Taschenspiegel. Wien: Löcker Verlag 1979, S. 131.

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Bald musste Polgar die bittere Wahrheit erkennen, dass aufgrund der schwierigen Erlebnisse des Krieges diejenigen, die auswandern mussten und die Gebliebenen wahrscheinlich nie wieder eine gemeinsame Sprache finden: »Sie und die Exilanten sind durch verschiedene Schulen der Erfahrung und des Leidens gegangen.«27 Beiden Gruppen widerfuhren schwierige Erfahrungen: »Die daheim waren all die Zeit über in erzwungenem, engem Kontakt mit einer Welt des UnSinns, der Fälschung und des Falschen.«28 Diese Situation musste sie natürlich auch prägen und bedeutende Spuren auf ihren Seelen hinterlassen, der Autor stellt sich aber die Frage, welcher Art diese Spuren seien, also ob ihre Empfindlichkeit dem menschlichen Unglück gegenüber durch diese »intime Feindschaft« gesteigert oder eher gemindert wurde. Vor allem macht er den Leser aufmerksam auf die rücksichtslose Grausamkeit des Krieges, der den Tod von Millionen Menschenleben mit sich brachte, darunter auch der Gegner des Nationalsozialismus. Sie verloren ihr Leben, indem sie sich heldenhaft dem Regime widersetzten, er befürchtet aber, dass ihr Opfer fast unbemerkt bleiben könnte: »Tausende sind in Deutschland und Österreich gemordet worden, weil sie den so heldenhaften wie aussichtslosen Versuch gewagt haben, die Herrschaft der Bestialität und Stupidität zu unterminieren. Die Gefahr besteht, dass die Erinnerung an solche Taten der Heimat verdunkelt werden könnte von der Erinnerung an die Schandtaten, die dort verübt wurden. Es ist leider wirklich so, dass die Millionen Menschen, die von Deutschen gemordet wurden, den Blick verstellen auf jene Tausende gemordete Deutsche.«29

Der Tod jedes Menschen ist eine unvorstellbare Tragödie, und diese Tragödie des Leidens und Sterbens verschärft sich, wenn die Opfer schuldfrei waren und lediglich wegen einer besessenen Ideologie gelitten haben: »Diese vielen Millionen hatten nicht einmal – wie jene tausend – das kärgliche moralische Beneficium eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen ihrem Tun und ihrem Leiden.«30

Im Exil bildete für Polgar die Korrespondenz mit denjenigen, die dort geblieben waren, einen wichtigen Aspekt des Kontakts mit der Heimat: »Viele Briefe kommen aus der Heimat, die verlassen zu müssen wir so unglücklich, die verlassen zu können wir so glücklich waren.«31 In diesen Briefen wird jedoch diese Kluft, die beide Seiten voneinander trennt, besonders sichtbar: Polgar bedient sich konsequent der Formen »wir« – in Bezug auf Exilanten – und »Sie« – die Daheimgebliebenen. Diesen letzten wirft er immer wieder Konformismus und

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Polgar, Emigrant und Heimat. 1982, S. 212. Ebd. Ebd, S. 213. Ebd. Ebd.

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schnelle Unterwerfung unter die NS-Realität vor, obwohl er auch ständig betont, dass nicht alle den gleichen Standpunkt vertreten haben: »Die Briefe aus der Heimat sind voll von Klagen und Anklagen […]. Doch es sind da zwei Gruppen von Klagen zu unterscheiden: eine sehr kleine, in der geklagt wird über das Unerträgliche, das vom März 1938 ab daheim ertragen, mit angesehen, mit erlebt werden mußte und eine weit, weit umfangreichere, deren Verfasser kein Wort verlieren über die Schrecken der Nazizeit, nervös sichtlich erst wurden, als Bomben ihnen aufs Haus fielen, und in rechte Klage-Stimmung erst mit der Stunde der Befreiung kamen.«32

Auffallend ist das zahlenmäßige Missverhältnis zwischen den beiden Gruppen, denn eine überwältigende Mehrheit bilden diejenigen, die aus egoistischen Gründen eigentlich nichts gegen den Krieg hatten, bis er sie selbst traf, und der Kriegsabschluss bedeutete für sie eine schwer zu ertragende Notwendigkeit, seine Auswirkungen und Folgen der Niederlage auszuhalten: »Aber den Morgen anklagen, dass er grau ist, das sollten jene nicht tun, die sich so gut zurechtfanden in der pechschwarzen Nacht, die ihm voranging.«33

Unter diesen Umständen stellt sich erneut das Problem des fehlenden gegenseitigen Verständnisses und keine Möglichkeit einer Einigung: Als einer der Absender dieser Klagebriefe versucht, seine Schicksale mit denen der Emigranten zu vergleichen und frech feststellt: »Ihr habt nur die Heimat verloren«, reagiert Polgar darauf mit Verbitterung und ironischem Bedauern: »Nur. Es geht überdies die Sage, der ein oder andere Emigrant hätte, indem er das werden mußte, außer der Heimat noch ein paar Kleinigkeiten verloren, wie etwa sein Leben oder seine Gesundheit, Familie und Freunde, Beruf und Besitz, die Atmosphäre der Muttersprache (für den Geist, was Luft für die Lungen), die Zukunft, für die er vorgebaut hatte, die Vergangenheit, an die ein Wiederanknüpfen ihm nicht mehr möglich ist.«34

Polgars Ansichten stehen hier einer psychologisch begründeten Annahme nah, nach der Heimat nicht unbedingt ein realer geographischer Ort, sondern eher ein inneres Konstrukt sei: »Dieses Konstrukt kann aus sozialen Beziehungen zu Freunden oder der Familie sein, sich auf Geschmack, Gerüche oder Geschichten und Erinnerungen beziehen.«35 Heimat wird somit als Basis von Identität gesehen, indem jeder Mensch einen Ort der Zugehörigkeit braucht, um sich entwickeln und abgrenzen zu können. Für Polgar bildete die Notwendigkeit der

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Ebd., S. 214. Ebd. Ebd., S. 215. Peter, Katharina: Verlust von Heimatgefühl: Entwurzelte Seelen! (Zugriff am 05. 02. 2022).

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Auswanderung erst den Anfang für eine Reihe von Unglücksfällen, die nicht nur das schmerzhafte Gefühl eines irreparablen Verlustes beinhalteten, sondern auch dazu führten, dass er sich in der neuen Realität kaum zurechtfinden konnte. Er wiederholte ständig, dass seine neue Umgebung ihm nach wie vor völlig fremd erscheine und dass er nie im Stande sein werde, sich dort geborgen und sicher zu fühlen. Er vermisste alles, was so vertraut war, vor allem aber konnte er sich nicht damit abfinden, dass der Verlust seiner Heimat unumkehrbar war: Sie existierte einfach nicht mehr, infolge dessen wurde er dazu verurteilt, ein ewiger Außenseiter zu bleiben. In der Welt gab es so viele unvorstellbare Veränderungen, die er an ein Faust-Fragment von Lessing anknüpfend erklärte, in dem der Geist dem Faust auf die Frage, was das Schnellste auf Erden sei, die Antwort erteilte: Der Übergang vom Guten zum Bösen. In den letzten Jahren nahm Polgar genau dasselbe wahr: »Ein Beispiel für die Richtigkeit dieser Antwort lieferte vor etlichen Jahren die unfaßbare Rapidität, mit der sich Kreuze in Hakenkreuze, Menschen in Unmenschen verwandelten. Jetzt vollzog sich in gleichem Tempo die Rückverwandlung.«36

Nach dem Kriegsabschluss beobachtete er nämlich eine erstaunliche Konformismusbereitschaft bei ehemaligen erklärten Anhängern des Nationalsozialismus. Dazu gehörten auch viele namhafte Künstler Deutschlands und Österreichs, die das Dritte Reich ohne Vorbehalte akzeptiert hatten, und jetzt schnell dem »Reinigungs-Prozess« unterzogen wurden: »Man hat die Künstler, die es mit den Nazi hielten, damit entschuldigt, dass sie eben Künstler waren. Nur das. Große Kinder, denen alles recht war, wenn man sie nur ihre Spiele spielen ließ.[…] Nicht den Nazi, sondern ausschließlich der Kunst zuliebe, haben sie ihr Hakenkreuz auf sich genommen.«37

Tiefst empörend und unverschämt ist für den Schriftsteller ihre wirkliche Motivation, die er gnadenlos entschleiert: »Eine Spur von Wahrscheinlichkeit besteht immerhin, dass sie dies taten, um im Genuß ihrer Stellungen, ihrer ungestörten Berufsausübung, ihrer Beliebtheit und ihres Einkommens zu bleiben.«38

In den Mittelpunkt von Polgars Polemik rückt dabei ein Dirigent, dessen Namen er in seinem auf Verallgemeinerung angelegten Text natürlich nicht nennt, nach Scheichl ist hier aber Wilhelm Furtwängler gemeint.39 Der Autor ist nicht im Stande, die Arroganz »eines großen Dirigenten« zu ertragen, als dieser, der erst die Sicherheiten des Zuhausebleibens den Fragwürdigkeiten des Exils vorgezo36 37 38 39

Polgar, Emigrant und Heimat. 1982, S. 215. Ebd., S. 217. Ebd. Siehe: Scheichl, Alfred Polgar nach 1945. 2006, S. 207.

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gen hatte, dazu noch seine (und den anderen ihm ähnlichen) rein praktische und bequeme Entschließung als eine heroische ausgibt, und er wagt es sogar den Auswanderern vorzuwerfen, ihre Emigration wäre lauter feige Flucht gewesen. Der Schriftsteller reagiert auf diese Worte mit Empörung voll bitterer Ironie: »Flucht wovor? Vor Verfolgung, Entrechtung, Lager, Tortur, Schafott? Nicht die geringste Gefahr, in diesen Spielplan des Dritten Reiches einbezogen zu werden, drohte dessen erstem, repräsentativen Musik-Gauleiter. Seine Flucht wäre eine vor anderen Peinlichkeiten gewesen: vor des Führers Händedruck, vor Görings Umarmung, vor der widrigen Aufgabe, dem, was Nazikultur hieß, musikalische Glanzlichter aufzusetzen […].«40

Polgars Bemerkungen sind dabei von allem Pathos frei: Stattdessen macht er bestimmte Stellungen und Verhaltensweisen mit feinem, verdecktem, aber beißendem Spott unter dem augenfälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich, indem er sie gnadenlos verurteilt. Auf diese Art und Weise schreibt er über den kulturellen Wiederaufbau Deutschlands und Österreichs: »Die Künstler, die, um ihren Frieden zu haben, ihn, leichten oder schweren Herzens, mit den Nazi machten, handelten jedenfalls klug. […] So viele reife und reifende künstlerische Begabung, so viele Dichter, Musiker, Maler, Schauspieler sind in Hitlers Lagern, Folter- und Gaskammern verschwunden! Die Künstler, denen seine Sonne schien, sind erhalten geblieben. Trösten wir uns mit diesen über jene. Was man hat, hat man.«41

Polgar plädiert hier nicht für eine stärkere Integration der Remigranten in das neu erstehende kulturelle Leben, sondern drückt seinen Ekel vor diesen aus, die dem Mordregime gedient haben. Scheinbar lobend, kritisiert er scharf und entschlossen diese Künstler, die sich unter Aufgabe der eigenen Individualität dem Nazi-Regime unterworfen haben, und sein Sarkasmus wird mittels bitterer Ironie ausgedrückt, indem er sehr ironische »Konstatierungen der Schande als Plädoyers für irgendwelche Verbesserungen«42 formuliert. Laut Polgar musste sich jeder Exilant nicht nur mit einem ständigen Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit und mit einer schmerzhaften Sehnsucht nach gesellschaftlicher Integration auseinandersetzen, sondern er musste auch der unveränderlichen Fremdheit der Umgebung Stirn bieten: »Je länger man in der Fremde lebt, desto fremder wird sie. (Im Anfang scheint es ganz leicht, mit ihr vertraut zu werden.) Je näher man ihr kommt (oder zu kommen glaubt), desto weiter rückt sie weg. Je genauer man sie kennenlernt (oder kennen zu lernen glaubt), desto stärker wird die Empfindung, dass man sie niemals richtig kennen wird.«43 40 41 42 43

Ebd., S. 218. Ebd., S. 219. Scheichl, Alfred Polgar nach 1945. 2006, S. 208. Ebd., S. 220.

»Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Verlorensein auf dem Erdenrund«

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Besonders schmerzhaft empfindet man diese Fremdheit im Bereich der Sprache, was Polgar in folgenden metaphernreichen Bildern beschreibt: »Im fremdsprachigen Land wird die eigene, die Muttersprache – sonst war sie Haus und Heim, Sicherheit verbürgend, Wärme und, in ihren Grenzen, das himmlische Gefühl der Grenzenlosigkeit – zum Gefängnis, aus dem auszubrechen auch bei größter Wendigkeit und Geschicklichkeit nur schwer gelingen will. Was Gerüst war einer herrlich weit gespannten Welt, schrumpft ein zu engen Gitterstäben.«44

Polgar machte sich zwar keine Illusion darüber, dass das Land, das ihm Zuflucht gewährt hatte, wahre Heimat werden könnte, andererseits aber fürchtete er, sich nach der Rückkehr »nach Hause« fremd und verloren zu fühlen. Seinen Text schließt er mit einem Aphorismus, der laut Scheichl »[…] wohl einer der bekanntesten Sätze eines Exil-Autors über das Verhältnis der Vertriebenen zu dem Land, das sie verjagt hat« sei: »Emigranten-Schicksal: Die Fremde ist nicht Heimat geworden. Aber die Heimat Fremde.«45 Nach Wulf erhält der Aphorismus seine besondere Brisanz dadurch, dass »[…] der Konzessivsatz die Unvertrautheit in der Fremde formal einschränkt, sich inhaltlich jedoch als komplementär erweist: Die fremdgewordene Heimat wird als positiver Ausgleich zur nicht Heimat gewordenen Fremde formuliert, wodurch allerdings Heimat und Fremde gleichermaßen negativ durch die Abwesenheit von Vertrautheit charakterisiert werden.«46

Dieser Satz drückt das Verhältnis des Exilanten sowohl zu seinem neuen Lebensort als auch zu der verlassenen Heimat aus, das durch zweierlei Entfremdung belastet ist: Wenn es ihm nach seinem erzwungenen Ortswechsel und dann nach einer erprobten Heimkehr nicht mehr gelang, die früher vorhandene Vertrautheit herzustellen, ergibt sich für ihn nun der vollständige Heimatverlust. Somit wird diese Formel zum Fazit auf die Inhalte dieser Entfremdung, die Polgar in den besprochenen Texten näher benennt. 1949 unternahm Polgar seine erste Europa-Reise seit der Emigration. Er kehrte nach Europa zurück, aber nicht nach Österreich oder Deutschland. Die Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen und mit der sozialen Situation in diesen Ländern war häufig Thema in seinen Werken der Nachkriegszeit, weiterhin dominierten jedoch Themen, die sich auf sein Emigrantenschicksal bezogen und darüber reflektierten. 1950 kehrte er nach New York zurück, aber bereits 1951 kam es zu seinem nächsten Europa-Aufenthalt, als ihm der erstmals verliehene Preis der Stadt Wien für Publizistik zuerkannt wurde. Im Oktober kam es in Berlin zur Präsentation seines Bandes Begegnung im Zwie44 Ebd. 45 Ebd., S. 221. 46 Wulf, »Aber Tote weinen nicht«. 2020, S. 99.

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Dorota Tomczuk

licht, die durch zahlreiche Ehrungen seitens der Presse und der Öffentlichkeit begleitet wurde. 1953 erschienen in Hamburg Standpunkte, 1954 wurde Polgars erstes Taschenbuch Im Lauf der Zeit herausgegeben. Er führte zu dieser Zeit ein Reiseleben zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz, besuchte gerne Premieren, verfasste Theaterkritiken und wurde zum literarischen Beirat des Theaters in der Josefstadt bestellt. 1955 bereitete er noch die Veröffentlichung eines Bandes mit Theaterkritiken vor, als er im April plötzlich in seinem Zürcher Hotelzimmer starb. Polgars Texte aus der letzten Schaffensperiode sind mit melancholischer Selbstironie gefüllt, es ist ihm aber gelungen, die Leichtigkeit seines Stils, sein Talent zum Spiel mit der Sprache und seinen parodistischen Umgang mit abgegriffenen Sprachbildern und stereotypen Sprechweisen zu bewahren. Wenn man seine Stellung in der Literaturgeschichte bedenkt, so wird er gern neben solchen Feuilletonisten wie Kurt Tucholsky, Karl Kraus und Alfred Kerr gestellt: »Nur machen derartige Parallelen neben vielen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zugleich die Unterschiede deutlich: So gewiß die Nähe, so aufschlußreich andererseits der Abstand. Dabei geht es nicht um das Format, sondern um die Mentalität, nicht um die Skala des Talents, sondern um seine Eigenart. […] Polgars Element […] war die Beobachtung, das Kontemplative. Bei Tucholsky, Kraus und Kerr fallen zunächst das außerordentliche literarische Temperament und die polemische Leidenschaft auf, bei ihm eher die Zurückhaltung und die künstlerische Ausgeglichenheit.«47

Polgars Exilfeuilletons reflektieren sein eigenes Schicksal und seine persönlichen Erfahrungen, sie enthalten aber auch zeitlose Wahrheiten über das Eigene und das Fremde in der Situation des Heimatverlassens. Das Leben im eigenen Land soll nach wie vor ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit garantieren, der Zugehörigkeit und Orientierung. Im Unterschied zum tragischen Schicksal der entwurzelten Flüchtlinge, die auch heute ihre Heimat unter Zwang verlassen müssen, verreisen im Zeitalter der Globalisierung viele Menschen freiwillig, um woanders zu leben und sogar zu versuchen, ein Heimatgefühl in einem neuen Land zu entwickeln. Viele von ihnen fühlen sich dann an mehreren Orten der Welt zuhause, indem sie sich als Weltbürgerinnen und Weltbürger verstehen. Jeder Mensch braucht doch das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, und das gilt sowohl für kosmopolitisch gesinnte Reisende als auch für Geflüchtete: Sie wollen nirgendwo ausgegrenzt und abgelehnt werden.

47 Reich-Ranicki, Marcel: Alfred Polgar, der Klassiker des kleinen Lebens. In: Alfred Polgar: Kleine Schriften. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1982, S. XIX–XX.

Konrad Łyjak (UMCS Lublin)

Grenzen der Menschlichkeit in einer Welt ohne Grenzen am Beispiel von George Orwells »1984«, Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« und Arthur C. Clarkes »Die letzte Generation«

Der vorliegenden Vergleichsanalyse von drei berühmten dystopischen Romanen des zwanzigsten Jahrhunderts liegt der Begriff »Grenze« zugrunde, die in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, im politisch-geografischen Sinne verstanden werden sollte, da die Grenze »ein Begriff aus der räumlichen Sphäre«1 ist. In allen drei ausgewählten Werken finden sich verschiedene Konzepte der Grenze, die sich von der gegenwärtigen Betrachtungsweise dieser Kategorie sehr stark unterscheiden. In Clarkes »Die letzte Generation«, Huxleys »Schöne neue Welt« und Orwells »1984« gibt es zwar die Grenzen im geografischen Sinne, im Vergleich mit der heutigen Wirklichkeit funktionieren sie jedoch völlig anders. Jeder Autor zeichnet ein düsteres Bild der menschlichen Zukunft, wo solche Aspekte wie Freiheit, Identität, Selbstentfaltung und Selbstbestimmung in den Vordergrund rücken, so dass bei jeglichen Analysen der genannten Romane deren politisch-gesellschaftliche Dimension im Fokus des literaturwissenschaftlichen Interesses steht. Dabei scheint die Erscheinung »Grenze« außer Acht gelassen zu werden, was vor dem Hintergrund der Rolle, die die Grenzen in diesen Werken spielen, eine genauere Behandlung verdient. Nicht zu vergessen ist nämlich die Betrachtungsweise des Begriffs »Grenze«, über den Wokart Folgendes schreibt: »Weil wir Grenze vor allem unter einem politischen Aspekt betrachten, erfahren wir sie fast nur als ein Phänomen des Raums und sind uns der Bedeutungsvielfalt dieses Begriffs, seiner Schattierungen, Zwischenfarben und Eintrübungen ebensowenig bewußt wie der Grenzüberschreitungen, die man mit ihm, stillschweigend zwar, doch fortwährend, selbst begeht.«2

Im berühmten Roman »1984« von George Orwell wird eine aus der heutigen Perspektive kaum vorstellbare Weltkarte zur Darstellung gebracht. Informationen 1 Anselm, Sigrun: Grenzen trennen, Grenzen verbinden. In: Literatur der Grenze – Theorie der Grenze. Hrsg. von Richard Faber/Barbara Naumann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 197. 2 Wokart, Norbert: Differenzierungen im Begriff »Grenze«. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs. In: Faber/Naumann, Literatur der Grenze. 1995, S. 275.

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darüber, in welche Teile die Welt gegliedert ist, finden sich in dem vom Protagonisten Winston Smith gelesenen Buch des Volksfeinds Immanuel Goldstein mit dem Titel »Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus«. Dem dritten Kapitel des berüchtigten Buches von Goldstein ist zu entnehmen, dass die ganze Welt in drei Superstaaten aufgeteilt ist. Das Kapitel enthält eine präzise Beschreibung der Reichweite aller drei Supermächte. Bereits vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurden Europa von Russland und das Britische Empire von den Vereinigten Staaten einverleibt. Dadurch entstanden Eurasien, das von Portugal bis zur Bering-Straße reicht, und Ozeanien, das die beiden Amerika, die Inseln im Atlantischen Ozean einschließlich der Britischen Inseln, Australien und den südlichen Teil von Afrika umfasst. Erst nach einem weiteren Jahrzehnt verworrener Kämpfe zeichnete sich die dritte Supermacht – Ostasien ab. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass die Grenzen zwischen den drei Superstaaten an manchen Stellen willkürlich sind, an anderen je nach Kriegsglück schwanken, aber im Allgemeinen den geografischen Gegebenheiten folgen.3 Eine Konsequenz der neuen Weltordnung ist der permanente Krieg, den diese Staaten miteinander führen. Der Krieg an sich ist jedoch kein Vernichtungskampf wie es der Erste und der Zweite Weltkrieg gewesen waren. Die Kriegshysterie ist zwar in allen Ländern präsent und der Krieg selbst manifestiert sich durch solche Erscheinungen wie »Notzucht, Plünderung, Kindermord, Verschleppung ganzer Bevölkerungsteile in die Sklaverei«4, die eigentlichen Kriegshandlungen finden jedoch »an den undeutlich umrissenen Grenzen«5 statt, wobei die Zivilisationszentren von zerstörerischer Kraft des Krieges im Grunde genommen verschont bleiben. Dabei wird die Rolle der Grenze als eines künstlichen Konstrukts hervorgehoben, denn »Grenzen beschränken und schützen nicht nur, sondern machen auch Unterschiede sichtbar; schließlich dienen sie als Ort der Vermittlung der Zerstörung.«6 Die geografische Ausdehnung aller drei Staaten hat auch einen unbestrittenen Vorteil, und zwar die Autarkie, die dadurch erreicht wurde, dass die Superstaaten so groß sind, dass sie fast alle von ihnen benötigten Güter innerhalb ihrer eigenen Grenzen finden können. Und bevor der Leser an dieser Stelle nach dem Sinn des Krieges fragt, wird dieser sofort erklärt. In der von Goldstein bzw. von Orwell geschilderten Welt gibt es nämlich noch ein Gebiet, das kein Superstaat ist. Dieses »annähernd viereckige Gebiet, dessen Ecken von Tanger, Brazzaville, Darwin und Hongkong gebildet werden«7, wird von etwa einem Fünftel der Gesamtbevölkerung der Erde bewohnt. Und genau um die Herrschaft über diese dichtbevölkerten Gebiete geht der dauernde Krieg der drei Mächte. Das ganze dritte Kapitel ist zu umfangreich, um alle 3 4 5 6 7

Orwell, George: 1984. Ein utopischer Roman. Zürich: Diana Verlag 1973, S. 272. Ebd., S. 273. Ebd. Anselm, Grenzen trennen. 1995, S. 197. Orwell, 1984. 1973, S. 275.

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dort enthaltenen Überlegungen zum Thema Krieg im vorliegenden Artikel darzulegen. Auf über zwanzig Seiten wird das Wesen des Krieges mit allen dazugehörigen politischen, militärischen, finanziellen und gesellschaftlichen Aspekten ausführlich beschrieben. Orwell vergleicht den in »1984« geschilderten Krieg mit den früheren Kriegen und geht dabei den Kriegsmechanismen auf den Grund. Somit werden im Roman solche Aspekte thematisiert wie industrielle Entwicklung und Überproduktion, Wissenschaft, Technik und Fortschritt, Industrialisierung bzw. Automatisierung mit deren Einfluss auf Hunger, Schmutz, Elend, Unbildung und Krankheit. In seinem Roman zeigt Orwell, dass die weitgehende Abschaffung der Grenzen den Frieden keinesfalls garantiert. Die Bevölkerungen der einzelnen Superstaaten existieren jeweils – zumindest in geopolitisch-wirtschaftlicher Hinsicht – als autarke Gesellschaften, für die der Krieg eigentlich keinen tieferen Grund hat. Und trotzdem müssen sie wegen der von ihren Herrschern geführten Politik den unaufhörlichen Krieg in Kauf nehmen. Das Bestehen der Grenzen, auch wenn in völlig anderer Dimension als es in der gegenwärtigen Welt der Fall ist, hat für die Regierenden einen nicht zu übersehenden Nutzen. Gemeint ist die Möglichkeit, die Gesellschaft in permanenter Angst vor Krieg leben zu lassen und dadurch die konsequent umgesetzten freiheitsentziehenden Maßnahmen zu rechtfertigen. Die von Orwell erfundene Welt ist eine Welt der totalen ideologischen Manipulation und Indoktrination. »Die »Bearbeitung« der Bürger erfolgt mit Hilfe von Rundfunk, Zeitungen und allgegenwärtigen Telescreens. Die Rezeptoren des Staates finden sich überall und kontrollieren den Wachzustand, den Schlaf und das erotische Leben.«8 »Schöne neue Welt« ist die Antiutopie schlechthin. Wojtczak schreibt in seiner Abhandlung über die Antiutopie in Literatur und Film, dass schon auf den ersten Seiten des Werks von Huxley das Bild einer Welt zur Darstellung kommt, in der die Menschheit völlig enthumanisiert wurde.9 Im Roman wird eine Klassengesellschaft beschrieben, wo die Menschen nicht mehr gezeugt und geboren, sondern planmäßig erzeugt (im wahrsten Sinne des Wortes) werden. Es werden fünf soziale Schichten unterschieden, von der obersten Alpha-Klasse bis zur niedrigsten Epsilon-Kaste, denen ganz konkrete Rollenbilder zugeschrieben sind. Um all dies möglich zu machen, sind gründlich durchdachte Maßnahmen erforderlich, zu denen unter anderem Spezialisierung, Standardisierung, Konditionierung, Verhaltenssteuerung gehören. In dieser Welt ist nichts dem Zufall überlassen.10 Alles

8 Wojtczak, Dariusz: Siódmy kra˛g piekła. Antyutopia w literaturze i filmie. Poznan´: Dom Wydawniczy REBIS 1994, S. 81. 9 Ebd., S. 83. 10 Bode, Christoph: Aldous Huxley »Brave New World«. München: Wilhelm Fink Verlag. 1993, S. 58. An dieser Stelle wird auf die in diesem Artikel zitierten Publikationen von Bode,

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wird vorgeplant, vorprogrammiert, gesteuert und konsequent realisiert. Die neue Weltordnung macht im Hinblick auf politisch-gesellschaftliche Aspekte den falschen Eindruck einer paradiesischen Idylle, wo niemand Hunger leidet oder arbeitslos ist, wo es keine Kriege mehr gibt und wo die Menschen dank Errungenschaften der Medizin und Biochemie ein langes und von Krankheiten freies Leben genießen. In Wirklichkeit sind die Menschen hier der Eigenschaften beraubt, die für die Menschlichkeit maßgeblich und entscheidend sind. Sie sind Menschen nur im anatomischen Sinne und es fehlt ihnen an allen psychischen Merkmalen eines echten menschlichen Wesens. Freier Wille, Individualismus, Vorliebe für Kunst und Natur, Bedürfnis nach Erkenntnis und Wissen – alle dies sind für die Bürger der schönen neuen Welt leere Begriffe.11 Die Enthumanisierung wird noch deutlicher, wenn man die im Weltstaat vegetierenden Menschen mit denen aus dem Reservationsgebiet vergleicht. Hier werden die Menschen nach wie vor geboren und nicht in der Flasche ausgebrütet, es gibt keine Konditionierung und keine erzwungene Einstufung in irgendwelche gesellschaftlichen Klassen. Das Leben im Reservat kontrastiert zweifelsohne mit dem Leben im Weltstaat, dieser Kontrast ist jedoch nicht absolut und nicht automatisch positiv.12 Nach Bode ist die Reservation »unter der Bedingung des Weltstaates eine unerläßliche Voraussetzung für die Einführung der Figur des »Fremden«, des »Außenseiters in Utopia«.«13 In der Tat finden sich im Roman Stellen, die diese Behauptung bestätigen. Somit wird die Grenze zwischen dem Weltstaat und dem Reservationsgebiet als Grenze bezeichnet, »die Zivilisation von Barbarentum trennte.«14 Das Reservat mit seiner exakt markierten Grenze fungiert für den Weltstaat einerseits als Symbol für mehrdimensionale Rückständigkeit, andererseits als potentielle Gefahr für die Weltordnung, was wiederum zur Folge hat, dass »wer in der Reservation geboren wird, (…) da auch verenden«15 muss. Das Reservat wird als eine Gegend betrachtet, »die wegen ungünstiger klimatischer oder geologischer Verhältnisse oder der Armut an Bodenschätzen die Kosten der Zivilisierung nicht lohnt.«16 Die im Reservat lebenden Menschen werden wie Sklaven bzw. Tiere behandelt und niemand macht

11

12 13 14 15 16

Hejwowski, Moroz und Wojtczak verwiesen, wo die Mechanismen des minutiös geplanten und skrupellos umgesetzten Social Engineering ausführlich beschrieben werden. Auf die Diskrepanz zwischen der scheinbaren Stabilität einerseits und moralischer sowie intellektueller Leere andererseits weist Moroz hin: »Yes, it is true that in Brave New World there is the World State with evident stability, but also moral and intellectual shallowness and discontent.«. Moroz, Grzegorz: Brave New World, Intertextuality and Mieczysław Smolarski. In: Crossroads. A Journal of English Studies 18. Białystok: Wydawnictwo Uniwersytetu w Białymstoku 2017, S. 10. Bode, Aldous Huxley. 1993, S. 75. Ebd., S. 75. Huxley, Aldous: Schöne neue Welt. Roman. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997, S. 111. Ebd., S. 109. Ebd., S. 165.

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daraus ein Hehl. Als Lenina, eine der Hauptfiguren im Roman, die Reservation besucht, wird sie vom Aufseher sofort beruhigt: »Das Volk hier ist ganz zahm. Die Wilden werden Ihnen nichts tun. Sie haben genug Erfahrung mit Gasbomben, um zu wissen, daß sie nichts anstellen dürfen.«17 Und trotz dieser unbestrittenen Abneigung gegenüber den Wilden, wie die Einwohner des Reservationsgebiets genannt werden, erteilt der Weltaufsichtsrat Mustafa Mannesmann die Genehmigung, dass zwei Wilde – Michel und seine Mutter Filine – das Reservat verlassen und in die zivilisierte Welt zurückkehren. Und Michel ist nicht imstande, sich in der neuen Welt zurechtzufinden, in der er alles andere als Zivilisation sieht. Als eines Tages ein Mann bemerkt, dass Michel elend aussieht und ihn danach fragt, ob er vielleicht etwas gegessen hat, was er nicht verträgt, antwortet der Wilde sofort: »Zivilisation habe ich gegessen. […] Sie hat mich besudelt und vergiftet.«18 Nach Anselm produzieren Grenzen »ein Innen und ein Außen, und zwar wechselweise für beide durch die Grenze getrennten Bereiche. Und doch kann die identische Grenze für die beiden getrennten Bereiche ganz unterschiedliche Bedeutung haben.«19 Die Grenze des Reservationsgebiets bildet eine unsichtbare Mauer, die zwei entgegengesetzte und einander ausschließende Weltmodelle trennt. Die Unterschiede zwischen diesen Weltmodellen lassen sich in allen möglichen Bereichen feststellen, von biologischen Aspekten, über gesellschaftliche Probleme bis zu kulturellen Fragen.20 Und obwohl die Kultur »in komplexen Zusammenhängen immer auch Kontrastkultur, Mittel zur Eigenprofilierung durch Abgrenzung vom anderen«21 ist, liefert der unbestrittene Kontrast, in dem der Weltstaat und die Reservation zueinander stehen, für die beiden Parteien keinen Ansporn für kulturelle Entwicklung. Huxley greift in seinem Roman zur gezielt übertriebenen Kontrastierung, die es möglich macht, die Hauptproblematik noch stärker zu akzentuieren. Nach Hejwowski und Moroz bedurfte die von Huxley kreierte Wirklichkeit der Antwort auf existenzielle, moralische, entscheidende Fragen. Glück, verstanden als Gebrauch, Genuss, Mangel an Problemen, Sex und andere Unterhaltungsformen oder im traditionellen Sinne verstandene Menschlichkeit? Primitive und ekelhafte Viviparie oder Fortpflan17 18 19 20

Ebd., S. 112. Ebd., S. 243. Anselm, Grenzen trennen. 1995, S. 197. Vgl. Moroz, Grzegorz: Failure in Inter-cultural Communication in Brave New World. In: Moroz, Grzegorz: Recontextualising Huxley: Selected Papers. Białystok: Wydawnictwo Prymat 2017, S. 20: »The society of Brave New World is affluent and stable. There are no wars, no racial or social conflicts, not even conflicts within families, as families have been abolished and children are first hatched in factories and then brought up by the state through neoPavlovian conditioning and hypnopediac indoctrination. Fun and pleasure are the key principles, and these are provided through a variety of popular entertainments (…)« 21 Streck, Bernhard: Grenzgang Ethnologie. In: Faber/Naumann, Literatur der Grenze. 1995, S. 191.

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zung mit Hilfe von Reagenzgläsern? Roulette der Natur oder Gentechnik? Erziehung in traditioneller Familie oder Konditionierung in staatlichen Einrichtungen? Glaube an Gott oder Ford?22 Die hier behandelten Romane von Orwell und Huxley gehören zu literarischen Bestsellern und sind weltweit bekannt, deshalb wurde in diesem Artikel auf die Inhaltsangabe der beiden Werke verzichtet. Obwohl »Die letzte Generation« von Clarke von vielen Lesern, vor allem SF-Liebhabern, auch als klassisches Werk angesehen wird, ist die Rezeption dieses Romans mit den zwei früher genannten zweifellos unvergleichbar. Deswegen wäre eine kurze Zusammenfassung von Clarkes Roman an dieser Stelle angezeigt. Die Handlung umfasst einen Zeitraum von hundert Jahren und beginnt mit der Ankunft der Außerirdischen, die als der Menschheit auf allen Ebenen überlegene Zivilisation Overlords genannt werden. Im Gegensatz zu vielen SF-Werken, in denen ein solches Ereignis einen sofortigen Krieg zwischen den Erdbewohnern und den unerwünschten Ankömmlingen bedeutet, haben die Besucher aus dem Weltall allem Anschein nach keine bösen Absichten gegenüber der Erdbevölkerung. Ganz im Gegenteil. Sie präsentieren sich als hochgebildete ruhige und friedlich gesinnte Wesen, für die das Wohl der Menschen im Vordergrund steht. Erst nach vielen Jahren zeigen sie ihre echten Pläne für die Zukunft, welche sie für die Menschheit vorgesehen hatten. Vom ersten Tag an prägen sie den Alltag der Erdlinge, darunter auch das politische Leben auf dem blauen Planeten: »Die Overlords schienen den verschiedenen Regierungsformen gleichgültig gegenüberzustehen, es sei denn, sie übten Zwang aus oder waren korrupt. Auf der Erde gab es noch immer Demokratien, Monarchien, wohlwollende Diktaturen, Kommunismus und Kapitalismus.«23

Die Ankömmlinge sind humaner als die Menschen selbst. Sie verbieten den Menschen sogar, »außer zu Nahrungszwecken oder zur Selbstverteidigung, die Tiere zu töten.«24 In der von Arthur C. Clarke erfundenen Welt funktionieren zwar die Grenzen im politisch-geografischen Sinne, im Roman werden hier und da Namen von Staaten genannt, die zur Zeit der Veröffentlichung des Werks sich auf der realen Weltkarte finden ließen. Diese Grenzen zwischen bestimmten Staaten verlieren jedoch an Bedeutung, was den Sinn der Existenz von Politikern und Militärs in Frage stellt: »An den Grenzen, die bald für immer verschwinden sollten, waren die Posten verdoppelt worden, aber die Soldaten betrachteten sich mit unausgesprochener Freundlichkeit. Die Politiker und Generäle mochten rasen und toben, aber die schweigend 22 Hejwowski, Krzysztof/Moroz, Grzegorz: Nowe wspaniałe s´wiaty Aldousa Huxleya i ich recepcja w Polsce. Warszawa: Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego 2019, S. 150. 23 Clarke, Arthur C.: Die letzte Generation. München: Wilhelm Heyne Verlag 2003, S. 39. 24 Ebd., S. 66.

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wartenden Millionen spürten, dass nun endlich ein langes und blutiges Kapitel der Geschichte zum Abschluss kommen würde.«25

Die von den Overlords vorgeplante, konsequent und ohne jegliche Eile umgesetzte Strategie hat zur Folge, dass die Erdbewohner in einem längst ersehnten Frieden leben, der sich in sage und schreibe allen möglichen Bereichen des Alltagslebens spüren lässt. Dies betrifft den Frieden sowohl im wortwörtlichen Sinne als Ende von allen Kriegen, wie beispielsweise den seit über hundert Jahren geführten Rassenkämpfen in Südafrika, als auch den Frieden in sonstigen Alltagsbereichen: »Verbrechen kamen so gut wie gar nicht mehr vor. Sie waren unnötig und unmöglich geworden. Wenn niemand etwas entbehren musste, hat es keinen Sinn zu stehlen. […] Nach der Beseitigung vieler psychologischer Probleme war die Menschheit viel gesünder und verhielt sich nicht mehr so unvernünftig. […] Eine der bemerkenswertesten Veränderungen war eine Verlangsamung des wahnsinnigen Tempos, das für das zwanzigste Jahrhundert so charakteristisch gewesen war. Das Leben verlief jetzt entspannter als je zuvor. […] Die Bildung war viel gründlicher und nahm einen längeren Zeitraum in Anspruch.«26

Die obenerwähnten Veränderungen sind nur ein kleiner Ausschnitt der neuen Wirklichkeit. Außerdem entwickeln die Menschen »ein absolut zuverlässiges Verhütungsmittel«27sowie einen nicht weniger zuverlässigen Vaterschaftstest, was das übliche sexuelle Verhaltensmuster der Menschen extrem verändert. Die Mobilität der neuen Gesellschaft steigt. Von den bis dahin bekannten Glaubensbekenntnissen ist nur eine konzentrierte Form des Buddhismus übrig geblieben. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit beträgt nur zwanzig Stunden, auch wenn diese zwanzig Stunden »keine leichte Sache«28 sind. Krankheiten, Hunger und Kriege gehören der Vergangenheit an. Auch wenn jemand ein ernsthaftes Verbrechen begangen hat, wird er schnell zur Rechenschaft gezogen. Und das Verbrechen selbst findet keine besondere Beachtung in den Medien. Auf den ersten Blick kann also genau wie bei Huxley der Eindruck entstehen, dass die im Roman geschilderten Menschen in einer idyllischen Welt leben. Diesen Eindruck bestätigen auch die Worte des Erzählers, der von utopischem Zustand bzw. von Utopia spricht. Wie in allen anderen antiutopischen Werken ist der hier dargestellte scheinbare Frieden jedoch auch mit Schattenseiten belastet. Die Menschheit, die ihre alten Götter verloren hat und keiner neuen bedarf, erfährt auch einen Niedergang der Wissenschaft: »Es gab sehr viele Technologen, aber wenige schöpferische Arbeiter, die die Grenzen menschlichen Wissens erwei25 26 27 28

Ebd., S. 44. Ebd., S. 96–97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 145.

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terten.«29 Die neue von jeglichen Auseinandersetzungen, Streitigkeiten, Konflikten und Kriegen freie Welt bedeutet für die Menschen zugleich eine Ära der künstlerischen Stagnation. Obwohl es »Myriaden von Künstlern [gab], waren seit einer Generation keine wirklich hervorragenden Werke der Literatur, Musik, Malerei oder Bildhauerei geschaffen worden.«30 Im Roman von Clarke wird der Leser also mit einem Paradox konfrontiert: Obwohl die Grenzen offiziell existieren, können sie in praktischer Hinsicht so betrachtet werden, als ob sie abgeschafft worden wären. Und diese Situation hat verheerende Konsequenzen für die Menschheit. Geht man davon aus, dass die Grenzen als »Orte kultureller Auseinander-Setzung, Produkte eines beiderseitigen Abgrenzungswillens«31 verstanden werden können, dann wird es klar, warum Homines sapientes den kulturellen Untergang erfahren mussten. Nicht alle Menschen erliegen aber dieser infolge der jahrelangen Anwesenheit der Overlords fortschreitenden Lähmung. Es entsteht eine seltsame Kolonie, die aus zwei Inseln – Neu-Athen und Sparta – besteht und deren Idee »der Aufbau einer unabhängigen, beständigen kulturellen Gruppe mit eigenen künstlerischen Traditionen«32 ist. Einer der Einwohner von Neu-Athen erläutert die echten Gründe für die Existenz der auf dem Pazifik gelegenen Kolonie: »Auf dieser Insel versuchen wir, etwas von der Unabhängigkeit der Menschheit, von ihren künstlerischen Traditionen zu bewahren. Wir empfinden keine Feindschaft gegen die Overlords. Wir wollen nur in Ruhe gelassen werden, damit wir unseren eigenen Weg gehen können. Als sie die alten Nationen und die Lebensweise zerstörten, die der Mensch seit Beginn der Geschichte gekannt hat, haben sie mit den schlechten auch viele gute Dinge beseitigt. Die Welt ist ruhig, eigenschaftslos und in kultureller Hinsicht leblos geworden. Seit der Ankunft der Overlords ist nichts wirklich Neues geschaffen worden. Die Ursache liegt auf der Hand. Es gibt nichts mehr, wofür man kämpfen muss, und es gibt zu viele Ablenkungen und Zerstreuungen. […] Wussten Sie, dass die Menschen jetzt im Durchschnitt drei Stunden täglich fernsehen? Bald werden sie überhaupt kein eigenes Leben mehr führen. Es wird eine Vollbeschäftigung sein, die verschiedenen Familienserien im Fernsehen zu verfolgen! Hier in Athen nimmt die Unterhaltung ihren angemessenen Platz ein. Außerdem ist sie Leben, nicht Konserve.«33

Wie dargestellt spielen die geografischen Grenzen in allen dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegenden Romanen andere Rollen. Bei Orwell können sie als Symbol für den äußeren Feind betrachtet werden. Bei Huxley trennt die Grenze die zivilisierte Welt vom angeblichen Barbarentum, und zwar im Sinne der »Abgrenzung gegen29 30 31 32 33

Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Streck, Grenzgang Ethnologie. 1995, S. 187. Clarke, Die letzte Generation. 2003, S. 185. Ebd., S. 186.

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über Personen, die dem Normalitätsstandard nicht entsprechen«34 und die wegen dieser Abweichung von der Norm stigmatisiert werden. Bei Clarke werden die Grenzen zwar beibehalten, sie erfüllen jedoch nicht mehr ihre Rolle. Alle drei Schriftsteller scheinen auch die Frage nach den Grenzen der Menschlichkeit zu stellen oder genau gesagt nach den Kriterien, die als conditio sine qua non erfüllt werden müssen, damit man überhaupt vom Menschen sprechen kann. Ist diese notwendige Voraussetzung die Tatsache, dass der echte Mensch nicht in der Flasche hergestellt, sondern im herkömmlichen biologischen Sinne geboren wird (Huxley)? Oder kann ein Wesen als Mensch nur dann bezeichnet werden, wenn es allen Umständen zum Trotz seinen freien Willen behält? (Orwell) Oder vielleicht entscheidet gerade der schöpferische Geist, verstanden als Fähigkeit, qualitätsvolle Kunstwerke zu schaffen, über die Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht (Clarke)? Alle im vorliegenden Artikel beschriebenen Werke weisen selbstverständlich viele Unterschiede auf, es gibt jedoch auch Gemeinsamkeiten. In allen Werken wird nämlich eine scheinbar stabile Welt geschildert, in der die Menschen verschiedenen Instanzen untergeordnet sind, infolgedessen sie in mehr oder weniger autoritären Systemen leben. Ein gemeinsamer Nenner ist auch der neue Blick auf die Kategorie der Grenze. Unabhängig davon, ob die Grenzen zwischen den Staaten wortwörtlich und fast vollständig (»Schöne neue Welt«), im Großteil (»1984«) oder in praktischer Hinsicht (»Die letzte Generation«) abgeschafft wurden, bedeutet das neue Weltmodell für die Menschen das Ende der Menschlichkeit (Orwell, Huxley) bzw. das Ende der Menschheit (Clarke). Somit lassen sich die Romane als antiutopische35 Werke lesen, in denen die Welt ohne Grenzen nichts anderes als die Hölle auf Erden ist.

34 Anselm, Grenzen trennen. 1995, S. 205. 35 Vgl. Erzgräber, Willi: Utopie/Antiutopie. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. von Dieter Borchmeyer/Viktor Zˇmegac. Berlin: De Gruyter 1994, S. 450: »Die Titel der beiden Anti-Utopien [»Schöne neue Welt« und »1984« – K.Ł.] sind über die englischsprechende Welt hinaus zu Schlagwörtern im politischen und kulturkritischen Wortschatz geworden. Huxleys »Brave New World« (1932) steht für die scientifische, Orwells »Nineteen Eighty-Four« (1949) für die politische Anti-Utopie. Beide repräsentieren Entwürfe größerer Staatsgebilde, die so konstruiert sind, daß die Freiheit des einzelnen im Interesse des Staates negiert wird. Bei Huxley werden die Menschen nicht mehr gezeugt, sondern das ›Menschenmaterial‹ wird nach den Bedürfnissen des Staates in Retorten künstlich erzeugt, nach dem Pavlov’schen Modell konditioniert und durch Hypnopädie auf die künftigen Aufgaben vorbereitet. Erwachsene werden durch Soma-Tabletten und »Fühlfilme« im emotionalen Gleichgewicht gehalten, Ehe und Familie sind aufgehoben, die Religion ist abgeschafft, die überlieferte Literatur ist verboten, die Zeitrechnung datiert nach Henry Ford. […] Orwells Warnbild eines Zukunftsstaates basiert auf politologischen und soziologischen Grundprinzipien.«

Katarzyna Wójcik (UMCS Lublin)

Die Grenze zwischen den historischen Narrativen und der NS-Propaganda in der Monatsschrift »Kolonistenbriefe« 1941–1944

Nach dem Theoretiker der Darstellungsformen der Geschichtsschreibung und zugleich dem Autor des bahnbrechenden Werkes mit dem Titel »Metahistory« Hayden White1 sollen geschichtliche Ereignisse von den sprachlichen Fakten unterschieden werden. Eng damit verknüpft ist die Grundüberzeugung, dass Fakt und Ereignis systemmäßig anders betrachtet werden sollen, weil der Fakt nur auf der Ebene des Diskurses zu erschließen ist und das Ereignis sich auf die zeitliche Ebene der Vergangenheit bezieht.2 Demzufolge bezeichnet man in der Geschichtsschreibung den Prozess der Umwandlung der Fakten in Ereignisse als Narrativierung oder Fabularisierung, was im Journalismus jenen Verwischungstendenzen von journalistischen Distinktionen zwischen Realität und Fiktion entspricht.3 Der Grundgedanke von White besteht demnach in der Feststellung, dass die Vergangenheit selbst nicht ohne ihre sprachliche Darstellung bestehen kann, und dass die Darstellung der Vergangenheit keinesfalls einen objektiven, sondern einen narrativen Charakter hat.4 In Anlehnung an die obigen Ausführungen kann man sagen, dass sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im Journalismus Fakten als These über Ereignisse von der Sprache abhängig bleiben. Historische Narrative und Propaganda als Vermittler von verschiedenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen in Bezug z. B. auf Staatswesen und Minderheitengruppen können verflochten sein. Propaganda gilt von alters her als politisches Kommunikationsmittel, um die Meinungen und Verhaltensweisen 1 White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2008. 2 White, Hayden: Poetyka Pisarstwa Historycznego. Kraków: Universitas 2010, S. 37; Doman´ska Ewa: Wokół metahistorii. In: Poetyka Pisarstwa Historycznego. Hrsg. von Hayden White. Kraków: Universitas 2010, S. 22ff. 3 Rusch, Gebhard: Fiktionalisierung als Element von Medienhandlungsstrategien. (Zugriff am 09. 03. 2022). 4 White, Poetyka.2010, S. 34f.

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von Zielgruppen auf ein bestimmtes Ziel hin gerichtet zu beeinflussen.5 Wird im Dritten Reich der Propagandabegriff vor allem mit dem Nationalsozialismus und der Kriegsführung geprägt, fand er genauso starken Einsatz im historischen Umfeld in Bezug auf die deutsche Volkstumspolitik und insbesondere auf die Existenz der Volksdeutschen und Deutschstämmigen in den besetzten Gebieten Polens. Die Gleichschaltung der Medien im Dritten Reich6 bedeutete also die Ausrichtung der Presse auf die nationalsozialistische Ideologie und Politik mit dem Einstieg in alle möglichen Themenbereiche. Es ging um die ideologische Kontrolle der Presseinhalte zugunsten der zentralen Themen des Nationalsozialismus, unter denen die Volksgemeinschaft als zentrales Schlagwort betrachtet wurde.7 Die im Mittelpunkt der deutsch-völkischen Weltanschauung stehende Triade (Volks–, Bluts- und Schicksalsgemeinschaft)8 hat ihren Niederschlag in indoktrinativen Zeitschriften für Volksdeutsche im Generalgouvernement gefunden. Zu diesen, der »deutschstämmigen Bevölkerungsgruppe« gewidmeten Periodika gehörte die Monatsschrift »Kolonistenbriefe/Listy Kolonistów«, deren publizistisches Angebot speziell auf Bedürfnisse einer relativ kleinen Lesergruppe der deutschen Kolonisten des Zamoscer Landes gezielt war.9 Dies bedeutete, dass sich der Autorenkreis der Monatsschrift am politischen Diskurs über historische sowie aktuelle Rolle des deutschen Kolonistentums beteiligte. Im Kontext der deutschen Kolonisation im Zamoscer Land wurden also in den Pressetexten geschichtliche Ereignisse in ideologische Fakten umgewandelt. Mit der Erscheinung der Monatsschrift »Kolonistenbriefe«10 am ersten April 1941 wurde ein enger Zusammenhang mit der sog. Rückgewinnung des deutschen Blutes im Zamoscer Land hergestellt.11 Seitdem galt sie als das offizielle Presseorgan der Aktion der Wiedereindeutschung der Nachfahren der deutschen Kolonisten, erst in den sog. deutschen Kolonien in der Umgebung von Zamos´c´ und dann seit September 1941 auch in Distrikten Krakau und Galizien.12 Sie

5 Czyz˙ewski, Marek: W strone˛ dyskursu politycznego. In: Rytualny chaos. Studium dyskursu politycznego. Hrsg. von Marek Czyz˙ewski/Sergiusz Kowalski/Andrzej Piotrowski. Warszawa: Wydawnictwa Akademickie i Profesjonalne, S. 49ff. 6 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2007, S. 277ff. 7 Ebd., S. 278f.; 654ff. 8 Ebd., S. 122ff. 9 N. N.: Zum Geleit!/Przedmowa. In: Kolonistenbriefe 1, 1941, H. 1, S. 1. 10 Ferner: »KB«. 11 Die sog. Rückgewinnung von elf polonisierten Dörfern im Süden des Distrikts Lublin (Antoniówka, Białobrzegi, Bortatycze, Brody Duz˙e, Brody Małe, Freifeld, Horyszów, Huszczaka, Płoskie, Rogóz˙no und Sitaniec). 12 N. N.: Galizien ist heimgekehrt/Powrót Galicji. In: Kolonistenbriefe 1, 1941, H. 5, S. 1f.

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wurde als »eine kleine, gut geleitete und leicht fassliche Zeitschrift«13 für die Deutschstämmigen des Zamoscer Kreises konzipiert und wurde zunächst in deutscher und polnischer Sprache veröffentlicht unter Vorbehalt die polnische Sprache in Zukunft in den Hintergrund treten zu lassen. Den Hauptzielen der politischen Aktion im Zamoscer Land entsprechend sollte sie vor allem die nationalsozialistische Volkstumsarbeit (u. a. politische Unterrichtung und Wiedererlernung der deutschen Sprache) fördern, nähere Informationen zur Geschichte der sog. deutschen Kolonien auf dem besprochenen Gebiet weitergeben, sowie das Herkunftsbewusstsein der Kolonisten stärken. Die Monatsschrift sollte den Kolonisten außerdem »bäuerliche Schulung« durch verschiedene landwirtschaftliche Hinweise anbieten.14 Sie wurde auf Initiative des SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik im Distrikt Lublin vom Beauftragten der Volksdeutschen Mittelstelle, Untersturmführer Lothar von Seltmann in Zusammenarbeit mit der Abteilung Propaganda beim Chef des Distrikts Lublin herausgegeben.15 Sowohl der Titel als auch die Monatsschriftsvignette lassen auf den ersten Blick erkennen, dass sich die Inhalte am ländlichen Leben orientierten. Die Vignette zeigte eine detailliert stilisierte Figuralgruppe bei der Ernte, mit einem vorne stehenden Kolonisten und dessen Frau mit einem Esskorb in der Armbeuge und im Hintergrund stehenden zwei Kindern und einem Knecht.16 Gemäß dem Profil eines potenziellen Lesers zählte die Monatsschrift zu den sog. indoktrinativen Zeitschriften für Volksdeutsche.17 Stereotype Vorstellung der Kolonistenfamilie sollte vor allem das sog. Sippen-Zusammengehörigkeitsgefühl steigern und auf die mythisch kreierte Verbundenheit insbesondere des Bauern mit dem von ihm besiedelten und angebauten Land hinweisen.18 Bemerkenswert ist also, dass das abgedruckte Kolonisten-Bild, die traditionelle Komponente als einen wichtigen Bestandteil der neu erschienenen Periodika berücksichtigt und es absichtlich als Leitmotiv der historischen Narration benutzt. Die historischen Narrative in den in der Monatsschrift publizierten Texten genauso wie das 13 Zamojszczyzna – Sonderlaboratorium SS. Zbiór dokumentów polskich i niemieckich z okresu okupacji hitlerowskiej. Hrsg. von Czesław Madajczyk. Warszawa: Ludowa Spółdzielnia Wydawnicza 1979, S. 54f. 14 Ebd. 15 Yockheck, Lars: Propaganda im Generalgouvernement. Die NS-Besatzungspresse für Deutsche und Polen 1939–1945. Osnabrück: fibre Verlag 2006, S. 98. 16 Die Vignette knüpfte an das im NS-Kulturbetrieb bekannte Gemälde »Erntegang« (wo eine Bauernfamilie auf dem Weg zur Feldarbeit dargestellt wurde) von Oskar Martin Amorbach an, der aus der Bauernfamilie die Thematik der Bauernbilder entwickelte. Schulze, Harald: »Rinder ziehen wie heilige Tiere«. In: vermacht, verfallen, verdrängt. Kunst und Nationalsozialismus. Die Sammlung der Städtischen Galerie Rosenheim in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Nachkriegsjahren. Hrsg. von Christian Fuhrmeister/Monika HauserMair/Felix Steffan. Petersberg: Michael Imhof Verlag, S. 220ff. 17 Yockheck, Propaganda. 2006, S. 95ff. 18 Schmitz-Berning, Vokabular, S. 110f.

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symbolische Kolonisten-Bild auf der Vignette sollten den Nachfahren der deutschen Kolonisten Zamoscer Landes die Geschichte ihrer Vorfahren nahe bringen. Des Weiteren sollten sie auch durch Berichte aus der Umsiedlungszeit zur Stärkung des Herkunftsbewusstseins und Hebung des sog. Sippen-Zusammengehörigkeitsgefühls führen.19 Der Grundgedanke der folgenden Überlegungen ist, dass die historischen Narrative im Kontext der NS-Propaganda in der Monatschrift »KB« Anspruch auf Deutungshochheiten erhob. Die Vermittlung der Geschichte der deutschen Kolonisation im Zamoscer Land sollte also den Inklusionsmechanismen in die deutsche Volksgemeinschaft den Weg bahnen. Die Herausgeber haben ebenso nicht zufällig den Brief als Kommunikationsform im privaten Bereich gewählt, was schon am Titel »Kolonistenbriefe/Listy Kolonistów« lesbar ist, um den Lesern zielgerichtete NS-Propaganda zu vermitteln. War der Brief von alters her ein Kommunikationsmittel, das Vermittlung von verschiedenen Fakten20 sowie den Meinungsaustauch mit anderen Menschen ermöglichte, so wurde er jetzt in der Monatsschrift zu Propagandazwecken missbraucht. Die Absicht der Herausgeber war es auch, sich mittels der Briefes als fiktiven Kunstproduktes auf die Lebenssphäre der deutschen Kolonisten zu beziehen, und die Aufmerksamkeit auf ihre Rolle im geschichtlichen Verlauf sowie auf die aktuelle Volkstumsarbeit in den von der Rückgewinnungsaktion erfassten sog. deutschen Dörfern zu richten. Die Einbeziehung der tradierten Konvention des Briefes sollte einen Eindruck machen, dass die Inhalte von den Nachfahren der deutschen Kolonisten maßgeblich mehr oder weniger spontan gestaltet werden. Zwei Sprachversionen in zwei Spalten auf einer Seite sollten unbeholfenen Lesern mit schwachen Deutschkenntnissen ermöglichen, die Informationen zwischen den Zeilen zu erfassen. Die historischen Narrative in den »KB«, die bestimmte Deutungsfiguren zur Beschreibung von verschiedenen historischen Ereignissen nutzten, lassen sich anhand des von Kenneth Burke entwickelten pentadischen Schemas analysieren.21

19 Madajczyk, Zamojszczyzna, S. 55. 20 Całek, Anita: Nowa teoria listu. Kraków: Ksie˛garnia Akademicka 2019, S. 9. 21 Wasilewski, Jacek/Skibin´ski, Adam: Prowadzeni słowami. Retoryka motywacji w komunikacji publicznej. Warszawa: Difin 2008, S. 83.

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Tabelle 1. Das Schema der historischen Narrative über Geschichte der deutschen Kolonisation im Zamoscer Land in den »KB«. Kategorien der Pentade AKT (was ist geschehen?)

Fragmente der Originaltexte

SCENE (wo?)

[…] »Denn in Galizien auf den großen kaiserlichen Gütern hatten sich so viele deutsche Bauern eingefunden, die dem Rufe der kaiserlichen Werber gefolgt waren, daß die kaiserlichen Beamten dem Zustrom nicht mehr gewachsen waren. Auf den staatlichen Gütern war der Aufbau der neuen Dörfer in vollen Gange.«24 […] […] »Der deutsche Bauer war der beste und tüchtigste Landwirt Europas, die Bewirtschaftung seiner Felder war mustergültig.«25 […]

PROTAGONISTEN (wer?) AUSFÜHRUNG (wie?)

[…] »Kaiser Josef II. hat sofort nach der Besitznahme Galiziens und des Zamoscer Kreises mit der Kultivierung des Landes begonnen.«22 […] […] »Für alle Auswanderer war aber auf den staatlichen Gütern kein Platz. In väterlicher Sorge um die Auswanderer wandte sich nun Kaiser Josef II. am 14. März 1784 an die polnischen adeligen Großgrundbesitzer und forderte sie auf, deutsche Bauern auf ihren Gütern anzusiedeln. Einige von ihnen haben der Aufforderung des Kaisers auch Folge geleistet.«23 […]

[…] »Dann schickte er [der Kaiser – K.W.] Werber in das deutsche Reich, an den Rhein, an die Mosel, in die Pfalz, nach Schwaben, Württemberg und Franken. Zu Tausenden kamen sie [deutsche Bauern – K.W.] und meldeten sich bei den kaiselichen Werbern.«26 […] […] »Der Paß war bis Zamosc gültig. In der Stadt Zamosc übernahmen die Gutsverwalter der Grafen Zamojski die deutschen Auswanderer. […] Graf Andreas Zamojski hat die meisten deutschen Siedlungen angelegt: Rozaniec, Korchow, Sitaniec, Huszczka, Zamch, Rogozno, Sabaudja, Brody, Ploski und Dorbozy. Der polnische Gutsbesitzer Ludwig Bielski bekam 16 deutsche Familien zur Ansiedlung im Dorfe Miaczyn und Peter Lubowiecki 25 deutsche Bauern für Sniatycze. Der Erbherr von Antoniowka, wo auch Deutsche angesetzt wurden, wird in den alten Urkunden und Akten nicht genannt.«27 […]

22 N. N.: Wie war es einst? Vor 160 Jahren/Jak było przedtem? Przed 160 laty. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 2. 23 N. N.: Wie war es einst? Vor 160 Jahren. (Fortsetzung). In: KB 1, 1941, H. 2, S. 1. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 N. N.: Wie war es einst? Vor 160 Jahren. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 2. 27 N. N.: Wie war es einst? Vor 160 Jahren. (Fortsetzung). In: KB 1, 1941, H. 2, S. 1.

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(Fortsetzung) Kategorien der Pentade ZWECK (Warum?)

Fragmente der Originaltexte »[…] um aus Urwald und Sumpf mit deutscher Zähigkeit und deutschem Fleiß fruchtbaren Ackerboden zu schaffen. Sie haben, gerufen von polnischen Grundherren, Kultur und Zivilisation hereingebracht und die hier wohnenden Völker der Polen und Ukrainer das Wirtschaften gelehrt.«28 […]

Das Wichtigste bei den historischen Erzählungen in den ersten Nummern der Monatsschrift »KB« spielte sinnhafte Verknüpfung und narrative Integration von Kollektiverzählungen über das Schicksal der Gesamtgruppe von deutschen Kolonisten des Zamoscer Landes29 und Einzelgeschichten sowie Familiengeschichten ihrer Mitglieder.30 Beiden Typen solcher öffentlichen Erzählungen schreibt man in Prozessen kollektiver Identitätsbildung eine wichtige Rolle zu, weil sie nicht nur Gemeinschaften bilden, sondern zugleich ihre Grenzen bestimmen.31 Eine andere Gruppe von Erzählungen in den ersten Nummern der »KB«, denen eine identitätsstiftende Rolle zugeschrieben werden kann, sind kulturelle Erzählungen. Berichte aus den Dorffesten als Erzählungen über die »wiedergewonnenen« deutschen Kolonisten sollten nicht nur eine deutsche Dorfgemeinschaft konstruieren, sondern zugleich die Grenze der nationalen Identität markieren. Das Ziel der Herausgeber war also die Leser ideologisch zu beeinflussen und ihnen den gesellschaftlichen Zusammenhalt als deutsche Dorfgemeinschaft bewusst zu machen und zugleich sie als Mitglieder der deutschen Volksgemeinschaft zu begrüßen.32 Dementsprechend wurden die von den Nachkommen der deutschen Kolonisten mit der Unterstützung der BDM-Mädels und Sondermänner organisierten Dorffeste in den »KB« immer als gelungene Veranstaltungen mit regem Betrieb dargestellt. Alle Volksdeutschen der einzelnen Dorfgemeinden, wo die Dorffeste stattfanden, sollten sich also an ihnen beteiligen, für ihren reibungslosen Ablauf sorgen und immer bereit sein als

28 N. N.: Zum Geleit!/Przedmowa. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 2. 29 N. N.: Wie war es einst? Vor 160 Jahren. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 1–2; N. N.: Wie war es einst? Vor 160 Jahren. (Fortsetzung). In: KB 1, 1941, H. 2, S. 1f. 30 N. N., Aus den deutschen Siedlungen. Sitaniec. Was der alte Wailand erzählt. In: KB 1, 1941, H. 2, S. 11f; N. N.: Aus den deutschen Siedlungen. Rauchersdorf. In: KB 1, 1941, H. 5, S. 10f. 31 Saupe, Achim/Wiedemann, Felix: Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft. (Zugriff am 10. 04. 2022). 32 N. N., Aus den deutschen Siedlungen. Płoskie. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 3; N. N., Aus den deutschen Siedlungen. Rogoz˙no. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 4.

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Mitglieder der deutschen Volksgemeinschaft für sie einzutreten.33 Die Dorffeste wurden immer als kurzweilige, stimmungsvolle, freundliche und gut organisierte Veranstaltungen mit den hervorgehobenen NS-Symbolen beschrieben, während deren bestes Festwetter herrschte und damit auch gute Stimmungen an den von den Volksdeutschen vorbereiteten Esstischen. Ein Blick auf die in den »KB« beschriebenen Dorffeste zeigt, dass beinahe all diese Veranstaltungen nach einem einheitlichen Schema unter Berücksichtigung bestimmter Festelemente (wie etwa politische Ansprachen, kurze Danksagungssprüche und Gedichte für Vertreter der deutschen zivilen Behörden des Distrikts Lublin seitens der deutschen Kolonisten), musikalisches Programm mit deutschen Volks- und NaziLiedern, abliefen.34 Der Schwerpunkt in den aus den Dorffesten erstatteten Berichten, die dann in den »KB« veröffentlicht wurden, lag auf der Einführung der Deutschstämmigen in die deutsche Volksgemeinschaft durch die deutsche Sprache, deutsches Denken und deutsche Lebensweise. Die am besten bewertete Maßnahme dazu war nämlich die Übernahme der traditionellen Dorffeste sowie Einführung der neuen nationalsozialistischen Feste durch die Einflussnahme auf die Gestaltung einzelner Elemente mit der vorherrschenden nationalsozialistischen Symbolik.35 Neben den alten, traditionellen Festen wurden also auch neue Feste aus dem nationalsozialistischen Kalender, wie etwa die Feier zu Adolf Hitlers Geburtstag oder Heldengedenktag dargestellt.36 Die im Dritten Reich zum Zweck der Propaganda eingesetzte Presse sollte laut den organisatorischen Richtlinien der NSDAP – der »Verwirklichung des kulturellen Willens Führers« und »Durchdringung des gesamten deutschen Volkes mit der nationalsozialistischen Weltanschauung« dienen.37 Beide Komponenten – die historischen sowie kulturellen Narrative in den »KB« wurden also von den Herausgebern als ein ideologisches Instrument genutzt38, und als eines der wichtigsten Betätigungsfelder der Rückgewinnungsaktion im Zamoscer Land 33 N. N., Aus den deutschen Siedlungen. Płoskie. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 2f; N. N., Aus den deutschen Siedlungen. Das Dorffest in Brody am 21. März 1941. In: KB 1, 1941, H. 1, S. 4ff; N. N.: Deutscher Frühling im Zamoscer Land. Der Sinn der Dorffeste. In: KB 1. 1941, H. 3, S. 1ff. 34 Neubauer, Hedy: Horyszow. In: KB 1, 1941, H. 3, S. 3; Elberkirch, Elfriede: Sitaniec und Bialobrzegi. In: KB 1, 1941, H. 3, S. 4; Faller, Anneliese: Rogozno. In: KB 1, 1941, H. 3, S. 5f; Fischbach, Gertrud: Brody. In: KB 1, 1941, H. 3, S. 6f; Döhrmann, Marthel: Huszczka. In: KB 1, 1941, H. 3, S. 7f. 35 Madajczyk, Zamojszczyzyna, S. 54f. 36 N. N.: Aus den deutschen Siedlungen. Bialobrzegi. Feier zu Führers Geburtstag. In: KB 1, 1941, H. 2, S. 8; Ebd., Horyszow. Heldengedenkfeier, S. 9; Ebd.: Rogozno, Führergeburtstag, S. 10. 37 Reichspropagandaabteilung der NSDAP (Hrsg.): Das Organisationsbuch der NSDAP. München: Franz Eher Verlag 1937, S. 295. 38 H. White schreibt den historischen Narrativen eine ideologische Rolle zu. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1991, S. 43.

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angesehen. Die historischen Narrative (Zusammensetzung von disparaten Erlebnissen und Erfahrungen der deutschen Kolonisten des Zamoscer Landes) und narrative Fokussierung auf die entscheidende Wandlung in ihrem Schicksal (den Ausbruch des II. Weltkrieges) mündeten in der Monatsschrift in das Konzept der Volksgemeinschaft, das zu Propagandazwecken genutzt wurde. Die Entwicklung des Konzepts der Volksgemeinschaft in Bezug auf die deutschen Kolonisten des Zamoscer Landes verlief in den »KB« parallel zur Erweiterung des Kontextes um ihren Anteil an der NS-»Aufbauarbeit« zugunsten des »deutschen Ostens« und der Gestaltung »Neuordnung Europas«.39 Die Kolonisten wurden den an der Front kämpfenden deutschen Soldaten als Bestandteil der »Heimatfront« gleichgestellt.40 Die von ihnen aufgenommene »Aufbauarbeit« bedeutete einerseits der von Generation zu Generation überlieferten Tradition (dem ›Kolonistengeist‹) treu zu bleiben, und andererseits rege an der Stärkung des Deutschtums und Gestaltung deutscher Siedlungen auf dem Gebiet des Generalgouvernements teilzunehmen. Dank der Anwendung eines narrativen Klischees wurden die aus dem Charaktererbe der deutschen Ahnen abgeleiteten Charakterzüge (z. B. Pflichterfüllung, Sauberkeit, Gründlichkeit und deutscher Gemeinschaftssinn) von der NS-Propaganda genutzt und von neuem aufgearbeitet.41 Die obigen Ausführungen in Bezug auf die historischen Narrative in der Monatsschrift »KB« im Kontext der deutschen Kolonisation im Zamoscer Land lassen folgende Schlüsse zu: 1. Das Ziel der historischen Narrative war die Einflussnahme auf die Herausbildung des historischen Denkens bei den Nachfahren der deutschen Kolonisten. 2. Die historischen Narrative sollten durch Verfolgung einer bestimmten Geschichtsdarstellung und deren Schwerpunkte dann als Grundüberzeugung innerhalb der Zielgruppe gelten. 3. Die Vergangenheitsbewältigung in den historischen Narrativen bildete jeweils Basis für die Projizierung auf die Zukunft der Kolonistengruppe in der NSVolksgemeinschaft. 4. Die historischen Narrative hatten ihren Grenzpunkt in dem Begriff »Volksgemeinschaft«, was die Deutschstämmigen in derselben Reihe mit den Reichsdeutschen positionierte.

39 S.[eltmann], L.[othar]: Das Werden des Deutschtums im Generalgouvernement. In: KB 3, 1943, H. 17, S. 2. 40 S.[eltmann], L.[othar]: Reiche Ernte. In: KB 2, H. 14, S. 2; En: Treue. In: KB 3, 1943, H. 19, S. 2. 41 N. N.: Deutschtum verpflichtet. In: KB 1, 1941, H. 4, S. 5.

Anna Pastuszka (UMCS Lublin)

Über Grenzen und ihr Überschreiten in »Lapidaria I–VI« von Ryszard Kapus´cin´ski

Der sechsbändige Zyklus von Aufzeichnungen »Lapidaria I–VI« (1990–2007)1 von Ryszard Kapus´cin´ski enthält zahlreiche Reflexionen des polnischen Reporters und Schriftstellers über die Grenzen in der gegenwärtigen Welt. Die Problematik der Grenzen erscheint im Kontext der Staatsgrenzen und der sozialen Grenzen zwischen Armen und Reichen, im Kontext der politischen und ökonomischen Migrationsprozesse, nicht zuletzt auch als Fragen nach den Grenzen der Kunst und der literarischen Gattungen. Kapus´cin´skis literarisches Schaffen lässt ihn als einen reisenden Grenzgänger zwischen Kulturen und Völkern verorten, der gängige Stereotype über das Eigene und das Fremde hinterfragt und die Welt mit Neugier und Erstaunen betrachtet. Seiner feinsinnigen Beobachtung der globalen und lokalen Prozesse scheint das Konzept der Transkulturalität, der Verflechtung und gegenseitiger Beeinflussung von Kulturen, besonders naheliegend. Indem er die Strategien der politischen und kulturellen Grenzziehungen untersucht, bleibt er offen und einfühlsam gegenüber dem Anderen und fördert die Migrationsprozesse als Freisetzung und Austausch von kreativen Energien. Seine literarischen Aufzeichnungen »Lapidaria«, von Martin Pollack ins Deutsche als »Lapidarium« (1992), »Die Welt im Notizbuch« (2000, »Lapidarium« II und III) und »Notizen eines Weltbürgers« (2007, »Lapidarium« IV und V)2 übersetzt, haben die heterogene Struktur einer Collage. Diese collagenhafte Zusammensetzung und hybride Form zwischen Essayistik, Re-

1 Kapus´cin´ski, Ryszard: Lapidaria I–III. Warszawa: Biblioteka Gazety Wyborczej 2008. Bd. 6. Ders.: Lapidaria IV–VI. Warszawa: Biblioteka Gazety Wyborczej 2008. Bd. 7. Erste Auflagen: Lapidarium (1990), Lapidarium II (1995), Lapidarium III (1997), Lapidarium IV (2000), Lapidarium V (2002), Lapidarium VI (2007). 2 Ryszard Kapus´cin´ski: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 1992. Ders.: Die Welt im Notizbuch. München 2003 (Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 2000). Ders.: Notizen eines Weltbürgers. München 2008 (Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 2007), weiter im Text entsprechend mit WN (Die Welt im Notizbuch) und NW (Notizen eines Weltbürgers) sowie Seitenzahl zitiert.

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portage, Kurzprosa und Journal treffen am besten das Bruchstückhafte und Zufällige der Wirklichkeitsdarstellung und der intendierten Lebenserzählung. Ryszard Kapus´cin´ski war jahrelang Korrespondent und Reporter in Asien, in Afrika, im Mittleren Osten und in Lateinamerika. Die Frucht seiner Auslandsaufenthalte waren Reportagen, die ihn weltberühmt machten.3 Zu seinen Themenbereichen zählte er selbst die Dekolonisierung in Afrika und die Welt der Armen. Er mied »konsequent den okzidentalen Blick auf die Welt«4. Im ausgehenden 20. Jahrhundert ging er dazu über, die Welt mit ihren Prozessen und Wandlungen global anhand den Aufzeichnungen zu erfassen. Wie er früher ein globaler Reporter war, der sich für unterschiedliche Kontinente und Länder interessierte, so wurde er jetzt ein Beobachter globaler Prozesse und globaler Geschichte. Die Betrachtung des modernen Journalismus und der rapiden technologischen Entwicklung der Medien mit ihrer schnellen Berichterstattung stimmte ihn zunehmend skeptisch. Reporter zu sein sei für ihn »eine Lebenshaltung, ein Charakterzug« (WN, 236) gewesen. Der Reporter sei Individualist und Einzelgänger, »Sonderling, der seinen eigenen Weg geht« (WN, 237). Diese Art von Journalismus sah er durch die Sensationsjagd, die Informationsflut ohne einleuchtende Auswahl und Hierarchisierung und die auf die Attraktivität der gelieferten Ware orientierte Arbeit von unselbständigen media-workers gefährdet. Seine Aufzeichnungen »Lapidarium« (1990, dt. »Lapidarium« 1992) bis »Lapidarium VI« (postum 2007, keine deutsche Ausgabe) veranschaulichen, wie der Autor von seinen Beobachtungen als Reporter zu historischen, anthropologischen und philosophischen Erkenntnissen übergeht. Die Entstehung der »Lapidarien« in seinen letzten Lebensjahren fiel in die Zeit, wo er allmählich mit der Reporteraktivität aufhörte und sich auf das literarische Schaffen und die internationale Vortragstätigkeit konzentrierte. Zeitgleich mit dem vorletzten »Lapidarium«-Band entstand seine Autobiografie »Podróz˙e z Herodotem« (2004)5,

3 Ich erwähne hier nur einige Reportagen von Kapus´cin´ski: Busz po polsku (1962), Jeszcze dzien´ z˙ycia (1976), Wojna futbolowa (1978), Cesarz (1978), Szachinszach (1982), Imperium (1993), Heban (1998). Sie wurden ins Deutsche von Martin Pollack übersetzt: König der Könige: Eine Parabel der Macht (1984), Schah-in-schah (1986), Der Fußballkrieg: Berichte aus der Dritten Welt (1990), Imperium: sowjetische Streifzüge (1993), Wieder ein Tag Leben: Innenansichten eines Bürgerkriegs (1994), Afrikanisches Fieber: Erfahrungen aus vierzig Jahren (1999), Ein Paradies für Ethnographen (übersetzt mit Renate Schmidgall) (2010). 4 Bauer, Zbigniew: Jakie byłoby polskie dziennikarstwo, gdyby nie było Ryszarda Kapu´scin´skiego. In: Ryszard Kapus´cin´ski. Portret dziennikarza i mys´liciela. Hrsg. von Kazimierz Wolny-Zmorzyn´ski u. a. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 2008, S. 25–40, hier S. 38. 5 Ryszard Kapus´cin´ski: Podróz˙e z Herodotem. Warszawa: Biblioteka Gazety Wyborczej 2008. Bd. 12. Ders.: Meine Reisen mit Herodot. Reportagen aus aller Welt. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 2005.

Über Grenzen und ihr Überschreiten in »Lapidaria I–VI« von Ryszard Kapus´cin´ski

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eine Bilanz seines Lebens als Journalist und Schriftsteller, der sich mit dem Genre non-fiction writing befasst. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts wird Kapus´cin´ski zum Beobachter der Lage des Menschen in der postmodernen Wirklichkeit sowie der politischen Umwandlungen in einem »planetarischen« (NW, 58) Ausmaß. Wie Andrzej Hejmej vermerkt, findet in den »Lapidarien« die seit den 1990er Jahren verstärkte Beschäftigung des Reporters mit der Frage der multikulturellen Welt ihren Ausdruck, was sich »mit einem neuen Horizont des Schreibens« verbindet, in dem Kapus´cin´ski die Instabilität, das Fließende und die Zufälligkeit der Existenz in der modernen Wirklichkeit akzentuiert.6

I.

Das Überschreiten der Grenze

Der griechische Chronist, Reisende und Historiker Herodot wurde für den Studenten der Geschichte und späteren Journalisten im Ausland zum Vorbild eines Menschen, der die Grenzen überschreitet. Es war zunächst allein der Akt des Überschreitens der Grenze, der ihn anzog und etwas Mystisches und Transzendentales an sich hatte. Die Neugier, was es hinter der Grenze gibt, vergleicht er zu einem psychischen Hunger. In den 1950er Jahren, als er nach dem Studium der Geschichte die Arbeit eines Journalisten begann, waren die territorialen Grenzen Polens streng bewacht und die Grenzregionen still und wenig bewohnt: »Je näher man nämlich der Grenze kam, um so verlassener wurde die Gegend, man begegnete immer weniger Menschen. Die Leere ließ die Orte noch rätselhafter erscheinen, und auch die Stille entlang des Grenzstreifens weckte meine Aufmerksamkeit. Diese Rätselhaftigkeit und Stille zogen mich an und beunruhigten mich. Es reizte mich zu sehen, was man wohl erlebte, wenn man die Grenze überschritt.«7

Dieses Erlebnis des Grenzübertritts wird für Kapus´cin´ski zu einem bewegenden Impuls für seine immer neuen Reisen. Die größte Gefahr sowohl in der Geschichte als auch in der zeitgenössischen Welt erblickt er nachträglich im Abschirmen, Verriegeln gegenüber der fremden Kultur und dem Fremden. Das verhängnisvolle Symbol dieser Abschirmung wird für ihn schon sehr früh die chinesische Große Mauer. Als er 1957 ins maoistische China kommt, darf er kaum etwas persönlich erfahren. Der wahre Höhepunkt des Aufenthaltes: In Begleitung seines kommunistischen Reiseführers fährt er zur Großen Mauer. 6 Hejmej, Andrzej: W »wielokulturowym s´wiecie« Ryszarda Kapus´cin´skiego. In: Ruch literacki 2011, Z. 6, S. 583–593, hier S. 585f. (Zugriff am 8. 02. 2022). 7 Kapus´cin´ski, Meine Reisen. 2005, S. 15.

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Anna Pastuszka

Dieses seit zweitausend Jahren gebaute Weltwunder löst bei ihm allerdings kaum ein Gefühl der menschlichen Größe oder Bewunderung für die Baukunst aus. Ganz im Geist seiner späteren Weltoffenheit sträubt er sich vor allem gegen die Idee der hermetischen Abriegelung und der Verschwendung menschlicher Energie. Millionen von Stunden gingen für den Mauerbau verloren, statt für wertvolle Tätigkeiten wie Lesen, Beruf, Feldbestellung oder Viehzucht genutzt zu werden: »Vollkommen irrational! Vollkommen sinnlos!«8 Die Mauer als Symbol und Verwirklichung der Kontrolle und der Aufteilung wirkt in der Denk- und Verhaltensweise der Grenzwächter und der Landesbewohner weiter. Kapus´cin´ski bezeichnet es als »eine Haltung von Mauerverteidigern«, die auf der Verinnerlichung der Mauer und der Befolgung der Logik der Mauer beruht.9 Seine Empörung über die Große Mauer entspringt dem Glauben an den Humanismus, an die Kompromissfähigkeit und das Verständigungspotential der Menschen. »Denn die Große Mauer […] ist zugleich ein Beweis für menschliche Fehler und Schwächen, für einen schrecklichen Irrtum der Geschichte, für die Unfähigkeit des Menschen, sich in diesem Teil unseres Planeten miteinander zu verständigen, die Unfähigkeit, einen runden Tisch einzuberufen, um gemeinsam zu beraten, wie man die gesammelten Ressourcen menschlicher Energie und menschlichen Denkens nutzbringend verwenden könnte.«10

Die Verschwendung der menschlichen Energie, der geistigen Energie für das Überwachen und Beaufsichtigen weckt immer wieder seinen Missmut. Die Geschichte der Zivilisationen scheint sich auf Bewachen und Behüten zu beschränken: »Unablässige Wachsamkeit! Schlaflose Nächte! Nicht geschlossene Augen! Ganze Armeen von Wächtern.« (NW, 143f.) Aus seiner Perspektive des freien Reisenden ist dies eine verstörende Einschränkung seiner Freizügigkeit, von seiner nomadischen Natur her polemisiert er hier gegen das sesshafte Leben mit der Sorge um den Besitz. Als eine paradoxe Zuspitzung der bürgerlichen Ordnung des Bewachens um seiner selbst willen liest er die Erzählung von Edgar Allan Poe »Der Teufel im Glockenstuhl«: Im holländischen Spießburgh wurde die Pflege der Turmuhr zur besten Dienststelle, da die Uhr vollkommen ist und nie kaputt geht (NW, 143). Komplementär zu Reisen über die Grenzen betreibt er historische Studien als Reisen in der Zeit. Als sich bei ihm hin und wieder die Enttäuschung über die Unbelehrbarkeit des Menschen einstellt, sucht er Trost im Überschreiten der Grenze der Zeit: »Es gab Zeiten, da waren Reisen in die Vergangenheit für mich verlockender als die aktuellen Reisen als Korrespondent und Reporter. Das waren die Zeiten, in denen mich 8 Kapus´cin´ski, Meine Reisen. 2005, S. 81. 9 Kapus´cin´ski, Meine Reisen. 2005, S. 82. 10 Kapus´cin´ski, Meine Reisen. 2005, S. 81f.

Über Grenzen und ihr Überschreiten in »Lapidaria I–VI« von Ryszard Kapus´cin´ski

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die Gegenwart ermüdete. Alles wiederholte sich ständig: die Politik – ein niederträchtiges, unsauberes Spiel, eine Lüge; das Leben der Durchschnittsmenschen – Armut und Hoffnungslosigkeit; die Teilung in Ost und West – immer dasselbe. Und so wie ich mich einst danach gesehnt hatte, die Grenze im Raum zu überschreiten, so faszinierte mich jetzt das Überschreiten der Grenze der Zeit.«11

Mit seiner Freude am Überschreiten der Grenzen von Raum und Zeit ist Kapus´cin´ski ein homo transgressivus, der für eine offene Welt plädiert. Der polnische Philosoph Marek Szulakiewicz betont, dass das Verschwinden und die Demontage von Grenzen bei den Menschen negative Folgen nach sich ziehen können: Identitätsstörungen, Desorientierung, ein Gefühl des Chaos. Die Grenzen seien für die normative, ordnungsstiftende Wahrnehmung der Welt und der Wirklichkeit notwendig. Der homo transgressivus müsse folglich eine neue Theorie der Erfahrung finden, um die Idee der eingeschränkten und geordneten Welt durch die Idee einer genauso sicheren, offenen Welt zu ersetzen.12 Wie geht der polnische Reporter mit dieser Angst als Erkenntnisproblem um?

II.

Zwischen Multi- und Transkulturalität: Alterität und aktuelle Gefahren

In den 1990er Jahren wendet sich Kapus´cin´ski verstärkt der kulturellen Reflexion zu und beobachtet moderne Zivilisationen mit dem Interesse eines Kulturanthropologen. Er versteht die Rolle des Reporters, des Journalisten als eines Übersetzers zwischen den Kulturen. Diese anspruchsvolle Aufgabe wird jedoch als ein schwieriger Auftrag dargestellt, bei dem man die richtigen Empfänger vermisst und auf mannigfaltige Kulturunterschiede stößt: »Der Auslandsreporter ist ein Übersetzer der Kulturen. Er greift die allgemein herrschende Ignoranz, Stereotypen und Vorurteile an. Er ist von Natur aus Eklektiker und lebt in bezug auf die eigene Gesellschaft in kultureller Emigration. Die Einsamkeit des Reporters, der durch die Welt reist, in ferne Länder: Er schreibt über Menschen, die ihn nicht lesen, für Menschen, die sich kaum für seine Helden interessieren. Er ist einer, der dazwischen steht, zwischen den Kulturen schwebt, die er übersetzt. Seine Frage und sein Problem: Wie weit kann ich in eine andere Kultur eindringen, diese kennenlernen, da sie doch aus internen, geheimen Codes besteht, die wir, die Ankömmlinge aus einer anderen Welt, nicht entziffern und begreifen können.« (WN, 235f. Hervorhebung durch die Autorin) 11 Kapus´cin´ski, Meine Reisen. 2005, S. 350. 12 Szulakiewicz, Marek: Grenzen als Problem der gegenwärtigen Kultur – Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Granice i ograniczenia. O dos´wiadczaniu granic i ich przekraczaniu. Torun´: Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 2010, S. 19–30, hier S. 22.

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Im Essay »Tłumacz – postac´ XXI wieku« konstatiert Kapus´cin´ski das Erwachen vom »universale[n] Bewusstsein der planetarischen Multikulturalität und Mehrsprachigkeit der menschlichen Gattung«.13 Die Multikulturalität ist für ihn eine unbestreitbare Tatsache, die aber keine Offenheit gegen andere Kulturen ex definitione bedeutet. Indem der Reporter die Geschichte der Zivilisation, die Vorherrschaft des Westens und die Brutalität betrachtet, stellt er fest, dass nur Freundlichkeit gegenüber dem Anderen die Kontaktaufnahme ermöglicht: »eine Freundlichkeit, die das Böse vertreibt«14 (NW, 80). Die »planetarische Multikulturalität« besteht für ihn in einem Dialog- und Verständigungsversuch mit dem Anderen. Laut Andrzej Hejmej beharrt der Autor auf seinem Konzept der Multikulturalität entgegen den Entwürfen der Transkulturalität von Wolfgang Welsch (als eine ultimative Betrachtungsweise der Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt).15 Für die Problematik des Anderen verwendet Kapus´cin´ski den Begriff der Alterität.16 Die Offenheit gegenüber dem Anderen ist in seinen Augen eine absolut notwendige Voraussetzung der Kommunikation und die Basis für die Arbeit des Reporters. Der Autor spricht von der Identifizierung mit den Anderen, die nur bei einer teilnehmenden Beobachtung möglich ist und auf dem Eintauchen in die fremde Wirklichkeit beruht: »Die Identifikation ist eine unverzichtbare Bedingung für meine Arbeit. Ich muß unter Menschen leben, mit ihnen essen und hungern. Ich möchte zu einem Teil der Welt werden, die ich beschreibe, muß eintauchen in sie und jede andere Wirklichkeit vergessen. Wenn ich in Afrika bin, schreibe ich keine Briefe und telefoniere nicht mit zu Hause. Die andere Welt verschwindet für mich. Sonst würde ich mich als Outsider fühlen. Ich brauche zumindest die momentane Illusion, daß die Welt, in der ich in diesem Augenblick lebe, die einzige ist.« (WN, 38f.)

Am Ende des 20. Jahrhunderts blickte Kapus´cin´ski optimistisch in die Zukunft. Der Kalte Krieg war vorbei, es herrschte überwiegend Frieden auf der Erde: Mehr als 99 Prozent der Bevölkerung lebte friedlich, kein Konflikt schien zu einem Weltkrieg zu entarten (NW, 215f.). Die Reflexion über den Wandel der Wahrnehmung von Grenzen in der Welt, die aus starren ideologischen Trennungslinien zu blühenden Kontaktzonen wurden, erfüllt ihn mit Freude über das positive Energiepotential:

13 Kapus´cin´ski, Ryszard: Tłumacz – postac´ XXI wieku. In: Podróz˙e z Ryszardem Kapus´cin´skim: opowies´ci trzynastu tłumaczy. Hrsg. von Boz˙ena Dudko. Kraków: Znak 2007, S. 7–16, hier S. 8. 14 »Z˙yczliwos´c´ do Innego, do Drugiego, poskramiaja˛ca zło« (L IV, 58). 15 Hejmej, W »wielokulturowym s´wiecie«. 2011, S. 586f. 16 »Uwaz˙am sie˛ za badacza Innos´ci – innych kultur, innych sposobów mys´lenia, innych zachowan´.« (L II, 167). »Ich betrachte mich als Erforscher des Anderen – anderer Kulturen, anderer Denkweisen, anderer Verhaltensweisen.« (WN, 29)

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»Einst bedeuteten Grenzen Kampf und Haß. Sie bedeuteten die Teilung von Territorien und die Trennung zwischen Menschen. Die Berliner Mauer was eine Grenze der Angst, sie stand für die Drohung eines ausbrechenden Krieges. Heute nehmen wir die Grenzen oft anders wahr. In verschiedenen Regionen in Europa und Asien sind sie Orte des Austausches, des Handels, der Zusammenarbeit, Orte, wo die Menschen von dieser auf die andere Seite wechseln.« (NW, 13)

Als Kapus´cin´ski diese Betrachtungen zwischen 1997–2000 im »Lapidarium IV« niederschreibt, ist er voller Zuversicht in die positive Entwicklung der politischen Lage in Europa und Afrika. In Anlehnung an die »Theorie des Austausches« des französischen Anthropologen Marcel Mauss sieht er in der friedlichen Koexistenz, dem Sturz des Kommunismus, der ideologischen Entspannung sowie der Handels- und Reisefreiheit die praktische Verwirklichung der These des sozialen und kulturellen Austausches von Mauss: »Seiner Ansicht nach läßt diese ständige Bewegung von Dingen und Menschen gemeinsame Interessen entstehen, und in der Folge davon ein Gefühl gemeinsamer Identität.« (NW, 15). Kapus´cin´skis eingeschränkter Optimismus beruhte auf dem Scheitern der Revolutionen des Kommunismus und Sozialismus, die sich als erfolglose Utopien herausstellten. Die latente Bedrohung durch Fanatismus und Nationalismus einerseits, die Manipulation und Zensur andererseits lassen ihn jedoch an die Intellektuellen appellieren, »den Medien genau auf die Finger zu schauen und auf alle Manipulationen zu achten« (NW, 23). Er richtet eine immer gültige Warnung an die Leser: »Wir dürfen aber nicht vergessen, daß alles brüchig ist, weil das Leben brüchig ist; seine schwache Struktur wird von zahlreichen Übeln belastet: von den Übeln des Nationalismus und Chauvinismus, des Hasses und der Aggression, der Gleichgültigkeit und Brutalität, der Gemeinheit und der Dummheit.« (NW, 225)

Als besonders gefährliche Entwicklungen sieht er das Beharren auf dem Stammesdenken, die Clanmentalität und eine a priori abweisende Haltung gegenüber dem Fremden an. Die von den Pessimisten prophezeite »Balkanisierung und Tribalisierung« als Zukunft des Planeten entspringen dem begrenzten Denken in Kategorien des Lokalen und Provinziellen: »Diese Balkanisierung und Tribalisierung sind nicht nur territorial, sondern auch mental. Es bildet sich eine enge, in sich verschlossene, einseitige Mentalität, die alles ablehnt, was anders ist und nicht ihrer Überzeugung von der eigenen Einmaligkeit und Überlegenheit entspricht.« (NW, 60f.)

Kapus´cin´ski betont, dass sich das territoriale Denken als ursprünglich für die stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen erweist und immer noch latent vorhanden ist: »Jeder Stamm betrachtete sich früher als gesamte Menschheit. Die Welt endete dort, wohin der Blick reichte.« (NW, 61) Trotz der offensichtlichen Multikulturalität der Welt, der Unterschiedlichkeit der Kulturen, bestehen

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die Menschen hartnäckig auf der Überzeugung von ihrer eigenen kulturellen Überlegenheit (NW, 241). Ähnlich heißt es in »Lapidarium II«: »Wir sind befangen in Stammesdenken. Trotz des weltweit herrschenden Kosmopolitismus, Pluralismus, Globalismus, Universalismus erweisen sich die Stammesstrukturen nach wie vor als lebendig, ja immer lebendiger.« (WN, 67) Man entnimmt den Aufzeichnungen Kapus´cin´skis die Angst vor dem Überhandnehmen der rassischen, ethnischen oder religiösen Teilungen und Konflikte. Als globale Gefahren werden Terrorismus, Fundamentalismus, Rassismus, Armut, Hoffnungslosigkeit, Aggression und Kriminalität, aber auch alltägliche Frustrationen erkannt. »Die Welt nach dem Kalten Krieg ist eine Welt diffuser Gefahren« (NW, 59). Ein edles Ideal des globalen Denkers Kapus´cin´ski ist die friedliche Koexistenz von unterschiedlichen Kulturen. Er betont die Idee des menschlichen Zusammenseins, das er auch in der hinduistischen Konzeption der ›Upanishaden‹ widergespiegelt findet und das durch keine ausgeklügelte Kommunikationstechnologie ersetzt werden kann: »In den zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Kommunikation, ist die physische Anwesenheit, das Zusammensein, gegenseitige Berührung wichtig. Daher die griechischen Festivals, die kollektiven Mysterien und Pilgerschaften, das Bedürfnis nach Teilnahme, das starke emotionale togetherness, die Reihen zusammenzählen.« (L VI, 249, Übersetzung A. P.)

Das gemeinsame Zusammensein mit Menschen aus anderen Kulturen, die Aufmerksamkeit ihnen und ihren überlieferten Geschichten gegenüber lagen in der Schilderung Kapus´cin´skis bereits den ersten Berichterstattungen von Herodot zugrunde. Die ums Lagerfeuer versammelten Menschen vertrauten ihm ihre Erzählungen an, er schrieb sie auf, damit menschliche Taten nicht in Vergessenheit geraten. Herodot, dargestellt als der erste Reporter, Anthropologe, Ethnograph und Historiker in einem, erscheint als der erste Globalist, ein Vorbild für den polnischen Reporter, der fortwährend seine globalen historischen Studien betreibt: »der Autor der »Historien« tritt uns auf Anhieb als Visionär dieser Welt entgegen, als ein schöpferischer Geist, befähigt zu globalem Denken, kurz, als der erste Globalist«.17 In den »Lapidarien« verlegt Kapus´cin´ski zusehends den Schwerpunkt der Beobachtung von den Prozessen der Grenzziehungen auf die Fragen der Wahrnehmung des Anderen und ihrer Implikationen. Es sind nach Edgar Platen »Fragen der Relationierung«, darunter »das einander Bedingtsein von Eigenem und Fremdem« sowie »Probleme kultureller Übersetzung und Alterität«18. Die 17 Kapus´cin´ski: Meine Reisen. 2005, S. 104f. 18 Platen, Edgar: Vorwort und Auswahlbibliographie. In: Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzauflösungen. Zur Darstellung der Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsli-

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Frage der Grenze und der Abgrenzung erscheint als eine interdisziplinäre Frage, die kulturelle, politische, philosophische, anthropologische Aspekte enthält.

III.

Limes semper vivus. Die Grenzen zwischen Reich und Arm

In den Lapidarien widmet Kapus´cin´ski der Abschottung des Westens gegenüber anderen Kulturen und Zivilisationen viel Raum. In den Versuchen, sich ideologisch von den anderen abzukapseln, erblickte er neue Figurationen des alten Limes, der antiken Grenze zwischen Römern und Barbaren, die als politischkulturelle Grenze zwischen West- und Osteuropa, zwischen zivilisiert und barbarisch19 galt: »Limes. Limes Imperii Romani. Die Grenze, die Hadrian im Jahre 122 zwischen Britannien und dem damals von den Kelten bewohnten Schottland zu errichten befahl, um die Römer gegen die Barbaren abzugrenzen. Ein besonders starker Limes wurde gegen die Germanen und andere östliche Barbaren (zum Beispiel an der Grenze Pannoniens und Dakiens) errichtet. Nach dieser Geographie lagen die Gebiete der Slawen, darunter auch der Polanen, in der Welt der Barbaren (nach Ansicht vieler Menschen trifft das noch heute zu).« (NW, 54f.)

Die Rudimente der Hybris der Westeuropäer, die jahrhundertelang andere Völker unterjochten und beherrschten und die europäische Kultur als universalen Bezugspunkt für die Bewertung von anderen Kulturen hielten, betrachtet Kapus´cin´ski als längst unzeitgemäß angesichts der Umbrüche in der Welt. Er sieht den Europäer inzwischen als »entthront« (NW, 247), die Dekolonisation als eine große Freiheitsbewegung von einst abhängigen Kontinenten habe den Anfang einer neuen multikulturellen Welt signalisiert (NW, 243). Wenn sich unterdessen der Westen mit einem neuen limes vor den ›Barbaren‹ zu schützen versucht, marginalisiert er sich zunehmend und verpasst die Chance auf internationale Bedeutung. Kapus´cin´ski konstatiert mit Bedauern, dass sich nun der Westen nach einer fünf Jahrhunderte dauernden Dominanz vor der Außenwelt verschließe und bei wachsender Gleichgültigkeit den Genüssen des Konsumismus hingebe (NW, 248). Dieser Weg scheint ihm jedoch zum Scheitern verurteilt zu sein, wohnen doch 80 Prozent der Menschheit außerhalb Europas:

teratur. Hrsg. von Edgar Platen/Martin Todtenhaupt. München: Iudicium Verlag 2004, S. 7– 10, hier S. 8. 19 In: Kapus´cin´ski, Ryszard: Der Andere. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 15. In »Tłumacz – postac´ XXI wieku« ruft er erneut die griechische Unterscheidung auf: für die zeitgenössischen Griechen war einer, der seine Sprache nicht beherrschte, ein Barbaros, jemand, der unverständlich redet. S. 9.

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»Die Strategie des sich Lossagens und Abschottens ist also kein guter Ausweg. Welche Lösungen bieten sich sonst an? Begegnung, Kennenlernen, Dialog? Das sind heute keine Vorschläge mehr, sondern Anforderungen, welche die Realität der multikulturellen Welt an uns stellt. Europa steht vor einer großen Herausforderung. Es muss einen Platz für sich in einer Welt finden, in der es einst von seiner bevorzugten Position profitierte. Es muss lernen, in einer Familie mit vielen anderen Kulturen zu leben, die nach oben streben […].« (NW, 248f.)

Diese Öffnung gegenüber anderen erscheint ihm auch vor dem Hintergrund der historischen Erkenntnisse entscheidend: die Kulturen, die sich abgeschottet hatten, gingen unter. In dem neuen, planetarischen Umfeld sieht er folglich eine lebendige Inspirationsquelle, die den Austausch und positiven Kontakt mit dem Anderen begünstigt. Die kritische Reflexion über die Grundlagen der europäischen Identität resultiert in der respektvollen Begegnung mit den außereuropäischen Kulturen und ihren Repräsentanten. Damit kann er als ein postkolonialer Autor rezipiert werden: Henryk Mazepa behandelt seine Texte als »Kulturübersetzungen«, in denen das für den kolonialen Blick charakteristische Denken in Gegensätzen, der sprachliche Eurozentrismus sowie die privilegierte Position von Macht und Wissen gemieden werden.20 Als sein wichtigstes Thema nannte Kapus´cin´ski das Leben der Armen. Er betrachtete dabei den Begriff der Dritten Welt weder als geographisch noch rassisch, sondern als existentiell. Die Dritte Welt, schreib er in »Lapidarium II«, umfasse »das Leben der Armen, geprägt von Stagnation, struktureller Erstarrung, Tendenz zur Regression und der ständigen Gefahr, endgültig zusammenzubrechen« (WN, 131). Einige Seiten später differenziert er den Begriff weiter, indem er die Aufteilung in die Erste, Zweite oder Dritte Welt heutzutage für veraltet hält. Es gebe inzwischen nur zwei Welten: »Die entwickelte Welt ist die des großen, ständig wachsenden Konsums. Die unterentwickelte Welt ist die eines ständigen Mangels. Natürlich gibt es verschiedene Abstufungen dieses Mangels. Aber die allgemeine Teilung verläuft entlang dieser Linie. Und sie erweist sich generell als sehr dauerhaft.« (WN, 140)

Die Gefahr besteht seiner Meinung nach in der als »schrecklich defensiv« bezeichneten Haltung der Eliten der ›entwickelten Welt‹, sich vor der als unsicher geltenden Welt des Mangels zu verschließen. Er attestiert folglich den am Konsum orientierten Eliten »eine Mentalität der belagerten Festung, ein Bunkersyndrom«: »Die Gesellschaft der entwickelten Welt betrachtet die unterentwickelte Welt in ihrem Ganzen als Bedrohung: Wenn wir die Mauern unserer entwickelten Welt verlassen, 20 Mazepa, Henryk: Literarische Collage im postkolonialen Diskurs. Eine erzähltheoretische Analyse der Kulturenübersetzungen von Ryszard Kapus´cin´ski. Kraków: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellon´skiego 2016, S. 17.

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lauern überall Gefahren auf uns. In Rußland: die Mafia, im Süden: islamische Fundamentalisten usw. Überall herrscht Krieg. Daher müssen wir unsere Grenzen hermetisch abriegeln, unseren ruhigen Konsum immer wachsamer schützen.« (WN, 141)

Die Überzeugung von der Unmöglichkeit, sich in der gegenwärtigen Welt hermetisch abzuriegeln sowie die Überzeugung von der Existenz einer globalen Gesellschaft von heute teilt Kapus´cin´ski mit Zygmunt Bauman. Dieser Soziologe betonte, dass sich in der Welt nach 1989 und 2001 niemand mehr hinter einer sicheren, undurchdringlichen Mauer wähnen kann: »Die Epoche, die mit dem Bau der Mauer von Hadrian oder der Chinesischen Mauer begann und ihren Höhepunkt mit der Maginot- oder Siegfried-Linie erreichte, kam mit dem Fall der Berliner Mauer zu Ende. Man kann sich heute nicht mehr vom Rest der Welt abschirmen. Die Zeiten der Einsiedeleien und der Festungen sind vorbei.«21

Die unverhüllte Kritik an den saturierten Gesellschaften des Westens in den Notizen geht von der Feststellung aus, dass der Hunger und die Armut medial ausgeklammert werden, weil sich die Medien in den Händen der Reichen befinden. Die Reichen wollen nichts über die Armen hören, es würde ihnen den Konsum verderben (WN, 299). Der Autor protestiert dagegen, die Armut allein zur Frage des leeren Magens zu reduzieren, es gehören dazu auch furchtbare Lebensumstände, der Analphabetismus, Aggression, Perspektivlosigkeit und Unproduktivität. Die Unterscheidung von zwei Kulturen in der gegenwärtigen Welt – der Kultur des Konsums und der Kultur der Armut, ersetze die jahrzehntelange Konfrontation zwischen West und Ost. Hier, zwischen Reich und Arm, zwischen Nord und Süd, verläuft heute die wahre Grenze: »Die Gesellschaften unserer Welt leben in zwei unterschiedlichen Kulturen: in der des Konsumismus – also in Luxus, Wohlstand und Überfluß – und/oder in der Kultur der Armut, das heißt des Mangels an allem, der Angst vor dem Morgen, des knurrenden Magens, der fehlenden Chancen und Perspektiven. Die Grenze zwischen diesen beiden Kulturen, die deutlich sichtbar wird, wenn man durch die Welt reist, ist gekennzeichnet von Konflikten, Abneigung, Feindschaft. Es ist die wichtigste und tragischste Grenze, die heute unsere Erde teilt.« (WN, 307)22

Kapus´cin´ski schreibt bewegend über die tragische Inkongruenz der Welt der Armen und der Satten sowie über die Unmöglichkeit, eigene Erfahrung zu vermitteln. Indem er die Frage der Abstumpfung des Gewissens aufwirft, kommt er zu dem Schluss, dass die entwickelte Welt das Problem der Armut wegschiebt, um weiter ruhig und ungestört konsumieren zu können. Die Medien schläfern ih21 Bauman, Zygmunt: O tarapatach toz˙samos´ci w ciasnym s´wiecie. In: ER(R)GO. Teoria – Literatura – Kultura Nr. 1 (6), 2003, S. 9–25, hier S. 15. 22 An anderer Stelle unterscheidet Kapus´cin´ski zwei Typen vom Menschen in der heutigen Welt: den homo informaticus und den armen Schlucker, the poor man (WN, 64).

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rerseits die Gewissen ein, indem sie »die Gewalt zum Spektakel« machen (WN, 173). Im Kontext der Problematik des Gewissens betrachtet Kapus´cin´ski diesen Mechanismus der Verdrängung als eine fundamentale Krise, eine metaphysische Schuld im Sinne von Karl Jaspers oder ein Versagen »im Hinblick auf die Solidarität mit den anderen« (WN, 173). Zur Veranschaulichung dieser Diskrepanz teilt er seine Erfahrung aus dem Jahr 1993, als er sich an einem Tag gleich nach dem Besuch eines Grenzraums zwischen Sudan und Äthiopien in Rom einfand. Der Anblick der ausgehungerten Flüchtlinge an der Grenze wird mit der abendlichen Straße in Rom zusammengestellt, die voll von lachenden, satten und fröhlichen Menschen ist: Dieser an andere unvermittelbare Gegensatz lässt ihn in Tränen ausbrechen (WN, 174).

IV.

Fazit

Die gegenwärtige Welt in der globalen Dimension zu betrachten – Kapus´cin´ski benutzt häufig das Wort »planetarisch« – ist nicht nur ein modisches Paradigma, das heutzutage nahezu ›trendopportunistisch‹ nachgeahmt wird.23 In seiner Auffassung ist es eine unentbehrliche Perspektive, um die Umwandlungen und die Situation des Menschen in der modernen multikulturellen Welt zu verstehen. Indem sich der Autor auf die Philosophie des Dialogs, die anthropologische Beobachtung von Bronisław Malinowski24 und das Konzept des sozialen Austausches von Georg Simmel und Marcel Mauss beruft, postuliert er Offenheit und Freundlichkeit als die angemessenste Haltung gegenüber der Alterität und der Fremde. Er will die Grenzen hin zu einer friedlichen Koexistenz der Kulturen überschreiten, bemerkt jedoch immerwährende Bedrohungen: das Stammesdenken, mentale Provinzionalität, Feindseligkeit, Nationalismus, das Verschließen in eigenen Ethnosphären. Als eine besonders gefährliche Tendenz in der sog. entwickelten Welt sieht er das Abschirmen durch den Mauerbau und das Ignorieren der Armut an. Seine transgressive Erkenntnishaltung bleibt eine Seltenheit und ein Wunschdenken, was dem Autor bewusst ist.

23 Gänger, Stephanie/Osterhammel, Jürgen: Denkpause für Globalgeschichte. Merkur 885 (2020). (Zugriff am 5. 04. 2022). 24 Hierzu vgl. Die Begegnung mit dem Anderen als Herausforderung des 21. Jahrhunderts. In: Kapus´cin´ski, Der Andere. 2008, S. 77–96.

Jerzy Kała˛z˙ny (Poznan´)

Die ehemalige innerdeutsche Grenze als Gegenstand reisejournalistischer Darstellungen

I.

Zur Einleitung: die Hochkonjunktur der Reiseberichte

Die Reiseberichte über Deutschland erlebten in den Jahren nach der Wiedervereinigung eine Hochkonjunktur. Diese Entwicklung widerspricht der Ende 1980er Jahre formulierten These, der Reisebericht als literarische Gattung habe ausgedient und den Informationsmonopol an andere Medien, vor allem das Fernsehen, abgegeben. Eine intensive philologische und historiographische Forschung zum Thema sei – so Urheber dieser These Peter J. Brenner – »ein deutliches Indiz dafür, daß der Reisebericht zu einer abgestorbenen Kunstform geworden ist, welche die originären Erfahrungen der zivilisatorischen Gegenwart nicht mehr zu verarbeiten vermag.«1 In den Jahren 1990–2010 sind mehr als 30 Texte erschienen, in denen von Deutschlandreisen berichtet wurde.2 Sie repräsentieren verschiedene epische Formen, sowohl fiktionale als auch nichtfiktionale (Reportage, Tagebuch, Essay, Roman), deren Autoren auf verschiedene Art und Weise das vereinigte Deutschland erwanderten, erkundeten und narrativ darstellten.3 Die »Klassiker« des Reiseberichts wie Wolfgang Büscher oder Roger Willemsen und Romanautor*innen (u. a. Christian Kracht, Irina Liebmann und Wolfgang Herrndorf), die in ihren Texten Deutschland als Reiseziel thematisieren stellen dabei die Frage, was das überhaupt bedeutet Deutschsein. Dadurch nehmen sie an der Debatte um die deutsche Identität teil: »In den Reisetexten der Nachwendezeit ist 1 Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer 1990, S. 665f. (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Sonderheft, Bd. 2). 2 Vgl. die Bibliographie in: Literarische Deutschlandreisen nach 1989. Berlin. Hrsg. von Leslie Brückner/Christopher Meid/Christine Rühling. Berlin: De Gruyter 2014, S. 255f. 3 Die Reiseberichte – so Barbara Korte – »schildern eine Reise in ihrem Verlauf und stellen somit Erzähltexte dar«, die sich in der Anwendung narrativer Strategien und Fiktionalisierung des Reiseerlebnisses von den fiktionalen Texten nicht unterscheiden (vgl. Korte, Barbara: Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt: WBG 1996, S. 1, 16).

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Deutschland den Autorinnen und Autoren dabei als Problem aufgegeben. Die Reisen finden im Modus der Suche, der Frage nach Kultur und Identität statt.«4 Man kann auch sagen, dass »[d]ie Reisen sich selbst als Suche nach dem Selbst [inszenieren]«.5 Die Autor*innen wenden in ihren Versuchen, das Land wiederzuentdecken oder erst einmal zu entdecken und zu beschreiben, verschiedene Strategien an. Wolfgang Büscher kartographiert Deutschland, indem er eine Fußreise an seiner Außengrenze unternimmt, eine Gruppe von Autoren, wie u. a. Landolf Scherzer, Dieter Kreutzkamp und Fred Sellin erwandern die ehemalige innerdeutsche Grenze, westdeutsche Autoren, wie Ralf Giordano und Roger Willemsen begeben sich auf Entdeckungsreisen in die neuen Bundesländer, die sie ausführlich beschreiben. Andere, wie die in Berlin lebenden Schriftsteller Wladimir Kaminer und Moritz von Uslar, erkunden die ostdeutsche Provinz und versuchen das den Großstädtern exotische Inland irgendwie verständlich zu machen. Hauptsächlich sind diese Deutschlandreisen für die westdeutschen Autoren Entdeckungsreisen in ein »anderes Deutschland«, auf denen sie versuchen, weiße Flecken auf eigenen mentalen Landkarten zu beseitigen. Die ostdeutschen Autoren hingegen entdecken ihre unbekannte Heimat; ein wichtiges Motiv ist in ihren Reisetexten die Identitätssuche, nicht zuletzt durch die Wiederentdeckung eigener Kindheit.6 Unabhängig von der Vielfalt der Reisemotivationen und der Formen ihrer Verwirklichung ist der Aufenthalt »vor Ort« nach wie vor unerlässlich, wenn man sich an den Gegenstand der Darstellung annähern will. Die wortwörtlich verstandene Annäherung erfolgt auffallend oft zu Fuß. Die Wiederbelebung der traditionsreichen Fußwanderung als Reiseform kann als eine Reaktion auf Massentourismus und die Oberflächlichkeit der kommerziellen Erschließung fremder Räume interpretiert werden. Gehen verspricht durch die Entschleunigung der Bewegung und eine aufmerksame (Selbst-)Beobachtung authentisches Erlebnis und tiefe Einsicht, die den Nutzern von konfektionierten Reiseformen unzugänglich ist. Mit der hohen Produktion der Reiseprosa ging in den ersten Jahrzehnten nach 1989/90 eine intensive literaturwissenschaftliche Forschung einher, die sich sowohl mit dem Einfluss der Globalisierungsprozesse auf die Fremde, ihre Wahr-

4 Einleitung der Herausgeber: Literarische Deutschlandreisen nach 1989. In: Brückner/Meid/ Rühling, Literarische Deutschlandreisen. 2014, S. 1–11, hier S. 3. 5 Schaefers, Stephanie: Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Münster: Westfälische Wilhelms-Universität 2010, S. 266 (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster). 6 Vgl. Rusch, Claudia: Aufbau Ost: Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau. Frankfurt/ Main: S. Fischer 2009.

Die ehemalige innerdeutsche Grenze in reisejournalistischen Darstellungen

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nehmung und das Reisen, als auch mit den Begriffen »Reiseliteratur« und »Reisebericht« beschäftigte.7

II.

»Grenzen haben Konjunktur«8

Diese Feststellung gilt sowohl für die Grenzforschung, die in den 1990er Jahren einen neuen Schwung bekam und mehrere Arbeiten zu dem Komplex von Räumen, Regionen und ihren Grenzen sowie eine Reaktivierung der geopolitischen Betrachtungsweise hervorbrachte, als auch für den Reisebericht, in dem Grenzen und Grenzräume zu populären Reisezielen und Objekten der Beschreibung geworden sind. Die Frage, was die in den Reisetexten dargestellte ehemalige innerdeutsche Grenze eigentlich ist, wie sie von den Autoren wahrgenommen und narrativ vermittelt wird, ist die Frage nach der Semantik der Grenze, die als solche ein nach wie vor aktuelles Forschungsproblem darstellt: »Grenzen gehören offensichtlich zu den Konstanten menschlichen Denkens und Handelns. In allen Bereichen jedoch nach einem gemeinsamen Bedeutungskern, nach der Semantik der Grenze zu fragen, stellt ein schwieriges Unterfangen dar, weil Grenzen zwar zur Identitätsbildung konstitutiv beitragen, sich selbst aber einer positiven Bestimmung entziehen.«9

Die Feststellung, dass Grenzen »komplexe Konstruktionen« seien, »die einer variablen Konsistenz unterliegen«10, nimmt sich zwar im Kontext der real existierenden Grenzanlagen wie eine Binsenwahrheit aus, dennoch aber ist die Konstruktivität der Grenze wohl auch als eine Eigenschaft ihrer Bilder zu verstehen, die in den Köpfen der Autor*innen entstehen und an die Leser*innen vermittelt werden. »Literarische Darstellungen der Grenze sind nicht einfach Abbildungen einer anderweitig bereits abgesteckten Realität, – so der Literaturwissenschaftler Dieter Lamping – sondern eigene Konstruktionen des Rau-

7 Vgl. bibliografische Hinweise zur einschlägigen Forschungsliteratur in: Schaefers, Unterwegs. 2010, S. 12f. Vgl. eine der neusten Publikationen zur Reiseliteratur: Pastuszka, Anna: Die Reise nach Ost- und Ostmitteleuropa in der Reiseprosa von Wolfgang Büscher und KarlMarkus Gauß. Berlin u. a.: Peter Lang 2019. 8 Zu der neueren Grenzforschung siehe François, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard: Einleitung. Grenzen und Grenzräume: Erfahrungen und Konstruktionen. In: Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. von dies. Frankfurt/Main: Campus 2007, S. 7–29, hier S. 7. 9 Kleinschmidt, Christoph: Semantik der Grenze. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 63, 2014, Nr. 4–5, S. 3–8, hier S. 3. 10 Ebd., S. 3.

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mes und somit Teil einer ›imaginativen Geographie‹«.11 Grenzen sind Konstrukte von beschränkter, historisch variabler Beständigkeit, so wie auch ihre kulturelle Relevanz, die man ihnen zuschreibt: »Grenzen manifestieren sich demnach als konkrete Gebilde oder Handlungen, die auf einer gemeinschaftlichen Übereinkunft beruhen. Ändert sich diese jedoch, und zwar dadurch, dass sie nicht mehr kontrolliert und praktiziert wird, verlieren auch die Erscheinungsformen ihre limitierende Funktion. Die Zuschreibung als Grenze erlischt.«12

Die innerdeutsche Grenze als politisches Konstrukt existiert seit langem nicht mehr. Hat sie aber als wie auch immer verstandene Trennungslinie ausgedient und ihre limitierende Funktion verloren? Der Begriff »Grenze« impliziert eine eindeutige, lineare Grenzziehung und Existenz einer nationalstaatlichen Territorialgrenze im Sinne von border. Einen anderen Grenztyp stellt der Grenzraum dar, den Lucien Febvre in Anknüpfung an Friedrich Ratzel und in Bezug auf die deutsch-französische Grenze auf dem Rhein als zwischenstaatliche kulturhistorische Kontaktzone verstand.13 Die Zuschreibung der ehemaligen innerdeutschen Grenze zum ersten Typ braucht wohl keine Erklärung. Im Hinblick aber auf die weitere (Nicht-)Existenz von Überresten der Grenzanlagen stellt sich die Frage, wie sie von den sie erwandernden und beschreibenden Autoren wahrgenommen, imaginiert und narrativ dargestellt werden: als eine zunehmend verschwindende Linie, die kaum noch in der Landschaft sichtbar ist und sich auch im Gedächtnis verwischt? Oder erscheint sie eher als eine Zone, in der das einst Eigene dem einst Fremden begegnet und so ein Forschungsfeld bildet, auf dem Dynamik dieser Begegnung und Interaktionen zwischen west- und ostdeutschen Bevölkerungsteilen untersucht werden können? Das sind einige Fragen, die im Folgenden ausgewählten Reisetexten gestellt werden, in denen die ehemalige innerdeutsche Grenze konzeptualisiert und beschrieben wurde.

11 Lamping, Dieter: Über Grenzen: eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. S. 17f. 12 Kleinschmidt, Semantik. 2014, S. 4. 13 Zu den Begriffen »Grenze« und »Grenzraum« im europäischen Kontext vgl. François/Seifarth/Struck, Einleitung. 2007, S. 7–29, hier Abschnitt IV: Begriffe: Grenze – granica – frontière – Grenzraum, S. 18–20.

Die ehemalige innerdeutsche Grenze in reisejournalistischen Darstellungen

III.

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Die ehemalige deutsch-deutsche Grenze in Vorstellung und Darstellung

Das ehemalige innerdeutsche Grenzgebiet mit der Mauer als einer »universale[n] Befreiungs- und Unterdrückungsmetapher«14 wurde in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung zum touristischen Reiseziel und Objekt einer durch die touristische Branche vollzogenen Umdeutung. Aus dem Sperrgebiet, das man unter Todesgefahr nicht betreten durfte, ist ein für die Naturliebhaber und ökologisch interessierten Wandertouristen attraktiver Landschaftsraum mit dem sprechenden Namen »Grünes Band« geworden.15 Die touristische Erschließung des ehemaligen innerdeutschen Grenzraums begleitete eine Vielzahl an Publikationen zur deutsch-deutschen Geschichte, die insbesondere zu den 2009 und 2011 offiziell begangenen Jahrestagen des Mauerbaus und Mauerfalls erschienen sind. Darunter gab es auch zahlreiche Berichte von den entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze unternommenen Reisen. Sie führten in der Regel von dem ehemaligen tschechoslowakisch-westdeutsch-ostdeutschen Dreiländereck bei Hof, durch Thüringen, den Harz und der Elbe entlang bis an die Ostsee. Ihre Autoren betrachteten die vielfältige Naturlandschaft, stießen auf Spuren der größtenteils abgerissenen Grenzanlagen, kamen in Berührung mit regionalen Kulturen und lernten den nachwendezeitlichen Alltag kennen. Sie bewegten sich »im Spannungsfeld von Lust- und Studienwanderung, von antimoderner Protestbewegung und kommerzialisiertem Wandertourismus.«16 Die zwischen 2005 und 2010 von Landolf Scherzer, Dieter Kreutzkamp, Andreas Kieling und Fred Sellin unternommenen Deutschlandreisen können als Reisen in die »eigene Fremde« bezeichnet werden, auf denen die heimatliche Wirklichkeit immer wieder durch »innerdeutsche Grenzen« und »Fremdheitsbarrieren« bestimmt wurde.17 Diese Grenzen sind auch metaphorisch zu verstehen als Trennungslinien zwischen der eigenen Vergangenheit und der Ge14 Detjen, Marion: Die Mauer als politische Metapher. In: Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung. Hrsg. von Klaus-Dietmar Henke. München: Dt. Taschenbuch-Verl. 2011, S. 426– 439, hier S. 427. 15 Vgl. die von Cornelius Reiner und dem BUND herausgegebene siebenbändige Reihe »Vom Todesstreifen zur Lebenslinie«. Niederaula 2009–2012, die als ein Natur- und Kulturführer vor allem für die Wandertouristen konzipiert wurde. 16 Fromholzer, Franz: Reisen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Von der DDRReportage zum Wandergenussbericht. In: Brückner/Meid/Rühling, Literarische Deutschlandreisen. 2014, S. 132–163, hier S. 133. 17 Pinkert, Ernst-Ullrich: »Fremdlinge im eigenen Haus«. Anmerkungen zu Fremdheitserfahrungen ostdeutscher Schriftsteller nach der Wende. In: Blickwinkel. Kulturelle Optik und interkulturelle Gegenstandskonstitution. Akten des III. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik. Hrsg. von Alois Wierlacher/Georg Stötzel. Düsseldorf 1994. München: iudicium 1996, S. 723 (Publikationen der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik, Bd. 5).

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genwart, die west- und ostdeutsche Autor*innen auf ihren Deutschlandreisen erzählerisch durchreisten.18

Landolf Scherzer: Der Grenz-Gänger (2005) Der 1941 in Dresden geborene Landolf Scherzer wurde journalistisch und schriftstellerisch in der DDR sozialisiert. Sein 2005 veröffentlichtes und mehrfach neu aufgelegtes Reisebuch Der Grenz-Gänger, das eine Reise entlang dem südlichen Teil der ehemaligen innerdeutschen Grenze in Bayern, Hessen und Thüringen dokumentiert, stellt zugleich Scherzers Verbundenheit zur Tradition der DDR-Reportage unter Beweis.19 Für den Autor, der in Thüringen beheimatet ist, war das eine Wanderung in den Gegenden, die ihm bekannt und vertraut sind. In den Vordergrund wurden nicht Orte, sondern Biografien der unterwegs getroffenen Menschen gerückt. Scherzers lange Gespräche mit den Bewohnern des ehemaligen Grenzgebietes haben die Form narrativer Interviews, die ein charakteristisches Element des in der DDR in den 1960er und 1970er Jahren praktizierten Reportagestils waren.20 Der Autor realisierte den für die dokumentarische Reportage ebenfalls typischen Anspruch von Wissenschaftlichkeit, dadurch dass er an den unterwegs besuchten Schulen präzise vorbereitete Umfragen durchführte und ihre Ergebnisse in seinem Bericht auswertete. Indem Scherzer die interviewten Personen ihre subjektiven Meinungen zu den wirtschaftlichen und sozialen Missständen im ehemaligen Grenzgebiet aussprechen ließ, reanimierte er einigermaßen einen weiteren Anspruch der ostdeutschen Literatur, die in der geschlossenen DDR-Gesellschaft die Rolle von »Ersatzöffentlichkeit« spielte. In einem Interview für »Deutschlandfunk« anlässlich der Veröffentlichung seines Reisebuches sprach Scherzer über das allmähliche Verschwinden der Grenze als einer materiellen Gegebenheit und über ihre weitere Existenz in den Köpfen der Einwohner vom ehemaligen Grenzraum: »Na ja, es [das ehemalige Grenzgebiet – J.K.] wächst zu. Man kann also den Kolonnenweg, die einstige ›Autobahn der Grenzer‹ kaum noch erkennen. Teilweise sind die Gitterplatten, auf denen die Grenzer entlangfuhren, auch schon weggeräumt, weil DDRBürger kurz nach der Wende sie brauchten, um ihre Gartenwege zu befestigen. Also die Natur hat das alles wieder geheilt, aber ansonsten ist die Grenze natürlich in Auffas18 Vgl. u. a. die Anthologie Heimatkunde. Zu Fuß und allein durch die Provinz. Hrsg. von Tobias Zick. Freiburg: Herder 2005, in der dreißig Autor*innen über die Orte und Landstriche erzählen, mi denen sich besonders stark verbunden fühlen. 19 Scherzer, Landolf: Der Grenz-Gänger. Berlin: Aufbau-Verlag 2005. 20 Zum narrativen Interview und seiner Brauchbarkeit in Bezug auf den Umbruch in Ostdeutschland vgl. Fromholzer, Reisen. 2014, S. 142.

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sungen rechts und links, in Vorurteilen, in vielen Klischees ist sie noch da, und je näher manchmal die Menschen sind, näher zusammenleben, umso entfernter sind sie, hatte ich den Eindruck.«21

Die Reiseprosa des Journalisten und Schriftstellers Landolf Scherzer kann sehr wohl mit dem von Erhard Schütz geprägten Begriff der »Reportage-Literatur« beschrieben werden. Sie wird von den Autoren mit dem journalistischen Background geschaffen, die in ihren Berichten Fakten angeben und dabei sich der literarischen Fiktion und der Subjektivität bedienen.22

Fred Sellin: Wenn der Vater mit dem Sohn. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte (2009) Der 1964 in Wittenberg geborene und in der DDR sozialisierte Journalist und Schriftsteller Fred Sellin machte seine berufliche Karriere schon im wiedervereinigten Deutschland. Sein 2009 veröffentlichter Reisebericht dokumentiert eine Wanderung entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, die der Autor zusammen mit seinem halbwüchsigen Sohn im Sommer 2008 unternahm.23 Die Grenze wurde im Buch als Grenze zwischen Vater und Sohn inszeniert, die sie auf ihrer Wanderung immer wieder durchzuschreiten versuchen. Die Vater-SohnBeziehung scheint dem Autor nicht weniger wichtig zu sein als die Reiseerfahrung, auch in die DDR-Vergangenheit und in die eigene Jugend. Schon das Titelbild visualisiert einige Kontexte der Darstellung. Beide Reisende – in uniformer Bekleidung und mit touristischer Ausrüstung – posieren zu beiden Seiten eines Grenzpfahls, der irgendwo in der »unbekannten Mitte« (so der Untertitel des Reiseberichts) die deutsch-deutsche Grenze markierte. Der sportliche Outfit der Wanderer und ihre trainierten, leistungsfähigen Körper legen Motive der Fußwanderung von Vater und Sohn nahe, die der Forscher der Reiseliteratur Peter J. Brenner auf den »Überdruß an Wohlstandsgesellschaft« zurückführt. Eine Reaktion auf Überdruss und Übersättigung sei Körperkult, der das Gehen als Gegenentwurf zum massentouristischen Reisen populär machte.24 Fred Sellin 21 Vgl. Wanderer zwischen Ost und West, Moderation Vladimir Balzer, 4. 10. 2005. (Zugriff am 04. 04. 2022). 22 Vgl. Schütz, Erhard: »Dichter der Gesellschaft«. Neuer deutscher Journalismus oder Für eine erneuerte Asphaltliteratur. In: Vom gegenwärtigen Zustand der Deutschen Literatur. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Verlag edition text + kritik 1992, S. 63–71, hier S. 64. 23 Sellin, Fred: Wenn der Vater mit dem Sohn. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte. München/Zürich: Piper 2009. Alle Zitate nach der 2. Auflage von 2010. 24 Brenner, Peter J.: Fußwanderungen durch Deutschland. Die Wiederentdeckung einer Reiseform um die Jahrtausendwende. In: Brückner/Meid/Rühling, Literarische Deutschlandreisen. 2014, S. 102–131, hier S. 107.

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und sein Sohn Robin sind – der Typologie von Brenner folgend – sowohl »AntiTouristen« als auch »Wohlstandsverweigerer«25, die aber ihre »Abenteuer des Körpers«26 auf eine eher moderate, mit der extremen Leistung etwa der Bergsteiger nicht vergleichbare Art und Weise erlebten, wie so viele Wandertouristen, die in den Nullerjahren Deutschland kreuz und quer durchwanderten: »Die Fußreisenden der Jahrtausendwende nehmen die Fußreise ideologisch wie praktisch recht entspannt. Sie alle sind sich dessen bewusst – und hierin ähneln sie den Touristen –, dass sie Aussteiger auf Zeit sind, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt wieder in die Wonnen der Gemütlichkeit zurückkehren können.«27

Die sachlich-nüchterne Komposition des Reisebuches von Sellin (im Inhaltsverzeichnis werden jeweils nur Tagesdatum und Zielort der Wanderung genannt) soll den Eindruck von Dokumentarliteratur erwecken, in der Fakten und nicht ihre Darbietungsform vordergründig sind. Der Autor beschreibt zwar Überreste von Grenzanlagen, verfallene Klosterbauten, Burgruinen, menschenleere Orte und romantisch idyllische Landstriche, aber diese Beschreibungen sind zu einem erheblichen Teil seine eigenen Raumvorstellungen und Raumkonstruktionen in einer leicht schauerromantischen Verkleidung, wie etwa im folgenden Zitat: »Vor uns die Schlucht grau schimmernder Häuser. Sie sehen aus wie Grabsteine, die zu groß geraten sind.«28 Aber nicht um die (fragwürdige) Schönheit der Landschaft geht es dem Autor vordergründig. Auch Begegnungen mit den Einheimischen, den oft skurrilen Gestalten, verstärken den Eindruck, dass Wanderer ab und zu in ein märchenhaftes Niemandsland abtauchen: »Kaum haben wir das Grundstück betreten, schiebt sich eine hagere Gestalt aus dem Haus. Misstrauische, böse Blicke. Der Mann, der wahrscheinlich älter aussieht, als er ist, hat eine von diesen seltsam gemusterten weiten Baumwollhosen mit Gummizug an, die man auch an Bodybuildern sieht. Sein Gesicht ist von Falten zerfurcht. Er trägt eine Brille mit starken Gläsern. Seine Vorderzähne sind braun, zwei fehlen. […] Der Kerl ist spröde wie ein verwitterter Stein.«29

Der Mann aus dieser Beschreibung ist keine böse Märchengestalt, sondern ein hier seit jeher ansässiger Kleinbauer, der seinen heruntergekommenen Hof immer noch bewirtschaftet. Gefragt nach den Zeiten der Teilung und der Grenze, antwortet er mürrisch: »Wie soll’s gewesen sein? Auch nicht viel anders.«30 Die Zeit steht still in diesem aus der global vernetzten Welt ausgenommenen und 25 Ebd., S. 102–106: »Anti-Touristen und Wohlstandsverweigerer«. 26 Ebd., S. 107. 27 Ebd., S. 108. Im Falle von Sellin und seinem Sohn waren es sieben Wochen und 1400 Kilometer jenseits vom alltäglichen Zeitrhythmus. 28 Sellin, Wenn der Vater. 2010, S. 50. 29 Ebd., S. 137. 30 Ebd.

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etwas exotisch anmutenden Landstrich. Die Inszenierung der Begegnung mit dem Fremden basiert auf der Imagination des ehemaligen deutsch-deutschen Grenzraumes als eines Raumes der Ungleichzeitigkeit. Die Unbeweglichkeit, Passivität und Rückständigkeit der einheimischen Bevölkerung kontrastiert mit der vitalen Kraft und der Mobilität der Besucher aus einer anderen Welt. Mit diesen tristen Projektionen von Gegenwart kontrastieren Sellins Erinnerungen an seine Sozialisation in der DDR und durchaus positive Erfahrungen mit der Pionier- und FDJ-Organisation. Er erzählt darüber seinem Sohn, um ihm diese versunkene Welt näher zu bringen: »Ich versuchte es, für Robin anschaulich zu machen, er soll mich verstehen.«31 Die gemeinsame Wanderung als eine (Selbst-)Erkenntnisreise hat offensichtlich ihr Ziel erreicht. »Manchmal hatte ich das Gefühl, ich lerne meinen Sohn bei dieser Extremdauersituation erst richtig kennen. – gab der Autor in einem Interview zu. – Dabei war es seltsam, einige von meinen eigenen Charakterzügen bei ihm zu entdecken. Das war mir vorher nie so aufgefallen. […] Wir sprachen jetzt auch viel mehr miteinander«32.

Dieter Kreutzkamp: Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis nach Bayern (2009) Der 1946 in Hannover geborene Reiseschriftsteller Dieter Kreutzkamp ist – wie ihn sein Stammverlag Piper darstellt – »als Abenteurer, Autor und Fotograf eine feste Größe in der Globetrotter-Szene«33. Seit den 1970er Jahren besuchte er viele ferne Länder und Regionen der Welt, die er in mehreren Reisebüchern beschrieben hat. Das 2009 veröffentlichte Reisebuch Mitten durch Deutschland34 unterscheidet sich wesentlich von den übrigen Reisetexten, die im vorliegenden Beitrag dargestellt wurden. Kreutzkamps Reise entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze war keine »klassische« Fußwanderung, weil er einige Etappen mit einem Mountainbike und seinem VW Bus zurücklegte. Auch die 1.400 Kilometer lange Reiseroute lässt sich nicht genau rekonstruieren, was mit der langen Vorgeschichte des Buches zusammenhängt. Dieter Kreutzkamp und sein Co-Autor Rupert Heigl veröffentlichten 1996 das Reisebuch Mitten durch Deutschland, in dem sie die ehemalige deutsch-deutsche Grenze (das heutige »Grüne Band«) von der Ostsee bis zum Böhmerwald als einen Wanderweg für Radfahrer erschlossen haben. Der Text hat einen entschieden werbetouristischen Charakter, allerdings nicht ohne kritische Bemerkungen zu negativen Begleit31 32 33 34

Ebd., S. 72. Vgl. Sellin, Fred: Reiseziel Sohn. (Zugriff am 07. 04. 2022). Vgl. Über Dieter Kreutzkamp. (Zugriff am 07. 04. 2022). Kreutzkamp, Dieter: Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis nach Bayern. Unter Mitarbeit von Rupert Heigl. 2. Aufl. München: Malik 2009.

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erscheinungen des Wiedervereinigungsprozesses. Im Reisebericht von 2009 kommt die sprachliche Gestaltung des Textes stärker zum Vorschein als im sachlich gehaltenen Bericht von 1996. Im Zentrum des Interesses des Autors stehen touristische Qualitäten des ehemaligen Grenzraumes, wohingegen seine gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme eher sprachspielerisch untertrieben werden: »Kreutzkamps Reisebericht vermischt durch suggestive, mehrdeutige Sprachspiele touristische Werbung für die ehemalige Grenzregion mit einer Trivialisierung der Wiedervereinigungsprozesse, die nicht davor zurückschreckt, komplexe Vorgänge auf leichtfertige Pointen zu reduzieren.«35

Die romantische Naturidylle à la Wilhelm Müller und Franz Schubert, mit einer Linde und dem »Brunnen vor dem Tore«, wird ironisch durch die historische Erinnerung an die Mauer und das tödliche Sperrgebiet gebrochen. Nach einem Besuch im Grenzmuseum Schiffersgrund und der Besichtigung einer Agentenschleuse in der Grenzanlage macht der Wanderer noch einen Abstecher in die Märchenwelt der Gebrüder Grimm, nämlich zum »Frau-Holle-Teich«: »Kreutzkamps Reise versteht sich zum einen nicht nur geographisch als eine Reise »Mitten durch Deutschland« – urteilt Fromholzer –, sein Bericht arbeitet geradezu plakativ mit Versatzstücken deutscher Kultur und Geschichte, die unmittelbar an stark emotional besetzte Begriffe wie Heimat, Kindheit und Gemeinschaft anknüpfen.«36

Dieter Kreutzkamp betrachtet die unterwegs aufgefundenen Überbleibsel der materiellen Kultur der DDR mit dem Auge des »Westlers« und zugleich mit dem während der Reisen in weit entlegene Weltregionen geübten »touristischen Auge«, welches auf das Besondere, Fremde und Exotische in dem bereisten Raum fokussiert. Die für die materielle Kultur der DDR ikonischen Trabbis nennt er mit wohlwollender Ironie putzige (»knuffige«) »kleine Stinker«37 und belustigt dechiffriert er die im Slang der DDR-Grenzsoldaten benutzten Abkürzungen.38

Andreas Kieling: Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat (2009/2011) Der 1959 in Gotha geborene Andreas Kieling ist Dokumentarfilmer, Regisseur und Autor von zahlreichen Reisebüchern über Natur, Tierwelt und persönlich erlebte Abenteuer. Als Teenager aus der DDR geflohen, begann er 1991, nach 35 36 37 38

Vgl. kritisch zum Narrativ von Kreutzkamp in: Fromholzer, Reisen. 2014, S. 137. Ebd., S. 136. Kreutzkamp, Mitten. 2009, S. 29. Die rätselhafte Abkürzung RVG bedeute in diesem Slang eine »Rauhfutter verzehrende Großvieheinheit«, also eine Kuh. Vgl. Kreutzkamp, Mitten. 2009, S. 37.

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abwechslungsreichen Jahren als Matrose, Forstjäger und Forstberater, seine Karriere als Filmemacher. In den folgenden Jahren drehte er weltweit mehrere Dokumentationen, u. a. im Auftrag der Fernsehsender ARD und ZDF. 2009 wanderte er entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze und drehte für die Sender Arte und ZDF einen fünfteiligen Film u. d. T. »Mitten im wilden Deutschland«, der die Verwandlung des einstigen Sperrgebiets in ein touristisch attraktives Naturgebiet dokumentierte und Werbung für das sog. »Grüne Band« machte. Auf Grund dieser Dokumentation ist in Zusammenarbeit mit der CoAutorin Sabine Wünsch ein Reisebericht entstanden, der 2011 u. d. T. »Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat« erschienen ist. Es hielt sich fast sechs Monate in der »Spiegel«-Bestsellerliste und erlebte mehrere Auflagen. Im Zentrum der Darstellung steht wilde Natur, die in den einzelnen Kapiteln ausführlich beschrieben wurde. Der Frankenwald, der Thüringer Wald, der Harz, die Elbe und die Ostseeküste sind einige Naturlandschaften und große Naturschutzgebiete, die Andreas Kieling auf seiner Wanderschaft durchquerte. Auch deutsche Kultur, deutsche Mythen und Sagen kamen dabei zu ihrem Recht, wie z. B. in dem Kapitel »Vom Harz Richtung Elbe«: »Kein anderes Gebirge Deutschlands ist so geheimnisumwittert, mystisch, sagenbehaftet wie der Harz, wo auf dem Brocken bei Wernigerode das Brockengespenst sein Unwesen treibt und Hexen alljährlich die Walpurgisnacht begehen, ein Schauspiel, zu dem einst Mephisto mit Doktor Faust wanderte.«39

Bezeichnenderweise sucht der Autor eine wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung der Hexensagen und für das Gespenst auf dem Brocken, bringt eine Reminiszenz an seine kindliche Faszination für die sagenumwobene Gegend und berichtet anschließend über die Entwicklung des Tourismus in der Region und über die sich daraus ergebenden Spannungen, die das Zusammenwachsen von Ost und West etwas problematisch sehen lassen.40 Der Abschnitt »Die innerdeutsche Grenze« ist die einzige Stelle, in der die Mauer in ihrer Materialität präsentiert wurde, mit technischen Details und dem historischen Hintergrund ihrer Errichtung.41 Kielings Tour und ihre farbenreiche Beschreibung ist durch einen autobiografischen Exkurs unterbrochen, der die Form der Kurzerzählung hat. Der Autor erzählt in drei Abschnitten über seine Kindheit und frühe Jugend in der DDR, über unglückliche Familienverhältnisse und über die Flucht in den Westen. Der Erzählung über die glückliche Kindheit (»Die frühe DDR war für mich kein 39 Kieling, Andreas: Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. München: Malik 2011 (National geograhic adventure press). Alle Zitate aus der Ausgabe von 2013, hier S. 170. 40 Ebd., S. 170f. 41 Ebd., S. 34–37.

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schlechtes Land, wir waren glücklich als Kinder – das muss man ganz klar sagen.«42), die Sozialisation in der DDR und eine gewisse Akzeptanz des Systems auch in der Elterngeneration liegt die Absicht zugrunde, die Westdeutschen über die ihnen kaum bekannte ostdeutsche Wirklichkeit aufzuklären: »Aus all solchen Dingen erwuchs der gelernte DDR-Bürger oder – wie es hieß – der ›sozialistische Mensch‹. Das muss man wissen, wenn man aus der BRD kommt, wo man mit Augsburger Puppenkiste, ›Sesamstraße‹ und ›Beatclub‹ groß geworden ist, in denen es um ganz andere Dinge ging.«43

Die Beschreibung der Flucht aus der DDR über die tschechoslowakisch-österreichische Grenze wurde als eine spannende Abenteuergeschichte gestaltet, die den Leser an dem dramatischen Geschehen emotional teilnehmen und dem jungen Flüchtling kiebitzen lässt. Der Exkurs eröffnet vor den Lesern des ansonsten auf touristische Erschließung des erwanderten Raumes ausgerichteten Reiseberichts eine Erinnerungsdimension, in der manche Einwohner ihre eigenen Erfahrungen und Erinnerungen wiedererkennen können: »Auf der Wanderung stiegen die Erinnerungen an jene Jahre und meine Jugend sowie die Gefühle von damals besonders intensiv in mir hoch. Vermutlich weil ich gerade entlang dem Grünen Band vielen Menschen mit einer ähnlichen Geschichte begegnete, Menschen, die mir von einem schlechten Elternhaus erzählten, von Drangsalierung, von Freiheitsdrang und der Erkenntnis, dass ein solches Leben nicht das richtige für sie sei.«44

IV.

Fazit

Grenzen und Räume – so die Erkenntnis der modernen Raumforschung – verschwinden nicht, sondern verändern sich nicht zuletzt unter Druck der Globalisierungsprozesse. Sie sind daher als »eine Gemengelage aus geographischem Raum, sozialem Raum, virtuellen Räumen, transnationalen Räumen, Identitätsräumen, ethnischen Räumen etc.« zu betrachten.45 Die ehemalige deutschdeutsche Grenze wurde in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung zum Gegenstand einer intensiven reisejournalistischen und reiseliterarischen Exploration. Der gewesene Grenzraum erlebte in dieser Zeit weitgehende Veränderungen, die insgesamt auf der Verwandlung der ehemaligen lebensge-

42 43 44 45

Ebd., S. 27. Ebd., S. 41. Ebd., S. 48. Kajetzke, Laura/Schroer, Markus: 6. Sozialer Raum: Verräumlichung. In: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Stephan Günzel/Franziska Kümmerling. Stuttgart [u. a.]: Metzler 2010, S. 192–203, hier S. 195.

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fährlichen Sperrzone in das umweltfreundliche und wandertouristisch attraktive »Grüne Band« beruhten. Die im Beitrag präsentierten Reiseberichte vertreten die »Reportage-Literatur« im Sinne von Erhard Schütz, die erzähltheoretisch zwischen Journalismus und fiktionaler Literatur zu verorten ist. Ihre Autoren – erfahrene Journalisten, Schriftsteller und Dokumentarfilmer – erschließen den ehemaligen innerdeutschen Grenzraum auf ihre individuelle Art und Weise: als einen touristischen Raum, in dem man Erlebnistourismus im heimatlichen und ökologischen Format praktizieren kann, als einen Identitätsraum, in den man sich auf der Suche nach dem eigenen Selbst begibt und nicht zuletzt als heimatliche Fremde, die man auf »Entdeckungsreisen« kennenlernt. Unabhängig von der abnehmenden Präsenz der ehemaligen innerdeutschen Grenze im kollektiven Bewusstsein der Deutschen und wie es scheint auch in der Literatur, sind manche Aspekte der narrativ dargestellten Deutschlandreisen, wie u. a. die Polarisierung von (Fuß-)Reise und (Massen-)Tourismus, auch für die gegenwärtige Reiseliteratur weiterhin relevant.

Joanna Firaza (Łódz´)

Dimensionen der Grenzüberschreitung in Ingo Schulzes »Orangen und Engel. Italienische Skizzen«

Der Begriff Grenze stellt eine kulturgeschichtliche, komplexe Kategorie dar: in erster Linie ist es ein Raumkonzept,1 er verweist aber auch über seinen materiellen Charakter hinaus auf einen metaphorisch zu verstehenden »Grenzbereich«: auf Konflikte, Reibungsflächen und Übergangszonen und erfasst so psychologische und soziologische Prozesse.2 In Ingo Schulzes Prosa sind Grenzsituationen Teil der Erfahrungswelt der Protagonisten,3 wobei es sich um geographische, um Sprach- und Zeitgrenzen, nicht zuletzt aber auch um Grenzen zwischen Lebenswirklichkeit und Traum handelt.4 In den autofiktionalen5 Texten des Bandes 1 Vgl. Kapitel zu Spatial Turn. In: Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns: nowe kierunki w naukach o kulturze. Warszawa: Oficyna naukowa 2012, S. 335–389. 2 Vgl. Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne. Hrsg. von Gerald Lamprecht/Ursula Mindler/Heidrun Zettelbauer. Bielefeld: Transcript 2012, insbes. S. 9–16; Breitenfellner, Helene/Crailsheim, Eberhard/Köstlbauer, Josef/Pfister, Eugen: Einleitung. In: Grenzen – kulturhistorische Annäherungen. Hrsg. von Helene Breitenfellner/ Eberhard Crailsheim/Josef Köstlbauer-Eugen Pfister. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 7–16; zum »erzählten Raum« vgl. Bachmann-Medick, Cultural turns. 2012, S. 371–378. Vgl. zudem: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Paweł Zimniak. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011; Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzauflösungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Edgar Platen/Martin Todtenhaupt. München: Iudicium 2004; Buchwald, Veronika: Nicht anders als anderswo: Die Reisen in den europäischen Osten in der deutschsprachigen Literatur nach 1989/90. Diss. Humboldt-Universität Berlin 2011. https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/17606/b uchwald-thomsa.pdf ?…1 (Zugriff am 16. 02. 2022). 3 So profilierte Texte befassen sich mit Ingo Schulzes literarischem Bild Russlands, Ungarns, sowie des ehemaligen Ostdeutschland bzw. dem Spannungsbereich Ost/West. Vgl. hierzu: Dideriksen, Anne-Sofie: Grenzauflösung zwischen Provinz und Welt bei Ingo Schulze. In: Platen/Todtenhaupt (Hrsg.): Grenzen, Grenzüberschreitungen. 2004, S. 34–44; Ebert, Dietmar: Grenzerfahrungen. In: Ingo Schulze. Text + Kritik, 193, 2012, S. 76–87. Vgl. auch Buchwald, Nicht anders als anderswo. 2011. 4 Den neun Erzählungen des Bandes »Orangen und Engel« stellt der Autor folgendes Motto voran, das gleichsam mehrere Grenzbereiche signalisiert: »Wie hat sich doch jeder Reiz der Fiktion verloren! dachte ich dann voller Melancholie. Und wie hat sich alle Lust zu sinnhaftem Spiel verloren … scheinbar.« (Wolfgang Hilbig). Vgl. zudem Stolz, Dieter: ›Ich begriff, dass es

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»Orangen und Engel«6 lernt der Leser die Welt aus der Perspektive eines RomVilla-Massimo-Stipendiaten kennen. Der Text schreibt sich also in die deutsche Tradition der literarisierten Italienreise, eine Erfahrung, die sich in der Ewigen Stadt aufgrund der Weite und Datenfülle der Außenwelt verdichtet und eine eigenartige Überforderung darstellt, die Goethe oder Nietzsche an ihre Grenzen brachte.7 Und Sigmund Freud erlebte die Stadt als einen Ort, der einen mit dem eigenen Ich konfrontiert und der ein Gleichnis des Seelenlebens sei, in dem nichts untergehen könne.8 Auch der Erzähler Ingo Schulzes erlebt den ›Raum‹ intensiv, es ist gleichsam eine Grenzerfahrung, wofür die den Erzählungen vorangestellte, zweiseitige groteske Prosaskizze »Die Füsse« emblematisch steht.9

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keine veralteten oder obsoleten Erzähltechniken gab‹. Zur Poetik des Schriftstellers Ingo Schulze, eine exemplarische Skizze. In: Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Hrsg. von Carsten Rohde/Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 259–277, S. 265. Dies ist für den Autor nicht ungewöhnlich. Vgl. Böttiger, Helmut: Der Ich-Jongleur: Ingo Schulzes Versteckspiele. In: Text & Kritik 193, 2012, S. 19–26, S. 25; Stockinger, Claudia: ›Mit Leichtigkeit und Raffinesse.‹ Ingo Schulzes poetisches Verfahren. In: Text & Kritik 193, 2012, S. 27–37, S. 29f. Schulze, Ingo: Orangen und Engel. Italienische Skizzen. Mit Farbfotografien von Matthias Hoch. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2012 (zuerst: Berlin: Berlin Verlag 2010). Weiter im Fließtext sowie in den Anmerkungen mit Seitenzahl in Klammern zitiert. »Goethe war das klassische Beispiel für die Mühen, die sich ein überforderter, von der Stadt immer in Schach gehaltener Deutscher mit dem Süden machte, ja er war das Zeugnis für den Zusammenprall zweier sehr verschiedener Kulturen.« Ortheil, Hanns-Josef: Die Geheimnisse des Herrn von Goethe in Rom. Zur Entstehung des Romans »Faustinas Küsse«. In: Herholz, Gerd (Hrsg.): Experiment Wirklichkeit. Essen: Klartext 1998, S. 18–34, S. 18. Vgl. Firaza, Joanna: Vom Fenster der Villa Massimo aus: Rom mit den Augen Hanns-Josef Ortheils. In: Et in Arcadia Ego. Rom als Erinnerungsort in europäischen Kulturen. Hrsg. von Joanna Jabłkowska/Karolina Sidowska. Berlin: Peter Lang 2020, S. 211–227, insbes. S. 212–214, 217– 220. Vgl. zudem Eickmeyer, Jost: Rom, der ewige Text. Versuch über die Einflussangst in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit. In: Die verewigte Stadt. Rom in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Hrsg. von Ralf Georg Czapla/Anna Fattori. Bern: Lang 2008, S. 87–126. Rom sei, so Friedrich Nietzsche 1882, nichts für ihn, da er auf all das, was die Stadt anbiete, zu wenig vorbereitet sei. Zit. nach: Ortheil, Hanns-Josef: Rom, Villa Massimo. Roman einer Institution. München: LangenMüller 2015, S. 49. Vgl. Egger, Irmgard: Italienische Reisen. Wahrnehmung und Literarisierung von Goethe bis Brinkmann. München: Fink 2006, S. 119–122, S. 121. Für Anna Chiarloni sei die Erzählung emblematisch für Schulzes Prosa überhaupt. Chiarloni, Anna: Menschlichkeit und Misere. Ingo Schulzes »Italienische Skizzen«. In: Ingo Schulze. Text & Kritik 193, 2012, S. 88–92, S. 88f.

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I.

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Schock der Sterblichkeit

Thematisiert wird in »Füsse« ein traumatisches Erlebnis des Onkels F., der während des Zweiten Weltkrieges aufgrund einer Verletzung an beiden Füssen in ein Lazarett in Ferrara geriet. Seine Kriegserinnerung ist auf die ängstigenden Leichenfüße geschrumpft, die einzig unbedeckten Körperpartien einer aufgebahrten Leiche, die er einmal im Lazarett gesehen hatte. Es schien ihm, als wollten sich die Füße »am Leben festkrallen.« (10) »Diese Leichen mit den nackten Füßen verfolgen ihn bis heute«, kommentiert der Erzähler. »›Immer diese Füße!‹, sagt er. ›Diese Füße!‹« (10) Den Erzähler befremdet diese doch so selektive Erinnerung, »weil er doch ganz anderes gesehen und erlebt hat als Leichen auf einer Lazarettbahre«.10 Die wohl durch die Verwundung bedingte Fixierung auf die Füße verstellt dem Onkel die Sicht und macht ihn immun gegen jedes Schuldund Verantwortungsgefühl. Denn die zweite Reminiszenz war die Scham des Besiegten: er fand es peinlich auf dem Rückzug durch die Sowjetunion dieselben Dörfer und Städte durchqueren zu müssen, wie auf dem Vormarsch. Die Leichenfüße stellen eine aus der religiösen Ikonographie bekannte Vorstellung des gepeinigten Körpers Jesu dar.11 In dem so evozierten Märtyrertod und dem Wunder der Erlösung und Barmherzigkeit geht wohl auch Leid wie Ignoranz des Onkels auf. In einem ganz anderen Kontext sieht der Erzähler die Füße: durch die Schuhsohlen spürt er an einem Februartag in S. Clemente »die sanften Unebenheiten des Fußbodens […], diese Tag für Tag von Tausenden von Füßen polierten Marmorplatten, diese farbigen, in geschwungene Ornamente gesetzten Steine […], die Fischgrätenmuster der römischen Ziegel… Und jedes Mal möchte ich dem Impuls nachgeben, die Schuhe auszuziehen und mich mit den nackten Füßen diesem Boden anzuschmiegen, als wäre er warm.« (10)

Der Idiosynkrasie des Onkels, dem Krieg und Tod stellt der Erzähler also sinnliches Erleben, Vitalität und Dynamik an die Seite:12 weniger als deren Pendant, als im Sinne einer Synthese. Das ihn plötzlich im Zustand des Glücks über10 Als Soldat war er am Polen-, Frankreich- und Russlandfeldzug beteiligt, absolvierte einen Lazarett-Aufenthalt in Dresden 1943 und wurde dann Meldereiter in Italien. 11 Koziołek, Ryszard: Jego prawa stopa. In: Tygodnik Powszechny v. 26. 03. 2018. Vgl. https:// www.tygodnikpowszechny.pl/jego-prawa-stopa-152513. (Zugriff am 01. 04. 2022). Vgl. Gerhard Wolf: Verehrte Füße. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hrsg. von Claudia Benthien/Christoph Wulf. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001, S. 500– 523. 12 Füße als solche sind in der Universalsymbolik u. a. ein Sinnbild für Bewegung und Erdung. Vgl. Wolf, Verehrte Füße. 2001, insbes. S. 502–504; Sorgo, Gabriele: Der bedeckte und entblößte Fuß. In: Paragrana 21 (2012), S. 144–158; Gros, Frédéric: Filozofia chodzenia. Warszawa: Czarna Owca 2015 (frz. 2009), insbes. S. 26f. Gros beruft sich hier auf Nietzsches Lob der Füße (»Zarathustra«, »Die fröhliche Wissenschaft«), denen er ihr eigenes Gehör zuschreibt.

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kommende schmerzhafte Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit nennt er ja auch den »sechsten Sinn«.13 Diese im Zeichen der Überschreitung des Todes stehende Vorstellung ist konstitutiv für die Poetik des gesamten Bandes,14 ihr verdankt sich auch das Cover. Mit anderen Worten: Schulzes Rezeptionsmodus Roms und Italiens entspricht der Ambivalenz existenzieller Problematik, die sich vordergründig durch Emblemata manifestiert. Wie bereits Klassiker gewordene »Simple Storys« (1998) zeichnen sich »Orangen und Engel« durch eine Koinzidenz von Form und Inhalt aus.15 Das Alltägliche schlägt ganz unvermittelt ins Allgemeine um, die scheinbar trivialen Geschichten werden zu Parabeln, deren Wahrheitsanspruch Schulze aber konsequent relativiert.16 So erschließt sich die »Wahrheit« in »Signor Candy Man« aus sinnreichen Emblemen. Diese Erzählung knüpft insofern an »Füsse« an, als Ingo Schulze hier Erinnerung und sinnliches Erleben aufeinandertreffen lässt und zwar in der Titelfigur selbst. Signor Candy Man ist ein älterer, kultivierter Herr, dem der Erzähler seit dem spätem Frühjahr jeden Tag nachmittags im Piccolo Parco begegnete und den die Kinder eben so nannten, weil er ihnen Jetons aus Messing zum Bonbon-Automaten schenkte. Eines Tages erwies sich der Mann überraschenderweise als des Deutschen mächtig und erzählte, offensichtlich bewegt, aus seinem Leben: die Geschichte von Liebe und verfrühtem Verlust. 1976 heiratete er Renate, der zuliebe er seinen Unterhalt in der DDR bestritt und dabei ein schlechtes Gehalt und Pendeln in Kauf nahm, da sie nicht bereit war, von der DDR »weg zu gehen«. (99) Mit 60 erkrankte Renate aber an Demenz und hat ihren Mann auf diese Weise quasi verlassen.17 Die deutsche Sprache und das Land verschmolzen für den Mann 13 Die Angst vor dem Tod überkommt den Erzähler in einer Konditorei in Neapel: »Als wäre mir plötzlich die Empfindung, sterblich zu sein, als ein neuer Sinn erwachsen, als wäre zum Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken nun endlich noch ein sechster Sinn erwacht, und als wäre erst jetzt meine Wahrnehmung vollständig.« (14) 14 »Ist nicht diese Bewegung, dieses Sich-Spannen zwischen zwei Zeitpolen der Geschichte ein Merkmal der letzten Generation ostdeutscher Autoren?« fragt und meint wohl Anna Chiarloni. Chiarloni, Menschlichkeit. 2012, S. 89. 15 An Alfred Döblin geschult, der im Dialog mit dem Stoff zum jeweils angemessenen Stil und Tonfall gefunden habe, lässt Ingo Schulze die Form aus dem Stoff hervorgehen. Schulze, Ingo: Stil als Befund. Über Alfred Döblin. In: Ders.: Was wollen wir. Essays, Reden, Skizzen. Berlin: Berlin Verlag 2009, S. 106–112, S. 106f, S. 110. 16 Schulze sieht sich von dem Willen geleitet, »die eigenen Voraussetzungen aufzudecken und somit den Gültigkeitsbereich für das Gesagte zu markieren, den eigenen Wahrheitsanspruch sofort zu relativieren«. Ingo Schulze: Lesen und Schreiben oder »Ist es nicht idiotisch, sieben oder gar acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann?« In: Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute. Hrsg. von Ute-Christine Krupp/Ulrike Kanssen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 80–100, S. 96. In seine Texte sei eine »typisch Schulzesche Unschärferelation eingebaut.« Böttiger, Der Ich-Jongleur. 2012, S. 26. 17 »Sie werden denken, ich habe meine Frau verlassen. […] Aber wissen Sie, eigentlich hat sie mich zuerst verlassen.« (101)

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schmerzhaft mit seiner Erinnerung. Und doch er ist es, der die Flexibilität repräsentiert. Mit seiner Haltung gegenüber Renate korrespondiert sein Verhalten im Park: er wechselte den Platz auf der Parkbank im Rhythmus der Sonne, immer auf der Suche nach Licht oder Schatten. In der Zeit, als der Erzähler wegen seiner verletzten Achillessehne verhindert war, sorgte Signor Candy Man selbst dafür, dass er ihn nicht vergaß. Am letzten Tag vor den Sommerferien schenkte er den Mädchen zwei Heliumluftballons: einen Dalmatiner und einen Delphin und schuf damit eine anschauliche Repräsentanz. Während der Delphin noch am selben Tag gegen den Himmel entschwand, fand sich der Dalmatiner an der Decke des hohen Ateliers des Erzählers wieder und entwickelte ein Eigenleben. (79) Der ungebetene Gast harrte in seinem Zimmer aus, so dass der Erzähler bald mit ihm wie mit einem Haustier sprach, »[d]enn er schien aufmerksam wie ein Wachhund aus dem großen Dachfenster zu blicken.« (79) Mit der Zeit schwand aber sein Körper vor den Augen des Erzählers dahin. Der Dalmatiner repräsentiert das Ephemere und Flüchtige, gleichzeitig aber das Spielerische und Vitale, eine Ambivalenz, die die Grundstimmung der ganzen Geschichte prägt und für den gesamten Erzählband gilt. So ist auch Piccolo Parco als ein pars pro toto und die Erzählung als eine bitter-süße Allegorie der Vergänglichkeit und des circulus vitiosus – mit Anspielungen auf Albrecht Dürers »Melancholia I« (1514) zu deuten. Der abwesende Blick Candy Mans findet sein Echo in der Figur bei Dürer; auf Naturwissenschaften verweisende Attribute auf der Radierung haben ihre Entsprechung im Chemiker-Beruf des alten Mannes. Weitere Parallelen in Schulzes Geschichte sind der Hund, der als besonders melancholieanfällig gilt, und zwei Mondsteinringe, die der Mann für sich und seine Frau zum Zeichen ihrer Liebe anfertigen ließ, nachdem sie erkrankte. Der edle und rare Mondstein korrespondiert mit dem strahlenden Gestirn im Hintergrund von Dürers Stich, das Sonnen-bzw. Schattenspiel im Ablauf der Tages- und Jahreszeiten – mit Dürers Sanduhr und einer Sonnenuhr-Skala. Auch in der Titelerzählung des Bandes manifestiert sich die Doppelbödigkeit der Italien-Erzählungen Schulzes; nicht weniger stark markiert sie die Demarkationslinien.

II.

Libertinage und/oder Epiphanie

Im Mittelpunkt von »Orangen und Engel« steht ein vertracktes Männer-Verhältnis. Die Zusammenhänge, die sich aus der retrospektivisch erzählten Geschichte ergeben, seien allerdings rein zeitlichen und räumlichen Charakters:

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»Ich glaube aber, dass mich das eine Erlebnis für das andere empfänglicher gemacht hat, so dass plötzlich alles eine Bedeutung erhielt, die es nüchtern betrachtet gar nicht gibt, zumindest nicht für andere.« (117)

Zweimal wird der Erzähler in Rom von Ralf, einem alten Bekannten, besucht. Zunächst war er auch für die Familie ein Segen – mit seiner hilfsbereiten und pragmatischen Art, mit seinen Fähigkeiten – er konnte »jodeln und zeichnen und Kopfstand, und er beherrschte Zaubertricks.« (118). Doch bald schwand die anfängliche Harmonie: er erwies sich als trinksüchtig und nahm »Hetären«Dienste (119) in Anspruch, weswegen der Erzähler eine Abneigung ihm gegenüber entwickelte. Der Ekel ist ein starker Affekt, der eine wichtige psychologische und soziale Funktion hat, indem es dabei hilft, sich von anderen abzugrenzen und die eigene Identität zu schützen.18 Um die Heftigkeit dieser Idiosynkrasie nachzuvollziehen – offensichtlich ging Ralf dem Erzähler an die Substanz – muss man den Kulturcodes der Erzählung nachgehen. Sie verdichten sich vor allem im Emblem der Orange. Das Motiv zeichnet sich zunächst ganz unscheinbar ab, da Ralf bei seinem zweiten Besuch in Rom im November »unmäßig« Orangen konsumierte: »Zuerst hielt ich das für eine vorübergehende Marotte; […] Aber Ralfs Appetit ließ nicht nach. Täglich schleppte er mehrere Kilogramm Orangen vom Markt heran, verteilte sie wie Werbegeschenke und stopfte sich selbst damit voll. Unentwegt und überall sah man ihn Orangen schälen, und immer schälte er sie spiralenförmig […].« (120)

Das Attribut verleiht Ralf – nebst seinen anderen Qualitäten – märchenhafte Züge und hebt die Geschichte ins Allegorische. In der Universalsymbolik repräsentiert die Orange als Frucht vor allem das Eros-Prinzip: die Lebens- und Sinnenfreude, Vitalität, Genuss und südländische Leichtigkeit; die Symbolik der Farbe hebt zudem einerseits die sinnliche, körperliche, andererseits die übersinnliche, gar göttliche Komponente hervor.19 Diese Deutung bestätigen und verdichten zwei Zitate: ein literarisches und ein ikonografisches. Ralf liest nämlich Johann Gottfried Seumes (1763–1810) »Spaziergang nach Syrakus im 18 Ekel sei ein »sozialer Mechanismus, der kulturell bedingt und pädagogisch vermittelt, sich den primitiven Brech- und Würgereflex zunutze macht, um die vorrational erworbene, soziale Basisidentität zu schützen.« Penning, Lothar: Kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels. Diss. (Fachbereich 12: Sozialwissenschaften der Johann-Gutenberg-Universität zu Mainz) 1984, S. 2. Ähnlich Julia Kristeva (Power of Horror. An Essay on Abjection. Columbia University Press: New York 1982); auf die soziale Funktion des Ekels verweist Paul Rozin (Disgust. In: Handbook of Emotions. 2000, S. 637–653, insbes. S. 649.). 19 N.N.: Orange (Frucht). https://symbolonline.de/index.php?title=Orange_(Frucht). Ingrid Riedel: Orange (Farbe). https://symbolonline.de/index.php?title=Orange_(Farbe). (Zugriff am 10. 03. 2022). Auf vielen Darstellungen wird Gelb-Rot »als Farbe der Seraphim verwendet, die der göttlichen Liebe am Nächsten stehen. Man bezeichnet es als ›flamma amoris et caritatis‹, Flamme der Liebe und der Barmherzigkeit.« Vgl. Riedel, Orange.

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Jahre 1802« (1803) – einen literarischen Klassiker, der dreizehn Jahre vor dem ersten Band von Goethes »Italienische Reise« erschien.20 Als Mann aus ärmlichen Verhältnissen war Seumes Reisebudget mit dem Goethes nicht zu vergleichen,21 so dass er sich von Orangen ernährte, worauf der Erzähler anspielt.22 Bezeichnenderweise war der Spätaufklärer, übrigens ein Vorbild für Heine und ein Langweiler für Goethe, zu Fuß unterwegs und lobte am Ende der Reise den Schuhmacher dafür, dass er kein neues Paar habe anfertigen lassen müssen.23 Als Seume von Katulls Libertinagen gelesen hatte, erlebte er selbst eine Episode mit der »jungen schönen Sünderin«, die ihre Erscheinung »mit den feinsten Hetärenkünsten berechnet zu haben schien.«24 Indem sich Ralf in Italien auf die Prostituierten einlässt, wiederholt er die Erfahrung seiner beiden Vorgänger – Katulls und Seumes. Den ikonographischen Intertext der Erzählung machen die Werke Hans von Marées’ (1837–1887) aus, der eine Reihe von Gemälden mit dem Orangen-Motiv hinterließ.25 In der Villa dei Misteri in Pompeji ist der Erzähler von den tiefsinnigen Fresken des Malers begeistert und er erkennt deren allegorischen Charakter.26 Dass die meisten seiner Werke autobiographischen, homoerotischen Hintergrund haben, erklärt vielleicht das Unbehagen des Erzählers – die Über20 Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. In: Ders.: Werke in 2 Bdn., Bd. 1. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993. Seume trat die Reise nach Italien (Dez. 1801 – August 1802) fünfzehn Jahre nach Goethe. Seine Interessen lagen im politischsozialen Bereich, weswegen er auch wie Börne oder Heine als politischer Autor behandelt wird. Er war zwar auf nüchterne und aufmerksame, aber keine systematische Beobachtung aus. Sein heterogener, sprunghafter und assoziativer Bericht ist sprachlich an der Rede orientiert, dem impliziten Leser kommt die Rolle des anteilnehmenden Freundes zu. Vgl. Moennighoff, Burghard: Wer geht, sieht viel. Johann Gottfried Seumes »Spaziergang nach Syrakus«. In: Literatur und Reise. Hrsg. von Burghard Moennighoff/Wiebke von Bernstorff/ Toni Tholen. Hildesheim: Universitätsverlag 2013, S. 32–50. 21 »Man sieht die Dinge anders, wenn man zu Fuß geht und das Geld, das man besitzt, eingenäht im Rock mit sich trägt.« Das Verhältnis war umgerechnet ungefähr 16 000 Euro zu 1800 Euro. Schulze, Ingo: Was wollen wir. Dankrede zur Verleihung des Thüringer Literaturpreises 2007 in Weimar. In: Ders.: Was wollen wir? Essays, Reden, Skizzen. Berlin: Berlin Verlag 2009, S. 242–253, S. 243, vgl. S. 252. 22 Er findet es auch tröstlich, dass Seume »sich wenigstens für ein paar Wochen an Orangen habe satt essen können.« (120) 23 Moennighoff, Wer geht, sieht viel. 2013, S. 35. 24 Ebd., S. 45. 25 Vgl. »Orangenpflückender Reiter« (1869/70), »Der Orangenpflücker« (1873), »Orangenhain« (1873, Fresco in Neapel), »Drei Jünglinge unter Orangenbäumen« (1875–1880), Triptychon »Die Hesperiden« (1884–1887), »Drei Jünglinge im Orangenhain« (1887). 26 »[J]edes einzelne Fresko hätte mir schon genügt, ja, selbst mit einem Ausschnitt, einem Detail wie der Möwe […], oder der Hand, die nach der Orange greift, wäre ich glücklich gewesen. Marées hatte etwas Alltägliches in Kunst verwandelt. […] Bei ihm war die Möwe eine Möwe und ein Bote über den Wassern. Die Orangen waren Orangen, und zugleich waren sie die Äpfel der Hesperiden und die Paradiesfrucht.« (136)

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schreitung seiner psychologischen Grenzen. Denn beim Betrachten von Marées’ Wandfries drängt sich ihm auch das Bild des Freundes auf: »[I]n allem sah ich Ralf. Nicht im Sinne einer Ähnlichkeit, auch wenn das Pergola Fresko […] etwas von meinem oder unserem Verhältnis zu Ralf beschrieb, unser Miteinander wie unsere Gegensätzlichkeit. Doch dieser Analogie hätte es nicht bedurft.« (136)

Somit verweist die Orange in der Erzählung über das Sinnliche hinaus und steht im Zeichen der Grenzüberwindung, wie bereits in der Erzählsammlung »Handy« (2007): Bei einem Picknick im Wald entdeckt das Kind in der Orangenschalle das ganze Lebenswunder: Nähe und Einheit aller Wesen, das Ausgesetztsein dem Ungeheuren und Menschlichen, der Hässlichkeit und Schönheit.27 Aber Schulzes Text legt noch eine – grundsätzlichere – Facette nahe. In dem Tanz, den Ralf in der Villa dei Misteri kurz aufführte und den er am Meer von den Prostituierten gelernt hatte, spiegeln sich seine Libertinagen – und mit ihnen die antike Tradition. Dies erst erklärt die Heftigkeit dieser beunruhigenden, widersprüchlichen Empfindung des Anziehend-Obszönen. Dieser Affekt wird dem Erzähler auch beim Besuch im Aquarium in Neapel zuteil: ein Oktopus, der sonst reglos auf den Steinen lag und Tischbeins Goethe auf dem Chaiselonque ähnelte, führte auf einmal mit großer Eleganz extra für den Erzähler – wie aus Liebe – einen Tanz aus. Die märchenhaften, hypnotischen, mit Ralfs Tanz korrespondierenden Bewegungen des Tieres verbinden Grazie und Obszönität, Hochgefühl des Glücks und Trauer – über den Abschied, über die Flüchtigkeit des Augenblicks und die unmögliche Liebe. Die ephemere Kunst des Tanzes28 steht am Scharnier zwischen dem körperlich Materiellen und der (ekstatischen) Überwindung des Irdischen und verweist auf die kosmische Ordnung29 – nicht zuletzt durch seine Eigenschaft als »synthetische Kunstform.«30 Auch Rom selbst repräsentiert diese Ambivalenzen, da es auf dem Äquator zu liegen scheint – zwischen Florenz und Neapel, zwischen zwei verschiedenen Himmeln. (122)31 Aber die Erkenntnis des zu integrierenden Facettenreichtums der Existenz wurde dem Erzähler beim Ausblick aus einem Fenster des Hotels Britannique in Neapel zuteil – bei der vista sul mare – auf den Golf, den Vesuv, auf Capri (122f): 27 Schulze, Ingo: Epiphanie am Sonntagabend. In: Ders.: Handy. Dreizehn Storys in alter Manier. Berlin: Berlin Verlag 2007, S. 171. Zu Schulzes selbstreferenziellem Erzählen vgl. Stolz, Ich begriff. 2013, S. 259–277, S. 277. 28 Müller Farguell, Roger W.: Tanz. In: Ästhetische Grundbegriffe in 7 Bdn. Bd. 6. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2010, S. 1–15, S. 1. 29 Vgl. Dietl, Cora: Tanz. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer u. Joachim Jacob. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 380–382. 30 Köhne-Kirsch, Verena: Die »schöne Kunst« des Tanzes. Phänomenologische Erörterung einer flüchtigen Kunstart. Frankfurt/M.: Peter Lang 1990, S. 9, zit. nach: Müller Farguell, Tanz. 2010, S. 1. 31 Vgl. Gramatzki, Susanne: Rom. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2008, S. 300–301.

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Im Bewusstsein der Fragwürdigkeit derartiger Generalisierungen32 stellt Ingo Schulzes Erzähler und Porte parole des Autors Folgendes fest: »Ein Blick über den Golf [von Neapel] umschließt alles, was uns ausmacht, von Vergil bis Nietzsche und Wagner, von Benjamin über Malaparte bis Saviano – Namen, die fast beliebig wirken angesichts der Fülle, aus der sie gewählt sind.« (123)

Genauso schön wie unheimlich wirkt der Anblick Tausender von Staren über Rom, die wirkten »als zeichneten sie ein Menetekel in den Himmel […] diese Tänze […], diese Metamorphosen unbeschreiblicher Gebilde, Schleiertänze, Rauchfahnen, Spiralen, in ihrer Eleganz nur vergleichbar der Bewegung von Tentakeln.« (142)

Oder eben von Ralf, dem »Orangenmann« (142), möchte man hinzufügen. Durch das Attribut des Engels, diese kitschig-niedliche Ikone Italiens, die Ralf den Kindern in Neapel schenkte und als ein Pfand hinterlassen hat,33 wird die Figur zusätzlich der Realität enthoben.34 So avancieren letztlich die Wappenbilder des Erzählbandes »Orangen und Engel« zu Figuren der Überschreitung und Entgrenzung als Ausdruck für eine Erfahrung, die sich den Worten entzieht. Eine neue Ebene der Entgrenzung ist in der Erzählung »Augusto, der Richter«35 erreicht. In der realistischen Rahmenhandlung lässt sich der Erzähler von einem arbeitslosen Rumänen namens Gustel alias Augusto aushelfen, der ihm die Einkäufe in die Villa Massimo trägt und dabei eine frappante, aber unvollendete Geschichte erzählt, ein märchenhaftes Szenario mit vielen, nicht eindeutig einzuordnenden Codes, das gleichsam die Binnengeschichte der Erzählung ist.36 Eine Kundin soll Augusto mit nach Hause in ein prächtiges Anwesen mitgenommen haben, das von außen aber den Anschein eines baufälligen Gebäudes erweckte. Es gehörte drei Schwestern – einander ähnelnden und wohlhabenden Frauen unterschiedlichen Alters, die sich bald als verschwenderisch,

32 Vgl. Schulze, Stil als Befund. 2009, S. 110. 33 Zuletzt hängt bzw. »schwebt« diese 40 Zentimeter große, barocke (Krippen)Figur im rotolivengrünen Gewand von der Decke des Kinderzimmers herunter. (115f) 34 Sammer, Marianne: Engel. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2008, S. 83–84. 35 Die Erzählung verdankt sich zum Teil den Radierungen Peter Schnürpels und ist zunächst als Einzeltext erschienen. Ingo Schulze: Augusto, der Richter – eine Erzählung. Mit der Grafikserie »Black Dancers« Peter Schnürpels. München: Prestel Verlag 2010. Die eigenständigen Zeichnungen ergänzen, so der Autor, den Text und gehen mit ihm eine gute Verbindung ein. Werbefilm des Prestel-Verlags. Regie: Julia Strysio und Stefanie Trambow. 2010. https://www. youtube.com/watch?v=e6tiXM-ghQY. (Zugriff am 17. 03. 2022). 36 Anna Chiarloni sieht in der Geschichte »poetische Reste von Eichendorffs Italienbild«, vor allem aber eine Hommage an Michelangelo Antonioni: die Erzählung stellt einen Hypertext zum letzten Werk des Regisseurs – seinem Kurzfilm »Il filo pericoloso delle cose« (2004). Chiarloni, Menschlichkeit. 2012, S. 91.

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skrupellos und freizügig37 entpuppten und die Augusto wie einen Sklaven behandelten. Er soll denn auch an einem sonderbaren Fest teilnehmen und dabei Richter in einem Spiel sein, dessen Regeln die Frauen bestimmten und die er nicht kannte. Die zahlreichen Gäste – Frauen und Männer jeden Alters und jeder Hautfarbe – wirkten ehrfürchtig und wie verkleidet. Mit den monatlich in ihrem Palazzo stattfindenden Empfängen erschufen sich die Frauen eine normenfreie Zone für ihre niedrigsten Gelüste, eine Art Bühne für ihre Rachegelüste, ihre Hybris, ihren Konkurrenzdrang und ihren bis zum Exzess getriebenen Sadismus: »Es war die Lust, sich gehen zu lassen, sie wollten nichts anderes! Sie wetteiferten miteinander, wer von ihnen die Schamloseste, die Ordinärste, die Brutalste sei. Doch jedes Wort klang zuckersüß.« (66f) Kratzer, Schürf-, Biss- und Brandwunden an Augustos Körper sollen durch Folter und Demütigungen verursacht worden sein, denen er ausgesetzt war. Die Frauen der Binnengeschichte sind, wenn nicht faschistisch, so doch neokolonial markiert. Sie tragen beim Empfang prächtige, die italienische Nationalfarben ergebenden Ballkleider: »als würden sie in einem historischen Stück auftreten, einer Oper. Die Signorina in Lindgrün, die mittlere Signora in elfenbeinfarbener Seide und die Älteste […] in einem roten Kleid.« (62) So fungiert Ingo Schulzes Text als eine Stimme im Diskurs über Italiens Migrantenpolitik, aber auch über die italienische Gesellschaft schlechthin.38 In diesem Sinne äußerte sich Ingo Schulze bereits in »Neue Leben«, als er auf die Dynamik des Grenzbegriffs verwies: die Grenzen seien andere, die Zöllner anderswo und die Ausgegrenzten unsichtbar geworden.39 Das Gendercode bewirkt aber zum anderen, dass Augusto nicht eindeutig als Opfer der Signore gelten kann. Vielmehr steht er – nicht weniger als diese selbst – in der Nachfolge der römischen Kaiser. Der Beiname ›Augustus‹ (lat. der Erhabene, Große, Göttliche) wurde nämlich Octavian, dem Adoptivsohn von Gaius Julius Caesar vom Senat verliehen. Alle späteren römischen Kaiser übernahmen den Titel, auch wenn sie eher diese Rolle spielten, als verkörperten.40 Caesar Augustus gilt als ein 37 Beim Baden griff die jüngste der Frauen nach dem Penis Augustos. Als dieser reflexartig mit Abwehr reagierte, drohte die »Signorina« verächtlich, dass er das büßen werde. (58) »Eine Beleidigung sei das gewesen, nicht allein für sie, sondern für das gesamte weibliche Geschlecht.« (68) 38 Zum ersteren bemerkt Anna Chiarloni: »So werden [Schulzes] Texte zu einer Arche Noah, die Menschenschicksale vor der Sintflut medialer Gleichgültigkeit bewahrt.« Chiarloni, Menschlichkeit. 2012, S. 90. Schulzes soziale Analyse des heutigen Italien zeige den latenten Ausländerhass, die in der italienischen Gesellschaft lauernde Gewalt, das ethisch verfaulte der Macht. Durch Augusto erscheine Italien als sterbende res publica. Vgl. ebd., S. 90 und 92. »Die Ekphrase des Farbigen […] hat die Aufgabe, den Zuhörer (und den Leser) zum Zuschauer eines sozialen Unbehagens zu machen. […] Die Einwanderer partizipieren am Leben des Landes […], doch führen sie ein abgesondertes, elendes Dasein.« Ebd., S. 92. 39 Vgl. Ebert, Grenzerfahrungen. 2012, S. 76. 40 Beard, Mary: SPQR. Historia staroz˙ytnego Rzymu. Poznan´: Dom Wydawniczy Rebis 2016. Übers. von Norbert Radomski, S. 354.

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humanistisch ausgebildeter, an Literatur interessierter, Prosa schreibender, arbeitsamer und bescheiden lebender Mensch,41 dessen ca 50 Jahre lange Regierungszeit (er starb im Jahre 14 n. Chr.) dem Imperium vor allem Stabilität, Wohlstand und Kulturentwicklung brachte. Doch dies ist das Bild Oktavians nach seiner eigenartigen Metamorphose vom brutalen, sadistischen, blutrünstigen Machthaber und Heerführer (um 44 v. Chr.) zum verantwortlichen Staatsmann.42 Das Lust- und Machtprinzip, in dessen Zeichen die Schwestern stehen, evoziert daher nicht nur die mächtigsten Nachfolger Oktavians – Tiberius, Caligula und Nero – Herrscher also, deren Ruhm durch Grausamkeit, Verschwendungssucht und Sexualexzesse43 begründet und wofür der Begriff ›Cäsarenwahn‹ geprägt wurde, sondern auch Oktavian Augustus selbst. Mit der Aura des Geheimnisvollen und Ephemeren um Oktavian, für die er selbst sorgte,44 korrespondiert nicht zuletzt die Tatsache, dass er sich für einen Schriftsteller ausgab. Mit Augusto als Fabulierkünstler45, der den Zuhörer und Leser mit ihrer »kindischen Neugier auf eine Geschichte« (70) zurücklässt, gewinnt die Erzählung etwas Irritierendes und Vages46 und verweist auf die Literatur per se. »Vielleicht wusste Augusto selbst nicht, wie seine Geschichte weitergehen sollte? Mir jedenfalls war damals genauso wenig klar wie heute, was ich von seiner Erzählung halten sollte. Aber er hatte mich, wie man so sagt, an der Angel.« (59)47

»Vergeblich bemühte ich mich«, so Ingo Schulze über seine kindliche Erfahrung mit dem Erzählen und Vorlesen, »meinem Leben dieselbe Intensität zu verleihen, wie ich sie aus mündlichen und schriftlichen Geschichten kannte.«48 Dem wäre 41 Oktavian Augustus erlangte die Alleinherrschaft im Jahre 27 v. Chr. und übernahm als ›princeps‹ (abgeleitet von der Herrschaftsstruktur eines »Prinzipats« im frühen und hohen Römischen Reich) den Namen ›Cäsar‹. Vgl. Krawczuk, Aleksander: Poczet cesarzy rzymskich. Warszawa: Iskry 2006 [1. Ausgabe 1995], S. 22–30. 42 Beard, SPQR. 2016, S. 314. 43 Vgl. Krawczuk, Poczet cesarzy. 2006, insbes. S. 41f, 50–52, 75–80. Dank den erhaltenen Fresken aus Pompeji und Herculanum ist die Freizügigkeit der Römer und Römerinnen legendär. Man denke auch an die grausamen und freizügigen Mesalina oder Agripina. 44 Es sind auch keine Quellen vorhanden, die als Forschungsgrundlage gelten könnten. Bereits für die Autoren der Antike war das Geheimnisvolle die Haupteigenschaft von Augustus. Vgl. Beard, SPQR. 2016, S. 326–332, S. 330 und 331. Es liegt lediglich seine autobiografische Schrift »Res gestae« (Meine Errungenschaften) vor. Ebd., S. 332–339. 45 »Augusto sprach jetzt auch langsamer, als tauchte die Geschichte immer nur Bild für Bild vor ihm auf.« (64), einmal meinte er, sich nicht mehr so genau erinnern zu können (65). Schulzes Rekurs auf das Erzählen anderer Figuren erlaube ihm, das Fabulieren ins Visionäre zu steigern ohne selbst als Visionär zu erscheinen. Chiarloni, Menschlichkeit. 2012, S. 89. 46 Vgl. Ingo Schulze im Werbefilm des Prestel-Verlags. 2010. 47 Mit einer leichten Koketterie verweist der Erzähler auf diese irritierende Leerstelle gleich am Anfang der Erzählung: »Ich werde Ihnen nicht alles erzählen, so wie mir Augusto nicht alles erzählt hat. Das ist halt so, ein paar Sachen behält man lieber für sich.« (41) 48 Schulze, Ingo: Vorstellung in der Darmstädter Akademie [2007]. In: Schulze, Was wollen wir? Essays. 2009, S. 17–19.

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Joanna Firaza

eine andere Aussage des Autors an die Seite zu stellen: dass Literatur immer komplexer sei als das Reden über Literatur.49

III.

Fazit: Grenzenlos

Der letzte Text des Bandes bündelt dessen wichtigste Fäden. Er nimmt den Leser mit auf Sizilien, wo dem Erzähler wieder einmal das Gefühl übermütiger Freude zuteil wird, »am richtigen Ort« (164), bzw. »am Nabel der Welt« (165) zu sein: »Wo kam man dem Götterhimmel näher als im Heiligtum der Aphrodite in Erice? Odysseus und Aeneas hatte diese Gegend befahren, die Phönizier und die Griechen waren ihnen gefolgt […] Nirgendwo sonst war es so offensichtlich wie auf Sizilien, dass Geschichte etwas mit Schichten zu tun hat […]« (165).

Dieses Gefühl des Überschwangs wurde durch die Begegnung mit einem Schwarzen konterkariert, dem Hausmeister in der vom Erzähler angemieteten Villa, einem anfangs »merkwürdig« erscheinenden Mann, aus dem »Idris [wurde]« (171): ein traumatisierter Flüchtling aus Darfur.50 Diese widersprüchlichen Erfahrungen verdichten sich im Syrakuser Dom Santa Maria delle Colonne – ursprünglich einem Tempel der Athena aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. mit zum Teil im Innenraum erhaltenen Säulen: »Zweitausendfünfhundert Jahre lang hatten die Gläubigen hier verschiedenen Göttern in verschiedenen Riten geopfert, […] wenn sie im Tempel […] Hilfe und Schutz erflehten vor Athenern und Karthagern, vor Römern und Arabern, vor Faschisten und den Alliierten. Womöglich hatte Platon an einer dieser Säulen gelehnt […] Es gab […] nichts Menschlicheres als diesen Raum – so als müsste die Kunde von diesem Wunder genügen, um alles Morden und alle Zerstörung zu beenden. Wie Odysseus oder Aeneas ins Jenseits geblickt hatten, in die Welt derer, die nicht mehr auf dieser Erde waren, sah ich in diesen Raum.« (185)

In dieser schönsten aller Kirchen realisiert sich für den Erzähler und alle anderen Besucher das Wunder der Grenzüberwindung: hier habe er »sein Ziel erreicht«, (186), hier schließt sich der Kreis, hier nimmt die Odyssee ein Ende. Wenn auch nur scheinbar und für Augenblicke.

49 Schulze, Ingo: Tausend Geschichten sind nicht genug. Leipziger Poetikvorlesung 2007. In: Schulze, Was wollen wir? Essays. 2009, S. 20–63, S. 20. 50 In »Sie haben Ihr Ziel erreicht!« sei Ingo Schulze gelungen, die (von der europäischen Kultur) Ausgegrenzten und die Unsichtbaren sichtbar zu machen. Im Fokus der Erzählung stehe das Verschwinden alter und das Entstehen neuer Grenzen. Dabei stehe Schulze in der Tradition von Albert Camus, Peter Weiss und Imre Kertész, aber auch Peter Esterházy. Ebert, Grenzerfahrungen. 2012, S. 83, vgl. S. 84.

Dimensionen der Grenzüberschreitung

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Schon im 19. Jahrhundert fungierte Italien als Chiffre für ganzheitliche Erfahrung und Erfüllung, welche als Kompensation für die vernunftbestimmte, effiziente Existenz des Nordens diente.51 Die neueste deutschsprachige ItalienDichtung schreibt den Italien-Mythos fort, nicht aber um idyllischer Stimmungen willen, sondern um politisch-sozialen Aspekten Raum zu verschaffen,52 oder aber die Leichtigkeit des Seins, eine Überhöhung des Alltags zu genießen.53 Der Intensität der Erfahrung mediterraner Welt kommt Ingo Schulze nicht im Stil der Dokumentarliteratur bei,54 sondern er knüpft an die Tradition einer sensualistischen, antikisierenden Wahrnehmung Roms, an deren Anfang Goethes »Italienische Reise« steht.55 Literarische emblematische Bilder der Grenzüberwindung und Alleinheit56 markieren einerseits Momente der Epiphanie, konfrontieren aber andererseits auf eine schmerzhafte Weise mit Grenzen als Teil des Menschlichen, denn die Aufhebung der Grenzen generiert stets die Entstehung neuer.57

51 Battafarano, Italo Michele: Die deutsche Italien-Literatur. Versuch einer Synopse. In: Migration – Reise – Zusammenprall der Kulturen. Neue Italienbilder in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Anne-Rose Meyer/Antonio Spedicato. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 25–44, S. 39. 52 Meyer, Anne-Rose/Spedicato, Antonio: Migration – Reise – Zusammenprall der Kulturen. Neue Italienbilder in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Einführung und Anmerkungen zum Forschungsstand. In: Meyer/Spedicato (Hrsg.), Migration – Reise. 2016, S. 9–21, S. 9. 53 Battafarano, Die deutsche Italien-Literatur. 2016, S. 41. 54 Vgl. Chiarloni, Menschlichkeit. 2012, S. 89. Matthias Hochs Fotos zu dem Band stellen ein sinnreiches Pendant zum Text dar. 55 Dies ist eine apologetische Tradition im Unterschied zum ethisch-politischen Diskurs, der eher mit der negativen Perzeption Roms verbunden ist. Vgl. Czapla, Georg/Fattori, Anna: Vorwort. In: Czapla/Fattori (Hrsg.), Die verewigte Stadt. 2008, S. 7–18, S. 10. 56 Dies erinnert an das Raumkonzept Ulrich Becks, eine an Kandinsky geschulte Politik des »und«: »Nebeneinander, Vielheit, Ungewißheit […], Zusammenhalt, das Experiment des Austausches, des eingeschlossenen Dritten, Synthese, Ambivalenz.« Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M. 1993, S. 9, zit. nach: Ott, Michaela: Raum. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart/Weimar: 2004, S. 113–148, S. 147. 57 Unter Verweis auf Karl Schlögels »Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik« (München, Wien: Fischer TB 2003) argumentiert Doris Bachmann-Medick hier mit der »Raumrevolution« nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer und hält daher eine Untersuchung der Grenzfrage für dringend nötig. BachmannMedick, Cultural turns. 2012, S. 340.

Urszula Bonter (Wrocław)

Eine literarische Grenzüberschreitung: Die »Dirndl«-Reihe von Andreas Karosser zwischen Heimatkrimi und Pornographie

Der 2014 erschienene Roman »Dirndl-Porno« von Andreas Karosser wurde in seiner Heimat Oberbayern als eine klare Grenzüberschreitung verurteilt. Der Autor machte seinen überschaubaren Wohnort Bad Feilnbach zum Tatort einer pikanten Geschichte und zog damit den Zorn seiner Mitmenschen auf sich. Er wurde zum Bürgermeister zitiert und von dem hochbetagten Heimatschriftsteller Karl Baltheiser in einem Interview für den Bayerischen Rundfunk öffentlich abgekanzelt: »Bitte sich nicht die Pornofinger abputzen an unserer Kultur.«1 Die Standpauke beeindruckte den 1982 geborenen Autor nicht, er baute seelenruhig seinen Stoff zu einer Trilogie aus. Im schnellen Takt folgten weitere »Dirndl«-Bände, die ebenfalls für Aufregung sorgten: »Dirndel Swinger« von 2015 und »Dirndel Rausch« von 2017.2 Dabei handelte es sich von Anfang an um eine inszenierte und wohlkalkulierte Provokation, ein Gebiet, mit dem der Autor ohnehin schon seit langem vertraut ist. Der Mediengestalter, studierte Germanist und ausgebildete Versicherungsfachmann Karosser ist zugleich ein leidenschaftlicher Fotograf und gibt seit 2004 den Wandkalender »Trachtenstrip« heraus, in dem er die »wunderbare Welt der verführerischen bayrischen Dirndl-Fotografie« unkonventionell und erfolgreich vermarktet.3 Die subversive Vermischung von literarischen Genres gehörte ebenfalls zum Konzept. Denn Karosser stellte sich zunächst die Frage nach den aktuellen Trends und Verkaufsquoten auf dem Buchmarkt. Seine Diagnose – »nämlich Erotik à la Shades of Grey und eben Heimatkrimis« – hat er dann mit 1 Zur Aufregung um das Buch etwa: Schultejans, Britta: Erfolg mit Provinz-Posse um Sex in Tracht. In: Die Welt online (Zugriff am 13. 01. 2022). 2 o. A.: »Dirndl Swinger«: Fortsetzung der Provinz-Posse um Sex in der Tracht. In: Focus online (Zugriff am 13. 01. 2022); o. A.: Posse um erotischen Heimatkrimi. In: Augsburger Allgemeine. (Zugriff am 13. 01. 2022). 3 (Zugriff am 13. 01. 2022).

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Urszula Bonter

»Dirndl Porno« einer praktischen Verifizierung unterzogen.4 Für sein Debüt hat sich Karosser schließlich auch eine äußerst passable Adresse ausgesucht: Der 1984 gegründete Kölner Emons Verlag setzte von Anfang an auf die gerade aufkommende Sparte Regionalkrimi und wurde just 2014 für sein verlegerisches Gesamtwerk im Bereich der Kriminalliteratur mit dem Friedrich-Glauser-Ehrenpreis der Autoren ausgezeichnet. Karossers Erstling wurde in der Werbung zum »ersten erotischen Heimatkrimi Deutschlands« erhoben und fand eine überregionale Aufnahme; bis 2018 wurden 17.000 Exemplare des Bandes abgesetzt.5 Gleich 2015 gab es schon den ersten Nachahmungstäter; der Verlag brachte mit »Friesen Porno« von Bengt Thomas Jörnsson einen weiteren erotischen Heimatkrimi auf den Markt, dessen Handlung im fiktiven Poppenrade spielt. In drei Schritten soll nun Karossers augenzwinkerndes Spiel mit den Genres Kriminalroman, Erotik- und Heimatliteratur erkundet werden.

I.

Kriminalroman

Mit seiner Reihe um Mord und andere spektakuläre Verbrechen im ländlichen Bad Feilnbach durchwandert Karosser die Entwicklungsgeschichte der Kriminalliteratur vom klassischen Detektivroman bis zum modernen Thriller.6 Der erste Band »Dirndl-Porno« steht zweifelsohne im Zeichen der klassischen Detektivgeschichte. Er fängt mit der Auffindung einer schönen weiblichen Leiche an; die Handlung ist rückwärts orientiert und zielt stringent auf die Aufklärung des Mordes. Der Kriminalkommissar mit seinem Faible für ausgefallene und unpraktische Schuhe steht auch in der Nachfolge von Hercule Poirot: »Lorenz Hölzl kratzte sich am Kind und starrte auf die tote junge Frau zu seinen Füßen. Seine teuren Lederschuhe sogen die Feuchtigkeit der Bergwiese auf, und seine Füße wurden unangenehm kalt.«7 Im Verlauf der Handlung werden dann – ebenfalls dem traditionellen Schema entsprechend – zahlreiche sekundäre 4 Klaus, Julia: Ein tüchtiger Pornograf. In: pronx – Bock auf Provinz. Klartext. Das Magazin der Deutschen Journalistenschule. Lehrredaktion 56 A, Nr. 45 (2018), S. 54–57; Effner, Axel: Aufregung um »Dirndl Porno«. (Zugriff am 13. 01. 2022). 5 Klaus, Ein tüchtiger Pornograf. 2018, S. 56. 6 Zur Entstehung, Entwicklung und Ausdifferenzierung der Gattung etwa: Mandel, Ernest: Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans. Frankfurt/Main.: Athenäum 1988; Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München: Fink 1998; Vogt, Jochen: Triumpf des Thrillers? Wiederkehr des Bösen? Einige (nicht nur) erzähltheoretische Beobachtungen zur neueren Entwicklung des Kriminalromans. In: Im Fadenkreuz. Der neue Schweizer Kriminalroman. Hrsg. von Edgar Marsch. Zürich: Chronos-Verlag 2007, S. 39–53; Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015. 7 Karosser, Andreas: Dirndl Porno. Erotischer Heimatkrimi. Aktualisierte Neuauflage. Köln: Emons 2016, S. 7.

Eine literarische Grenzüberschreitung

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Geheimnisse enthüllt, die allerdings mit dem Mord nichts zu tun haben. Die Zahl der agierenden Figuren ist überschaubar, die lokalen Honoratioren geraten nacheinander unter Verdacht und werden letztendlich allesamt entlastet. Die weiteren zwei Bände hingegen folgen der Struktur eines Thrillers: Es gilt nicht nur, die bereits geschehene Kriminaltat aufzudecken, sondern vor allen weitere zu verhindern. In beiden Fällen handelt es sich auch nicht um simplen Mord, sondern um ein breites Spektrum von Verbrechensarten: schwere Körperverletzung, Entführung und kriminelle Anschläge diverser Couleur. Somit gerät der Leser mitten in die brodelnden Ereignisse, die Handlung ist vorwärts orientiert und zeichnet sich durch eine größere Dramatik und Spannung aus. Im allerersten Satz von »Dirnd Swinger« verkleidet sich ein junger Flüchtling für eine Orgie: »Für Christine, dachte Anoosh, als er sich auszog und den Lendenschurz umgürtete«,8 und am Anfang von »Dirnd Rausch« wird gleich eine Plantage legaler, für medizinische Zwecke angebauter Marihuana filmreif abgefackelt. In beiden Bänden werden die ermittelnden Kommissare auch nicht mehr respektvoll behandelt, sondern körperlich angegriffen, und die Fäden der Verbrechen reichen in die korrupte Welt der Behörden und der Politik hinein. In »Dirndl Rausch« betritt schließlich sogar das organisierte Verbrechen in der Form der vietnamesischen und der italienischen Mafia die Bühne. Bereits innerhalb dieses Genres erlaubt sich der Autor allerdings Abweichungen und Grenzüberschreitungen. Er verzichtet etwa auf das klassische Happy End: Die Wiederherstellung der moralischen Ordnung und der heilen Welt passt nicht in sein Konzept. Alle Verbrechen werden zwar aufgedeckt, aber nicht alle Täter bestraft. In »Dirndl Porno« glaubt der Kommissar dem Geständnis der überführten Mörderin nicht ohne Einschränkungen und vermutet den zwielichtigen Fotografen des Dirndl-Katalogs (also das Alter Ego von Andreas Karosser) als wahren Strippenzieher im Hintergrund. Er lässt sich auf ein verbales Duell mit diesem ein, kann ihm aber die vermeintliche Anstiftung zum Mord nicht nachweisen. In »Dirndl Swinger« wird die Polizeidirektorin, die ihre Macht missbraucht und die Beweise manipuliert hatte, zur Verantwortung gezogen. Ihre ebenfalls in den Fall involvierte Geliebte, die örtliche Bürgermeisterin, wird vom Ermittlungsleiter Hölzl jedoch aus pragmatisch-zynischen Gründen gänzlich verschont: »Ein wenig Vitamin B in diesen Kreisen konnte sicherlich nicht schaden, schließlich war das hier noch Bayern.«9 In »Dirndl Rausch« schließlich wird die vietnamesische Mafia aus dem Verkehr gezogen, die Protagonisten arrangieren sich jedoch friedlich mit den italienischen Mafiosi, die

8 Karosser, Andreas: Dirndl Swinger. Erotischer Heimatkrimi. Köln: Emons 2015, S. 7. 9 Ebd., S. 251. Dies liest sich wie ein Pendant zum Kultspruch aus der ebenfalls in der Gegend spielenden Fernsehserie »Der Bulle von Tölz«: »Jeder Bayer is a Freier«.

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dazu auch noch durch ihre gepflegte äußerliche Erscheinung und kultivierte Umgangsformen bestechen.

II.

Pornographie

Die Kriminalhandlung ist in den zwei ersten »Dirndl«-Teilen unzertrennbar mit extremen sexuellen Praktiken verbunden: Sowohl Opfer als auch Täter kommen aus dem Milieu der Ausschweifung und der moralischen Grenzüberschreitung. In »Dirndl Porno« verdient sich die junge Studentin Sarah als Erotikmodel und später auch als Pornoschauspielerin ihr Zubrot. Sie wird von einer anderen Darstellerin umgebracht, weil sie im letzten Moment doch noch Bedenken bekommt und der Veröffentlichung der fertiggedrehten und finanziell vielversprechenden Produktion nicht zustimmen will. In »Dirndl Swinger« versucht ein junger Asylant aus dem Iran das Geld für eine gemeinsame Zukunft mit seiner deutschen Freundin zusammenzutragen, indem er den reichen Besuchern eines exquisiten Swinger-Clubs seinen Körper anbietet. Mit den heimlich gemachten Fotos erpresst er einen lokalen Prominenten und wird von diesem lebensbedrohlich verletzt. Das Erzählschema der ersten beiden Bände ist durch den ständigen Wechsel von fortlaufenden Ermittlungen und Rückblenden gekennzeichnet. Letztere rollen die Ereignisse vor der Straftat auf, beleuchten die Hintergründe und zeigen vor allem die Akteure bei diversen und ausgefallenen sexuellen Aktivitäten. Die erotischen Schilderungen nehmen bei Karosser nicht nur einen breiten Platz ein, sondern sind auch tatsächlich alles andere als jugendfrei. Auch das war ein intendierter Bestandteil seines Verkaufsrezepts. Auf die Frage, ob man »Dirndl Porno« getrost einem 16-Jährigen in die Hände drücken kann, gibt der Autor eine unmissverständlich negative Antwort: »Ich empfehle den Dirndl Porno erst ab Volljährigkeit zu genießen. Sprachlich nehme ich kein Blatt vor den Mund und es würde mich nicht wundern, wenn mancher Leser bei der Lektüre rote Ohren bekommt.«10 Die pornographische Literatur ist per Definition pragmatisch ausgerichtet und zielt direkt auf die Erzeugung von Begierden und Gelüsten beim Leser. Conditio sine qua non ist immer die plastisch-anschauliche Darstellung: »Alles gründet sich hier auf den Blick. Die Schreibweise muß etwas zu sehen geben. Das Buch kann den Wunsch zum sexuellen Genuß nur entstehen lassen, indem es die der Lust hingegebenen Körper beschreibt und die Begierde stimuliert oder indem es das Bild der Gesten und Haltungen des sexuellen Genusses selbst inszeniert. Darin liegt der 10 Effner, Axel: Aufregung um »Dirndl Porno«. In: Wochenblatt. (Zugriff am 13. 01. 2022).

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Ursprung seiner eigentümlichen Spannung und vielleicht seiner unleugbaren und im Grunde sonderbaren Macht.«11

Karosser baut mit Methode auf das Prinzip des Sehens. In »Dirndl Porno« wird der Blick des Lesers über die modernen optischen Medien gelenkt: Er begleitet das spätere Opfer bei den gewagten Fotoshootings und darf dann – über die Schulter des Kommissars schauend – den fertigen pornographischen Streifen genießen. In »Dirndl-Swinger« finden die detailvoll dargestellten Orgien in einem herrschaftlichen Ambiente mit zahlreichen überdimensionalen Spiegeln statt. Die öffentlichen Sexdarbietungen der jüngeren, bezahlten »Aspiranten« gehören ebenfalls zum festen Vorspiel und stimulieren die ältere reiche Kundschaft zur anschließenden Selbstbeteiligung. Die Anspielung auf den Film »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick ist offensichtlich. Dabei nimmt Karosser in der Tat »kein Blatt vor den Mund« und bietet dem Leser eine breite Palette an gängigen Varianten und Kombinationen: gleichgeschlechtlichen, oralen, vaginalen, analen und Gruppensex. Die Kulmination bildet jeweils eine umgedrehte Dreierkombination. In »Dirndl-Porno« befriedigt der männliche Schauspieler parallel beide mitspielenden Frauen: »Er senkte sein erigiertes Glied in die zitternde Sarah, die dabei einen wohligen Seufzer von sich gab, und stieß kräftig zu. Die Blondine, die nur noch mit den halterlosen Strümpfen und einer durchsichtigen Trachtenbluse bekleidet war, setzte sich rittlings auf Sarah und drückte dem Mann ihre Lippen auf seine. […] Das Finale bestand schließlich aus einer Stellung, in der Sarah und die andere Frau aufeinander lagen und der Kerl die beiden abwechselnd von hinten nahm. Dann endete der Film.«12

In »Dirndl-Swinger« hingegen penetrieren zwei Männer eine junge Frau gleichzeitig im Jacuzzi, und zwar vor einem zuschauenden Publikum: »Joram zog sich aus Amanda zurück und drückte sie auf Anooshs Schoß. In ihren Augen glomm Furcht, aber sie schien fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Sie griff Anooshs Glied und führte es sich in ihre Vagina ein. Sie war eng und durch das Wasser feucht und glitschig. […] Damit Joram in Amandas Anus eindringen konnte, musste er Anoosh so nahe kommen, dass er ihn berührte. Anoosh spürte Jorams haarige Schenkel an seinen Beinen. Er konnte nicht sehen, was Joram hinter Amanda tat, aber

11 Goulemot, Jean Marie: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zen sur im 18. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch 1993, S. 51. Als aktuelle Überblicksdarstellungen zum Thema sei auf folgende Bände verwiesen: Erotisch-pornografische Lesestoffe. Das Geschäft mit Erotik und Pornografie im deutschen Sprachraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Christine Haug/Johannes Frimmel/Anke Vogel. Wiesbaden: Harrassowitz 2015; Pornographie in der deutschen Literatur. Texte, Themen, Institutionen. Hrsg. von Hans-Edwin Friedrich/Sven Hanuschek/Christoph Rauen. München: belleville 2016. 12 Karosser, Dirndl Porno. 2016, S. 67.

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als sie schmerzhaft zusammenzuckte, wusste er, dass sie nun beide in derselben Frau steckten.«13

Der Autor bedient sich dabei der klassischen pornographischen Handlungsmuster noch aus der Blütezeit der Gattung im 18. Jahrhundert; ähnliche Szenen spielen sich dort vornehmlich in katholischen Klöstern oder auf aristokratischen Schlössern und Gütern ab. Die alten Texte hatten zugleich doch noch eine aufklärerische, sozialkritische, antiklerikale und umstürzlerische Dimension.14 Im 19. Jahrhundert hingegen verliert die Pornographie ihre gesellschaftskritisch engagierte Komponente und wird zur billigen Massenware zur Ergötzung aller Lesefreudigen. Genauso fungiert sie auch bei Karosser: Sexuelle Ausschweifungen werden ausgiebig vollzogen, aber nicht politisiert oder diskutiert. Nur ein einziges Mal gestattet sich der Autor einen reflexiven Moment, als er die über 70jährige Wirtin des Polizeikommissars, Frau Gruber, die selbst auf eine erotisch ausgelassene Vergangenheit zurückblicken kann, über die verlogene Moral der älteren Trachtler sinnieren lässt. Die ältere Dame macht sich Gedanken über das Wesen der Libertinage in ihrer Gesellschaft: »I glaub, in jeder Generation und in jeder Kultur, in der alte Männer was zum Sagen hab’n, is die Angst vor der Freizügigkeit des konstanteste Merkmal. Weil mit der Freizügigkeit geht a des freie Denken einher, und wer frei denkt, der neigt dazu, nimmer auf des zu hör’n, was die da ob’n ihm anschaff ’n woll’n. Und was bestimmt a noch reinspielt: An die Macht kommen doch meist die, die sonst kein’ Stich g’landet haben. De hab’n dann Zeit, sich in’d Politik und d’Ämterei reinz’hängen.«15

Im letzten Band mit dem knappen und neutralen Untertitel »Kriminalroman« geht es schon viel sittsamer zu. Aber selbst hier verzichtet der Autor nicht ganz auf die pornographische Komponente. Diese ist jedoch von der eigentlichen Kriminalhandlung abgekoppelt und wird in die private Geschichte des Kommissars Hölzl eingebunden. Der Deutsch-Italiener wurde bereits im ersten Band als temperamentvoller Mann »im vollen Saft seines Lebens« in die Handlung 13 Karosser, Dirndl Swinger. 2015, S. 203f. 14 Das 18. Jahrhundert als das goldene Zeitalter der Pornographie erlebt gerade eine Konjunktur in der Forschung: »in Wollust betäubt« – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Christine Haug/Johannes Frimmel/Helga Meise: Wiesbaden: Harrassowitz 2018; Deutsche Pornographie in der Aufklärung. Hrsg. von Dirk Sangmeister/Martin Mulsow, Göttingen: Wallstein 2018; Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Jahrgang 42. Heft 2: Erotisch-pornografische Texte des 18. Jahrhunderts. Konzipiert von Christine Haug und Helga Meise. Im Auftrag des Vorstandes hrsg. von Carsten Zelle. Göttingen: Wallstein 2018. 15 Karosser, Dirndl Porno. 2016, S. 216. Zur aufklärerischen sexuellen Revolte gegen die verkrustete Sozialordnung und -hierarchie: Darnton, Robert: Denkende Wollust oder Die sexuelle Aufklärung der Aufklärung. In: Denkende Wollust. Hrsg. von Robert Darnton. Frankfurt/Main: Eichborn 1996, S. 7–44.

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eingeführt: »Seine größte Schwäche war seine Leidenschaft für Frauen, der er sich bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr hemmungslos hingegeben hatte.«16 Er fühlt sich von Anfang an zu seiner attraktiven bajuwarischen Kollegin Franzi erotisch angezogen, und kann sogar im Obduktionsraum seine angeborene Triebhaftigkeit nur schwer beherrschen. Beim Anblick der nackten Leiche der jungen Studentin reagiert sein Körper automatisch: »Er merkte, dass sich seine feinen Nackenhärchen aufstellten. Reiß dich zusammen, nekrophiler Lustmolch!, dachte er.«17 In den ersten beiden Teilen knistert es die ganze Zeit zwischen den beiden Kommissaren, bis sie schließlich auf der letzten Seite des zweiten Bandes ein Paar werden. In diese Beziehungszeit bekommt der Leser auffälliger weise jedoch gar keinen, geschweige denn einen pikanten Einblick. Der dritte Band setzt erst nach einer dreijährigen Pause ein, nachdem Franzi ihren Freund unvermittelt verlassen hatte. Kurz danach lässt sich Lorenz Hölzl spontan auf ein erotisch-esoterisches Abenteuer mit der äußerst attraktiven Tantralehrerin Mila ein, die seit geraumer Zeit mit einer Hippiekommune seinen Heimatort okkupiert und unsicher macht. Was bei einer waschechten bayerischen Schönheit – vielleicht doch noch aus Pietätsgründen? – ausgespart blieb, wird im letzten Teil unter den exotischen Umständen nachgeholt. Karosser baut hier einige Szenen ein, in denen der Polizist seine Potenz und Standhaftigkeit deutlich unter Beweis stellt. Das im Zeichen purer Triebabfuhr begonnene Verhältnis verwandelt sich allerdings bereits nach einer Woche in eine tiefere emotionale Verbindung. Auch diese an und für sich überraschende Wende gehört zum festen Repertoire der klassischen pornografischen Literatur, in der nach der Phase der Ausschweifung gewöhnlich die Bekehrung, Läuterung und Schätzung solcher Werte wie Liebe und Familie kommt.18

III.

Heimatkrimi

Mit seinem Untertitel »Heimatkrimi« rekurriert Karosser auf einen antiquierten, eigentlich kaum noch gebräuchlichen Begriff. Durch die Zeit des Nationalsozialismus verpönt, wird die »Heimat« heute als »Region« neudefiniert und um

16 Karosser, Dirndl Porno. 2016, S. 17. 17 Ebd., S. 22. 18 Zu dieser verkehrten Eigenlogik der pornographischen Lesestoffe etwa: Bonter, Urszula: Autobiographische Strategien im pornographischen Roman des 18. Jahrhunderts. In: Autobiografie intermedial. Fallstudien zur Literatur und zum Comic. Hrsg. von Kalina Kupczyn´ska/Jadwiga Kita-Huber. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2019. S. 171–179.

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eine multikulturelle Dimension erweitert.19 Es sind tatsächlich auch nicht Heimat-, sondern Regionalkrimis, die gegenwärtig auf dem Verlagsmarkt Furore machen und zugleich in den Medien als eine Art literarische Pest angeprangert werden. Bereits 2012 spottete der Kolumnist der »Süddeutschen Zeitung« Axel Hacke über das Genre und seine Autoren: »Erst wenn der letzte deutsche Lehrer und der letzte deutsche Journalist einen Regionalkrimi geschrieben haben werden, werdet ihr merken, dass man’s auch übertreiben kann.«20 Das titelgebende Signalwort »Dirndl« beschwört nicht nur stellvertretend die Heimat. Die traditionelle bayrische Tracht spielt in jedem Teil auch eine ausschlaggebende Rolle. In »Dirndl Porno« geht es um erotische Trachten-Photographie und um einen pornographischen Streifen mit eben diesem Titel. In »Dirndl Swinger« verläuft die Orgie in der Nacht des Mordversuchs unter dem Motto »Erotische Tracht«. Und im letzten Teil der Reihe steuern die Ereignisse, diesmal – anders als in den zwei ersten Bänden – strikt chronologisch auf den Höhepunkt zu, den Festabend des großen Jubiläumsgautrachtenfestes. Zum ersten sexuellen Akt zwischen dem Kommissar und der exotischen Hippie-Braut kommt es ebenfalls im Rahmen dieser Feierlichkeiten, nachdem diese eine äußerliche Verwandlung vollzogen hat: »Als Lorenz am Abend auf den Jenbachtal-Parkplatz einbog, wartete Mila bereit auf ihn. Einmal mehr stockte ihm der Atem, denn er erkannte die schöne Tantrikerin kaum wieder. Sie steckte in einem hellroten Dirndlkleid, das ihr wie auf den Leib geschneidert war.«21 Die Inspiration zu diesem Plot lieferten die Geschehnisse um Karossers ersten Roman. Im Jahre 2014 feierte der Feinlbacher Gebirgstrachtenerhaltungsverein D’Jenbachtaler gerade sein 130-jähriges Bestehen, was die Aufregung um das Buch zusätzlich vergrößerte. Karosser zeigt ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Heimatregion. Einerseits provoziert er gern und oft mit einer scharfen Kritik an seinen Landsleuten: »Phlegmatismus war ein elementarer Wesenszug der Menschen, die in Bad Feilnbach lebten. Die großen Revolutionen und bahnbrechenden Innovationen überließen sie lieber anderen. […] Was politisches und gesellschaftliches Feuer und Engagement anbelangte, war Bad Feilnbach seit jeher ein verlässliches Biotop für das schweigende Rückgrat, die verträgliche Masse oder allenfalls den verhaltenen Mitläufer. Die Welt konnte schon passieren, aber bitte schön außerhalb der Ortsgrenzen.«22

19 Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen. In: Germanica 58 (2016), S. 13–39, hier S. 14f. 20 Hacke, Axel: Das Beste aus aller Welt. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, H. 34/2012. (Zugriff am 13. 01. 2022]. 21 Karosser, Andreas: Dirndl Rausch. Kriminalroman. Köln: Emons 2017, S. 84. 22 Ebd., S. 57.

Eine literarische Grenzüberschreitung

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Andererseits schimmert durch die gesamte Reihe die für Regionalkrimis typische tiefe Verwurzelung in der Landschaft sowie eine an der Oberfläche demonstrativ abgestrittene Verbundenheit mit dem bayerischen Menschenschlag durch.23 Mit einer auffällig großen Sympathie zeichnet der Autor nämlich seine rüstige Pensionswirtin Maria Gruber, die den Kriminalkommissar beherbergt, bemuttert, bekocht und unermüdlich zu den laufenden Fällen ausfragt: »Und weil Frau Gruber gerade wieder ansetzte weiterzubohren, wechselte Lorenz blitzschnell das Thema: ›Freust du sich schon aufs Gaufest, Maria?‹ Frau Gruber schluckte den Köder und winkte gelangweilt mit der Hand. ›Ah geh‹, sagte sie. ›Des ist doch jedes Mal dasselbe. An Haufen Trachtler rennen im Dorf herum, zwingen sich in einen Gottesdienst, auf den sie keine Lust haben, nur um sich danach in ein völlig überfülltes Bierzelt zu hocken, fettige Brathendl zu fressen und fader Blasmusik zuzuhören.‹ Die Antwort überraschte Lorenz. Vor dem Brand hatte Frau Grubers Hof einem Heimatmuseum in nichts nachgestanden. Der Hausgang, das Treppenhaus und die Wände all ihrer privaten Zimmer waren mit Bildern, die Menschen in Tracht zeigten, Urkunden und anderen Brauchtums-Devotionalien zugehängt gewesen.«24

Maria Gruber kommt als eine bayerische Miss Marple daher: Sie ist klatschsüchtig und neugierig, zugleich aber auch liebevoll, klug und lebenserfahren. Stets für alles Neue, Unkonventionelle und selbst Grenzwertige aufgeschlossen, verfügt sie zugleich über eine natürliche Autorität, der sich sogar die Mitglieder der italienischen Mafia unhinterfragt beugen. Mit ihrer erotisch bewegten Vergangenheit – in Tracht und bei einem Trachtenverein – und ihrem nebulösen Reichtum unbekannter Herkunft wird sie zu einer Märchenfigur zwischen Tradition und Moderne. Die kleine Frühstückpension, die Frau Gruber ohnehin nur als Hobby betreibt, befindet sich allerdings nicht zufälligerweise jenseits des diffamierten Städtchens, »vor den Toren der Ortschaft Bad Feilnbach, idyllisch gelegen auf einem Hügel mit famosem Blick aufs Inntal«.25 Außerhalb der Ortsgrenzen verläuft das richtige und aufrichtige Leben mit und unter den Freunden; hier sitzen die Protagonisten im Freien, essen immer gemeinsam und lachen miteinander. Dieses Gruppenbild vor dem Alpenpanorama knüpft wohl an die stets vor sommerlicher Kulisse spielende Kultserie »Die RosenheimsCops« an, eine seit 2002 mit Erfolg laufende TV-Hommage an die bayrische Landschaft und Mentalität.

23 Zum Thema der für die Gattung konstitutiven Verbundenheit mit der Region: Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Hrsg. von Eva Parra-Membrives/Wolfgang Brylla. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2015, S. 91– 101. 24 Karosser, Dirndl Rausch. 2017, S. 25. 25 Karosser, Dirndl Porno. 2016, S. 16.

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Urszula Bonter

Mit dem dritten »Dirndl«-Band endete die pikante Heimatreihe mit kriminellem Einschlag und damit offensichtlich auch die Beziehung zum Kölner Emons Verlag. Karossers Bände sind aus dem Verlagsprogramm verschwunden und nur noch als Ramschware über den Versandhandel für preiswerte Bücher zu erhalten. Letztlich erwies sich die mehrfache literarische Grenzüberschreitung in diesem Fall nicht als nachhaltiges Erfolgsrezept.

Beate Sommerfeld (Poznan´)

»Körpergefühle« – Friederike Mayröckers entgrenzende Affektpoetik

Das Werk Friederike Mayröckers ist von vielgestaltigen Grenzüberschreitungen durchzogen. Vor allem die späten Texte der 2021 verstorbenen Dichterin reizen ästhetische und sprachliche Normen aus, transzendieren Gattungsgrenzen und Identitäten. Das Hinausgreifen über die Grenzen des Textes und der Gattungen, das Überschreiten medialer Grenzen, aber auch die Entgrenzung des Subjekts, das Transzendieren der Mensch-Tier-Grenze und das osmotische Verschmelzen mit der Natur werden in Mayröckers Schreibpraxis von Affekten angetrieben. Das Schreiben folgt einer »Logik der Sensation«1: Am Anfang steht stets ein »Körpergefühl«,2 ein affektiver Anstoß, dem die konstruktive Schreibarbeit folgt. Als eines der wichtigsten Kennzeichen von Mayröckers Schreibweise kann damit die affektive Aufladung ihrer Sprache benannt werden. Es wird eine literarische Produktion auf höchster Erregungsstufe entfacht, in der der Furor des Schreibens am Werk ist, eine sich verausgabende Raserei, in der sich ein Kosmos von Affekten entlädt. Dabei wird die Abundanz einer sich verströmenden Sprache aufgeboten, einer überbordenden Sprache des Exzesses, welche die Hierarchien von Logos und Gefühl umstülpt und im radikalen Bruch mit den Sinnordnungen eine ungeheure Intensität freisetzt. Es ist diese affektive Sprengkraft, die sich beim Lesen der Texte mitteilt und das sprachliche Erzeugen ekstatisch-furioser Zustände über die Grenzen der Gattungen, Spezies und Medien hinweg als Fluchtpunkt von Mayröckers Poetik erkennbar werden lassen. Mayröckers Affektpoetik ist in der Forschung immer wieder für die Analyse ihrer Texte stark gemacht worden. So benennt etwa der Dichterfreund Marcel Beyer Mayröckers an Derrida geschulte »Tränensprache« als eine Sprache

1 Vgl. Deleuze, Gilles: Francis Bacon. Logik der Sensation. Aus dem Franz. von Joseph Vogl. München: Fink 1995 (frz. 1981). 2 Vgl. Mayröcker, Friederike: Magische Blätter II. In: dies.: Gesammelte Prosa. Hrsg. von Klaus Kastberger. Bd. III: 1987–1991. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 7–201, hier S. 181.

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Beate Sommerfeld

überbordender Affekte.3 Daniela Strigl konstatiert, dass in Mayröckers Texten ein »affektiver, hochemotionaler Zustand benannt«4 werde und attestiert der Dichterin einen »Hang zur furiosen Entgrenzung«,5 ohne den ihre Poetik kaum vorstellbar sei. Der Habitus der Enthaltung, des Erhabenseins über Affekte und Leidenschaften seien der Dichterin denkbar fern: »In ihrem Bekenntnis zu Entgrenzung und Außer-sich-Sein läßt Mayröcker die klassisch-idealistische Vorstellung eines ausgewogenen Affekthaushalts weit hinter sich.«6 Auch Barbara Thums sucht Mayröckers Poetik als ein »Schreiben im Ausnahmezustand« zu fassen, das immer auch ein »Schreiben an der Grenze« sei.7 Die Entgrenzung des dichterischen Subjekts, das in ekstatischen Zuständen aus sich heraustritt und sich der Wirklichkeit aussetzt, scheint demnach den Kern von Mayröckers Affektpoetik zu bilden. Dieser transgressiven Dimension von Mayröckers Poetik der Affekte soll im Folgenden nachgegangen werden. Um Mayröckers Poetik der affektiven Entgrenzung fassbar zu machen, scheint ein affekttheoretischer Zugriff auf ihre »Schreibweise vom Körper«8 hilfreich. Die sich seit den 2000er Jahren dynamisch entwickelnde Affektforschung entstand ja vor allem aus dem Missmut gegenüber einer Vernachlässigung von Fragen der Körperlichkeit und der Gefühle und einem zu starken Fokus auf das Textuelle und die Repräsentation in der vom linguistic turn geprägten Theoriebildung. So betont etwa Brian Massumi im Anschluss an Spinoza bzw. dessen Lektüre durch Gilles Deleuze9 die körperliche und transgressive Verfasstheit von Affekten, wobei ›Körper‹ nicht (nur) menschliche Körper als feste und klar abgrenzbare Einheiten meint, sondern veränderliche Gefüge, die durch die ständigen gegenseitigen Affizierungen miteinander agieren.10 Affekte vollziehen sich laut Massumi zwischen und durch individuelle und kollektive Körper hindurch,

3 Beyer, Marcel: Friederike Mayröcker. logos und lacrima. Essay, vorgetragen am 17. 12. 2014 in der Alten Schmiede. In: Der Hammer. Zeitschrift der Alten Schmiede, 74, Nr. 03.15, 2015, S. 2–5. 4 Strigl, Daniela: Vom Rasen (Furor). Ein Versuch zu Friederike Mayröckers Affektpoetik. In: Buchstabendelirien. Zur Literatur Friederike Mayröckers. Hrsg. von Alexandra Strohmaier. Bielefeld: aisthesis 2009, S. 51–73, hier S. 52. 5 Ebd., S. 53. 6 Ebd., S. 70. 7 Thums, Barbara: Schreiben im »Ausnahmezustand«: Friederike Mayröckers Und ich schüttelte einen Liebling. In: Strohmaier, Buchstabendelirien. 2009, S. 177–194, hier S. 185. 8 Mayröcker, Friederike : Schreibweise vom Körper, auch dies / zu Salvador Dalí : Dreieckige Stunde (1933). In: Dies.: als es ist. Texte zur Kunst. Salzburg: Rupertinum 1992, S. 19f. 9 Deleuze, Gilles: Spinoza und die drei »Ethiken«. In: Ders.: Kritik und Klinik. Aus dem Franz. von Joseph Vogl. Suhrkamp: Frankfurt/M. 2000 (frz. 1993), S. 187–204. 10 Vgl. Massumi, Brian: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Durham/London: Duke University Press 2002, S. 23–45.

»Körpergefühle« – Friederike Mayröckers entgrenzende Affektpoetik

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bevor diese die Affekte bewusst wahrnehmen, begreifen oder gar benennen können.11 Die relationale Verschränkung von Körpern in Situationen, nicht das fühlende und denkende Individuum, wird damit als primär gesetzt. Für Massumi ist der Affekt daher unpersönlich und auch a-subjektiv, also nicht an ein bestimmtes Subjekt geknüpft.12 Während Emotionen kategorisierbar sind und Subjekten zugeordnet werden können,13 überträgt der Affekt virtuelle Intensitäten, die sich relational ereignen: »affect is about intensity«.14 Affekte werden somit als relationale Phänomene wahrgenommen und werden als Beziehungsphänomene begreifbar: »What happens is interference, or resonation.«15 Einem so verstandenen Affekt wohnt eine grenzüberschreitende, das Subjekt transzendierende Dynamik inne: »die Affekte sind keine Gefühle oder Affektionen mehr«, so heißt es bei Deleuze und Guattari, »sie übersteigen die Kräfte derer, die durch sie hindurchgegen. Die Empfindungen, Perzepte und Affekte, sind Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen.«16 Affekte sind damit offene, nicht-lineare Prozesse mit offener, ereignishafter Dynamik,17 sie zirkulieren als Energie zwischen den in sie involvierten Entitäten, wobei multiple energetische Prozesse angestoßen werden, die auch als emergente Vorgänge umschrieben werden können. Die Nicht-Linearität der Wirkung von Affekten ist somit zugleich eine Vermannigfachung, bei der jeder der Akteure aktiv wird. Affektierungen sind also nicht als passive Vorgänge zu fassen, sie sind vielmehr »filled with motion, vibrating motion, resonation.«18 Aus den hier skizzierten Überlegungen ergibt sich eine relationale und ko-emergierende Sichtweise von Affekten, als multiple und sich selbst hervorbringende Prozesse und Intensitäten, die – so die These – auf Mayröckers Affektpoetik bezogen werden kann.

I.

Tier-Werden, Pflanze-Werden – affektive Beziehungsgefüge

In Mayröckers Texten wird eine dichterische Sprache entfaltet, die sich auf den Affekt einzulassen sucht. Affektive Gestimmtheit wird in Werken wie »Pathos und Schwalbe« (2018) als Movens literarischer Produktion ausgewiesen. Die 11 Vgl. Massumi, Brian: The Power and the End of Economy. Durham/London: Duke University Press 2015, S. 103–112. 12 Vgl. Massumi, Brian: Politics of Affects. Hoboken, New Jersey: Wiley 2015, S. 6. 13 Masumi, Parables. 2002, S. 28. 14 Massumi, Politics. 2015, S. 4. 15 Ebd. 16 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Aus dem Franz. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2021 (frz. 1991), S. 191–192. 17 Vgl. Massumi, Parables. 2002, S. 34–36. 18 Ebd., S. 26.

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Schwalbe im Titel wird als Metapher für die Ekstase dichterischer Rede lesbar: »wahnsinnige Schwalben schreiend und pfeifend, […] sie stürzen sich in […] die UNTIEFE des Himmels«19, aber auch das Pathos verweist auf das Außer-sich-Sein der Entgrenzungserfahrung, es ist ein »Widerfahrnis«, das das Subjekt »überkommt« und in die Position des Ausgesetztseins versetzt.20 Entlehnt vom griechischen Leidenschaft, mit Bezug auf das Verb ›erdulden‹ bzw. ›erleiden‹, bringt Pathos das Mitleiden ins Spiel.21 Daher ist alles »Tun und Reden, das einem Pathos entspringt«, geprägt durch den »Grundzug der Responsivität«.22 Mayröckers Texte inszenieren dieses Angerührt-Werden von der Natur, das ekstatische Zustände extremer Betroffenheit entbindet. Es wird eine grenzenlose Offenheit ins Feld geführt, in der sich das schreibende Ich der Welt aussetzt, in einer überhand nehmenden Empathie, die die Subjekt-Objekt-Differenz kassiert und in einen Resonanzraum überführt, in dem die Stimmen der Natur widerhallen und affektive Austauschverhältnisse zwischen Mensch und Natur stattfinden. Das pathetische Mitleiden des Subjekts umfasst unhörbar schreiende Fische,23 eine »winzige Mücke im Glas : ihre minimalen Stiefelchen! ihr zarter Hals! ach sie bewegt sich nicht mehr«24 und »die welken Beete des Krankenhausgartens schreiend in der Dämmerung«25. Affektierungen sind dabei nicht als Zustand passiver Rezeptivität zu begreifen, sie ereignen sich vielmehr im Modus einer aktiven Responsivität: Dem »Vögelchen« im winterlichen Schneetreiben möchte sie »Mützchen, möchte ihm Mäntelchen schneidern, dasz es nicht mehr fröre«,26 der Bindfaden um den »Hals« eines Veilchenbündels muss gelöst werden, es »ersticke ja sonst, rang nach Luft«27. Es wird hier eine schrankenlose Empfindsamkeit modelliert, ein ekstatisches Außer-sich-Sein, das die SubjektObjekt-Grenze kollabieren lässt: »der Ort des Schreis. Gebrüll der Tiere : zahme Tiere, die ihr verzehret, Ort des Schreis, habe noch Tage lang diesen meinen Schrei im Ohr den ich ausgestoszen. Als ich niederstürzte«28.

19 Mayröcker, Friederike: Pathos und Schwalbe. Suhrkamp: Berlin 2018, S. 94f. (Hervorhebung im Original, BS). 20 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010, S. 324. 21 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 42; zu Mayröckers »Ethik des Mitleidens« vgl. Arteel, Inge: Friederike Mayröcker. Hannover: Wehrhahn 2012. S. 44. 22 Waldenfels, Sinne. 2010, S. 235. 23 Vgl. Mayröcker, Pathos. 2018, S. 107. 24 Ebd., S. 20. 25 Ebd., S. 257 (Hervorhebungen im Original, BS). 26 Ebd., S. 188. 27 Ebd., S. 226. 28 Mayröcker, Friederike: da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 158.

»Körpergefühle« – Friederike Mayröckers entgrenzende Affektpoetik

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Gemeinsam mit anderen Entitäten bewegt sich das Mayröckersche Ich in einem Feld gegenseitiger Affizierungen und ist dabei getragen von einer »WeltZärtlichkeit«,29 die auch nicht-anthropomorphe Wesen einbegreift. Das Verhältnis zur Natur wird als reziprokes Begehren modelliert. Pflanzen, die ihre Ärmchen ausstrecken,30 Hortensien, die »Händchen« reichen31, Vögelchen, die ans Fenster picken und Einlass begehren,32 sie alle bewegen sich verlangend dem Menschen entgegen. Es sind lebende Akteure, die miteinander interagieren und sich gegenseitig affizieren. Mayröckers Texte können somit als Raum begriffen werden, in dem Affekte ausgetauscht werden und ein Begehren zirkuliert. Dabei wird ein mannigfaltiges, polymorphes Begehren anvisiert, das ontologische Grenzen überschreitet und affektive Beziehungen zum Nicht-Anthropomorphen zu denken sucht – vom »Kosen« von »Blumengesichtern«33 ist da die Rede, vom »Verliebt-Sein in die Blütenkelche einer Konrade«34. Dabei sind es Körpergefühle, an denen die Affekte sich entzünden – ein Ast, der beim Spaziergang ihre Schulter streift (»berührte mich ein Zweig an der Schulter«35) setzt ein Begehren in Gang und bringt die Grenzen zum Nicht-Menschlichen ins Gleiten. Mayröckers Texte werden damit als Arrangements von miteinander verschränkten Körpern lesbar, als Gefüge gegenseitiger Affizierungen, die aus dem Zusammenspiel menschlicher und nicht-menschlicher Akteure emergieren. Sie sind als relationales Beziehungsgeflecht zu begreifen, das den Entitäten vorausgeht und das Subjekt überschreitet, das auf viele Intensitäten aufgeteilt ist. Das Ich ist eingefaltet in die Natur, tritt ein in Nachbarschaftszonen mit Tieren und Pflanzen und resoniert mit seiner Umwelt: »bist Halb-Pflanze«,36 »bist blaue Glyzine bist Hundsveilchen«37. Es tut sich hier ein Subjekt kund, das aus sich selbst heraustritt und sich in exzentrischen Zustand des Außer-sich-Seins über die Grenzziehungen zwischen dem Menschlichen und Nicht-Anthropomorphen hinwegsetzt. Damit lassen die Texte die kategorisierbaren und an das Subjekt gekoppelten Emotionen hinter sich und entfalten ein Affektgeschehen, das sich zwischen den Entitäten, also relational ereignet – die Affekte lösen sich vom Subjekt und transzendieren das Erleben, sie vollziehen sich in einem mit Affektierungen aufgeladenen Zwischenraum.

29 30 31 32 33 34 35 36 37

Mayröcker, Friederike: fleurs. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 8. Mayröcker, da ich. 2020, S. 44. Ebd., S. 7. Ebd., S. 163. Ebd., S. 77. Ebd., S. 53. Ebd., S. 34. Mayröcker, fleurs. 2016, S. 58. Mayröcker, da ich. 2020, S. 118.

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In »da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete« sind es gegenseitige Blicke von Mensch und Tier, bei denen Funken überspringen und affektive Wirkungen entbunden werden: »wenn ein Hund auf der anderen Seite der Straße mich anblickt bin ich selber der Hund der mich anblickt.«38 Das affektive Verschmelzen mit dem Tier entbindet Umsprungsbilder, welche die Grenze zum Tier transzendieren: »Pianist im Gastgarten Hündchen auf seinem Schosz ich meine hatte ich dies zarte Bellen«39. Affekte kommen hier als multiple affektive Wirkungen und offene Prozesse zum Tragen, in denen Grenzüberschreitungen zum Animalischen stattfinden und Identitäten ins Fluktuieren geraten. Diese zwischen Mensch und Tier changierenden Identitäten können als ein Tier-Werden umschrieben werden, wie es von Deleuze und Guattari ins Spiel gebracht wird, als eine Überschreitung der Spezies-Grenzen, die Allianzen und Resonanzen zwischen Spezies stiftet, die durch Formen der »widernatürliche(n) Anteilnahme«40 begründet werden und sich durch Affektübertragung vollziehen. Dabei ist es der Körper und seine transgressive Potentialität, welcher die Entgrenzung zum Tier hin bewirkt. Der Körper erscheint bei Mayröcker als »porous boundary, given to others«41 und macht das Subjekt durchlässig für die Außenwelt. In Mayröckers Gedicht »la clairière, nach Giacometti«42 durchläuft das lyrische Ich eine Vielzahl von Affekt- und Körperzuständen, es ist umgeben von Sommertieren, dem Summen der Insekten und dem Schreien der Schwalben, in einer von Sinnlichkeit und Affekten erfüllten Atmosphäre. Es werden sinnlichleibliche Resonanzen entfaltet, die eine grenzüberschreitende Dynamik in Gang setzen und die affektive Energie fließen lassen. Das Ich wird in einen transitorischen Zustand versetzt und öffnet sich für dunkle Ahnungen einer Verwandtschaft mit allen Lebewesen: »stumm geworden wie die Tiere / ein sehr geschlagenes Geschlecht«43. Es klingt hier die »kaum auszudenkende abgründige leibliche Verwandtschaft mit dem Tier«44 an, die ein Tier-Werden einleitet, das auf einer ›widernatürlichen Anteilnahme‹ gründet, bis am Gedichtende die Speziesgrenzen überschritten werden und der Mensch sich im Tier wiedererkennt: »le chien, c’est moi«45. 38 Ebd., S. 158. 39 Ebd., S. 8. 40 Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Franz. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin: Merve1997 (frz.1980), S. 325. 41 Butler, Judith: Undoing gender. New York: Routledge 2004, S. 25. 42 Mayröcker, Friederike: Gesammelte Gedichte 1939–2003. Hrsg. von Marcel Beyer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2004, S. 241f. 43 Ebd., S. 242. 44 Heidegger, Martin: Über den »Humanismus«. Brief an Jean Beaufret. Paris. In: Ders.: Platons Lehre von der Freiheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«. Bern: Francke 1946, S. 53– 119, hier S. 69f. 45 Mayröcker, Gedichte. 2004, S. 242.

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Mittels dessen, was das menschliche Subjekt mit dem Tier gemeinsam hat – des Körpers, der tierlichen Natur – gibt es die Möglichkeit einer Transgression der menschlichen Bewusstseinsgrenze. Der Körper ist es, der das Versprechen der dem menschlichen Bewusstsein verschlossenen Transzendenz offenhält. Menschlicher und nicht-anthropomorpher Körper berühren sich in einem intensiven Affektstrom, der – jenseits von Ähnlichkeits- oder Analogiebeziehungen – ontologisch geschiedene Lebewesen miteinander verschmilzt. Es wird eine mit intensiven Affekten aufgeladene Bindung zu anderen Lebewesen ins Spiel gebracht, die ein Fluktuieren der Identitäten initiiert und liminale »Ununterscheidbarkeitszonen«46 zwischen dem Menschlichen und Nicht-Menschlichen eröffnet, denen eine transgressive Dimension eignet. Affekten wohnt somit bei Mayröcker eine transformative Kraft inne, sie bedeuten das Unmenschlich-Werden des menschlichen Subjekts und leiten sein ›Tier-Werden‹, ›Pflanze-Werden‹ ein. Dem Verhältnis zur Natur wohnt damit in Mayröckers Texten eine Dynamik der Entgrenzung inne – von Affekten befeuert, entriegeln sie die ontologische Sperre zwischen Mensch und Tier und behaupten die Möglichkeit transspezifischer Begegnungen, die sich einer grenzenlosen Empathie, einer Affizierbarkeit durch die Natur verdankt.

II.

Bilder als Affektträger

In Mayröckers Schreibpraxis werden oftmals Bilder als Affektträger mit transgressiver Potentialität wirksam. Programmatisch für das Verhältnis der Dichterin zur bildenden Kunst ist der Kurzessay »Vereinigung des Disparaten – Das Innerste aller Kunst«, der der Textsammlung »als es ist. Texte zur Kunst« vorangestellt ist: »Ich schaue das Bild lange an, nein: ich lasse mich auf das Bild lange ein, nein: ich steige hinunter zu ihm in den Brunnenschacht, […] bis es sich tief eingenistet hat in mir, in meinem Kopf, in meinem Körper, dasz schlieszlich aus diesem Liebesverhältnis das Bild von sich aus die richtigen Wörter und Sätze ausstöszt«47.

Es wird hier ein affektgeleitetes Verschmelzen mit dem Bild modelliert. Das Schreiben über Bilder vollzieht sich – wie Inge Arteel zu bedenken gibt – nicht in einem »souveränen Schöpfungsakt, der ein der Künstlerin externes Kunstobjekt, die Bildbeschreibung hervorbringe«,48 sondern in einer »exzessive(n) Begeg46 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie? 2021, S. 204. 47 Mayröcker, Friederike: »Vereinigungen des Disparaten – das Innerste aller Kunst«. In: Dies., als es ist. 1992, S. 7. 48 Arteel, Inge: Nach dem Bilder- und Berührungsverbot. Kunst und Erotik in Die Umarmung, nach Picasso. In: Strohmaier, Buchstabendelirien. 2009, S. 97–120, hier S. 98.

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nung« mit dem Bild, »welche die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt auflöse.«49 Es wird eine ›Vereinigung des Disparaten‹ anvisiert als Aufhebung der Scheidung von Subjekt und Objekt zugunsten einer wechselseitigen Durchdringung von Betrachterin und Kunstwerk. Die Bildbetrachtung vollzieht sich in einem reziproken Geschehen durch die affektiven Begegnungen und Verflechtungen, die sich zwischen Bild und Betrachterin im Modus der Wahrnehmung ereignen. Kein entäußertes Vor-sich-Stellen der Repräsentation ist das Ziel, sondern ein »Außer-sich-Sein (être hors de soi) durch das uns von außen affizierende Bild«50. Insofern zeugen Mayröckers Texte zur bildenden Kunst von der Herkunft der Bilder aus dem Pathos und geben den »Widerfahrnissen des Pathischen«51 Raum. Kunstwerke werden zum Resonanzraum der pathetischen Erfahrung, einer exzentrischen Erfahrung des Außer-sich-Seins, die als Liebesverhältnis modelliert wird, aber nicht als Ausdruck der an das Subjekt gekoppelten Emotionen, sondern als überpersönliches Affektgeschehen, welches das Subjekt übersteigt und sich zwischen Betrachterin und Bild vollzieht. Auch Mayröckers Texte zur Kunst können damit als ein Raum begriffen werden, in dem Affekte als Energie zwischen den involvierten Entitäten zirkulieren. Das Subjekt tritt aus sich selbst heraus und betritt einen mit Affekten und Begehren aufgeladenen Zwischenraum, wobei Bildbetrachtung als eine nicht nur den Intellekt, sondern auch den »Körper beschlagnehmende Praxis«52 ins Spiel gebracht wird, welcher der »vehement affektierenden Einwirkung«53 des Bildes ausgesetzt ist. Das Kunstwerk umgreift den Körper als ein »Bild, das auf den Körper, das Blut und den Geist des Betrachters Anspruch erhebt«, wie es W.J.T. Mitchell ausdrückt.54 In bildanthropologischen Ansätzen – etwa bei Hans Belting – ist der Körper als »Ort der Bilder«55 herausgestellt worden, als ein »lebendiges Organ für Bilder«, der »Ort, an dem Bilder in einem lebendigen Sinne […] empfangen und gedeutet werden«56.

49 Ebd. 50 Alloa, Emanuel: Berührung – Entblößung. Von der Pathik der Bilder bei Maurice Blanchot. In: »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Hrsg. von Kathrin Busch/Iris Därmann. Bielefeld: transcript 2007, S. 75–92, hier S. 90 (Hervorhebungen im Original, BS). 51 Ebd. 52 Arteel, Bilderverbot. 2009, S. 98. 53 Ebd., S. 99. 54 Mitchell, W. J. T.: Bildtheorie. Aus dem Amerik. von Heinz Jatho u. a. Hrsg. von Gustav Frank. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008 (engl. 1986), S. 362. 55 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Fink 2001, S. 12. 56 Ebd., S. 57.

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Mit der körperbezogenen Energie von Affekten und einer von Begehren getriebenen gegenseitigen Durchdringung von Subjekt und (Bild-)Objekt können die Kernbegriffe für Mayröckers Verhältnis zur bildenden Kunst und ihrer Affektpoetik insgesamt benannt werden. In »da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete« werden die Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero zum Schauplatz eines überbordenden Liebesbegehrens: »Botero, seine Mündchen winzige rosa Mündchen […] ich habe mich in diese Mündchen : rosa Knospen v. Mündchen verliebt […] Ich möchte seine Mündchen : Paradiesgärtchen aufsperren : küssen, mit verborgenen Zungen umarmen«57. Auch die Gemälde Stefan Fabis, »saugend mein Lippenpaar«,58 werden zum Auslöser eines reziproken Begehrens, das die Grenzen zum Bild verflüssigt. In »brütt oder Die seufzenden Gärten« entzündet sich der Liebesaffekt an Pablo Picassos Gemälde »Paul beim Zeichnen«, die sinnliche Aneignung des Bildsujets kulminiert in der Vorstellung einer erotische Vereinigung mit dem Bild im Zustand ekstatischen Außer-sich-Seins.59 Bilder entbinden Affektwirkungen und setzen Empfindungsblitze frei, bei denen »die Flamme aus der Leinwand schieszt«60. Die Kussmündchen aus Boteros Gemälden, Bilddetails, die sich an ihren Lippen ›festsaugen‹ sind Fragmente einer sich verströmenden Sprache der Liebe, des überschäumenden Exzesses, der Lust und der Ekstase. Die Affektierungen durch Bilder nehmen in Mayröckers Texten an Körpergefühlen ihren Ausgang und entfesseln ›Schreibweisen vom Körper‹. So etwa im »Proëm von den Tapisserien, oder Tinte meines Wesens (Kleist). Zu Arbeiten von Ilse Abka Prandstetter«,61 in dem ein ekstatisches Sprechen freigesetzt wird, das sich von den Wandteppichen der österreichischen Künstlerin ergreifen lässt. Zum Ort der Affizierung wird der Körper, die Betrachterin legt sich die Tapisserien unter den Kopf, den Nacken, an die Füße, bis das Kunstwerk den ganzen Körper in Beschlag nimmt. Körpergrenzen werden porös, es findet ein osmotischer Austausch mit dem Kunstwerk statt, der den Furor des Schreibens freisetzt und ein atemloses ›Schreiben im Ausnahmezustand‹ entfacht: »eine innerste Raserei verwüstet mich«62. Auch in »Dekomposition. Zu Radierungen von Irmgard Flemming«63 wird das Affiziert-Werden durch Bilder durch die Entfaltung 57 Mayröcker, da ich. 2020, S. 83. 58 Ebd., S. 156. 59 Vgl. Mayröcker, Friederike: brütt oder Die seufzenden Gärten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 272. 60 Mayröcker, Friederike: Also, wenn die Flamme aus der Leinwand schieszt (Zu Arbeiten von Andreas Compostellato). In: Dies., als es ist. 1992, S. 97–100, hier S. 100. 61 Mayröcker, Friederike: »Proëm von den Tapisserien, oder Tinte meines Wesens (Kleist). Zu Arbeiten von Ilse Abka Prandstetter«. In: Ebd., S. 125–130. 62 Ebd., S. 125. 63 Mayröcker, Friederike: Dekomposition. Zu Radierungen von Irmgard Flemming. In: Dies., als es ist. 1992, S. 15–17.

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von Körperszenarien hervorgetrieben. Das Bilderlebnis wird auch hier durch Berührung initiiert, es wird eine haptische Dynamik des Anfassens und Betastens entfaltet, mit der die Privilegierung des Sehsinns zugunsten einer Bilderfahrung zurückgenommen wird, die sich auf den ganzen Körper erstreckt und dem Sehen selbst eine somatische Intensität abnötigt. In die »Spalten« und »Ritzen« der Bilder möchte die Betrachtende ihre Hand legen,64 mit tastenden Fingerkuppen ihrer Faktur nachfahren.65 Dem Tastsinn wird hier eine bilderschließende Potentialität verliehen, der das Auge kaum zu folgen vermag.66 Es vollzieht sich eine Begegnung mit dem Kunstwerk, die sich von der Modalität des Sichtbaren zugunsten eines »eigenleiblichen Spürens«67 zu befreien sucht, das die Präsenz des Kunstwerks mit dem ganzen Körper zu erspüren sucht, um schließlich – angeleitet von dessen Empfindungen – zu dem vorzudringen, das nur im Zustand der Ekstase erfühlt werden kann.68 Bilder folgen bei Mayröcker einer ›Logik der Sensationen‹ und des Körpers, sie haben psychisches Affizierungspotential und entbinden Intensitäten. Beim Betrachten von Bildern ist die affektive Ebene ›schneller‹ als die Kategorisierung der Intensität als Emotion, Massumi spricht in diesem Zusammenhang von der »[…] primacy of the affection in image reception«69. Kunstwerke bringen »die Affekte in Aufruhr«70 und zeitigen in Mayröckers Texten mannigfache und nicht-lineare Wirkungen, es werden multiple Prozesse angestoßen, in deren Zuge der Affekt eine eigene Dynamik entfaltet und immer neue Objekte besetzt. In »Akt, eine Treppe hinabsteigend (nach Duchamp)«71 greift das Affektgeschehen zwischen der Betrachterin und Duchamps Gemälde auf die Tierwelt über: Der Zustand ekstatischen Außer-sich-Seins entfesselt die pathetische Erfahrung des Mitleidens mit dem Tier: »ein Sperling in blutige Fetzen zerrissen lag im Rinnsal, heute morgen als ich das Haus verliesz ein zerquetschter zerriebener Vogel«72. Das Kunstwerk wird hier zum Katalysator eines Zustands grenzenloser Responsivität, »filled with motion and resonance«,73 es setzt Prozesse in Gang, 64 65 66 67 68

69 70 71 72 73

Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Vgl. Deleuze, Logik der Sensation. 1995, S. 48. Schmitz, Herrmann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn: Bouvier 1990, S. 115–117. Vgl. Sommerfeld, Beate: »Wenn die Flamme aus der Leinwand schieszt«: Faltungen inspirierten Sprechens in der ekphrastischen Lyrik Friederike Mayröckers. In: Fragen zum Lyrischen in Friederike Mayröckers Poesie. Hrsg. von Inge Arteel/Eleonore der Felip. Stuttgart: Springer/Metzler 2020, S. 35–55, hier S. 40f. Massumi, Parables. 2002, S. 24. Mayröcker, Friederike: Akt, eine Treppe hinabsteigend (nach Duchamp). In: Dies., als es ist. 1992, S. 27–35, hier S. 29. Ebd., S. 27–35. Ebd., S. 31f. Massumi, Parables. 2002, S. 26.

»Körpergefühle« – Friederike Mayröckers entgrenzende Affektpoetik

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die durch Resonanzen und Interferenzen gekennzeichnet sind und die MenschTier-Grenze ins Schwingen bringen. Auch in »Die Umarmung, nach Picasso«74 ereignen sich offene Prozesse und Affektwirkungen, in denen Transformationen stattfinden. Bei der Betrachtung von Picassos »Suite Vollard« strahlt die affektive Erregung ab auf das Verhältnis zur Natur, im Gefolge der Bilder vollziehen sich Grenzüberschreitungen zum Animalischen, die Identitäten oszillieren lassen und das ›Tier-Werden‹ des Subjekts herbeiführen: »sehen Sie doch […] nahe den dicklichen Nüstern des Tieres die Stierkomparsen!, rötliche Haut, als lebten sie noch, wie ein Tier, ja als lebte ich noch, ich lebe eben als Tier«75. Es geht bei Mayröckers Bildbegegnungen also um das Eingehen multipler affektiver Beziehungen, bei denen die transformative Kraft von Affekten virulent wird, die das Subjekt übersteigen und in ein überpersönliches Affektgeschehen eingehen lassen. Auch dem Verhältnis zur bildenden Kunst haftet damit in Mayröckers Texten eine Dynamik der Entgrenzung an: Aus dem Überschreiten medialer Grenzen in einem ekstatischen Liebesverhältnis zu Bildern erwächst die osmotische Verschmelzung mit der Natur.

III.

Fazit

Mayröckers Texte sind von Affizierungen durchsetzt, sie sind aus Affekten entstanden und beziehen aus ihnen ihre Logik, die mit Deleuze – der in ihren Werken als Referenzautor zumindest Erwähnung findet76 – als eine ›Logik der Sensation‹ und der Intensitäten benannt werden kann. Nicht um einen unmittelbaren Ausdruck von ›Gefühlen‹ geht es hier, vielmehr sind die Texte in ein transsubstanzielles Affektgeschehen eingelassen, sie verhandeln keine rubrizierbaren und an die Subjekte gekoppelten Emotionen, sondern inszenieren auf der ›Bühne des Textes‹ Affektierungen als mannigfache Prozesse und Wirkungen, die das subjektive Empfinden entgrenzen und in einem Feld aus Kräften stattfinden. Es entstehen Kräftefelder aus Resonanzen und Interferenzen, an deren Schnittstellen ontologisch geschiedene Entitäten aufeinandertreffen und binäre Oppositionsbildungen wie Subjekt / Objekt, menschlich / nicht-menschlich ausgehebelt werden. Ein affekttheoretischer Zugriff auf Mayröckers Schreibpraxis lässt damit eine Dynamik sichtbar werden, die als affektiv beschreibbar ist, es werden ereignishafte Dynamiken angestoßen, Prozesse, die in sich affektiv sind und nicht den Affekt abbilden. Affekte, die in Mayröckers Texten ›zur Sprache kommen‹, werden nicht 74 Mayröcker, Friederike: Die Umarmung, nach Picasso. Hörspiel. In: Dies., als es ist. 1992, S. 81–96. 75 Ebd., S. 88. 76 Vgl. Mayröcker, da ich. 2020, S. 216. Mayröcker hatte Texte von Deleuze in ihrem Besitz, für diese Information danke ich Eleonore de Felip.

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Beate Sommerfeld

sprachlich repräsentiert, es übermittelt sich eine virtuelle Intensität, die sich zwischen den Entitäten ereignet. Affizierung ist dann nicht etwas, was dem Subjekt zustößt und beim Subjekt aufhört, sondern etwas, das Mayröckers Texte immer wieder anders und neu als Potenzial durchwirkt. Als autonomes Geschehen77 sind die bei Mayröcker entfalteten Affekte prozessual, flüchtig und nie ›dingfest‹ zu machen – wie es eben ein Ereignis ist. Der sich in den Texten artikulierende Affekt löst sich von den Subjekten und zirkuliert im Raum der Texte, es wird eine affektive Energie entbunden, die das Subjekt als fixe Entität übersteigt und in multiple Intensitäten auflöst. Dabei wird eine Subjektivität ins Feld geführt, die sich durch ontologische Offenheit und Affizierbarkeit auszeichnet und sich für Verbindungen mit vielgestaltigen Anderen öffnet. Für Massumi ist der Affekt daher eine Form, sich auf den Anderen einzulassen, eine Bindung zu ihm aufzubauen: »In affect, we are never alone. That’s because affects […] are basically ways of connecting, to others and to other situations.«78 In Mayröckers Poetik benennt Affekt damit nicht zuletzt die Fähigkeit, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen und in der Verflochtenheit mit anderen zu erkennen. Mayröckers Affektpoetik ist unauflöslich mit den in ihren Texten entfalteten ›Schreibweisen des Körpers‹ verbunden. Dabei werden die Permeabilität des Körpers und seine transgressiven Dimensionen ins Spiel gebracht: Der Körper wird zur Membran, die die Grenzen zur Außenwelt zum Vibrieren bringt. Affekte durchströmen die Körper jenseits des verstehenden Bewusstseins und verschränken sie miteinander in einer transformativen Übertragung von Energiepotentialen über ontologische und mediale Grenzen hinweg. In Mayröckers ›Körpergefühlen‹ vollzieht sich die furiose Entgrenzung des dichterischen Subjekts, das aus sich heraustritt und zwischen die Dinge gerät. Das ekstatische Subjekt ist nicht ablösbar von den Affektierungen, in die es verwickelt ist, sondern stets nur im Werden mit Anderen, in einer Ko-Emergenz fassbar. Die in den Texten zum Tragen kommenden Affektdynamiken emergieren aus dem Zusammenspiel der involvierten Entitäten und verdanken sich Interaktionen und Resonanzen, die sich in grenzüberschreitenden Prozessen ständig selbst hervorbringen. Mayröckers Texte können somit als Kartierungen von Affekten gelesen werden, über welche die Akteure in energetischen Prozessen miteinander vernetzt werden – es vollzieht sich eine Dynamisierung der Texte als Affektgeschehen, das ein in sich bewegliches Netzwerk metastabiler Gefüge entstehen lässt. Diesen Prozessen wohnt ein grenzüberschreitendes und den Textbegriff deterritorialisierendes Potenzial inne, das auch die in der Literaturwissenschaft etablierten 77 Vgl. Massumi, Parables. 2002, S. 35. 78 Vgl. Massumi, Politics. 2015, S. 6.

»Körpergefühle« – Friederike Mayröckers entgrenzende Affektpoetik

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Grenzziehungen herausfordert. Mayröckers Textgebilde haben die Struktur eines Rhizoms, das in alle Richtungen wuchert, bis es die ganze Wirklichkeit umspannt, alle Dinge durchquert und miteinander verklammert. Was also in Mayröckers Affektpoetik letztendlich geschieht, ist eine ›Vereinigung des Disparaten‹, die Grenzen zum Einstürzen bringt und vorführt, »wie eins ins andere flieszt, eins mit dem anderen – und sei es noch so weit hergeholt oder gegensätzlich – sich verschränkt«79.

79 Mayröcker, Umarmung. 1992, S. 89.

Monika Wolting (Wrocław)

»Die verfluchten Zwischenwelten.« Literarische Darstellungen der Hindernisse auf der Flucht

I.

Heterotopische Orte

Der Gegenstand des Beitrags ist die Analyse von Erzählungen, die den Zwischenzustand, der während der Flucht, zwischen Aufbruch und Ankommen entsteht, zum Gegenstand ihrer Auseinandersetzung haben. Dabei geht es um das Bestimmen von heterotopischen Räumen, literarischen Orten der Regel- und Rechtlosigkeit, Bereichen, die sich durch andere Ordnungen bzw. über das Fehlen jeglicher Ordnungen kennzeichnen. Gegenwärtig sind solche Orte auf der ganzen Welt zu finden, wo Krisen herrschen, Kriege stattfinden. An der ukrainisch-polnischen Grenze warten Menschen bis 20 Stunden1 auf den Einlass nach Polen, obwohl nach amtlichen Angaben die polnische Grenze offen steht. Viele berichten von mehreren Reisetagen mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln, Übernachtungen an unterschiedlichen zufälligen Orten, von Hilfe fremder Menschen aber auch von Beschuss der Fluchtkorridore. An der polnisch-belarussischen Grenze kommt es immer wieder zu Konflikten, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten werden bei Grenzübertritt durch die Grenzpolizei aufgehalten.2 Im Mittelmeer sterben seit über sieben Jahren Menschen, weil die Fluchtbewegung und -routen nicht gesichert und rechtlich nicht geregelt sind.3 In Afghanistan werden Menschen von den Talibankräften an Flucht oder Rückkehr in sichere

1 Stand: 28. 02. 2022, laut Der Spiegel. Jäschke, Martin: Eine Fluchtbewegung historischen Ausmaßes. Auf: https://www.spiegel.de/ausland/fluechtlinge-aus-der-ukraine-eine-fluchtbewegu ng-historischen-ausmasses-video-a-7289596a-17e9-4a8d-8c99-09805a024936 (letzter Abruf 28. 02. 2022). 2 Zaognia sie˛ sytuacja na granicy. Portal Samorza˛dowy vom 10. 03. 2022. Auf: https://www.portal samorzadowy.pl/wydarzenia-lokalne/zaognia-sie-sytuacja-na-granicy-polsko-bialoruskiej,35 9785.html (letzter Abruf 14. 03. 2022). 3 Fast 600 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet. Die Zeit 22.02.22. Auf: https://www.zeit.de/ge sellschaft/2022-02/italienische-kuestenwache-fluechtlinge-mittelmeer-rettung (letzter Abruf 14. 03. 2022).

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Monika Wolting

Gebiete gehindert.4 Daniel Odija schreibt in einem Beitrag für den »Cassandra«Newsletter: »In Zeiten des Krieges stirbt die Literatur. Sie gedeiht in Zeiten des Friedens«.5 In den Zeiten des Krieges übernehmen andere Medien die Funktion des Festhaltens menschlicher Geschichten. Zahlreiche Videos, die auf YouTube zu sehen sind, erzählen in Handy-Aufnahmen von menschlichen Geschichten und Schicksalen.6 Bereits durch die Fokussierung der Kamera auf bestimmte Elemente wird der Moment des Erzählens über das Geschehene realisiert. Das Geschehen wird aus einer bestimmten Erzählerperspektive erzählt. Viele Autor*innen nutzen später in ihrer schriftstellerischen Arbeit diese filmischen Zeugnisse. Die Flucht ist ein Prozess, der sich mit statischen Begriffen nicht bezeichnen lässt. Denn dabei geht es um Austreibung, Verstoßung, Verbannung, Verweisung, Vertreibung. Die Fluchten verlaufen nicht zielgerichtet, sie gleichen eher einem Umherirren, das sich immer wieder beschleunigt, dann ins Stocken gerät, schließlich zum Stillstand kommt, bevor es wieder auf unterschiedlichen Wegen fortgesetzt wird. Grenzen – Zäune, Mauern, Flüsse – stellen sich gegen diese Fluchtbewegungen, hemmen sie, können sie zum Scheitern bringen. Grenzverletzungen erscheinen dabei als paritätisches Geschehen. Die Räume, die von den Flüchtenden allein oder im Kollektiv durchquert werden und die durch die jeweiligen Fluchtpraktiken konstituiert werden, wechseln: von unendlicher Weite – Meere, Wüsten – zu der Enge von Gefängnissen, Verstecken, Lagerzellen. Ilija Trojanow stellt dieses »Hin und Her« der Flucht in seinem Band »Nach der Flucht«, der als »behutsame und genaue Topographie des Lebens nach der Flucht, das existentielle Porträt eines Menschenschicksals, das das 21. Jahrhundert bestimmt«7 zusammengefasst werden kann, am Beispiel einer kurzen Erzählung dar: »Eines Tages wird der staatenlose Student am Brenner aus dem Nachtzug geworfen. Am Kragen gepackt, zur Tür geschubst, in der Polizeistation (einem Kabuff) verhört. Er habe kein Visum für Österreich. Er wusste nicht, dass er ein Visum für Österreich benötigte. […] Das Visum gibt es nur in Mailand, auf dem Konsulat. Er hat kein Geld. Das interessiert die Grenzpolizei nicht, Es ist die Nacht von Freitag auf Samstag. Das sei 4 Dürrholz, Johanna: Wir sind weit weg, aber wenigstens frei. Geflohen aus Afghanistan. Auf https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/flucht-aus-afghanistan-eine-frauenrechtl erin-berichtet-17809655.html (letzter Abruf 14. 03. 2022). 5 Odija, Daniel: Das Opfer der Ukraine. In: Cassandra Newsletter 2/2022. Auf: http://www.ifg. uni.wroc.pl/wp-content/uploads/projekty/cassandra/Cassandra-Newsletter-02-2022.pdf (letzter Abruf 14.03. 2022). 6 Beispielsweise: »Я Больше Не РУССКИЙ« Росіянинпроросію і втечу в Польщувід Обстрілів 07.03. 2022. Auf: https://www.youtube.com/watch?v=g7RXddlEgXI (letzter Abruf 14.03. 2022). 7 Trojanow, Ilija: Nach der Flucht. Frankfurt/M.: Fischer Verlag 2017. Infoseite: https://www. fischerverlage.de/buch/ilija-trojanow-nach-der-flucht-9783103972962 (letzter Abruf 14. 03. 2022).

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nicht ihr Problem, erklärt die Grenzpolizei. […] Er versucht heimlich in den nächsten Zug einzusteigen. Er wird erwischt von einem Schatten mit Hund. Beide bellen ihn an, im Kabuff wird die Grenzpolizei handgreiflich. Sie setzt ihn in den nächsten Zug Richtung Bozen. Sie hat Macht, er kein Geld. Er fährt schwarz, zurück zum Brenner. Er geht zum Lastwagenparkplatz. […] Keiner kontrolliert den LKW-Fahrer und seine Menschenfracht. Sie überqueren brummend die Grenze.«8

Die Flüchtlingsfigur, Migranten- und Exilantenfigur entwickelt eine eigenartige Beziehung zum Raum, sie ist, ganz anders als alle anderen Figuren, eine Figur ohne einen stabilen Fixpunkt im Raum, sie ist stets in Bewegung, in Zügen, in LKWs oder zu Fuß unterwegs, hält sich immer nur kurzweilig auf Polizeistationen, in Gefängnissen, in Flüchtlings-, Migranten- oder Asylantenheimen und Verstecken auf. Dieser Umstand führt wiederum dazu, dass der Flüchtende als Figur des Dritten, die Störungen in bestehende Systeme bringt, zu deuten ist. Die Störung kann gesellschaftliche, politische und religiöse Systeme betreffen und zur Hinterfragung gesellschaftlich verbindlicher Vorstellungen von Umgang mit Fremden führen. Literatur besitzt die besondere Fähigkeit, die Prozesse der Störung und die stattfindende Veränderung oder auch die Verhärtung der einzelnen Systeme mit ihren Mitteln darzustellen. Denn sie schafft Figuren, die mit individuellen Merkmalen ausgestattet, in der Umwelt entsprechend agieren, die Räume durch ihr Handeln beeinflussen und umgestalten, die dort ansässigen Figuren zum Handeln oder Nicht-Handeln nötigen. Gerade die Verbindung vom flüchtenden Individuum und Umwelt in einem literarischen Text verleiht ihm den Status eines politisch engagierten Textes. Der Umstand ergibt sich daraus, dass Geflüchtete vielfach mit der Situation konfrontiert sind, in der ihnen eine andere oder eingeschränktere Partizipation9 in der Gesellschaft zusteht oder ermöglicht wird als anderen Teilen der Bevölkerung des Durchzugs- oder des Ziellandes. Niklas Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von dem Widerspruch zwischen den eigenen und fremden Ansprüchen, wobei sich der Geflüchtete den letzteren nicht entziehen kann.10 Die politische Situation, die geltenden Macht- und Gewaltformen und die kulturellen Normen sind zu akzeptieren und ihre Gültigkeit steht nicht zur Verhandlung. Die Konfrontation mit den Macht- und Gewaltformen führt zu Störungen des Fluchtweges. Die Protagonisten werden auf unterschiedliche Zeit auf der Flucht aufgehalten und werden gezwungen durch Beeinflussung von außen entsprechend zu agieren. Die Flucht wird von einem alles beherrschenden 8 Trojanow, Nach der Flucht. 2017, LXV. 9 Migration und Minderheiten in der Demokratie. Politische Formen und soziale Grundlagen von Partizipation. Hrsg. von Philipp Eigenmann/Thomas Geisen/Tobias Studer. Wiesbaden: Springer 2016, S. 4. 10 Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 80.

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Monika Wolting

Schwebezustand des »in limbo« gelenkt, in dem man nicht weiß, was sich ereignen wird und wann sich etwas ereignen wird. Das Forschungsfeld »Narrative und Repräsentationen der Flucht« ist dabei sehr komplex. In diesem Beitrag möchte ich den Schwerpunkt auf die Narration von »Flucht« legen. Dabei ist es zunächst wichtig, zu bestimmen, was unter Flucht hier verstanden wird. Es geht um gegenwärtige Bewegungen des Displacement, d. h. dass Narrationen von Fluchtbewegungen, wie sie vor dem Fall der Mauer, am Ende des 2. Weltkrieges, während der Diktatur des Nationalsozialismus oder in Folge der ethnischen Säuberungen nach dem 1. Weltkrieg stattfanden, aber auch von zeitlich weit zurückliegenden oder gar mythisierten Fluchten, in diesem Beitrag nicht explizit angesprochen werden, auch wenn strukturell in diesen Texten viele Ähnlichkeiten bestehen.11 Zur Analyse wird die literarisch gestaltete »Flucht« herangezogen, die heuristisch als gegenwärtiger »Globalisierungseffekt« definiert wird. Denn die Hauptgründe für die gegenwärtige weltweite Bevölkerungsbewegung lassen sich in folgenden Stichpunkten festhalten: Neue Kriege, Klimawandel und Generation Z, von Kannah Move genannt, deren Zugehörige über grenzenlose Technologien und Geräte weltweit miteinander verbunden bleiben. Alle drei Gründe für die Flucht sind Antworten auf die Globalisierung, denn sie brachte durch den Fortschritt, die Beschleunigung, die Vernetzung nicht nur Positives, wie die weltweitreichenden Demokratisierungsprozesse, sondern auch rasche Verbreitung kleiner Kriege und ausgedehnte Migrationsbewegungen mit sich. Diese Eingrenzung hat auch für die Diskussion der literarischen und medialen Flüchtlingsfiguren Bedeutung, indem man diese konsequent im Kontext oder in der Konfrontation mit der »Moderne« verortet, d. h. mit dem Festlegen von nationalen Zuschreibungen, dem weltweiten Ziehen von Landesgrenzen, der Einführung und Legitimierung von Pässen. Wenn die aktuellen Fluchten als Effekte der von der »Globalisierung« verantworteten politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Miseren zu verstehen sind, dann erklärt dies auch die »Flucht« als weltweite Erscheinung, wie sie Ai Weiwei in seinem Filmprojekt »Human Flow« dokumentiert und erzählt.12 Begrenzt wird das Korpus auf spatiale Fluchtnarrative, die als Fluchtpunkt Europa (mit einem speziellen Migrations- und Grenzregime) haben. Es ist damit im Wesentlichen die Erzählung der Fluchtrouten aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika, bei denen eine Zeitlang auch das Mittelmeer die entscheidende Passage der Flüchtlinge bildet und es sind die EU-Grenzen, auch in ihrer »Deterritorialisierung« durch Schengen, die im Zentrum der Praktiken von legalem und illegalem 11 Vgl. Wolting, Monika: Der Flüchtling – ein literarischer Topos. In: Porównania 2023, im Druck. 12 Human Flow von Ai WeiWei und 11 weitere Filme über Flüchtlinge. DW. Auf: https://www.d w.com/de/human-flow-von-ai-weiwei-und-11-weitere-filme-%C3%BCber-fl%C3%BCchtlin ge/g-41369005 (letzter Abruf 14. 03. 2022).

»Die verfluchten Zwischenwelten«

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bordercrossing stehen. Die Fluchtpassagen werden durch Meer und Wüste bestimmt, die auch in der Narration die Verlorenheit des Flüchtlings in einem Außerkraftsetzen der Ort- und Zeitbestimmungen abbilden. Aufgehoben scheint diese Ort- und Zeitlosigkeit durch die Grenzen, auf deren Überwindung hin die Fluchten (teleologisch) ausgerichtet sind, an der diese aber immer wieder zum Stillstand kommen, ja, die zu einer zeitweiligen Reterritorialisierung der Flüchtenden an den Zäunen von Ceuta und der Balkanlinie, auf den griechischen Inseln, in den Auffanglagern in der Türkei, Libyen usw. führen. Grenze und Grenzüberschreitungen in vielen spatialen Fluchtnarrativen der Literatur bilden ein raumzeitliches Moment, das das Narrativ strukturiert bzw. destruiert. In der Konfrontation mit der Grenze verdichtet sich auf der Ebene der Histoire die erzählte Fluchthandlung, akzeleriert sich oder kommt sie zum (zeitweiligen) Stillstand/Abbruch. Welche Konsequenzen/Störungen der Grenzübertritt für den Discours in weitem Sinne (einschließlich der Eingriffe in die Erzählsprache bis zum Verstummen, der Verstörungen der Erzählinstanz usw.) bedeutet, muss als besonderer Aspekt bei der analytischen Fokussierung der Grenzüberschreitung wahrgenommen werden, insofern diese als Überschreiten der narrativen Ordnung in Erscheinung tritt. In erster Linie erscheinen die Räume und Grenzen in den Narrativen der Kriege im Nahen Osten und in Nordafrika männlich codiert: junge arabische und afrikanische Männer brechen aus der globalisierungsbedingten politischen und ökonomischen Misere auf, um – den Tod in Kauf nehmend – in Europa bessere Existenzbedingungen zu finden. Die Frauen und die Familien werden, so die Hoffnung, im Rahmen von Nachzugsregelungen nachgeholt. Der Ende Februar 2022 ausgebrochene Krieg durch russischen Angriff auf die Ukraine zeigt eine andere Geschlechterzusammensetzung: Auf den Weg machen sich Frauen und Kinder, die Männer bleiben im Land und greifen zur Waffe. Wie das Narrativ dieser Flucht sich literarisch entwickelt, ist abzuwarten. Filmische Narrative bauen bereits auf dieser Genderzuweisung der Fluchträume auf, Reportagen folgen ihr häufig. Im Weiteren werden exemplarisch Texte besprochen, in denen die Fluchtroute die Narration beherrscht. Im ersten Schritt werden die Fluchthindernisse in einem Jugendroman »Hesmats Flucht« dargestellt, in dem sich die Struktur des Romans linear an den Schwierigkeiten der Flucht entwickelt. Im zweiten Schritt wird anhand des Romans »Alle Hunde sterben« von Cemile Sahin danach geschaut, wie sich das Leben in einem Versteck gestaltet. In diesem Versteck stranden verschiedene Geflüchtete, aus verschiedenen Gründen und verbleiben da eine ungewisse Zeitlang. Im dritten Schritt werden weitere Romane besprochen, die die Fluchtroute über das Mittelmeer zum Motiv haben: Olga Grjasnowas »Gott ist nicht schüchtern«, Jenny Erpenbecks: »Gehen, ging, gegangen«, Robert Prossers »Gemma Habibi«. Nicht unerwähnt bleiben dabei solche Texte

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Monika Wolting

wie Bodo Kirchhofs »Widerfahrnis«, Abbas Khiders »Ohrfeige« und nicht zuletzt Ilija Trojanows »Nach der Flucht«. Der Schwerpunkt der Analyse wird hauptsächlich auf Elemente der Beschleunigung und der Entschleunigung der Flucht gelegt.

II.

Fluchtroute 1. – Naher und Mittlerer Osten

Das »Was« des Erzählens des Jugendromans »Hesmats Flucht. Eine wahre Geschichte aus Afghanistan«13 ist schnell zusammengefasst. Auf der Ebene der histoire wird die Flucht eines 11-jährigen Jungen Hesmat aus Afghanistan, einem Land, das von den Taliban beherrscht wird, erzählt. Hesmats Mutter ist an Tuberkulose gestorben, seinen Vater, der jahrelang für die russischen Besatzer gearbeitet hat und nach deren Rückzug erst arbeitslos und dann zum Schmuggler wurde, haben die Talibans ermordet, weil sie große Mengen an Gold bei ihm vermuteten. Das Gold sollte der Vater angeblich in der Zeit, als er im Arbeitsdienst der Russen stand, verdient bzw. angesammelt haben. Die Beziehung Hesmats zu seinem Großvater und seiner weiteren Familie stellt sich als kompliziert dar. Hesmat kann und will nicht in seiner Heimatstadt bleiben. Das ist der Moment, in dem der Protagonist die Entscheidung trifft zu fliehen. An dieser Stelle fängt die Erzählung seiner Flucht an, die von zahlreichen Hindernissen, die die Flucht bis auf ein Jahr ausdehnen lassen, begleitet wird. Durch vermintes Gebiet und über den schneebedeckten Hindukusch verlässt Hesmat mithilfe vieler Menschen sein Land. Er trifft auf geflüchtete Mudschaheddin, verbringt eine Zeit in einem letzten freien Dorf im Gebirge und begegnet Flüchtlingsgruppen und Ärzten einer Hilfsorganisation. Hesmat legt einen weiten Weg über Tadschikistan und Usbekistan nach Moskau und weiter über die Ukraine und Ungarn nach Österreich zurück, ist stets auf Hilfe anderer Menschen angewiesen. Auf seiner Flucht erfährt Hesmat Schläge und Demütigungen, er wird beraubt, von Menschenschmugglern betrogen, in Gefängnisse gesteckt, gefoltert und muss mit ansehen, wie sein bester Freund in seinem Versteck in einem Zug stirbt. Weihnachten 2001 wird Hesmat in Österreich aufgegriffen, kommt in ein Lager. Mehr als ein Jahr ist er unterwegs, über 5000 Kilometer hat er hinter sich gebracht. Wenn weiter nach der Struktur des Romans, also nach dem »Wie« des Textes gefragt wird, dann fällt eine einfache, lineare Struktur der Erzählung auf der Gegenwartsebene auf. Die Geschichte wird von einem heterodiegetischen Erzähler geschildert. Die lineare Struktur ist am Fluchtweg angelegt. Es gibt Raf13 Böhmer, Wolfgang: Hesmats Flucht. Eine wahre Geschichte aus Afghanistan. München: cbt/ cbj Verlag 2008 [im Folgenden unter der Sigle »HF« mit Seitenzahl im Text].

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fungen des Geschehens und auch Ausdehnungen, wenn wichtige Ereignisse auf der Flucht auftreten. Der Roman setzt in medias res ein, in jenem Moment, als Hesmats Flucht beginnt: »Hesmat hatte sich nicht umgedreht. Erst als das Auto die Ebene nördlich von Mazar-e Sharif in Richtung Osten durchschnitt, wurde ihm bewusst, dass er wohl nie mehr zurückkehren würde« (HF, 9). Der Erzähler folgt den Spuren Hesmats, berichtet, wie ein Reporter, über die Ereignisse, in deren Mittelpunkt seine Figur steht. Auf diese Weise entsteht eine »wahre« Geschichte – wie es im Untertitel heißt. Hesmat bewegt sich durch mehrere Länder Asiens und Europas, trifft auf viele Menschen, mit denen er unterschiedliche Erlebnisse verbindet. Der Erzähler berichtet schonungslos von Hesmats Weg und seinen ihn oft hindernden und beschleunigenden Begegnungen. Der erste Halt auf seinem Weg ist in Kunduz und zugleich das erste Hindernis: »Lange suchte er in diesem Dreck nach einem Quartier für die Nacht. Hinter einem der Verschläge […] holte er den ersten Hundertdollarschein aus seiner Unterhose. […] ›Ich möchte schlafen‹ […] ›Verschwinde‹, sagte der. ›Du bringst kein Glück […] Versuch es auf der Straße und jetzt verschwinde‹« (HF, 15–16).

Schlaf und Essen, als Grundbedürfnisse, stellen die Flüchtenden meist vor die größten Herausforderungen, denn dafür brauchen sie Hilfe anderer und müssen sich in die Obhut anderer begeben. Das gegenseitige Vertrauen wird hier gefragt und oft missbraucht. Ein Fremder wechselt Hesmat den großen Schein: »Du wills mir wohl nicht vertrauen. Mach dass du verschwindest […] [Er] zählte nach und erkannte, dass ihn der Wechsler um fast 50 Dollar betrogen hatte. Er weinte vor Zorn und Scham« (HF, 16–17). Nun will Hesmat weiter, sucht nach einer Gelegenheit mir anderen Flüchtenden zur tadschikischen Grenze zu kommen, als »Antwort hört er ›Verschwinde!‹ Manche hoben sogar ihre Ruten oder versuchten ihn mit einem Tritt in den Hintern zu vertreiben« (HF, 22). So wird der Protagonist mehrere Tage auf seiner Flucht aufgehalten, irrt durch die Gegend, fragt bei vielen Menschen erfolgslos nach dem Weg. »Der Tag hatte ihm nur Rückschläge versetzt […] plötzlich [packten] ihn mächtige Hände von hinten und [zerrten] in den Wagen. Er schrie, als ihn der Talib schlug und ihn an den Haaren riss. […] Der Raum war voll mit Jungen in Hesmats Alter. Alle warteten darauf, was passieren würde« (HF, 23). Hesmat wird für einige Tage in ein Gefängnis gesteckt, hier werden ihm die Haare abrasiert, er wird geschlagen und verbal gedemütigt, danach wird er freigelassen. Sein Fluchtweg charakterisiert sich durch eine Anhäufung an unerwarteten Ereignissen, die den Protagonisten aufhalten oder voran bringen. Einige Tage später gelingt es ihm jedoch, sich einer Gruppe von »Händlern, vertriebenen Familien und Flüchtlingen wie er selbst« (HF, 26) anzuschließen. Nach einigen Tagen löste sich die Gruppe auf, einige haben ihre Häuser erreicht, andere wollten ihren Geschäften nachgehen. Um sein Ziel zu verfolgen, musste Hesmat den Weg alleine fortsetzen, nach anderen

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Gelegenheiten suchen, die ihm das Weiterkommen ermöglichen. Nach einem glücklichen Zufall, wo er auf weit entfernte Verwandte trifft, scheint seine Flucht an Fahrt zu gewinnen. Er hat wieder Geld und eine Zugfahrt wird für ihn organisiert. Während einer Zugfahrt wird er aber aus dem Zug von Polizisten rausgeholt. Es ist an dieser Stelle produktiv die Szenen, die sich während einer Verlangsamung der Flucht abspielen, genauer zu untersuchen. Der Erzähler berichtet erneut nur das, was Hesmat mitbekommt, was ihm gesagt wurde, beziehungsweise das, woran er sich erinnern kann. Die Polizeistation wird nicht genannt, der Grund für die Mitnahme wird nicht angegeben. Der Erzähler konzentriert sich auf die Schilderung der Demütigungen und des Leids des jungen Protagonisten: »Bis spät in die Nacht putzten und schrubbten sie die Polizeistelle, den Platz hinter dem Haus und die leeren Zellen in Hof. […] ›Steh auf, du faule Sau‹, schrie der Polizist. ›Arbeite gefälligst.‹ […] Mit seinen schweren Stiefeln trat er seinen Freund aus dem Schlaf […] Sie bettelten um Essen. […] ›Seht ihr hier irgendwo Essen?‹« (HF, 70).

Die Hindernisse bedeuten stets körperliche und psychische Demütigungen, Hunger und Schmutz. Sie erzeugen bei den Protagonisten das Gefühl von Angst, Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. In diesem Modus wird das Narrativ des Romans fortgeführt. Das Erzählen wird von einem ›mitfühlenden‹ Erzähler übernommen, er kennt die inneren Vorgänge der Figur, weiß über ihre Gedanken Bescheid. Die Struktur des Romans folgt den immer neuen Ereignissen, die ausschließlich mit Überlegenheit anderer, Macht, Gewalt, Habsucht zu tun haben. Erst am Ende des Romans kommt Hesmat in Österreich an, er wird auf der Grenze aufgefangen und in einem Flüchtlingsheim einquartiert. Das Heim ist jedoch keine Endstation auf seinem Fluchtweg, denn sein Ziel war es, England zu erreichen. Der Aufenthalt in Österreich stellt also ein weitere Störung auf seinem Weg dar. Weil auch Auffanglager und Flüchtlingsheime heterotopische Orte sind, ähnlich wie Gefängnisse, Verstecke, Wohnungen von Freunden und Bekannten, Lasterwagen, Schiffe und Züge, die, wie ein Protagonist von Robert Prosser sie bezeichnet, »verfluchte Zwischenwelten«14 (GH, 98) sind, in denen der Flüchtende nur der Flüchtende ohne Namen und Existenz ist. Abbas Khider beschreibt in seinem Roman »Ohrfeige«15 die Ankunft von Karim Mensy, der aus dem Irak flüchtete, in Deutschland. Karim wollte eigentlich nach Paris, aber sein Schlepper hat ihn in Dachau ausgesetzt und »kaum berührten ihre Füße den Asphalt, gab der Fahrer wieder Gas und verschwand« (O, 37). Karim suchte nach einem 14 Prosser, Robert: Gemma Habibi. Berlin: Ullstein 2019 [im Folgenden unter der Sigle »GH« mit Seitenzahl im Text]. 15 Khider, Abbas: Ohrfeige. München: Hanser 2016 [im Folgenden unter der Sigle »O« mit Seitenzahl im Text].

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Bahnhof, um weiter zu seinem Onkel zu reisen. Am Bahnhof wurde er aufgegriffen und in Gefängnis gesteckt: »Obwohl die Reise bisher trotz meiner Ängste problemlos verlaufen war, traute ich dem Frieden hier nicht so recht. […] Aber kaum dass ich die Halle betreten hatte, sprachen mich zwei in beigefarbene Hosen und grüne Jacken gekleidete Männer an. ›Polizei. Ihren Ausweis bitte!‹ […] Ein paar Augenblicke später klickten die Handschellen und ich wurde in ein Polizeirevier geführt. […] Ich kauerte unendlich lang in dieser Zelle. Ich wusste irgendwann nicht mehr ob es Tag oder Nacht war. Das ewig gleiche Kaltlicht einer weißen Halogenlampe machte jedes Zeitgefühl zunichte« (O, 41–43).

Kurz danach wird der Protagonist in ein Asylanteheim verlegt, drei Jahre später sucht er einen Schlepper, der ihn aus Deutschland rausbringt, denn ihm droht, abgeschoben zu werden. Der Roman von Cemile Sahin »Alle Hunde sterben«16 bringt eine Darstellung der Flucht, auf der Menschen stets durch Folter aufgehalten werden. »Das Gegenteil von Frieden ist Folter« (AH, 158), sagt einer der Protagonisten Sahins, nicht »Krieg«, denn bereits am Verlauf des ersten Golfkrieges von 1990/91, der Zerfallskriege Jugoslawiens und der Sowjetunion (die Tschetschenienkriege, der Berg Karabach-Konflikt), der Kriege in Nordafrika werden neue Tendenzen und Entwicklungen in Krisen- und Kriegsgebieten erkennbar. Diese Veränderungen der Kriegsform werden in Sahins Roman durch eine neue kriminelle Ökonomie der Gewalt, neue Gewaltmotive, brutale Gewaltstrategien und anhand zahlreicher privater Gewaltakteure betont. Diese neue Kriegsform hat ebenfalls Einfluss auf die Entstehung neuer Hindernisse, die die Flüchtenden auf ihrem Weg antreffen. Diese Gestalt des Kriegs findet in Form der Beschreibungen von Verwüstungen durch Milizen, Soldaten, Söldner, Gangs, Misshandlungen der Zivilbevölkerung, Todesurteilsvollstreckungen an Frauen, Kindern, alten Männern, von Morden, Pogromen, Massakern und Flüchtlingsströmen Eingang in den Roman. So passt sich der Erzählstoff neuen Kriegsformen an und es kommen in die Diegese solche Hindernisse wie Überfälle durch Söldner, die Notwendigkeit des Versteckens vor organisierten aber nicht zu identifizierenden Angreifergruppen. Erzählt wird die Handlung in neun Episoden, aus neun verschiedenen Perspektiven. Die ErzählerInnen, Necla, Murat, Nurten, Birgül, Sara, Umut, Haydar, Metin und Devrim, die zum Teil auch Figuren in Erzählungen anderer sind, berichten gegenüber einer »Gesprächsinstanz« von Ereignissen aus den Kriegsund Fluchtjahren und vom Sadismus des Militärs, der Polizei und der Gefängniswärter, von der Flucht und dem stetigen Aufhalten und Misshandlungen während der Stopps. »Sie haben Folter, Gewalt und Verschleppung durch Einheiten der türkischen Armee und der Polizei erlebt« (AH, 3). Bis auf Devrim 16 Sahin, Cemile: Alle Hunde sterben. Berlin: Aufbau Verlag 2020 [im Folgenden unter der Sigle »AH« mit Seitenzahl im Text].

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halten sich alle vorübergehend, als Geflüchtete, in jenem Hochhaus auf, das »im Westen der Türkei« (AH, 3) steht, »in dem alle warten und sitzen, warten und Ausschau halten bis jemand kommt und diese Person jemand von früher sein konnte (AK, 129)« und das ihr Exil ist: »In diesem Hochhaus wohnen Hass und Strafe und dazwischen wohnen wir (AK, 130)«, sagt Sarah, die mit ihrer Freundin Hêlîn auf der Flucht ist. Das Haus ist ein erzwungener Warteraum für die Flüchtenden. In dem Hochhaus, als Versteck gemeint, finden sie momentane Zuflucht und Sicherheit, bevor sie weiterziehen. Sahin vermeidet bewusst die Verortung der verschiedenen Heimatorte ihrer ProtagonistInnen wie auch ihrer Fluchtziele. Die Gewalt ist allgegenwärtig, an vielen Orten der Welt angesiedelt und wird stets von Menschen ausgeübt: »Bewohner, Spitzel, Agenten, Soldaten, Polizisten, Dorfschützer, […] Kinder, aber die können auch Spitzel sein« (AH, 122–124). Sahin geht es nicht um die Benennung der Schuldigen oder die Erklärung von Schuld. Vielmehr interessiert sie die Zivilbevölkerung, sie verleiht den Frauen und Kindern aus den Krisengebieten, die auf der Flucht sind, eine Stimme, lässt sie in ihren eigenen Worten über Gewalt, Folter und Tod sprechen. Das Haus entschleunigt die Flucht, lässt aber auch das Leben der Protagonisten erstarren. Das Haus ist ebenfalls nur eine Zwischenwelt, in der es kein Leben gibt. Die Figuren haben permanent Angst, haben Alpträume, suchen beim geringsten beunruhigenden Geräusch nach Verstecken, befinden sich im Zustand des Wartens, Ausharrens, einer vollkommenen Passivität.

III.

Fluchtroute 2. – Über das Mittelmeer

In »70 Meilen zum Paradies« (2006) von Robert Klement wird bereits das Hindernis im Titel benannt, es sind die 70 Mailen über das Meer, die die flüchtende Kleinfamilie aus Somalia: Vater mit Tochter in Tunesien vom europäischen Kontinent, das aus dieser Perspektive als »Paradies« beschrieben wird, trennen. Die beiden Flüchtenden werden durch die Schwierigkeiten, eine Überfahrt zu finden, auf ihrem Weg aufgehalten. Nach einer sich sehr anstrengend gestaltenden Fahrt kommen die beiden Protagonisten in ein Flüchtlingslager, in dem sie ähnlich illegalen Verbrechern behandelt werden. Viele der Mitflüchtlinge werden auf ihrer Flucht Aufgehalten und in ihre Heimatländer, Libyen, Sudan, Eritrea zurückgeschickt. Said und Sara können sich ihre Freilassung mit 2000 Dollar erkaufen und sie dürfen sich auf den weiteren Weg nach Toronto machen.

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Die Route über das Mittelmeer nimmt Olga Grjasnowa als Motiv in ihren Roman »Gott ist nicht schüchtern« (2017)17 auf. Ihre zwei Protagonisten Amal und Hammoudi leben zu Anfang der Handlung in zwei verschiedenen Welten, sie ist Schauspielerin in Damaskus, er ein junger Arzt in Paris, der nach Damaskus zurückfliegt, um seinen Pass zu verlängern. In diesem Moment bricht die syrische Revolution aus. Für die beiden Protagonisten verändert der Umbruch ihr ganzes bisheriges Leben. Seit diesem Moment vergehen vier Jahre. Nachdem Amals und Hammoudis Verbleib in Damaskus und anderen Städten Syriens nicht mehr möglich geworden ist, müssen sie die Entscheidung über die Flucht nach Europa treffen. Die Reise verläuft turbulent, ungeplant, unüberschaubar, sie wird immer wieder durch unvorhergesehene Ereignisse ausgebremst. Amal flieht aus Damaskus zunächst nach Beirut, danach macht sie noch ein paar weitere Stationen in Wohnungen von Freunden oder Bekannten von Freunden, schließlich kann sie nicht länger auf dem Kontinent bleiben. So fasst der Erzähler ihre Situation zusammen: »Seit sie Damaskus verlassen haben, findet ihr Leben nur im Provisorium statt, und ihre Besitztümer haben sich auf jeder Station reduziert. […] Dokumente und Geld verstecken sie am Körper, mit Folie umwickelt und festgeklebt. Den wenigen verbliebenen Schmuck näht Amal in ihren BH ein« (GS, 236).

Ein Schmuggler soll ihr und ihrem Freund Youssef von Izmir weiterhelfen. Der Weg beginnt mit einem dreistündigen Marsch durch die Stadt, der potenzielle Verfolger verwirren soll. Nach einer kurzen Fahrt werden sie in einer Einzimmerwohnung ohne Wasseranschluss mit mehreren weiteren Flüchtlingen einquartiert. »Am ersten Abend passiert nichts. […] Am darauffolgenden Tag passiert ebenfalls nichts, man bringt ihnen zwar Wasser und ein wenig Brot mit Feta und Oliven. […] In der dritten Nacht steht plötzlich ein großer, hagerer Mann in ihrem Zimmer und brüllt Anweisungen auf Türkisch: ›Los geht’s‹« (GS, 238–239).

Die Weiterflucht wird jedoch durch »Schwierigkeiten mit der Polizei« (GS, 240) unterbrochen, die Flüchtenden kehren in die Wohnung zurück. »Am nächsten Tag schaffen sie es bis zum Strand […]. Drei Stunden später werden sie von Schleusern in Gruppen von Hundert Menschen aufgeteilt. […] Dann tauchen die Schlauchbote auf« (GS, 240–241). Der Erzähler berichtet über die Flucht nach einem festen Schema: Es werden die Zeitspannen, die Handlung und die Menschenmenge genannt. Die Zeitspannen zeigen zum einen die Entschleunigung der Reise durch Wartezeiten auf ein weiteres Verkehrsmittel, durch unvorher-

17 Grjasnowa, Olga: Gott ist nicht schüchtern. Berlin: Aufbau 2017 [im Folgenden unter der Sigle »GS« mit Seitenzahl im Text].

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gesehene Behinderungen, nicht geplante Fußmärsche; zum anderen weisen sie auf die Beschleunigung durch Fahrten hin. Im Folgenden berichtet der Erzähler über die Überfahrt über das Mittelmehr, die als besonders gefährlich darstellt wird. Der Bericht fängt mit der Zeitangabe an: »Eine halbe Stunde später erblicken sie das Mutterschiff […] ein alter Lastfrachter, der aussieht, als sollte er bald verschrottet werden. […] Das Umsteigen dauert Stunden. […] Mehrmals fallen Passagiere ins Wasser. […] Dort [warten] bereits sehr viele Menschen, manche schon seit vier Tagen. Manche haben eine lange Reise durch die Sahara hinter sich« (GS, 241–242).

Ebenfalls in diesem Abschnitt wiederholt sich der Modus der Narration, es wird von Zeitspannen und Ereignissen, die die Flucht begleiten, berichtet. Dagegen finden sich darin kaum Schilderungen der inneren Vorgänge und der Gedanken der Protagonisten. Das Narrativ wird auf die Darstellung des Weges: der Hürden und Erleichterungen ausgerichtet und reduziert. Auf der Überfahrt kommt es zu weiteren Behinderungen: »Am späten Nachmittag leckt plötzlich der Schiffsboden« (GS, 244), »Kurz vor Mitternacht stoppt das Schiff […] Sie würden auf Nachschub warten« (GS, 244), »Dreieinhalb Stunden manövriert die Besatzung das Boot zu den Inseln, […] Die griechische Küstenwache ruft per Funk den Kapitän an, er versichert den Beamten, er würde Salz von Griechenland nach Kroatien transportieren« (GS, 246).

Durch diese Falschaussage des Kapitäns darf die Schifffahrt fortgesetzt werden. Gleich nach der Beschleunigung kommt es aber zu einer weiteren Entschleunigung der Flucht: »Plötzlich verlagert sich das Gewicht des Schiffes, und der Bug hebt sich in die Höhe. […] Ihr Hals und ihre Nase füllen sich mit Wasser. Sie sinkt trotz der Weste, die sich nun als Fälschung entpuppt« (GS, 248). Das Schiff sinkt, die Flüchtlinge treiben auf offenem Meer, viele von ihnen werden jedoch gerettet: »›Hier spricht die italienische Küstenwache.‹ […] Ein paar Minuten oder Stunden später […] Über ihnen kreist ein Hubschrauber, ihm folgen die Rettungsbote« (GS, 249). Es ist aber nicht das Ende der Flucht, Amal kommt, nach Aufenthalten in Flüchtlingslagern, erst Monate später in Berlin an. Die Flucht wird stets durch unvorhergesehene Geschehnisse unterbrochen. Amal wird permanent in ihrem Vorhaben verhindert und muss mit aller Kraft gegen diese Widrigkeiten antreten, um fortzukommen. Für die Interpretation der Beschreibung der Fluchtwege auch im Roman von Grjasnowa eignet sich die Kategorie ›Störung‹. Die Störungen: Polizeiblockaden, Verstecke, Unfälle, Pannen, Korruption, Überfälle beeinflussen die Flucht mehr als der psychische oder körperliche Zustand der Protagonisten. Damit könnte die Konzentration des Erzählers auf die äußeren Geschehnisse erklärt werden. Während der Flucht sind die Kräfte der Flüchtenden auf das Ankommen am Ziel gerichtet. Auch ihre familiären, be-

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ruflichen, sozialen Verhältnisse zeigen keine so große Wirkung auf den Verlauf der Flucht. Dem Menschen wird auf der Flucht alle Entscheidungsfähigkeit genommen. Wie eingangs angedeutet wurde, den fremden Ansprüchen,18 also den der Schlepper, der (oft korrupten) Polizei, der Willkür der Beamtenkann sich der Geflüchtete nicht entziehen. Der Icherzähler in »Ohrfeige« berichtet darüber, wie er von den Polizisten in Dachau bei München behandelt wurde: »Der Unrasierte begann mich zu untersuchen. Alles wurde erforscht. Sogar meine Eier. Zum ersten Mal in meinem Leben schob jemand seinen Finger in meinen Arsch. Der andere Polizist durchsuchte währenddessen meine Klamotten und meinen Rucksack« (O, 42). Dem Geflüchteten werden viele Rechte abgesprochen, er begibt sich vollkommen in die Gewalt anderer, deren Handlungen oft durch Gesetzte legitimiert werden. Seine Ansprüche auf Sicherheit, Gesättigt-Sein, Gesundheit muss er zurückstellen. Er besitzt keinen Handlungsraum mehr. Er begibt sich in Obhut von Schleppern, Kontaktpersonen, Flüchtlingshelfer*innen, Polizei, Beamt*innen, ist auf ihre Missgunst oder Gunst, Ablehnung oder Fürsorge angewiesen. Das Verarbeiten der Fluchttraumata setzt erst später an, wenn der Flüchtling sein Ziel erreicht hat. Darüber berichtet die Icherzählerin in Grjasnowas Erstling »Der Russe ist einer, der Birken liebt«.19 In Bodo Kirchhofs »Widerfahrnis«20, einem Roman, der nicht als Kommentar zur Flüchtlingskrise gelesen werden soll, treffen Reither und Palm in Catania ein 12-jähriges Flüchtlingsmädchen und versuchen, das Mädchen in ihrem Auto von der Insel auf das italienische Festland zu bringen. Allerdings geschieht es gegen den Willen des Mädchens. Hier findet eine Umkehrung der festgelegten Muster statt, die beiden »Helfer« nehmen das Mädchen in ihre Gewalt und handeln nicht im Sinne der Geflüchteten, mit der sie sich ohnehin sprachlich nicht verständigen können. Jenny Erpenbecks Hauptfigur Richard, ein emeritierter Professor, der sich offenbar ähnlich der Figuren Kirchhofs Romans »Widerfahrnis« in seinem situierten Leben langweilt, engagiert sich in der Flüchtlingshilfe. Der Erzähler gibt Gespräche, die Richard mit den Geflüchteten führt, wieder. Erpenbeck bedient sich eines Narrativs, indem Geflüchteten die Möglichkeit gegeben wird, selbst ihre Erlebnisse zu schildern. »Wie bist du nach Libyen gegangen? […] Über die algerische Grenze. Drei Tage zu Fuß durch eine steinige Wüste. Manche haben sich einfach niedergelegt und konnten nicht mehr. Man lässt sie zurück. Man geht weiter. Was soll man machen. Man kann ihnen nicht mehr helfen. Und alles ist einem schwer dort, sagt er, und wirft das Hemd weg so!

18 Luhmann, Soziologische Aufklärung. 2008, S. 80. 19 Grjasnowa, Olga: Der Russe ist einer, der Birken liebt. Berlin: Aufbau 2012. 20 Kirchhof, Bodo: Widerfahrnis. Eine Novelle. Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2016.

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Alles ist einem zu schwer. Drei Tage geht man, und das einzige was man unbedingt braucht, ist ein Kanister mit Wasser.«21

In dieser Textstelle wird die existenzielle Not, die die Menschen auf der Flucht immer wieder einholt, sichtbar. Der Tod ist allgegenwärtig und das Leben ist leicht zu verlieren. Die Schwäche und der Durst in der Wüste machen die zwei wichtigsten Hindernisse aus, denen die Flüchtenden ausgesetzt werden. Des Öfteren werden im Roman auch Gespräche referiert, in denen es um die Darstellungen der Flucht geht. Auch dieses erzählerische Mittel dient der Wahrhaftigkeit der Geschichte. Die Flüchtlinge verlieren während der Reise ihre Angehörigen aus den Augen. Dieser Umstand deutet auf die chaotischen Bedingungen einer Flucht, darüber gibt der Erzähler Auskunft: »Ein junger Mann, der die Flucht über ein Meer hinter sich hat und nicht weiß, ob seine Eltern noch leben. An dem Tag, an dem sie auf die Boote getrieben wurden, sei Khalil von ihnen getrennt worden, hat Raschid Richard neulich erzählt. Khalil wisse nicht, ob sie noch dort seien, ob sie erschossen worden seien oder auch auf ein Boot hätten gehen müssen, wisse nicht, in welchem Land sie angekommen sein könnten, wenn überhaupt« (GG, 206)

Der heterodiegetische Erzähler ergänzt Raschids Erzählung über weitere Informationen, die Richard in den Medien verfolgt und benennt die Hindernisse und Gefahren, die die Flüchtenden auf der Route über das Mittelmeer erwarten: »Immer wieder hat Richard in letzter Zeit Meldungen über gekenterte Flüchtlingsboote im Mittelmeer gelesen. An den Stränden Italiens werden inzwischen beinahe täglich Leichen von afrikanischen Flüchtlingen angespült. Wo werden sie begraben? Wer kennt ihren Namen?« (GG, 206). »Schon oft hat er gedacht, dass alle Männer, die er hier kennengelernt hat, genauso auch am Grund des Mittelmeeres liegen könnten« (GG, 274).

Im Film »Styx« von 2018 schickt der österreichische Regisseur Wolfgang Fischer die Einhandseglerin Rike auf eine Atlantik-Reise und lässt sie einen havarierten Fischtrawler, überfüllt mit afrikanischen Flüchtlingen, beobachten. Es kommt Sturm auf, gefolgt von einer Hitze. Havarie und extreme Wetterbedingungen stellen die größten Hindernisse während der Überfahrt. Rike ist sich dessen bewusst. Wenn sie nicht aktiv handeln wird, werden die Menschen auf dem Schiff in der Hitze verdursten oder an Hitzeschlag sterben. Sie entscheidet sich zu helfen.22

21 Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen. München: Knaus 2015, S. 298 [im Folgenden unter der Sigle »GG« mit Seitenzahl im Text]. 22 Styx. Österreich 2018, Reg. Wolfgang Fischer. Auf: https://www.kino-zeit.de/film-kritiken -trailer-streaming/styx-2018 (letzter Abruf 14. 03. 2022).

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2019 schreibt Robert Prosser aus einem längeren zeitlichen Abstand zu den Ereignissen der Flucht aus Syrien von 2015 den Roman »Gemma Habibi«. In dem Roman geht es um Migration und Migranten in Wien und um ein utopisches Moment der Integration in einem Boxclub. Anfang 2011 macht er eine Reise nach Damaskus, da lernt er Zeno, einen Boxer kennen. Mit der Bekanntschaft fängt seine Faszination für den Box an. Während des Krieges in Syrien flieht Zeno, alias Z vor dem IS über die Türkei nach Wien. Als Z nach Wien kommt, beherrscht das Land eine euphorische Willkommensstimmung, die aber mit der Zeit immer stärker abschwächt. In einigen Passagen des Romans wird Zenos Flucht aus Damaskus nach Wien dargestellt. Der Icherzähler berichtet ähnlich wie die Erzähler der Texte, die bereits besprochen wurden, vor allem von den Schwierigkeiten, die die Flüchtenden auf ihrem Weg zum Ziel bewältigen müssen. Es wird also erneut von sehr langen und schlecht einzuschätzenden Wartezeiten berichtet: »Zwei Tage vergingen, drei. Z rief seinen Kontaktmann in Istanbul an, wollte wissen, wann mit der Weiterfahrt zu rechnen sei. Bald, beteuerte dieser, es gebe Schwierigkeiten auf der Route, aber sie kümmern sich darum, keine Sorge. Vier Tage, fünf« (GH, 96–97). »Nach neun Tagen war die Weiterfahrt organisiert. Nächster Stopp Belgrad kündigte der Botenjunge an. Mit sechzehn anderen erreichte Z im Laderaum eines Lasters Serbien. Eine neue Wohnung, ein ähnlicher Ablauf. In der vierten Nacht öffnete sich die Tür, jemand flüsterte, man solle sich bereit machen, es gehe los. Diesmal hieß es, zu zweit oder dritt in PKWs zu klettern, die vor dem Hochhaus hielten« (GH, 98).

Wenn die Anzahl der Wartetage immer eine Entschleunigung der Flucht für die Menschen bedeutet, so weisen Laster, Bote und PKWs auf eine Beschleunigung hin. Diese Fahrten dauern meistens ein paar Stunden, danach folgt eine erneute Wartezeit. Neu in Prossers Erzählung ist der Hinweis auf die starke Korrelation der finanziellen Ausstattung der Flüchtenden und ihrer Überlebenschancen. Eine der Figuren berichtet: »Je mehr du bezahlst, umso sicherer reist du, hatte er mir erklärt, alles dreht sich ums Geld, im Meer ertrinken die, die sich keinen Platz auf einem tauglichen Schiff leisten können, Leute wie ich« (GH 90). Damit gehört auch Geld zu den Elementen, die die Flucht beschleunigen können. Denn die größte Gefahr der Flucht aus Syrien bringt die Überfahrt. Eine genaue Beschreibung des Meeresweges findet sich in dem oben besprochenen Roman Olga Grjasnowas. Die Gefahren wurden in der Erzählung über Amal aber auch in der parallel geschilderten Geschichte über den Fluchtweg von Hammoudi ausführlich dargestellt. Prosser lässt seine Protagonisten ebenfalls über die häufig vergeblichen Anstrengungen, das Meer mit einem Boot zu überqueren, diskutieren: »Eines Nachts hatte er über Funk von einem Boot gehört, das in Sichtweite der Küste während eines Sturms gekentert war. Wir müssen helfen, schrie eine Stimme, eine zweite fluchte über den Seegang. […] vom gesunkenen Boot erfuhr er nichts mehr. Ein

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solches Unglück, sagte er, werde nur auf einer Liste verzeichnet, um aufgefundene Ertrunkene oder Wrackstücke vielleicht einem Hafen, einer Herkunft zuzuordnen« (GH, 90).

Die Angst fungiert in den hier besprochenen Texten als das Element, das die Flucht eher vorantreibt als abbremst. Der Wunsch, in die Sicherheit zu gelangen, ist stärker als die Angst vor dem Untergang eines Schiffs und der Bedrohung, die damit einhergeht: »Ein junger Typ […] erklärt, dass bei ruhigem Seegang wäre es eine sichere Überfahrt. […] Er wusste um die Geschichten von gesunkenen Schiffen, von Menschen die auf diesem schmalen Streifen Meer gestorben waren. Aber wenn du am türkischen Ufer stehst und siehst, wie nah Europa ist, sagt er, vergisst du alle Bedenken« (GH 90–91).

IV.

Fazit

Die Träume und Wünsche der Figuren spielen in den Romanen über die Flucht eine bedeutende Rolle. Sie geben den Flüchtenden Kraft weiterzulaufen, sich den Widrigkeiten ihrer Gegenwart zu stellen. Hesmat träumt von England, wo er die Freiheit vermutet. Einer von Prossers Protagonisten tröstet sich in »Zeiten des Krieges« mit einem Traum vom »Ausland Freiheit Business, ich kann groß werden wie Tony Montana in Miami und wenn es soweit ist dann hole ich dich nach, versprach ich« (GH, 97). Die Träume und Wünsche, die Gedanken an Hinterbliebene oder Tote, Angst um das eigene Leben sind die wichtigsten Beschleuniger der Flucht, sie zwingen die Figur immer weiter zu gehen, erfinderisch zu werden, nicht den Mut und die Kraft zu verlieren. In »Hesmats Flucht« berichtet der Erzähler über den Seelenzustand des Protagonisten: »Mit dem Gedanken an den Tod seiner Eltern kam der Wille zurück, und er wusste, dass er die Berge lebend verlassen würde. Er stand auf und setze den ersten Schritt. Stunde für Stunde, Tag für Tag. Irgendwann würden diese Füße ihn durch London tragen« (HF, 38). In all den hier analysierten Texten haben die Flüchtlinge eine sehr konkrete Vorstellung von dem, wo sie ihre Träume von Freiheit realisieren können. Das Aufgenommenwerden in ein anderes als das gewünschte Land heißt für viele erneut eine Behinderung und Verschleppung der Flucht. Ein Protagonist in Prossers Roman äußert eine folgende Meinung dazu: »Jeder wusste, dass das Land, in dem man registriert wurde, für das Asylverfahren zuständig war. Es ähnelt einem Computerspiel, erklärte mir Z, du versuchst, durch mehrere Levels bis ans Ziel zu gelangen. Wenn dich unterwegs die Polizei schnappt, nimmt sie deine Fingerabdrücke und du bleibst, wo deine Identität erfasst wurde. Aber was nützt einem beispielsweise Bulgarien? Du musst diese Länder überwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Erst dann darfst du aus den verfluchten Zwischenwelten der

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Ladeflächen und Wohnungen treten und dich zu erkennen geben, dann drückst du deinen Finger auf ein Dokument und bekommst deinen Namen zurück, deine Existenz« (GH, 98).

Um über die Widrigkeiten und Erleichterungen auf den Fluchtrouten zu sprechen, bedient sich Prosser Erzählungen von einigen Protagonisten, die bereits diese Erfahrung hinter sich gebracht haben, damit wirkt seine Schilderung glaubwürdig. Seine Figur muss nicht persönlich mit all den Komplikationen konfrontiert worden sein und trotzdem können diese Geschichten und Gedanken in den Dialogen ausgesprochen werden. Es ließen sich weitere Werke, in denen die Momente der Ausbremsung und Beschleunigung der Flucht zu einem wichtigen literarischen Motiv werden, nennen. Zu den wichtigsten gehören sicherlich Christoph Heins »Guldenberg«, Navid Kermanis »Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa« und Abbas Khiders »Der falsche Inder«. Abschließend ist es wichtig zu betonen, dass grade die Schilderungen der Hindernisse darauf aufmerksam machen, wo die größten Gefahren den Flüchtenden drohen. So könnte Literatur hier auch utilitaristischen Zielen nachkommen und einer Auswertung der Notlage der Fluchtlinge helfen. Denn grade Literatur hat die Fähigkeit durch ihren fiktiven Charakter auf politische und gesellschaftliche Missstände viel deutlicher als jedes andere Medium hinzuweisen. Kunst und Literatur wird ein viel breiterer Raum für Erzeugung von Störungen zugestanden, denn sie erzählen fiktive Geschichten, schaffen potenzielle Welten. An den Figuren lassen sich Geschichten durchspielen, die in der realen Welt zwar möglich, aber nicht notwendig sind. Die Figuren entstammen aber einer Realität der Autorin/des Autors und somit tragen sie Züge ihrer/seiner Gegenwart. Literarische Texte können Orientierung in der Gegenwart anbieten und eine präventive Rolle für Krisensituationen spielen.

Marek Jakubów (KUL Lublin)

Die erlebte Grenze in »Przewóz« von Andrzej Stasiuk

In einem Interview mit der polnischen Zeitung »Dziennik« sagte Andrzej Stasiuk: »ich mag Grenzen. Dank ihnen existieren wir, dank ihnen haben wir uns aus der Welt, aus der Natur ausgesondert. Ein wenig aberwitzig scheint mir die Utopie der Grenzenlosigkeit.«1 Diese Aussage lässt sich nur schwer mit der vorherrschenden Rezeption seiner Texte vereinbaren, in denen er die On-the-RoadHaltung eines Erzählers präsentiert, der in seinem Blechauto ohne festgesetztes Ziel den ostmitteleuropäischen Raum bereist. Das selbstironische Evozieren der stereotypen Vorstellung über die »schöne Leere«2 sei ein Element seiner Schreibstrategie, die zum Ziel hat, ein gegensätzliches Bild zum hochentwickelten Westeuropa zu schaffen und somit dem Postulat gerecht zu werden, die Heterogenität des alten Kontinents zu bewahren.3 Die Eigenart seines östlichen Teils sei liminal, transitorisch und fließend. Entsprechend gestaltete sich auch die Identität der Nicht-Orte-Bewohner – der melancholischen Helden ohne Verwurzelung,4 deren einzige »Bedingung von Identität und Heimat«5 die Grenzen schufen. Ihr Ausbleiben nach 1989 verursachte »Orientierungslosigkeit einer Gemeinschaft […], deren Lebensinhalt durch die Existenz einer bewachten Grenze gewährleistet war«6. Die in den Köpfen der Einheimischen festgeprägte, durch die sozialistische Ordnung be1 Stasiuk: Istniejemy dzie˛ki granicom. In: Dziennik.pl vom 5. 01. 2008. (Zugriff am 13. 12. 2021). Alle aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzten Fragmente, wenn nicht anders vermerkt, von MJ. 2 Snochowska-Gonzalez, Claudia: Od melancholii do rozpaczy. O prozie Andrzeja Stasiuka. In: Studia Litteraria et Historica 2, 2013, S. 302. 3 Snochowska-Gonzalez, Od melancholii. 2013, S. 303. 4 Vgl. ebd., S. 305. 5 Tropper, Elisabeth: Das neue Europa und seine Nicht(s)-Orte. Gekreuzte Perspektiven in Theatertexten von David Greig, Andrzej Stasiuk und Carles Batlle i Jordà. In: Germanica 56, 2015, S. 17. 6 Tropper, Das neue Europa. 2015, S. 15. Vgl. auch Firaza, Joanna: Unterwegs mit Andrzej Stasiuk. Focus: Mitteleuropa. In: Zagadnienia Rodzajów Literackich LXII, 2019, H. 4, S. 77.

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stimmte mental map generiert sogar »eine leise Sehnsucht nach der verlorenen Grenze«7. Umso überraschender ist Stasiuks letzter, 2021 veröffentlichter Roman »Przewóz« [Überfahrt], in dem der Schauplatz für eine Reihe von Handlungen auf kleinem Raum, am Ufer des Flusses Bug, der »wichtigsten Grenze […], die den Raum organisiert«8, in der Nähe des ostpolnischen Dorfes Gródek situiert wird, dessen Relevanz weit über das Lokale hinausgeht.9 Dorthin, an die provisorische Grenze, die die Einflussbereiche der totalitären Mächte markiert, gelangen im Sommer 1941 Menschen, die auf der Flucht vor den Kriegshandlungen sind. Von den aus gegensätzlichen Richtungen heranrückenden deutschen und russischen Truppen eingekreist, müssen sie ihre Lebensentwürfe in Konfrontation mit der lokalen Bevölkerung und in der illusorischen Erwartung, an das andere Ufer übergesetzt zu werden, auf die Probe stellen. Ihre Erlebnisse versucht aus zeitlicher Distanz ein Erzähler zu rekonstruieren, der die Gegend am Bug mit seiner Kindheit in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verbindet und sich lediglich auf die wenigen Erinnerungsbrocken seines dementen Vaters stützen kann. Wenn man die in den Forschungsarbeiten zum Problem der Grenze vorherrschende Perspektive an den von Stasiuk umrissenen Grenzraum anlegt, wird er zu »einer universalen Metapher für all das [funktionalisiert], was zuerst dichotomisch aufgespalten und anschließend auf die verschiedensten Arten und Weisen wieder miteinander verschränkt werden kann«10. An Bedeutung gewin7 Tropper, Das neue Europa. 2015, S. 104. Vgl. auch Dutka, Elz˙bieta: Nieoczywistos´c´ i wcia˛z˙ nieoswojona przestrzen´ – proza Andrzeja Stasiuka jako głos w dyskusji na temat Europy S´rodkowej. In: Dwadzies´cia lat literatury polskiej 1989–2009. Hrsg. von Dariusz Nowacki/ Krzysztof Uniłowski. Bd. 1, T. 2: Z˙ycie literackie po roku 1989. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2011, S. 156f. 8 Sarnowska, Amelia: »Przewóz«, czyli jak wypełnic´ puste przestrzenie. In: Onet Kultura vom 29. 04. 2021, https://kultura.onet.pl/wywiady-i-artykuly/andrzej-stasiuk-przewoz-recenzja-pi erwszej-od-dekady-powiesci-pisarza/q760drp (Zugriff am 1. 12. 2021). 9 Vgl. Stasiuk, Andrzej/Okon´ski, Michał: Bug, ojciec, ojczyzna. In: Tygodnik Powszechny vom 23. 05. 2021, S. 62. Mit dieser Gegend sind auch Stasiuks biographische Erinnerungen verbunden. Er thematisiert sie u. a. in »Wschód« [Der Osten], »Opowies´c´ wigilijna/On« und Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Aus dem Ukrainischen Sofia Onufriv und aus dem Polnischen Martin Pollack. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 137. 10 Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. Hrsg. von Eva Geulen/Stephan Kraft. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft. 129, 2010, S. 1. A. Rutz schreibt über Grenze, die zur »Chiffre für Verbindendes und Begegnungen« geworden ist. Rutz, Andreas: Grenzen im Raum – Grenzen in Geschichte. Probleme und Perspektiven. In: ebd., S. 25. Ähnlich Hohnsträdter: »Grenzen machen kenntlich, mitteilbar. Sie erzeugen liminale Prägnanz. An Grenzen treten Fremdes und Eigenes, Innen und Außen, Gegenwart und Abwesenheit auseinander, sie erlauben Profilierungen: die Reibung an der anderen Seite läßt die eigenen Kanten und Konturen klarer hervortreten.« Hohnsträter, Dirk: Im Zwischenraum. Lob des

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nen in diesem Zusammenhang die »Bedingungen und Möglichkeiten des eigentlichen Grenzübertritts«,11 der sich hier sowohl auf vielen Ebenen abzeichnet und »ein erkenntnistheoretisches Potential«12 aufweist, als auch die »Wahrnehmung und Erfahrung desselben durch die Akteure«13 offenbart. Die Grenze festigt einerseits Ordnungen und Sinnstrukturen, andrerseits produziert sie neue Ordnungen.14 Bei Stasiuk verlangt die Grenze, die für ein komplexes Netz für Sinnzuschreibungen steht, den in »Przewóz« dargestellten Figuren in jeder Hinsicht das Äußerste ab und weist nicht nur auf eine neue Konstellation hin, die sich in einem momentanen historischen Punkt herausbildet, sondern liefert auch einen Befund über die Spezifik des polnischen und mitteleuropäischen Teils von Europa, den der Grenzstreifen am Bug versinnbildlicht. Die aus ihren gewohnten Lebensbezügen herausgerissenen Figuren zeigen die Brüchigkeit ihrer bisherigen ideologischen Orientierungsgrößen in der für sie neuen und unerwarteten Situation. Die wenigen Soldaten der im September 1939 zerschlagen polnischen Armee, die von ihrem Kommandanten Siwy angeführt werden, versuchen die Überreste ihrer alten Welt hinüberzuretten, indem sie wenigstens den militärischen Drill durchsetzen wollen. Angesichts der deutschen Übermacht, deren Präsenz die im Hintergrund vorbeiziehenden Panzerkolonnen und die dumpfen Geräusche der Detonationen deutlich machen, sowie der mangelnden Moral der Partisanen, die sich nicht aus patriotischen, sondern privaten Gründen der Truppe anschließen, entarten ihre Bestrebungen in groteske Ohnmacht. Wenn sie töten, machen sie das aus dem Gefühl der Angst heraus und ziehen sich von der Verantwortung zurück. Die Waffe wird von ihnen eingesetzt, vor allem um ein Schwein zu schlachten, und den schwachen Zusammenhalt der auf sich selbst gestellten Gruppe sichert nicht die große nationale Idee, sondern die Vitalität und Autorität des Kommandanten. Der entfernte Führungsstab taucht kurz in der Figur des desorientierten Hauptmanns auf, der aus der Posener Region kommt und die für ihn neue Umgebung überhaupt nicht versteht. Er hängt an dem nationalromantischen Mythos von Polen als Opfer und Bollwerk des Christentums,15 der pervertiert wird, wenn er an ihn im Alkohol-

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Grenzgängers. In: Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Hrsg. von Claudia Benthien/ Irmela Marei Krüger-Fürhoff. Stuttgart/ Weimar: Metzler 1999, S. 239. Rutz, Grenzen im Raum. 2010, S. 30. Benthien/Krüger-Fürhoff, Über Grenzen. 1999, S. 8. Rutz, Grenzen im Raum. 2010, S. 30. Vgl. Gätje, Hermann/Sikander, Singhl: Grenze als Erfahrung und Diskurs. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen. Tübingen: Francke 2018. Zur kritischen Auseinandersetzung mit den polnischen nationalen Mythen vgl. u. a. Janion, Maria: Die Polen und ihre Vampire – Studien zur Kritik kultureller Phantasmen. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann und Thomas Weiler. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2014.

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rausch anknüpft. Die Destruktion der Ideologeme des Nationalen wird bis in die Gegenwart des Erzählers fortgesetzt,16 indem er ihre Künstlichkeit als willkürliche Aneignung der patriotischen Symbole durch die über ihr Leben in der vergessenen Provinz frustrierte Jugend entlarvt: »Auf den versifften Pferdeärschen hatten sie Aufkleber mit dem Zeichen ›Kämpfendes Polen‹17. Abgemagertes und blasses Pack in T-Shirts mit Husarenflügeln.«18 Die nationale Zugehörigkeit spielt bei der Dekonstruktion der ideologischen Vorstellungen keine Rolle. Sie sind Stasiuk suspekt in jeder Ausprägung. Er verknüpft narrativ das Verhalten der jungen deutschen Soldaten, die während des Kriegs an den Bug kommen, mit der Folie einer Abenteuerreise19 und demaskiert den Schein der ideologischen Begründung, die ihre Präsenz am Bug rechtfertigen sollte. Sie »fühlen sich wie im Urlaub«20, folgen ihren sadistischen Instinkten, entwürdigen in kolonialer Geste die verschreckten Menschen, indem sie sie wie kuriose Objekte fotografieren, bis sie von dem mit ihnen kollaborierenden Fotographen an ihre »zivilisatorische« Mission im Osten erinnert werden: »sie besannen sich erst nach einer Weile, als erinnerten sie sich an eine vergessene Unterrichtsstunde, und etwas angetrunken sagten sie laut ›ja, ja, Zivilisation, natürlich‹ und taten so, als würden sie plötzlich ernst, dass es hier nicht um einen Ausflug mit dem Gewehr, sondern um den Blitzkrieg im Spätsommer geht«21. Auch die Überzeugungen der jüdischen Flüchtlinge Maks und Dora werden hinterfragt. Beide kommen aus behüteten, bildungsbürgerlichen22 Verhältnissen in eine für sie fremde, »ethnographische«23 Umgebung. Von den tragischen Familiengeschichten gezeichnet, hoffen sie, dass sie an das andere Flussufer übergesetzt werden, was ihnen den Weg zur Verwirklichung ihrer Träume öffnen

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17 18 19 20 21 22 23

Vgl. auch Tazbir, Janusz: Od antemurale do przedmurza, dzieje terminu. In: Odrodzenie i reformacja w Polsce XXIX, 1984, S. 167–184. Garewicz, Jan: Messianismus. In: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. Hrsg. von Ewa Kobylin´ska u. a. München: Piper 1993, S. 152–160; Wilkiewicz, Zbigniew: Die großen nationalen Mythen Polens. In: Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen. Hrsg. von Yves Bizeul. Berlin: Duncker & Humbolt 2000, S. 59–72. Jacek Cies´la liest Stasiuks »historischen Roman« als Auseinandersetzung mit der laufenden historischen Politik in Polen. Vgl. »Przewóz« Stasiuka. Dzierz˙yn´ski i Duda nad Bugiem. In: Rzeczpospolita https://www.rp.pl/literatura/art162481-przewoz-stasiuka-dzierzynski-i-duda -nad-bugiem (Zugriff am 5. 03. 2022). Symbol der polnischen Widerstandsbewegung während des Zweiten Weltkriegs. Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 186. In »Der Osten« schreibt Stasiuk über das Safarierlebnis der deutschen Soldaten. Vgl. Stasiuk, Andrzej: Der Osten. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 38. Stasiuk, Przewóz. 2021. S. 244. Ebd., S. 244. Es folgen im Text die von Maks auf Deutsch rezitierten Zeilen aus »Lorelei«, vgl. ebd., S. 263. Ebd., S. 36.

Die erlebte Grenze in »Przewóz« von Andrzej Stasiuk

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soll. Das ersehnte Ziel ihrer Wanderung heißt Birobidshan24, das sie mit dem modernen, utopischen Projekt verbinden: »Dort ist alles anders, hundert Völker leben in Gleichheit und Frieden«25. Schritt für Schritt entfernen sie sich jedoch von ihm ebenso wie von ihrem früheren Leben, das die Erinnerungen an die Aufenthalte in Florenz, Paris oder an die Lektüre von Cendrars26 Reiseberichten signalisieren. Sowohl die ostasiatische Stadt selbst als auch der zehntausend Kilometer lange Weg dorthin nehmen immer mehr märchenhafte Züge an und gehen in fantastisch-idyllische Trosterzählungen, wie auch durch die biblische Metaphorik verstärkte Bilder27 über, um schließlich in Doris‹ ernüchterndes Fazit zu münden: »Damit sollte er [Maks, MJ] aufhören.«28 Die Ankömmlinge begegnen an der Grenze den Einheimischen. Sie sind stumm oder wortkarg und stehen in einer engen, beinahe symbiotischen Beziehung zu der Landschaft am Grenzfluss.29 Ihr naturnahes Leben ist aber fern von jeglicher Idylle. Sowohl ihre Gepflogenheiten als auch Reaktionen sind ein Teil einer permanenten Überlebensstrategie, die infolge der wiederkehrenden Katastrophen, den verheerendsten letzten Krieg miteigeschlossen, entwickelt wurde. In der Geschichte über den Rückzug der Abteilung von Siwy zeigen sie auch ihre negative Seite, wenn sie die polnischen Soldaten zunächst ausrauben und dann auf brutale Art und Weise töten.30 Ihr Verhalten wurzelt in vererbten, traumatischen Erfahrungen (»Der Krieg endete hier nie«31), die sie als Untote oder als unterschwellige Angst ständig begleiten: »Sie lebten hier seit Menschengedenken, aber besaßen nichts. Immer konnte jemand kommen und alles wegnehmen.«32 In »Der Osten« wurde diese vage Behauptung konkretisiert: »Es kamen Zivilisierte, es kamen Wilde, es kamen die Rechten und die Linken, Internationalisten und Patrioten, aber bei jedem Geräusch am Fenster, bei jedem Pochen an der Tür liefen ihnen eisige Schauer über den Rücken, und der Atem stockte.«33 Ihre Haltung entzieht sich jeglicher ideologischen oder nationalen Kategorisierung und sie verfügen über Kommunikationswege, die von außen unübersichtlich erscheinen. Nur kleine Andeutungen im Text verraten, dass ihre 24 Stalin wollte in den 20er und 30er Jahren, im Rahmen seiner ethnischen Politik die Juden nach Birobidshan übersiedeln. Vgl. hierzu Weinberg, Robert: Birobidshan. Stalins vergessenes Zion. Frankfurt/Main: Neue Kritik 2003. 25 Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 36. 26 Blaise Cendrars, eigentl. Frédéric-Louis Sauser (1887–1961), Schweizer Schriftsteller, u. a. Autor der Reiseberichte aus Asien. 27 Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 153. 28 Ebd., S. 153. 29 Vgl. ebd., S. 346. In »Der Osten« schreibt Stasiuk über ihre Dorfhäuser, deren Wände sie »nie so sehr vom Rest der Welt trennten«. Stasiuk, Der Osten. 2021, S. 13. 30 Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 123. 31 Ebd., S. 46. 32 Ebd. 33 Stasiuk, Der Osten. 2021, S. 40.

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Perspektive über das Örtliche hinausgeht, wenn das Weltgeschehen ihre kleine Existenz gefährden könnte. Sie wissen zum Beispiel, dass sich die deutschen Truppen – was für die Partisanen eher unwahrscheinlich ist – gegen die Russen wenden werden.34 Darüber hinaus sichern sie das Überleben ihrer Umgebung und begrenzen mit bescheidenen Mitteln die Schäden, indem sie die Ankömmlinge mit Essen versorgen oder ihre Wunden heilen. Schließlich hängt von dem Fährmann Lubko und seinen Fähigkeiten ab, ob die Soldaten und Flüchtlinge an das andere Ufer übersetzt werden. Die neue Ordnung, die sich momentan konstituiert, verdichtet sich in »Przewóz« in dem Bild des Flusses Bug, der als natürliche Grenze der willkürlich gezogenen entgegengesetzt wird. Er ist sowohl konstant als auch launisch, wild, unberechenbar und lebenswichtig für alle Figuren, die ihn spüren, riechen und hören. Alle ohne Ausnahme gleichen den agambenschen Opfern, die ihrer Rechte beraubt, ihrem Schicksal ausgeliefert sind und straffrei von jedem getötet werden können.35 Die Gefahren lauern nicht nur seitens der in der Nähe stationierenden deutschen und russischen Soldaten, sondern auch derjenigen, die dasselbe Schicksal teilen. Reduziert auf den Kampf ums Überleben gelangen sie an die Grenzen ihrer biologischen Existenz und der Menschlichkeit,36 geben ihre sozialisierten Normen preis und entdecken für sich die bisher verdrängten Bereiche ihrer Natur. Stasiuk wertet die Bedeutung der intensiven Erfahrungen stark auf und stilisiert sie zu einem Urakt hoch. Maks sieht sich zum Beispiel unerwartet in der Situation der Rivalität mit einem der einheimischen Bauern, betrachtet seine Reisegefährtin als Objekt der Begierde und denkt, »dass dieses Bild eine Urkraft birgt, als würde ihr Körper aus der Erde herauswachsen. Er war schön, jung und gleichzeitig uralt.«37 Die sinnlichen Faktoren spielen im Leben der Figuren eine entscheidende Rolle. Sie nehmen bewusst Gerüche des Essens, der Körper, der Tiere und des Flusswassers wahr, die zu einem neuen, nonverbalen, gemeinsamen Kommunikationscode werden. An ihnen erkennen sie ihre zivilisatorische Zugehörigkeit, emotionale Zustände wie Angst, Wut oder Freude, aber auch den nahen Tod, der nicht abstrakt, sondern in spürbarer Form als Fettpartikeln von den in dem naheliegenden Konzentrationslager verbrannten Leichen an den Fensterscheiben der umliegenden Häuser kleben. Bei der Schilderung der extremen Szenen des Schlachtens, Kampfes oder der Vergewaltigung bedient sich Stasiuk der naturalistischen Poetik, um die Intensität des Erlebten zu steigern. 34 Vgl. Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 32. 35 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002. 36 »Der Krieg ist zweifellos die wichtigste menschliche Erfahrung, das Ende, die Vernichtung und die Grenze der Menschlichkeit, angesichts dessen die Elemente nur ein Kinderspiel sind.« Stasiuk/Okon´ski, Bug, ojciec, ojczyzna. 2021, S. 62. 37 Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 103.

Die erlebte Grenze in »Przewóz« von Andrzej Stasiuk

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Durch die Verbindung der schmerzvollen Erfahrung mit der Erkenntnis steht er den Ansichten von E. Cioran nahe, der die Gefühle des Scheiterns und des Leids als »unerlässlich für eine authentische humane Existenz«38 betrachtet. Die rudimentäre menschliche Ebene erlaubt Stasiuk auch an den ideologisch geprägten Kriegsdarstellungen zu rütteln, sodass die einseitigen, stereotypen Zuordnungen ihre Geltung verlieren. So schreibt er den einzelnen deutschen Soldaten menschliche Züge zu und lässt sie eine intime und freundschaftliche Relation mit Lubkos Lebensgefährtin Marys´ka eingehen.39 In dem Bereich der sinnlichen Erfahrung öffnet sich auch für den Erzähler selbst die Möglichkeit, die zeitliche Distanz zu den vergangenen Ereignissen zu überwinden und die Erlebnisse der präsentierten Figuren nachzuvollziehen. Wenn er an den Bug kommt, wo sich vor Jahren ihre Geschichte abspielte, begegnet er der Umgebung mit ihren Geräuschen, Gerüchen und Farben, die er als Kind schon einmal erlebte. Die parallel konstruierten, zeitverschobenen Eindrücke der Figuren und des Erzählers vergegenwärtigen die in die Erinnerung zurückgerufenen Ereignisse. Wenn er zum Beispiel am steilen Ufer steht und seine Aufmerksamkeit »gewaltiger Platsch im Fluss »40 weckt, glaubt er ihn wie vor Jahren Maks und Dora zu hören: »Ich wusste, dass es das alles nicht mehr gibt, aber es schimmerte doch durch«41. Als Vertreter der zweiten Generation versucht er die Lücke zu schließen, die seine Eltern – die Zeugen der Ereignisse in der Kriegszeit – mit ihrem Umzug in die Großstadt und der Verdrängung ihrer Vergangenheit hinterlassen haben, indem er auch narrativ die Annäherung an sie durch die Anspielungen an die Formen der oralen Mitteilung erzeugt. Dazu gehören u. a. die starke Bindung an eine gegebene Situation und die Anpassung an die Bedingungen der Zeit, in der die Geschichte erzählt wird, wie auch ihre Mythisierung.42 Er schafft demnach eine analoge Erzählung zu den in der Kindheit gehörten Geschichten, die keinen Anspruch auf die präzise Wiedergabe der Geschehnisse erheben, sondern ständig modifiziert werden, ohne ihren Kern zu verfälschen: »Und sie erzählten Geschichten, versuchten ihre einfache, verwickelte Version des eigenen Lebens zusammenzuflechten. Sie mussten immer wieder zu der Vergangenheit zurückkehren, weil ihr Grauen allem Anschein nach zwar schon verblasste, aber

38 Cheie-Pantea, Iosif: Der Sinn des Leidens bei Emil Cioran und Friedrich Nietzsche. In: Rumänien und Europa. Hrsg. von Michéle Mattusch/Maren Huberty. Berlin: Frank & Timme 2009, S. 221. 39 Vgl. auch Stasiuk, Der Osten. 2021, S. 97. 40 Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 289. 41 Ebd., S. 289. 42 Vgl. Ong, W.J., Oralität und Literarität. Die Technologisierung des Wortes. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wolfgang Schömel. Opladen: Westdeutscher Verlag 1987.

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sich weiterentwickelte.«43 Ähnlich verhält sich Stasiuks Erzähler: »Ich stelle mir die Tage seiner [des Vaters, MJ] Vergangenheit vor, an die er sich nicht mehr erinnert, über die er nicht erzählte« […] Man kann eine fremde Vergangenheit nicht hören, man muss sie aufs Neue erzählen, um sie verständlich zu machen und von ihr Gebrauch zu machen. Was nützt uns das fremde Leben, wenn es das unsere nicht berührt?«44 Die Möglichkeit, die Geschichte im Grenzraum ohne Brüche zu erzählen, bleibt sowohl dem Erzähler als auch den Bauern am Bug versperrt: »Zeitstillstand. Die Erinnerung reicht höchstens zwei Generationen zurück. Keine Papiere. Vielleicht einige Dokumente hinter dem Heiligenbild. Keine eigene Geschichte, nur eine fremde. Russische, deutsche. Sie kamen, ließen Trümmer zurück und gingen.«45 Stasiuk dehnt die Zeitperspektive des Gedächtnisses, in der nicht die historischen Fakten, sondern eine für diese Gegend typische Erfahrung der wiederkehrenden Katastrophe eine übergreifende Dimension gewinnt. Sie kehrt in spontanen Reaktionen wieder, wie zum Beispiel in dem Hinweis auf die nichtexistente Brücke, die mal deutschen Soldaten zum Übersetzen an das andere Flussufer diente (»Als hätte es all diese Jahre nicht gegeben. Als wären die Russen und Deutschen gestern gegangen«46), in Floskeln, wie »Der Mongole und der Teutone werden diese Erde bis in die Konchen der Verstorbenen niederbrennen«47, und wandelt sich zu einem beinahe natürlichen Erzählrhythmus: »Vor dem Krieg, ›als die Deutschen kamen‹, ›als die Russen kamen‹ klang ebenso wie ›zu Ostern‹, ›an Peter und Paul‹, ›nach Allerheiligen‹«48. Die intertextuellen Verbindungen mit der Bibel verleihen dem Ganzen einen allegorischen49 und durch die Bildkorrespondenzen50 einen mehrdimensionalen, palimpsestösen51 Charakter. Die fragmentarische und raumlabyrinthische Narration überträgt sich in Stasiuks Roman weder auf die kontingente Zeit und Raumerfahrung in Ost-

43 44 45 46 47 48 49 50 51

Ebd., S. 188. Stasiuk, Przewóz 2021. S. 135. Ebd., S. 188. Ebd., S. 44. Ebd., S. 82. Ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 149f. Z. B. die Poetik der Bilder von Marc Chagall. Vgl. Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 380. Nach Kloch führen die von Stasiuk u. a. in »Dukla« eingesetzten Synekdochen wie auch Wiederholungen über die rhetorische Schicht hinaus zur Ebene der allgemeinen Erfahrung. Vgl. Kloch, Zbigniew: Andrzej Stasiuk, tekstowe figury dos´wiadczenia. In: Images. The international Journal of European Film, Performing Arts and Audiovisual Communication 27, 2020, S. 281–288. Julia Kubin nennt sie »Moment einer intensiv erfahrenen Präsenz«. Kubin, Julia: Ruderale Texturen: Verfall und Überwucherung in (post-)sozialistischen Erzählungen. Bielefeld transcript 2020, S. 247.

Die erlebte Grenze in »Przewóz« von Andrzej Stasiuk

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mitteleuropa noch annihiliert sie den Ort selbst in der Metapher der Grenze.52 Im Gegenteil, er bewahrt den Grenzraum: »Aber es gab uns ja doch zwischen Seine und Wolga.«53 Diesen, aus »Mein Europa« stammenden Satz veranschaulicht er in »Przewóz«, indem er eine zu dem bestehenden Opfermythos alternative Narration schafft. Sie folgt nicht den linearen Narrationen, die den von der Zerstörung verschonten Kulturen vorbehalten sind, sondern weist auf ein Muster hin, das der Mentalität der Bewohner dieser Region – der »Geiseln des Ostens und Westens«54 zugrunde liegt und gleichzeitig eine Vermittlungsebene schafft, auf der die von außen kommenden Menschen ihnen, auch zeitübergreifend begegnen können. Stasiuks Erzähler, der zu den Nachkommen gehört, kann sich von ihm nicht loslösen. Es prägt ihn auf Schritt und Tritt bis in die tiefen Schichten seiner Vorstellungskraft, die ihn die Birken am Flussufer mit den gigantischen, in der Erde steckenden Knochen55 vergleichen und sich selbst mit der Grenzlandschaft als Pars pro toto des ganzen Landes identifizieren lässt: »ich wollte in Gedanken zu den Phantasmen über mein Land zurückkehren, das nicht erwachsen werden will, zu der eigenen Angst, die mich den Trost unter den Geistern suchen lässt«56.

52 Vgl. Hüchtker, Dietlind: Sinnstiftung durch Narration. Alfrun Kliems, Martina Winkler (Hrsg.), Sinnstiftung durch Narration in Ost-Mittel-Europa. Geschichte – Literatur – Film (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, Bd. 7), Berlin Akademische Verlagsanstalt) 2005, 215 S. In: Werkstatt Geschichte 44. Essen: Klartext Verlag 2006, S. 120–122. 53 Andruchowytsch/Stasiuk, Mein Europa. 2004, S. 117. 54 Stasiuk, Przewóz. 2021, S. 186. 55 Vgl. ebd., S. 133. 56 Ebd., S. 296.

Jolanta Pacyniak (UMCS Lublin)

Grenzüberschreitungen als Konstruktionsprinzip in Thomas Glavinic’ »Das größere Wunder«

Jurij Lotman geht in »Die Struktur literarischer Texte« von der räumlichen Komponente darstellender Texte aus. Es ergibt sich Lotman zufolge auch »die Möglichkeit der Darstellung von Begriffen, die an sich nicht räumlicher Natur sind, in räumlichen Modellen.«1 Eine besondere Rolle fällt in diesem Kontext der Kategorie der Grenze zu. Sie wird in einer der Interpretationen Lotmans zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes. Sie teilt einen Raum in zwei getrennte Räume und ihr wichtigstes Merkmal sei ihre Unüberschreitbarkeit.2 »Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wichtigsten Merkmale.«3 Diese Raumeinteilung kann unterschiedlich ausfallen und in vielen Texten entsteht eine »Polyphonie der Räume«,4 wie dies Lotman postuliert. Abgesehen von dieser räumlichen Komponente erscheint die Grenze in einem noch breiteren Kontext und ist mit dem Begriff »Ereignis« tief verbunden. Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.5 Dabei ist es von Bedeutung, was als Grenzüberschreitung in einem bestimmten Kulturtyp angesehen wird. Die gleiche Episode kann als ein Ereignis angesehen werden oder auch nicht.6 Auf dem Hintergrund der Theorie Lotmans wird der Roman des Österreichers Thomas Glavinic’ »Das größere Wunder« von 2013 nach den möglichen Grenzüberschreitungen und ihrer Rolle im Handlungsverlauf analysiert. Die Grenzüberschreitung kann man, so meine These, in »Das größere Wunder« als Konstruktionsprinzip ansehen, mit dem der Autor spielerisch umgeht. Die im Handlungsverlauf entstehende Spannung, die aus der Grenzüberschreitung resultiert, wird jedoch bei Glavinic gleich im nächsten Schritt hinterfragt. Dieses 1 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München: Wilhelm Fink 1993, S. 313. 2 Ebd., S. 327. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 329. 5 Ebd., S. 332. 6 Ebd., S. 333.

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Konstruktionsprinzip scheint die Stärke des Romans von Thomas Glavinic zu sein. »Am allerbesten war Glavinic immer dort, wo er sich dem Spiel verschrieben und seine Geschichte einer besonderen Formanstrengung untergeordnet hat.«7 Diese Formanstrengung wird in ihren grenzüberschreitenden Manifestationen untersucht: die Grenzüberschreitungen in Raum und Zeit, das Bewältigen der eigenen körperlichen Möglichkeiten, die Grenzauflösung zwischen dem Realen und Märchenhaften.

I.

Grenzüberschreitungen in Zeit und Raum

Jonas überschreitet viele Grenzen, er ist ständig in Bewegung. Diese Bewegung bedeutet für ihn keine gewöhnliche Erfahrung der Fremde, mit der er konfrontiert wird. Die übliche Grenzziehung zwischen dem Fremden und dem Eigenen verliert hier an Bedeutung. Obwohl er unzählige Landesgrenzen überschreitet, scheinen diese Grenzübergänge keinen Zuwachs an Erfahrungen zu bedeuten und keine Entwicklung zu mehr Toleranz oder Akzeptanz des Anderen. Was das Anliegen des Autors auch nicht ist. Von Anfang an empfindet der Protagonist keine Berührungsängste in Bezug auf andere Kulturen. Als fremd werden sie eigentlich nicht erkannt. Er fühlt sich eigentlich überall zu Hause, was auch mit der Kenntnis aller Fremdsprachen zusammenhängt, die er jeweils wenigstens ein bisschen gelernt hatte. Eines Tages entdeckt er, dass er alle Fremdsprachen versteht, eine Art Pfingstwunder, wie dies Daniela Strigl formuliert.8 Diese Grenzüberschreitungen haben dann nicht das Ziel, das Fremde kennenzulernen; die Sprachen kann er bereits sprechen und die kulturellen Unterschiede scheinen nicht so groß zu sein, zumindest in den meisten Fällen. Er fühlt das Andersartige nur in Tokio, das ihn faszinierte, und in osteuropäischen Ländern, für die er eine Art Abneigung empfindet. Die Reisen in andere Länder hinterlassen keine eindeutigen Spuren in ihm. Sie sind eher eine Strategie zur Verdrängung der vielen Todesfälle in seiner Familie. Als er mit seiner geliebten Marie in seine Heimat zurückkehrt, zwingt sie ihn zum Friedhofsbesuch, den er immer wieder vermeidet. Dabei ist es offenkundig, dass die Reisen eine Art Verdrängungsmechanismus darstellen: »Er blieb, und er blieb lange. Er blieb viel länger, als er gedacht hatte. Es war schwer, und es war viel schwerer, als er es sich hätte träumen lassen, in Tokio oder in Oslo oder in

7 Strigl, Daniela: Dieser Bergsteiger-Roman erfüllt alle Wünsche. In: Die Welt. 28. 08. 2013, o. S. (Zugriff am 21. 12. 2021). 8 Ebd.

Grenzüberschreitungen als Konstruktionsprinzip

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Kosˇice oder in Mailand oder in Madrid oder in Havanna oder in Buenos Aires oder in Jerusalem oder in seinem Baumhaus oder in Rom.«9

Es gibt viele Reiseziele in seinem Leben, aber der schwierigste Grenzübergang ist der Weg zum Friedhof. Andererseits sind hier die unzähligen Reisen keine Beweise für die Beschleunigung der Zeit im Leben der modernen Menschen. Vielmehr scheint der Autor sein Spiel mit dem Leser zu treiben, indem er das moderne Reisefieber in den Entschleunigungsmodus stellt. Eine mediale Entschleunigung als Leseart postuliert Felix Forsbach in Bezug auf drei Romane von Glavinic und schreibt damit den Interpretationsvorschlag in die Epiphanie des Augenblicks ein.10 Das Leben in Hier und Jetzt scheint tatsächlich das Lebensziel von Jonas zu sein, und dadurch können die räumlichen Grenzüberschreitungen nicht in ihrer Ereignishaftigkeit entfaltet werden. Das Ereignis im Sinne von Lotman vollzieht sich bei Glavinic durch Grenzüberschreitung der Vorstellungen der modernen Gesellschaften, in denen der Drang zu Grenzgängen zur Beschleunigung und damit zum Verlust der eigenen Individualität führt. Seine Reiseziele wählt Jonas nach dem Zufallsprinzip oder nach dem freien Assoziationslauf. Der Aufenthalt in vielen Städten verläuft nach einem ähnlichen Schema: »Die nächsten drei Tage verbrachte er fast durchgehend im Zimmer, gestört lediglich von einem etwa achtzigjährigen tauben Zimmermädchen sowie vom Rezeptionisten, der einmal anklopfte, weil er sich Sorgen machte. Zweimal ließ er sich Pizza liefern, einmal ging er zu McDonald’s, aß, trank, kehrte ins Hotel zurück und legte sich ins Bett.«11

Nach diesem Schema verlaufen seine meisten Aufenthalte in verschiedenen Hotels oder den Wohnungen, die er sich gekauft hatte. Er verbleibt in ihnen in einer Art Untätigkeit, als ob ihn nicht der Raum, sondern die Zeit beunruhigt hätte. Die Vergänglichkeit der Zeit und das Verrinnen der Zeit bewegen ihn zu räumlichen Grenzüberschreitungen. Dabei ist ihm die Beschaffenheit der Zeit bewusst: »Zeit ist neutral. Zeit ist den Dingen gegenüber gleichgültig. Zeit ist unerbittlich. Keine Sekunde, auf die nicht die nächste folgte. Keine Sekunde, die nicht vergangen wäre. Ob schön. Ob schrecklich.«12

Diese Einsicht schützt ihn jedoch nicht vor der Angst vor der Vergänglichkeit und vor dem Tod. Das Erlebnis der Reise wird auf die Zeitkomponente fokussiert: 9 Glavinic, Thomas: Das größere Wunder. München: Carl Hanser Verlag 2013, S. 410. 10 Forsbach, Felix: Epiphanie des Augenblicks. Zeit im Werk Thomas Glavinics. In: Germanica. 2014, 55, S. 175–188, hier S. 182. 11 Glavinic, Wunder. 2013, S. 241. 12 Ebd., S. 106.

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»Wie jemand, der nach einer langen Reise in ungewohnter Umgebung aufgewacht war, streifte er durchs Haus. Alles wirkte fremd. Die Farben hatten einen lebendigeren Glanz, die Konturen der Möbel schienen plötzlich einen neuen Sinn zu bekommen, ja sogar seine Hände waren nicht mehr nur seine Hände. Diese Hand, die ich betrachte, sie ist meine. Sie war meine, als ich kleiner war, und sie wird meine sein, wenn sie aufgehört hat zu wachsen. Das war ich. Das bin ich. Ich werde sein. Und irgendwann wirst du nicht mehr sein. Dann wird diese Hand noch sein, ohne dein Ich, diese Hand wird sein und langsam aus dem Sein verschwinden, verwesen wird sie, vergessen wird sie, ichlose Hand.«13

Die Reisen an sich haben an dieser Stelle lediglich den Zweck der Selbstfindung und der Bewusstmachung der eigenen Vergänglichkeit. Erst vor dem Hintergrund der räumlichen Grenzüberschreitung und der späteren Rückkehr nach Hause ist das Verrinnen der Zeit besonders deutlich, was vom Protagonisten Jonas als schmerzlich empfunden wird. Die Reise in Richtung Jenseits erschreckt ihn, aber gleichzeitig sehnt er sich immer wieder die Nähe des Todes herbei. Die Überschreitungen der Grenze zum Tod scheinen trotz der eindeutigen Ängste vor dem Ausscheiden aus dem Leben Glücksgefühle hervorzurufen: »Als die Tachometernadel die Maximalanzeige erreichte, kuppelte Jonas den Gang aus. Die beiden neben ihm riefen und schrien, doch er verstand ihre Worte nicht mehr. Je schneller der Traktor den Berg hinabraste, desto tiefer versank Jonas in einem Gefühl vollkommener Leichtigkeit. Er fühlte sich schwerelos, geborgen und heiter. Er war, als müsste er nicht mehr atmen, um zu leben. Kein Gedanke störte seine Seligkeit, keine Erinnerung suchte ihn heim, er vermisste nichts und niemanden. Links und rechts der Straße flogen Bäume und Sträucher an ihm vorbei, und er war wie neu. Ewig stürzen. Das ist das Glück.«14

Die Reisen im Raum scheinen dagegen kaum in sein Bewusstsein zu rücken. Sie überlassen fast keine Spuren, die bemerkt werden. Das Materielle jenseits der Grenzen ist nicht viel anders als zu Hause. Er muss sich ständig versichern, dass er eine andere materielle Kultur wahrgenommen hatte. Dabei wählt er keine signifikanten Zeichen dieser Kultur, eher das Konventionelle, das überall anzutreffen ist. Die Suche nach den ausgefallenen Sachen in der Fremde, die zur Schau gestellt werden können, um die anderen zu beeindrucken, bleibt vollständig aus. »Er schlief in einem Hotel am Flughafen, flog nach Buenos Aires, ging in die nächste Toilette, betrachtete das Waschbecken und den Spiegel und dachte: Das ist eine Toilette in Buenos Aires. Dann flog er zurück, mit der nächsten Maschine.«15

13 Ebd. 14 Ebd., S. 151. 15 Ebd., S. 327.

Grenzüberschreitungen als Konstruktionsprinzip

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Er unternimmt hier spezifische Zimmerreisen. Literarische Zimmerreisen vollziehen sich im Inneren der eigenen vier Wände. Eigentlich bedeuten sie kein Überschreiten der räumlichen Grenzen: »Die Zimmerreise ist eine Art Ent-Fernung, die abrückt von einem Raum der Gewohnheit und diesen neu erkundet und neu beschreibt.«16 Glavinic platziert erstaunlicherweise seine Zimmerreisen an verschiedenen weit entfernten Orten und betreibt damit eine gattungsorientierte Grenzüberschreitung und deutet gleichzeitig an, dass ein Selbstfindungsprozess überall stattfinden kann. Viel wichtiger erscheint ihm die zeitliche Komponente: »Das ist es. Dieser Moment. Diese Türklinke, heute, jetzt. Dieser Geruch nach gebratenem Fisch, der zu dir hereindringt, jetzt. Deine Stirn, die an der Tür lehnt, jetzt.«17 Glavinic geht in seinen Zimmerbeschreibungen wie der Begründer dieser Gattung in Frankreich vor: »De Maistres Reise erkundet die längst bekannte Welt, indem er sie mit den Mitteln der reisenden und der ironischen Distanzierung erneut in den Blick nimmt.«18 De Maistre und auch Glavinic beziehen sich damit auf die Tradition des Reiseberichts, der ironisch durchbrochen wird. Der erste erzählt die Geschichten des Alltags und dem zweiten sind die zeitlichen Spuren wichtig: »Oft lag er auf seinem Bett und schaute zur Decke. Das ist eine römische Decke. Es gibt sie schon lange. Es gibt sie länger als mich. Viele haben sie gesehen. Viele werden sie sehen. Ihnen allen ist die Decke egal. Weil sie nur eine Decke ist. Ich bin jetzt hier. Mir ist die Decke nicht egal.«19

Der Protagonist entwickelt eine Art innige Verbindung zu Gegenständen, die den Weg zur Selbstfindung markieren sollten. Die Zimmerreisen werden zu einer Therapie, die den Blick auf die nächste Umgebung lenkt, um dadurch sich selbst zu finden. Aus diesem Grund ist das, was den Protagonisten zum Nachdenken bewegt, nicht die Beschaffenheit der materiellen Umgebung, sondern die Eindrücke, die durch diese Umgebung in ihm entstehen können:

16 Stiegler, Bernd: Zimmerreisen. In: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hrsg. von Susanne Scholz/Ulrike Vedder. Berlin, Boston: De Gruyter 2018, S. 357–364, hier S. 357. 17 Glavinic, Wunder. 2013, S. 325. 18 Stiegler, Zimmerreisen. 2018, S. 357. 19 Glavinic, Wunder. 2013, S. 326.

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»In Oslo brach schon nachmittags gegen halb vier die Dämmerung an. Jonas nahm sich ein Zimmer und ging essen. Alles erschien ihm neu, die Töne, die Gerüche, die vielen Menschen, und er fühlte sich wohl unter ihnen. Er gehörte zu ihnen, wenigstens für ein paar Stunden.«20

Das Zusammengehörigkeitsgefühl stellt sich allerdings bei ihm eher selten ein, es scheint, dass eben das gemeinsame sensorische Erlebnis eine Art Verbindung zwischen Menschen herstellt. Norwegen wird später zu dem Land, in dem er sich wenigstens zeitweise niederlässt. Er baut sich dort ein Baumhaus und ein Museum für ganz persönliche Gegenstände. An dieser Stelle wird die Rolle der menschlichen Sinne hervorgehoben, die bei Glavinic vom Menschsein Zeugnis abgeben. Ihr Verlust am Todestag wird vom Protagonisten mit einigem Entsetzen reflektiert. »Meine Augen, nicht mehr blicken, mein Mund, nicht mehr schmecken. Meine Stimme, nicht mehr klingen, meine Nase nicht mehr riechen, meine Ohren nicht mehr hören. Meine Finger nicht mehr greifen, meine Zähne nicht mehr beißen, meine Lippen nicht mehr küssen, meine Haare nicht mehr wachsen.«21

Das Überschreiten der Grenze zum Tod bedeutet den Abbruch der sinnlichen Reize, was weitaus schwieriger ausfällt als der Verlust der materiellen Besitztümer. Nicht empfinden zu können, wird zum endgültigen Grenzgang.

II.

Das Überschreiten eigener körperlicher und psychischer Grenzen

Der Drang zur Grenzüberschreitung in der Figurenkonstruktion des Protagonisten Jonas scheint offenkundig zu sein. Daniela Strigl spricht in diesem Kontext von einem egoistischen Grenzüberschreitungsprogramm22 und Thomas Trenkler von der Auslotung der Grenzen23. Nora Boeckl beschreibt Jonas als einen hochbegabten Jungen, der »vom Zwang zur Grenzüberschreitung und dem Willen zur absoluten Freiheit«24 getrieben ist. Dieser Zwang manifestiert sich ziemlich früh, bereits als Kind sendet er aus Amerika einen Brief an seine eigene Adresse in Österreich, in dem er eine Herausforderung beschreibt, die er nach 20 21 22 23

Ebd., S. 327. Ebd., S. 341. Strigl, Bergsteiger-Roman. 2013, o.S. Trenkler, Thomas: Immer auf der Suche nach dem größeren Wunder. In: Der Standard. 23. 08. 2013. o.S. (Zugriff am 24. 03. 2022). 24 Boeckl, Nora: Wirklichkeit als Versuchsanordnung. Postavantgardistisches Schreiben in der österreichischen Gegenwartsliteratur des Postmillenniums am Beispiel von Thomas Glavinic. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 141.

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der Rückkehr verwirklichen sollte. Aus einem eigens zusammengestellten Set von Herausforderungen wählt er das Austrinken einer Flasche Olivenöl. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Probe ziemlich kindisch, sie wird aber als eine Art Einstieg in den Vervollkommnungsprozess dargestellt. Die Grenzüberschreitung fungiert hier als ein spezifischer Entwicklungsprozess. Die traditionelle Entwicklung zum reifen Menschen hat er bereits in der Kindheit abgeschlossen, er wirkt nach der individuellen Bildung durch diverse Nobelpreisträger ziemlich altklug. Die eigentliche Entwicklung bezieht sich auf die Überschreitung eigener körperlicher Möglichkeiten. Die erste Probe mit dem Olivenöl verheißt einige Vorteile: »Bald war die Flasche zu zwei Dritteln geleert. Er dachte fest an die Karte, an den Campingplatz, deutlich fühlte er, dass das Elend dieser Minuten und jene Minuten damals zusammengehörten, dass er gerade eine Zeitreise unternahm, mit einem früheren Ich kommunizierte, dass er etwas zu Ende brachte, einen Kreis schloss, und dass er irgendwann einen Nutzen daraus ziehen würde. Das ist das Jetzt, das andere war das Damals, beide sind eins, durch meinen Willen. Ich wirke. Ich bewege meine Welt.«25

Das Maß der Entwicklung richtet sich nicht nach dem angeeigneten Wissen, sondern nach einem bestimmten Selbstbeherrschungsprogramm. Damit wird ein persönliches Wirkungspotenzial aktiviert, das eine Überschreitung der Zeitgrenzen ermöglicht. Das Jetzt und das Damals werden zur unzertrennlichen Einheit und diese Grenzüberschreitung in der Zeit vollzieht sich durch den starken Willen des Ich-Erzählers. Boeckl stellt in diesem Kontext fest, dass es ihm nicht um die Anerkennung durch die Umwelt geht, sondern »er möchte sich selbst erkennen […].«26 Auf diesem Weg zur Erkenntnis unternimmt er immer wieder verschiedene Bewährungsproben. Der Weg scheint der jeweiligen Lebensetappe zu entsprechen, vom Austrinken des Olivenöls über das waghalsige Fahren mit dem Traktor bis zum Surfen auf den mannshohen Wellen. Auf Umwegen lernt er den Geschmack des ersten Joints kennen und wird auch heroinabhängig. Dabei scheinen solche Erlebnisse ihn wenig zu beeindrucken: »Jonas legte sich auf den Rücken. Um ihn drehte sich alles. Eine Wolke am Abendhimmel sah aus wie Dagobert Duck. Er musste kichern. »Bemerkenswert«, hörte er Werner sagen. »Der steht auf, als ob nichts wäre. Ich kann kaum den Kopf heben.««27

25 Glavinic, Wunder. 2013, S. 109. 26 Boeckl, Wirklichkeit. 2015, S. 139. 27 Glavinic, Wunder. 2013, S. 181.

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Diese Robustheit des Ich-Erzählers steigert sich ins Märchenhafte. Dort, wo seine Freunde sterben, überlebt er einigermaßen unbeschadet. Beim waghalsigen Skifahren stirbt sein Freund Werner und Jonas überlebt alle Strapazen.

III.

Jenseits der Realität. Die Grenze zum Märchenhaften

Es gibt in diesem Fall eine Grenzüberschreitung einer anderen Art, ins Märchenhafte. Jonas scheint übernatürliche Kräfte zu besitzen. Er ist gegen den Tod immun, Freunde und Bekannte um ihn herum sterben, aber er agiert trotz körperlicher Beschwerden weiter. Boeckl sieht darin Merkmale eines Kunstmärchens. Es gibt im Roman unerklärliche Elemente, wie übernatürliche Möglichkeiten des Protagonisten, alle Sprachen zu verstehen und die Zukunft voraussagen zu können.28 Der Protagonist kann bestimmte Ereignisse vorahnen: »Kein Quatsch, dachte er. Etwas Schlimmes passiert. Es passiert nichts Schlimmes. Denk doch nicht so was. Man kann nicht immer wegdenken. Es ist da. Ich weiß es.«29

Dieses Übernatürliche erfüllt Boeckl zufolge eine bestimmte Funktion: »Das Märchenhafte, die phantastischen Elemente sind somit der Rahmen für eine fiktionale Welt, in der es überhaupt erst möglich wird, ein Leben wie das Leben von Jonas darzustellen.«30 Das Leben ist voll von phantastischen Grenzüberschreitungen, die für gewöhnliche Menschen nicht möglich sind. Er misst sich mit übergroßen Wellen und überlebt dieses Wagnis, andere wiederum erliegen den Naturgewalten: »Durch Veras Erzählungen war er auf einiges vorbereitet gewesen, doch mit solchen Wellen wie hier in Hossegor hatte er nicht gerechnet. Richtige Ungetüme, an die zehn Meter hoch, wutschäumend und von glitzernder Schönheit, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, auch nicht im Fernsehen.«31

Diese Wellen bezwingt Jonas trotz der Lebensgefahr, was den Leser in diesem Zusammenhang nicht sehr verwundern kann. Er bekommt jedoch eine schwere Krankheit, von der er sich nur schwer erholt, einige Zeit schwebt er sogar in Lebensgefahr. Diese Krankheit resultiert jedoch nicht aus seinem Grenzüberschreitungsprogramm, sondern sie beginnt plötzlich ohne einen einschlägigen Grund: »Wochen später erfuhr er, dass sie kurz vor zwölf versucht hatten, ihn zu

28 29 30 31

Boeckl, Wirklichkeit. 2015, S. 142. Glavinic, Wunder. 2013, S. 195. Boeckl, Wirklichkeit. 2015, S. 143. Glavinic, Wunder. 2013, S. 206.

Grenzüberschreitungen als Konstruktionsprinzip

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wecken, er aber nicht mehr ansprechbar gewesen war.«32 Es wird nach der Ursache gesucht, die jedoch nicht zu finden ist. Höchstwahrscheinlich geht es um Komplikationen nach einer Gehirnhautentzündung, die auch für das spätere Leben von Jonas nicht ohne Folgen bleiben. Er leidet an wiederkehrenden Fieberschüben, die sich meist nach wenigen Stunden legen. Anfänglich kann er aber nicht gehen und sitzt im Rollstuhl.33 Das Schweben zwischen Leben und Tod vollzieht sich allerdings nicht im riskanten Grenzüberschreitungsprogramm, sondern in einer plötzlichen Krankheit. Nicht das moderne Streben nach adrenalinreichen Situationen, sondern eher der Zufall wird hier zum lebensbedrohlichen Faktor. Die modernen Grenzüberschreitungsprogramme werden hier ins Absurdum geführt. Gleichzeitig erfüllen sie nicht das Prinzip des Ereignishaften. Die ständigen räumlichen Grenzüberschreitungen und das Riskieren des eigenen Lebens werden hier zum Konstruktionsprinzip, das um Konfrontation mit den Erwartungen des Lesers ergänzt wird. Die Handlung vollzieht sich jenseits des Erwartungshorizonts der Leserschaft; es kommt nicht zum Tod des Protagonisten, obwohl dieser in manchen Situationen nachvollziehbar wäre. Die Lähmung legt sich im Verlauf der Handlung und Jonas sieht sich nicht mehr einer direkten Gefahr ausgesetzt, aber die Fieberschübe bleiben, um dem Protagonisten die eigene Zerbrechlichkeit zu signalisieren. Diese Zerbrechlichkeit tritt besonders deutlich in Erscheinung, wenn Jonas einen Versuch unternimmt, den Mount Everest zu besteigen. Während der vielen Strapazen wird das menschliche Versagen sichtbar und dabei wird die Grenze zum Tod immer wieder ausgelotet. Da ist die schmale Grenze zwischen Leben und Tod angesichts der latenten Bedrohung spürbar. Jonas nimmt die Besteigung des Mount Everest als Herausforderung, aber es scheint, dass sie ihm nicht so wichtig ist wie allen anderen, die er auf der Tour trifft. Am Ende ist er der einzige aus der Ausgangsgruppe, der den Gipfel besteigt. Unterwegs kämpft er gegen seinen eigenen Körper, der an der Grenze zum Tod schwebt. Mit einer gebrochenen Rippe erreicht er den Gipfel und überlebt eine Nacht ohne Schutz, was sich ins märchenhafte Konzept fügt. Das Überschreiten derjenigen Grenzen, die für die gewöhnlichen Menschen nicht passierbar wären, lässt den Blick auf die zeitlichen Dimensionen des menschlichen Lebens richten. Es geht nicht um den Kampf ums Überleben, weil der Protagonist viel Geld besitzt und sich alles leisten kann. Es handelt sich auch kaum um die erwähnte Angst vor dem Tod, der nicht zuletzt ausbleibt. Der Fokus liegt auf der Vergänglichkeit, die durch unterschiedliche Grenzüberschreitungsprogramme nivelliert werden sollte. Dabei scheinen alle außergewöhnlichen Fähigkeiten, die normalerweise in der Literatur als wün-

32 Ebd., S. 273. 33 Ebd., S. 277.

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schenswert angesehen werden, vom Protagonisten nicht gewollt zu sein. Er will kein Superheld zu sein, der die Welt rettet: Ich will das nicht, dachte er. Ich hörte, was mein bester Freund denkt. Wenn mein Bruder stirbt, weiß ich es vorher. Ich verstehe Fremdsprachen, die ich bisher nur rudimentär beherrscht habe. Was kommt als Nächstes, fliege ich über die Häuser und spreche mit Hunden? Was bin ich? Ein Ungeheuer? Ein Medium? Sehe ich bald Tote? Ich will das nicht, dachte er.34

Das Überschreiten der Grenze des semiotischen Feldes, das als Ereignis zu markieren ist, bringt die ganze Handlung nicht nach vorne und erzeugt auch kaum noch Spannung. Das Märchenhafte erfüllt hier seine Rolle nicht. Durch die Kommentare des Protagonisten erfahren wir, dass die übernatürlichen Kräfte von ihm kaum gewollt sind. Auf dem Mount Everest stößt er an die besagten Grenzen des Menschseins, wird aber wiederum auf eine wundersame Weise gerettet. Sein Freund Werner erscheint ihm als Geist bzw. Halluzination und holt ihn durch Zureden aus der Todeszone zurück. Die Grenze zwischen Tod und Leben oder auch Realität und Scheinwelt wird überschritten. Das Kunstmärchen erfüllt seine Funktion nicht. Der Hauptheld wird gerettet, aber das bringt nicht die gewollte Erleichterung. Jonas erkennt immer wieder Brüche in der Wirklichkeitswahrnehmung. Sie manifestieren sich im Stillstand: »[…] keine Wolke, kein Vogel, kein Lüftchen, so wie sich auch in der Wiese kein Grashalm regte, kein Insekt aufflog, keine streuende Katze zuckte. Für ein paar Minuten war die Welt eine andere, schwarz, brutal, gnadenlos. Keine Schonung. Kein Heil.«35 Diese wundersamen Brüche werden eigentlich zum ausbleibenden Ereignis und bedeuten das Überschreiten der konventionellen Grenzen der modernen westlichen Kultur, die keinen Stillstand duldet, wenigstens in literarischen Projektionen.

34 Glavinic, Wunder. 2013, S. 295. 35 Ebd.

Autorinnen und Autoren

Urszula Bonter, Professorin am Institut für Germanistik der Universität Wrocław (Breslau) und Leiterin der Forschungsstelle für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Arbeitsschwerpunkte: Romane und Romantheorie der Aufklärung, deutscher Realismus, literarische Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert, Buch- und Verlagsgeschichte, subversive Literatur, Populärliteratur des 18. bis 21. Jahrhunderts, schlesische und norddeutsche Regionalgeschichte, literarisches Leben in Hamburg im 18. und 19 Jahrhundert. Zahlreiche Monographien und Aufsätze zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts, letztens: Urszula Bonter: S. Schottlaender. Ein Breslauer Verlag im Kaiserreich. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. Hans Richard Brittnacher, Prof. Dr., lehrte bis 2018 am Institut für Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte und Publikationen: Intermedialität des Phantastischen; die Imago des Zigeuners in der Literatur und den Künsten; Literatur- und Kulturgeschichte des Goethezeitalters und des Fin de siècle; Literatur und Religion. Wichtige Veröffentlichungen: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Hans Richard Brittnacher und Markus May (2013); Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst (2012). Hartmut Eggert, Prof. Dr., Jg. 1937, pensionierter Professor für Neuere deutsche Literatur an der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Romantheorie, Geschichte des historischen Romans und Gegenwartsliteratur, literarische Sozialisation. Literaturhistorische Publikationen zum 19. und 20. Jahrhundert, empirische Forschungen zu Veränderungen der Lesekultur im 20. Jahrhundert und zur Leseund Mediensozialisation. Als Literaturwissenschaftler beschäftigte er sich auch mit der Frage, wie die Leser die literarischen Werke verarbeiten (Rezeption/ Lektüreprozesse). 1992 bis 2005 war er Koordinator der Germanistischen Institutspartnerschaft des MOE-Programmes des DAAD für die Freie Universität Berlin, die Maria-Curie-Skłodowska-Universität Lublin und die Katholische

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Autorinnen und Autoren

Universität Lublin Johannes Paul II. Er hatte Gastprofessuren an der Universität Peking (1983/1984 und 1987) und an der Jawaharlal Nehru University in New Delhi (2004). Von 2004 bis 2008 war er Mitbegründer des Zentrums für Deutschlandstudien an der Universität Peking. Vortragsreisen führten ihn nach Brasilien, China, Polen, Südafrika, Thailand und in die Vereinigten Staaten. Joanna Firaza, Univ.-Prof. Dr. habil., Leiterin der Abteilung für deutschsprachige Literatur am Institut für Germanistik der Universität Łódz´ / Polen, mehrfache DAAD-Stipendiatin. Promotion 2000 mit einer Arbeit zur Dramenästhetik Rainer Werner Fassbinders (Frankfurt/M. 2002); Habilitation 2014 mit der Schrift »Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.« Das Humor-Konzept im Dramenwerk Frank Wedekinds (Frankfurt/M. 2013); Mitherausgeberin von: Dialog der Künste: Literatur und Musik (Berlin: Peter Lang 2020); Animal Body. Tier-Bilder in der deutschen Literatur (Paderborn: Brill Fink 2022). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Ästhetik der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur im kulturgeschichtlichen Kontext, Wechselbeziehungen zwischen Literatur und anderen Künsten, Drama und Theater des 20. und 21. Jahrhunderts, Essay und Prosa der Gegenwart. Michaela Holdenried, seit 2009 Professorin für Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Germanistik am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universita¨t Freiburg und seit 2010 Extraordinary Professor an der University of Stellenbosch/Südafrika. Studium der Germanistik, Politikwissenschaften, Geschichte und Lateinamerikanistik an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und an der Freien Universität Berlin. 1990 Promotion an der Freien Universität Berlin mit der Dissertation Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman. Habilitation ebenfalls an der Freien Universität Berlin im Jahr 2002 mit der Studie Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Gastprofessuren u. a. in Groningen, Wien, Atlanta, Easton/Lafayette, Stellenbosch und Kapstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Repräsentationen von Alterität, Reiseliteratur, Identität und Erinnerung, Autobiographik, interkulturelle Literaturwissenschaft, Autorschaft in der Postmoderne. Marek Jakubów, Univ.-Prof. Dr. habil., Mitarbeiter des Instituts für Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Lublin Johannes Paul II. Stipendiat des DAAD. Studium der Germanistik an der Jagiellonen Universität in Krakau. Habilitationsschrift 2005 ›…weil man durch Menge und Mannigfaltigkeit der Teile nicht leicht zum Ganzen kömmt‹. Zur Problematik der ganzheitlichen Weltwahrnehmung im Werk von Annette Droste-Hülshoff und Adalbert Stifter. 2007–2020 Leiter des Lehrstuhls für deutschsprachige Literatur des 18. und

Autorinnen und Autoren

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19. Jahrhunderts. 2012–2016 Direktor des Instituts für Germanische Philologie an der KUL. Forschungsschwerpunkte: Ganzheitskonzepte, Religion und Literatur, Katholizismus und deutschsprachige Literatur, deutsch-polnischer Literaturtransfer. Buch- und Aufsatzveröffentlichungen zur deutschsprachigen Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Letzte Buchveröffentlichung: ›Myzel des Romans‹. Martin Mosebach – ein katholischer Autor. Lublin 2020. Jerzy Kała˛z˙ny, Prof. Dr., Literaturwissenschaftler, Professor für neuere deutsche Literatur am Institut für Germanische Philologie der AMU Poznan´. Forschungssinteressen: nation-building-Prozesse im 19 Jh., deutsche und polnische Gegenwartsliteratur, Erinnerungskulturen in Mitteleuropa, Gedächtnis- und Identitätsforschung, Erzählforschung. Publikationen in deutscher und polnischer Sprache, neulich u. a. über deutsche und polnische Erinnerungskulturen, Post-DDR-Literatur, Durs Grünbein und Christoph Ransmayr. Langjähriger Mitarbeiter (als Übersetzer und Herausgeber) der Verlagsserie Poznan´ska Biblioteka Niemiecka (Posener Deutsche Bibliothek). 2010–2013 Mitarbeiter des Forschungs- und Publikationsprojektes »Deutsch-Polnische Erinnerungsorte« / »Polsko-Niemieckie Miejsca Pamie˛ci« des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Universität Oldenburg, Deutsches Polen Institut Darmstadt, Historisches Institut in der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Irmela von der Lühe, Professorin (a.D.) für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und (seit Oktober 2013) Senior Advisor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Forschungsschwerpunkte im Bereich der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, der Literatur des Exils und der Shoah, der Literaturgeschichte weiblicher Autorschaft sowie der Thomas Mann-Familie. Seit 1996 Mitwirkung an der DAAD-geförderten Germanistischen Institutspartnerschaft zwischen der UMCS und der KUL; Organisation und Teilnahme an Konferenzen, Workshops und Doktorandenkolloquien in Lublin und Lviv. Zusammen mit Janusz Golec sind dabei folgende Bände entstanden: Janusz Golec/Irmela von der Lühe (Hrsg.): Geschichte und Gedächtnis in der Literatur vom 18. bis 21. Jahrhundert. Frankfurt/M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 2011; Janusz Golec/Irmela von der Lühe (Hrsg.): Literatur und Zeitgeschichte: Zwischen Historisierung und Musealisierung. Frankfurt/M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 2014. Konrad Łyjak, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistik an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität Lublin, vereidigter Übersetzer und Dolmetscher für die deutsche Sprache, Gewerbetreibender, Leiter von Schulungen im Bereich der Übersetzung medizinischer Texte, Mitglied der Polnischen

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Autorinnen und Autoren

Gesellschaft vereidigter Übersetzer und Fachübersetzer. Dissertation 2014, Monographie: Historische und literarische Bilder im Werk von Arno Surminski (Berlin: Peter Lang 2019). Jolanta Pacyniak, Dr. habil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistik an der Marie-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin. Doktorarbeit zum Werk Karl Emil Franzos, Habilitation 2020 mit der Studie Von Menschen, Dingen und Räumen. Konstruktionen literarischer Gegenständlichkeit in ausgewählten Werken der deutschen und polnischen Gegenwartsliteratur. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissen, Problematik der Grenze in der deutschen und polnischen Literatur, Literatur und materielle Kultur. Anna Pastuszka, Dr. habil., Leiterin des Lehrstuhls für Germanistik an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungsliteratur, Raum und Orte in der Literatur, Reiseliteratur. Die Autorin von Artikeln über u. a. Karl-Markus Gauß, Ruth Klüger, Ilma Rakusa, Monika Maron, Esther Kinsky, kontaminierte Landschaften (Hanna Krall, Andrzej Stasiuk), Landschaften des Postgedächtnisses bei Monika Sznajderman, literarische Narrationen über Lublin als Erinnerungsort. Die Mitherausgeberin (mit Jolanta Pacyniak) des Bandes Zwischen Orten, Zeiten und Kulturen. Zum Transitorischen in der Literatur (Frankfurt am Main: Peter Lang 2016). Habilitation 2020 mit der Studie Die Reise nach Ost- und Ostmitteleuropa in der Reiseprosa von Wolfgang Büscher und Karl-Markus Gauß (Berlin: Peter Lang 2019). Beate Sommerfeld, Univ.-Prof. Dr. habil., Leiterin des Lehrstuhls für Österreichische Literatur und Kultur sowie des Lehrstuhls für Translationsforschung am Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität zu Posen. Studium der Germanistik, Romanistik und Slavistik an der Philipps-Universität Marburg und der Université Paul Valéry, Montpellier. 2005 erfolgte die Promotion an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´ mit der Studie KafkaNachwirkungen in der polnischen Literatur unter besonderer Berücksichtigung der achtziger und neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Habilitiert wurde sie 2014 mit der Studie Zwischen Augenblicksnotat und Lebensbilanz. Die Tagebuchaufzeichnungen Hugo von Hofmannsthals, Robert Musils und Franz Kafkas. Zahlreiche Publikationen zur österreichischen Literatur, word image studies, Bild- und Medienanthropologie sowie Übersetzungstheorie. Dorota Tomczuk, Univ.-Prof. Dr. habil., arbeitet am Lehrstuhl für Literatur und Kultur der deutschsprachigen Länder (Institut für Literaturwissenschaft, KUL). Nach der Promotion 2000 zum Thema Der Protagonist als Ideenträger im dramatischen Werk von B. Brecht, F. Dürrenmatt und P. Handke und Habilitation

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2009 zum Thema Das Paradigma des Lebens im feuilletonistischen Werk V. Auburtins und Alfred Polgars gehören heute zu ihren Forschungsschwerpunkten vor allem: Kulturkontext des Filmes und seine Didaktisierungsmöglichkeiten, Literatur und audiovisuelle Künste und Medien in den deutschsprachigen Ländern sowie Theorie und Praxis des deutschen und österreichischen Dramas. Monika Wolting, Professorin am Germanistischen Institut der Universität Wrocław, Sprecherin des Internationalen Christa-Wolfs-Zentrums und stellvertretende Präsidentin der Goethe Gesellschaft-Polen, Trägerin der Auszeichnung »Verdiente Versöhner«, Literaturkritikerin, Mitwirkende im Cassandra-Projekt – Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Kriegsforschung, Intellektuellenforschung, Engagierte Literatur, Ästhetik und Politik, Kulturpolitik, Realismusforschung. Letzte Publikationen: Konflikte. Literarische Auseinandersetzung mit der Gegenwart (Brill/unipress 2023), Utopische und dystopische Weltenentwürfe, Hrsg. (Brill/unipress 2022), Grenzerfahrungen und Globalisierung im Wandel der Zeit, Hrsg. (Brill/unipress 2021), Der ›Gentrifizierungsroman‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Oxford German Studies 50, 2021 2; Der Heimkehrerroman der Gegenwart, Oxford German Studies 2020, Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur (Winter 2019). Katarzyna Wójcik, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistik an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin. Forschungsschwerpunkte: deutsche Kolonisten im Spiegel der publizistischen Aussagen in der NS-Besatzungspresse im Generalgouvernement in den Jahren 1939–1945; die NS-Kulturarbeit im Distrikt Lublin; das Phänomen des deutschen Kolonistentums: Wolhyniendeutsche, Cholmerdeutsche, deutsche Siedlungsgruppen des Mittelalters im Vorkarpatenland (Walddeutsche/Taubdeutsche); Geschichte der deutschen Minderheit in Polen; das deutsch-polnische Kollektivgedächtnis.