Die Europäische Idee der Freiheit und die Etablierung eines Europäischen Strafrechts: Zum Zusammenhang von freiheitlicher Rechtsverfassung und Strafe [1 ed.] 9783428549627, 9783428149629

Die Europäische Union begreift sich als ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das Strafrecht greift in f

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Die Europäische Idee der Freiheit und die Etablierung eines Europäischen Strafrechts: Zum Zusammenhang von freiheitlicher Rechtsverfassung und Strafe [1 ed.]
 9783428549627, 9783428149629

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Schriften zum Strafrecht Band 311

Die Europäische Idee der Freiheit und die Etablierung eines Europäischen Strafrechts Zum Zusammenhang von freiheitlicher Rechtsverfassung und Strafe

Von

Bettina Noltenius

Duncker & Humblot · Berlin

BETTINA NOLTENIUS

Die Europäische Idee der Freiheit und die Etablierung eines Europäischen Strafrechts

Schriften zum Strafrecht Band 311

Die Europäische Idee der Freiheit und die Etablierung eines Europäischen Strafrechts Zum Zusammenhang von freiheitlicher Rechtsverfassung und Strafe

Von

Bettina Noltenius

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14962-9 (Print) ISBN 978-3-428-54962-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84962-8 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Die Arbeit wurde von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn im Sommersemester 2014 als Habilitationsschrift angenommen. Später erschienene Rechtsprechung und Literatur konnten (bis einschließlich 2016) nur zum Teil Berücksichtigung finden. Die Europäische Union begreift sich als ein Raum der Freiheit, der ­Sicherheit und des Rechts. Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind nach Art. 2 EUV insbesondere die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und die Wahrung der Menschenrechte. Schon die schillernden Begriffe der Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit sind solche, die mehr voraussetzen als eine bloße Betrachtung des geltenden (sich stetig im Wandel befindenden) Rechts; sie sind in einen sich auf der Freiheit des Subjekts gründenden Ableitungszusammenhang zu stellen. Anliegen der Arbeit ist es daher, Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsbegriffs herauszuarbeiten und sie für die Frage nach der Legitimation eines Europäi­ schen Strafrechts fruchtbar zu machen. Der Abschluss der Schrift wurde durch das Maria von Linden-Programm der Universität Bonn in Form der Finanzierung einer wissenschaftlichen Hilfskraft gefördert. Frau Raphaela Edeler hat diese Arbeit übernommen und mich bei der Fertigstellung der Arbeit unterstützt. Zudem wurde mir durch den Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort ein großzügiger Druckkostenzuschuss gewährt. Herrn Prof. Dr. Martin Böse danke ich herzlichst für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Zutiefst dankbar bin ich meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Rainer Zaczyk, der nicht nur mein Interesse für die Grundlagenfragen des Rechts geweckt, sondern mich auch stets vertrauensvoll gefördert und unterstützt hat. Die durch Anerkennung und Humor geprägte Zusammenarbeit am Rechtsphilosophischen Seminar in Bonn bleibt unvergessen. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Stephan Stübinger, der mir mit seinem scharfen Verstand und seinen fundierten Kenntnissen Anregungen und neue Perspektiven eröffnet hat. Meiner Freundin und Kollegin Frau Prof. Dr. Katrin Gierhake danke ich sehr für den steten Zuspruch, die unzähligen Diskussionen, die konstruktive Kritik und die vertrauensvolle Begleitung der Hochs und Tiefs im wissenschaftlichen und persönlichen Bereich.

8 Vorwort

Meiner Mutter Ulrike Noltenius danke ich von Herzen für die familiäre Unterstützung und ihre behutsamen kritischen Hinweise, die die Arbeit abgerundet haben. Meiner Familie Fabian Miehlbradt und meinen beiden Töchtern Henrike und Johanne bin ich unendlich dankbar, dass sie mir den Freiraum zur Fertigstellung der Arbeit gelassen haben; ihnen ist die Arbeit in Liebe gewidmet. Bonn, im Juni 2017

Bettina Noltenius

Inhaltsverzeichnis Einleitung 

17

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Die Europäisierung des Strafrechts bis zum Vertrag von Lissabon . . . . 23 1. Europäisierung des Strafrechts im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Europäisches Strafrecht im weiteren Sinne am Beispiel des Europäischen Kartellbußgeldverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Befugnisse der Europäischen Kommission im Kartellbußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Einzelne Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. Die weitere Europäisierung des Strafrechts durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Erlass von Mindestvorschriften im Bereich des materiellen Strafrechts, Art. 83 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und der Erlass von Mindestvorschriften im Bereich des Strafverfahrens, Art. 82 AEUV . 43 a) Grundsatz gegenseitiger Anerkennung, Art. 82 Abs. 1 AEUV . . . 43 b) Erlass von Mindestvorschriften im Bereich des Strafverfahrens, Art. 82 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Europol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4. Eurojust und Europäische Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 5. Betrugsbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 C. Zur Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts . . . . . 52 I. Kulturgebundenheit des Strafrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Strafrecht als Ausdruck staatlicher Souveränität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 III. Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 D. Gang der Arbeit und ihr methodischer Ansatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1. Teil

Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen und ihre Bedeutung für das Strafrecht 

67

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 B. Die Bedeutung des Inquisitionsprozesses nach dem gemeinen Recht . . . . . 71

10 Inhaltsverzeichnis

C. Die Zeit der absoluten Monarchie und die Reformen des Inquisitionsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Aufgeklärter Absolutismus – Hobbes und Beccaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Hobbes’ Staats- und Strafverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Die Bedeutung des Strafzwecks der Abschreckung für das Strafverfahren nach Beccaria und seine Forderung nach Reformen des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 II. Die Zeit der absoluten Monarchie und ihr Strafrecht: Zur Entwicklung des Strafrechts in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Zur Kriminalpolitik Friedrichs II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Das Preußische Allgemeine Landrecht (1794) und die Preußische Kriminalordnung (1805)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht – Reformbewegungen . . 91 I. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Politischer Liberalismus – Locke und Montesquieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Locke – „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ (1689) . . . . . . . 93 2. Montesquieu – „Vom Geist der Gesetze“ (1748) . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Die konstitutionelle Monarchie als Übergang vom Absolutismus zur Volkssouveränität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 III. Reformen im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Zu einzelnen Entwicklungen im materiellen Strafrecht . . . . . . . . . . . 110 2. Zur Entwicklung des Strafprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht . . . . . . . . 116 I. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Demokratie und freiheitliche Rechtsverfassung – Rousseau und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Rousseau – Ungeteilte Souveränität des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) „Diskurs über die Ungleichheit“ (1755) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“ (1762) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Kant – Die republikanische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Die Autonomie des Einzelnen und die Notwendigkeit der Staatskonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Der republikanische Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Die Begründung der Strafe bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 II. Grundzüge im Strafrecht unter der Weimarer Reichsverfassung  . . . . . 140 1. Die Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Entwicklungstendenzen im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III. Grundzüge des Strafrechts unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Zu einzelnen Entwicklungen im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 F. Ergebnis und Übergang zum 2. Teil der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Inhaltsverzeichnis11

2. Teil

Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf Europäische Institutionen  167

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 B. Zur Entwicklung der Europäischen Integration bis zum Vertrag von Lissabon und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts  . . . . . . . . . . . 168 I. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Solange Iund II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 169 II. Der Vertrag von Maastricht und das „Maastricht-Urteil“ vom Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Der Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992 und Art. 23 n. F. GG . . . 176 2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Maastricht) vom 12.10.1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Grenzen der Art. 38 und Art. 23 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Wahrung der Grenzen durch EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 III. Der Vertrag von Amsterdam und die Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts zum sog. Europäischen Haftbefehlsgesetz . . . . . . . 188 1. Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Europäischen Haftbefehlsgesetz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 C. Die Stellung des Strafrechts in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . 200 I. Der Vertrag von Lissabon und seine Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 II. Möglichkeit der Konstituierung eines Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 III. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 IV. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.2015 (Europäischer Haftbefehl II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 D. Die Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen und ihre Bedeutung für das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 I. Zum Demokratieprinzip der Europäischen Union: „Unionale Demokratie“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. Zum Gleichgewicht der Institutionen in der Europäischen Union: „Unionale Gewaltenteilung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Rechtssetzungsbefugnisse europäischer Institutionen . . . . . . . . . . . . . 221 2. Exekutivbefugnisse seitens der Europäischen Kommission . . . . . . . . 223 3. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Zur „Unionalen Gewaltenteilung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 III. Bedeutung des Aufbrechens staatlicher Strukturen für die Bestimmung des Strafrechts: „Unionale Strafzwecke“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 E. Ergebnis und Übergang zum 3. Teil der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

12 Inhaltsverzeichnis

3. Teil

Die Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung und ihres Strafrechts 

240

A. Einleitung: Die Freiheit des Einzelnen als Grund des Rechts . . . . . . . . . . . 240 B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht . . . . . . . . . . . . 243 I. Der kategorische Imperativ als Seins- und Erkenntnisgrund von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 II. Freie Handlung und praktischer Vernunftschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 III. Der Begriff des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 I. Der Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Zustand . . . . . . . . . 262 1. Das Privatrecht und seine drei Hauptstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 3. Zusammenfassung und Bedeutung der Erkenntnisse für den weiteren Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 II. Der Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 1. Der Begriff des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Volkssouveränität und Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 a) Gesetzgebende Gewalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Exekutive Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 c) Richterliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 D. Staatliche Rechtsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Der Begriff der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 II. Un-Recht (Verbrechen) und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 1. Zum Begriff des Strafunrechts (Verbrechen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Zur Denknotwendigkeit der Rechts-Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 3. Zur Notwendigkeit staatlicher Rechtsstrafe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 III. Rechtsgrund der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 IV. Einwände gegenüber dem vorgestellten Begründungszusammenhang . . 304 V. Zu einzelnen Bedingungen staatlicher Rechtsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Zur Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes und des Bestimmtheitsgrundsatzes im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2. Die Stellung der Exekutivgewalt im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3. Die Stellung des Richters im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 E. Ergebnis und Übergang zum 4. Teil der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Inhaltsverzeichnis13

4. Teil

Zum rechtlichen Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander 

321

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 B. Zum Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander (Völkerrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 I. Das Völkerstaatenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 1. Der Übergang vom Kriegszustand (Naturzustand) zum rechtlichen Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 2. „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten ­gegründet sein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 II. Das Verhältnis der Bürger untereinander und ihr Verhältnis zu anderen Staaten (Weltbürgerrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 C. Zusammenfassung und Übergang zum 5. Teil der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . 342 5. Teil

Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung und die Etablierung eines E ­ uropäischen Strafrechts 

344

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 B. Der Begriff der Freiheit als Sicherheitsgewährleistung im Spannungsverhältnis zum Begriff der Freiheit als Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 I. Zur Problematik der Bezeichnung der Menschenwürde und der Freiheit als „Werte“ (Art. 2 EUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 II. Kritische Würdigung der Bestimmung des Freiheitsbegriffs im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 C. Europäische Strafrechtssetzung im Spannungsverhältnis zu rechtsbegründenden ­Strukturprinzipien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 I. Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung  . . . . . . . . . . 355 1. Die Europäische Union: Souverän ohne Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 2. Folge des Legitimationsdefizits: Aufhebung der Gewaltenteilung  . . 362 II. Europäische Strafrechtssetzung im Spannungsverhältnis zur Souveränität der Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 1. Zur grundlegenden Problematik europäischer Strafrechtssetzung . . . 365 2. Probleme der Bestimmbarkeit der Grenzen europäischer Strafrechtssetzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 D. „Unionale“ Strafzwecke im Spannungsverhältnis zu einer freiheitlichen Strafrechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 I. Die unionalen Strafzwecke am Beispiel des Richtlinienentwurfs „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

14 Inhaltsverzeichnis

II. Der funktionale Strafbegriff des Unionsrechts im Spannungsverhältnis zu einem freiheitlichen Begriff der Rechtsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen im Spannungsverhältnis zu einem rechtsstaatlichen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 I. Übersicht über den Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . 380 1. Ziele des Verordnungsvorschlages zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 2. Status und Organisation der Europäischen Staatsanwaltschaft . . . . . 381 3. Aufgaben und Zuständigkeiten der Europäischen Staatsanwaltschaft  . 382 4. Ermittlungsbefugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft und die Zulässigkeit von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 5. Verfahrensgarantien des Verdächtigen, Beschuldigten oder sonstiger Beteiligter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 II. Effektive Verbrechensbekämpfung durch eine Europäische Staatsanwaltschaft im Spannungsverhältnis zu einem rechtsstaatlich ausgestalteten Strafverfahren und zum Strafverfahrensrecht der Mitgliedstaaten . 386 F. Ergebnis   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Folgerungen: Möglichkeiten einer legitimen europäischen Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts 

398

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 B. Die Union als Verbund souveräner Rechtsstaaten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 C. Koordinierungsmöglichkeiten mitgliedstaatlicher Rechtsetzung im Bereich des materiellen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 I. Mögliche Handlungsform: Rahmenverträge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 II. Bestimmung möglicher Europäischer Rechtsgüter unter Beachtung materieller Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 D. Die vertragliche Zusammenarbeit der Unionsstaaten im Bereich des Strafverfahrens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 I. Europäische Rechtshilfe als Teil eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens . 406 II. Einzelne materielle Grenzen des unionalen Zusammenwirkens im Rahmen des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 E. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448

„Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Kniee vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.“ (Kant, Zum ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe Bd. VIII, S. 380)

Einleitung A. Einführung Staatliche Strafe stellt einen fundamentalen Eingriff in die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers dar. Zwar ist dieser auch in anderen Rechtsgebieten hoheitlichem Zwang unterworfen, wie z. B. im Rahmen der zivilrechtlichen Zwangsvollstreckung oder im Rahmen von Verwaltungszwangsmaßnahmen, jedoch beinhaltet das Strafrecht beginnend mit dem Ermittlungsverfahren und einer am Ende des Verfahrens stehenden Verurteilung verbunden mit der Strafvollstreckung ein besonderes Unwerturteil, das den Bürger unmittelbar in seiner Person trifft. Das Strafrecht wird daher auch als „stärkstes Schwert“ des Staates bezeichnet. Soll dieses Schwert nicht bloße Gewalt sein und damit auf das Verbrechen eine weitere Gewalttat durch den Staat folgen, sondern legitimes Handeln darstellen, bedarf die Befugnis zu strafen einer rechtlichen Begründung. Das gilt nicht nur für die Strafgewalt seitens des Staates, sondern auch dann und gerade dann, wenn es um die Ausübung strafrechtlicher Maßnahmen geht, die von europäischen oder internationalen Institutionen ausgehen. Hier ist der Begründungsaufwand wesentlich bedeutender und komplexer als in einzelstaatlichen Zusammenhängen. Betroffen sind dabei keineswegs bloß Fragen der zweckmäßigsten Kompetenzverteilung zwischen den Einzelstaaten und der supranationalen Ordnung, sondern auch im Rahmen überstaatlicher Zusammenhänge muss gegenüber dem Einzelnen begründet werden können, dass ihm Recht geschieht und ihm nicht faktischer Zwang oktroyiert wird. Allgemein formuliert: Es geht um die Frage nach der Begründung einer freiheitlichen Rechtsverfassung und ihrer Straflegitimation. Der bloße Verweis auf die bestehende Rechtsordnung selbst vermag diese nicht anzugeben. Den staatlichen Zwangsgesetzen vorgelagert muss die Beantwortung der Frage sein, warum sich Menschen rechtsförmig organisieren sollen und warum die Verwirklichung des Rechts einer öffentlichen Macht bedarf, der Durchsetzungs- und Sanktionsbefugnisse zukommen. Das Problem der Legitimation von Zwangsbefugnissen und damit von Eingriffsrechten in die äußere Freiheit des Einzelnen ist die zentrale Fragestellung der politischen Philosophie der Neuzeit.1 Die Rechtfertigung von 1  Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages (1994), S. 11; vgl. auch Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21

18 Einleitung

Herrschaftsausübung und Staatsbeweis sind seither miteinander verbunden. Während in der klassischen Zeit und im Mittelalter die Frage nach der Herrschaftsbegründung nicht gestellt wurde, sondern es nur um die Trennung einer guten von einer schlechten Herrschaft ging, diese selbst aber nicht als rechtfertigungsbedürftig angesehen wurde, rückte seit Hobbes der freie Mensch in den Mittelpunkt der Betrachtung und machte so Formen der Herrschaftsausübung selbst zum politischen und philosophischen Begründungsproblem.2 Dieser Perspektivenwechsel führte schließlich zu einer Aus­ einandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Staatsgewalt. Der Staat wurde nicht mehr als bloßer Machtapparat begriffen, sondern sollte auf dem freien Willen des Volkes selbst ruhen und gewaltenteilig organisiert sein. Schon die französische Nationalversammlung hat am 26. August 1789 den Begriff des „modernen Verfassungsstaates“ prägnant in Artikel III und XVI des von ihr verfassten Katalogs der „natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen“ wiedergegeben: „Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volke. Keine Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht“ (Art. III). „Eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“ (Art. XVI).3 Das deutsche Grundgesetz basiert ebenfalls auf diesen Grundsätzen. So heißt es in Art. 20 Abs. 2 GG „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Volkssouveränität und Gewaltenteilung sind damit als grundlegende Staatsprinzipien in einem Absatz zusammengefasst. Auch das Bundesverfassungsgericht verweist in seiner Entscheidung zum Lissabon-Vertrag auf die Notwendigkeit demokratischer Selbstbestimmung des Volkes und verbindet sie zugleich mit der Freiheit des Einzelnen: „Die vom Grundgesetz verfasste Ordnung geht vom Eigenwert und der Würde des zur Freiheit befähigten Menschen aus. Diese Ordnung ist rechtsstaat­ liche Herrschaft auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit in Freiheit und Gleichheit. Die Bürger sind danach keiner politischen Gewalt unterworfen, der sie nicht ausweichen können und die sie nicht prinzipiell personell und sachlich zu gleichem (1982), 161 (162); Höffe, Ist Kants Rechtsphilosophie noch aktuell?, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 279 (281). 2  Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages (1994), S. 11. 3  s. a. Maus, Verfassung oder Vertrag, in: Niesen/Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit (2007), S. 350 (352 f.): „Der normative Kernbestand, ohne dessen Garantie der Begriff einer Verfassung von nun an inadäquat ist, umfasst also (…) Freiheitsrechte, Volkssouveränität und Gewaltenteilung“.



A. Einführung19

Anteil in Freiheit zu bestimmen vermögen.“4 Das Gericht stellt damit den Bürger selbst in den Mittelpunkt und nicht den Staat.5 Aus diesem Blickwinkel hebt es in seiner Entscheidung ferner die bedeutende Stellung des Strafrechts im Staat hervor: „Die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege ist seit jeher eine zentrale Aufgabe staatlicher Gewalt (…). Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit im modernen Verfassungsstaat zählt.“6 Das Strafrecht hängt nach Auffassung des Gerichts also mit der im Staat verfassten freiheitlichen Rechtsordnung unmittelbar zusammen: Ausgehend vom selbstbestimmten Einzelnen ist der Staat demokratisch-rechtsstaatlich zu organisieren. Nur ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber ist befugt, über solche Eingriffe zu entscheiden, die massiv die Rechte des Einzelnen berühren, wie es im Strafrecht der Fall ist.7 Begreift man das Verhältnis von Staat und Strafe grundlegend und sieht darin nicht eine bloß zufällige Verbindung, so zeigt sich bereits, dass es bei der Frage einer Europäisierung des Strafrechts oder gar eines genuinen „Europäischen Strafrechts“ nicht nur um ein äußeres Problem verschiedener mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen geht, nämlich das Nebeneinanderstehen unterschiedlicher Systeme, deren Normen einfach einander angepasst werden könnten, sondern um ein tiefer liegendes (Legitimations-)Problem. Es ist auch kein Zufall, dass aufgrund des besonderen Zusammenhangs von Staats- und Strafrecht die Idee einer Europäischen Integration nicht etwa von der Zusammenfassung der Strafrechtssysteme ausging.8 Durch die Gründung der Montanunion (EGKS)9 und die Vergemeinschaftung der 4  BVerfGE

123, 267 (341) unter Verweis auf BVerfGE 2, 1 (12). auch Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen, in: JZ 2009, 872 ff.; Schorkopf, Die Europäische Union im Lot, in: EuZW 2009, 718 ff. 6  BVerfGE 123, 267 (408). 7  Vgl. auch BVerfGE 123, 267 (341). 8  Vgl. zur Entstehung und den Zielen der Europäischen Gemeinschaft m. w. N. Everling, Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 961 (963 ff.); näher zur Herkunft und Struktur des Gemeinschaftsrechts Ophüls, Zur ideengeschichtlichen Herkunft der Gemeinschaftsverfassung, in: FS-Hallstein (1966), S.  387 (390 ff.); Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), 5/2 ff. 9  Zwar sah auch der EGKS-Vertrag schon Bußgelder gegen Unternehmen bei Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Vertragsbestimmungen und bestimmte Anordnungen der Hohen Behörde vor, jedoch waren diese auf sechs Gruppen von Fällen begrenzt (Beispiel: Verletzung der Vorschriften des Vertrages über wirtschaftliche Machtkonzentrationen [Art. 65 Ziff. 5, Art. 66 Ziff. 6 Abs. 2 i. V. m. Ziff. 5, Art. 66 5  Vgl.

20 Einleitung

Schlüsselindustrien sollte zunächst eine Friedenssicherung in Europa erreicht werden, „ohne deren Kontrolle Krieg zwischen den europäischen Staaten nicht mehr möglich erschien. Integration statt nationaler Souveränität, der Mensch, nicht der Staat ist der zentrale Bezugspunkt.“10 In diesen Aussagen zeigt sich die Kraft, die von der Idee einer Vergemeinschaftung Europas ausging und heute noch ausgeht: Die Friedenssicherung in Europa soll durch eine Einigung Europas erreicht werden: „Nicht Gewalt, nicht Unterwerfung ist als Mittel eingesetzt, sondern eine geistige, eine kulturelle Kraft, das Recht. Die Majestät des Rechts soll schaffen, was Blut und Eisen in Jahrhunderten nicht vermochten. Denn nur die selbstgewollte Einheit hat Aussicht auf Bestand, und Rechtsgleichheit und -einheit sind untrennbar miteinander verbunden.“11 Diese Kraft, die zunächst von einer rechtlich verbundenen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ausging, soll durch folgende kritische Bemerkungen nicht aufgehalten werden. Allerdings ist dabei zu beachten, dass der gewollte Ausgangspunkt dieser Gemeinschaft, der einzelne Mensch, und damit auch sein Recht im Verhältnis zum Staat, nicht verloren gehen dürfen. Anders ausgedrückt: Das Gegenprojekt zum Absolutismus des Staates darf nicht zu einem Absolutismus einer dem Staat übergeordneten supranationalen Instanz werden, bei dem der Einzelne aus dem Blick gerät. Die Gefahr eines solchen Absolutismus zeigt sich vor allem in dem Bereich, in dem der Eingriff seitens einer (nicht-)staatlichen Institution besonders intensiv ist: im Strafrecht. Werden hier Hoheitsrechte vom Staat auf die Europäische Union übertragen, ist daher Zurückhaltung geboten. Denn anders als im Staat erfährt die Union ihre Legitimation nicht unmittelbar durch die Bürger selbst, sondern nur mittelbar durch den die einzelnen Hoheitsrechte übertragenden Mitgliedstaat.12

Ziff. 7 EGKS]) und bildeten nicht den Ausgangspunkt der Gemeinschaft, vgl. hierzu bereits kritisch Jescheck, Die Strafgewalt übernationaler Gemeinschaften, in: ZStW 65 (1953), 496 ff. 10  Pernice, Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas, in: WHI – Paper 9/2001, S. 1 (2), abrufbar unter: http://www.whi-berlin.eu/documents/whi-paper0901. pdf. (abgerufen am 8.9.2016). 11  Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. (1979), S. 53. 12  Die Zusammenarbeit verschiedener Staaten in Strafsachen war daher zunächst auch innerhalb Europas auf die klassische internationale Rechtshilfe beschränkt. Da der eine Staat nicht befugt war, auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates ohne weiteres Strafverfolgungsmaßnahmen vorzunehmen, konnte er im klassischen Rechtshilferecht, so denn ein völkerrechtlicher Vertrag bestand, den anderen Staat zur Durchsetzung seines Strafanspruchs um Rechtshilfe ersuchen. Vgl. hierzu m. w. N. Nelles/Tinkl/Lauchstädt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Handbuch Europarecht, 2. Aufl. (2010), § 42 Rn. 56 ff.



A. Einführung21

Auch wenn nicht einheitlich beurteilt wird, welche Gestalt die Europäische Union hat, ob es sich um einen Staatenverbund13, Verfassungsverbund14, einen Zweckverband funktioneller Integration15 oder ob es sich um eine „prästaatliche“ Formation16 handelt, so besteht doch Einigkeit darüber, dass die Europäische Union selbst keinen Staat darstellt, wie ihn der klassische Staatsbegriff zum Inhalt hat. Es fehlt ihr bereits an einem einheitlichen Staatsgebiet, einem Staatsvolk und an einer Staatsgewalt:17 Die Europäische Union hat keine umfassende Gebietshoheit. Vielmehr übt sie gemäß den begrenzten Einzelzuständigkeiten in ihrem räumlichen Geltungsbereich der Verträge jeweils ihre Zuständigkeiten aus. Der Europäischen Union kommt zudem keine Personalhoheit über „ein Europäisches Volk“ zu. Dies gilt auch nach Einführung der Unionsbürgerschaft (Art. 20 EUV). Maßgeblich bleibt die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Mitgliedstaates, die Unionsbürgerschaft ergänzt diese nur. Schließlich hat die Union keine klassische eigene Staatsgewalt, sondern lediglich eine begrenzte Einzelzuständigkeit. Nach Art. 5 EUV wird die „Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirk­ lichung der niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“ Die Unionstätigkeit ist damit auf die ihr von den Verträgen jeweils eingeräumten Sachbereiche beschränkt. Ihr kommt vor allem keine Kompetenz-Kompetenz zu, sondern sie ist darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten ihr Hoheitsrechte durch Vertragsergänzung übertragen.18 Die Union nimmt auch auf die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten Bezug, indem sie sich zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten verpflichtet (Art. 4 Abs. 2 EUV). Diese sind „Herren der Verträge“. So 13  BVerfGE

89, 155 (190); BVerfGE 123, 267 (350). Verfassungsverbund, in: WHI-Paper 4/2010, S. 101 ff., abrufbar unter: http://www.whi-berlin.eu/documents/whi-paper0410.pdf (abgerufen am 8.9.2016); Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. (2012), Art.  23 Rn.  7. Vgl. jetzt auch BVerfG, Beschluss, 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015 Absatz-Nr.: 44: Hier kennzeichnet das Gericht die Europäische Union als ein „Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund“. 15  So seit den siebziger Jahren Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), 8/27 f.; ders., Europäische Verfassung – Nationale Verfassung, in: EuR 1987, 195 (202 ff.). 16  Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Der Staat 32 (1993), 191 (197). 17  Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 7. Aufl. (2016), § 4 Rn. 18  ff.; ausführlich Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt (2004), S.  311 ff. 18  Vgl. hierzu insgesamt Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 7. Aufl. (2016), § 11 Rn. 3 ff. 14  Pernice,

22 Einleitung

kann nach Art. 50 EUV jeder Mitgliedstaat „im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten“. Auch wenn die Union selbst keinen Staat darstellt und auch nicht die nationale Staatsgewalt aufhebt, durchdringt und modifiziert sie doch bedingt durch die Übertragung von Hoheitsrechten seitens der Mitgliedstaaten in erheblichem Maße deren Rechtsraum.19 Die Union hat einerseits eigene Institutionen konstituiert, die an staatliche Organe erinnern und die Aufgaben der Union eigenständig und auf Dauer wahrnehmen: das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Kommission, den Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und den Rechnungshof.20 Die Union verweist auch andererseits auf typische Prinzipien des Staatsrechts, wie z. B. das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip. So betont die Präambel des EUV, dass sich die EU „zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“ bekennt.21 Der EuGH hat aus dem Prinzip des Rechtsstaats weitere Grundsätze abgeleitet, wie den der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung22, der Rechtssicherheit23, der Bestimmtheit24, des Vertrauensschutzes25, des Rückwirkungsverbots26 und den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit27. Neben den Bezügen zu den freiheitlichen Grundbestimmungen der EU und der Gewährleistungen von Rechten sind aber weitere Aspekte, wie z. B. die Sicherheit (Art. 67 AEUV), die Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der Union (Art. 325 AEUV) und der Schutz des Wettbewerbs der Union (Art. 101, 102 AEUV) getreten. Diese Zielbestimmungen haben zur Folge, dass den Bürgern der Mitgliedstaaten nicht nur zusätzliche Rechte gewährt 19  Hierzu näher Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt (2004), S.  332 ff. 20  Vgl. Art. 13 EUV. 21  Das Grundgesetz hat die Verpflichtung der Europäischen Union zu „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen“ in Art. 23 Abs. 1 im Relativsatz aufgenommen. 22  EuGH v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst, Slg. 1989, 2859, Rn. 19 (= NJW 1989, 3080, 3081). 23  EuGH v. 3.5.2005, verb. Rs. C-387/02, 391/02, 403/02 – Berlusconi, Slg. 2005, S. I-3565. 24  EuGH v. 9.7.1981, verb. Rs. 169/80 (Gondrand Frères), Slg. 1981, S. 1931, Rn. 17. 25  EuGH v. 19.5.1992, verb. Rs. C-104/89 und C-37/99 – Mulder, Slg. 1992, S. 3061 (= NVwZ 1992, 1077, 1078). 26  EuGH v. 3.5.2005, verb. Rs. C-387/02, 391/02, 403/02 – Berlusconi, Slg. 2005, S. I-3565 m. Anm. Gross, in: EuZW 2005, 369. 27  EuGH v. 21.9.1989, Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst, Slg. 1989, S. 2859, Rn. 19 (= NJW 1989, 3080, 3081).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts23

werden, sondern ebenso in ihre Rechte eingegriffen werden kann. Dabei geschieht dies aus der Sicht der Europäischen Union einerseits mittelbar, indem sie die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Strafvorschriften zu erlassen und andererseits unmittelbar, indem Institutionen der Union direkt in die Rechte des Einzelnen eingreifen können, wie z. B. die Kommission im Rahmen des Kartellbußgeldverfahrens28 und das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) im Bereich der Betrugsbekämpfung. Der folgende Überblick über die Europäisierung des Strafrechts wird deutlich machen, dass die Durchgriffsmöglichkeiten auf die Rechte des Einzelnen seitens Europäischer Institutionen in den letzten Jahren sukzessiv immer weiter ausgedehnt wurden.

B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts Ein Europäisches Strafrecht im engeren Sinne würde voraussetzen, dass eine eigene europäische Rechtsordnung existiert, in der Straftatbestände selbständig geregelt sind, die unmittelbar in dem jeweiligen Mitgliedstaat anzuwenden wären bzw. unmittelbar von Europäischen Institutionen angewendet würden.29 In diesem Sinne existiert ein Europäisches Strafrecht – anders als im Völkerrecht – bisher nicht. Es hat jedoch eine stetige Harmonisierung des nationalen Strafrechts durch Maßnahmen der EG / EU stattgefunden. Es kann daher insoweit von einer Europäisierung des Strafrechts gesprochen werden. Zudem hat die EU beispielsweise im Kartellbußgeldverfahren eigene Sanktions- und Verfahrensvorschriften geschaffen, auf deren Grundlagen die Kommission Bußgelder verhängen kann, die zwar nicht Kriminalstrafen im engeren Sinne darstellen, jedoch eine gewisse Vorreiterrolle für ein Europäisches Strafsystem darstellen könnten. Durch den Vertrag von Lissabon erhält die Union nun womöglich eine – wenn auch sachlich begrenzte – Rechtssetzungskompetenz zum Schutz ihrer finanziellen Inte­ ressen (Art. 325 Abs. 4 AEUV). Ferner besteht die Möglichkeit der Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 86 AEUV).

I. Die Europäisierung des Strafrechts bis zum Vertrag von Lissabon Die EU war ursprünglich nach dem sog. „Drei-Säulen-Modell“ organisiert. Die erste Säule bildeten die Europäischen Gemeinschaften (EG und EURATOM), die zweite Säule stellte die gemeinsame Außen- und Sicher28  Hierzu

sogleich unter B. I. 2. Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 3 f.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. (2016), § 2 Rn. 3, § 7 Rn. 2 ff. 29  Safferling,

24 Einleitung

heitspolitik (GASP) dar und die dritte Säule umfasste die Zusammenarbeit in den Bereichen Polizei und Justiz (PJZS). Die EU selbst war ein diesen Bereichen übergeordneter Verbund, der keine eigene Rechtspersönlichkeit besaß. Vielmehr bildete die erste Säule das tragende Element: Die Mitgliedstaaten hatten der EG eigene Hoheitsrechte übertragen, so dass diese eine supranationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit war, während den anderen beiden Säulen eine solche nicht zukam, sondern sich deren Arbeitsweise auf die sog. intergouvernementale Zusammenarbeit beschränkte.30 1. Europäisierung des Strafrechts im engeren Sinne Nach dem sog. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung konnte die Europäische Gemeinschaft nur rechtssetzend tätig werden, wenn ihr ausdrücklich eine Kompetenz zugewiesen wurde. Für das Strafrecht und Strafprozessrecht gab es nach hM eine solche Kompetenzzuweisung nicht.31 Dennoch betrafen zahlreiche europäische Maßnahmen sowohl das Strafrecht als auch das Strafprozessrecht, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Es 30  s. statt vieler Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 6. Aufl. (2012), Art. 23 Rn. 9. 31  Diese Ansicht stützte sich auf Art. 280 Abs. 1 EGV a. F. Danach bekämpfen die „Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten (…) Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten einen effektiven Schutz bewirken.“ Weiter hieß es in Abs. 4: „Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Art. 251 nach Anhörung des Rechnungshofes die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten. Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt von diesen Maßnahmen unberührt.“ Insbesondere aufgrund der im letzten Satz genannten Vorbehaltsklausel wurde von einem Großteil der Literatur vertreten, dass Art. 280 Abs. 4 EGV als Ermächtigungsgrundlage für die Schaffung eines echten Gemeinschaftsstrafrechts bzw. auch nur hinsichtlich einer Harmonisierung kriminalstrafrechtlicher Tatbestände ausscheide. Vgl. zum damaligen Diskussionsstand insgesamt: Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union (2005), S. 29 ff. Stimmen, die in Art. 280 Abs. 4 EGV keine allgemeine Ermächtigungsnorm zur Einführung eines europäischen Strafrechts sahen: Waldhoff, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 325 AEUV (ex-Art. 280 EGV), Rn. 18; Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 4 Rn. 81 ff.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 106, 138 ff.; Nelles/Tinkl/Lauchstädt, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), in: Handbuch Europarecht, 2. Aufl. (2010), § 42 Rn. 9; Musil, Umfang und Grenzen europäischer Rechtssetzungsbefugnisse im Bereich des Strafrechts, in: NStZ 2000, 68 (68 f.); a. A. demgegenüber Wolffgang/Ulrich, Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR 1998, 616 (644) zu Art. 209a EGV a. F.



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts25

bestanden zum einen europäische Einflüsse, die zu einer Angleichung der nationalen Rechtsordnungen führten und auch weiterhin das deutsche Recht prägen. Beispielsweise32 hat (jedenfalls auch) die sog. Geldwäscherichtlinie von 199133 zur Einführung von § 261 StGB geführt34 und weiter dazu beigetragen, dass eine Verpflichtung Privater zur Verdachtsgewinnung im Strafverfahren besteht.35 Damit hat sie eine Grundbedingung für ein spezielles Verfahrensrecht bei der Verfolgung von Geldwäschedelikten auch im deutschen Recht gelegt.36 Zum anderen wurde mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 im Rahmen der dritten Säule (Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) das Instrument des Rahmenbeschlusses zur Angleichung von Rechtsund Verwaltungsvorschriften eingeführt, der hinsichtlich des zu erreichenden Ziels für die Mitgliedstaaten verbindlich war (Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV). Berührt sind davon bis heute auch die mitgliedstaatlichen Straf- und Strafverfahrensvorschriften (vgl. z. B. den Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels von 200237, den Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung von 200838 sowie den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl39). Obwohl der Rahmenbeschluss im Unterschied zur Richtlinie keine unmittelbare Wirkung entfalten konnte, sondern durch die Mitgliedstaaten umgesetzt werden musste, um innerstaatlich angewendet werden zu können, hatte der EuGH in einer Entscheidung die Grundsätze der richtlinienkonformen Auslegung auf den Rahmenbeschluss übertragen: Aufgrund des im Unionsrecht geltenden Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit seien die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte verpflichtet, ihr nationales Recht 32  Vgl. zu weiteren Beispielen Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. (2012), § 8 Rn. 21 ff. 33  Richtlinie 91/308 des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2001/97/EG v. 4.12.2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Abl. EG L 344 v. 28.12.2001, S. 76. 34  Vgl. hierzu näher Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. (2012), § 8 Rn. 11 ff. 35  Vgl. zur Entwicklung des Geldwäscherechts Ogbamichael, Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011). 36  Vgl. hierzu Nestler, Europäisches Strafprozessrecht, in: ZStW 116 (2004), 332 (333 m. Fn. 8). 37  ABl. 2002 Nr. L 203/1. 38  ABl. 2008 Nr. L 330/21. 39  Rahmenbeschluss des Rates (2002/584/JI) vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. Nr. L 190 vom 18.7.2002, S. 1. Vgl. hierzu näher Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl., 2016 § 10 Rn. 36 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), 12. Kapitel Rn. 23 ff. sowie die Ausführungen im 2. Teil der Arbeit unter B. III.

26 Einleitung

möglichst im Einklang mit Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses auszulegen.40 Schließlich wurde eine Angleichung von Strafvorschriften durch die Rechtsprechung des EuGH begünstigt. Dieser betonte zwar in seinen Entscheidungen wiederholt, das Strafrecht und Strafprozessrecht falle „grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“.41 Der Vorbehalt „grundsätzlich“ macht schon deutlich, dass Ausnahmen bestanden. So hatte der EuGH in einer Entscheidung zum europäischen Umweltschutz festgestellt, dass das Strafrecht zwar nicht originär in die Zuständigkeit der Gemeinschaft falle, der Gemeinschaftsgesetzgeber aber dennoch nicht daran gehindert sei, die nach seiner Ansicht erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten.42 Der EuGH hatte dabei aus dem allgemeinen Gemeinschaftsziel des Umweltschutzes (ex Art. 174 f. EGV) abgeleitet, dass die Richtlinie und nicht der Rahmenbeschluss das adäquate Mittel zur Harmonisierung des Umweltstrafrechts sei.43 Damit konnte von den Mitgliedstaaten die Einführung von Kriminalstrafen für bestimmtes europarechtswidriges Verhalten verlangt werden. Die Entscheidung des EuGH betraf zwar nur das Umweltrecht, es war aber durchaus denkbar, dass eine solche Kriminalisierungspflicht mittels Richtlinie auch auf andere wesent­ liche Politikbereiche der ersten Säule hätte ausgedehnt werden können.44 Aus diesem Überblick ergibt sich bereits, dass – wenn auch kein genuines „Europäisches Strafrecht“ existierte – das Strafrecht der Mitgliedstaaten durch die europäische Rechtssetzung in unterschiedlichsten Bereichen beeinflusst wurde.

40  EuGH v. 16.6.2005, Rs C-105/05, Slg. 2005, I-5285 – Maria Pupino (= EuZW 2005, 433, [435 f.]). Vgl. hierzu auch Fetzer/Groß, Die Pupino-Entscheidung des EuGH, in: EuZW 2005, 550 ff.; Rackow, Verfasst der EuGH die Union?, in: ZIS 2008, 526 ff.; Anmerkung Hillgruber, in: JZ 2005, 841 ff.; Anmerkung Tinkl, in: StV 2006, 36 ff. 41  EuGH v.  11.11.1981, Rs. 203/80, Slg. 1981, I-2595 (2618); EuGH v.  14.12.1995, C-387/93, Slg. 1995, I-4663, (4700); EuGH v. 16.6.1998, C-226/97, Slg. 1998, I-3711 (3731 f.). 42  EuGH v. 13.9.2005, C-176/03 (= ZIS 2006, 179, 184 = JZ 2006, 307, 310). 43  EuGH v. 13.9.2005, C-176/03 (= ZIS 2006, 179 [184] = JZ 2006, 307 [310]). Vgl. hierzu Hefendehl, Europäischer Umweltschutz: Demokratiespritze oder Brüsseler Putsch?, in: ZIS 2006, 161 ff.; ders., Europäisches Strafrecht: bis wohin und nicht weiter?, in: ZIS 2006, 229 ff.; Böse, Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht, in: GA 2006, 211 ff. 44  Vgl. auch die Anmerkung Heger, in: JZ 2006, 310 (313).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts27

2. Europäisches Strafrecht im weiteren Sinne am Beispiel des Europäischen Kartellbußgeldverfahrens Auch wenn es in der EG kein Europäisches Strafrecht i. e. S. gab, also keine Strafrechtsordnung existierte, in der einzelne Straftatbestände oder Strafverfahrensvorschriften normiert waren, die von den Mitgliedstaaten oder europäischen Institutionen angewendet wurden, sind bereits Hoheitsrechte im Bereich des Strafrechts im weiteren Sinne auf supranationale Ins­ titutionen übertragen worden. Unter dem Begriff des Strafrechts im weiteren Sinne werden solche Regelungen oder Maßnahmen der Union verstanden, die (jedenfalls auch) einen repressiven Zweck verfolgen oder die für die Betroffenen eine besonders schwere Rechtsgutseinbuße zum Gegenstand haben.45 Um die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf Europäische Institutionen in diesem Bereich zu verdeutlichen, soll in einem kurzen Überblick auf die Befugnisse der Kommission im Europäischen Kartellbußgeldverfahren eingegangen werden (unter a)), um im Anschluss daran einzelne Problemfelder benennen zu können (unter b)). a) Befugnisse der Europäischen Kommission im Kartellbußgeldverfahren Gemäß Art. 103 AEUV (ehemals Art. 83 Abs. 1 EGV) kann der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den Artikeln 101 AEUV (Kartellverbot) und Art. 102 AEUV (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) niedergelegten Grundsätze beschließen. Hierauf beruht die Verordnung (EG) Nr. 1 / 2003 des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 101 und 102 AEUV (ehemals Art. 81 und 82 EGV) des Vertrags festgelegten Wettbewerbsregeln (nichtamtliche Bezeichnung: KartellverfahrensVO46),47 in der die Ermittlungsmaßnahmen der Europäischen Kommission geregelt sind und in dem sich neben dem Zwangsgeld- ein Bußgeldtatbestand (Art. 23 KartellVO) befindet. 45  Vgl. zum Begriff des Strafrechts im weiteren Sinne sowie zur Abgrenzung zum Begriff des Kriminalstrafrechts zunächst nur Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 4 Rn. 61 ff. 46  ABl. 2003 L 1, S. 1. 47  Diese VO löste die Wettbewerbsordnung von 1962 (VO Nr. 17/1962) ab und reformierte das Europäische Wettbewerbsrecht in erheblichem Maße. So erweiterte sie die Ermittlungsbefugnisse der Kommisson und verschärfte die Sanktionsmöglichkeiten. Hierzu näher Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EUWettbewerbsrecht 5. Aufl. (2012), Vor Art. 23 Rn. 7.

28 Einleitung

aa) Die Leitgedanken des Europäischen Kartellbußgeldverfahrens gleichen denen eines Strafverfahrens:48 Ziel des Kartellbußgeldverfahrens ist es nicht (wie im (Kartell-)Verwaltungsverfahren), eine Gefahr für bestimmte Rechtsgüter zu beseitigen, sondern es soll ein in der Vergangenheit liegender Vorgang festgestellt werden, um den Nachweis einer Normübertretung zu erbringen. Auf dieser Grundlage soll die Sanktion verhängt werden. Der Zweck der Bußgelder liegt nicht in der Abmahnung bagatellhafter Pflichtverletzungen, es werden vielmehr schwerwiegende Wettbewerbsverstöße geahndet.49 Das Sanktionssystem soll dabei zugleich eine abschreckende Wirkung gegenüber weiteren Zuwiderhandlungen haben. Die Bußgelder im Kartellrecht haben damit einen erkennbar punitiven Charakter.50 Mit ihnen werden nach Auffassung der Rechtsprechung51 und nach Ansicht der Literatur52 präventive und repressive Zwecke verfolgt.53 Das zeigt sich auch in der Höhe der festzusetzenden Geldbußen. Nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1 / 2003 kann die Kommission Geldbußen von bis zu 10 % des Umsatzes des an einer Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens oder einer Unternehmensvereinigung des von ihm bzw. von ihr im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes verhängen. Art. 23 Abs. 3 VO 1 / 2003 bestimmt, dass die Kommission bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße 48  Vgl. hierzu insgesamt Vocke, Die Ermittlungsbefugnisse der EG-Kommission (2006), S.  107 ff. 49  Da es im Vorliegenden nicht um die Frage geht, wie Ordnungswidrigkeiten von Strafunrecht abzugrenzen sind, sondern um die Frage, ob das Kartellbußgeldverfahren ein Strafverfahren i. w. S. darstellt, kann auf eine Auseinandersetzung der allgemeinen Abgrenzungsproblematik verzichtet werden. Vgl. hierzu instruktiv v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe (1998), S. 211 ff.; vgl. auch Biermann, Neubestimmungen des deutschen und europäischen Kartellsanktionenrechts, in: ZWeR 2007, 1 ff., der näher begründet, warum Verstöße gegen das Kartellrecht Strafunrecht und nicht bloßes Ordnungsunrecht darstellen. 50  Vgl. statt vieler Dannecker, Beweiserhebung, Verfahrensgarantien und Verteidigungsrechte im europäischen Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, in: ZStW 111 (1999), S. 256 (257 u. ö.); Schwarze, Rechtsstaatliche Grenzen der gesetzlichen und richterlichen Qualifikation von Verwaltungssanktionen im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: EuZW 2003, 261 (268). 51  EuGH v. 15.7.1970, Rs 41/69, Slg. 1970, 661 Rn. 176 = EuR 1971, 41 (53) mit Anm. Markert; EuG v. 8.7.2004, T-44/00, Slg. 2004, II-2223 Rn. 217 – Mannesmannröhren-Werke; EuG v. 12.12.2007, verb. Rs. T-101/05 und T-111/05, Slg. 2007, I-4949 Rn. 43 – BASF. 52  Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1996), S. 148; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Vor Art. 23 f., Rn. 23 ff. 53  Dennoch geht der EuGH davon aus, dass das Kartellbußgeldverfahren ein Verwaltungsverfahren darstelle, vgl. hierzu ausführlich Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (22).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts29

sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen hat. Seit 1998 veröffentlicht die Kommission Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen,54 um der Rechtsunsicherheit zu begegnen, die aufgrund des ihr eingeräumten weiten Ermessensspielraums entstanden war.55 Mit diesen Leitlinien hat die Kommission aber auch ihre Praxis geändert und die Geldbußen enorm angehoben.56 Sie übersteigen das gesetzliche Höchstmaß der Geldstrafe um ein Vielfaches.57 Es besteht daher Einigkeit, dass die durch die Europäische Kommission gegenüber den Unternehmen verhängten Sanktionen jedenfalls strafähnlichen Charakter haben, somit dem Strafrecht im weiteren Sinne zuzuordnen sind.58 54  Leitlinien vom 14.1.1998, ABl. Nr. C 9/3 und seit 2006 die „Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003“, ABl. 2006/C 210/02. Auch hier wird die Notwendigkeit der abschreckenden Wirkung bei der Bemessung der Geldbuße betont, vgl. Punkt 37: „Die Kommission wird besonders darauf achten, dass die Geldbußen eine ausreichend abschreckende Wirkung entfalten; zu diesem Zweck kann sie die Geldbuße gegen Unternehmen erhöhen, die besonders hohe Umsätze mit Waren oder Dienstleistungen, die nicht mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehen, erzielt haben.“ Nach Punkt 37 der Leitlinien kann die Kommission „in bestimmten Fällen“ auch eine „symbolische Strafe verhängen“. Zudem hat die Kommission die im Jahr 2010 vorläufig eingeführten „Bewährten Vorgehensweisen“ für Verfahren zur Durchsetzung von Art. 101 und 102 AEUV veröffentlicht unter ABlEU 2011/C 308/06. 55  Emmerich, Kartellrecht, 12. Aufl. (2012), § 13 Rn. 24. 56  Vgl. hierzu kritisch Soltész/Steinle/Bielesz, Rekordgeldbußen versus Bestimmtheitsgebot, in: EuZW 2003, 202 ff.; v. Alemann, Die Abänderung von Bußgeldentscheidungen der Kommission durch die Gemeinschaftsgerichte in Kartellsachen, in: EuZW 2006, 487 ff.; Sünner, Das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen nach Art. 23 II lit. a) der Kartellverfahrensverordnung, in: EuZW 2007, 8 (13); Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäi­ schen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (21). 57  So hat die Kommission beispielsweise gegen sieben internationale Konzerne wegen der Beteiligung an einem bzw. zwei Kartellen eine Geldbuße in Höhe von insgesamt 1, 47 Mrd. EUR wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verhängt (Entscheidung vom 5.12.2012, IP/12/1317 mit Verweis auf die Leitlinien für Geldbußen aus dem Jahr 2006). Siehe hierzu auch und zu weiteren neueren Entscheidungen der Kommission Weitbrecht/Mühle, Die Entwicklung des europäischen Kartellrechts 2012, in: EuZW 2013, 255 ff.; dies., Die neueren Entwicklungen des europäi­ schen Kartellrechts 2015, in: EuzW 2016, 172 ff. 58  So sieht auch der Großteil der Literatur die Geldbußen im Europäischen Kartellrecht als zum Strafrecht im weiteren Sinne gehörend an: Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 80 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), 4. Kapitel Rn. 65; Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertrags- und Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (180 f.); Vocke, Die Ermittlungsbefugnisse der EG-Kommission (2006), S. 102 ff.; vgl. insgesamt zu diesem Themenkreis Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (21 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

30 Einleitung

Auch die strafrechtlichen Garantien der EMRK können auf die kartellrechtlichen Geldbußen angewendet werden.59 Allgemein unterfallen nach dem EGMR Sanktionen vor allem dann der „strafrechtlichen Anklage“ im Sinne von Art. 6 EMRK, wenn sie „auf die Lage des Verdächtigen schwerwiegende Rückwirkungen haben“, also für den Betroffenen mit einer besonders schweren Rechtsgutseinbuße verbunden sind.60 Die kartellrechtlichen Geldbußen stellen insbesondere durch ihre enorme Höhe einen intensiven Eingriff in die Rechtsstellung der betroffenen Unternehmen dar, so dass sie als strafrechtliche Sanktionen im weiteren Sinne zu betrachten sind.61 bb) Um eine Zuwiderhandlung seitens eines Unternehmen oder einer Unternehmensvereinigung feststellen zu können, kann die Kommission unter anderem Nachprüfungen (Art. 20 VO 1 / 2003) bei Unternehmen vornehmen und Auskünfte verlangen (Art. 18 VO 1 / 2003). (1)  Nach Art. 20 Abs. 2 lit. a VO 1 / 2003 dürfen die Bediensteten der Kommission alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen betreten. Dabei ist nicht die Eigentums- oder Besitzlage entscheidend, sondern allein die funktionelle Zuordnung von Räumlichkeiten zum Unternehmen und die tatsächliche Möglichkeit, den Beamten Zutritt zu diesen Räumlichkeiten zu verschaffen.62 Gemäß Art. 20 Abs. 4 VO 1 / 2003 sind die Unternehmen verpflichtet, die Nachprüfungen zu dulden, die die Kommission durch Entscheidung angeordnet hat. Dabei weist die Entscheidung neben dem Gegenstand, dem Zweck der Nachprüfung und der Rechtsmittelbelehrung ebenso auf die Möglichkeit seitens der Kommission hin, bei Nichtduldung seitens des Unternehmens Geldbußen und Zwangsgelder zu verhängen. Nach Art. 20 ­ Abs. 6 VO 1 / 2003 darf die Nachprüfung auch zwangsweise erfolgen, indem der betreffende Mitgliedstaat die erforderliche Unterstützung gewährt, ge­ gebenenfalls unter Einsatz von Polizeikräften, damit die Bediensteten der Kommission ihrem Nachprüfungsauftrag nachkommen können. Voraussetzung ist eine gerichtliche Genehmigung seitens des zuständigen Gerichts 59  EGMR, Urt. V. 27.9.2011 – Rs. 43509/08, BeckRS2012, 80668, Rn. 59 (frz.) – Menarini Diagnostics/Italie. 60  s.  a. EGMR Urt. v. 21.11.1983, Rn. 52 – Foti u. a./Italien; EGMR Urt. v. 21.2.1984, Rn. 55 – Öztürk/Deutschland. Näher Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (27); Schwarze, Europäisches Kartellrecht im Lichte übergeordneter Vertrags- und Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (172, 183 ff., 190 ff.). 61  Näher Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (23 ff.). 62  Meyer/Kuhn, Befugnisse und Grenzen kartellrechtlicher Durchsuchungen nach VO Nr. 1/2003 und nationalem Recht, in: WuW 2004, 880.



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts31

des Mitgliedstaates (Art. 20 Abs. 7 VO 1 / 2003). Das einzelstaatliche Gericht kann hierbei aber nur die Echtheit der Entscheidung der Kommission prüfen und untersuchen, ob die beantragten Zwangsmaßnahmen nicht willkürlich und unverhältnismäßig sind. Demgegenüber darf das mitgliedstaatliche Gericht weder die Notwendigkeit der Nachprüfung in Frage stellen noch die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen verlangen (Art. 20 Abs. 8 S. 1, 3 VO 1 / 2003). Zudem erstrecken sich die Nachprüfungsrechte auch auf die Durchsuchung von Räumlichkeiten, die nicht einem Unternehmen zugeordnet sind, wie Wohnungen von Unternehmensleitern und Mitgliedern der Aufsichtsund Leitungsorgane sowie sonstigen Mitarbeitern der Unternehmen. Gemäß Art. 20 Abs. 3 VO 1 / 2003 muss der Richter, in dessen Gebiet die Nachprüfung stattfinden soll, die Entscheidung vorher genehmigen. Aber auch hier kommt – wie bei Zwangsmaßnahmen gegenüber den Unternehmen selbst – dem nationalen Richter nur eine sehr eingeschränkte Prüfungskompetenz zu (vgl. Art. 21 Abs. 3 S. 1, 3 VO 1 / 2003). Das Gericht prüft allein die Echtheit der Entscheidung der Kommission, und ob die beabsichtigte Zwangsmaßnahme willkürlich oder unverhältnismäßig ist. Dabei darf der nationale Richter jedoch auch hier weder die Notwendigkeit der Nachprüfung in Frage stellen noch die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen verlangen. (2) Im Rahmen der Nachprüfungsbefugnisse kann die Kommission allen Vertretern oder Mitgliedern der Belegschaft eines Unternehmens langen, Tatsachen oder Unterlagen zu erläutern, die mit Gegenstand Zweck der Nachprüfung im Zusammenhang stehen. Dabei kann sie Antworten zu Protokoll nehmen, Art. 20 Abs. 2 lit. e VO 1 / 2003.

von verund ihre

Die Kommission kann zudem unabhängig von der Nachprüfungsbefugnis nach Art. 18 I VO 1 / 2003 Auskünfte von Unternehmen verlangen. Das Auskunftsrecht umfasst dabei nicht nur die bloße Auskunftserteilung, sondern auch die Übermittlung sämtlicher Schriftstücke, die sich hierauf beziehen.63 Dabei steht der Kommission ein Ermessen zu, ob sie ein einfaches unverbindliches Auskunftsverlangen nach Abs. 2 VO 1 / 2003 oder eine verbindliche Auskunftsentscheidung nach Abs. 3 VO 1 / 2003 an Unternehmen und Unternehmensvereinigungen richtet.64 Die Entscheidung weist auch hier neben dem Gegenstand, dem Zweck der Nachprüfung und der Rechtsmittelbelehrung auf die Möglichkeit seitens der Kommission hin, bei unrichtigen oder irreführenden Auskünften seitens des Unternehmens Geld63  Vgl.

EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283 Rn. 34 – Orkem. hierzu näher Barthelmeß/Rudolf, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 18 Rn. 2, 17. 64  Vgl.

32 Einleitung

bußen und Zwangsgelder gemäß Art. 23 VO 1 / 2003 (beim einfachen Auskunftsverlangen), Art. 24 VO 1 / 2003 (mit Art. 23 bei der verbindlichen Auskunftsentscheidung) zu verhängen. Allerdings weist eine verbindliche Entscheidung eine höhere Eingriffsintensität auf. Sie kann daher nur dann erfolgen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Adressat ein einfaches Auskunftsverlangen nicht vollumfänglich erfüllen würde.65 b) Einzelne Problemstellungen Ziel der Verhängung der Geldbußen seitens der Kommission ist es vornehmlich, eine abschreckende Wirkung gegenüber potentiellen Tätern zu erreichen, womit sie häufig die enorme Höhe der Geldbußen rechtfertigt.66 Die Kommission will damit sicher stellen, dass die Sanktionsandrohung ihrerseits von den Wirtschaftsteilnehmern ernst genommen wird.67 Der weite Ermessensspielraum der Kommission bei der Bemessung von Bußgeldern ist jedoch insbesondere hinsichtlich des Grundsatzes der gesetzlichen Bestimmtheit problematisch (unter aa)). Zudem tritt das Interesse der Kommission an einer effektiven und effizienten Kartellverfolgung insgesamt in ein Spannungsverhältnis zu den Grundrechtsgarantien der Betroffenen (unter bb) und cc)).68 aa) Das Gebot der Bestimmtheit stellt einen von allen Mitgliedstaaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsatz dar.69 Auch der EuGH erkennt diesen Grundsatz allgemein an: So kann „eine Sanktion, selbst wenn sie keinen strafrechtlichen Charakter besitzt, nur dann verhängt werden, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht“.70 Der Betroffene müsste also in der Lage sein, vor der zu ahndenden Handlung erkennen zu können, wann und in welchem Umfang er bei einem Verstoß 65  Vgl. hierzu näher Barthelmeß/Rudolf, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 18 Rn. 17. 66  Die Geldbußen erreichen zum Teil Milliardenhöhe. s. hierzu auch Fn. 55. 67  s. hierzu auch Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EUWettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Vor Art. 23 f., Rn. 25. 68  Vgl. zu weiteren Problemstellungen Vocke, Die Ermittlungsbefugnisse der EGKommission (2006), S.  209 ff. m. w. N. 69  Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Vor Art.  23 f., Rn.  44 m. w. N. 70  Vgl. jetzt auch Art. 52 Abs. 1 S. 1 GR-Charta: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.“ s. a. Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV, wonach die wesentlichen Aspekte eines Bereichs dem Gesetzgebungsakt vorbehalten sind und eine Befugnisübertragung für sie deshalb ausgeschlossen ist. s. näher Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertrags- und Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (174 ff.).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts33

gegen das Gemeinschaftsrecht, sanktioniert werden kann.71 Aus der Verordnung selbst müssten sich Inhalt, Zweck und Ausmaß der Sanktionen feststellen lassen.72 Berücksichtigt werden können dabei auch die sich aus der ständigen Rechtsprechung ergebenden Konkretisierungen.73 Demgegenüber sind weder die Voraussetzungen der Geldbuße noch die Bemessung derselben näher in Art. 23 VO 1 / 2003 bestimmt. Art. 23 Abs. 3 VO 1 / 2003 erklärt nur, dass bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße die Schwere der Zuwiderhandlung und deren Dauer zu berücksichtigen sind. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 legt lediglich eine Obergrenze auf 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes fest. Schon mit dem Begriff des „Gesamtumsatzes“ wird nicht deutlich, ob damit der Konzernumsatz oder der individuelle Umsatz des Unternehmens gemeint ist und ob sich „das vorausgegangene Geschäftsjahr“ auf das Jahr vor Zuwiderhandlung oder auf das Jahr vor der Ahndung bezieht.74 Die Leitlinien der Kommission „für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1 / 2003“ von 1998 und 2006 sollten zwar zur Rechtssicherheit beitragen und geben Anhaltspunkte für die Festsetzung der Höhe der Geldbuße, es handelt sich dabei jedoch um eine Normsetzung seitens der Exekutive.75 Art. 23 VO 1 / 2003 enthält selbst keine konkreten Angaben und stellt auch keine ausdrückliche Ermächtigung für den Erlass der Leitlinien dar.76 Der Kommission kommt bei der Verhängung und Bemessung der Bußgelder zudem nach der Rechtsprechung ein erheblicher Ermessensspielraum zu. So räumt der EuGH der Kommission die Befugnis ein, die Geldbußen allein aus Abschreckungsgründen anzuheben, auch unabhängig von der konkreten Situation des betroffenen Unternehmens.77 Ebenso legt der EuGH die Einhaltung der Ober71  Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012) Vor Art.  23 f., Rn.  44 f. 72  Soltész/Steinle/Bielesz, Rekordgeldbußen versus Bestimmtheitsgebot, in: EuZW 2003, 202 (206). 73  EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-266/06 P, Slg. I-81, Rn. 45  f. – Evonik Degussa; 17.6.2010, Rs. C-413/08 P, Slg. I-5361, Rn. 94 – Lafarge. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Vor Art. 23 f., Rn. 45. 74  Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertragsund Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (174). 75  s. a. Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (29). 76  Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertragsund Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (174 f.); Nowak, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 23 Rn. 6. 77  Vgl. hierzu die Grundsatzentscheidung im Fall „Musique diffusion francaise“ vom 7. Juni 1983 – Verb. Rs. 100-103/80, Slg. 1983, 1825, Rn. 109. s. a. EuGH vom 29. Juni 2006 – Rs. C-289/04 P, Slg. 2006, I-5859, Rn. 23 f – Showa Denko/Kom-

34 Einleitung

grenze von 10 % des Gesamtumsatzes weit aus. Diese soll „nur für den Endbetrag der verhängten Geldbuße“ gelten. Der Kommission sei es erlaubt, bei den verschiedenen Berechnungsschritten zu einem Zwischenbetrag zu gelangen, der über dieser Grenze liege, sofern der Endbetrag die Geldbuße nicht übersteige.78 Der weite Ermessensspielraum der Kommission erfährt damit auch durch den EuGH keine näheren Grenzen. Hinzu kommt, dass der EuGH bei der Überprüfung des gegen die Unternehmen erhobenen Vorwurfs des Wettbewerbsverstoßes und bezüglich der Angemessenheit der Geldbuße nur eine kursorische Prüfung des Verfahrens und des Kommissionsergebnisses vornimmt,79 obwohl ihm gemäß Art. 261 AEUV (ex. Art. 229 EG) i. V. m. Art. 31 VO 1 / 2003 eine „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ eingeräumt wird.80 Die Rechtsprechung kann zwar auch die von der Kommission festgesetzte Geldbuße aufheben, herabsetzen oder erhöhen,81 jedoch weisen auch die neueren Gerichtsentscheidungen nicht auf eine höhere Kontrolldichte hinsichtlich der Kommissionsentscheidungen hin.82 bb) Zudem hat die Europäische Kommission im Rahmen des Bußgeldverfahrens – wie dargelegt – grundrechtserhebliche Ermittlungsbefugnisse gegenüber Unternehmen und ihren Mitarbeitern. Ihr kommt gemäß Art. 21 I VO 1 / 2003 das Recht zu, Nachprüfungen in nicht-geschäftlichen Räumen und damit bei Privatpersonen durchzuführen. Das Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung stellt nun aber ein fundamentales Freiheitsrecht des Einzelnen dar (vgl. Art. 13 Abs. 1 GG). Zur mission; hierzu auch Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertrags- und Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (175). 78  EuGH vom 29. Juni 2006 – Rs. C-308/04 P, Slg. 2006, I-5977, Rn. 82 – SGL Carbon/Kommission. Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertrags- und Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (175); kritisch zur dogmatischen Einordnung der Haftungshöchstgrenzen als bloße Kappungsgrenze und nicht als Obergrenze im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Mansdörfer/Timmerbeil, Das Modell der Verbandshaftung im europäischen Kartellbußgeldrecht, in: EuZW 2011, 214 (218). 79  Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertragsund Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (186). 80  Dabei ist das EuG die erste Instanz, die als Rechtsmittel- und Tatsacheninstanz zur unbeschränkten Nachprüfung der Kommissionsentscheidung (Ermessensprüfung, Prüfung von Zweckmäßigkeit, Angemessenheit usw.) befugt ist. Der EuGH stellt die Rechtsmittelinstanz gegenüber Entscheidungen des EuG dar und ist auf eine Rechtskontrolle beschränkt. Näher zum Prüfungsumfang von EuG und EuGH Dannecker/ Biermann, Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Art. 31 VO (EG) 1/2003, Rn. 5 ff. 81  Vgl. m.  w. N. zur Rechtsprechung Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), VO 1/2003 Anhang 1 Rn. 56. 82  s. hierzu Weitbrecht/Mühle, Die Entwicklung des europäischen Kartellrechts 2012, in: EuZW 2013, 255 (256 f.).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts35

freien Entwicklung der Persönlichkeit muss dem Einzelnen ein Innenraum verbleiben, in den er sich zurückziehen kann, in dem er in Ruhe gelassen wird.83 Nach Art. 13 Abs. 2 GG dürfen daher Durchsuchungen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen Organe angeordnet und nur in der vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. Zwar bedarf die Vollziehung für eine Nachprüfungsentscheidung seitens der Kommission einer vorherigen Genehmigung des einzelstaatlichen Gerichts des betreffenden Mitgliedstaates (Art. 21 III VO 1 / 2003), jedoch darf das einzelstaatliche Gericht nur „die Echtheit der Entscheidung der Kommission“ prüfen und ob die beabsichtigte Zwangsmaßnahme weder willkürlich noch unverhältnismäßig ist. Es ist aber nicht befugt, „die Notwendigkeit der Nachprüfung in Frage (zu) stellen“ und darf auch nicht „die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen verlangen“. Damit kommt dem einzelstaatlichen Gericht nur eine sehr eingeschränkte Kontrollbefugnis zu, obwohl hier die Unverletzlichkeit der Wohnung unmittelbar betroffen ist.84 Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung ist dem Gerichtshof vorbehalten (Art. 21 III S. 4, 5 VO 1 / 2003). Gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV kann der Adressat zwar Anfechtungsklage gegen die Nachprüfungsentscheidung der Kommission erheben. Allerdings entfaltet diese keine aufschiebende Wirkung (Art. 278 S. 1 EGV), so dass ein effektiver (zeitnaher) Rechtsschutz nicht möglich ist.85 Ein solcher findet vielmehr erst nach Abschluss der jeweiligen Nachprüfungsentscheidung statt. Hinzu kommt, dass nicht eindeutig ist, wer denn Adressat der Nachprüfungsentscheidung ist. So setzen die Nachprüfungen eine formelle Nachprüfungsentscheidung der Kommis­ sion voraus. An wen diese zu richten ist, lässt der Verordnungsgeber jedoch offen. Es können einerseits die betreffenden Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen sein, andererseits die Person, bei der auf der Grundlage des Art. 21 VO 1 / 2003 ermittelt wird.86 Die Norm ist insoweit unbestimmt. Bedeutung hat diese Frage sowohl für die Zustellung und Bekanntgabe des jeweiligen Rechtsaktes als auch für die Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV (Anfechtungsklage).87 83  BVerfGE

115, 166 (196); E 51, 97 (107); E 103, 142 (150). zur Kritik auch treffend Böse, Ein europäischer Ermittlungsrichter, in: RW 2012, 172 (178 ff.). 85  Ein nach Art. 279 AEUV möglicher einstweiliger Rechtsschutz, der auf eine vorläufige Aussetzung des Vollzugs abzielt, weist demgegenüber nur eine geringe Erfolgsquote auf. Vgl. hierzu Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 20 Rn. 100 m. w. N. 86  Vgl. hierzu auch Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 21 Rn. 11. 87  Vgl. hierzu auch Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 21 Rn. 11 f. 84  Vgl.

36 Einleitung

cc) Ebenso stellen sich im Rahmen des europäischen Bußgeldverfahrens Probleme hinsichtlich des strafverfahrensrechtlichen Rechts der Aussage bzw. Auskunftsverweigerung. Dieses ergibt sich nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und der in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerten Unschuldsvermutung.88 Der 23. Erwägungsgrund S. 2 der VO 1 / 2003 weist selbst daraufhin, dass Unternehmen „nicht gezwungen werden (können), eine Zuwiderhandlung einzugestehen“. Allerdings sollen sie „auf jeden Fall verpflichtet (sein), Fragen nach Tatsachen zu beantworten und Unterlagen vorzulegen, auch wenn die betreffenden Auskünfte dazu verwendet werden können, den Beweis einer Zuwiderhandlung durch die betreffenden oder andere Unternehmen zu erbringen“. Kommt ein Unternehmen seiner Auskunftspflicht (Art. 17 und 18) oder seinen Pflichten im Rahmen der Nachprüfung (Art. 20) nicht nach, kann es mit einer Geldbuße belegt werden (Art. 23 Abs. 1).89 Anders als der EGMR90 erkennt der EuGH bisher ein Aussageverweigerungsrecht juristischer Personen auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts nur eingeschränkt an.91 Der EuGH hat zwar erklärt, dass die Aussagefreiheit auch in Verfahren gilt, die gegen Unternehmen wegen Wettbewerbsverstoßes geführt werden und zur Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern führen können, jedoch erkennt er den Unternehmen bedingt durch die notwendige Wirksamkeit der kartellverfahrensrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen lediglich ein „Geständnisverweigerungsrecht“ zu. So sei die Kommission berechtigt, „das Unternehmen zu verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hie88  s. a. Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (28). Vgl. jetzt auch Art. 6 EUV, der auf die EMRK verweist, sowie Art. 47, 48 GR-Charta. 89  Vgl. zur Übersicht über die Verhängung von Geldbußen auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003 seitens der Kommission und zur Rechtsprechung Weitbrecht/Mühle, Die Entwicklung des europäischen Kartellrechts 2012, in: EuZW 2013, 255 (260 f.); dies., Die Entwicklung des Europäischen Kartellrechts 2011, in: EuZW 2012, 290 (294). 90  EGMR 1993 Funke/Frankreich Serie A., Nr. 256-A. Der EGMR leitete das Verbot der Selbstbezichtigung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ab und erklärte jedenfalls indirekt, dass auch juristischen Personen ein Auskunftsverweigerungsrecht im Rahmen eines bloßen Verwaltungsverfahrens zukommen kann. s. a. Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 20 Rn. 37. 91  Grundlegend EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283 Rn. 29 f. – Orkem; vgl. zur Kritik Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 20 Rn. 37 f.; Schohe, Muss die Berufung auf Grundrechte zweckmäßig sein? Zur Aussageverweigerung im europäischen Kartellrecht, in: NJW 2002, 492 f.; Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertrags- und Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (190 ff.).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts37

rauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen“.92 Die Grenze zieht der EuGH erst dort, wo das Unternehmen Auskünfte erteilen müsste, „durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat“.93 Praktisch ist diese Grenze aber nur schwer zu ziehen. Die Unternehmen sind faktisch verpflichtet, zu allen Tatsachenfragen Auskünfte zu geben. Letztlich können die Unternehmen nur solche Auskünfte verweigern, die sich nicht auf Tatsachen, sondern auf subjektive Einschätzungen der Unternehmen zum Wettbewerbsverstoß beziehen. Das ist hinsichtlich des grundsätzlich anerkannten Aussageverweigerungsrecht auch in Bezug auf juristische Personen, gegen die die Kommission enorme Geldbußen verhängt, rechtsstaatlich problematisch.94 Zudem müssen die betroffenen Unternehmen selbst Beweise für die zu berücksichtigenden mildernden Umstände und die damit verbundene mögliche Verringerung der Geldbuße beibringen (vgl. Punkt 29 der Leitlinien95). Es handelt sich dabei um eine Beweislastumkehr zu Lasten der Unternehmen, die im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bedenklich ist.96 3. Zwischenergebnis Die Zusammenschau einzelner Maßnahmen durch Europäische Organe hat gezeigt, dass es bisher zwar kein Europäisches Strafrecht im engeren Sinne gibt, jedoch eine wachsende Europäisierung des Strafrechts in den Mitgliedstaaten erfolgte. Der Europäischen Kommission kommen zudem Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse im Rahmen des Strafrechts im weiteren Sinne zu, wie am Beispiel des Europäischen Bußgeldverfahrens gezeigt wurde. Die Problemstellung hat hier deutlich gemacht, dass die weitreichenden Befugnisse der Kommission u. a. vor dem Hintergrund des gesetzlichen 92  EuGH

v. 18.10.1989 Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283 Rn. 34 – Orkem. v. 18.10.1989 Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283 Rn. 35 – Orkem. 94  Schohe, Muss die Berufung auf Grundrechte zweckmäßig sein? Zur Aussageverweigerung im europäischen Kartellrecht, in: NJW 2002, 492 f.; Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2.  Aufl. (2009), Art.  20 Rn. 39 ff.; vgl. zur Kritik gegenüber der Kronzeugenregelung vor dem Hintergrund eines fairen Verfahrens und der Unschuldsvermutung Schwarze, Europäische Kartellbußgelder im Lichte übergeordneter Vertrags- und Verfassungsgrundsätze, in: EuR 2009, 171 (192); Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EUWettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Vor Art. 23 f. Rn. 69. 95  ABl.EU 2006/C 210/02. 96  s. hierzu Lorenzmeier, Kartellrechtliche Geldbußen als strafrechtliche Anklage im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZIS 2008, 20 (21). 93  EuGH

38 Einleitung

Bestimmtheitsgrundsatzes einerseits und der Verfahrensrechte der betroffenen Unternehmen andererseits rechtsstaatlich nicht unbedenklich sind. Das Anliegen effizienter und effektiver Ermittlungsmaßnahmen sowie der Bekämpfung von Rechtsverstößen durch Sanktionsandrohungen ist nachvollziehbar, es bildet jedoch für sich genommen keine Legitimationsgrundlage für grundrechtsintensive Maßnahmen. Dennoch wurde schon vor dem Vertrag von Lissabon angesichts der immer stärker werdenden, grenzüberschreitenden und organisierten Kriminalität auch von Seiten der (wissenschaftlichen) Literatur gefordert, Europäische Institutionen mit mehr exekutiven Entscheidungsbefugnissen auszustatten.97 Die bestehende internationale Rechts- und Amtshilfe im Bereich der Strafverfolgung reiche nicht aus. Denn es bestehe eine Diskrepanz zwischen den „unterschiedlichen Geschwindigkeiten der allgemeinen europäischen Integration einerseits und der Integration der europäischen Strafrechtssysteme andererseits“.98 Dies mache eine effektive europäische Strafverfolgung nur schwer möglich. Straftäter bewegten sich „dank der europäischen Grundfreiheiten innerhalb des Binnenmarktes ohne Schwierigkeiten“.99 Demgegenüber seien die Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden bisher auf das Gebiet der Nationalstaaten begrenzt und könnten nur durch „bürokratische und langwierige Verfahren der Amts- und Rechtshilfe auf das Territorium anderer Mitgliedstaaten erstreckt werden. Diese (…) Transformationsprozesse sind für eine effektive Strafverfolgung vor allem deswegen schädlich, weil bei der Strafverfolgung der Faktor Zeit häufig eine entscheidende Rolle spielt“.100 „Ein (…) mittelund langfristiger Lösungsansatz (…) ist, die bisherige räumliche Begrenzung der strafrechtlichen Entscheidungen auf das nationale Territorium aufzugeben und die Entscheidung einzelner – nationaler und supranationaler – Institutionen grundsätzlich und von vornherein mit einer ‚europaweiten‘ Reichweite auszustatten“.101 Es solle daher eine Europäische Staatsanwaltschaft als supranationale Institution mit europaweit geltenden Entschei97  Sieber, Bekämpfung des EG-Betrugs, in: ZRP 2000, 186 (189). Sieber hebt hervor, dass der EG-Betrug immer stärker „zum Motor eines europäischen Strafrechts“ werde (186 f.). 98  Sieber, Bekämpfung des EG-Betrugs, in: ZRP 2000, 186 (188); ebenso Brüner/ Hetzer, Nationale Strafverfolgung und Europäische Beweisführung, in: NStZ 2003, 113. 99  Sieber, Bekämpfung des EG-Betrugs, in: ZRP 2000, 186 (188); ders., Die Zukunft eines Europäischen Strafrechts, in: ZStW 121 (2009), 1 (3 f.); Perron, Auf dem Weg zu einem europäischen Ermittlungsverfahren?, in: ZStW 112 (2000), 202 (204); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S.  8 f. 100  Sieber, Bekämpfung des EG-Betrugs, in: ZRP 2000, 186 (188). 101  Sieber, Bekämpfung des EG-Betrugs, in: ZRP 2000, 186 (189).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts39

dungsbefugnissen geschaffen werden.102 Unter der Leitung von DelmasMarty wurde ein sog. „Corpus Juris“ zum Schutz der finanziellen Interessen der EU erarbeitet, das als Modell für ein künftiges supranationales oder harmonisiertes Strafrecht dienen sollte.103 Dort wurden in einem materiellrechtlichen Teil neben der Normierung allgemeiner Regeln besondere Tatbestände für den Schutz der Finanzinteressen der Gemeinschaft formuliert. Der prozessrechtliche Teil sah unter anderem die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vor, die aus einem Europäischen Generalstaatsanwalt und von den Mitgliedstaaten abgeordneten Europäischen Staatsanwälten bestehen sollte.104 Die Europäische Kommission hatte im Dezember 2001 ein Grünbuch105 „zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“ vorgelegt, welches sich eng an das Modell des Corpus Juris anlehnte.106 So sah dieses Diskussionspapier ein europäisches Finanzstrafrecht verbunden mit der Errichtung einer supranationalen Strafverfolgungsbehörde vor.107 Der von der Europäischen Kommission vorgelegte Verordnungsvorschlag vom 17.7.2013 „über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft“ nimmt ebenfalls auf das Grünbuch Bezug.108 102  Sieber, Bekämpfung des EG-Betrugs, in: ZRP 2000, 186 (191); Jokisch, ­ emeinschaftsrecht und Strafverfahren (2000), S. 121 f. m. w. N.; siehe auch die G Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage von Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 14/1774 – BT-Drucks. 14/4991, S. 32: „Die Bundesregierung weist darauf hin, dass in einem immer enger zusammenwachsenden Europa, in dem auch die Kriminalität die Grenzen der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreitet, Strukturen der Strafverfolgung erforderlich sind, die eine effektive Strafverfolgung unter Vermeidung von Reibungsverlusten, Doppelarbeit und zeitlicher Verzögerung ermöglichen. (…) Die „Bundesregierung (betrachtet) ‚Eurojust‘ als mögliche Keimzelle für eine europäische Staatsanwaltschaft“. 103  Die deutsche Übersetzung von Tonio Walter ist abrufbar unter: http://www. uni-potsdam.de/fileadmin/projects/lshellmann/images/Corpus_juris.pdf. (abgerufen am 8.9.2016). 104  Vgl. zum Entwurf des „Corpus Iuris“, Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren (2000), S. 106 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 14 Rn. 28 ff.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, (2001), S. 87 ff. 105  Während ein „Grünbuch“ der Europäischen Kommission als Diskussionspapier zu einem bestimmten Thema und zugleich auch als Vorlage von Verordnungen und Richtlinien dient, fasst ein sog. Weißbuch die offiziellen Vorschläge zusammen. 106  KOM (2001) 715 endg. 107  Vgl. näher zum Grünbuch Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 14 Rn. 32 ff. Neben der Schaffung einer europäischen Strafverfolgungsbehörde wurde zudem auch vorgeschlagen, ein „supranationales Strafverfolgungsgericht“ zu errichten, das mit europaweit geltenden Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sein sollte. Hierzu Sieber Bekämpfung des EG-Betrugs in: ZRP 2000, 186 (191); kritisch Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren (2000), S. 120 f. 108  KOM (2013) 534 final, S. 3.

40 Einleitung

Der Vertrag von Lissabon, der an die Stelle des gescheiterten „Vertrags über eine Verfassung in Europa“ getreten ist109, kommt den genannten Forderungen, das Strafrecht in Europa effektiver zu gestalten und zu vereinheitlichen, zum Teil nach.

II. Die weitere Europäisierung des Strafrechts durch den Vertrag von Lissabon110 Der Vertrag von Lissabon hebt die „Drei-Säulen-Struktur“ der Europäischen Union auf. Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft und ist ihre Rechtsnachfolgerin (Art. 1 Abs. 3 EUV). Nach Art. 47 EUV besitzt die Union eine eigene Rechtspersönlichkeit. Diese Änderungen haben zur Folge, dass die bisher gouvernemental ausgestaltete polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (ursprünglich die „Dritte Säule“ im EUV) dem Unionsrecht unterstellt wird. Ferner gehört nach Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV das Strafrecht zu den Bereichen, die sich Union und Mitgliedstaaten teilen. Das hat zur Folge, dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten wahrnehmen, „sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat“ (Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV)111. Mit den Art. 82 ff. AEUV wird der Union nun ein Zugriff auf das Strafrecht mit dem Ziel ermöglicht, eine Vereinheitlichung und Effektivierung des Strafund Strafverfahrensrechts innerhalb der Europäischen Union zu erreichen (unter 1. und 2.).112 Die Ausübung von Hoheitsrechten durch europäische Institutionen zeigt sich ferner in den durch den Vertrag von Lissabon möglichen Erweiterungen von Befugnissen für Europol (unter 3.) und für Eurojust bis hin zur Möglichkeit der Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (unter 4.). Eine unmittelbare Rechtssetzungskompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts könnte der Union zudem auf der Grundlage des Art. 325 AEUV im Rahmen der Betrugsbekämpfung zukommen (unter 5.). 109  Dieser Vertrag scheiterte an den ablehnenden Volksabstimmungen in den Niederlanden und Frankreich. 110  Grundlage der Union sind der EU-Änderungsvertrag (im Folgenden EUVLissabon) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden AEUV); vgl. Art. 1 Abs. 3 EUV-Lissabon. 111  Vgl. auch treffend kritisch Braum, Europäisches Strafrecht im Fokus konfligierender Verfassungsmodelle, in: ZIS 2009, 418 (421). 112  Vgl. auch Art. 67 Abs. 3 AEUV: „Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung von strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts41

1. Erlass von Mindestvorschriften im Bereich des materiellen Strafrechts, Art. 83 AEUV Art. 83 Abs. 1 AEUV gibt der Union die Kompetenz, auf die Harmonisierung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten hinzuwirken. Die Vorschrift legitimiert die Union zwar nicht, unmittelbar selbst Strafrechtsnormen zu erlassen, sie kann aber im Rahmen des sog. ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens113 durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen, die aufgrund der Art oder Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, diese auf gemeinsamer Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Als solche Kriminalitätsbereiche werden aufgeführt: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogen- und Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Die Vorgaben von Mindestvorschriften beziehen sich dabei nicht nur auf die Tatbestandsseite, sondern ebenso auf die Rechtsfolgenseite, d. h. die Union kann Mindeststrafen festsetzen, die von den Mitgliedsstaaten nicht unterschritten werden dürfen. Zudem kann der Rat je nach Entwicklung der Kriminalität einen Beschluss erlassen, in dem andere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden, die die Kriterien des Art. 83 Abs. 1 erfüllen (Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 ­AEUV). Damit kann die Union ihre Harmonisierungskompetenz auf weitere Bereiche ausdehnen. Voraussetzung für eine derartige Erweiterung der Bereiche ist jedoch nach § 7 Abs. 1 IntVG114, dass diese zuvor durch den Bundestag gebilligt wurde. Der deutsche Vertreter im Rat kann danach nur zustimmen oder sich bei der Beschlussfassung enthalten, nachdem hierzu ein Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 GG in Kraft getreten ist. § 7 Int­ VG geht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon zurück, das in dieser „dynamischen Blankettermächtigung 113  Vgl. näher zu den „Gesetzgebungsverfahren“ der Union nach dem Vertrag von Lissabon die Ausführungen im 2. Teil der Arbeit. 114  Das „Integrationsverantwortungsgesetz“ (IntVG) regelt die vom Bundesverfassungsgericht geforderte notwendige Mitwirkung des Bundestags (BTDrucks. 16/13923); das „Lissabon-Umsetzungsgesetz“ fasst die notwendigen Änderungen des Grundgesetzes zusammen (BTDrucks. 16/13924); das „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union“ (BTDrucks. 16/13925) soll vor allem die frühzeitige Unterrichtung des Bundestages sicherstellen; vgl. zudem das Gesetz über die „Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union“ mit der Anlage einer „Bund-Länder-Vereinbarung“ (BTDrucks. 16/13926).

42 Einleitung

nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV“ eine Erweiterung der geschriebenen Unionskompetenzen sah.115 Nach Art. 83 Abs. 2 AEUV kann ferner eine Harmonisierung von strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten durch Richtlinien erfolgen, die für die wirksame Durchsetzung der Politik der Union unerlässlich sind. Das sind die Bereiche, die bisher im Rahmen der ersten Säule angesiedelt waren, wie z. B. der Schutz des Binnenmarktes sowie der Umweltund Verbraucherschutz. Durch diese weite Formulierung, in der keine Begrenzung auf schwere Kriminalitätsformen vorgesehen ist, kann die Union weitere Bereiche an sich ziehen und im Wege des Strafrechts harmonisieren. Im Rahmen des Art. 83 Abs. 3 AEUV ist hinsichtlich der strafrechtlichen Richtlinien des Art. 83 Abs. 1 und 2 AEUV ein sogenannter Notbremsmechanismus („emergency brake“)116 für die Mitgliedstaaten vorgesehen: Sieht ein Mitglied des Rates „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ gefährdet,117 wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt, wenn es beantragt, dass sich der Europäische Rat damit befasst. Kann daraufhin eine Einigung auch nicht durch den Europäischen Rat erzielt werden, so ist der Gesetzgebungsprozess beendet. Der Vertrag sieht dann eine vereinfachte Möglichkeit der „verstärkten Zusammenarbeit“ auf der Grundlage des gescheiterten Entwurfs vor, wenn sich mindestens neun Mitgliedstaaten finden, die auf diesem Gebiet dennoch enger kooperieren wollen.118 Nach § 9 IntVG muss der deutsche Vertreter im Rat einen Antrag auf Befassung des Europäisches Rates nach Art. 83 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV stellen, wenn der Bundestag ihn hierzu durch Beschluss angewiesen hat. Auch § 9 IntVG ist bedingt durch das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gefasst worden.119

115  BVerfGE 123, 267 (412); vgl. auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 53. 116  Hierzu auch Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts, in: ZStW 121 (2009), 1 (56). 117  Vgl. näher zu denkbaren „grundlegenden Aspekten“ Heger, Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZIS 2009, 406 (414 f.). 118  Vgl. hierzu näher Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 63 ff. m. w. N. 119  BVerfGE 123, 267 (413  f.). Vgl. auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 66.



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts43

2. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und der Erlass von Mindestvorschriften im Bereich des Strafverfahrens, Art. 82 AEUV Eine Europäisierung im Bereich des Strafverfahrens soll nach dem Lissabon-Vertrag zum einen durch eine Kooperation der Mitgliedstaaten zur Realisierung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung (unter a)) und zum anderen durch eine Harmonisierung auf der Grundlage der Festlegung von Mindestvorschriften (unter b)) erfolgen. a) Grundsatz gegenseitiger Anerkennung, Art. 82 Abs. 1 AEUV Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung war ursprünglich auf die Politik des Binnenmarktes bezogen. Es sollte die Verkehrsfähigkeit von Waren innerhalb des Europäischen Integrationsraumes sicherstellen, ohne dass die Zulassungsvoraussetzungen in den einzelnen Vertragsstaaten harmonisiert wurden. Waren oder Dienstleistungen, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig angeboten werden, müssen danach auch in allen anderen Vertragsstaaten verkehrsfähig sein.120 Übertragen wurde dieses Prinzip sodann auch auf justizielle Entscheidungen im Zivilrecht. Das Europäische Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) von 1968121 sah die Anerkennung von zivilgerichtlichen Entscheidungen in zahlreichen Mitgliedstaaten vor. Auf dem Gebiet des Strafrechts stellt der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl vom 13.6.2002 „die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar“.122 Während das „traditionelle Auslieferungsrecht“ ein zweistufiges Prüfungsverfahren seitens des um Auslieferung ersuchten Staates verlangt, in dem zum einen die Zulässigkeit und die Bewilligung der Auslieferung und zum anderen die beiderseitige Strafbarkeit seitens des zuständigen Staa120  Siehe hierzu näher Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU, in: Mommsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233 (234 f.); vgl. kritisch zur Übertragung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf das Strafrecht Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: GA 2005, 681 (688 ff.); Gleß, Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: ZStW 116 (2004), 353 (365); Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, in: GA 2004, 193 (203). 121  „Brüsseler Übereinkommen, in Kraft getreten am 1.2.1973, BGBl. 1972 II, 774; „Lugano-Übereinkommen“ für die EFTA-Staaten vom 16.9.1988, BGBl. 1994 II, 2660. 122  So die Begründung des Rahmenbeschluss „über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“, ABl. L 190 vom 18.7.2002 unter (6).

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tes geprüft wird, sieht der Rahmenbeschluss vor, dass jedenfalls grundsätzlich jeder in einem Vertragsstaat anerkannte richterliche Haftbefehl ohne nähere inhaltliche Prüfung auch in allen anderen EU-Ländern wirksam sein soll. Der Rahmenbeschluss bezieht dabei sowohl die Verfolgungsauslieferung als auch die Vollstreckungsauslieferung mit ein. Um das Ziel der Union, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ermöglichen, dient dieses vereinfachte „System der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind“ der „Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken“, die dem klassischen Auslieferungsrecht innewohnten.123 Inzwischen wurde der Rahmenbeschluss in allen Mitgliedstaaten umgesetzt.124 Der Vertrag von Lissabon normiert nun mit Art. 67 Abs. 2 und 3, Art. 82 Abs. 1 AEUV ausdrücklich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und räumt ihm gegenüber der Harmonisierung des Strafrechts den Vorrang ein (vgl. Art. 67 Abs. 3 AEUV).125 Nach Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 können das „Europäische Parlament und der Rat (…) gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen (erlassen)“, um u. a. insbesondere „Regeln und Verfahren festzulegen, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird“ (lit. a).126 Der Begriff der Maßnahme umfasst dabei alle in Art. 288 AEUV genannten Rechtsakte 123  Begründung des Rahmenbeschlusses „über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“, ABl. L 190 vom 18.7.2002 unter (5). Die Frage der gegenseitigen Anerkennung auf internationaler Ebene ist insofern nicht neu, als sie bereits am Ende des 19. Jahrhunderts in der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung diskutiert wurde und in den sog. „Oxforder Beschlüsser“ mündete. Auf diese soll im vorliegenden Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu das Gutachten von v. Liszt für den XVI. deutschen Juristentag (1882), in: ders., Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 1905, S. 90 ff.; im Anhang sind dort „Die Oxforder Beschlüsse des Instituts für Völkerrecht“ abgedruckt, S. 123 ff. Näher hierzu auch Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: GA 2005, 681 (683 ff.); ders., Europäisches Strafrecht im Fokus konfligierender Verfassungsmodelle, in: ZIS 2009, 418 (419). 124  Vgl. für Deutschland BGBl. I Nr. 36 S. 1721 vom 25.7.2006. Der Bundestag hatte im Juni 2004 bereits ein Gesetz zur Umsetzung des Europäischen Haftbefehls beschlossen, welches jedoch vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig und nichtig erklärt wurde. Vgl. hierzu näher die Ausführungen im 2. Teil der Arbeit unter II. 3. Vgl. zu weiteren Rahmenbeschlüssen auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen die Übersicht bei Vogel/ Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 82 AEUV, Rn. 61 ff. 125  Siehe hierzu auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 76. 126  Vgl. zu den weiteren in lit. b) bis lit. d) aufgeführten Bereichen Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 82 AEUV, Rn. 73 ff.



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts45

wie Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen. Damit könnte z. B. der damals als Rahmenbeschluss ergangene und von den Mitgliedstaaten in nationales Recht transformierte Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl nun als Verordnung ergehen und würde damit auch die Mitgliedstaaten unmittelbar binden. Da die Maßnahmen Gesetzgebungsakte sind, ergehen sie im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens. Hier entscheidet der Rat mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 3–5 EUV, Art. 238 Abs. 2 und 3 AEUV). Es kann eine solche Maßnahme nun auch angenommen werden, wenn sie von einzelnen Mitgliedstaaten abgelehnt wird. Ein sog. Notbremsmechanismus, wie ihn Art. 83 Abs. 3 AEUV oder auch Art. 82 Abs. 3 AEUV vorsehen, existiert im Bereich der gegenseitigen Anerkennung nicht.127 b) Erlass von Mindestvorschriften im Bereich des Strafverfahrens, Art. 82 Abs. 2 AEUV Nach Art. 82 Abs. 2 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ durch Richtlinien Mindestvorschriften erlassen, soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist (Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV).128 Diese Vorschriften können die Zulassung von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis, „die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren, die Rechte der Opfer von Straftaten sowie sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens beinhalten, die zuvor vom Rat durch einstimmigen Beschluss nach Zustimmung des Euro­ päischen Parlaments bestimmt worden sind“ (Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV). Art. 82 Abs. 2 AEUV soll gegenüber dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eine „dienende Funktion“ zukommen.129 Eine Harmonisierung kommt 127  Vgl. näher zum Verhältnis von Art. 82 Abs. 1 zu Art. 82 Abs. 2 und Art. 83 AEUV Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 82 AEUV Rn. 46 ff. Kritisch Heger, Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZIS 2009, 406 (411), der zutreffend darauf hinweist, dass – wie schon der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl gezeigt hat – auch Rechtsakte zur gegenseitigen Anerkennung grundlegende Auswirkungen auf die nationale Rechtssetzung und auf die Rechtsstellung der Bürger darstellen können. 128  Dabei sind hinsichtlich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der Polizeilichen Zusammenarbeit neben der Kommission auch ein Viertel der Mitgliedstaaten initiativberechtigt (Art. 76 lit. b AEUV). Nicht initiativberechtigt ist demgegenüber das Europäische Parlament. 129  Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2.  Aufl. (2012), Art. 82 AEUV Rn. 11; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 82; Vogel/Eisele, in:

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nur als „ultima ratio“ in Betracht, wenn sich eine bloße gegenseitige Anerkennung als nicht wirksam erweist: Die Mindestvorschriften müssen zur „Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich“ sein.130 Bei der Festlegung von Mindestvorschriften sind zudem die unterschiedlichen Rechtsordnungen und Rechtstraditionen zu berücksichtigen (Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV). Damit nicht vereinbar wäre es z. B., wenn eine unionsweite Harmonisierung zu einem Umbau der tradierten Gerichtsverfassungen oder der Gerichtsorganisationen der Mitgliedstaaten führen würde oder wenn Prozessstrukturen oder Prozessmaximen vorgegeben würden.131 Art. 82 Abs. 3 AEUV sieht ebenso wie Art. 83 Abs. 3 AEUV einen sogenannten Notbremsmechanismus für die Mitgliedstaaten vor. Auch hier muss nach § 9 IntVG der deutsche Vertreter im Rat einen Antrag auf Befassung des Europäisches Rates nach Art. 82 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV stellen, wenn der Bundestag ihn hierzu durch Beschluss angewiesen hat. Zudem bleibt den Mitgliedstaaten insofern ein Umsetzungsfreiraum, als die Richtlinien allein hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich sind, während sie den Mitgliedstaaten Wahl und Form der Mittel überlassen (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Es können mit ihnen somit nicht unmittelbar Hoheitsrechte auf Institutionen der Europäischen Union übertragen werden. 3. Europol Die Befugnisse des Europäischen Polizeiamtes (Europol)132 können nach dem AEUV erweitert werden. Seine Aufgabe war es bisher, einen verbesserten Informationsfluss zwischen den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, Erkenntnisse über Straftaten zu sammeln und diese an nationale Behörden weiterzugeben (ex. Art. 30 EUV; jetzt Art. 87 Abs. 1 AEUV).133 Zu diesem Zweck können gemäß Art. 87 Abs. 2 lit. b) AEUV das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nun Maßnahmen erlassen, die u. a. die Unterstützung bei der Aus- und WeiterGrabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 82 AEUV Rn. 85. 130  Näher hierzu Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), 59. Ergänzungslfg. (2016), Das Recht der Europäischen Union, Art. 82 AEUV 94 ff. 131  Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 82 Rn. 91. 132  Vgl. zur Entstehung von Europol Milke, Europol und Eurojust (2003), S. 23 ff. 133  Vgl. hierzu auch den Beschluss 2009/371/JI des Rates vom 6.4.2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamtes (Europol) sowie den Beschluss 2005/681/JI des Rates vom 20.9.2005 zur Errichtung der Europäischen Polizeiakademie (CEPOL).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts47

bildung von Personal sowie der Zusammenarbeit in Bezug auf den Austausch von Personal, die Ausrüstungsgegenstände und die kriminaltechnische Forschung zum Gegenstand haben. Hinzu kommt der Auftrag, „die Tätigkeit der Polizeibehörden und der anderen Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten sowie deren gegenseitige Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der zwei oder mehr Mitgliedstaaten betreffenden Kriminalität, des Terrorismus‘ und der Kriminalitätsformen, die ein gemeinsames Interesse verletzen, das Gegenstand einer Politik der Union ist, zu unterstützen und zu stärken (Art. 88 Abs. 1 AEUV). Nach Art. 88 Abs. 2 S. 2 lit. b) AEUV soll Europol zur Erfüllung dieser Aufgaben auch Ermittlungen organisieren und durchführen können sowie „operative Maßnahmen, die gemeinsam mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten oder im Rahmen gemeinsamer Ermittlungsgruppen durchgeführt werden, gegebenenfalls in Verbindung mit Eurojust“, vornehmen können.134 Allerdings können diese operativen Maßnahmen nur in Verbindung und in Absprache mit den Behörden des Mitgliedstaats oder der Mitgliedstaaten ergriffen werden, deren Hoheitsgebiet betroffen ist. Ebenso bleibt die „Anwendung von Zwangsmaßnahmen ausschließlich den zuständigen einzelstaatlichen Behörden vorbehalten“ (Art. 88 Abs. 3 S. 2 AEUV). Den näheren Aufbau, die Arbeitsweise und den genauen Tätigkeitsbereich legen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen fest (Art. 88 Abs. 2 S. 1 AEUV). Die Europäische Kommission hat inzwischen auf der Grundlage des Art. 88 und 87 Abs. 2 lit. b) einen Vorschlag für eine Verordnung „über die Agentur der Euro­ päischen Union für die Zusammenarbeit und die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol)“ vorgelegt.135 Danach sollen die EU-Agentur Europol und die ursprünglich von ihm getrennte Europäische Polizeiakademie (CEPOL) miteinander verschmolzen werden und die bisherigen Befugnisse von CEPOL ausgedehnt werden. Der Vorschlag verfolgt u. a. das Ziel, Europol zu „einem Knotenpunkt des Informationsaustausches zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten“136 werden zu lassen und erhofft sich durch die Verschmelzung von Europol und CEPOL zu einer Agentur „Synergieeffekte und Effizienzgewinne“.137 Der Bundesrat 134  Vgl. näher zu Europol nach dem Vertrag von Lissabon Albrecht/Janson, Die Kontrolle des Europäischen Polizeiamtes durch das Europäische Parlament nach dem Vertrag von Lissabon und dem Europol-Beschluss, in: EuR 2012, 230 ff.; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 12 Rn. 4 ff. 135  KOM(2013) 173 final. s. hierzu auch Brodowski, Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union, in: ZIS 2013, 455 (463 f.). 136  KOM(2013) 173 final, S. 4. 137  KOM(2013) 173 final, S. 6. Vgl. aber dagegen Ratsdok. 8899/13 LIMITE; Ratsdok. 12013/13.

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sieht den Vorschlag hinsichtlich der Aufgaben im Zusammenhang mit der Aus- und Fortbildung von Strafverfolgungsbediensteten als nicht mehr von Art. 87 Abs. 2 lit. b AEUV gedeckt an und spricht sich daher für eine Subsidiaritätsprüfung (Art. 12 lit. b EUV) aus.138 4. Eurojust und Europäische Staatsanwaltschaft Die bisherige Dokumentations- und Clearingstelle Eurojust139 soll auf der Grundlage einer vom Europäischen Parlament und vom Rat erlassenen Verordnung, die „den Aufbau, die Arbeitsweise, den Tätigkeitsbereich und die Aufgaben von Eurojust“ festlegen soll (Art. 85 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV), strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen einleiten können sowie „Vorschläge zur Einleitung von strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen, die von den zuständigen nationalen Behörden durchgeführt werden, insbesondere bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union“, machen können (Art. 85 Abs. 1 lit. a) AEUV).140 Dabei sollen „im Rahmen der Strafverfolgungsmaßnahmen“ von Eurojust „förmliche Prozesshandlungen unbeschadet des Artikel 86 durch die zuständigen einzelstaatlichen Bediensteten vorgenommen werden“ (Art. 85 Abs. 2 AEUV). Art. 86 AEUV sieht (ausgehend von Eurojust) die Errichtung einer „Europäischen Staatsanwaltschaft“ vor, die zur „Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union“ durch den „Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren141 durch Verordnung“ eingesetzt werden kann. Die Kommission hat einen Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vorgelegt, die für die Ermittlung und Strafverfolgung bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zuständig sein soll.142 Der Rat muss die Verordnung jedoch noch nach Zustimmung des Europäischen Parlaments 138  BR-Drucks. 346/13. Vgl. zudem die Empfehlung des Ausschusses für Fragen der Europäischen Union und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten BRDrucks. 346/1/13. 139  Eurojust hatte bisher die Aufgabe, die nationalen Staatsanwaltschaften vor allem bei der Verfolgung schwerer organisierter Kriminalität zu koordinieren und die strafrechtlichen Ermittlungen im Zusammenwirken mit Europol zu unterstützen (vgl. Art. 31 EUV). Vgl. zu Eurojust näher Esser/Herbold, Neue Wege für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: NJW 2004, 2421 ff. 140  KOM(2013) 535 final; vgl. auch Ratsdok. 6643/15 und Ratsdok. 5142/15; hierzu Brodowski, Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union, in: ZIS 2016, 106 (111 ff.). 141  Vgl. hierzu noch Art. 289 Abs. 2 AEUV. 142  Vgl. hierzu KOM(2013) 534 final; vgl. auch Ratsdok. 9372/15 sowie die seither erfolgten „technischen Aktualisierungen“ zu den Art. 1 bis 16 in Ratsdo.



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts49

einstimmig beschließen (Art. 86 Abs. 1 S. 2 AEUV). Die Europäische Staatsanwaltschaft soll zuständig sein „für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begangen haben, die in der Verordnung nach Abs. 1 festgelegt sind. Die Europäische Staatsanwaltschaft nimmt bei diesen Straftaten vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahr“ (Art. 86 Abs. 2 AEUV).143 Nach Art. 86 Abs. 4 AEUV könnten schließlich die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft „auf die Bekämpfung der schweren Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension“ ausgedehnt werden. Entsprechend kann die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft „hinsichtlich Personen, die als Täter oder Teilnehmer schwere, mehr als einen Mitgliedstaat betreffende Straftaten begangen haben“, erweitert werden. 5. Betrugsbekämpfung Der Vertrag von Lissabon hebt insgesamt die besondere Bedeutung der Betrugsbekämpfung auf Unionsebene hervor, indem er bereits zu Beginn des Titels über die Finanzvorschriften in Art. 310 Abs. 6 AEUV darauf hinweist, dass die Union und die Mitgliedstaaten „Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ zu bekämpfen haben.144 Der Betrugsbekämpfung wird zudem innerhalb des Titels Finanzvorschriften ein eigenes Kapitel 6 eingeräumt. Art. 325 AEUV (ex-Art. 280 EV) enthält hier Bestimmungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union. Erfasst werden von dem Begriff der „finanziellen Mittel“ sowohl solche des (Gesamt-)Haushaltes der Union als auch sonstige Finanzmittel, die von der Union selbst oder in ihrem Auftrag verwaltet werden.145 Bereits 1999 wurde das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF146) eingerichtet (vgl. Verordnungen [EG, EURATOM] 10264/15; hierzu auch Brodowski, Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union, in: ZIS 2016, 106 (109 ff.). 143  Vgl. auch Art. 14 KOM(2013) 534 final. 144  s. a. Magiera, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 325 AEUV Rn. 4; vgl. näher zu den Begriffen „Betrügereien“ und „sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ ders., a. a. O., Rn.  15 ff.; Waldhoff, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV 5. Aufl. (2016), Art. 325 AEUV Rn. 4. 145  Hierzu Waldhoff, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 325 AEUV Rn. 1. 146  „Office de la lutte anti-fraude“.

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Nr. 1073 / 1999, Nr. 1074 / 1999147).148 OLAF löste die bis dahin bestehende Koordinierungsstelle für Betrugsbekämpfung (UCLAF149) ab und ist unabhängiger Teil der Kommission.150 Nach mehreren Reformversuchen wurde die ursprüngliche Verordnung durch die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883 / 2013 ersetzt.151 Ziel der Reformen war es vor allem, die Untersuchungen von OLAF zu verbessern und die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten zu stärken, um das Untersuchungsverfahren insgesamt zu beschleunigen.152 Zudem sollten die Rechte der von den Untersuchungen betroffenen Personen gestärkt werden, die bisher nicht näher geregelt waren.153 Das Amt unterstützt zum einen die Mitgliedstaaten bei der Organisation einer engen, regelmäßigen Zusammenarbeit zwischen ihren zuständigen Behörden zur Koordinierung ihrer Tätigkeit zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft vor Betrug sichern (Art. 1 Abs. 2 S. 1 VO 883 / 2013). Zum anderen hat es die Aufgabe, Methoden zur Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft zu planen und zu entwickeln (Art. 1 Abs. 2 S. 2 VO 883 / 2013). Schließlich hat OLAF die Befugnis, administrative Untersuchungen durchzuführen, die dazu dienen, Betrug, Korruption und sonstige rechtswidrige Handlungen, die strafoder verwaltungsrechtlich geahndet werden können, zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft zu bekämpfen (Art. 1 Abs. 4 VO 883 / 2013). OLAF selbst kann zwar keine Zwangsmaßnahmen ergreifen, jedoch sind die betroffenen Mitgliedstaaten verpflichtet, die 147  Die Verordnungen Nr. 1073/1999 und Nr. 1074/1999 (EURATOM) wurden insbesondere gestützt auf Art. 280 EGV a. F. bzw. Art. 203 EAG a. F. 148  Vgl. näher zur Entstehungsgeschichte des Amtes Berner, Die Untersuchungsbefugnisse des OLAF (2004), S. 101 ff.; Haus, OLAF – Neues zur Betrugsbekämpfung in der EU, in: EuZW 2000, 745 (746 f.). 149  „Unité de coordination de la lutte anti-fraude“. Vgl. zu den Ermittlungsbefugnissen von UCLAF näher Gleß, Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, in: EuZW 1999, 618 f. m. w. N. 150  Vgl. Art.  1 des Einrichtungsbeschlusses der Kommission 1999/352/EG, EGKS, Euratom, ABlEG 1999 Nr. L 136, 20 ff.; vgl. zur Frage, ob das OLAF tatsächlich institutionell von der Kommission unabhängig ist, zweifelnd Berner, Die Untersuchungsbefugnisse des OLAF (2004), S. 137 f. m. w. N. 151  VO (EU, Euratom) Nr. 883/2013, ABl. L 248 v. 11.9.2013. 152  Vgl. die Erwägungsgrund (5) und Art. 12 VO (EU, Euratom) Nr. 883/2013; s. auch bereits KOM(2011) 135, S. 3 f.; hierzu auch Lingenthal, Die OLAF-Reform, in: ZEuS 2012, 195 (197 ff.). 153  Vgl. die Erwägungsgründe 23 ff. und Art. 9 VO (EU, Euratom) Nr. 883/2013; kritisch zur damaligen Rechtslage Albrecht/Braum, Kontingentes „Europäisches Strafrecht“ in actio, in: KritV 2001, 312 (331 ff.).



B. Überblick über die Europäisierung des Strafrechts51

Durchführung der Kontrolle zu gewährleisten. So können beispielsweise die OLAF-Kontrolleure in Begleitung eines Ermittlungsbeamten, sei es eines Staatsanwalts oder einer Ermittlungsperson erscheinen. Diese können dann gegebenenfalls bei Gefahr im Verzug die notwendigen Maßnahmen (Durchsuchung, Beschlagnahme) anordnen und durchsetzen. Bei Weigerung einer mitgliedstaatlichen Behörde, mit OLAF zusammenzuarbeiten, kann von der Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren angedroht werden.154 Im Rahmen der Betrugsbekämpfung könnte der Union nunmehr auf der Grundlage des Art. 325 Abs. 4 AEUV als Nachfolgenorm des Art. 280 Abs. 4 EGV eine unmittelbare Rechtssetzungskompetenz im Bereich des Strafrechts zukommen.155 Es könnten damit auf dem Gebiet der europäischen Betrugsbekämpfung supranationale Straftatbestände geschaffen werden, die von Eurojust bzw. der Europäischen Staatsanwaltschaft verfolgt werden könnten. Anders als die Art. 82 Abs. 3 und 83 Abs. 3 AEUV sieht jedoch Art. 325 AEUV keinen Notbremsmechanismus vor, obwohl die letztere Norm besonders intensiv in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreifen könnte.156 Die Europäische Kommission hat bereits auf der Grundlage des Art. 325 Abs. 4 AEUV 2012 einen Vorschlag für eine Richtlinie 154  Nelles/Tinkl/Lauchstädt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Handbuch Europarecht, 2. Aufl. (2010), § 42 Rn. 140. 155  Vgl. auch die Ausführungen im 2. Teil der Arbeit unter C. II. 156  Es wird überlegt, ob die Notbremsregelung auch analog auf Art. 325 Abs. 4 AEUV anwendbar ist, jedoch spricht ihre Ausnahmestellung eher für einen engen Anwendungsbereich (vgl. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. [2016], § 9 Rn. 51). Satzger schlägt weiter vor, die Notbremse solle jedenfalls keine Bedeutung haben, wenn es um den Erlass von genuinem supranationalen Strafrecht gehe, wie z. B. um die Setzung von supranationalen Straftatbeständen durch Verordnung, während sie im Rahmen einer strafrechtsangleichenden Richtlinie, die auf eine bloße Harmonisierung abziele, (analog) anwendbar sein solle. Satzger begründet seinen Vorschlag damit, dass bei einem supranationalen Strafrecht die nationale Strafrechtsordnung jedenfalls formal bestehen bleibe und daher das Integritäts- und Kohärenzinteresse des nationalen Gesetzgebers nicht in vergleichbarer Weise wie beim Erlass von harmonisierenden Richtlinien betroffen sei, die gerade auf eine Änderung des nationalen Rechts zielten (Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. [2016], § 9 Rn. 52 f.). Gegen diese Auffassung spricht jedoch, dass bei der Rechtssetzung der Union im Verordnungswege eine nationale Parlamentsbeteiligung überhaupt nicht mehr möglich ist, da die Verordnungen in allen Teilen verbindlich sind und im Mitgliedstaat unmittelbar gelten (Art. 288 UAbs. 1 AEUV). Die Souveränität der Mitgliedstaaten ist damit in besonderer Weise tangiert. Zudem hat die Verordnung Vorrang gegenüber dem nationalen Recht, so dass dieses in den Bereichen jedenfalls nicht mehr zur Anwendung kommt, die durch die Verordnung geregelt sind, auch wenn sie dem nationalen Recht widersprechen (vgl. auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim [Hrsg.], Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. [2016], Art. 288 Rn.  101 ff.).

52 Einleitung

ausgearbeitet.157 Ziel dieser Richtlinie ist es, durch strafrechtliche Vorschriften „einen wirksamen, angemessenen und abschreckenden Schutz der finanziellen Interessen der Union sicherzustellen“ und damit einen gleichwertigen Schutz der finanziellen Interessen der EU in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu erreichen.158 Die Richtlinie sieht dabei sowohl die Definition von bestimmten Tatbeständen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrug und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der EU gerichteten rechtswidrigen Handlungen vor (Art. 3–4) als auch die Festlegung von Mindest- und Höchststrafen (Art. 8). Vorgesehen ist zudem die Haftung juristischer Personen (Art. 6 und 9).

C. Zur Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts Das Bundesverfassungsgericht lehnte in seinem Lissabon-Urteil im Ergebnis eine Übertragung von strafrechtlichen Hoheitsrechten auf europäische Institutionen nicht ab, es stellte jedoch in seinen allgemeinen staatsbezogenen Ausführungen Elemente heraus, auf die auch in der strafrechtlichen Literatur im Rahmen der Europäisierung des Strafrechts wiederholt hingewiesen wurde. So betont es, das materielle und formelle Strafrecht gelte als „besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“.159 „Die Strafrechtspflege ist, sowohl, was die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch was die Vorstellungen von einem fairen, angemessenen Strafverfahren anlangt, von kulturellen, historisch gewachsenen, auch sprachlich geprägten Vorverständnissen und von den im deliberativen Prozess sich bildenden Alternativen abhängig, die die jeweilige öffentlichen Meinung bewegen. (…) Die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten, über den Rang von Rechtsgütern und den Sinn und das Maß der Strafandrohung ist (…) in besonderem Maße dem demokratischen Entscheidungsprozess überantwortet.“160 157  „Vorschlag für Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ KOM(2012) 363 final vom 11.7.2012. Während die Kommission ihren Richtlinienvorschlag auf Art. 325 Abs. 4 AEUV stützt, ist der Rat der Ansicht, dass Rechtsgrundlage für eine derartige Richtlinie Art. 83 Abs. 2 AEUV sei (Ratsdok. 10729/13. Vgl. zum Streit zwischen Kommission und Rat Brodowski, Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union, in: ZIS 2013, 455 (464). Näher zu dem Richtlinienvorschlag der Kommission im 5. Teil unter D. 158  Vgl. die Erwägungsgründe (2) und (12) der Richtlinie 2012/0193 (COD). 159  BVerfGE 123, 267 (359). 160  BVerfGE 123, 267 (359 f.).



C. Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts53

Die Sätze des Bundesverfassungsgerichts weisen einerseits auf die Kultur- und Sprachgebundenheit des Strafrechts und andererseits auf das Strafrecht als Ausdruck nationalstaatlicher Souveränität hin. Beide Elemente sollen dabei unmittelbar mit dem Demokratieverständnis zusammenhängen. Im Folgenden soll deshalb die Diskussion der Literatur über die Frage nach der Möglichkeit eines europäischen Strafrechts kurz referiert werden. Da bereits in anderen strafrechtlichen Arbeiten die unterschiedlichen Auffassungen hierzu näher aufgewiesen wurden,161 werden hier nur die wesentlichen Aspekte dargelegt. Zunächst sind unter I. und II. die einer Europäisierung des Strafrechts bzw. einem Europäischen Strafrecht kritisch gegenüberstehenden Momente darzulegen, um daran Überlegungen anzuschließen, die auf die Notwendigkeit der Konstituierung eines Europäischen Strafrechts hindeuten könnten (unter III.).

I. Kulturgebundenheit des Strafrechts? Schon Montesquieu hat auf die Kulturgebundenheit öffentlicher Gesetze allgemein hingewiesen: „Sie (die Gesetze, Anm. B. N.) müssen dem Volk, für das sie geschaffen sind, so genau angepaßt sein, daß es ein sehr großer Zufall wäre, wenn sie auch einem anderen Volke angemessen wären.“162 Er betont damit, dass die staatlichen Gesetze in besonderem Maße abhängig von der jeweiligen Natur und Eigenart des Volkes sind und sich nicht einfach auf andere Gesellschaften übertragen lassen. Die verschiedenen europäischen Strafrechtsordnungen machen auch deutlich, dass tatsächlich Unterschiede in der Strafrechtssetzung existieren: Während beispielsweise eine Verbandsstrafe in Deutschland bisher unzulässig ist, weil sie mit dem Schuldprinzip als nicht zu vereinbaren gilt, können vor allem im angelsächsischen Recht, ebenso aber z. B. in den Niederlanden und in Frankreich Verstöße von juristischen Personen strafrechtlich verfolgt werden.163 Auch im Rahmen des Strafverfahrensrechts existieren in den verschiedenen europäischen Ländern bedeutende Unterschiede. Während beispielsweise in England / Wales und Schottland das Ermessen bei der Einleitung eines Straf161  Vgl. zu den einzelnen Stellungnahmen seitens der Literatur hinsichtlich der Supranationalisierung bzw. Europäisierung des Strafrechts auch die Darstellungen bei Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 110 ff.; Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union (2005), S. 29 ff.; Meyer, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht (2009), S. 29 ff.; ders., Strafrechtsgenese in Internationalen Organisationen (2012), S. 656 ff. 162  Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch I, Kapitel 3. 163  v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe (1998), S. 52 m. w. N.; Kelker, Die Strafbarkeit juristischer Personen unter europäischem Konvergenzdruck, in: Krey-FS (2010), S. 221 (237 ff.).

54 Einleitung

verfahrens bei der Polizei sowie Staatsanwaltschaft liegt (Opportunitätsprinzip), gilt z. B. in Deutschland, Italien, Spanien und Polen grundsätzlich das Legalitätsprinzip.164 Diese historisch gewachsenen Unterschiede berücksichtigt auch der Vertrag von Lissabon; so heißt es in Art. 67 Abs. 1 AEUV: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem (…) die verschiedenen Rechtsordnungen und –traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“.165 In der Literatur wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass sich die Strafgesetzgebung aus „historisch gewachsenen nationalen Traditionen“ und „Wertvorstellungen“ ergeben habe, so dass es beträchtliche kulturbedingte Unterschiede bei der Frage gebe, was, ob und mit welcher Intensität verfolgt und bestraft werde.166 Teilweise wird daher erwogen, möglichst auf eine vereinheitlichte „europäische Strafrechtsordnung“ zu verzichten und stattdessen eine „vertrauensvolle Zusammenarbeit der Staaten auf der Grundlage nationaler Traditionen“ anzustreben.167 Aufgrund der besonderen Bedeutung des Strafrechts für „die Atmosphäre des sozialen Zusammenlebens“ müsse es Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers sein, Entscheidungen in diesem Bereich selbst zu treffen.168 Denn es könnten bereits auch kleinere, punktuelle Interventionen, wie beispielsweise die Verpflichtung zur Bestrafung eines bestimmten Verhaltens, in das staatliche Strafrecht von außen in die „delikate kriminalpolitische Balance eingreifen“.169 Hinzu komme, dass nicht eingeschätzt werden könne, welche Auswirkungen ein solcher Eingriff auf das „nationale Klima“ habe. Soweit er nicht auf das Gesamtsystem des 164  Vgl. hierzu näher Hörnle, Unterschiede zwischen Strafverfahrensordnungen und ihre kulturellen Hintergründe, in: ZStW 117 (2005), 801 (807 ff.). 165  Vgl. allgemein auch die Präambel des EUV: Ziel der Union ist es, die Solidarität zwischen den Völkern Europas „unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken“. s. a. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV: „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“ 166  Rüter, Harmonie trotz Dissonanz, in: ZStW 105 (1993), 30 (35). Vgl. auch schon deutlich v.  Savigny, Über den Zweck dieser Zeitschrift, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. 1, 1815, 1 (6): „(D)er Stoff des Rechts sei durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkür, so dass er zufällig dieser oder ein anderer sein könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen.“ 167  Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen, in: ZStW 105 (1993), 774 (802). 168  Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen, in: ZStW 105 (1993), 774 (789). 169  Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen, in: ZStW 105 (1993), 774 (789).



C. Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts55

Landes abgestimmt sei, könnte er einerseits sowohl „ineffektiv“ als auch sogar „kontraproduktiv“ sein.170 Trotz der bestehenden traditionsbedingten Unterschiede im Strafrecht der Mitgliedstaaten wird zum Teil aber auch eine Angleichung des Strafrechts nicht gänzlich für ausgeschlossen gehalten. Vielmehr sollten die nationalen Unterschiede herausgearbeitet werden, um anhand dieser Analyse feststellen zu können, „ob und inwieweit die Mitgliedstaaten vergleichbare soziale Voraussetzungen für einheitliche Strafrechtsstandards aufweisen“.171 Aufgabe der Strafrechtswissenschaft sei es zunächst, den „sozialen, kulturellen und ethischen Hintergrund nationaler Strafrechtsordnungen auszu­ leuchten“.172

II. Strafrecht als Ausdruck staatlicher Souveränität? Zudem wird in der Literatur betont, das Strafrecht sei nach der gemeineuropäischen Staatstheorie von Hobbes bis Rousseau und Kant ein klassisches staatliches Hoheitsrecht, das dem Gesetzesvorbehalt im ausgezeichneten Sinne unterfalle (Art. 7 EMRK, Art. 103 Abs. 2 GG).173 Es stehe unter dem strikten Vorbehalt des formellen Gesetzes (Art. 103 Abs. 2 GG). Dieser Begriff des Gesetzes sei aber auf den souveränen Rechtsstaat bezogen, also auf die Einzelstaaten und nicht auf die EG / EU. Ihre „Rechtsakte“ seien keine Gesetze und hießen auch nicht so, sondern Verordnungen oder Richtlinien (Art. 189 EGV a. F.).174 Dies habe für die fundamentalen Felder der 170  Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen, in: ZStW 105 (1993), 774 (789). Frisch weist in seinem Aufsatz „Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa“ zudem daraufhin, dass die europäische Kriminalpolitik die Tendenz zur Ausweitung und Verschärfung des Strafrechts aufweise, was jedoch für die „Akzeptanz Europas in den einzelnen Staaten kontraproduktiv“ sei, „weil sie zu einer Identifizierung Europas mit übermäßiger Reglementierung und erhöhter Pönalisierung führt.“ Damit schade sie auch der „inneren Ausgewogenheit und Harmonie der nationalen Strafgesetzbücher in Staaten mit niedrigem Strafniveau und milder werdendem Normalstrafrecht. Denn sie kann leicht dazu führen, dass die der europäischen Kompetenz unterfallenden Straftaten schärfer geahndet werden müssen als vergleichbare Verhaltensweisen, die allein der Kompetenz des nationalen Gesetzgebers unterliegen.“, in: GA 2009, 385 (405). 171  Kubiciel, Das „Lissabon“-Urteil und seine Folgen für das Europäische Strafrecht, in: GA 2010, 99 (113). 172  Kubiciel, Das „Lissabon“-Urteil und seine Folgen für das Europäische Strafrecht, in: GA 2010, 99 (113). 173  Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, in: FS für G.-A. Mangakis (1999), S. 751 (760). 174  Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, in: FS für G.-A. Mangakis (1999), S. 751 (761); s. a. Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, in: GA 2004, 193 (201).

56 Einleitung

Rechtswillensbildung, zu denen auch das auf Grundnormen bezogene Strafrecht gehöre, unverfügbare Gründe. Denn der Gesetzesvorbehalt im Strafrecht meine nicht irgendeine abstrakt-allgemeine Norm von technischer Rationalität. Er setze vielmehr den legitimierenden Repräsentationsakt durch den vereinigten Rechtswillen des Staatsvolkes voraus: die verfassungsmäßige Vereinigung unter gemeinsamen Rechtsgesetzen.175 Die EU selbst sei aber kein Staat, sondern ein vertraglicher Verbund ihrerseits souveräner Mitgliedstaaten (Art. 1 EGV a.  F.), die ohne substantiellen Verlust der Staatssouveränität im Vertragswege die Ausübung gewisser hoheitlicher Befugnisse den Gemeinschaftsorganen zugewiesen haben. Es existiere damit kein „Europäisches Staatsvolk“ und somit auch kein echtes „Europäisches Parlament“.176 Eine Übertragung der Rechtssetzungskompetenz nach Art. 23 Abs. 1 GG auf die Europäische Union stehe daher mit dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht in Einklang;177 es stelle vielmehr einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip und eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips dar.178

175  Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, in: GA 2004, 193 (200 f.). 176  Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, in: FS für G.-A. Mangakis (1999), 751 (762 f.). 177  Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, in: FS für G.-A. Mangakis (1999), S. 751 (761); Moll, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettgesetzgebung? (1998), S. 114; Mylonopoulos, Internationalisierung des Strafrechts und Strafrechtsdogmatik, in: ZStW 121 (2009), 68 (90 f.); Schünemann, Grundzüge eines Alternativ-Entwurfes zur europäischen Strafverfolgung, in: ZStW 116 (2004), 376 (392 f.). 178  Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, in: GA 2004, 193 (201). Siehe auch Mylonopoulos, Internationalisierung des Strafrechts und Strafrechtsdogmatik, in: ZStW 121 (2009), 68 (91), der das Demokratieprinzip an die historisch bedingten Entscheidungen eines Volkes bindet: „Es fehlt (…) an rechtfertigender Kraft. Denn es (das internationale und europäische Strafrecht, Anm. BN) steht nicht im Einklang mit den geschichtlich ausgestalteten Vorstellungen eines jeden Volkes und ist nicht Ausdruck des Entschlusses und des Willens von bestimmten Volksvertretern an einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Das Demokratiedefizit ist somit nicht nur ein formales Moment, sondern es hat eine entscheidende substantielle Dimension, die eben das Unbehagen bei der Durchsetzung solcher Normen von oben hervorruft. Dieses Unbehagen ist umso größer, als diese Normen öfters nicht mit den Basisprinzipien der jeweiligen nationalen Rechtsordnungen übereinstimmen. Diese Prinzipien sind nicht aus sich heraus ‚wild‘ gewachsen, sondern sie folgen ihrer eigenen Logik. Sie maximieren die Überzeugungskraft des Strafrechts, das, als ultima ratio des Gesetzgebers, gerade ein Maximum an Überzeugungskraft braucht.“



C. Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts57

III. Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts? Die dargelegten kritischen Auffassungen gegenüber einem unionalen Strafrecht heben insgesamt hervor, dass das Strafrecht – historisch betrachtet – abhängig vom jeweiligen Staatsverständnis ist und damit unmittelbar an politische und eben auch kulturelle Bedingtheiten eines Volkes gebunden ist. Sie betonen zudem den Zusammenhang zwischen staatlicher Souveränität und der Ausübung des Strafrechts gegenüber dem einzelnen Bürger. Allerdings sind dies zunächst nur Behauptungen. Es ist näher aufzuweisen, dass das Strafrecht geschichtlich gesehen tatsächlich von staatlichen Verhältnissen abhängt. Wenn dies der Fall sein sollte, ist weiter zu klären, ob dieser Zusammenhang gedanklich notwendig ist oder bloß eine historische Zufälligkeit darstellt. So wird denn auch gegenüber der Kulturgebundenheit des Strafrechts eingewendet, dass „gewiss nicht bzw. nicht in anzuerkennender Weise Terrorismus, Menschenhandel, illegalen Drogenhandel usw.“ betreffe.179 Zudem sei es „zweifelhaft und politisch gefährlich, eine spezifische Rechtskultur an die Nation binden zu wollen“. Eine solche Perspektive leiste wegen ihrer „ethnozentrischen Anfälligkeit Rechtschauvinismus und Einzigartigkeitsattitüden Vorschub“.180 Das Recht sei zudem nicht durch das „sozio-kulturelle Eigenbild eines Nationalstaats“ geprägt.181 Kulturelle Entwicklungen vollzögen sich immer sowohl regional, national als auch kontinental, so dass auch empirisch Identitäten bestehen könnten.182 Schließlich könnten „Konzepte wie Volksgeist oder die historische Rechtsschule“ die heutige Globalisierung bereits „von ihrer Programmatik“ her nicht verarbeiten. In modernen Staaten entstünden fortlaufend neue Regelungsgebiete. Eine Beschränkung auf national-kulturell determinierte Lösungen werde diesen Herausforderungen an den Gesetzgeber des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht.183 Eingewendet wird gegenüber der Ansicht, Strafrecht sei notwendig Ausdruck staatlicher Herrschaftsausübung, dass sie in einem rein staatlichen Denken verharre. Sie erkenne nicht, dass die Europäische Union gerade keinen Staat, sondern eine Verbindung von bereits bestehenden Staaten 179  Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 83 AEUV Rn. 19; Vogel, Strafrecht und Strafrechtswissenschaft im internationalen und europäischen Rechtsraum, in: JZ 2012, 25 (29). 180  Meyer, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht (2009), S. 126; Vogel, Strafrecht und Strafrechtswissenschaft im internationalen und europäischen Rechtsraum, in: JZ 2012, 25 (29). 181  Meyer, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht (2009), S. 126 f. 182  Meyer, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht (2009), S. 127. 183  Meyer, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht (2009), S. 128.

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darstelle und daher nicht mit historisch gewachsenen und damit zufällig entstandenen Staatsstrukturen zu vergleichen sei oder daran gemessen werden könne. Es gehe nicht um die Frage, ob die EU den Anforderungen an demokratische Herrschaft nach mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen genüge.184 In einer Staatengemeinschaft könne demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung.185 Es müsse daher überlegt werden, ob nicht auch das Strafrecht auf Europäischer Ebene unional zu bestimmen und damit ebenso wenig an staatliche Strukturen gebunden sei.186 So existiere bereits ein Völkerstrafrecht und eine internationale Strafgerichtsgerichtsbarkeit. Möglicherweise stärke es gerade die Staatlichkeit, wenn Kriminalitätsbereiche auf internationale Organisationen übertragen würden, weil sie wegen ihrer transnationalen Dimension vom jeweiligen Einzelstaat alleine nicht mehr zu bewältigen seien.187 Dann wäre es Aufgabe der Staaten, dafür Sorge zu tragen, dass „demokratische Legitimationsprozesse auf supra- oder internationaler Ebene geltend gemacht werden können, wie es mit Parlamentsvorbehalten oder im Rahmen des Art. 83 Abs. 3 AEUV mit der ‚Notbremse‘ ermöglicht wird“.188 Ferner sei die Europäische Union „ein auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit festgelegter (Art. 6 Abs. 1 EUV) Integrationsverbund ihrer demokratischen und rechtsstaatlichen Mitgliedstaaten“189 und achte „die Menschenrechte sowie die Grundrechte und -freiheiten“.190 Die Bundesrepublik Deutschland lege nach Art. 23 GG fest, an der Verwirklichung eines vereinten Europas mitzuwirken und habe legislative, exekutive und judikative Hoheitsrechte auf die Union bzw. auf die Gemeinschaft übertragen. Die demokratische Legitimation beruhe auf dem Zustimmungsgesetz zum Bei184  Ruffert,

Rn. 1.

in: EUV/AUEV, Hrsg.: Calliess/Ruffert, 5. Aufl. (2016), Art. 10 EUV

185  Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf, in: ZStW 116 (2004), 400; ebenso Böse, Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht, in: GA 2006, 211 (217 f.); vgl. auch BVerfGE 123, 267, 365. 186  Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf, in: ZStW 116 (2004), 400 (402 mit Fn. 12); im Ergebnis ebenso (ohne zur Frage der Vereinbarkeit mit Art. 23 GG Stellung zu beziehen): Brüner/Hetzer, Nationale Strafverfolgung und Europäische Beweisführung?, in: NStZ 2003, 113. 187  So z. B. Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 83 AEUV Rn. 19. 188  Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 83 AEUV Rn. 19. 189  Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf, in: ZStW 116 (2004), 400. 190  Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf, in: ZStW 116 (2004), 400 (401); ders., Harmonisierung des Strafrechts in der Europäischen Union, in: GA 2003, 314 (332).



C. Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Europäischen Strafrechts59

tritt der Staatengemeinschaft und werde in diesem Sinne über die nationalen Parlamente vermittelt. Das Demokratieprinzip stehe insofern einer solchen Übertragung nicht entgegen.191 „Auch wenn auf Gemeinschaftsebene nach wie vor ein Demokratiedefizit herrschen und eine Gewaltenteilung nach Montesquieu’schem Vorbild fehlen sollte(,) (…) so würde die Annahme, daß bereits deshalb eine Verletzung des Demokratieprinzips vorliege, bedeuten, dass Deutschland integrationsuntauglich würde. Dies stünde aber in krassem Widerspruch zu Art. 23, 24 GG, die gerade Ausdruck der Integrationsfreundlichkeit des GG sind. Denn wenn die Verfassung eine Übertragung von Hoheitsbefugnissen akzeptiert, so hat dies notwendigerweise zur Folge, daß die Wahrnehmung dieser Befugnisse nicht mehr stets vom Willen eines Mitgliedstaates abhängt.“192 Zudem sei bereits allgemein anerkannt, dass „unter gegenseitiger Anerkennung der Souveränität und Identität, und dass supra- oder internationalen Organisationen durch parlamentarisches Gesetz Bereiche überantwortet werden können, die auf nationaler Ebene einem Parlamentsvorbehalt unterliegen“.193 Hinzu komme die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament.194 Dieses sei vom Rat deutlich unabhängiger als nationale Parlamente von ihren Regierungen; es sei zu erwarten, dass das Europäische Parlament Strafgesetzgebungsinitiativen seitens des Rates oder der Kommission effektiv kontrolliere.195 Außerdem seien in den „mühseligen Prozessen der Kompromissfindung in der europäischen ‚Staatendemokratie‘ hoch wirksame checks and balances eingebaut“. Es handele sich bloß um ein „Wunschdenken“, dass ein Mehr an Parlamentsbeteiligung ein Weniger an Strafrecht bedeute. Es sei sogar – im Gegenteil – festzustellen, dass das Europäische Parlament in der derzeitigen Zusammensetzung weit mehr und weit härteres europäisches Strafrecht beschließe als Kommis191  Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf, in: ZStW 116 (2004), 400 f.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 114. 192  Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 114. Kreß betont, dass der Text des Art. 23 GG keinen Strafrechtsvorbehalt enthalte und auch das Bundesverfassungsgericht bislang einen solchen nicht in die Bestimmung mit hineingelesen habe, obwohl es sich aufgrund der damals bereits bestehenden gubernativen Strafrechtssetzungskompetenz in Gestalt der gemeinsamen Maßnahme in seiner Maastricht-Entscheidung dazu hätte äußern können, Das Strafrecht auf der Schwelle zum europäischen Verfassungsvertrag, in: ZStW 116 (2004), 445 (451). 193  Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 83 AEUV Rn. 19. 194  Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf, in: ZStW 116 (2004), 400 (401). 195  Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 83 AEUV Rn. 19.

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sion und Rat der Union.196 Zudem wirke die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nur bei einer Union mit, die einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste.197 Dieser Kritik gegenüber den Ansichten, die auf die Kulturgebundenheit des Strafrechts und die Staatssouveränität rekurrieren, ist jedenfalls dann zu folgen, wenn der grundsätzliche Zusammenhang von Staat, seinen Strukturprinzipien und einem rechtsstaatlichen Strafrecht bloß historisch-zufällig ist und daher innerhalb der neuen Machtverteilung in der Europäischen Union selbst keine Geltung beanspruchen kann. Das ist allerdings begründungsbedürftig. Der Verweis auf das Zustimmungsgesetz zum Beitritt der Staatengemeinschaft genügt hierfür nicht. Denn auch supranationale Institutionen müssen sich der Legitimationsfrage stellen, wenn ihnen Zwangsbefugnisse gegenüber einzelnen Bürgern zukommen. Es geht sowohl im Rahmen des staatlichen Strafrechts als auch auf europäischer Ebene um das Ringen einer Antwort auf die Frage nach der Legitimation von Rechtsmachtausübung überhaupt. Damit können auch europäische Institutionen dieser Legitima­ tionsfrage nicht aus dem Weg gehen.

D. Gang der Arbeit und ihr methodischer Ansatz Die Einführung, der Überblick über die Europäisierung des Strafrechts in den letzten Jahrzehnten sowie die Diskussion über die Frage der Übertragung strafrechtsrelevanter Hoheitsbefugnisse auf eine supranationale Organisation wie der Europäischen Union geben die Richtung der Arbeit an. Ihr Ziel ist es zu klären, ob die der Europäischen Union zugrunde liegende Idee der Freiheit mit der Europäisierung bzw. Etablierung eines Europäischen Strafrechts in Einklang zu bringen ist oder ob sie einem Rechtsverständnis, welches den freien Einzelnen zur Grundlage nimmt, widerspricht. Es wurde schon angedeutet, dass die Antwort auf die Frage nach der Legitimation eines „Europäischen Strafrechts“ nicht allein auf die Bewältigung des Problems hinausläuft, unterschiedliche mitgliedstaatliche Rechtsordnungen in Einklang zu bringen, sie äußerlich zu harmonisieren. Das Problem liegt tiefer. Die verschiedenen Rechtsordnungen sind jedenfalls insofern nicht historisch zufällig entstanden und gewachsen, als sie unmittelbar mit den Menschen und damit auch den jeweils Einzelnen zusammenhängen, die sie prägen. Schon aus diesem Grund ist es notwendig, bei der Antwort auf die Frage legitimer überstaatlicher Zusammenarbeit beim einzelnen Menschen 196  Vogel, Harmonisierung des Strafrechts in der Europäischen Union, in: GA 2003, 314 (332 m. Fn. 93). 197  Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf, in: ZStW 116 (2004), 400 (401 f.).



D. Gang der Arbeit und ihr methodischer Ansatz61

und seiner Einordnung in die Rechtsgemeinschaft zu beginnen. Denn es sind einerseits die in der Gemeinschaft lebenden Personen selbst, die das Recht konstituieren und andererseits sind sie auch die Adressaten des Rechts. Aufgrund der besonderen Eingriffsintensität gegenüber den Freiheitsrechten des Bürgers galt das Strafrecht insgesamt üblicherweise als Ausdruck staatlicher Herrschaft. Jeder Staat übte die Strafgewalt gegenüber seinen Bürgern aus. Seit der Konstitution des modernen Staates im 17. und 18. Jahrhundert bilden die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung überhaupt, die Sicherheit der Bürger und das Strafrecht nicht nur eine Aufgabe des Staates, sondern sind zentrale Bestandteile seiner Begründung, die durch die staatstheoretische Literatur von Hobbes über Locke, Montesquieu und Rousseau bis Kant und Hegel geleistet wurde.198 Die Freiheit des einzelnen Bürgers, die Staatsverfassung und das Strafrecht stehen damit in einem unmittelbaren Zusammenhang.199 Im ersten Teil der Arbeit soll dieser ideengeschichtliche Zusammenhang vom freien Einzelnen und demokratischem Rechtsstaat aufgewiesen werden. Durch eine Auswahl der geistes- und ideengeschichtlichen Strömungen und der in ihnen ruhenden Begrifflichkeiten sollen die Bedeutungen des Freiheitsbegriffs dargelegt und die damit verbundenen Unterschiede der verschiedenen Staats- und Verfassungsstrukturen sowie deren Basis für das Strafrecht herausgearbeitet werden. Dabei zeigt sich auch, dass die Geistesgeschichte eine gesamteuropäische Entwicklung darstellt. Aufgabe des zweiten Teils der Arbeit ist es, herauszuarbeiten, inwieweit die Rechtsform des Staates durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf Europäische Institutionen aufgebrochen wurde. Zu beachten ist dabei, dass die Vergemeinschaftung nicht unvermittelt erfolgte, sondern einen Prozess darstellt. In diesem zeigt sich, dass Hoheitsrechte sukzessiv auf europäische Institutionen übertragen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren Entscheidungen mit der Frage auseinandergesetzt, wo die Grenzen der Übertragungsmöglichkeit von Hoheitsrechten zu ziehen sind. Es soll daher zunächst die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierzu näher untersucht und geklärt werden, ob das Gericht Grenzlinien hinsichtlich der Übertragungsmöglichkeit von Hoheitsrechten markiert hat, die auch für den Bereich des Strafrechts von Bedeutung sind. Sowohl in 198  Vgl. auch Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Europäisches Verfassungsrecht, Hrsg.: v. Bogdandy/Bast (2009), S. 749 (751). 199  Vgl. zum Zusammenhang von Strafrecht und Staatssouveränität Jung/Schroth, Das Strafrecht als Gegenstand der Rechtsangleichung in Europa, in: GA 1983, 241 (253) und Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 157 f. m. w. N.; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. (1981), § 4.

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den Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehl I und II als auch im Lissabon-Urteil nimmt das Gericht explizit das Strafrecht in den Blick. Es betont in diesen Entscheidungen die besondere Stellung des Strafrechts im Rahmen der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates.200 Das Gericht stellt dabei einen Zusammenhang zwischen der ­Legitimation des Staates und seiner Ausübung von Hoheitsbefugnissen gegenüber dem einzelnen Bürger her, wie er im ersten Teil der Arbeit näher dargelegt ist. Die in diesem Teil herausgearbeiteten Staatsstrukturprinzipien sind daher in ein Verhältnis zu den europäischen Formprinzipien zu setzen. Stehen Staatsverständnis und Strafrecht in einem Zusammenhang, ändern sich mit der Einordnung des Einzelstaates in einen dem Staat übergeordneten mit eigenen Institutionen ausgestatteten supranationalen Staatenverbund, wie der Europäischen Union, auch zwangsläufig die im Rechtsstaat dargelegten Staatsstrukturen, so dass das Strafrecht innerhalb dieser neu zu justieren ist. Das Aufbrechen staatlicher Strukturen und die Hinwendung zu supranationalen Institutionen führt möglicherweise zu einer Erweiterung des Rechtsstaates und damit auch des Rechtsschutzes für den einzelnen Bürger. Möglicherweise treten aber auch die im Staat verfestigten Prinzipien in ein unlösbares Spannungsverhältnis zur Supranationalitiät. Es wird letztlich entscheidend darauf ankommen, ob die im ersten Teil herausgearbeiteten ideengeschichtlich gewachsenen Staatsstrukturprinzipien für die Legitimation von Strafe notwendig sind, oder ob sie im Rahmen der Europäisierung des Rechts verändert, „supranationalisiert“ werden können, was für das Strafrecht bedeuten würde, dass auch dieses nicht unbedingt an Staatsstrukturen gebunden ist, sondern einer Europäisierung gegenüber offen ist. Im dritten Teil der Arbeit ist daher zu prüfen, ob der angenommene Zusammenhang zwischen staatlicher Souveränität und dem Strafrecht allein eine ideengeschichtliche oder historische Zufälligkeit darstellt, oder ob er vernunftnotwendig ist. Herausgearbeitet werden muss daher ein Grund dieser Verbindung, der nicht erst in den geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungen zu finden, sondern diesen vorgelagert ist. Gedanklicher Ausgangspunkt ist damit nicht der bestehende Staat nach dem Grundgesetz, auch wenn dieser als Leitlinie für die Überlegungen dient, sondern der Konstituent des Staates und Adressat seines Handelns: der freie Einzelne. Es ist somit zunächst die Konstitution des Menschen näher zu bestimmen, um darauf aufbauend den Begriff des (Rechts-)Staats ausweisen zu können. Es soll hier an die Ausführungen Immanuel Kants zum Begriff der Freiheit und seiner Bedeutung für das Recht angeknüpft werden. Kants Rechtsphilosophie wird dabei nicht deshalb herangezogen, weil er als ausgewiesene 200  BVerfGE

123, 267 (359 f.).



D. Gang der Arbeit und ihr methodischer Ansatz63

Autorität gilt, sondern weil seine grundlegenden Aussagen über die Begriffe Freiheit, Recht und Staat als treffende Einsichten zugrunde zu legen sind. Aus der Handlungsstruktur des vernünftigen Einzelnen leitet er Prinzipien ab, die für einen freiheitlichen Rechtsstaat konstitutiv sind, wie das Prinzip der Volkssouveränität und das der Gewaltenteilung. Diese Notwendigkeiten haben Bedeutung für das Strafrecht, denn gerade hier zeigt sich, inwieweit der Staat rechtsstaatliche Prinzipien ernst nimmt. Das Ansetzen an einem freiheitlichen Rechtsbegriff ist allerdings zwei Bedenken ausgesetzt. Einerseits, so wird vorgetragen, lohne der Gedankenund Zeitaufwand, der mit einer solchen grundlegenden Herangehensweise verknüpft ist, in einer schnelllebigen Zeit wie der heutigen nicht und andererseits zeuge er von Theorielastigkeit und Praxisferne. Eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage nach einem europäischen Strafrecht stelle vielmehr eine bloß realitätsferne Spekulation dar.201 So schreibt z. B. Vogel: „Es mag reizvoll sein, mit Kant über die philosophische Unmöglichkeit oder mit Hegel über die historische Notwendigkeit europäischen Strafrechts zu spekulieren. Zukunftsaufgabe ist es, die rapide voranschreitende Europäisierung des Strafrechts zu verarbeiten, übrigens auch, um im Wettbewerb mit den einflussreichsten und innovativsten Strafrechtsordnungen der Welt, denen der Vereinigten Staaten von Amerika, zu bestehen.“202 Dieser Einwand verkennt jedoch, dass es im Recht um Begründungen gehen muss. Im Strafrecht wird dies besonders deutlich. Denn hier muss gegenüber dem Täter der Grund benannt werden können, warum er zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt werden kann und diese auch zu dulden hat. Ein Verweis auf das bestehende Recht des Landes erklärt zwar, dass ein solches Vorgehen positivrechtlich erlaubt ist. Das Gesetz selbst kann aber keine Begründung dafür angeben, warum eine solche Befugnis auch legitim ist. Die Legitimationsfrage lässt sich auch nicht mit dem Hinweis darauf klären, dass auch die Strafrechtsordnungen eines anderen Kontinents derartige Befugnisse vorsehen.203 Denn dann könnte der Betroffene fragen, inwiefern diese mit ihm in einem Zusammenhang stehen. Das Recht und mit ihm verbunden die Zwangsbefugnis bedürfen daher einer Begründung. Ge201  Vogel, Europäische Kriminalpolitik – Europäische Strafrechtsdogmatik, in: GA 2002, 517 (518); ähnlich zum Souveränitätsbegriff Denninger, Vom Ende natio­ nalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, 1121 (1126); zum Demokratieverständnis v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 65. 202  Vogel, Europäische Kriminalpolitik – Europäische Strafrechtsdogmatik, in: GA 2002, 517 (518). 203  Der Verweis auf die USA ist im Übrigen gerade im Bereich rechtsstaatlich prekärer Maßnahmen alles andere als ein Garant für Legitimität (vgl. nur Guantanamo).

64 Einleitung

meint ist damit nicht ein emotionales Verständnis für die Situation des Täters oder des Beschuldigten, sondern es geht um eine Vernunftbegründung des (Straf-)Rechts. Diese muss bei denjenigen ansetzen, die das Recht schaffen, es anwenden und auch von ihm betroffen sind, unter Umständen sogar zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden können. Auch für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit (europäischen) strafrechtlichen Legitimationsfragen bedarf es daher zunächst einer näheren Untersuchung des Ausgangs- und Zielpunktes des Rechts, nämlich des freien Einzelnen selbst. Der zweite Einwand betrifft die Stellung der Strafrechtswissenschaft im Rahmen der Europäisierung des Rechts. So stehe eine „europäische Strafrechtswissenschaft, die sich dem Demokratiegedanken verbunden fühlt, in der Pflicht, Mittlerin und Übersetzerin im kriminalpolitischen Diskurs zwischen den europäischen Institutionen einerseits und der europäischen politischen Öffentlichkeit andererseits zu sein“.204 Dem werde „eine Strafrechtswissenschaft, die sich im Elfenbeinturm dogmatischer, der politischen Öffentlichkeit unzugänglicher Diskurse verschanzt, nicht gerecht.“205 Aus dem Demokratiegedanken wird somit die Pflicht der Wissenschaft abgeleitet, das politische Geschehen dem Bürger nahe zu bringen. Die Wissenschaft soll eine Vermittlerrolle zwischen europäischen Entscheidungen und dem gemeinen Volk einnehmen. Ihre Aufgabe ist es dann, „Wissen“ zu verwalten und nicht aus sich heraus zu schaffen. Die Rechtswissenschaft wäre somit im Staat Teil der ausführenden Gewalt und ihr auch unterworfen, so dass ihr Forschungsgegenstand nicht frei, sondern gebunden wäre, da er auf das empirische Geschehen festgelegt ist. Vordergründig scheint das Demokratieargument plausibel. Denn die Demokratie lebt gerade davon, dass die Bürger an den politischen und rechtlichen Geschehnissen in ihrer Region teilhaben können und – wenn die Entscheidungen der europäischen Organe nur für Experten transparent sind – diese Experten den Bürgern ihr Wissen auch nicht vorenthalten dürfen. Nun ist aber die Wissenschaft – und das mit gutem Grund – nicht Teil der Staatsgewalt, sondern ihr gegenüber frei (Art. 5 Abs. 3 GG). Die Wissenschaftler sind selbst Bürger und nicht Teil der Staatshoheit. Es bedürfte zumindest einer Begründung, warum sich die Stellung der Wissenschaft – jedenfalls soweit es um europäische Strafrechtsfragen geht – ändern sollte. Zudem kann nach einem solchen Verständnis die Wissenschaft nicht mehr progressiv arbeiten, sondern nur retrospektiv, da sie an der Vergangen204  Vogel, Europäische Kriminalpolitik – Europäische Strafrechtsdogmatik, in: GA 2002, 517 (534). 205  Vogel, Europäische Kriminalpolitik – Europäische Strafrechtsdogmatik, in: GA 2002, 517 (534).



D. Gang der Arbeit und ihr methodischer Ansatz65

heit, an getroffenen Entscheidungen der europäischen Organe ansetzt. Aufgabe des Rechtswissenschaftlers wäre es, verständlich zu machen, „was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben (…); aber, ob das, was sie wollten auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen“206. Ferner ist bei mangelnder Transparenz von Entscheidungen europäischer Organe kritisch zu prüfen, ob sie nicht per se für den Bürger transparent sein müssten, ob also nicht der Fehler bereits im System angelegt ist und damit nicht die Wissenschaft ihre Aufgabenschwerpunkte verlagern muss, sondern vielmehr die Arbeitsweise der europäischen Institutionen in Frage zu stellen ist. Aufgabe der Wissenschaft ist es jedenfalls auch, sich grundlegend mit bereits als feststehend und nicht änderbar geglaubten Rechtsfaktizitäten kritisch auseinanderzusetzen, um neue Lösungswege aufzeigen zu können. Die gewählte rechtsphilosophische Methode ist daher für eine basale wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Etablierung eines genuinen europäischen Strafrechts notwendig. Im vierten Teil der Arbeit ist zu untersuchen, wie sich der Staat im Verhältnis nach außen, zu anderen Staaten, bzw. wie sich die Bürger unterschiedlicher Staaten zueinander verhalten. Insbesondere im Zuge der Europäisierung und Globalisierung des Rechts kann der Staat nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern ist in internationale Staaten- und Völkerrechtsverhältnisse eingebunden. Dies macht schon Kant deutlich, der neben dem Staatsrecht auch das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht als Teile des öffentlichen Rechts für notwendig erachtet, um das Zusammenleben auf einer begrenzten Erdfläche insgesamt Rechtsprinzipien zu unterstellen. Er betrachtet es als Aufgabe des Rechts überhaupt, friedliche Verhältnisse auf der Erde zu schaffen: „Die allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung (macht) nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre“ aus.207 Bei der Betrachtung von überstaatlichen Verhältnissen ist jedoch zu beachten, dass auch hier der freie Einzelne weiterhin den Maßstab bilden muss. Denn auch im internationalen bzw. europäischen Bereich bleibt Ausgangspunkt der Mensch. Staatliches Handeln und damit ebenso international-staatliches Handeln muss auf den einzelnen Bürger rückführbar sein. Im Rahmen internationaler Handlungsbezüge ist daher zu untersuchen, ob die Etablierung einer dem Staat übergeordneten Instanz legitim ist, der zum einen Gesetzgebungsbefugnisse zukommen und der zum anderen eine Durchgriffswirkung auf die Freiheitsrechte der einzelnen Staatsbürger zugestanden werden könnte. 206  Kant, 207  Kant,

MdS, Einl. in die Rechtslehre, § B, AB 32. MdS, A 235, B 265.

66 Einleitung

Aufgabe des fünften Teils wird es sein, die Ergebnisse der ersten vier Teile für die Frage nach der Legitimation eines Europäischen Strafrechts fruchtbar zu machen. Es ist hier zu untersuchen, ob die Europäische Union in ihrer jetzigen Form weiterhin den freien Einzelnen zum Ausgang und Ziel ihres Rechts nimmt, oder ob eine Europäisierung des Strafrechts bzw. die Schaffung eines eigenständigen Europäischen Strafrechts nicht notwendig in ein Spannungsverhältnis zu einer freiheitlichen (Straf-)Rechtsbegründung treten müssen. Abschließend sollen Möglichkeiten skizziert werden, wie eine legitime Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts auf europäischer Ebene aussehen könnte.

1. Teil

Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen und ihre Bedeutung für das Strafrecht A. Einleitung Seit der Neuzeit ist das jeweilige Staatsverständnis an das ihm zugrunde liegende Menschenbild gebunden. Je nachdem, wie man den Einzelnen begreift, ändert sich auch die Antwort auf die Frage, wie er im Zusammenhang mit der rechtlich verfassten Ordnung und der auf ihr gegründeten Strafrechtspflege steht. Die Staatskonstitution und die Ausgestaltung des Staates sind daher in besonderem Maße abhängig von der Antwort auf die Frage nach der Natur des Menschen und seinen interpersonalen Bezügen. Dass Freiheit, Staatsbegründung und Strafrecht in einem Zusammenhang stehen und stehen müssen und dass Strafrecht abhängig von dem jeweils vorherrschenden Staatsverständnis war und ist, scheint daher banal.1 Die Eindeutigkeit der Begriffe und ihres Zusammenhangs schwindet jedoch, wenn man sich insbesondere den Ausgangspunkt, den freien einzelnen Menschen näher ansieht. Denn mit seiner Bestimmung steht und fällt der Begriff der freiheitlichen Rechtsverfassung. Schon der Terminus Freiheit wird in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich interpretiert. Unter Freiheit kann unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 1 GG einerseits die allgemeine Handlungsfreiheit verstanden werden: Jeder kann das tun und lassen, was er will, solange er nicht andere dabei verletzt. Freiheit kann auch negativ definiert werden als 1  Vgl. zum Zusammenhang von politischer Verfassung und Strafverfahrensrecht z. B. Kern, Strafverfahrensrecht, 7. Aufl. (1965), S. 2 f.: Das Strafverfahrensrecht „ist (…) – und zwar weit stärker als das Zivilprozessrecht – politisch bedeutsam. Es ist der Niederschlag des allgemeinen Verhältnisses von Individuum und Staat. Infolgedessen wirken die politischen Ideen und Kräfte auch auf die Gestaltung des Strafverfahrens ein. Verschiebungen in den politischen Kräfteverhältnissen führen in der Regel auch zu Änderungen des Strafverfahrensrechts.“ Deutlich auch Exner, Strafverfahrensrecht (1947) S. 3: „Die Strafverfahrensordnung ist ein Politikum. Das erkennt jeder, der die Entwicklung dieses Rechtsgebiets während der letzten 100 Jahre (1947) überblickt.“; S. 7: „Anderer Staat – anderes Strafverfahren“; siehe auch Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. (1981), S. 20 ff.; 53 f. Den Zusammenhang in neuerer Zeit hebt Haas insbesondere für die Zeit der konstitutionellen Monarchie hervor, Strafbegriff (2008), S. 65 ff.

68

1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Unabhängigkeit von Zwang, sei es von staatlichem, sei es von interpersonalem Zwang. Dem EU-Vertrag liegt in Art. 2, der als grundlegendes Ziel der Union die „Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ nennt, schließlich ein engerer Freiheitsbegriff zugrunde. Freiheit wird in diesem Zusammenhang einerseits verstanden als Sicherstellung des freien Personenverkehrs und betrifft damit (nur) die Freizügigkeit des Einzelnen. Andererseits wird der Freiheitsbegriff in den Zusammenhang mit dem der Sicherheit gestellt. Hier wird mit dem Begriff der Freiheit auch die Möglichkeit des einzelnen Bürgers verbunden, „in einem Rechtsraum zu leben, sowie die Gewissheit, dass die Behörden (auf nationaler Ebene, auf Ebene der Union und darüber hinaus) alles in ihrer Macht Stehende tun, um gegen diejenigen vorzugehen, die diese Freiheit nicht anerkennen oder missbrauchen“.2 Freiheit wird insoweit definiert als „Abwesenheit von einer Bedrohung durch Kriminalität“ und knüpft unmittelbar an den Begriff der Sicherheit an.3 Schon diese Unterschiede hinsichtlich der Bestimmung des Freiheitsbegriffs deuten auf die Notwendigkeit hin, sich näher mit ihm und seiner Bedeutung für das Staatsverständnis zu befassen. Auch die schillernden Begriffe des Rechtsstaates und der Demokratie weisen so lange keine Konturen auf, als sie nicht mit dem freien Einzelnen in einen Zusammenhang gestellt werden. Gerade im Rahmen der Begründung eines Europäischen Strafrechts wird immer wieder auf das Demokratiedefizit und die mangelnde Gewaltenteilung in der Europäischen Union hingewiesen, ohne dass diese Begriffe selbst näher bestimmt werden. Die folgende Auswahl der geistesgeschichtlichen Strömungen der Neuzeit und der in ihnen implizierten Begrifflichkeiten soll die Bedeutungen des Freiheitsbegriffs aufzeigen und die damit verbundenen Unterschiede der verschiedenen Staats- und Verfassungsstrukturen sowie deren Basis für die Begründung des Strafrechts herausarbeiten. Einwenden könnte man gegenüber der Notwendigkeit des Aufweises eines ideengeschichtlichen Hintergrundes, der sich mit dem Verhältnis von Staat und Strafrecht befasst, dass im globalen Zeitalter und aufgrund der bestehenden Europäischen Union als supranationaler Ordnung eine genuine Betrachtung des Staats- und Souveränitätsbegriffs nicht „wirklichkeitszugewandt“ sei. Argumente wie die der „Eigenstaatlichkeit“ der Länder oder ähnliche 2  s. Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ABl. 1999, C 19/01, S. 3. Vgl. auch Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 67 Abs. 3 AEUV; s. jetzt auch ingesamt „Das Stockholmer Programm – ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ des Europäischen Rates (2010/C 115/01). 3  Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., (2009), S. 749 (758).



A. Einleitung69

Souveränitätsderivate sollten beiseite treten, um „die notwendigen, komplizierten Verhandlungen über die (Neu)Verteilung der Aufgaben und der zuzuordnenden Kompetenzen in einem (…) zu verwirklichenden Mehrebenensystem“ zu entlasten.4 Eine Betrachtung der Verfassung eines Staates und seiner Strafrechtspflege sei daher „überflüssig“.5 Es sei vielmehr unmittelbar auf eine Begründung einer „transmodernen Theorie des Staates“6 oder auf „postnationale Konstellationen“7 einzugehen. So sei bereits ein Merkmal der su­ pranationalen Gemeinschaft, dass sie über Hoheitsrechte, insbesondere Gesetzgebungskompetenzen und eigene Verwaltungseinrichtungen verfüge. Aus den genannten Gründen scheint es daher überholt, im „alten Staatsdenken“ und seiner Begründung von Strafe gegenüber dem Einzelnen zu verharren. Es wäre unmittelbar auf eine Begründung eines europäischen und damit transnationalen Systems einzugehen, um im Anschluss daran, zur Betrachtung eines europäischen Strafrechts überzugehen. Aber: eine Begründung der Zwangsbefugnis einer – sei es auch einer überstaatlichen – Gewalt verlangt mehr als die bloße Hinnahme empirischer Realitäten. Auch die Institutionen der Europäischen Union müssen gegenüber dem Einzelnen legitimieren können, warum sie in seine Rechte eingreifen dürfen. Das setzt wiederum eine Bestimmung des Verhältnisses vom einzelnen Menschen und rechtlicher Gemeinschaft voraus. Denn auch diejenigen, die die „prinzipielle Allzuständigkeit des ‚Staates‘ “ als „überholte Kategorie“ betiteln, betonen im gleichen Atemzug, dass es auch im Mehr­ ebenensystem erforderlich sein solle, dass „die Verantwortlichkeiten auf allen Ebenen klar und überschaubar geregelt sind und alle Organwalter in einem hinreichenden Maß demokratisch legitimiert sind“.8 Die Frage, wie sich ein solches Mehrebenensystem demokratisch organisieren und legitimieren ließe, wenn sich die einzelnen Ebenen immer weiter vom einzelnen Bürger entfernen, wird indes nicht beantwortet. Denn auch die einzelnen Institutionen der Europäischen Union müssen – ebenso wie die staatlichen – den Grund ihrer Rechtsausübung gegenüber dem Einzelnen angeben können, sollen sie Rechtsmacht und nicht bloße Zwangsherrschaft ausüben. Zudem bestehen auch im Rahmen der Europäischen Union weiterhin die Mitgliedstaaten als Einzelstaaten mit ihren je eigenen Eingriffsbefugnissen, so dass 4  Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S. 1121 (1126). 5  Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S. 1121 (1126). 6  Di Fabio, Das Recht offener Staaten (1998), S. 122 ff. 7  Thiel, Die Europäische Union – eine republikanische Ordnung?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Freistaatlichkeit (2011), S. 245. 8  Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S. 1121 (1126).

70

1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

zunächst der Staatsbegriff selbst zu bestimmen ist, um von ihm ausgehend sein Verhältnis zu anderen überstaatlichen Einrichtungen näher beleuchten zu können. Die Betrachtung der ideengeschichtlichen Wurzeln des modernen Staates und seines Zusammenhangs von freiem Einzelnen, demokratischem Rechtsstaat und dem in ihm realisierten Strafrecht soll daher vor allem der Begriffsklärung dienen und ihre Zusammenhänge aufzeigen. Es kann vorliegend keine umfassende Abhandlung der Ideengeschichte erfolgen, sondern es werden nur einzelne Standpunkte herausgestellt, um in groben Zügen – abrissartig – die Entwicklung einer freiheitlichen Rechtsverfassung und ihre Bedeutung für das Strafrecht herauszuarbeiten. Die folgende Gliederung ist daher auch nicht als eine historische Abfolge zu begreifen, vielmehr stellt sie eine Übersicht über Denkschritte dar. Die rechtsstaatliche Verfassung ist nicht eine, die sich geradlinig fortentwickelt und sich unmittelbar im Anschluss an geistesgeschichtliche Entwicklungen fortgebildet hat, sondern weist Überschneidungen und zugleich immer wieder Brüche auf. Das zeigt deutlich die Zeit des Nationalsozialismus. In ihr wird sichtbar, wie eine verfassungsmäßige Ordnung und das Recht überhaupt entartet, wenn nicht mehr der freie Einzelne, sondern ein vom Machtinhaber bestimmtes „Wohl des Volkes“ im Vordergrund steht. Da dem Begriff der Freiheit in der Zeit des Nationalsozialismus keine Bedeutung zukam, kann er zum ideengeschichtlichen Zusammenhang von freiheitlicher Rechtsverfassung und ihrem Strafrecht nichts beitragen und bleibt daher bei der folgenden Untersuchung unberücksichtigt. Es erfolgt auch keine Darstellung in der Form, dass untersucht wird, inwieweit die Gedanken der einzelnen Philosophen in ihrer Zeit oder danach tatsächlich rezipiert wurden, sondern es soll ein gedanklicher Zusammenhang dargelegt werden. Es geht dabei um Begründungsfragen der Legitimation des Strafrechts und nicht um das Aufdecken historischer Wahrheiten. Bei der Darstellung handelt es sich zudem um eine Auswahl von Einzelautoren und besonderen historischen Gegebenheiten, um die Entwicklungsschritte beispielhaft aufzeigen und analysieren zu können. Dabei zeigt sich auch, dass die Ideengeschichte der Neuzeit nicht vor staatlichen Grenzen Europas Halt gemacht hat, sondern es sich um eine gesamteuropäische Entwicklung handelt, die den freien Einzelnen als Quelle des Rechts ansah. Die Theorien von Hobbes über Locke, Montesquieu, Rousseau bis zu Kant und Hegel zeugen davon. Gleichwohl sind die Entwicklungen in den einzelnen Staaten bedingt durch die kulturellen und gesellschaftlichen Mannigfaltigkeiten unterschiedlich erfolgt. Die vorliegende Darstellung unterteilt dabei die möglichen Antworten der Herrschaftsrechtfertigung nach ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund in drei Teile: den



B. Bedeutung des Inquisitionsprozesses nach dem gemeinen Recht71

aufgeklärten Absolutismus (unter C.), den politischen Liberalismus (unter D.) und die Idee einer demokratischen, freiheitlichen Rechtsverfassung (unter E.). Verbunden werden diese geistesgeschichtlichen Strömungen mit den jeweils zu unterschiedlichen Zeiten tatsächlich herrschenden Staatsformen und ihrem jeweiligen Strafrechtsverständnis, wie der Zeit der absoluten Monarchie, der konstitutionellen Monarchie sowie dem demokratisch-republikanischen Rechtsstaat. Bevor auf die modernen neuzeitlichen Ideen und die mit ihnen verbundenen Reformvorschläge für die Ausgestaltung des Strafrechts eingegangen werden kann, muss zumindest kurz dargelegt werden, warum sie als „neu“ bezeichnet werden können. Im Folgenden ist daher an die Ausgangsbedingungen des gemeinen Rechts und an wesentliche Teile des in ihm verwurzelten Inquisitionsprozesses kurz zu erinnern.

B. Die Bedeutung des Inquisitionsprozesses nach dem gemeinen Recht Das deutsche Strafrecht des gemeinen Rechts war von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts stark von der pein­ lichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Constitutio Criminalis Carolina, CCC) geprägt. Zwar war das Reich in viele Territorialstaaten geteilt, die jeweils ihre eigenen Strafgesetze erließen, jedoch bauten diese Kodifikationen auf den Bestimmungen der CCC auf.9 Dieser lag ein theokratisches Weltbild zugrunde, welches das damalige Denken beherrschte.10 Eine „Missetat“ stellte vor allem eine Sünde gegen Gott dar und verletzte so die gesamte gottgewollte Ordnung.11 Um den Täter und die Gesellschaft mit Gott zu versöhnen, musste die Tat bestraft werden.12 Der wahre Schuldige war zu ermitteln und mit Strafe zu belegen. Der Inquisi­ tionsprozess13 diente dem dargelegten theologischen Strafzweck. Eingeleitet wurde dieser Prozess, von Amts wegen (sog. Offizialmaxime). Der Unter9  Würtenberger,

Das System der Rechtsgüterordnung (1973), S. 91. Carpzov, Peinlicher Sächsischer Inquisitions- und Achtprozess, 1638, Nachdruck (1996), Vorrede, S. 3 ff.; vgl. auch die Ausführungen von Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 68 ff. 11  Vgl. hierzu ausführlich Schild, Alte Gerichtsbarkeit (1980), S. 103 f. 12  Näher Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 68 f. m. w. N. 13  Vgl. näher zum Inquisitionsverfahren nach der Constitutio Criminalis Carolina und dem neben dem Inquisitionsverfahren vorgesehenen Anklageverfahren, Ignor, Geschichte des Strafprozess (2002), S. 60 ff. Vgl. zur Ausgestaltung des Akkusa­ tionsverfahrens Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S. 242 f. sowie zur Entstehung des Inquisitionsverfahrens Trusen, Gelehrtes Recht im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1997), S. 81 ff. 10  Vgl.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

suchungsrichter, der Inquirent, war ein mit umfassenden Befugnissen ausgestattetes Organ der Staatsgewalt, welcher die materielle Wahrheit, d. h. den objektiven Tathergang feststellen sollte.14 Nach Abschluss der Ermittlungen sollte diese Amtsperson entweder selbst eine Entscheidung treffen oder die Akten mit den Untersuchungsergebnissen zur weiteren Entscheidung an einen Spruchkörper leiten, der nach Aktenlage ein Urteil fällte.15 Den Richtern wurde dabei von Rechts wegen ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt und zwar nicht nur hinsichtlich der Würdigung der Feststellung der „Gewissheit der Tat“, d. h. ob tatsächlich ein bestimmtes Verbrechen vorlag „corpus delicti“ (sog. Generalinquisition), sondern auch bei der Eröffnung der Spezialinquisition, in der der Tatbestand des Verbrechens verbunden mit den erforderlichen Beweismitteln ermittelt wurde. Um hier einen hinreichenden Tatverdacht eines bestimmten Verdächtigen feststellen zu können, durfte der Richter neben dem sog. artikulierten Verhör16 auch die Folter des Tatverdächtigen anordnen. Gestand der Verdächtige auf Grund des Verhörs oder der Folter schlüssig die Tat, war seine Schuld bewiesen und es war eine Grundlage für die Verurteilung gegeben.17 Schließlich kam dem Richter auch bei der Verhängung der sog. außerordentlichen Strafe ein weites Ermessen zu. Eine solche konnte zum einen dann verhängt werden, wenn kein hinreichender Beweis vorlag, dennoch aber eine Strafe als angemessen empfunden wurde. Es handelte sich damit praktisch um eine Verdachtsstrafe. Zum anderen konnte sie bei solchen Taten verhängt werden, die zwar nicht in den Gesetzen oder Statuten als Verbrechen behandelt wurden, die aber das erkennende Gericht als strafwürdig erachtete.18 Dem Untersuchungsrichter kam zudem häufig eine dreifache Aufgabe zu: Leitete er von Amts wegen die Untersuchungen ein, war er Ankläger und musste auch die belastenden Momente gegen den Verdächtigen sammeln. Gleichzeitig musste er aber ebenso entlastende Materialien zusammentragen, um eine mögliche Unschuld des Verdächtigen feststellen zu können; 14  Demgegenüber meint formelle Wahrheit diejenige, die sich aus dem ergibt, was die Parteien vortragen, wie es im Zivilprozess der Fall ist. 15  Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch I (1989), S. 110; Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S. 50. 16  Auf der Grundlage der Feststellungen im Rahmen der Generalinquisition wurde ein Fragenkatalog erstellt. Die Fragen und die Antworten des Verdächtigen wurden schriftlich festgehalten. Vgl. näher zur Ausgestaltung des „artikulierten Verhörs“ Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch I (1989), S. 266 f. 17  Vgl. hierzu Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch I (1989), S. 266 f.; vgl. zur Folter Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S. 237 ff. sowie insgesamt Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 98. 18  Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 106  f.; siehe näher zur Entwicklung einer Strafe in Verdachtsfällen Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S.  322 ff.



C. Zeit absoluter Monarchie und die Reformen des Inquisitionsprozesses73

insoweit kam ihm die Aufgabe eines Verteidigers zu. Schließlich konnte er mittelbar oder sogar unmittelbar die Entscheidung über die Schuldfrage treffen. Letztere kam ihm bei einfachen Straftaten zu. Aber auch sein mittelbarer Einfluss hinsichtlich der Schuldfragenfeststellung bei mittleren und schwereren Straftaten war nicht gering. Denn der auswärtige Spruchkörper, der in diesen Fällen zu entscheiden hatte, tat dies allein auf der Grundlage des Akteninhalts, ohne sich ein eigenes Bild vom Beschuldigten oder von Zeugen zu machen. Den Akteninhalt bestimmte der Untersuchungsrichter fast vollständig19 allein, so dass seine Sicht auf den Fall letztlich maßgeblich war.20 Die Ausgestaltung des Verfahrens zeichnete sich insgesamt dadurch aus, dass es bürokratisch, heimlich, schriftlich und nichtöffentlich war. Durch die Trennung von General- und Spezialinquisition war das Verfahren zudem häufig sehr langwierig. Der Verdächtige war hier nicht ein mit Rechten ausgestattetes Prozesssubjekt, sondern Gegenstand des Verfahrens. Dem Inquisit standen kaum wirksame Verteidigungsmittel zur Verfügung. Zum einen durfte erst nach Abschluss der Untersuchung im Rahmen der Spezialinquisition ein Verteidiger die Ermittlungsakten einsehen und eine Verteidigungsschrift einreichen.21 Zum anderen konnte das Untersuchungsverfahren bis zu seinem Abschluss Monate oder Jahre dauern, so dass in dieser Zeit der Verdächtige darauf angewiesen war, dass der Richter selbst auch entlastendes Material zusammentrug. Hinzu kommt, dass das Verfahren für den Verdächtigen häufig undurchsichtig war, da ein bestimmter Tatverdacht dem Inquisit (auch wenn er inhaftiert war) häufig nicht mitgeteilt wurde. Ihm blieb oft verborgen, aufgrund welcher tatsächlichen Umstände und aufgrund welcher rechtlichen Grundlage gegen ihn ermittelt wurde, so dass er kaum Möglichkeiten besaß, sich gegen bestimmte Tatvorwürfe zu verteidigen.22

C. Die Zeit der absoluten Monarchie und die Reformen des Inquisitionsprozesses Im 16. und 17. Jahrhundert brachen Naturwissenschaft und Philosophie die Grenzen des religiösen Geistes auf. Das Denken befreite sich von seinem theozentrischen Weltbild. Die bestehende Rechtswirklichkeit wurde nicht mehr bloß als eine von Gott geschaffene, unveränderliche Ordnung 19  Eine

Ausnahme bildete die sog. Defensionsschrift. Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 155. 21  Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S.  54 m. w. N. 22  Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S. 55. 20  Ignor,

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

angesehen, sondern konnte vom Menschen selbst analysiert, strukturiert und verändert werden.23 Es entwickelte sich dabei zunächst eine Strömung, die den Staat und das Recht wesentlich aus der natürlichen (empirischen) Kons­ titution des Menschen ableitete und aus diesem Verständnis heraus auch eine Reformierung des Strafrechts forderte.

I. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Aufgeklärter Absolutismus – Hobbes und Beccaria Für diese Strömung sollen die staatsphilosophischen Ideen Thomas Hobbes’ als Grundlage dienen. Auch wenn der absolutistische Staat24 des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht gleichsam automatisch die Gestalt des „Leviathan“ angenommen hat und daher nicht mit ihm identifiziert werden kann,25 so zeigt Hobbes deutlich, wie eine Reduzierung des Menschen auf seine empirische Seite notwendig zu einem despotischen Staatsverständnis führen muss. Dieser Ansatz ist für den vorliegenden Zusammenhang deshalb bedeutsam, weil Hobbes seine Staatslehre konsequent aus Prinzipien ableitet, die im einzelnen Menschen gründen. Ausgangs- und Bezugspunkt für Recht und Gesetzgebung überhaupt ist der Einzelne selbst.26 Hobbes legitimiert den Staat nicht mehr theokratisch, sondern entwickelt ihn rational aus der Natur des Menschen, die sich dadurch auszeichnet, dass der Einzelne einerseits seiner Sehnsucht nach Glückseligkeit unterworfen ist, andererseits aber auch nach Friedenssicherung strebt. Die Menschen selbst sind in der Lage, aus einem kriegerischen Naturzustand herauszutreten.27 Der Begriff des Naturoder Kriegszustandes ist dabei nicht historisch zu begreifen, sondern stellt 23  In der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ kennzeichnet Kant diesen Perspektivenwechsel für die Erkenntnisphilosophie wie folgt: „Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ“, B XVI. 24  Vgl. zur Problematik der Begriffe „Absolutismus“ bzw. „Aufgeklärter Absolutismus“ als Epochenbegriffe, Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. (2009), § 23 I. (S. 161 f.); Baumgart, Absolutismus ein Mythos? Aufgeklärter Absolutismus ein Widerspruch?, in: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S.  573 ff. 25  Vgl. hierzu auch Bermbach/Kodalle, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Furcht und Freiheit (1982), S. 12 (13 f.). 26  Kersting bezeichnet Hobbes’ politische Philosophie als „Geburtsort des modernen, atomistischen, von allem freien und absolut souveränen Individuums“, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Leviathan (1996), S. 9 (16). 27  Leviathan, S. 98.



C. Zeit absoluter Monarchie und die Reformen des Inquisitionsprozesses75

eine Denkkonstruktion dar, mit der aufgezeigt werden soll, warum und wie sich der Staat zu konstituieren hat.28 1. Hobbes’ Staats- und Strafverständnis Handlungsbestimmend für den Menschen ist nach Hobbes das fortwährende Streben nach materieller Glückseligkeit verbunden mit der Selbsterhaltung. Dieses Streben „ist ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstandes nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand führt. Der Grund hierfür liegt darin, dass es Gegenstand menschlichen Verlangens ist, nicht nur einmal und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu genießen, sondern sicherzustellen, dass einem zukünftigen Verlangen nichts im Wege steht. Und deshalb gehen die willentlichen Handlungen und Neigungen aller Menschen nicht nur darauf aus, sich ein zufriedenes Leben zu verschaffen, sondern auch darauf, es zu sichern“.29 Der Trieb des Einzelnen, seine eigene Glückseligkeit zu erreichen, führt dazu, dass er nach immer mehr Macht strebe.30 Hierbei konkurrierten die Menschen untereinander, so dass es zu „Streit, Feindschaft und Krieg“ komme. Solange die Menschen ohne eine, „sie alle im Zaum haltende Macht“ lebten, befänden sie sich in einem Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden.31 Folge des Krieges sei es, dass es Eigentum oder Herrschaft nicht geben könne. Denn diese seien alle zeitlich insoweit bedingt, als sie nur so lange währten, wie es der Einzelne intersubjektiv zu behaupten vermöge. Auch Begriffe wie Recht und Unrecht, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit seien nicht existent, da es keine allgemeine Macht gäbe, die sie bestimmen könnte.32 Im Kriegszustand habe vielmehr „jedermann ein Recht auf alles (…), selbst auf den Körper eines anderen“. Jeder habe die Freiheit, das zu tun oder zu unterlassen, was er nach seiner Beurteilung für seine Selbsterhaltung, für sein Leben als notwendig ansehe. Diese Freiheit sei jedoch ohne eine sie be28  Damit soll freilich nicht geleugnet werden, dass Hobbes’ Staatsphilosophie durch die realen politischen Verhältnisse in England beeinflusst wurde, insbesondere durch den konfessionellen Bürgerkrieg. Vgl. hierzu näher Höffe, Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?, in: Bermbach/Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit (1982), S. 30 (31 ff.). Es ging Hobbes aber nicht darum, die gegebenen politischen Verhältnisse darzustellen, sondern um eine prinzipielle Friedenssicherung und damit um die Frage von Herrschafts- bzw. Staatslegitimation überhaupt. Siehe Höffe, a. a. O., S.  34 ff. 29  Leviathan, S. 75. 30  Ebenda. 31  Leviathan, S. 96. 32  Leviathan, S. 98.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

grenzende Macht ein Zustand größter Unsicherheit:33 Wenn „zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in der Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuss ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen“.34 Im Naturzustand gebe es daher eigentlich keine „Rechte“, weil alle ein Recht auf alles hätten. Da aber jeder das gleiche „Recht“ auf alles beanspruchen könne, sei es in sich nichtig. Die Leidenschaft des Menschen, nach seiner Glückseligkeit zu streben, führe nach Hobbes aber ebenso dazu, dass der Einzelne ein Bedürfnis nach einem „angenehmen Leben und sinnlichen Vergnügungen“ habe, das ihn dazu bewege, einer allgemeinen Macht zu gehorchen. Im Kriegszustand lebe er in der ständigen Furcht vor dem Tode.35 Die Vernunft der Menschen sei es schließlich, die ihm „die geeigneten Grundsätze des Friedens nahe (legt), auf Grund derer die Menschen zur Übereinstimmung gebracht werden können“.36 Allerdings genüge dafür nicht ein interpersonaler Vertrag, in dem sich jeder verpflichte, auf einen Teil seiner Freiheit zu verzichten. Denn auch dann bestehe weiterhin die Unsicherheit und Furcht, ob dieses Versprechen auch eingehalten werde. „Die bloße Übereinstimmung oder das Übereinkommen zu einer Verbindung ohne Begründung einer gemeinsamen Macht, welche die einzelnen durch Furcht vor Strafe leitet, genügt daher nicht für die Sicherheit, welche zur Übung der natürlichen Gerechtigkeit nötig ist.“37 Erst die Konstitution eines Staates bewirke eine Friedenssicherung, da nur in ihm die Einzelnen zur Erhaltung der Verträge gezwungen werden könnten, so dass es erst in ihm auch wirkliches Eigentum gebe: Die „Gültigkeit von Verträgen beginnt erst mit der Errichtung einer bürgerlichen Gewalt, die dazu ausreicht, die Menschen zu ihrer Einhaltung zu zwingen, und mit diesem Zeitpunkt beginnt auch das Eigentum“.38 Die Menschen müssten daher „ihre gesamte Macht und Stärke auf einen (…) Willen reduzieren.“39 Diese „zu einer Person vereinte Menge“ sei der Staat. „Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt (…) höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan.“40 Das gesamte Recht im Staat wird demnach vom Souverän bestimmt, dem sich alle anderen unterzuordnen haben. Von Bedeutung ist, 33  Leviathan,

S. 99. S. 95. 35  Leviathan, S. 76 und 98. 36  Leviathan, S. 98. 37  De Cive, S. 127. 38  Leviathan, S. 111. 39  Leviathan, S. 134. 40  Leviathan, S. 135. 34  Leviathan,



C. Zeit absoluter Monarchie und die Reformen des Inquisitionsprozesses77

dass der Vertrag zwischen den Bürgern zugunsten des Souveräns geschlossen wird. Die Vertragsgestalt stimmt insofern mit der „individualistischen Konfliktstruktur des Naturzustandes“ überein.41 Der Souverän ist nicht Vertragspartei und auch nicht an den Vertrag gebunden. Der Souverän steht als höchste Gewalt außerhalb des Vertrages. Er ist als unabhängiger Dritter für die Friedenssicherung zuständig. Der Leviathan ist Ausgangspunkt und zugleich Ziel des Einzelstrebens nach freier Selbsterhaltung. Hobbes wechselt mit Abschluss des Vertragsschlusses zum Staat die Perspektive bedingt durch die Sicherungsfunktion des Staates: Während im Naturzustand die freien, aber sich eben auch gegenseitig stets bedrohenden Einzelnen den Ausgangspunkt bildeten, ist im Staat alleiniger Maßstab die Setzung des Rechts durch den Herrscher42. Die Freiheit der Menschen existiert nur dort, wo die Gesetze schweigen: „Die Freiheit der Untertanen ist auf die Dinge beschränkt, die der Souverän bei der Regelung ihrer Handlungen freigestellt hat“.43 Die Legitimation von Gesetzen ergibt sich durch ihren formellen Erlass seitens des Souveräns.44 Um die Allmacht des Herrschers und damit den Staatszustand zu erhalten, lässt Hobbes keine Gewaltenteilung zu: Die souveräne Gewalt könne nicht teilbar sein, da sich die unterschiedlichen Gewalten selbst „zerstören“ würden.45 Dem Herrscher komme damit das alleinige Entscheidungsrecht auch über Recht und Unrecht zwischen Bürgern zu, ihm komme damit auch das Recht zu strafen zu. Denn er bestimme insgesamt das Verhältnis der Einzelnen zueinander und zum Staat ebenso wie das Verhältnis zu anderen Staaten. Er entschließe über Krieg und Frieden.46 Dabei sei der Souverän selbst nicht an die positiven Gesetze gebunden. Denn der Vertragsschluss erfolge gerade nicht zwischen den Bürgern und dem Souverän, sondern die Bürger schlössen nur untereinander den Vertrag, in dem sie ihre Rechte auf den Souverän übertrügen.47 Sie verzichteten damit auf ihr „Selbstregierungsrecht“.48 41  Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, in: ders. (Hrsg.), Thomas Hobbes. Leviathan (1996), S. 211 (214). 42  Dabei muss der Begriff des Herrschers nicht auf eine Person reduziert sein, sondern kann ebenso eine Versammlung von Menschen sein; Hobbes, Leviathan, S. 136, 145. 43  Leviathan, S. 165. 44  Insoweit wird Hobbes auch als „Ahnvater des modernen Gesetzespositivismus“ bezeichnet. Vgl. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (2011), S. 197. 45  Leviathan, S. 248. 46  Hobbes, Leviathan, S. 139 ff.; vgl. hierzu Schottky, Untersuchungen zur Geschichte (1995), S. 11; Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, in: ders. (Hrsg.), Thomas Hobbes. Leviathan (1996), S. 211 (216 ff.). 47  Hobbes, Leviathan, S. 136 ff. 48  Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, in: ders. (Hrsg.), Thomas Hobbes. Leviathan (1996), S. 211 (218, 221).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Aus dem Zweck der Errichtung des Souveräns ergibt sich zugleich auch die Aufgabe und die Grenze desselben. Der Staat wurde errichtet, um das im Naturzustand konflikthafte und ungeordnete menschliche Zusammenleben durch eine institutionelle Friedensordnung zu ersetzen. Er hat somit die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten.49 Der Begriff der Sicherheit wird von Hobbes allerdings nicht nur auf die Erhaltung des Lebens bezogen, sondern auch auf „alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt“.50 Die Funktion des Souveräns beschränkt sich damit nicht auf den Schutz vor äußeren Lebensgefahren, sondern umfasst zum einen auch „eine allgemeine Vorsorge in Form von öffentlicher Unterrichtung durch Lehre und Beispiel und durch Erlass und Durchführung guter Gesetze, nach denen die einzelnen ihre eigenen Angelegenheiten einrichten können“.51 Zum anderen kommt dem Souverän eine Fürsorgepflicht zu: „Unter dem Wohle ist nicht bloß die notdürftige Erhaltung des Lebens irgendwie, sondern ein möglichst glückliches Leben zu verstehen. Denn die Menschen haben sich nur deshalb aus freien Stücken zu einem institutiven Staate verbunden, um so angenehm zu leben, als es die menschliche Wesensart gestattet.“52 Die Reichweite der Freiheit des Einzelnen bestimmt sich im Staat dann nach dessen Zweck, sich zu erhalten und das Gemeinwohl zu fördern: „Das Maß für die Freiheit ist aus dem Wohle der Bürger und des Staates zu entnehmen.“53 Bei der Erfüllung seiner Aufgaben ist die Gewalt des Souveräns grundsätzlich grenzenlos, solange er seine Aufgabe, insbesondere das Leben der Bürger nach innen und außen zu schützen, erfülle. Die Vertragsgrundlage geht nach Hobbes jedoch verloren, wenn der Souverän seiner Schutz- und Friedenspflicht nicht mehr nachkommt. Die Gehorsamspflicht der Bürger entfalle dann; nur insoweit komme diesem eine Art Widerstandsmöglichkeit zu.54 Ebenso wie die Staatslegitimation löst Hobbes auch die Straflegitimation von einem theokratischen Verständnis.55 Steht die Staatskonstitution funktional mit dem Selbsterhalt des Einzelnen in Verbindung, muss auch die Strafe im Dienste dieser Funktion stehen: „Eine Strafe ist ein Übel, das die 49  Hobbes,

Leviathan, S. 255. Leviathan, S. 255. 51  Hobbes, Leviathan, S. 255. 52  Hobbes, De Cive, S.  205  f. Hierzu auch Willms, Thomas Hobbes (1987), S. 175. 53  Hobbes, De Cive, S. 214. 54  Vgl. zu diesem Punkt näher Höffe, Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?, in: Bermbach/Kodalle (Hrsg.), Furcht und Freiheit (1982), S. 30 (51). 55  Vgl. hierzu näher Hüning, Naturrecht und Strafgewalt, in: ders. (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, (2005), S. 235 (238). 50  Hobbes,



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öffentliche Autorität demjenigen auferlegt, der getan oder unterlassen hat, was diese Autorität als Gesetzesübertretung beurteilt, und zwar zu dem Zweck, den menschlichen Willen zum Gehorsam anzuhalten.“56 Die Strafe wird damit präventiv verstanden: Als Übelszufügung dient sie in erster Linie der Abschreckung des Täters und nicht mehr wie nach der traditionellen theokratischen Strafauffassung der Versöhnung Gottes mit dem Täter oder der Rettung des Seelenheils des Täters. Es müssen „so hohe Strafen für die einzelnen festgesetzt werden, dass aus ihrer Begehung augenscheinlich ein größeres Übel als aus ihrer Unterlassung folgt. Denn alle Menschen wählen mit Naturnotwendigkeit, was ihnen als ein Gut für sie selbst erscheint.“57 Um eine solche Abschreckung zu erreichen, sei es notwendig, dass die Strafen nicht nur angedroht, sondern auch tatsächlich vollstreckt werden, denn nur dann werde die Furcht der Menschen vor Strafen erreicht.58 Die Strafe hat nach Hobbes zudem einen spezialpräventiven Zweck, nämlich „den Täter oder andere durch sein Beispiel zu bessern, so sind die strengsten Strafen für die Verbrechen zu verhängen, die für die Öffentlichkeit am gefährlichsten sind“,59 um die Friedenssicherung zu realisieren. Voraussetzung für die Verhängung der Strafe müsse die Feststellung einer Gesetzesübertretung sein.60 Es bedarf damit nach Hobbes eines gesetzlich bestimmten Straftatbestandes verbunden mit der Androhung einer bestimmten Strafe. Aus diesem Grunde wird Hobbes zum Teil auch – wenn auch nicht unbestritten – als Begründer des Gesetzespositivismus und des Satzes „nulla poena sine lege“ betrachtet.61 Dadurch, dass aber keine Gewaltenteilung existiert, ist der Souverän ebenso zuständig für die Gesetzgebung wie für die Erkennung von Strafen und deren Vollzug: Die Willkür des Souveräns hinsichtlich der Gesetzgebung ist nur insoweit eingeschränkt, als er dafür sorgen muss, dass angemessene Strafen angedroht und verhängt werden. 56  Leviathan,

S. 237. Cive, S. 133, ebenso S. 215. 58  De Cive, S. 216. 59  Leviathan, S. 265. 60  Von Bedeutung ist dabei auch, dass sich die Gesetze und damit auch der Machtbereich des Souveräns auf die äußeren Handlungssphären und nicht auf die Innerlichkeit beziehen. Daher können religiöse oder bloße Moralvorstellungen sowie überhaupt innere Überzeugungen nicht Gegenstand der strafrechtlichen Zwangsgewalt sein. Vgl. hierzu näher Hüning, in: ders. (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan (2005), S. 235 (238 ff.); Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, in: ders. (Hrsg.), Thomas Hobbes. Leviathan (1996), S. 211 (230). 61  C. Schmitt, Leviathan, 1938 (Nachdruck 1982), S. 115 f.; Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (2011), S. 197 f.; einschränkend demgegenüber Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 39 ff. In die lateinischen Formeln „nulla poena sine lege“ und „nullum crimen sine poena legali“ gebracht hat sie Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts, 1801, § 24. 57  De

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Die Angemessenheit der Strafe richtet sich nach dem allgemeinen Wohl. Der Souverän darf „bei der Festsetzung der Vollstreckung der Strafen nicht das vergangene Übel“ im Blick haben, sondern muss „das zukünftige Gute beachten“, welches sich am allgemeinen Wohl orientiert.62 Zweck der Strafe ist es, die Untertanen zum gesetzmäßigem Handeln zu motivieren, den Täter zu bessern und damit das Recht für die Zukunft zu sichern. Aus diesem Grund dürfe auch nur der Schuldige bestraft werden, da der Strafzweck, das Wohl des Staates zu fördern, mit der Bestrafung eines Unschuldigen nicht erreicht werde.63 Auch wenn der Herrscher nach Hobbes selbst nicht unmittelbar als Richter die Strafen ausspricht, so setzt er die Richter ein und muss dafür Sorge tragen, dass diese ihre Geschäfte ordentlich tätigen. Er ist ihnen gegenüber weisungsbefugt und kann auch „außerordentliche Richter“ ernennen, um „die Amtsführung der ordentlichen Richter zu untersuchen“.64 Die herausgehobene Stellung und Macht des Souveräns spiegelt sich nach Hobbes gerade im Recht zu strafen wider: „Wenn es somit für die Sicherheit der einzelnen und mithin für den gemeinen Frieden notwendig ist, dass das Schwert der Gerechtigkeit zum Vollzuge von Strafen einem einzelnen Menschen oder einer Versammlung übertragen werde, so gilt dieser Mensch oder diese Versammlung notwendig als berechtigter Inhaber der höchsten Staatsgewalt. Denn wer Strafen nach seinem Ermessen mit Recht auferlegen kann, vermag mit Recht alle zu allem nach seinem Willen zu zwingen, und eine größere Herrschaft kann man sich nicht denken“.65 Grundlegende Aussagen zum Strafverfahren macht Hobbes nicht. Er weist nur kritisch auf einige Seiten des geltenden Strafverfahrens in „De Cive“ und im „Leviathan“ hin. So spricht er sich gegen die Folter und auch für ein Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten und naher Angehöriger aus, allerdings nicht aus Humanitätsgründen, sondern aus funktionalen Überlegungen: Die Folter und Aussagen naher Angehöriger seien nicht in der Lage, das Ziel der Wahrheitserforschung zu erreichen. Es kann „niemand durch irgendeinen Vertrag verpflichtet werden, sich selbst oder einen anderen anzuklagen, dessen Verurteilung ihm das Leben verbittern würde. Deshalb braucht der Vater nicht gegen seinen Sohn, der Ehegatte nicht gegen seinen Ehegatten, der Sohn nicht gegen seinen Vater, noch jemand gegen seinen Ernährer ein Zeugnis abzulegen; denn ein Zeugnis hat keinen Wert, das von Natur als verfälscht angesehen werden muss.“66 Zur Folter 62  De

Cive, S. 215. Leviathan, S. 242. 64  De Cive, S. 216. 65  De Cive, S. 134. 66  De Cive, S. 95 f. 63  Hobbes,



C. Zeit absoluter Monarchie und die Reformen des Inquisitionsprozesses81

führt Hobbes im Leviathan aus: „Auch Anklagen, die auf Folter beruhen, können nicht als Zeugnis anerkannt werden (…). Denn ob sich der Gefolterte durch eine wahre oder falsche Anklage von der Folter befreit – er tut dies auf Grund des Rechts, sein Leben zu erhalten.“67 Nicht aus Mitleid mit dem Gefolterten, sondern aus reinen Zweckmäßigkeitserwägungen spricht sich Hobbes damit gegen die Folter aus. Aufgabe des Strafprozesses ist es, die materielle Wahrheit zu erforschen und damit die Tatsachengrundlage für eine Verurteilung zu schaffen. Die Folter sei dazu aber gerade nicht in der Lage.68 Zusammenfassend ist Aufgabe des Staates nach Hobbes in erster Linie die Friedenssicherung. Auf dieser beruht auch die unbegrenzte Macht des Herrschers im Staat. Ihm obliegt es, die Bürger zu zähmen. Der Zweck der Strafe und des Strafverfahrens richten sich ebenso danach. Die Strafe dient der Abschreckung und der Besserung des Täters und insofern der allgemeinen Sicherheit und dem Gemeinwohl. 2. Die Bedeutung des Strafzwecks der Abschreckung für das Strafverfahren nach Beccaria und seine Forderung nach Reformen des Strafverfahrens Hobbes hat nicht näher ausgeführt, welche Bedeutung der Zweck der Strafe für das Strafverfahren hat. Anknüpfend an die neuzeitlichen Ideen der Naturrechtsdenker und ihrer Strafbegründung hat Cesare Beccaria in seinem Werk „Über Verbrechen und Strafe“ von 1764 den Strafzweck der Abschreckung für die Ausgestaltung des Strafverfahrens fruchtbar gemacht. Er selbst hat zwar nicht eine ausgearbeitete staatstheoretische oder staatsphilosophische Lehre verfasst und daraus ein Strafrechtssystem abgeleitet; das Erkenntnisinteresse an seinem Werk liegt aber darin, dass er aus einer kritischen Betrachtung des Strafverfahrens seiner Zeit in Verbindung mit den Ideen der theoretischen Schriften des englischen Empirismus des 17. Jahrhunderts sowie den Lehren der französischen Aufklärung, wenn auch keine systematische Ausarbeitung einer neuen Strafgesetzgebung, so doch praktische Folgerungen für die Reform des Strafverfahrens aufgewiesen hat.69 Die Forderung Beccarias nach Reformen des Inquisitionsverfah67  Leviathan,

S.  107 f. zu einzelnen Aspekten des Strafverfahrens bei Hobbes Hüning, Naturrecht und Strafgewalt, in: ders. (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan (2005), S. 235 (262). 69  Vgl. hierzu Deimling, Cesare Beccaria: Werk und Wirkung, in: ders. (Hrsg.), Cesare Beccaria (1989), S. 11 (30) sowie Reuter, Die Ansichten des Marchese von Beccaria, in: Deimling (Hrsg.), Cesare Beccaria (1989), S. 55 (62). 68  Vgl.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

rens steht mit seiner Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag und der funktionalen Aufgabe des Strafrechts in einem unmittelbaren Zusammenhang. Seine Reformforderungen basieren dabei weniger – wie auch bei Hobbes – auf humanitären Überlegungen, sondern eher auf Nützlichkeitserwägungen.70 Die Hauptaufgabe des Strafverfahrens sieht er darin, die Strafverfolgung effizient zu gestalten. Bei Vorliegen eines Verbrechens müsse unverzüglich und unausweichlich eine Bestrafung erfolgen, um das Ziel der Abschreckung zu erreichen: „Eines der wirksamsten Mittel, die Verbrechen einzuschränken, ist nicht die Grausamkeit, sondern die Unausbleiblichkeit der Strafen und folglich die Wachsamkeit der Behörden, sowie jene Strenge eines unerbittlichen Richters, die, um eine nützliche Tugend zu sein, von einer milden Gesetzgebung begleitet sein muss. Die Gewissheit einer, wenn auch mäßigen Bestrafung macht einen größeren Eindruck als die Furcht vor einer viel schrecklicheren, die aber mit der Hoffnung auf Straflosigkeit gepaart ist.“71 Aus der Unverzüglichkeit und Unausweichlichkeit der Strafe bei Vorliegen einer Unrechtstat ergibt sich auch Beccarias Kritik am bisherigen Strafverfahren und seine Forderung nach Reformen.72 Beccaria stellt für die Begründung des Gesellschaftsvertrages ebenso auf die empirische Seite des menschlichen Handelns ab wie Hobbes, auch wenn Beccaria sich nicht ausdrücklich auf diesen bezieht, sondern vielmehr an Montesquieu und Rousseau anknüpft. Ziel des natürlichen menschlichen Strebens ist ein „möglichst großer Wohlstand, dessen sich möglichst viele erfreuen“73. Die Menschen geben nicht aus „freien Stücken“ einen Teil ihrer Freiheit aus Rücksicht auf das Gemeinwohl auf. Sie machen dies nur, um in Sicherheit und Ruhe ihre Freiheit zu genießen und nicht im „fortgesetzten Kriegszustand“ leben zu müssen.74 „Die Summe aller jener dem Wohle jedes einzelnen geopferten Freiheitsteile bildet die Souveränität einer Nation und der Souverän ist ihr gesetzmäßiger Hüter und Verwalter.“75 Allerdings gebe der Mensch – anders als nach Hobbes – nur einen kleinen Teil seiner natürlichen Freiheit für die Gesamtheit auf und trete nicht seine gesamte Freiheit an den Souverän ab: „(E)s ist daher gewiss, dass der einzelne zu dem Gesamtgut nur den kleinstmöglichen Teil beisteuern will, eben nur so viel als hinreicht, um die anderen zu seiner Verteidigung zu veranlassen“.76 70  s. hierzu näher Kindhäuser, „Wie man Verbrechen vorbeugt“, in: FS-Roxin, Bd. 1 (2011), S. 39 ff. 71  Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § XX; vgl. ebd. § XIX. 72  Vgl. hierzu Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 195 f. 73  Beccaria, a. a. O., S.  66. 74  Beccaria, a. a. O., § 2, S. 69. 75  Beccaria, a. a. O., § 2, S. 69. 76  Beccaria, a.  a. O., § 2, S. 69 f. Vgl. hierzu auch Reuter, Die Ansichten des Marchese von Beccaria, in: Deimling (Hrsg.), Cesare Beccaria (1989), S. 55 (62).



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Da die Menschen mit ihrem „despotischen Sinn“ danach strebten, immer mehr zu bekommen als ihnen zustehe, bedürfe es „fühlbarer Beweggründe“, die sie davon abhielten. „Diese fühlbaren Beweggründe sind die gegen die Übertreter festgesetzten Strafen. (…) Weder Beredsamkeit noch Vorträge, und am wenigsten die erhabensten Wahrheiten reichen hin, um für längere Zeit durch die lebhaften Eindrücke der gegenwärtigen Dinge hervorgerufenen Leidenschaften im Zaum zu halten.“77 Aufgabe der Strafgesetze ist demnach die Abschreckung von potentiellen Tätern, um die Sicherheit und das öffentliche Wohl zu erhalten. Danach muss sich auch das Maß der Strafe richten, soll es eine gerechte Strafe des Souveräns gegenüber seinen Untertanen sein.78 Anders als Hobbes betont Beccaria anknüpfend an Montesquieu, dass die Strafgesetzgebung, die durch den Souverän erfolgt, von der Rechtsprechung zu trennen ist: Es bedarf eines unbeteiligten Dritten, der darüber entscheidet, ob tatsächlich eine Verletzung des Gesellschaftsvertrages vorliege oder nicht.79 Aufgrund der strikten Trennung von Gesetzgebung und Rechtsprechung und um den weiten Ermessensspielraum der Richter zu begegnen, dürften diese die Gesetze nur anwenden und nicht auslegen. Denn ansonsten wäre der „Unsicherheit Tür und Tor geöffnet“. Aufgabe des Richters sei es, einen Vernunftschluss aufzustellen: „(D)en Obersatz bildet das allgemeine Gesetz, den Untersatz die Handlung, die dem Gesetz entspricht oder nicht, den Schlusssatz die Freiheit oder Strafe. Z. B. Obersatz: Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit dem Tode bestraft. Untersatz: X hat einen Menschen vorsätzlich getötet. Schlusssatz: X wird mit dem Tode bestraft.“80 Um Rechtssicherheit zu gewährleisten und um dem praktizierten strafrechtlichen Gewohnheitsrecht zu begegnen, dürfe es daher allein Aufgabe der Richter sein, dem Buchstaben der Gesetze zu folgen, um festzustellen, ob Unrecht vorliege oder nicht. Die Bestimmtheit der Strafgesetze81 ist für Beccaria auch insofern von Bedeutung, als seines Erachtens der Begehung eines Verbrechens eine Kosten-NutzenAnalyse vorausgehe: „Nur durch solche (im Wortlaut genau bestimmte, Anm. B. N.) Gesetze erlangen die Bürger die Sicherheit der eigenen Person; diese entspricht der Gerechtigkeit, da sie der Zweck ist, weswegen die 77  Beccaria,

a. a. O., § 2, S. 69. a. a. O., § 2, S. 70. 79  Beccaria, a. a. O., § 3, S. 71. 80  Beccaria, a. a. O., § 4, S. 72 m. Fn. ***. 81  Beccaria führt nicht näher aus, was er konkret unter dem Begriff der „Gesetze“ versteht. Allerdings kann vermutet werden, dass auch P. J. A. Feuerbach, der in seinem Lehrbuch zum peinlichen Recht von 1801 die Grundsätze „nulla poena sine lege“ und „nullum crimen sine poena legali“ (§ 24) formuliert hat, jedenfalls von Beccarias Ideen beeinflusst wurde. So auch Reuter, Die Ansichten des Marchese von Beccaria, in: Deimling (Hrsg.), Cesare Beccaria (1989), S. 55 (65). Vgl. zur Lehre Feuerbachs die Ausführungen unter IV. 3. 78  Beccaria,

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Menschen sich zur Gesellschaft zusammenschlossen, und sie ist auch nützlich, da sie sie in den Stand setzt, die Nachteile einer Missetat genau zu berechnen.“82 Aus dem Gesichtspunkt der Abschreckung der Strafgesetze, Verbrechen zu begehen, ergibt sich nach Beccaria – ebenso wie bei Hobbes – die Notwendigkeit der Bestrafung beim Vorliegen eines Verbrechens. Denn nur dann könne auch der „Kostenfaktor“ ernsthaft angebracht werden. Beccaria spricht sich daher vehement sowohl gegen bestehende Asylmöglichkeiten (sog. Freistätten) als auch gegen Begnadigungen aus.83 Durch eine Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens solle schließlich das Strafverfahren effizienter gestaltet werden. Denn die Wirksamkeit des Strafzwecks der Abschreckung sei nur dann gegeben, wenn dem Verbrechen die Strafe auf den Fuß folge. „(J)e kürzer der Zeitraum ist, der zwischen der Strafe und der Missetat verfließt, desto fester und dauerhafter (ist) die Verbindung der beiden Vorstellungen ‚Verbrechen‘ und ‚Strafe‘ in dem menschlichen Geiste“.84 Eine rasche Verurteilung sei auch „gerechter“. Denn die im Verfahren und vor einer Verurteilung bestehende Ungewissheit des Tatverdächtigen zermürbe diesen. Hinzu komme die lange Dauer der Untersuchungshaft, die deshalb ungerecht sei, weil sie als Entziehung der Freiheit gewissermaßen eine Strafe vor der Verurteilung darstelle, obwohl sie in einem Stadium verhängt werde, in dem die Schuld des Verdächtigen noch gar nicht feststehe. Die durch die Untersuchungshaft bedingten Beschränkungen dürften daher nur so weit gehen als sie notwendig seien, um die Flucht und die Verschleppung von Beweismitteln zu unterbinden.85 Auch sollten insbesondere leichtere Verbrechen öffentlich bestraft werden, um die Abschreckungswirkung zu erreichen. Denn die leichteren Taten stünden dem menschlichen Gemüt näher und würden daher durch den Eindruck der Bestrafung andere von diesen abhalten und abschrecken.86 Beccaria spricht sich ebenso wie Hobbes gegen den Einsatz der Folter aus. Er hält diese für die Ermittlung der materiellen Wahrheit für sinnlos. Sie stelle nur eine kontraproduktive Grausamkeit gegenüber dem Verdäch82  Beccaria, a. a. O., § 4, S. 74; vgl. auch deutlich Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen, 2. Buch, Kapitel 7, § 3: „Erforderlich sind (…) Furcht vor Strafe und die Möglichkeit, sie durchzusetzen. Damit die Strafe dieses Ziel erreicht, muss sie so beschaffen sein, dass die Verletzung des Gesetzes in für alle sichtbarer Weise größeres Übel nach sich zieht als seine Befolgung. Daher muss die Härte der Strafe größer sein als das Vergnügen oder der Gewinn, die sich aus dem Unrecht ziehen oder erhoffen lassen.“ 83  Beccaria, a. a. O., §§ 20, 21; vgl. hierzu Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S.  196 f. 84  Beccaria, a. a. O., § 19, S. 119. 85  Beccaria, a. a. O., § 19, S. 119. 86  Beccaria, a. a. O., § 19, S. 121.



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tigen dar, der möglicherweise auch unschuldig sein könne. Denn gerade der „für den Schmerz empfindliche Unschuldige wird sich dann als schuldig bekennen, wenn er hierdurch das Ende seiner Martern herbeiführen zu können glaubt. Jeder Unterschied zwischen dem Schuldigen und Unschuldigen verschwindet gerade durch das Mittel, das man zu seiner Auffindung angewendet zu haben behauptet.“87 Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass mit dem Strafzweck der Abschreckung zur Sicherung des Gemeinwohls dem Strafverfahren die Aufgabe zukommen muss, für diesen Zweck nützlich zu sein, d. h. es muss effizient gestaltet sein und es muss tatsächlich der Schuldige bestraft werden. Aus diesem Gesichtspunkt heraus sind auch die Forderungen Beccarias nach Reformen hinsichtlich der Ausgestaltung des Inquisitionsprozesses zu begreifen. Eine Abschreckungswirkung lässt sich nur dann wirksam erreichen, wenn beim Vorliegen eines Verbrechens unverzüglich und unausweichlich die Bestrafung des tatsächlich Schuldigen folgt. Aus diesem Grunde dürfte auch „nicht eine Spanne Landes zu finden“ sein, „wo wirkliche Verbrechen straflos blieben“. Mit diesen Forderungen verbunden ist eine Loslösung des Strafverständnisses von jeder theologischen Vorstellung der Strafe hin zu einem weltlichen Strafverständnis.88 Beccaria hat dies wie folgt (wenn auch vorsichtig) deutlich gemacht: Während es „Sache der Theologen ist (…), die Begriffe von Recht und Unrecht festzustellen, soweit die innere Schlechtigkeit und Güte in Betracht kommt“, sei es Aufgabe des „politischen Schriftstellers“ die „Beziehungen des politischen Rechts zu dem politischen Unrecht, d. h. zu dem der Gesellschaft Nützlichen oder Schädlichen“ festzustellen.89 Mit der Kritik an der langen Dauer der Untersuchungshaft verbunden mit der Ungewissheit des Verfahrensausgangs für den Verdächtigen sowie der Kritik an der Folter verbindet Beccaria schließlich auch die Notwendigkeit der stärkeren Einbindung der Persönlichkeit des Betroffenen in die Ausgestaltung des Strafverfahrens.

II. Die Zeit der absoluten Monarchie und ihr Strafrecht: Zur Entwicklung des Strafrechts in Preußen Es wurde bereits erwähnt, dass die absolute Monarchie und auch ihr Straf- und Strafverfahrensrecht nicht die unmittelbare Umsetzung der Idee des Leviathans waren. Die Hobbes’ sche Verbindung von Individualismus 87  Beccaria, a. a. O., § 12, S. 91. Vgl. hierzu auch Ambos, Cesare Beccaria und die Folter, in: ZStW 122 (2010), 504 (513 ff.). 88  s. a. Ambos, Cesare Beccaria und die Folter, in: ZStW 122 (2010), 504 (510 f., 515). 89  Beccaria, a. a. O., An den Leser, S. 64.

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und Staatsabsolutismus ist aber historisch insofern von Interesse, als auch in der tatsächlichen Entwicklung der Neuzeit die Machtansprüche von Königen und Fürsten mit der Fokussierung auf den Einzelnen parallel laufen, wenn auch in unterschiedlichsten Formen.90 Die Wirkung der Ideen Hobbes’ zeigt sich interessanterweise in der Folgezeit vor allem auf dem Kontinent und nicht in England.91 Das Werk Beccarias hat die Strafrechtsdiskussion in zahlreichen Ländern stark beeinflusst. In Deutschland hat beispielsweise Karl Ferdinand Hommel das Werk „Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen“ von 1778 mit Anmerkungen ins Deutsche übersetzt. Er konnte darin seine eigenen Auffassungen und Grundsätze vom Strafrecht wiederfinden. Beccarias Schrift hat insofern nicht eine Erneuerung bewirkt, sondern ist Teil einer Zeit, die bereits durch das allmähliche Einsickern des aufklärerischen Denkens im Umbruch war. So hatte Friedrich II. bereits 1740 (und damit vor dem Erscheinen Beccarias Schrift „Von Verbrechen und Strafe“) die Folter im Rahmen des Inquisitionsprozesses in Preußen zurückgedrängt.92 Aufgrund der Zersplitterung Deutschlands in verschiedene Territorien entwickelten sich die Reformen im Strafrecht sowohl inhaltlich als auch zeitlich gesehen sehr unterschiedlich. Während beispielsweise die Gesetzgebung in Preußen und Österreich durch die Ideen der Aufklärung beeinflusst wurde und der Inquisitionsprozess zwar nicht aufgehoben, so doch vereinfacht und verkürzt wurde, behielten andere Landesteile die alte Form des Prozesses im Wesentlichen bei.93 Im Folgenden soll als Beispiel die Kriminalpolitik Friedrichs II. im preußischen Staat dienen, da ihm eine „führende Rolle bei der praktischen Durchsetzung der Aufklärungsideen“94 zukam, so dass diese hier besonders gut sichtbar werden. 1. Zur Kriminalpolitik Friedrichs II. Der Vater Friedrichs II. Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) war noch stark im theokratischen Denken verhaftet. Davon zeugt das im Jahre 1721 90  Schottky,

Untersuchungen zur Geschichte (1995), S. 54, vgl. auch S. 13. Deutschland wird die Wirkung Hobbes’ vor allem durch Samuel von Pufendorf vermittelt. Vgl. hierzu näher Schottky, Untersuchungen zur Geschichte (1995), S. 55. Vgl. zur Kritik und zur Weiterentwicklung der Hobbes’schen Strafbegründung durch Pufendorf Hüning, Naturrecht und Strafgewalt, in: ders. (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan (2005), S. 235 (274 ff.). 92  Vgl. näher zur Frage der Abschaffung der Folter in Preußen Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S. 19 ff. 93  Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 464 f. 94  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 237, S. 247. 91  In



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ergangene „Verbesserte Preußische Landrecht“, dessen Strafprozessrecht geprägt war von der alten gemeinrechtlichen Wissenschaft.95 Friedrich II. brach mit seinem Regierungsantritt am 31. Mai 1740 mit der Kriminalpolitik seines Vaters, indem er bereits am 3. Juni 1740 durch Kabinettsordre den Grundpfeiler des Inquisitionsprozesses, die Folter, fast vollständig abschaffte.96 Zudem schränkte er die Leibes- und Lebensstrafen stark ein, die Freiheitsstrafe wurde herrschend.97 Friedrich II. wendete sich insgesamt gegen jede theokratische Begründung des Staates und des staatlichen Strafens und wollte die Strafrechtspflege säkularisieren, rationalisieren und humanisieren. Die Reformen im Strafrecht hingen dabei unmittelbar mit dem politischen und philosophischen Verständnis Friedrichs zusammen, der sich mit den Ideen der Naturrechtslehren intensiv beschäftigt hatte. Die Aufgabe seines Fürstenamtes sah er anknüpfend an die Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag darin, die Sicherheit und das Gemeinwohl der Bürger zu fördern und die Untertanen danach zu erziehen.98 Die Erziehung des Einzelnen nahm bei Friedrich eine besondere Stellung ein. Sie sollte dazu dienen, den Menschen für den Staat gesellschaftsfähig zu machen, um so den Staat selbst zu stärken.99 Die Ursachen des Verbrechens wurzelten seines Erachtens in den menschlichen Leidenschaften, die am wirksamsten durch die Furcht vor Strafen gebändigt werden könnten.100 Aufgabe der Strafvorschriften sollte daher die Abschreckung sein, während der Strafvollzug dazu dienen sollte, den Täter zu resozialisieren und die Gesellschaft vor weiteren Taten zu schützen. Aus Erziehungsgründen sah er auch die Anwendung der Folter im Strafverfahren insofern als gefährlich an, als sie zu einer Verrohung des Inquisiten und der Gesellschaft führe, da sie diese an Grausamkeit gewöhne.101 Friedrich hielt zudem ebenso wie Hobbes und Beccaria die Folter aus praktischen Überlegungen für wenig sinnvoll, da er daran zweifelte, ob sie tatsächlich in der Lage war, die materielle Wahrheit zu ermitteln.102 Anders als sein Vater, der dem religiöspatriarchalischem Absolutismus verbunden und für den es notwendig war, dass bei Vorliegen eines Verbrechens bestraft wurde, um den Zorn Gottes abzuwenden, auch wenn dabei notfalls Unschuldige verurteilt wurden, soll95  Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 464; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1 (1925), S. 256 f. 96  Ausgenommen waren besonders schwere Verbrechen wie Majestätsverbrechen und Landesverrat. 97  v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, (1925), S. 271 ff. 98  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 238, S. 247 f. 99  Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S. 471 f. 100  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 239, S. 249. 101  Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S. 469. 102  Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S. 41.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

ten nach Ansicht Friedrichs im Zweifel lieber mehrere Schuldige laufen gelassen werden, als dass ein Unschuldiger verurteilt würde.103 Die Effektivität der Strafverfolgung wurde somit hinter den Grundsatz der Humanität gestellt, den er neben der Staatsräson als zusätzliches Staatsziel aufnahm.104 „Mit milden Strafen und bewiesener humanité sollte der Staat seine Bürger zur Rechenschaft erziehen. Wie ein gütiger Vater sollte der Herrscher gute Taten belohnen, schlechte nur gering bestrafen und Nachsicht üben.“105 Der Staat Friedrichs blieb aber (besonders im Strafrecht) monarchisch organisiert. Zwar hatte er der Justiz eine Sonderstellung eingeräumt und sprach sich für die Unabhängigkeit der Richter aus, die als Beamte das Gesetz anwenden sollten: „(I)n den Gerichtshöfen sollen die Gesetze sprechen und der Herrscher soll schweigen.“106 Während sich der König daher in Zivilsachen tatsächlich jeglicher Eingriffe und sog. Machtsprüche enthielt, war er aber in Strafsachen nicht nur Gesetzgeber, sondern weiterhin zugleich oberster Richter.107 Er machte von der Möglichkeit der Ausübung seines Bestätigungsrechts für strafgerichtliche Urteile in allen bedeutenden Strafsachen Gebrauch. Dieses umfasste die Möglichkeit, Urteile der Gerichte zu bestätigen, die Strafe zu mildern oder auch zu schärfen.108 Mit aller Deutlichkeit zeigte sich die despotische Regierungsweise Friedrichs im sog. Fall Müllers Arnold109, in dem er die Richter anwies, ein Urteil mit einem bestimmten Inhalt zu fällen.110 Als diese seiner Anweisung nicht Folge leisteten, verurteilte er sie zu einer einjährigen Festungshaft. Das von Justizreformern geforderte allgemeine Verbot monarchischer Machtsprüche in Gerichtsverfahren wurde nicht in das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 aufgenommen. Ebenso blieb das Bestätigungsrecht des Monarchen in Strafsachen weiterhin bestehen.111

103  Schmoeckel,

Humanität und Staatsraison (2000), S. 471. Humanität und Staatsraison (2000), S. 585. 105  Schmoeckel, Humanität und Staatsraison (2000), S. 470 m. w. N. 106  Friedrich der Große, Das politische Testament (1752), S. 64. 107  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 256, S. 274 f.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. (2013), § 26 IV. 3. (S. 214 f.). 108  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 255, S. 273. 109  Hierzu näher mit umfangreichem Quellenmaterial Diesselhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold (1984). 110  Diesselhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold (1984), S.  23  ff.; s.  a. Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 257 f., S. 276 ff. 111  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 258, S. 279. 104  Schmoeckel,



C. Zeit absoluter Monarchie und die Reformen des Inquisitionsprozesses89

2. Das Preußische Allgemeine Landrecht (1794) und die Preußische Kriminalordnung (1805) Auch wenn Friedrich II. die Publikationen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 5. Februar 1794 (ALR) und auch der Preußischen Kriminalordnung vom 11. Dezember 1805 nicht mehr erlebte, bildeten diese Gesetze den Abschluss der Entwicklung seiner Staats- und Strafrechtspolitik. Das ALR wurde aufgrund seines umfassenden Regelungsbereiches schon von Zeitgenossen als eine Art Verfassung begriffen. Denn es umfasste sowohl Normen, die das Verhältnis zwischen den Bürgern untereinander regelten als auch solchen, die sich auf das Verhältnis von Bürger und Staat bezogen. Es handelte sich jedoch nicht um eine demokratisch-republikanische Verfassung, da der Monarch weiterhin alle Machtbefugnisse in sich vereinigte.112 Ziel der Gesellschaft und Maßstab für das Gesetz war das Wohl des Staates und seiner Bürger. Gesetze sollten die Freiheit und die Rechte der Bürger nur soweit beschränken, als es für den Nutzen der Allgemeinheit erforderlich war. Aufgabe der Staatsangehörigen war es, auf das Allgemeinwohl hinzuwirken.113 Das ALR verwendete sogar den Begriff vom „allgemeinen Rechte des Menschen“, welches auf der natürlichen Freiheit des Einzelnen für sein eigenes Wohl zu handeln beruht, ohne das Recht des anderen zu verletzen.114 Der Fürst war nicht mehr Stellvertreter Gottes, sondern Repräsentant des Staates und der Gesellschaft („Oberhaupt“) und hatte für die Sicherheit des Staates Sorge tragen: „Die vorzügliche Pflicht des Oberhaupts im Staat ist, sowohl die äußere als innere Ruhe und Sicherheit zu erhalten, und einen jeden bey dem Seinigen gegen Gewalt und Störungen zu schützen.“115 Allerdings sollten die Rechte des Einzelnen zurückstehen, wenn dies für das gemeinschaftliche Wohl erforderlich erschien.116 Auch wenn das ALR mit seinem allgemeinen Menschenrecht und der Stellung des Oberhaupts mit seiner Allgemeinwohlverpflichtung hohe Maßstäbe setzte, so blieben die monarchischen Strukturen im Wesentlichen bestehen. Davon zeugten die zahlreichen 112  Vgl. auch Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 1, 3. Aufl. (2003), § 1 Rn. 7 „Absolutismus als Negation der Verfassung“. 113  „Ein jedes Mitglied des Staats ist, das Wohl und die Sicherheit des gemeinen Wesens, nach dem Verhältniß seines Standes und Vermögens, zu unterstützen verpflichtet.“ ALR Einl. § 73. 114  ALR Einl. §§ 82, 83. 115  ALR I 13. § 2. 116  ALR Einl. § 74, wobei § 75 eine Entschädigungspflicht des Staates für denjenigen vorsieht, „welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird“.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Majestätsrechte im 2. Teil des 13. Titels des ALR. So kam dem Oberhaupt des Staates insbesondere das Recht zu, Gesetze und allgemeinen Polizeiverordnungen zu erlassen und aufzuheben.117 Auch gebührte ihm unveräußerlich die „allgemeine und höchste Gerichtsbarkeit im Staate“.118 Das ALR enthielt im 2. Teil ein umfassendes Strafgesetzbuch. Als besonders wichtig wurde die Verbrechensverhütung und -bekämpfung angesehen. Das zeigte sich in zahlreichen präventiven Polizeivorschriften, die sich ins Strafrecht mengten und einen großen Raum einnahmen sowie tief in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eingriffen.119 Das Wesen des Verbrechens wurde nicht mehr als Sünde begriffen, sondern als Schadenszufügung bzw. als Rechtsverletzung.120 Die Strafe stand wie bei Hobbes und Beccaria unter den Gesichtspunkten von Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit für den Staat. Verbrechen und Strafmaß sollten in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, was durch die Vorgabe eines gesetzlichen Rahmens geschah.121 Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ war bereits ausdrücklich anerkannt, um den Einzelnen gegen staatliche und richterliche Allmacht und Willkür zu schützen.122 Die Strafgesetze waren klar und verständlich, aber auch sehr ausführlich gefasst. Das Gesetz sollte für jeden Fall zweifelsfreie Lösungen bieten. Nicht nur das Gericht, sondern ebenso die Wissenschaft war an den Wortlaut des Gesetzes gebunden.123 Die Preußische Kriminalordnung von 1805 (KO) vereinheitlichte die Gesamtordnung des Strafverfahrensrechts und knüpfte damit an die bereits erlassenen Gesetze an.124 Der Inquisitionsprozess wurde beibehalten, die alte Verfahrensstruktur aber geändert. Die Unterscheidung von General- und Spezialinquisition entfiel. Der Strafprozess gliederte sich in zwei Abschnitte: in die Kriminaluntersuchung und in das Verfahren der Urteilsfällung, deren Grundlage die Untersuchung bildete.125 Es gab keine „artikulierten Verhöre“ 117  ALR

II 13. § 6. II 17 § 18. 119  v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1 (1925), S. 276 f. 120  ALR II. 20. § 7. 121  v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1 (1925), S. 287. 122  Vgl. ALR II. 20. § 9: „Handlungen und Unterlassungen, welche nicht in den Gesetzen verboten sind, können als eigentliche Verbrechen nicht angesehen werden, wenn gleich Einem oder Andern daraus ein wirklicher Nachteil entstehen sollte“ sowie zum Rückwirkungsverbot § 14 der Einleitung: „Neue Gesetze können auf schon vorhin vorgefallene Handlungen und Begebenheiten nicht angewendet werden.“ Vgl. hierzu insgesamt Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 88 ff. 123  v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1 (1925), S. 276. 124  Vgl. näher zur Entstehung der Kriminalordnung Fels, Der Strafprozess (1932), S.  3 ff. 125  Näher Fels, Der Strafprozess (1932), S. 40 ff. 118  ALR



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht91

mehr; ebenso wenig durfte die Folter eingesetzt werden. Allerdings konnte zur „Wahrheitsfindung“ eine sog. Lügen- oder Ungehorsamsstrafe in Form einer körperlichen Züchtigung verhängt werden, wenn der Verdächtige bei der Vernehmung log oder auch nur gänzlich schwieg.126 Aufgabe des Inquirenten war es, die Untersuchung zu leiten, wobei ihm hier weiterhin ein großes Ermessen eingeräumt wurde und der Inquisit ­Untersuchungsobjekt blieb. Nach Abschluss der Untersuchungen musste der Untersuchungsrichter die Akten an ein Justizkollegium weitergeben, welches ausschließlich nach Aktenlage entschied. Insofern befand sich der Inquirent weiterhin in der Doppelrolle. Er musste sowohl entlastendes als auch den Verdächtigen belastendes Material sammeln und traf durch die Anfertigung der Akten eine bedeutende Vorentscheidung.127 Die KO blieb mit zwischenzeitlichen Änderungen durch mehrere Gesetze128 bis Ende der 1840er Jahre in Preußen geltendes Strafverfahrensrecht.129 Erst danach wurde ein auf Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Anklageprinzip aufgebautes Strafverfahren in Preußen eingeführt. Auch wenn der Inquisi­ tionsprozess nicht abgeschafft, sondern durch die Kriminalpolitik Friedrichs bzw. durch das ALR und die KO bloß reformiert wurde, zeugten die Reformen insofern von einer Neuordnung, als sie sich vollständig vom theokratischen Gedankengut lösten. Den Maßstab für staatliches Handeln bildeten – wie bei Hobbes und Beccaria  – das Gemeinwohl und die Sicherheit der Bürger. Der seinen Leidenschaften und Neigungen unterworfene Mensch sollte zum richtigen Handeln erzogen, durch Strafgesetze abgeschreckt und notfalls durch Strafe gebessert werden. Darüber wachte der Staat in einer – wenn auch gut gemeinten – väterlich-despotischen Weise.

D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht – Reformbewegungen Schon im Rahmen der Darstellung von Beccarias Reformansätzen hinsichtlich des Strafverfahrens schimmerte ein Verständnis durch, das auch die Rechtsstellung des Betroffenen in den Blick nahm, jedoch war dieses noch Fels, Der Strafprozess (1932), S. 56 m. w. N. zur KO insbesondere Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 254, S. 271 ff.; Fels, Der Strafprozess (1932), S. 55 f. 128  Aus Furcht vor Revolution und Demagogen wurden in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer mehr Verordnungen mit scharfen Sanktionen und Verfolgungsvorschriften erlassen und durchgesetzt. Vgl. hierzu näher Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 223 ff. 129  Siehe hierzu auch Fels, Der Strafprozess (1932), S. 9. 126  Vgl. 127  Vgl.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

geprägt von einem zweckmäßigen Strafverständnis und folgte weniger humanitären Erwägungen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam die konstitutionelle Bewegung in Deutschland auf. Während im Absolutismus das Gesetz allein Ausdruck des Herrschaftswillens war und insofern reines Majestätsrecht darstellte, sollte im Verfassungsstaat dem Monarchen nicht mehr allein diese Monopolstellung zukommen, sondern er musste sich die Legislative mit dem Parlament teilen.130 Verbunden mit der Verfassungsbewegung ist ein liberales Staatsverständnis. Der Einzelne soll seine Rechte auch gegenüber dem Staat geltend machen können. Sicherheit und Freiheit sind im Staat gleich zu gewichten. Diese Vorstellung hat auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung des Strafrechts. Seine Aufgabe ist es nicht mehr allein, die Sicherheit des Staates und das Gemeinwohl zu gewährleisten, vielmehr soll die Freiheit der Bürger auch vor dem Staat Geltung beanspruchen. Der Beschuldigte wird nicht nur als Objekt des Verfahrens betrachtet, sondern als ein mit eigenen Rechten ausgestattetes Subjekt.

I. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Politischer Liberalismus – Locke und Montesquieu Für ein liberales Staatsverständnis soll auf die Staatsphilosophie John Lockes und Montesquieus zurückgegriffen werden. Der Begriff des Liberalismus wird hier als politische Bewegung verstanden, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Bedingungen aufzuzeigen, unter denen die freie Entfaltung des Menschen im Staat gewährleistet und gesichert wird und dabei auf rational legitimierbaren Institutionen ruht. Aufgabe des Staates ist es, die Rechte des Einzelnen durch eine gesetzliche Ordnung zu legitimieren und zu schützen. Verbunden ist mit dieser Forderung das Prinzip der Gewaltenteilung, das die Macht des Souveräns unter der Herrschaft des Gesetzes im Staat beschränken soll.131 Locke hat vor allem die Verfassungsentwicklung in England geprägt, er kann im vorliegenden Zusammenhang jedoch als Vordenker für ein liberales Staatsverständnis insofern in Anspruch genommen werden, als sich sein Einfluss nicht auf das Inselland beschränkt hat, sondern auch auf dem Kontinent 130  Vgl. näher zur Abgrenzung von Absolutismus und Monarchie auch Meisner, Staats- und Regierungsformen in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert, AöR 77, NF 38 1951/1952, S. 225 ff. 131  Vgl. auch Dräger, „Liberalismus“, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Sp. 261; vgl. näher zum deutschen Liberalismus und seinen unterschiedlichen Begriffen im 19. Jahrhundert Faber, Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Der Staat 14 (1975), 201, (209 ff.).



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht93

wirksam wurde. So ist zum einen das Werk Montesquieus „De l’esprit des lois“ (1748) von Lockes Denken stark beeinflusst, zum anderen entwickelte sich bereits im 18. Jahrhundert in Deutschland eine liberal-konstitutionelle Schule, die auf seinen Ideen ruhte.132 Schließlich weisen die Gedanken Lockes Grundeinsichten auf, die für die konkrete Ausgestaltung der konstitutionellen Monarchie von Bedeutung sind. So legt Locke die Notwendigkeit der Gewaltenteilung im Staat dar. Allerdings ist diese Teilung bei ihm zweigliedrig und wird von Montesquieu weiter ausgebaut, dessen Staatsvorstellung die verfassungsrechtliche Entwicklung in den europäischen Staaten und insbesondere auch in Deutschland im 19. Jahrhundert stark beeinflusst hat.133 Auch wenn das Werk von Montesquieu – anders als das von Locke – nicht systematisch stringent ist, sondern sich aus verschiedenen historischen und politischen Essays zusammensetzt, so sind in ihnen bedeutende Einsichten zum Staatswesen und speziell auch zum Strafverfahren enthalten. In der konstitutionellen Monarchie in Deutschland spiegelten sich diese in den Reformvorschlägen und in ihrer späteren Umsetzung im Strafverfahren wider.134 1. Locke – „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ (1689) Ebenso wie Hobbes geht auch Locke von der Idee eines Naturzustandes aus und leitet daraus sein Staatsverständnis ab. Der Naturzustand muss aber – anders als bei Hobbes  – nicht notwendig ein Kriegszustand sein, sondern es herrscht ein „natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet“.135 Jeder Mensch verfügt über eine Art soziale Vernunft, die ihn einerseits zur Selbsterhaltung andererseits aber auch zur Erhaltung der übrigen Menschheit nötigt.136 „Er (der Mensch, Anm. B. N.) sollte nicht das Leben eines anderen oder, was zur Erhaltung des Lebens dient: Freiheit, Gesundheit, Glieder oder Güter wegnehmen oder verringern, – es sei denn, dass an einem Verbrecher Gerechtigkeit geübt werden soll.“137 Der Einzelne unterliegt im 132  Vgl. zudem deutlich die Unabhängigkeitserklärung und Menschenrechtserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776. Vgl. insgesamt hierzu Schottky, Untersuchungen zur Geschichte (1995), S. 56. 133  Vgl. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. (1981), S. 37; Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, 2. Aufl. (1949), S. 129 ff.; 157 ff.; 186 ff. 134  Vgl. zum Einfluss Montesquieus auf die Reformen im deutschen Strafverfahrensrecht im 18./19. Jahrhundert Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 212. 135  Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 2. Abhandlung, § 6, S. 203. 136  Siehe hierzu auch Schottky, Untersuchungen zur Geschichte (1995), S. 19. 137  Locke, a. a. O., 2. Abhandlung, § 6, S. 203. Diese Vernünftigkeit des Einzelnen ist eine von Gott gegebene „gemeinsame Regel und Richtschnur“. Vgl. Locke, a. a. O. §  11, S.  206.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Naturzustand nicht nur seinem Streben nach Glückseligkeit und natürlicher Selbsterhaltung, sondern es besteht bereits eine „natürliche“ soziale Interpersonalität, aus der sich gegenseitige Verbindlichkeiten ergeben. Jeder muss sich Angriffen gegenüber anderen auf Leib, Leben, Freiheit oder Eigentum enthalten. Verletzt jemand diese Pflicht, so steht jedem das Recht zu, „die Übertretung dieses Gesetzes in einem Maße zu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzung zu verhindern“.138 Bereits im Naturzustand gibt es damit Unrecht verbunden mit einer Strafbefugnis eines jeden. Diese ist aber insoweit begrenzt, als sie nicht willkürlich sein darf, sondern der Abschreckung bzw. Wiedergutmachung dienen muss.139 Mit seiner Tat habe der Verbrecher gezeigt, dass er die Gesetze der natürlichen Vernunft nicht anerkenne und stelle insofern eine Gefahr für den Frieden und die Sicherheit menschlichen Zusammenlebens überhaupt dar. Es sei daher jeder (nicht nur der Verletzte) befugt, solche Angriffe abzuwehren oder zu bestrafen. „Er darf somit jedem, der dieses Gesetz übertreten hat, soviel Schaden zufügen, wie es notwendig ist, ihn seine Tat bereuen zu lassen, um dadurch ihn und durch sein Beispiel auch andere davon abzuhalten, ein gleiches Unrecht zu begehen. In diesem Fall und aus diesem Grund ist also jeder berechtigt, den Missetäter zu bestrafen und somit das Gesetz der Natur zu vollstrecken.“140 Im Naturzustand ist damit jeder autorisiert, eine begangene Unrechtstat festzustellen und auch mit Strafe zu belegen, um das Recht zu verteidigen und zu schützen.141 Auch wenn nach Locke der Naturzustand grundsätzlich als „ein Zustand des Friedens, des Wohlwollens, der gegenseitigen Hilfe und Erhaltung“ gedacht werden kann und bereits ein Rechtszustand ist,142 so ist er doch auch ein Zustand der Rechtsunsicherheit, da sich nicht alle an die natürlichen Vernunftgesetze halten und daher latent immer Übergriffe auf die Freiheit des Einzelnen drohen. „Denn da jeder (im Naturzustand, Anm. B. N.) im gleichen Maße König ist wie er, da alle Menschen gleich sind und der größere Teil von ihnen nicht genau die Billigkeit und Gerechtigkeit beachtet, so ist die Freude an seinem Eigentum, das er in diesem Zustand besitzt, sehr ungewiss und sehr unsicher.“143 Die Menschen vereinigen sich „zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens ihrer Freiheiten und ihres Vermögens“ zu einer Gemeinschaft.144 Der Gesellschaftsvertrag dient dazu, die im Na138  Locke,

a. a. O., 2. Abhandlung, § 7, S. 203. a. a. O., 2. Abhandlung, § 8, S. 204; § 11, S. 205 f. 140  Locke, a. a. O., 2. Abhandlung, § 8, S. 204. 141  Vgl. hierzu auch Kersting, Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages (1994), S. 114. 142  Locke, a. a. O., 2. Abhandlung, § 19, S. 211. 143  Locke, a. a. O., 2. Abhandlung, § 123, S. 278. 144  Locke, a. a. O., 2. Abhandlung, § 123, S. 278. 139  Locke,



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht95

turzustand bestehenden Rechte zu sichern und nicht – wie bei Hobbes – denselben zu überwinden, denn der Naturzustand selbst weist bereits natürliche Freiheitsgesetze auf. Die Unsicherheit im Naturzustand resultiert nach Locke daraus, dass es erstens an einem allgemein anerkannten feststehenden Gesetz, zweitens an einem unparteiischen Richter und drittens an einer Vollstreckung des Richterurteils fehlt.145 Im Naturzustand sei jeder Einzelne selbst Machthaber und übe seine Macht, insbesondere sein Recht zu strafen, nicht gleichmäßig, sondern „unregelmäßig und unbestimmt“ aus. Um dem entgegenzuwirken, verzichten die Menschen auf ihre Machtausübung und „veranlassen sie, zu den festen Gesetzen einer Regierung Zuflucht zu nehmen und dort die Erhaltung ihres Eigentums zu suchen“.146 Insofern basiert die Staatsgründung – wie bei Hobbes – auf einem utilitaristischen Verständnis. Es ist aber – anders als bei Hobbes – kein bloß egoistischer, sondern ein sozialer Utilitarismus,147 da der Einzelne bereits im Naturzustand die Rechte der anderen grundsätzlich anerkennt und nicht nur nach Selbsterhaltung strebt, sondern ebenso die Erhaltung der anderen Gesellschaftsmitglieder in den Blick nimmt. In der staatlichen Gesellschaft gibt der Einzelne seine Machtposition auf, „damit sie durch die Gesetze der Gesellschaft so weit geregelt werde, wie es die Erhaltung seiner selbst und der übrigen Glieder dieser Gesellschaft erfordert.“148 Die von Locke dargelegte Notwendigkeit, in einen Staatszustand zu treten, verbunden mit der bleibenden Existenz von fundamentalen Naturgesetzen zur Erhaltung der Menschheit überhaupt, hat zur Folge, dass die Macht des Staates von vornherein nur eine begrenzte sein darf. Sie kann nur so weit gehen, wie sie für den Einzelnen und das Gemeinwohl erforderlich ist. Die gesetzgebende Gewalt ist daher keine absolute Gewalt, die über das Leben des Einzelnen oder das Schicksal des Volkes willkürlich entscheiden könnte, sondern ist auf die Förderung des öffentlichen Wohles der Gesellschaft beschränkt. Da der Mensch „im Naturzustand keine willkürliche Gewalt über das Leben, die Freiheit oder den Besitz eines anderen hat, sondern nur so viel, wie ihm das Gesetz der Natur zur Erhaltung seiner selbst und der übrigen Menschheit gegeben hat, so ist dies auch alles, was er zugunsten des Staates oder damit zugunsten der legislativen Gewalt aufgibt oder aufgeben kann, so dass die Legislative auch nicht mehr Macht als diese besitzt. In ihren äußersten Grenzen ist ihre Gewalt auf das öffentliche Wohl der Gesellschaft beschränkt.“149 145  Locke,

a. a. O., 2.  Abhandlung, §§  124 ff., S.  278 f. a. a. O., 2. Abhandlung, § 127, S. 279. 147  Schottky, Untersuchungen zur Geschichte (1995), S. 19. 148  Locke, a. a. O., 2. Abhandlung, §§ 129, S. 280. 149  Locke, a. a. O., 2. Abhandlung, § 135, S. 284 f. 146  Locke,

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Auch wenn Locke hinsichtlich der Legitimation des Staates utilitaristische Erwägungen mit einbezieht, so bestimmt er die Grenzen des Staates selbst normativ, indem er sie an die natürlichen Gesetze bindet: „So ist das erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten die Begründung der legislativen Gewalt, so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, das sogar über der legislativen Gewalt gelten muss, die Erhaltung der Gesellschaft und (soweit es mit dem öffentlichen Wohl vereinbar ist) jeder einzelnen Person in ihr ist“.150 Damit ist auch die Legislative als höchste Gewalt im Staat an das grundlegende Naturgesetz gebunden und nicht davon gelöst. Abgeleitet wird sie von der Gesellschaft selbst. Denn ihre Gesetze sind nur dann und nur so weit autorisiert, wie sie ihre Zustimmung von der Gesellschaft erfahren haben. „Keine Vorschrift irgendeines anderen Menschen, in welcher Form sie auch verfasst, von welcher Macht sie auch gestützt sein mag, kann die verpflichtende Kraft eines Gesetzes haben, wenn sie nicht ihre Sanktion von derjenigen Legislative erhält, die das Volk gewählt und ernannt hat. Denn ohne sie könnte das Gesetz nicht haben, was absolut notwendig ist, um es zu einem Gesetz zu machen, nämlich die Zustimmung der Gesellschaft.“151 Anders als Hobbes wendet sich Locke gegen die Staatsform der absoluten Monarchie. Denn in dieser bleibe der Herrscher Richter in eigener Sache und befinde sich daher gegenüber seinen Untertanen weiterhin im rechtlich nicht geordneten Naturzustand.152 Jeder Mensch verpflichte sich mit dem verbindlichen Eingehen in eine politische Gemeinschaft „gegenüber jedem einzelnen dieser Gesellschaft, sich dem Beschluss der Mehrheit zu unterwerfen und sich ihm zu fügen“.153 Von Bedeutung ist für den vorliegenden Zusammenhang zudem, dass Locke erkennt, wie problematisch eine ungeteilte Gewalt im Staat ist und es daher notwendig einer Teilung ihrer bedarf: Bedingt durch die Fehlbarkeit des Menschen und seines Machtstrebens bestehe die Gefahr, dass sich die rechtssetzende Gewalt von ihren eigenen Gesetzen löse, um sich so Vorteile zu verschaffen. „Bei der Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen, würde es jedoch eine zu große Versuchung sein, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekämen, diese Gesetze zu vollstrecken. Dadurch könnten sie sich selbst von dem Gehorsam gegen die Gesetze, die sie geben, ausschließen und das Gesetz in seiner Gestaltung wie auch in seiner Vollstreckung ihrem eigenen persönlichen Vorteil anpassen.“154 Um das zu 150  Locke,

a. a. O., a. a. O., 152  Locke, a. a. O., 153  Locke, a. a. O., 154  Locke, a. a. O., 151  Locke,

2. Abhandlung, 2. Abhandlung, 2.  Abhandlung, 2. Abhandlung, 2. Abhandlung,

§ 134, S. 283. § 134, S. 283. §  90 ff., S.  255 ff. § 97, S. 261. § 143, S. 291.



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht97

vermeiden und das Wohl der Gemeinschaft zu besorgen, sollte die konstitu­ tive Versammlung oder die ursprüngliche Macht, die die Gesetze positiviert hat, danach wieder auseinander gehen und sich selbst den von ihr geschaffenen Gesetzen unterwerfen. Es bedürfe einer weiteren Gewalt, die die bestehenden Gesetze stetig anwende und vollstrecke und von der ursprünglich gesetzgebenden Gewalt zu trennen sei.155 Diese Exekutivgewalt komme dem König zu. Die Legislative solle sich dagegen aus Vertretern des Besitzbürgertums zusammensetzen. Letztere setze als höchste Gewalt im Staat das Recht zur Erhaltung der Gemeinschaft und ihrer Bürger, während die Exekutive die Gesetze lediglich ausführe.156 Zu ihr gehöre auch die Rechtsprechung. Der Exekutivgewalt komme zudem die Aufgabe zu, die gesetzgebende Gewalt einzuberufen. Bei einem Missbrauch dieses Vertrauens habe das Volk das Recht, die Exekutive abzusetzen. Locke trennt damit institutionell zwischen legislativer und exekutiver Gewalt. Anders als bei Hobbes ist der Souverän nicht absolut, sondern untersteht ebenfalls den Gesetzen der Legislative. Auch wenn Locke die Gewaltenteilung noch nicht vollständig entwickelt hat, so erkennt er doch die Problematik einer Machtkonzentration auf einen Souverän, die zu verhindern sei. Montesquieu hat die Idee der Gewaltenteilung insbesondere in seinem Werk „De l’Esprit des Lois“ von 1748 weiter ausgebaut; zu seiner Lehre ist nun überzugehen. 2. Montesquieu – „Vom Geist der Gesetze“ (1748) In Auseinandersetzung mit der Vorstellung von Hobbes’ Naturzustand wendet sich Montesquieu im ersten Buch seines Werkes ebenso wie Locke gegen die Vorstellung, dass sich die Menschen vor einer Gesellschaftsbildung in einem Kriegszustand befänden. Vielmehr seien sie von Natur aus furchtsam und würden voreinander fliehen. Da der Einzelne diese Furcht jedoch auch bei anderen wiederfinde, bewege sie ihn zugleich dazu, sich ihnen zu nähern. Zudem treibe ihn das „Lustgefühl“, das ein Lebewesen beim Zusammenkommen mit einem anderen empfinde, zur Annäherung.157 Mit dieser Kennzeichnung der menschlichen Natur vor einer Gründung der Gemein155  Locke,

a. a. O., 2. Abhandlung, § 143, S. 291 f. nimmt noch zwei weitere Gewalten im Staat hinzu: die „natürliche“ oder auch „föderative“ und die „prärogative“, die aber der Exekutivgewalt unterzuordnen sind. Erstere hat für „die Sicherheit und die Interessen des Volkes nach außen“ im Verhältnis zu anderen Staaten zu sorgen. Vgl. a. a. O., 2. Abhandlung, § 148, S. 293. Aufgabe der Prärogativgewalt ist es, für das öffentliche Wohl zu sorgen und zwar in unvorhergesehenen Fällen, die sich nicht gesetzlich regeln lassen. Locke, a. a. O., 2.  Abhandlung, §§  158 ff. 157  Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch I, Kapitel 2. 156  Locke

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

schaft will Montesquieu jedoch nicht einen faktischen Zustand beschreiben, da für ihn die bestehende ursprüngliche Gemeinschaftlichkeit nicht zu bezweifeln ist. Es geht ihm vielmehr darum – entgegen Hobbes – aufzuzeigen, dass der Einzelne von Natur aus nicht den Angriff gegen einen anderen sucht, sondern vielmehr nach einem friedlichen Zusammenleben mit anderen strebt.158 Erst durch die Gesellschaft gelange der Einzelne und die Gemeinschaft „zum Gefühl ihrer Kraft und damit wird ein Kriegszustand von Volk zu Volk hervorgerufen. Die einzelnen in jeder Gemeinschaft werden sich allmählich ihrer Kraft bewusst; sie versuchen, sich die größten Vorteile dieser Gemeinschaft zu sichern, und dadurch kommt es zu einem Kriegszustand zwischen ihnen.“159 Diese Formen des Kriegszustandes führten zu positiven Gesetzen: zum einen zum Völkerrecht und zum anderen zum Staatsrecht bzw. zum bürgerlichen Recht. Das allgemeine, allen positiven Gesetzen zugrunde liegende Gesetz ist für Montesquieu „die menschliche Vernunft, sofern sie alle Völker der Erde beherrscht; und die Staats- und Zivilgesetze jedes Volkes sollen nur die einzelnen Anwendungsfälle dieser menschlichen Vernunft sein.“160 Er weist weiter daraufhin, dass sie „dem Volk, für das sie geschaffen sind, so genau angepasst sein (müssen), dass es ein sehr großer Zufall wäre, wenn sie auch einem anderen Volke angemessen wären“.161 Die staatlichen Gesetze seien insoweit abhängig von der jeweiligen Natur und Eigenart des Volkes und ließen sich nicht einfach auf andere Gesellschaften übertragen. Die Staatsverfassung müsse der Natur ihrer Bürger entsprechen. Im zweiten Buch unterscheidet Montesquieu drei Idealtypen von Regierungsformen ihrer Natur nach: die Republik, die Monarchie und die Despotie. Während sich die Struktur in der republikanischen Staatsform dadurch auszeichne, dass das Volk als ganzes herrsche (Demokratie) oder ein Teil des Volkes die oberste Gewalt innehabe (Aristokratie),162 regiere in der Monarchie ein Einzelner nach fest bestimmten Gesetzen.163 In der despotischen Regierungsform gebiete schließlich nur ein Einzelner ohne Recht und Gesetz, sondern allein nach seinem Gutdünken.164 Das politische Prinzip dieser Herrschaft beruhe nur auf Furcht und Schrecken. Auch wenn Montesquieu zunächst die unterschiedlichen Regierungstypen in Abhängigkeit setzt zur Landesgröße und zum Wesen der Bevölkerung und so scheinbar nur analy158  Siehe hierzu auch Falk, Montesquieu, in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2, (1968), S. 53 (59). 159  Montesquieu, a. a. O., Vom Geist der Gesetze, Buch I, Kapitel 3. 160  Montesquieu, a. a. O., Buch I, Kapitel 3. 161  Montesquieu, a. a. O., Buch I, Kapitel 3. 162  Montesquieu, a. a. O., Buch II, Kapitel 1, 2 und 3. 163  Montesquieu, a. a. O., Buch II, Kapitel 1 und 4. 164  Montesquieu, a. a. O., Buch II, Kapitel 1, 5.



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siert, so geht er doch im Folgenden nicht rein betrachtend vor, sondern auch wertend. Er wendet sich gegen eine despotische Regierungsform und hebt sie von den „gemäßigten Regierungen“ (Republik und Monarchie) ab. Montesquieu sieht das Ideal eines guten Staates darin, dass in ihm politische bzw. bürgerliche Freiheit gesichert ist. Unter politischer Freiheit versteht er dabei nicht, „zu tun, was man will“, sondern „das tun zu können, was man wollen darf, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf“.165 Diese Freiheit könne nur in einem Staat realisiert werden, in dem durch vernünftige und humane Gesetze die Sicherheit der Bürger gewährleistet werde.166 Als Beispiel für „eine Nation in der Welt, die als unmittelbaren Zweck ihrer Verfassung die politische Freiheit“ hat,167 gibt er die konstitutionelle monarchische Verfassung Englands an, deren Untersuchung er sich ausführlich im 6. Kapitel des elften Buches widmet. Auch wenn Montesquieu die bestehenden damaligen Verhältnisse Englands zur Grundlage nimmt, deutet er sie in eine bestimmte Richtung, so dass er „zu einer Idealverfassung, die in der Mitte zwischen richtiger Beschreibung und Utopie steht“, gelangt.168 Im Folgenden sind ausgehend von der konstitutionellen Monarchie im Sinne Montesquieus auch seine Ausführungen zum Strafund Strafverfahrensrecht darzulegen, während seine Darlegungen für die Regierungsformen der Republik und der Despotie vernachlässigt werden. Zu Beginn des 6. Kapitels unterteilt Montesquieu drei Gewalten: „die gesetzgebende Gewalt, die vollziehende Gewalt in Ansehung der Angelegenheiten, die vom Völkerrechte abhängen, und die vollziehende Gewalt hinsichtlich der Angelegenheiten, die vom bürgerlichen Recht abhängen. Vermöge der ersten gibt der Fürst oder Magistrat Gesetze auf Zeit oder für immer, verbessert er die bestehenden oder hebt sie auf. Vermöge der zweiten schließt er Frieden oder führt Krieg, schickt oder empfängt Gesandtschaften, befestigt die Sicherheit, kommt Invasionen zuvor. Vermöge der dritten straft er Verbrechen oder spricht das Urteil in Streitigkeiten der Privatpersonen. Ich werde diese letzte die richterliche Gewalt und die andere schlechthin die vollziehende Gewalt des Staates nennen.“169 165  Montesquieu, a. a. O., Buch XI, Kapitel 3. Vgl. zur Bedeutung der politischen Freiheit bei Montesquieu Schlosser, Montesquieu: der aristokratische Geist der Aufklärung (1990), S. 21 f. 166  Vgl. Montesquieu, a. a. O., Buch XI, Kapitel 6: „Die politische Freiheit des Bürgers ist jene Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit hat, muss die Regierung so eingerichtet sein, dass ein Bürger den anderen nicht zu fürchten braucht.“ 167  Montesquieu, a. a. O., Buch XI, Kapitel 5. 168  Falk, Montesquieu, in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2 (1968), S. 53 (70). 169  Montesquieu, a. a. O., Buch XI, Kapitel 6.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Montesquieu führt mit der Teilung der drei Gewalten die Ideen Lockes weiter aus. Während dieser insbesondere zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt unterscheidet und dabei die Rechtsprechung der letzteren zuordnet, stellt für Montesquieu die Judikative eine eigenständige Gewalt dar. Auch wenn er an einer Stelle schreibt, dass die „richterliche (Gewalt) in gewisser Weise gar nicht vorhanden ist“170, ist damit nicht gemeint, dass sie entbehrlich ist. Deutlich machen will er nur, dass die rechtsprechende Gewalt nicht in der Weise mit den anderen Gewalten verschränkt ist, dass sie eine Kontrollinstanz der ersten oder zweiten Gewalt bilden solle oder umgekehrt. Aufgabe des Richters sei es vielmehr „die Worte des Gesetzes auszusprechen“; die Richter müssten daher unabhängig sein sowohl von der Person des einzelnen Richters als auch von den anderen Gewalten.171 Sie seien allein Werkzeuge des Gesetzes und könnten daher auch das Recht nicht eigenständig fortbilden.172 Die Richter müssten aus der Mitte des Volkes stammen und nicht permanent, sondern beschränkt für einen bestimmten Zeitraum tätig sein. Dabei sei es notwendig, dass sie „dem gleichen Stand angehören wie der Angeklagte, oder seinesgleichen sind, damit er sich nicht einbilden kann, er sei in die Hände von Leuten gefallen, die geneigt sind, ihm Gewalt anzutun“.173 Die dritte Gewalt ist damit nicht einem bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Stand zugeordnet, sondern steht in Abhängigkeit zum Stand des betroffenen Angeklagten, um Neid in jeglicher Hinsicht zu verhindern. So solle der Adel nicht „vor die gewöhnlichen Gerichte, sondern vor den Teil der gesetzgebenden Körperschaft gezogen werden, die aus Adligen besteht“.174 Die gesetzgebende Gewalt teilt Montesquieu in zwei Körperschaften: Die eine setzt sich aus dem (Erb-)Adel zusammen und die andere aus Repräsentanten des Volkes, die von den Bürgern gewählt werden. Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt sei es nicht, Beschlüsse zu fassen und Anordnungen für Einzelfälle zu geben (dies sei vielmehr Aufgabe der vollziehenden Gewalt), sondern allgemein-abstrakte, von gewisser Dauer bestehende Gesetze zu erlassen. Von Bedeutung ist weiter, dass die Anzahl der Gesetze überschaubar bleiben, in sich widerspruchsfrei, für die Bürger verständlich gefasst und bestimmt sein müssten.175 Sache der Gesetze sei es, die Sicherheit bzw. den Glauben an sie und damit die politische Freiheit zu gewährleisten. 170  Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XI, Kapitel 6, wörtlich: „en quelque façon nulle“. 171  s. hierzu auch Köhler, Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat, in: FS-Landwehr (2016), S. 393 (394). 172  Vgl. hierzu Christ, Bürgerliche Freiheit und Strafrecht bei Montesquieu (2003), S. 137. 173  Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XI, Kapitel 6. 174  Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XI, Kapitel 6, S. 224.



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Die Sicherheit des Bürgers hänge dabei vor allem von der Güte der Strafgesetze ab.176 „Das ist der Triumph der Freiheit, wenn die Strafgesetze jede Strafe der besonderen Natur der Straftat entnehmen. Alle Willkür entfällt. Die Strafe hängt nicht von der Laune des Gesetzgebers ab, sondern von der Natur der Sache, und es ist nicht der Mensch, der dem Menschen Gewalt antut.“177 Den Hauptaspekt der Strafe sieht er in der präventiven Wirkung von Sanktionen: Diese sollten zum einen dazu dienen, die Gesellschaft vor dem Verbrecher zu schützen und zum anderen sollten sie die Bürger davon abschrecken, überhaupt erst Straftaten zu begehen. Ausführungen über das Strafverfahrensrecht finden sich verstreut an unterschiedlichsten Stellen des Buches „De L’Esprit des Lois“. So erklärt Montesquieu grundsätzlich, dass Formvorschriften der Rechtspflege notwendig für die Freiheit der Bürger seien.178 Für das Strafverfahren weist er zudem an anderer Stelle explizit darauf hin, dass es seine Aufgabe sei, die Freiheit des Bürgers zu sichern. „Ist die Unschuld der Bürger nicht gesichert, so ist es auch die Freiheit nicht mehr.“179 Es seien daher die „Kenntnisse von den sichersten in den Strafverfahren zu wahrenden Vorschriften (…) für das menschliche Geschlecht wichtiger als irgendeine Sache der Welt“.180 Montesquieu wendet sich insgesamt gegen das Inquisitionsverfahren. Insbesondere seien seine Prinzipien des geheimen Verfahrens und auch des Erzwingens eines Geständnisses durch Folter181 mit der sittlichen Ordnung nicht vereinbar: „Das Inquisitionsgericht, das von christlichen Mönchen nach dem Vorbild göttlicher Bußgerichte gebildet wurde, widerspricht jeder sittlichen Ordnung“.182 Diese Gerichte verlangten von den angeklagten Personen, dass sie nach den klösterlichen Vorstellungen durch ihr Geständnis Reue zeigen sollten. Bei der Frage der diesseitigen Strafe gehe es jedoch gerade nicht um eine solche Buße, sondern um Fragen der menschlichen und nicht um solche der göttlichen Gerechtigkeit.183 Es bedürfe ferner einer 175  Vgl. insgesamt Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XXIX, Kapitel 119, S. 350 ff. s. hierzu auch Christ, Bürgerliche Freiheit und Strafrecht bei Montesquieu (2003), S. 198 ff. 176  Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XII, Kapitel 2, S. 258. 177  Montesquieu, a. a. O., Buch XII, Kapitel 4, S. 260. 178  Montesquieu, a. a. O., Buch XIX, Kapitel 1, S. 350. 179  Montesquieu, a. a. O., Buch XII, Kapitel 2, S. 259. 180  Montesquieu, a. a. O., Buch XII, Kapitel 2, S. 259. 181  Vgl. die Ausführungen Montesquieus zur Folter, a. a. O., Buch VI, Kapitel 17, S. 131. 182  Montesquieu, a. a. O., Buch XXVI, Kapitel 11, S. 218. 183  Montesquieu, a. a. O., Buch XXVI, Kapitel 12, S. 219. Vgl. hierzu auch Christ, Bürgerliche Freiheit und Strafrecht bei Montesquieu (2003), S. 189 f.; Köchling, Gesetz und Recht bei Montesquieu (1975), S. 153 ff.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

gesetzmäßigen Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens durch einen öffentlichen Ankläger. Nicht der einzelne Bürger, sondern allein die Staatsanwaltschaft müsse mit der „Verfolgung der Verbrechen“ beauftragt sein.184 Nur in der Regierungsform der Monarchie sei dies gewährleistet, da hier dem Fürsten bzw. den von ihm eingesetzten Beamten der Gesetzesvollzug und nicht – wie in der Demokratie – dem einzelnen Bürger mit seinen persönlichen Interessen zustehe.185 Als Hauptbeweismittel sieht Montesquieu den Zeugenbeweis an.186 Voraussetzung für die Ermittlung der Tatsachengrundlage sei es, dass mindestens zwei Zeugen die Tatsachen bekunden müssten. „Die Vernunft verlangt deren zwei, weil ein Zeuge der bejaht und ein Angeklagter der bestreitet, eine Gleichheit herbeiführen und es eines Dritten bedarf, um sie auszuräumen.“187 Als Zeugen scheiden jedoch Kinder, Verwandte des Angeklagten und ebenso Abhängige, die gegenüber ihren früheren Herren aussagen, aus, da ihre Aussagen nicht objektiv sein könnten.188 Ein weiteres Beweismittel sei das Geständnis, welches jedoch nicht durch Folter erzwungen werden dürfe. Ebenso lehnt Montesquieu eine Beweisbeschaffung durch Spitzel ab.189 Bedeutung für die Gesetzmäßigkeit des Strafverfahrens hat auch die Besetzung des Gerichts. Jedenfalls in den Fällen, in denen über Leibesstrafen entschieden werde, müsste das Gericht mindestens mit drei Richtern besetzt sein. Dabei dürfe der Fürst nicht (und ebenso wenig seine Minister) auch Richter sein, da er schon Ankläger sei und dies dem Gewaltenteilungsgrundsatz entgegenstünde: „(I)n den monarchischen Staaten ist der Fürst die Partei des Anklägers, der strafen oder freisprechen lässt. Wenn er nun selber Recht spräche, so wäre er gleichzeitig Richter und Partei“.190 Zudem erhalte der Fürst in diesen Staaten häufig die beschlagnahmten Vermögen. Richtete er nun über Verbrechen, so wäre er wiederum Richter und Partei zugleich.191 Montesquieu weist schließlich auf die Schwierigkeit des Gnadenrechts hin, welches dem Fürsten zukomme, wenn er gleichzeitig Richter wäre: „Außerdem würde er (der Fürst, Anm. B. N.) das schönste Recht seiner 184  Montesquieu,

a. a. O., Buch XXVIII, Kapitel 36, S. 328. a. a. O., Buch VI, Kapitel 8, S. 117. 186  Vgl. hierzu auch Christ, Bürgerliche Freiheit und Strafrecht bei Montesquieu (2003), S.  191 ff.; Köchling, Gesetz und Recht bei Montesquieu (1975), S. 157 f. 187  Montesquieu, a. a. O., Buch XII, Kapitel 3, S. 259. 188  Montesquieu, a.  a. O., Buch XII, Kapitel 2, S. 258; Buch XII, Kapitel 6, S. 266; Buch XII, Kapitel 15, S. 276. 189  Montesquieu, a. a. O., Buch XII, Kapitel 23, S. 284 f. 190  Montesquieu, a. a. O., Buch VI, Kapitel 5, S. 113. 191  Montesquieu, a. a. O., Buch VI, Kapitel 5, S. 113. 185  Montesquieu,



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Herrschermacht verlieren, nämlich das Gnadenrecht, denn es wäre unsinnig, wenn er Urteile fällte und wieder umstieße, denn er möchte nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten. Abgesehen davon, dass dies alle Begriffe verwirrte, würde man nicht wissen, ob jemand freigesprochen oder begnadigt wäre.“192 Bei großen Anklagen spricht sich Montesquieu sogar dafür aus, dass sich der Verbrecher seine Richter in Übereinstimmung mit dem Gesetz wählen können müsse oder zumindest „eine so große Zahl zurückweisen kann, dass die verbleibenden als von ihm gewählt gelten können“.193 Für die Rechtsprechung ist für Montesquieu insgesamt von Bedeutung, dass sie unpersönlich sein muss und die Urteile allein auf der Grundlage der Gesetze angewendet werden sollen: Die Urteilssprüche sollen nichts anderes sein „als eine genaue Formulierung des Gesetzes. Wären sie nur eine besondere Meinung des Richters, so würde man in der Gesellschaft leben, ohne genau die Verbindlichkeiten zu kennen, die man in ihr eingeht“.194 Montesquieu weist dabei auf die Notwendigkeit einer willkürfreien Justiz hin, die die Freiheitsrechte des Einzelnen wahre und zugleich die Sicherheit der Bürger gewährleiste. Voraussetzung dafür sei eine Teilung der Gewalten im Verfahren selbst: die Trennung von Ankläger und Richter. Nicht der Richter und auch nicht die einzelnen vornehmlich ihren eigenen Interessen folgenden Bürger, sondern ein von ihm getrennter öffentlicher Ankläger müsse im Namen des Fürsten die Verbrechen verfolgen. Die Staatsanwaltschaft müsse daher Teil der Exekutive sein und sei von der Judikative strikt zu trennen. Montesquieu stellt mit seinen Forderungen einen unmittelbaren Zusammenhang her zwischen dem freien Einzelnen, der Gesellschaft, dem Staat und dem Strafrecht. Maßstab ist für ihn der Mensch selbst. Alles, was ihn erniedrigt, ist mit seiner Freiheit nicht vereinbar und daher abzulehnen.195 Anders als Beccaria zeigt sich, dass gerade das Strafverfahrensrecht den Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit gewährleisten muss. Nicht allein aus Nützlichkeitserwägungen oder Effizienzgründen, sondern aus Gründen der Vernunft und der Humanität muss das Strafverfahren sowohl auf die Sicherheit als auch auf die Freiheit des Bürgers Bedacht nehmen. Der Unterschied beider Positionen wird besonders deutlich im Gnadenrecht. Während Beccaria die Unausbleiblichkeit der Strafe betont, um eine Abschreckungswirkung zu erzielen, und sich daher gegen ein Gnadenrecht ausspricht,196 192  Montesquieu,

a. a. O., Buch VI, Kapitel 5, S. 113. a. a. O., Buch XI, Kapitel 6, S. 217. 194  Montesquieu, a. a. O., Buch XI, Kapitel 6, S. 217. 195  Siehe hierzu näher Köchling, Gesetz und Recht bei Montesquieu (1975), S. 154. 196  Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, § 20, S. 121 ff. 193  Montesquieu,

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

sind für Montesquieu Gnadenerweise durch den Fürsten notwendig und stellen eine Form der Korrektur von Ungerechtigkeiten dar: „Ein Fürst, der seinen Untertanen verzeiht, meint Barmherzigkeit zu üben, während es oft bloß Gerechtigkeit ist. Wenn er dagegen straft, glaubt er Recht zu sprechen, obwohl es sich oft genug bloß um einen Akt der Tyrannei handelt“.197 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Ziel des idealen Staates für Montesquieu die Gewährleistung der bürgerlichen und politischen Freiheit des Einzelnen ist. Notwendig ist für dieses Ziel die Teilung der Gewalten im Staat in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende. Nach Locke und Montesquieu solle eine Balancierung der Gewalten durch Verteilung der Gewalten auf unterschiedliche Gesellschaftsstände erreicht werden, um eine Machtkumulation auf eine Person zu verhindern. Dabei macht Montesquieu deutlich, dass die Gewaltentrennung eine gegenseitige Beschränkung gewährleiste. Von der Exekutivgewalt fordert er strenge Gesetzesbindung ebenso wie von der Rechtsprechung. Innerhalb der Legislativgewalt muss nach Montesquieu ein Gleichgewicht bestehen. Er teilt die Legislative daher in zwei Körperschaften ein, die des Adels und in die Vertreter des Volkes, die durch ein wechselseitiges Vetorecht miteinander verschränkt sind. Gerade bei der Zusammensetzung der Legislativgewalt zeigt sich aber auch, dass Montesquieu, der selbst dem aristokratischen Stand und der großbürgerlichen Bildungsschicht angehörte,198 nicht auf Prinzipien der Volkssouveränität abstellt, sondern sicherlich einerseits bedingt durch seine Herkunft, die Privilegien des Adels erhalten will,199 andererseits aber auch eine Macht­ kumulation auf die gewählte Volksvertretung verhindern will, um ein Austarieren der Mächte zu gewährleisten. Der politischen Macht des Volkes müsse durch eine geteilte Legislative und durch eine monarchisch organisierte Exekutive eine eigenständige Kraft entgegengesetzt werden.200 Für das Straf- und Strafverfahrensrecht ist für Montesquieu von Bedeutung, dass hier nur solche Gesetze legitim sein können, die einerseits in der 197  Montesquieu, Meine Gedanken (Mes pensées – Aufzeichnungen), S. 47; vgl. hierzu auch Christ, Bürgerliche Freiheit und Strafrecht bei Montesquieu (2003), S. 216 f.; vgl. auch Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch VI, Kapitel 16, S.  130 f. 198  Er war mehrere Jahre Präsident des Parlaments von Bordeaux und Richter am Gerichtshof der Provinz Guyenne. 199  Vgl. hierzu näher Forsthoff, Zur Einführung, in: Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, S. XXXII: „Aber er erweist sich hier zugleich als ein Aristokrat von überlegener politischer Klugheit, der mit den Realitäten rechnet und darüber nicht im Zweifel ist, dass das Verhältnis von Adel und Volk der ausgleichenden Ordnung bedarf, die er entwirft, ohne die Privilegien des Adels, (…) die er verteidigt, zu beeinträchtigen.“ 200  Siehe hierzu auch E. R. Huber, Bewahrung und Wandlung (1975), S. 81 f. mit Bezug zur Bismarck’schen Reichsverfassung.



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht105

Lage sind, die Freiheit des Einzelnen und andererseits die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Das Strafrecht fügt sich in die Gewaltenteilungslehre ein. Das zeigt sich u. a. an der ablehnenden Haltung Montesquieus gegenüber dem Inquisitionsverfahren und der Errichtung einer Staatsanwaltschaft sowie seiner Vorstellung der Besetzung des Gerichts in Abhängigkeit der Herkunft und des Standes des Angeklagten. Mit seiner Gewaltenteilungslehre verbunden mit monarchischen Prinzi­ pien kann Montesquieu daher zu Recht als einer der „Väter des politischen Liberalismus und der konstitutionellen Bewegung“ bezeichnet werden.201 Die Staatsform der konstitutionellen Monarchie war nun gerade auch Kennzeichen der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts.

II. Die konstitutionelle Monarchie als Übergang vom Absolutismus zur Volkssouveränität Der Streit, ob die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts eine selbständige politische Form neben dem Absolutismus und dem Parlamentarismus darstellte, oder ob sie eine Übergangserscheinung war, soll hier nicht geführt werden.202 Vorliegend geht es um den ideengeschichtlichen Zusammenhang. Danach kann jedenfalls die konstitutionelle Monarchie wenn auch möglicherweise nicht historisch so doch ideengeschichtlich als Ende des absolutistischen Staatsdenkens und als Beginn einer neuen konstitutionellen Bewegung hin zur Volkssouveränität und damit als „Übergang“ begriffen werden. So wurde in Deutschland weder vor noch unmittelbar nach der Märzrevolution von 1848 ein Regierungssystem errichtet, welches auf der Souveränität des Volkes ruhte. Sowohl die frühkonstitutionellen Verfassungen der einzelnen deutschen Länder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als auch die Reichsverfassung Bismarcks von 1871203 wa201  Böckenförde,

Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. (1981), S. 37. eine selbständige politische Form Otto Hintze, „Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung“ (1941), in: ders. (Hrsg.), Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur Allgemeinen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. (1962), S.  359 ff.; E. R.  Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl. (1988), S. 3 ff. (inbes. S. 11 und 18); gegen eine selbständige politische Form, sondern als Übergangserscheinung betrachtend Böckenförde, Der Verfassungstyp der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Moderne Verfassungsgeschichte 1815–1918, 2. Aufl. (1981), S. 146 (159); vgl. zusammenfassend Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit (2006), S. 273 ff. 203  Das Reichsverfassungswerk bestand aus mehreren Einzelstücken, nämlich aus der im November 1870 zwischen dem Norddeutschen Bund, Baden und Hessen vereinbarten „Verfassung des deutschen Bundes“, aus den zwischen dem Norddeutschen Bund, Bayern und Württemberg gleichfalls im November 1870 vereinbarten Änderungen und Zusätzen zu dieser Vor-Verfassung sowie aus den Beschlüssen des 202  Für

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

ren noch vom monarchischen Prinzip geprägt.204 Deutlichen Ausdruck findet es z. B. in Titel II § 1 der bayerischen Verfassung von 1818: „Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereiniget in sich alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie unter den von Ihm gegebenen in der gegenwärtigen VerfassungsUrkunde festgesetzten Bestimmungen aus.“205 Nicht das Volk, sondern der König allein übt die Staatsgewalt aus. Allerdings unterstellt er sich selbst der Verfassung, so dass diese jedenfalls eine – wenn auch von ihm gesetzte – Begrenzung seiner Herrschaft darstellt. Der König ist verfassungsgebende Gewalt.206 Davon zeugt auch die Präambel des Verfassungswerks von 1871: „Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern (…) schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes. Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen und wird nachstehende Verfassung haben.“207 Insoweit ist die konstitutionelle Monarchie in Deutschland nicht Folge einer Revolution des Volkes von unten, sondern Produkt einer „monarchischen Reform“ von oben gewesen.208 Allerdings haben die Französische Revolu­ tion von 1789 und die spätere napoleonische Herrschaft ebenso Anstöße für grundlegende Änderungen gegeben wie die wissenschaftlichen, technischen und industriellen Neuerungen. Der einzelne Mensch befreite sich insgesamt aus der vorgegebenen gesellschaftlichen, politischen und der Natur gebenden Norddeutschen Bundesrats und Reichstags vom 9./10. Dezember 1870 über die Einführung der Bezeichnungen „Deutscher Kaiser“ und „Deutsches Reich“. Vgl. hierzu E. R. Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsrechtlicher Entwicklung, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 4, Rn. 1 Fn. 1. 204  Dabei soll nicht geleugnet werden, dass die einzelnen Landesverfassungen sehr unterschiedlich ausgestaltet waren und auch die konstitutionelle Monarchie des Kaiserreichs von 1871 bis 1918 einem permanenten Wandel unterworfen war. Vgl. hierzu Boldt, Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 151 (166 ff.). 205  Vgl. auch Art. 57 der Wiener Schlussakte, der das monarchische Prinzip jedenfalls für die Gliedstaaten des Deutschen Bundes vorschrieb. Vgl. insgesamt zu den folgenden Ausführungen die Darstellung von Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit (2006), S.  277 ff. 206  Vgl. auch hierzu die Bayerische Verfassung von 1818: „Wir (Maximilian Joseph, von Gottes Gnaden König von Baiern) erklären hiernach folgende Bestimmungen als Verfassung des Königreiches Bayern“. 207  Damit soll nicht geleugnet werden, dass das Volk selbst die Einigung zum Nationalstaat wollte. Vgl. hierzu näher R. Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: FS für Hasso Hofmann (2005), S. 113 (119 f. m. w. N.). 208  Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit (2006), S. 279.



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht107

Ordnung.209 Der Mensch ist nicht mehr nur Teil einer ihm gegenüber gestellten Welt, sondern ist (in unterschiedlichem Maß) Mitkonstituent. Das spiegelt sich im Konstitutionalismus an der Mitwirkung bei der Gesetzgebung wider. Die von den Bürgern gewählte Legislative ist Hüterin der bürgerlichen Freiheit vor allem gegenüber der starken Macht der Exekutive.210 Die Reformen stellten insoweit politisch gesehen einen Kompromiss zwischen monarchischen Herrschaftsansprüchen und den Vorstellungen des liberalen Bürgertums dar und entsprachen den Ideen der Zeit, deren Ziele Freiheit und Sicherheit des Einzelnen sowie zugleich die Herstellung einer nationalen Einheit waren.211 Das Regierungssystem von 1871 weist diese Mischung aus Volksgewalt, des Kaisers Exekutivgewalt sowie der im Bundesrat zusammengefassten Föderativgewalt auf.212 Die zentrale Exekutivgewalt kam dem Kaiser zu.213 Zwar wurde der bürgerlichen Gesellschaft schon in der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1866 und dann auch 1871 in der Reichsverfassung ein demokratisches Wahlrecht in Bezug auf die Wahl der Nationalrepräsentanten eingeräumt (allgemeine, gleiche, geheime und unmittelbare Wahl), sie hatten aber durch die starke Stellung des Kaisers nur ein Recht auf Teilhabe an der Staatsgewalt und bildeten nicht ihre Basis.214 Um die politischen Kräfte aufzuteilen und eine Balance der Gewalten herzustellen, sollten Legislative und Exekutive zum einen organisatorisch und hinsichtlich ihrer Zuständigkeiten getrennt sein, zum anderen sollten sie jeweils eigenständig und voneinander unabhängig sein. Wie auch die Lehre Montesquieus gezeigt hat, war nach der Vorstellung der Verfassungsgeber von 1871 von Bedeutung, dass der gesetzgebenden Gewalt eine auf dem monarchischen Prinzip basierende Exekutive gegenüberstand.215 Das Repräsentativsystem wurde bewusst 209  Vgl. zusammenfassend zur Entstehung der Menschenrechte Ryffel, Philosophische Wurzeln der Menschenrechte, in: ARSP 70 (1984), 400 ff. 210  s. a. Merten, Das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat, in: Jeserich/Pohl/von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5 (1987), § 3, S. 64. Dabei ist freilich nicht außer Acht zu lassen, dass das Wahlrecht bis zum Ende der Kaiserzeit von Ungleichheiten geprägt war. 211  Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. (2006), S. 311. 212  Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. (2006), S. 311; vgl. auch E. R. Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsrechtlicher Entwicklung, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 4, Rn. 33 a. E.: Die „gewaltenteilende Verbindung von monarchischem Prinzip und Repräsentativsystem (ergab) sich aus der konstruktiven Entscheidung für das Modell des Einheit und Macht, Freiheit und Recht sichernden kooperativen Dualismus des konstitutionellen Systems.“ 213  Vgl. Art. 11–19, 56, 63–65, 68 der Reichsverfassung. 214  E. R. Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsrechtlicher Entwicklung, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 4, Rn. 33. 215  Vgl. zur Bedeutung Montesquieus für die Verfassungen von 1867 und 1871 auch E. R. Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsrechtlicher Entwicklung, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 4, Rn. 33.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

mit dem monarchischen Prinzip verbunden. Der Exekutivgewalt kamen bedeutende, eigenständige Aufgaben zu, da sie gegenüber der Legislativgewalt ein Gegengewicht bilden sollte. So stand nach Art. 11 der Verfassung dem Kaiser das Recht zu „das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen“. Ihm oblag es zudem, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen und ebenso zu vertagen oder zu schließen. Auch die Ausfertigung, Verkündung sowie die Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze standen dem Kaiser zu (Art. 12). Anders als die Paulskirchenverfassung und die meisten frühkonstitutionellen Landesverfassungen enthielt die Bismarck’sche Reichsverfassung keine Grundrechte, sondern regelte allein den Aufbau und die Aufgaben des nationalen Bundesstaates und überließ es dem Reichs- und den Landesgesetzgebern Staatsgewalt und Einzelfreiheit voneinander abzugrenzen.216 Das lag auch darin begründet, dass der Verfassung – anders als zur Zeit des Vormärzes – kein Vorrang gegenüber dem allgemeinen Gesetz zukam. Das Staatsdenken in der Kaiserzeit war stark vom Positivismus geprägt, der sich dadurch auszeichnete, dass er jedem „metaphysischen und ontologischen Erörterungen den Wissenschaftscharakter“ absprach und wissenschaftliches Arbeiten auf die Analyse und Strukturierung der äußeren Erscheinungen reduzierte.217 Ihre Aufgabe sah die Staatrechtslehre daher vor allem in der Normauslegung, -systematisierung und -ordnung des positiven Rechts, ohne nach Begründungen oder Zielen staatlicher Tätigkeit zu fragen.218 Daher gab es auch keine Notwendigkeit, den Gesetzgeber selbst an weitere materielle Voraussetzungen zu binden, so dass es einer den Gesetzen übergeordneten Verfassung ebenso wenig bedurfte wie einer Verfassungsgerichtsbarkeit.219 Die Grundrechte stellten insofern auch nicht subjektive Rechte der Bürger dar, sondern wurden als Schranken der Staatsgewalt begriffen. Sie beanspruchten keine Geltung gegenüber dem Gesetzgeber.220 Es sollte dem Gesetzgeber überlassen bleiben, Staatsgewalt und Einzelfreiheiten voneinander abzugrenzen.221 So regelte beispielsweise die Reichsstrafprozessordnung 216  Vgl. zur Verfassungsdebatte Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. 2013, § 34 III. 2. (S. 286 f.). 217  Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. (1981), S. 210. 218  Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. (1981), S. 211  ff.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. 2013, § 38 IV. 1. (S. 330 f.). 219  Siehe insgesamt näher zu den Hintergründen Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2 (1992), S. 330 ff.; 348 ff.; 371 ff. 220  Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 1 (2003), § 1 Rn. 64. 221  Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. (2006).



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht109

den Schutz der persönlichen Freiheit vor willkürlicher Verhaftung, den Schutz der Wohnung und des Besitzes vor willkürlicher Durchsuchung222 und Beschlagnahme, indem sie einen Richtervorbehalt bei intensiven Freiheitseingriffen normierte.223 Auch die Unabhängigkeit der Justiz war nicht in der Verfassung selbst festgeschrieben, sondern in § 1 (sachliche Unab­ hängigkeit)224 und in § 8 (Teile der persönlichen Unabhängigkeit)225 des Gerichtsverfassungsgesetzes geregelt, welches 1879 (zusammen mit der Reichsstrafprozessordnung)226 in Kraft trat.227 Das Bismarck’sche Regierungssystem war somit insgesamt ein monarchisch-konstitutionelles. Es bestand einerseits aus einer vom Volk gewählten Legislative und einer von der Exekutive getrennten Justiz, andererseits war es aber weiterhin geprägt von einer machtvollen monarchischen Exekutive. Ziel des Staates war es, die Freiheit des einzelnen Bürgers vor dem Staat zu sichern bei gleichzeitigem Machterhalt des Souveräns.

222  Vgl. z. B. § 98 RStPO hinsichtlich der Beschlagnahme: „Die Anordnung von Beschlagnahmen steht dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch der Staatsanwaltschaft und denjenigen Polizei- und Sicherheitsbeamten zu, welche als Hülfsbeamte der Staatsanwaltschaft den Anordnungen derselben Folge zu leisten haben.“ Für die Durchsuchung §§ 102, 105 RStPO. 223  Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 109. 224  „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt.“ Vgl. hierzu näher Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. (1965), § 19, S. 102. 225  „Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus den Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amts enthoben oder an eine andere Stelle oder in Ruhestand versetzt werden.“ Dabei sind mit „Gesetzen“ die Landesgesetze, vor allem die Beamtengesetze der Länder gemeint, so dass § 8 GVG nur ein Rahmengesetz war. Vgl. hierzu Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. (1965), § 19, S. 102 f. 226  Vgl. zur Entstehungsgeschichte der beiden Gesetze: Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (Nachdruck 1995), §§ 297–299. Zur Entstehungsgeschichte der RStPO näher Schubert/Regge, Entstehung und Quellen der Strafprozessordnung von 1877 (1989). Das „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“ wurde am 15. Mai 1871 verkündet. Vgl. hierzu Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 297. 227  Schon in den einzelnen Landesverfassungen war jedenfalls die sachliche Unabhängigkeit der Richter bereits vor 1848 normiert, während die persönliche Unabhängigkeit zwar in der Paulskirchenverfassung verankert werden sollte, aber nur selten in den Einzelverfassungen der Länder aufgenommen wurde. Vgl. hierzu näher m. w. N. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt (2006), S. 45 ff.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

III. Reformen im Strafrecht Auch die Reformbestrebungen im Strafrecht standen in einem engen Zusammenhang mit dem Verständnis der konstitutionellen Monarchie und machen die Übergangsform dieser Zeit deutlich. So wies das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 einen „Kompromisscharakter“ zwischen konservativen und liberalen Kräften auf.228 Im Strafverfahrensrecht setzten sich die Reformbestrebungen nur langsam durch, da es direkt die Machtstellung der Obrigkeit im Verhältnis zu ihren Bürgern berührte. 1. Zu einzelnen Entwicklungen im materiellen Strafrecht Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam die Forderung auf, ein neues Strafgesetzbuch zu verfassen.229 Die Reformen zielten darauf, das Strafrecht willkürlicher Handhabung durch staatliche Herrschaftsansprüche zu entziehen und auf rechtsstaatlich-liberale Grundsätze zu stellen. Das am 14. April 1851 in kraft getretene Preußische Strafgesetzbuch (PrStGB), das die Grundlage für das RStGB von 1871 bildete, stand einerseits unter dem Einfluss des Code pénal von 1810, war aber andererseits ebenso wie die anderen deutschen Strafgesetzgebungen des 19. Jahrhunderts geprägt von dem Bayrischen Strafgesetzbuch von 1813, welches wesentlich durch Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833)230 beeinflusst wurde.231 Das Anliegen Feuerbachs war es, „Grundsätze über die Anwendung der Strafe überhaupt und ueber den Maaßstab der Strafen“ zu erarbeiten, um damit dem Mangel der bisherigen Strafgesetze, „welche bloß mit willkührlichen Strafen drohen und doch nicht ausdrücklich die Principien angeben, nach welchen der Richter die Strafe in concreto bestimmen soll“, entgegenzutreten.232 Insbesondere verlangte Feuerbach anknüpfend an den Rechtsbegriff Kants,233 dass für das Recht und damit auch das Strafrecht nur die 228  Amelung,

Rechtsgüterschutz (1972), S. 55. Deutsches Strafrecht, Bd. 1 (1925), S. 314. 230  Dieser beherrschte mit seinem „Lehrbuch des peinlichen Rechts“ von 1801 mit vielen folgenden Auflagen und seiner Lehre vom psychologischen Zwang die deutsche Strafrechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vgl. insgesamt zur Straftheorie Feuerbachs die Darstellung bei Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie (2009), S. 34 ff. 231  Vgl. statt vieler Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 298. 232  Feuerbach, Revision I (1799), Einl. S. XX. 233  Auch wenn Kants Rechtslehre einen bedeutenden Einfluss auf die Lehre Feuerbachs ausgeübt hat, zog er gerade für seine Strafrechtsbegründung andere Schlussfolgerungen als Kant. s. a. Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck (2004), 229  v. Hippel,



D. Die konstitutionelle Monarchie und ihr Strafrecht111

äußere Übereinstimmung der Handlungen mit ihm und nicht die Gesinnung des Täters von Bedeutung sein könne, und trennt damit moralisches H ­ andeln von rechtlichem ab. Der Staat ist nur „rechtlicher Richter“ und kann daher allein die „rechtswidrige Handlung bestrafen“, nicht aber die Immoralität der Handlung.234 Feuerbach trennt zudem den Zweck der Strafandrohung von der Strafverhängung. Während erstere dazu diene, potentiell Tatgeneigte durch psychologischen Zwang abzuschrecken, weise letztere kein eigenes Ziel auf, sondern solle bloß zeigen, dass die Strafandrohung ernst zu nehmen sei. Die Bestimmtheit der Strafgesetze steht für Feuerbach dabei unmittelbar im Zusammenhang mit dem Zweck der Generalprävention: „Jede Zufuegung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege). Denn lediglich die Androhung des Uebels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe.“235 Nur ein vom Staat gesetztes und bestimmtes Gesetz ist damit in der Lage, die Abschreckungswirkung gegenüber potentiellen Verbrechern zu erreichen. Daraus ergibt sich auch, dass das Gesetz vor der Tat bestehen muss und eine Rückwirkung von Gesetzesbestimmungen nicht möglich ist. Der psychologische Zwang könne auf potentielle Täter nur ausgeübt werden, wenn das Gesetz bestand, bevor die Tat begangen wurde. Ausgeschlossen sei zudem die Verhängung von Strafe auf der Grundlage von Analogien oder Gewohnheitsrecht.236 Der Gesetzgeber müsse vielmehr eindeutig bestimmte allgemeine Begriffe verwenden, so dass sowohl Richter als auch das Volk in der Lage seien, sie zu verstehen.237 Es sollte damit das freie Ermessen des Richters ausgeschlossen und jeder Form machtpolitischer Einflussnahme durch den Staat begegnet werden.238 Anders als Beccaria239 verwehrte Feuerbach weder den Richtern noch den Wissenschaftlern die Interpretation des Gesetzes, sondern sah es sogar als notwendig an, dass die Justiz insofern eigenständig wirke, als sie S.  18 ff. Vgl. zudem Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs (1962), insbes. S. 79 ff. Während Kant eine sog. absolute Straftheorie zu begründen versuchte (vgl. hierzu die Ausführungen unter E. I. 2. c)), stand für Feuerbach die generalpräventive Wirkung der Strafgesetze im Vordergrund. 234  Feuerbach, Revision I (1799), S. 34; vgl. hierzu Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs (1962), S. 42 f.; näher zum Verbrechensbegriffs Feuerbachs Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie (2009), S.  56 ff. 235  Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts (1801), § 24. 236  s. hierzu auch Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie (2009), S.  52 f. 237  Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs I (1804), S. 20. 238  Vgl. auch Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S.  115  ff.; Eb. Schmidt, Geschichte des deutschen Strafrechts, 3. Aufl. (1995), § 229, S. 239. 239  Siehe oben unter C. I. 2.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

die Gesetze ihrem Sinn nach auszulegen habe: Wer den Richter „blos an den Buchstaben verweißt, hebt das Gesetz seinem Wesen nach auf, um es dem Scheine nach zu sichern.“240 Das vor allem auf Feuerbachs Einfluss beruhende Bayrische Strafgesetzbuch von 1813 nahm in Art. 1 S. 1 den Grundsatz der Bestimmtheit auf: „Wer eine unerlaubte Handlung oder Unterlassung verschuldet, für welche ein Gesetz ein gewisses Übel gedrohet hat, ist diesem gesetzlichen Übel als seiner Strafe unterworfen.“ (Art. 1 S. 1). Auch das Preußische Strafgesetzbuch von 1851, welches den Wortlaut des französischen Code pénal übernommen hatte, normierte in § 2 den Bestimmtheitsgrundsatz, der wiederum vom Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes der Sache nach übernommen wurde und schließlich in § 2 des RStGB mündete: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“ Auf der liberalen Bewegung beruhte zudem die Anerkennung des menschlichen Lebens als höchstes Gut.241 Nur der Tatbestand des Mordes sieht die Höchststrafe vor, nämlich die Todesstrafe. Ihre Einführung war jedoch auf das Wirken konservativer Kräfte, insbesondere auf das Eingreifen Bismarcks zurückzuführen.242 Bismarck verhinderte die bereits im Reichstag beschlossene Abschaffung der Todesstrafe, indem er damit drohte, über den Bundesrat den Entwurf eines reichseinheitlichen Strafgesetzes insgesamt zu Fall zu bringen.243 Auch die Ausgestaltung der Religions- und Sittlichkeitsdelikte im RStGB, wie beispielsweise der Tatbestand der Gotteslästerung (§ 166 RStGB) oder der der Unzucht zwischen Männern (§ 175 RStGB) und der Kuppelei (§§ 180 f. RStGB) waren konservativen Einflüssen zuzuschreiben und fielen insoweit hinter die Ideen der Aufklärung zurück, die eine notwendige Trennung von Recht und Moral gefordert hatten.244 Bereits dieser kleine Ausschnitt einzelner Entwicklungen im materiellen Strafrecht macht deutlich, inwieweit auch dieses zwar einerseits geprägt war von liberalen Einflüssen, andererseits aber auch konservativen Bestrebungen unterlag. 240  Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs II (1804), S. 22 ff. Hierzu auch Schreiber, Gesetz und Recht (1976), S. 109; vgl. auch Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie (2009), S. 52 f. 241  Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 55. 242  Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 55. 243  Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 55; näher Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, § 297. 244  Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 55 f.



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2. Zur Entwicklung des Strafprozessrechts Ebenso wie im materiellen Strafrecht wurde bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts über eine Reform des Strafverfahrensrechts diskutiert. Als Vorbild diente auch hier zum großen Teil die französische Prozessordnung von 1808 („Code d’instruction criminelle“).245 Es sollte eine Gesamtreform des Strafverfahrens erfolgen, die den Prozess insbesondere unter die Prinzipien der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit stellte und nach einer Funktionentrennung von Ankläger und Richter – wie sie auch Montesquieu gefordert hatte – sowie nach einer Laienbeteiligung verlangte. Darauf, dass die Notwendigkeit einer solchen Reform nicht nur eine Vorstellung einzelner Wissenschaftler war, sondern – bedingt durch die Kodifikation der Verfassungen in den einzelnen Territorialstaaten – auch vom Volk selbst gefordert wurde, hat z. B. Mittermaier hingewiesen: „Durch die immer mehr in das Leben tretenden Verfassungen der deutschen Staaten wurde auch ein in das Volk übergehender Geist der Aufmerksamkeit auf das Strafverfahren verbreitet und die Beachtung der Formen, welche man für die besseren vielfach erklärte, veranlaßt. Auf den Landtagen wurden Anträge auf Einführung der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und der Geschworenengerichte gestellt; das bestehende Verfahren wurde dabei einer scharfen Kritik unterworfen, das Volk, welches diesen Verhandlungen folgte, wurde immer aufmerksamer. Auch die seit dem Jahre 1832 in den deutschen Staaten vielfach verhandelten politischen Prozesse gaben der Theilnahme an der Frage über die Umgestaltung des Strafprozesses eine neue Nahrung.“246 Die Sätze Mittermaiers zeigen, dass die Bürger nicht allein hinsichtlich der Grundverfassung des Staates, sondern ebenso bezogen auf Reformvorschläge im Strafverfahren mitprägend waren. Das macht die Kraft deutlich, die der konstitutionellen Bewegung und dem politischen Liberalismus innewohnte. Auch wenn diese Stoßrichtung nicht zu einem plötzlichen Umbruch der politischen und rechtlichen Verhältnisse führte, sondern letztlich bestimmt war von Kompromissen zwischen liberalen Forderungen seitens des Bürgertums einerseits und ihrer politisch möglichen Durchsetzbarkeit in

245  Vgl. hierzu auch im Überblick Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 84; näher zu den Gründen für die Ausrichtung am französischen Verfahrensmodell Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S. 132 ff., 172 ff., 202 ff. 246  Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschwornengericht (1845), S. 5. Auf die politische Strafverfolgung zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. hierzu Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 223 ff.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

einem monarchischen System andererseits,247 zeigten ihre Ideen doch auch im Strafrecht Wirkung. Während sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die meisten Landesregierungen gegen die Forderungen nach einer Gesamtreform des Strafverfahrens seitens der ständischen Vertretungen sperrten und allein einzelne Mängel des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens beseitigten, konnten sie sich einer Reform des Strafverfahrens nach den Aufständen im März 1848 nicht mehr verschließen. Den Abschluss dieser Entwicklung bildeten die nach der Reichsgründung 1871 geschaffenen Reichsjustizgesetze.248 Allerdings fand nicht eine Reform in der Weise statt, dass das Inquisitionsverfahren abgeschafft wurde, sondern es wurde durch ein Verfahren ergänzt, in dem das Gericht nur auf der Grundlage einer öffentlichen, mündlichen Verhandlung entscheiden konnte (sog. reformierter Inquisitions­ prozess).249 Es erfolgte eine Zweiteilung des Verfahrens in ein Vorverfahren und ein Hauptverfahren. Dabei sollte das Vorverfahren nicht auf die Überführung des Beschuldigten gerichtet sein, sondern zielte allein auf den für die Anklageerhebung notwendigen Tatverdacht ab. Dieses Vorverfahren wurde der Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ übertragen, die sowohl be- als auch entlastende Umstände zu ermitteln hatte (§ 158 Abs. 2 RStPO). Ihr kam insgesamt die Funktion zu, die Ermittlungen zu leiten und zu überwachen; sie hatte damit auch die Rechtsstellung des Beschuldigten im Verfahren zu sichern.250 Die Staatsanwaltschaft bildete eine gegenüber den Gerichten eigenständige, vom Justizministerium abhängige Behörde.251 Der Untersuchungsrichter hatte jedoch im Vorverfahren 247  Vgl. zum Vorwurf, dass der Liberalismus in dieser Zeit „nur aus Taktik liberal und human, aus Überzeugung pragmatisch gewesen (ist)“ und letztlich so dem Positivismus den Weg im Strafrecht und Strafverfahrensrecht geebnet habe Sellert/ Rüping, Studien- und Quellenbuch, Bd. 2 (1994), S. 40; s. a. deutlich Naucke, Von Feuerbauch zu Mittermaier: ein Fortschritt in der Strafrechtswissenschaft?, in: Küper (Hrsg.), Carl Joseph Anton Mittermaier (1988), S. 100 (104). 248  Vgl. insgesamt zur Entwicklung der Reformgesetzgebung vor und nach 1848 Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S. 67 ff.; 107 ff.; 137 ff.; 158 ff. 249  Insoweit ist es genauer, von einem „reformierten Inquisitionsprozess“ und nicht vom „reformierten Strafprozess“ zu sprechen; so zutreffend Ignor, Geschichte des Strafprozesses (2002), S. 16. 250  Die preußischen Justizminister v. Savigny und v. Uhde haben in ihrer Prememoria aus dem Jahr 1846 die Rolle der Staatsanwaltschaft im reformierten Strafverfahrensrecht als „Wächter des Gesetzes“ bezeichnet. Vgl. die Wiedergabe bei Otto, Die preußische Staatsanwaltschaft (1899), S. 40. Näher hierzu Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S. 103 ff. 251  Der Frage, ob und wenn ja, inwieweit die Staatsanwaltschaft eine wirkliche Errungenschaft der liberalen-rechtsstaatlichen Reformbestrebungen war, oder ob sie nicht vielmehr von den Regierungen eingesetzt wurde, um der Unabhängigkeit der Rechtsprechung entgegenzuwirken, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Vgl.



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insbesondere hinsichtlich schwerer Straftaten eigene Ermittlungszuständigkeiten im Rahmen der obligatorischen gerichtlichen Voruntersuchung (§§ 176 ff. RStPO). Im nunmehr in der Regel öffentlichen Hauptverfahren sollten die Beteiligten wie Staatsanwaltschaft, Angeklagter und Verteidiger zwar an der Wahrheitsfindung mitwirken, jedoch sollte es allein Aufgabe des Gerichts sein, die Wahrheit selbständig zu erforschen. Insoweit war das Verfahren nicht als Parteiverfahren ausgestaltet,252 sondern dem Gericht (Schöffengericht253, Strafkammer) oblag die Verhandlungsleitung, die Beweisaufnahme und in der Regel254 auch die Urteilsfällung, insofern war das Verfahren noch vom Inquisitionsprinzip geprägt. Vorrangiges Ziel des Strafverfahrens war es weiterhin, die materielle Wahrheit zu ermitteln, um die Schuld bzw. Unschuld des Angeklagten festzustellen. Das Gericht entschied auf der Grundlage der freien Überzeugung und Beweiswürdigung,255 war aber nach § 244 RStPO verpflichtet, die Beweisaufnahme auf alle Zeugen, Sachverständige und andere vorgebrachte Beweismittel auszudehnen. Die Stellung des Beschuldigten wurde dadurch maßgeblich gestärkt, dass er sich nun in jeder Lage des Verfahrens dem Beistand eines Verteidigers bedienen konnte (§ 137 RStPO).256 Die Verteidigung hatte ein Fragerecht (§ 239 RStPO), ein Beweisantragsrecht und ein (beschränktes) Akteneinsichtsrecht (§ 147 RStPO). Zum Schutz der Freiheitsrechte des Beschuldighierzu Collin, „Wächter des Gesetzes“ (2000), insbes. S. 21 ff.; zusammenfassend Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 87 ff. s. zu den unterschiedlichen Konzeptionen der Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht in der rechtswissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S. 59 ff. 252  Nicht durchgesetzt hat sich damit das von einigen liberalen Vertretern geforderte kontradiktorische Verfahrensmodell, in dem sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung als Parteien gegenüberstanden. Vgl. hierzu näher Wohlers, Entwicklung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994), S. 135 ff., 153 ff., 172 ff. 253  Vgl. näher zu den Schöffengerichten, Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. (1965), § 21, S. 109 ff. 254  Eine Ausnahme bildeten die Geschworenengerichte, die für schwere Straftaten zuständig waren. Im schwurgerichtlichen Verfahren waren die Geschworenen sowohl für die Tatsachenfrage als auch für die Schuldfrage zuständig, während die Berufsrichter lediglich das Strafmaß festsetzten. Für geringfügige Straftaten im ersten Rechtszug waren Schöffengerichte zuständig. An der Urteilsabfassung waren sie aber nicht beteiligt. Vgl. Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. (1965), § 22, S.  114 ff. 255  § 260 RStPO: „Ueber das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung.“ 256  Vgl. hierzu näher Rieß, Der Beschuldigte als Subjekt des Strafverfahrens, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), FS zum 100jährigen Gründungstag des Reichsjustizamtes am 1. Januar 1877 (1977), S. 373 (405 ff.).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

ten gegenüber Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren sollte die Entscheidung über solche beim unabhängigen Richter liegen.257 So konnte der Haftbefehl nur von einem Richter erlassen werden; ebenso mussten die Anordnung einer Durchsuchung und einer Beschlagnahme durch den Richter erfolgen. Allein bei Gefahr im Verzug durften auch Staatsanwaltschaft und Polizei eine Beschlagnahme, eine Durchsuchung oder eine vorläufige Festnahme anordnen, es bedurfte dann aber einer Bestätigung durch den Richter. Im Ergebnis ist damit einigen Forderungen der Strafrechtsreformbestrebungen zunächst in den meisten deutschen Staaten und schließlich in der sich an ihnen orientierenden RStPO nachgekommen worden. Der reformierte Inquisitionsprozess wurde zwar nicht ersetzt, aber durch eine öffentliche, mündliche Verhandlung und das Unmittelbarkeitsprinzip ergänzt. Es erfolgte eine Zweiteilung des Verfahrens: Für das Vorverfahren war im Wesent­ lichen die Staatsanwaltschaft zuständig, so dass die Teilung des Verfahrens eine Trennung von Ermittler und unabhängigem Richter bewirkte. Durch die Einführung der Geschworenengerichte bei schweren und der Schöffengerichte für geringfügige Straftaten fand eine Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege statt – wenn auch nicht in dem erstrebten Umfang.258

E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht Während das Strafrecht und Strafverfahrensrecht im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht durch die Verfassung abgesichert, sondern in großem Maße ihren Änderungen unterworfen war, wandelt sich dies mit der Weimarer Reichsverfassung. Sie vollzieht überhaupt den Wandel von der konstitutionellen Monarchie zur republikanischen Demokratie. Allerdings war das Rechtsstaatsverständnis insgesamt ein formales. Dies hing damit zusammen, dass ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in der Staatslehre und dem Staatsrecht als auch in der Strafrechtswissenschaft ein extrem 257  Vgl. z. B. für die Beschlagnahme von Gegenständen § 100 RStPO: „Zu der Beschlagnahme (§ 99) ist nur der Richter, bei Gefahr im Verzug und, wenn die Untersuchung nicht blos eine Uebertretung betrifft, auch die Staatsanwaltschaft befugt.“ Vgl. zu den Zwangsmaßnahmen zusammenfassend Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. (1965), § 19, S. 106. 258  Der Frage, ob die liberale Reformpolitik im Strafrecht im Ergebnis als gescheitert anzusehen ist oder nicht, soll hier nicht näher nachgegangen werden, vgl. hierzu Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch, Bd. 2 (1994), S. 39; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2013, S. 109 ff. jeweils m. w. N.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht117

positivistisches Denken vorherrschte.259 Mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften erfolgte eine Abkehr von jeder Form metaphysischer Erklärungen. Diese galten als ein Bereich, der die menschliche Anschauung übersteige und daher nicht in der Lage sei, sichere Erkenntnisse zu vermitteln. Aufgrund der naturalistischen und evolutionistischen Denkweise in der Wissenschaft wurde ihre Aufgabe vor allem darin gesehen, äußere Erscheinungen in ihren Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, um Geschehnisse voraussehen und damit auch beherrschen zu können. Der Mensch wurde als ein Wesen begriffen, das der Naturkausalität unterworfen war. Auch die Erforschung des sozialen Lebens sollte dazu dienen, (Natur-)Gesetzmäßigkeiten festzustellen. Die einzelnen Personen waren Teil eines Gesellschaftssystems, dessen Aufgabe es sein sollte, ein Gleichgewicht zwischen den in einer kausalen Wechselbeziehung stehenden Personen herzustellen.260,  261 Das Grundgesetz knüpft zwar an die Weimarer Reichsverfassung an, materialisiert jedoch den Begriff des Rechtsstaates, indem es ihn an die Ideen der Aufklärung, insbesondere an die Vorstaatlichkeit der Menschenrechte bindet.262 Nach der Herrschaft durch die Nationalsozialisten wurde zudem durch das Vereinheitlichungsgesetz von 1950 ein rechtsstaatliches Strafverfahren wiederhergestellt. Neu eingefügt wurde dabei insbesondere § 136a StPO (verbotene Vernehmungsmethoden), der es als Ausprägung des Art. 1 Abs. 1 GG verbietet, den Beschuldigten zum Objekt des Verfahrens zu machen und daher die Rechtsstellung des Beschuldigten als Prozesssubjekt sichern sollte. Aufgrund der Eilbedürftigkeit der Wiederherstellung der Rechtseinheit und der Stoffmenge wurde im Übrigen vor allem auf das Recht der Weimarer Zeit zurückgegriffen, welches zum Großteil noch das Strafrecht von 1871 war.263

259  Vgl. für das Staatsrecht Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2 (1992), S. 438. Vgl. z. B. für das Strafrecht v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), 1 (8); Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1 (1885), S. 6. 260  Vgl. hierzu insgesamt die Darstellung bei Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935), S. 1 ff. 261  Vgl. zur Sonderstellung des Nationalsozialismus die Bemerkung im Rahmen der Einleitung unter A. 262  Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde (1968), S. 64. 263  Vgl. hierzu auch Rieß, Gesamtreform des Strafverfahrensrechts – eine lösbare Aufgabe?, in: ZRP 1977, 67 (68).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

I. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Demokratie und freiheitliche Rechtsverfassung – Rousseau und Kant Für einen demokratisch-republikanischen Rechtsstaat und sein Strafrecht soll hier auf die Staats- und Rechtsphilosophie Rousseaus und Kants eingegangen werden. Auch wenn ihre Lehren freilich nicht die einzigen Vorbilder für eine solche Verfassung sind und auch nicht einfach auf die Weimarer Reichsverfassung oder das Grundgesetz übertragen werden können, so zeigen sie doch eine Richtung europäischen Denkens auf, die für das damalige und heutige Verständnis des Zusammenhangs von freiem Einzelnen und der Konstitution eines demokratischen-republikanischen Rechtsstaates von Bedeutung ist. Kant hat in seiner Rechtslehre teilweise ausdrücklich auf Rousseau Bezug genommen und auch Vorstellungen Montesquieus aufgegriffen und sie in einen systematischen Zusammenhang mit seiner auf apriorischen Prinzipien ruhenden Rechts- und Staatslehre gebracht. 1. Rousseau – Ungeteilte Souveränität des Volkes Anders als Hobbes und Locke greift Rousseau in seinem Werk „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“ (1762) nicht unmittelbar auf den natürlichen Zustand des Menschen zurück. Rousseau hat sich jedoch in einer zuvor erschienenen Arbeit, im „Diskurs über die Ungleichheit des Menschen“ (1755), mit der Theorie vom natürlichen Zustand des Menschen auseinandergesetzt. Hier legt er die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft dar: Worin liegt der „Ursprung“ und was sind „die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“?264 Der Diskurs beschreibt dabei kritisch die Genese der bürgerlichen Gesellschaft und grenzt ihn vom hobbesschen Konzept des Naturzustandes ab.265 Anders als Hobbes richtet Rousseau seinen Fokus auf den solitären Einzelnen, der unabhängig von bestehenden Interpersonalitätsverhältnissen lebt und agiert. Im Rahmen des „Gesellschaftsvertrags“ untersucht Rousseau, wie ein bürgerlicher Zustand aussehen muss, um legitim zu sein, d. h. unter welchen Voraussetzungen sich staatliche Herrschaft rechtfertigen lässt.

264  Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 67. Vgl. näher zur Entstehungsgeschichte dieser Schrift die Anm. von Meier, in: J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit (1984), S. 64 Fn. 74. 265  Siehe z. B. Rousseau, a. a. O., S.  136 ff.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht119

a) „Diskurs über die Ungleichheit“ (1755) Nach Rousseau sind die Menschen von Natur nicht böse, da sie noch gar nicht wissen können, was gut ist; „denn weder die Entwicklung der Einsicht und Aufgeklärtheit noch der Zaum des Gesetzes, sondern das Ruhen der Leidenschaften und die Unkenntnis des Lasters hindern sie daran, Böses zu tun“.266 Hinzu komme, dass der Mensch „einen angeborenen Widerwillen“ habe, „seinen Mitmenschen leiden zu sehen“. Dieses Mitleiden mäßige seinen Selbsterhaltungstrieb und seine Eigenliebe.267 Der Einzelne ist im Naturzustand damit nicht – wie bei Hobbes – von seinem empiristischen Selbstinteresse geleitet, sondern Rousseau betont die empathische Verbundenheit des Einzelnen gegenüber seinesgleichen.268 In diesem Zustand gehörten die Erde und ihre Früchte allen gleichermaßen, es gebe weder Eigentum noch Besitz, vielmehr seien alle von Natur aus gleich. Diese ursprüngliche Gleichheit gehe erst durch die Errichtung einer Gesellschaft verloren. Während sich im Naturzustand „alle von den gleichen Nahrungsmitteln ernähren, auf die gleiche Weise leben und exakt die gleichen Dinge tun“, entstehe durch den Gesellschaftszustand eine durch die Gesellschaft selbst „eingerichtete Ungleichheit“.269 Den Zeitpunkt der Gesellschaftsentstehung sieht Rousseau in der Begründung des Privateigentums. „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‘ “.270 Die Begründung des Privateigentums führt nach Rousseau zur Aufhebung der natürlichen Gleichheit und zur Entstehung der gesellschaftlichen Ungleichheit. Es bilde sich ein Gefälle zwischen Reichen und Armen, Starken und Schwachen, Herren und Knechten. Der Einzelne sei einerseits abhängig von anderen und andererseits nur auf seinen Vorteil bedacht. Aufgrund des egoistischen Strebens eines jeden schädigten sie sich gegenseitig, es komme zu kriegerischen Auseinandersetzungen.271 In dieser Situation trete nun ein 266  Rousseau,

a. a. O., a. a. O., 268  Siehe hierzu auch 269  Rousseau, a. a. O., 270  Rousseau, a. a. O., 271  Rousseau, a. a. O., 267  Rousseau,

S.  141. S.  141. Köhler, Rousseau, Friedensschriften (2009), Einl. S. XII. S.  163. S.  173. S.  207 ff.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

„kluger Reicher“ auf und schlage seinen Mitmenschen vor, sich zu einer politischen Einheit zusammen zu fassen. Diese Einigung bewirke aber nach Rousseau für die Menschen nur eine Scheingleichheit und Scheinfreiheit, tatsächlich führe sie zu noch größerer Ungleichheit und Unfreiheit. Denn einige wenige wollten mit der Vereinigung nur despotisch über alle anderen herrschen, um ihren eigenen Profit zu sichern. „Alle liefen auf ihre Ketten zu, im Glauben, ihre Freiheit zu sichern; denn sie hatten zwar genügend Vernunft, um die Vorteile einer politischen Einrichtung zu ahnen, aber nicht genügend Erfahrung, um deren Gefahren vorherzusehen; die, die am meisten dazu imstande waren, die Missbräuche vorauszuahnen, waren präzise jene, die darauf zählten, von ihnen zu profitieren; und selbst die Weisen sahen, dass es notwendig war, sich dazu zu entschließen, einen Teil ihrer Freiheit zur Erhaltung des anderen zu opfern (…). Dies war, oder muss der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben, die natürliche Freiheit unwiederbringlich zerstörten, das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fixierten, aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht machten und um des Profites einiger Ehrgeiziger willen fortan das ganze Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und des Elends unterwarfen.“272 Rousseau sieht diesen ursprünglichen Gesellschaftszustand auch als einen Naturzustand an, der ohne jeden rechtlichen Bestand sei, da der Vertrag nur eine vorübergehende Wirksamkeit entfalten könne, nämlich nur so lange der Despot tatsächlich auch der Stärkste sei. „Die Gewalt allein hielt ihn, die Gewalt allein stürzt; alles geschieht so nach der natürlichen Ordnung“.273 Den Ausweg aus diesem despotischen Herrschaftszustand erblickt Rousseau aber nun nicht darin, dass der Mensch wieder in seinen ursprünglichen, natürlichen Zustand zurückzukehren habe. Die bereits durch die Gesellschaft kultivierten Menschen könnten gar nicht zurück in den natürlichen Zustand ihrer Unschuld. „Was denn? Soll man die Gesellschaften zerstören, Dein und Mein vernichten und dazu zurückkehren, in den Wäldern mit den Bären zu leben? Ein Schluss nach der Art meiner Gegner, dem ich lieber zuvorkommen will (…). Was Menschen wie mich betrifft, deren Leidenschaften ihre ursprüngliche Einfachheit für immer zerstört haben, die sich nicht mehr von Gras und Eicheln ernähren noch Gesetze und Oberhäupter entbehren können (…); all jene werden danach trachten, durch die Ausübung der Tugenden, die sie sich zu praktizieren verpflichten (…), den ewigen Lohn verdienen, den sie von ihnen zu erwarten haben; sie werden die heiligen 272  Rousseau, 273  Rousseau,

a. a. O., S.  217 ff. a. a. O., S.  263.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht121

Bande der Gesellschaften achten, deren Mitglieder sie sind, sie werden ihre Mitmenschen lieben und ihnen mit all ihrer Kraft dienen; sie werden gewissenhaft den Gesetzen gehorchen und den Menschen, die deren Urheber und Diener sind“.274 In diesen Zeilen wird auch Rousseaus beschreibende Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft im „Diskurs“ deutlich, die daher mit seiner im „Gesellschaftsvertrag“ folgenden normativen Betrachtung nicht vermengt werden darf.275 Der Mensch hat sich durch die historische Vergesellschaftung grundlegend gewandelt. Er ist nun nicht mehr rein natürliches, sondern gesellschaftliches und damit auch tugendhaftes Wesen, welches auf die Interpersonalität angewiesen ist. Nach einer solchen Wandlung ist ein tatsächliches Zurück zum Solipsismus nicht mehr möglich.276 Allerdings soll damit nicht geleugnet werden, dass auch nach Rousseaus Auffassung eine Besinnung auf den ursprünglichen, natürlichen Zustand hilfreich sein kann.277 Der kurze Gang durch den „Diskurs“ hat gezeigt, dass für Rousseau der Mensch von Natur aus frei und gleich ist. Erst die Vergesellschaftung macht ihn zu einem ungleichen und unfreien Wesen. Sie führt auch dazu, dass der Einzelne mit anderen in Kontakt tritt. Das Interpersonalitätsverhältnis hat positiv zur Folge, dass der Einzelne kultiviert wird. Er erwirbt die Fähigkeit, tugendhaft zu handeln. Diese Erkenntnis wird Bedeutung für die Begründung des Rousseau’ schen „Gesellschaftsvertrages“ haben. b) „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“ (1762) Das erste Kapitel des ersten Buches des „Gesellschaftsvertrages“ beginnt mit den Worten: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ Dieser Satz markiert den Ausgangspunkt für Rousseaus Staatsver274  Rousseau,

a. a. O., S.  319 ff. auch ausführlich Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, in: Brandt/ Herb (Hrsg.), Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (2000), S. 27 (29, 35, 39 ff.); ebenso Kersting, Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ (2002), S. 22. 276  Vgl. hierzu auch die Anmerkung von Meier, in: J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit (1984), S. 64 Fn. 388; Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie (2011), § 18, S. 219. 277  Vgl. auch Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 322/A 324: „Rousseau wollte im Grunde nicht, dass der Mensch wiederum in den Naturzustand zurück gehen, sondern von der Stufe, auf der er jetzt steht, dahin zurück sehen sollte. Er nahm an: der Mensch sei von Natur (…) gut, aber auf negative Art, nämlich von selbst und absichtlich nicht böse zu sein, sondern nur in Gefahr, von bösen und ungeschickten Führern und Beispielen angesteckt und verdorben zu werden.“ 275  Vgl.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

ständnis: die Freiheit des Einzelnen. Als Mensch ist der Mensch von Natur aus frei. Er kann noch nicht einmal auf seine Freiheit verzichten, denn das hieße zugleich, sein Menschsein zu verlieren.278 Mit Freiheit meint Rousseau nicht nur die allgemeine Handlungs- und Wahlfreiheit, sondern die Freiheit des Willens, sich selbst zu bestimmen (Autonomie). Für den Zusammenschluss von Menschen ist daher eine Form zu finden, „die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“.279 Die Lösung für eine solche Vergemeinschaftung, in der keiner seine Selbstbestimmung aufgeben muss, sieht Rousseau im Gesellschaftsvertrag. Das Wesen dieses Vertrages beschränkt sich darauf, dass wir alle gemeinsam, „jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens (stellen); und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf. Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen. Was die Mitglieder betrifft, so tragen sie als Gesamtheit den Namen Volk, als Einzelne nennen sie sich Bürger, sofern sie Teilhaber an der Souveränität, und Untertanen, sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind“.280 Der Unterschied zu dem Vertragsgedanken bei Hobbes besteht darin, dass der Vertrag nicht zugunsten eines Dritten, nämlich des Leviathans, geschlossen wird, sondern die Bürger weiterhin Souverän des Staates bleiben. Jeder Einzelne vereinigt in sich zwei Rollen, er ist Staatsoberhaupt und Bürger. Mit dem Vertrag verbindet sich der Einzelwille zu einem gemeinschaftlichen Willen (volonté générale). Das Volk wird nicht durch den Staat repräsentiert, sondern jeder einzelne Bürger bildet durch den einverständlichen Zusammenschluss mit dem Staat eine unmittelbare Identität. Daraus ergibt sich für Rousseau auch, dass mit dem Gesellschaftsvertrag „stillschweigend“ die Übereinkunft eingeschlossen ist, „daß, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft 278  Rousseau,

Gesellschaftsvertrag, 1.4. a. a. O., 1.6. 280  Rousseau, a. a. O., 1.6. 279  Rousseau,



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht123

dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein“.281 Im Augenblick des Gesellschaftsvertragsschlusses selbst kann der Einzelne demgegenüber nicht zur Zustimmung gedrängt werden, er gehört dann allerdings auch nicht dem Staat als Bürger an.282 Hat er dem Vertrag aber zugestimmt oder seinen Wohnsitz im Staatsgebiet, dann kann er auch zum Gemeinwillen gezwungen werden.283 Das Zwangsrecht und gerade auch die Strafbefugnis seitens des Staates hängen also mit der Zustimmung des Einzelnen zum Gesellschaftsvertrag unmittelbar zusammen. Aus ihm geht sein Zweck, nämlich die Erhaltung der Vertragsschließenden, hervor und aus dem Willen zu diesem Zweck ergibt sich zugleich das Einverständnis der Mittel, denen sich der Staat zur Einhaltung des Zwecks bedient. Der Einzelne erklärt sich bei schweren Verbrechen auch für die Verhängung seiner eigenen Todesstrafe einverstanden. „(U)m nicht selbst das Opfer eines Meuchelmörders zu werden, ist man einverstanden zu sterben, wenn man einer wird“.284 Während sich Rousseau bei geringeren Gesetzesübertretungen (Vergehen) für die Möglichkeit einer Resozialisierung des Täters aus­ spricht,285 sind Verbrecher nicht resozialisierbar, sondern werden zum Feind der Gesellschaft, dem der Krieg erklärt wird. Ein solcher Verbrecher werde „durch seinen Frevel zum Rebellen und zum Verräter am Vaterland; dadurch, dass er dessen Gesetze verletzt, hört er auf, sein Glied zu sein, ja er liegt sogar mit ihm im Krieg. Jetzt ist die Erhaltung des Staats mit der Erhaltung des Verbrechers unvereinbar, einer von beiden muss untergehen, und wenn man den Schuldigen zu Tode bringt, dann weniger als Bürger, denn als Feind. Das Verfahren und das Urteil sind die Beweise und die Erklärung, dass er den Gesellschaftsvertrag gebrochen hat und dass er folglich kein Glied des Staates mehr ist“.286 Maßstab ist für Rousseau allein der Erhalt des Staates, der durch die verbrecherische Tat bedroht wurde. Der Täter habe durch sie den Gesell281  Rousseau,

a. a. O., 1.7. sich also in dem Augenblick, da der Gesellschaftsvertrag geschlossen wird, Andersdenkende finden, so macht deren Gegnerschaft den Vertrag nicht ungültig, sie verhindert nur, dass sie dazugezählt werden; sie sind Fremde unter den Bürgern. Wenn der Staat gegründet ist, liegt die Zustimmung im Wohnsitz; das Staatsgebiet bewohnen heißt, sich der Souveränität unterwerfen.“ Rousseau, a. a. O., 4.2. 283  Rousseau, a. a. O., 1.7. 284  Rousseau, a. a. O., 2.5. 285  Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft (1973), S. 88. 286  Rousseau, a. a. O., 2.5. Vgl. zum Strafrecht bei Rousseau auch Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft (1973), S. 86–88; zusammenfassend Kersting, Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale, in: ders. (Hrsg.), Die Republik der Tugend (2003), S. 81 (94 f.). 282  „Wenn

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

schaftsvertrag als für sich nicht gültig erklärt und befinde sich nun im Krieg mit dem Gemeinwesen. Er werde aus der zivilisierten Gesellschaft ausgeschlossen und in seinen natürlichen Zustand zurückversetzt. Er sei nicht mehr Bürger, sondern Feind und als solcher, wie ein Naturzustandswesen, wie ein Tier, zu behandeln.287 Da Rousseau jedes Verbrechen als Vertragsauflösung und daher als Kriegserklärung begreift, kann er weder eine Richtschnur für die Bestimmung der Art noch für das Maß der Strafe angeben.288 Rousseau erkennt aber, dass ein Unterschied zwischen der Summe der besonderen Einzelwillen aller (volonté de tous) und dem allgemeinen Willen (volonté générale) bestehen muss. Während sich der allgemeine Wille nicht von Einzelinteressen leiten lasse, sondern auf das allgemeine öffentliche Wohl abziele, zeichne sich der Gesamtwille dadurch aus, dass er durch eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen und Interessen gebildet werde.289 Für die Gesetzgebung entscheidend müsse der allgemeine Wille sein, da dieser sich allein von dem Ziel leiten lasse, Freiheit und Gleichheit aller im Staat, also das Gemeinwohl zu realisieren. Bei konkreten Abstimmungen müsse das Mehrheitsprinzip gelten und zwar nicht als formale Mehrheit, sondern weil sie die Gewähr für die materielle Richtigkeit gebe. In der Mehrheit spiegele sich der Allgemeinwille wider. Rousseau sieht damit in der Stimmenmehrheit zugleich den normativen Ausdruck des Gemeinwohls. „Der beständige Wille aller Glieder des Staates ist der Gemeinwille; durch ihn sind sie Bürger und frei. Wenn man in der Volksversammlung ein Gesetz einbringt, fragt man genau genommen nicht danach, ob die Bürger die Vorlage annehmen, sondern ob diese ihrem Gemeinwillen entspricht oder nicht; jeder gibt mit seiner Stimme seine Meinung darüber ab, und aus der Auszählung der Stimmen geht die Kundgebung des Gemeinwillens hervor. Wenn also die meiner Meinung entgegengesetzte siegt, beweist dies nichts anderes, als dass ich mich getäuscht habe und dass das, was ich für den Gemeinwillen hielt, es nicht war. Wenn mein Sonderwille gesiegt hätte, hätte ich gegen meinen eigenen Willen gehandelt und wäre deshalb nicht frei gewesen.“290 287  Kersting, Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale, in: ders. (Hrsg.), Die Republik der Tugend (2003), S. 81 (94 f.). 288  Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft (1973), S. 88. 289  Rousseau, a. a. O., 2.3.: „Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen; dieser sieht nur auf das Gesamtinteresse, jener auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen.“ Vgl. zu den unterschiedlichen Deutungen der „volonté générale“ in der Literatur Luf, Souveränität bei Rousseau und Kant, in: Holzleithner/Somek (Hrsg.), Freiheit als Rechtsprinzip (2008), S. 217 (223 f. m. w. N.). 290  Rousseau, a. a. O., 4.2. Vgl. hierzu auch näher Kersting, Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale, in: ders. (Hrsg.), Die Republik der Tugend (2003), S. 81 (111 ff.).



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht125

Rousseau stellt damit nicht auf die Art des Verfahrens ab, sondern geht davon aus, dass die Stimmberechtigten als Teilnehmer eine besondere Bürgergesinnung und Tugendhaftigkeit mitbringen, die die materiellen Inhalte der Abstimmung prägen. Nur wenn sich alle vom Prinzip der gemeinsamen Erhaltung und des allgemeinen Wohlergehens leiten ließen, werde der Staat von „gesunden“ Kräften geführt. Die Grundsätze des Staates seien dann „klar und einleuchtend, es gibt keine verwickelten, widersprüchlichen Interessen, das Gemeinwohl ist immer offenbar, und man braucht nur gesunden Menschenverstand, um es wahrzunehmen.“291 Anders als bei Locke und Montesquieu ist für Rousseau die Herrschaft des Souveräns, des Volkes, unmittelbar und unteilbar. Das Volk selbst und nicht Vertreter desselben müssten bestimmen, was legitim sei und was nicht. „Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein, es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.“292 Rousseau ist insofern Verfechter einer unmittelbaren Demokratie. Der allgemeine Wille könne sich nur realisieren, wenn der Staat von „unten“ organisiert sei. Jeder Einzelne sei zugleich Bürger, der öffentliche Aufgaben wahrnehme, und Untertan.293 Der direkt-demokratische Ansatz Rousseaus hat zur Folge, dass ein Rechtsstaat keinen eigenständigen Grundrechtskatalogs benötigt, in dem die Einzelfreiheiten als Abwehrrechte gegenüber dem Staat festgelegt sind. Denn die Herrschaftsausübung sei so eingerichtet, dass sie durch ihre Kons­ titution und Struktur mit der Freiheit und Gleichheit der Einzelnen übereinstimme. Die unmittelbar demokratische Herrschaft mache die Einrichtung von „individuellen Grundrechten obsolet“.294 Mit der Unmittelbarkeit der Herrschaftsausübung hängt nach Rousseau ihre Unteilbarkeit zusammen. Denn nur der Souverän könne den Gemein291  Rousseau, a. a. O., 4.1. Siehe auch näher Kersting, Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale, in: ders. (Hrsg.), Die Republik der Tugend (2003), S. 81 (108), der die Vorstellung Rousseaus vom demokratischen Verfahren abgrenzt von den Ansätzen der Diskurstheorie. Vgl. hierzu S. 114: „Die volonté générale ist nie prozeduralistisches Ergebnis; sie ist Manifestation eines wirksamen Gemeinsinns, sie ist Ausdruck von Tugendhaftigkeit und Bürgersinn. Die Achse der politischen Philosophie Rousseaus ist kein demokratischer Prozeduralismus, sondern ein republikanischer Expressionismus, der sich staatsrechtlich geboten demokratischen Verfahren bedient.“ 292  Rousseau, a. a. O., 3.15. 293  Siehe hierzu auch Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2.  Aufl. (2011), § 18, S. 222. 294  Vgl. hierzu Kersting, Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale, in: ders. (Hrsg.), Die Republik der Tugend (2003), S. 81 (96). Siehe auch Luf, Souveränität bei Rousseau und Kant, in: Holzleithner/Somek (Hrsg.), Freiheit als Rechtsprinzip, (2008), S. 217 (226).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

willen in allgemeinen Gesetzen ausdrücken. Rousseau trennt zwar die Exekutive (die Regierung) von dem Gemeinwillen ab, diese übe jedoch nur eine bloß vermittelnde Tätigkeit zwischen Volk und Souverän aus. Ihre Aufgabe bestehe darin, dass sie die Gesetze im Einzelfall anwendet und vollzieht. Die Regierenden (Könige) hätten dabei aber nur ein vom Souverän abhängiges Amt inne, „bei dem diese als einfache Beamte des Souveräns in dessen Namen die Macht ausüben, die er ihnen anvertraut hat und die er einschränken, abändern und zurücknehmen kann, wenn es ihm gefällt“.295 Allerdings komme der Regierung insofern eine Machtstellung zu, als sie gänzlich vom Souverän getrennt arbeite und das umfasse, was unmittelbar an „öffentlicher Machtausübung- und Verwaltungstätigkeit anfällt“.296 Das beinhalte sowohl die Vorlage von Gesetzesvorschlägen, die Kriegserklärung als auch die Vollziehung der Gesetze.297 Durch ihre Tätigkeit ist die Regierung nach Rousseau damit unmittelbar an der Gestaltung des öffentlichen Lebens beteiligt, passt die Gesetze den Änderungen der Lebenswirklichkeit an und hat dadurch in ihrem Handeln auch einen gewissen Entscheidungsspielraum.298 Durch ihre besondere Abhängigkeit vom Souverän ist sie aber zugleich an dessen Leitlinien gebunden. Mit seiner Vorstellung vom „Gesellschaftsvertrag“ rückt Rousseau bewusst von dem absolutistischen Staatsverständnis Hobbes’ ab. Ebenso wendet er sich mit seiner Idee der unmittelbaren und unteilbaren Demokratie auch gegen die Annahme einer gemischten und geteilten Staatsform, wie sie bei Locke und Montesquieu ihren Ausdruck gefunden hat. Die Gleichsetzung von Souverän und Staatsvolk führt dazu, dass der Exekutive eine Funktion zukommt, die zwar als ausführende Instanz auf die besondere Lebenswirklichkeit der Bürger eingehen kann, die aber zugleich in starker Abhängigkeit zum Gesetzgeber steht und insofern nur weisungsgebundener „Geschäftsführer“ desselben ist.299 Leitend ist für den Gesetzgeber nach Rousseau nicht der freie Einzelne, sondern das Wohl der Allgemeinheit. Es ist nicht die Herrschaft eines Souveräns gegenüber seinen Untertanen, sondern es herrscht allein das Gesetz als Ausdruck des Gemeinwillens. Damit der Gemeinwille seinen richtigen Ausdruck findet, ist es erforderlich, die Bürger zum Gemeinsinn, zur Tugendhaftigkeit zu erziehen: „Wollt ihr, dass der Gemeinwille erfüllt werde? Dann müsst ihr alle Partikularwillen darauf 295  Rousseau,

a. a. O., 3.1. Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale, in: ders. (Hrsg.), Die Republik der Tugend (2003), S. 81 (93). 297  Rousseau, a. a. O., 2.2. 298  Kersting, Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und volonté générale, in: ders. (Hrsg.), Die Republik der Tugend (2003), S. 81 (93). 299  Rousseau, a. a. O., 3.1.; H.-D. Horn, Gewaltenteilige Demokratie, demokratische Gewaltenteilung, in: AöR 127 (2002), 427 (442). 296  Kersting,



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht127

abstimmen. Da die Tugend nur diese Übereinstimmung der Einzelwillen mit dem Gemeinwillen ist, kann man dasselbe mit einem Wort zusammenfassen: Macht, dass die Tugend regiert!“300 Durch die Ausblendung jeder Form von Privatinteressen bei der Feststellung des Allgemeinwillens und die alleinige Orientierung am Wohl der Allgemeinheit bleiben bei Rousseau Interessen von einzelnen Bürgern unberücksichtigt. Das hat zur Folge, dass ebenso Gesetze gefasst werden können, die zu Ungleichheiten einzelner Gemeinschaftsmitglieder oder -gruppen führen, sollten sie zur Erhaltung und Festigung des Gemeinwesens erforderlich sein.301 2. Kant – Die republikanische Verfassung Kant knüpft an die Ideen Rousseaus an.302 Er verändert jedoch die Gewichtung des Freiheitsbegriffs derart, dass er schließlich zu einer ganz anderen, zu einer neuen Vorstellung des Zusammenhangs von Freiheit, Verfassung und Staat gelangt.303 Während für Rousseau eine rechtliche Vergemeinschaftung deshalb erforderlich ist, um den von seinen Interessen geleiteten Einzelnen zum gemeinsinnigen Menschen zu machen, entwickelt Kant seinen Staatsbegriff aus apriorischen Prinzipien. Davon zeugen schon seine Erklärungen in der „Vorrede“ zur Rechtslehre“ der „Metaphysik der Sitten“ und in der „Einleitung zur Rechtslehre“, in denen er erläutert, was er unter dem Begriff der Rechtslehre versteht: „Die Rechtslehre (…) ist nun das, wovon ein aus der Vernunft hervorgehendes System verlangt wird, welches man die Metaphysik des Rechts nennen könnte.“304 Mit „Metaphysik“ ist nicht eine jenseitige Vorstellung gemeint, sondern eine in der Vernunft der einzelnen handelnden Subjekte zu findende Denkweise, die „lediglich aus Prinzipien a priori ihre Lehren vorträgt“.305 Kant will ein System entwi300  Rousseau,

Abhandlung über Politische Ökonomie, S. 24. Rousseaus Gesellschaftsvertrag (2002), S. 119. 302  Vgl. Kant, MdS, A 172 f./B 202 f.; ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 402; Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, A 14 und A 17. 303  Vgl. auch Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21 (1982), 161 (177 f.): „Indem Kant die von Hobbes und Rousseau geschaffenen Bauteile einer rein rationalen Rechtslehre aufgreift und sie zu einem geschlossenen rechtsphilosophischen Gebäude mit sicherem Fundament verarbeitet, wird er zum eigentlichen Philosophen des Vernunftrechts der Freiheit.“ Denn: „Bei Rousseau hat das Gebäude keine Basis: es fehlt der Nachweis der Verbindlichkeit des staatsstiftenden Vertrages. Bei Hobbes hat das Gebäude keinen Aufbau, und der Boden ist noch nicht fest: es fehlt ein verbindliches Prinzip der Herrschaftsausübung, und das den Staat fundierende Naturrecht ist widersprüchlich.“ 304  Kant, MdS, AB III. 305  Kant, GMS, Vorrede, BA, V. 301  Kersting,

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

ckeln, welches sich aus reinen Vernunftbegriffen ergibt, um ausgehend von ihnen allgemeine Prinzipien angeben zu können, anhand derer Recht und Unrecht zu trennen sind. Einer rein empirischen Rechtslehre wirft er demgegenüber vor, dass sie zwar einen Kopf habe, „der schön sein mag, nur schade! dass er kein Gehirn hat“.306 Im grundlegenden rechtsphilosophischen 3. Teil der Arbeit wird noch ausführlich auf den Kantischen Freiheitsbegriff sowie seine Rechts- und Staatslehre einzugehen sein. Im Folgenden soll daher sein Gedankengang nur insoweit aufgenommen werden, als er für den hier zu betrachtenden ideengeschichtlichen Hintergrund von Bedeutung ist. a) Die Autonomie des Einzelnen und die Notwendigkeit der Staatskonstitution Rechtliche Freiheit ist keine Form der Freiheit, die vom Einzelnen erworben werden müsste, sondern sie ist jedem Subjekt aufgrund seines Menschseins angeboren und gibt den Maßstab für alle weiteren subjektiven Rechte (Menschenrechte) an. Unter der Überschrift „Das angeborne Recht ist nur ein einziges“ schreibt Kant: „Freiheit […] ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit zustehende Recht“.307 Ausgangspunkt des Rechts ist damit die freie Person. Mit dem Begriff der Freiheit meint Kant nicht eine bloße Unabhängigkeit von äußeren Zwängen. Der Mensch ist nicht auf eine reine Wahlfreiheit beschränkt, entweder das eine oder das andere zu tun. Der Einzelne kann aufgrund seiner Vernunftbegabung nicht nur nach bestimmten Gesetzen handeln, sondern ist in der Lage, sich selbst welche zu geben. Er kann – wenn auch subjektiv beschränkt – nach allgemeinen Prinzipien handeln (Selbstbestimmung, Autonomie). Im kategorischen Imperativ („handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“308) findet die Autonomie des je Einzelnen ihren Ausdruck. Aus ihr folgt auch, dass es im Interpersonalverhältnis ihrer wechselseitigen Anerkennung bedarf. Der kategorische Imperativ kann daher auch so formuliert werden: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“309 Die Achtung des selbstbestimmten Subjekts darf auch nicht vom Staat und seiner Rechtssetzung umgangen werden; der Einzelne muss auch im Staat Subjekt bleiben. 306  Kant,

MdS, Einl. in die Rechtslehre, § B, AB 32. MdS, Einteilung in die Rechtslehre, AB 45. 308  Kant, GMS, BA 51. 309  Kant, GMS, BA 66 f. 307  Kant,



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht129

Kant sieht den Einzelnen – anders als Rousseau – im Naturzustand nicht als solipsistisch handelndes, sondern als ein gemeinschaftliches Wesen. Daher sind sowohl der kategorische Imperativ als auch das Recht interpersonal zu begreifen. Die Freiheitssphären müssen wechselseitig aufeinander bezogen sein und zwar nicht erst im Staat, sondern schon im Naturzustand. In diesem gibt es bereits eine Trennung der Freiheits- und Eigentumssphären, ein – wenn auch provisorisches und damit nicht gesichertes – „Mein und Dein.“ Insofern ist der Naturzustand bereits ein rechtlicher Zustand. Kant begreift diesen Zustand allerdings nicht – wie Rousseau – als einen historischen, sondern als einen gedanklichen Zustand, von der jede Staatsbegründung auszugehen hat. Der Begriff des Rechts ist insoweit universal zu verstehen und erhält nicht erst im Staat seine Realität. Maßstab für den Rechtsbegriff ist nach Kant allein das äußere Verhältnis der Einzelnen zueinander. Demgegenüber könnten die „inneren Handlungsantriebe“ des Einzelnen für das Recht nicht entscheidend sein. Denn diese seien von den Bedürfnissen, Interessen und Gefühlen des je Handelnden abhängig und können so keine Objektivität erzeugen. Diese sei aber Voraussetzung für die Bestimmung des Rechts. Wären die inneren Handlungsgründe Maßstab, wäre es bloßer Zufall, ob die eigenen Interessen, Bedürfnisse und Gefühle mit denen des Gegenübers übereinstimmten.310 „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) der­ selben.“311 Kant nimmt daher im Rechtsimperativ diese für ihn notwendige Trennung von Legalität und Moralität auf, indem er ihn allein auf das nach außen gerichtete Handeln bezieht: „(H)andle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“.312 Dem Rechtsbegriff immanent ist nach Kant zugleich seine Durchsetzbarkeit. Ein Recht, welches nicht auch tatsächlich gegenüber anderen durchgesetzt werden kann, ist kein wirkliches Recht. Die Zwangsbefugnis meint nun nicht eine Brachialgewalt, ebenso nicht Notwehr oder eine Kriminalstrafe, sondern eine mit dem Prinzip des Rechts verbundene Notwendigkeit, um überhaupt von Recht in der äußeren Handlungswelt sprechen zu können. „Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein 310  Vgl. zur Abgrenzung von Moralität und Recht Geismann, Recht und Moral in der Philosophie Kants, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), 3 ff.; Zaczyk, Einheit des Grundes, Grund der Differenz von Moralität und Legalität, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), 311 ff. 311  Kant, MdS, Einl. in die Metaphysik der Sitten. III. 312  Kant, MdS, Einl. in die Rechtslehre, § C.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit, mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht“.313 Mit dem Recht muss die Zwangsbefugnis unmittelbar verbunden sein: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“.314 Kant macht dies am folgenden Beispiel deutlich: „Wenn also gesagt wird: ein Gläubiger hat ein Recht, von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu fordern, so bedeutet das nicht: er kann ihm zu Gemüte führen, dass ihn seine Vernunft selbst zu dieser Leistung verbinde; sondern ein Zwang, der jedermann nötigt, dieses zu tun, kann gar wohl mit jedermanns Freiheit, also auch mit der seinigen, nach einem allgemeinen äußeren Gesetze zusammen bestehen“.315 Das Beispiel verdeutlicht zudem, dass der Rechtszwang auf zwei Bedingungen eingeschränkt ist: Er ist als Gegenzwang zu verstehen, d. h. er erfolgt nur dort, wo bereits Zwang in Form eines Eingriffs in den Freiheitsraum eines anderen vorliegt und reicht nur so weit, wie er dazu dient, das Unrecht abzuwenden.316 Kant erkennt auch, dass die Menschen, selbst wenn sie noch so gut sein wollen, fehlbar sind und sich gegenseitig verletzen können. Die Notwendigkeit des Staates ergibt sich damit nicht daraus, dass ohne einen gesetzlichen Zustand ein „Krieg aller gegen alle“ – wie Hobbes meinte – entstünde und die Gefahr bestünde, dass sich die Menschen vernichten, sondern eine öffentliche Gewalt ist a priori deswegen notwendig, um die Freiheitssphären der Subjekte verbindlich abzustecken, da eine Einzelperson dies aufgrund ihrer endlichen Subjektivität nicht objektiv-gültig für die Allgemeinheit zu leisten vermag. „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlichen gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen 313  Kant,

MdS, Einl. in die Rechtslehre, § D. MdS, AB 36. 315  Kant, MdS, AB 36. 316  Vgl. zum Zwangsrecht auch Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S.  193 f.; M.  Köhler, Zur Begründung des Rechtszwangs, in: Kahlo/E. A. Wolff/ Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis (1992), S. 93 (101 ff.). 314  Kant,



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht131

Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen“.317 Aufgabe des Staates ist es, die an sich bestehenden freiheitlichen Verhältnisse der Einzelnen in einer Gemeinschaft zu ordnen und auf eine sichere Grundlage zu stellen. Denn im Naturzustand gibt es keine Instanz, die das (streitige) Recht des Einzelnen auch durchsetzen könnte. Der Naturzustand ist – wenn auch kein ungerechter – so doch ein „Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus), wo wenn das Recht streitig (ius controversum) war, sich kein kompetenter Richter fand“, der eine rechtskräftige, für alle Beteiligten gültige Entscheidung hätte fällen können.318 Die dem Einzelnen aufgrund seiner Person zustehenden Rechte müssen im Staat aber nicht nur gesichert und durchgesetzt werden, sondern auch weiterhin durch seine Konstitution Bestand haben. Der Staat kann daher nicht von einer einzelnen Person legitim begründet werden, die als übergeordnete, heteronome Macht die Wirksphären für alle anderen verbindlich zuweist, sondern er muss auf einem „sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio)“ gegründet sein.319 Der Staat, soll er ein Rechtsstaat sein, muss in seiner Konstitution und seinem Handeln immer auf das Subjekt rückführbar sein: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria).“320 Der „vereinigte Wille“, der sich im Ursprungsvertrag ebenso wieder finden muss wie in einzelnen Gesetzen, knüpft begrifflich an Rousseaus Prinzip der „volonté générale“ an. Kant konkretisiert den Rousseau’schen Allgemeinwillen, indem er ihn an die Idee der praktischen Vernunft knüpft und so unmittelbar mit der Freiheit des Einzelnen in Verbindung bringt. Die Idee gibt nach Kant das Prinzip an, nach dem sich jede Gesetzgebung zu richten hat. Der Allgemeinwille „ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtsmäßigkeit eines je317  Kant,

MdS, MdS, 319  Kant, MdS, 320  Kant, MdS, 318  Kant,

§ 44, § 44, § 43, § 46,

A A A A

162 f., B 192 f. 163, B 193. 161, B 191. 165, B 1195 f.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

den öffentlichen Gesetzes.“321 Der Vertrag ist damit nicht der Grund für das Dasein des Staates, sondern gibt die Begründung für rechtliche Herrschaft überhaupt.322 Anders als Rousseau, bei dem sich mit dem Vertragsschluss der Einzelne dem Gesellschaftsvertrag vollständig unterwirft und so überhaupt erst zum Bürger wird und daher auch bei einem manifesten Vertragsbruch zum Feind des Staates werden muss, bleibt der Einzelne bei Kant im Staat weiterhin ein freies Vernunftwesen, welches ebenso auch eigene Interessen verfolgt und sein Handeln gerade nicht notwendig in den Dienst der Allgemeinheit stellt. Die Menschen sind keine engelsgleichen Wesen und können es auch nicht werden, sondern sind und bleiben auch fehlbar.323 Aus diesem Grunde besteht die Notwendigkeit, in einen Staatszustand überzugehen. Das muss auch bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Die Idee der „volonté générale“ dient Kant normativ als Richtschnur, indem sie fordert, dass die Gesetze so verfasst sein müssen, dass sie aus der gemeinsamen Gesetzgebung freier und gleicher Personen entsprungen sein könnten.324 Maßstab für jedes Gesetz ist dann nicht das Gemeinwohl oder der Erhalt des Staates wie bei Rousseau, sondern weiterhin die Freiheit des Einzelnen. Auch das positive Recht hat sich allein an ihr zu orientieren. „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen.“325 Ebenso wenig wie das Rechtsgesetz auf tugendhaftes Handeln ausgerichtet sein kann, darf nach Kant auch der Staat die inneren Handlungsmotive nicht zum Gegenstand seiner Herrschaft machen, sondern seine Rechtsetzung kann sich nur auf das äußere Verhalten der Personen beziehen. Rechtsund Tugendlehre sind im Staat strikt zu trennen. Demgegenüber ist Konstitutionsbedingung des Staates bei Rousseau nicht die Realisierung der äuße321  Kant,

Über den Gemeinspruch, A 250. auch Geismann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21 (1982), 161 (183). 323  Ludwig, Kommentar zum Staatsrecht (II), in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 173 (186): „Kant macht immer wieder nachdrücklich deutlich, daß sein Begriff einer demokratischen Staatsverfassung mit dem des Rousseauschen Staates für ein ‚Volk von Göttern‘ wenig gemein hat (…)“. Dieser Unterschied zu Rousseau wird auch für die Interpretation des Kantischen Strafrechts von Bedeutung sein. Vgl. unter c). 324  Siehe hierzu auch Bielefeldt, Sittliche Autonomie und republikanische Freiheit, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996), S. 47 (57); Herb/Ludwig, Kants kritisches Staatsrecht, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 2 (1994), 431 (446 ff.). 325  Kant, Über den Gemeinspruch, A 234. 322  Siehe



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht133

ren Freiheitsverhältnisse, sondern sein Prinzip ruht gerade auf der Tugendhaftigkeit und Sittlichkeit der Bürger. Nur wenn der Mensch gänzlich Teil des Staates wird, kann er auch Bürger werden und erhält seine naturgegebene Freiheit und Gleichheit zurück. Nach Kant muss es demgegenüber für den Staat unbedeutend sein, aus welchen Motiven heraus der Bürger die Gesetze befolgt, entscheidend ist vielmehr die äußere gesetzliche Übereinstimmung:326 „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen. – Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebende Befugnis des letztern betrifft, völlig frei“.327 b) Der republikanische Staat Für Kant ist die Republik die Staatsform, in der das oben angegebene freiheitliche Rechtsprinzip am besten realisiert werden kann. Ein Staat sei nur dann ein republikanischer, wenn ausführende und gesetzgebende Gewalt getrennt seien, sonst handele es sich um einen despotischen Staat: „Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat“.328 Kant sieht dabei, was auf den ersten Blick irritieren mag, die Demokratie als eine notwendig despotische Herrschaftsform an: „Unter den drei Staatsformen (Autokratie, Aristokratie, Demokratie, Anm. B. N.) ist die Demokratie, im eigentlichen Verstande des Wortes, notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist“.329 Kants Kritik am Demokratiebegriff bezieht sich jedoch auf die direkte Demokratie. Eine Republik müsse repräsentativ organisiert sein: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (De326  Brandt, Der Contrat social bei Kant, in: Brandt/Herb (Hrsg.), Vom Gesellschaftsvertrag (2000), S. 271 (286). 327  Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 132, A 124. Siehe hierzu auch Bielefeldt, Sittliche Autonomie und republikanische Freiheit, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996), S. 47 (52 f.). 328  Kant, Zum ewigen Frieden, BA 26. 329  Kant, Zum ewigen Frieden, BA 25 f.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

putierten) ihre Rechte zu besorgen. Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der demokratische Verein) sich auch repräsentieren lässt, so repräsentiert das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern ist dieser selbst“.330 Die ideale Staatsform ist damit für Kant die rechtsstaatlich verfasste, gewaltenteilig organisierte, repräsentative Demokratie. Ausgehend vom repräsentativen Volkswillen muss der Staat gewaltenteilig konstituiert sein. Demgegenüber führe eine direkte Demokratie zwangsläufig zu einer Gewaltenkumulation und damit zur Despotie.331 Eine weitere eigenständige Gewalt sieht Kant in der Judikative. Kant übernimmt insofern die Teilung der Gewalten wie sie Montesquieu entwickelt hat. Während jedoch bei diesem eine Trennung der Staatsgewalt aus funktionalen Erwägungen, nämlich aus Balanceund Kontrollgründen erfolgt, ergibt sich die Notwendigkeit der Gewaltentrennung bei jenem aus der Vernunft selbst.332 Nach den gleichen Prinzipien, nach denen sich moralisches und rechtliches Handeln des autonomen Einzelnen bestimmt, muss sich auch das Handeln des Staates richten, damit die Freiheit des Einzelnen in ihm realisiert ist. Kant identifiziert die Gewaltentrennung mit einem kategorischen Vernunftschluss: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zufolge dem Gesetz), und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria), gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluss: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatze, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsum­tion unter denselben, und dem Schlusssatze, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.“333 Das durch den allgemeinen Willen konstituierte Gesetz bildet den Obersatz, von dem die Exekutive als ausführendes Organ zu trennen ist. Denn während die Gesetze allgemein gefasst sein müssen, geht ihre Anwendung auf situationsbedingte Einzelfälle. Anders als bei Rousseau ist die Exeku­tive nach Kant aber nicht bloß ein abhängiger Geschäftsführer der Legislativen, sondern stellt eine eigene Autorität dar, die von der ersten Gewalt zu tren330  Kant,

MdS, § 52, A 213, B 242. wurde auch schon in den Ausführungen zur Staatstheorie Rousseaus deutlich, dessen direkt-demokratischer Ansatz zur notwendigen Unteilbarkeit der Herrschaftsausübung führte. s. o. unter 1. b). 332  Siehe hierzu auch Sander, Repräsentation und Gewaltenteilung (2005), S.  127 ff. 333  Kant, MdS, § 45. Vgl. ausführlich zur Gewaltenteilung bei Kant den 3. Teil der Arbeit. 331  Das



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht135

nen ist. Kant bezeichnet die Einzelgewalten daher auch als eigenständige „Staatswürden“, die Konstitutionsbedingungen eines freiheitlichen Rechtsstaates sind: „Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden, und als wesentliche aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Konstitution) notwendig hervorgehend, Staatswürden“.334 Neben der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt bildet die Rechtsprechung eine eigenständige Gewalt, deren Aufgabe darin liegt, als unbeteiligte Dritte dem einzelnen Bürger, sein Recht zu zusprechen. „(D)er Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof) auf den Untertan, d. i. einen, der zum Volk gehört, mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist, ihm das Seine zuzuerkennen (zu erteilen).“335 Der unparteiische Richter muss auf der Grundlage des allgemeinen Gesetzes den streitigen Einzelfall entscheiden. Durch die Unabhängigkeit von der Exekutive kommt der Rechtsprechung ebenso eine Objektivitätsfunktion zu wie dem allgemeinen Gesetz. „Die Justiz repräsentiert die gültige Reflexion auf den gesetzlichen Allgemeinwillen im streitigen Anwendungsfall – die Con-clusio, den ganzen Zusammenschluss.“336 Ebenso wie Montesquieu muss auch nach Kant das Volk selbst durch von ihm gewählte Stellvertreter an der Rechtsprechung beteiligt sein. Sie sei so einzurichten, dass sie sich nicht von politischen Zweckinteressen leiten lasse, sondern sich allein am Recht orientiere. Kant nimmt dabei für das Strafrecht die Konzeption des Geschworenengerichts auf. So solle die Schuld- oder Unschuldsfeststellung dem Volk bzw. seinen Repräsentanten zukommen, während der gesetzeskundige Richter das Gesetz auf den konkreten Fall anwende und die ausführende Gewalt das rechtskräftige Urteil vollstrecke.337 Mit seiner Idee von der Gewaltenteilung knüpft Kant damit zwar insgesamt an Montesquieus Lehren an, er hält sie jedoch frei von jeden empirischen Zweckerwägungen, sondern leitet sie allein aus Vernunftprinzipien ab. Diese machen eine Dreiteilung notwendig, damit der Staat tatsächlich nach demokratischen Freiheitsgesetzen gebildet und organisiert ist.

334  Kant, MdS, § 47, A 168, B 198; dazu Horn, Gewaltenteilige Demokratie, demokratische Gewaltenteilung, in: AöR, 127 (2002), 427 (442). 335  Kant, MdS, A 171 f., B 201 f. 336  M. Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203); ders., Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat, in: FS-Landwehr (2016), S. 393 ff. 337  Kant, MdS, A 172, B 202. Vgl. hierzu auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S.  406 f.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

c) Die Begründung der Strafe bei Kant Ebenso wie für die Rechts- und Staatsbegründung allgemeine Prinzipien aufzuweisen sind, muss auch das Strafrecht, soll es Recht und nicht bloßes Zwangsmittel des Staates sein, auf Vernunftprinzipien ruhen. Für das Verständnis von Kants Strafrechtslehre ist ihre Einordnung in sein Gesamtsystem des Rechts von Bedeutung. So schreibt er hinsichtlich seiner Ausführungen zum Strafrecht, dass er sie mit „minderer Ausführlichkeit bearbeitet (habe), als in Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden konnte“.338 Es ist vermutlich diesem Umstand geschuldet, dass Kant zwar nicht in seinen Prinzipien, die das Strafrecht betreffen, so doch in ihrer Konkretisierung teilweise zu Ergebnissen kommt, die nicht notwendig mit seinen Grundlagen übereinstimmen, wie z. B. seine Befürwortung der Todesstrafe. Vorliegend soll nur kurz auf die wichtigsten Strafrechtsgrundsätze Kants eingegangen werden, da bereits in zahlreichen anderen erschienen Arbeiten die Strafbegründung Kants ausführlich behandelt wurde.339 Zudem ist im dritten, grundlegenden Teil der Arbeit näher auf seine Strafrechtstheorie und ihre Bedeutung für ein auf seinen Prinzipien ruhendes Strafverfahrensrecht einzugehen.340 Die „Strafgerechtigkeit“ ist für Kant notwendig mit „der Idee einer Staatsverfassung unter Menschen“ verbunden.341 Er bezeichnet das Strafgesetz auch als einen „kategorischen Imperativ“.342 Der Begriff des Strafrechts basiert ebenso wie das Recht überhaupt auf reinen Vernunftbegriffen, so dass sich auch sein Sinn nicht an empirischen Zweckmäßigkeitserwägungen zu orientieren hat, sondern am Begriff des Unrechts ansetzen muss. „Richterliche Strafe (poena forensis), die von der natürlichen (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft und auf welche der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt, verschieden, kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den 338  Kant,

MdS, Vorrede, AB X. Strafbegründung zunächst nur Enderlein, Die Begründung der Strafe bei Kant, in: Kant-Studien 76 (1985), 303 ff.; Höffe, Vom Straf- und Begnadigungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 213 ff.; ders., Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 335 ff.; Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 ff.; Zaczyk, „Hat er aber gemordet, so muß er sterben“, in: Kugelstadt (Hrsg.), Kant-Lektionen (2008), S. 241 ff. m. w. N. in Fn. 11. 340  Vgl. hierzu insgesamt die Ausführungen im 3. Teil der Arbeit unter D. 341  Kant, MdS, B 170. 342  Kant, MdS, A 196, B 226. 339  s. zur



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht137

Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurteilt werden kann. Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und, wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur einem Grade derselben entbinde (…)“.343 Schon die von Kant selbst vorgenommenen Hervorhebungen machen deutlich, worauf es Kant bei der Frage nach der Strafgerechtigkeit ankommt: Erstens sind richterliche und natürliche Strafe voneinander zu trennen. Nur erstere betrifft das rechtliche Unrechthandeln und darf nicht etwa moralisches Fehlverhalten zum Gegenstand haben.344 Die Bewertung strafbaren Unrechts kann nicht von inneren Einstellungen des Täters gegenüber dem Verletzten oder seinem moralischen Verhalten abhängig sein, sondern muss in der Verletzung der äußeren Rechts- und Freiheitssphären liegen. Ebenso kann auch die Verhängung der Strafe nicht darauf beruhen, dass der Täter seine Tat bereuen oder Buße tun soll, sondern kann nur eine Reaktion auf die äußere Rechtssphäre des Verbrechers sein.345 Der Begriff der Rechtsstrafe346 existiert zweitens nur in einem staatlichen Zustand, der demokratisch und gewaltenteilig organisiert ist. Das Gesetz schafft den Rechtsgrund für den Strafausspruch, der nur durch den Richter, die dritte Gewalt, erfolgen kann. Damit wird jede Form von Privatstrafe oder der Ausspruch der Strafe seitens der ausführenden Gewalt ausgeschlossen. Letzterer kommt aber die Vollziehung der Strafe zu: „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.“347 Anders als Hobbes ist der Begriff des „Befehlshabers“ nicht als absoluter Souverän zu verstehen, sondern steht bei Kant für die vollziehende Gewalt.348 In der Auftei343  Kant,

MdS, A 196 f., B 226. auch in einer Vorlesungsnachschrift des Mrongovius aus dem Wintersemenster 1784/85: „Da die Gerechtigkeit der Menschen bloß in der Legalitaet besteht: so können die Strafen nur auf die Handlungen und nicht auf die Gesinnungen gehen.“ Akademie-Ausgabe XXIX, S. 638. 345  Enderlein, Die Begründung der Strafe bei Kant, in: Kant-Studien 76 (1985), 303 (306, 308). 346  Vgl. zum Begriff der Strafe überhaupt die Ausführungen im 3. Teil der Arbeit unter D. I. 347  Kant, MdS, A 195, B 225. 348  Siehe auch Höffe, Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalgesetze, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 335 (360). 344  Deutlich

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

lung von Strafgesetzen, Strafausspruch und Strafvollstreckung zeigt sich deutlich, dass nach Kant das Strafrecht an die Gewaltenteilung im Staat gebunden ist. Drittens erblickt Kant den ursprünglichen Sinn der Strafe allein in der Tatsache, dass der Täter ein Verbrechen begangen hat (die Strafe muss wider den Täter verhängt werden, „weil er verbrochen hat“) und befreit sie zunächst von spezial- oder generalpräventiven Zweckerwägungen. Diese können zwar aus der Strafe folgen, aber nicht ihren Grund angeben. Er schließt damit die relativen Strafzwecke nicht schlechthin aus (so schreibt er „niemals bloß“), er spricht ihnen aber die Möglichkeit ab, die Strafe aus sich heraus zu erklären. Grund und Maßstab staatlichen Strafens muss allein die Unrechtstat selbst sein. Denn der „Mensch (darf) nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt“. Die relativen Straftheorien können nun aber dazu führen, dass unter Umständen auch Unschuldige bestraft werden, denn Maßstab ist nicht die Tat selbst, sondern allein der Eindruck, den die Vollziehung der Strafe auf die Bevölkerung (Abschreckung) oder den Täter (Besserung) macht.349 Auch jede Form der Verdachtsstrafe, wie sie im Inquisitionsverfahren des gemeinen Rechts und in den Lügen- bzw. Ungehorsamsstrafen zur Zeit des Absolutismus verhängt werden konnten, ist dann nicht legitimierbar („er muss vorher strafbar befunden sein“), weil es bei dieser gerade nicht auf die wirklich begangene Tat ankommt. Die Rechtsstrafe setzt weiter voraus, dass sie gegen einen „Verbrecher“ verhängt wird. Damit macht Kant deutlich, dass nicht jede Form der Gesetzesverletzung strafrechtliches Unrecht sein kann, sondern nur eine solche, welche eine besonders intensive Freiheitsverletzung zum Gegenstand hat. So seien beispielsweise „falsch Geld oder falsche Wechsel zu machen, Diebstahl und Raub, u. dergl. öffentliche Verbrechen, weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird“.350 Die Unrechtstat muss also eine fundamentale Negation des Rechts darstellen.351 Kant erklärt allerdings auch, dass der Mensch aufgrund seiner Verbrechenstat zwar nicht seine „angeborne Persönlichkeit“ verlieren, doch aber seine „bürgerliche“ einbüßen könne. Zuvor schreibt Kant sogar: „Diejenige Übertretung des öffentlichen Gesetzes, die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heißt Verbrechen schlechthin (crimen)“. Daraus wird zum 349  Siehe auch Höffe, Kants Begründung setze, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie 350  Kant, MdS, A 196, B 225 f. 351  Siehe auch Höffe, Kants Begründung setze, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie

des Rechtszwangs und der Kriminalgeder Aufklärung (1982), S. 335 (364 f.). des Rechtszwangs und der Kriminalgeder Aufklärung (1982), S. 335 (362 f.).



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht139

Teil gefolgert, dass der Verbrecher nach Kant jedenfalls seine rechtliche Freiheit und Gleichheit verliere, da er nicht mehr die Qualitäten eines Mitgesetzgebers aufweise.352 Diese Ausführungen erinnern an Rousseaus Lehre, wonach der Verbrecher durch seine Tat zum Feind des Staates wird, da er den Gesellschaftsvertrag für sich als nicht gültig angesehen hat und sich nunmehr in einem Krieg mit dem Gemeinwesen befindet. Die zitierte KantPassage legt eine solche Interpretation vielleicht nahe, jedoch ist sie im Zusammenhang mit den grundlegenden Ausführungen zu den Begriffen Freiheit, Recht und Staat zu lesen. Gerade hierin unterscheidet sich – wie oben bereits dargelegt wurde – Kants Ansatz grundlegend von dem Rousseau’schen. Anders als dieser betont jener, dass der Einzelne gerade nicht vollständig als Person im Staat aufgeht, sondern weiterhin selbstbestimmtes Subjekt bleibt. Jedenfalls vor seiner Tat war der Verbrecher selbständiger Teil der staatlichen Gemeinschaft. Die von ihm begangene schuldhafte Tat ist nun gerade auch Ausdruck der Fehlbarkeit und Endlichkeit des Einzelnen. Auch wenn er mit seinem Verbrechen die Rechtsordnung „bricht“, muss er von der Gemeinschaft weiterhin als Rechtssubjekt anerkannt werden. Die Verhängung und Vollziehung der Strafe muss daher in den Zusammenhang mit Kants Rechts- und Staatslehre eingebettet werden, nur dann kann von einer gerechten Strafe gesprochen werden, die er auch immer wieder betont. Der Begriff des „Einbüßens“ der „bürgerlichen Persönlichkeit“ ist daher lediglich zu verstehen als vorübergehende Minderung des Bürgerrechtsstatus’ und nicht als Aufhebung desselben.353 Nach „Abbüßung“ der Strafe ist der Bürgerstatus dann wieder vollständig hergestellt. Der Sinn der Strafe besteht dann in der Wiederherstellung des Rechts. Nähere Ausführungen zum Strafverfahren macht Kant nicht. Allerdings kann aus dem hier vorgestellten Zusammenhang von Freiheit, Recht, Staat und Strafe gefolgert werden, dass sich auch das Verfahren an diesen Prinzipien zu orientieren hat. Insbesondere muss hierbei berücksichtigt werden, dass die Schuld des Täters noch nicht feststeht, sondern erst ermittelt werden soll. Der Strafprozess muss als ein rechtliches Verfahren ausgestaltet sein, in dem die rechtliche Verantwortung des Beschuldigten zu klären ist.354 Ausgeschlossen müssen dann solche Ermittlungsmaßnahmen sein, bei denen der Einzelne nicht als Rechtsperson behandelt, sondern zum Ob352  Enderlein, Die Begründung der Strafe bei Kant, in: Kant-Studien 76 (1985), 303 (312). 353  Vgl. hierzu auch Zaczyk, Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenannten „Inselbeispiel“ in Kants Metaphysik der Sitten, in: Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit (1999), S. 73 (85 f.). 354  Vgl. zunächst nur Zaczyk, Prozeßsubjekte oder Störer?, in: StV 1993, 490 ff.; Murmann, Über den Zweck des Strafprozesses, in: GA 2004, 65 ff. Vgl. hierzu näher den 3. Teil der Arbeit unter D.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

jekt des Verfahrens degradiert wird (wie z. B. die Erzwingung eines Geständnisses durch Folter).

II. Grundzüge im Strafrecht unter der Weimarer Reichsverfassung Mit der Weimarer Reichsverfassung erfolgte die Wende von der konstitutionellen Monarchie zur republikanischen Demokratie. Auch wenn die Weimarer Reichsverfassung im Ergebnis einen politischen Kompromiss zwischen liberalen und sozialistischen Bestrebungen, zwischen Parlamentarismus und Diktatur des Präsidenten darstellte, war sie doch eine bewusste Entscheidung für eine parlamentarische Republik.355 Schon in der Präambel der Verfassung von 1919 kam ihr republikanischer, demokratischer Charakter zum Ausdruck. Es waren nun nicht mehr wie in der Verfassung von 1871 „Seine Majestät der König von Preußen, seine Majestät der König von Bayern usw.“, sondern es war das „Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen (…)“, das „sich diese Verfassung gegeben“ hat.356 Art. 1 WRV bestimmte die republikanische Staatsform des Reiches und betonte das demokratische Prinzip: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volk aus.“ Die sich in der Verfassung manifestierende Neuerung der Staatsstruktur bestand nicht in der Republik, sondern darin, dass an die Stelle des bisherigen monarchischen Prinzips der Grundsatz der Volkssouveränität trat.357 Das Parlament als Repräsentant der Bürger bildete das oberste Organ im Staat.358 Zudem enthielt die Verfassung, anders als die Reichsverfassung Bismarcks, einen Grundrechtsteil mit einem Katalog von Freiheits- und Gleichheitsrechten, der an die Paulskirchenverfassung und die preußischen Verfassungsurkunden anknüpfte.359 Das Demokratie- und Verfassungsverständnis war jedoch bedingt durch den Positivismus ein formalistisches. Es zeichnete sich dadurch aus, dass die Grundord355  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (2002), S. 90. Formulierung wurde gewählt, obwohl das Volk darüber faktisch nicht abgestimmt hat. Vgl. Merten, Das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat, in: Jeserich/Pohl/Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5 (1987), S. 66. 357  Meisner, Staats- und Regierungsformen in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert, in: AöR 77, NF 38 (1951/1952), 225 (257). 358  Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Rechts, 3.  Aufl. (1983), Rn. 576. 359  Merten, Das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat, in: Jeserich/Pohl/Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5 (1987), S. 66. Vgl. näher zu den Grundrechten der Weimarer Republik Gusy, Die Grundrechte in der Weimarer Republik, in: ZNR 15 (1993), 163 ff. 356  Die



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht141

nung nicht auf einen bestimmten materiellen Inhalt verbindlich festgelegt, sondern demokratisch änderbar war. Das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht bekam so eine andere Konnotation als in der Zeit der Aufklärung, in der die Forderung nach Bestimmtheit der Gesetze vor allem bedingt war durch die Ablehnung willkürlichen Staatshandelns und die Gewährleistung von Rechtssicherheit für den einzelnen Bürger. 1. Die Weimarer Reichsverfassung Bereits während des 1. Weltkrieges wurde in der Staatsrechtswissenschaft über die Notwendigkeit eines Übergangs vom konstitutionellen zum parlamentarischen System und der damit verbundenen Anpassung der Bismarck’schen Verfassung diskutiert.360 Durch die Folgen des 1. Weltkrieges kam es am Ende des Kaiserreichs noch zu einem politischen und verfassungsrechtlichen Umbruch. Die verfassungsändernden Gesetze vom 28.10.1918 bewirkten ausdrücklich den Übergang vom Konstitutionalismus zum parlamentarischen System.361 Allerdings erlangten diese Verfassungsreformen aufgrund der politischen Ereignisse im November 1918 keine praktische Bedeutung mehr.362 Letztere bewirkten vielmehr einen Neubeginn der deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte. Insbesondere erfolgte nicht mehr nur eine Anpassung der Bismarck’schen Verfassung an die neuen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, sondern der Wandel gründete sich in einer neuen, wenn auch oktroyierten Verfassungsurkunde, der Weimarer Reichsverfassung (WRV), die am 14.8.1919 in Kraft trat.363 Staatsorganisatorisch zeichnete sie sich dadurch aus, dass sie eine Machtkumulation auf ein Staatsorgan und damit jede Form von Absolutismus verhindern wollte, indem sie Kontrollrechte der Staatsgewalten 360  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts (2002), S. 80 f. insbesondere Art. 15, in dem der Bismarck’schen Reichsverfassung folgende Sätze hinzugefügt wurden: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichtags. Der Reichskanzler trägt die Verantwortung für alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt.“ Vgl. hierzu auch Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. (2006), S. 332. 362  Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. 2013, § 37 I. 4. (S. 313 f.). 363  Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7.  Aufl. 2013, §  37 III. 2. (S.  316 f.); Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (2002), S. 83 ff.; vgl. zu den politischen Unruhen und blutigen Auseinandersetzungen in zahlreichen Städten während der Arbeiten und Beratungen an der Reichsverfassung H. Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 5 Rn. 18 ff. Vgl. zum Kompromisscharakter der Verfassung Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (2002), 90 f. 361  Vgl.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

untereinander vorsah.364 Das Volk wählte nach Art. 22 WRV den Reichstag, der für die Reichsgesetzgebung zuständig war (Art. 68) und dem gegenüber der Reichsregierung ein Kontrollrecht zukam: Sowohl der Reichskanzler als auch die Reichsminister benötigten das Vertrauen des Reichstages (vgl. Art. 54 WRV). Vom Volk unmittelbar demokratisch legitimiert wurde der Reichspräsident (Art. 41 Abs. 1 und Art. 43 Abs. 1 WRV),365 der über bedeutende politische Rechte verfügte. So konnte er nach Art. 25 Abs. 1 WRV den Reichstag auflösen, ohne dass diese Entscheidung nachprüfbar gewesen wäre. Damit sollte dem Parlament ebenfalls Grenzen gesetzt werden.366 Zudem verfügte der Reichspräsident über ein „Notverord­ nungs­­recht“.367 Nach Art. 48 Abs. 2 WRV konnte er, „wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten.“ Allerdings benötigte er nach Art. 50 WRV hierzu die Gegenzeichnung durch die Regierung (den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister). Ursprünglich sollte Art. 48 Abs. 2 WRV dazu dienen, die wirtschaftlich und politisch stark angeschlagene junge Republik zu stabilisieren; dem Reichspräsidenten sollte ein Mittel an die Hand gegeben werden, um in Krisenzeiten möglichst rasch handeln zu können. Daher wurde auch in der staatsrechtlichen Literatur die Stellung des vom Volk gewählten Reichspräsidenten mit seinen Notkompetenzen in Verbindung mit der durch das Parlament kontrollierten Regierung zunächst als „glückliche Synthese angesehen, weil sie das demokratische mit dem monarchischen Element zu versöhnen versprach“.368 Art. 48 Abs. 2 WRV wurde jedoch immer mehr zu einem permanenten Instrument des Reichspräsidenten verbunden mit einer weiteren Ausdehnung seines Anwendungsbereichs.369 In den Jahren 1920–1923 und ab 1930 verlagerten sich bedeutende Rechtssetzungen vom Parlament auf den Reichspräsidenten bzw. die Reichsregierung. Das lag auch darin begründet, dass sich der Reichstag seiner Gesetzgebungsaufgabe zum Teil entzogen hatte. So war das Parla364  Meisner, Staats- und Regierungsformen in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert, in: AöR 77, NF 38 (1951/1952), 225 (259). 365  Als weiteres unmittelbar demokratisches Element sah die Reichsverfassung die Möglichkeit eines Volksbegehrens und eines Volksentscheides vor. Vgl. zur Diskussion in der Staatsrechtslehre Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (2002), S.  103 ff. 366  H. Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 5 Rn. 87. 367  Vgl. zum Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3. Aufl. (1983), Rn. 588 f. 368  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (2002), S. 114. 369  Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. 2013, § 38 I. 4 (S. 326).



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht143

mentsleben durch Diskontinuität gekennzeichnet. Der Reichstag wurde gemäß Art. 23 Abs. 1 WRV für vier Jahre gewählt, jedoch gab es in den Jahren von 1920 bis 1933 sieben unterschiedlich zusammengesetzte Reichstage und zum Teil auch parlamentslose Zeiten.370 Aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Situation war zudem häufig ein schnelles Reagieren erforderlich, was durch das normale Gesetzgebungsverfahren nicht zu realisieren war. Das sog. Notverordnungsrecht wurde damit nicht mehr bloß in Ausnahmefällen zur Bekämpfung von einzelnen Krisen eingesetzt, sondern stellte den Weg einer Exekutiv-Rechtssetzung dar.371 Die Besonderheit des Verordnungsrechts bestand darin, dass die erlassenen Regelungen bereits bestehende Gesetze ändern, bestimmte in Art. 48 Abs. 2 WRV genannte Grundrechte außer Kraft setzen konnten und auch sonst von Grundrechten abweichen durften, indem den Ermächtigungsgesetzen Gesetzeskraft zuerkannt wurde.372 Die Möglichkeit von solchen Verfassungsdurchbrechungen ergab sich daraus, dass nach Art. 76 Abs. 1 WRV die Verfassung im Wege der Gesetzgebung mit qualifizierter Mehrheit geändert werden konnte. Dabei sollten Änderungen nicht an inhaltliche Vorgaben gebunden sein. Auch wenn diese Interpretation des Art. 76 WRV hinsichtlich seiner Unbeschränktheit in der damaligen Literatur373 auf Kritik gestoßen ist, so hat sie sich doch in der Praxis im Ergebnis durchgesetzt. Der Verfassung sollte gegenüber den einfachen Gesetzen kein Vorrang zukommen. Als Begründung hierfür wurde angeführt, dass der Wille des Volkes, repräsentiert durch den Reichstag, entscheidend sein solle und daher nicht durch die Verfassung begrenzt werden dürfe. „Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben (…)“.374 Dem de370  H. Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 5 Rn. 51, 53, 56. 371  Gemäß Art. 48 Abs. 3 S. 2 WRV konnte der Reichstag allerdings die Aufhebung der Notverordnungen verlangen. Vgl. hierzu m. w. N. H. Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 5 Rn. 67. 372  H. Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 5 Rn. 54. 373  Siehe vor allem C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931), S. 112 f.; ders., Legalität und Legitimität (1932), S. 51; hierzu auch Dreier, Gerhard Anschütz, in: ZNR 20 (1998), S. 28 (39); vgl. zur Auseinandersetzung zwischen Positivisten und Antipositivisten hinsichtlich der Auslegung des Art. 76 WRV auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (2002), S. 113 f. Dieser weist auch auf das Paradoxon hin, dass gerade diejenigen, wie Anschütz und Thoma, die sich insgesamt für die republikanische Demokratie ausgesprochen haben, eine Inhaltsbeschränkung des Art. 76 WRV nicht anerkennen wollten, während z. B. C. Schmitt, der von der Republik wenig überzeugt war, eine Beschränkung der Verfassungsänderungen forderte. 374  Anschütz, WRV-Kommentar, 13. Aufl. (1930), Art. 76 Anm. 1 (S. 348); siehe hierzu näher Dreier, Gerhard Anschütz, in: ZNR 20 (1998), 28 (38 f.); s. a. R. Tho-

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mokratischen Mehrheitswillen kam somit eine bedeutende Rolle zu, die sogar so weit reichen sollte, dass auch die Änderung der Staats- und Regierungsform sowie prinzipieller Grundrechte möglich sein sollte. Das Verständnis der Verfassung war insoweit formal, als sie nicht an konkrete materielle Inhalte gebunden werden, sondern allein die Einhaltung des Verfahrens zur Änderung ihrer Grundsätze entscheidend sein sollte. Die Bindung an vorpositive allgemeingültige Rechtsvorstellungen, wie sie vom Vernunftrecht gefordert wurde, und die damit verbundene notwendige Begrenzung der Staatsmacht stand einem staatspositivistischen Verständnis entgegen. Die Staatsgewalt war nicht an bestimmte Inhalte gebunden, sondern legte sie selbst fest; insofern bildeten die Gesetze eine Schranke für das staatliche Handeln.375 Ein weiteres Charakteristikum dieser Zeit war die Politisierung des Rechts. Während nach dem klassischen Rechtsstaatsverständnis zwischen Politik und Recht zu trennen war, wurde das Recht nun nicht mehr als Grenze politischen Handelns verstanden, sondern wurde zum Mittel, um politische Ziele verwirklichen zu können.376 2. Entwicklungstendenzen im Strafrecht a) Ebenso wie in der Staatsrechtswissenschaft herrschte auch in der Strafrechtswissenschaft der Positivismus. Seinen Ausdruck fand er zum einen in der sog. klassischen Schule, die normlogisch arbeitete und als deren Repräsentant Karl Lorenz Binding (1841–1920) galt.377 Zum anderen knüpfte die sog. moderne Schule in ihrer Rechtsdogmatik ebenso an das Gesetz an,378 richtete ihr Erkenntnisinteresse jedoch zudem darauf, die Verbrechensentstehung empirisch zu erforschen, um daraus Folgerungen für das Strafrecht zu ziehen. Auf den sog. strafrechtlichen Schulenstreit zwischen der „klassischen Schule“ und der „modernen Schule“ soll hier nicht näher ma, Die Funktionen der Staatsgewalt, § 71: Grundbegriffe und Grundsätze, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2 (1932), S. 108 (154). 375  Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Arndt-FS (1969), 53, 76; s. a. Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip (1996), S.  138 f. 376  Vgl. Naucke, Marburger Programm, in: ZStW 94 (1982), 525 (536 f.); Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip (1996), S. 139 f. 377  Auf diese Lehre soll im Folgenden nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu Bohnert, Zu Straftheorie und Staatsverständnis im Schulenstreit der Jahrundertwende (1992), S. 72 ff.; s. a. die zusammenfassende Darstellung bei Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 83 ff. 378  Siehe hierzu auch Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 132.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht145

eingegangen werden.379 Vielmehr wird im Folgenden vor allem letztere betrachtet, da sie sich in besonderer Weise in den neuen Zeitgeist und die neue naturalistische Denkweise eingefügt hat.380 Mit ihrer Täterorientierung und dem damit verbundenen Zweckgedanken im Strafrecht hat sie sich vornehmlich gegen die herrschende, klassische Strafrechtslehre gewendet, die eine (nunmehr gesetzespositivistisch verstandene) Schuldausgleichsbzw. Vergeltungslehre zum Inhalt hatte.381 Bedeutender Vertreter der „modernen Schule“ und eines sogenannten naturalistischen Positivismus war Franz von Liszt (1851–1919). Er beschäftigte sich mit der „kausalen Erklärung von Verbrechen und Strafe“. Durch systematische Einzel- und Massenbeobachtung sollte das Phänomen „Verbrechen“ als das Ergebnis gesellschaftlichen Lebens in seiner sozialen Gestaltung und seiner sozialen Bedingtheit erforscht werden. Im Mittelpunkt der Betrachtung stand die Persönlichkeit des Täters. Diese war entscheidend für die Ausrichtung des Strafvollzuges. Das Problem der Strafbegründung wurde damit nicht mehr als eines gesehen, welches an apriorische Gerechtigkeitsvorstellungen zu binden sei. Die Notwendigkeit der Strafe sollte vielmehr aus empirischen Gegebenheiten gefolgert werden.382 Die insbesondere in Anlehnung an Kant und Hegel entwickelte tatvergeltende Strafe sollte durch eine auf den jeweiligen Täter einwirkende Zweckstrafe ersetzt werden. Die wesentlichen Wirkungen der Strafe und die damit möglichen Formen des Rechtsgüterschutzes durch Strafe sind nach dem „Marburger Programm“ v. Liszts Besserung, Abschreckung und Unschädlichmachung. Diesen drei Zwecken stellt er drei Kategorien von Verbrechern gegenüber.383 Die besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Täter sollen gebessert werden. Die nicht besserungsbedürftigen Verbrecher sollen abgeschreckt werden und die nicht besserungsfähigen sollen unschädlich gemacht werden.384 Verbrechen und Strafe sind daher für v. Liszt nicht juristische Ab­ straktionsbegriffe eines strafrechtswissenschaftlichen Systems, sondern sind 379  Vgl. zum Schulenstreit insbes. Bohnert, Zu Straftheorie und Staatsverständnis im Schulenstreit der Jahrundertwende (1992). 380  Der Begriff „modern“ ist insoweit rein zeitlich zu verstehen und nicht inhaltlich. Wie sich zeigen wird, fällt die sog. moderne Schule mit ihrem Zweckgedanken hinter die Einsichten der Aufklärung zurück. Vgl. auch Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 132. 381  Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2013, S.  118 f. 382  Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 115. 383  v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), 1 (35); vgl. zur Kriminalpolitik des Marburger Programms ingesamt Naucke, Marburger Programm, in: ZStW 94 (1982), S. 525 ff. 384  v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), 1 (36).

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in der Realität als Geschehnisse des Lebens jedes Einzelnen wie des Staates zu finden. Das positive Recht sollte demgemäß umgestaltet und reformiert werden.385 Strafgesetzgebung sei Sache der Kriminalpolitik.386 Aufgrund der hohen Anzahl rückfälliger Täter setzte sich v. Liszt dafür ein, dass bei unverbesserlichen Tätern („Gewohnheitsverbrechern“) bei dritter Verurteilung wegen eines Verbrechens auf „Einschließung auf unbestimmte Zeit“ in „besonderen Anstalten (Zucht- oder Arbeitshäusern)“ zu erkennen sei.387 Die Strafe knüpfte damit nicht an die Tat selbst an, sondern an die Täterpersönlichkeit und die Gesinnung des Täters. Aufgrund der Gefährlichkeit sollte die Gesellschaft vor solchen Tätern geschützt werden.388 Die StGBEntwürfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten das Sanktionensystem auf die Besonderheiten der einzelnen Täter abzustimmen und bezogen, wenn auch nicht als Strafe so doch als Maßregel, innerhalb des Strafrechts den Sicherungsgedanken mit ein (Zweispurigkeit von Strafe und Maß­ regeln).389 Das Geldstrafengesetz von 1923 passte zudem die Geldstrafen den individuellen Vermögensverhältnissen des Täters an.390 Auch das im gleichen Jahr erlassene Jugendgerichtsgesetz nimmt den Erziehungsgedanken des Strafrechts auf.391 Die Ideen der „modernen Schule“ wirkten sich somit zum Teil auf die Entwürfe und dann ebenso auf die Gesetzgebung aus.392 Auch wenn die Lehren der modernen Schule durch ihre Ausrichtung am Täter insofern teilweise zur Liberalisierung des Strafrechts geführt haben, indem z. B. Bagatelldelikte aus dem Kriminalstrafrecht herausgenommen wurden oder indem die Geldstrafengesetzgebung kurzzeitige Freiheitsstrafen zurückdrängte,393 weist ihr Gedankengut Züge und Folgerungen auf, 385  v. Liszt,

Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), 1 (46 f.). Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2 (1905), S. 25 (71). 387  v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), 1 (39 f.). 388  Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 123. 389  Wenn die Zweispurigkeit auch in den Entwürfen des StGB in der Weimarer Zeit und zuvor schon zum Tragen kam, wurde sie erst im November 1933 mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz positiviert. 390  Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 5.  Aufl. (2007), Rn. 258. 391  Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 161. 392  Vgl. auch Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 5. Aufl. (2007), S. 112; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), §§ 336 ff. (S.  409 ff.). 393  Naucke, Marburger Programm, in: ZStW 94 (1982), 525 (554). Vgl. im Hinblick auf den Strafvollzug Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch (1994), Bd. 2, S. 178. 386  v. Liszt,



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die einem rechtsstaatlichen Staatsverständnis, wie es z. B. von Kant geprägt wurde, fundamental entgegengesetzt sind. So spricht sich v. Liszt für ein relativ unbestimmtes Strafurteil aus, um eine effektive Verbrechensbekämpfung zu gewährleisten.394 Denn der Richter könne in der kurzen Zeit, die er mit dem Verbrecher verbringe, zu keinem „abschließenden Urteil über dessen wahre Gesinnung, die doch den Maßstab für die Bestrafung abgeben soll“, gelangen.395 Die Tätergesinnung könne erst im Strafvollzug erkannt werden. Zu ersetzen sei die richterliche Strafzumessung daher sinnvollerweise durch eine Verurteilung des Täters auf relativ unbestimmte Zeit. Der Richter sollte in seinem Urteil nur eine Mindest- und Höchststrafe angeben, während die endgültige Dauer der Strafe durch Verwaltungsorgane festgelegt werden sollte.396 Der von Feuerbach zum Schutz des freien Einzelnen gegenüber staatlicher Willkür geforderte Grundsatz „nulla poena sine lege“ wird durch das Postulat eines, wenn auch „nur“ relativ unbestimmten Straf­ urteils weitestgehend ausgeschaltet.397 Auch wenn v. Liszt das Strafgesetzbuch als „magna charta des Verbrechers“ bezeichnet, welches ihm das Recht verbriefe, nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und nur innerhalb der gesetzlichen Grenzen gestraft zu werden, und die Grundsätze „nullum crimen sine lege und nulla poena sine lege“ als „Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der staatlichen Allgewalt“ tituliert,398 stehen diese Aussagen einerseits im Widerspruch zu seiner Auffassung der Verbrechensbekämpfung, insbesondere gegenüber den Unverbesserlichen und den Besserungsbedürftigen, und andererseits zu seiner Forderung nach einem relativ unbestimmten Strafurteil. Insgesamt steht bei v. Liszt vielmehr der Schutzgedanke der Gesellschaft im Vordergrund, während die Freiheitsrechte des einzelnen Straftäters zurückstehen.399 Zwar wurde der Grundsatz des § 2 RStGB in die Weimarer Verfassung aufgenommen, jedoch änderte sich sein Wortlaut. So heißt es in Art. 116 WRV: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor 394  Siehe hierzu und zum Folgenden insgesamt Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip (1996), S. 177 ff. 395  v. Liszt, Über den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2 (1905), S. 75 (91). 396  v. Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1 (1905), S. 290 (338 ff.). 397  Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip (1996), S. 180 f. 398  v. Liszt, Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2 (1905), S. 25 (60). 399  Ehret, Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip (1996), S. 180 f.; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 124 f.; vgl. hierzu auch die zeitgenössische Kritik von v. Birkmeyer, Die Strafgesetzgebung der Gegenwart, in: ZStW 16 (1896), 95 (116 f.).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

die Handlung begangen wurde.“ Damit begrenzt Art. 116 WRV das Gesetzlichkeitsprinzip auf die Frage der Strafbarkeit und damit nicht mehr wie § 2 RStGB insgesamt auf die „Strafe“.400 So vertrat denn auch das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 24. März 1922, dass durch die Änderung des Wortlautes nur die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung gefordert werde. Das zur Zeit der Begehung einer Tat geltende, eine bestimmte Strafart androhende Gesetz müsse demgegenüber nicht einen bestimmten Strafrahmen haben. Das Verbot unbestimmter Strafdrohungen sei also aufgehoben.401 In der Folgezeit vertrat das Reichsgericht jedoch die Ansicht, dass ein sachlicher Unterschied zu der ursprünglichen Fassung des § 2 RStG nicht bestehe.402 b)  Hinsichtlich des Strafverfahrensrechts nahm Art. 102 WRV im Gegensatz zur Bismarck’schen Reichsverfassung in Anlehnung an die Paulskirchenverfassung den Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte auf.403 Zudem waren nach Art. 105 Abs. 1 S. 1 WRV „Ausnahmegerichte unstatthaft“. Ferner sah Art. 105 Abs. 1 S. 2 das Verbot vor, jemandem seinem gesetzlichen Richter zu entziehen. Damit erlangten diese Grundsätze zum einen eine stärkere Geltungskraft als in der Kaiserzeit, da sie nun nicht mehr bloß im GVG geregelt waren, sondern ihnen Verfassungsrang zukam. Zum anderen wurde ihr Geltungsbereich insofern erweitert, als das GVG auf die ordentliche Gerichtsbarkeit beschränkt war. Art. 102 WRV galt demgegenüber auch für die Freiwillige Gerichtsbarkeit und die Verwaltungsgerichtsbarkeit.404 Er bildete damit „einen verfassungsrechtlichen Schutzwall gegen eine Politisierung der Justiz“ und sicherte „die Trennung der Justiz von der Verwaltung“.405 Die politischen und verfassungsrechtlichen Ereignisse am Ende des ersten Weltkrieges führten zunächst insgesamt zu einer Liberalisierung der Rechtspflege, die sich auch auf die Reformbestrebungen im Strafverfahrensrecht auswirkten.406 Ihm sollte eine Schutzfunktion für den Betroffenen zukommen, die Waffengleichheit der Beteiligten sollte hergestellt und die Unbefangenheit 400  Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 116 WRV Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 181 f. 401  RGSt 56, 318 f.; vgl. auch Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 183; Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S. 162 f. 402  RGSt 57, 404 (406); auch in der wissenschaftlichen Diskussion war bis zum Ende der Weimarer Zeit umstritten, ob und wenn ja, inwieweit mit der Wortlautänderung des Art. 116 WRV eine sachliche Änderung eingetreten war. Vgl. hierzu Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 182 f.; Dannecker, Das intertemporale Strafrecht (1993), S. 162. 403  „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“ 404  Vgl. auch Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts (1954), S. 150. 405  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), S. 419. 406  Vgl. im Einzelnen Goldschmidt, Zur Reform des Strafverfahrens (1919), S. 1 ff.; hierzu auch Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch (1994) Bd. 2, S. 175 f.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht149

des erkennenden Gerichts gesichert werden. Denn – wie dargelegt – wurden die Grundzüge des Inquisitionsprozesses in der Kaiserzeit nicht beseitigt, sondern lediglich durch Prinzipien wie dem der Öffentlichkeit, der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung ergänzt.407 An die Stelle des Inquisitionsverfahrens sollte das Anklageverfahren treten. Das Bedürfnis nach einer möglichst baldigen Änderung der RStPO zeigt die Bedeutung von gesellschaftlichen und politischen Änderungen für das Strafverfahrensrecht, die auch in der wissenschaftlichen Literatur betont wurde: „Die geschichtliche Erfahrung lehrt (…), daß nach einer Revolution die Reform des Strafprozesses der des materiellen Rechts voranzugehen pflegt. So war es nach der französischen Revolution, so nach der deutschen von 1848. Und das ist erklärlich. Die Rückständigkeit des Strafprozesses macht sich weit fühlbarer als die des Strafrechts, allein schon deshalb, weil mit dem Strafprozeß auch Unschuldige in Berührung kommen.“408 Schwerpunkte der geplanten Reform betrafen Änderungen des Vorverfahrens. Es sollten u. a. die Verteidigerrechte erweitert werden, um die Verteidigungsmöglichkeiten zu verbessern. Neben dem Beschuldigten sollte der Verteidiger das Recht haben, schon innerhalb des Vorverfahrens bei allen Vernehmungen mit vollständigem Fragerecht anwesend zu sein. Auch das Recht auf Akteneinsicht und des Verkehrs mit dem Beschuldigten wurde ausgebaut. Die Untersuchungshaft wurde an strengere Bedingungen geknüpft. Das Vorverfahren wurde insgesamt in die Hand der Staatsanwaltschaft gelegt, um die Hauptverhandlung so von allen Beeinflussungen durch die Ermittlungen im Vorverfahren zu entlasten. Auch in der Hauptverhandlung wurden die Rechte des Staatsanwalts und des Verteidigers erweitert, indem ihnen ein eigenes Vernehmungsrecht von Zeugen zukommen sollte.409 Ende Dezember 1919 leitete die Reichsregierung dem Reichsrat einen ersten „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Gerichtsverfassung“ zu und zu Beginn des Jahres 1920 den „Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen“, der im Wesentlichen von James Goldschmidt stammte.410 Dieser Entwurf gilt bis heute in seinen verfahrensrechtlichen Vorschlägen als der „konsequenteste (…) Versuch einer Abkehr von den inquisitorischen Elementen der StPO in seiner Fassung von 1877“.411 Der 407  Vgl. auch Goldschmidt, Zur Reform des Strafverfahrens (1919), S.  3; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 340. 408  Goldschmidt, Zur Reform des Strafverfahrens, (1919), S. 3. 409  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 340, S. 417; Goldschmidt, Zur Reform des Strafverfahrens (1919), S. 19 ff. 410  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), § 340. 411  Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Kommentar, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F, Rn. 30.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Entwurf scheiterte bereits im Reichsrat. So kritisierte insbesondere die preußische Regierung in ihrer Stellungnahme einerseits den liberalen und sozialen Grundzug des Strafverfahrensgesetzes und erachtete andererseits die Gerichtsverfassung der Entwürfe für zu umständlich und zu teuer.412 Auch in der Folgezeit wurde insbesondere aufgrund der finanziellen Not Deutschlands nicht mehr nach sozialen und liberalen Reformen gesucht. So hatte das „Gesetz zur Entlastung der Gerichte“ vom 11. März 1921 beispielsweise zum Ziel, die Justiz effizient und kostengünstig zu gestalten. Das Strafbefehlsverfahren wurde ausgedehnt und die schöffengerichtlichen Zuständigkeiten zu Lasten der Strafkammern erweitert.413 Auch die „Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege“ des Reichsjustizministers Emminger vom 4. Januar 1924 stand unter dem Aspekt der Sparmaßnahmen und hatte weitreichende Strukturveränderungen in der Strafgerichtsverfassung und im Strafverfahrensrecht zur Folge, die bis heute zum Teil noch fortwirken. Mit der „Emminger-Verordnung“ wurden die Schwurgerichte faktisch (wenn auch nicht dem Namen nach) beseitigt und in ein großes Schöffengericht umgewandelt, in dem drei Berufsrichter und sechs Geschworene über die Schuld- und Straffrage entschieden. Es blieb in dieser Form bis 1975 erhalten. Ferner wurden die erstin­ stanzlichen Zuständigkeiten nach unten verlagert, d. h. die erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafkammern entfiel und ging vollständig auf die Amtsgerichte über.414 Auch hatte die Verordnung eine Aufweichung des Legalitätsprinzips zum Gegenstand, indem die §§ 153, 154 StPO eingeführt wurden.415 Insgesamt wird diese Verordnung als besonders einschneidend für die Strafprozessrechtsentwicklung gesehen: „Hatte bereits das 19. Jahrhundert mit dem sog. Reformierten Strafprozess einen Kompromiss zwischen Anklageprinzip und inquisitorischem Prinzip gebracht, so kann man den gesetzgeberischen Eingriff von 1924 als Wiederkehr des Übergewichts des bürokratisch-inquisitorischen Elements über das akkusatorisch-kontradiktorische Element des Strafprozesses bezeichnen.“416 Auch damals stieß die 412  Vgl. hierzu Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2013, S. 171. 413  Vgl. zu weiteren Änderungen Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Kommentar, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F, Rn. 34 m. w. N. 414  Vgl. insgesamt Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Kommentar, 27.  Aufl. (2016), Einl. Abschn. F, Rn. 37. 415  Vgl. näher zur Entwicklung des Legalitätsprinzips in der RStPO von 1877 und seiner Durchbrechung durch die Emminger-Verordnung von 1924 Pott, Die Aushöhlung des Legalitätsprinzips, in: Institut für Kriminalwissenschaften F. a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 79 (84 ff.). 416  Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 174; vgl. zu weiteren Änderungen ders., Lex Emminger (1988), S. 84, 174 ff.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht151

sog. Emminger-Reform aus diesem Grund in der Wissenschaft und Öffentlichkeit auf Ablehnung.417 Die Weltwirtschaftskrise von 1929 führte zu einer steigenden Finanznot im Reich und in den Ländern sowie zu einer Destabilisierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihr folgten daher weitere einschneidende Änderungen im Strafverfahrensrecht, die nicht mehr von einer Liberalisierung, sondern ebenso wie im materiellen Strafrecht von Zweckmäßigkeit geprägt waren. Es sollten einerseits Einsparungen in der Justiz erfolgen und andererseits sollte mit Hilfe der Strafrechtspflege die innere Sicherheit, die durch die um sich greifende Revolutionsstimmung gefährdet schien, aufrechterhalten werden. Da das Parlament aufgrund seiner Zersplitterung nicht mehr in der Lage war, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wurden sie von 1931 an nicht mehr vom Reichsgesetzgeber, sondern vom Reichspräsidenten auf der Grundlage des Art. 48 WRV getroffen.418 Die Texte von StPO und GVG blieben dabei weitgehend unverändert, da vor allem Sonderverordnungen eingeführt wurden.419 So wurde beispielsweise mit der sog. 2. Ausnahmeverordnung vom 6. Oktober 1931 bei Übertretungen das Opportunitätsprinzip erweitert. Im Rahmen des beschleunigten Verfahrens wurde die Ladungsfrist verkürzt und die Möglichkeit erweitert, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln.420 Um die politische Kriminalität zu bekämpfen, ermächtigte die Notverordnung des Reichspräsidenten die Reichsregierung zur Bildung von Sondergerichten. Bei diesen war das Verfahren teilweise summarisch und Rechtsmittel waren häufig ausgeschlossen.421 Auch im Strafverfahrensrecht der Weimarer Zeit fand damit der Gedanke der Zweckmäßigkeit des Strafrechts zur effektiven Kriminalitätsbekämpfung v. Liszts seinen Ausdruck.422

417  Vgl. Nachweise bei Vormbaum, Lex-Emminger (1988), S. 74 ff. und Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Kommentar, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F, Rn. 36 Fn. 124. 418  Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte, 3. Aufl. (1995), S. 419; Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts (1983), Rn. 588 f. 419  Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Kommentar, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F, Rn. 42. 420  Vgl. zu den einzelnen Notverordnungen näher Nobis, Die Strafprozessgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000), S. 41 ff. 421  Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Kommentar, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F, Rn. 35. 422  Naucke, Marburger Programm, in: ZStW 94 (1982), 525 (554).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

III. Grundzüge des Strafrechts unter dem Grundgesetz Für das Scheitern der Weimarer Reichsverfassung wurden insbesondere zwei Besonderheiten verantwortlich gemacht: die Machthäufung beim Reichspräsidenten mit seinem Notverordnungsrecht und das dargelegte formalistisches Verfassungsverständnis.423 Die rechtsstaatlichen Staatsstrukturprinzipien der Weimarer Reichsverfassung wurden vom Parlamentarischen Rat424 daher zwar aufgenommen, die Verfassung wurde jedoch durch konkrete Inhalte materialisiert, um eine Wiederholung der Weimarer Erfahrungen durch die Verfassung auszuschließen. 1. Das Grundgesetz Ausgangspunkt für die gesamte Verfassungsordnung wurde die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Damit macht das Grundgesetz deutlich, dass es an ein vorpositives Menschenrechtsprinzip anknüpft, welches sich aus der Stellung des Einzelnen in der Welt überhaupt ergibt. So bestand auch im Parlamentarischen Rat Einigkeit darüber, dass die Grundrechte selbst auf vorstaatlichen Rechten beruhen müssen, die dem Einzelnen von Natur aus zukommen, die in seiner Person selbst begründet liegen und die jedem Staatsverständnis und -recht voraus liegen müssen. Auch wenn zwischen den Abgeordneten umstritten war, inwiefern auf das Naturrecht zurückgegriffen werden soll und wie Art. 1 GG genau zu formulieren sei, so bestand doch Einigkeit darüber, dass auf die naturrechtlichen Vorstellungen der Aufklärung zu rekurrieren ist und der freie Einzelne in den Mittelpunkt gestellt werden sollte.425 423  Siehe hierzu Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, in: NJW 1989, 1305 (1306). 424  Der Parlamentarische Rat wurde von den Parlamenten der elf westdeutschen Länder gewählt. Vgl. näher zur Konstituierung des Parlamentarischen Rates und zum „Sachverständigen-Ausschuss für Verfassungsfragen“ („Herrenchiemseer Verfassungskonvent“), der dem Parlamentarischen Rat in zentralen Fragen wichtige Vorgaben lieferte Kröger, Die Entstehung des Grundgesetzes, in: NJW 1989, 1318 (1319). 425  Siehe hierzu auch Hillgruber, Grundgesetz und Naturrecht, in: IKaZ 39 (2010), 167 ff. Anders demgegenüber Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 67. Ergänzungslfg. (2013) Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 19, der sich gegen einen Rekurs auf die Vorpositivität der Menschenwürdeklausel in Art. 1 Abs. 1 GG ausspricht. Maßgeblich für die „staatsrechtliche Betrachtung“ seien „allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts“. Kritisch hierzu Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit (2006), S. 383 ff. Siehe hierzu auch Hillgruber, Grundgesetz und Naturrecht, in: IKaZ 39 (2010), 167 (172 f.); vgl. näher zur Entstehungsgeschichte des Art. 1 GG Enders, Die Menschenwürde (1997), S. 404 ff.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht153

Kant war nicht der erste und einzige Philosoph der Neuzeit, der sich mit dem Begriff der Menschwürde auseinandergesetzt hat, jedoch können die oben darlegten Ausführungen zu seinem Freiheits- und Rechtsbegriff zumindest Aufschluss darüber geben, wie die Menschenwürde näher zu bestimmen ist und welche Bedeutung ihr für die Grundrechte sowie die Staatsstrukturprinzipien zukommt. Sie können damit als Interpretationshilfe dienen.426 So erinnert denn auch die sog. Objektsformel des Bundesverfassungsrechts, nach der die Menschenwürde dann tangiert ist, wenn die Behandlung des Menschen „Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personenseins zukommt, also in diesem Sinne eine ‚verächtliche Behandlung‘ ist“427, an eine Fassung von Kants kategorischem Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“.428 Diese Formulierung macht deutlich, dass die Menschenwürde nicht nur dem Handeln des Staates eine nicht zu überschreitende Grenze setzt, sondern zugleich den Grund der Rechtsordnung bildet, an dem sich alle weiteren Rechte auszurichten haben.429 Auch die Verfasser des Grundgesetzes sahen daher die Aufgabe des Grundrechtskatalogs darin, den Würde-Begriff zu konkretisieren.430 Art. 1 Abs. 2 GG stellt eine Verbindung her zwischen der Menschenwürdegarantie und den Grundrechten, die alle staatliche Gewalt unmittelbar binden sollen (Art. 1 Abs. 3 GG), indem er erklärt, dass sich das „Deutsche Volk“ zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerech426  Vgl. zu sachlichen Parallelen zwischen dem Grundgesetz und Aussagen Kants auch insgesamt Bielefeldt, Sittliche Autonomie und republikanische Freiheit, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996), S. 47 ff.; H. Dreier, Kants Republik, in: JZ 2004, 745 (754); Enders, Die Menschenwürde (1997), S. 189 ff.; 500 f. 427  BVerfGE 30, 1 (26). 428  Kant, GMS, BA 66 f. Vgl. hierzu auch die Ausführungen unter E. I. 2. a). 429  Bielefeldt, Sittliche Autonomie und republikanische Freiheit, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996), S. 47 (53). Nimmt man die Menschenwürde als Grund des Rechts, ist es fraglich, ob sie ein eigenständiges Grundrecht darstellt, oder ob auf ihr nicht vielmehr alle weiteren Grundrechte ruhen. Für die letztere Ansicht vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig u. a. (Hrsg.), GG-Kommentar (1978), Art. 1 Abs. 1 Rn. 4 ff.; Enders, Die Menschenwürde (1997), S. 500 ff. sieht in der Menschenwürde ein „Recht auf Rechte“; für die Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht vgl. BVerfGE 1, 332 (343); 109, 133 (149 f.); Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 67. Ergänzungslfg. (2013), Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 29; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG-Kommentar I, 6. Aufl. (2010), Art. 1 Abs. 1 Rn. 30 ff. 430  Vgl. hierzu näher Enders, Die Menschenwürde (1997), S. 416 ff.; Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, in: NJW 1989, 1305 (1306).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

tigkeit in der Welt“ bekennt.431 Mit Art. 1 Abs. 3 GG werden die Grundrechte nicht nur zu unmittelbar geltenden Einzelrechten gegenüber dem Handeln der Verwaltung, sondern binden ausdrücklich auch die Legislative. Der Begriff des Rechtsstaates erfährt damit eine Materialisierung (vgl. auch Art. 20 Abs. 3 GG).432 Entscheidend ist nicht mehr allein die Positivität des Rechts, vielmehr sollte ebenso sein Inhalt maßgeblich sein: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ (Art. 19 Abs. 2 GG). Schließlich ist nach Art. 79 Abs. 3 GG eine Änderung des Grundgesetzes u. a. dann unzulässig, wenn „die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“. Damit soll die Demokratie vor ihrer Eliminierung durch antidemokratische Stoßrichtungen geschützt werden.433 Jedem einzelnen Bürger sollte schließlich die Möglichkeit eröffnet werden, den Rechtsweg zu beschreiten, soweit er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wurde (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG). Die Grundrechte sind nicht mehr allein als Abwehrrechte gegenüber staatlichem, insbesondere dem Verwaltungshandeln zu verstehen, sondern haben nach dem Bundesverfassungsgericht neben der Abwehrfunktion zugleich eine objektivrechtliche Funktion, die als „negative Kompetenzbestimmungen“ einen Kernbereich der Freiheit auch dem Zugriff des Gesetzgebers entziehen.434 Ebenso wie in der Weimarer Reichsverfassung wurden die Staatsstrukturprinzipien der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung in das Grundgesetz aufgenommen. Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Auffällig ist, dass in einem Absatz sowohl das Demokratieprinzip als auch das Prinzip der Gewaltenteilung normiert ist. Darin zeigt sich, dass beide Prinzipien in einem besonderen Zusammenhang stehen. Wie im Rahmen der Staatslehre Kants dargelegt wurde, sind Demokratie und Gewaltenteilung nicht zwei unterschiedliche Prinzipien, die künstlich zusammengeführt werden müssten, sondern sie sind zur Realisierung der Freiheit des Einzelnen im Staat untrennbar miteinander verbun431  Hillgruber,

Grundgesetz und Naturrecht, in: IKaZ 39 (2010), 167 (169 f.). auch die Aussage des Abgeordneten A. Süsterhenn: „Der Staat darf nicht Selbstzweck sein, sondern muß sich seiner subsidiären Funktion gegenüber dem Einzelmenschen und den verschiedenen innerstaatlichen Gemeinschaften stets bewusst bleiben. Das ist aber nur dann möglich, wenn wir uns endgültig vom Geiste des Rechtspositivismus abwenden, wonach der in ordnungsgemäßer Form zustandegekommene staatliche Gesetzesbefehl immer Recht schafft ohne Rücksicht auf seinen sittlichen Inhalt.“ Der Parlamentarische Rat, Hrsg.: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, bearbeitet von Wolfram Werner (1996), Bd. 9, S. 55. 433  s. auch Kröger, Die Entstehung des Grundgesetzes, in: NJW 1989, 1318 (1320). 434  Hofmann, Die Grundrechte 1789 – 1949 – 1989, in: NJW 1989, 3177 (3185). 432  Vgl.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht155

den.435 Nur die Idee eines demokratisch und gewaltenteilig organisierten Staates gewährleistet die notwendige rechtliche Freiheit des Einzelnen.436 Anders als in der Weimarer Zeit sollten Regierungsbildung und Gesetzgebung beim Parlament als Repräsentativorgan des Volkes437 konzentriert werden, um ihm eine Rückzugsmöglichkeit aus seiner Verantwortlichkeit zu verschließen.438 Der Deutsche Bundestag ist das zentrale Gesetzgebungsorgan (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1, 78, 82 Abs. 1 GG). Zwar hat er kein „Rechtssetzungsmonopol“ auf Bundesebene, denn auch die Exekutive kann auf der Grundlage des Art. 80 Abs. 1 GG Normen erlassen, ebenso wie die einzelnen Organe der Selbstverwaltung. Dem Parlament kommt aber eine Prärogative für den Erlass von formellen Gesetzen zu, denn ohne einen Beschluss des Bundestages kann kein förmliches Gesetz erlassen werden (Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG). Das ist auch dann der Fall, wenn das Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf, die dann erforderlich ist, wenn das Grundgesetz diese vorsieht. Insoweit ist der Bundesrat auch nicht „eine zweite Kammer eines einheitlichen Gesetzgebungsorgans, die gleichwertig mit der ‚ersten Kammer‘ entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wäre“439. Die bedeutende Stellung des Bundestages im Rahmen der Gesetzgebung wird zudem durch sein Initiativrecht bei der Gesetzgebung gemäß Art. 76 Abs. 1 GG ergänzt. 435  Bielefeldt, Sittliche Autonomie und republikanische Freiheit, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996), S. 47 (61). 436  Der Parlamentarische Rat hat das Gewaltenteilungsprinzip eher formal verstanden und hatte insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz im Blick. Ihren Ausdruck erfährt diese in der herausgehobenen Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. hierzu Kröger, Die Entstehung des Grundgesetzes, in: NJW 1989, 1318 (1321). Vgl. näher zum Verständnis der Gewaltenteilung und der Demokratie des Parlamentarischen Rates Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates (1971), S. 92 ff., 197 ff. Ausdrücklich wurde vom Abgeordneten A. Süsterhenn hinsichtlich der Notwendigkeit der Gewaltenteilung auf Montesquieus L’Esprit des Lois“ verwiesen: „Nach unserer Auffassung war es das historische Verdienst Montesquieus, erkannt und verkündet zu haben, daß jede Macht der Gefahr des Mißbrauchs ausgesetzt ist, weil jeder Mensch geneigt ist, wie Montesquieu sagt, ‚die Gewalt, die er hat, zu mißbrauchen, bis er Schranken findet‘.“ Der Parlamentarische Rat, Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), bearbeitet von Wolfram Werner (1996), Bd. 9, S. 57. Vgl. hierzu Mass, Montesquieu und die Entstehung des GG, in Merten (Hrsg.), Gewaltentrennung im Rechtsstaat (1989), S. 47 (51 f.). 437  Vgl. hierzu auch Kröger, Die Entstehung des Grundgesetzes, in: NJW 1989, 1318, „Im Blick auf die agitatorischen und demagogischen Praktiken der extremistischen Parteien in der Weimarer Republik und in der nationalsozialistischen Ära wollte man soweit wie möglich auf plebiszitäre Elemente im Grundgesetz verzichten“. 438  Vgl. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, in: NJW 1989, 1305 (1306). 439  BVerfGE 37, 363 (380).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Die Abgeordneten des Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes und werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und gleicher und geheimer Wahl gewählt (Art. 38 Abs. 1 S. 1, 2 GG). In der Formulierung „Vertreter des ganzen Volkes“ kommt das Repräsentationsprinzip zum Ausdruck. Sie vertreten nicht ein bestimmtes Bundesland, eine besondere Bevölkerungsgruppe usw., sondern die vom Volk ausgehende Staatsgewalt wird vom Parlament als Ganzem, d. h. im Sinne der Gesamtheit der Mitglieder ausgeübt.440 Ferner wurden die das Parlament beherrschenden politischen Parteien in die Verfassung aufgenommen und zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung verpflichtet (Art. 21 GG). Schließlich wurde eine Instanz geschaffen, die als „Hüterin der Verfassung“ wirken sollte (auch wenn sie freilich selbst unter der Verfassung steht und diese zu wahren hat): das Bundesverfassungsgericht. Es hat die Aufgabe, auf der Grundlage des Grundgesetzes Recht zu sprechen und kontrolliert insoweit nicht nur die Arbeit der exekutiven und judikativen, sondern auch der rechtssetzenden Gewalt (vgl. Art. 93, 100 GG). 2. Zu einzelnen Entwicklungen im Strafrecht a) Auch in der Strafrechtswissenschaft erfolgte zunächst eine Abkehr vom Positivismus und eine Rückbesinnung auf das naturrechtliche Denken der Aufklärungszeit.441 Nach Radbruch habe die Überzeugung „Gesetz ist Gesetz“ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht „gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts“. Es solle daher bei einem Konflikt zwischen positivem Recht und der Gerechtigkeit zwar grundsätzlich der Rechtssicherheit und damit dem bestehenden Gesetz der Vorrang eingeräumt werden, „es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“.442 Denn ein solches Gesetz sei kein Recht im eigentlichen Sinne, sondern unrichtiges Recht. Radbruch spricht sich aber ausdrücklich dafür aus, dass nicht jedem Richter die Aufgabe zukommen dürfe, das Gesetz von sich aus außer Kraft zu setzen, sondern die Rekurrierung auf das überpositive Recht sollte nur den höheren Gerichten oder der Gesetzgebung vorbehalten sein.443 440  Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 12. Aufl. (2012), Art. 38 Rn. 24; deutlich auch Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 3 (2005) § 34 Rn. 26 ff. 441  Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch, Bd. 2 (1994), S. 356 f.; Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, 105 (107). 442  Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, 105 (107).



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht157

Auch der Bundesgerichtshof berief sich in seinen Entscheidungen sowohl in Zivilsachen als auch in Strafsachen teilweise ausdrücklich auf die Gedanken des Naturrechts.444 Art. 1 Abs. 1 GG wurde dabei als „zentrales Element der naturrechtlichen Ordnung“ gesehen, der die Personalität jedes Einzelnen als naturgegeben annehmen sollte, aus der sich die Grund- und Freiheitsrechte des Menschen ergäben. Dieser sei das einzige Geschöpf innerhalb der Freiheitsordnung, das „ ‚auf freie, selbstverantwortliche sittliche Selbstbestimmung (sittliche Autonomie) angelegt ist‘ “.445 Ausgehend von der zur Selbstbestimmung fähigen Persönlichkeit des Einzelnen ergebe sich die Notwendigkeit, dass Strafe Schuld voraussetze: „Mit dem Unwerturteil wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden (…)“.446 Auch der Entwurf von 1962 fasst die Schuld vornehmlich als bewusste Entscheidung gegen das Recht auf und sah die Funktion der Strafe im „gerechte(n) Ausgleich für menschliche Schuld“.447 Der Zweckgedanke im Strafrecht trat gegenüber dem Vergeltungsgedanken und der Sühnetheorie zurück. Maßstab für die Strafe sollte nicht die Resozialisierung des Täters oder der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten sein, sondern das „getane Unrecht“ selbst war entscheidend. Dieses bedürfe „eines Ausgleichs durch eine Rechtseinbuße“ und müsse gerecht sein.448 Daher sei auch die Strafzumessung nach der Schuld des Täters zu richten (vgl. auch § 60 StGB E 62).449 Demgegenüber müssten die Maßregeln der Besserung und Sicherung auf Eingriffe beschränkt werden, „die vor der Gerechtigkeit verantwortet werden können, während die Zweckmäßigkeit für sich allein zur Rechtfertigung schuldabhängiger Freiheitsentziehung nicht ausreichen würde“.450 443  Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, 105 (107). 444  Vgl. hierzu Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, in: NJW 1960, 1689 ff. 445  Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, in: NJW 1960, 1689 (1693). 446  BGHSt 2, 194 (200). 447  BT-Drucks. IV/650, S. 96. 448  Jescheck, Die weltanschaulichen und politischen Grundlagen des Entwurfs eines Strafgesetzbuches (E 1962), in: ZStW 75 (1963), 1 (8). 449  BT-Drucks. IV/650, S. 97. 450  Jescheck, Die weltanschaulichen und politischen Grundlagen des Entwurfs eines Strafgesetzbuches (E 1962), in: ZStW 75 (1963), 1 (9).

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Kritiker warfen den Verfassern des Entwurfs vor, dass diese mit ihrem Rückgriff auf das Schuldprinzip und den Vergeltungsgedanken die weltanschauliche Neutralität verlassen.451 So forderte Bauer beispielsweise, den Schuldbegriff durch den Begriff der Ursache zu ersetzen, um das Strafrecht zu entmythologisieren und zu verwissenschaftlichen.452 Es wurde „der Abschied von Kant und Hegel“ propagiert.453 In der Tat problematisch und daher auch massiver Kritik ausgesetzt war der Rekurs auf das Naturrecht insofern, als es zwar darum gehen sollte, eine „rationale Ordnung“ zu errichten, „die auf Wirklichkeitserfahrung und unabhängigem Nachdenken beruht“,454 dennoch aber teilweise rechtliche Vorstellungen mit Moralvorstellungen vermengt wurden. Dies zeigt sich deutlich im Entwurf von 1962. Als strafbar sollten solche Handlungen erachtet werden, die „nach Anschauungen einer elementaren, allen Rechtsgenossen gemeinsam oder wenigstens verstehbaren Sittlichkeit für die Gemeinschaft unerträglich sind“.455 Auf diesen Überlegungen basierte einerseits z. B. das Festhalten am Verbot der Todesstrafe, die Straflosigkeit des Selbstmordes, der Ausschluss politischen Gesinnungsstrafrechts und die Trennung von Ordnungsunrecht (Verletzung polizeilicher Verbote) und Strafrecht. Andererseits wurde aber an der Strafbarkeit der Homosexualität, der Kuppelei und des Ehebruchs festgehalten, bei letzterem wurde die Strafdrohung mit Rücksicht auf die Bedeutung des Rechtsgutes Ehe sogar erhöht.456 Dem Entwurf wurde daher auch Intoleranz und eine Vermengung von Rechts- und Moralvorstellungen vorgeworfen: „Statt von einer fragwürdigen Moralisierung unseres Rechts abzusehen, schwelgen die Reformentwürfe und 451  Bauer, Das Strafrecht und das heutige Bild vom Menschen, in: Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform (1967), S. 11 (14). 452  Bauer, Das Strafrecht und das heutige Bild vom Menschen, in: Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform (1967), S. 11 (12). 453  Bauer, Das Strafrecht und das heutige Bild vom Menschen, in: Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform (1967), S. 11 ff. Vgl. zudem den gleichnamigen Titel eines Beitrags von Klug im Jahr 1968, abgedruckt in: Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, Bd. 2, Materielle und formelle Strafrechtsprobleme, S. 149 ff. Deutliche Worte findet Klug am Ende seines Beitrags: „Es ist die hohe Zeit, die Straftheorien von Kant und Hegel mit ihren irrationalen, gedankenlyrischen Exzessen in all ihrer erkenntnistheoretischen, logischen und moralischen Fragwürdigkeit endgültig zu verabschieden“ (S. 154). Zur Kritik gegenüber Klugs „Verabschiedung“ von Kant Hruschka, Die „Verabschiedung“ Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968: Einige Korrekturen, in: ZStW 122 (2010), 493 ff. 454  Jescheck, Die weltanschaulichen und politischen Grundlagen des Entwurfs eines Strafgesetzbuches (E 1962), in: ZStW 75 (1963), 1 (3). 455  Jescheck, Die weltanschaulichen und politischen Grundlagen des Entwurfs eines Strafgesetzbuches (E 1962), in: ZStW 75 (1963), 1 (4 f.). 456  Vgl. zur Kritik auch Woesner, Das weltanschauliche Gesicht des Entwurfs eines StGB 1962, in: NJW 1965, 1249 (1254).



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht159

ihre Begründungen in affektgeladenen Worten, die das Volksempfinden unseligen Angedenkens in Erinnerung rufen“.457 Der Entwurf von 1962 fand keine Mehrheit. Einige Strafrechtswissenschaftler arbeiteten parallel zu den offiziellen Entwürfen an einem Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzes, der von der sog. modernen Schule v. Liszts geprägt war und insbesondere die spezialpräventive Aufgabe des Strafrechts hervorhob. Im Ergebnis scheiterte jedoch eine Gesamtreform des materiellen Strafrechts.458 Stattdessen folgten von 1969 bis 1974 fünf einzelne, kleinere Reformen, die die Ideen der „modernen Schule“ mitaufnahmen und versuchten, zwischen den Vorschlägen des E 1960 und des Alternativentwurfs einen Kompromiss zu finden. Das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1969 führte vor allem zu einer Grundreform des Sanktionenrechts, welches resozialisierungsfreundlich ausgestaltet wurde. Neben der Schuld als Grundlage der Strafzumessung wurde hinzugefügt, dass ebenso die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen seien. Eingeführt wurde z. B. eine einheitliche Freiheitsstrafe, während das Nebeneinander von unterschiedlichen Formen des Freiheitsentzugs wie Zuchthausstrafe, Gefängnis und Haft abgeschafft wurde. Zudem wurden im Bereich des Besonderen Teils unter anderem die Strafbarkeit des Ehebruchs und der einfachen Homosexualität aufgehoben. Das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts 1969 änderte bedeutende Vorschriften des Allgemeinen Teils, wie die unechten Unterlassungsdelikte, den Tatbestands- und Verbotsirrtum, Täterschaft und Teilnahme, den rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand. Zudem erfuhr das Sanktionssystem Neuerungen. So wurde beispielsweise das Mindestmaß der Freiheitsstrafe auf einen Monat erhöht, das Tagessatzsystem eingeführt sowie die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt und die Führungsaufsicht.459 Seit den 80er Jahren spielt das Präventionsstrafrecht in der politischen Diskussion eine bedeutende Rolle, die seit den 90er Jahren zu einer Vielzahl von Gesetzesänderungen führten, wie z. B. das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität von 1992, das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 sowie das „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Straftaten der Organisierten Kriminalität und des Terrorismus“.460 Die Entstehung neuer 457  Bauer, Wertordnung und pluralistische Gesellschaft, in: Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform, (1967), S. 24 (37). 458  Hierzu Vormbaum, Einführung in die moderne Stafrechsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S.  232 f. 459  Vgl. insgesamt Vormbaum, Einführung in die moderne Stafrechsgeschichte, 3. Aufl. 2016, S. 234. 460  Vgl. zum Verhältnis von Strafrecht und Polizeirecht aus historischer Sicht Zabel, Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts, in: ZStW 120 (2008), 68 ff.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Kriminalitätsformen (Terrorismus, Organisierte Kriminalität) und die Transnationalisierung der Kriminalität führten zu einer politisch motivierten „Sicherheitsgesetzgebung“. Insbesondere auch infolge europäischer Rechtssetzungstätigkeit wurde der nationale Gesetzgeber verpflichtet, das materielle Strafrecht hier weiter auszubauen.461 Der Begriff der Sicherheit erfährt damit einen bedeutenden Aufschwung und lässt dahinter die Freiheit des einzelnen Bürgers im materiellen Strafrecht (z. B. durch Vorfeldkriminalisierungen) und im Strafprozessrecht (z. B. durch die Verpolizeilichung des Strafverfahrensrechts durch immer weitergehende Ermittlungsbefugnisse) zurücktreten.462 In der „Sicherheitsgesetzgebung“ zeigen sich deutliche Parallelen zum Strafrecht in der Zeit der Weimarer Republik, die besonders geprägt war vom spezialpräventiven Ansatz von v. Liszt. Hierin wird auch deutlich, wie Gedankengänge fortwirken und sich ideengeschichtlich betrachtet Überschneidungen unterschiedlicher Denkrichtungen ergeben. b) 1950 wurde auf dem Gebiet des Gerichtsverfassungsrechts und des Strafverfahrensrechts eine Rechtseinheit durch das Vereinheitlichungsgesetz wiederhergestellt. Die Grundlage hierfür bildete das Grundgesetz. So wurde insbesondere die Unabhängigkeit der Richter gestärkt (vgl. Art. 97 GG). Neben den Grundrechten in den Art. 1–19 GG wurden Justizgrundrechte ins Grundgesetz aufgenommen, wie das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG), der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 102 Abs. 1 GG), das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen und der Grundsatz ne bis in idem (Art. 103 GG) sowie Verfahrensgarantien bei der Freiheitsentziehung und gerichtlicher Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG).463 Das Vereinheitlichungsgesetz sollte als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens gewährleisten und 461  Vgl. z.  B. zur Geldwäsche die Richtlinien 91/308/EWG (ABl. L 166/77 v. 29.6.1991), 2001/97/EG (ABl. L 344/76 v. 28.12.2001), 2005/60/EG (ABl. L 309/15 v. 25.11.2005) und den Rahmenbeschluss des Rates vom 26.6.2001 (ABl. L 182/1 v. 5.7.2001); zum Insiderhandel die Richtlinien 89/592/EWG (ABl. L 334/30 v. 18.11.1989), 2003/6/EG (ABl. L 96/16 v. 12.4.2003); zum Betrug das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, sog. PIF-Abkommen 95/C 316/03 (ABl. C 316/48 v. 27.11.1995); vgl. schließlich aktuell den Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission v. 11.7.2012, KOM(2012) 363 final. 462  Vgl. hierzu die grundlegende Kritik von Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht (2013), S. 32 ff.; 301 ff., 451 ff. 463  Vgl. hierzu auch Bader, Die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Garantien im deutschen Strafprozeß nach 1945, in: FS-Pfenninger (1956), S. 1 (10); vgl. ebenso die Übersicht Übersicht zur StPO-Reform bei Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPOKommentar, 27. Aufl. (2016), Einl. Abschn. F, Rn. 81.



E. Der demokratisch-republikanische Rechtsstaat und sein Strafrecht161

auch die Stellung des Beschuldigten verbessern.464 So wurde insbesondere § 136a StPO eingeführt, der bestimmte Vernehmungsmethoden verbietet, bei denen die Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit des Beschuldigten beeinträchtigt werden. Der Beschuldigte darf beispielsweise nicht misshandelt oder gequält werden, ihm dürfen keine betäubenden, hemmungslösenden, einschläfernden Mittel oder Weckmittel verabreicht werden und er darf nicht unter Hypnose gesetzt werden. § 136a StPO ist unmittelbarer Ausfluss der in Art. 1 Abs. 1 GG normierten Garantie der Menschenwürde.465 Auch derjenige, der einer Straftat verdächtigt wird, darf nicht zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden, sondern seine Subjektstellung muss sichergestellt sein.466 Das Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG von 1964 liberalisierte das Strafverfahrensrecht und festigte die Rechtsstellung des Beschuldigten sowie seines Verteidigers. Die Strafrechtsreformen seit 1974 zielten demgegenüber in vielen Vorschriften mehr auf Schnelligkeit und Effektivität der Strafrechtspflege ab. In dem Zusammenhang stehen auch die Vorschriften, die das Legalitätsprinzip einschränken.467 So wurde 1975 § 153a StPO eingeführt, der dem Staatsanwalt die Möglichkeit der Einstellung in Verbindung mit Geldauflagen ermöglicht.468 Die Einführung des sog. Deals (vgl. v. a. § 257c StPO) durch das „Gesetz zur Regelung der Verständigung 464  Scheffler,

Strafprozeßrecht, quo vadis?, in: GA 1995, 449 (450). 5, 332 (333); 14, 358 (364). 466  Grundlegend zur Subjektstellung des Beschuldigten im Strafprozess Kahlo, Der Begriff der Prozeßsubjektivität, in: KritV 1997, 183 ff.; ders., Soll es dem Staat im Strafprozeß rechtlich erlaubt sein …, in: Wolff-FS (1998), S. 153 ff.; Köhler, Prozeßrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe, in: ZStW 107 (1995), 10 (24 ff.); Zaczyk, Bindungswirkungen eines rechtskräftigen Strafurteils für das materielle Strafrecht, in: GA 1988, 356 ff.; ders., Prozeßsubjekte oder Störer?, in: StV 1993, 490 (492); Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft, in: ZStW 118 (2006), 389. In der neueren Literatur wird zum Teil weiter angenommen, dass § 136a StPO nicht in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten, sondern vornehmlich der Wahrheitsfindung diene. Wie auch schon Hobbes und Beccaria hinsichtlich der Folterung der Beschuldigten betonten, seien Beeinträchtigungen der Willensfreiheit weder für die Wahrheitsfindung förderlich, noch seien sie für die Vernehmungsatmosphäre sinnvoll, da sich derartige Zwangsmaßnahmen negativ auf die Kommunikation der ­Beteiligten auswirkten und damit auch die Wahrheitsfindung beeinträchtigten. Vgl. hierzu Krack, Der Normzweck des § 136a StPO, in: NStZ 2002, 120 (121 ff.). 467  Kritisch hierzu Pott, Die Aushöhlung des Legalitätsprinzips, in: Institut für Kriminalwissenschaften F. a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 79 (88 ff.). 468  Vgl. die Übersicht zur StPO-Reform bei Kühne, StPO-Kommentar, 27. Aufl., Einl. Abschn. F, Rn. 106 ff. m. w. N. Zur grundlegenden Kritik Pott, Die Aushöhlung des Legalitätsprinzips, in: Institut für Kriminalwissenschaften F. a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 79. 465  BGHSt

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

im Strafverfahren“469 bildet einen weiteren Schritt zur Einschränkung des Legalitätsgrundsatzes und der Ausweitung von Opportunität im Strafverfahren.470 Gerade in der neueren Zeit wird das Ziel der Verbrechensbekämpfung im Rahmen der Begründung neuer Strafverfahrensvorschriften hervorgehoben. Aufgrund neuer Verbrechensphänomene ist die Sorge um die Sicherheit des Staates von besonderer Bedeutung, so dass auch dem Strafprozess nicht nur die Aufgabe einer repressiven Tätigkeit zugedacht wird, sondern dieser auch präventiv wirken soll. Insbesondere bedingt durch ein Ausweiten von neuen Kriminalitätsformen, wie beispielsweise der sog. Organisierten Kriminalität und des Terrorismus, wurden Möglichkeiten geschaffen, die Ermittlungstätigkeit von Strafverfolgungsbehörden auszubauen.471 So erweiterte das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität (OrgKG) von 1992 unter anderem strafrechtliche Ermittlungsbefugnisse.472 Es enthält Regelungen über den Einsatz Verdeckter Ermittler sowie die Zulässigkeit von Beobachtungs- und Abhörtechniken.473 Ferner wurde die sog. Rasterfahndung und die polizeiliche Beobachtung auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Das Identitätsfeststellungsgesetz von 1998 sieht die Entnahme von Körperzellen und deren DNA-Analyse des einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ Verdächtigen vor und zwar präventiv, um eine Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren zu ermöglichen, wenn eine Wiederholungsgefahr besteht (§ 81g StPO). Dabei werden die DNA-Identifizierungsmuster in einer beim Bundeskriminalamt eingerichteten Datei gespeichert (§ 3 DNA-IFG). Das Strafverfahrensänderungsgesetz von 1999 legte neben einer neuen Ermittlungsklausel (§§ 161 Abs. 1, 163 Abs. 1 S. 2 StPO), wo469  BT-Drucks.

16/12310; 16/13095. zum Verständigungsgesetz Fezer, Inquisitionsprozess ohne Ende?, in: NStZ 2010, 177 ff.; Hettinger, Die Absprache im Strafverfahren als rechtsstaatliches Problem, in: JZ 2011, 292 ff.; Stuckenberg, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Kommentar, 26. Aufl. (2013), § 257c Rn. 2 ff.; vgl. auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013, BVerfG 2 BvR 2628/10; kritisch zu dieser Entscheidung die Anm. von Stuckenberg, in: ZIS 2013, 212 ff.; Fezer, Vom (noch) verfassungsgemäßen Gesetz, in: HRRS 4/2013, 117 ff. 471  Vgl. hierzu im Überblick Ranft, Strafprozeßrecht, 3.  Aufl. (2005), §  1 Rn. 11 ff.; treffend kritisch gegenüber dieser Entwicklung Paeffgen, „Verpolizei­ lichung“ des Strafprozesses – Chimäre oder Gefahr?, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts (1995), S. 13 ff. 472  Vgl. zur Begründung BT-Drucks. 12/989, S. 1. 473  Vgl. zur Kritik Kahlo, Soll es dem Staat im Strafprozeß rechtlich erlaubt sein …, in: Wolff-FS (1998), S. 153; M. Köhler, Prozeßrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe, in: ZStW 107 (1995), 10; Zaczyk, Prozeßsubjekte oder Störer?, in: StV 1993, 490. 470  Kritisch



F. Ergebnis und Übergang zum 2. Teil der Arbeit163

nach den Strafverfolgungsbehörden auch Grundrechtseingriffe ohne vorherige richterliche Anordnung möglich sind, „soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln“, fest, unter welchen Voraussetzungen Erkenntnisse, die aufgrund präventiv-polizeirechtlicher Wohnraumüberwachung gewonnen wurden, im Strafverfahren verwertet werden dürfen (§ 161 Abs. 2 StPO). Die genannten Änderungen im Strafverfahrensrecht zeigen, dass dieses zugleich als Mittel zur Verbrechensprävention eingesetzt werden soll. Dies ist kein Zufall, sondern hat seinen Grund darin, dass der Strafprozess zugunsten der „inneren Sicherheit“ immer mehr die Funktion zukommen soll, die „Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und des Terrorismus weiter zu verbessern“474. Der Zweck „Verbrechensbekämpfung“, „innere Sicherheit“ bestimmt die Mittel, die weitgehende Grundrechtseingriffe erlauben. Hintergrund eines solchen Strafrechtsverständnisses ist ein Staatsbegriff, wie er dem Preußischen Allgemeinen Landrecht zugrunde lag: Das Gemeinwohl und die Sicherheit stehen im Vordergrund, während die Freiheit des Einzelnen vor staatlichen Eingriffsmaßnahmen zurückzutreten hat.475

F. Ergebnis und Übergang zum 2. Teil der Arbeit Die dargestellte Auswahl der geistes- und ideengeschichtlichen Strömungen der Neuzeit in ihrer Bedeutung für die Ausgestaltung von Rechts- und Staatsstrukturen hat deutlich gemacht, dass diese abhängig sind von der Bestimmung des Menschen und seinen interpersonalen Verhältnissen. Die Art und Weise der rechtlichen und politischen Verfasstheit des Staates hat wiederum Auswirkungen auf die Gestaltung des Strafrechts. Gezeigt werden konnte zugleich, dass der Zusammenhang von geistesgeschichtlicher Entwicklung und der jeweiligen politischen Entwicklung nicht eindeutig ist. Historische Entwicklungen verlaufen nicht linear, sondern unterliegen – bedingt durch ihre verschiedensten politischen, geistigen und kulturellen Zusammenhänge – Schwankungen und weisen auch Brüche auf. Das Hobbes’ sche Staats- und Strafverständnis führt mit seinem empirischfaktisch reduzierten Menschenbild zu einer despotischen Staatsform, in dem der Souverän alle drei Gewalten in sich vereinigt. Das Strafrecht ist dann allein an Effizienz- und Sicherheitsaspekten auszurichten. Denn Aufgabe des Souveräns ist es, die Bürger „zu zähmen“, da diese ansonsten mit Gewalt versuchten, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Demgegenüber knüpfen die Staatstheorien des politischen Liberalismus an einem Men474  Vgl.

z. B. BT-Drucks., 14/6834, S. 9. auch die Kritik M. Köhlers, Prozeßrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe, in: ZStW 107 (1995), 10 (11). 475  Vgl.

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

schenbild an, welches dem Einzelnen neben dem eigenen Streben nach Glückseligkeit auch die Fähigkeit zu vernünftigem und sozialem Handeln zuerkennen. Dem Menschen kommen von Natur aus bestimmte Freiheitsrechte zu, die auch gegenüber dem Staat gelten und an die die Herrschenden im Staat gebunden sind. Aufgabe des Staates ist es nicht allein, die Bürger untereinander zu schützen und einzelne Rechte gegebenenfalls mit Zwang durchzusetzen, sondern auch gegenüber staatlichem Handeln sind bestimmte Grundrechte wie Freiheit und Eigentum der Einzelnen zu gewährleisten. Aufgrund der natürlichen Freiheit und Gleichheit des Einzelnen ist dieser als Subjekt des Verfahrens ernst zu nehmen. Das Strafverfahren und die Strafe zielen nicht allein auf das Wohl der Gemeinschaft und die Sicherheit der Bürger, sondern haben ebenso die Freiheit des Beschuldigten bzw. des Verurteilten in den Blick nehmen. In der Strafrechtswissenschaft kam die Forderung auf, Grundsätze und Prinzipien für das Strafrecht herauszuarbeiten, um auf ihnen aufbauend ein konsistentes Strafrechtssystem zu entwickeln, welches frei ist von richterlicher Willkür oder Machtsprüchen der Herrschenden. Die Idee eines demokratischen Rechtsstaates basiert schließlich auf der Anerkennung ursprünglicher Freiheit (Autonomie) des einzelnen Menschen und lässt das Streben des Einzelnen nach Glückseligkeit für rechtliche Begründungsfragen unberücksichtigt. Das Recht ist allein danach auszurichten, die äußeren Freiheitssphären der Einzelnen zu bestimmen und durchzusetzen. Staatliche Rechtsmacht lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn in ihr die Freiheit des je Einzelnen auch zur Geltung kommt. Das ist dann der Fall, wenn der Einzelne selbst an der Staatskonstitution beteiligt ist und die gesetzgebende Gewalt dem „allgemein vereinigten Volkswillen“ zukommt. Die Unrechtstat stellt die Negation des von allen anerkannten Rechts dar und ist daher aufzuheben. Die Begründung von Strafe hat sich am realisierten Unrecht zu orientieren und kann nicht auf rein präventiven Erwägungen beruhen. Auch das Strafverfahren muss den Beschuldigten als freies Subjekt anerkennen und darf ihn nicht zum Objekt des Verfahrens degradieren. Die ideengeschichtliche Darstellung kennzeichnete damit deutlich die Verbindungslinie zwischen den Bürgern, der staatlichen Verfassung und dem Strafrecht des Staates. Diese Linie wurde nicht nur theoretisch ausgewiesen, sondern kam auch in den tatsächlich existierenden einzelnen unterschiedlichen Staatsformen zum Ausdruck. Es stellt sich daher die Frage, ob eine vergleichbare Verbindung zwischen dem Bürger und der Europäischen Union auszumachen ist. Mit ihr kommt zu der Staatsebene eine weitere Rechtsebene hinzu. Die Mitgliedstaaten haben auf die Europäische Union Hoheitsrechte übertragen, die sie



F. Ergebnis und Übergang zum 2. Teil der Arbeit165

dazu ermächtigt, diese selbsttätig durch eigene Organe wahrzunehmen. Aufgrund dessen können europäische Institutionen unmittelbar Regelungen erlassen, die einzelne Rechte oder Pflichten der Bürger betreffen (sog. Durchgriffswirkung des sekundären Unionsrechts).476 Wie bereits im Rahmen der Einleitung der Arbeit dargelegt wurde, kann beispielsweise die Europäische Kommission aufgrund der VO 1 / 2003 Unternehmen zu einem bestimmten Verhalten verpflichten oder Bußgelder verhängen. Diese Durchgriffswirkung kennzeichnet den bedeutenden Unterschied möglicher Maßnahmen seitens der Europäischen Union zu anderen internationalen Organisationen.477 Die Akte der Europäischen Union müssen nicht mehr durch die Mitgliedstaaten transformiert werden, sie stellen damit keine Ausübung der deutschen Staatsgewalt dar und können daher auch nicht am Grundgesetz gemessen werden, sondern sind Handlungen von supranationalen, europäischen Institutionen, die an deren Rechtsvorschriften zu messen sind. „Die durch Kompetenzübertragungen neu geschaffene Unionsgewalt wirkt so anstelle der insoweit geschrumpften öffentlichen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland.“478 Das Grundgesetz bekennt sich schon in seiner Präambel zur „offenen Staatlichkeit“: Das Deutsche Volk sieht sich „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG regelt ausdrücklich, dass der Bund zur Verwirklichung eines vereinten Europas durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf die Union übertragen kann. Im folgenden 2. Teil soll dargelegt werden, inwieweit im Zuge der Europäischen Integration die ideengeschichtlich gewachsenen Staatsprinzipien aufgebrochen wurden. Dabei soll einerseits die Entwicklung der Europäischen Integration aufgezeigt und andererseits untersucht werden, inwieweit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Grenzen hinsichtlich der Übertragungsmöglichkeit von Hoheitsrechten gezogen hat. Sollte sich zeigen, dass bereits konkrete Grenzbestimmungen benannt wurden, ist zu prüfen, ob insbesondere die mit Art. 325 Abs. 4 AEUV eingeräumte Möglichkeit der Union, genuines Europäisches Strafrecht zu setzen, verbunden mit der Möglichkeit der Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 86 AEUV) diesen entspricht. Sollte sich demgegenüber herausstellen, dass bisher keine eindeutige Bestimmung von Grenzen dargelegt werden konnte, bedarf es einer tieferen Analyse, in der näher zu untersuchen ist, ob die im ideengeschichtlichen Hintergrund aufgezeigten Staatsstrukturprinzipien zwangsläufig mit dem Einzelnen in Verbindung stehen und für eine legitime 476  Herdegen,

Europarecht, 17. Aufl. (2015), § 5 Rn. 12. Europarecht, 17. Aufl. (2015), § 5 Rn. 12. 478  Herdegen, Europarecht, 17. Aufl. (2015), § 10 Rn. 19. 477  Herdegen,

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1. Teil: Ideengeschichtlicher Hintergrund staatlicher Herrschaftsformen

Rechtsmacht und damit auch für ein rechtsstaatliches Strafrecht konstitutiv sind oder ob sie nicht vielmehr „geistesgeschichtliche Zufälligkeiten“479 darstellen, die aufgrund der Globalisierung und Europäisierung von Politik und Recht für die Begründung legitimer Rechtsformen überholt sind und neuen postnationalen bzw. supranationalen, genauer: „unionalen“ Konzep­ tionen weichen müssen.

479  So hinsichtlich des Gewaltenteilungsgrundsatzes z.  B. Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 67. Ergänzungslfg. (2013), Art. 20 Rn. 18.

2. Teil

Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf Europäische Institutionen A. Einleitung Durch den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften bzw. zur Europäischen Union wurde die staatliche Souveränität der Mitgliedstaaten in besonderem Maße tangiert. Auch wenn die Mitgliedstaaten jeweils durch Vertrag die Rechtsordnung der Union selbst konstituiert haben, hat sich diese zu einer eigenständigen Rechtsordnung entwickelt, der gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten grundsätzlich der Vorrang einzuräumen ist.1 Die Zustimmungsgesetze zu den Gründungsverträgen bzw. ihren Änderungen haben damit zu einem „Einbruch in die bestehende Verfassungsordnung“ geführt.2 Dieser Einbruch beruhte zunächst auf der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG, wonach der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Bis zur Einführung des 1992 neu gefassten Art. 23 GG hatte die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG vor allem Bedeutung im Hinblick auf die Europäischen Gemeinschaften. Inzwischen ist Art. 23 Abs. 1 GG für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union gegenüber Art. 24 Abs. 1 GG lex specialis.3 Nach Art. 23 Abs. 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet (Art. 23 Abs. S. 1 GG). Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustim1  Vgl. allgemein zum Vorrang des Unionsrechts Grabenwarter, Staatliches Unionsverfassungsrecht, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 121 (136 ff.), der das unterschiedliche Verfassungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten in ihrem Verhältnis zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts näher beleuchtet. 2  Herdegen, Europarecht, 17. Aufl. (2015), § 10 Rn. 20. 3  Scholz, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 23 Rn. 4.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

mung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG).4 Der Begriff der Hoheitsrechte umfasst dabei Befugnisse der drei Staatsgewalten, d. h. es können sowohl Hoheitsrechte auf der Ebene der Gesetzgebung als auch der Verwaltung wie auch der Rechtsprechung transferiert werden. Dies kann der Bund aber nicht unbegrenzt. Als Schranke nennt Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zum einen die Grenze des Art. 79 Abs. 2 GG. Damit bindet der Verfassungsgeber die Übertragung an das verfahrensrechtliche Erfordernis eines Gesetzes mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat. Zum anderen setzt Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG materiell-rechtlich die Grenze der Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG. Übertragungsgesetz (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) und Vertragsgesetz (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) sind dann (materiell) verfassungswidrig, wenn sie die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze verletzen. Durch den Verweis auf die beiden zuletzt genannten Bestimmungen sind insbesondere zwei Strukturprinzipien der Verfassung als Grenzen genannt, die im Rahmen der Ideengeschichte von staatlichen Herrschaftsformen näher ausgewiesen wurden: das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip. Zum ersten gehört einerseits der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) und andererseits auch der Grundsatz der Bindung des Gesetzgebers an die bestehende Ordnung sowie der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG). Zum nicht antastbaren Demokratieprinzip gehört, dass das Volk primärer Träger der Staatsgewalt ist und von ihm ausgehend die staatlichen Organe tätig werden (Volkssouveränität). Die Willensbildung des Volkes muss damit weiterhin Grundlage der Staatsbildung der Bundesrepublik Deutschland sein.5

B. Zur Entwicklung der Europäischen Integration bis zum Vertrag von Lissabon und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren Entscheidungen mit den Grenzen von Hoheitsrechtsübertragungen gemäß Art. 24 Abs. 1 GG bzw. Art. 23 Abs. 1 GG auf Europäische Institutionen auseinandergesetzt. Für die nähere Klärung sind vor allem die „Solange I-“, „Solange II-Ent4  Siehe zum Prinzip der „offenen Staatlichkeit“ und zur Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten statt vieler Scholz, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 23 Rn. 3 f., 61 ff. jeweils m. w. N. 5  s. a. Kirchner/Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1993, 760 (763 f.).



B. Europäische Integration bis zum Vertrag von Lissabon169

scheidung“, die sog. Maastricht-Entscheidung und die Entscheidung zum „Europäischen Haftbefehlsgesetz“ aufschlussreich, in denen sich das Gericht mit Grundsatzfragen hinsichtlich des Verhältnisses von EG / EU und dem Grundgesetz sowie mit Auswirkungen und Grenzen der Übertragungsmöglichkeiten von Hoheitsrechten zu beschäftigen hatte. Das Gericht musste dabei in seinen Entscheidungen hinsichtlich der Überprüfung der Vertragsbestimmungen der Gemeinschaftsverträge selbst seine Zuständigkeit ablehnen. Denn das primäre Gemeinschaftsrecht kam nicht als Gegenstand eines bundesverfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens oder einer gegen die Normen mittelbar oder unmittelbar gerichteten Verfassungsbeschwerde in Betracht, da es außerhalb der Rechtsordnung des Grundgesetzes liegt.6 Das primäre Gemeinschaftsrecht konnte das Bundesverfassungsgericht damit nur insoweit zum Gegenstand seiner Entscheidung machen, als es untersuchen musste, ob die jeweiligen Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen die Grenzen des Art. 24 Abs. 1 bzw. 23 Abs. 1 GG beachtet hatten.

I. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Solange I- und II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG konnte die Bundesrepublik der Montanunion (EGKS) 1952 beitreten, die die europäische Stahl- und Kohleindustrie unter eine supranationale Verwaltung stellen sollte. Die Besonderheit des Rechts der Gemeinschaft lag darin, dass es (anders als gewöhnli­ ches transformiertes Völkerrecht) nicht Bestandteil des Bundesrechts wurde, sondern jeweils einen selbständigen Regelungskomplex darstellte.7 Die 6  Vgl. Art. 100 GG, Art. 93 I Nr. 4a und hierzu statt vieler die Kommentierung von Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 12. Aufl. (2012), Art. 100 Rn. 7a., Art. 93 Rn. 50b. 7  Vgl. schon BVerfGE 22, 293 (296): „Die Gemeinschaft ist selbst kein Staat, auch kein Bundesstaat. Sie ist eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, eine ‚zwischenstaatliche Einrichtung‘ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG, auf die die Bundesrepublik Deutschland – wie die übrigen Mitgliedstaaten – bestimmte Hoheitsrechte ‚übertragen‘ hat. Damit ist eine neue öffentliche Gewalt entstanden, die gegenüber der Staatsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbständig und unabhängig ist; ihre Akte brauchen daher von den Mitgliedstaaten weder bestätigt (‚ratifiziert‘) zu werden noch können sie von ihnen aufgehoben werden. Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar. Die von den Gemeinschaftsorganen im Rahmen ihrer vertragsgemäßen Kompetenzen erlassenen Rechtsvorschriften, das ‚sekundäre Gemeinschaftsrecht‘, bilden eine eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten sind. Das Gemeinschaftsrecht und das innerstaatliche Recht der

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Gemeinschaft verfügte über eigene supranationale Organe, wie der Hohen Behörde (Vorläufer der Kommission), dem Rat, der Parlamentarischen Versammlung und dem Gerichtshof (vgl. Art. 7 EGKS). Durch Zustimmungsgesetz zu den Verträgen gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 S. 1 GG ist der Vertrag deutsches Recht geworden.8 Das Primärrecht galt damit unmittelbar in den Mitgliedstaaten, ohne dass es eines weiteren Vollzugsaktes bedurfte. Auch das Sekundärrecht war aufgrund der in den Gemeinschaftsverträgen festgelegten Normsetzungsbefugnis von den Gemeinschaftsorganen für die Mitgliedstaaten verbindlich und, soweit es als Verordnung erging, für deren Angehörige bindend (Art. 189 Abs. 2 EWG-Vertrag). Die Bundesrepublik Deutschland hatte durch den EGKS-Vertrag Hoheitsrechte auf Europäische Institutionen übertragen. So kam der „Hohen Behörde“, die aus unabhängigen Mitgliedern bestand, die von den Mitgliedstaaten im Einvernehmen bestimmt bzw. hinzugewählt wurden, bereits eine Durchgriffswirkung gegenüber Unternehmen zu.9 Die Hohe Behörde stand an erster Stelle der Organe der Gemeinschaften.10 Bereits die Stellung und Kennzeichnung im EGKS zeugen von der herausgehobenen Stellung, die ihr zukommen sollte. Bei der Hohen Behörde lag auch das Schwergewicht der Regelungskompetenzen (Art. 8 ff. EGKS). Sie sollte nach der Vorstellung ihrer Gründer „Motor, Wächter und ehrlicher Makler“11 der Gemeinschaft sein und allmählich in die Aufgaben einer europäischen Regierung hineinwachsen.12 Ihre Aufgabe war es nach Art. 8 EGKS, „für die Erreichung der in diesem Vertrag festgelegten Zwecke nach Maßgabe des Vertrages zu sorgen“. Diese Zwecke bestanden vor allem darin, „zur Ausweitung der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten beizutragen“ (Art. 2 EGKS). Sie konnte im Rahmen der Bedingungen des EGKS Entscheidungen treffen, die in allen Teilen verbindlich waren, Art. 14 EGKS. Art. 65 § 1 EGKS sah bereits ein Kartellverbot vor. Danach waren „alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, alle Beschlüsse von Verbänden von Unternehmen und alle verabredeten Praktiken (verboten), die darauf abzielen würden, auf dem gemeinsamen Markt unmittelbar oder mittelbar den normalen Wettbewerb zu verhindern, Mitgliedstaaten sind ‚zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen‘; das vom EWG-Vertrag geschaffene Recht fließt aus einer ‚autonomen Rechtsquelle‘ (EuGHRspr. VIII 97 [110]; X, 1251 [1270] = NJW 64, 2371 [2372]).“ 8  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. (1999), Rn. 105; BVerfGE 73, 339. 9  Vgl. Art. 7 und 9 EGKS. 10  Es folgten dann die „Gemeinsame Versammlung“, der „Besondere Ministerrat“, der „Gerichtshof“ und der „Rechnungshof“. 11  Walter Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. (1979), S. 82. 12  Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 7. Aufl. (2016), § 5 Rn. 93.



B. Europäische Integration bis zum Vertrag von Lissabon171

einzuschränken oder zu verfälschen“. Bei Verstößen gegen dieses Verbot war die Hohe Behörde ermächtigt, Geldbußen und Zwangsgelder zu verhängen (Art. 65 § 5). Sie hatte auch hier gegenüber den Unternehmen das Recht, sich die für sie erforderlichen Auskünfte zu verschaffen (Art. 65 § 3 i. V. m. Art.  47 EGKS).13 1957 / 58 wurden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) gegründet. Ziel der EWG sollte es sein, die nationalen Volkswirtschaften zu einem einheitlichen europäischen Binnenmarkt zu verschmelzen. Aufgabe der EAG war es, auf eine gemeinschaftliche Entwicklung und friedliche Nutzung der Kernenergie hinzuwirken. Die Organisationsstruktur von EWG und EAG stimmten weitgehend überein. Bei der EWG handelte es sich vor allem um eine Zollunion. Anders als bei der Montanunion lag hier das Schwergewicht der Willensbildung nicht allein bei der Kommission, sondern auch beim Rat (Art. 145 ff. EWG, Art. 115 ff. EAG). Dieser bestand aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten, so dass die Regierungen an der Rechtssetzung und anderen Regelungskompetenzen beteiligt waren. Die Kommission war mit der Initiative bei der Rechtssetzung, mit dem Erlass von Durchführungsbestimmungen und in bestimmten Bereichen mit Vollzugsbefugnissen betraut. Auch hier fungierte sie als „Hüterin der Gemeinschaftsordnung“ (vgl. Art. 155 EWG). Dabei hatte die Kommission unter anderem im Wettbewerbsrecht unmittelbaren Einfluss auf die nationale Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. So wachte sie darüber, ob die Grundsätze der Art. 85, 86 EWG beachtet wurden. Gemäß Art. 85 EWG waren wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Verhaltensweisen verboten und Art. 86 EWG regelte ein Verbot hinsichtlich des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. Anders als bei der Montanunion war im EWG jedoch nicht die Möglichkeit der Verhängung von Bußgeldern seitens der Kommission unmittelbar geregelt. Vielmehr sah Art. 87 I vor, dass „der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung der Versammlung (Parlament) alle zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den Artikeln 85 und 86 niedergelegten Grundsätze (erlässt)“. Am 13. Februar 1962 trat die Durchführungsordnung Nr. 17 in Kraft, in der der Kommission Untersuchungsbefugnisse eingeräumt wurden und sie auch ermächtigt wurde, Geldbußen und Zwangsgelder gegenüber Unternehmen zu verhängen.14 13  Vgl. zur damaligen Stellung der Hohen Behörde und ihrer ordnungsstrafrechtlichen Aufgaben Jescheck, Die Strafgewalt übernationaler Gemeinschaften, in: ZStW 65 (1953), 496 (502 ff.); vgl. zum Rechtsschutz der Betroffenen Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 489 (492 ff.). 14  Vgl. zu den Ermittlungsbefugnissen der EG-Kommission gegenüber Unternehmen im Rahmen des Europäischen Kartellrechts nach der VO 17/62, v. Winterfeld,

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

1.  Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sog. Solange I-Beschluss vom 29. Mai 197415 zum Verhältnis zwischen den Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes und den Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts der EWG, die durch die Verwaltungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland vollzogen wurden, Stellung genommen. Dabei hat es Grenzen des Art. 24 GG aufgezeigt und betont, dass die EWG keinen Staat, sondern „eine im Prozeß fortschreitende Integration stehende Gemeinschaft eigener Art“, eine „zwischenstaatliche Einrichtung“ i. S. des Art. 24 Abs. 1 GG darstelle.16 Der in Art. 24 GG genannte Begriff der „Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen“ dürfe nicht wörtlich genommen werden, sondern müsse im „Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden. Das heißt, er eröffnet nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtungen zu ändern“.17 Zwar könnten die Gemeinschaftsorgane Recht setzen, das deutsche Verfassungsorgane nicht setzen könnten und das dennoch in der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden sei. Jedoch ermächtige Art. 24 GG „nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung (…) derart, dass der ausschließliche HerrschaftsErmittlungsbefugnisse der EG-Kommission gegenüber Unternehmen am Beispiel des Kartellrechts, in: RIW 1992, 524 ff.; Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft (1995), S. 2048. 15  BVerfGE 37, 271; Gegenstand der Entscheidung war die Klage eines deutschen Import- und Exportunternehmens auf Aufhebung eines Bescheides der Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, in dem die Kaution in Höhe von ca. 17.000,– DM für verfallen erklärt worden war, nachdem die Firma ihre erteilte Ausfuhrlizenz über 20.000 Tonnen Maisgries nur teilweise ausgenutzt hatte. Der Bescheid war gestützt auf EWG-VO. Das VG hat zunächst eine Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 177 EWG mit der Frage eingeholt, ob die einschlägigen Vorschriften der VO nach dem Recht der EWG rechtens sind. Der EuGH bestätigte die Rechtmäßigkeit der Regelungen. Das VG hat dann sein Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das BVerfG angerufen. Es sollte klären, ob die nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht bestehende Ausfuhrverpflichtung und die damit verbundenen Pflichten mit dem GG vereinbar seien. Das BVerfG hat das Normenkontrollverfahren für zulässig erachtet. Eine abweichende Meinung vertraten die Richter Rupp, Hirsch und Wand. Diesen zufolge besitze das BVerfG bereits keine Kompetenz, Vorschriften des Gemeinschaftsrechts am Maßstab des GG zu überprüfen. Es könne keine Rechtsvorschriften der Gemeinschaftsorgane für unanwendbar erklären, da ansonsten ein unzulässiger Eingriff in die dem EuGH vorbehaltene Kompetenz, deren Anerkennung Art. 24 Abs. 1 GG gebiete, vorliege (NJW 1974, 1702). Zur Frage der Vereinbarkeit der Entscheidung mit Art. 100 Abs. 1 GG, auf die vorliegend nicht einzugehen ist, vgl. Feige, Bundesverfassungsgericht – Grundrechte – Europa, in: JZ 1975, 476 ff. m. w. N. 16  BVerfGE 37, 271 (278). 17  BVerfGE 37, 271 (279).



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anspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird“.18 Auffallend ist, wie deutlich das Bundesverfassungsgericht in seiner folgenden Argumentation darauf verweist, dass die Gemeinschaft „eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind“, entbehrt.19 Auch besitze die Gemeinschaft „insbesondere noch keinen kodifizierten Grundrechtskatalog (…), dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststeht wie der des GG (…). Solange diese Rechtsgewissheit, die allein durch die anerkanntermaßen bisher grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des EuGH nicht gewährleistet ist, im Zuge der weiteren Integration der Gemeinschaft nicht erreicht ist, gilt der aus Art. 24 GG hergeleitete Vorbehalt.“20 Eine Relativierung des Grundrechtsteils des Grundgesetzes gestattet Art. 24 GG also nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann, wenn ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber in der Europäischen Gemeinschaft einen Grundrechtskatalog positiviert hat. Die Richter Rupp, Hirsch und Wand haben gegenüber der Senatsmehrheit die Auffassung vertreten, dass die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts nur an die Grundrechtsnormen gebunden seien, die auf Gemeinschaftsebene gelten würden. Die Bundesrepublik habe durch den Beitritt zur EWG auf eine nationale Kontrolle verzichtet, indem sie ihre Zustimmung zur Errichtung von Gemeinschaftsorganen und zur Mitwirkung an der Begründung autonomer Hoheitsgewalt gegeben habe.21 Ferner sei das Argument, die Grundrechte der Verfassung müssten sich gegenüber sekundärem Gemeinschaftsrecht auch deswegen durchsetzen, weil die Gemeinschaft noch eines unmittelbar legitimierten Parlaments entbehre, in sich nicht schlüssig. Grundrechtsschutz und demokratisches Prinzip innerhalb eines freiheitlich und demokratisch verfassten Gemeinwesens seien nicht austauschbar, sondern würden sich ergänzen.22 Auch in der Literatur ist die Bindung des Gemeinschaftsrechts an die Grundrechtsnormen der deutschen Verfassung auf Kritik gestoßen. So hat 18  BVerfGE

37, 37, 20  BVerfGE 37, 21  BVerfGE 37, 22  BVerfGE 37, 19  BVerfGE

271 271 271 271 271

(280). (280). (280). (295). (298).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

beispielsweise Konrad Feige in seiner Anmerkung zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts darauf hingewiesen, dass der vom Grundgesetz geforderte Grundrechtsschutz in Europa durch die Rechtsprechung des EuGH auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung gewährleistet sei.23 Daraus zieht er den Schluss, dass es „(v)ollkommen unerfindlich ist, (…), warum die Senatsmehrheit mit deutscher Gründlichkeit der Gemeinschaft und allen anderen Mitgliedstaaten einen von einem unmittelbar gewählten Parlament kodifizierten Grundrechtskatalog verordnet. Soll hier die Gemeinschaft am deutschen Wesen genesen? Ist die Effektivität des Grundrechtsschutzes von seiner parlamentarischen Provenienz abhängig?“24 Begreift man die Fragen des Grundrechtsschutzes und die eines demokratisch legitimierten Gesetzgebers nicht als ein bloßes formelles Gerangel um die Zuständigkeit des Bundverfassungsgerichts einerseits und des Europäischen Gerichtshofes andererseits, sondern als ein staats- und verfassungsrechtlich grundlegendes Problem, dann geht es nicht um die Frage, ob der Gemeinschaft der Grundrechtsschutz vom Bundesverfassungsgericht oktroyiert wird, sondern darum, wie das Verhältnis Bürger-Staat und die sich daraus ergebenden Prinzipien zu bestimmen sind. Die Darstellung des 1. Teils hat deutlich gemacht, dass Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechtsschutz jedenfalls ideengeschichtlich betrachtet unmittelbar miteinander zusammenhängen. Sind diese Prinzipien durch den Beitritt zur EWG aufgeweicht worden, bedarf es zumindest einer Begründung, warum bei der Ausübung von Hoheitsrechten und damit Herrschaftsbefugnissen durch „zwischenstaatliche Einrichtungen“ andere Maßstäbe gelten können. Mit der Frage, ob die „Gemeinschaft am deutschen Wesen genesen“ soll, haben diese Überlegungen nichts zu tun, sondern sie stellt sich in der grundlegenden Form in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen. 2.  In seinem sog. Solange II-Beschluss vom 22. Oktober 198625 betonte das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an die Solange I-Rechtspre23  Bundesverfassungsgericht –

Grundrechte – Europa, in: JZ 1975, 476 (478). Bundesverfassungsgericht – Grundrechte – Europa, in: JZ 1975, 476 (478). Ebenso kritisch Meier, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 29.5.1974 – 2 BvL 52/71 (Solange I-Beschluss), in: NJW 1974, 1704 (1705), der der Auffassung ist, Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus (Grundrechtsschutz und Demokratie) würden durch die Senatsmehrheit unzulässig miteinander verquickt. 25  BVerfGE 73, 339: Gegenstand dieser Entscheidung war eine Verfassungsbeschwerde eines Unternehmens, welches u. a. Champignonkonserven aus Nicht-Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in die Bundesrepublik Deutschland einführte. Diese Einfuhren unterlagen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften. Die Beschwerdeführerin beantragte beim zuständigen Bundesamt eine Genehmigung für die Einfuhr von 1000 Tonnen Champignonkonserven aus Taiwan. Dieser Antrag wurde unter Hinweis auf Bestimmungen einer EWG-VO abgelehnt. Nach erfolg­ losem Widerspruchsverfahren erhob das Unternehmen Klage vor dem VG. Dieses 24  Feige,



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chung erneut die verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG. Dieser ermächtige nicht dazu, „im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen aufzugeben“.26 Das Bundesverfassungsgericht betont jedoch, anders als noch in der Solange I-Entscheidung, dass zu den unverzichtbaren Essentialia der Verfassung nicht mehr der gesamte Grundrechtsteil, sondern lediglich die „Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrunde liegen“, zählten.27 Sofern und soweit einer zwischenstaatlichen Einrichtung Hoheitsgewalt eingeräumt werde, die den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage sei, müsse stattdessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes gleichkomme.28 Die Rechtsprechung des EuGH habe aber inzwischen ein Niveau erreicht, das in etwa den Grundrechtsstandards des Grundgesetzes entspreche. Auch hätten die Organe der Europäischen Gemeinschaften (Europäisches Parlament, Rat und Kommission) und der Europäische Rat in förmlicher Weise die übereinstimmende Rechtsauffassung der Vertragsstaaten und der Gemeinschaftsorgane hinsichtlich der Gebundenheit der Gemeinschaft an die Grundrechtsverbürgungen, wie sie sich aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen ergeben, erklärt. Die Erklärungen bestärkten damit auch die Kompetenz und Verpflichtung des Gerichtshofs, den gemeinschaftsrechtlichen Schutz dieser Grundrechte und der ihnen verbundenen Rechtsprinzipien wahrzunehmen.29 Zudem sei zu beachten, dass auch die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte im Gefüge der Verfassung stünden. So weise die Präambel das Bekenntnis des Grundgesetzes zu einem vereinten Europa auf und zu den über Art. 24 GG ermöglichten Formen supranationaler Zusammenarbeit.30 Damit seien vom Grundwies die Klage als unbegründet ab. Gegen das Urteil legte die Beschwerdeführerin Sprungrevision beim BVerwG ein. Dieses setzte das Verfahren aus und legte es gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG dem Europäischen Gerichtshof vor, der die Gültigkeit der VO bestätigte. Das BVerwG wies die Revision als unbegründet zurück. Mit der Verfassungsbeschwerde machte die Beschwerdeführerin geltend, das Urteil des BVerwG verletze sie in prozessualen und materiellen Rechten. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde für zulässig, aber unbegründet erklärt. Dabei begründet es seine Entscheidung damit, dass (im Unterschied zur Solange I-Entscheidung) eine Vorlage der Verordnungen durch das BVerwG nach Art. 100 Abs. 1 GG unzulässig gewesen wäre. 26  BVerfGE 73, 339 (375 f.). 27  BVerfGE 73, 339 (376). 28  BVerfGE 73, 339 (376). 29  BVerfGE 73, 339 (384. 30  BVerfGE 73, 339 (386).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

gesetz auch Regelungen auf Gemeinschaftsebene möglich, die die Grundrechte im Einklang mit den Zielen und besonderen Strukturen der Gemeinschaft wahrten. „Angesichts dieser Entwicklung ist festzustellen“, so das Bundesverfassungsgericht weiter, „solange die Europäischen Gemeinschaften (…) einen wirklichen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht (…) nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“.31 Abgesehen davon, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung keine eindeutigen Prinzipien nennt, an denen sich das Niveau des EuGH hinsichtlich der Grundrechtsgewährleistung zu orientieren hat,32 fällt auf, dass das Argument aus der Solange I-Entscheidung, wonach es bei der Gemeinschaft an einem demokratisch-parlamentarischen Strukturerfordernis fehle, verloren gegangen ist. Das Gericht stützt seine Argumentation allein auf den Schutz der Grundrechte. Die Frage des Grundrechtsschutzes ist nun aber nicht Grund der Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG, sondern stellt vielmehr eine Folge dar; die Basis liegt aber auch hier in der Frage, inwieweit der Staat seine Souveränität durch die Übertragung von Hoheitsrechten aufgeben darf.33 Ideengeschichtlich betrachtet stellt die Abgabe originärer Rechts- und Zwangsbefugnisse des Staates an supranationale Organisationen jedenfalls keine Selbstverständlichkeit dar.

II. Der Vertrag von Maastricht und das „Maastricht-Urteil“ vom Bundesverfassungsgericht 1. Der Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992 und Art. 23 n. F. GG Mit dem Maastrichter Vertrag wurde die Europäische Union gegründet (Art. A EUV). Grundlage bildeten die drei Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG [EG]34, EAG) (1. Säule). Die Europäische Union wurde ergänzt durch die intergouvernementale Zusammenarbeit in der Außen- und 31  BVerfGE

73, 339 (387). hierzu zu Recht kritisch Rupp, Prüfungskompetenz des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit von Akten der Europäischen Gemeinschaft, in: JZ 1987, 241 f. 33  Ähnlich auch Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (422): „Grundrechtsschutz (ist) etwas anderes als die nationale Staatlichkeit oder Demokratie“. 34  Aus dem EWG-Vertrag wurde der EG-Vertrag. 32  Vgl.



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Sicherheitspolitik (2. Säule) sowie in der Innen- und Justizpolitik (3. Säule). Die Union verklammert so die Gemeinschaften und die beiden anderen Bereiche mittels eines einheitlichen institutionellen Rahmens (Art. E EUV). Die Europäische Union stellt damit „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ dar (Art. 1 Abs. 2 EUV). Der Maastrichter Vertrag und die Maastrichter Ergänzungen des EGV führten zu einer Verstärkung des Binnenmarktprozesses, insbesondere durch die Kompetenzerweiterung der EG im Rahmen des Wirtschafts- und Währungsbereichs. Es wurde der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft im freien Wettbewerb“ als Leitbild für die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft aufgestellt (Art. 102a-104c EGV). Ziel der EG sollte eine allmähliche Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse sein (Art. 130a ff. EGV). Nach Art. 130 EGV sollen die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft die notwendigen Voraussetzungen für eine Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft schaffen. Dabei bekennt sich die Gemeinschaft zu einem System offener und wettbewerbsorientierter Märkte.35 Zudem wurde die sog. Unionsbürgerschaft eingeführt (Art. 8 ff. EGV). Gemeint war damit keine eigenständige EG-Angehörigkeit, die mit einer nationalen Staatsangehörigkeit vergleichbar wäre, sondern ein Oberbegriff für bestimmte Rechtspositionen, die jedem EG-Angehörigen aufgrund seiner nationalen Staatsbürgerschaft zukommen sollte. So wurde das aktive und passive kommunale Wahlrecht für Unionsbürger eingeführt und das Wahlrecht jedes EG-Bürgers zum Europäischen Parlament an seinem Wohnort innerhalb der EG garantiert. Schließlich sollte die Reisefreiheit und das Aufenthaltsrecht eines jeden Unionsbürgers innerhalb der EG gewährleistet werden. Durch den Maastrichter Vertrag wurde zudem die Stellung des Europäischen Parlaments (wenig) gestärkt. Der Ministerrat behielt zwar weiterhin seine maßgebliche Stellung im Rechtssetzungsverfahren der Gemeinschaft, jedoch erhielt das Parlament Mitbestimmungsbefugnisse (Art. 189b EGV). In den binnenmarktrelevanten Bereichen, in denen die EG-Bürger am stärksten mit Gemeinschaftsrecht konfrontiert wurden, war das Europäische Parlament – erstmalig im Bereich der materiellen Rechtssetzung – Mitgesetzgeber.36 Ferner musste das Parlament einer Neuberufung der EGKommission zustimmen (Art. 158 II EGV). Schließlich hatte das Europäische Parlament nunmehr das Recht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen, 35  Oppermann/Classen,

Die EG vor der Europäischen Union, in: NJW 1993, 5

36  Oppermann/Classen,

Die EG vor der Europäischen Union, in: NJW 1993, 5

(10). (7).

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einen Bürgerbeauftragten zu schaffen, und es konnte Petitionen seitens der Bürger der Union entgegennehmen (Art. 138c–e EGV). Insbesondere aufgrund der Forderung der deutschen Länder, unterstützt von der Bundesregierung, wurde in Art. B a. E. EUV, Art. 5 EGV n. F. das Subsidiaritätsprinzip aufgenommen. Danach wird die Gemeinschaft „innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen durch Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele des Vertrags erforderliche Maß hinaus.“ Mit diesem Prinzip sollte die Zuständigkeit Europäischer Institutionen einerseits begrenzt und die Identität der Mitgliedstaaten gewahrt werden. Für sachgerechte und bürgernahe Entscheidungen war es erforderlich, dass die nationalen, regionalen und lokalen Behörden einen eigenen Verwaltungsspielraum behielten.37 Andererseits gestattete das Subsidiaritätsprinzip damit zugleich eine Ausweitung der Gemeinschaftstätigkeit. Denn sie wurde tätig, wenn die von der EU geplanten (!) Ziele auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht ausreichend erfüllt werden und aufgrund ihres Umfangs oder ihrer Wirksamkeit auf Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können.38 Es hing damit letztlich von der Einschätzung der Gemeinschaft ab, ob das Subsidiaritätsprinzip Anwendung fand oder nicht, so dass eine Begrenzung der Aufgaben der Gemeinschaft – im Vergleich zu dem vom EuGH bis dahin großzügig ausgelegten „effet utile“, welches das Subsidiaritätsprinzip ablösen sollte39 – nicht erreicht wurde.40 Dies galt vor dem besonderen Hintergrund, 37  Vgl. die Entschließung der Teilnehmer der Konferenz „Europa der Regionen“ vom 19.10.1989, abgedruckt bei Knemeyer, Subsidiarität – Föderalismus, Dezentralisation, in: ZRP 1990, 173 (174). 38  Vgl. die Entschließung der Teilnehmer der Konferenz „Europa der Regionen“ vom 19.10.1989, abgedruckt bei Knemeyer, Subsidiarität – Föderalismus, Dezentralisation, in: ZRP 1990, 173 (174). 39  So damals die Einschätzung von Oppermann/Classen, Die EG vor der Europäischen Union, in: NJW 1993, 5 (8). 40  Murswiek weist zu recht daraufhin, dass es sich beim Subsidiaritätsprinzip eher um „ein Effektivitäts- als um ein Subsidiaritätsprinzip“ handelt, Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Der Staat 32 (1993), 161 (180). Nach Breuer sind das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen und das Subsidiaritätsprinzip nur von „bescheidenem Wert, soweit und solange die Unions- und Gemeinschaftskompetenzen nicht auf klar umgrenzbare Sachgebiete, sondern auf weite geradezu uferlose Politikbereiche bezogen sind und mit einem finalen Aktionismus praktiziert werden“, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (424).



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dass im Maastrichter Vertrag die Kompetenzen der EU in vielen Bereichen erweitert wurden bzw. neue Kompetenzen hinzukamen. So wurden beispielsweise die Kompetenzen in der Sozialpolitik, der Forschung und Technologie sowie im Umweltschutz ausgedehnt. Neue Kompetenzbereiche der Gemeinschaft wurden z. B. in der allgemeinen und beruflichen Bildung und Jugend, der Kultur, dem Gesundheitswesen und dem Verbraucherschutz geschaffen, also in Gebieten, die bisher genuin den Mitgliedstaaten zukamen.41 Neben den Änderungen der Gemeinschaftsverträge wurden im Unionsvertrag die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) eingeführt. Auch bei diesen Politikfeldern handelte es sich um solche, die Kernbereiche der staatlichen Souveränität berührten und daher eine gemeinsame Betrachtungsweise der Mitgliedstaaten besonders schwierig machten.42 Zwar waren diese beiden Säulen, anders als die „supranational“ ausgestalteten Europäischen Gemeinschaften intergouvernemental organisiert, jedoch wurde hier eine besonders enge Zusammenarbeit durch die Koordination der mitgliedstaatlichen Aktivitäten, vor allem durch die Festlegung gemeinsamer Standpunkte vereinbart. Ein Schwerpunkt der ZBJI war die Errichtung von Europol, welches mit der Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalität beauftragt werden sollte. Europol sollte nur dem Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen nationalen Polizeibehörden dienen, operative Befugnisse erhielt es zunächst nicht.43 Mit dem Maastrichter Vertrag sollte die Europäische Gemeinschaft bzw. die Europäische Union nicht mehr vornehmlich eine Wirtschaftsgemeinschaft sein, sondern auch eine Rechtsgemeinschaft,44 was durch die Streichung des W im Namen EWG durch Art. G des Maastrichtvertrags45 zum Ausdruck kommen sollte.

41  Vgl. näher zu den erweiterten und neuen Kompetenzbereichen m. w. N. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 226 ff. 42  So auch Oppermann/Classen, Die EG vor der Europäischen Union, in: NJW 1993, 5 (10). 43  Vgl. zur „Dritten Säule“ der Union insgesamt Di Fabio, Die „Dritte Säule“ der Union, in: DÖV 1997, 89 ff. 44  Allerdings ist zu betonen, dass freilich auch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft war, denn die Grundlagen bildeten Verträge zwischen den Staaten, die nicht in einem rechtsfreien Raum existierten. 45  „Der Ausdruck ‚Europäische Wirtschaftsgemeinschaft‘ wird durch ‚Europäische Gemeinschaft‘ ersetzt.“

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Maastricht) vom 12.10.1993 Da u. a. Uneinigkeit darüber bestand, ob die Europäische Union aufgrund ihrer umfangreichen Kompetenzausstattung und der im Maastrichter-Vertrag (EUV vom 31.08.1990) angelegten Entwicklungsmöglichkeiten über eine zwischenstaatliche Einrichtung i. S. d. Art. 24 Abs. 1 GG hinausgeht46 und von den Bundesländern kritisiert wurde, dass nach Art. 24 Abs. 1 GG auch ihre Gesetzgebungsrechte vom Bund auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden konnten, ohne dass das innerstaatliche Vertragsumsetzungsgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedurfte,47 wurde Art. 23 GG eingeführt.48 Aufgrund der weiten Kompetenzausstattung der Europäischen Institutionen stellte sich die Frage, ob bei einer Übertragung von Hoheitsrechten auf diese seitens der Bundesrepublik tatsächlich noch die Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Art. 23 GG sollte daher sicherstellen, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur durch parlamentarische Absicherung erfolgen kann und somit wieder eine Rückbindung an das Volk der Bundesrepublik stattfindet. Um zu gewährleisten, dass durch die Übertragung von Hoheitsbefugnissen nicht grundlegende Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes ausgehöhlt werden, fordert Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich die Beachtung des Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG.49 Dennoch war umstritten, ob die Übertragung von Hoheitsbefugnissen, wie sie Art. 23 GG vorsieht, noch mit Verfassungsprinzipien vereinbar ist.50 46  Zu dieser Diskussion und zur Entstehung des Art. 23 GG ausführlich König, Die Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 138 ff.; s. a. Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Der Staat 32 (1993), 191 (192 ff.); Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Der Staat 32 (1993), 161 (177 f.). 47  Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Der Staat 32 (1993), 191 (192 f.). 48  38. Änderungsgesetz vom 28.12.1992. Vgl. zur Zielsetzung des Art. 23 GG die BR-Drucks. 501/92, S. 6: „Der Gesetzesentwurf soll die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Ratifikation des Vertrages über die Europäische Union schaffen. Gleichzeitig sollen insbesondere –  als Staatsziel die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration durch Schaffung und Entwicklung der Europäischen Union und – die Rechte der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union im Grundgesetz verankert werden.“ 49  BR-Drucks. 501/92, 12 (15). 50  Auch in der staatsrechtlichen Literatur wurde der neue „Europartikel“ und der Vertrag von Maastricht z. T. kritisch beurteilt: Vgl. z. B. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (Art. 23 vermag „das staatsrechtliche Dilemma einer ebenso offenen wie offensiven Europapolitik nicht zu



B. Europäische Integration bis zum Vertrag von Lissabon181

Als Bürger der Bundesrepublik Deutschland wandte sich u. a. ein ehemaliger Mitarbeiter der EG-Kommission gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes. Er rügte insbesondere die Verletzung des Rechts auf demokratische Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt (Art. 38 GG). Im Folgenden soll nicht auf die gesamte Entscheidung eingegangen werden, insbesondere nicht auf die seitens des Bundesverfassungsgerichts vorgenommene Verhältnisbestimmung seiner Kompetenz zur Überprüfung von Grundrechtsverstößen durch Maßnahmen europäischer Organe zum EuGH,51 sondern vor allem auf die für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsamen Aussagen des Gerichts zur Grenzbestimmung hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten. Der Beschwerdeführer verwies zunächst darauf, dass Art. 23 GG keine verfassungsrechtliche Grundlage für die Einräumung von Hoheitsrechten biete, da er seinerseits verfassungswidrig sei. Er trug u. a. vor, sein Recht auf freie Wahlen nach Art. 38 GG sei verletzt, da auf Gemeinschaftsebene ein Demokratiedefizit bestehe. Gesetzgeber der EU sei nicht das Europäische Parlament, welchem vornehmlich nur eine beratende Funktion zukomme, sondern der Rat, also die Regierungen der Mitgliedstaaten und der Sache nach die Regierungschefs. Das demokratische Prinzip und das Erfordernis der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung würden so ins Gegenteil verkehrt, da die Verwaltung, die die Gesetze vollziehe, zugleich selbst ihr Gesetzgeber sei. Es werde daher die Verfassungsordnung des Grundgesetzes beseitigt. Die alleinige Entscheidungsbefugnis über die deutsche Mitwirkung an Rechtssetzungsakten der EU obliege der Bundesregierung. Angesichts der dem Bundeskanzler eingeräumten Richtlinien-Kompetenz und seiner Rechtsstellung gegenüber den Ministern sei damit der Sache nach ein Prinzip rein exekutiver Führung ins Grundgesetz aufgenommen worden. lösen“); Schachtschneider/Emmerich-Fritsche/Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: JZ 1993, 751 („Deutschland gibt durch die Ratifikation des Vertrages von Maastricht auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 S. 3 n. F. seine Verfassungshoheit zur ‚Verwirklichung eines vereinten Europas‘ ‚bei der Entwicklung der Europäischen Union‘ auf. Diese Verfassungshoheit geht kraft Art. F Abs. 3 EUV auf die Union über.“; Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, in: JZ 1993, 594, der einen Volksentscheid forderte; vgl. ferner Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Der Staat 32 (1993), 161 ff.; Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Der Staat 32 (1993), 191 ff.; Randelz­ hofer, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 24 Abs. 1 Rn. 211; Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, in: EuGRZ 1992, 589 (594); Oppermann/Classen, Die EG vor der Europäischen Union, in: NJW 1993, 5 (12), die Art. 23 I als „Europa-Behinderungsartikel“ bezeichnen. 51  Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Verhältnisbestimmung König, Die Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 466 ff.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Das Bundesverfassungsgericht hat die Rüge seitens des Beschwerdeführers für unzulässig erklärt. Dabei verweist es auf die Gebundenheit des Art. 23 Abs. 1 GG an die Unabänderlichkeitssperre bestimmter Grundsätze der Verfassung gemäß Art. 79 Abs. 3 GG. Danach dürfe die bundesstaatliche Ordnung selbst nicht aufgehoben und ihre Substanz ausgehöhlt werden; die in Art. 1 Abs. 1 GG genannten Grundsätze dürften nicht abgeändert werden, ebenso müssten Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (Art. 20 GG) erhalten bleiben. Art. 23 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG bestimme damit die Schranken der verfassungsändernden Gewalt, so dass eine Diskrepanz zwischen dem demokratischen Kerngehalt des Art. 38 GG und dem Art. 23 GG nicht entstehen könne.52 Ferner sei die Rüge des Beschwerdeführers, die in Art. 23 Abs. 1 GG genannten Strukturprinzipien der EU seien nicht verwirklicht, ebenso unzulässig. Das Bundesverfassungsgericht begründet dies damit, dass aus Art. 38 GG nicht abgeleitet werden könne, wie der institutionelle Rahmen der EU auszugestalten sei.53 Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz für zulässig erklärt, da dieses den Beschwerdeführer möglicherweise in seinem Recht aus Art. 38 GG verletzt. Der Sachbereich, auf den sich der demokratische Gehalt des Art. 38 GG beziehe, sei dann berührt, wenn der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse, insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, aufgebe. So verbürge Art. 38 GG nicht nur, dass dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zustehe und bei der Wahl die verfassungsrechtlichen Grundsätze eingehalten würden. Die Verbürgung erstrecke sich auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts. Gewährleistet werde den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen.54 Daher sei eine Verletzung des Art. 38 GG dann gegeben, „wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages so weitgehend auf ein von 52  BVerfGE

89, 155 (179). 89, 155 (179). 54  Damit erweiterte das Gericht – im Vergleich zu seiner bisherigen Rechtsprechung und der Lehre – den Schutzbereich des Art. 38 GG dahingehend, dass dieser nicht nur den formalen Akt der Teilnahme an der Wahl, sondern auch den „grundlegenden demokratischen Gehalt“ dieses Rechts umfasse. Vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen König, Die Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S. 477 ff. Kritisch zu diesem Prüfungsmaßstab Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: integration 1994, 165; Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1994, 1081 ff.; Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts in: EuGRZ 1993, 489 (493). 53  BVerfGE



B. Europäische Integration bis zum Vertrag von Lissabon183

den Regierungen gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften übergeht, dass die nach Art. 20 I und II i. V. mit Art. 79 III GG unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden“.55 Im Ergebnis hat es aber die Verfassungsbeschwerde für unbegründet gehalten, da der EU-Vertrag den Grenzen der Art. 38 und 23 GG genüge. a) Grenzen der Art. 38 und Art. 23 GG Art. 38 GG gewährleiste das subjektive Recht, durch die Wahl des Deutschen Bundestages an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluss zu gewinnen.56 Dies schließe es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, dieses Recht durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt werde. Zu dem gem. Art. 79 Abs. 3 GG nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips gehöre es, dass sich die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse auf das Staatsvolk zurückführen lasse und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet würde. Entscheidend sei, dass ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau erreicht werde. Dabei betont das Bundesverfassungsgericht aber zugleich, dass bei einer zu eigenem hoheitlichen Handeln befähigten Staatengemeinschaft demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden könne wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung. Werden supranationalen Organisationen Hoheitsrechte eingeräumt, verliere das vom Volk gewählte Repräsentationsorgan, der Deutsche Bundestag, und mit ihm der wahlberechtigte Bürger notwendig an Einfluss auf den politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozess. Allerdings sei diese Offenheit für Bindungen in der Völkerrechtsgemeinschaft und in dem engeren Rechtsverbund einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft bereits in einem demokratischen Staat angelegt, der (wie es die Präambel des Grundgesetzes voraussetze und die Art. 23 und 24 GG ausdrücklich regelten) als gleichberechtigtes Glied in zwischenstaatlichen Einrichtungen und insbesondere bei der Entwicklung der EU mitwirken wolle.57 55  BVerfGE

89, 155 (172). 89, 155 (182). 57  BVerfGE 89, 155 (183). 56  BVerfGE

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Art. 38 GG werde nicht deswegen verletzt, weil der EU-Vertrag einen europäischen Staatenverbund begründe, der von den Mitgliedstaaten getragen werde und deren nationale Identität er achte; er betreffe nur die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht aber die Zugehörigkeit zu einem europäischen Staat. Die Einräumung von Hoheitsbefugnissen habe zwar zur Folge, dass deren Wahrnehmung nicht mehr stets vom Willen eines Mitgliedstaates allein abhänge. Eine Verletzung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips darin zu sehen, widerspreche aber nicht nur der Integrationsoffenheit des GG, die der Verfassungsgeber des Jahres 1949 gewollt und zum Ausdruck gebracht habe, sondern lege auch eine Vorstellung von Demokratie zugrunde, die jeden demokratischen Staat jenseits des Einstimmigkeitsprinzips integrationsunfähig mache. Außerdem sei die EU ein Verbund demokratischer Staaten, so dass eine Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente stattfinde: Zum einen beruhe im Zustimmungsgesetz die demokratische Legitimation zum Beitritt einer Staatengemeinschaft und zwar sowohl hinsichtlich der Existenz der Staatengemeinschaft selbst als auch ihrer Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen, die die Mitgliedstaaten binden. Zum anderen existiere ein Europäi­ sches Parlament, welchem bereits eine „stützende Funktion“ zukomme, die sich „verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gemäß Art. 138 III EGV gewählt würde und sein Einfluss auf die Politik und Rechtssetzung der Europäischen Gemeinschaft wüchse“.58 Weiter betont das Gericht, es sei dabei entscheidend, „dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt“.59 Eine nähere Ausei­ nandersetzung, ob die Entwicklung demokratischer Strukturen in der Union mit der vorgesehenen Kompetenzerweiterung übereinstimmt, erfolgt nicht. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hindert damit jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt das Demokratieprinzip die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer – supranational organisierten – zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung sei aber, dass eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb eines Staatenbundes gesichert sei. Eine Grenze setzt das BVerfG dann, wenn ein Übergewicht von Aufgaben und Befugnissen in der Verantwortung des europäischen Staatenverbundes die Demokratie auf staatlicher Ebene nachhaltig schwächen würde, so dass die mitgliedstaatlichen Parlamente die Legitimation der von der Union wahrgenommenen Hoheitsgewalt nicht ausreichend vermitteln könnten. Beim Deutschen Bundestag müssten daher 58  BVerfGE 59  BVerfGE

89, 155 (186). 89, 155 (186.



B. Europäische Integration bis zum Vertrag von Lissabon185

„Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“.60 Art. 38 GG werde dann verletzt, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der – supranationalen – EG öffne, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlege.61 Stehe nicht fest, in welchem Umfang und Ausmaß der deutsche Gesetzgeber der Verlagerung der Ausübung von Hoheitsrechten zugestimmt habe, so werde die Inanspruchnahme nicht benannter Aufgaben und Befugnisse durch die EG ermöglicht. Dies käme einer Generalermächtigung gleich und wäre damit eine Entäußerung, gegen die Art. 38 schützt. Das Bundesverfassungsgericht schränkt dann aber zugleich die Anforderungen an die Bestimmtheit mit Rücksicht darauf, dass der Text eines völkerrechtlichen Vertrages mit den Vertragsparteien ausgehandelt werden müsse, ein. So könnten an die Bestimmtheit und Dichte der Vertragsreglungen nicht Anforderungen gestellt werden, wie sie sonst der Parlamentsvorbehalt für ein Gesetz vorgebe.62 Entscheidend sei, dass die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und die sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten – insbesondere auch das rechtsverbindliche unmittelbare Tätigwerden der EG im innerstaatlichen Rechtsraum – für den Gesetzgeber voraussehbar im Vertrag umschrieben und durch ihn im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden seien.63 b) Wahrung der Grenzen durch EUV aa) Nach Auffassung des BVerfG genüge der EU-Vertrag diesen Anforderungen. So achte der Vertrag die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten, indem er zum einen die Union zur Achtung der nationalen Identität verpflichte (Art. F I EUV). Zum anderen seien die Union und die Gemeinschaften gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit nur mit bestimmten Kompetenzen und Befugnissen ausgestattet. Schließlich erhöben die Union und die Europäische Gemeinschaft den Grundsatz der Subsidiarität zu einem verbindlichen Rechtsgrundsatz. Die Kompetenzen und Befugnisse der Gemeinschaften und der Europäischen Union beträfen hinsichtlich der Wahrnehmung von Hoheitsrechten vor allem die Wirtschaftsgemeinschaft. Die bedeutendsten Tätigkeitsfelder seien die Zollunion und die Freiheit des Warenverkehrs, der Binnenmarkt, die Rechtsangleichung zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes, die 60  BVerfGE

89, 89, 62  BVerfGE 89, 63  BVerfGE 89, 61  BVerfGE

155 155 155 155

(186). (187) unter Verweis auf BVerfGE 58, 1 (37). (187) unter Verweis auf BVerfGE 77, 170 (231 f.). (187 f.).

186

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und die Entwicklung der Währungsunion. Demgegenüber blieben außerhalb dieser wirtschaftlichen Tätigkeitsbereiche die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in dem Bereich Justiz und Inneres bloß intergouvernemental.64 Hier werde der Rat nur ermächtigt, gemeinsame Standpunkte festzulegen, denen von vornherein eine grundrechtserhebliche Verbindlichkeit für den Einzelnen fehle. Sollte dennoch im Rahmen der 2. oder 3. Säule ein ergehender Ratsbeschluss durch einen Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaften umgesetzt werden und dadurch in die Grundrechte eingegriffen werden, so böten der EuGH und das BVerfG hinreichenden Grundrechtsschutz.65 Damit sei die Bundesrepublik Deutschland auch nach Inkrafttreten des EU-Vertrages Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableite und damit im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls, dem Zustimmungsgesetz, verbindlich wirken könne. Deutschland sei einer der „Herren der Verträge“, die ihre Zugehörigkeit zur Union durch einen „gegenläufigen Akt“ auch wieder aufheben könnten.66 bb) Der EU-Vertrag genüge auch den Bestimmtheitsanforderungen, da die mögliche Inanspruchnahme der eingeräumten Hoheitsbefugnisse hinreichend voraussehbar normiert sei. Die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft dürften nur tätig werden, sofern und soweit eine vertragliche Ermächtigungsnorm ihnen die Kompetenz und Befugnis verleihe. Es gelte das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Zwischen Aufgabe und Befugnis werde getrennt, so dass der Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis nicht zulässig sei.67 Auch werde der Europäischen Union durch Art. F III EUV keine Kompetenz-Kompetenz eingeräumt. Die Union werde damit nicht ermächtigt, sich aus eigener Macht Finanzmittel und sonstige Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachte. Art. F III bekunde lediglich die politisch-programmatische Absicht, dass die Mitgliedstaaten die Union in den jeweils dazu erforderlichen Verfahren mit hinreichenden Mitteln ausstatten wollen.68 cc) Nach Auffassung des BVerfG genügt das Zustimmungsgesetz zum EU-Vertrag auch hinsichtlich der Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion den Erfordernissen parlamentarischer Verantwortbarkeit. So unterwerfe sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifikation des EU-Vertrages nicht einem unüberschaubaren, nicht mehr steuerbaren ‚Auto64  BVerfGE

89, 89, 66  BVerfGE 89, 67  BVerfGE 89, 68  BVerfGE 89, 65  BVerfGE

155 155 155 155 155

(190). (177). (190). (192). (194 f.).



B. Europäische Integration bis zum Vertrag von Lissabon187

matismus‘ zu einer Währungsunion. Vielmehr eröffne der Vertrag den Weg zu einer stufenweisen weiteren Integration der Europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden Zustimmung der Bundesregierung abhänge.69 In den Entscheidungsgründen wird die Problematik der Nichtstaatlichkeit der EU einerseits und ihrer weitgehenden Selbständigkeit als Institution mit Rechtssetzungs-, Rechtsprechungs- und Eingriffsbefugnissen – wenn auch vermittelt über die Mitgliedstaaten – andererseits deutlich. Das Bundesverfassungsgericht musste den verfassungsrechtlichen Spagat zwischen demokratischer Legitimation dieser dem Staat übergeordneten Institution und der sog. Integrationsoffenheit des Grundgesetzes lösen. Es hat in seiner Entscheidung eine Lösung versucht, die an demokratischen Grundsätzen festhält, aus diesen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten zieht, diese Grundsätze zugleich aber wieder zugunsten der Europäischen Integration aufweicht. Dabei fehlt eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit der Staat überhaupt – auch unterhalb der Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG – Hoheitsrechte übertragen darf. Diese verkürzte Auseinandersetzung mit grundsätzlichen staatstheoretischen Fragen mag sicher auch dem Umstand geschuldet sein, dass das Gericht, anders als eine ideengeschichtlich geprägte Betrachtung, wie sie hier erfolgt ist, seine Entscheidung allein am Verfassungsrecht zu messen hatte. Es sollen aber dennoch kurz zwei Kritikpunkte herausgestellt werden: Der erste setzt an der Frage an, was das Bundesverfassungsgericht meint, wenn es erklärt, dass beim Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von „substantiellem Gewicht“ verbleiben müssten. Der zweite Punkt – mit dem ersten zusammenhängend – betrifft das Verständnis von demokratischer Legitimation eines Staates auf der einen Seite und den Institutionen der Europäischen Union auf der anderen Seite. Zum ersten Punkt: Welche Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht sind, ist klärungsbedürftig. Wären damit solche gemeint, die nach dem Wesentlichkeitsprinzip der Legislativen vorbehalten sind, würde dies der Rechtswirklichkeit der Union widersprechen.70 Danach ist der Gesetzgeber verpflichtet, alle „im Bereich der Grundrechtsausübung (…) wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“.71 Das Strafrecht mit Ermittlungsbefugnissen gegenüber dem Einzelnen, der Verhängung von Geldbußen und Strafen, ist nun ein besonders grundrechtsrelevanter Bereich. Deutsch69  BVerfGE

89, 155 (199 ff.). auch Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 290. 71  BVerfGE 77, 170 (230 f.); 61, 260 (275); 49, 89 (126). 70  So

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

land und die Mitgliedstaaten haben aber nun auch gerade im Bereich des Strafrechts Hoheitsbefugnisse auf Europäische Institutionen, wie beispielsweise im Kartellbußgeldverfahren, übertragen. Setzte man den Begriff des „substantiellen Gewichts“ mit dem Inhalt des Wesentlichkeitsprinzips gleich, wären diese (und viele andere) europäischen Bestimmungen illegitim. Der zweite Punkt betrifft die demokratische Legitimation der EU und ihrer Institutionen. Das Bundesverfassungsgericht geht einerseits nicht von einem Demokratiedefizit der Europäischen Union aus, sondern betont, dass die EU ein Verbund demokratischer Staaten sei und damit das Handeln europäischer Organe an die Parlamente gebunden sei. Es bezieht aber keine Stellung dazu, wie eine Addition von demokratischen Staaten zu einer ihnen übergeordneten Institution diese demokratisch zu legitimieren vermag. Es weist nur daraufhin, dass in einer zu eigenem hoheitlichen Handeln befähigten Staatengemeinschaft eine demokratische Legitimation nicht in der Weise hergestellt werden könne wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung. Beim Deutschen Bundestag müssten aber Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben. Versteht man den Begriff „substantielle Befugnisse“ so, dass der nationale Gesetzgeber nicht völlig an den Rand der Entscheidungsgewalt gedrängt werden darf, dann wird das Demokratieprinzip unterbestimmt. Die Grenzen des Art. 23 Abs. 1 GG hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsrechten werden dann fließend und können jeweils an die Stärke der Europäischen Politik angepasst werden.

III. Der Vertrag von Amsterdam und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum sog. Europäischen Haftbefehlsgesetz Mit dem Amsterdamer Vertrag72, der am 02.10.1997 unterzeichnet wurde und am 1. Mai 1999 in Kraft trat, wurde die im Maastrichter Vertrag be72  Ziel des Vertrages von Amsterdam war es, den Maastrichter Vertrag nachzubessern und fortzuentwickeln. Die im Amsterdamer Vertrag enthaltenen Neuerungen betreffen vor allem 5 Bereiche: (1) Die Stärkung des Europäischen Parlaments im institutionellen System der Gemeinschaft und damit den Ausbau der demokratischen Legitimation der Tätigkeit der EG; (2) die Überführung von Teilen der 3. Säule, der Zusammenarbeit von Justiz- und Innenpolitik sowie den Schengener Besitzstand in den EG-Vertrag; (3) die Verbesserung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik; (4) die Betonung der Bürgernähe, insbesondere durch die Einführung einer gemeinsamen Beschäftigungspolitik; und schließlich (5) die Einführung einer Flexibilitätsklausel, um eine differenzierte Integration zu ermöglichen. Vgl. hierzu Hilf/Pache, Der Vertrag von Ams-



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zeichnete „Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz“ durch das Ziel der Erhaltung und Weiterentwicklung der Union „als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ersetzt. Damit wurde dieser ursprünglich als dem bloßen „gemeinsamen Interesse“ (Art. K 1 EUV) zugeordnete Aufgabenkreis in die Grundziele der Integration aufgenommen.73 Dabei wurde ein für das Strafrecht bedeutsames Instrument, nämlich der Rahmenbeschluss, als neue Handlungsform der EU eingeführt. Der Maastrichter Vertrag sah im Rahmen der „Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“ (3. Säule) als Regelungsmechanismen vor allem nicht bindende Absichtserklärungen in Form von „gemeinsamen Standpunkten“ (Art. 34 Abs. 2 lit. a EUV) und „gemeinsamen Maßnahmen“ vor, die den Rahmen nationaler Rechtsordnungen oder bestehender Verträge nicht überschreiten durften. Die Rahmenbeschlüsse stellen eine besondere Möglichkeit dar, das Strafrecht zu europäisieren. So hat der Rat (das Europäische Parlament wird nach Art. 39 EUV nur angehört) von der Kompetenz inzwischen sowohl auf dem Gebiet des materiellen Rechts als auch des Strafverfahrensrechts vielfach Gebrauch gemacht. Ein Beispiel74 ist das Europäische Haftbefehlsgesetz, in dem die Bundesrepublik Deutschland einen Europäischen Rahmenbeschluss umgesetzt hat und welches Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht war. Unter dem Titel „Schrittweiser Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ wurden zudem Teile der 3. Säule der EU (ZJI) ins Gemeinschaftsrecht (in die 1. Säule) überführt.75 Gleichzeitig wurden die verbleibenden Teile der ZJI unter dem neuen und engeren Titel „Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (Titel VI, Art. 29–42 EUV) gerafft und zum Teil der Jurisdiktion des EuGH unterstellt.

terdam, in: NJW 1998, 705 f.; König, Die Übertragung von Hoheitsrechten (2000), S.  240 f. 73  Vgl. hierzu Monar, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Die Innen- und Justizpolitik nach Amsterdam, in: Jopp/Maurer/Schmuck (Hrsg.), Die Europäische Union nach Amsterdam (1998), S. 127 (129). 74  Vgl. zu weiteren Rahmenbeschlüssen und Vorschlägen für Rahmenbeschlüsse auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts Nelles/Tinkl/Lauchstädt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Handbuch Europarecht, 2. Aufl. (2010), § 42 Rn. 33 f. 75  Vgl. hierzu Monar, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Die Innen- und Justizpolitik nach Amsterdam, in: Jopp/Maurer/Schmuck (Hrsg.), Die Europäische Union nach Amsterdam (1998), S. 127 (129).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

1. Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Ziele und Aufgaben der Zusammenarbeit waren in Art. 29 EUV festgelegt: „Unbeschadet der Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft verfolgt die Union das Ziel, den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten, indem sie ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen entwickelt sowie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verhütet und bekämpft. Dieses Ziel wird erreicht durch die Verhütung und Bekämpfung der – organisierten und nichtorganisierten – Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels und der Straftaten gegenüber Kindern, des illegalen Drogenund Waffenhandels, der Bestechung und Bestechlichkeit sowie des Betrugs.“

Das Ziel der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit ist damit darauf gerichtet, für die Bürger der Union in einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit“ zu bieten.76 Schon die doppelte Verwendung des Begriffs der Sicherheit macht deutlich, dass dieser im Rahmen des PJSZ eine bedeutende Stellung zukommen sollte. Gerichtet ist diese, wie sich insbesondere aus dem zweiten Satz ergibt, auf die innere Sicherheit im Sinne der Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität.77 Der Begriff der Freiheit ist im Rahmen dieses Zusammenhangs zu interpretieren. Sie ist vor allem zu verstehen als negative Freiheit, nämlich als solche vor dem Verletztwerden durch Kriminalität. Damit hängt auch die in der Union gewährleistete Freizügigkeit zusammen, die der Abschaffung von Personenkontrollen dienen soll, aber zugleich auch die Ausweitung krimineller Handlungen mit sich bringt.78 Mit dem Begriff des Raums des Rechts ist nicht gemeint, dass ein einheitliches europäisches Rechtssystem auf diesem Gebiet geschaffen werden soll, denn es handelt 76  Der Begriff des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ wurde 1999 auf dem Gipfel des Europäischen Rates von Tampere eingeführt, um neben dem Binnenmarktkonzept der Europäischen Integration einen weiteren Weg aufzuweisen. s. die Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Tampere) vom 15. und 16. Oktober 1999. 77  s. a. die Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Tampere) vom 15. und 16. Oktober 1999, Nr. 5 f., 40 ff. 78  Vgl. näher zum Begriff der Freiheit in diesem Zusammenhang Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 749 (758). Vgl. zur Bestimmung des Begriffs der Freizügigkeit in der Rechtsprechung des EuGH Nettesheim, Grundrechtskonzeptionen des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: EuR 2009, 24 (28 ff.).



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sich gerade um einen intergouvernemental organisierten Bereich. Vielmehr sollen zwischen den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Systemen bestehende Barrieren zum Rechtszugang abgebaut werden und durch die Möglichkeit der justiziellen Zusammenarbeit die „grenzüberschreitende Wirksamkeit in der Justiz“ verbessert werden.79 Der Begriff der Sicherheit verklammert damit sowohl das Recht als auch die Freiheit. Jene ist einerseits ein bedeutender Teil des Rechts und andererseits Voraussetzung für die Realisierung eines Freiheitsraumes.80 Konkret erreichen wollte die Union diese Ziele durch eine enge Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden auch unter Einschaltung von Europol, eine enge Zusammenarbeit der Justizbehörden sowie anderer zuständiger Behörden der Mitgliedstaaten auch unter Einschaltung von Eurojust.81 Zudem sollten die Strafvorschriften der Mitgliedstaaten angeglichen werden, soweit dies erforderlich war. Es sollte zu einer „schrittweise(n) Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierter Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel“ kommen (Art. 31 Abs. 1 e). Dafür stand der EU neben Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten vor allem der „Rahmenbeschluss“ (Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV) zur Verfügung. Dieser erinnerte in seiner Konzeption sehr stark an die Richtlinie, Art. 249 EGV. Hinsichtlich des Ziels war der Rahmenbeschluss zwar ebenso verbindlich wie die Richtlinie, den Mitgliedstaaten wurde aber die Wahl der Form und die Mittel der Umsetzung überlassen.82 Im Unterschied zur Richtlinie stellte Art. 34 Abs. 2 lit. b) EUV jedoch klar, dass der Rahmenbeschluss nicht unmittelbar wirksam war, sondern es seitens der Mitgliedstaaten einer Umsetzung in das nationale Recht bedurfte, um innerstaatlich unmittelbar angewendet werden zu können. Auch wenn mangels unmittelbarer Wirkung nicht die Möglichkeit des Einzelnen bestand, sich auf einen nicht umgesetzten Rahmenbeschluss zu berufen, stellte dieser doch mehr dar als nur ein völkerrechtliches Übereinkommen. Im Gegensatz zum Übereinkommen, welches vom Rat innerhalb der dritten Säule nur vorgeschlagen werden konnte und welches der Annahme durch die Mitgliedstaaten bedurfte, um verbindlich werden zu können, war der 79  Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: v. Bogdandy/ Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 749 (763). 80  Vgl. auch Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 749 (763). Vgl. näher zum Begriff des Raumes ders., a. a. O., S.  757. 81  Vgl. auch schon die Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Tampere) vom 15. und 16. Oktober 1999, Nr. 43 ff. 82  Vgl. zum Instrument des Rahmenbeschlusses Funke, Umsetzungsrecht (2010), S.  315 ff.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Rahmenbeschluss auch ohne Annahme durch die nationalen Parlamente für die Mitgliedstaaten verbindlich. Insofern war der Rahmenbeschluss hinsichtlich der ursprünglichen intergouvernementalen Struktur der 3. Säule wesensfremd und stellte ein Element supranationaler (gubernativer83) Rechtssetzung dar.84 Zudem übertrug der EuGH die Grundsätze der richtlinienkonformen Auslegung auf den Rahmenbeschluss. In der „PupinoEntscheidung“85 wies der EuGH die Parallelen zwischen der Richtlinie und dem Rahmenbeschluss auf und kam zu dem Ergebnis, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte und Behörden gemäß Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV i. V. m. dem auch im Unionsrecht geltenden Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, das nationale Recht möglichst im Einklang mit Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses auszulegen.86 Eine Grenze des Grundsatzes der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zog der EuGH dann, wenn sie zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führte.87 Festzuhalten ist, dass zwar durch Rahmenbeschlüsse nicht unmittelbar Hoheitsrechte auf Institutionen der Europäischen Union übertragen werden konnten, der Rat aber bereits durch diese Handlungsform die Möglichkeit hatte, eine Angleichung von strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten zu veranlassen, so dass insoweit mittelbar Hoheitsrechte auf die EU übertragen wurden. Kurze Zeit nach dem oben genannten Urteil des EuGH stand die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Europäischen Haftbefehlsgesetzes an. Es wurde seitens der Literatur erwartet, dass das Gericht hier grundsätzliche Ausführungen über den Rechtscharakter der Europäischen Union und insbesondere über den der 83  Der Begriff „gubernativ“ beschreibt das Übergewicht der einzelstaatlichen Regierungen im europäischen Rechtssetzungsprozess; affirmativ zur gubernativen Rechtssetzung insgesamt v.  Bogdandy, Gubernative Rechtssetzung (2000). Vgl. zur Kritik gegenüber diesem Terminus Braum, Globale Gesetzlichkeit – Imperiales Strafrecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie (Hrsg.), Jenseits des staatlichen Strafens (2007), S. 27 (38). 84  Nelles/Tinkl/Lauchstädt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Handbuch Europarecht, 2. Aufl. (2010), § 42 Rn. 28 Fn. 101. 85  Dem Urteil lag ein Vorabentscheidungsersuchen eines italienischen Gerichts zugrunde, in dem es dem EuGH die Frage vorlegte, ob der von Italien nicht umgesetzte Rahmenbeschluss über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (Rahmenbeschluss des Rates vom 15. März 2001, Abl. (EG) L 82, S. 1 vom 22.3.2001) zu einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung der italienischen Strafvorschriften verpflichte. 86  EuGH v. 16.6.2005, Rs C-105/03, Slg. I-5285 – Maria Pupino (= EuZW 2005, 433 [435 f.]). 87  EuGH v. 16.6.2005, Rs C-105/03, Slg. I-5285 – Maria Pupino (= EuZW 2005, 433 [435]).



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Rahmenbeschlüsse machen werde.88 Das Bundesverfassungsgericht ging in seinen Entscheidungsgründen aber nicht auf die Pupino-Entscheidung des EuGH ein. 2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Europäischen Haftbefehlsgesetz“ Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts89 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer, der die syrische und deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, hatte gegen einen Beschluss des Hanseatischen OLG Hamburg (vom 13.11.2004) und gegen die Bewilligungsentscheidung der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, durch die seine Auslieferung nach Spanien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls für zulässig erachtet wurde, Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügte die Verletzung der Art. 16 Abs. 2 GG (Auslieferungsverbot), Art. 19 Abs. 4 GG (Rechtsweggarantie) und Art. 103 Abs. 2 GG (Rückwirkungsverbot). Grundlage für die Auslieferung war das in Umsetzung des Europäischen Rahmenbeschlusses des Rates vom 13.06.2002 (Rahmenbeschluss des Rates 2002 / 584 / JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, Abl. 2002 Nr. L 190 / 1) erlassene Europäische Haftbefehlsgesetz (BGBl 2004 I S. 1748). Ein Hauptproblem der Entscheidung war das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit gemäß dem durch das Europäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG) eingefügten § 81 Nr. 4 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Danach ist die Auslieferung eines Deutschen zur Verfolgung einer Straftat an einen anderen Staat bei bestimmten Deliktsgruppen, wie der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, des Terrorismus,90 unabhängig von der Nachprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zulässig. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, als Schlüsselfigur im europäischen Teil des Terrornetzwerks Al-Qaida dieses im Bereich der Finanzen und der Kontaktpflege zwischen seinen Mitgliedern unterstützt zu haben. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das deutsche Umsetzungsgesetz zum EU-Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU für nichtig und hob die darauf beruhenden Rechtsakte, den Beschluss des Hanseatisches OLG Hamburg und eine Bewilligungsentscheidung der Justizbehörde der Freien und Anm. von Herrmann zum Pupino-Urteil, in: EuZW 2005, 436 (438). insgesamt zum Verfassungsbeschwerde-Verfahren die Dokumentation bei Schorkopf, Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht (2006). 90  Vgl. den Katalog in Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI zum Europäi­ schen Haftbefehl. 88  Vgl. 89  Vgl.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Hansestadt Hamburg auf. Die Senatsmehrheit stützt ihre Begründung auf einen Verstoß des nationalen Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses gegen Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG. Der deutsche Gesetzgeber habe bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses seinen Spielraum nicht ausreichend ausgeschöpft. So hätte er im Transformationsgesetz den Auslieferungsschutz nach Art. 16 Abs. 2 GG stärker berücksichtigen müssen: Bei Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug müsse der Verfolgte auf diesen Auslieferungsschutz vertrauen können. Zudem liege ein Verstoß gegen die Art. 19 Abs. 4 GG vor, da der Rechtsweg gegen die Bewilligung einer Auslieferung in einen anderen EU-Staat ausgeschlossen sei. Der Gesetzgeber ist den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts mit einem neuen Umsetzungsgesetz zum Europäischen Haftbefehl nachgekommen.91 Für den vorliegenden Zusammenhang sind vor allem zwei Punkte in der Begründung des Urteils entscheidend: Es sind zum einen die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16 Abs. 2 GG, in denen es sich mit den Grenzen des Art. 16 Abs. 2 GG bei einer möglichen Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers beschäftigt, wobei es auch grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis Bürger-Staat unternimmt (unter a))92 und zum anderen die Frage, inwieweit das Gericht auf die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 GG eingeht (unter b)).93 a)  Art. 16 GG gewährleiste, so das Bundesverfassungsgericht, als Grundrecht mit dem Ausbürgerungs- (Art. 16 Abs. 1 S. 1 GG) und Auslieferungsverbot (Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG) die besondere Verbindung der Bürger zu der von ihnen getragenen freiheitlichen Rechtsordnung. Die Staatsangehörigkeit sei die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten, andererseits auch die Rechte begründe, durch deren Gewährleistung die Staatsgewalt in der Demokratie legitimiert werde. Die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, die für den Einzelnen mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit verbunden seien, bildeten zugleich die konstituierenden Grundlagen des gesamten Gemeinwesens. Der Beziehung des Bürgers zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspreche es, dass der Bürger von dieser Vereinigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden könne. Das Vertrauen der Bürger in den gesicherten Aufenthalt auf dem Gebiet des Staates, zu dem sie eine verfassungsrechtlich gewährleistete Verbindung, die Staatsangehörigkeit, hätten, werde auch 91  BGBl. 2006 I, 1721 Nr. 36: Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG) vom 26. Juli 2006. 92  BVerfGE 113, 273 (292 ff.). 93  BVerfGE 113, 273 (295 ff.).



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durch das Völkerrecht anerkannt. Staaten hätten die völkerrechtliche Pflicht, ihre eigenen Staatsangehörigen aufzunehmen.94 Das Bundesverfassungsgericht stellt weiter fest, dass Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG, wonach eine abweichende Regelung von Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG („Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden“) durch Gesetz „für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der EU oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden (kann), soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind“,95 verfassungsgemäß ist. Denn Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG überschreite nicht die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG. Eine Auslieferung Deutscher verstoße, „jedenfalls bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Bindungen, nicht gegen die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze“.96 Eine rechtsstaatlichen Grundsätzen gehorchende Auslieferung verletze weder die Menschenwürde noch würden dadurch Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG angetastet.97 Eine nähere Begründung, warum das nicht der Fall ist, gibt das Bundesverfassungsgericht nicht, sondern verweist auf eigene Entscheidungen (E 4, 299; 29, 183), in denen eine Auseinandersetzung mit dieser Frage aber nicht zu finden ist. Im Folgenden erklärt es vielmehr, dass eine Auslieferung eigener Staatsbürger einer „allgemeinen überstaatlichen und völkerrechtlichen Entwicklung (entspreche), gegen die das völkerrechtsfreundliche Grundgesetz keine unübersteigbaren Hürden“ errichte.98 Der Senat benennt auch die Grenzen einer möglichen Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers, der einer Straftat verdächtigt ist. Bestehe ein maßgeblicher Inlandsbezug der Tat99, träfen die Verantwortung des Staates für die Unversehrtheit der Rechtsordnung und die grundrechtlichen Ansprüche des Verfolgten dergestalt zusammen, dass regelmäßig ein Auslieferungshindernis entstehe.100 Wer als Deutscher im eigenen Rechtsraum eine Tat begehe, müsse grundsätzlich nicht damit rechnen, an eine andere Staatsgewalt ausgeliefert zu werden. Ansonsten geriete eine so beschaffene Einschränkung des Schutzes vor Auslieferung in die Nähe des Wesensgehalts des Grundrechts. Bemerkenswert ist, wie deutlich das Bundesverfassungsgericht die Folgen einer Überstellung eines Deutschen in einen anderen Staat hervorhebt: „Für den Verfolgten bedeutet die Überstellung in eine andere, auch in eine durch die europäische Integration näher gerückte, mitgliedstaatliche Rechtsord94  BVerfGE

113, 273 (294). Abs. 2 S. 2 GG wurde durch das 47. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. November eingeführt 2000; BGBl I S. 1633. 96  BVerfGE 113, 273 (296). 97  BVerfGE 113, 273 (296). 98  BVerfGE 113, 273 (296). 99  Das sei dann der Fall, wenn wesentliche Teile des Handlungs- und Erfolgsortes auf deutschem Staatsgebiet liegen, BVerfGE 113, 273 (302). 100  BVerfGE 113, 273 (302). 95  Art. 16

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

nung nicht nur eine verfahrensrechtliche Schlechterstellung, die in Sprachhindernissen, kulturellen Unterschieden sowie andersartigem Prozessrecht und Verteidigungsmöglichkeiten liegen kann. Sie bindet ihn auch im Ergebnis an ein materielles Strafrecht, das er demokratisch mitzugestalten nicht in der Lage war, das er – anders als das deutsche Strafrecht – nicht kennen muss und das ihm in vielen Fällen wegen mangelnder Vertrautheit der jeweiligen nationalen öffentlichen Kontexte auch keine hinreichend sichere Parallelwertung in der Laiensphäre erlaubt.“101 Demgegenüber gelte für Straftaten mit einem maßgeblichen Auslandsbezug etwas anderes.102 Eine Auslieferungsmöglichkeit ergebe sich daraus, dass sich jemand, der wegen Taten im „internationalen Terrorismus oder beim organisierten Drogen- oder Menschenhandel verdächtigt sei, nicht in vollem Umfang auf den Schutz der Staatsangehörigkeit vor Auslieferung berufen könne.103 Zu einer Abwägung im Einzelfall soll es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dann kommen, wenn ganz oder teilweise in Deutschland gehandelt wurde, der Erfolg aber im Ausland eingetreten ist. In diesen Fällen seien insbesondere „das Gewicht des Tatvorwurfs und die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiten einer effektiven Strafverfolgung mit den grundrechtlich geschützten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele zu gewichten und zueinander ins Verhältnis zu setzen“.104 b)  Hinsichtlich der Frage der Reichweite von Hoheitsrechtsübertragungen nach Art. 23 Abs. 1 GG geht die Senatsmehrheit (eine abweichende Meinung vertrat hierzu der Bundesverfassungsrichter Broß in seinem Sondervotum105) in ihrer Begründung nicht näher ein. Sie stellt nur fest, dass die in der „ ‚dritten Säule‘ der Europäischen Union praktizierte Zusammenarbeit einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung, die keine allgemeine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen vorsieht, (…) gerade auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität (Art. 23 Abs. 1 GG) ein Weg (ist), um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren“.106 Wegen der bereichsspezifischen Begrenzung des europäischen Diskriminierungsverbots aus Gründen der mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit lasse sich für die Auslieferung Deut101  BVerfGE

113, 273 (302 f.). maßgeblicher Auslandsbezug liegt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dann vor, wenn „die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union begangen wurde oder der Erfolg dort eingetreten ist“. BVerfGE 113, 273 (303). 103  BVerfGE 113, 273 (303). 104  BVerfGE 113, 273 (303). 105  Vgl. zu dem Sondervotum des Richters Broß, BVerfGE 113, 319 ff. 106  BVerfGE 113, 273 (299). 102  Ein



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scher an andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine nach den Vorgaben des Grundgesetzes unzulässige Entstaatlichung nicht feststellen. Dem Staat verblieben Aufgaben von substantiellem Gewicht und es handele sich bei der Einschränkung des Auslieferungsschutzes auch nicht um den Verzicht auf eine bereits für sich genommen essentielle Staatsaufgabe.107 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur zum Teil auf Ablehnung gestoßen. Nach Vogel sei seitens des Bundesverfassungsgerichts die nationale Perspektive und der Schutz Deutscher zu einseitig betont worden.108 Zudem sei der Rechtsfolgenausspruch, nämlich die Gesamtnichtigkeit des Gesetzes, unverhältnismäßig.109 Jekewitz meint, mit dem Urteil sei die Rechtshilfe in Strafsachen in Europa nicht leichter geworden, vielmehr habe die strafrechtliche Zusammenarbeit in Europa einen Rückschlag erlitten, von dem sie sich erst einmal erholen müsse.110 Erstaunlicherweise wird jedoch in der Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weniger auf die einzelnen (z. T. grundsätzlichen) Begründungen der Entscheidung eingegangen. So macht das Gericht – wie dargestellt – Ausführungen zu Art. 16 GG und geht auch auf das Verhältnis des Bürgers zum Staat ein. Dabei betont es, dass sich aus der Staatsangehörigkeit gleiche Rechte und Pflichten für den Einzelnen ergeben, durch deren Gewährleistung die Staatsgewalt in der Demokratie legitimiert werde. Es erkennt zudem, dass es Konsequenzen für den einzelnen Bürger hat, wenn er als strafrechtlich Verfolgter in einen anderen Staat überstellt wird. Es hebt die kulturellen sowie sprachlichen Barrieren hervor und stellt fest, dass der Beschuldigte einem Strafrecht unterstellt werde, welches er selbst nicht mitgestalten konnte. Von diesen grundsätzlichen Überlegungen 107  BVerfGE 113, 273 (298). Anders als die Mehrheit des Senats ist der Richter Broß der Ansicht, dass das Gesetz über den Europäischen Haftbefehl schon deshalb nichtig sei, weil es gegen die in Art. 23 I S. 1 GG festgelegten Integrationsschranken verstoße. So sei Art. 23 I GG nicht nur eine Verhaltensnorm und ein Handlungsmaßstab für das Verhalten der deutschen Regierungsvertreter im Europäischen Rat, sondern sei zugleich auch Beurteilungsnorm und Urteilsmaßstab zur Kontrolle der Integrationsgewalt im Falle einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Dies gelte im Besonderen hinsichtlich seiner schrankensetzenden Funktion. Auch wenn Art. 23 I GG als Verfassungsbindungsklausel seine Bedeutung vor allem bei der Übertragung von Hoheitsrechten entfalte, sei sie ebenso ausschlaggebend für alle Formen der Mitwirkung an der Europäischen Union, auch bei der „dritten Säule“. BVerfGE 113, 319 ff. 108  Europäischer Haftbefehl und deutsches Verfassungsrecht, in: JZ 2005, 801 (805, 809). Deutlich kritisch gegenüber dieser Position Schünemann, Europäischer Sicherheitsstaat = Europäischer Polizeistaat?, in: ZIS 2007, 528 (532). 109  Europäischer Haftbefehl und deutsches Verfassungsrecht, in: JZ 2005, 801 (804, 809). 110  Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, in: GA 2005, 625 (638).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

aus verwundert es, dass das Bundesverfassungsgericht diese plötzlich aus den Augen verliert, wenn der Verfolgte eine Tat mit „maßgeblichen Auslandsbezug“ begangen hat, „wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union begangen wurde oder der Erfolg dort eingetreten ist“.111 Dann soll er das Vertrauen quasi verwirkt haben und sich nicht mehr in vollem Umfang auf den Schutz vor Auslieferung berufen können. Warum das der Fall sein soll, wird nicht deutlich. Denn auch für den „Auslandstäter“ treffen die grundsätzlichen Aussagen zu. Auch er wird bei einer Auslieferung einer fremden Rechtsordnung unterworfen, die er nicht mitkonstituiert hat. Daran ändert die möglicherweise begangene Tat nichts. Hinzukommt, dass im Rahmen der Strafverfolgung noch gar nicht feststeht, ob der Beschuldigte die Tat begangen hat oder nicht. Selbst wenn man davon ausgehen sollte, dass jemand seinen Schutz vor Auslieferung verwirken kann, wenn er eine bestimmte Straftat begangen hat (das bedürfte jedoch einer näheren Begründung), kann dies aufgrund der Unschuldsvermutung jedenfalls im Ermittlungsverfahren noch nicht gelten. Zu Recht weist hie­ rauf auch Broß in seinem Sondervotum hin.112 Weiter heißt es in der Entscheidung, dass bei einer Tat, die ganz oder teilweise in Deutschland begangen wurde, deren Erfolg aber im Ausland eingetreten ist, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen solle. Darin sollten das Gewicht des Tatvorwurfs, die Möglichkeiten einer effektiven Strafverfolgung mit den grundrechtlich geschützten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele abgewogen werden. Nimmt man wiederum die grundsätzlichen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis Bürger-Staat ernst, kann eine solche Abwägung nicht mit diesen schlüssig zusammengedacht werden. Denn auch hier wäre zu klären, warum die Möglichkeit bestehen soll, einen tatverdächtigen deutschen Bürger ausliefern zu dürfen und warum der Gedanke einer effektiven Strafverfolgung hier von Bedeutung ist. Das wird vom Gericht offen gelassen. Vor einer möglichen Verhältnisbestimmung müssten aber zumindest die abzuwägenden Gesichtspunkte selbst näher dargelegt und begründet werden. Erstaunlich ist zudem, dass die Senatsmehrheit nicht näher auf das Pupino-Urteil des EuGH und ihrer Auswirkung für die Bedeutung und Wirksamkeit von Rahmenbeschlüssen eingeht.113 Vielmehr betont sie, dass ein Rahmenbeschluss nach Art. 34 Abs. 1 lit. b EUV keine unmittelbare Wirk111  BVerfGE

113, 273 (303). 113, 273 (323 f.). 113  Vgl. hierzu auch Streinz, Schleichende oder offene Europäisierung des Strafrechts?, in: FS-Otto (2007), S. 1029 (1047). 112  BVerfGE



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samkeit entfalte und als Handlungsform des Unionsrechts außerhalb der supranationalen Entscheidungsstruktur des Gemeinschaftsrechts stehe. Das Unionsrecht sei trotz des fortgeschrittenen Integrationsstandes weiterhin eine Teilrechtsordnung, die bewusst dem Völkerrecht zugeordnet sei. Der Rahmenbeschluss müsse einstimmig vom Rat gefasst werden, er bedürfe der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten und die Umsetzung sei zudem nicht gerichtlich durchsetzbar. Dass das Europäische Parlament nur angehört werde, rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht damit, dass dies im Bereich der „dritten Säule“ den Anforderungen des Demokratieprinzips entspreche, weil die mitgliedstaatlichen Legislativorgane die politische Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung, notfalls auch durch die Verweigerung der Umsetzung, behalten würden.114 Diese Aussage, einer möglichen Verweigerung der Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses widerspricht der „Pupino-Entscheidung“ des EuGH, der sogar eine Verpflichtung eines nicht umgesetzten Rahmenbeschlusses seitens der mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte annimmt, die nationalen Bestimmungen gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Auch übersieht das Bundesverfassungsgericht, dass die Rahmenbeschlüsse in ihren Zielsetzungen verbindlich sind und insoweit den Gestaltungsspielraum des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers erheblich einschränken können.115 Damit findet auf europäischer Ebene – anders als das Bundesverfassungsgericht meint – eine Angleichung der Strafrechtsbestimmungen gerade auch im Rahmen der „dritten Säule“ statt.116 Schließlich betont das Bundesverfassungsgericht – ebenso wie in der Maastricht-Entscheidung –, dass dem Staat Aufgaben von substantiellem Gewicht blieben, da die Einschränkung des Auslieferungsschutzes für sich genommen keinen Verzicht auf eine „essentielle Staatsaufgabe“ bedeute. Welche Aufgaben von substantiellem Gewicht sind, nennt das Gericht auch hier nicht. Da es in seinen Entscheidungen immer um einzelne Bestimmungen ging und gehen wird, werden diese „für sich genommen“ insofern wahrscheinlich nie von grundlegender Substanz sein. Denn typisches Kennzeichen für die europäische Integration ist es, dass sie sich in kleinen Schritten vollzieht und sukzessive mehr Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen werden.117 114  BVerfGE

113 (300 f.). Schleichende oder offene Europäisierung des Strafrechts?, in: FS-Otto (2007), S. 1029 (1050). 116  Vgl. auch Masing, Vorrang des Europarechts bei umsetzungsgebundenen Rechtsakten, in: NJW 2006, 264 (266). 117  Hierzu kritisch auch Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Der Staat 32 (1993), 161 (173), der von einer „Salamitaktik“ spricht. „Das Abschneiden einer einzelnen Scheibe verändert die Verfassung nicht so sehr, daß eine verfassunggebende Entscheidung geboten erscheint.“ 115  Streinz,

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C. Die Stellung des Strafrechts in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Der Vertrag von Lissabon (unter I.) stellt den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas.118 Ziel des Vertrages ist es, die Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe zu stärken sowie die Kohärenz ihres Handelns zu verbessern.119 Auch die bisherigen Änderungsverträge dienten der Effizienzund Kohärenzsteigerung der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union, neu ist jedoch die ausdrückliche Verankerung des Ziels, die demokratische Legitimation der Union zu erhöhen.120 Der Vertrag von Lissabon reformiert insgesamt die Institutionen und die Verfahren und erweitert die Zuständigkeiten der Europäischen Union u. a. auch im Bereich des Strafrechts (unter II.). Ihm kommt damit eine bedeutende Stellung im Zuge der Europäischen Integration zu,121 die auch das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern intensiviert. Das Bundesverfassungsgericht, welches über die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum Reformvertrag und des dazugehörigen Begleitgesetzes zu entscheiden hatte, setzte sich daher auch in seiner Entscheidung vom 30.6.2009 mit den Begriffen wie denen des Staates und der Demokratie grundlegend auseinander (unter III.).

I. Der Vertrag von Lissabon und seine Entstehung Der Vertrag von Lissabon, der am 1.12.2009 in Kraft trat, ist an die Stelle des ursprünglich vorgesehenen „Vertrags über eine Verfassung in Europa“ (VVE) getreten. Dieser scheiterte 2005 an den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Der VVE sollte die rechtlichen Grundlagen in einem einheitlichen Vertragstext zusammenfassen. Der Begriff „Vertrag über eine Verfassung in Europa“ machte die Doppelnatur der EU 118  Vgl.

die Präambel des EUV und Art. 1 Abs. 2 EUV. Präambel. 120  Vgl. hierzu auch BVerfGE 123, 267 (281). 121  Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, in: EuR 2009, Beiheft 1, 9: „Insgesamt markiert der Reformvertrag die Grenze dessen, was an substantiell und institutionell vertiefenden Verfassungsund Vertragsreformen auf absehbare Zeit im Kreise der Mitgliedstaaten der EU erreichbar erscheint.“ 119  Vgl.



C. Stellung des Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon201

deutlich, von dem das Dokument getragen war. Der Begriff der „Verfassung“ wies einerseits auf die besondere Qualität hin, eine Bürgerunion zu sein. In Art. I-1 hieß es denn auch: „Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Union übertragen haben.“ Es finden sich im Vertrag weitere Elemente, die an eine Staatsverfassung erinnern. So sollte die Union eigene Symbole erhalten, wie z. B. eine Flagge und Hymne (vgl. I-8 VVE). Zudem sollte es „Europäische Gesetze“ geben, die unmittelbar für die Unionsbürger gelten sollten. Auch sollte die Charta der Grundrechte als subjektive Grundrechtsgewährleistungen und objektive Werteordnung unmittelbar in den Verfassungsvertrag aufgenommen werden (Teil II VVE). Andererseits brachte der Begriff des „Vertrages“ zum Ausdruck, dass die EU eine Staatenunion bleiben sollte. Die Mitgliedstaaten sollten weiterhin „Herren der Verträge“ sein. Vertragsänderungen sollten nur nach Ratifikation durch alle Vertragsparteien in Kraft treten (Art. IV-443 Abs. 3 VVE). Zudem sah der Verfassungsvertrag ein Austrittsrecht von Mitgliedstaaten vor (vgl. Art. I-60 VVE), welches in den bisherigen Gemeinschaftsverträgen nicht ausdrücklich vorgesehen war.122 Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages wurden im Jahr 2007 die Arbeiten zur Reform der Verträge wieder aufgenommen. Getragen waren diese von der Vorstellung, dass zwar die Grundlagen des geplanten Verfassungsvertrages beibehalten, jedoch auf verfassungsspezifische Elemente, die an Begriffe oder Symbole des Nationalstaates erinnerten, fallen gelassen werden sollten. Die Symbole der EU wurden gestrichen, ebenso wurde der Begriff des Europäischen Gesetzes weggelassen und durch den Begriff der Richtlinie ersetzt, die allerdings im Wege des sog. ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden kann. Auch die Grundrechte-Charta wird nicht unmittelbarer Vertragsbestandteil, sondern erhält ihre Verbindlichkeit durch einen Verweis von Art. 6 Abs. 1 EUV. Der Lissabon-Vertrag stellt zudem – anders als der VVE – lediglich einen Änderungsvertrag zu den bereits bestehenden Verträgen dar. Der EUV wurde überarbeitet und der EG-Vertrag in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) umgewandelt.123 122  Vgl. insgesamt zum Verfassungsvertrag auch Puttler, Sind die Mitgliedstaaten noch „Herren“ der EU?, in: EuR 2004, 669 ff.; schon vor dem VVE war in Deutschland in der Literatur kontrovers über die Frage der Möglichkeit einer Europäischen Verfassung diskutiert worden: kritisch z. B. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, 581 ff. m. w. N. 123  Vgl. zur Entwicklung vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon Hellman, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 3 ff.

202

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Mit dem Vertrag von Lissabon wird – wie bereits in der Einleitung erwähnt – die bisherige „Drei-Säulen-Struktur der Europäischen Union aufgelöst. Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, ist ihre Rechtsnachfolgerin und erlangt eigene Rechtspersönlichkeit (Art. 47 EUV). Anders als Art. I-1 Abs. 1 VVE spricht Art. 1 EUV nicht mehr davon, dass die Gründung der Union von dem „Willen der Bürgerinnen und Bürger“ geleitet ist, sondern dass durch den Vertrag die „Hohen Vertragsparteien untereinander eine EUROPÄISCHE UNION“ gründen, „der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen“. Damit wird deutlich, dass die Europäische Union von den Mitlgiedstaaten konstituiert wird. Der Vertrag von Lissabon ändert die Organisationsstruktur nicht grundlegend, sondern reformiert sie. Im Zentrum stehen weiterhin Kommission, Rat, Europäisches Parlament sowie der Gerichtshof.124 Allerdings gewinnt das Europäische Parlament mehr an Bedeutung. Zudem wird der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Europäischen Kommission zusammensetzt und dem die Aufgabe zukommt, die für die Entwicklung der Union „erforderlichen Impulse“ zu geben und „die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten“ hierfür festzulegen, durch die Auflösung der Säulenstruktur als Organ der EU neu eingeführt.125 Durch den Vertrag von Lissabon ist die Kommission zudem ausdrücklich Organ der Europäischen Union und aufgrund der Aufhebung der Säulenstruktur nun ebenso zuständig für den Bereich der ehemaligen Dritten Säule (der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen).126 Die Kommission soll die allgemeinen Interessen der Union fördern und kann hierzu geeignete Initiativen ergreifen (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EUV). Sie ist damit „Hüterin der Verträge“ und verantwortlich für die einheitliche Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts.127 Das Europäische Parlament und der Rat werden grundsätzlich gemeinsam als Gesetzgeber tätig und üben zusammen die Haushaltsbefugnisse aus (Art. 14 Abs. 1 EUV). Die Abgeordneten des Parlaments werden 124  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 13 Rn. 2. Neben den genannten Organen führt Art. 13 EUV zudem den Rechnungshof und die Europäische Zentralbank als Organe der Europäischen Union auf. 125  Der Europäische Rat war bisher im Rahmen der zweiten und dritten Säule als Organ tätig. Vgl. näher zum Europäischen Rat nach dem Vertrag von Lissabon Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 33, 37 f. 126  Vgl. hierzu auch Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 3. 127  Schon zu Beginn der Europäischen Integration wurde die Kommission als „Motor der Integration“ verstanden Vgl. hierzu oben unter B. I.



C. Stellung des Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon203

von den Unionsbürgern in „allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für die Amtszeit von fünf Jahren“ gewählt (Art. 14 Abs. 3 AEUV). Der Rat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene (Art. 14 Abs. 2 EUV). Das Parlament fasst seine Beschlüsse grundsätzlich mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 231 AEUV), während der Rat in der Regel mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 4 UAbs. 1 EUV) entscheidet. Der Gerichtshof der Europäischen Union fasst den Gerichtshof (bisher EuGH), das Gericht (bisher: das Gericht erster Instanz, EuG) sowie die Fachgerichte (bisher: gerichtliche Kammern) nun zusammen (Art. 19 Abs. 1 EUV).

II. Möglichkeit der Konstituierung eines Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon Bereits in der Einleitung wurde auf die Regelungen des Vertrages von Lissabon zum Strafrecht eingegangen.128 Die als intergouvernementale Zusammenarbeit ausgestaltete dritte Säule der PJZS wurde durch den Vertrag von Lissabon aufgrund der Auflösung der Säulenstruktur insgesamt in den 3. Teil des AEUV unter den Titel V (Art. 67 ff.) „Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ überführt. Bedeutsam ist für das Strafrecht der in Art. 67 Abs. 3 AEUV normierte Grundsatz, wonach die Union darauf hinwirkt „durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten“. Durch die Art. 82 ff. AEUV werden die Zuständigkeiten der Union im Bereich des Strafrechts wesentlich erweitert. Während Art. 82 AEUV die Angleichung strafverfahrensrechtlicher Vorschriften auf der Grundlage von Richtlinien erfasst, sieht Art. 83 AEUV eine Ausweitung der Rechtsangleichung im Bereich des materiellen Strafrechts vor. Da in diesen Gebieten die Mindestvorschriften seitens der EU durch Richtlinien ergehen, bedürfen diese jeweils noch eine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten und überlassen insoweit diesen einen gewissen Spielraum, so dass Art. 82 und Art. 83 AEUV jedenfalls keine unmittelbare Kompetenz der Union im Bereich des Strafrechts darstellen. Schließlich besteht aber nunmehr nach Art. 86 Abs. 1 AEUV die Möglichkeit durch Verordnung eine Europäische Staatsanwaltschaft zur Bekämp128  Unter

B. II.

204

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

fung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu errichten. Eine supranationale Kompetenz im materiellen Strafrecht könnte der Union auf der Grundlage des Art. 325 Abs. 4 AEUV zukommen. Danach können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofes „die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten“, beschließen, um einen effektiven und gleichwertigen Schutz in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zu gewährleisten. Auf der Grundlage dieser Norm besteht die Möglichkeit, dass die Union hinsichtlich der „Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union“ mittels Verordnung ein europäisches und damit supranationales Strafrecht etablieren kann.129 Zwar spricht Art. 325 Abs. 4 AEUV nur von „Maßnahmen“ und lässt insofern die Handlungsform offen. Jedoch ergibt sich aus der Zusammenschau mit Art. 86 AEUV und der darin enthaltenen Möglichkeit zur Schaffung einer Europäi­ schen Staatsanwaltschaft durch Verordnung, dass diese mit der materiellrechtlichen Bestimmung des Art. 325 Abs. 4 AEUV korrespondiert.130 Nach Art. 86 Abs. 2 S. 1 AEUV soll die Europäische Staatsanwaltschaft „für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie Anklageerhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begangen haben“ zuständig sein. Hinsichtlich der Betrugsbekämpfung kommt damit der Union eine unmittelbare supranationale Strafrechtssetzungskompetenz zu, in der sie einzelne Straftatbestände für diesen Bereich durch Verordnung erlassen kann.131 Insoweit 129  Rosenau, Zur Europäisierung im Strafrecht, in: ZIS 2008, 9 (16); Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts, in: ZStW 121 (2009), 1 (58); Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 14, Rn. 53 ff.; Heger, Der Vertrag von Lissabon und das Europäische Strafrecht, in: Iurratio 2009, 81 (85); Krüger, Unmittelbare EU-Strafkompetenzen aus Sicht des deutschen Strafrechts, in: HRRS 2012, 311, (316 ff.); vgl. auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 41; Mansdörfer, Das Europäische Strafrecht nach dem Vertrag von Lissabon, in: HRRS 2010, 11 (18); Grünewald, Zur Frage eines europäischen Allgemeinen Teils des Strafrechts, in: JZ 2011, 972 (973 f.); Satzger, Das Strafrecht als Gegenstand europäischer Gesetzgebungstätigkeit, in: KritV 2008, 17 (25); Mylonopoulos, Strafrechtsdogmatik in Europa nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZStW 123 (2011), 633 (634); Weißer, Strafgesetzgebung durch die Europäische Union, in: GA 2014, 433 (439); a. A. Sturies, Ermächtigt der Vertrag von Lissabon wirklich zum Erlass su­ pranationaler Wirtschaftsstrafgesetze?, in: HRRS 2012, 273 (276 ff.). 130  So auch zutreffend Krüger, Unmittelbare EU-Strafkompetenzen aus Sicht des deutschen Strafrechts, in: HRRS 2012, 311 (316 ff.); vgl. auch Safferling, Internatio­ nales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 41. 131  s.  Krüger, Unmittelbare EU-Strafkompetenzen aus Sicht des deutschen Strafrechts, in: HRRS 2012, 311 (316 ff.); vgl. auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 42.



C. Stellung des Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon205

könnte der bereits 1997 ausgearbeitete „Corpus Iuris zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union“, der sowohl materiell-rechtliche als auch prozessuale Vorschriften für diesen Bereich entwickelt hatte, als Vorlage dienen.132 An diesem „Corpus Iuris“ orientierte sich bereits das von der Kommission 2001 vorgelegte Grünbuch „zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“.133 Die Europäische Kommission hat zudem in einer Mitteilung vom 20. September 2011 unter dem Titel „Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht“ gerade auch den Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der EU hervorgehoben: In einer Reihe harmonisierter politischer Bereiche sei festzustellen, dass strafrechtliche Maßnahmen auf EU-Ebene erforderlich seien. Dabei gehe es vor allem um Maßnahmen zur Bekämpfung von Praktiken mit schwerwiegenden negativen Auswirkungen und von illegalen Profiten in bestimmten Wirtschaftsbereichen zum Schutz der legitimen Geschäftstätigkeit und der Interessen der Steuerzahler. Die Mitteilung nennt dabei drei Bereiche: den Finanzsektor, die Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten Betrug und den Schutz des Euros vor Fälschung, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheit von Zahlungsmitteln zu stärken. Hinsichtlich der Betrugsbekämpfung verweist die Kommission dabei auf eine weitere Mitteilung von ihr, in der sie eine Reihe von Maßnahmen vorgestellt hatte, die der Stärkung dieses Schutzes dienen sollten.134 Danach sollen z. B. „einschlägige strafrechtliche Vorschriften einschließlich weiterentwickelter Definitionen von Straftatbeständen und Mindestbestimmungen über diesbezügliche Sanktionen“ erlassen werden sowie im Bereich des Strafverfahrens der institutionelle Rahmen gestärkt werden.135 Zwar spricht die Kommission in ihrer Mitteilung nicht ausdrücklich von Verordnungen, sondern allgemein nur von „Maßnahmen“, und konkretisiert diese nicht eindeutig, jedoch macht der Hinweis auf ge132  Vgl. hierzu auch Waldhoff, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 325 AEUV Rn. 18. 133  Vgl. hierzu bereits die Einleitung unter B. I. 3. 134  Vgl. die Mitteilung über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union durch strafrechtliche Vorschriften und verwaltungsrechtliche Untersuchungen – Gesamtkonzept zum Schutz von Steuergeldern, KOM(2011) 293 vom 26.5.2011, S. 10. s. jetzt auch den Richtlinienvorschlag der Kommission „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“, KOM(2012) 363 final; s. hierzu näher die Ausführungen im 5. Teil der Arbeit unter D. 135  KOM(2011) 293 vom 26.5.2011, S. 11 ff.; vgl. zu dieser Mitteilung der Kommission vom 26.5.2011 auch die Ausführungen von Krüger, Unmittelbare EUStrafkompetenzen aus Sicht des deutschen Strafrechts, in: HRRS 2012, 311 (314).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

meinsame Definition von Straftatbeständen und Zuständigkeitsregeln deutlich, dass es ihr hier um Überlegungen zur Etablierung eines supranationalen Strafrechts gehen könnte. Im Aktionsplan zum Stockholmer Programm hat die Kommission zudem betont, dass sie „die Arbeiten an einer Europäischen Staatsanwaltschaft auf der Grundlage von Eurojust vorantreiben“ werde.136 Auf der Grundlage von Art. 325 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit Art. 86 AEUV kommt damit der Union eine unmittelbare Rechtssetzungskompetenz sowohl im Bereich des materiellen als auch des formellen Strafrechts zu.

III. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon In seinem Urteil vom 30.6.2009 hat der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts betont, dass „(g)egen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93) (…) keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (bestehen)“. Es hat eine Einschränkung jedoch dahingehend gemacht, dass dies nur „nach Maßgabe der (folgenden) (Urteils-)Gründe“ der Fall sei.137 Das Gericht hat seine Entscheidung zum Anlass genommen, sich mit grundlegenden Begriffen wie denen der Freiheit, Gleichheit und dem Demokratieprinzip auseinanderzusetzen.138 Prüfungsmaßstab für das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon war das in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG normierte Wahlrecht als grundrechtsgleiches Recht:139 „Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil 136  Vgl. die Mitteilung mit dem Titel „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Bürger Europas – Aktionsplan zur Umstzung des Stockholmer Programms“, KOM(2010), 171 endg. vom 20.4.2010, S. 5. Vgl. zum Stockholmer Programm auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 74 ff.; Zeder, Europastrafrecht, Vertrag von Lissabon und Stockholmer Programm: Mehr Grundrechtsschutz?, in: EuR 2012, 34 ff.; vgl. jetzt auch den Verordnungsvorschlag der Kommission „über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft“, KOM(2013) 534 final; s. hierzu näher die Ausführungen im 5. Teil der Arbeit unter E. 137  BVerfGE 123, 267 (339). 138  Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat zu einer intensiven Diskussion geführt; vgl. hierzu z. B. die Debatte zwischen Murswiek, Art. 38 GG als Grundlage eines Rechts auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, in: JZ 2010, 702 ff. sowie Schlusswort. Schutz der Verfassung als Bürgerrecht, in: JZ 2010, 1164 ff. und Schönberger, Erwiderung. Der introvertierte Rechtsstaat als Krönung der Demokratie?, in: JZ 2010, 1160 ff. 139  BVerfGE 123, 267 (340). Kritisch zu diesem Prüfungsmaßstab Pache, Das Ende der europäischen Integration, in: EuGRZ 2009, 285 (287 f., 296); Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration, in: EuZW 2009, 724 (726).



C. Stellung des Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon207

des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätze des deutschen Verfassungsrechts.“140 Das demokratische Prinzip sei weder abwägungsfähig noch antastbar. Mit der in Art. 79 Abs. 3 GG normierten Ewigkeitsgarantie werde die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. „Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.“141 Allerdings, so das Gericht weiter, sei die grundgesetzliche Ausgestaltung des Demokratieprinzips offen für das Ziel, Deutschland in eine internationale und europäische Friedensordnung einzufügen. Es verweist dabei einerseits auf die Präambel des GG und andererseits auf Art. 23 f. GG. Die insofern mögliche „neue Gestalt staatlicher Herrschaft“ unterliege „nicht schematisch den innerstaatlich geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen und darf deshalb nicht umstandslos an den konkreten Ausprägungen des Demokratieprinzips in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat gemessen werden“.142 Hinsichtlich der Einhaltung demokratischer Grundsätze durch die EU könne keine „strukturelle Kongruenz“ oder eine Übereinstimmung der institutionellen Ordnung der EU mit der Ordnung, die das Demokratieprinzip des Grundgesetzes für die innerstaatliche Ebene vorgebe, verlangt werden.143 Geboten sei zwar eine dem Status und der Funktion der Union angemessene demokratische Ausgestaltung, aber Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gehe auch davon aus, dass die demokratischen Grundsätze in der EU nicht in gleicher Weise wie im Grundgesetz verwirklicht werden können.144 Auch wenn das Grundgesetz dem Gesetzgeber ermögliche, weitreichende Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, so ermächtige es jedenfalls nicht zu einer unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt. Dieser Schritt sei vielmehr allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.145 Daraus folgert das Gericht, dass Hoheitsrechte nicht in der Form übertragen werden dürften, die eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Union begründeten. Untersagt ist damit die Übertragung einer Kompetenz-Kompetenz.146 Ferner 140  BVerfGE 141  BVerfGE 142  BVerfGE 143  BVerfGE 144  BVerfGE 145  BVerfGE 146  BVerfGE

123, 123, 123, 123, 123, 123, 123,

267 267 267 267 267 267 267

(341). (343). (344). (365). (366) unter Verweis auf BTDrucks. 12/3338, S. 6. (347 f.). (349 f.).

208

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

müsste den Mitgliedstaaten ein ausreichender Raum für politische Gestaltung, der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben. Dies gelte insbesondere für die Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägten sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen seien.147 Hierzu zählt nach Auffassung des Gerichts auch die Strafrechtspflege.148 Für den Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen fordert der Senat, dass die durch den Vertrag von Lissabon intensivierten Zuständigkeiten der Union von ihren Organen so ausgeübt werden, dass auf nationalstaatlicher Ebene Aufgaben von hinreichendem Gewicht bestehen blieben, die „rechtlich und praktisch Voraussetzung für eine lebendige Demokratie sind“149. Der Senat macht hier im Wesentlichen folgende Vor­ gaben:150 Im Straf- und Strafverfahrensrecht müsse eine enge Auslegung der vertraglichen Kompetenzgrundlagen wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung erfolgen:151 So müsse der deutsche Vertreter im Rat hier restriktiv verfahren, wenn nach Art. 82 Abs. 1 und 2 AEUV ein Beschluss im Bereich der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen sowie allgemein des Strafverfahrensrechts gefasst werden solle.152 Weiter fordert das Gericht, dass der deutsche Vertreter im Rat die in Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV genannten Rechte der Mitgliedstaaten nur „nach Weisung des Deutschen Bundestages und, soweit die Regelungen über die Gesetzgebung dies erfordern, des Bundesrates“ ausüben dürfe.153 Nur so könne das erforderliche Maß demokratischer Legitimation über die mitgliedstaatlichen Parlamente gewährleistet werden. Denn die konkretisierende Ausfüllung der Ermächtigungen nach Art. 82 Abs. 2 sowie Art. 83 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV nähere sich in ihrer Bedeutung einer Vertragsänderung und verlange daher nach 147  BVerfGE

123, 267 (357 f.). 123, 267 (358). 149  BVerfGE 123, 267 (406). Gleiches gelte für die Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen (E 123, 267 [414 ff.]), die Außenwirtschaftsbeziehungen (E 123, 267 [416 ff.]), die gemeinsame Verteidigung (E 123, 267 [422 ff.]) sowie die sozialen Belange (E 123, 267 [426 ff.]). 150  Vgl. hierzu und zum Folgenden bereits Verf., Strafverfahrensrecht als Seismograph der Europäischen Integration, in: ZStW 122 (2010), 604 (611 ff.). 151  BVerfGE 123, 267 (410). 152  BVerfGE 123, 267 (411). 153  BVerfGE 123, 267 (414). Kritisch demgegenüber Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett?, in: JZ 2009, 886 (887). 148  BVerfGE



C. Stellung des Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon209

einer entsprechenden Ausübung der Integrationsverantwortung der Gesetzgebungsorgane im Rahmen des sog. Notbremsverfahrens.154 Schließlich sei, so das Gericht, eine weitere Beteiligung des deutschen Gesetzgebers erforderlich, wenn die Europäische Union im Bereich der Strafrechtspflege das allgemeine Brückenverfahren nach Art. 48 Abs. 7 EUV-Lissabon anwenden möchte (in den Fällen des Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 Buchstabe d und Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV).155 Der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat dürfe einer Vertragsänderung nur zustimmen, wenn der Deutsche Bundestag und der Bundesrat innerhalb einer bestimmten Frist ein Gesetz im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG erließen.156 Der Gesetzgeber ist den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts durch eine Neufassung der Begleitgesetze nachgekommen, die die vom Senat geforderte parlamentarische Mitwirkung bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU sicherstellt. Durch die Einschränkungen des Bundesverfassungsgerichts und deren Umsetzung durch den Gesetzgeber ist nun zumindest gewährleistet, dass eine Rückanbindung an das deutsche Parlament in bestimmten Bereichen erfolgen muss. Das Bundesverfassungsgericht hätte aber seine grundlegenden staatstheoretischen Ausführungen im Lissabon-Urteil auf die Beantwortung der Frage übertragen müssen, wie weit die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der Europäischen Integration insbesondere vor dem Hintergrund eines möglichen „Europäischen Strafrechts“ überhaupt gehen kann.157 So verwundert es, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nicht auf Art. 325 AEUV eingeht, obwohl gerade Art. 325 Abs. 4 AEUV die Möglichkeit schafft, genuines Europäisches Strafrecht i. e. S.  zu konstituieren.158 Ebenso wenig erwähnen die neuen Begleitregelungen Art. 325 AEUV. Allerdings hat sich das Gericht eine Prüfungskompetenz vorbehalten, die dazu führen kann, dass das Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird:159 Zum einen räumt sich das Verfassungs­ gericht eine „ultra-vires-Kontrolle“ ein. Sollte ein Rechtsschutz auf Unions154  BVerfGE

123, 267 (414). genannte Brückenklauseln erlauben Änderungen im Bereich des Entscheidungsverfahrens. Gemäß Art. 48 Abs. 7 EUV kann der Europäische Rat den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung oder von einem besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschließen. 156  BVerfGE 123, 267 (414). 157  Siehe auch die Kritik Folz’ an der Entscheidung: Karlsruhe, Lissabon und das Strafrecht, in: ZIS 2009, 427 (431). 158  Vgl. hierzu die Ausführungen oben unter C. II. 159  BVerfGE 123, 267 (354 f.); vgl. hierzu näher Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, in: JZ 2009, 872 (873 f.). 155  So

210

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

ebene nicht zu erlangen sein, kann das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob sich Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art.  5 Abs. 2 EGV, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 EUV) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten.160 Eine „ultra-vires-Kontrolle“ komme aber nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert sei: „Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt“.161 Das Gericht verlangt damit neben der Offenkundigkeit des kompetenzwidrigen Handelns der Union zugleich eine strukturell bedeutende Kompetenzverschiebung zwischen Mitgliedstaaten und Union im Einzelfall. Zum anderen behält es sich eine Identitätskontrolle vor. Mit dieser lässt es sich die Möglichkeit offen, zu untersuchen, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 1 und Art. 20 GG gewahrt ist.162 Damit solle sichergestellt werden, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigungen gilt.163

160  BVerfGE 123, 267 (353  f.) unter Verweis auf die Maastricht-Entscheidung zum sog. ausbrechenden Rechtsakt vgl. BVerfGE 89, 155 (188). 161  BVerfGE 126, 286 (304), sog. Honeywell-Beschluss; vgl. auch die Anmerkung von Classen, in: JZ 2010, 1186 ff. In der Entscheidung ging es um die Frage, ob eine Entscheidung des EuGH, das sog. Mangold-Urteil, einen „ultra-vires“-Akt darstelle. Der EuGH hatte in dieser Sache entschieden, dass eine nationale Regelung, die gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, nicht angewendet werden dürfe, weil sie einerseits im Widerspruch zu einer EG-Richtlinie (Art. 6 der RiL 2000/78/EG) stehe (die allerdings in Deutschland wegen der laufenden Umsetzungsfrist noch nicht anwendbar war) und zum anderen gegen einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoße. Eine „ultra-vires-Kontrolle“ lehnte das Bundesverfassungsgericht seinerseits ab, da kein qualifizierter Kompetenzverstoß der europäischen Organe vorgelegen habe. Vgl. aber auch das Sondervotum von Landau, BVerfGE 126, 318 (323). 162  BVerfGE 123, 267 (354) unter Verweis auf die Entscheidung zum Europäischen Haftbefehlsgesetz, BVerfGE 113, 273 (296). 163  BVerfGE 123, 267 (354).



C. Stellung des Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon211

IV. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.2015 (Europäischer Haftbefehl II) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Auslieferung aufgrund eines europäischen Haftbefehls stattgegeben.164 Bemerkenswert ist an der Entscheidung, dass der Senat die Verfassungsbeschwerde zum Anlass genommen hat, um die Voraussetzungen und die Notwendigkeit einer Identitätskontrolle darzulegen. Dabei hätte eines Rekurses auf den Idententitätsvorbehalt im vorliegenden Fall nicht bedurft. 1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika, wurde 1992 von einem italienischen Gericht wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie wegen der Einfuhr und des Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren rechtskräftig verurteilt. Das Urteil erging in Abwesenheit des Beschwerdeführers und wurde ihm auch nicht persönlich zugestellt. 2014 (also 12 Jahre später) wurde von den italienischen Behörden ein Europäischer Haftbefehl erlassen, mit dem die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Vollstreckung der Strafe begehrt wurde. Mit Beschluss vom 14.8.2014 lehnte das OLG Düsseldorf zunächst eine Auslieferung mit der Begründung ab, es sei nicht sichergestellt, dass der Betroffene nach seiner Überstellung an Italien dort eine umfassende gerichtliche Prüfung seiner in Abwesenheit erfolgten Verurteilung erreichen könnte. Auf der Grundlage einer weiteren schriftlichen Erklärung der italienischen Behörden bewilligte das OLG Düsseldorf im November 2014 schließlich die Überstellung nach Italien, da eine erneute Beweisaufnahme dort jedenfalls nicht ausgeschlossen erschien. Gegen diese Entscheidung richtete sich die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde. 2. Das Bundesverfassungsgericht kommt zu dem Ergebnis, dass im zu entscheidenden Fall letztlich kein Konflikt zwischen Europäischem Recht und Grundgesetz vorliege. Schon nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl in der im Jahr 2009 eingefügten Fassung sei das OLG Düsseldorf nicht zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verpflichtet gewesen.165 Eine Verpflichtung zur Vollstreckung ergibt sich bei Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen ergangen sind, nach Art. 4a Abs. 1 lit. d (i) nur dann, wenn aus dem Europäischen Haftbefehl hervorgeht, dass die Person die Entscheidung „unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und 164  BVerfG,

Beschluss v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14. 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2006 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI. 165  Rahmenbeschluss

212

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann“.166 Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts betont nun in seinem Beschluss, dass das Verb „kann“ in dieser Vorschrift nicht als eine Ermessensentscheidung des für das Rechtshilfeverfahren zuständigen Gerichts zu verstehen ist, sondern vielmehr als Kennzeichnung der Befugnisse des Gerichts. Es ist nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht ermächtigt, die dem Betroffenen zur Last gelegten Vorwürfe zu prüfen.167 Daher müsse auch das für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zuständige Gericht überprüfen, ob die im Europäischen Haftbefehl benannte Garantie einer erneuten Sach- und Rechtsprüfung im Ausstellungsstaat tatsächlich gewährleistet sei. Das OLG Düsseldorf habe sich demgegenbüer– so das Bundesverfassungsgericht – jedoch mit der Wendung zufrieden gegeben, eine erneute Beweisaufnahme in Italien sei „jedenfalls nicht ausgeschlossen“.168 Dies verletze die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 GG (Schuldgrundsatz). Denn der Beschwerdeführer habe substantiiert vorgetragen, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit eröffne, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren erwirken zu können. Das OLG hätte daher die Wahrung des dem Beschwerdeführer zustehenden Mindeststandards an prozessualen Verteidigungsmöglichkeiten eingehend prüfen müssen, bevor es die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt.169 Die Maßstäbe und die Folgen der Identitätskontrolle wurden somit letztlich auch aus Sicht des Senats nicht relevant.170 Er hätte daher bereits 166  Hervorhebung

durch die Verf. Beschluss v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 Rn. 88 mit Verweis auf die englische und französische Fassung. 168  BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 Rn. 150. 169  BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 Rn. 113. 170  Das BVerfG geht mit Verweis auf die „acte-claire“-Doktrin davon aus, dass die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig sei, so dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibe. Fraglich ist allerdings, ob es nicht einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedurft hätte (so Satzger, Grund- und menschenrechtliche Grenzen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls?, in: NStZ 2016, 514 [519]; Anm. v. Schönberger, in: JZ 2016, 422 [423 Fn. 4]; Burchardt, Die Ausübung der Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, in: ZaöRV 2016, 527 [535 ff., 550]). Denn bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG hatte der EuGH zu diesen Fragen keine Stellung bezogen. Vgl. aber nun auch die Entscheidungen des EuGH Urt. v.  5.4.2016, verb. RS C-404/15 (Aranyosi u. C-659/15 PPU Cӑldӑraru): Hier kommt der EuGH 167  BVerfG,



C. Stellung des Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon213

aufgrund des Fehlens einer unionsrechtlichen Pflicht zur Überstellung die Entscheidung des OLG Düsseldorf allein am Maßstab der Grundrechte messen können.171 Auf die Kernaussagen der Entscheidung zur Identitätskontrolle ist jedoch dennoch im Folgenden einzugehen, da das Gericht hier Argumente aus der Lissabon-Entscheidung aufgreift, ergänzt und auch sein Verhältnis zum Unionsrecht und zum EuGH im Bereich des Grundrechtsschutzes mit ungewohnter Deutlichkeit justiert. 3.  Der Senat betont zunächst, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts, um daran anschließend die Grenzen des Vorrangs zu benennen, die sich aus den durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG erklärten Grundsätzen der Verfassung ergäben. Dazu gehörten die Grundsätze des Art. 1 GG einschließlich des in der Menschenwürdegarantie verankerten Schuldprinzips im Strafrecht. Die Gewährleistung dieser Grundsätze sei daher auch bei der Anwendung des Rechts der Europäischen Union oder unionsrechtlich determinierter Vorschriften durch die deutsche öffentliche Gewalt im Einzelfall sicherzustellen. Während das Bundesverfassungsgericht in seiner sog. Solange II-Entscheidung noch betont hatte, dass es seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen werde, solange die Europäischen Gemeinschaften einen wirklichen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten,172 macht es nun mit seiner in der Lissabon-Entscheidung dargelegten Möglichkeit der Identitätskontrolle ernst und lehnt einen Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht dann ab, wenn die in Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG als integrationsfest erklärten Grundsätze der Verfassung tangiert werden. Das Gericht behält sich damit unabhängig vom bestehenden generellen Grundrechtsstandard in der EU vor, die Grundrechte im Einzelfall durchzusetzen, soweit die in Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Werde substantiiert dargelegt, dass die Würde des Menschen im konkreten Fall tatsächlich beeinträchtigt sei, könne eine Verletzung vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden. Dabei macht das Gericht zugleich deutlich, dass im Auslieferungsverfahren und auch im Straf(verfahrens)recht dem Schutz der Menschenwürde eine besondere Bedeutung zukommt. zu dem Ergebnis, dass ein Vollstreckungsstaat die Ausführung eines Europäischen Haftbefehls jedenfalls dann verweigern darf, wenn der Schutz fundamentaler Garantien der Grundrechscharta dies erforderlich machten. s. hierzu Satzger, a. a. O.; Anm. v. Meyer, in: JZ 2016, 621 ff. 171  s.  die Anm. v. Schönberger, in: JZ 2016, 422 (423). 172  Vgl. hierzu oben unter B. I. 2.

214

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Das Gericht räumt sich so eine Vorrangstellung gegenüber dem EuGH im Kernbereich des Grundrechtsschutzes ein. Die Intention des Senats rührt sicherlich auch daher, dass es einerseits den „expansiven Tendenzen“ in der Grundrechtssprechung des EuGH begegnen will173 und anderseits zugleich eine Monopolstellung des EuGH bezogen auf den Grundrechtsschutz verhindern will. Die Entscheidung stellt insoweit wohl auch eine Reaktion auf das vom EuGH erstellte Gutachten vom 18.12.2014 dar. Darin ist der EuGH zu dem Ergebnis gekommen, dass der vorgelegte Entwurf der Übereinkunft über den Beitritt der EU zur EMRK nicht mit dem europäischen Primärrecht vereinbar sei.174 Damit ist die mit dem EMRK-Beitritt erstrebte Möglichkeit, einer externen Menschenrechtskontrolle durch den EGMR gestoppt.175 4. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat in der Literatur zum Teil harsche Kritik erfahren, insbesondere bezogen auf die Ausführungen zum Identitätsvorbehalt. So wurde dem 2.Senat vorgeworfen, er betreibe mit seiner Entscheidung „judikative Kommunikationspolitik“176, kröne sich „selbst zum (…) Letztentscheider und Treuhänder in Sachen höchster nationaler, identitätsprägender Verfassungsgarantien“177 und bereite „einem Grundrechtsinsularismus den Boden“178.179 Mag es auch irritierend sein, dass sich das Gericht so ausführlich mit dem Identitätsvorbehalt befasst, obwohl Ausführungen hierzu gar nicht notwendig gewesen wären, so hat das Gericht doch die Grenzen hinsichtlich der Übertragung strafrechtlicher Hoheitsrechte auf Europäische Institutionen auf der Basis des Rechts nun deutlich markiert.

173  Sauer,

„Solange“ geht in Altersteilzeit, in: NJW 2016, 1134 (1138). Gutachten C-2/13 v. 18.1.2016. 175  Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Gutachten des EuGH Wendel, Der EMRK-Beitritt als Unionsrechtsverstoß, in: NJW 2016, 921 ff.; M. Breuer, „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ Das zweite Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt der Europäischen Union, in: EuR 2015, 330 ff. 176  Anm. v. Schönberger, in: JZ 2016, 422 (424). 177  Meyer, Das BVerfG und der Europäische Haftbefehl – ein Gericht auf Identitätssuche, in: HRRS 2016, 332 (334). 178  Meyer, a. a. O., 340. 179  Vgl. auch die Kritik v. Sauer, „Solange“ geht in Altersteilzeit, in: NJW 2016, 1134 ff. 174  EuGH,



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen215

D. Die Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen und ihre Bedeutung für das Strafrecht Der Vertrag von Lissabon hat nicht nur die Zuständigkeiten der Union im Bereich des Strafrechts erweitert, sondern stellt auch deutlicher als bisher auf Prinzipien ab, die im Rahmen der Ideengeschichte für einen Rechtsstaat als bedeutend erachtet wurden.180 So enthält der EUV jetzt einen eigenen Titel zu den „Bestimmungen über demokratische Grundsätze“ (Titel II, Art. 9–12). Art. 10 Abs. 1 EUV erklärt ausdrücklich, dass die „Arbeitsweise der Union“ auf „der repräsentativen Demokratie“ ruht. Im ideengeschichtlichen Hintergrund wurde neben dem Demokratieprinzip das Gewaltenteilungsprinzip als bedeutsam für die Legitimation von staatlicher Rechtsmacht herausgearbeitet. Der Vertrag von Lissabon selbst nennt diesen Grundsatz nicht ausdrücklich. Allerdings verfügt die Union über verschiedene Organe, denen unterschiedliche Kompetenzen zugewiesen werden (vgl. jetzt Art. 13 ff. EUV). Der EuGH verwendet den Begriff der Gewaltenteilung nicht, sondern spricht von einem „Gleichgewicht der Institutionen in der Europäischen Union“. Im Folgenden sollen die Begriffe der Demokratie (unter I.) und der Gewaltenteilung (unter II.) auf Unionsebene näher analysiert und die Bedeutung des Aufbrechens staatlicher Strukturen für die Bestimmung des Strafrechts auf Unionsebene untersucht werden (unter III.).

I. Zum Demokratieprinzip der Europäischen Union: „Unionale Demokratie“? Eines der Ziele des Lissabon-Vertrages war es, die „Demokratie (…) zu stärken“181, indem insbesondere dem Europäischen Parlament mehr Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. 1. Nach Art. 10 Abs. 1 EUV beruht die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie. Das Europäische Parlament und der Rat werden gemeinsam als „Gesetzgeber“ tätig (Art. 14 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1 EUV). Das Europäische Parlament soll die Bürger unmittelbar auf Unionsebene vertreten (Art. 10 Abs. 2 EUV). Der Vertrag von Lissabon räumt dem 180  Vgl.

hierzu 1. Teil unter E. die Präambel des EUV: „IN DEM WUNSCH, Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe zu stärken, damit diese in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben in einem einheitlichen institutionellen Rahmen besser wahrzunehmen“. 181  Vgl.

216

2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Europäischen Parlament mehr Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung ein als bisher. So wird das Mitentscheidungsverfahren, welches zuvor die Ausnahme bildete, zum Regelgesetzgebungsverfahren (sog. ordentliches Gesetzgebungsverfahren). Zudem wird es auf weitere Politikbereiche der Europäi­ schen Union ausgedehnt.182 Das Parlament entscheidet in der Regel mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 231 AEUV). Neben dem Europäischen Parlament vertreten der Rat und der Europäische Rat die Bürger mittelbar über die Mitgliedstaaten: im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgern Rechenschaft ablegen müssen (Art. 10 Abs. 1 S. 2 EUV). Um eine Beschlussfassung im Rat zu erleichtern, kann dieser nun grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden (Art. 16 Abs. 3 EUV). Dieses Mehrheitsverhältnis gilt auch im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, welches bei der Harmonisierung des Strafrechts von Bedeutung ist. Damit könnten einzelne Regierungen der Mitgliedstaaten bei der Beschlussfassung im Rat überstimmt werden, so dass dadurch die mittelbare Legitimation der Union durch den Rat zumindest geschwächt würde.183 Art. 12 EUV enthält außerdem eine Regelung über die Rolle der nationalen Parlamente, die durch unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beitragen sollen (Art. 12 EUV). Die Parlamente erhalten nach dem Vertrag von Lissabon neben den bisherigen Informationsrechten Mitwirkungs-, Kontroll- und Bewertungsbefugnisse.184 Die einzelnen Konkretisierungen ergeben sich einerseits aus dem „Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union“185 und anderseits aus dem „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“186.187 Von Bedeutung ist vor allem die Möglichkeit der mitgliedstaatlichen Parlamente, eine begründete Stellungnahme abzugeben, in der sie darlegen können, weshalb ein Gesetzesentwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist 182  Vgl. zu den institutionellen Änderungen durch den Vertrag von Lissabon den Überblick bei Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon, in: EuR 2009, Beiheft 1, 9 (11 ff.). 183  Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 66. 184  Vgl. statt vieler Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5.  Aufl. (2016), Art. 12 EUV Rn. 1. 185  Abl. 2007 Nr. C 308/148. 186  Abl. 2007 Nr. C 306/150. 187  Vgl. auch Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 12 EUV Rn. 1.



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen217

(sog. Subsidiaritätsrüge).188 Bei Maßnahmen im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts genügen dabei ein Viertel der Stimmen der Mitgliedstaaten, damit der Gesetzesentwurf seitens der Kommis­ sion auf die Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip überprüft wird.189 Allerdings steht es dem europäischen Gesetzgeber letztlich frei, ob er an dem Entwurf festhält, ihn ändert oder zurückzieht. Er muss seinen Beschluss lediglich begründen. Damit haben die mitgliedstaatlichen Parlamente zwar eine Anhörungsmöglichkeit im Rahmen der europäischen Gesetzgebung, jedoch können sie diese nicht aufhalten.190 Allerdings steht den nationalen Parlamenten bzw. einer Kammer dieses Parlaments als „ex-post-Kontrolle“191 ebenso wie den einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu, Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV vor dem EuGH „entsprechend der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung“ zu erheben, wenn sie der Ansicht sind, dass ein Gesetzgebungsakt gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt.192 Neben den nationalen Parlamenten sollen die politischen Parteien nach Art. 10 Abs. 4 EUV auf europäischer Ebene zur Herausbildung eines europäischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürger der Union beitragen (vgl. auch schon Art. 191 EGV a. F.).193 Art. 11 Abs. 4 EUV sieht schließlich die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens vor.194 2. Insgesamt zeugen die einzelnen Vorschriften des Lissabon-Vertrages davon, dass die Vertragsparteien ihren „Wunsch, Demokratie und Effizienz 188  Art. 6 des „Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“; vgl. auch Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 12 EUV Rn. 11. 189  Art. 7 Abs. 2 S. 2 des „Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“. In den anderen Politikbereichen bedarf es hierzu eines Drittels der Stimmen seitens der Mitgliedstaaten (Art. 7 Abs. 2 S. 1). Hierzu näher Calliess, in: ders./Ruffert, EUV, 5. Aufl., 2016, Art. 12 Rn. 14 ff. Vgl. näher zu dem Verfahren der begründeten Stellungnahme nach Art. 7 Abs. 3 des „Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 12 EUV Rn.  20 ff. 190  Vgl. kritisch hierzu Davies, The post-Laeken division of competences, in: ELRev. 28 (2003), 686 (691 f.). 191  Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 12 EUV Rn.  27 ff. 192  Art. 8 des „Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“. Vgl. hierzu im deutschen Recht Art. 12 IntVG, wonach der Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet ist, Subsidiaritätsklage zu erheben. 193  Siehe hierzu näher Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 10 EUV Rn. 14 ff. 194  Näher Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5.  Aufl. (2016), Art. 11 EUV Rn. 14.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

in der Arbeit der Organe weiter zu stärken, damit diese in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben in einem einheitlichen institutionellen Rahmen besser wahrzunehmen“,195 jedenfalls was die Quantität der Verwendung des Begriffs „Demokratie“ betrifft, ernst genommen haben. Allerdings unterscheidet sich das im EUV zum Ausdruck kommende Demokratieverständnis trotz des Bekenntnisses der Europäischen Union zur „repräsentativen Demokratie“ insgesamt bedeutend von Bestimmungen, welche im Rahmen der Ideengeschichte herausgearbeitet wurden. Der Demokratiebegriff wurde hier mit der gesetzgebenden Gewalt als dem „vereinigten Willen des Volkes“ verbunden. Demgegenüber existiert ein solcher vereinigter Wille auf europäischer Ebene nicht, es gibt kein „Europäisches Staatsvolk“. Auch die in Art. 9 EUV und Art. 20 AEUV normierte Unionsbürgerschaft begründet keine eigene Staatsbürgerschaft, sondern ist an die Mitgliedstaaten gebunden und damit von dem Willen der Mitgliedstaaten abgeleitet (Art. 9 S. 2, 3 EUV und Art. 20 Abs. 1 AEUV).196 Das Europäische Parlament kann daher nicht ein „Europäisches Volk“ repräsentieren.197 Jenes ist damit, auch wenn es nach dem Lissabon-Vertrag stärker am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist und gleichberechtigt neben dem Rat tätig wird sowie über politische Kontrollrechte verfügt, nicht mit dem klassischen Parlamentsbegriff, wie er im ersten Teil der Arbeit dargelegt wurde, vergleichbar.198 Bedingt durch diesen Unterschied wird daher auch vorgeschlagen, von einem eigenständigen „unionalen“ Demokratiebegriff auszugehen.199 Der Demokratiebegriff im Rahmen der Europäischen Union sei vom Volksbegriff losgelöst und anhand der vertraglichen Regelungen des EUV zu bestimmen. Anzusetzen sei zunächst an dem Begriff der Unionsbürger und dem Grundsatz der Gleichheit in Art. 9 EUV. Die europäische Demokratie sei von der Gleichheit der Bürger her zu denken. Daneben stünde zudem die demokratische Organisation durch die Mitgliedstaaten, die als organi195  Vgl.

die Präambel des EUV. v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 13 (63); a. A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union (2000), S. 62, 110 f. 197  BVerfGE 123, 267 (372). 198  Ebenso v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 13 (63). 199  v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 13 (64). Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde daher auch vorgeworfen, dass sie bei der „traditionellen Dichotomie Bundesstaat-Staatenverbund“ verharre und nicht darüber diskutiere, „ob und inwieweit dem Demokratieprinzip nicht auch durch Wahlen und Abstimmungen in einem europäischen Bundesstaat entsprochen werden könnte“. Böse, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, in: ZIS 2010, 76 (79). 196  Ebenso



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen219

sierte Verbände in der Union tätig würden. Die Union beruhe damit auf einer „dualen Legitimationsstruktur“: zum einen der Gesamtheit der Unionsbürger und zum anderen den mitgliedstaatlich verfassten Völkern (vgl. Art. 10 Abs. 2 EUV).200 Das Demokratieprinzip werde im Gesetzgebungsverfahren einerseits durch das Europäische Parlament und andererseits durch den Rat vermittelt. Dieses System sei konzeptionell „ein großer Schritt“ dafür, dass „ein transnationales, nicht ein Volk repräsentierendes Parlament überhaupt demokratische Legitimation spenden kann. Ebenso wichtig ist, dass ein gubernatives Organ hierzu ebenfalls in der Lage ist“.201 Damit habe der „europäische Exekutivföderalismus“ einen „demokratischen Eigenstand im Lichte des unionalen Demokratieprinzips“.202 Anders als im Verfassungsrecht der Staaten, welche sich aus einem Staatsvolk konstituierten, müsse im „unionalen Verfassungsrecht der Organisation der Vielfalt gleicher Rang eingeräumt werden“ und rechtfertige daher auch Einschränkungen hinsichtlich der Realisierung des Prinzips politischer Gleichheit oder die gubernativ-lastige Ausgestaltung der politischen Ordnung in der Union.203 3. Die Übertragung von strafrechtlichen Hoheitsrechten könnte dann insofern legitimiert sein, als die Bundesrepublik (ebenso wie die anderen Mitgliedstaaten) ihre Hoheitsbefugnisse in diesen Bereichen wirksam auf Institutionen der EU übertragen hat, diese autonom gegenüber den Mitgliedstaaten sind und daher auch andere Rechtsgrundsätze oder modifizierte staatsrechtliche Grundsätze gelten müssen, da es sich bei der EU gerade nicht um einen Staat handelt.204 Gegenüber der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag wurde daher auch eingewendet, dass sich dieses intensiv mit dem Staats- und Souveränitätsbegriff auseinander gesetzt habe, obwohl der Union gerade ein „eigenes nicht-staatliches Integrationskonzept“ zugrunde liege. Das Gericht hätte daher – unabhängig 200  v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 13 (64). 201  v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 13 (66). 202  v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 13 (66). Ähnlich auch Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, 585 (588) bezogen auf das Demokratiedefizit der EU: Es müsse berücksichtigt werden, „dass die Funktionenteilung in einer zwischenstaatlichen Organisation notwendig anderen Mustern folgt als in nationalstaatlichen Verfassungssystemen.“ 203  v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 13 (68); s. a. Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, 1121 (1125 ff.). Vgl. auch Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts, in: ZStW 121 (2009), 1 (57 f.). 204  Böse, Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht, in: GA 2006, 211 (212 f., 216 ff.).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

von den Mitgliedstaaten – unmittelbar zur Legitimation supranationaler Herrschaftsausübung übergehen sollen, da die Union gerade kein Staat sei und ihr auch „kein Zug von Staatlichkeit immanent“ sei. Die besondere Ausgestaltung der Verfasstheit der Union könne nicht mit „dem strengen Antagonismus von souveräner Staatlichkeit und freiwilliger Vertragsunion erklärt werden“.205 Demokratie als „kollektive Selbstbestimmung“ beziehe sich allein auf den Nationenbegriff und sei schon daher nicht tragfähig, weil es gerade auf Europäischer Ebene an einem Kollektiv fehle. Dann müsste die Union für derzeit demokratieuntauglich erklärt werden, was jedoch „rechtsdogmatisch“ nichts tauge, da dies dem Begriff Demokratie, wie er in Art. 6 Abs. 1 EUV positivrechtlich verankert sei, widersprechen würde.206 4.  Für die Frage der Legitimation von Rechtsmacht kann es jedoch nicht genügen, diese allein aus den Regelungen des positiven Rechts (hier des EUV bzw. AEUV) abzuleiten. Diese stellen vielmehr selbst bereits eine Form von Rechtsausübung dar, können aber nicht den Grund für diese angeben. Der sog. unionale Demokratiebegriff verwendet zudem zwar – ebenso wie der Vertrag von Lissabon – den Begriff der „Demokratie“, er entleert ihn aber sogleich, indem er ihm sein Fundament entzieht, nämlich den als notwendig vorgestellten „vereinigten Willen des Volkes“. Dieser ist aber konstitutiv für das Demokratieprinzip. Wird jener einfach ersetzt durch den Terminus des Unionsbürgers in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz, bleibt von ihm nur eine leere Hülse übrig. Diese kann auch nicht dadurch gefüllt werden, dass der Begriff „unional“ dem Demokratiebegriff vorangestellt wird. Es müsste vielmehr begründet werden, warum es einer demokratischen Legitimation für die Rechtsausübung auf supranationaler Ebene nicht bedarf.

II. Zum Gleichgewicht der Institutionen in der Europäischen Union: „Unionale Gewaltenteilung“? Anders als hinsichtlich des Demokratieprinzips finden sich ausdrückliche Ausführungen zum Grundsatz der Gewaltenteilung bzw. zu dem vom EuGH entwickelten Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“207 nicht in den 205  Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration, in: EuZW 2009, 724 (729); Böse, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, in: ZIS 2010, 76 (79). 206  v. Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 65. 207  Vgl. bereits EuGH v. 13.6.1958, Rs. 9/56, Slg. 1958, 16 (44) – Meroni I; Slg. 1958, 57 (82) – Meroni II; aus neuerer Zeit EuGH v. 29.10.1980, Rs. 138/79, Slg. 1980, 3333 Rn. 33 – Rouquette; EuGH v. 22.5.1990, Slg. 1990, I-2041 (Parlament/ Rat), Rn. 21 f.; EuGH v. 15.7.1995, Slg. 1995, I 1827 (Parlament/Rat), Rn. 17.



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen221

Verträgen. Vielmehr weist Art. 13 Abs. 1 EUV allgemein auf die Organe208 der Union hin. Danach verfügt die Union „über einen institutionellen Rahmen, der zum Zweck hat, ihren Werten Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen, ihren Interessen, denen ihrer Bürgerinnen und Bürger und denen der Mitgliedstaaten zu dienen sowie die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen“. Sodann werden die Organe der Union aufgelistet. Ihre Befugnisse finden sich in den einzelnen Kompetenznormen der jeweiligen Sachbereiche (Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV). Im Folgenden sollen die einzelnen rechtssetzenden, vollziehenden und rechtsprechenden Organe der Union im Überblick gekennzeichnet werden, um herauszuarbeiten, ob tatsächlich von einem „Gleichgewicht europäischer Institutionen“ gesprochen werden kann. Ein solches würde dem Begriff nach voraussetzen, dass es sich um ein System ausgleichender Kräfte handelt. 1. Rechtssetzungsbefugnisse europäischer Institutionen Die Rechtssetzungsbefugnis und damit die Legislativfunktion in der Union kommt grundsätzlich dem Europäischen Parlament und dem Rat gemeinsam zu (Art. 14 Abs. 1 S. 1, Art. 16 Abs. 1 S. 1 EUV). Ein Gesetzgebungsakt darf jedoch in der Regel nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden (Art. 17 Abs. 2 S. 1 EUV). Das Europäische Parlament kann zwar mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Kommission auffordern, geeignete Vorschläge vorzulegen, Art. 225 AEUV (sog. indirektes Initiativrecht). Allerdings kann es die Kommission nicht zu einem Vorschlag zwingen.209 Diese muss lediglich begründen, warum sie keinen Vorschlag vorlegt. Durch das Initiativrecht der Kommission im Rahmen der Gesetzgebung kommt ihr eine bedeutende Stellung zu: Sie kann den Zeitpunkt, den Inhalt und die Form des Gesetzgebungsvorhabens bestimmen.210 Dabei kann sie schon vor dem Gesetzgebungsprozess Themen aufwerfen und Diskussionen vorgeben, die sich oft in der Veröffentlichung von sog. Grün- und Weißbüchern, niederschlagen.211 Ein prominentes Beispiel ist das Grünbuch der Kommission von 2001 „zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staats­ 208  Vgl. näher zum Organbegriff Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 13 EUV, Rn. 7 ff. 209  Vgl. auch Dann, Die politischen Organe, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 335 (367). 210  Vgl. hierzu auch Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Union, 12. Aufl. (2016), § 4 Rn. 65. 211  Vgl. auch Dann, Die politischen Organe, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 335 (367).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

anwalt­schaft“.212 Es sollte dazu dienen, eine breite Debatte u. a. über mögliche Inhalte eines supranationalen Finanzstrafrechts und der möglichen Aufgaben eines Europäischen Staatsanwaltes auszulösen.213 Das Grünbuch hat sich zwar in dieser Form nicht durchgesetzt, jedoch hat es Einfluss genommen auf die im Lissabon-Vertrag enthaltenen Bestimmungen zum materiellen Strafrecht (Art. 83 AEUV, Art. 325 AEUV) und die nun durch Art. 86 AEUV eröffnete Möglichkeit der Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft.214 Die Kommis­sion kann zudem Gesetzesentwürfe jederzeit ändern, solange kein Ratsbeschluss ergangen ist (Art. 293 Abs. 2 AEUV) oder sogar zurückziehen.215 Trotz ihrer besonderen Stellung im Rechtssetzungssystem ist die Kommission jedoch weder parlamentarisch legitimiert noch organisiert: Die Regierungen der Mitgliedstaaten stellen bisher jeweils ein Kommissionsmitglied, das mit qualifizierter Mehrheit vom Europäischen Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments ernannt wird. Die Amtszeit der Kommission beträgt 5 Jahre (Art. 17 Abs. 3 EUV). Ab dem 1. November 2014 hätte die Zahl der Kommissionsmitglieder nach Art. 17 Abs. 5 EUV sogar auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten beschränkt werden können, so dass nicht mehr jeder Mitgliedstaat einen Kommissar entsenden kann. Diese Neuregelung sollte einer kohärenteren und effizienteren Arbeitsweise innerhalb der Kommission dienen.216 Durch ein Rota­ tionsverfahren soll dann gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten gleichmäßig zum Zuge kommen (Art. 17 Abs. 5 EUV, Art. 244 AEUV).217 212  KOM

(2001) 715 endg. zu Befürwortern des Grünbuchs Brüner/Spitzer, Der Europäische Staatsanwalt, in: NStZ 2002, 393 ff.; kritisch demgegenüber Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 14 Rn. 49 ff. 214  Siehe hierzu näher Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 86 AEUV Rn. 2 ff. 215  Vgl. hierzu näher Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 30, 62 ff. Umstritten ist die Rücknahme eines Gesetzesvorschlags allerdings dann, wenn die Kommission diesen gegen den Willen des Rats oder des Parlaments im bereits laufenden Rechtsetzungsverfahren zurückziehen will. Vgl. hierzu auch m. w. N. Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 65. 216  Dann, Die politischen Organe, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 335 (365). 217  Allerdings wird die Verkleinerung der Kommission in nächster nicht erfolgen. Bereits im Dezember 2008 hat der Europäische Rat signalisiert, dass es bei der bisherigen Anzahl der Kommissare bleiben wird. Es wurde im Zuge des ablehnenden Referendums Irlands zum Lissabonner Vertrag beschlossen, dass im Falle des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrages die Zahl der Kommissare nicht gesenkt werde. Ein entsprechender Beschluss wurde vom Europäischen Rat am 22. Mai 2013 gefasst, so dass jeder der 28 Mitgliedstaaten weiterhin einen Kommissar stellen kann. 213  Vgl.



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen223

Die Kommissare üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus und dürfen weder Weisungen von Regierungen der Mitgliedstaaten noch von einem anderen Organ oder einer Einrichtung einholen oder entgegennehmen (Art. 17 Abs. 3 UAbs. 1 EUV). Die Kommission ist damit in ihren Entscheidungen von den Mitgliedstaaten unabhängig. Sie wird von einem Präsidenten geleitet, der über die interne Organisation der Kommission entscheidet und die Richtlinien festlegt, nach denen die Kommission ihre Aufgaben ausübt (Art. 17 Abs. 6 EUV, Art. 248 AEUV). Anders als das Europäische Parlament oder auch der Rat ist damit die Kommission weder unmittelbar noch mittelbar demokratisch legitimiert und hat dennoch bedeutenden Einfluss auf die Rechtssetzung der Europäischen Union. So soll sie „die allgemeinen Interessen der Union“ fördern und „geeignete Initiativen zu diesem Zweck“ ergreifen (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EUV). Ihre Aufgabe liegt somit nicht darin, die nationalen Interessen zu vertreten (wie der Rat) oder die politischen Interessen der Unionsbürger zu repräsentieren (wie das Europäische Parlament).218 Bereits historisch galt die Kommission als „Motor der Inte­ gration“. Sie agiert allein im Interesse der Gemeinschaft. Ihr Handeln ist final an den Werten und Zielen der Union (vgl. Art. 2 und 3 EUV) ausgerichtet und verfügt dabei über ein weites politisches Ermessen.219 An dieser herausgehobenen Stellung der Kommission gegenüber dem Rat und dem Parlament ändert sich auch nichts dadurch, dass letzteres den Kommissionspräsidenten (Art. 17 Abs. 7 S. 2 EUV) wählt. Dieses Wahlrecht hat vielmehr eher einen „symbolischen Charakter“.220 Denn vorgeschlagen wird der Kom­ missionspräsident vom Europäischen Rat, der sich zwar an dem Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament zu orientieren hat (Art. 17 Abs. 7 S. 1 EUV), der aber dennoch den Kandidaten selbst bestimmen kann und nicht an eine konkrete Person einer bestimmten Partei gebunden ist.221 2. Exekutivbefugnisse seitens der Europäischen Kommission Die Europäische Kommission ist zudem zentrales Exekutivorgan der Union. Gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV übt sie nach Maßgabe der Verträge Koordinierungs-, Exekutiv und Verwaltungsfunktionen aus. Koordinierungsfunktionen kommen der Kommission in zahlreichen Gebieten zu, in denen das Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten angewendet wird. Das sind zum einen die Bereiche, in denen die Mitgliedstaaten ihre Politik nach Maßgabe 218  Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 10. 219  Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 12. 220  Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 36. 221  Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 36.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

des AEUV koordinieren müssen, wie z. B. die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik (vgl. Art. 2 Abs. 3 und 5 AEUV).222 Im Rahmen der Wirtschaftspolitik erstellt der Rat auf Empfehlung der Kommission beispielsweise einen Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Union (Art. 121 Abs. 2 AEUV). Ebenso haben die Mitgliedstaaten hinsichtlich des Schutzes der finanziellen Interessen der Union vor Betrügereien ihre Tätigkeit zu koordinieren (Art. 325 Abs. 3 S. 1 AEUV). Zusammen mit der Kommission haben sie hier für „eine enge, ­ regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden“ zu sorgen (Art. 325 Abs. 3 S. 2 AEUV). Bereits 1994 wurde für eine derartige Koordinierung zur Betrugsbekämpfung ein eigener beratender Ausschuss eingesetzt,223 der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission zusammensetzt und von der Kommission „im Hinblick auf eine effiziente Durchführung der Betrugsbekämpfungsmaßnahmen“ angehört werden kann.224 Zudem kommen der Kommission Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen in den Bereichen zu, in denen sie selbst unmittelbar Unionsrecht vollzieht. Art. 337 AEUV regelt allgemein, dass die Kommission zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben „alle erforderlichen Auskünfte einholen und alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen“ kann.225 In der Einleitung wurden die sich aus den Art. 17–22 VO 1 / 2003 ergebenen, umfangreichen Ermittlungsbefugnisse der Kommission im Rahmen des Kartellbußgeldverfahrens dargelegt.226 Schließlich kann die Kommission als „Staatsanwältin der Verträge“ an­ gesehen werden.227 Denn sie hat nicht nur die unionalen Interessen gegen222  Vgl. allgemein zur Koordinierungsfunktion der Kommission Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 39. 223  Beschluss Nr. 94/140/EG, ABl. 1994 L 61/27 vom 24.2.1994, zuletzt geändert durch Beschluss der Kommission Nr. 2005/223/EG vom 25.2.2005 zur Änderung des Beschlusses 94/140/EG zur Einsetzung eines Beratenden Ausschusses für die Koordinierung der Betrugsbekämpfung, Abl. 2005, Nr. L 71/67. 224  Art. 2 Abs. 1 des Beschluss Nr. 94/140/EG, ABl. 1994 L 61/27 vom 24.2.1994; vgl. auch Waldhoff, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 325 AEUV Rn. 14. Vgl. zur Bedeutung der Koordinierungsfunktion der Kommission im Bereich der Außenbeziehungen der Union Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 39. 225  Vgl. hierzu näher Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 337 AEUV Rn. 30 ff. 226  Vgl. unter B. I. 2. 227  So der Ausdruck von Dann, Die politischen Organe, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 335 (368).



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen225

über den Mitgliedstaaten durch die Beeinflussung der politischen Willensbildung zu vertreten, sondern vertritt die Interessen der Union auch gerichtlich. Verstößt ein Mitgliedstaat nach Auffassung der Kommission gegen Verpflichtungen aus den Verträgen, kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einleiten. Nachdem sie dem Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme gegenüber dem betroffenen Staat ab. Kommt dieser der Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, kann die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen. Letzteres steht in ihrem Ermessen.228 So betraf ein seitens der Kommission gegen die Griechische Republik geführtes Vertragsverletzungsverfahren auch das Strafrecht (sog. Griechischer Mais-Fall). Die Kommission warf dieser vor, dass ihre Beamten gegen eine begangene Abgabenhinterziehung nicht eingeschritten seien, die zum Nachteil des EG-Finanzhaushaltes geführt hatte. Die Griechische Republik habe damit die gegenüber der EG obliegende Pflicht zu gemeinschaftstreuem Verhalten (damals Art. 5 bzw. 10 EGV, jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) verletzt. Nach einem fruchtlos geführten Schriftwechsel zwischen der Kommission und den griechischen Behörden leitete die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren ein.229 Der EuGH folgte der Ansicht der Kommission und stellte eine Vertragsverletzung fest.230 Zudem überwacht die Kommission die Einhaltung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs (Art. 260 AEUV). Gegenüber Privaten ist die Kommission vor allem im Wettbewerbsrecht befugt, Bußgelder in beträchtlicher Höhe zu verhängen; insoweit kommt ihr auch eine Rechtsprechungsfunktion zu.231 Insgesamt kommt der Kommission damit im Rahmen ihrer Exekutiv- und Verwaltungsfunktion die Aufgabe zu, sicher zu stellen, dass die Verträge durch die Mitgliedstaaten oder auch Private eingehalten werden. Sie ist insofern nicht nur „Motor der Integration“, sondern auch „Hüterin der Verträge“, als sie die einheitliche Anwendung und Durchsetzung der Verträge überwa228  Vgl. insgesamt auch Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Union, 12. Aufl. (2016), § 4 Rn. 70. 229  Vgl. näher zum Sachverhalt EuGH v. 21.9.1989, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 (= NJW 1990, 2245). 230  „Griechischer Mais-Fall“ EuGH v. 21.9.1989, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965, (= NJW 1990, 2245).; vgl. auch Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 7 Rn. 24 ff. 231  Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Rahmen der Einleitung unter B. I. 2. s. a. Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 337 AEUV Rn. 60, 62 f. Das Vollstreckungsverfahren richtet sich nach dem Recht der Mitgliedstaaten (vgl. Art. 299 AEUV).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

chen soll.232 Die Kommission nimmt diese Aufgabe grundsätzlich eigenverantwortlich wahr. Zwar steht sie hinsichtlich der Überwachung der Anwendung des Unionsrechts unter der Kontrolle des Gerichtshofs (vgl. Art. 17 Abs. 3 EUV), jedoch kommt es zu einer gerichtlichen Entscheidung erst, wenn über die richtige Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts gestritten wird.233 3. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Neben der Kommission kommt dem Europäischen Gerichtshof eine bedeutende Stellung im Unionsrecht zu. Durch den Vertrag von Lissabon hat sich die Stellung des „Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften“ nicht wesentlich geändert. Der Europäische Gerichtshof umfasst jetzt insgesamt den Gerichtshof, das Gericht und die Fachgerichte (Art. 19 Abs. 1 S. 1 EUV). Aufgrund der Aufhebung der Säulenstruktur ist der Gerichtshof nun grundsätzlich auch zuständig für das zuvor intergouvernemental organisierte Gebiet der dritten Säule, dem Bereich der „Freiheit der Sicherheit und des Rechts“.234 Von der Zuständigkeit des Gerichtshofs ausgenommen sind hier allerdings die Überprüfung von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaates sowie die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffent­ lichen Ordnung und der Sicherheit, Art. 276 AEUV. Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat und wird von Generalanwälten unterstützt (Art. 19 Abs. 2 EUV).235 Aufgabe des Gerichtshofes ist es, „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zu sichern (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV). Diese Stellung des Gerichtshofs entspricht der, wie sie in Art. 220 EGV a. F. formuliert war. Der Begriff des Rechts ist in einem umfassenden Sinne zu verstehen. Aus ihm leitet der Gerichtshof für sich zum einen die Befugnis ab, Vertragsbestimmungen durch Richterrecht fortzubilden, soweit es die Vertragsziele erfordern und zulassen,236 und zum anderen auch über die Vertragstexte 232  Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslieferung (2016), Art. 17 EUV Rn. 1, 6, 15 ff. 233  Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 17 EUV Rn. 17. 234  Vgl. zur Unzuständigkeit des Gerichtshofs für den Bereich der damaligen 2. Säule (GASP) Art. 275 AUEV, s. hierzu auch Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 49. 235  Vgl. näher zur Zusammensetzung und Organisation der Judikativen Art. 251 bis 254, Art. 255 AEUV und die Bestimmungen des Protokolls (Nr. 3) über die Satzung des Gerichtshofes. 236  Vgl. hierzu insgesamt auch Everling, Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäi-



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen227

hinausgehende allgemeine Grundsätze des Unionsrechts anzuwenden, die sich aus den von den Mitgliedstaaten geschlossenen Verträgen und den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten ergeben. So hat der EuGH beispielsweise im bereits erwähnten „Griechischen Maisfall“ aus dem in Art. 5 bzw. 10 EGV a. F. (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) festgelegten Grundsatz der Loyalität die Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, „alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten“. Auch wenn die Mitgliedstaaten die Sanktionsart bestimmen könnten, müssten sie darauf achten, dass „Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartiger Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss“.237 Der EuGH verlangt damit von den Mitgliedstaaten einerseits, dass diese ihr Sanktionensystem für eine effektive Durchsetzung der Gemeinschaftsinteressen einsetzen und andererseits, dass sie Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht ebenso ahnden und verfolgen wie vergleichbare Verstöße gegen das nationale Recht (sog. Gleichstellungsgebot).238 Zudem weist die „Auslegungsmethode“ des Rechts durch den Gerichtshof Besonderheiten gegenüber den Methoden der nationalen Rechtsordnungen auf. Sowohl dem Wortlaut als auch dem historischen Willen des Normgebers wird nicht die gleiche Bedeutung beigemessen wie im nationalen Recht. Schon aufgrund der verschiedenen Sprachfassungen der jeweils auszulegenden Norm kann dem Wortlaut nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommen.239 Denn im Bereich des Sekundärrechts bestehen zwischen den einzelnen Fassungen erhebliche Unterschiede. Maßgeblich ist daher für den Europäischen Gerichtshof vor allem eine „autonome unionsrechtliche Auslegung“. Entscheidend ist, ob dem jeweilig verwendeten Begriff ein bestimmter unionsrechtlicher Sinn zukommt.240 Ebenso kommt dem Willen des Normgebers nicht dieselbe Bedeutung im Rahmen der Interpretation zu wie im nationalen Recht. Der Europäische Gerichtshof nimmt zwar auch die sches Verfassungsrecht (2009), S. 961 (994); Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 19 EUV Rn.  23 ff. 237  EuGH v. 21.9.1989, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 (= NJW 1990, 2245 [2246]). 238  Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 7 Rn. 28 f. 239  Näher hierzu Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht (2002), S.  398 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 19 EUV Rn. 13. 240  Vgl. z. B. EuGH v. 22.3.1982, Rs 34/82, Slg. 1983, 987 Rn. 17 – Peters; vgl. auch insgesamt Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 19 EUV Rn. 13.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

Entstehungsgeschichte bei der Auslegung zu Hilfe, jedoch weniger, um sie als eigenständige Argumentationsform zu verwenden. Das liegt darin begründet, dass die europäische Rechtssetzung in besonderem Maße von Kompromissen und Verhandlungen geprägt ist, die einen eindeutigen historischen Willen des Normgebers nicht erkennen lassen.241 Bei der systematischen Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof spielen vor allem die Ziele der jeweiligen Verträge eine besondere Rolle.242 Bedingt durch die Besonderheiten des Unionsrechts kommt insoweit der teleologischen Interpretation der Normen eine herausragende Bedeutung zu. Für diese ist die Funktionsfähigkeit der Union maßgeblich, der vom Europäischen Gerichtshof so genannte „effet utile“. Danach sind die einzelnen vertraglichen Regelungen so auszulegen, dass sie eine möglichst große Wirkung entfalten.243 In einem Streit zwischen der Kommission und dem Rat hat der EuGH 2005 z. B. einen Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht für nichtig erklärt und aus dem allgemeinen Gemeinschaftsziel des Umweltschutzes dem damaligen Gemeinschaftsgesetzgeber eine strafrecht­ liche Anweisungskompetenz zugestanden.244 Zwar falle das Strafrecht und Strafprozessrecht grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit des Gemeinschaftsrechts. Allerdings könne dies den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht hindern, „Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt“.245 241  Schröder,

Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht (2002), S. 403. in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 19 EUV Rn. 15.; vgl. zur Auslegungsmethode des EuGH auch Meyer, Strafrechtsgenese in Internationalen Organisationen (2012), S. 344 ff. 243  s. z. B. EuGH v. 6.10.1981, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311, Rn. 16 – Broekmeulen; EuGH v. 19.11.1991, verb. Rs C-6/90 und 9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 31 ff – Francovich. 244  EuGH, Urt. v. 13.9.2005, Rs. C-176/03, Slg. 2005 I-7879 – Kommission u. a./ Rat u. a. (= ZIS 2006, 179 ff.). Vgl. kritisch zu dieser Entscheidung Hefendehl, Europäischer Umweltschutz: Demokratiespritze für Europa oder Brüsseler Putsch?, in: ZIS 2006, 161 ff.; ders., Europäisches Strafrecht: bis wohin und nicht weiter?, in: ZIS 2006, 229 ff.; s. a. die Anm. Heger, in: JZ 2006, 310 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. (2016), § 9 Rn. 39; befürwortend demgegenüber Böse, Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht, in: GA 2006, 211 ff. 245  EuGH, Urt. v. 13.9.2005, Rs. C-176/03, Slg. 2005 I-7879 – Kommission u. a./ Rat u. a. (= ZIS 2006, 179 [184]). 242  Wegener,



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen229

Schon die vom Gerichtshof sich selbst zugewiesene Möglichkeit der Rechtsfortbildung und der Festlegung – wenn auch an den Verträgen orientierter – allgemeiner Unionsgrundsätze sowie die Normauslegung am „effet utile“ zeugen von seiner bedeutenden Stellung hinsichtlich der Anwendung und Weiterentwicklung des Unionsrechts. Der Europäische Gerichtshof versteht sich auch selbst als „Motor der Integration“.246 Er sieht sich damit nicht nur als eine Institution an, die in der Vergangenheit liegende Fälle entscheidet, sondern zugleich auch die Zukunft der Union mitgestaltet.247 Die besondere Bedeutung des Gerichtshofs zeigt sich auch im Verhältnis zu den nationalen Gerichten. Diese haben in zwei Fällen eine Vorlagepflicht an den EuGH: zum einen, wenn die Entscheidung eines mitgliedstaatlichen Gerichts nach innerstaatlichem Recht nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann und sie die Auslegung von EU-Recht betrifft (Art. 267 Abs. 3 AEUV) und zum anderen dann, wenn ein mitgliedstaatliches Gericht Zweifel an der Gültigkeit des Europarechts hat, da dem EuGH hinsichtlich des europäischen Rechts ein Verwerfungsmonopol zukommt.248 Gesichert werden soll dadurch die Homogenität in der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts.249 Die Urteile im Vorabentscheidungsverfahren haben bindende Wirkung: Sowohl das vorlegende Gericht als auch die mitgliedstaatlichen Gerichte, die mit demselben Streitgegenstand befasst werden, müssen nach Auffassung des Gerichts entscheiden. Insofern haben die Urteile des Europäischen Gerichtshofs eine rechtsbildende Kraft in Form einer Präjudizwirkung.250 4. Zur „Unionalen Gewaltenteilung“ a)  Die herausgehobene Stellung der Kommission und die Bedeutung der Unionsrechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof und die daneben eher schwach ausgeprägte Position des Europäischen Parlaments haben 246  Dieses Selbstverständnis zeigt sich z. B. deutlich in EuGH v. 22.10.1987, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 Rn. 14 ff. – Foto-Frost; s. hierzu auch Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v.  Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 559 (570). 247  Kirchhof, Der Europäische Staatenverbund, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 1009 (1042). 248  EuGH v. 22.10.1998, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 Rn. 17 ff. – Foto-Frost. Vgl. hierzu Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 559 (562 f., 570 f.). 249  Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Union, 12.  Aufl. (2016), § 9 Rn.  81 ff. 250  Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Union, 12.  Aufl. (2016), § 9 Rn.  102 m. w. N.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

deutlich gemacht, dass jedenfalls qualitativ nicht von einem Gleichgewicht der Institutionen gesprochen werden kann. Der sog. Grundsatz des „institutionellen Gleichgewichts“ in der Europäischen Union unterscheidet sich damit wesentlich von dem Begriff der Gewaltentrennung, wie er im ideengeschichtlichen Hintergrund vorgestellt wurde.251 Sowohl Kommission als auch dem EuGH ist „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ in einem umfassenden Sinne anvertraut. Beide sind aber nicht auf die bloße Auslegung und Anwendung des Unionsrechts beschränkt, sondern gestalten das Recht in bedeutsamer Weise mit: Die Kommission durch ihre maßgebliche Beteiligung am Rechtssetzungsverfahren und der EuGH durch seine Rechtsfortbildung und seine Ausrichtung am „effet utile“. Dass auch im strafrechtsrelevanten Bereich die Gewaltenteilung im Europäischen Recht durchbrochen wird, zeigt sich deutlich im Europäischen Recht des Kartellbußgeldverfahrens. So ist die Europäische Kommission hier einerseits Bestandteil der Legislativen und andererseits auch Exekutivorgan. Ihr kommt schon im Rahmen des Verordnungsverfahrens eine herausragende Stellung zu: So konnte die Kartellverfahrensordnung von 2003 (VO [EG] 1 / 2003) nur auf Vorschlag der Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (Art. 83 EGV, jetzt Art. 103 AEUV). Ferner ist die Kommission investigativ tätig. Sie entscheidet darüber, wie und in welchem Umfang bei einem Verstoß nach Art. 101 und 102 AEUV ermittelt wird. Schließlich ist sie zugleich Teil der Judikative, indem sie die Sanktionen selbst verhängt und ihre Höhe bestimmt.252 Das betroffene Unternehmen kann zwar gemäß Art. 261 AEUV (ex. Art. 229 EG) i. V. m. Art. 31 VO 1 / 2003 eine gerichtliche Nachprüfung von Entscheidungen der Kommission in Kartellsachen herbeiführen, jedoch nehmen die Gemeinschaftsgerichte trotz der ihnen eingeräumten unbeschränkten Ermessensprüfung insgesamt nur eine kursorische Prüfung der konkreten Kommissionsentscheidung vor.253 Erklären lässt sich die institutionelle Struktur der Union damit, dass sie eine Mischung aus staatlichen Formen und völkerrechtlichen Verträgen dar251  Vgl. hierzu auch Everling, Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2.  Aufl. (2009) S. 961 (992); Siegel, Das Gleichgewicht der Gewalten in der Bundesrepublik Deutschland und in der Europäischen Gemeinschaft, in: DÖV 2010, 1 ff.; Goeters, Das institutionelle Gleichgewicht (2008), S. 248 ff. 252  Vgl. auch v. Alemann, Die Abänderung von Bußgeldentscheidungen der Kommission durch die Gemeinschaftsgerichte in Kartellsachen, in: EuZW 2006, 487, der auf die mangelnde Trennung von investigativer und judikativer Gewalt hinweist und aufzeigt, dass es sich bei der Kommission nicht um ein unabhängiges Tribunal handelt und ein Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt. 253  Vgl. Einleitung unter B. I. 2.



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen231

stellt.254 Während der Rat und die Kommission an internationale Organisationsstrukturen erinnern, tritt daneben ein von den Unionsbürgern gewähltes Europäisches Parlament und ein unabhängiger Gerichtshof, der sich – ebenso wie die Kommission – als „Integrationsmotor“ begreift. Die Trennung der Organe ist damit rein funktional. Sie dient einerseits dazu, den Werten der Union (vgl. Art. 2 EUV) Geltung zu verschaffen und andererseits der Sicherstellung von Effizienz und Beständigkeit von Maßnahmen in der Union. Auch der EuGH hat bisher sein Konzept des „institutionellen Gleichgewichts“ auf Zuständigkeits- und Verfahrensfragen beschränkt. Die Verträge haben, so der EuGH, „ein System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft geschaffen, das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist. Die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts gebietet es, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt. Sie verlangt auch, dass eventuelle Verstöße gegen diesen Grundsatz geahndet werden können.“255 Das Gericht misst dem Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“ somit keine normative Qualität zu, sondern belässt es bei einer bloßen Beschreibung der Institutionen mit ihren Aufgaben.256 Inwieweit es sich tatsächlich um ein „Gleichgewicht“ der Organe handelt, lässt es demgegenüber offen. Das mag daran liegen, dass ein solches insbesondere angesichts der in allen drei Bereichen wirkenden Kommission qualitativ nicht besteht und die Union damit nicht gewaltenteilig organisiert ist, sondern von einer starken Exekutivmacht geprägt wird. Gewaltenteilung in einem materiellen Sinne lässt sich daher auf EUEbene nicht ausweisen. b) Ebenso wie im Rahmen des Demokratieprinzips könnte auch hier überlegt werden, ob durch die Besonderheit der Europäischen Union der Grundsatz der Gewaltenteilung anderen Prinzipien zu folgen hat, als innerhalb von staatlichen Verhältnissen. Möglicherweise gehört „zum Programm supranationaler Gewaltenteilung eine stärkere Verselbständigung (Autonomisierung) des Rechts und der Rechtsprechung“.257 Die betont funktionale, auf die Stärkung der Gemeinschaftsinteressen ausgerichtete Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung könnten bedeutsam sein, um die 254  Vgl. auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 13 EUV Rn. 1. 255  EuGH, Urteil vom 22.05.1990, Rs. C-70/88, Slg. 1990-I 2041, Rn. 21 f. 256  Vgl. auch zur Rechtsprechung des EuGH die Ausführungen von Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 13 EUV Rn. 31 f. 257  Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 2, 3. Aufl. (2004), § 27 Rn. 89.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

­ nion in ihrer Aufbauphase erst einmal gegenüber nationalen Interessen U und Bedürfnissen zu stärken, so dass die Rechtsanwendung hier zwangsläufig politisch durchdrungen und „von einem Integrationszweckdenken utilitaristisch“ beherrscht ist.258 Damit könnte auch die starke Stellung der Exekutive, der Europäischen Kommission, erklärt werden. Das „klassische Rechts­ideal der Gewaltenteilung“ müsste im Rahmen der Europäischen Integration neu entdeckt werden.259 Die Dreiteilung zwischen Legislative, Exekutive stellt möglicherweise auch nur eine „geistesgeschichtliche Zufälligkeit“ dar.260 Schließlich ist zu überlegen, ob dadurch, dass zu dem staatlichen Handeln eine weitere Ebene für den Bürger hinzutritt, es zugleich zu „mehr gewaltenteilenden Effekten“ verbunden mit einer „mäßigenden Wirkung“ der einzelnen Gewalten kommt, als wenn der Bürger es „nur mit Bund und Land zu tun hätte“.261 c) Voraussetzung für eine neue Form der Gewaltenteilung und damit auch einer Verschiebung der einzelnen Aufgaben im Rahmen einer supranationalen Organisation ist jedoch, dass diese ihren Legitimationsgrund angeben kann. Neben der Neujustierung der einzelnen Gewalten im Rahmen von überstaatlichen, europäischen Zusammenhängen, wird zugleich gefordert, dass auf eine „ausbalancierte ebenengerechte Funktionenteilung“ bei einer „Fortführung des europäischen Einigungsprozesses geachtet werden“ müsse, „auch um den über die mitgliedstaatlichen Parlamente geführten demokratischen Legitimationsstrang des europäischen Staatenverbundes zu festigen“.262 Es wird damit trotz der Notwendigkeit der Öffnung und der damit verbundenen Gewaltenverschiebung grundsätzlich an der Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation seitens des Volkes festgehalten, obwohl ein ­ solches einheitliches Unionsvolk (noch) nicht existiert. Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie eine „Ausbalancierung der Funktionenteilung“ in einer Integrationsgemeinschaft erreicht werden kann, die gerade ein Konglomerat aus staatlicher und völkerrechtlicher Organisation bildet, dabei eigenständige Ziele entwickelt hat, die in Konkurrenz zu staatlichen und individuellen Anliegen stehen.263 Insbesondere im Strafrecht zeigt sich die258  Di

Fabio, Gewaltenteilung, in: HStR Bd. 2, 3. Aufl. (2004), § 27 Rn. 89. Der Europäische Staatenverbund, v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), in: Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 1009 (1040). 260  So Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 67. Ergänzungslfg. (2013), Art. 20 Rn. 18. 261  So Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 67. Ergänzungslfg. (2013), Art. 20 Rn. 14. 262  Di Fabio, Gewaltenteilung, in: in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 2, 3. Aufl. (2004), § 27 Rn. 94. 263  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 229 f.; ferner zum Begriff der Komplementärverfassung S. 193 ff. 259  Kirchhof,



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen233

ser Interessenkonflikt besonders deutlich. Denn einerseits gilt dieses Rechtsgebiet bisher als Ausdruck staatlicher Souveränität, was jedenfalls im Grundsatz sowohl vom EuGH anerkannt als auch vom Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehl und zum Lissabon-Vertrag betont wurde. Andererseits tritt dem Einzelnen neben den staatlichen Behörden eine zusätzliche europäische Instanz gegenüber, die ebenfalls Hoheitsrechte gegenüber dem Bürger ausüben kann. Damit handelt es sich bei dem Ungleichgewicht der Gewalten innerhalb der Europäischen Union jedenfalls nicht allein um ein Problem der Kollision von unterschiedlichen Ebenen mit verschiedenen Rechtsbefugnissen, die es auszutarieren gilt, sondern um ein wesentlich „tiefergehendes Strukturproblem“,264 welches einer näheren Untersuchung hinsichtlich der Legitimation von Herrschaftsausübung und der mit ihr verbundenen notwendigen Formprinzipien bedarf. Um die genannte Problemstellung zu verdeutlichen, soll im Folgenden das Aufbrechen staatlicher Strukturen für den Strafrechtsbegriff herausgearbeitet werden.

III. Bedeutung des Aufbrechens staatlicher Strukturen für die Bestimmung des Strafrechts: „Unionale Strafzwecke“? Dargelegt wurde bereits, inwieweit das staatliche Strafrecht durch europäische Maßnahmen beeinflusst wurde und wird. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Bedeutung das Aufbrechen staatlicher Strukturen durch die Europäische Integration für den Begriff des Strafrechts hat. So wurde im ideengeschichtlichen Teil aufgewiesen, dass die Strafbegründung im Zusammenhang mit der jeweiligen Herrschaftsform stand und mit dem Staatsverständnis verbunden war. Bedingt durch die dargelegten Strukturunterschiede von Staat und Europäischer Union justiert sich daher auch die Stellung des Strafrechts in Bezug auf die Union und die Mitgliedstaaten neu. 1.  In den bereits genannten Entscheidungen zum „Griechischen Maisfall“ und zum „Umweltstrafrecht“ hat der EuGH ausdrücklich das Ziel von Sanktionsvorschriften in Bezug auf das Unionsrecht benannt und bestimmt. Diese müssten, um eine volle Wirksamkeit für den Schutz von Unionszielen zu gewährleisten, „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein. Diese Trias bezieht sich nicht nur auf die Sanktionsfolge, sondern ebenso auf den Tatbestand der Sanktionsnorm.265 Auch Art. 325 Abs. 1 AEUV betont aus264  Vgl. hierzu schon Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (418 f.). 265  Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 7 Rn. 61 m. w. N.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

drücklich hinsichtlich des Schutzes der finanziellen Interessen der Union, dass diese zusammen mit den Mitgliedstaaten „Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen“ bekämpfen, „die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten, sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken“. Aus den Entscheidungen des EuGH und dem AEUV selbst ergibt sich jedoch nicht unmittelbar, was mit den Begriffen Wirksamkeit bzw. Effizienz, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung“ genau gemeint ist und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Sie lassen sich jedoch insbesondere durch die Mitteilungen der Kommission vom 26.05.2011 und vom 20.9.2011 präzisieren. Das Element der „Wirksamkeit“ bezieht sich auf die Funktionsfähigkeit der Union: strafrechtliche Maßnahmen dienen als Mittel zur „Gewährleistung der wirksamen Durchführung der Politik der EU“.266 Der Bereich der EU-Politik ist weit und reicht von „der Zollunion und dem Binnenmarkt bis zum Umweltschutz“.267 Erfasst werden damit die gesamten Tätigkeitsfelder der Union. Wirksamkeit impliziert dabei, „dass die Sanktion geeignet ist, zu dem gewünschten Ziel zu führen, das heißt, die Einhaltung der Regeln zu gewährleisten“.268 Das „Europäische Strafrecht“ wird hinsichtlich seiner Wirksamkeit somit final in Bezug auf „die Geltungskraft und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts“ verstanden.269 Die Sanktion soll zudem „abschreckend“ wirken. Das Merkmal der Abschreckung steht damit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Wirksamkeit der Sanktion. Umfasst sind die Strafzwecke der negativen Generalprävention und der positiven Generalprävention. Die Sanktion müsse geeignet sein, „potenzielle künftige Täter“ abzuschrecken270 und die „entschiedene Missbilligung des Verhaltens“ deutlich machen.271 In den „Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen“ im Rahmen des Europäischen Kartellrechts kann zur „Gewährleistung einer abschreckenden Wirkung“ sogar eine höhere Geldbuße seitens der Kommission verhängt werden als die Zuwiderhandlung es erfordern würde. „Die Kommission wird besonders darauf achten, dass die Geldbußen eine ausreichende abschreckende Wirkung entfalten; zu diesem Zweck kann sie die Geldbuße gegen Unternehmen erhöhen, die besonders hohe Umsätze mit Waren 266  Mitteilung

der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 10. der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 11. Vgl. speziell für den Schutz der finanziellen Interessen der Union KOM(2011) 293 end., S. 12–14. 268  Mitteilung der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 10. 269  Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 7 Rn. 62. 270  Mitteilung der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 10. 271  Mitteilung der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 12. 267  Mitteilung



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen235

oder Dienstleistungen, die nicht mit der Zuwiderhandlung im Zusammenhang stehen, erzielt haben.“272 Ziel einer europäischen Kriminalpolitik soll es zudem sein, „das Vertrauen der Bürger im Hinblick darauf zu stärken, dass sie in einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts leben, dass das EU-Recht zum Schutz ihrer Interessen voll und ganz um- und durchgesetzt wird“.273 Denn nach Ansicht der Unionsbürger sei die Kriminalität ein wichtiges Problem der Union. In Umfragen gäben Bürger an, dass die europäischen Organe in den kommenden Jahren ihre Tätigkeit zur Stärkung der Europäischen Union neben der Wirtschafts- und Währungspolitik, der Einwanderungspolitik und der Gesundheitspolitik vornehmlich auch auf die Verbrechensbekämpfung konzentrieren sollten.274 Neben der Abschreckungswirkung soll damit auch das Normvertrauen der Unionsbürger gestärkt werden. Schließlich solle die Sanktion notwendig und verhältnismäßig sein. Die Union müsse sowohl hinsichtlich der Frage, ob überhaupt strafrechtliche Maßnahmen beschlossen als auch hinsichtlich der Frage, welche konkreten Maßnahmen erlassen werden sollten, die „Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit“ beachten. So dürfe das Strafrecht als eines, welches sich im besonderen Maße auf die Rechte der Bürger auswirke und auch stigmatisierend wirken könne, nur als letztes Mittel eingesetzt werden, es müsse demnach für die wirksame Durchführung der Politik unerlässlich sein. Dies erfordere eine umfassende Analyse in den Folgeabschätzungen einschließlich einer Bewertung der Sanktionsregelungen der Mitgliedstaaten im Hinblick darauf, ob sie zu dem gewünschten Ergebnis führen. Zudem gelte nach der Grundrechtscharta die ausdrückliche Forderung, dass das „Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig“275 sein dürfe. Die Sanktion müsse daher auch der Schwere der Tat und deren Auswirkungen entsprechen.276 Damit markieren Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einerseits eine Obergrenze für die jeweilige Sanktion, anderseits hat der EuGH in mehreren Fällen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit auch als Untergrenze einer Sanktionspflicht verstanden. Die Mitgliedstaaten müssten „alle geeigneten Maßnahmen (…) treffen, 272  ABl. (EU) 2006/C 210/02, Nr. 30. Daneben kann die Kommission bei einem Verstoß gegen Art. 101 und 102 AEUV in „bestimmten Fällen (…) eine symbolische Geldbuße verhängen“. Welche Fälle damit gemeint sein könnten, wird nicht ausgeführt, vielmehr heißt es nur: „Die Gründe sind in der Entscheidung darzulegen“. ABl. (EU) 2006/C 210/02, Nr. 36. 273  Mitteilung der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 2. 274  Mitteilung der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 2. 275  Art. 49 der Charta der Grundrechte der EU. 276  Mitteilung der Kommission KOM(2011) 573 end., S. 7 ff. Vgl. auch EuGH v. 11.11.1981, Rs. 203/80, Slg. 1981, 2595 Rn. 27. s. a. Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015) Kapitel 7 Rn. 41 ff. (insbes. Rn. 42).

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

um die Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewähr­ leisten“.277 So sei der den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung eingeräumte Beurteilungsspielraum nicht gemeinschaftskonform wahrgenommen, wenn der nationale Gesetzgeber die Bedeutung des zu schützenden Gemeinschaftsinteresses oder das Gewicht des Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht augenscheinlich verkenne.278 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dient damit als Korrektiv sowohl für die Wirksamkeit als auch für die Abschreckungswirkung der Sanktion und verbindet sich zugleich mit ihnen. Hinsichtlich der Bestimmung einer Obergrenze der Sanktion setzt die Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Schwere der Tat, den Merkmalen der Wirksamkeit und Abschreckung Schranken. Das Strafrecht muss insoweit ultima ratio sein. Als Untergrenze dient das Verhältnismäßigkeitsprinzip aber zugleich auch der Wirksamkeit der Strafandrohung. Denn eine solche könne nur dann wirksam auf den Schutz der Unionsziele wirken, wenn sie tatsächlich in der Lage sei, aufgrund der Androhung eines bestimmten Strafmaßes eine abschreckende Wirkung zu entfalten. Deutlich zusammengefasst wird die Aufgabe des Strafrechts auf europäischer Ebene am Ende der Mitteilung der Kommission vom 26.5.2011 hinsichtlich des Schutzes der finanziellen Interessen der Union. Danach sei die „Vision für das Jahr 2020“ die „Ergreifung der erforderlichen Maßnahmen auf straf- und verwaltungsrechtlichem Gebiet zur Minimierung von gegen den EU-Haushalt gerichteten widerrechtlichen Handlungen“. Konkret soll dies „eine Politik der ‚Nulltoleranz‘ gegenüber zu Lasten des EU-Haushalts gehenden Betrugsdelikten“ bedeuten. „Ziel der EU muss es sein, durch eine zügige, die abschreckende Wirkung verstärkende Abwicklung von Strafverfahren und Bestrafung in der gesamten EU einen wirksamen, angemessenen Schutz ihrer finanziellen Interessen zu erreichen. Zu diesem Zweck müssen Steuergelder unter voller Nutzung der im Vertrag von Lissabon festgeschriebenen Möglichkeiten durch eine verbesserte, nicht an Landesgrenzen Halt machende Strafverfolgung und durch gemeinsame strafrechtliche Mindestvorschriften EU-weit gleichwertig geschützt werden.“279 In diesen Zeilen wird auch deutlich, dass verbunden mit dem Ziel einer wirksamen und abschreckenden Strafbestimmung das Strafverfahren vor277  EuGH v. 21.9.1989, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 (= NJW 1990, S. 2245 [2246]) – „Griechischer Maisfall“; EuGH v. 2.10.1991, Rs. C-7/90, Slg. I-4371 Rn. 11 – Vandevenne; vgl. auch Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl., Kapitel 7 Rn.  37 ff.; 65 ff. 278  EuGH v. 2.10.1991, Rs. C-7/90, Slg. I-4371 Rn. 11; vgl. hierzu auch Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 7 Rn. 65. 279  KOM(2011) 293 endg. S. 14.



D. Erweiterung der Staatsstrukturprinzipien zu unionalen Grundsätzen237

nehmlich auf Effektivität ausgerichtet und aus diesem Grund europäisiert werden müsse. Diese Aussage erinnert an Beccaria, der auf die Notwendigkeit einer Internationalisierung zur Verbrechensbekämpfung hingewiesen hatte: Es ist ein „höchst wirksames Mittel“, Verbrechen zu verhindern, wenn nicht „eine Spanne Landes zu finden sei, wo wirkliche Verbrechen straflos blieben“.280 2. Das Anliegen der Union, neue Kriminalitätsfelder (z. B. grenzüberschreitende Straftaten) und Kriminalitätsformen (z.  B. Betrügereien zum Nachteil der Europäischen Union, Korruption) zu bekämpfen, ist berechtigt. Es mag auch sein, dass die Unterschiede im Bereich besonders schwerer Kriminalität wie z. B. Menschenhandel, sexueller Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie, zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten jedenfalls nicht in der grundlegenden Frage der Strafwürdigkeit bestehen. Für eine Begründung des Strafrechts auf europäischer Ebene genügt jedoch nicht eine auf bloße Faktizität und Effektivität gegründete Behauptung. Antworten auf Rechtsfragen lassen sich nicht in bestehenden politischen Handlungsinstrumentarien und auch nicht in ökonomischen Analysen finden.281 Der „unionale Strafrechtsbegriff“ reduziert seinen Zweck auf die Abschreckung und Wirksamkeit des materiellen Strafrechts bzw. im Rahmen des Strafverfahrens auf die Effektivität der Verbrechensbekämpfung. Damit entfernt er sich von den Überlegungen, wie sie jedenfalls im Hinblick auf das staatliche Strafrecht im 1. Teil der Arbeit unter dem Aspekt eines demokratisch-republikanisch verfassten Staates als notwendig ausgewiesen wurden. Bereits der Ausgangspunkt war ein anderer. Das wurde insbesondere bei der Darstellung der Kantischen Straftheorie deutlich. Entscheidend war nicht die Frage der Wirksamkeit und die Effektivität bezogen auf einen bestimmten, vom Staat vorgegebenen Zweck, sondern es standen vielmehr Gerechtigkeitsfragen oder anders ausgedrückt Freiheitsfragen im Zentrum. Der Sinn der Strafe soll im Ausgleich begangenen Unrechts bestehen. Der Strafzweck knüpft damit unmittelbar an die Tat an. Die Unrechtstat wiederum bestimmt sich nach der Intensität der Freiheitsverletzung und nicht nach der Frage der Wirksamkeit hinsichtlich überindividueller Interessen der Gemeinschaft oder des Staates. Daher kann auch nicht jede Form der Freiheitsverletzung strafrechtliches Unrecht sein, sondern nur eine solche, 280  Beccaria,

Über Verbrechen und Strafen, § 21, S. 125. zur Kritik gegenüber einem funktionalen Strafrecht insgesamt auch Murmann, Kritik des funktionalen Strafrechts, in: Koriath/Krack u. a. (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts (2010), S. 189 ff.; bezogen auf das Europäische Strafrecht Frisch, Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa, in: GA 2009, 385 (403 ff.); Muñoz, Europäisierung des Strafrechts, in: GA 2010, 84 ff. Mylonopoulos, Internationalisierung des Strafrechts und Strafrechtsdogmatik, in: ZStW 121 (2009), 68 ff.; Braum, Europäische Strafgesetzgebung, in: wistra 2006, 121 ff. 281  Vgl.

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2. Teil: Das Aufbrechen der Rechtsform des Staates

die in fundamentaler Weise das Recht, sei es eines Einzelnen, sei es der Gesellschaft oder des Staates verletzt. Allerdings war die Darstellung und damit auch die Bestimmung des Strafrechts im ersten Teil der Arbeit auf das staatliche Strafrecht begrenzt. Bei der Frage nach dem Sinn der Strafe im europäischen Kontext handelt es sich jedoch gerade nicht um die Frage der Zwangsbefugnis seitens eines Staates, sondern um ein Strafrecht auf einer den Staaten übergeordneten Ebene, so dass möglicherweise andere Begründungsschritte erforderlich sind. Da durch die Öffnung des Staates die Möglichkeit besteht, Hoheitsbefugnisse auf europäische Institutionen zu übertragen (Art. 23 Abs. 1 GG) und sich damit auch die im Staat gefestigten Strukturprinzipien verändert haben, könnten diese Änderungen auch Auswirkungen auf die Bestimmung des Strafrechts und seiner Funktion haben. Jedoch genügt es nicht, die Frage nach der Ausgestaltung eines europäischen Strafrechts allein anhand positiver Regelungen oder politischer Verhältnisse zu messen, sondern es ist auf seine Freiheitsverträglichkeit zu prüfen.282 Insofern muss im folgenden 3. Teil der Arbeit der Frage nachgegangen werden, ob es überhaupt legitim ist, strafrechtliche Hoheitsrechte auf Institutionen zu übertragen, die dem Staat übergeordnet sind. Dazu bedarf es aber einer grundlegenden Verhältnisbestimmung vom Einzelnen, Staat und Strafrecht, oder anders ausgedrückt: der näheren Begründung von Rechtslegitimation und Rechtsausübung überhaupt.

E. Ergebnis und Übergang zum 3. Teil der Arbeit Die Darstellung hat deutlich gemacht, dass durch das Aufbrechen staat­ licher Rechtsformen bedingt durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf Europäische Institutionen nicht nur formal Aufgaben und Befugnisse auf eine andere, nichtstaatliche Ebene übertragen wurden. Es wurde auch gezeigt, dass sich innerhalb dieser supranationalen Ebene die in der Ideen­ geschichte herausgearbeiteten Strukturprinzipien im Staat verändert haben. Demokratie und Gewaltenteilung lassen sich auf europäischer Ebene nicht in der Weise wiederfinden, wie sie für einen demokratisch-republikanischen 282  Soll es um die Frage von Rechtsprinzipien im europäischen Strafrecht gehen, genügt es daher auch nicht die positiven Regelungen des europäischen Rechts als Bewertungsmaßstab zu nehmen und dabei die einzelstaatlichen Regelungen außer Acht zu lassen; so aber Schaut, Europäische Strafrechtsprinzipien (2012), S. 2: „Anstatt am Maßstab nationaler Prinzipien den Untergang des aufklärerischen Erbes zu lamentieren, müssen mit zeitgerechter Vernunft (alt?)hergebrachte Prinzipien des materiellen Strafrechts im Sinne einer unionsrechtlichen Gesamtdogmatik auf ihre neue europäische Rolle transponiert werden.“



E. Ergebnis und Übergang zum 3. Teil der Arbeit239

Rechtsstaat herausgearbeitet wurden. Auch dem Strafrecht kommt im Rahmen der Unionstätigkeit vor allem eine die Union sichernde Bedeutung zu. Das Strafrecht wird funktional nach den Interessen und Bedürfnissen des Unionsrechts und seinem Schutz bestimmt. Dies lässt den Perspektivenwechsel erkennen. Während es gerade als Errungenschaft der Neuzeit galt, den freien Einzelnen in den Mittelpunkt zu stellen und von ihm aus das Recht zu bestimmen, begreift die supranationale europäische Union nun den Maßstab für die Rechtssetzung und Rechtsanwendung final gerichtet auf Interessen der EU. Möglicherweise stellt diese Sicht eine erweiternde Per­ spektive für den Einzelnen und die Einzelstaaten dar, möglicherweise geht aber durch den Sichtwechsel der Einzelne auch verloren. Hierzu ist neben dem ideengeschichtlichen Hintergrund eine weitere, grundlegendere Bestimmung erforderlich, in der dargelegt werden soll, ob und inwieweit Staat, Recht und Strafrecht miteinander in Verbindung stehen. Nur wenn aus­ gewiesen ist, dass die Konstitution menschlichen (freien) Handelns mit bestimmten Staatsstrukturprinzipien (wie Demokratie, Gewaltenteilung) zwangsläufig verbunden ist, kann dies Folgen für die hier zu beantwortende Frage haben, ob eine Übertragung von genuin strafrechtlichen Hoheitsrechten auf nichtstaatliche Zusammenhänge legitimerweise möglich ist oder nicht. Dazu ist eine nähere Bestimmung des Begriffs der Freiheit (Autonomie) erforderlich, der in der Arbeit bisher als notwendiger Ausgangspunkt einer freiheitlichen Rechtsverfassung selbst noch nicht begründet wurde. Der Autonomiebegriff ist auch deshalb entscheidend für die Begründung legitimer Zwangsausübung sowohl seitens des Staates als auch seitens überstaatlicher Institutionen, weil seine Analyse – wie im 1. Teil gezeigt wurde – unmittelbare Auswirkungen auf die Bestimmung des Rechtsstaates und damit auch des Strafrechts hat. Sollte sich daher im folgenden 3. Teil he­ rausstellen, dass die im ideengeschichtlichen Hintergrund herausgearbeiteten Prinzipien, wie die der Demokratie und der Gewaltenteilung, vernunftnotwendig für eine legitime Rechtsbegründung und -ausübung und damit auch der Strafrechtsbegründung sind, müssen sie Gültigkeit für jede Form der Ausübung von Hoheitsrechten haben. Die Ausübung strafrechtlicher Hoheitsrechte durch supranationale Institutionen der Europäischen Union, wie sie z. T. schon im Rahmen des Strafrechts im weiteren Sinne bestehen bzw. nach dem Vertrag von Lissabon auch auf das Strafrecht im engeren Sinne ausgedehnt werden könnten, wären dann kritisch zu prüfen. Sollte sich demgegenüber erweisen, dass die genannten Strukturprinzipien und auch das Strafrecht nicht zwingend an den Staat gebunden sind, sondern auf andere überstaatliche, europäische Institutionen in modifizierter Weise übertragbar sind, ist näher zu klären, wie ein europäisches Strafrecht legitim auszugestalten ist.

3. Teil

Die Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung und ihres Strafrechts A. Einleitung: Die Freiheit des Einzelnen als Grund des Rechts Im Rahmen des ideengeschichtlichen Hintergrundes staatlicher Herrschaftsformen wurde dargelegt, dass mit der Aufklärung eine gedankliche Strömung begründet wurde, die den selbstbestimmten Einzelnen zum Ausgangspunkt praktisch-philosophischer und rechtlicher Fragestellungen machte. Im Folgenden soll insbesondere an die Ausführungen Immanuel Kants zum Begriff der Freiheit und seiner Bedeutung für das Recht und damit auch für das Strafrecht erinnert und angeknüpft werden. An einem Freiheitsbegriff überhaupt anzusetzen, wird jedoch von Neurobiologen und Neurophysiologen der grundlegende Einwand entgegengehalten, dass ein freier Wille nicht existiere und daher im Recht nicht mit ihm operiert werden könne. Auch wenn ihre Untersuchungsergebnisse auf neuen Experimenten beruhen, so ist doch die Behauptung, dass der Mensch natur-kausal determiniert ist, nicht neu, sondern wurde z. B. schon im sog. naturalistischen Positivismus bereits Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert thematisiert und bildete die Grundlage für die sog. moderne Schule von Liszts, der das Verbrechen und die Strafe „kausal“ zu erklären versuchte.1 Die moderne Hirnforschung beschreibt die Willensfreiheit als „Gefühl“ und erklärt das Verhalten des Einzelnen als kausal-determiniert.2 Das Frei1  Vgl. zu diesem Zusammenhang Murmann, Kritik des funktionalen Strafrechts, in: Koriath/Krack u. a. (Hrsg.) Grundfragen des Strafrechts (2010), S. 189 (193 f.). Siehe zur Lehre von v. Liszt die Ausführungen im 1. Teil der Arbeit unter E. II. 2. Vgl. im 18. Jahrundert bereits das Buch von La Mettrie, Der Mensch als Maschine (1748). 2  Vgl. Roth, Willensfreiheit, Verantwortlichkeit und Verhaltensautonomie des Menschen aus Sicht der Hirnforschung, in: FS-Lampe (2003), S. 43 ff. Interessanterweise scheinen sich die vom Determinismus überzeugten Autoren selbst vom selbigen auszunehmen. Zu Wahrheiten könnten sie mit ihren Forschungen bzw. der Auswertung empirischer Versuche nicht kommen, da sowohl der Entschluss zu



A. Einleitung: Die Freiheit des Einzelnen als Grund des Rechts241

heitsbewusstsein des Einzelnen weist danach einen bloßen Placebo-Effekt auf, denn nach der Hirnforschung sind es kausale, neurophysiologische und neurobiologische Abläufe im Gehirn, die die Handlung bestimmen und nicht der freie Entschluss des Einzelnen.3 Nach einem solchen deterministischen Verständnis wäre ein demokratisches Staatssystem sinnlos, denn die Bürger wären danach nicht in der Lage, einen freien Wählerwillen zu bilden. Auch die in der Verfassung normierten Freiheitsrechte des Einzelnen, soweit sie auf der Willensfreiheit beruhen, sind nicht legitimierbar.4 Auch das Strafrecht verlöre bei einem deterministischen Verständnis des Einzelnen insgesamt seine Berechtigung. Bereits dem Täter selbst könnte die Tat nicht als eine von ihm ins Werk gesetzte und ihm vorwerfbare Handlung zugerechnet werden. Ebenso wenig könnten Staatsanwälte und Richter eigenständige Entscheidungen hinsichtlich einzelner Eingriffsmaßnahmen gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten treffen, sondern fungierten lediglich als „Durchlaufstationen fremder Kausalfaktoren“5. Ausgangspunkt der Neurowissenschaften ist es, Freiheit empirisch beweisen bzw. widerlegen zu wollen. Die Erkenntnis von Freiheit ist nun aber keine rein empirische, wie sich in der folgenden Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff zeigen wird. Damit soll nicht geleugnet werden, dass hinsichtlich der konkreten Einzelhandlung gerade auch empirische Faktoren eine Rolle spielen, wie soziale Umstände, die Lebensgeschichte oder auch neuronale und psychische Gegebenheiten. Neben den empirischen Bedingtheiten ist der Mensch aber ebenso vernünftiges Wesen und in der Lage, von äußeren Umständen unabhängig zu denken und zu handeln. Diese beiden Seiten (die empirische und die intelligible) menschlichen Denkens und Hanforschen als auch die Untersuchungen selbst und ihre Ergebnisse nicht frei, sondern natürlich determiniert wären. Dennoch behaupten die Autoren, dass ihre Aussagen wissenschaftlich erwiesen sind und ernst genommen werden sollen. Vgl. nur Schiemann, Kann es einen freien Willen geben?, in: NJW 2004, 2056 ff. und die Erwiderung von Rath, Freiheit der Hirnforschung, in: ZRph 2004, 164, der zutreffend die Konsequenz zieht: „Ist der Mensch nicht willensfrei, so sind auch die Hirnforscher nicht willensfrei. Diese sind dann, wie alle Menschen, durch äußere wie innere Wirk­ursächlichkeiten, durch Umwelteinflüsse und psychische Dispositionen, in ihren Entscheidungen und Verhältnissen festgelegt. Dann aber muss ernsthaft davon ausgegangen werden, dass die Hirnforscher (…) dazu determiniert sein können, die Unwahrheit über ihre Forschungsergebnisse mitzuteilen; wofür sie gewiss nicht verantwortlich wären.“ Vgl. zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Hirnforschung ders., Aufweis der Realität der Willensfreiheit (2009), S.  87 ff.; Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen (2007), S. 371 ff. 3  Vgl. die Kritik Stübingers, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008), S. 346, 372; Murmann, Kritik des funktionalen Strafrechts, in: Koriath/Krack u.  a. (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts (2010), S. 189 (192 ff.). 4  So auch Rath, Aufweis der Realität der Willensfreiheit (2009), S. 31 f. 5  Rath, Aufweis der Realität der Willensfreiheit (2009), S. 31.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

delns sind nicht als getrennte Teilaspekte, sondern als Einheit einer einzelnen Person zu begreifen. Die Einheit des Subjekts als endliches, naturhaftes, aber auch zugleich intelligibles Wesen wird deutlich, wenn man sich die Form menschlichen Handelns vergegenwärtigt. Das (Straf-)Recht selbst betrifft Handlungen, wie z. B. den Abschluss von Verträgen oder Körperverletzungen, ebenso wie die Tätigkeit der Exekutive oder Judikative. Auch eine europäische Rechtsverfassung muss das Handeln des Einzelnen zur Grundlage nehmen, denn auch in ihr müssen Ausgangspunkt und Ziel des Rechts die einzelnen Bürger bleiben, sollen europäische Institutionen nicht Ausdruck bloßer Machtpolitik sein. So begreifen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowohl nach innen als auch nach außen als Rechtsstaaten und zwar deshalb, weil sie diese Staatsform mit der Freiheit des Einzelnen verbinden. Auch die Union selbst versteht sich als eine Gemeinschaft, deren Grundlage das Recht ist. So heißt es beispielsweise6 in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte (…). Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten (…) gemeinsam.“ Der Begriff des Rechts wird damit im Vertrag von Lissabon als einer verstanden, der mit bestimmten objektiven, die Einzelstaaten verbindenden Vorstellungen verknüpft ist.7 Diese sind nicht bezogen auf einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft, auf eine elitäre Minderheit, sondern haben ihre Wirklichkeit in der Gemeinschaft der Einzelstaaten und auch in der Europäischen Union überhaupt. Es sind gemeinsame objektive Grundbestimmungen, auf denen die Mitgliedstaaten je für sich und ebenso ihre Gemeinschaft, die Europäische Union, ruhen. Damit ist diese nicht eine bloß zufällige Zweckgemeinschaft, sondern eine Rechtsgemeinschaft, die sich auch am Begriff des Rechts messen lassen muss. Schon der Vertrag der Europäischen Union weist somit darauf hin, dass der Begriff des Rechts nicht rein positivistisch verstanden wird, sondern mit ihm bestimmte, wie der Vertrag sagt, „Werte“8 verbunden sind, 6  Vgl. auch die Präambel des Vertrages der Europäischen Union; vgl. ferner Art. 67 Abs. 1 AEUV: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, …“. 7  Vgl. hierzu auch die Präambel: „Seine Majestät der König der Belgier, ihre Majestät die Königin von Dänemark usw. (…) schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, (…) haben beschlossen, eine Europäische Union zu gründen (…).“ 8  Vgl. treffend zur Kritik gegenüber dem Wertbegriff Luf, Zur Problematik des Wertbegriffs in der Rechtsphilosophie, in: Holzleithner/Somek (Hrsg.), Freiheit als



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht243

die einzelnen Normen vorgelagert sind. Die Begriffe der Menschenwürde, der Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit sind keine technischen Arbeitsbegriffe, sondern solche, die ihren Grund im praktisch handelnden Subjekt haben. Lassen sich beim menschlichen Handeln Prinzipien aufweisen, müssen sich diese in der Rechtsbegründung wiederfinden.9 Im Folgenden soll zunächst der Begriff der Freiheit näher beleuchtet und seine Bedeutung für das Recht herausgearbeitet werden (unter B.), um darauf aufbauend die Begründung eines freiheitlichen Staatsverständnisses aufzuweisen (unter C.). Anschließend ist die Notwendigkeit einer staatlichen Rechtsstrafe darzulegen (unter D.).

B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht In der Kritik der reinen Vernunft hat Kant die Denkmöglichkeit von Freiheit aufgezeigt.10 Darauf aufbauend legt er in der praktischen Philosophie dar, dass Freiheit „als Eigenschaft des Willens aller vernünftiger Wesen vorausgesetzt werden“ muss:11 Freiheit ist denknotwendig. Der Freiheitsbegriff in der praktischen Philosophie Kants wurde in rechtswissenschaftlichen Arbeiten, vor allem in strafrechtlichen Untersuchungen, immer wieder aufgewiesen,12 so dass im Folgenden vornehmlich die für die Arbeit wesentlichen Gesichtspunkte herauszustellen sind.

Rechtsbegriff, (2008), S. 95 ff. Vgl. zur Kritik gegenüber dem Wertbegriff im Rahmen des EUV die Ausführungen im 5. Teil der Arbeit unter B. 2. 9  Kant selbst hat schon in der „Kritik der reinen Vernunft“ darauf verwiesen, dass auch die Prinzipien des Rechts synthetisch aus Begriffen zu entwickeln sind: „Es ist ein alter Wunsch, der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird: daß man doch einmal, statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze, ihre Prinzipien aufsuchen möge; denn darin kann allein das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplifizieren“ (KrV, B 358). Vgl. hierzu auch Höffe, Der „kategorische Rechtsimperativ“, in: ders. (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 41 (45). 10  Vgl. hierzu näher Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Teil 2, 1967, S.  334 ff.; Hinske, Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, in: Trierer Theologische Zeitschrift 109 (2000), 169 (189 f.); s. a. Verf., Kriterien der Abgrenzung (2003), S.  140 ff. 11  Kant, GMS AB 99. 12  Vgl. nur aus neuerer Zeit Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005); Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen (2007); Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht (2008); Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse (2007); ebenso Verf., Kriterien der Abgrenzung (2003).

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

I. Der kategorische Imperativ als Seins- und Erkenntnisgrund von Freiheit Anders als Naturgegenstände, die nach Kausalität wirken, hat der Mensch das Vermögen, „nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen.“13 Jeder Mensch – und das unterscheidet ihn gerade von der Natur – weist einen solchen Willen auf. Der Einzelne ist in der Lage, eine Idee des sittlich Guten oder des Richtigen zu bilden. Selbst wenn die Wirklichkeit ihm keine Anschauung hiervon bietet, so bleibt die Idee des Guten bestehen. Der Einzelne kann eine Bewertung der Lebensverhältnisse vornehmen und seinem Handeln damit einen Maßstab geben. Begriffe wie „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“ lassen sich nur erklären, wenn das Subjekt eine Vorstellung von ihnen hat. Es ist in der Lage, Beurteilungen seiner und anderer Handlungen vorzunehmen, d. h. es kann sich von den in der Außenwelt gegebenen Gesetzen lösen. Fraglich ist jedoch, woran die Güte eines Willens zu erkennen ist bzw. welches oberste Prinzip ein solcher Wille haben müsste. Ein solches könnte zunächst in den Glückseligkeitsgrundsätzen zu finden sein. Denn diese bilden ein alle Menschen verbindendes Element, da sie alle danach streben, glücklich zu sein. Allerdings ist die Antwort auf die Frage, was den je Einzelnen glücklich machen könnte, einerseits von Person zu Person unterschiedlich und andererseits so unbestimmt, dass sich die zur Glückseligkeit führenden Wünsche selbst widersprechen können. Sie können allein aus der Erfahrung entlehnt werden und sind damit auch von ihr abhängig. Um zu einem allgemeingültigen Schluss zu kommen, bräuchte der Einzelne eine Allwissenheit in der Form, dass er die Wirkungen seines Handelns in allen Einzelheiten überschauen können müsste, aufgrund seiner Endlichkeit ist er aber dazu gerade nicht in der Lage: „Nun ist’s unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? (…) Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewissheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also 13  Kant,

GMS, BA 36.



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht245

nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen.“14 Das aufzufindende oberste Prinzip moralisch richtigen Handelns kann daher nicht in empirischen Glückseligkeitsbestimmungen liegen, sondern muss gerade unabhängig von jeder Erfahrung sein. Das zu findende Prinzip muss also apriorisch einsehbar sein und darf keine Allwissenheit hinsichtlich der Erfahrungszusammenhänge erfordern. Es kann nicht aus der Erfahrung entlehnt werden, sondern muss aus der Vernunfterkenntnis selbst folgen. Es muss zum einen ein Prinzip sein, welches den Einzelnen unbedingt, d. h. unabhängig von seinen inneren Bedürfnissen nötigt, also eine unbedingte Pflicht formuliert. Zum anderen darf das Prinzip nicht den empirischen Erfolg (denn davon soll es ja gerade unabhängig sein), sondern muss den Beweggrund zum Gegenstand haben, der der Handlung zugrunde liegt. „Ich brauche nicht das Ergebnis einer Handlung abzuwarten, um entscheiden zu können, ob sie moralisch gut oder schlecht war; ich brauche nur das Motiv zu kennen, das zu ihr geführt hat.“15 Kant nennt diese subjektive Triebfeder „Maxime“, als das „subjektive Prinzip zu handeln“, welches „die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß (…) bestimmt, (enthält), und (…) also der Grundsatz (ist), nach welchem das Subjekt handelt“.16 Schließlich soll das alle Menschen bindende und verbindende Prinzip Allgemeingültigkeit haben, insofern ist es ein p ­ raktisches Gesetz, d. h. ein objektives Prinzip, „gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Imperativ“.17 Aus der Vernünftigkeit des Einzelnen folgt die Möglichkeit der Vorstellung guten, moralischen Handelns. Aus der Einsicht des Einzelnen in seine Endlichkeit einerseits und der daraus folgenden nötigenden Pflichtbestimmung andererseits sowie der Notwendigkeit der Verallgemeinerbarkeit des Prinzips, ergibt sich das moralische Gesetz als ein kategorischer Imperativ. „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“18 Die Wendung „durch die Maxime“ bringt zum Ausdruck, dass es ein selbstgesetztes, aber eben auf die Allgemeinheit gerichtetes Gesetz ist, welches mehr ist als Wünsche oder Lustvorstellungen 14  Kant, GMS, BA 46 f. Hervorhebung durch die Verf.; vgl. auch Hinske, Die „Ratschläge der Klugheit“ im Ganzen der Grundlegung, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 4. Aufl. (2010), S. 131 ff. 15  Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (1974), S. 113. 16  Kant, GMS, BA 51 Fn.; vgl. näher zum Begriff der Maxime Höffe, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: ZphF 31 (1977), 354 (357 ff.). 17  Kant, GMS, BA 51 Fn. 18  Kant, GMS, BA 52.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

des Einzelnen. Es geht nicht um subjektive Bedürfnisse oder Zwecksetzungen und ist daher auch nicht mit der sog. Goldenen Regel („Was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch!“ oder „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“)19 gleich zu setzen, sondern das subjektive Prinzip („Maxime“) ist auf die Allgemeinheit bezogen zu formen.20 Kant grenzt den unbedingt gebietenden kategorischen Imperativ von hypothetischen Imperativen ab, die zwar auch das Handeln des Einzelnen bestimmen, jedoch abhängig sind von den Zwecken und Bedürfnissen des jeweils Handelnden. Sie gebieten daher nicht kategorisch, sondern nur hypothetisch. Die hypothetischen Imperative zeigen nur, „daß die Handlung zu irgend einer möglichen oder wirklichen Absicht gut sei. Im erstern Falle ist er ein problematisch, im zweiten assertorisch-praktisches Prinzip. (…) Alle Wissenschaften haben irgend einen praktischen Teil, der aus Aufgaben besteht, dass irgend ein Zweck für uns möglich sei, und aus Imperativen, wie er erreicht werden könne. Diese können daher überhaupt Imperativen der Geschicklichkeit heißen. Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind in sofern von gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken.“21 In der Zwecksetzung liegt die Auswahl des für ihn erforderlichen Mittels.22 In den hypothetischen Imperativen wird eine Seite menschlichen Handelns deutlich: die Finalstruktur des Handelns. Der Einzelne setzt sich bestimmte Ziele, die er mit bestimmten Mitteln erreichen kann. Ein solches Verhalten lässt aber ein anderes Urteil von richtig oder falsch, wahr oder unwahr, zu. Die Handlungsmöglichkeit des Einzelnen bleibt insoweit unterbestimmt, weil sie ihn auf ein bloßes „Zweck-MittelWesen“ reduziert („Wenn Du A willst, musst Du B tun“)23. Allgemeinheit kann aus ihm nicht geschlossen werden. Die hypothetischen Imperative sind nur Teilausschnitte des menschlichen Handlungsvermögens, die für die Frage des richtigen Verhaltens gegenüber anderen keine gültigen Aussagen 19  Vgl. zur Geschichte der sog. Goldenen Regel in der Zeit der Aufklärung und ihren unterschiedlichen Fassungen Hruschka, Kant und der Rechtsstaat (2015), S.  211 ff. 20  Vgl. auch Städtler, Immanuel Kant. Probleme praktischer Philosophie, S. 14 (abgerufen am 16.09.2016). 21  Kant, GMS, BA 40 f. 22  Kant, GMS, BA 45; s. hierzu näher Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1988), S. 61. 23  Städtler, Immanuel Kant. Probleme praktischer Philosophie, S. 9 (abgerufen am 16.09.2016).



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht247

treffen können. Demgegenüber zeugt der kategorische Imperativ davon, dass der Einzelne eine Perspektive einnehmen kann, in der er nicht nur sich selbst und seinen Handlungszweck, sondern gerade auch die Allgemeinheit in sein Denken mit aufnehmen kann, ohne sich dabei zu verlieren. Er kann aus seiner subjektiven Stellung eine Objektivität erkennen und dieser gemäß handeln. Kant spricht daher im Rahmen des kategorischen Imperativs nur von einem einzigen (im Gegensatz zu den hypothetischen Imperativen), der allgemein-gültig ist. Hegel hat der Pflichtenlehre Kants, die im kategorischen Imperativ ihren Ausdruck findet, „leeren Formalismus“ vorgeworfen und dass er die „moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen“ heruntersetze. So schreibt er in der Rechtsphilosophie: „Von diesem Standpunkt aus ist keine immanente Pflichtenlehre möglich; man kann von außen her wohl einen Stoff hereinnehmen und dadurch auf besondere Pflichten kommen, aber aus jener Bestimmung der Pflicht, als dem Mangel des Widerspruchs, der formellen Übereinstimmung mit sich, welche nichts anderes ist als die Festsetzung der abstrakten Unbestimmtheit, kann nicht zur Bestimmung von besonderen Pflichten übergegangen werden, noch wenn ein solcher besonderer Inhalt für das Handeln zur Betrachtung kommt, liegt ein Kriterium in jenem Prinzip, ob er eine Pflicht sei oder nicht. Im Gegenteil kann alle unrechtliche und unmoralische Handlungsweise auf diese Weise gerechtfertigt werden.“24 Hegel unterschätzt hier die Leistung Kants. Dieser weist mit dem kategorischen Imperativ dem Denken eine bestimmte notwendige Form zu, soweit es um Handlungsprinzipien geht. Das bedeutet aber nicht, dass es sich um ein inhaltsleeres („formalistisches“) Prinzip handelt.25 So übersieht Hegel, dass die Form des kategorischen Imperativs einerseits bereits eine Inhaltsbestimmung in sich trägt26 und andererseits der Verweis auf die Allgemeingesetzlichkeit der Maximenbildung ein materielles Kriterium angibt: Die Freiheit des Einzelnen im Verhältnis zu anderen ist in ihm notwendig enthalten. Schließlich macht der Begriff des Wollens deutlich, dass es um ein konkretes Subjekt in einer konkreten Situation geht, von dem eine richtige (vernunftgemäße) Entscheidung gefordert wird.27 Dies zeigen die vier Bei24  Hegel,

Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 135. hierzu auch Oberer, Sittlichkeit, Recht und Ethik bei Kant, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), 259 (261 f.). 26  Vgl. hierzu sogleich unter 3. 27  Vgl. zur Formalismuskritik Hegels an Kant auch v. Freier, Kritik der Hegelischen Formalismusthese, in: Kant-Studien 83 (1992), S. 304 ff.; Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Bd. 2 (2000), S. 34 ff.; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 144 f. 25  Siehe

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

spiele, die Kant zur Verdeutlichung anbringt, von denen im Folgenden zwei aufgezeigt werden sollen. Im ersten hier zu behandelnden Beispiel weist Kant auf, dass sich jemand selbst in Widerspruch setzen muss, wenn er ein Versprechen abgibt, obwohl er weiß, dass er es nicht halten kann oder wird: Jemand, der sich in Geldnot befindet, leiht sich Geld bei einem anderen mit dem Versprechen, es zurück zu zahlen (denn sonst, glaubt er, würde ihm kein Geld geliehen), obwohl er weiß, dass er dies nicht einlösen wird. Kann ein solches „Versprechen“ aus meiner persönlichen Not heraus als ein allgemeines Gesetz gelten? Die Antwort ist nein. „Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgeben lachen würde.“28 In dem Beispiel geht es nicht um die Beschreibung eines empirischen Phänomens, was geschieht, wenn jemand sein Versprechen in einer bestimmten Situation nicht hält, wie Verlust von Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft überhaupt. Es geht Kant vielmehr um das Aufsuchen eines subjektiven, aber verallgemeinerungsfähigen Grundsatzes der Willensbestimmung. Es geht ihm darum, dass die allgemeine Willensbestimmung, ein falsches Versprechen abzugeben, das Versprechen selbst und auch den mit ihm intendierten Zweck denk-unmöglich macht. Eine solche Willensbestimmung steht in einem logischen Widerspruch. Unabhängig von der Frage, aus welcher empirischen Motivation heraus, welchen Zweck jemand verfolgt, wenn er ein falsches Versprechen abgibt, setzt er sich selbst in diesen logischen Widerspruch. Denn einerseits verpflichtet er sich selbst, anderseits liegt seine Absicht gerade darin, sich nicht zu verpflichten. Ein Gesetz lässt sich vom Subjekt nicht konsequent denken, welches angibt, dass eine Selbstverpflichtung zugleich keine Selbstverpflichtung zum Gegenstand hat.29 Der Begriff des Zwecks eines Versprechens meint nicht die innere Motivation (wie z. B. die Not des Einzelnen), sondern der Zweck eines Versprechens liegt darin, es zu halten und sich damit selbst zu verpflichten. Es geht bei der Frage der Allgemeinheit des Gesetzes im kategorischen Imperativ somit nicht um eine Kollision unterschiedlicher Pflichten (aus diesem Grunde ist auch die Rigorismus-Kritik verfehlt30), sondern um die Konkurrenz eines Handelns aus Pflicht oder Neigung. Der Einzelne selbst ist in der Lage zu erkennen, ob ein bestimmtes Handeln in sich widerspruchsfrei ist oder nicht. 28  Kant,

GMS, BA 55. hierzu näher Höffe, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: ZphF 31 (1977), 354 (378 ff.). 30  Vgl. hierzu Verf., Kriterien der Abgrenzung (2003), S. 157 ff. 29  Vgl.



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht249

In einem weiteren Beispiel behandelt Kant die Frage, ob man einem in Not Geratenen helfen soll. Würde man dies verneinen und es zum allgemeinen Gesetz machen, einem in Not Geratenen nicht zu helfen, könnte die Menschheit zwar weiterhin bestehen und es wäre damit möglich, „daß nach jener Maxime ein allgemeines Gesetz wohl bestehen könnte: so ist es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Prinzip als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er, durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde.“31 Auch in diesem Beispiel geht es Kant nicht um empirisch-pragmatische Erwägungen, warum ich einem anderen in einer Notsituation helfen soll, etwa, weil mir sonst auch niemand in einer Notsituation helfen würde, sondern die Hilfspflicht ergibt sich aus den Begriffen der Not und des Wollens. In eine Notsituation geraten kann nur ein endliches Wesen, welches ein Bedürfniswesen ist. Unabhängig von der Herkunft, dem Reichtum, der Körperstärke usw. kann letztlich jeder in Not geraten und auf die Hilfe anderer angewiesen sein, um seine elementaren Bedürfnisse befriedigen zu können. Als Vernunftwesen ist jeder auch fähig, eine solche Notlage zu erkennen und dem Betroffenen in dieser Situation (soweit tatsächlich und persönlich möglich) zu helfen. Endliche Vernunftwesen können somit in Not geraten und sind der gegenseitigen Hilfe fähig, so dass eine solche in Not denkbar ist.32 Zwar ist ein Gesetz widerspruchsfrei denkbar, in dem einem Notleidenden nicht geholfen wird, der Einzelne kann ein solches jedoch nicht widerspruchsfrei wollen. Denn der Einzelne kann kein Gesetz wollen, wenn einerseits sein Wille auf die Erhaltung des Lebens gerichtet ist und er andererseits die Realisierung lebenserhaltender Maßnahmen gegenüber anderen verweigert.33 Der kategorische Imperativ zeigt damit, dass der Mensch in der Lage ist, sich selbst eine Vorstellung von (moralischen) Gesetzen zu machen, nach denen er agiert. Er kann selbst Gesetzgeber sein. Reflektiert er über seine Handlung, kann er Bewertungen dieser vornehmen und – zunächst für sich – zu wahren Erkenntnissen kommen, die seine Handlungen als „gut“ oder „böse“ bestimmen. Die Kritik Hegels, Kants Pflichtenlehre sei bloßer 31  Kant,

GMS, BA 56, 57. Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: ZphF 31 (1977), 354 (382). 33  Höffe, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: ZphF 31 (1977), 354 (383); vgl. hierzu auch Paton, Der kategorische Imperativ (1962), S.  181 f. 32  Höffe,

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

Formalismus und nicht in der Lage, konkrete Pflichten zu begründen, geht daher fehl. Der kategorische Imperativ lässt Inhalte zu, die darauf überprüft werden können, ob die Widerspruchsfreiheit des Willens bzw. des konkreten Wollens gegeben ist. Im moralischen Gesetz scheint zudem zugleich die Freiheit des Einzelnen als „Faktum der Vernunft“ (im Rahmen praktischen Handelns) positiv auf. In der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft stellt Kant daher fest, „daß die Freiheit (…) die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit“ ist. „Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (…) anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.“34 Der kategorische Imperativ ist damit zugleich Seins- und Erkenntnisgrund der Freiheit.35 Der Begriff der Freiheit kommt damit jedem Einzelnen schon kraft seines Menschseins zu und muss nicht erst erworben werden. Freiheit ist ein Faktum der praktischen Vernunft. Die Möglichkeit des Einzelnen, sich an als richtig eingesehenen Gesetzen zu orientieren, zeugt von der Denknotwendigkeit menschlicher Freiheit und damit insgesamt von der Möglichkeit autonomen Handelns.

II. Freie Handlung und praktischer Vernunftschluss Als unbedingtes Handlungsprinzip und zugleich als Ausdruck der Freiheit des Einzelnen wurde der kategorische Imperativ eingeführt. Im Folgenden soll seine Form als ein praktischer Vernunftschluss näher untersucht werden, da Kant selbst in seiner Rechts- und Staatslehre, insbesondere hinsichtlich der Frage der Gewaltenteilung, auf ihn zurückgreift. Ebenso wie der klassische Syllogismus: „(1) Alle Menschen sind sterblich (2) Sokrates ist ein Mensch (3) also: Sokrates ist sterblich“, verbindet der praktische Vernunftschluss einen Obersatz und einen Untersatz zu einer Konklusion. Er weist nach Kant damit zugleich das Prinzip freiheitlicher Denk- und Handlungsleistungen des Einzelnen überhaupt auf. „In einem jeden kategorischen Vernunftschlusse befinden sich drei Hauptbegriffe (termini), nämlich: (1) das Prädikat36 in der Konklusion; welcher Begriff der Oberbegriff (terminus maior) heißt, weil er eine größere Sphäre hat als das Subjekt; 34  Kant,

KpV, Vorrede, A 5 Fn. näher bereits Verf., Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft (2003), S. 155 ff. 36  Vgl. zum Begriff des Prädikats Kant, KrV, B 626 f., A 598 f. 35  s. hierzu



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht251

(2) das Subjekt (in der Konklusion), dessen Begriff der Unterbegriff (terminus minor) heißt; und (3) ein vermittelndes Merkmal (nota intermedia), welches der Mittelbegriff (terminus medius) heißt, weil durch denselben ein Erkenntnis unter die Bedingung der Regel subsumiert wird. Anmerk. Dieser Unterschied in den gedachten terminis findet nur in kategorischen Vernunftschlüssen statt, weil nur diese allein durch einen terminum medium schließen; (…)“.37 Der erste Begriff weist die Bedingung („Prädikat“) auf, während der zweite („Subjekt“) das Bedingte zum Inhalt hat, um beides in einem synthetischen Schluss mit einander zu verbinden („vermittelndes Merkmal“). Der kategorische Imperativ in seiner Grundform („handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“) lässt sich als ein solcher Vernunftschluss in die Begriffe38 einer allgemeinen Gesetzgebung, einer Maxime und den Begriff der Freiheit des Einzelnen unterteilen. Die allgemeine Gesetzgebung (Oberbegriff) stellt die Perspektive auf, von der aus die Maxime als subjektives Prinzip der Handlung (Unterbegriff) zu bestimmen ist. Der Begriff der Freiheit (Mittelbegriff) verbindet Gesetz und Maxime. Bezogen auf das freie praktische Handeln des Menschen lässt sich die Differenzierung auch ausdrücken als Möglichkeit (Obersatz), Wirklichkeit (Untersatz) und Notwendigkeit (Schlusssatz) einer Handlung. Die Möglichkeit liegt in der Aufstellung eines allgemeinen Prinzips, darunter wird die tatsächliche Handlung (Wirklichkeit) subsumiert, aus der wiederum die Notwendigkeit (die Pflicht) einer bestimmten Handlung folgt. Das bedarf einer Ausführung, in der die Begriffe der „Möglichkeit“, „Wirklichkeit“ und „Notwendigkeit“ näher geklärt und mit dem Inhalt des Ober-, Mittel- und Unterbegriffs verbunden werden: „Möglichkeit“ ist das Hervorbringen eines allgemein-gültigen Oberbegriffs, welcher in sich widerspruchsfrei gedacht werden kann und damit unabhängig von der Erfahrung ist. Kant spricht auch von „moralischer Möglichkeit“ des Denkens. Sie muss dem Unterbegriff des „Wollens“ des Einzelnen vorgelagert sein, da sie nicht abhängig sein darf von der Faktizi37  Kant,

Logik Jäsche, § 62, A 192. ist hier substantiell zu verstehen. Er meint bereits ein vernünftiges Begreifen. Abzugrenzen ist er von der „Anschauung“. Während der Begriff eine allgemeine, intellektuelle und logische Vorstellung meint, ist die Anschauung von der Sinnlichkeit und ihrer Unmittelbarkeit zum Objektbezug abhängig. Der Begriff ist „eine allgemeine (repraesentat. per notas communes) oder reflektierte Vorstellung (repraesent. discursiva)“ Kant, Logik Jäsche, A 139; siehe hierzu auch Tretter, Freie Willkür, Freiheit, Recht und Rechtsgültigkeit bei Kant, in: Kant Analysen – Probleme – Kritik, Bd. 3 (1997), S. 201 (205 f.). 38  „Begriff“

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

tät oder dem Interesse des Einzelnen. Das allgemeine Gesetz soll den Maßstab für den Bestimmungsgrund der Handlung angeben. Dieses geht zwar vom Subjekt aus, bezieht sich aber auf das „Allgemeine“. Die Materie des Gesetzes ist damit nicht bloß subjektiv, sondern trägt das Prädikat „allgemein“ in sich und geht damit über die „Sphäre des Subjekts hinaus“.39 Die „Wirklichkeit“ als Unterbegriff unter dem Gesetzesbegriff (Oberbegriff) ist das nach außen gerichtete Handlungsprinzip des Subjekts. Es ist der Grundsatz, nach welchem das Subjekt in die reale Welt hineinwirkt, seine „Maxime“, als das „subjektive Prinzip des Wollens“40, die im praktischen Vernunftschluss unter dem Begriff des allgemeinen Gesetzes steht. Denn nur aus der Übereinstimmung der Maxime mit dem Gesetz folgt die „Notwendigkeit“ einer freien Handlung.41 Die Notwendigkeit der Annahme von Freiheit bildet dabei einerseits die Basis praktischen (vernünftigen) Handelns, ist aber andererseits auch ihre notwendige Folge, wenn die Maxime mit dem allgemeinen Gesetz übereinstimmt. Der kategorische Imperativ ist nicht zweckgebunden und nicht von den Bedürfnissen und Neigungen des Einzelnen abhängig, sondern spricht ein zwingendes, dem Menschen durch sich selbst aufgegebenes Gebot aus. Er verbindet Beweisziel und Beweisgrund miteinander, indem er den Begriff der Freiheit als Grundlage der Willenshandlung nimmt und so die Synthesis des endlichen menschlichen Willens mit einer allgemeinen Gesetzgebung ermöglicht. Das Subjekt kann sich in den Stand eines Gesetzgebers setzen und die eigenen Maximen daraufhin prüfen. Die Freiheit ist damit die „Grund-Handlung der Einnahme des Standes eines Selbstgesetzgebers und begründet insofern auch die ­Situation der Autonomie, die ihrerseits Prinzip von Handlungen ist, die in Freiheit geschehen. Die Stellung des Selbstgesetzgebers ist eine praktische Idee, deren Bedeutung in der wirklichen Grund-Handlung des sich diese Stellung gebenden Willens besteht: Sie ist Idee der Freiheit, welche wirkli39  „Wenn das Gesetz a priori als der Bestimmungsgrund der Handlung, mithin diese als durch reine praktische Vernunft bestimmt, betrachtet werden kann, so ist das Urteil, ob etwas Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei oder nicht, von der Vergleichung mit unserem physischen Vermögen ganz unabhängig, und die Frage ist nur, ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objekts gerichtet ist, wollen dürfen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre, mithin muß die moralische Möglichkeit der Handlung vorangehen; denn da ist nicht der Gegenstand, sondern das Gesetz des Willens der Bestimmungsgrund derselben.“ Kant, KpV, A 101. 40  Kant, GMS, AB 15. Im Gegensatz dazu steht das „objektive Prinzip (d.  i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn die Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) (als) (…) das praktische Gesetz. 41  „Der kategorische (unbedingte) Imperativ ist derjenige (…), der sie (die Handlung) durch die bloße Vorstellung dieser Handlung selbst (ihrer Form), also unmittelbar als objektiv-notwendig denkt und notwendig macht.“, Kant, MdS, Einleitung in die Metaphysik der Sitten, AB 20.



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht253

ches Grundhandeln bedeutet“.42 Die Wirklichkeit der Freiheit erweist sich in der Tätigkeit des reflektierenden Subjekts. Sie ist damit nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern zeigt sich im praktischen Denken, im Wollen, des Einzelnen, welcher durch sein selbstgesetztes Handeln Freiheit realisiert.43 Im kategorischen Vernunftschluss findet die Freiheit des Einzelnen ihren Ausdruck. Der einzelne freie Mensch ist nicht nur auf seine Wahlfreiheit reduziert, sich entweder für das eine oder das andere zu entscheiden, was ihm von außen vorgegeben wird, sondern er ist in der Lage, selbstbestimmt zu handeln, d. h. selbst Grund von in der Wirklichkeit von ihm realisierten Veränderungen zu sein. Der Einzelne kann nach der „Vorstellung von Gesetzen“ agieren. Der kategorische Imperativ weist so die Art des Denkens überhaupt auf, so dass jedes vernünftige Denken und damit auch ein solches über das Recht nach diesem Dreischritt verfahren muss. Denn er legt dem einzelnen Subjekt dar, „wie dieses seine Stellung zu finden habe, um seine Handlungsmaximen zu prüfen und zu wählen und seine Pflicht zu erkennen. Er verpflichtet zum Gebrauch einer Perspektive, in welcher das praktische Denken seine Pflicht erkennen und erfüllen soll. Die Methode, die er dem praktischen Denken befiehlt, ist experimenteller Art: Das Denken soll seine maßgebende Maxime durch das Experiment ihrer Erhebung zu einem allgemeinen Gesetz prüfen.“44 Der kategorische Imperativ verpflichtet damit das einzelne Bewusstsein nicht nur zu einer konkreten Handlung, wie „Hilf’ einem Notleidenden, weil sich dieser in Not befindet“, sondern er gibt auch vor, wie vernünftiges praktisches Denken verfasst sein muss, um konkrete Pflichten zu erkennen und nach ihnen zu handeln.45 Dabei ist der kategorische Imperativ dem Bewusstsein des Einzelnen nicht von außen vorgegeben, sondern liegt selbst im Subjekt und lässt so die Freiheit des Einzelnen erkennen.46 Demgegenüber sind die hypothetischen Imperative auf ein von außen bestimmtes Interesse oder auf einen besonderen Zweck gerichtet. Gleiches gilt daher auch für einen hypothetischen Vernunftschluss. Ein solcher könnte beispielsweise folgender sein: Ein Giftmischer sagt sich, es ist möglich, einen anderen zu töten. Um dieses Ziel umsetzen zu können, muss ich ihn 42  Kaulbach,

Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1988), S. 125. hierzu auch Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1988), S. 126, 151. 44  Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1988), S. 63. 45  Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1988), S. 122. 46  Die Freiheit ist die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber ist die ratio cognoscendi der Freiheit. Kant, KpV, A 5 Fn. Vgl. auch oben unter I. 43  Vgl.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

vergiften. Also ist es notwendig, dass der Giftmischer, wenn er die mögliche Tat in der Realität umsetzen will, einem anderen Gift untermischt. Kant weist darauf hin, dass ein hypothetischer Schluss eigentlich nur aus zwei Sätzen besteht und daher eigentlich kein Vernunftschluss ist. Er ist „vielmehr nur ein unmittelbarer, aus einem Vordersatze und Nachsatze (…) zu erweisender Schluss. (…) Ein jeder Vernunftschluss soll ein Beweis sein. Nun führt aber der hypothetische nur den Beweis-Grund bei sich. Folglich ist auch hieraus klar, daß er kein Vernunftschluß sein könne.“47 Im hypothetischen Imperativ ist nicht der zwecksetzende Wert der Handlung entscheidend, maßgeblich ist allein die Mittel-Zweck-Setzung selbst. Wenn ich diesen oder jenen Zweck erreichen will, bedarf ich hierzu notwendigerweise ein bestimmtes Mittel. Die Zwecksetzung selbst (z. B. Vergiftung eines anderen) setzt bereits die Mittelwahl (Verwendung von Gift) fest. Bei den hypothetischen „Vernunft“-Schlüssen gibt es somit keinen Untersatz, sondern aus dem Obersatz folgt bereits die Konklusion. Der Untersatz ist nur eine Verwandlung der möglichen Bedingung in einen „kategorischen“ Satz.48 „Kategorisch“ hier insofern, als ich zum Erreichen meines mir vorgestellten Zieles, eine bestimmte Handlung vollziehen muss, um es zu erreichen. Hypothetische („Vernunft“)-Schlüsse sind damit bloß relativ und weisen nicht, wie der kategorische Vernunftschluss, ein notwendiges Denkverfahren auf, da sie nicht von dem jeweils gesetzten Zweck oder dem Bedürfnis des Einzelnen abstrahieren. Für den Aufweis von allgemeinen (Rechts-)Prinzipien können sie daher nicht herangezogen werden. Denn das Recht muss ein objektives Prinzip aufweisen, soll es nicht von Zufällen abhängen, sondern sich nach freien menschlichen Handlungsformen bestimmen. Ausgangs- und Zielpunkt des Rechts, also Beweisgrund und Beweisziel, ist die Freiheit des Einzelnen. Der Begriff des Rechts muss daher ebenfalls als ein kategorischer Vernunftschluss zu fassen sein. Auch wenn Kant nicht den Begriff „Rechtsimperativ“ verwendet, so erlauben es seine Struktur und seine Form, den von ihm aufgestellten Rechtssatz als „kategorischen Imperativ“ zu bezeichnen. Das „allgemeine Rechtsgesetz“, der „Rechtsimperativ“, lautet: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“.49 Es sind im Folgenden Inhalt und Bedeutung des Rechtsbegriffs als kategorischer Vernunftschluss näher zu bestimmen.

47  Kant,

Logik Jäsche, A 202. Logik Jäsche, A 202. 49  Kant, MdS, Einl. in die Rechtslehre, § C, AB 34. 48  Kant,



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht255

III. Der Begriff des Rechts Bereits der kategorische Imperativ hat mit dem Begriff der Allgemeinheit des Gesetzes darauf verwiesen, dass der Einzelne trotz seiner Subjektivität nicht nur sich in den Blick nehmen, sondern in sein Denken und Handeln andere Mit-Individuen einbeziehen kann. Im Leben eines jeden wird das Aufeinandertreffen von Subjekten real. Die Menschen existieren nicht je für sich vereinzelt, sondern in einer raum-zeitlichen Gemeinschaft, in die sie schon hineingeboren werden. Sie treffen in ihren äußeren Handlungen aufeinander, so dass nicht ihre Gedanken oder inneren Befindlichkeiten entscheidend sein können, sondern allein das nach außen gerichtete Verhalten der Einzelnen; nur insoweit können sie auch miteinander in Konflikt geraten. Zwar können innere Zwecksetzungen im äußeren Handeln zum Ausdruck kommen; für das Recht bedeutend können sie jedoch nur insoweit sein, als sie sich im äußeren Handeln manifestieren. „Der Begriff des Rechts (…) betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluss haben können.“50 Verbunden mit dem Rechtsbegriff ist das „äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere“. „Praktisch“ ist „alles dasjenige, was Beziehung auf Freiheit hat“.51 Das Recht hat also das äußere, freiheitliche Verhältnis von Personen untereinander zum Inhalt. In den „Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten“ grenzt Kant den Begriff der Person „als dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“52, von dem Sachenbegriff ab, als „ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist“53. Mit „Zurechnung“ ist nicht eine äußere Handlungszuschreibung gemeint. Die Zurechnung ist vielmehr Bestandteil des freiheitlichen Handelns in der Außenwelt, durch welches sich die Person als Vernunftwesen anderen gegenüber ausweist.54 Der Mensch handelt selbstbestimmt und kann daher – anders als ein Tier – für sein Handeln verantwortlich gemacht werden. Daher kann die Frage rechtlichen Handelns auch nur das Verhältnis „einer Person gegen eine andere“ betreffen. Ein rechtliches Ver50  Kant,

MdS, AB 32. Über Pädagogik, A 35. 52  Kant, MdS, AB 22. 53  Kant, MdS, AB 23. 54  „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser Tat bei sich führt, eine rechtskräftige, sonst aber nur beurteilende Zurechnung sein würde“, Kant, MdS AB 29. Siehe zum Begriff der Zurechnung auch MdS, AB 22. 51  Kant,

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

hältnis einer Person zu einer Sache ist nicht möglich. Vielmehr kann ein solches nur über die Person vermittelt werden. Es wird hier schon deutlich, was im Rahmen des Privatrechts als das Recht vom äußeren Mein und Dein von Kant noch näher ausgeführt wird: Rechtlich verbindliche Besitz- und Eigentumsverhältnisse an Sachen können nur interpersonal verstanden werden.55 „Es ist aber klar, daß ein Mensch, der auf Erden ganz allein wäre, eigentlich kein äußeres Ding als das Seine haben, oder erwerben könnte; weil zwischen ihm, als Person, und allen anderen äußeren Dingen, als Sachen, es gar kein Verhältnis der Verbindlichkeit gibt. Es gibt also, eigentlich und buchstäblich verstanden, auch kein (direktes) Recht in einer Sache, sondern nur dasjenige wird so genannt, was jemandem gegen eine Person zukommt (…)“.56 Für das Recht ist damit erstens die vernünftige Struktur des äußeren (freien) Zusammenlebens der Menschen von Bedeutung, „sofern ihre Handlungen als Facta Einfluss haben können“, sofern sie also in der realen Welt auch tatsächlich, sei es unmittelbar oder mittelbar, aufei­n­ andertreffen können. Der Begriff des Rechts bedeutet zweitens „nicht das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des andern, wie etwa Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des anderen“.57 Mit Willkür ist ein vernünftiges, real mögliches, nach außen gerichtetes Handeln gemeint; im Gegensatz zum Wunsch, der gerade nicht auf eine nach außen gerichtete Realisierung gerichtet ist.58 Das Recht kann eine Person daher nur bezogen auf das nach außen gerichtete eigene freie Handeln gegenüber anderen verpflichten. Es kann demgegenüber nicht auf den Wunsch oder das Bedürfnis eines anderen ausgerichtet sein. Schließlich kommt im Recht „(d)rittens (…) nicht die Materie der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung, z. B. es wird nicht gefragt, ob jemand bei der Ware, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vorteil finden möge, oder nicht, sondern nur nach der Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch die hierzu auch näher Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 83. MdS, AB 82. 57  Kant, MdS, AB 32. 58  Sofern das Begehrungsvermögen „mit dem Bewußtsein des Vermögens einer (vernünftigen, Anm. B. N.) Handlung zur Hervorbringung eines Objekts verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus derselben ein Wunsch“. Kant, MdS, AB 5. „Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen“. Kant, MdS, AB 4 f. 55  Vgl.

56  Kant,



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht257

Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse“.59 Für das Recht entscheidend ist damit nicht die subjektive Zwecksetzung des Einzelnen, es müssen vielmehr die äußeren Handlungen widerspruchsfrei miteinander bestehen können.60 Mit Form ist nicht ein inhaltsleeres, „bloß formales“ Recht gemeint, welches jedes positive Recht rechtfertigen könnte. Im Gegenteil: Das allgemeine Rechtsgesetz taugt nur dann als ein solches, wenn es die äußeren Freiheiten in sich widerspruchsfrei aufnehmen kann. Die Freiheit des Einzelnen ist immer mitgesetzt. Freiheit und allgemeines Gesetz bestimmen die Denkbewegung im Sittengesetz, ebenso wie das die äußeren Handlungen betreffende Recht. Damit ist für den Rechtsbegriff als kategorischem Vernunftschluss wiederum die Allgemeinheit des Gesetzes der Oberbegriff, an dem die Handlung als „der freie Gebrauch der Willkür“ (Unterbegriff) zu messen ist, um zum notwendigen Schluss zu gelangen, dass die Freiheit eines jeden (Mittelbegriff) zur Geltung kommen kann. Das Gesetz ist (ebenso wie im Rahmen des kategorischen Imperativs) ein solches, welches „eine Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht“.61 Es handelt sich dabei nicht um ein bestehendes (positives) Gesetz, sondern es liegt im praktisch handelnden Subjekt selbst. Es ist die Möglichkeit des vernünftigen Einzelnen, „nach der Vorstellung von Gesetzen“ zu handeln, ohne dass diese tatsächlich als solche in der Gemeinschaft bestehen müssten. Die Allgemeinheit des Gesetzes bedeutet, dass es sich eben nicht um ein subjektives Prinzip, sondern gerade um eines handelt, welches zwar vom Subjekt ausgeht, in dem dieses aber zugleich die Gemeinschaftlichkeit mit in sich aufnehmen und sich so rechtlich selbstverpflichtend konstituieren kann. Die Quelle der moralischen wie der rechtlichen Gesetzgebung ist die reine Vernunft oder der freie menschliche Wille. Der „freie Gebrauch der Willkür“ hat das äußere (vernünftige) Handeln des Einzelnen zum Gegenstand. Die Willkür bezieht sich damit auf die Realisation von Handlungen in der Außenwelt (Wirklichkeit) und führt so zu Sozialbeziehungen, während der Wille gerade nicht die Handlung selbst zum Gegenstand hat, sondern „vielmehr (…) den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung, betrachtet, und (…) vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund (hat), sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst“.62 „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der 59  Kant,

MdS, AB 33 f. Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut.“ Kant, MdS, A 34. Es ist damit gerade keine rechtliche Forderung. 61  Kant, MdS, AB 13, 14. 62  Kant, MdS, AB 5. 60  „Das

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

Willkür die Maximen.“63 Die Unterscheidung von Wille und Willkür lässt sich auch als gesetzgebende und die ausführende (handlungsbestimmende) Funktion des menschlichen Wollens fassen.64 Der Mensch kann den Grund des Handelns selbst bestimmen, solange dieser durch die Vernunft selbst bestimmt wird, solange der Wille frei ist. Im Rahmen des kategorischen Imperativs wurde die Freiheit bereits als Mittelbegriff, als verbindendes Glied zwischen Gesetzen und Maximen bestimmt. Aus der Übereinstimmung des Gebrauchs der freien Willkür mit dem allgemeinen Gesetz folgt für das Recht die Notwendigkeit des gleichzeitigen Bestehen-Könnens der äußeren Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit des anderen. Daher lässt sich der Begriff des Rechts auch fassen als der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“65 Es geht im Recht um die Realisierung der äußeren Freiheit. Sie wird im Rahmen der Rechtslehre Kants definiert als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“66. Auch wenn der Freiheitsbegriff hier negativ bestimmt wird, ist der positive Freiheitsbegriff, die Autonomie des Einzelnen, zugleich immer mitgesetzt.67 „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.“68 Moralischer Imperativ und Rechtsimperativ haben ihren Grund in der Freiheit des Einzelnen, die zugleich deren Ziel ist. Während der moralische Imperativ auf die Maximen des freien Einzelnen gerichtet ist, betrifft das Recht die äußeren freien Handlungen. Die Freiheit ist das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“.69 Freiheit ist damit kein Recht, welches dem Einzelnen von außen, z. B. durch ein positives Gesetz zugeteilt werden müsste, sondern es ist vielmehr Grund der Zuteilung und Ausübung von Rechten und Pflichten überhaupt. Dieses angeborene Recht ist ein unantastbares Recht und kann auch nicht zur Dispo63  Kant,

MdS, AB 26. Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit, in: Kant – Analysen – Probleme – Kritik (1988), S. 127 (158); siehe hierzu auch Geismann, Recht und Moral in der Philosophie Kants, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), 3 (11). 65  Kant, MdS, AB 33. 66  Kant, MdS, AB 45. 67  Vgl. hierzu auch Zaczyk, Einheit des Grundes, Grund der Differenz von Moralität und Legalität, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), 311 (319). 68  Kant, MdS, AB 48. 69  Kant, MdS, AB 45. 64  Grünewald,



B. Der Begriff der Freiheit und seine Bedeutung für das Recht259

sition gestellt werden, es kann nicht von anderen erworben oder aufgegeben werden, wie z. B. der Besitz und Eigentum von Gegenständen. Es ist die angeborene Gleichheit aller Menschen, d. h. „(…) die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein, imgleichen die eines unbescholtenen Menschen (iusti), weil er vor allem rechtlichen Akt keinem Unrecht getan hat (…)“. Das angeborene Recht kommt „unabhängig von allem rechtlichen Akt jedermann von Natur“ zu.70 Das angeborene Recht umfasst damit die Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit des Einzelnen.71 Von diesem Begriff der Freiheit ausgehend muss dann auch der Begriff des Unrechts und seine Folge bestimmt werden. „Unrecht“ ist „ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst“ als „ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“. Daher ist „der Zwang, der diesem (dem Unrecht, B. N.) entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“72 Der Zwang, der dem Unrecht entgegenwirken darf, kann nur dazu bestimmt sein, die äußeren Freiheiten widerspruchsfrei zu verbinden. Er darf damit nur soweit dem Unrecht entgegengesetzt werden, als er erforderlich ist, um das Recht wieder zur Geltung zu bringen. Aus der Sicht des gezwungenen Einzelnen stellt sich das Recht als mit der Freiheit übereinstimmende Nötigung durch andere dar, so dass das Subjekt damit als freiheitliches bestätigt wird. Das Recht definiert damit den Zwang und nicht umgekehrt.73 „Wenn also gesagt wird: ein Gläubiger hat ein Recht, von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu fordern, so bedeutet das nicht, er kann ihm zu Gemüte führen, daß ihn seine Vernunft selbst zu dieser Leistung verbinde, sondern ein Zwang, der jedermann nötigt, dieses zu tun, kann gar wohl mit jedermanns Freiheit, also auch mit der seinigen, nach einem allgemeinen äußeren Gesetze zusammen bestehen: Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei.“74 Jedoch darf der Gläubiger den Schuldner nicht dazu zwingen, dass er einsichtig ist und deswegen sein Geld zurückzahlt, sondern der Zwang kann – ebenso wie das Recht – nur auf den äußeren Willkürgebrauch gerichtet sein. Er kann den Schuldner nur dazu zwingen, dass er sein Geld zurückzahlt. 70  Kant,

MdS, B. Allgemeine Einteilung der Rechte, AB 45. Staatsrecht nimmt Kant diese drei Elemente im Verhältnis des Einzelnen zum Staat wieder auf. Vgl. unten unter C. II. 72  Kant, MdS, § D, AB 35. 73  Köhler, Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluss an Kant und Fichte, in: Kahlo/Wolff/Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis (1992), S. 93 (105); Dierksmeier, Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff, in: Kants Lehre von Staat und Frieden (2009), S. 42 (48). 74  Kant, MdS, § E, AB 36. 71  Im

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

Mit der allgemeinen Zwangsbefugnis ist hier noch nicht das Strafrecht angesprochen.75 Das ergibt sich schon aus der Systematik, in der sich die Zwangsbefugnis befindet: Es ist die „Einleitung in die Rechtslehre“. In dieser geht es um den Begriff des Rechts überhaupt. Ein solcher kann aber nur dann Bestand haben, wenn ihm bei seiner Negation etwas entgegengesetzt werden kann, nur dann kann das Recht auch wirksam werden. Es geht daher an dieser Stelle zunächst nur um die Verhinderung des Rechtsbruchs durch Zwang bzw. die Wiederherstellung des Rechtszustandes. Das Strafrecht setzt aber schon begrifflich mehr voraus. Es ist zwar auch eine Reaktion auf begangenes Unrecht, aber die Strafe ist nicht auf eine Restitution des Schadens gerichtet, sondern eine Sanktion gegenüber dem Täter aufgrund seiner Tat. Eine solche Sanktion bedarf zur Begründung zusätzlicher Schritte, soll sich das Strafrecht von einer bloßen Rachereaktion des Verletzten unterscheiden.

IV. Zusammenfassung Der Begriff des Rechts ist – wie Kant aufgewiesen hat – mit dem Begriff der Freiheit des Einzelnen unmittelbar verbunden. Es konnte dargelegt werden, dass Freiheit kein Hirngespinst ist, wie in der Hirnforschung zum Teil behauptet wird,76 sondern sich ihre Realität im Handeln des Einzelnen offenbart. Er kann sich – unabhängig von jeder empirischen Erfahrung – zum (moralisch) Richtigen bestimmen. Weiter konnte gezeigt werden, dass sich im kategorischen Imperativ ein objektives Prinzip – ein Denkgesetz – zeigt, welches den Maßstab für prinzipiengeleitete Aussagen überhaupt angibt. Die Struktur des im kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommenden Vernunftschlusses ist dabei nicht statisch, sondern bildet eine kreisförmige Denkbewegung im Subjekt selbst. Kern dieses Kreises ist die notwendige Annahme der Freiheit des Einzelnen oder deutlicher: das selbstbewusste Subjekt, das seine subjektiven Maximen im Untersatz mit der in ihm selbst liegenden Möglichkeit der allgemeinen Gesetzgebung im Obersatz verbindet. Der Begriff der Freiheit ist so notwendig mit objektiven Prinzipien verbunden, die auch für das Recht gelten müssen, soll dieses nicht bloß Zufallsprodukt einer Gemeinschaft sein, sondern die Freiheit ihrer einzelnen Mitglieder in sich aufnehmen. Aus dem kategorischen Imperativ konnte das Rechtsprinzip, der Rechtsimperativ, entwickelt werden. Grundlage des Rechts ist nicht die innere Einstellung, die Triebfeder, die eine Handlung bestimmt, sondern das äußere Verhältnis der 75  Vgl. hierzu näher Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 (406 ff.). 76  s. hierzu die Ausführungen oben unter A.



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung261

Menschen zueinander. „So fern sie (die Gesetze der Freiheit, B. N.) nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch, und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die Legalität, die mit den zweiten die Moralität der Handlung. Die Freiheit, auf die sich die erstern Gesetze beziehen, kann nur die Freiheit im äußeren Gebrauche, diejenige aber, auf die sich die letztere beziehen, die Freiheit sowohl im äußern als innern Gebrauche der Willkür sein, sofern sie durch Vernunftgesetze bestimmt sind.“77 Ein das Recht betreffendes Prinzip muss sich auf das äußere Handeln der freien Einzelnen beziehen. Voraussetzung richtigen Rechts ist ferner, dass es die jeweiligen Freiheiten der Einzelnen zur Geltung bringt. Damit sind Maßstäbe angegeben, an welchen auch die positiven Gesetze zu messen sind. Ist der freie Einzelne Ausgangspunkt und Ziel des Rechts, muss er sich auch im positiven Recht wiederfinden. Damit ist nicht nur eine formale Wahlbeteiligung gemeint, sondern eine materielle Einbeziehung des Einzelnen in das Recht. Denn im Rahmen eines freiheitlichen Rechtsbegriffs geht es um den Rechtsstatus der Person im Ganzen, der nicht nur im Moment der Wahl seinen Ausdruck findet. Daher ist „(e)in gleichheitsgerechter und frei zustande gekommener Mehrheitswille“ mehr als der bloße „Wahlakt“, auf den ihn das Bundesverfassungsgericht letztlich reduziert.78 Im Folgenden ist zu klären, welche Bedeutung – aufbauend auf dem dargelegten Freiheits- und Rechtsbegriff – dem Staat zukommt.

C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich, dass die Staatskonstitution an den Handlungsprinzipien des freien Einzelnen anzusetzen hat. Eine bloß formell-empirische Betrachtung des Staatsbegriffs wie Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt79 genügt insoweit für eine Begründung nicht. Der Staat, soll er ein Rechtsstaat sein, ist auf Prinzipien gebaut und nicht auf äußeren Mauern. Kant bezeichnet den Staat als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“.80 Mit Rechtsgesetzen sind zunächst nicht die positivrechtlichen gemeint, sondern solche, die den oben dargestellten Rechtsbegriff in sich tragen. 77  Kant,

MdS, AB 6, 7. nur das Lissabon-Urteil des BVerfGE 123, 267 (343). Vgl. dazu näher den 2. Teil der Arbeit unter C. III. 79  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (Neudruck 1960), S. 394 ff. 80  MdS, § 45. 78  Vgl.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

Im Folgenden soll die Notwendigkeit einer Verfasstheit der Menschen aus der Perspektive der Einzelnen und ihrem Verhältnis zueinander abgeleitet werden. Die Handlungsstruktur des Subjekts muss den Ausgangspunkt für die Verfassung des Staates bilden. Daher ist es nur konsequent, wenn Kant aus dem Naturzustand (dem sog. Privatrecht) den öffentlichen Rechtszustand ableitet. Das Verhältnis dieser beiden „Zustände“ ist nicht als eine historischzeitliche Abfolge zu verstehen, in dem der Naturzustand einen Anfangszustand darstellt, auf den der Staatszustand folgt, sondern es handelt sich um eine vernunft-logische Abfolge.81 Fragen des Privatrechts sind dem öffentlichen Recht deswegen als gedanklich notwendige voranzustellen, um aufzuweisen, dass es aus interpersonalem Handeln abgeleitete Prinzipien gibt, die auch in einem (Rechts-)Staat weiter gelten müssen. Es soll im Folgenden nicht eine genaue Analyse des Privatrechts nach Kant erfolgen,82 sondern nur insoweit, als sie notwendig ist, die Bedeutung des gedanklichen Übergangs vom Naturzustand zum Staatszustand zu verdeutlichen.

I. Der Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Zustand Das Privatrecht bezieht sich auf das äußere Mein und Dein, auf die erworbenen Rechte, die sich aus dem inneren Mein und Dein ableiten. Der Begriff der „äußeren Rechte“ ist weit zu verstehen. Gemeint ist die Realisierung des Gebrauchs der äußeren Freiheiten in einer Gemeinschaft überhaupt. Es stellt sich die Frage, wie das Recht in einer Gemeinschaft konzipiert sein muss, damit die Freiheit eines jeden in einer gemeinsamen endlichen Welt mit anderen auch tatsächlich zur Geltung kommen kann. Der Begriff des Rechts ist dabei vorstaatlich gefasst. Kant spricht daher auch vom „Privatrecht“. Mit diesem sind nicht die positiven Normen, die die Rechtsbeziehungen von natürlichen oder juristischen Privatpersonen regeln, zu verstehen, sondern es sind diejenigen elementaren aufgrund des Menschseins jedem einzelnen zustehenden (Sachen-)Rechte gemeint, die a priori aus der Vernunft des freien Einzelnen erkennbar und diesem zuzuordnen sind.83 81  Der Begriff des „Zustandes“ ist insoweit missverständlich, als er als ein zeitliches Dasein verstanden werden könnte. Gemeint ist aber eine denknotwendige Verhältnisbestimmung. Vgl. auch Haensel, Kants Lehre vom Widerstandsrecht (1926), S. 38. 82  Siehe hierzu näher Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung (1984), insbes. S.  39 ff.; Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 70 ff.; Köhler, Iustitia distributiva, in: ARSP 79 (1993), 455 (457 ff.); Wawrzinek, Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“ (2009), S. 89 ff. 83  Vgl. auch Fulda, Zur Systematik des Privatrechts in Kants Metaphysik der Sitten, in: Hüning/Tuschling (Hrsg.), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant (1998), S. 141 (143).



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung263

Allerdings weist das Privatrecht zugleich auf die Notwendigkeit eines öffentlichen Rechtszustandes hin, in dem die bestehenden Rechte der Einzelnen gesichert werden können. Denn im Naturzustand existiert keine Institution, welche das Recht für alle verbindlich festsetzt. Die Beurteilung, was Recht und Unrecht ist und die Durchsetzung des Rechts hängen von der jeweiligen Perspektive der Einzelnen ab, so dass das Recht selbst gefährdet ist. Das ist auch dann der Fall, wenn sich alle um das Richtige bemühen. Aufgrund ihrer Subjektivität und damit auch Fehlbarkeit sind sie nicht in der Lage, Recht für alle gültig zu setzen. „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit (…), sondern sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen84) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können (…).“85 Kant formuliert die Notwendigkeit einer staatskonstitutiven Verfasstheit als kategorischen Imperativ: „Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen.“86 Die kopernikanische Wende von Kants Rechts- und Staatslehre liegt darin, dass er die rechtliche Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein nicht erst aus den Festsetzungen im bürgerlichen Zustand oder besonderen Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft entnimmt, sondern gerade umgekehrt vorgeht. Die Rechtsverhältnisse bestehen schon im Privatrecht und sind deshalb notwendige Bedingung für einen Zustand unter einer positiven Gesetzgebung. Das Privatrecht bildet somit das Fundament, genauer: die Legitimationsgrundlage des öffentlichen Rechts.87 Die „Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze notwendig als öffentliche gedacht werden müssen“.88

84  Kant

meint mit „rechtlichem“ Zustand den bürgerlichen Zustand. MdS, A 162 f., B 192 f., § 44. 86  Kant, MdS § 42, A 157, B 156. 87  Römpp, Kants Kritik der reinen Freiheit (2006), S. 136. 88  Kant, MdS, § 41, AB 156. 85  Kant,

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

1. Das Privatrecht und seine drei Hauptstücke Kant unterteilt das Privatrecht in drei „Hauptstücke“, in denen er jeweils auf die Bedeutung eines bürgerlichen Zustandes verweist. Am Ende des Privatrechts, im Anschluss an das dritte Hauptstück folgt ein Abschnitt, der als „Übergang von dem rechtlichen Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt“ bezeichnet wird. Er leitet vom Privatrecht über zum zweiten Teil der Rechtslehre dem „Öffentlichen Recht“. Die Unterteilung in die drei Hauptstücke und ihre Reihenfolge sind wohl überlegt; sie werden in einem „Denk-Dreischritt“ (Vernunftschluss) vollzogen, der sich in der Staatskonstitution wiederfindet. Das erste Hauptstück des Privatrechts weist auf die Möglichkeit des äußeren Mein und Dein hin und konkretisiert ihren Inhalt. Das zweite Hauptstück zeigt auf, dass Gegenstände in einer gemeinsamen endlichen Welt mit anderen nicht im ursprünglichen Besitz einer Person ihren Ursprung haben können, sondern alle Güter erst erworben werden müssen (Wirklichkeit). Das dritte Hauptstück schließt mit der Notwendigkeit einer austeilenden Gerechtigkeit durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit. Alle drei Hauptstücke weisen jeweils schon auf die Notwendigkeit der Staatskonstitution hin, wobei die Gerichtsbarkeit (das letzte, dritte Hauptstück) den Übergang zum rechtlichen Zustand in besonderer Weise kennzeichnet. Zunächst sollen die drei Hauptstücke im Einzelnen kurz vorgestellt werden.89 Im ersten Hauptstück „Von der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben“ zeigt Kant auf, dass es zur äußeren Freiheitsentfaltung des Einzelnen notwendig, ein „rechtliches Postulat der praktischen Vernunft“ ist, dass die Möglichkeit besteht, „einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“.90 Die „subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt ist der Besitz“.91 Das Besitzen eines Gegenstandes umfasst damit das spezifische Verhältnis einer Person zu einem Gegenstand. Da das Haben eines Gegenstandes als Recht aufzufassen ist, kann es nicht allein auf den empirischen Besitz, auf die tatsächliche Zugriffsmöglichkeit eines Gegenstandes ankommen. Entscheidend für die Art des Besitzes ist vielmehr die rechtliche Verbindung des subjektiven Willens mit einem Gegenstand, d. h. der intelligible Besitz.92 Daher ist auch die Verletzung des Besitzrechts durch die Zueignung eines sich im Eigentum eines anderen zum Folgenden insgesamt Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 106 ff. MdS, § 2, AB 56. Vgl. hierzu näher Fulda, Erkenntnis der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe (1999), S.  87 ff. 91  Kant, MdS, AB 55, § 1. 92  Kant, MdS, § 7, AB 69 f. 89  Vgl.

90  Kant,



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung265

befindenden Objekts nicht bloß ein äußeres Ereignis, sondern eine Läsion des Freiheitsrechts (auf Besitz) überhaupt.93 Obwohl der Besitz schon im Privatrecht ein rechtlicher ist, kann dieser doch nur provisorisch sein, da er nicht für alle gültig als legitimer Besitz bestimmt werden kann. Da die Besitzbestimmung nicht nur vom einzelnen Subjekt getroffen werden kann, sondern für alle verbindlich, allgemeingültig sein muss, bedarf es eines gemeinsamen Willens (in dem der Wille des Einzelnen enthalten ist), der die Rechtsstellung des Besitzenden auch sichert, indem der provisorische Besitz zum peremtorischen wird. „Der Zustand aber unter einer allgemeinen äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann es nur im bürger­ lichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben.“94 Auch das Prinzip des zweiten Hauptstückes „Von der Art etwas Äußeres zu erwerben“ weist auf die Notwendigkeit eines öffentlichen Rechtszustandes hin. Es ergänzt das erste Hauptstück um den Akt des Erwerbens. Während das Haben eines Gegenstandes auf das besondere Verhältnis hinweist, das der Einzelne hinsichtlich des Vorliegens eines (bereits erworbenen) Rechts bezüglich eines äußeren Gegenstandes hat, stellt das Erwerben den besonderen Akt dar, durch den eine Person ihr Recht zum Gegenstand herstellt.95 Insbesondere im ersten Abschnitt des 2. Hauptstücks („Vom Sachenrecht“)96 wird deutlich, dass das Eigentumsrecht notwendig mit der Frage von Gemeinschaftlichkeit verbunden ist. Es ist ein Postulat der praktischen Vernunft, dass der Einzelne Gegenstände als die seinen haben und gebrauchen können muss. Es muss also eine reale Verbindung zwischen dem Gegenstand und dem Subjekt durch einen nach außen manifestierten Akt hergestellt werden (Wirklichkeit). Dabei können Gegenstände dem Einzelnen nicht originär zugeschrieben werden, sondern sie müssen von ihm selbst erworben werden, und zwar in einer sich einen Raum teilenden Gemeinschaft, in der auch andere ebenso den Erwerb von Gegen93  Vgl. auch Dierksmeier, Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff, in: Kants Lehre von Staat und Frieden (2009), S. 42 (47). 94  Kant, MdS, § 8, AB 73. „Folgesatz: Wenn es rechtlich möglich sein muss, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muss es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten.“ 95  Fulda, Zur Systematik des Privatrechts in Kants Metaphysik der Sitten, in: Hüning/Tuschling (Hrsg.), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant (1998), S. 141 (145). 96  Auf die weiteren Abschnitte des zweiten Hauptstückes („Vom persönlichen Recht“ und „Von dem auf dingliche Art persönlichen Recht“) soll hier nicht eingegangen werden, vgl. hierzu Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 134 ff.

266

3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

ständen beanspruchen. Ein rechts-gültiger Erwerb von Gegenständen kann daher nur erfolgen, wenn die Gemeinschaft insgesamt in einen solchen Erwerbsvorgang mit einbezogen wird.97 „Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (notwendig zu vereinigenden) Willens aller liegen (…); denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden.“98 Erst im öffentlichen Rechtszustand kann der Erwerb von Gegenständen somit rechtlich verbindlich sein. Denn erst hier gibt es eine Vollzugsinstanz, die das im Gesetz geregelte abstrakte äußere Mein zu einem realen, von allen Gemeinschaftsmitgliedern anerkannten werden lässt. Das dritte Hauptstück ist zwar noch Teil des Privatrechts, weist aber zugleich schon unmittelbar auf den Übergang zum öffentlichen Recht hin. Davon zeugt schon der Titel des dritten Hauptstücks, der den Begriff der „Öffentlichkeit“ in sich trägt: „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“.99 Die Möglichkeit der Innehabung vom äußeren Mein und Dein, der Erwerb derselben in der Wirklichkeit kann im Naturzustand erst gültig abgeschlossen werden, wenn der Einzelne erkennt, dass es einer Instanz bedarf, die im Falle der Uneinigkeit zwischen ihm und einem anderen vermittelt, indem sie end-gültig entscheidet. Die öffentliche Gerichtsbarkeit ist insofern daher noch Teil des Privatrechts, als sie sich aus der Möglichkeit des Habens von Gegenständen und ihrem tatsächlichen Erwerb in einer gemeinsamen Welt ergeben muss. „Wenn unter Naturrecht nur das nicht-statutarische, mithin lediglich das a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare Recht verstanden wird, so wird nicht bloß die zwischen Personen in ihrem wechselseitigen Verkehr untereinander geltende Gerechtigkeit (iustitia commutativa), sondern auch die austeilende (iustitia distributiva), so wie sie nach ihrem Gesetze a priori erkannt werden kann, dass sie ihren Spruch (sententia) fällen müsse, gleichfalls zum Naturrecht gehören.“100 Die Einsicht des Einzelnen nicht nur sich, sondern auch das Allgemeine im Umgang mit anderen, ihm Gleichen, in den Blick zu nehmen und gerechte Prinzipien für die Freiheitsverwirklichung im Handeln mit anderen aufzustellen, muss notwendig auch zu der Einsicht führen, dass es im äußeren Umgang mit anderen zu Interessen97  Vgl. auch Zaczyk, Untersuchungen zum rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft, in: FS-Fulda (1995), S. 311 (329). 98  Kant, MdS, A 87, B 86. 99  Kant, MdS, AB 139. Allerdings ist der Titel etwas missverständlich. In der „Tafel der Einteilung der Rechtslehre“ wird das dritte Hauptstück auch „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung vor einer Gerichtsbarkeit“ genannt. Kant, MdS, A XII. 100  Kant, MdS, § 36.



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung267

konflikten kommen kann, die die Betroffenen aufgrund ihrer Subjektivität nicht allein zu lösen vermögen. Es bedarf daher einer objektiven Instanz, die nicht mit den beiden Parteien und ihrem Konflikt in Verbindung steht, sondern von außen das Geschehen betrachten kann. Dabei ist freilich auch der Richter an die elementaren Grundsätze des Rechts gebunden; insofern besteht kein Unterschied zu den a priori eingesehenen Rechtsprinzipien. Allerdings kommt durch die Übertragung einer Konfliktentscheidung auf einen Dritten ein neues Moment insofern mit hinein, als dass der Dritte nur das äußere Bild des Geschehens betrachten kann, da er nicht die inneren Befindlichkeiten des Einzelnen und damit der streitenden Parteien kennt. Es kann daher so zu unterschiedlichen Rechtsbestimmungen kommen. „Die Frage ist also hier nicht bloß, was ist an sich recht, wie nämlich hierüber ein jeder Mensch für sich zu urteilen habe, sondern, was ist vor einem Gerichtshofe recht, d. i. was ist Rechtens? und da gibt es vier Fälle, wo beiderlei Urteile verschieden und entgegengesetzt ausfallen, und dennoch neben einander bestehen können; weil sie aus zwei verschiedenen, beiderseits wahren, Gesichtspunkten gefället werden: die eine nach dem Privatrecht, die andere nach der Idee des öffentlichen Rechts“.101 Der erste Fall, den Kant anführt, ist der eines Schenkungsvertrages. Es stellt sich die Frage, ob der Schenkende ein Recht hat, nach Abgabe seines Schenkungsversprechens dieses nicht einzuhalten, oder ob er zur Einhaltung gezwungen werden kann. Nach dem Urteil der Privatrechtsvernunft hängt die Antwort davon ab, ob sich der Schenkende „gedacht hat, daß, wenn es ihn noch vor der Erfüllung gereuet, das Versprechen getan zu haben, man ihn daran nicht binden könne“.102 Diese innere Einstellung zum Vertrag kann jedoch ein unabhängiger Richter für seine Entscheidung nicht zur Grundlage nehmen, sondern er kann seine Beurteilung nur auf äußere Tatsachen gründen. Der Schenkende kann nur dann nicht zur Vertragserfüllung rechtlich gezwungen werden, wenn er den Vertrag ausdrücklich nur unter Vorbehalt eingegangen ist. Ansonsten wäre es für „das Rechtsprechen unendlich erschwert, oder gar unmöglich“.103 Auch wenn die Person an sich ein bestimmtes Recht hat und dies nach seiner Privatvernunft auch nicht zweifelhaft ist, kann sich eine von den Einzelparteien unabhängige Instanz nicht allein daran orientieren. Vielmehr ist es gerade auch Aufgabe des Gerichts, praktische Rechtslösungen für alle Beteiligten zu finden. „Es geschieht also nur zum Behuf des Rechtsspruchs vor einem Gerichtshofe (in favorem iustitiae distributivae), daß das Recht in Ansehung einer Sache nicht, wie es an sich ist (als ein persönliches), sondern wie es am leichtesten und sichersten abgeurteilt 101  Kant,

MdS, § 36, AB 140. MdS, § 37, AB 142 f. 103  Kant, MdS, § 37, AB 142 f. 102  Kant,

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

werden kann (als Sachenrecht), doch nach einem reinen Prinzip a priori, angenommen und behandelt werde.“104 Der Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit kennzeichnet damit in besonderer Weise den Übergang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht, indem er einerseits auf die sich aus dem natürlichen Zustand ergebende Notwendigkeit einer urteilenden, unabhängigen Instanz für die konfligierenden Parteien und andererseits auch wiederum auf die (auch subjektiv bedingte) äußere Sicht des Richters bei der Beurteilung eines konkreten Falles hinweist. 2. Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt Die drei dargestellten Hauptstücke des Privatrechts werden im Anschluss an das dritte Hauptstück im „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt“ zusammengeführt und so in einen rechtlichen Zustand überführt. Auch wenn es sich im Privatrecht um bestehende Rechte handelt, fehlt noch eine Instanz, die „öffentliche Gerechtigkeit“, die es ermöglicht, dass nicht nur theoretisch die Einzelnen (Besitz-) Rechte haben, sondern sie auch tatsächlich an ihren Rechten teil-haben können. „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willen betrachtet, heißt die öffentliche Gerechtigkeit, welche in Beziehung, entweder auf die Möglichkeit, oder Wirklichkeit, oder Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände (als der Materie der Willkür) nach Gesetzen, in die beschützende (iustitia tutatrix), die wechselseitig erwerbende (iustitia commutativa) und die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) eingeteilt werden kann. – Das Gesetz sagt hiebei erstens bloß, welches Verhalten innerlich der Form nach recht ist (lex iusti); zweitens, was als Materie noch auch äußerlich gesetzfähig, d. i. dessen Besitzstand rechtlich ist (lex iuridica); drittens, was und wovon der Ausspruch vor einem Gerichtshofe in einem besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze diesem gemäß, d. i. Rechtens ist (lex iustitae), wo man denn auch jenen Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden kann. (…).“105 104  Kant, MdS, AB 150. Vgl. auch König, §§ 18–31, Episodischer Abschnitt, §§ 32–40, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S.  133 (152 f.). 105  Kant, MdS, AB 155, 156; vgl. auch noch die Einteilung der Rechtslehre, unter A. Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten, AB 43, 44. Hierzu näher Byrd/



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung269

Der Begriff „teilhaftig“ ist wörtlich zu verstehen. Erst im Staat kann jeder an seinen (Eigentums-)Rechten auch teil-haben. Denn erst im Staat werden die Bedingungen geschaffen, die es ermöglichen, dass die äußere Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit des anderen nebeneinander gültig bestehen kann und der Einzelne so Teil einer rechtlichen Einheit wird. Der öffentliche Zustand ist nicht zu begreifen als einer, der den Naturzustand in eine äußere Staatsform gießt, in der nun einzelne positive Gesetze einem jeden väterlich zuschreiben, was er bekommen soll. Der staatliche Zustand ist vielmehr an einem materiellen (vernünftigen) Prinzip, einem den Staat formenden Prinzip, nämlich dem einer öffentlichen Gerechtigkeit orientiert. Mit dem Begriff des „Gesetzes“ sind fundamentale Prinzipien des Menschen gemeint, die für ihn selbst konstitutiv sind. Nach ihnen ist der öffentliche Zustand zu formen und nicht umgekehrt. Die „Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens“ meint einen nach freiheitsgesetzlichen Prinzipien gestalteten Staat. In einem auf Prinzipien der Freiheit gegründeten Rechtsstaat finden die Gerechtigkeitsformen ihren Ausdruck: die beschützende Gerechtigkeit (Möglichkeit des Besitzes), die wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit (Wirklichkeit des Besitzes) und die austeilende Gerechtigkeit (Notwendigkeit des Besitzes). Die im Privatrecht dargelegten drei Hauptstücke entsprechen damit den drei Elementen der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitia tutatrix, iustitia commutativa und iustitia distributiva).106 Der Begriff der Gerechtigkeit bezieht sich nicht auf das bestehende Recht, sondern setzt das Setzen richtigen Rechts voraus. Aufgabe der öffentlichen Gerechtigkeit ist es ausgehend von einem freiheitlichen Rechtsbegriff, eine schlüssige Systematik der Rechtsverhältnisse zu entfalten.107 Die Möglichkeit des Besitzes (beschützende Gerechtigkeit) stellt den Oberbegriff dar, weil nur sie die tatsächliche Freiheitsäußerung des Einzelnen ermöglicht. Mit dem Begriff der Möglichkeit ist nicht eine empirischfaktische Möglichkeit in dem Sinne gemeint, dass jemand tatsächlich das eine oder das andere zu tun vermag, vielmehr geht es um die Frage des moralisch Möglichen, d. h. um Gesetze, „nach denen gewisse Handlungen erlaubt oder unerlaubt, d. i. moralisch möglich oder unmöglich“ sind.108 Dabei bezieht sich der Begriff Moral nicht auf ethische oder bestehende positive Gesetze, sondern auf „unbedingte praktische Gesetze“109, die die äußeren Handlungen betreffen.110 Möglichkeit meint also das Hervorbringen Hruschka, Lex iusti, lex iuridica und lex iustitiae in Kants Rechtslehre, in: ARSP 91 (2005), 484 ff. 106  s. a. Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 160. 107  Vgl. hierzu auch Köhler, Iustitia distributiva, in: ARSP 79 (1993), 457 ff. 108  Kant, MdS, Einl. in die Metaphysik der Sitten, Vorbegriffe, AB 19. 109  Kant, MdS, Einl. in die Metaphysik der Sitten, Vorbegriffe, AB 19. 110  Kant, MdS, AB 15.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

eines allgemein-gültigen Oberbegriffs, der apriorisch in sich widerspruchsfrei gedacht und im Rahmen des öffentlichen Rechts auch als Recht gesetzt werden kann. Es ist die Möglichkeit, das Freiheitsdasein in Einzelrechten zu konkretisieren, die gebunden sind an die Logik der interpersonalen Freiheitsentfaltung.111 Es wäre ein Widerspruch, rechtliche Freiheit anzunehmen, wenn kein äußeres Mein und Dein existiert. Insofern handelt es sich um einen kategorischen Obersatz. Es muss für die Freiheitsäußerung des Einzelnen möglich sein, etwas als das Seine zu haben. Zwar ergibt sich die Möglichkeit des Besitzes von Gegenständen schon im Naturzustand, jedoch wird dieser erst unter einer öffentlichen Gesetzgebung zum peremtorischen Besitz. Aufgabe der Gesetzgebung ist es damit, die Freiheitssphären der Einzelnen allgemein-gültig festzulegen. Die Möglichkeit des Besitzes ist Ausdruck der beschützenden Gerechtigkeit, da sie die Voraussetzung für die Durchsetzung der eingriffsverbietenden Verhältnisse schafft, indem sie die interpersonalen Freiheitssphären bestimmt. Sie ist Gegenstand der Grundfunktion des öffentlichen Rechts und bildet so den Maßstab für den Rechtsschutz durch öffentliche Institutionen und ist damit Voraussetzung für die weiteren Gerechtigkeitsformen.112 Den Untersatz bildet die wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit in einer gemeinsamen Welt als rechtlicher Wirklichkeit. Wenn die Möglichkeit gegeben sein muss, dass ich Gegenstände als die Meinen besitzen kann, muss dies durch den rechtlichen und damit wechselseitig gültigen Erwerb des Besitzes gewährleistet sein. Da ich nicht allein auf der Erde lebe, sondern in einer Gemeinschaft mit anderen, ist es erforderlich, sich mit diesen und zwar zufolge der Möglichkeit des Habens von Besitz zu einigen. In dem Untersatz kommt damit die Besonderheit der einzelnen Subjekte und ihrem Verhältnis zu äußeren Gegenständen zum Ausdruck. Denn diese sind nicht automatisch nach allgemeinen Gesetzen dem Einzelnen zugewiesen, es bedarf vielmehr einer öffentlichen Instanz, die bestimmt, was auch inhaltlich „gesetzfähig“ ist, so dass der Erwerb äußerlich-rechtlich manifestiert werden kann. Schon im Naturzustand wurde der Erwerb von Gegenständen vorgestellt. Mit Blick auf den Staatszustand wird die provisorische Erwerbung zur peremtorischen. Die Notwendigkeit einer austeilenden Gerechtigkeit verbindet die Möglichkeit des Besitzes mit seiner Erwerbs-Wirklichkeit. Sie verbindet so das Allgemeine (Besitzlehre) mit dem Besonderen (Erwerbslehre). Während die Besitzlehre den vereinigten Willen aller als Ursprung der Gesetze des äußeren Mein und Dein vorstellt, legt die Erwerbslehre das Verfahren dar, inhierzu auch Köhler, Iustitia distributiva, in: ARSP 79 (1993), 457 (460). Köhler, Iustitia distributiva, in: ARSP 79 (1993), 457 (463 f.) zur „ausgleichenden Gerechtigkeit“. 111  Vgl.

112  s. auch



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung271

wieweit die äußeren Gegenstände unter die allgemeinen Gesetze subsumiert werden können.113 Jedoch kann schließlich erst mit Blick auf einen öffentlichen Gerichtshof bei einem Streit um die Frage nach dem Besitzrecht des Gegenstandes dieser für alle Beteiligten gültig entschieden werden. Die Notwendigkeit einer austeilenden Gerechtigkeit stellt somit den Mittelbegriff dar und leitet über zur Staatsnotwendigkeit, in der jeder seines Rechts teilhaftig wird und die vorpositiven Rechte untereinander bei einem Streit durch eine öffentliche Gerichtsbarkeit gesichert sind. „Zwar durfte sein natürlicher Zustand nicht eben darum ein Zustand der Ungerechtigkeit (iniustus) sein, einander nur nach dem bloßen Maß seiner Gewalt zu begegnen; aber es war doch ein Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus), wo, wenn das Recht streitig (ius controversum) war, sich kein kompetenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu tun, aus welchem nun in einen rechtlichen zu treten, ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf; weil, obgleich nach jedes seinen Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist, solange sie noch nicht die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.“114 Schon im Rahmen des Privatrechts, aber auch im Übergang desselben zum öffentlichen Recht wird deutlich, dass Kant dem Richter eine herausgehobene Stellung zuweist, die auch für das Staatsrecht von Bedeutung sein wird.115 3. Zusammenfassung und Bedeutung der Erkenntnisse für den weiteren Gang der Arbeit Aus dem Begriff der Freiheit des Einzelnen und ihrer praktischen Wirklichkeit wurde die Notwendigkeit einer austeilenden Gerechtigkeit aufgezeigt. In der Kritik der praktischen Vernunft hatte es sich Kant zur Aufgabe gemacht, synthetisch-praktische Sätze a priori aufzustellen, um damit ein Vernunftprinzip auszumachen, nach dem der Einzelne selbstbewusst handeln kann. Dieses Prinzip konnte dadurch ermittelt werden, dass der Einzelne dabei in sein Denken die Freiheit der Anderen mit aufnimmt. Zwar betont Kant, dass es sich bei dem kategorischen Imperativ um einen einzigen handelt, von dem gilt jedoch, dass „aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden 113  Vgl. auch Herb/Ludwig, Kants kritisches Staatsrecht, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 2 (1994), 431 (433, 436). 114  MdS, § 44. 115  Vgl. auch zur Bedeutung des Gerichts im Staat Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 219 ff.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

können“.116 Sowohl der Rechtsimperativ und das Postulat des ersten Hauptstücks, dass jeder jeden äußeren Gegenstand seiner Willkür als das Seine haben können muss, als auch das Postulat der praktischen Vernunft, in einen Zustand der öffentlichen Gerechtigkeit überzugehen, ergeben sich aus der Unbedingtheit freiheitlichen Handelns und weisen damit Vernunftstrukturen überhaupt auf. Den Maßstab bildet die Form menschlich-vernünftigen Handelns und nicht die von einer Gesellschaft oder dem Staat vorgegebenen Werte oder Gesetze. Die Setzung allgemeiner Verbindlichkeiten verlangt, dass sie einerseits vom Subjekt selbst ausgehen und andererseits die Freiheit des Subjekts zu ihrem Gegenstand machen; „es wird somit der menschlichen Vernunft die entscheidende Prüfungskompetenz über die Legitimität der Rechtsregeln zugewiesen. Als höchstes Prinzip jener kritischen Vernunft fungiert die sich selbst ihr Gesetz gebende Freiheit des Menschen. Die Rechtsidee soll deshalb so entfaltet werden, dass sie sich als notwendige Fortschreibung von Begriff und Wirklichkeit des Freiheitsprinzips nachweisen lässt“.117 Damit ist das Recht immer ein selbstgesetztes und nicht ein vorgegebenes, so dass es sich auch auf seine Richtigkeit überprüfen lässt und zwar vom denkenden und handelnden Subjekt selbst. Die Form menschlichen Handelns findet sich so im Recht unmittelbar wieder.118 Auch die Forderung, aus dem natürlichen in einen öffentlichen Rechtszustand zu treten, ist notwendiges Postulat der Vernunft. Das hat zur Folge, dass auch die Struktur des öffentlichen Rechtszustandes selbst nicht willkürlich bestimmt werden kann, sondern an die Handlungsform des Einzelnen gebunden sein muss. Nur dann ist sichergestellt, dass sich das Privatrecht im öffentlichen Rechtszustand wiederfindet.119 Denn der rechtliche Zustand ist erforderlich, damit jeder seine a priori geltenden Rechte auch gegenüber anderen durchsetzen kann und sie insofern gesichert sind. Die im Naturzustand schon bestehenden Rechte werden im öffentlichen Recht durch eine legitimierte Macht organisiert und fixiert. Das Subjekt kann, selbst wenn es noch so gutwillig ist, aufgrund seiner Fehlbarkeit und damit auch seiner endlichen Urteilskraft in Konflikte mit anderen geraten. Es kann nicht Richter in eigener Sache sein, sondern bedarf einer unabhängigen Instanz, die sich als Unbeteiligte vom besonderen Konflikt distanzieren 116  GMS, BA 52; vgl. auch Dierksmeier, Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff, in: Kants Lehre von Staat und Frieden (2009), S. 42 (43 f.). 117  Dierksmeier, Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff, in: Kants Lehre von Staat und Frieden (2009), S. 42 (46). 118  Vgl. hierzu auch Nitschke, Modernität und Antimodernität der kantischen Rechtslehre, in: Kants Lehre von Staat und Frieden (2009), S. 64 (65). 119  Vgl. hierzu auch Fulda, Kants Postulat des öffentlichen Rechts (RL § 42), in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 5 (1998), 267 (270 f.).



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung273

kann.120 Diese Endlichkeit einzusehen und sich so von seiner begrenzten Perspektive distanzieren zu können, ist aber wiederum eine Leistung des Einzelsubjekts selbst und nicht erst eine staatliche. Bisher ist noch nicht ausgemacht, dass es sich bei dem Übertritt in den Staatszustand nicht möglicherweise um eine Art Weltstaat handeln könnte, eine Grenzziehung zwischen einzelnen Staaten damit nicht notwendig erscheint. Aus dem Begriff des Staates mit seinen Institutionen wird sich allerdings die Notwendigkeit von Einzelstaaten erweisen; in der Privatrechtslehre selber ergibt sie sich nicht zwangsläufig. Die Eigentumslehre Kants ist jedenfalls auch darauf angelegt, dass die in den Hauptstücken des Privatrechts jeweils zum Ausdruck kommende Notwendigkeit rechtlich gefestigter Verhältnisse in einem bürgerlichen Zustand nicht nur einen Teil der Erde umfassen müssen, sondern ihren gesamten Bereich. Denn die Einzelnen befinden sich insgesamt „im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins“. Erforderlich ist daher eine universelle Verrechtlichung.121 Zu Beginn des öffentlichen Rechts erklärt Kant ausdrücklich, dass diese „ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden“.122 Kant unterteilt das öffentliche Recht in drei Abschnitte: Davon bildet das Staatsrecht nur einen (den ersten) Abschnitt des öffentlichen Rechts, den zweiten bildet das Völkerrecht und den dritten das Weltbürgerrecht. Öffentliches Recht im buchstäblichen Sinne existiert nur, wenn alle drei Formen rechtlichen Prinzipien folgen: „Wenn unter diesen drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden und endlich einstürzen muß“.123 Damit zeigt sich auch die bewusste Trennung von den unterschiedlichen Formen des rechtlichen Zustandes. Das Völkerstaatenrecht setzt bereits begrifflich die Existenz von Einzelstaaten voraus.124 Ebenso sind bestehende rechtliche Einheiten Bedingung für das Weltbürgerrecht.125 Die 120  Dierksmeier, Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff, in: Kants Lehre von Staat und Frieden (2009), S. 42 (58). 121  Vgl. auch Wawrzinek, Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“ (2009), S. 136, 146. 122  Kant, MdS, § 45. 123  Kant, MdS, §43. 124  So schreibt Kant auch, dass das Völkerrecht besser „Staatenrecht (ius publicum civitatum)“ genannt werden sollte, MdS, § 53. Vgl. hierzu näher die Ausführungen im 4. Teil der Arbeit unter B. I. 125  Siehe hierzu näher den 4. Teil unter B. II.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

unterschiedlichen Formen des rechtlichen Zustandes sind daher nicht als verschiedene Wertungsstufen zu begreifen, von denen der Staat die unterste darstellt und das Weltbürgerrecht die höchste, sondern sie müssen nebeneinander bestehen. Das Postulat des öffentlichen Rechts, welches aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande hervorgeht („du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand […] übergehen“), betrifft damit nicht nur den Übergang in einen Staat, sondern verlangt den Übergang in einen rechtlichen Zustand überhaupt.126 Hervorzuheben ist jedoch nochmals, dass es Kant bei der Darstellung des Privatrechts und seines Übergangs in einen rechtlichen Zustand nicht um einen historischen Übergang, sondern um einen denknotwendigen handelt. Kant geht von bereits bestehenden Staaten und ihrem Verhältnis zueinander aus. Ihm geht es daher nicht um die äußere Konstitution von Staaten, sondern um die Begründung von Prinzipien des Rechts im Staat orientiert an der Freiheit des Subjekts. Welche Konsequenzen die Anbindung des Rechts an das Handeln des Einzelnen für den Staatsbegriff und seine nähere Ausgestaltung hat, zeigt er im ersten Abschnitt, im Staatsrecht (§§ 43–52). In dieses ordnet er auch das Strafrecht ein. Im Folgenden ist daher zunächst näher auf das Staatsrecht einzugehen. Denn die Rechtsprinzipien des Staates müssen erst ausgelotet werden, bevor auf überstaatliche Ebenen, die gerade auch das Bestehen von Einzelstaaten voraussetzen, und ihre Bedeutung für das Strafrecht eingegangen werden kann.

II. Der Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ Die Differenzierung zwischen Naturzustand (Privatrecht) und bürgerlichem Zustand (Staat) wurde aus der Sicht der interpersonal handelnden Einzelsubjekte getroffen. Das Privatrecht und der Übergang zum öffentlichen Recht mussten, weil sie sich aus der Handlungsform des freien Subjekts ergeben, an seine Konstitutionsbedingungen anknüpfen, um zu freiheitsrechtlichen Begründungszusammenhängen zu gelangen. Auch die Struktur des Staates und seine Prinzipien haben sich nun an den Handlungsbedingungen und Handlungsbestimmungen des Einzelnen zu orientieren.

126  Siehe auch Wawrzinek, Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“ (2009), S. 136.



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1. Der Begriff des Staates Kant definiert den Staat wie folgt: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. So fern diese als Gesetze a priori notwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend (nicht statutarisch) sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.“127 Schon der erste Satz macht deutlich, dass es um die Vereinigung einer „Menge von Menschen“ geht und nicht um die Vereinigung aller Menschen. Der Staat ist damit nicht als Weltstaat gemeint, sondern es geht um die Konstitutionsbedingungen von Einzelstaaten. Der Begriff der „Vereinigung von Menschen“ ist handlungsbezogen zu verstehen. Er bezieht sich auf eine Einheit, die nicht durch eine äußere Macht hergestellt wird oder durch einen tatsächlichen (historischen) Vertragsschluss, sondern er bezieht sich auf Personen eines Volkes.128 Es sind Menschen, die mit ihren Stärken und Schwächen in einer Gemeinschaft leben, deren „Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluss haben können“.129 Diese Gemeinschaft ist keine Weltgemeinschaft, sondern es existieren verschiedene Völker und Staaten. In der Schrift „Zum ewigen Frieden“ weist Kant auf die Notwendigkeit unterschiedlicher Völker hin: die „Natur will“ sie so. „Sie bedient sich zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen“.130 Auch wenn Religion und Sprache sicher nicht die einzigen möglichen Trennungspunkte sind, wie sich z. B. in Indien und der Schweiz zeigt, wird jedoch deutlich, dass es unterschiedliche zu einer Rechtseinheit zusammen gewachsene Gesellschaften gibt, die jedenfalls nicht von außen zu einem „Weltvolk“ vereinheitlicht werden können. Eine Vereinigung zu einem Staat setzt eine bestimmte Willenseinheit „eine Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ voraus. Damit zeichnet sich der einzelne Staat gegenüber anderen durch seine Besonderung aus. Der Staat „identifiziert sich also durch eine Staatsnation, nicht im ‚völkischen‘ Sinne, sondern von in gegenständlich-räumlich bestimmten Privatrechtsverhältnis-

127  Kant,

MdS, § 45. auch Kant, Zum ewigen Frieden, BA 19: „Alle rechtliche Verfassung (…) ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, (…) die nach dem Staatsbürgerrecht der Menschen, in einem Volke (ius civitatis)“. 129  Kant, MdS, § B. 130  B 63 f.; A 62 f. 128  Vgl.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

sen dauernd integrierten selbständigen Bürgern, gleicher welcher sonstigen Identität“.131 Die Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen ist somit nicht ethnisch-zentriert oder bloß historisch zu verstehen. Auch wenn Kant an anderer Stelle von einem „ursprüngliche(n) Kontrakt“, spricht, „nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi) sofort wieder aufzunehmen“, meint er damit nicht den tatsäch­ lichen Abschluss eines Vertrages. Es ist vielmehr ein Kontrakt nach der „Vernunftidee“. Der Begriff der Idee ist nicht als zufälliges Gedankenexperiment gemeint, welches keinen Bezug zur Realität aufwiese,132 sondern er ist ein apriorischer Vernunftbegriff, der nur insofern keinen Bezug zur Empirie aufweist, als er nicht aus ihr deduzierbar ist, d. h. aber nicht, dass er sich nicht auf die menschlichen Wirklichkeitsverhältnisse beziehen würde. „Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Koalition jedes besondern und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), ist keinesweges als Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müsste, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet (…) haben müsse, (…). Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes.“133 Der „Staat in der Idee, wie er nach Rechtsprinzipien sein soll“, bietet die Richtschnur für die bereits bestehenden Gesetze, nach denen sie ausgestaltet werden müssen. Er bildet damit nicht eine utopische Idealvorstellung, sondern „stellt unmittelbar praktische Anforderungen an die historische Rechtsverwirklichung“.134 131  Köhler, Gesellschaft und Staat nach freiheitlichem Rechtsprinzip im Übergang zu einer internationalen Gerechtigkeitsverfassung, in: FS-Mestmäcker (1996), S. 211 (220). 132  Vgl. aber Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. (1981), S. 94 f.: „Er (Kant) entwickelt den Staat rein der Idee nach, als Institution des Rechts, ohne Bezug auf die geschichtliche und soziale Wirklichkeit.“ 133  Kant, Über den Gemeinspruch, A 249 f. 134  So treffend Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 136.



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung277

Maßstab für die Vereinigung von Menschen können die sich durch die Vernunft der Einzelnen formenden (kategorischen) „Rechtsgesetze“ sein und nicht ihre (möglicherweise auch je unterschiedlichen) Glückseligkeitsvorstellungen. Aufgabe des Staates ist daher auch nicht, das Wohl der Bürger zu fördern, sondern er muss das vernünftige Zusammenleben nach Prinzi­ pien des Rechts gewährleisten. Daran hat sich auch seine Struktur zu orientieren. Sie kann sich nicht aus utilitaristischen Klugheitserwägungen ergeben, wie Institutionen beispielsweise am effizientesten die Bürger „verwalten“, sondern die Staatsform ist an die Gesichtspunkte des Rechtsbegriffs gebunden. Der Staat muss so organisiert sein, dass er seine Aufgabe, die unterschiedlichen Freiheitssphären zu koordinieren, erfüllt.135 In ihm muss das Recht als Recht zur Geltung kommen. Die bestehenden positiven Rechtsgesetze im Staat können daher nicht allein den Maßstab für die Fundamente des Rechts bilden, sondern es verhält sich umgekehrt. Das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“,136 bildet die „Richtschnur (norma)“ für die Realisierung freiheitlichen Rechts im Staat. Dieser ist dazu da, die Freiheitssphären zu realisieren und zu sichern. Ebenso wie das Recht überhaupt ist er damit an die Freiheit des Einzelnen gebunden und hat sich allein an ihr zu orientieren und nicht umgekehrt. Das hat zur Folge, dass auch mit der Existenz des Staates nicht die Freiheit des Einzelnen aufgegeben wird zugunsten eines neuen Machtapparates, sondern die im Naturzustand noch ungesicherte und damit vorläufige Freiheit, das provisorische Mein und Dein wird in einem Rechtsstaat zu einem peremtorischen, gesicherten Mein und Dein. Nur wenn der Staat am Rechtsbegriff und damit an die Handlungsformen des Subjekts direkt anknüpft, ist er ein solcher „in der Idee, wie er nach Rechtsprinzipien sein soll“. Im Folgenden wird sich zeigen, dass die Gliederung in drei Gewalten mit der Unterteilung der drei Hauptstücke im Privatrecht daher auch korrespondiert. 2. Volkssouveränität und Gewaltenteilung Aufgrund der besonderen Abhängigkeit der Staatskonstitution von den einzelnen Subjekten ergibt sich, dass die Verfassung eines Volkes ebenso wie die staatlichen Einzelgesetze nicht unverbunden gegenüber den Einzelnen stehen kann, sondern das Volk sich selbst „verfassen“ muss. Darin liegt auch der Grund, warum sich in den einzelnen unterschiedlichen Verfassun135  Vgl. hierzu auch Wawrzinek, Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“ (2009), S. 146. 136  Kant, MdS, § B, AB 33.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

gen der Staaten historische und kulturelle Besonderheiten widerspiegeln. Eine einfache, wenn auch gut gemeinte, bloße Übertragung der einen Staatsverfassung auf einen anderen Staat ist daher ohne konstitutiven Akt des Volkes nicht möglich.137 Fehlt eine solche Verfasstheit der Subjekte als Staatsfundament, mangelt es damit zwangsläufig an einer Legitimation. Denn dann existiert kein allgemeiner Volkswille, auf den die grundlegenden Prinzipien wie Demokratie und Gewaltenteilung rückführbar sein könnten.138 Dabei ist die Verfassungskonstitution nicht als bloßes singuläres historisches Ereignis zu verstehen, sondern ist fortwährend existent. Sie ist, wie Kant schreibt, der „allgemein vereinigte Wille“. Dieser Wille muss sich vernunftnotwendig in drei Gewalten untergliedern, nicht um seine Einheit zu zerstören, sondern um ihm in der Realität Geltung zu verschaffen. Der allgemeine Wille ist in den drei Einzelgewalten enthalten: Ein Rechtsstaat muss drei Gewalten in sich enthalten, „d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zufolge dem Gesetz), und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria), gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluss: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatze, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlusssatze, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.“139 137  Vgl. auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 274 Anm.: „Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalt nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört“; siehe auch § 274: „Da der Geist nur als das wirklich ist, als was er sich weiß, und der Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewusstsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewusstseins desselben ab; in diesem liegt seine subjektive Freiheit und damit die Wirklichkeit der Verfassung.“ Vgl. auch den Zusatz zu § 274: „Der Staat muss in seiner Verfassung alle Verhältnisse durchdringen. Napoleon hat z. B. den Spaniern eine Verfassung a priori geben wollen, was aber schlecht genug ging. Denn eine Verfassung ist kein bloß Gemachtes: sie ist die Arbeit von Jahrhunderten, die Idee und das Bewusstsein des Vernünftigen, inwieweit es in einem Volk entwickelt ist. Keine Verfassung wird daher bloß von Subjekten geschaffen. (…) Das Volk muss zu seiner Verfassung das Gefühl seines Rechts und seines Zustandes haben, sonst kann sie zwar äußerlich vorhanden sein, aber sie hat keine Bedeutung und keinen Wert.“ 138  Vgl. Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und Europäische Rechtsangleichung, in: FS für Mangakis (1999), S. 751 (761 f.); ders., Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts, in: Puppe-FS (2011), S. 1461 (1470 ff.). 139  Kant, MdS, § 45, A 172 f., B 202 f.



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung279

Kant weist damit auf die parallele Struktur der Gewaltenteilung140 mit den „drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluss“ hin. Es geht dabei um mehr als eine bloß formale Analogie. Die Parallele zeigt vielmehr die damit verbundene inhaltliche Vernunftnotwendigkeit auf. Denn auch die Staatskonstitution ist an die vernünftige Handlungsform des Einzelnen gebunden und muss als Rechtsprinzip einen kategorischen Vernunftschluss zum Gegenstand haben und kann sich nicht an politischen Klugheitsregeln oder Glückseligkeitsvorstellungen des einzelnen Bürgers und damit an hypothetischen Vernunftschlüssen orientieren. „Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats (salus reipublicae suprema lex est); worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß; denn die kann vielleicht (…) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht.“141 Die Gewaltentrennung ist danach eine Verbindlichkeit, die uns die Vernunft „durch“ einen kategorischen Imperativ und damit durch sich selbst auferlegt. Es handelt sich um ein unbedingtes Handlungsprinzip. Die drei Gewalten sind nicht zufällig ausgewählt, können nicht durch andere Formen ersetzt werden und sind auch in ihrer Anordnung nicht willkürlich, sondern sie haben ihre Notwendigkeit und ihre Grundlage im Dasein des Menschen.142 Das an sich fehlbare, endliche Subjekt ist in der Lage, selbstbestimmt zu handeln und diese Möglichkeit des Handelns gewährleistet zugleich die Freiheitsbedingungen der ebenso autonom agierenden Mitsubjekte. Der kategorische Vernunftschluss bringt das Allgemeine durch die Anwendung auf den konkreten Fall in der Realität zur Geltung. Übertragen auf den Staat heißt das: „Erst dann, wenn auch das staatliche Handeln sich in der Form eines praktischen Vernunftschlusses vollzieht, kann die Allgemeinheit des Gesetzes sich gegen den Einzelfall durchsetzen und damit der ‚allgemeine Wille‘ gegen den 140  Kant selbst nennt diesen Begriff nicht. Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 160 Fn. 127. Köhler verwendet den Begriff der „Rechtsmächte“, welcher die Bedeutung der unterschiedlichen Gewalten für einen Rechtsstaat deutlicher macht als der gebräuchliche Begriff der „Gewalten“, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (202). Um Missverständnisse zu vermeiden, wird im Folgenden der Begriff der Gewalten beibehalten. 141  Kant, MdS, § 49 a. E. 142  Vgl. auch Joerden, Das Prinzip der Gewaltenteilung, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 1 (1993), 207 (211 ff.).

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

partikulären“.143 Das vernunftnotwendige Handeln nach diesen Bedingungen weist einerseits die Freiheit im Handeln mit anderen auf und gewährleistet sie zugleich. Denn der praktische Syllogismus zeigt Prinzipien auf, in denen freiheitliches, vernünftiges Verhalten des Einzelnen zur Geltung kommen kann. Das hat auch zur Folge, dass die drei Gewalten zugleich durch den sie verbindenden praktischen Vernunftschluss ineinander verschränkt sind. Die einzelne Gewalte bildet das jeweilige Ergänzungsstück zu den anderen beiden, um sie zu vervollständigen.144 Anders als Montesquieu ist für Kant die Gewaltenteilung nicht nur in der empirischen Tat­ sache begründet, Machtmissbrauch Einzelner im Staat zu verhindern und daher jeden Gesellschaftsstand an der Macht zu beteiligen, um so ein gegenseitiges Balance- und Kontrollsystem staatlichen Handelns zu erreichen, sondern ihre Notwendigkeit ergibt sich aus der Vernunft des je Einzelnen, die sich daher auch im Staat widerspiegeln muss.145 Im Folgenden soll die Parallele des oben allgemein dargelegten Vernunftschlusses mit der Struktur des Staates näher ausgewiesen werden.146 Der kategorische (praktische) Vernunftschluss wurde oben vorgestellt als einer, der drei Hauptbegriffe enthält, denen auch die drei Gewalten zugeordnet werden können. Der Oberbegriff enthält das Allgemeine. Dem Gesetzgeber im Staat entspricht diese Möglichkeit der Selbstgesetzgebung durch das Subjekt. Die Exekutive korrespondiert mit dem Subjekt selbst. Es bildet mit der Realisierung seiner Maximen den Unterbegriff der Allgemeinheit. Der Schluss- bzw. Mittelbegriff verbindet das Allgemeine mit dem Besonderen. Im Subjekt ist es die notwendige Annahme von Autonomie, die den Oberbegriff und den Unterbegriff zu einer Einheit führt. Im Staat ist es die Judikative, mit der die Freiheit erst Realität gewinnen kann. Denn der Richter urteilt darüber, ob die von der Exekutiven geleistete Subsumtion unter das Allgemeine auch rechtens ist. Er leistet damit letztlich die Verbindung des Allgemeinen mit dem Besonderen. Kant nennt daher auch den Gerichtshof die „Gerechtigkeit eines Landes“147. Die Entsprechung zu den Bestimmungen aus dem Privatrecht ist dabei auffällig. Hinsichtlich der Gesetzgebung hieß es denn auch im ersten Hauptstück (§ 8) des Privatrechts: „Etwas äu143  Joerden, Das Prinzip der Gewaltenteilung, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 1 (1993), 207 (218). 144  Kant, MdS, § 48, A 169, B 199: Die eine Gewalt „ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“. 145  Vgl. hierzu auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 396 f.; Köhler, Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat, in: FS-Landwehr (2016), S. 393 (399). 146  Vgl. hierzu insgesamt auch Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 160 ff. 147  MdS, § 41, A 155, B 155.



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung281

ßeres als das Seine zu haben, ist nur in einem rechtlichen Zustande unter einer öffentlichen gesetzgebenden Gewalt (…) möglich“. Diese muss „dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“148 (im Folgenden unter a)). Im Rahmen des zweiten Hauptstücks wurde dargelegt, dass es eines tatsäch­ lichen Erwerbs des Besitzes bedarf, der eine öffentliche Vollzugsinstanz benötigt, um peremtorisch zu werden. Aufgabe der Exekutiven ist es, dem Volke die Regeln vorzuschreiben, „nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine enthalten kann“149 (vgl. unter b)). Das dritte Hauptstück des Privatrechts trug bereits den Titel „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“ und verwies damit auf die Notwendigkeit einer rechtsprechenden Instanz. Der „Rechtsspruch (die Sentenz)“ erkennt bzw. erteilt dem Untertan gemäß dem Gesetz das Seine zu150 (vgl. unter c)). Die drei Gewalten sind damit durch die Entfaltung des Staates aus dem Privatrecht jenem gedanklich vorausgesetzt.151 Durch sie wird der Staat nicht in unterschiedliche Bereiche geteilt, sondern der Staat wird durch sie nach Freiheitsgesetzen gebildet und erhalten, er konstituiert sich durch die Vereinigung der drei Gewalten.152 a) Gesetzgebende Gewalt Die Gesetzgebung bildet den allgemein-gültigen Oberbegriff des Staatssyllogismus. Ein derartiger Begriff lässt sich nicht durch einen Einzelwillen herstellen, sondern muss auf den „vereinigten Willen des Volkes“153 zurückgeführt werden können. „Denn, da von ihr (der gesetzgebenden Gewalt, Anm. B. N.) alles Recht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“154 Als Vertreterin der Allgemeinheit muss die gesetzgebende 148  Kant,

MdS, § 46, A 165, B 195. MdS, § 49, A 170, B 200. 150  Kant, MdS, § 49, A 171, B 201. 151  Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 164 Fn. 138. 152  Kant, MdS, § 49, A 172, B 202; hierzu Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 164 Fn. 138. Insofern ist der Begriff der Gewaltenteilung auch missverständlich. 153  Kant, MdS, § 46, A 165, B 195. 154  Kant, MdS, § 46, A 165 f.; B 195 f. 149  Kant,

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

Gewalt dem „vereinigten Willen des Volkes“ zukommen und kann gerade nicht auf einem Einzelwillen gründen. Auch der Unrechthandelnde ist damit Mitkonstituent des Staates und seiner Gesetze. Der Einzelne gibt so seine Stellung als freies Subjekt nicht auf, sondern seine Freiheit erlangt Wirklichkeit und kann auf Dauer garantiert werden. Der Staat ist Staat seiner Bürger, diese bilden das Organ der Gesetzgebung.155 Anders als bei Rousseau ist für Kant jedoch von Bedeutung, dass es sich nicht um eine direkte demokratische Beteiligung handelt, sondern um ein repräsentatives System. Denn ansonsten könnte das vereinigte Volk nicht vom Souverän getrennt werden, sondern wäre mit ihm identisch. Das aber würde zu einer Gewaltenhäufung und damit zu despotischen Verhältnissen führen.156 Die Beteiligung der Bürger (durch Repräsentanten) an der Gesetzgebung ist dabei nicht bloß formal zu verstehen, also allein darin, dass sie die Möglichkeit haben, an Wahlen und Abstimmungen mitzuwirken, sie ist vielmehr mit den Einsichten in freiheitliches Recht überhaupt verbunden.157 Das Volk kann sich nur solche Gesetze geben, durch die die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen zusammen bestehen kann. Die einzelnen Gesetze begründen nicht erst die Freiheitssphären, sondern verleihen ihnen Kontinuität und Verbindlichkeit. Das im Privatrecht bereits notwendig bestehende äußere Mein und Dein wird durch die öffentliche Gesetzgebung peremto155  Vgl. auch Kant, MdS, § 46: „Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder (…) heißen Staatsbürger (cives), und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben sind: gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat; bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im Volk in Ansehung seiner zu erkennen als nur einen solchen, den er ebenso rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann; drittens das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern nur seinen eigenen Rechten und Kräften als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechtsangelegenheiten keinen anderen vorgestellt zu werden.“ Hier findet sich eine Parallele zum angeborenen Recht, welches ebenso die Merkmale der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit als inneres Recht zum Gegenstand hat und nun im Staat insofern erweitert wird, als der vom Einzelnen mitkonstituierte Staat sein Verhältnis zu ihm auf den gleichen Prinzipien aufbauen muss, soll der Einzelne im Staat nicht verloren gehen. Vgl. hierzu näher Wawrzinek, Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen (2009), S.  202 ff. 156  Vgl. hierzu bereits die Ausführungen im 1. Teil der Arbeit unter E. I. 2. b). Vgl. hierzu auch Kants Ausführungen in seiner Friedensschrift: „Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (so wenig, wie das Allgemeine des Obersatzes in einem Vernunftschlusse zugleich die Subsumtion des Besondern unter jenem im Untersatze sein kann“. Zum ewigen Frieden, BA 26. 157  Vgl. näher Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 400 ff.



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung283

risch. Das grundsätzliche Vertrauen in das sich gegenseitig respektierende freiheitliche Handeln wird auf eine sichere Basis gestellt. Im positiven Recht findet die als richtig erkannte Allgemeinheit ihre objektive Bestimmtheit abstrakt im Grundrechtskatalog der Verfassung und schließlich in Einzelgesetzen des Privat- und öffentlichen Rechts.158 b) Exekutive Gewalt Die Exekutivgewalt bildet im Rahmen des praktischen Syllogismus den Unterbegriff im Verhältnis zum allgemeinen Gesetz: Aufgabe der Exekutiven ist es, zufolge des Gesetzes zu handeln. Die ausführende Gewalt ist mit der Maximensetzung des Subjekts und damit seinem möglichen Selbstzwang des von ihm selbst eingesehen Allgemeinen parallel zu setzen. Die Exekutive bezieht sich auf die Institutionen, die die Gesetze ausführen. Sie sind die Organe, welche das Allgemeine im Einzelfall nach außen tragen, d. h. die Gesetze durchsetzen, ihnen Geltung verschaffen. Im Rahmen des Privatrechts wurden die unterschiedlichen Weisen der äußeren Erwerbung vorgestellt, die im Staat durch die Institution der Exekutiven die wechselseitig er­werbende Gerechtigkeit durchsetzen soll.159 Durch Vollzugsorgane schreibt sie dem Volke die Regeln vor, „nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine erhalten kann“160 Hierin zeigt sich auch, dass die zweite Gewalt die abstrakten Gesetze in die sinnliche Wirklichkeit trägt, während die Gesetzgebung nur vorschreibt.161 Anders als der Gesetzgeber muss sich daher auch die Exekutive an gegebenen Situationsbedingungen und Einzelfällen orientieren, beide realisieren aber zugleich das Allgemeine.162 Die Exekutive ist insofern näher am praktischen Leben der Bürger als die Gesetzgebung. Sie kann einerseits auf besondere Situationen flexibler als die auf Kontinuität angelegte Gesetzgebung reagieren, ist dafür aber andererseits anfälliger für Fehlentscheidungen, weil sie immer nur das Besondere und nicht in erster Linie das Allgemeine im Blick hat. Daher heißen die „Befehle an das Volk“ seitens der ausführenden Gewalt Verordnungen oder Dekrete und nicht Gesetze. Sie „gehen auf Entscheidungen in einem besonderen Falle und werden als abänderlich gesehen“.163 Die auf den Einzelfall abzielenden Regelungen sind insofern „abänderlich“, als sie gerade 158  Zaczyk,

Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 186. auch Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 163. 160  Kant, MdS, § 49, A 170, B 200. 161  Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 164. 162  Vgl. hierzu auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 400. 163  Kant, MdS, § 49. 159  Siehe

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

situations- und einzelfallbezogen sind. „Die Verwaltung reagiert auf die Veränderungen der sozialen Umwelt, die Qualität ihrer Entscheidungen ist wesentlich von den sich wandelnden Verhältnissen abhängig, sie muß flexibel sein. Im Gegensatz dazu verlangt die ratio gesetzgeberischer Tätigkeit, sich über das Wechselvolle hinwegzusetzen.“164 Nähere Ausführungen zu den konkreten Aufgaben der Exekutiven macht Kant nicht. Allerdings deutet er an unterschiedlichsten Stellen der Metaphysik der Sitten, ihre Tätigkeitsfelder an. So soll z. B. die Strafvollstreckung der Exekutiven zukommen.165 Die Exekutive ist in ihrem Handeln an die gesetzlichen Regelungen gebunden. An den unterschiedlichen Aufgabenfeldern von Legislative und Exekutive zeigt sich auch die Bedeutung der Trennung der beiden Gewalten für die Realisierung freiheitlicher Verhältnisse im Staat. Es wurde oben schon ausgeführt, dass ein (kategorischer) Vernunftschluss in sich vernichtet wird, wenn Obersatz und Untersatz zusammengefasst werden. Würden Legislative und Exekutive in Personalunion sein, handelte es sich um eine despotische Staatsform. Mit einem Rechtsstaat vereinbar ist demgegenüber nur die Staatsform, die beide Gewalten trennt: die Republik (in Abgrenzung zum Despotismus): „Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird“.166 Eine solche Staatsform wäre „vorstaatlich“, da es gerade keine gesetzliche Allgemeinheit gäbe. Die Qualität des Staatsbürgerdaseins würde negiert, denn eine Geltendmachung seiner Rechte wäre nicht mehr gewährleistet. Die Regierungsarbeit ist aufgrund ihrer situationsgebundenen Tätigkeit in Bezug auf Einzelfälle fehlbar. Ebenso wie die subjektive Perspektive des Einzelnen und sein Tätigwerden in der Welt bedingt durch seine Endlichkeit und damit auch Fehlbarkeit anfällig ist für Fehlleistungen und Fehlurteile, ist es auch die Exekutive. Würde diese mit der Legislative zusammenfallen, hätte der Einzelne keine Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle. Der Richter hätte nicht die Möglichkeit, das Besondere der Exekutiven mit der Allgemeinheit des Gesetzes zu überprüfen, da beides zusammengefasst wäre. Denn es wäre nur das Recht, was die Regierung als Recht im Einzelfall gesetzt hätte. Die Trennung von Exekutive und Legislative und damit die Staatsform der Republik sind somit notwendig, sollen freiheitliche Verhältnisse im Staat realisiert werden. 164  Kersting,

Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 403 f. MdS, A 195, B 225: „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.“ Vgl. auch zum Polizeirecht: Kant, MdS, A 150, B 149. Siehe hierzu auch Ludwig, Kants Rechtslehre (1988), S. 163. 166  Kant, „Zum Ewigen Frieden“, BA 25 ff. 165  Kant,



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c) Richterliche Gewalt Schon zuvor, insbesondere im Rahmen des Übergangs vom Natur- zum Rechtszustand wurde die Bedeutung der dritten Gewalt hervorgehoben. Sie leistet im Staat das, was die Autonomie des Einzelnen im praktischen Vernunftschluss leistet: sie verbindet das Allgemeine mit dem Besonderen. Während die Legislative die Gesetze aufstellt, entscheidet die Judikative strittige Fragen nach dem Gesetz.167 Kant hat daher auch den Gerichtshof als die „Gerechtigkeit eines Landes“168 bezeichnet. Schon diese bedeutende Stellung zeigt, dass die Rechtsprechung nicht ein blinder Subsumtionsapparat ist, sondern durch sie die Freiheit des Einzelnen erst zur Geltung kommt. Der „Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof) auf den Untertan, d. i. einen, der zum Volk gehört, mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist, ihm das Seine zuzuerkennen (zu erteilen).“169 Aufgabe des Richters ist es, als sachliche und persönlich unabhängige In­ stanz (vgl. auch Art. 92 und 97 GG), streitige Fragen zwischen einzelnen Bürgern oder zwischen Bürgern und Staatsorganen objektiv zu entscheiden. Ebenso wie das Gesetz ist das Gericht insofern objektiv, als es unabhängig vom subjektiven Meinen der betroffenen Parteien eine Entscheidung zufolge des Gesetzes fällt. „Die Justiz repräsentiert die gültige Reflexion auf den gesetzlichen Allgemeinwillen im streitigen Anwendungsfall – die Con-clusio, den ganzen Zusammenschluss“.170 Ihre Aufgabe ist es auch, einen Schlusspunkt zu setzten: Die Judikative soll mit ihrer objektiven Entscheidung Rechtssicherheit schaffen. Daher soll nach Kant auch der Rechtsspruch des obersten Richters „unabänderlich (inappellabel)“ sein. Die besondere Stellung der Justiz im Gefüge der Gewaltenteilung ist ebenso wie die der anderen Gewalten keine rechtspolitisch oder ökonomisch gewählte Stellung, sondern eine für die Realisierung der Freiheit notwendige. Die Judikative bildet die Mitte des den allgemeinen Willen repräsentierenden Rechtsstaates, da sie das Gleichgewicht zwischen den privaten und gesellschaftlichen Interessen und den Staatsinteressen herstellt. Sie weist als Unbeteiligte Distanz zu den Konfliktparteien und ihren Anliegen auf.171 167  Kersting,

Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 399. AB 156. 169  Kant, MdS, § 49, A 171 f., B 201 f. 170  Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203); ders., Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat, in: FS-Landwehr (2016), 393 (409 ff.). 171  Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203); ders., Die Judikative zwischen Justizhoheit und Justizstaat, in: FS-Landwehr (2016), 393 (409 ff.). 168  MdS,

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

Damit ist der Grund für die in Artikel 19 Abs. 4 GG normierte Rechtsschutzgarantie benannt.

III. Zusammenfassung Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Demokratie sind Staatsstrukturen, die sich aus dem vernünftigen Denken und Handeln des Einzelnen ergeben und einen gerechten Staat, einen Rechtsstaat bedingen. Art. 20 Abs. 2 GG zeigt diesen Zusammenhang positivrechtlich auf: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Ein nach vernünftigen, freiheitlichen Prinzipien konstituierter Staat bedarf einer Gewaltenteilung, ebenso wie die Dreiteilung eines (kategorischen) Vernunftschlusses, muss also die Form menschlichen Handelns in sich aufnehmen. Die Allgemeinheit repräsentieren kann nur eine in sich verfasste Einheit oder anders ausgedrückt: „Jede der Gewalten in der Einheit ist eine Person, welche den vereinigten Willen aller – die Volkssouveränität – auf ihre Weise zu repräsentieren hat.“172 Der Begriff der Souveränität ist damit nicht ein Begriff der nationalstaatlich überholt ist und sich nur im Verhältnis zu anderen Staaten auswirkt, sondern ist Bestandteil der inneren Verfasstheit, die aus der „Selbstkonstitution des Volkes“ hervorgeht.173 Ebenso wenig ist die Gewaltenteilung im Staat zwischen Legislative, Exekutive und Judikative bloß geistesgeschichtlich zufällig174 oder eine reine politische Klugheitsregel175, sondern staatsbegrifflich und damit (freiheitlich) rechtsnotwendig.176 Das Strukturprinzip der Gewal172  Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203). Das Verhältnis von praktischem Syllogismus und Gewaltenteilung wird auch durch die Reflexion 7673 aus Kants Nachlass deutlich: „Der Souverän muß urteilen was und wie eine Verfassung dem Willen des Ganzen gemäß sei. Der Regent, was den besonderen Zwecken aller besonders gemäß sei, mithin sich unter einen allgemeinen Willen dem Zwecke nach subsumieren läßt, und der muß selbst eine Macht haben und nicht wiederum angewiesen werden zu urteilen. Endlich der Richter, welcher ob die Subsumtion des Zwecks des Einzelnen unter dem Gesetz der Freiheit aller recht sei oder nicht. Es ist also 1. Macht und Freiheit 2. Vermögen und Zweck. 3. Zweck unter dem Gesetz der Freiheit“, Akademie-Ausgabe, XIX, S. 485. 173  Zaczyk, Selbstsein und Recht (2014), S. 93. Grundlegend zum Begriff der Souveränität auch Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, in: JZ 2002, 1072 ff. 174  So aber z. B. Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig/Herzog (Hrsg.), GG-Kommentar, 67. Ergänzungslfg. (2013), Art. 20 Rn. 18. Vgl. hierzu den 2. Teil D. II. 4. b). 175  So aber Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 2, 3. Aufl. (2004), § 27 Rn. 1. Vgl. hierzu den 2. Teil D. II. 4. b). 176  Vgl. auch Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik (1987), S. 137 (208 f.).



C. Freiheitliche Staatsbegründung und Rechtsverfassung287

tenteilung ist begriffsnotwendig im Rechtsstaat enthalten. Die Trennung der Gewalten hat ihren Grund nicht bloß darin, die Macht der Staatsorgane zu mäßigen und damit die individuelle Freiheit zu schützen.177 Das ist eine Folge dieser Struktur. Ebenso wenig ist sie ein nur funktionales Prinzip, um die Effektivität des Staatshandelns zu fördern.178 Wie sich gerade in der gubernativen Rechtssetzung179 der EU zeigt, kann eine solche quantitativ wesentlich effektiver sein als ein demokratisches Verfahren. Davon zeugen schon die zahlreichen Richtlinien und Verordnungen, die auch das deutsche Recht ausmachen. Die Kritik an Kant, er isoliere die Betrachtung der Gewaltenteilung „ganz auf einen juristisch-formalen Aspekt“ und habe „keinerlei Beziehung zur sozialen Wirklichkeit des Staates“, ist daher verfehlt.180 Der praktische Vernunftschluss stellt nicht eine rein formale, juristische Logik dar, die lebensfremd wäre. Mitgesetzt ist immer die Allgemeinheit und zwar nicht eine abstrakte, sondern eine konkrete, die gerade die Existenz von Mitsubjekten umfasst. Zudem geht es um einen Willen und damit um lebendige Subjekte. Im Rahmen staatlichen Handelns wird deutlich, wie der Vernunftschluss „in sich zusammen fällt“, wenn auch nur eine der drei Gewalten nicht selbständig, sondern zugleich Teil einer anderen wäre. Würde der Obersatz mit dem Untersatz zusammenfallen, wäre der praktische Vernunftschluss aufgehoben, denn es gäbe keinen kategorischen, sondern nur einen hypothetischen Obersatz: Die Fassung des allgemeinen Gesetzes wäre von der Ausführung desselben auf den Einzelfall abhängig, so dass das Gesetz gerade nicht mehr allgemein wäre.181 Der Oberbegriff wäre dann nicht mehr ein kategorischer, da das Besondere (der Einzelfall), zugleich das Allgemeine wäre. Eine Instanz, die eine Gleichheit der Anwendungsbedingungen des Allgemeinen gewährleistet, gäbe es nicht. Bezogen auf die Gewaltenteilung: Wären Legislative und Exekutive in einer Hand würde der Allgemeinheit des Gesetzes die Legitimationsfunktion entzogen, die Exekutive wäre an kein Gesetz gebunden und könnte völlig willkürlich handeln. Auch wenn der Richter zugleich der Gesetzgeber wäre, müsste er sein Urteil nicht an der Allgemeinheit der Gesetze ausrichten, sondern könnte sich 177  Vgl. z. B. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 2 (2004), § 26 Rn. 50. Papier, Gewaltentrennung im Rechtsstaat, in: Merten (Hrsg.), Gewaltentrennung im Rechtsstaat (1989), S. 95; Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 2, 3. Aufl. (2004), § 27 Rn. 2 f.; Kirchhof, Der europäische Staatenverbund, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 1009 (1039 f.). 178  Vgl. demgegenüber Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 68 ff. 179  Vgl. hierzu 2. Teil unter B. III. 1. m. Fn. 84. 180  So Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. (1981), S. 96. 181  Vgl. oben unter B. III.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

seine eigenen Gesetze geben, nach denen er richtet. Schließlich könnte eine willkürfreie Gesetzmäßigkeitsüberprüfung der Subsumtion der Gesetze unter den Einzelfall nicht stattfinden, wenn Judikative und Exekutive in einer Hand wären. Der Richter wäre vielmehr Richter in eigener Sache.182

D. Staatliche Rechtsstrafe Bisher wurden die Grundstrukturen menschlichen Handelns aufgezeigt und dargelegt, dass sich auch das Recht und der Staat an jenen zu orientieren haben. Im Folgenden ist den Fragen nachzugehen, warum auf eine begangene (strafrechtliche) Unrechtstat reagiert werden muss und wer für die Reaktion auf eine solche Tat zuständig ist. Die Antworten dieser Fragen sind notwendig an die Handlungsform des Einzelnen geknüpft: Begangenes Unrecht einerseits, die Verhängung von Strafe andererseits sind selbst Tätigkeiten von einzelnen Subjekten. Als Rechtsinstitut muss die Strafe zudem die Voraussetzungen erfüllen, die das Recht ausmachen: Sie muss zum einen die Freiheit des Einzelnen zum Ausgang nehmen, soll die Verhängung von Strafe nicht zu einer bloßen Machtfrage werden, und kann zum anderen als Recht nicht die inneren Maximen, sondern muss die äußeren Freiheitssphären zum Gegenstand haben. Die Verhängung von Strafe als Recht muss daher eine Handlung sein, in der „die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“183. Mit dem Begriff des allgemeinen Gesetzes sind – wie dargelegt – zunächst nicht die positivrechtlichen Gesetze gemeint, sondern Vernunftgesetze. Das Subjekt ist in der Lage, im äußeren interpersonalen Verhältnis Verbindlichkeiten gegenüber anderen zu erkennen. Es kann in sein Denken und Handeln die Gemeinschaftlichkeit mit anderen aufnehmen. Solange 182  Vgl. auch Joerden, Das Prinzip der Gewaltenteilung, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 1 (1993), 207 (218 ff.). „Nur dann, wenn sich auch das staatliche Handeln in der Form des praktischen Vernunftschlusses vollzieht, wie Kant ihn vorgezeichnet hat, können Gesetzlichkeit und damit das Gleichbehandlungsgebot und das Willkürverbot eingehalten werden. Die personelle und institutionelle Trennung der Gewalten ist das wirksamste vorstellbare Mittel, um dies maximal zu gewährleisten. Damit stellt sich auch heraus, dass der Gedanke der wechselseitigen Kon­ trolle der Staatsgewalten im Sinne einer ‚balance of power‘ eher vordergründig ist. Es geht bei der Trennung der staatlichen Gewalten um die Garantie der rechtsstaatlichen Essentialien von Gleichheitsgebot und Willkürverbot. Erst auf dem Hintergrund dieser Garantie wird auch die Freiheit des Individuums möglich, wie sie sich nur in einem freiheitlichen Staatswesen behaupten kann. Oder in Kants Worten: ‚Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.‘ (§ 49 der Rechtslehre)“. 183  Kant, MdS, Einl. in die Rechtslehre, § C.



D. Staatliche Rechtsstrafe289

jedoch die Beurteilung des Rechts allein vom Einzelsubjekt ausgeht, ist es insoweit in seiner subjektiven Perspektive gefangen. Eine Verbindlichkeit auch für andere kann der Einzelne von sich aus allein nicht schaffen. Diese Tatsache ist wiederum ein Teil der Erkenntnisleistung des Subjekts; es begreift selbst die Notwendigkeit, in einen öffentlichen Rechtszustand überzugehen, in dem die – a priori vorgestellten – Rechte tatsächlich gesichert und durchgesetzt werden können. Im Rahmen des Privatrechts hat Kant den Vernunftschluss als notwendig dargelegt: Er hat im Anschluss an die Denknotwendigkeit von Freiheit in der „Metaphysik der Sitten“ (Rechtslehre) aufgewiesen, dass und warum der interpersonal handelnde Einzelne aus den naturrechtlichen Besitzrechtsverhältnissen in einen öffentlich-rechtlichen Zustand überzugehen hat, warum die Staatskonstitution notwendig ist. Für das Strafrecht fehlt eine solche Darstellung. Kant behandelt das Strafrecht im Staatsrecht lediglich im Rahmen einer „Allgemeinen Anmerkung“. Dort bezeichnet er das „Strafgesetz als kategorischen Imperativ“.184 Er weist jedoch nicht näher aus, warum er es im Rahmen des Staatsrechts behandelt, in welchem Verhältnis das Strafrecht zum Naturzustand steht und wie sich Strafe und Freiheit zueinander verhalten. Der Grund hierfür liegt vermutlich darin, dass Kant, wie er in der Vorrede zur Metaphysik der Sitten der Rechtslehre erklärt, „(g)egen Ende des Buches (…) einige Abschnitte mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet (habe), als in Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden konnte: (…), weil sie mir aus diesen leicht gefolgert werden zu können schienen (…).“185. Im Folgenden soll versucht werden, den Begründungsgang des Strafrechts ausgehend von der Freiheit des Einzelnen aufzuzeigen und ihn für die Frage nach der Stellung und Bedeutung des Strafrechts im Staat fruchtbar zu machen. Hegel hat die Grundgedanken der dargelegten Handlungsprinzipien Kants aufgenommen und für die Frage des Strafrechts weitergeführt, so dass er hier zur Unterstützung des gedanklichen Aufweises eines (staatlichen) Strafrechts herangezogen wird.

I. Der Begriff der Strafe Kant führt den Begriff der Strafe (nicht das Straf-Recht) in der Kritik der praktischen Vernunft als einen solchen ein, der denknotwendig mit dem Begriff der sittlichen Freiheit verbunden ist. Damit liegt der Strafbegriff 184  A

196, B 226. X. Vgl. hierzu auch ebenso Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 (408). 185  AB

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

dem Recht und auch dem Staat gedanklich voraus. Er ist ein Begriff, der in der je einzelnen menschlichen Vernunft liegt (auch im Täter selbst) und damit Teil der Selbstbestimmung des Einzelnen ist. Die Darlegung der Denknotwendigkeit der Strafe findet sich in den „Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft“. Dort betont Kant in „§ 8. Lehrsatz IV“ die Bedeutung der Autonomie des Willens für das moralische Gesetz und grenzt sie von der Heteronomie der Willkür ab: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“186 Die Heteronomie der Willensbestimmung zeichnet sich dadurch aus, dass der Einzelne sich von Zwecken leiten lässt, die ihn „nötigen“, seine Maximen einer bestimmten Materie zu unterstellen. So können ihn seine Begierden oder Neigungen lenken, um ein besonderes Ziel zu erreichen, an dem er sein Handeln orientiert. Da das gesetzte Ziel immer abhängig ist von der ihm vorgegebenen Zweckbestimmung, können heteronome Bestimmungsgründe keine allgemein-gültigen Verbindlichkeiten abgeben, denn sie nehmen primär die bedürfnisorientierten Grundsätze des Einzelwillens und nicht das Allgemeine in den Blick. Dieses muss aber gerade unabhängig vom besonderen Willen sein. Es können daher nur von der Vernunft selbst gegebene Prinzipien sein, die eine Handlung tatsächlich auch zur Pflicht machen können. Nur die Autonomie des Willens taugt daher für allgemein-gültige praktische Gesetze und nur sie ist in der Lage „das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten“ anzugeben.187 Dem Lehrsatz IV folgen zwei Anmerkungen. Im Rahmen der zweiten Anmerkung wird der Strafbegriff eingeführt. Diese Anmerkung beschreibt zu Beginn die beiden Gegensätze, die im einzelnen Willen des Subjekts real streiten: zum einen das Streben nach der eigenen Glückseligkeit, zum anderen die Vernünftigkeit, die es ihm ermöglicht, unabhängig von seinen eigenen (heteronomen) Bedürfnissen zu agieren, also autonom, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln. „Das gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit ist: wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird, wozu (…) alles überhaupt gezählt werden muß, was den Bestimmungsgrund, der zum Gesetze dienen soll, irgend worin anders, als in der gesetzgebenden Form der Maxime setzt. Dieser Widerstreit ist aber nicht nur logisch, wie der zwischen empirischbedingten Regeln, die man doch zu notwendigen Erkenntnisprinzipien er186  Kant,

KpV, A 58. hierzu auch oben die Abgrenzung der hypothetischen Imperative vom kategorischen Imperativ unter B. III. 187  Siehe



D. Staatliche Rechtsstrafe291

heben wollte, sondern praktisch, und würde, wäre nicht die Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich, die Sittlichkeit gänzlich zu Grunde richten“.188 Kant beschreibt das Widerstreiten der unterschiedlichen Bestimmungsgründe des Willens im Subjekt als Teil des praktischen, des freien Handelns des Einzelnen. Dieser selbst bildet die Einheit von Endlichkeit und Vernünftigkeit, die sich auch nicht „logisch“ aufheben lässt, sondern die existent ist. Das Subjekt handelt nicht nur vernünftig und nach dem von ihm allgemein eingesehenen Richtigen, sondern zeichnet sich durch seine besonderen Bedürfnisse aus. Dabei folgt es gerade auch seinen Glückseligkeitsstrebungen. Bei dem Streben nach der eigenen Glückseligkeit kann es sich bewusst gegen das von ihm eingesehene Richtige wenden. In diesem Zusammenhang führt Kant den Begriff der Strafe ein. Das bewusste Handeln gegen das Gute ist Teil der Freiheitsäußerung selbst (wenn auch in ihrer negativen Seite). Widerspricht die Handlung des Einzelnen dem ursprünglich als richtig Erkannten, bedarf es a priori einer Wiederherstellung der vernünftigen Ordnung. Der Begriff der Strafe ist daher denk-notwendig mit dem Begriff der Freiheit verbunden:189 Es „ist noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft, welches die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit“.190 1.  Um Strafe als notwendige Folge anzusehen, bedarf die Verletzung des Sittengesetzes einer besonderen Qualität. Statt von „Übertretung eines sittlichen Gesetzes“ spricht Kant auch vom „moralisch-Bösen“ oder vom „Verbrechen“.191 Der Einzelne muss sich in einen bewussten Grundwiderspruch zum Richtigen setzen. Eine Verletzung aus Unkenntnis des allgemeinen Gesetzes oder aufgrund eines Irrtums über das Vorliegen von Tatsachenvoraussetzungen stellt nicht eine Grundverkehrung der sittlichen Ordnung dar. Vielmehr muss das Subjekt das als allgemein richtig Eingesehene pervertieren und sich mit seiner gesetzten Maxime in einen Selbstwiderspruch setzen. Das Subjekt verkehrt nicht das Richtige allein aufgrund seiner Fehlbarkeit, sondern die Verkehrung des Sittengesetzes beruht gerade darauf, dass es sich dem eingesehen Syllogismus des moralischen Imperativs bewusst entzieht und so seine böse Maximensetzung als allgemein-gültig behauptet. „Der böse Handelnde negiert (…) nicht nur das Gute seinem 188  Kant,

KpV, A 61 f. hierzu ebenfalls Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 (401 ff., 410). 190  A 66. 191  Kant, KpV, A 66. 189  Vgl.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

jeweiligen Inhalte nach für sich, sondern negiert es in Bestimmtheit eben dadurch, daß er den schlüssigen Verallgemeinerungsprozeß der praktischen Vernunft als solchen verweigert. Dieses eigentlich Kategoriale des bösen Willens liegt zunächst in der negierten Verallgemeinerung des Guten in der je bestimmten Hinsicht, damit in einem äußeren Widerspruch zur vorgängig eigenen Vernunftleistung. Als unwahr, als Selbstwiderspruch vor dem Forum der praktischen Vernunft erweist sich dies dadurch, dass die Affirma­ tion der widersprechenden Maxime (dem Inhalt des Bösen) eigentlich nicht konsequent allgemeingültig gewollt sein kann.“192 Der Einzelne erhebt damit seinen subjektiven Grundsatz in dem Bewusstsein zum allgemeinen Prinzip, dass er damit selbst den kategorischen Imperativ verkehrt und so die sittliche Ordnung „auf den Kopf stellt“ und sie in dieser (verkehrten) Form als allgemein-gültig behauptet.193 2.  Die Strafe ist denk-notwendig, um das als allgemein richtig Erkannte bei einer Negation, bei einem „Verbrechen“194, wiederherstellen zu können. Die sittliche Ordnung bedarf bei ihrem Bruch einer Restitution in Form von Strafe und zwar als Denkbewegung im Subjekt selbst. Das allgemeine Gesetz bildet den Oberbegriff, die das allgemeine Gesetz negierende Maxime den Unterbegriff und die Strafe ist dann die notwendige Folge (Mittelbegriff) zur Wiederherstellung des vom Einzelnen selbst als sittlich richtig Erkannten. Ausgangspunkt und Oberbegriff bildet damit wiederum die Möglichkeit des freien Einzelnen, dass allgemeine Gesetz zum Bestimmungsgrund seiner Handlung zu machen. Die „Wirklichkeit“ ist der Unterbegriff des Gesetzes und ist das Handlungsprinzip des jeweiligen Subjekts, seine Maxime. Diese Maxime stimmt nicht mit dem Allgemeinen überein, sondern widerspricht ihm, sie übertritt das allgemeine Gesetz. Die notwendige Folge ist die Strafe als die Freiheit rehabilitierende Unfreiheit, um den Widerspruch der Maxime mit dem Allgemeinen aufzulösen und der Freiheit wieder Geltung zu verschaffen. Nur wenn man Strafe als notwendig zur Wiederherstellung des vom Subjekt selbst als richtig Erkannten denkt, bleibt die Sittenverletzung nicht als allgemein-gültige bestehen, sondern das Sit192  Köhler,

Der Begriff der Strafe (1986), S. 31. auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts: Die Verletzung ist „für den besonderen Willen des Verletzten und der übrigen nur etwas Negatives. Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers. Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, d. h. allgemeine Existenz haben würde, denn einzelnes Sein ist hier allgemein – für Alle“. § 99 mit handschriftlichem Zusatz. 194  Kant, KpV, A 67. Kant verwendet den Begriff des „Verbrechens“, der bereits darauf hinweist, dass es sich um eine fundamentale Verletzung des Sittengesetzes handeln muss. Allerdings erklärt er hier nicht näher, wie der Begriff des „Verbrechens“, welches den Strafbegriff fordert, geartet sein muss. 193  Vgl.



D. Staatliche Rechtsstrafe293

tengesetz wird restituiert. Ebenso wie sich das Subjekt in den Stand eines Gesetzgebers setzen und seine eigenen Maximen daraufhin überprüfen kann, kann es durch den Begriff der Strafe auch die Notwendigkeit der Negationsaufhebung gegenüber dem Sittengesetz einsehen, insofern sind Freiheit und Strafe unmittelbar miteinander verknüpft.195 Im Folgenden weist Kant auch ausdrücklich darauf hin, dass der Strafbegriff ein Vernunftbegriff sein muss und daher ein kategorischer und nicht bloß ein hypothetischer Vernunftschluss sein kann, soll es ein „gerechter“ Strafbegriff sein.196 Maßstab muss das Allgemeine bleiben und nicht die subjektiven Zweckvorstellungen der Subjekte, mögen jene auch noch so gut gemeint sein. „Nun läßt sich mit dem Begriffe einer Strafe, als einer solchen, doch gar nicht das Teilhaftigwerden der Glückseligkeit verbinden. Denn obgleich der, so da straft, wohl zugleich die gütige Absicht haben kann, diese Strafe auch auf diesen Zweck zu richten, so muß sie doch zuvor als Strafe, d. i. als bloßes Übel für sich selbst gerechtfertigt sein, so daß der Gestrafte, wenn es dabei bliebe, und er auch auf keine sich hinter dieser Härte verbergende Gunst hinaussähe, selbst gestehen muß, es sei ihm recht geschehen, und sein Los sei seinem Verhalten vollkommen angemessen. In jeder Strafe, als solcher, muß zuerst Gerechtigkeit sein, und diese macht das Wesentliche dieses Begriffs aus.“197 Das freie Subjekt als autonomes Wesen und damit auch der Täter selbst bestimmen das allgemein Gültige und zugleich den Widerspruch des Allgemeinen, sie begründen den „Widerspruch in sich selbst“ und vollziehen ebenso die notwendige Konklusion der Auf195  Vgl. auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 100: „Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht – als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit (…)“. 196  Vgl. demgegenüber Becchi, Vergeltung und Prävention, in: ARSP 88 (2002), 549 (556), der meint, dass das Strafgesetz ein „hypothetischer Imperativ“ sein müsste. Seines Erachtens ist die Identifizierung des Strafgesetzes mit dem kategorischen Imperativ mit Kants Ansatz selbst nicht vereinbar. Das Strafgesetz habe bei Kant einen besonderen Zweck: Es sehe eine Strafe vor, falls jemand gegen das Verbot verstoße und habe daher den Zweck, dass man sich den Gesetzen gemäß verhalten sollte: „ ‚Willst Du die Strafe vermeiden, so sollst du kein Verbrechen begehen‘ “. Becchi übersieht jedoch, dass der Begriff des Strafgesetzes nicht bloß positivrechtlich zu verstehen ist, sondern ein Begriff ist, der im Subjekt selbst liegt. Der Einzelne ist in der Lage, das Allgemeine zu erkennen und kann sich auch bewusst gegen dasselbe entscheiden. Entscheidet er sich dagegen, ist es eine Leistung, von der er selbst weiß, dass sie als Negation des Richtigen einer Aufhebung bedarf, um das Richtige wiederherzustellen. Diese Reflexionsleistung bezüglich der Wiederherstellung des Richtigen ist eine, die gerade nicht auf Zweckerwägungen beruht. Dass im konkreten Fall jemand deshalb kein Verbrechen begeht, weil er nicht bestraft werden will, steht dem nicht entgegen. Damit kann aber Strafe selbst nicht begründet werden, sondern setzt sie dem Begriff nach bereits voraus. 197  Kant, KpV, A 65 f.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

hebung dieses Widerspruches.198 „Also ist Strafe ein physisches Übel, welches, wenn es auch nicht als natürliche Folge mit dem moralisch-Bösen verbunden wäre, doch als Folge nach Prinzipien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden müßte“.199 Kant führt den Begriff der Strafe im Rahmen des Sittengesetzes ein, bevor er überhaupt zu der Frage der Unterscheidung von Recht und Ethik (Tugend) kommt und knüpft ihn unmittelbar an das Sittengesetz.200 Die Idee der Strafe als denknotwendige (es geht um den Begriff der Strafe und nicht um das Strafrecht) ist daher ebenso wie der Begriff der Freiheit vor-rechtlich.201 Das hat zur Folge, dass der Strafbegriff auch in seiner Ausgestaltung an Vernunftstrukturen gebunden ist; Strafe muss gerecht sein.202 Denn sie betrifft den Bereich freiheitlichen Handelns überhaupt.203 Der Strafbegriff ist im Rahmen der Moralphilosophie jedoch noch im vernünftigen Denken des je einzelnen Subjekts „gefangen“. Es ist eine Reflexionsleistung des Subjekts selbst und insoweit an seine Perspektive gebunden. Maßstab ist dabei die innere Handlungsgrundlage, die Maxime, des Einzelnen, so dass die Strafe hier noch keine Rechtsstrafe sein kann. Es konnte aber aufgewiesen werden, dass Strafe als moralischer Begriff vorrechtlich ist. Der oben dargelegte Rechtsbegriff muss nun in der Weise mit ihm verbunden werden, dass die Strafe als Rechtsstrafe begriffen werden kann.

II. Un-Recht (Verbrechen) und Strafe Der „Rechtsimperativ“ lautet: „handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemei198  Siehe hierzu insbesondere mit Bezug auf Hegel Köhler, Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis, in: FS-Lackner (1987), S. 11 (20 ff.). Vgl. auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 100: „Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, dass sie etwas Allgemeines, dass durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf.“ 199  Kant, KpV, A 66. 200  Siehe hierzu auch Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 (403). 201  In der Metaphysik der Sitten erklärt Kant ausdrücklich, dass das „Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est)“, B 171. 202  Vgl. zur Notwendigkeit einer allgemein moralgesetzlich einzusehenden Strafkategorie, um eine Begründung von freiheitlicher (Rechts-)Strafe zu gewährleisten treffend Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 19 f. 203  Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 (401).



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nen Gesetz zusammen bestehen könne“.204 Die aufeinander treffenden freien Handlungen müssen so geartet sein, dass sie der Freiheitsrealisation des jeweiligen Gegenübers nicht entgegenstehen. Ebenso wie der Einzelne dieses Rechtsgesetz einsehen kann, kann er es auch tätig verletzen. Er kann Unrecht verwirklichen. Im Rahmen der Einleitung in die Rechtslehre verbindet Kant allerdings Unrecht (als „ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“) mit dem Begriff des Zwanges und nicht mit dem Begriff der Strafe. „Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.“205 Dargelegt wurde jedoch bereits, dass mit dem Zwangsrecht nicht eine Strafbefugnis gemeint ist, sondern unmittelbarer Zwang, welcher Unrecht verhindern bzw. den entstandenen Schaden beheben soll. Setzt jemand der Freiheit eines anderen ein Hindernis entgegen, dann ist die Verhinderung dieses Hindernisses selbst Recht: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten (…) einerlei.“206 Es steht dem je betroffenen Einzelnen die Befugnis zu, Unrecht direkt zu verhindern oder zu beseitigen. Es ist die Aktualität des Unrechts, die Bedingung für das Zwangsrecht ist und dieses auch begrenzt.207 Demgegenüber ist es Aufgabe der Strafe, das als allgemein gültig Erkannte wiederherzustellen. Es geht also nicht um eine Abwehr eines Angriffs auf die Vernunftordnung oder einen Ausgleich des entstandenen Schadens. Der Begriff der Strafe muss vielmehr notwendig gedacht werden, um die objektive Vernunftordnung nicht in ihrer Verletzung zu belassen, sondern ihr wieder Geltung zu verschaffen. Analog zum moralischen Strafbegriff muss auch die Frage nach dem Strafrecht entwickelt werden. Dabei ist dieser Prozess insofern komplexer, als er die Besonderheiten des Rechts in sich aufnehmen muss. Der Begriff des Strafrechts muss daher sowohl in der Rechtsverletzungshandlung als auch in der Rechtsstrafe als Reaktion auf das begangene Verbrechen das wechselseitig-äußere Freiheitsverhältnis mit einbeziehen.208

204  Kant, 205  Kant,

MdS, A 34, B 34. Siehe hierzu auch oben unter B. III. MdS, Einl. in die Rechtslehre, § D, AB 34. Vgl. hierzu auch oben

unter B. III. 206  Kant, MdS, Einl. in die Rechtslehre § E, AB 36, 37. 207  Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 21  f.; ders., Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluss an Kant und Fichte, in: Kahlo/Wolff/Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis (1992), S. 93 (101 ff.). 208  Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 50.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

1. Zum Begriff des Strafunrechts (Verbrechen) Im Rahmen der Darlegung des Strafbegriffs wurde das Unrecht bestimmt als eine bewusste Verkehrung der Vernunftordnung. Aufgabe der Strafe war es, diese „pervertierte“ Vernunftordnung wiederherzustellen. Daran knüpft auch die Rechtsstrafe an. Als Rechtsbegriff ist sie aber an die äußere Freiheitsordnung gebunden. Eine bloß negative „innere Haltung“ zum Recht begründet daher noch keine Rechtsverletzung, sondern sie muss sich in der Außenwelt manifestieren. So kann z. B. der bloße Gedanke, einen anderen körperlich verletzen zu wollen, kein Unrecht darstellen, sondern dieses ist erst mit der tätigen Verletzungshandlung gegeben. Die Rechtsordnung ist zudem nicht bereits dann verletzt, wenn der Freiheit ein zufälliges äußeres „Hindernis“ entgegensteht, sondern sie muss in einer Weise angegriffen sein, durch die sie bewusst in Frage gestellt wird. Das Recht muss als Recht negiert werden.209 Der Rechtsimperativ wird vom Handelnden bewusst in sein Gegenteil verkehrt: Die Unrechtshandlung als „freier Gebrauch der Willkür“ lässt die Freiheit des Gegenübers überhaupt nicht zur Geltung kommen, sondern hebt sie auf. Der Täter erkennt sein Gegenüber nicht als Gleichen an, er macht ihn vielmehr zum Objekt für seine Zwecke. Er verletzt dabei tätig die „äußere“ Freiheit des Anderen, sein Leben, den Körper, das Eigentum usf. Zugleich behauptet er die Allgemeingültigkeit seiner Handlung, da sie „scheinbar“ vernünftige Handlung ist. Tatsächlich ist sie aber die bewusste Verkehrung des Allgemeinen. „Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers. Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederherstellung des Rechts.“210 In Anlehnung an die Definition des Verbrechens von Michael Köhler kann es bezeichnet werden als „die bewusste Verletzung des Rechts als Recht in einem Maße, das die rechtliche Gleichheit des Betroffenen grundlegend beeinträchtigt“.211 Nur wenn eine Rechtsverletzung dieser Qualität vorliegt, stellt sich überhaupt die Frage rechtlichen Strafens.212

209  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 99. Vgl. hierzu näher Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 47 ff. 210  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 99. 211  Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 22. 212  Der Begriff der „bewussten Verletzung“ ist hier weit zu verstehen und nicht auf bloßen Vorsatz zu reduzieren, sondern beinhaltet auch mögliches fahrlässiges Handeln. Vgl. näher zur vorsätzlichen und fahrlässigen Verletzung Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 321 ff.; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S.  209 ff. m. w. N.



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2. Zur Denknotwendigkeit der Rechts-Strafe Im Rahmen des sittlichen Begriffs der Strafe wurde die Vernunftnotwendigkeit derselben aufgewiesen. Sie ergab sich aus dem praktischen Vernunftschluss selbst. Mit dem Begriff der Freiheit unmittelbar verbunden ist der Begriff der Strafe. Die Verkehrung der Vernunftordnung bedarf einer notwendigen Aufhebung. Die Denknotwendigkeit von Freiheit muss einer tätigen Verletzung standhalten können, indem diese wieder aufgehoben wird, um so der Freiheit letztlich Geltung zu verschaffen. Analog dazu muss auch die Rechtsstrafe (rechts-)kategorisch mit dem Recht zusammenhängen. Kant legt die Notwendigkeit der Rechtsstrafe in der Metaphysik der Sitten dar: „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und, wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe (…) entbinde“.213 Aufgabe der Rechtsstrafe ist es, „das Recht als Recht“ wiederherzustellen.214 Auch das Recht bedarf bei der tätigen Negation durch ein Subjekt seiner Restitution. Diese Erkenntnis ergibt sich nicht daraus, dass eine besondere dem Einzelnen übergeordnete Macht sie vorgibt, sondern ist wiederum eine Reflexionsleistung des Subjekts selbst. Ebenso wie dieses den Begriff des Rechts einsehen kann, kann es dasselbe negieren und weiß um die Notwendigkeit seiner Wiederherstellung. Das Rechtsgesetz bildet den Oberbegriff, die tätige Verletzung der Freiheit des Gegenübers den Unterbegriff und die Rechtsstrafe ist die Folge (Mittelbegriff) zur Restitution des allgemein anerkannten Rechts. Ausgangspunkt der Rechtsstrafe ist damit die Möglichkeit des Einzelnen, den Begriff des Rechts als allgemeines wechselseitiges, äußeres Freiheitsverhältnis mit anderen einzusehen und anzuerkennen. Die Wirklichkeit interpersonalen Unrechthandelns weist auf die Verletzung des Rechtsverhältnisses hin. Der Unterbegriff widerspricht damit dem Oberbegriff: Der Verbrecher stellt ein vermeintliches Rechtsprinzip auf, welches aber gerade dem Rechthandeln grundlegend widerspricht, so dass notwendige Folge seiner Negation des Rechts Strafe ist, um den tätigen Widerspruch zum Recht aufzulösen. Die Möglichkeit freiheitlicher Rechtsverhältnisse, die das Subjekt selbst konstituieren kann, bedarf bei einer Negation einer Wiederherstellung des Rechts. Da nun das Recht die äußeren Freiheitssphären betrifft und der Begriff der Strafe mit dem Recht in Verbindung steht, weist dies schon daraufhin, dass auch die Strafe selbst als Handlung nicht die innere Gesinnung des Einzelnen betrifft, sondern nur auf die äußere Freiheit bezogen sein kann. Ist das Strafgesetz 213  Kant, MdS, A 196 f., B 226. Näher zu Kants Kritik gegenüber täterorientierten oder folgenorientierten Strafttheorien Schmitz, Zur Legitimität der Kriminalstrafe (2001), S. 102 ff. 214  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 95.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

ein kategorischer Imperativ, kann es auch nicht von subjektiven Glückseligkeitsvorstellungen abhängen, sondern muss Allgemeingültigkeit aufweisen. Das Strafrecht lässt sich damit nicht durch einzelne Zwecksetzungen begründen, auch wenn diese gut gemeint sein können, wie die Besserung des Täters oder die Abschreckung anderer.215 Es muss sich vielmehr primär als Restitution des Rechts erweisen. Die Ausgestaltung des Strafrechts muss die Bedeutung der Freiheitsrechte des Einzelnen in sich aufnehmen, für den Täter ebenso wie für die durch seine Unrechtstat verletzten Personen bzw. ihre Rechtsgüter. Für den Täter bedeutet dies, dass eine gegen ihn verhängte Strafe jedenfalls schuldhaftes Handeln voraussetzen muss. Denn er ist als vernunftbegabter, selbstbestimmter Einzelner und damit auch als späterer Täter (Mit-) Begründer der Normen. Nur wenn er diese Normen bewusst negiert und sich damit in Widerspruch zur Rechtsordnung als seiner eigenen Subjektivität setzt, kann gegen ihn Strafe verhängt werden. Durch die Unrechtstat hat er sich die Strafe insoweit selbst zuzurechnen. Die Freiheitsnegation des Gegenübers erfolgt nicht zufällig durch den Täter, sondern er entscheidet sich bewusst gegen das von ihm selbst mitbegründete Sollensverständnis. Auch das Bundesverfassungsgericht betont in seinen Entscheidungen wiederholt für das Strafrecht den Zusammenhang der in Art. 1 Abs. 1 GG statuierten Menschenwürde und der Notwendigkeit schuldhaften Handelns. Strafe als „staatliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.“216 Daher stehe das verfassungsrechtliche Schuldprinzip auch nicht zur Disposition des Gesetzgebers.217 Sind Gegenstand der Verletzung schuldhaft begangene fundamentale Rechtsverletzungen, hat dies auch Auswirkungen auf die Bestimmung der konkreten Straffolge. Die Maßbestimmung bei der Rechtsfolge Strafe muss an das begangene Unrecht geknüpft sein und kann sich nicht allein anhand anderer, außerhalb der Tat liegender Zwecksetzungen ausrichten.218 Vielmehr müssen sowohl die einzelnen Straftatbestände und ihre Rechtsfolgen als auch die konkrete Bemessung der Strafe „in einem gerechten Verhältnis 215  s. a.

BVerfGE 133, 168 (198). auch BVerfG, 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015, Absatz-Nr. 93 und BVerfGE 133, 168 (198) jeweils m. Verweis auf BVerfGE 20, 323, 331; 95, 96, 140. 217  BVerfGE 133, 168 (226) m. Verweis auf BVerfGE 113, 267, 413. 218  Problematisch ist es daher, das Strafmaß an seiner Abschreckungswirkung für potentielle weitere Täter zu bemessen, die im Rahmen der europäischen Rechtssetzung besonders in den Vordergrund gerückt wird. Hierzu näher unten im 5. Teil der Arbeit unter D.; vgl. zudem die Kritik gegenüber einer präventionistischen Strafbemessung bei Köhler, Strafrecht AT (1997) S. 586 ff., 602 f. 216  Vgl.



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zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen. In diesem Sinne hat die Strafe die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein.“219 3. Zur Notwendigkeit staatlicher Rechtsstrafe Ebenso wie sich aus der Eigentums- bzw. Besitzlehre Kants die Notwendigkeit ergibt, in einen öffentlich-rechtlichen Zustand zu treten, um dem Recht seinen provisorischen Charakter zu nehmen und zu peremtorischen Rechten überzugehen, aus dem gleichen Grund bedarf es auch eines Überganges in den Staat, um ein Straf-Recht zu etablieren. „Die bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen führt schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich (…).“220 Das Recht und mit ihm freiheitliche Verhältnisse in einer Gemeinschaft können, so wurde dargelegt, zur endgültigen Realisierung erst im Staat gelangen. Erst dann ist die (äußere) Freiheit des Einzelnen nicht nur provisorisch, sondern wird zu einer peremtorischen. Kant hat das in der Eigentums- und Besitzlehre ausführlich dargelegt. Das Gleiche muss für die Negation des Rechts gelten. Während sich bereits in der Eigentumslehre die Notwendigkeit des Übertritts in einen Zustand des öffentlichen Rechts zeigte, wird diese im Strafrecht noch deutlicher. Hier geht es nicht nur darum, zwischenmenschliche Streitigkeiten rechtlich zu lösen, sondern es geht um die fundamentale Negation des Rechts als Recht in seiner Allgemeinheit, die eine Instanz verlangt, diesen Widerspruch zum Recht allgemein-gültig zu lösen. Erst durch die Konstitution des Staates kann die Strafnotwendigkeit „mit der realen Zwangsbefugnis des rechtlichen äußeren Freiheitsgebrauchs dergestalt verknüpft“ werden, dass „ein Recht zum strafenden Zwang entsteht“.221 Anders als im Rahmen der Eigentumslehre hat Kant den Übergang vom Naturzustand in den Staatszustand nicht explizit für die Strafrechtslehre dargelegt. Analog zur Eigentums- und Besitzlehre begründet sich jedoch ebenso die Notwendigkeit des Übergangs in einen rechtlichen Zustand überhaupt. Das Erfordernis der Rechtsstrafe lässt sich in einen Vernunftschluss fassen in Form eines Obersatzes (Möglichkeit), eines Untersatzes (Wirklichkeit), um zum vermittelnden Begriff (Mittelbegriff) beider zu gelangen (Notwendigkeit). In der Kritik der praktischen Vernunft wurde dargelegt, dass der Begriff der Freiheit mit dem Begriff der Strafe verbunden ist. Voraussetzung für die 219  BVerfGE 133, 168 (198) m. Verweis auf BVerfGE 45, 187, 253 f.; 109, 133, 173; 120, 224, 253 f.; BVerfG, 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015, Absatz-Nr. 94. 220  Kant, MdS, B 170. 221  Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre, in: Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung (1982), S. 399 (408).

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

Strafe ist die Möglichkeit der Allgemeinheit der Gesetze (Obersatz). Aufgabe des Rechts ist es, Strafgesetze verbindlich festzulegen: Handlungen, die eine grundlegende Rechtsverletzung darstellen, fordern Strafe zur Wiederherstellung des Rechts. Es ist damit ein Postulat der rechtlichen praktischen Vernunft, dass es bei besonders intensiver Negation des Rechts der Rechtsstrafe bedarf. Die Festlegung von allgemein-gültigen Strafgesetzen kann jedoch nicht vom Einzelsubjekt erfolgen, sondern muss die Leistung eines gemeinsamen Willens sein, in dem der Einzelwille enthalten ist. In Anlehnung an die Eigentums- und Besitzlehre Kants heißt das: „Der Zustand aber unter einer allgemeinen äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein Strafgesetz geben.“ Die Realität von Strafunrecht weist ebenfalls auf die Notwendigkeit eines Staates hin. Die tatsächliche Verletzungshandlung zeichnet sich durch die äußere Negation des Freiheitsverhältnisses aus. Aufgabe des Strafrechts muss es sein, dass dieses nicht nur abstrakt in einzelnen Gesetzen gilt, sondern sich auch in der Wirklichkeit bei einer tätlichen Rechtsverletzung durchsetzt. Die Strafe muss vollstreckt werden können. Allerdings kann auch hier nicht der Einzelne festlegen, ob eine solche Verletzung, die eine Strafsanktion fordert, gegeben ist oder nicht. Erst im rechtlichen Zustand kann im Rahmen eines rechtlich geordneten Verfahrens eine solche Rechtsverletzung verbindlich festgestellt werden. In Analogie zum Privatrecht Kants bedeutet dies: „Der Vernunfttitel der Strafe aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (notwendig zu vereinigenden) Willens aller liegen; denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit der Strafe, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden.“ Erst im öffentlichen Zustand kann also Strafe verbindlich festgesetzt werden. Denn erst hier gibt es eine Vollzugsinstanz, die die Strafe auch durchsetzt. Die Notwendigkeit von Rechtsstrafe verbindet die beiden ersten Sätze und weist damit in besonderer Weise auf den Übergang zu einem öffentlichen Rechtszustand hin. Die Möglichkeit von Strafgesetzen in Verbindung mit ihrer Verwirklichung als Strafunrecht und ihrer notwendigen realen Reak­ tion auf dieses setzt eine Rechtsinstanz voraus, die endgültig darüber entscheidet, ob eine fundamentale Rechtsverletzung vorliegt. Die Erkenntnis des Einzelnen, nicht nur sich, sondern gerade auch die Allgemeinheit in sein Denken und Handeln mit aufzunehmen und so gerechte Prinzipien herauszukristallisieren, führt zu der Einsicht, dass er selbst als Betroffener nicht in der Lage ist, das gebrochene Rechtsverhältnis zu restituieren. Es bedarf vielmehr einer Instanz, die unabhängig von den Beteiligten das Unrechtsgeschehen betrachtet. Denn ansonsten wäre die Reaktion auf die begangene Tat eine Form der Rache und gerade kein Recht. Das hat Hegel deutlich gemacht: „In einem Zustande der Gesellschaft, wo weder Richter noch



D. Staatliche Rechtsstrafe301

Gesetze sind, hat Strafe immer die Form der Rache, und diese bleibt insofern mangelhaft, als sie die Handlung eines subjektiven Willens, also nicht dem Inhalte gemäß ist. Die Personen des Gerichts sind zwar auch Personen, aber ihr Wille ist der allgemeine des Gesetzes, und sie wollen nichts der Strafe hineinlegen, was nicht in der Natur der Sache sich vorfindet. Dagegen erscheint dem Verletzten das Unrecht nicht in seiner quantitativen und qualitativen Begrenzung, sondern nur als Unrecht überhaupt und in der Vergeltung kann er sich übernehmen, was wieder zu neuem Unrecht führen würde.“222 Auch im Rahmen des Strafrechts kennzeichnet damit der StrafAusspruch durch eine öffentliche Gerichtsbarkeit die Notwendigkeit vom Naturzustand in einen öffentlich-rechtlichen zu treten. Zur Anerkennung rechtlicher Freiheit und zur Wiederherstellung des Rechts bedarf es der Urteilsfähigkeit einer unabhängigen Instanz. Diese muss einerseits ermitteln, ob tatsächlich eine Rechtsverletzung vorliegt (Ermittlung des Sachverhaltes) und andererseits feststellen, ob diese Rechtsverletzung auch eine fundamentale Negation des allgemeinen Rechts darstellt.

III. Rechtsgrund der Strafe Der Begriff der Rechtsstrafe weist damit auf die Notwendigkeit des Staates hin. Strafe und Staat sind miteinander verknüpft. Es wurde dargelegt, dass der Strafbegriff unmittelbar mit dem Freiheitsbegriff des Moralgesetzes verbunden und damit vorstaatlich und vorrechtlich ist, so dass er zur Freiheitsrealisation vernunftnotwendig im Staat existent sein muss. Das Strafrecht bildet insoweit die Kehrseite der rechtlichen Freiheit des Einzelnen und ist Teil der Staatsbegründung selbst. Durch die Begründung des staatlichen Zusammenhangs betrifft das begangene Verbrechen schließlich nicht allein die von ihm unmittelbar betroffenen Personen, sondern ebenso die Allgemeinheit: Das Verbrechen stellt die auch vom Täter mitkonstituierte Rechtsordnung und damit die Geltung des allgemein anerkannten Rechts in Frage. Aufgabe der staatlichen Institutionen und nicht der betroffenen Einzelpersonen muss es dann auch sein, das verletzte allgemein anerkannte Rechtsverhältnis zu restituieren. Der Rechtsgrund staatlicher Strafe kann daher zusammenfassend mit Michael Köhler bestimmt werden als „die notwendige ausgleichende Wiederherstellung des durch die Tat in seiner Allgemeingültigkeit verletzten Rechtsverhältnisses in schlüssiger Negation / Aufhebung des Verbrechens“.223 Da die hier vertretene Theorie des Strafrechts ihre Legitimation unabhängig von gesellschaftlichen oder ordnungspoliti222  Hegel,

§ 220.

Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 102 Zusatz; vgl. auch

223  Strafrecht

AT (1997), S. 37.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

schen Gründen bezieht, wird sie auch als „absolut“ bezeichnet.224 Das bedeutet aber nicht, dass sie vollkommen zweckfrei wäre. Der Zweck der Strafe („die Wiederherstellung des Rechts“) ist jedoch einer, der mit dem Täter selbst unmittelbar als freiem Subjekt verbunden ist. Nicht allein, weil der Täter zugleich Bürger und damit formal am demokratischen Abstimmungsprozess beteiligt ist, ist er Mitbegründer des Rechts und damit auch des Strafrechts, sondern weil er Teil des Legitimationszusammenhangs ist, trägt er auch die Straflegitimation mit.225 Nach dem vorgestellten Begründungszusammenhang müssen zudem materielles Strafrecht und Strafverfahrensrecht in einem Zusammenhang stehen.226 Ihr gemeinsames Ziel ist es, den durch die Unrechtstat realisierten Rechtsbruch zu restituieren. Während es Aufgabe des materiellen Rechts ist, Unrechtstatbestände mit ihren Rechtsfolgen festzulegen, bedarf es eines Verfahrens, um dieses Recht auch tatsächlich durchsetzen zu können. Dabei muss es sich um ein rechtliches Verfahren handeln, welches insbesondere die Subjekt- und Rechtsstellung des Beschuldigten ernst nimmt.227 „Aufgabe des Strafprozesses ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten.“228 Es kann damit im Strafverfahren nicht um eine möglichst effektive Verbrechensbekämpfung gehen. Im Prozess ist zunächst zu klären, ob der Beschuldigte überhaupt für die Tat verantwortlich ist oder nicht. Es geht also um die Aufklärung des Sachverhalts, um die Ermittlung der materiellen Wahrheit.229 Dem Beschuldigten bzw. Angeklagten muss die Schuld erst nachgewiesen werden. Die auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerte Unschuldsvermutung ist nach dem 224  Murmann, Kritik des funktionalen Strafrechts, in: Koriath/Krack u. a. (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und Juristenausbildung (2010), S. 189 (190). 225  Deutlich Murmann, Kritik des funktionalen Strafrechts, in: Koriath/Krack u. a. (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und Juristenausbildung (2010), S. 189 (190). 226  Näher Murmann, Über den Zweck des Strafprozesses, in: GA 2004, 65 ff. 227  Zaczyk, Prozeßsubjekte oder Störer?, in: StV 1993, 490 ff.; Kahlo, Der Begriff der Prozeßsubjektivität, in: KritV 1997, 183 ff. 228  BVerfGE 133, 168 (199). Einen instruktiven Überblick über den Zweck des Strafverfahrens bieten Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren (1989), S. 173 ff. sowie Murmann, Über den Zweck des Strafprozesses, in: GA 2004, 65 ff. 229  Zur Wahrheitsfindung als ein wesentlicher Bestandteil des Strafverfahrens im common law und im civil law Weigend, Rechtsvergleichende Bemerkungen zur Wahrheitssuche im Strafverfahren, in: FS für Rissing-Van Saan (2011), S. 749 ff. Vgl. auch zur Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten in der Hauptverhandlung jetzt BVerfG, 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015, Absatz-Nr. 97.



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vorliegenden Ansatz insofern von zentraler Bedeutung, als sie unmittelbar mit dem Schuldprinzip des materiellen Strafrechts verbunden ist.230 Ausgehend vom selbstbestimmten, autonomen Subjekt, welches seine Handlungen grundsätzlich nach seinen vernünftigen Möglichkeiten ausrichtet, ist seine Unschuld bis zum Urteil notwendig zu vermuten, d. h. die Ermittlungsbehörden oder das Gericht tun nicht nur so, als ob er unschuldig wäre, sondern er ist es.231 Auch das Bundesverfassungsgericht stellt den Zusammenhang zwischen dem aus der Würde des Menschen abgeleiteten Schuldprinzip einerseits und der Unschuldsvermutung andererseits deutlich heraus: „Der Strafprozess hat das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhaltes, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt. Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden. Bis zum Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet.“232 Die Unschuldsvermutung ist daher auch bei Ausgestaltung und Anwendung von Zwangsmaßnahmen (wie z. B. Durchsuchung, Beschlagnahme von Gegenständen und als schärfstes Mittel die Untersuchungshaft) zu berücksichtigen. Dem Recht des Staates zur Strafrechtsausübung wird hier eine Pflicht gegenüber dem Einzelnen auferlegt, sich dieser zu unterwerfen.233 Eingriffsmaßnahmen lassen sich daher nicht auf bloße Effizienzgesichtspunkte oder Präventionsaspekte stützen, sondern haben zu berücksichtigen, dass tatverdächtig grundsätzlich jedermann sein kann, ohne dass er wirklich schuldig ist.234 Vorausgesetzt werden muss daher, dass der Verdächtige 230  s. a. Kahlo, Der Begriff der Prozeßsubjektivität, in: KritV 1997, 183 (201 f.); ders., Soll es dem Staat im Strafprozeß rechtlich erlaubt sein, Verdachtsklärung durch Täuschungshandlungen zu unternehmen?, in: FS-Wolff (1998), S. 153 (175 f.). 231  Vgl. Zaczyk, Bindungswirkungen eines rechtskräftigen Strafurteils für das materielle Strafrecht, in: GA 1988, 356 (370); ders., Prozeßsubjekte oder Störer, in: StV 1993, 490 (492); Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung (1998), S.  530 ff.; Böse, Die verfassungrechtlichen Grundlagen des Satzes „nemo tenetur se ipsum accusare“, in: GA 2002, 98 (123 f.). Insofern ist der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EMRK ebenso wie der des Art. 48 Abs. 1 GR-Charta nicht ganz genau, als sie davon sprechen, dass der Angeklagte bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis als unschuldig „gilt“. 232  BVerfGE 133, 168 (199) m. Verweis auf weitere Entscheidungen des BVerfG; jetzt auch BVerfG, 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015, Absatz-Nr. 96. 233  Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. (1981), § 4, S. 21; grundlegend Köhler, Prozeßrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe, in: ZStW 107 (1995), 10 (19 ff.). 234  Köhler, Prozeßrechtsverhältnis und Ermittlungsbefugnisse, in: ZStW 107 (1995), 10 (21).

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

selbst Handlungen vollzieht, die einen Straftatverdacht begründen können235 und dass Ermittlungen im freiheitsbedeutsamen Bereich des Einzelnen der gerichtlichen Kontrolle unterliegen.236 Den Ermittlungsbehörden ist es mithin insgesamt untersagt, „ohne prozessordnungsgemäßen (…) Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen, und ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln“.237 Schließlich folgt aus der Unschuldsvermutung die Notwendigkeit, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur belastende, sondern ebenso entlastende Umstände zu ermitteln hat (vgl. § 160 Abs. 2 StPO).238

IV. Einwände gegenüber dem vorgestellten Begründungszusammenhang Der dargelegte Strafbegründungszusammenhang ist nicht unwidersprochen geblieben. Der vorliegende Begründungsgang staatlicher Rechtsstrafe hat sich daher auch der ihm vorgehaltenen Kritik zu stellen. Bereits im 1. Teil der Arbeit wurde kurz dargelegt, dass dem Entwurf von 1962 bedingt durch seinen Rückgriff auf das Naturrecht der Aufklärung der Mangel an weltanschaulicher Neutralität vorgeworfen und vor diesem Hintergrund der „Abschied von Kant und Hegel“ gefordert wurde. Problematisch war bei dem Entwurf von 1962 in der Tat, dass dieser moralische und rechtliche Fragen zum Teil miteinander vermengt hatte.239 Allerdings ist diese Vermengung nicht auf die genannten Autoren des Deutschen Idealismus zurückzuführen, sondern auf ihre Rezipienten. Es ist – wie dargelegt wurde – gerade die Leistung Kants gewesen, rechtliche und moralische Fragen voneinander zu trennen. Bedingt durch den vorgestellten grundle235  Köhler, Prozeßrechtsverhältnis und Ermittlungsbefugnisse, in: ZStW 107 (1995), 10 (21); vgl. insbesondere auch in Abgrenzung zum bloßen Gefahrenverdacht im Rahmen des Präventionsrechts Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht (2013), S. 338 ff. 236  Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, in: ZStW 118 (2006), 389 (423 f.). 237  BVerfGE 133 (202). 238  Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, in: ZStW 118 (2006), 389 (424). Vgl. auch Kahlo, Der Begriff der Prozeßsubjektivität, in: KritV 1997, 183 (208): „(A)ngesichts der entscheidenden Bedeutung, die der Rekonstruktion des wahren Sachverhalts für ein gerechtes Urteil zukommt (…), kann nur die Ausrichtung aller Ermittlungen nach dem Grundsatz der materiellen Wahrheit den Freiheitsansprüchen der Subjektivität im Strafprozess genügen. In dieser kategorisch gültigen Maxime aller Ermittlungshandlungen der Staatsanwaltschaft (…) ist deshalb deren originäre Pflicht begründet, auch die für den verdächtigen Beschuldigten etwa entlastenden Umstände zu erforschen (§ 160 Abs. 2 StPO).“ 239  Vgl. im 1. Teil unter E. III. 2.



D. Staatliche Rechtsstrafe305

genden Ableitungszusammenhang von freiem Einzelnen, Staat und Strafrecht, soll daher auf drei Einwände eingegangen werden, die der hier vertretenen Straftheorie wiederholt entgegengehalten worden sind. Der erste Einwand setzt bereits am Ausgangspunkt des dargelegten Rechtsverständnisses an: der Freiheit des Einzelnen (unter 1.). Zweitens wird die Realitätsferne eines solchen Ansatzes, der an der „metaphysischen Idee der Gerechtigkeit“ ansetzt, beklagt (unter 2.) und drittens wird an der Übereinstimmung einer absoluten Strafbegründung mit demokratischen Rechtsformen gezweifelt (unter 3.). 1.  Da die Willensfreiheit nicht nachweisbar sei, sei sie „als alleinige Grund­ lage staatlicher Eingriffe ungeeignet“.240 Schon in der Einleitung zum 3. Teil wurde darauf hingewiesen, dass gerade in neuerer Zeit zahlreiche Neurobiologen und Neurophysiologen die Freiheit des Willens negieren. Empirische Untersuchungen hätten bewiesen, dass es vornehmlich kausale Abläufe im Gehirn seien, die das Handeln des Einzelnen steuerten. Es ist zwar zutreffend, dass sich Freiheit nicht empirisch beweisen lässt, also ein naturwissenschaftlicher Nachweis von Freiheit nicht möglich ist. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass Freiheit nicht denkmöglich ist. Denn auch im Rahmen von theoretischen Erkenntnisakten ist Freiheit immer schon mitgesetzt und bei jedem Erkenntnisakt mitwirksam, ansonsten könnte es zu keiner menschlichen Erkenntnis kommen.241 Bezogen auf die Neurowissenschaftler formuliert: Wollen diese mit ihren Ergebnissen eine Richtigkeit beanspruchen, dann können sie nicht gleichzeitig annehmen, dass ihr Erkenntnisprodukt eine bloß kausale Determination darstellt.242 Im Rahmen der praktischen Philosophie Kants wurde dargelegt, dass Freiheit denknotwendig ist. Der Einzelne ist in der Lage, sich grundsätzlich nach einem Sollen zu bestimmen, er kann sein Handeln als richtig bewerten. Diese Bewertung ist aber unabhängig von jeder Erfahrungserkenntnis, sondern ist eine Leistung, die das vernünftige Subjekt selbst erbringt, indem es einen Seinszustand von einem Sollenszustand trennen kann. Auch die Strafrechtswissenschaftler, die eine Willensfreiheit des Einzelnen für nicht beweisbar halten, nehmen bei ihren Theorien von der General- oder Spezialprävention, jedenfalls für sich in Anspruch, dass diese nicht aus ihren deterministischen Hirnabläufen entsprungen sind, sondern in sich schlüssig und kontingent sind und meinen, dass sich das bestehende positive Recht daran zu orientieren habe. Damit realisieren sie gerade freiheitliches Den240  Roxin,

Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. (2006), § 3 Rn. 8. Kritik des funktionalen Strafrechts, in: Koriath/Krack u. a. (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und Juristenausbildung (2010), S. 189 (192). 242  Vgl. bereits die Ausführungen unter A. in diesem Teil. 241  Murmann,

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ken. Die Freiheit des Einzelnen (und somit des späteren Täters) ist damit sowohl für das Recht als auch das Strafrecht notwendig vorauszusetzen. 2.  Eingewendet wird ferner, dass der Staat als eine menschliche Einrichtung weder fähig noch in der Lage sei, die metaphysische Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Der Staat sei auf die Sicherung menschlichen Zusammenlebens in Frieden und Freiheit beschränkt. „Der Gedanke, man könne ein Übel (die Straftat) durch Hinzufügung eines weiteren Übels (des Strafleidens) ausgleichen oder aufheben, ist nur einem Glauben zugänglich, auf den der Staat niemanden verpflichten darf, seit er seine Gewalt nicht mehr von Gott, sondern vom Volke ableitet“.243 Zudem ziehe eine solche Vorstellung sozialpolitisch unerwünschte Folgen nach sich. Ein Strafvollzug, der vom Prinzip der Übelszufügung ausgehe, könne die Sozialisationsschäden, die oft die Ursache für die Verübung von Straftaten seien, nicht heilen und sei deshalb kein geeignetes Mittel der Verbrechensbekämpfung.244 Die „absolute“ Theorie erfülle den Sinn der Strafe letztlich nicht „hienie­ den“245. Sie sei vielmehr wirklichkeitsfremd und verharre in ihrer Theorievollkommenheit. Demgegenüber richteten sich die relativen Lehren an der menschlichen Wirklichkeit aus. Die Generalprävention setze „an dem Hang der Menschen, andere zu verletzen“ an und die Spezialprävention an „der in der Straftat offenbar gewordenen Verbiegung eines einzelnen.“246 Der Einwand der Realitätsferne einer Theorie, die sich an der „Idee der Gerechtigkeit“ orientiert, erscheint bestechend. Auch eine absolute Gerechtigkeit auf Erden ist tatsächlich nicht festzustellen, sondern bedingt durch die menschliche Unvollkommenheit zeichnet sie sich gerade durch manifeste Ungerechtigkeiten aus. Dennoch geht die Kritik fehl und zwar insbesondere aus drei Gründen, die miteinander in Verbindung stehen: Erstens handelt es sich bei der Idee der Gerechtigkeit nicht um ein von der Realität abgehobenes, überirdisches Gespinst,247 sondern sie bezieht sich – wie dargelegt – gerade auf das praktische (und nicht theoretische) Verhalten der freien Einzelnen. Gerechtes Handeln vollzieht sich im interpersonalen Handeln. Im tagtäglichen Umgang miteinander zeigt sich dies denn auch: Die Menschen verletzen sich in der Regel nicht gegenseitig, wenn sie sich begegnen, sondern erkennen ihr Gegenüber als ihnen gleich 243  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. (2006), § 3 Rn. 8; vgl. auch Kindhäuser, Rechtstreue als Schuldkategorie, in: ZStW 107 (1995), 701 (731); Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Rechts, 2. Aufl. (1990), S. 283 f. 244  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. (2006), § 3 Rn. 8. 245  Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Rechts, 2. Aufl. (1990), S. 283. 246  Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Rechts, 2. Aufl. (1990), S. 284. 247  Murmann, Grundkurs Strafrecht (2011), S. 24.



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an. Nur wenn es eine Vorstellung von richtigem, gerechten Handeln gibt, die im freien Einzelnen selbst begründet liegt, kann davon ausgehend ungerechtes Handeln bestimmt werden. Dies leitet unmittelbar über zum nächsten Punkt. Zweitens muss die Bestimmung des Strafrechts den Begriff des Rechts voraussetzen. Das Recht kann nicht erst an den Rechtsverletzungen ansetzen, sondern muss ihnen vorgelagert sein. Eine Verletzung des Rechts wird als solche erst erkennbar, wenn der Begriff des Rechts ausgewiesen ist. Soll dieser nicht durch eine äußere Gewalt oder durch Machtsprüche Einzelner definiert werden, muss er sich nach den Adressaten des Rechts, die zugleich das Recht selbst konstituieren, richten, d. h. er muss die Handlungsform des freien Einzelnen im Interpersonalitätsverhältnis in sich aufnehmen. Die Basis des Rechts bildet das grundsätzliche Anerkennungsverhältnis der einzelnen Subjekte untereinander, wobei das Recht gerade auch die Fehlbarkeit des Einzelnen einschließt. Dieser ist als intelligible und eben auch endliche Einheit zu begreifen. Von dieser Perspektive aus ist dann auch das Strafrecht zu bestimmen. Es hat an der grundsätzlichen Verhältnisbestimmung der einzelnen Rechtssubjekte zueinander anzusetzen. Der Rechtsgrund der Strafe kann sich nicht primär nach general- oder spezialpräventiven Zweckerwägungen bestimmen, sondern muss an der Negation dieses Gleichheitsverhältnisses ansetzen.248 Die Strafe wird dann nicht auf ein bloß empirisches Ereignis („Übel“) reduziert (auch wenn es als solches für den Täter natürlich empfunden wird, ebenso wie die Verletzung auf der Seite des Opfers ein Übel darstellt), sondern setzt am verletzten Anerkennungsverhältnis selbst an.249 Mit „Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses“ ist nicht Vergeltung im Sinne einer mathematischen Gleichung gemeint, dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll, sondern eine Restitution des Rechts durch die Strafe. Drittens zeigt sich die Stärke der vorgestellten Theorie gerade im Strafvollzug. Denn nur dann, wenn der Einzelne als grundsätzlich freies und vernünftiges Subjekt der Gemeinschaft betrachtet wird, wird die Notwendigkeit eines humanen Strafvollzuges deutlich, der gerade auch die Lebensbedingungen des einzelnen Täters aufnimmt. Anders als die bloß zweckorientierten Straftheorien fordert die dargelegte Strafbegründung einen Strafvollzug, in dem der Verurteilte als Subjekt behandelt wird und nicht wie ein 248  Vgl. hierzu auch Frisch, Schwächen und berechtigte Aspekte der Theorie der positiven Generalprävention, in: Schünemann/Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention (1998), S. 125 (139 ff.). 249  Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung erörtert am Problem der Generalprävention (1983), S. 12 ff.; ders., Strafrecht, AT (1997), S. 37 f.

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Objekt, das durch seine Tat als „gefährlich“ eingestuft wird, zur Sicherheit der übrigen Bevölkerung für eine bestimmte Dauer isoliert werden muss. Diese Lehre betont gerade, dass „soziales Verhalten eine Leistung des Subjekts ist und dass dabei jede erforderliche Hilfestellung für diese Leistung ihrer eigenen Strafbegründung immanent ist“.250 Der vorgestellte Zusammenhang von freiem Einzelnen, Staat und Strafe und die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen für die Begründung der Strafe sind damit nicht realitätsfern, sondern wirklichkeitszugewandt. 3.  Schließlich soll auf Kritikpunkte aus verfassungspositivistischer Perspektive eingegangen werden, die dem vorgestellten Begründungszusammenhang in neuerer Zeit entgegengehalten werden. Haupteinwand gegenüber einer sog. absoluten Strafbegründung ist, dass sie mit einer demokratischen Rechtsform nicht kompatibel sei. ‚Überpositives‘ Strafrecht genüge nicht nur den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht, sondern sei auch undemokratisch.251 Es sei nicht in der Lage, Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen.252 „Phasen (pseudo-)naturrechtlich inspirierter transitionsgesellschaftlicher Problembewältigung in der Strafrechtsdogmatik seien vielleicht emotional verständlich, Sternstunden deutscher Demokratien seien sie jedoch gewiss nicht“.253 Absolute Strafbegründungen verlagerten letztlich die Entscheidung, was legitimes Strafrecht sein solle, vom demokratisch legitimierten Parlament auf die Experten der Metaphysik des Rechts, auf die (Rechts-)Philosophen.254 Möglicherweise sei das Recht dann „besser“ begründet, seine Legitimation könne es daraus aber nicht schaffen. Demokratie zeichne sich vielmehr durch eine inhaltliche Offenheit aus. Demokratische Entscheidungsverfahren seien relativ, da ihr politisches Ziel Kompromisse seien und können daher keine „objektiven Wahrheitsansprüche“ erheben. Demokratie ziele demnach nicht auf eine materielle Richtigkeit ab, sondern auf eine formale, die sich allein aus dem Verfahren zur Legitimation politischer Herrschaft ergebe.255 Die Tatbestände im Straf250  Zaczyk, Die Bedeutung der Strafbegründung für den Strafvollzug, in: FSSeebode (2008), S. 589 (599). 251  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (349); ders., Demokratizität des Strafrechts und Ultima Ratio-Grundsatz, in: JZ 2016, 642 (648 ff.). 252  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (346 f.). 253  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (349); s. a. Stuckenberg, Grundrechtsdogmatik statt Rechtsgutslehre, in: GA 2011, 653 (658 f.). 254  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (350). 255  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (343).



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recht entstünden daher erst durch begriffliche Relationierungen im kompromissoffenen parlamentarischen Verfahren, seien aber dann schon immanent relativ zu bestimmten Zwecken.256 Denn gerade im Strafrecht spiegelten sich die wandelnden gesellschaftlichen Wertentscheidungen wider. Auch die Straftheorien müssten sich bei der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in die „verfassungsrechtliche Argumentationsmatrix“ einfügen lassen, d. h. am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientieren.257 Es könne insofern kein illegitimes Strafrecht geben, da sich in ihm nur die zeitgebundenen Bedürfnisse der Problemlösung ausdrückten.258 Ein demokratischer Verbrechensbegriff umfasse allein das Verhalten, was der Gesetzgeber als strafbar ansehe und als solches normiert habe.259 Der alleinige Rekurs auf den formellen Entscheidungsprozess im demokratischen Gesetzgebungsverfahren übersieht, dass er selbst an Bedingungen anknüpft, die dem positiven Recht vorgelagert sind. Er benennt diese sogar selbst: „Demokratie gründet auf der Idee individueller Freiheit. Demokratische Selbstbestimmung ist letztlich Konsequenz individueller Selbstbestim­ mung.“260 Damit greift er auf eine „metaphysische“ Begründung zurück, die zuvor vehement abgelehnt wurde.261 Denn das als Ausgangspunkt festgestellte Verfassungsprinzip der Demokratie soll nun gerade auf der „Idee individueller Freiheit“ gründen. Nimmt man aber die Freiheit des Einzelnen als Basis kann man nicht hinter ihr zurück und in einen Werterelativismus verfallen. So sind auch die Grundrechte nicht bloß zufällige Erscheinungen im demokratischen Rechtsstaat, die dieser dem Einzelnen freundlicherweise gewährt, sondern sie ergeben sich notwendig aus dem Zusammenhang von Freiheit und Staat.262 Soll sich die Freiheit des Einzelnen im Staat entfalten 256  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (349). 257  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (347). 258  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (356). 259  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (365); vgl. auch Meyer, Strafrechtsgenese (2012), S. 75; Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 452. Diese Einwände sind insofern nicht neu, als auch in der Zeit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in der Staatslehre als auch in der Strafrechtswissenschaft ein Rechtspositivismus herrschte, der die Abkehr von jeder Form sog. metaphysischen Denkens forderte. 260  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (342). 261  Vgl. auch Zaczyk, Demokratieprinzip und Strafbegründung, in: Der Staat 50 (2011), 295 (297). 262  Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges …, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung? (1994), S. 61 ff.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

können, sind dessen einzelne Institutionen auch an jene gebunden. Nicht nur die vollziehende und rechtsprechende Gewalt, sondern auch die Gesetzgebung selbst ist daran zu messen (vgl. auch Art. 1 Abs. 3 GG). Denn auch diese ist keine Allmacht gegenüber dem Einzelnen, sondern dieser ist und bleibt der Maßstab für die (Rechts-)Gültigkeit eines Gesetzes.263 Die im Demokratieprinzip zu Grunde liegende Einsicht der Freiheit des Einzelnen muss sich auch in der Umsetzung, d. h. in der Realität des Staatshandelns fortsetzen und sich ebenso in den Strafgesetzen wiederfinden. Damit bestimmen nicht die „Rechtsphilosophen, was Recht ist“, sondern sie weisen auf Prinzipien hin, die in einem freiheitlichen Rechtsstaat und damit auch im Strafrecht Gültigkeit haben. Das ist nun nicht so zu verstehen, dass ein „Experte der Metaphysik“ einzelne Voraussetzungen in eine Subsumtionsmaschine einspeist und dann konkrete Strafnormen erhält. Staatliche Strafe muss sich aber gegenüber dem Einzelnen begründen lassen und kann nicht deswegen gegenüber ihm verhängt werden, weil sein Verhalten zurzeit „zufällig“ sanktioniert wird, oder weil es eine Bestrafung aus ordnungspo­ litischen Gründen gerade erforderlich macht, um die „soziale Wirksamkeit der zugrunde liegenden Norm zu stabilisieren“.264 Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht auf eine rein formelle Seite zu reduzieren, er muss sich vielmehr auch materiell begründen lassen. Ein Gesetzgeber setzt sich selbst in Widerspruch und nimmt die Selbstbestimmtheit des Einzelnen nicht ernst, wenn er Handlungen, die zwar die Freiheitssphären anderer berühren, die aber keinen intensiven Eingriff darstellten, bestrafen würde. Art. 2 Abs. 1 GG wäre dann eine bloße Leerformel. Denn jede Handlungsäußerung des Einzelnen führt zwangsläufig zu einer Änderung der Außenwelt und berührt damit auch die Freiheitssphäre anderer. Nicht jede Verletzungshandlung stellt nun aber das staatlich verfasste Anerkennungsverhältnis grundlegend in Frage. Es kann nur eine solche Verletzung sein, die intensiv in das Gleichheitsverhältnis eingreift, das Anerkennungsverhältnis als solches bewusst nicht mehr respektiert (so bei vorsätzlichem Handeln) oder aber unbedacht, mögliche Folgen seines Handelns, insbesondere bezogen auf Leib oder Leben eines anderen, außer Acht lässt (Fahrlässigkeit).265 So führt eine fahrlässige Sachbeschädigung zwar zu einem Schadensersatzanspruch gegenüber dem Verletzten, sie weist aber nicht 263  Kant, Über den Gemeinspruch, A 267: „Was ein Volk über sich selbst nicht beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen.“ 264  So aber Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (357) m. w. N.; s. auch die Kritik Zaczyk, Demokratieprinzip und Strafbegründung, Der Staat 50 (2011) 295 (299). 265  Hierzu näher Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S.  209  ff. m. w. N.; vgl. auch Verf., Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft (2003), S. 183.



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eine Intensität der Verhältnisverletzung auf, die eine Strafe rechtfertigen könnte, da der Umgang mit fremdem Eigentum im Alltag notwendig auch Verletzungsgefahren in sich birgt. Dagegen trägt eine fahrlässige Brandstiftung aufgrund des Tatmittels Feuer neben der Beschädigung oder der Zerstörung des Tatobjekts auch zusätzliche Gefahren für Leib oder Leben anderer Personen in sich. Denn Feuer hat die Eigenschaft sich selbständig weiter fortzufressen, so dass der Umgang mit diesem Element einer besonderen Sorgfaltspflicht unterliegt. Es ist daher kein Zufall, dass auch der deutsche Gesetzgeber die (einfache) fahrlässige Sachbeschädigung nicht unter Strafe stellt, wohl aber die fahrlässige Brandstiftung (§ 306d StGB).266 Eine bloß an den positiven Gesetzen ausgerichtete Wissenschaft kann demgegenüber weder den Grund der Strafe bestimmen noch kann sie ein Maß für strafbewehrtes Verhalten angeben. Sie ist allein auf die Entscheidungen des Gesetzgebers angewiesen. Einem solchen Ansatz fehlt nicht nur das kritische Potential, sondern er liefert sich der Macht der Herrschenden aus und verfehlt damit das Ziel eines „demokratieadäquaten“267 Strafrechts. Die hier vertretene Begründung der Strafe als „Wiederherstellung des Rechts“ ist damit nicht undemokratisch, sondern notwendiger Teil einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung.

V. Zu einzelnen Bedingungen staatlicher Rechtsstrafe Die Ausführungen zum Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ hat deutlich gemacht, dass die institutionelle Ausgestaltung des Rechtstaates, soll die Freiheit des Einzelnen im Staat zur Geltung kommen, nicht willkürlich sein kann, sondern in seiner Form notwendig an die Volkssouveränität gebunden ist und gewaltenteilig organisiert sein muss. Im Strafrecht wird die Notwendigkeit der Staatskonstitution mit ihrer Form der Gewaltenteilung besonders deutlich. Denn erst hier ist eine übergeordnete, von den Einzelnen selbst legitimierte Instanz, anwesend, die eine gerechte Sanktion – in Abgrenzung zur willkürlichen Selbstjustiz – verbindlich festlegen kann und zwar in dreifacher Hinsicht: Zum einen existiert ein Gesetzgeber, der „vereinigte Volkswille“ und damit ein Souverän, der im Strafrecht die Straftatbestände und die Prozessvoraussetzungen normiert. Auch der Täter ist Teil davon und rückt somit nicht erst durch die begangene Tat in das Blickfeld. Die Strafgesetze haben 266  Nicht legitimieren lässt sich dagegen die Strafbarkeit des sog. Geschwister­ inzests (§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB).Vgl. hierzu Verf., Grenzenloser Spielraum des Gesetzgebers?, in: ZJS 2009, 15 ff. 267  Gärditz, Strafbegründung und Demokratieprinzip, in: Der Staat 49 (2010), 331 (337).

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

einen freiheitsbedeutsamen Inhalt, da sie einerseits aufzeigen, in welchen Fällen das Verhältnis zwischen den Einzelnen besonders tief berührt wird und andererseits an die Tat eine freiheitseinschränkende Rechtsfolge knüpfen. Umso dringlicher ist es, dass sie von den Betroffenen nicht als von außen oktroyiert, sondern verstanden werden müssen als von ihnen mitgesetzt (unter 1.). Zum anderen ist eine Exekutive anwesend, die den Gesetzen gemäß handelt, wie Staatsanwaltschaft und Polizei im Ermittlungsverfahren und die Strafvollzugsbehörden im Rahmen der Strafvollstreckung (unter 2.). Schließlich gibt es eine richterliche Instanz, die im Einzelfall bestimmt, inwieweit z. B. die Ermittlungen rechtmäßig sind, und ob ein bestimmtes Verhalten auch tatsächlich unter ein Strafgesetz fällt (unter 3.). Die drei Gewalten müssen also aufgrund ihres freiheitsbedeutsamen Gehalts gerade im Bereich des Strafrechts einerseits voneinander getrennt sein und andererseits rückgekoppelt sein an die Allgemeinheit. 1. Zur Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes und des Bestimmtheitsgrundsatzes im Strafrecht Dargelegt wurde, dass die Gesetzgebung den allgemein-gültigen Oberbegriff des Staatssyllogismus bildet und auf dem „vereinigten Willen des Volkes“268 ruhen muss und nicht auf einem Einzelwillen gegründet sein kann. Auch der spätere Täter ist als Mitkonstituent des Staates und seiner Gesetze zu begreifen. Nur dann gibt der Einzelne im Staat seine Stellung als freies Subjekt nicht auf. Voraussetzung ist dann aber auch, dass in besonders freiheitsbedeutsamen Bereichen diese durch ein förmliches Gesetz legitimiert sind, sog. Vorbehalt des Gesetzes, denn „volenti non fit iniuria“. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, „im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung überhaupt zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“.269 Verlangt wird ein Gesetz für alle klassischen Grundrechtseingriffe. Dem Vorbehalt des Gesetzes ist nicht allein dadurch Genüge getan, dass es überhaupt einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe bedarf, sondern es wird verlangt, „daß alle wesentlichen Fragen vom Parlament selbst entschieden und nicht anderen Normgebern überlassen werden“ (sog. Parlamentsvorbehalt).270 Der Vorbehalt des Gesetzes ist somit unmittelbar mit dem Demokratieprinzip verbunden.271 Nur begrenzt sollen daher die Ge268  Kant,

MdS, § 46, A 165, B 195. BVerfGE 101, 1 (34); 98, 218 (251); 108, 282 (312). 270  BVerfGE 95, 267 (307); 98, 218 (251). 271  Siehe hierzu näher Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 5, 3. Aufl. (2007), § 101, Rn. 41. Nicht einheitlich 269  Vgl.



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setzgebungszuständigkeiten auf die Exekutive übertragen werden können (vgl. Art. 80 GG), wobei „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden“ müssen (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG). Für das materielle Strafrecht ist der Vorbehalt des Gesetzes ausdrücklich in Art. 103 Abs. 2 GG geregelt.272 Dieser stellt nicht nur eine Bestätigung der allgemeinen Eingriffslehren dar, sondern hebt die Strafgewalt aufgrund ihres die einzelne Person besonders intensiv betreffenden Eingriffs in die Freiheitssphäre heraus.273 Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Damit setzt die Bestimmung der Strafbarkeit ein Gesetz voraus. Die Vorschriften des Allgemeinen und Besonderen Teils des Strafrechts müssen so gefasst und bestimmt sein, dass in ihnen der Allgemeinwille gültig zum Ausdruck kommt. Für die Verhängung von Freiheitsstrafen ist gemäß Art. 104 Abs. 1 GG ein förmliches Gesetz notwendig. Auch wenn jedenfalls Art. 103 Abs. 2 GG nicht ausschließt, dass auch Rechtsverordnungen seitens der Exekutive Straftatbestände konkretisieren, so müssen diese doch gemäß dem in Art. 80 GG geregelten Verfahren ergangen sein. Nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG muss die Rechtsverordnung auf einem Gesetz beruhen, welches seinerseits Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt. Für das Strafrecht bedeutet dies, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art und das Maß der Strafe schon durch das Gesetz selbst hinreichend deutlich umschrieben werden.274 Der Parlamentsvorbehalt dient zum einen dem Schutz des Normbetroffenen. Jeder soll erkennen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist.275 Zum anderen soll allein der Gesetzgeber als Verkörperung des Allgemeinwillens über fundamentale Eingriffsrechte in die Freiheit des Einzelnen seitens des Staates entscheiden.276 Der Bestimmtheitsgrundsatz verbindet sich dabei also nicht primär mit der Aufgabe einer generalpräventiven Wirkung des Strafrechts, wie sie bei Feuerbach zu finden war,277 sondern ist notwendige Ausgestaltung eines freiheitlichen Rechts­ verständnisses überbeurteilt wird das Verhältnis der rechtsstaatlichen und der demokratischen Komponente des Gesetzesvorbehaltes zueinander. Vgl. hierzu die Übersicht bei ders., a. a. O., Rn.  51. 272  Vgl. näher zu den Einzelprinzipien des Gesetzlichkeitsprinzips Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB-Kommentar, 29. Aufl. (2014), § 1 Rn. 8 ff. m. w. N. 273  Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 103 Rn. 163. 274  BVerfG NStZ RR 2002, 22; NJW 1974, 1860, 1862. 275  BVerfGE 95, 96 (131); 105, 135 (153); Jähnke, Zur Erosion des Verfassungssatzes „Keine Strafe ohne Gesetz“, in: ZIS 2010, 463 (464). 276  BVerfGE 95, 96 (131); 105, 135 (153); Jähnke, Zur Erosion des Verfassungssatzes „Keine Strafe ohne Gesetz“, in: ZIS 2010, 463 (464). 277  Vgl. hierzu den 1. Teil unter D. III. 1.

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

haupt. Der Vorbehalt des Gesetzes im Strafrecht ist rechtsstaatlich notwendig. Er „bleibt die Formbedingung dafür, den rechtlichen Allgemeinwillen, das Rechthandeln der Person und die behördliche Rechtsanwendung in Übereinstimmung zu bringen und zu halten; deshalb ist ein höchstmögliches Maß an förmlicher Gesetzesbestimmtheit staatsrechtlich gefordert.“278 Das Gesetz kommt dem Einzelwillen am nächsten und erhält so seine besondere Legitimation.279 Schwerwiegende Grundrechtseingriffe müssen durch den Gesetzgeber geregelt werden und können nicht auf die Exekutive oder Rechtsprechung übertragen werden. Daher stehen auch die strafprozessualen Zwangsmaßnahmen, wie z.  B. die Untersuchungshaft und körperliche Zwangs­ maßnahmen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG), die Durchsuchung (Art. 13 Abs. 1 GG) oder die Beschlagnahme (Art. 14 Abs. 1 GG) unter dem Vorbehalt des Gesetzes, da sie in fundamentaler Weise in die Freiheitsrechte des Einzelnen tangieren. 2. Die Stellung der Exekutivgewalt im Strafrecht Es wurde dargelegt, dass die Exekutivgewalt im Rahmen des praktischen Syllogismus’ den Unterbegriff im Verhältnis zum allgemeinen Gesetz bildet: Aufgabe der Exekutiven ist es, zufolge dem Gesetz zu handeln. Im Rahmen des Strafverfahrens sind es insbesondere Staatsanwaltschaft und Polizei, die das tatsächliche (Unrechts-)Geschehen zunächst zu ermitteln haben. Auch wenn die Staatsanwaltschaft als Justizbehörde selbständiges Organ der Rechtspflege ist und insoweit zwischen der richterlichen Gewalt und der Exekutiven steht, so ist sie doch insbesondere im Ermittlungsverfahren und auch als Strafvollstreckungsbehörde verpflichtet, den Gesetzen gemäß zu handeln und übt insofern eine das Gesetz vollziehende Tätigkeit aus.280 So müssen Staatsanwaltschaft und Polizei grundsätzlich Ermittlungen aufnehmen, wenn ein Anfangsverdacht gegeben ist (Legalitätsprinzip, vgl. auch §§ 152 Abs. 2, 160 StPO). Die Staatsanwaltschaft ist zudem verpflichtet, Anklage zu erheben, wenn ein hinreichender Tatverdacht nach den Ermitt278  Köhler,

Strafrecht AT (1997), S. 77. Strafrecht AT (1997), S. 73. 280  Auf die Diskussion, ob die Staatsanwaltschaft als Organ der Judikative, als Exekutivbehörde oder zwischen beiden einzuordnen ist, soll vorliegend nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu die Arbeit von Koller, Die Staatsanwaltschaft – Organ der Judikative oder Exekutivbehörde? (1997), S. 35 ff. Vgl. zur Frage, ob bei einer zukünftigen Reformierung des Strafrechts, inbesondere auch im Rahmen der Europäisierung des Strafverfahrens eher auf adversatorische Elemente, auf einen Parteienprozess, oder auf inquisitorische Elemente und damit auf eine unabhängige Staatsanwaltschaft, hingewirkt werden sollte Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren, in: ZStW 118 (2006), 389 ff. 279  Köhler,



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lungen besteht (§ 170 Abs. 1 StPO),281 und ist ebenso verpflichtet, das Verfahren einzustellen, wenn die Voraussetzungen für eine Anklageerhebung nicht gegeben sind (§ 170 Abs. 2 StPO)282. Das Legalitätsprinzip steht damit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG283 und dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG.284 Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die Voraussetzungen der Strafbarkeit zu bestimmen und es kann daher nicht den Ermittlungsbehörden überlassen bleiben, ob und wen sie im konkreten Fall verfolgen und anklagen. Die Exekutive kann ebenso wenig faktisch neue Ermittlungsmaßnahmen im freiheitsbedeutsamen Bereich schaffen, dies ist und bleibt vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers. Eine Rechtssetzung ihrerseits ist damit ausgeschlossen.285 Problematisch ist vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips daher insbesondere § 153a StPO, der es der Staatsanwaltschaft in weitem Umfang ermöglicht, von der Erhebung der Anklage abzusehen und stattdessen das Verfahren gegen Auflage und Weisungen einzustellen, um eine Beschleunigung des Verfahrens zu erreichen und zur Entlastung der Justiz beizutragen. Der Staatsanwaltschaft kommen hier zum einen bei der Frage, ob sie das Verfahren gegen Auflagen einstellen will und zum anderen hinsichtlich der Bestimmung von Auflagen und Weisungen erhebliche Ermessenspielräume zu.286 So ist der Katalog der in § 153a StPO genannten Weisungen und Auflagen nicht abschließend, sondern kann von der Staatsanwaltschaft erweitert werden, ihr damit kommt ein „Auflagenerfindungsrecht“ zu.287 Im Ermittlungsverfahren hat die Staatsanwaltschaft zudem die Subjektstellung des Beschuldigten zu achten und darf ihn nicht zum Objekt degradieren. Ausgeschlossen sind daher zwangsläufig solche Vernehmungsmethoden, die 281  Siehe hierzu auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. (2009), § 14 Rn. 1 ff. 282  Grundlegend Pott, Die Aushöhlung des Legalitätsprinzips, in: Institut für Kriminalwissenschaften F.  a.  M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 79 (85). 283  Kahlo, Der Begriff der Prozeßsubjektivität, in: KritV 1997, 183 (206 f.). 284  Pott, Die Aushöhlung des Legalitätsprinzips, in: Institut für Kriminalwissenschaften F. a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 79 (83 f.). 285  s. näher zur Begründung auch Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 94. 286  Vgl. hierzu m. w. N. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht (2009), § 14 Rn. 5 ff. Grundlegend kritisch Pott, Die Aushöhlung des Legalitätsprinzips, in: Institut für Kriminalwissenschaften F. a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), S. 79 (88 ff.) und Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft, in: ZStW 118 (2006), 389 (402 ff.). 287  So zutreffend Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft, in: ZStW 118 (2006), 389 (403).

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten durch Misshandlung, Ermüdung, körperliche Misshandlung usf. (vgl. §§ 163a i. V. m. 136a StPO) beinträchtigen. Die Maßnahmen zur Wahrheitserforschung seitens der Ermittlungsbehörden unterliegen daher Grenzen, die sich aus der Anerkennung der Subjektsautonomie ergeben.288 Dazu gehören zudem die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot, sich selbst belasten zu müssen (nemo tenetur se ipsum accusare).289 Ihm muss es überlassen bleiben, ob und inwieweit er aktiv im Strafprozess mitwirkt.290 Aus der Subjektstellung des Beschuldigten ergibt sich ferner, dass Ermittlungsmaßnahmen nicht funktional etwa mit einer effektiven Verbrechensbekämpfung begründet werden können. Die in die Freiheitsrechte des Einzelnen eingreifenden Maßnahmen müssen vielmehr in einem „personalen Zusammenhang“ stehen.291 Die Staatsanwaltschaft kann nur gegen die Personen ermitteln, die tatsächlich Anhaltspunkte für einen konkreten Tatverdacht aufweisen. Verdachtsunabhängige Ermittlungen sind insofern problematisch.292 Ferner muss „ein zwingender Zusammenhang zwischen der Schwe­ re der zu ermittelnden Freiheitsverletzung und der einsetzbaren Ermittlungsmöglichkeiten“ gegeben sein verbunden mit der Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle bei fundamentalen Eingriffen in die Freiheitsrechte des Einzelnen.293 Zum einen darf daher beispielsweise die Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten nur angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht und ein besonderer Haftgrund besteht und wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis steht (§ 112 Abs. 1 StPO). Zum anderen darf sie nur durch einen Richter angeordnet werden (§ 114 StPO). In diesen Ausführungen zeigt sich zugleich die als notwendig vorgestellte Trennung von Exekutivgewalt und Rechtsprechung.294 Mit ihr soll gewährleistet werden, dass der Gesetzesvollzug von einer unabhängigen In­ stanz überprüft werden kann. Die Arbeit der Exekutiven ist zudem durch ihre situationsabhängige Tätigkeit in Bezug auf Einzelfälle fehlbar. Der 288  Kelker,

Die Rolle der Staatsanwaltschaft, in: ZStW 118 (2006), 389 (421). 133, 168 (201). Näher zu diesem Grundsatz Verrel, Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren (2001); s. a. Böse, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Satzes „nemo tenetur se ipsum accusare“, in: GA 2002, 98 ff. 290  BVerfGE 133, 168 (201). 291  Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft, in: ZStW 118 (2006), 389 (423). 292  Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft, in: ZStW 118 (2006), 389 (423). 293  Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft, in: ZStW 118 (2006), 389 (423). 294  Vgl. auch § 15 GVG einerseits, wonach die Staatsanwaltschaft nicht befugt ist, richterliche Geschäfte wahrzunehmen (Art. 151 GVG). Ebenso betont § 150 GVG andererseits, dass die Staatsanwaltschaft in ihren amtlichen Verrichtungen von den Gerichten unabhängig ist. 289  BVerfGE



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Justiz kommt daher im streitigen, freiheitsbedeutsamen Einzelfall – anders als die mit dem tatsächlichen Vorgang verbundene Exekutive – eine Objektivitätsstellung zu. Fielen Legislative und Exekutive zusammen, käme dem Gericht keine wirkliche Kontrollfunktion als unabhängige Institution zu, da das faktische Handeln der Exekutive mit der Allgemeinheit verwoben wäre, es wäre nur das Recht, was die Exekutive konkret als Recht gesetzt hätte und zugleich im Einzelfall anwendet. Ein echter Rechtsschutz wäre für den Betroffenen nicht möglich.295 3. Die Stellung des Richters im Strafrecht Im Rahmen des Übergangs vom Natur- zum Rechtszustand wurde die besondere Bedeutung der Rechtsprechung hervorgehoben. Ihre Aufgabe besteht darin, das Allgemeine mit dem Besonderen zu verbinden. Voraussetzung dafür ist, dass die Richter sachlich und persönlich unabhängig sind (vgl. auch Art. 92 und 97 GG). Das Gericht hat als „unbeteiligter Dritter“ unvoreingenommen und damit unabhängig von subjektiven Ansichten hinsichtlich des Angeklagten oder des Tatgeschehens zu sein.296 Das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG soll „Eingriffe Unbefugter in die Rechtspflege verhindern und das Vertrauen der Rechtssuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte schützen“.297 Der Gesetzgeber muss gewährleisten, dass sich der gesetzliche Richter im konkreten Einzelfall möglichst eindeutig aus einer allgemeinen Norm ergibt.298 Der Beschuldigte muss vorhersehen können, vor welchem Gericht die ihm vorgeworfene Tat verhandelt wird. Die Gerichtsverfassung, die Strafprozessordnung und auch die Geschäftsverteilungspläne der Gerichte sollen diese Vorhersehbarkeit sicherstellen und überlassen der Staatsanwaltschaft bezogen auf die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Gerichte hinsichtlich der Anklageerhebung nur einen eingeschränkten Ermessensspielraum.299 Die Besonderheit der Justiz und ihr Entscheidungsprimat begründen sich insbesondere auch gegenüber der ausführenden Gewalt durch „ihre umfas295  s. o.

unter C. II. u. III. Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. (2009), § 2 Rn. 4. 297  BVerfG NJW 1956, 545; vgl. auch BVerfGE 133, 168 (202). 298  BVerfGE 6, 45 (51); 22, 254 (258); vgl. hierzu auch Maunz, in: ders./Dürig, GG-Kommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 101 Rn. 25. 299  Vgl. aber auch die Kritik von Maunz hinsichtlich der Wahlmöglichkeit der Staatsanwaltschaft z. B. nach § 25 Nr. 2c GVG und §§ 7 ff. StPO bzgl. des sachlich und örtlich zuständigen Gerichts. Er sieht in diesen Regelungen ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, in: ders./Dürig, GG-Kommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 101 Rn. 31 f. 296  Roxin/Schünemann,

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3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

sende Objektivitätsfunktion unter dem Gesetz“.300 Die Rechtsprechung handelt im Auftrag des Volkes und in ihrer Verantwortung gegenüber dem Volk.301 Das Urteil ergeht daher auch „im Namen des Volkes“, § 268 Abs. 1 StPO.302 Hinzu kommt die Beteiligung von Laien im Strafprozess.303 Das Gericht legt das Gesetz als vom Volke in einem demokratischen Verfahren ergangenes aus und wendet es auf den konkreten Sachverhalt an.304 Ebenso wie die Arbeit der Legislativen und Exekutiven muss die der Justiz auf das Volk rückführbar sein (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG).305 Das hat auch Bedeutung für die Auslegung der Gesetze. Diese kann seitens des Gerichts nicht willkürlich erfolgen, sondern muss sich an Prinzipien der Gesetzesauslegung halten. Neben der Ausrichtung an dem konkreten Wortlaut der Norm, muss sie „den widerspruchsfrei-systematischen Geltungszusammenhang der Gesetze“ gewährleisten.306 Der Vorbehalt des Gesetzes (Art. 103 Abs. 2 GG) verbietet daher eine strafbegründende oder strafschärfende Analogie des Gesetzes. Ausgeschlossen ist jede Auslegung eines Straftatbestandes, „die den Inhalt der gesetzlichen Sanktionsnorm erweitert und damit Verhaltensweisen in die Strafbarkeit einbezieht, die die Tatbestandsmerkmale der Norm nach deren möglichem Wortsinn nicht erfüllen“.307 Ebenso schließt das Strafrecht die Anwendung von Gewohnheitsrecht aus, d. h. die Anwendung von Bestimmungenen seitens des Richters, die nicht durch eine förmliche Setzung, sondern bloß durch längere tatsächliche Übung entstanden ist.308 Der Richter muss sich bei seiner Entscheidung vielmehr an das geschriebene Recht halten und darf nicht einfach neue Tatbestände schaffen. Dann würde er sich die Aufgabe des Gesetzgebers anmaßen und bezogen 300  Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203). 301  Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. (1981), § 4 I, S. 21. 302  Ebenso z. B. § 311 ZPO, § 25 Abs. 4 BVerfGG. 303  Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. (1981), § 4 I, S. 21. 304  Insofern zutreffend Engelhardt, Karlsruher Kommentar zur StPO, 6.  Aufl. (2008), § 268 Rn. 1. Aus diesem Grund lässt sich die Formel „im Namen des Volkes“ – entgegen Engelhardt – nicht auf eine bloße Symbolwirkung reduzieren. Sie ist vielmehr in ihrem Grunde nach konstitutiv, auch wenn sie bei Unterbleiben nicht mit der Revision anfechtbar ist. 305  s. a. Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203) mit Bezug auf Kant, MdS, § 45 A 165, B 195: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person“ (Hervorhebung Verf.). 306  Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203). 307  BVerfGE 85, 69 (73); BVerfG NStZ 2009, 561 (Untreue). s. a. schon RGSt 32, 165 (185 ff.). 308  Vgl. zum Begriff des Gewohnheitsrechts BVerfGE 22, 121; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. (1991), S. 356 ff. und 433.



E. Ergebnis und Übergang zum 4. Teil der Arbeit319

auf einen konkreten Einzelfall eine neue Gesetzessituation schaffen.309 Das widerspricht jedoch der Stellung der Gerichtsbarkeit als Repräsentantin des Schlusssatzes, die das allgemeine Gesetz auf einen streitigen Sachverhalt objektiv anzuwenden hat.310 Ebenso wenig kann daher die Rechtsprechung das Strafmaß grundlegend selbst bestimmen, sondern ist auch hier an die gesetzlichen Regelungen gebunden.311

E. Ergebnis und Übergang zum 4. Teil der Arbeit Ausgehend von der Freiheit des Einzelnen wurde die Notwendigkeit der Staatskonstitution aufgezeigt. Aufgabe des Staates ist es, die Rechte der Einzelnen zu koordinieren und zu festigen, damit sich die Freiheit des Subjekts in einer Gemeinschaft mit anderen auch realisieren kann. Soll diese im Begründungszusammenhang erhalten bleiben und nicht verloren gehen, müssen sich – so wurde gezeigt – die Denk- und Handlungsstrukturen des Einzelnen in der Organisation des Staates fortsetzen. In den Prinzipien der Demokratie und Gewaltenteilung finden sie ihren Ausdruck. Insbesondere durch die Mitwirkung des einzelnen Bürgers an der Gesetzgebung gestaltet er – und damit auch der spätere Täter – staatliches Handeln mit. Durch die Gewaltenteilung im Staat wird nicht nur die Macht durch einzelne Zuständigkeitsbereiche beschränkt, sondern sie ist konstitutive Handlungsform und damit Teil der Legitimation von Rechtsausübung durch den Staat selbst. Es wurde dargelegt, dass gerade das Strafrecht selbst Teil der Staatsbegründung und daher auch nicht nur zufällig an staatliche Strukturen gebunden ist. Die Überlegungen konzentrierten sich bisher vornehmlich auf die Staatskonstitution. Um die Frage nach der Etablierung eines Europäischen Strafrechts beantworten zu können, bedarf es nun einer näheren Untersuchung, 309  Das Verbot des Gewohnheitsrechts muss ebenso für den Allgemein Teil des Strafrechts gelten. Vgl. hierzu näher Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/­ Paeffgen u. a. (Hrsg.), StGB-Kommentar, 4. Aufl. (2013), § 1 Rn. 66 m. w. N. Problematisch sind vor diesem Hintergrund beispielsweise die dogmatischen Konstruktio­ nen der sog. actio libera in causa (vgl. hierzu Hettinger, Die „actio libera in causa“ [1988], S. 436 ff. und 461 ff.; Paeffgen, Actio libera in causa und § 323a StGB, in: ZStW 97 [1985], 513 [516 ff.]). 310  Köhler, Zur Stellung der Justiz in der Gerechtigkeitsordnung, in: SchlHA 2001, 201 (203); ders., Strafrecht AT (1997), S. 94. 311  s.  a. den Leitsatz 1 des Bundesverfassungsgerichts zum „Verständigungsgesetz“, in: BVerfGE 133, 168: „Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es aus, die Handhabung der Wahrheitsforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumesssung zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen.“

320

3. Teil: Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Rechtsverfassung

wie sich das Verhältnis der Staaten bzw. das Verhältnis der Bürger unterschiedlicher Staaten zueinander bestimmen. Auch hier muss es Rechtsprinzipien geben, die vernunftnotwendig sind, sofern Staaten in einem (äußeren) Verhältnis friedlich zueinander stehen. Bereits im Staatsrecht tauchte die Schwierigkeit auf, dass der freie Einzelne bei der Rechts- und Staatsbegründung nicht verloren geht. Dies bedurfte eines gewissen Begründungsaufwandes. Auf internationaler Ebene wird dieser Begründungsgang noch schwieriger. Zum einen bestehen bereits Staaten mit ihrer je eigenen Souveränität und zum anderen darf im Recht zwischen den Völkern und Staaten der Einzelne nicht aus dem Blick geraten. Auch hier müssen Vereinbarungen resubjektivierbar sein, soll nicht das Gebäude in sich zusammenfallen. Im folgenden 4. Teil der Arbeit ist daher zu untersuchen, wie das Verhältnis souveräner Staaten untereinander und einzelner Staatsbürger zueinander rechtlich zu gestalten ist.

4. Teil

Zum rechtlichen Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander A. Einleitung Zum öffentlichen Recht gehört nach Kant nicht nur das Staatsrecht, sondern darüber hinaus – und zwar gleichbedeutsam – das Völkerstaaten- und Weltbürgerrecht, insoweit kann mit Geismann „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden (…) mit seiner Rechtsphilosophie insgesamt“ identifiziert werden.1 Das öffentliche Recht enthält somit eine über den Einzelstaat hi­ nausgehende Dimension. Innerstaatliches Recht und Interstaatenrecht sind aufeinander bezogen, sogar noch mehr: Sie stehen notwendig in wechselseitiger Abhängigkeit. Eine Friedenssicherung im Rechtsstaat bedarf nicht nur einer Sicherung nach innen, sondern ebenso einer Sicherung nach außen im Verhältnis zu anderen Staaten sowie einzelner Menschen verschiedener Staaten zueinander. Kant macht dies in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795 in einer Fußnote zur Einleitung des Zweiten Abschnitts deutlich: das „Postulat (…), was allen folgenden Artikeln zum Grunde liegt, ist: Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören. Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, (1) die nach dem Staatsbürgerrecht der Menschen in einem Volke (ius civitas), (2) nach dem Völkerrecht der Staaten in Verhältnis gegeneinander (ius gentium), (3) die nach dem Weltbürgerrecht, so fern Menschen und Staaten in äußerem aufeinander einfließendem Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum). Diese Einteilung ist nicht willkürlich, sondern notwendig in Bezug auf die Idee vom ewigen Frieden. Denn wenn nur einer von diesen im Verhältnisse des physischen Einflusses auf den andern und doch im Naturzustande wäre, so würde damit

1  Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 37 (1983), 363; s. a. Ebbinghaus, Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage, in: Oberer/Geismann (Hrsg.), Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1986), S. 1 f.: „Kants Pazifismus ist nichts anderes als der Abschluss seiner Lehre von einer möglichen Gemeinschaft freier Wesen“.

322 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

der Zustand des Krieges verbunden sein, von dem befreit zu werden hier eben die Absicht ist.“2 Die Idee von einem Frieden der Menschen untereinander hängt damit nicht nur von innerstaatlichen Rechtsprinzipien ab, sondern ist verbunden mit der rechtlichen Gestaltung der Verhältnisse der Staaten und der Bürger einzelner Staaten untereinander. Auch wenn Kant freilich nicht die konkrete jetzige Situation der Verhältnisse der Staaten untereinander in Europa bzw. auf der Welt vor Augen hatte und er auch nicht die heutigen Kommunikationsmittel und den damit verbundenen interstaatlichen Austausch kannte, ist seine Perspektive für die vorliegende Fragestellung aufschlussreich. Sie ist dies deswegen, weil Kant auch im interstaatlichen Bereich konsequent die Freiheit des Einzelnen miteinbezieht, aus der sich dann Grenzen der Rechtsvereinheitlichung ergeben. Diese werden Bedeutung haben für die im 5. Teil zu untersuchende Frage, ob die Etablierung eines genuinen Europäischen Strafrechts mit der Idee der Freiheit zusammenstimmt.

B. Zum Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander (Völkerrecht) Im 3. Teil der Arbeit wurde im „Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Zustand“ die Notwendigkeit verfasster Rechtsverhältnisse für ein freiheitliches Zusammenleben der Subjekte in einer gemeinschaftlichen Welt dargelegt. Die Eigentumslehre Kants weist aufgrund der Besitzgemeinschaft innerhalb einer (begrenzten) Erde daraufhin, dass nicht nur ein Teil von ihr rechtlich verfasst sein muss, sondern ihre Gesamtheit. Die Einzelnen befinden sich auf der Erdkugel in einem „Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins“. Erforderlich ist daher eine universelle Schaffung rechtlicher Strukturen.3 Es genügt für die Etablierung eines Friedenszustandes nicht, einen Teilbereich der Erde zu verrechtlichen. Das Postulat des öffentlichen Rechts betrifft damit nicht nur den Übergang in einen Staatszustand, sondern in einen rechtlichen Zustand (der Weltgemeinschaft) überhaupt (Völkerstaatenrecht, Weltbürgerrecht): „Man kann sagen, dass diese allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbar2  Zum

ewigen Frieden, BA 19; ebenso MdS, § 43 A 162, B 192. näher Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), 255 (257 f.); s. a. die Ausführungen im 3. Teil der Arbeit unter C. I. 3. 3  s. hierzu



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander323

ter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind“.4 Gemeint sind mit dem Begriff der Gesetze nicht einzelne positive Rechtsnormen, sondern „ein Satz, der einen kategorischen Imperativ (Gebot) enthält“.5 Den Friedenszustand zwischen den Staaten zu stiften, stellt eine Notwendigkeit dar, um das provisorische Mein und Dein im Naturzustand zu einem peremtorischen Mein und Dein in einen öffentlichen Zustand zu führen, in dem jeder am Recht teilhaben kann. Insgesamt umfasst das „öffentliche Recht“ „ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern (Hervorhebung B. N.), die, im wechselseitigen Einflusse gegeneinander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden“.6 Es ist der gleiche praktische Vernunftschluss, wie er im Privatrecht dargelegt wurde, der die Notwendigkeit der Verrechtlichung aufweist: Die Möglichkeit des Besitzes und der Erwerb des Besitzes (Wirklichkeit) weisen auf die Notwendigkeit einer rechtlichen Teilhabe hin. Insofern ruht das Völkerrecht bzw. das Weltbürgerrecht auf der gleichen Grundlage wie das Staatsrecht, nämlich der Verrechtlichung der Besitzverhältnisse. Die Ausgestaltung der Notwendigkeit in Bezug auf das Verhältnis von Einzelstaaten bzw. das Verhältnis der Bürger einzelner Staaten untereinander stellt sich jedoch anders als im Staatsrecht dar. Denn mit der aufgewiesenen notwendigen (und nicht nur faktischen) Existenz von Einzelstaaten bestehen bereits Teilverrechtlichungen, die, wie einzelne Menschen, nebeneinander existieren und deren Eigenständigkeit (Souveränität) erhalten bleiben muss. Die Ausgangsfrage nach den vorgestellten Bestimmungen im Rahmen des Staatsrechtes für das Völkerrecht ist: Wie muss das friedliche Verhältnis zwischen den Staaten und den einzelnen Menschen rechtlich gestaltet sein? Im Folgenden soll unter 1. zunächst die Ausgestaltung des Völkerstaatenrechts beleuchtet werden, anschließend ist unter 2. das Weltbürgerrecht zu betrachten.

I. Das Völkerstaatenrecht Ebenso wie das Verhältnis der einzelnen Personen untereinander muss das Verhältnis der Staaten zueinander rechtlich bestimmt werden. Vorausgesetzt ist im Völkerrecht bereits die Existenz einzelner Staaten. Aus diesem Grund 4  Kant,

MdS, A 234, B 265. MdS, AB 28. 6  Kant, MdS, § 43. Der Begriff der Verfassung ist hier weiter gefasst als rechtliche Verfasstheit einer globalen Ordnung überhaupt und daher nicht auf die positivrechtliche Verfassung eines Staatsvolkes zu reduzieren. Vgl. auch Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 208 f. 5  Kant,

324 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

handelt es sich genau genommen nicht um ein Völkerrecht, sondern um ein (Völker-)Staatenrecht. Das sieht auch Kant. Er verwendet zwar den Begriff des Völkerrechts, meint damit aber das Recht der Staaten im Verhältnis zueinander: „Das Recht der Staaten in Verhältnis zueinander [welches nicht ganz richtig im Deutschen das Völkerrecht genannt wird, sondern vielmehr das Staatenrecht (ius publicum civitatum) heißen sollte], ist nun dasjenige, was wir unter dem Namen des Völkerrechts zu betrachten haben.“7 Kant nennt in § 54 der Metaphysik der Sitten „Elemente des Völkerrechts“, die er in den folgenden Paragraphen (§§ 55–61) im Einzelnen näher erläutert: „Die Elemente des Völkerrechts sind: 1) dass Staaten, im äußeren Verhältnis gegen einander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2) dass dieser Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenn gleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität) ist, welche (indem sie es beide nicht besser haben wollen), obzwar dadurch keinem von dem anderen unrecht geschieht, doch an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche einander benachbart sind, auszugehen verbunden sind; 3) dass ein Völkerbund, nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages, notwendig ist, sich zwar einander nicht in die einheimische Misshelligkeiten derselben zu mischen, aber doch gegen Angriffe der äußeren zu schützen; 4) dass die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse; eine Verbündung, die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muss, – ein Recht, in subsidium eines anderen und ursprünglichen Rechts, den Verfall in den Zustand des wirklichen Krieges derselben untereinander von sich abzuwehren (foedus Amphictyonum).“8 Die ersten beiden Elemente verweisen auf den Naturzustand der Völker, während letztere die Notwendigkeit des Übergangs zu einem rechtlichen Zustand und seine Ausgestaltung zum Inhalt haben.9 Im Folgenden soll 7  Kant, MdS § 53, A 215 f., B 246. Der Begriff des Volkes ist nicht als ethnisch-kulturelle, sondern als öffentlich-rechtliche Einheit, als Staatsvolk, zu verstehen; s. a. Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für Philosophie und Forschung 37 (1983), 363 (366 f.). 8  Kant, MdS, A 216  f.; B 246 f.; s. zum Begriff des „foedus Amphictyonum“ Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 152 ff.; ders., Föderalität ohne Zwangsgewalt, in: ARSP 96 (2010), S. 309 ff. 9  Siehe zu den einzelnen Elementen des Völkerrechts auch Pinzani, Das Völkerrecht, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S.  235 (238 ff.); Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010) S. 110, 150 ff.



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander325

daher zunächst auf den Naturzustand der Völker eingegangen werden (unter 1.), um dann zur Notwendigkeit eines rechtlichen Zustands zwischen den Staaten zu gelangen (unter 2.). Auffällig ist dabei im Aufbau die Parallele zum interpersonalen Naturzustand und seiner Notwendigkeit des Übergangs in einen Staatszustand bzw. allgemein in einen rechtlichen Zustand. 1. Der Übergang vom Kriegszustand (Naturzustand) zum rechtlichen Zustand Der Naturzustand ist „ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenngleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität) (…), welche (indem sie es beide nicht besser haben wollen), obzwar dadurch keinem von dem anderen unrecht geschieht, doch an sich selbst in höchstem Grade unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche benachbart sind, auszugehen verbunden sind“.10 Kant beschreibt damit nicht einen empirischen, historischen Zustand des permanenten Krieges, den es zu beseitigen gilt, sondern allein das bloße nicht-rechtliche Nebeneinanderbestehen unterschiedlicher Staaten begründet schon einen latenten Kriegszustand (Naturzustand), der durch einen recht­ lichen Zustand abgelöst werden muss. Ebenso wie im Naturzustand zwischen Einzelpersonen stellt der Naturzustand zwischen den Staaten keinen „Zustand der Ungerechtigkeit (iniustus)“ dar, jedoch einen solchen der „Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus)“.11 Er ist insofern ein unsicherer Zustand, als es keine Instanz gibt, welche bestimmt, was rechtmäßiges und unrechtmäßiges zwischenstaatliches Verhalten darstellt, insofern ist der Zustand selbst „in höchstem Grade Unrecht“.12 Der Naturzustand zwischen den Staaten verweist damit genauso wie der Naturzustand zwischen den Einzelpersonen im Privatrecht auf die Notwendigkeit der Schaffung rechtlicher Verhältnisse. So stellt Kant auch im Bereich des Naturzustands der Völker darauf ab, dass hier „alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch“ ist“.13 Die Parallele mit dem im 10  Kant,

MdS, § 54. MdS, § 44, A 163, B 193 und § 60, A 226, B 256. 12  s. hierzu auch Ebbinghaus, Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage, in: Oberer/Geismann (Hrsg.), Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1986), S. 1 (2); Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit, in: Merkel/Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“, (1996), S. 172 (176 f.); Pinzani, Das Völkerrecht, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 235 (238). 13  Kant, MdS, § 61, A 226 f., B 257. 11  Kant,

326 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

3. Teil vorgestellten Privatrecht Kants und seinen drei Hauptstücken ist damit unübersehbar.14 Hier betonte er, dass der „Besitz aller Menschen auf Erden, der vor allem rechtlichen Akt derselben vorhergeht (von der Natur selbst konstituiert ist), (…) ein ursprünglicher Gesamtbesitz (communio possesionis originaria)“ ist.15 Dieser ist jedoch nicht als empirisches Faktum zu verstehen, sondern muss als ein „praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen ihren Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können“, begriffen werden.16 Zur möglichen Freiheitsrealisierung der Einzelnen überhaupt ist es notwendig, dass diese – und zwar a priori – eine Besitzrechtsstellung auf der begrenzten Erde beanspruchen können. Im Rahmen des ersten Hauptstücks des Privatrechts wies Kant daher zunächst allgemein auf die Möglichkeit des äußeren Mein und Dein hin und konkretisierte ihren Inhalt: „Von der Art, etwas äußeres als das Seine zu haben“.17 Das zweite Hauptstück legte dar, dass Gegenstände in einer gemeinsamen endlichen Welt mit anderen nicht im ursprünglichen Besitz einer Person ihren Ursprung haben können, sondern Gemeinschaftsgüter sind, die daher von den Einzelnen erst real erworben werden müssen (Wirklichkeit): „Ein jeder Boden kann ursprünglich erworben werden, und der Grund der Möglichkeit dieser Erwerbung ist die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens überhaupt“.18 Das dritte Hauptstück schloss mit der Notwendigkeit einer austeilenden Gerechtigkeit durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit: „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“.19 Alle drei Hauptstücke führten insgesamt zur Notwendigkeit der Konstitution rechtlicher Verhältnisse. Aus den denknotwendigen Rechtsverhältnissen im Privatrecht ergaben sich einerseits die Gerechtigkeitsformen und andererseits die Notwendigkeit der Gewaltenteilung sowie die besondere Stellung des Gesetzgebers als „vereinigter Wille des Volkes“.20 Betrachtet man das Privatrecht für sich, könnte überlegt werden, ob nicht nach Kant angesichts der allgemeinen Notwendigkeit der Schaffung recht­ licher Verhältnisse auf der Erde insgesamt der Übertritt in einen Weltstaat, genauer eine Weltrepublik, gefordert werden müsste. Denn die Verteilung des Bodens zwischen den einzelnen Menschen und damit die Frage von Eigentum und Besitz sind grenzüberschreitende Problemstellungen, die über 14  Vgl.

hierzu die Ausführungen im 3. Teil der Arbeit unter C. I. MdS, § 13, AB 84. 16  Kant, MdS, § 13, AB 84. 17  Kant, MdS, AB 55. 18  Kant, MdS, § 13, AB 83. 19  Kant, MdS, § 36, AB 139. 20  Siehe hierzu den 3. Teil der Arbeit unter C. II. 2. 15  Kant,



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander327

die Einzelstaaten hinaus bestehen.21 Diese Weltrepublik müsste analog zur Staatsform mit einer Rechtssetzungsgewalt, einer durchsetzenden Gewalt sowie einem Gerichtshof ausgestattet sein. Es scheint daher auf den ersten Blick inkonsequent, dass Kant als Lösung für den Frieden auf der Erde einerseits an die Privatrechtsverhältnisse anknüpft und eine Gesamtverrechtlichung postuliert, andererseits aber „nur“ eine „Föderation freier Staaten“ fordert: Dieser Friedensbund „geht auf keinen Erwerb irgend einer Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten, ohne dass diese doch sich deshalb (wie Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen, und einem Zwange unter denselben, unterwerfen dürfen“.22 Dem Staatenbund kommt damit keine Rechtssetzungsgewalt und keine auf ihr basierende Durchsetzungsmacht zu. Anders als die Überwindung des Naturzustandes hin zur Staatskonstitution, zu der „ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf“,23 ruht der Friedensbund auf einem freiwilligen Beitritt der Staaten, auf einem Vertragsschluss.24 Der Bund der Völker kann auch – anders als der Staat – jederzeit aufgekündigt werden: „Man kann einen solchen Verein einiger Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staatenkongreß nennen, zu welchem sich zu gesellen jedem benachbarten unbenommen bleibt; (…). Unter einem Kongreß wird hier aber nur eine willkürliche, zu aller Zeit ablösliche Zusammentretung verschiedener Staaten (…) verstanden“.25 Im Folgenden ist auf Kants Vorschlag eines bloßen Staatenbundes in Abgrenzung zu einem einheitlichen Völkerstaat und seiner Begründung näher einzugehen.26

21  Das zeigt sich gerade in der gegenwärtigen Zeit, die insbesondere bedingt durch neue Technologien verbunden mit der Ressourcenendlichkeit zu einer Globalisierung der Verhältnisse führt. s. a. Grohmann, Ist der Weltstaat rechtsprinzipiell notwendig?, in: Si vis pacem, para pacem?, Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 13 (2007), S. 13 (23 f.). 22  Kant, Zum Ewigen Frieden, BA 35. 23  Kant, MdS, § 44, A 163, B 193. 24  s. hierzu näher Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 204 f.; Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit, in: Merkel/Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“ (1996), S. 172 (183 f.); Ottmann, Der „ewige Frieden“ und der ewige Krieg, in: ders. (Hrsg.), Kants Lehre von Staat und Frieden (2009), S. 98 (100); Zaczyk, Selbstsein und Recht (2014), S. 91. 25  Kant, MdS, § 61, A 227 f., B B 257 f. 26  Die Unterschiede zwischen Staats- und Völkerrecht in ihrer Form der Verrechtlichung macht auch Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 113 ff. deutlich.

328 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

2. „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein“27 Insbesondere im 2. Definitivartikel seiner Friedensschrift sowie in seiner Rechtslehre wendet sich Kant ausdrücklich sowohl gegen die rechtliche Notwendigkeit als auch die rechtliche Möglichkeit der Schaffung eines Welt(bundes)staates: Die Verbindung zwischen den Staaten ist vielmehr als „eine Genossenschaft (Föderalität)“ auszugestalten, „die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muss“.28 Ziel dieses Völkerbundes ist es nicht, eine neue, den Staaten übergeordnete eigenständige Macht zu kreieren, sondern allein die „Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten“.29 Schon begrifflich setzt das Völkerstaatenrecht die Existenz von Staaten voraus. Ein Weltstaat stellt damit nicht eine höhere Stufe der Entwicklung dar, die anzustreben wäre, sondern vernichtete sogar die Idee vom ewigen Frieden. Kant ist in dieser Hinsicht eindeutig, indem er klarstellt, dass die Einteilung in Staatsbürgerrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht nicht willkürlich, „sondern notwendig (ist) in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden. Denn wenn nur einer von diesen im Verhältnisse des physischen Einflusses auf den andern, und doch im Naturzustande wäre, so würde damit der Zustand des Krieges verbunden sein, von dem befreit zu werden hier eben die Absicht ist“.30 Die Staaten selbst sind bereits rechtlich konstituiert. Sie setzten sich in Widerspruch, wenn sie sich einer ihnen übergeordneten Instanz unterwerfen würden, „weil ein jeder Staat das Verhältnis eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegeneinander zu erwägen haben, sofern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht.“31 Die Staaten müssen nach Kant mit ihren jeweiligen Besonderheiten auch in internationalen Verhältnissen für sich bestehen bleiben und dürfen nicht zu einem einheitlichen Weltstaat „verschmelzen“.32 Es kann zwischen einzelnen Staaten keine Hierarchisierung geben, denn sie sind einander gleichgeordnet, da jeder Staat für sich bereits Rechtsverhältnisse realisiert hat.33 Aus diesem 27  Kant,

Zum ewigen Frieden, BA 30. MdS, § 54, A 217, B 247. 29  Kant, Zum ewigen Frieden, BA 35. 30  Kant, Zum ewigen Frieden, BA 19. 31  Kant, Zum ewigen Frieden, BA 30, 31. 32  Hierzu auch Zaczyk, Selbstsein und Recht (2014), S. 92 ff. 33  Siehe zur Gleichordnung der Staaten auch Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 201, 204. 28  Kant,



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander329

Grund werden von Kant auch Kriege in Form von Strafkriegen abgelehnt: „Kein Krieg unabhängiger Staaten gegen einander kann ein Strafkrieg (bellum punitivum) sein, denn Strafe findet nur im Verhältnisse eines Obern (imperantis) gegen den Unterworfenen (subditum) statt, welches Verhältnis nicht das der Staaten gegen einander ist“.34 Kant wendet sich aber nicht nur gegen einen Einheitsweltstaat, sondern insgesamt gegen eine solche internationale Integration, die zwar die Staatenvielfalt erhält, jedoch ein Mehrebenensystem vorsieht, welches – jedenfalls in bestimmten Rechts- und Politikbereichen – eine supranationale Rechtssetzungsinstanz vorsieht (Weltbundesstaat).35 Denn im Friedensbund sollen sich die Staaten nicht „(wie Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen, und einem Zwange unter denselben, unterwerfen.“36 Eine den Mitgliedstaaten des Staatenverbundes übergeordnete Instanz, die mit Rechtssetzungsbefugnissen und auf ihnen beruhenden Durchgriffsrechten ausgestattet wäre, lehnt Kant somit ab. Allerdings ist diese Interpretation des Kantischen Völkerrechts nicht unbestritten; sie bedarf daher einer näheren Begründung. Die Bestimmung des Völkerrechts muss sich aus dem Ausgangs- und Zielpunkt der Rechtslehre Kants, der Freiheit des Einzelnen, ergeben. Aus ihr folgte zunächst die Notwendigkeit der Schaffung staatlicher Strukturen, um Rechtsverhältnisse zu legitimieren. Auch die Konstitution rechtlicher Verhältnisse zwischen den Staaten ist im Ergebnis notwendig, damit sich die Freiheit des Einzelnen im Staat tatsächlich realisieren kann. Denn diese bleibt im Staat weiterhin gefährdet, wenn der Staat selbst in kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Staaten gerät.37 Die Freiheit der einzel34  Kant, MdS, § 57, A 221  f.; B 252. Siehe hierzu insbesondere Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 129 f. 35  s. a. Grohmann, Ist der Weltstaat rechtsprinzipiell notwendig?, in: Si vis pacem, para pacem?, Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 13, S. 13 (15). 36  Kant, Zum Ewigen Frieden, BA 35. 37  Kant macht deutlich, dass die Kriegsführung der Staaten untereinander den einzelnen Staatsbürger betrifft, denn er muss in den Krieg ziehen. Der Staatsbürger steht aber nicht im Eigentum des Staates, wie Gegenstände, sondern muss „immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden (…) (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst), und der also zum Kriegsführen nicht allein überhaupt, sondern auch zu jeder besondern Kriegserklärung, vermittelst seiner Repräsentanten, seine freie Beistimmung geben muss, unter welcher einschränkenden Bedingung allein der Staat über seinen gefahrvollen Dienst disponieren kann“. (MdS, § 55, A 219, B 249 f.). Dazu Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 147 ff.; Pinzani, Das Völkerrecht, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 235 (243 f.). Vgl. auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts E 90, 286 (381 ff.). Das Gericht hat hier betont,

330 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

nen Bürger im Staat ist aber auch im bloß vorübergehenden, nicht gefestigten Friedenszustand gefährdet, da das Verhältnis der Staaten untereinander nicht rechtlich geklärt ist, so dass es jederzeit zu einem Krieg kommen kann. Der Friedensvertrag nach einem Krieg bereitet zwar dem „diesmaligen Kriege, aber nicht dem Kriegszustande (…) ein Ende“.38 Erforderlich ist daher eine gefestigte, d. i. rechtliche Verbindung zwischen den Staaten, in der die Freiheit des einzelnen Staates und damit auch der Einzelnen im Staat im Verhältnis zu anderen Staaten nach außen erhalten bleibt und gesichert ist. Soll dies der Fall sein, müssen die Staaten für sich weiterhin existent bleiben und können nicht einer supranationalen Instanz mit eigenen Rechtssetzungsbefugnissen untergeordnet werden (unter a)). Diese hätte nicht nur den Verlust der Staatlichkeit und seiner Souveränität zur Folge, sondern würde zugleich die Freiheit des Einzelnen aufheben (unter b)). a) Die Frage, ob für Kant möglicherweise der Staatenbund nur die zweitbeste Möglichkeit der Friedenssicherung darstellt, während die Weltrepublik die vernünftigere Lösung wäre, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Insbesondere bezogen auf das Ende des 2. Definitivartikels in Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ wird in der Literatur zum Teil die Weltrepublik als friedenssichernde Lösung angesehen,39 während der Völkerbund lediglich ein „negatives Surrogat“ darstelle. Kant betont an dieser Stelle: „Für Staaten im Verhältnisse unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Kriege enthält, herauszukommen, als daß sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civilis gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht dass die Bundesregierung im Rahmen eines Einsatzes bewaffneter Streitkräfte nach dem Grundgesetz grundsätzlich dazu verpflichtet sei, die vorherige konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. 38  Kant, Zum ewigen Frieden, BA 34. 39  Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: Lutz-Bachmann/Bohmann (Hrsg.), Frieden durch Recht (1996), S. 7 (10, 18 ff.); Höffe, Kant als Theoretiker der internationalen Rechtsgemeinschaft, in: Hüning/Tuschling (Hrsg.), Recht, Staat, Völkerrecht bei Kant (1998), S.  233 (240 ff.); ders., Eine Weltrepublik als Minimalstaat, in: Merkel/Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“ (1996), S. 154 (165 f.); Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit, in: Merkel/Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“ (1996), S. 172 (185 f.); Pinzani, Das Völkerrecht, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 235 (251 ff.). Zur kritischen Auseinandersetzung mit den Ansätzen Höffes und Kerstings vgl. Grohmann, Ist der Weltstaat rechtsprinzipiell notwendig?, in: Si vis pacem, para pacem? (2007), S.  13 (17 ff.).



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander331

wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (Furor impius intus – fremit horridus ore cruento. Vergil).“40 In der Literatur wird dieser Satz teilweise so interpretiert, dass das Zusammenwirken der Staaten am „besten nach der ‚positiven Idee einer Weltrepublik‘ zu organisieren (ist). Sie würde ein Völkerrecht überflüssig machen. Doch da die Verhältnisse nun einmal so sind, dass die Staaten auf ihrer Eigenständigkeit beharren und auf der Unterscheidung zwischen (innerem) Staatsrecht und (äußerem) Völkerrecht bestehen werden, muß man sich mit der zweitbesten Lösung zufrieden geben“, eben mit einem Völkerbund.41 Die vorgestellte Interpretation übersieht jedoch einerseits die Bedeutung der Begriffe „in thesi“ bzw. „in hypothesi“ als auch andererseits die Bestimmungen der „positiven Idee einer Weltrepublik“ und des „negativen Surrogats“. So ist mit der Wendung „in thesi“, „in hypothesi“ nicht gemeint, dass theoretisch der Völkerstaat die bessere Lösung wäre, die sich aber (leider) praktisch nicht umsetzen ließe.42 Ebenso wenig ist „in hypothesi“ mit einer „Hypothese“ als „einer subjekten Annahme“ gleichzusetzen.43 Kant verwendet die Unterscheidung „in thesi“ und „in hypothesi“ auch im Rahmen der 40  Kant,

Zum ewigen Frieden, BA 38. Kant, das Recht zum Kriege und der rechtliche Zustand im Verhältnis der Staaten zueinander, in: ARSP 2008, 70 (84); Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf‚ „Zum ewigen Frieden“ (1995), S. 103 f.; s. a. Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für Philosophie und Forschung 37 (1983), 363 (383): „Kant stellt sich das Ziel dieser historischen Entwicklung, den Weltstaat, keineswegs als Welteinheitsstaat vor, (…) (v)ielmehr denkt er an eine (Welt-)‚Republik freier verbündeter Völker‘, also an eine einzige (globale) Rechtsgemeinschaft (Staat), innerhalb derer es eine Vielfalt sich selber ‚verwaltender‘ staatsrechtlich unabhängiger und insofern freier Völker, gleichsam ‚autonome Regionen‘, gibt, wo also die zur weltstaatlichen Willenseinheit verbundenen Einzelwillen selber wiederum kollektive Willenseinheiten sind.“ 42  Wie hier im Ergebnis Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts (2005), S.  237 f.; Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 166 f. 43  So Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“, S. 241. Kant trennt vielmehr die Begriffe „Hypothese“ und „in hypothesi“ voneinander. Während die „hypothetische Möglichkeit (…) problematisch ist“, ist die „Möglichkeit in hypothesi (…) categorisch. Die Bedingungen sind.“ (Reflexionen zur Metaphysik, Akademieausgabe, Bd. XVIII, 6370. Mit dem Begriff problematisch ist eine „nur logische Möglichkeit (die nicht objektiv ist)“ (KrV, B 101, A 75) gemeint, demgegenüber ist die „Möglichkeit in hypothesi“ eine notwendige. 41  Byrd/Hruschka,

332 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

Differenzierung von analytischen und synthetischen Sätzen: „Alle analytischen Sätze der reinen Vernunft sind richtig in thesi, die synthetischen nur in hypothesi; (…). Wenn die hypothesis fehlt, so sind die Sätze willkührlich. Wenn die neue Bedingung ihr gar wiederspricht, denn sind sie falsch.“44 Bei Kants Imperativenlehre in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ wird der Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Sätzen deutlich. Die hypothetischen Imperative stellen bloß analytische Sätze dar, d. h., „Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objekts, als meiner Wirkung, wird schon meine Kausalität, als handelnder Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zweck schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus“.45 In diesem Zusammenhang meint „hypothetisch“ (aber eben nicht „in hypothesi“) tatsächlich eine bloß subjektive Annahme. Die hypothetischen Imperative beschreiben die Finalstruktur menschlichen Handelns, sie beziehen sich allein auf eine Mittel-Zweck-Setzung. Ob der Zweck tatsächlich richtig / wahr ist oder nicht, kann aus ihm nicht gefolgert werden. Bei hypothetischen Vernunftschlüssen fehlt der Untersatz, da er bereits aus dem Obersatz (Zweck) das Mittel zieht und so unmittelbar zur Konklusion kommt. Hypothetische Vernunftschlüsse weisen damit nicht ein notwendiges, sondern bloß ein relatives Denkverfahren bezogen auf einen subjektiv bestimmten Zweck auf und stellen analytische Sätze dar.46 Daher sind sie auch nicht in der Lage, Prinzipien, die allgemein-gültig sind, zu entwickeln wie ein kategorischer Vernunftschluss. Der Zweck, einen Völker(bundes)staat zu gründen, setzte voraus, dass die Völker sich als Staaten auflösten und ihre Souveränitätsrechte abgäben, um sich einer ihnen übergeordneten Rechtssetzungsinstanz (teilweise) zu unterwerfen. Auch wenn dies nach der Vernunft denkmöglich ist, wird die Wirklichkeit (das Verfasstsein der Menschen in Einzelstaaten) und damit der Untersatz letztlich außer Betracht gelassen und kann daher kein notwendiges Rechtsprinzip darstellen. Ein Völker(bundes)staat würde die Souveränität der Einzelstaaten (wenn auch nur teilweise) aufheben und damit zugleich die Eigenständigkeit der Staaten in ihrem (unantastbaren) Innenverhältnis berühren. Es muss daher ein „Bund zwischen den Staaten der blos die Freiheit eines Staats zu erhalten und sie auch andern zu sichern die Absicht hat ohne sich doch äußeren öffentlichen Gesetzen zu unterwerfen“ gestiftet werden. „Ein solcher Bund ist das syn44  Kant,

Reflexionen zur Metaphysik, Akademieausgabe, Bd. XVIII, 4976. GMdS BA 44 f. 46  Vgl. zu den hypothetischen Imperativen bei Kant die Ausführungen im 3. Teil unter B. 45  Kant,



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander333

thetische Prinzip der äußern Freiheit der Staaten (…) ohne gesetzlichen Zwang.“47 Der Begriff „in hypothesi“ bezieht sich darauf, dass die Staaten einen Völkerstaat „nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen“. Er ist zwar (theoretisch) denkmöglich, d. h. „in thesi richtig“, oder anders ausgedrückt: „dem Begriffe nach: logisch“48, da er sich aus dem Begriff des Völkerrechts ableiten ließe, kann jedoch „in hypothesi“ nicht als praktischnotwendig gedacht werden oder anders ausgedrückt: er hat „keine reale Möglichkeit“49; er würde den Untersatz (die Souveränität der Einzelstaaten) außer Acht lassen und könnte insofern kein verallgemeinerungsfähiges Rechtsprinzip darstellen. Nur ein Völkerbund ohne öffentliche Zwangsgesetze ist daher nicht nur denkmöglich, sondern auch denknotwendig. Den Ausgang für den Frieden zwischen den Staaten muss ein freiwilliger, auflösbarer Völkerstaatenbund sein, in dem jeder Staat seine Souveränität vollständig behält und der allein auf die Sicherheit und Souveränität der Einzelstaaten zielt. Im Bereich des interpersonalen Handelns wurde der Rechtsbegriff Kants vorgestellt als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ Durch die als notwendig vorgestellte Staatskonstitution muss der Begriff des Völkerstaatenrechts die bestehenden Einzelstaaten in sich aufnehmen. In Analogie zum Rechtsbegriff zwischen Personen kann der Begriff des Völkerstaatenrechts bestimmt werden als der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Souveränität des einen Staates mit der Souveränität des anderen Staates nach einem allgemeinen Gesetz (verstanden als Prinzip) des Friedens vereinigt werden kann“. Auch das Völkerrecht kann als kategorischer Vernunftschluss in einem Dreischritt vorgestellt werden: Den allgemeinen Oberbegriff stellt das allgemeine Gesetz des Friedens dar (Möglichkeit), die Souveränität der Einzelstaaten bildet den Unterbegriff (Wirklichkeit), um zum notwendigen Schluss zu gelangen, dass einerseits die Souveränität der Einzelstaaten mit ihrer je eigenen Verfassung nicht verloren geht, zugleich aber andererseits das Ziel, ein friedliches Zusammenbestehen der Staaten nebeneinander möglich bleibt, d. i. die Föderation freier Staaten (Notwendigkeit). Es kann im Völkerstaatenrecht, ebenso wie im Recht überhaupt, nicht um eine innere Auflösung der Subjekte (hier der Staaten) gehen, sondern allein um das äußere Verhältnis der Staaten zueinander. „Der Grund warum diese cosmopolitische Föderation nicht auf Gesetzgebung und Rechtsverwaltung selbst für die Glieder 47  Kant, Vorarbeiten zum ewigen Frieden Akademie-Ausgabe, Bd.  XXIII, S. 168. 48  Kant, Reflexionen zur Metaphysik, Akademie-Ausgabe, Bd. XVIII, 5695. 49  Kant, Reflexionen zur Metaphysik, Akademie-Ausgabe, Bd. XVIII, 5695.

334 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

dieser Weltbürgerlichen Societät gehen darf mithin keine Cosmopolitische Republik gestiftet werden darf ist weil die bloße äußere Freiheit allein das Objekt ist was sie zu verlangen berechtigt sind (…).“50 Der Vertragsschluss der Staaten untereinander muss die Friedenssicherung zwischen ihnen zum Inhalt haben; sie müssen insbesondere einstimmig beschließen, dass es keine militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Staaten geben soll und dass sich fremde Staaten nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates gewaltsam einmischen dürfen.51 Die oben zitierte „positive Idee einer Weltrepublik“ gegenüber dem „negativen Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes“ ist damit nicht als Wertung zu verstehen,52 sondern sie ist eine Aufgabenbeschreibung. Während die Weltrepublik eine Einheit der Einzelstaaten schaffen würde, geht der Bund nur auf die Abwehr von kriegerischen Auseinandersetzungen und ist damit auf die Sicherung der Freiheit der Einzelstaaten nach außen gerichtet.53 Im Verhältnis zu den Staaten untereinander geht es nicht um die Legitimation von Rechtsmacht, sondern um das friedliche Nebeneinanderbestehen unterschiedlicher bereits bestehender Rechtsformen (Staaten). Das Staatsrecht besteht „in Freiheit und Gleichheit unter Gesetzen“, während das Völkerstaatenrecht „Sicherheit und Rechte der Staaten nicht durch eigene Gewalt, sondern nach Gesetzen“ zum Inhalt hat.54 Die Wendung „unter Gesetzen“ weist auf eine Rechtsmacht und eine mit ihr verbundene positive Gesetzgebung hin, die Formulierung „nach Gesetzen“ meint die Verbindlichkeit „nach Vernunftprinzipien“, nicht aber mit Zwang durchsetzbares positives Recht. Denn zwischen den Staaten kann es keine hierarchische Ordnung geben, da sie im Verhält50  Kant,

Vorarbeiten zur Rechtslehre, Akademie-Ausgabe, Bd. XXIII, S. 352. hierzu auch die sechs Präliminarartikel Kant, Zum ewigen Frieden, BA 5 ff.; zu den Präliminarartikeln näher Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 178 ff.; Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts (2005), S.  214 ff. 52  So aber Bohman, Die Öffentlichkeit des Weltbürgers, in: Lutz-Bachmann/ Bohman (Hrsg.), Frieden durch Recht (1996), S. 87 (88); Pinzani, Das Völkerrecht, in: Höffe (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1999), S. 235 (250). Wie hier Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 242; Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 168. 53  Vgl. auch Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 242; Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts (2005), S. 236 ff.; Jacob, das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 168 f. Nach Lutz-Bachmann setzt sich Kant mit seiner Vorstellung vom bloßen Staatenbund in Widerspruch mit seinen vorhergehenden Argumentationen, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: Lutz-Bachmann/Bohman (Hrsg.), Frieden durch Recht (1996), S. 25 (26, 38 ff.). 54  Kant, Reflexionen zur Anthropologie, Akademie-Ausgabe, Bd. XV, S. 890. 51  Vgl.



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander335

nis der Gleichheit zueinander stehen. Auch wenn Kant also zunächst eine Analogie zwischen den einzelnen Subjekten und den einzelnen Staaten im Verhältnis zueinander herstellt,55 weisen sie in ihrer rechtlichen Gestalt fundamentale Unterschiede auf. b)  Die Staaten sind – anders als Individuen – nicht moralisch-vermögend, d. h. sie sind nicht frei im transzendentalen Sinne.56 Sie sind nicht in der Lage, nach einem kategorischen Imperativ zu handeln, sie sind vielmehr „künstliche“ Gebilde, die ihrer Form und ihrem Inhalte nach zwar rechtliche Handlungsformen in sich aufnehmen müssen, gleichwohl aber selbst nicht in der Lage sind, wie Subjekte nach Freiheitsgesetzen zu handeln. Sie können nur Strukturen und Institutionen schaffen, in denen freiheitliches Handeln der Einzelpersonen möglich ist. Die sich aus der Handlungsform des Einzelnen ergebende notwendige Dreiteilung im Staat in gesetzgebende, exekutive und judikative Gewalt ist damit nicht auf überstaatliche Instanzen übertragbar, so dass kein neues (überstaatliches) Herrschaftsverhältnis konstruierbar ist. Ein Rechtsverhältnis als Über- / Unterordnungsverhältnis zwischen Staat und Einzelnen ist vielmehr nur im Staat zu begründen, denn allein in ihm kann es einen gesetzgebenden Souverän geben. Bei einem dem Staat übergeordneten Suprastaat fehlte letzterer, da es kein einheitliches Staatsvolk gäbe.57 Dieses wäre nur über die Repräsentanten seines jeweiligen Staates vertreten, die bei der Abgabe eigener staatlicher Gesetzgebungsbefugnisse den einzelnen Staatsbürger übergehen müssten. Die Repräsentanten sind nun aber wiederum Teile der Exekutiven. Exekutivgewalt im Innern und Rechtssetzungsgewalt im Rahmen äußeren Staatshandelns würden somit – wie im Despotismus – zusammenfallen. Damit wäre nicht nur die Legitimation des Gesetzgebers auf überstaatlicher Ebene geschwächt, da es an einer unmittelbaren Rückbindung an die einzelnen Bürger der unterschiedlichen Staaten fehlte, sondern ebenso ihre Durchsetzbarkeit. Die Ge55  Vgl. Kant, MdS, § 61, A 226  f., B 256 f.: Im Naturzustand der Völker ist „alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch, und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch und ein wahrer Friedenszustand werden“. 56  Grohmann, Ist der Weltstaat rechtsprinzipiell notwendig?, in: Si vis pacem, para pacem?, Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 13 (2007), S. 13 (31); s. a. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts (2005), S. 232 ff. 57  Siehe hierzu deutlich Schmitz, Der ‚permanente Staatencongress‘ – Die internationalen Beziehungen im Rechtsphilosophischen Denken Kants, in: Perpektiven der Philosophie, Bd. 30 (2004), 335 (357 f.): „(D)enn hinter der Rede von Souveränität steht die Idee des allgemein gesetzgebenden Willens. Erst wenn man ihn genauer ins Auge faßt, wird deutlich, daß es die Substanz des Einzelstaates ist, welche in Gefahr gerät, wenn er einen wie auch immer gearteten Souveränitätsverlust in Kauf nimmt.“

336 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

setze büßten „mit vergrößten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck ein (…)“ und führten zu einem „seelenlose(n) Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt“.58 Die Grundidee des Gewaltenteilungsprinzips ist, dass die Exekutive ihr Handeln an den allgemeinen Gesetzen auszurichten hat. Fallen Legislative und Exekutive zusammen, verliert die gesetzliche Allgemeinheit zwangsläufig an Geltungskraft. Das würde dazu führen, dass der einzelne Staatsbürger nicht mehr Teilhaber des Rechts wäre, die Volkssouveränität würde verloren gehen. Bei einem Völkerstaat käme es letztlich zu einem Zustand ohne effektive Gesetzgebung, zur Anarchie,59 die zur Folge hätte, dass die im Staat realisierte Freiheit des Einzelnen verloren ginge. Kant definiert in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ den Despotismus auch als „Gesetz und Gewalt, ohne Freiheit“60. Die Unterordnung der Staaten unter eine ihnen übergeordnete gesetzgebende Instanz würde damit nicht nur die Souveränität der Staaten tangieren, sondern letztlich die bürgerliche Freiheit vernichten.61 Der allgemeine Wille verlöre seine substantielle Bedeutung, er wäre lediglich das „partikulare Wollen eines nur einzelstaatlichen Quasi-Subjektes. Es ist also die Dignität der res publica, welche auf dem Spiel steht“.62 Souveränität ist die „Herrschaft des Rechts als des allgemeinen Willens“ und lässt daher auch keine „Abstufungen“ zu.63 In den Vorarbeiten zum ewigen Frieden erklärt Kant denn auch: „Wo Staat u. Volk zwei verschiedene Personen sind ist despotism“.64 In diesem Satz zeigt sich nochmals deutlich, dass der Zusammenhang der Freiheit des Einzelnen mit der Souveränität des Volkes untrennbar verbunden ist, sollen rechtliche und nicht despotische Verhältnisse bestehen. Der Friede zwischen den Staa58  Kant,

Zum ewigen Frieden, B 63, A 62. näher zum Begriff der Anarchie bei Kant Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 194 ff., 240 m. Fn. 109; insgesamt Maus, Verfassung oder Vertrag, in: Niesen/Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit (2007), S. 350 (362). 60  Kant, B 328, A 330. 61  s. a. Schmitz, Der ‚permanente Staatencongress‘, in: Perspektiven der Philosophie – Die internationalen Beziehungen im Rechtsphilosophischen Denken Kants, Bd. 30 (2004), 335 (337 ff.); Maus, Verfassung oder Vertrag, in: Niesen/Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit (2007), S. 350 (366 ff.); deutlich auch Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 157 ff. 62  Schmitz, Der ‚permanente Staatencongress‘, in: Perspektiven der Philosophie – Die internationalen Beziehungen im Rechtsphilosophischen Denken Kants, Bd. 30 (2004), 335 (358). 63  Schmitz, Der ‚permanente Staatencongress‘, in: Perspektiven der Philosophie – Die internationalen Beziehungen im Rechtsphilosophischen Denken Kants, Bd. 30 (2004), 335 (358 m. Fn. 70). 64  Akademie-Ausgabe, Bd. XXIII, S. 163. 59  Vgl.



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander337

ten kann damit nicht „auf Kosten staatsbürgerlicher Freiheit“ realisiert werden.65 Aufgabe des Völkerbundes ist es daher auch, nicht unmittelbar in das Recht eines einzelnen Staates einzugreifen, die Staaten sollen sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen („Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen“66). Dem Völkerbund kommt vielmehr – wie dargelegt – die Funktion zu, die Freiheit der Einzelstaaten zu erhalten und zu sichern.67 Der Völkerstaatenbund muss also darauf angelegt sein, dass sich die Staaten, so wie sie sind, gegenseitig anerkennen und sich gegenseitig vor äußeren Angriffen schützen, während die inneren Staatsangelegenheiten nicht berührt werden dürfen.68 Auf internationaler Ebene ist damit sowohl eine originäre Gesetzgebung als auch eine auf ihr basierende ausführende Gewalt ausgeschlossen.69 Da 65  Maus, Verfassung oder Vertrag, in: Niesen/Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit (2007), S. 350 (366). 66  Kant, Zum ewigen Frieden, 5. Präliminarartikel, BA 11. 67  Kant, Zum ewigen Frieden, BA 35. 68  Vgl. auch Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 143 f.: „Drei fundamentale Merkmale eines zu stiftenden Völkerrechts sind damit festgelegt: Es begründet sich nach der Idee des ursprünglichen Vertrages und damit nach dem Prinzip der Freiheit und Gleichheit der Völker, unterscheidet also nicht zwischen großen und kleinen Staaten. Zweitens dient es allein der Verteidigung, und drittens garantieren die Mitglieder des Bundes einander ein Einmischungsverbot in ihre ‚einheimischen Misshelligkeiten‘.“; vgl. grundlegend zum Begriff der Anerkennung im Rahmen des Völkerstaatenrechts Zaczyk, Selbstsein und Recht (2014), S.  89 ff. 69  Es stellt sich aber die Frage, ob nicht möglicherweise ein gemeinsam kon­ stituierter Gerichtshof, eine Art Schiedsgerichtsbarkeit denkbar wäre, der sich die Staaten freiwillig im Konfliktfalle unterwerfen (ähnlich Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 [1998], 255 [274 f.]; Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung [2010], S. 156 f.). An einigen Stellen wird eine solche jedenfalls angedeutet. Aufgabe des öffentlichen Rechts zwischen den Völkern sei es, „ihre Streitigkeiten auf zivile Art, gleichsam durch einen Prozeß, nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg zu entscheiden“ (Kant, MdS, § 61, A 228, B 258). Der Begriff des Prozesses könnte darauf schließen, dass damit ein Gericht gemeint ist, welches den Streit zwischen Staaten friedlich beilegt. „Da die Art wie Staaten ihr Recht verfolgen, nie wie bei einem äußern Gerichtshofe, der Prozeß, sondern nur der Krieg sein kann“ (Kant, Zum ewigen Frieden, AB 34). Dieser Gerichtshof könnte aber einerseits nur einer sein, den sich die jeweiligen Staaten im Konfliktfall freiwillig unterwerfen, andererseits dürften die Entscheidungen des Gerichtshofes nicht zwangsweise (gegen den Willen des Staates) vollstreckt werden, sondern müssten freiwillig durch den betroffenen Staat umgesetzt werden. Denn nur dann bliebe die Souveränität des Staates zugleich erhalten. Vgl. zur Möglichkeit der Staaten, sich dem Spruch eines Schiedsgerichts zu unterwerfen auch Zaczyk, Selbstsein und Recht (2014), S. 92.

338 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

es im Völkerstaatenrecht vornehmlich um die Frage des Verhältnisses der Staaten untereinander ging, könnte überlegt werden, ob sich nicht aus dem Verhältnis der einzelnen Bürger unterschiedlicher Staaten zueinander möglicherweise die Notwendigkeit der Konstitution einer Weltrepublik ergeben müsste. Denn Kant trennt das Völkerstaatenrecht bewusst von der Ausgestaltung des Weltbürgerrechts ab.

II. Das Verhältnis der Bürger untereinander und ihr Verhältnis zu anderen Staaten (Weltbürgerrecht) Das Weltbürgerrecht stellt neben dem Staatsrecht und Völkerstaatenrecht die dritte Verrechtlichungsform des öffentlichen Rechts dar. Während das Staatsrecht die Beziehung der einzelnen Bürger zum Staat zum Inhalt hatte und das Völkerstaatenrecht den Bereich des zwischenstaatlichen Handelns betraf, ist noch ungeklärt, wie sich das Verhältnis zwischen den Völkern eines Staates zu einem anderen Staat sowie der Bürger eines Staates zu einem fremden Staat bestimmt.70 Das Weltbürgerrecht bildet insoweit den gedanklichen „Schlussstein“71 des öffentlichen Rechts und setzt damit das Staatsrecht und Völkerstaatenrecht voraus: Es ist notwendig „den Begriff des Menschenrechts nicht blos auf das innere einer Staatsverfassung in einem Volk oder auf das Verhältnis der Völker zu einander in einem Völkerrecht sondern zuletzt auch auf ein Weltbürgerliches Recht auszudehnen (…)“.72 Als dritte Dimension der Verrechtlichung kann es dann aber im 70  Im Rahmen des Weltbürgerrechts bestimmt Kant ebenso das rechtliche Verhältnis zwischen Staaten und staatenlosen Völkerschaften. Dieses soll hier jedoch im Folgenden vernachlässigt werden, da es für die Bedeutung der vorliegenden Arbeit, die sich mit bereits bestehenden Staaten und ihrem Verhältnis zur Europäischen Union auseinandersetzt, nicht von Bedeutung ist. Siehe hierzu Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), 255 (259). 71  Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), 255 (265). 72  Kant, Vorarbeiten zum ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe, Bd.  XXIII, S. 175; vgl. auch Fichte, Grundlage des Naturrechts, § 22, S. 382: „In diesem Rechte, auf dem Erdboden frei herumzugehen, und sich zu einer rechtlichen Verbindung anzutragen, besteht das Recht des bloßen Weltbürgers.“ s. a. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts (2005), S. 240: „Wird (…) die Weltfriedensordnung – wie bei Kant – schlüssig von der primären Rechtseinheit über das Verhältnis dieser Einheiten zueinander zu einer alles umfassenden Gesamtheit bestimmt, so ist die weltbürgerliche Verfassung notwendiger Schlußpunkt dieser gedanklichen Bewegung. Die Kugelgestalt der Erde, die für die physisch mögliche Wechselwirkung der Völker sorgt, findet sich nun auch in der Geschlossenheit der geistigen Erfassung möglicher Rechtsverhältnisse wieder.“



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander339

Rahmen des Weltbürgerrechts nicht um die Auflösung der Staaten gehen. Das zeigt sich auch im Gegenstand, auf den es nach Kant begrenzt ist: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“73 Ebenso wie im Rahmen des Staats- und Völkerstaatenrechts greift Kant im Weltbürgerrecht für seine Begründung auf das Privatrecht, die „ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens“, zurück. Jeder Einzelne hat ein ursprüng­ liches Recht, einen Platz auf der Erde einnehmen zu können:74 „Die Natur hat sie alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und, da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder derselben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (communio) und hiemit des Gebrauchs, oder des Eigentums an denselben, sondern der physischen möglichen Wechselwirkung (commercium)“.75 Die Völker befinden sich zwar in einer ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens, nicht jedoch in einer rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes, denn diese setzt – wie im Rahmen des Privatrechts dargelegt wurde – den Erwerb voraus. „Der Zustand der Gemeinschaft des Mein und Dein (communio) kann nie als ursprünglich gedacht, sondern muß (durch einen äußeren rechtlichen Akt) erworben werden; obwohl der Besitz eines äußeren Gegenstandes ursprünglich und gemeinsam sein kann.“76 Auffällig ist, dass Kant bereits im Rahmen des 2. Hauptstückes des Privatrechts darauf hinweist, dass sich eine Verrechtlichung in Form eines ursprünglichen Vertrages und damit die peremtorische Erwerbung auf das „ganze menschliche Geschlecht“ erstrecken muss, soll nicht „die Erwerbung doch immer nur provisorisch bleiben“.77 Diese notwendige Gesamtverrechtlichung des Besitzerwerbs ist aber nicht so zu verstehen, dass nun ein Weltstaat zu stiften ist, der die Erwerbsbedingungen für alle verbindlich festlegt. Denn auch dieser müsste ein allgemeines Weltvolk voraussetzen, welches zum einen nicht existiert und welches zum 73  Kant,

Zum ewigen Frieden, Dritter Definitivartikel, BA 40. MdS, § 13, A 84, B 83: „Alle Menschen sind ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat.“ 75  Kant, MdS, § 62, A 229, B 259. 76  Kant, MdS, AB 76 f. 77  Kant, MdS, AB 90; s. a. Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), 255 (265). 74  Kant,

340 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

anderen die notwendige Nivellierung unterschiedlicher Volksgemeinschaften und Staaten bedeuten würde. Dies wiederum widerspräche der von Kant dargelegten Ausgangsprämisse, d. h. der Notwendigkeit der Staatenkonstitution zur Freiheitsrealisierung der Einzelnen.78 Vielmehr weist er an dieser Stelle auf das Weltbürgerrecht hin, aber eben als Teil des öffentlichen Rechts und nicht als seine Gesamtheit, das das Staatsrecht ebenso voraussetzt wie das Völkerstaatenrecht. Das Weltbürgerrecht gilt nicht von Natur aus, sondern muss – wie die beiden anderen Verfassungsformen – etabliert werden. Es bedarf insgesamt der Stiftung eines öffentlichen Rechtszustandes, um den Erwerb von Gegenständen rechtlich verbindlich machen zu können. Dabei muss das Weltbürgerrecht auf Rechtsprinzipien gegründet sein und kann keine ethischen Gebote zum Inhalt haben: Die „Vernunftidee einer friedlichen, wenn gleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft ­aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip.“79 Im Weltbürgerrecht sind – wie im Recht überhaupt – die äußeren Freiheitssphären der einzelnen Bürger in ein Verhältnis zu setzen, anders ausgedrückt: es geht um die gegenseitige Anerkennung trotz bestehender Unterschiedlichkeit und Vielfalt.80 Auch der von Kant verwendete Begriff des „allgemeinen Menschenstaates“ ist nicht in Form eines Weltstaates vorzustellen.81 Die Wendung Kants in der Friedensschrift zu Beginn der Definitivartikel (Anmerkung) könnte zwar auf einen einheitlichen „Menschenstaat“ hindeuten, indem er schreibt: „Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, (…) die nach dem Weltbürgerrecht, so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum).“82 Allerdings schreibt Kant zum einen gerade nicht, dass die Menschen insgesamt Bürger eines allgemeinen Menschenstaates seien, sondern dass sie lediglich „als“ solche „anzusehen sind“.83 Der Begriff des Bürgers ist zum anderen 78  s. oben im 3. Teil unter C. II.; vgl. zum Weltbürgerrecht und zum Ausschluss eines Weltstaates auch Zaczyk, Selbstsein und Recht (2014), S. 92 ff. 79  Kant, MdS, § 62, A 229, B 259; Siehe hierzu näher Thiele, Kants dreidimensionaler Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts und seine Problematik, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 6 (1998), 255 (259). 80  s. a. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts (2005), S. 242. 81  So aber wohl Kleingeld, Kants politischer Kosmopolitismus, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 333 (346 f.); Held, „Kosmopolitische Demokratie und Weltordnung“, in: Lutz-Bachmann/Bohmann (Hrsg.), Frieden durch Recht (1996), S.  220 (232 ff.). 82  Kant, Zum ewigen Frieden, Anm. BA 19. 83  Maus, Verfassung oder Vertrag, in: Anarchie der kommunikativen Freiheit, Hrsg.: Niesen/Herborth (2007), S. 350 (359 f.).



B. Verhältnis souveräner Staaten und einzelner Staatsbürger untereinander341

nicht mit dem von „Staatsbürgern“ gleichzusetzen, denn diese sind „die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer (…) Gesellschaft (societas civilis), d. i. eines Staats“.84 Dem Weltbürger kommt demgegenüber gerade nicht der Status eines Gesetzgebers zu,85 sondern Kant begrenzt sein Recht auf ein Besuchsrecht und einen damit verbundenen Handelsaustausch: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“86 Auch im Weltbürgerrecht bleiben damit die Staaten „alleinige Akteure“,87 deren Aufgabe darin besteht, ihren Bürgern und den Bürgern fremder Staaten diese Rechte zu ermöglichen und damit ihr allgemeines Freiheitsrecht zu komplettieren. In Anlehnung an den allgemeinen Rechtsbegriff Kants kann das Weltbürgerrecht auch als „Bedingungen“ begriffen werden, „unter denen die Wechselwirkung von unterschiedlichen Menschen verschiedener Völker und Staaten auf einer gemeinsamen, endlichen Fläche nach einem allgemeinen Gesetz (Prinzip) des Friedens vereinigt werden kann“.88 Die Möglichkeit bildet das allgemeine Friedensgesetz (Obersatz). Die Wirklichkeit, der Untersatz, zeichnet sich durch das faktische Aufei­n­ andertreffen unterschiedlicher Menschen verschiedener Staaten auf einer begrenzten Erde aus. Der sie beide verbindende Mittelsatz weist auf die Verknüpfung von allgemeinem Friedensgesetz und Wirklichkeit hin, d. h. auf die Notwendigkeit der allgemeinen Anerkennung des je einzelnen Menschen als Rechtssubjekt und der rechtlichen Konstituierung von Möglichkeiten des gegenseitigen Austausches. Das Weltbürgerrecht beinhaltet damit ein friedliches „allseitiges Besuchsrecht aller Menschen und Völker als Bürger einer gemeinsamen Welt“.89 Ausgeschlossen ist damit jede gewaltsame, aufgezwungene Form des Austausches, wie es im Kolonialismus und Imperialismus der Fall ist.90 Mit dem Weltbürgerrecht soll auch keine supranationale Gesetzgebungsinstanz oder eine auf ihr ruhende Zwangsgewalt ge84  Kant,

MdS, § 46 A 166, B 196. „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 262; Maus, Verfassung oder Vertrag, in: Anarchie der kommunikativen Freiheit, Hrsg.: Niesen/ Herborth (2007), S. 350 (359 f.). 86  Kant, Zum ewigen Frieden, Dritter Definitivartikel, BA 40. 87  Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 262. 88  Vgl. auch Kant, MdS, § 62, A 230, B 260: Dieses Recht, so fern es auf die mögliche Vereinigung aller Völker, in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs, geht, kann das weltbürgerliche (ius cosmopoliticum) genannt werden.“ 89  Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für Philosophie und Forschung 37 (1983), 363 (385). 90  Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für Philosophie und Forschung 37 (1983), 363 (385); vgl. hierzu auch die ausführliche Kritik Kants am Kolonialismus, Zum ewigen Frieden, BA 42 ff. Hierzu näher Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 225 ff. 85  Eberl/Niesen,

342 4. Teil: Verhältnis der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander

schaffen werden, die dasselbe auch durchsetzt. Es ist vielmehr Aufgabe der einzelnen (von Kant als republikanisch vorgestellten) Staaten, das Weltbürgerrecht in ihre Rechtsordnungen aufzunehmen und auch durchzusetzen.91 Sie müssen ihren Bürgern damit grundsätzlich die Möglichkeit der Ausreise sowie fremden Bürgern die Einreise ebenso ermöglichen wie jegliche Formen des privatrechtlichen Austausches (insbesondere im Rahmen des Handelsver­kehrs).92 Aufgrund der Souveränität der Einzelstaaten kann es insofern auch keine Durchsetzungsinstanz geben, die die Rechte des Einzelnen scheinbar sichert, indem sie beispielsweise die Staaten gewaltsam dazu zwingt. Eine solche würde vielmehr eine gewaltsame Einmischung in die „Misshelligkeiten“ eines souveränen Staates bedeuten.93

C. Zusammenfassung und Übergang zum 5. Teil der Arbeit Wie die Rechtsverfassung im Staat hat sich auch die Rechtsfriedensordnung zwischen den Staaten und den einzelnen Bürgern nach Rechtsprinzipien zu organisieren, soll der freie Einzelnen Quelle des Rechts bleiben. Die einzelnen souveränen Staaten müssen daher für sich erhalten bleiben. Nur innerhalb der in sich rechtlich verfassten Einheit kann es eine Gesetzgebungsmacht geben, während eine dem Staat und damit auch seinen einzelnen Bürgern übergeordnete, supranationale Instanz mit eigenen Rechtssetzungsbefugnissen nicht möglich ist. Vielmehr stehen die Staaten in einem Gleichheitsverhältnis nebeneinander, die eine Hierarchisierung nicht zulässt. Für die Friedensstiftung ist es zwar – bedingt durch das gemeinsame Zusammenleben auf einer begrenzten Erde – notwendig, dass sich Staaten zu einem Völkerbund zusammenschließen, dieser beruht jedoch auf einem freiwilligen Vertragsschluss und nicht auf einer sie zu einem Einheitsstaat 91  Deutlich Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 265; Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts (2005), S. 241. 92  Vgl. ausführlich zur Exposition des Weltbürgerrechts Hössl, Das kantische Weltbürgerrecht als komplementäre Verfassungsform des internationalen Austauschs Privater?, in: Si vis pacem, para pacem?, Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 13 (2007), S.  137 (150 ff.); Eberl/Niesen, „Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden“ (2011), S. 265. 93  Inwieweit sich aus dem Weltbürgerrecht die Legitimation ergibt, Bürger fremder Staaten, die das Besuchsrecht verletzen oder im Gaststaat Straftaten begehen, zu bestrafen, ist hier nicht näher zu untersuchen. Denn die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Frage, inwieweit der Staat selbst Strafrechtsbefugnisse auf eine ihm übergeordnete Instanz abgeben darf. Vgl. zum internationalen Strafanwendungsrecht Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (1983); Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 2 Rn. 1 ff.



C. Zusammenfassung und Übergang zum 5. Teil der Arbeit343

konstituierenden Verfassung. Der völkerrechtliche Vertrag dient der Friedenssicherung der Einzelstaaten selbst sowie der Friedenssicherung der Staaten untereinander. Auch das Weltbürgerrecht zielt nicht auf die Schaffung eines Weltstaates, sondern weist den Einzelstaaten die Aufgabe zu, ihren Bürgern den Austausch mit anderen Staaten und deren Bürgern und damit überhaupt Freizügigkeit zu ermöglichen. Aber auch hier kann es keine den Staaten übergeordnete Zwangsgewalt geben, die diese Weltbürgerrechte gegenüber dem Einzelstaat durchsetzt. Insgesamt stellen damit die drei Formen des öffentlichen Rechts, das Staats-, Völkerstaaten- und das Weltbürgerrecht Notwendigkeiten zur Friedenssicherung in einer gemeinsamen Welt dar, die von dem freien Einzelnen systematisch ihren Ausgang nehmen. Die drei Verrechtlichungsformen müssen sich aber ebenso am allgemeinen Rechtsprinzip messen lassen und damit so angelegt sein, dass die Freiheit des Einzelnen auch weiterhin zur Geltung kommt. Internationalen Institutionen können daher keine eigenen Rechssetzungskompetenzen zukommen, da ein „Weltvolk“ nicht existiert. Ansonsten führten sie letztlich, wie Kant es deutlich gemacht hat, zu einem „Despotismus“, d. i. zu „Gesetz und Gewalt, ohne Freiheit“94. Die als notwendig für eine legitime Rechtsordnung erarbeiteten Strukturen wie Demokratie und Gewaltenteilung können nicht durch die Schaffung neuer, supranationaler Instanzen aufgeweicht werden, ohne dass dabei das Legitimationssubjekt, der freie Einzelne, verloren ginge. Die im 2. Teil für die Europäische Union als supranationale Organisation vorgestellten Begriffe, wie „unionale Demokratie“ und „unionale Gewaltenteilung“ und schließlich die Frage nach „unionalen Strafzwecken“ bedürfen daher einer kritischen Prüfung darauf, ob sie sich mit der Freiheit des Einzelnen und damit dem Recht, Mitkonstituent der Rechtsordnung zu sein, in Einklang bringen lassen.

94  Kant,

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 328, A 330.

5. Teil

Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung und die Etablierung eines ­Europäischen Strafrechts A. Einleitung Im Folgenden sind die Ergebnisse der ersten vier Teile der Arbeit für die Frage nach der Legitimation einer Europäisierung bzw. eines genuinen Europäischen Strafrechts zusammenzuführen. Auch wenn die Mitgliedstaaten in diesem Bereich Hoheitsrechte auf die Europäische Union wirksam übertragen haben, die in den Verträgen und im europäischen Sekundärrecht ihren Ausdruck finden, ist damit nicht die vorgängige Frage beantwortet, ob dies eine legitime Form von Rechtsübertragung darstellt. Es ist zu untersuchen, ob die Europäische Union in ihrer jetzigen Form an der ursprünglichen Europäischen Idee der Freiheit festhält, oder ob diese nicht durch die Übertragung von strafrechtsrelevanten Hoheitsbefugnissen seitens der Mitgliedstaaten auf europäische Institutionen verloren zu gehen droht. Dabei geht es keineswegs darum, die Europäische Integration insgesamt in Frage zu stellen, sondern es ist auf die sich speziell in einem vergemeinschafteten Strafrecht ergebenden Legitimationsprobleme hinzuweisen. Ende 2009 haben 14 Strafrechtswissenschaftler aus zehn EU-Staaten ein „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“ vorgelegt.1 Das Anliegen des Manifestes ist es, bedeutende Grundsätze für eine Europäische Kriminalpolitik festzulegen, an denen europäische Rechtsakte mit Bezug zum Strafrecht überprüft werden sollen. Dazu zählten das Erfordernis eines legitimen Strafzwecks, das ultima-ratio-Prinzip, der Schuldgrundsatz, das Gesetzlichkeitsprinzip, das Subsidiaritätsprinzip sowie das Kohärenzprinzip. Exemplarisch hat das Manifest bereits bestehende Rechtsakte daraufhin kritisch analysiert2 und festgestellt, dass die europäische Rechtssetzung in 1  Abgedruckt in ZIS 2009, 697  ff.; vgl. hierzu näher Satzger, Der Mangel an Europäischer Kriminalpolitik, in: ZIS 2009, 691 ff.; ders., Das „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“, in: ZRP 2010, 137 ff.; Prittwitz, Lissabon als Chance zur kriminalpolitischen Neubesinnung, in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht postLissabon (2011), S. 29 f. 2  ZIS 2009, 697 (700 ff.).



A. Einleitung345

manchen Bereichen eine Tendenz aufweise, Strafbestimmungen vorzusehen, die keinen klaren Schutzzweck verfolgten, das ultima-ratio-Prinzip vernachlässigten sowie Pönalisierungspflichten aufstellten, die zu unbestimmten Straftatbeständen auch auf nationaler Ebene führten. Es liege zudem allgemein die Tendenz vor, dass auf jedes gesellschaftliche Problem mit zunehmender Repression reagiert werde und bereits allein darin ein Mehrwert gesehen werde.3 Im Anschluss an das „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“ haben Ende 2013 16 Europastrafrechtswissenschaftler aus zehn EU-Mitgliedstaaten ein „Manifest zum Europäischen Strafverfahrensrecht“ vorgestellt.4 Es weist insbesondere daraufhin, „dass der Unionsgesetzgeber, wenn die Europäische Union zu einem einheitlichen Rechtsraum werden soll, der das ­Individuum in den Mittelpunkt seines Handelns stellt und in dem höchste rechtsstaatliche Anforderungen und gleichzeitig die Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden sollen, dazu berufen ist, einen Ausgleich zwischen dem – nationalen oder supranationalen – Strafverfolgungsinteresse, den betroffenen Individualrechten und den mitgliedstaatlichen Souveränitätsinteressen herzustellen“.5 Das Manifest fordert konkret die Limitierung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung jedenfalls dort, wo durch das Strafverfahren entweder schutzwürdige Interessen eines Individuums oder eines Mitgliedstaates verletzt würden.6 Es plädiert zudem für eine Ausgewogenheit des europäischen Strafrechts, die Achtung des Gesetzlichkeitsprinzips und der Justizförmigkeit des Strafverfahrens, die Wahrung der Kohärenz und die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.7 Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass die Legitimationsprobleme europäischer Rechtssetzung im Bereich des Strafrechts und die daraus resultierenden Spannungen zum nationalen Strafrecht nicht zufälliger Natur sind, sondern sich letztlich notwendig aus der supranationalen Organisa­ tionsform der Europäischen Union ergeben; insoweit stellen sie ein grundlegendes Strukturproblem dar. Um die Problematik aufzeigen zu können, bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit, wie er im Unionsrecht insbesondere im Bereich des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ bestimmt wird (unter B.). Von der näheren Bestimmung des Frei3  ZIS

2009, 697 (706). in ZIS 2013, 412. Vgl. hierzu Satzger/Zimmermann, Europäische Kriminalpolitik „reloaded“: Das Manifest zum Europäischen Strafverfahrensrecht, in: ZIS 2013, 406 ff. 5  ZIS 2013, 412. 6  ZIS 2013, 412 ff. 7  ZIS 2013, 412 (414 ff.). 4  Abgedruckt

346

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

heitsbegriffs hängt die Ausgestaltung von Herrschaftsstrukturen ab, wie der ideengeschichtliche Hintergrund gezeigt hat. So führt ein Verständnis des Menschen, welches ihn auf seine empirisch-faktische Seite (Streben nach Selbsterhalt) reduziert, zu einem despotischen Staat, dessen Aufgabe darin liegt, den „Bürger zu zähmen“ (Hobbes). Dem Staat kommt dann vor allem eine Sicherungsfunktion zu. Das zeigt sich gerade im Strafrecht, dessen Aufgabe es dann vornehmlich ist, die Bürger vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken bzw. den Täter zu bessern, um das Recht zu sichern. Auch das Strafverfahren hat sich daran zu orientieren und dient vor allem einer effizienten Verbrechensbekämpfung. Wird dem Einzelnen demgegenüber neben seinem Selbsterhaltungsstreben auch vernünftiges Handeln zugetraut, muss dieser als Mitkonstituent des Staates begriffen werden. Dieser existiert dann nicht allein, um die Bürger untereinander zu schützen und einzelne Rechte ihnen gegenüber gegebenenfalls mit Zwang durchzusetzen, sondern seine Aufgabe ist es auch, dem Einzelnen Grundrechte wie Freiheit und Eigentum gegenüber staatlichem Handeln zu sichern. Hierzu bedarf es einer Teilung der Rechtsmacht im Staat. Die Prinzipien des Rechtsstaates wie repräsentative Demokratie und Gewaltenteilung stellen insoweit keine historischen Zufälligkeiten dar, sondern sind freiheitsrealisierende Vernunftnotwendigkeiten. Ebenso ist das Recht zu strafen und das Strafverfahren an einen freiheitlichen Rechtsbegriff und seine staatlichen Ausformungen zu binden. Die Strafbegründung hat sich zunächst an der begangenen Unrechtstat zu orientieren. Aufgabe des Strafrechts ist es, das durch die Tat verletzte Recht der Allgemeinheit wiederherzustellen. Voraussetzung dafür ist wiederum, dass der Einzelne als Mitkonstituent der Rechtsordnung begriffen wird, womit zugleich einerseits die Notwendigkeit der Volkssouveränität verbunden ist und andererseits die Gewaltenteilung, die für das materielle Strafrecht ebenso wie für das Strafverfahrensrecht als notwendig vorgestellt wurde. Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung und ihre Möglichkeit der Strafrechtssetzung sowie ihre Anforderungen an das Straf- und Strafverfahrensrecht sind daher mit der Form einer freiheitlichen Rechtsverfassung und ihrer Strafrechtsbegründung kritisch in ein Verhältnis zu setzen (unter C., D. und E.).



B. Der Begriff der Freiheit als Sicherheitsgewährleistung347

B. Der Begriff der Freiheit als Sicherheitsgewährleistung im Spannungsverhältnis zum Begriff der Freiheit als Selbstbestimmung Das Recht und seine nähere Ausformung haben am Begriff der Freiheit als Selbstbestimmung anzusetzen.8 Demgegenüber können das Streben nach Glückseligkeit des Einzelnen oder seine inneren Befindlichkeiten für das Recht nicht maßgeblich sein. In der Sprache Kants bedeutet dies, dass Recht nicht auf hypothetischen, sondern auf kategorischen Vernunftschlüssen fußen muss. Der Begriff des Rechts und mit ihm verbunden die Zwangsbefugnis haben sich an der Form des vernünftigen Handelns des freien Einzelnen zu orientieren. Im Recht muss die Freiheit des Subjekts einerseits kompatibel sein mit der äußeren Freiheit der anderen und andererseits erhalten bleiben. Vor diesem Hintergrund ist der auf dem Gebiet des Unionsrechts verwendete Begriff der Freiheit, insbesondere in seiner im Rahmen des 2. Teils herausgearbeiteten Bedeutung als Sicherheitsgewährleistung kritisch zu würdigen.

I. Zur Problematik der Bezeichnung der Menschenwürde und der Freiheit als „Werte“ (Art. 2 EUV) 1. Art. 2 EUV benennt ausdrücklich die im 1. Teil und näher im 3. Teil herausgearbeiteten Grundlagen einer freiheitlichen Rechtsverfassung, in dem er den freien Einzelnen in den Mittelpunkt der Europäischen Integration stellt. Nach Art. 2 S. 1 EUV sind die „Werte, auf die sich die Union gründet, (…) die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz und Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Das Verb „gründet“ zeigt, dass die genannten Werte den Grund der Union bilden sollen.9 An erster Stelle steht die Menschenwürde, gefolgt von dem Begriff der Freiheit. Auch wenn die Verträge den Begriff der Freiheit nicht näher definieren, ist er an dieser Stelle jedenfalls auch fundamental zu verstehen, d. i. als „Möglichkeit der Selbstbestimmung des Individuums“ und insofern unmittelbar mit der Menschenwürde verbunden.10 8  Vgl.

hierzu die Ausführungen im 3. Teil der Arbeit. in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 2 EUV Rn. 8. 10  Vgl. auch Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5.  Aufl. (2016), Art. 2 EUV Rn. 18 m. w. N. 9  Calliess,

348

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

Art. 2 S. 2 EUV macht zudem deutlich, dass nicht nur die Union selbst, sondern ebenso die einzelnen Mitgliedstaaten an die genannten Werte gebunden sind („Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten […] gemeinsam“). Der „europäische Staaten- und Verfassungsverbund“ wird so zu einem sog. „Werteverbund“.11 Voraussetzung für die Beantragung eines Europäischen Staates zum Beitritt in die Union ist es daher auch, dass er die in Art. 2 EUV genannten Werte achtet (Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV). Art. 7 EUV sieht zudem ein Sanktionsverfahren bei einem Verstoß gegen die genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vor. Besteht die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte, können bestimmte Rechte des jeweiligen Mitgliedstaates ausgesetzt werden, namentlich genannt ist die Aussetzung der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaates im Rat. Durch die Sanktionsmöglichkeit bei Verletzungen des Werte­ fundaments soll ein „Mindestmaß an Wertehomogenität in einer heterogen zusammengesetzten Gemeinschaft erreicht werden“.12 2.  Problematisch ist im Zusammenhang mit den Begriffen der Menschenwürde und der Freiheit der Ausdruck des „Wertes“, denn er relativiert ihren eigentlichen Gehalt. Im Folgenden kann keine Darstellung der Wertphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts erfolgen sowie eine kritische Auseinandersetzung mit ihr.13 Vielmehr ist mit dem im 3. Teil erarbeiteten Verständnis von Freiheit als Selbstbestimmung darzulegen, dass die Begriffe Menschenwürde und Freiheit nicht in ihrer notwendigen Absolutheit erfasst werden, wenn sie als bloße „Werte“ verstanden werden. In der Möglichkeit des Einzelnen nicht nur nach hypothetischen Imperativen, sondern nach einem kategorischen Imperativ zu handeln, zeigt sich, dass er nach Vernunftgrundsätzen selbstbestimmt handeln und sich insofern unabhängig von inneren oder äußeren Antrieben zum Richtigen bestimmen kann (Autonomie).14 Mit dem Aufweis des kategorischen Imperativs hat Kant ein Prinzip menschlichen Handelns dargelegt, in dem die Freiheit des Einzelnen offenbar wird. Die Identität der Autonomie des Einzelnen und der Menschenwürde wird in einer Formulierung des kategorischen Imperativs deutlich: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als 11  Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 2 EUV Rn. 10. 12  Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. (2016), Art. 7 EUV Rn. 1. 13  Vgl. zu den wertphilosophischen Grundtendenzen und deren Kritik den Überblick bei Luf, Zur Problematik des Wertbegriffs in der Rechtsphilosophie, in: ders., Freiheit als Rechtsbegriff (2008), S. 95 ff. m. w. N. 14  s. im 3. Teil unter A. und B.



B. Der Begriff der Freiheit als Sicherheitsgewährleistung349

in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“15 Die Freiheit des Einzelnen bedingt die Notwendigkeit der Anerkennung der eigenen Person ebenso wie die der anderen Personen. Jeder Einzelne ist Zweck an sich: „das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde.“16 Menschenwürde und Freiheit sind damit nicht bloße „Werte“, sondern Wirklichkeiten, die nicht nur sein sollen, sondern ihr Dasein im freien Einzelnen unmittelbar haben, sie sind.17 Auch die Charta der Grundrechte hebt die zentrale Stellung der Menschenwürde hervor, indem sie sie an den Anfang stellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 S. 1).18 Die Würde ist mit dem Menschsein verbunden; sie wird nicht erst vom Verfassungsgeber geschaffen, sondern bildet die Basis des Rechts und damit eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens überhaupt. Die Erläuterungen zu Art. 1 GRCharta weisen daher treffend daraufhin, dass die Würde des Menschen nicht nur ein Grundrecht an sich ist, sondern die Basis der Grundrechte bildet. Die Menschenwürde als Wert zu bezeichnen, wie es Art. 2 EUV tut, steht demgegenüber in der Gefahr, diese von bestehenden Wertvorstellungen in einer (europäischen) Gemeinschaft abhängig zu machen und damit bedingt durch ihre Wandelbarkeit zu relativieren.19 Der Wertbegriff suggeriert, dass Menschenwürde und Freiheit ein von außen gegebenes „Gut“ darstellen und daher im Verhältnis zu anderen Rechten auch abwägbar sind.20 Das Recht schafft jedoch nicht erst die Freiheit des Einzelnen oder seine Würde, sondern diese bilden seinen Ausgangspunkt und sein Ziel. Im Recht 15  Kant,

GMS, BA 66 f. GMS, BA 77. 17  Vgl. hierzu auch Hoffmann, Über Freiheit als Ursprung des Rechts, in: ZRph 2002, 16 (21); Luf, Zur Problematik des Wertbegriffs in der Rechtsphilosophie, in: ders., Freiheit als Rechtsbegriff (2008), S. 95 ff. 18  Vgl. hierzu auch Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5.  Aufl. (2016), Art. 2 Rn. 17. Vgl. näher zum Verhältnis der Grundrechtecharta und den Verträgen Art. 6 EUV sowie hierzu die Kommentierung von Schorkopf, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslieferung (2016), Art. 6 EUV Rn. 20 ff. 19  Der Begriff des Wertes als „Preis“ oder Kaufsumme bzw. in einem abgeleiteten Sinne als „Geltung“ oder „Wertschätzung“ oder „Güte der Qualität“ wurde daher als wissenschaftlicher Begriff zunächst auch in der politischen Ökonomie verwendet. Siehe hierzu Hügli, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Sp. 556. 20  Zaczyk, Warum die Freiheit kein Wert ist, bisher unveröffentlichter Vortrag, S.  9 ff. 16  Kant,

350

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

geht es darum, die äußeren Freiheitssphären der je freien Einzelnen zu bestimmen und zu koordinieren.21 Die Selbstbestimmung des Einzelnen ist dabei als Dasein zugleich mitgesetzt, sie ist Grund für die Konstitution des Rechts überhaupt, welches vom freien Einzelnen mitgeformt und gestaltet wird.22 Daher ist die Freiheit auch nicht gegenüber anderen Gütern (wie z. B. dem Recht auf Sicherheit) abwägbar, sondern absolut.23 Die Problematik eines als bloßen „Wert“ verstandenen Begriffs der Menschwürde oder Freiheit ist auch keine Begriffsspielerei. Das relative Verständnis von Freiheit wird bereits in Art. 6 GRCharta und ebenso im Rahmen des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ deutlich.

II. Kritische Würdigung der Bestimmung des Freiheitsbegriffs im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ 1. Art. 6 GRCharta verbindet den Freiheitsbegriff mit dem Merkmal der Sicherheit: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ Bereits die Wendung „Recht auf“ deutet auf ein dem Einzelnen von außen seitens des Verfassungsgebers zuerkanntes Recht hin. Jedoch wird Freiheit nach dem vorliegenden Verständnis nicht erst als Recht freundlicherweise vom Verfassungsgeber gewährt, sondern der Einzelne ist frei. So heißt es beispielsweise auch in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Darin kommt zum Ausdruck, dass im Personensein selbst die Freiheit begründet ist.24 Die Erläuterungen zu Art. 6 GRCharta stellen zudem einen unmittelbaren Bezug zum „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ her.25 So bietet nach Art. 3 Abs. 2 EUV die Union „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kon­ trollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewähr21  Hierzu

näher im 3. Teil unter B. IV. Über Freiheit als Ursprung des Rechts, in: ZRph 2002, 16 (23). 23  s. a. Kelker, Grundfragen eines Zusammenhangs zwischen Menschenwürde und Strafrecht, in: FS-Puppe (2011), S. 1674 (1684 ff. m. w. N.); vgl. auch zur grundlegenden Kritik gegenüber dem Versuch, Freiheit und Sicherheit gegeneinander abzuwägen, Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht (2013), S. 161 ff. 24  Hierzu auch Hoffmann, Über Freiheit als Ursprung des Rechts, in: ZRph 2002, 16 (23). 25  Vgl. v. a. Punkt 5 der Erläuterungen. 22  Hoffmann,



B. Der Begriff der Freiheit als Sicherheitsgewährleistung351

leistet ist“. Dass im Bereich des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ der Freiheitsbegriff zunächst auf die Freizügigkeit bezogen ist und sodann mit der „Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität“ verbunden wird, wurde bereits dargelegt.26 Freiheit wird hier als Unabhängigkeit von Kriminalitätsbedrohung begriffen und damit mit dem Begriff der Sicherheit in einen Zusammenhang gesetzt. Der Freiheitsbegriff wird dann jedoch auf seine negative Seite, als Unabhängigkeit von äußerem Zwang, verkürzt. 2.  Die Problematik eines vornehmlich auf diese Seite und damit auf die Sicherheit des Einzelnen abstellenden Freiheitsverständnisses wurde bereits in der Darstellung der ideengeschichtlichen Entwicklung von Hobbes bis Kant angedeutet.27 Auch wenn sich freilich die Union nicht bewusst oder ausdrücklich auf das Hobbes’ sche Gedankengut bezieht, wird doch in einer Auseinandersetzung mit dessen reduziertem Freiheitsbegriff deutlich, welche Gefahren er für die Bestimmung von Recht und Herrschaft in sich birgt, die sich zum Teil auch im unionalen Recht wiederfinden. Hobbes versteht den Menschen als ein Wesen, das durch seinen bedingungslosen Egoismus für sein Handeln auch gegenüber anderen einen Universalitätsanspruch erhebt und daher in einen notwendigen Konflikt mit anderen geraten muss.28 Der Einzelne strebe fortwährend nach materieller Glückseligkeit verbunden mit dem Trieb nach Selbsterhalt. Im Naturzustand habe jeder die Freiheit, das zu tun oder zu unterlassen, was er nach seiner Beurteilung für seine Selbsterhaltung, für sein Leben als notwendig ansehe. Freiheit wird verstanden als „Abwesenheit äußerer Hindernisse“29. Dieser Freiheit korrespondiere ein Recht eines jeden auf alles, so dass letztlich gar keine wirklichen Rechte bestehen könnten, da jedem das gleiche Recht auf alles zukomme.30 Denn die anderen werden als ebenso selbstbezogen verstanden, so dass jeder zum möglichen Gegner des anderen wird.31 Die natürliche Freiheit des Einzelnen ist daher ein Zustand größter Unsicherheit, so dass es einer von außen kommenden freiheitsbegrenzenden Macht bedarf.32 Die Errichtung des Staates ist notwendig, um ein friedliches Zusam26  Vgl. den 1. Teil der Arbeit A.; s. a. Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 749, 758. 27  1. Teil unter C.–E. 28  Vgl. insgesamt zu Hobbes bereits die Ausführungen im 1. Teil der Arbeit unter III. 1. a). Bartuschat, Anthropologie und Politik bei Hobbes, in: Höffe (Hrsg.), Anthropologie und Staatsphilosophie (1981), S. 19 (27). 29  Hobbes, Leviathan, S. 99. 30  Hobbes, De Cive, S. 82  f.; hierzu näher Geißmann, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21 (1982), 161 (165). 31  Bartuschat, Anthropologie und Politik bei Hobbes, in: Höffe (Hrsg.), Anthro­ pologie und Staatsphilosophie (1981), S. 19 (27). 32  Leviathan, S. 99.

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

menleben in Interpersonalitätsverhältnissen, in einer Gemeinschaft überhaupt, zu ermöglichen.33 Aufgabe des Staates ist vor allem, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten.34 Hobbes benennt mit seinem Freiheitsbegriff aber nur eine Seite der menschlichen Handlung, die empirisch-triebhafte Seite des je Einzelnen. Demgegenüber wird die intelligible Seite des Menschen, sein vernünftiges interpersonales Handeln – wie es Kant in besonderer Weise herausgestellt hat – nicht aufgenommen. Insofern ist Hobbes’ Freiheitsverständnis ein reduziertes.35 Die Gefahr, die ein solches Freiheitsverständnis in sich birgt (wie es bei Hobbes und Beccaria sowie auch zur Zeit der absoluten Mo­n­ archie besonders deutlich wurde), ist, dass dem Herrschenden ein Absolutheitsanspruch zukommt. Seine Aufgabe ist es vor allem, den Einzelnen in seiner Zügellosigkeit gegenüber anderen zu zähmen bzw. (wie nach Ansicht Friedrichs II.) die Sicherheit und das Gemeinwohl der Bürger zu fördern und die Untertanen danach zu erziehen. Die Konstitution des Staates dient dann nicht mehr der Freiheitsrealisierung des Einzelnen, sondern dem Erhalt des Staates und steht damit über der Freiheit der einzelnen Bürger.36 Denn der Einzelne scheint bedingt durch seine naturhaften Triebe und Neigungen nicht in der Lage zu sein, sich zum vernünftigen Handeln mit anderen zu bestimmen. Es bedarf vielmehr eines ihm übergeordneten Machthabers, der ihm den richtigen Weg weist. Die „zu einer Person vereinte Menge“ ist der Staat. „Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt (…) höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan.“37 Der Souverän bestimmt das Recht im Staat, unter das sich alle anderen unterzuordnen haben.38 Nimmt man demgegenüber die intelligible Seite menschlichen Handelns als die für das Recht im Rahmen von Interpersonalitätsverhältnissen maß33  Bartuschat, Anthropologie und Politik bei Hobbes, in: Höffe (Hrsg.), Anthro­ po­logie und Staatsphilosophie (1981) S. 19 (29). 34  Hobbes, Leviathan, S. 255; näher zum hobbeschen Sicherheitsbegriff s. den 1. Teil unter C. I. 1. 35  Das Freiheitsverständnis Lockes ist ebenso ein reduziertes, obwohl es zwar neben dem Streben nach Glückseligkeit und natürlicher Selbsterhaltung, dem Einzelnen eine „natürliche“ soziale Interpersonalität zuerkennt, aus der sich gegenseitige Verbindlichkeiten ergeben; denn auch bei ihm bleibt die vernünftige Seite des Einzelnen noch unterbestimmt und beschränkt sich auf die empirische Subjektivität. Hierzu auch Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges …, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts (1994), S. 61 (66). 36  Vgl. zur fundamentalen Kritik gegenüber der europäischen Sicherheitsdebatte P.-A.  Albrecht, Die vergessene Freiheit, in: KritV 2003, 125 ff. 37  Hobbes, Leviathan, S. 135. 38  Vgl. auch insgesamt die Kritik Geismanns an Hobbes’ Staatstheorie, Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, in: Der Staat 21 (1982), 161 (170 ff.).



B. Der Begriff der Freiheit als Sicherheitsgewährleistung353

gebliche an, folgt daraus ein positives Freiheitsverständnis, das die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstbestimmung umfasst. Der Einzelne ist zwar auch endliches und damit ebenso triebhaftes Wesen, welches nach eigener Glückseligkeit strebt, jedoch ist er nicht darauf reduziert. Ebenso wenig ist er nur auf eine bloße Wahlfreiheit festgelegt, sich entweder für das eine oder das andere zu entscheiden, was ihm von außen vorgegeben wird, sondern er ist in der Lage, nach der „Vorstellung von Gesetzen“ zu agieren. Diese intelligible Seite befähigt ihn schon von Natur aus dazu, mit anderen interpersonal vernünftig zu kommunizieren und zu agieren. Er kann die Freiheit des anderen mit in seine Handlungsvollzüge aufnehmen und erkennt dabei sein Gegenüber als ebenso frei an, ohne dass er dazu erst von einer ihm oktroy­ ierten Macht erzogen oder durch Gewalt gezwungen werden muss. Die Staatskonstitution muss dann als eine von ihm als notwendig eingesehene und zugleich mitbegründete begriffen werden. Sie ist ihm nicht heteronom vorgegeben, sondern von ihm autonom mitgesetzt. Das positive Recht schafft nicht erst einzelne Freiheitssphären, sondern sichert und organisiert das bereits bestehende freiheitliche, interpersonale Handeln in einer Gemeinschaft. Entscheidend für die Rechts- und Staatsbegründung ist dann nicht das Streben eines jeden nach seiner Glückseligkeit, sondern das Abstecken äußerer Freiheitssphären und ihrer Durchsetzung.39 Auch wenn die EU-Verträge keinen abschließenden Begriff der Freiheit bestimmen, sondern nur auf einen spezifischen Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts abstellen und die Union auch nicht für sich in Anspruch nimmt, staatlich zu handeln, so gelten die Ausführungen allgemein für die Frage von Rechtsausübung und damit ebenso für die Befugnisse der Union im Rahmen des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Die Autonomie des Einzelnen muss auch hier die Basis bilden und kann nicht zu politischen Zwecken funktionalisiert werden. Ein funktional ausgerichtetes Rechtsverständnis erfasst die Dimension menschlichen Handelns nicht in seiner Basis. In der Sprache Kants wird die Handlungsform des Einzelnen dann vielmehr auf hypothetische Imperative, auf Klug39  Vgl. auch Kant, Über den Gemeinspruch, A 233 f. im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Staatstheorie Hobbes’: „Der Begriff (…) eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor; und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel, dazu zu gelangen, zu tun: so dass auch daher dieser letztere sich in jenes Gesetze schlechterdings nicht, als Bestimmungsgrund derselben, mischen muß. Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bindung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen.“

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

heitsregeln, verkürzt, während das für das Recht entscheidende vernünftige freiheitliche Handeln aus dem Blick gerät. Inwieweit sich dieses reduzierte Freiheitsverständnis auf das europäische Recht weiter auswirkt, zeigt sich insbesondere im Rahmen europäischer Rechtssetzung im Bereich des Strafrechts.

C. Europäische Strafrechtssetzung im Spannungsverhältnis zu rechtsbegründenden ­Strukturprinzipien Die „Werte, auf die sich die Union gründet“, sind neben der Achtung der Menschenwürde und der Freiheit auch die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 EUV). Insofern begreift sich die Europäische Union „normativ als vom Bürger her legitimiert, auf seinen Willen gegründet – also als Union der Bürger“.40 Ebenso wenig unterscheidet sich eines ihrer Ziele von dem hier vorgestellten Ziel des Völkerrechts, „den Frieden (…) zu fördern“ (Art. 3 Abs. 1 EUV). Die Union benennt damit den basalen Beweggrund der europäischen Integration überhaupt, eine Friedenssicherung durch Vergemeinschaftung des Rechts zu erreichen.41 Neben der Friedensförderung zwischen den Staaten sind weitere Ziele der Union, „ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“ (Art. 3 Abs. 1 EUV).42 Um diese Ziele zu erreichen, bietet die Union „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem (…) der freie Personenverkehr gewährleistet ist“ und wirkt durch die Errichtung eines Binnenmarktes „auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft (…) sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin“ (Art. 3 Abs. 2 und 3 EUV). Durch die weite Zielsetzung der Union und die damit verbundene Schaffung einer den Staaten übergeordneten Instanz entwickelt die Union eine eigene Dynamik. Aufgrund ihrer breitgefächerten Zielsetzung kommen der Union Legislativbefugnisse in den verschiedensten Politik- und Lebensbereichen zu, wie beispielsweise im Rahmen des Umweltschutzes (Art. 192 AEUV), des Wettbewerbsrechts (Art. 103 AEUV), des Schutzes der finan40  Pernice, Verfassungsverbund, in: WHI – Paper 4/2010, 101 (102) (abgerufen am 8.9.2016). 41  Vgl. schon Hallstein, 5. Aufl. (1979), Die Europäische Gemeinschaft, S. 53. 42  Vgl. hierzu näher Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 3 EUV Rn. 29, 31 ff.



C. Europäische Strafrechtssetzung355

ziellen Interessen der Union (Art. 325 AEUV) und im Rahmen der „Justiziellen Zusammenarbeit im Strafrecht“ (Art. 82 ff. AEUV). Bedingt durch die neben der Friedenssicherung zwischen den Staaten weit bestimmten Ziele wächst in diesen Bereich zugleich die Bedeutung des Strafrechts als ein Mittel zur Durchsetzung der Ziele. Es ist insofern kein Zufall, dass das unionale Strafrecht zunächst eine Harmonisierung der unterschiedlichen Systeme insbesondere im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich anstrebt. Der Union als Wirtschafts- und Finanzeinheit geht es um die Gewährleistung ihrer Konstitutionsbedingungen selbst bzw. um ihren Erhalt. Daher erfolgt die Schaffung von unionalem Strafrecht auch punktuell, nämlich bezogen auf einzelne Zielsetzungen der Union und ist nicht auf die Schaffung eines systematischen Unionsstrafrechts angelegt.43 Es geht um den jeweils aktuell bedeutsamen Schutz bestimmter Unionsinteressen. Nach den grundlegenden Ausführungen zum Staatsrecht und Strafrecht im 3. Teil und zur völkerrechtlichen Verhältnisbestimmung von Staaten und ihrer Bürger zueinander – ausgehend von einem freiheitlichen Rechtsbegriff im 4. Teil – kann jetzt näher untersucht werden, inwieweit die Union, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit einer Rechtssetzung im Bereich des Strafrechts tatsächlich an der Freiheit des Einzelnen festhält oder ob sie diese dabei nicht aus dem Blick verliert.

I. Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung Im 4. Teil der Arbeit wurde deutlich, dass sich – ebenso wie die Rechtsverfassung im Staat – auch die Rechtsfriedensordnung zwischen den Staaten und den einzelnen Bürgern nach Rechtsprinzipien zu organisieren hat, soll der freie Einzelne Quelle des Rechts bleiben. Die einzelnen souveränen Staaten müssen daher jedenfalls für sich erhalten bleiben. Nur innerhalb der in sich rechtlich verfassten Einheit kann es eine Legislative geben, während eine dem Staat und damit auch seinen einzelnen Bürgern übergeordnete, supranationale Instanz mit eigenen Rechtssetzungsbefugnissen nicht möglich ist. Die Staaten stehen in einem Gleichheitsverhältnis nebeneinander, die eine Hierarchisierung nicht zulässt. Für die Friedensstiftung ist es zwar – bedingt durch das gemeinsame Zusammenleben auf einer begrenzten Erde – notwendig, dass sich Staaten zu einem Völkerbund zusammenschließen, dieser beruht jedoch auf einem freiwilligen Vertragsschluss und nicht auf einer sie zu einem Einheitsstaat konstituierenden Verfassung. Der völkerrechtliche Vertrag dient der Friedenssicherung der Einzelstaaten selbst 43  s. a. die Kritik von Frisch, Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa, in: GA 2009, 385 (402 f.); ebenso Mylonopoulos, Strafrechtsdogmatik in Europa nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZStW 123 (2011), 633 (634).

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

sowie der Friedenssicherung der Staaten im Verhältnis zueinander. Auch das Weltbürgerrecht zielt nicht auf die Schaffung eines Weltstaates, sondern weist den Einzelstaaten die Aufgabe zu, ihren Bürgern den Austausch mit anderen Staaten und deren Bürgern und damit überhaupt Freizügigkeit zu ermöglichen. Aber auch hier kann es keine den Staaten übergeordnete, gesetzgebende Instanz geben. Insgesamt stellen damit die drei Formen des öffentlichen Rechts, das Staats-, Völkerstaaten- und das Weltbürgerrecht Notwendigkeiten zur Friedenssicherung in einer gemeinsamen Welt dar, die von dem freien Einzelnen systematisch ihren Ausgang nehmen. Die Europäische Union lässt sich in die hier vorgestellten Kategorien von Staatsrecht oder Völkerrecht nicht einordnen. Sie nimmt vielmehr eine Zwitterstellung ein; sie konstituiert eine Rechtsordnung eigener Art. So ist sie einerseits kein eigenständiger Staat,44 andererseits haben ihr die Mitgliedstaaten jedoch Hoheitsrechte übertragen, die von eigenen europäischen (staatsanalogen) Institutionen wahrgenommen werden.45 Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Europäische Union daher auch als „Staatenverbund“ und trennt ihn vom Bundesstaat ebenso wie von Staatenbündnissen ursprünglicher Art ab.46 Im Folgenden soll dargelegt werden, dass sich die Union als supranationale Organisationsform nicht demokratisch-rechtsstaatlich konstituieren kann, so dass sich auch ein genuines europäisches Strafrecht nicht legitim umsetzen lässt.47 Es geht dabei aber keineswegs darum, in alten nationalstaatlichen Begriffen zu verharren, sondern um eine kritische Prüfung des Bestehens des von der Union selbst angegebenen Schöpfungsgrundes, nämlich auf dem „Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“, zu ruhen.48

44  s. hierzu

oben in der Einleitung unter A. oben in der Einleitung unter A. 46  BVerfGE 123, 267. Vgl. zum Begriff des Staatenverbundes bereits Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. 7 (1992), § 183 Rn. 38, 50 ff. 47  Von einem anderen gedanklichen Hintergrund ausgehend, aber im Ergebnis ebenso Jakobs, Zur gegenwärtigen Straftheorie, in: Kodalle (Hrsg.), Strafe muß sein! Muß Strafe sein? (1998), S. 29 (38 f.); ders., Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die Deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende (2000), S. 47 (55). 48  Präambel des EUV. Zur Kritik gegenüber dem Begriff des Wertes s. bereits die Ausführungen oben unter B. I. 45  s. hierzu



C. Europäische Strafrechtssetzung357

1. Die Europäische Union: Souverän ohne Volk Der Union fehlt ein „einheitliches Legitimationssubjekt“49 und damit ein Souverän. Es mangelt ihr daher an der Möglichkeit der Setzung eines durch den allgemeinen Willen gebildeten Obersatzes, wie er für das Strafrecht als eines kategorischen Vernunftschlusses als notwendig vorgestellt wurde. Ein sog. unionaler Demokratiebegriff als unabhängig von einer in sich verfassten Einheit ist in sich widersprüchlich und zwar nicht bloß deshalb, weil an einem veralteten Volks- oder Nationenbegriff festgehalten wird, sondern weil eine Rechtslegitimation mit Durchsetzungsmacht eine in sich verfasste Einheit voraussetzt, die überhaupt in der Lage ist, sich „unter Rechtsgesetzen zu vereinigen“. Diese Einheit ist nicht als ethnisch-zentrierte oder historisch-faktische zu verstehen. Voraussetzung ist nicht eine „volkhafte Einheit“, sondern eine von der Gesellschaft her begründete „politische Einheit“,50 die eine „kollektive Identität“ aufweisen und sich aus diesem Grunde auch auf Mehrheitsregeln verständigen kann.51 Zwar hat die europäische Integration seit ihrem Beginn in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch die gemeinsame Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen vor allem im Wirtschaftsbereich, dem Abbau der Grenzen und durch die Vereinheitlichung der Währung partiell identitätsstiftend gewirkt.52 Hinzu kommt, dass die Idee eines rechtlich und politisch vereinten Europas bereits in der Antike angelegt war53 und wie im 1. Teil der Arbeit deutlich wurde, auch auf eine gemeinsame ideengeschichtliche Tradition in der Neuzeit zurückgreifen kann. Die in der Aufklärung errungene Zentrierung des Weltverständnisses auf das freie Subjekt verbunden mit der Etablierung des Rechtsstaates und grundlegenden Menschenrechten finden ihren Ausdruck in den europäischen Verträgen. Die Europäische Integration ruht daher insgesamt auf einer gemeinsamen christlich-abendländischen Tradition, die eine Verbundenheit zwischen Europäern schafft.54 Dennoch ist eine als Einheit begriffene europäische Gemeinschaft – jedenfalls bisher – nicht auszumachen. Der Union fehlt eine gewachsene 49  Pernice, Verfassungsverbund, in: WHI – Paper 4/2010, S. 101, 107 (abgerufen am 8.9.2016). 50  Strohmeier, Die EU zwischen Legitimität und Effektivität, in: bpb, Aus Politik und Zeitgeschichte 2007, Europa, abrufbar unter: http://www.bpb.de/apuz/30621/ die-eu-zwischen-legitimitaet-und-effektivitaet?p=all (abgerufen am 16.09.2016). 51  Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, 581 (590). 52  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005) S. 411 m. w. N. 53  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005) S. 411; hierzu näher Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. (2009). 54  Siehe hierzu insgesamt Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung, 2005, S.  411 ff.

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

politische, sprachliche oder kulturelle Gemeinschaft, die zu einer Einheit integrierbar wäre. Es besteht vielmehr bereits real eine Völker- und Staatenvielheit, die mit ihren je eigenen kulturellen Besonderheiten, ihrer Verfassungsvielfalt und ihren unterschiedlichen Rechtssystemen aufeinander treffen.55 Verbunden ist damit das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit in bedeutenden Politik- und Rechtsbereichen, so dass auch ein über die Staaten hinausgehender, sie verbindender „europäischer“ Diskurs nicht erfolgen kann.56 Dass es an einer solchen Öffentlichkeit mangelt, zeigt sich auch in der geringen Wahlbeteiligung der „Bürgerinnen und Bürger der Union“ bei den Europawahlen. Die demokratietheoretischen Zweifel aufgrund einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit sind damit nicht bloß ideologisch bedingt,57 sondern wirklich existent. Den Demokratiebegriff im Rahmen der Europäischen Union von der gesellschaftlichen und politischen Einheit zu lösen und allein anhand der Regelungen der Verträge zu bestimmen, schafft einen künstlichen Souverän, der unverbunden neben dem Demokratieprinzip stehen muss. Daran ändert sich auch nichts, wenn der „unionale Demokratiebegriff“ an die sog. Unionsbürgerschaft (Art. 9 EUV) gekoppelt wird.58 Denn der Status des Unionsbürgers kann ein „Europäisches Volk“ nicht ersetzen. Die Unionsbürgerschaft stellt gerade keine eigene Staatsbürgerschaft dar, sondern ist an die Mitgliedstaaten gebunden und insofern von der rechtlichen Einheit der Vertragsstaaten abhängig.59 Der Einwand, dass das bloße Abgeleitetsein der Unionsbürgerschaft von den Mitgliedstaaten den „grundlegenden Status“ des Unionsbürgers nicht tangiere und dadurch nicht vermindere oder verstärke,60 übersieht, dass das Abgeleitetsein der Unionsbürgerschaft von den Mitgliedstaaten nicht eine bloße Äußerlichkeit ist, sondern ihren Grund darin hat, dass es (jedenfalls bisher) kein souveränes Unionsvolk gibt, welches durch die Begründung einer Unionsverfassung ein Staatsvolk darstellte. Vielmehr ist die Europäische Union ein Zusammenschluss von mehreren bereits bestehenden Staaten mit je eigenen Staatsvölkern. Ein echter Euro55  Grundlegend Hoffmann, Über Freiheit als Ursprung des Rechts, in: ZRph 2002, 16; s. a. Strohmeier, Die EU zwischen Legitimität und Effektivität, in: bpb, Aus Politik und Zeitgeschichte 2007, Europa, abrufbar unter: http://www.bpb.de/ apuz/30621/die-eu-zwischen-legitimitaet-und-effektivitaet?p=all (abgerufen am 16.09. 2016). 56  Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, 581 (590). 57  So aber Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 82 AEUV Rn. 56. 58  Vgl. hierzu die Ausführungen im 2. Teil der Arbeit unter D. I. 59  Vgl. auch BVerfGE 123, 267 (371 f., 404 f.). 60  So Mestmäcker, Im Schatten des Leviathan. Anmerkungen zum Urteil des BVerfG vom 30.6.2009, in: EuR-Bei 2010, 35 (45); demgegenüber Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995, 581 (590).



C. Europäische Strafrechtssetzung359

päischer Gesetzgeber wäre erst dann existent, wenn sich die Bürger zu einem Europäischen Staat bekennen würden; es ein „Europäisches Staatsvolk“ gäbe. Das Europäische Parlament ist daher kein Parlament im eigentlichen Sinne, also Vertretungsorgan eines Europäischen Volkes;61 es ist vielmehr eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten.62 Art. 14 Abs. 3 EUV sieht daher bei den europäischen Parlamentswahlen auch nicht die Gleichheit der Wahl vor. Die Sitzverteilung im Parlament richtet sich nicht nach der Zahl der wahlberechtigten Unionsbürger, sondern gibt den einzelnen Bürgern der Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der „degressiven Proportionalität“ ein unterschiedliches Gewicht (Art. 14 Abs. 2 EUV).63 Die Ungleichheit der Wahlen lässt sich nicht dadurch rechtfertigen, dass auch in Deutschland eine strikte Wahlrechtsgleichheit nicht gegeben sei.64 So wird erklärt, dass der neben dem Bundestag bestehende Bundesrat für die Gesetzgebung mitzuständig sei. Hier hätten die kleineren Bundes­ länder ebenfalls ein Stimmgewicht, das größer sei als die Zahl der Bürger. Über seine Zustimmungs- und Einspruchsrechte setze der Bundesrat der Herrschaft der Bundestagsmehrheit empfindliche Grenzen. Unter dem Grund­ gesetz stelle der repräsentative parlamentarische Mehrheitswille des Bundestages in Gestalt des Bundesrates ein „ ‚erhebliches Hemmnis‘ “ dar.65 Dieser Vergleich übersieht, dass der Bundesrat zwar in bestimmten Bereichen, die die Länder betreffen, Gesetzen zustimmen muss, jedoch ist der Bundesrat keine „Zweite Kammer des Gesetzgebungsorgans“, denn das Parlament, der vom Volk legitimierte Bundestag, beschließt Gesetze im formellen Sinne (vgl. Art. 77 GG). Der Bundesrat ist damit nicht Teil des Parlamentes, sondern stellt eine Vertretung der einzelnen Bundesländer dar. Mitglieder des Bundesrates sind daher auch die Mitglieder der Regierungen 61  Gerade bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wird das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit deutlich, die eine Meinungsbildung des Parlaments durch politische Parteien vorbereitet Everling, Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. (2009), S. 985 m. w. N. Vgl. auch deutlich Sack, Die EU als Demokratie – Plädoyer für eine europäische Streitkultur, in: ZEuS 2007, 457 (483 ff.); Schünemann, Der deutsch-spanische Strafrechtsdialog, in: GA 2010, 353 (358). 62  Vgl. auch BVerfGE 123, 267 (371 ff.). 63  Siehe näher zum Grundsatz der degressiven Proportionalität Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016) Art. 14 EUV Rn. 53 ff. 64  Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, in: Der Staat 48 (2009), 535 (546). 65  Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, in: Der Staat 48 (2009), 535 (546).

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der Länder (Art. 51 Abs. 1 GG). Es ist insofern verfehlt, dem Bundesverfassungsgericht, das auf das Problem der Ungleichheit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament hingewiesen hat, „Bundesstaatsblindheit“ vorzuwerfen.66 Ebenso wenig kann die Mitwirkung des Rates oder des Europäischen Rates an der Gesetzgebung das Fehlen eines „Europäischen Volkes“ und damit eines Souveräns ausgleichen. Auch wenn ihre Mitglieder ihrerseits in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat demokratisch legitimiert wurden, sichert dies zwar „jedem Mitgliedstaat ein Mitwirkungsrecht an der Rechtssetzung der Gemeinschaft, aber keine Rückbindung an das Volk“.67 Nach dem Vertrag von Lissabon entscheidet der Rat in der Regel mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 2 und 4 EUV), so dass einzelne Regierungen der Mitgliedstaaten im Rat überstimmt werden können. Ziel der Vorschrift ist es, dadurch die Beschlussfassung im Rat zu erleichtern.68 Eine Blockademöglichkeit durch einen einzelnen Mitgliedstaat ist nun nicht mehr – wie früher aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips – möglich. Die hierdurch erfolgte Schwächung der (mittelbar) demokratischen Legitimation der Entscheidungen des Rates lässt sich auch nicht mit dem Hinweis aus dem Weg räumen, dass „qualifizierte Mehrheitserfordernisse – nicht anders als im nationalen Kontext auch – mit dem Minderheitenschutz einem wichtigen Teilelement demokratischer Regierungsform dienen“.69 Hier wird verkannt, dass das Mehrheitsprinzip im Staat an ein einheitliches Legitimationssubjekt gebunden ist, welches jedoch auf Europäischer Ebene gerade fehlt. Denn die Basis für das Mehrheitsprinzip ergibt sich materiell aus dem Gedanken der Repräsentation einer repräsentierbaren gesellschaftlichen und politischen Einheit.70 Es lässt sich damit nicht auf seine Quantität reduzieren, d. h., dass überhaupt eine möglichst große Anzahl die Entscheidung getroffen hat.71 Denn: „Der Nutz vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen.“72 Das Mehrheitsprinzip ist materiell in das Demokratieprinzip eingebettet. Erforderlich ist eine vorgängige Einigkeit hinsichtlich der Unterordnung unter eine ge66  So aber Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, in: Der Staat 48 (2009), 535 (548). 67  Grimm, Zur Bedeutung nationaler Verfassungen in einem vereinten Europa, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, (2009), § 168 Rn. 63. 68  Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 66. 69  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 50. Ergänzungslfg. (2013), Art. 10 EUV Rn. 30. 70  Vgl. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, in: AöR 127 (2002), 460 (463 f.). 71  s. hierzu auch Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1984), § 18 II 5c. 72  Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie, Akademie-Ausgabe, Bd. XIX, 6586.



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meinsame Grundverfassung (volenti non fit iniuria).73 „Es ist insofern nicht das Mehrheitsprinzip, das der Repräsentativität von Willensbildungsprozessen dient, sondern es ist umgekehrt die rechtsprinzipielle Rückführung des Mehrheitsprinzips auf einen repräsentationstheoretischen Ansatzpunkt, von dem seine Rechtfertigung abhängt.“74 Voraussetzung ist damit zum einen, dass eine Gleichheit unter den Stimmberechtigten gegeben ist. Die Bürger müssen gleichmäßig an der politischen Willensbildung beteiligt sein können (insbesondere Wahlrechtsgleichheit).75 Zum anderen muss auch innerhalb des Repräsentationsorgans die Gleichheit hinsichtlich der rechtlichen Stellung gegeben sein, die Herausbildung von Mehrheitsverhältnissen bedarf insofern eines offenen und freien Meinungsaustausches und eines Willensbildungsprozesses.76 Nur dann ist gewährleistet, dass auch die von der Mehrheitsentscheidung abweichende Minderheit in den Gesetzgebungsprozess miteingebunden ist und damit im Verfahren die gleiche Chance hat, dass ihre Interessen Berücksichtigung im Entscheidungsprozess finden.77 Die mehrheitlich getroffene Entscheidung trägt damit nicht notwendigerweise auch ihre Richtigkeit in sich, wie Rousseau meinte,78 sondern sie ist für die Minderheit deswegen bindend, weil sich diese willentlich der Mehrheit in der konkreten Entscheidung – bedingt durch die gleichen Ausgangsbindungen in der Konsensbildung – unterordnet.79 „Nicht Wahrheit, sondern Willentlichkeit ist die Kategorie, der die zentrale Bedeutung zukommt.“80 Demgegenüber ist der Rat der Europäischen Union ein Kollektivorgan, dass nur mittelbar über die Regierungsvertreter legitimiert ist, diese sind aber nicht Vertreter eines Europäischen Volkes. Aus diesem Grunde liegt hier auch nicht eine Repräsentation eines Gesamtwillens vor, sondern es geht um das 73  Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1984), § 18 II 5, S. 612; Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 593; Köhler, Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts, in: Puppe-FS (2011), S. 1461 (1475). 74  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 592 f. 75  Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1984), § 18 II 5, S. 613. 76  Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1984), § 18 II 5, S. 613. 77  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 593 f.; s. a. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, in: AöR 127 (2002), 464: Die „grundlegende Beteiligung aller Abgeordneten an den Verhandlungen der Volksvertretung gibt die Rechtfertigung dafür, dass Entscheidungen der Volksvertretung mit Mehrheit getroffen und gleichwohl der Volksvertretung insgesamt als ihre zugerechnet werden können.“ Vgl. auch Köhler, Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts, in: Puppe-FS (2011), S. 1461, 1475; s. a. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1984), § 18 II 5, S. 613 m. w. N. 78  Siehe hierzu im 1. Teil der Arbeit unter E. I. 1. b). 79  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 597; zur Kritik gegenüber Rousseau auch Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. (1984), § 18 II 5, S. 612. 80  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 597.

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

Aushandeln von politischen Kompromissen. Das Mehrheitsprinzip ruht nun aber gerade auf Gesamtrepräsentationsbedingungen und kann daher nicht einfach auf den Rat übertragen werden. Denn hier werden die überstimmten Staaten in der Entscheidung gerade nicht mitrepräsentiert, sondern unterliegen dann notwendig der Fremdbestimmung der Mehrheitsstaaten.81 2. Folge des Legitimationsdefizits: Aufhebung der Gewaltenteilung Das Fehlen eines einheitlichen Legitimationssubjekts auf europäischer Ebene führt zugleich zu einem Verlust der Gewaltenteilung. Denn bedingt durch den Mangel einer in sich rechtlich verfassten Einheit bedarf es einer Institution, die gemeinschaftsfördernde Ziele erarbeitet, um die europäische Integration tatsächlich vorantreiben zu können. Es liegt daher in der Struktur der Union, dass nicht das Europäische Parlament, sondern die Kommission Gesetzesvorschläge erbringt und ihr damit eine bedeutende Stellung bei der Gesetzgebung zukommt.82 Das Parlament und ebenso der Rat sind für den „Motor der Integration“ insofern ungeeignet, als sie die politischen und nationalen Interessen der Mitgliedstaaten vertreten.83 Die Gefahr, die im Rahmen des Völkerrechts beschrieben wurde, nämlich das Zusammenfallen von Gesetzgebung und Exekutivgewalt bei Errichtung einer den Staaten übergeordneten Instanz, wird anhand der für den Integrationsprozess bedeutenden Stellung der Kommission im europäischen Institutionengefüge deutlich. Die Kommission arbeitet die Gesetze aus, nach denen sie als Exekutiv­ organ handelt. Der Begriff der „gubernativen Gesetzgebung“84 kann damit die Situation vielleicht beschönigend beschreiben, ist aber nicht in der Lage, eine Begründung mit Legitimationsanspruch zu leisten. Bedingt durch das Fehlen eines Souveräns und damit eines Gesetzgebers, kann die Entscheidung zur Rechtssetzung nur auf exekutiver Ebene erfolgen, um einen einheitlichen europäischen Rechtsraum überhaupt schaffen zu können.85 Der im 2. Teil vorgestellte „unionale Gewaltenteilungsbegriff“ gibt daher zwar die Faktizität wieder, bietet aber keine Legitimationsquelle für europäische Maßnahmen, die strafrechtliche Sanktionsbefugnisse beinhalten.86 Das „institutionelle Gleichgewicht“ ist reduziert auf eine bloße Funktionentei81  Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 589; Köhler, Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts, in: Puppe-FS (2011), S. 1461 (1476). 82  Vgl. hierzu näher den 2. Teil der Arbeit. 83  Vgl. 2. Teil unter D. II. 84  Vgl. zu dem Begriff v. Bogdandy, Gubernative Gesetzgebung (2000), insbes. S.  107 ff. 85  s. a. Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 342 f. 86  s. a. Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 344.



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lung oder Funktionenzuschreibung, während sich der vorgestellte Gewaltenteilungsbegriff kantischer Prägung – wie dargelegt – wesentlich komplexer darstellt.87 Die Überlegung, dass eine funktionale Rechtssetzung bezogen auf die Stärkung der Gemeinschaftsinteressen insofern vorübergehend sei, als die Union zunächst erst einmal in ihrer „Aufbauphase“ gegenüber Einzelinteressen der Mitgliedstaaten gestärkt werden solle, um überhaupt eine europäische Einigung langfristig erreichen zu können,88 übersieht, dass gerade eine solche basale Entscheidung nicht oktroyiert werden kann, sondern eines Prozesses bedarf, der von den einzelnen Subjekten mitgetragen werden muss. Ansonsten fehlt dem Haus Europa sein Fundament bestehend aus den einzelnen europäischen Bürgern. Ebenso wenig lässt sich die Abgabe von Hoheitsrechten auf europäische Institutionen dadurch rechtfertigen, dass für die Bürger neben dem Staat eine weitere Ebene hinzutritt, die zu „mehr gewaltenteilenden Effekten“ führe.89 Zum einen kommt nicht wirklich eine neue, weitere Ebene hinzu, die neben der staatlichen Ebene stünde, sondern Hoheitsbefugnisse werden auf eine andere Ebene übertragen, während die ursprüngliche staatliche Ebene dahinter zurücktritt. Zum anderen bedeutet ein quantitatives Mehr nicht zugleich auch einen Qualitätssprung. Im Gegenteil: das Gesamtgefüge wird für den Einzelnen wesentlich undurchschaubarer und unberechenbarer, da eine echte Beteiligung seinerseits nicht mehr gewährleistet ist. Denn die Rechtssetzung durch europäische Organe trifft zugleich unmittelbar die Gesetzgebungsbefugnisse der mitgliedstaatlichen Parlamente, denn es sind nun die Organe der Union, die Verordnungen erlassen oder Richtlinien entwerfen, so dass die genuinen Aufgaben der Parlamente der Mitgliedstaaten in den von der Union geregelten Bereichen nicht mehr bzw. nur eingeschränkt wahrgenommen werden können.90 Der Bereich des Strafrechts, auf das im Folgenden näher einzugehen ist, gehört nun nach Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV zu den Bereichen, die sich Union und Mitgliedstaaten teilen, d. h. die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeiten nur wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat. 87  Vgl. 3. Teil unter C. II. 2.; s. a. Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 344; s. a. bereits S. 127 ff. 88  Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. 2, 3. Aufl. (2004), § 27 Rn. 89. Vgl. hierzu auch die Ausführungen im 2. Teil unter D. II. 4. 89  So Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 67. Ergänzungslieferung (2013), Art. 20 Rn. 14. 90  s. a. Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung (2005), S. 347  f. Vgl. auch die Kritik von Hoffmann, Synthetische versus indirekte Identität. Zur Frage der Verstaatlichung Europas, in: Elm (Hrsg.), Europäische Identität: Paradigmen und Methodenfragen (2002), S. 207 (225).

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

II. Europäische Strafrechtssetzung im Spannungsverhältnis zur Souveränität der Staaten Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon schon darauf hingewiesen, dass den Mitgliedstaaten insgesamt ein ausreichender Raum für politische Gestaltung, der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben müsse. Zu den Bereichen, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem in ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägten sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen seien,91 zähle auch die Strafrechtspflege.92 Die durch den Vertrag von Lissabon intensivierten Zuständigkeiten der Union im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit müssten daher von ihren Organen so ausgeübt werden, dass auf nationalstaatlicher Ebene Aufgaben von hinreichendem Gewicht bestehen blieben, die „rechtlich und praktisch Voraussetzung für eine lebendige Demokratie“ seien.93 Das Fehlen eines „echten“ europäischen Gesetzgebers und die bestehende Möglichkeit unmittelbarer oder mittelbarer unionaler Strafrechtssetzung trifft die im 3. Teil als notwendig vorgestellte staatliche Kompetenz zur Strafrechtssetzung in ihrem Fundament. Eine Übertragung von Legislativbefugnissen im Bereich des Strafrechts lässt sich daher nicht mit Art. 23 Abs. 2 S. 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG vereinbaren. Denn das Strafrecht stellt – wie dargelegt – einen Kernbereich staatlicher Rechtsausübung dar. Damit wird nicht die Verfassungsmäßigkeit von Art. 23 GG Abs. 2 S. 2 GG insgesamt in Abrede gestellt, Deutschland wird damit auch nicht generell integrationsuntauglich,94 sondern es geht in der vorliegenden Arbeit allein um Frage nach der Legitimation der Übertragung von strafrechtlichen Hoheitsrechten auf die Europäische Union und berührt damit nur ein Teilgebiet des Art. 23 GG.95 Solange es jedenfalls kein europäisches Legitimationssubjekt in Form eines europäischen Volkes gibt, ist insoweit in Art. 23 GG ein Strafrechtsvorbehalt hineinzulesen.96 91  BVerfGE

123, 267 (357 f.). 123, 267 (357 f., 359 f.). 93  BVerfGE 123, 267 (406). 94  So die Bedenken von Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 114. Vgl. bereits die Einleitung unter C. III. 95  Daher ist auch nicht auf das Problem „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ einzugehen (vgl. hierzu die gleichnamige Schrift von Bachof [1951], insbes. S.  32 ff.). 96  Dagegen Kreß, Das Strafrecht auf der Schwelle zum europäischen Verfassungsvertrag, in: ZStW 116 (2004), 445 (451). 92  BVerfGE



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1. Zur grundlegenden Problematik europäischer Strafrechtssetzung Der Union kann nach dem Vertrag von Lissabon neben einer mittelbaren Strafrechtssetzungskompetenz im Bereich des materiellen Strafrechts gemäß Art. 83 AEUV auch eine unmittelbare gemäß Art. 325 Abs. 4 AEUV durch die ihr hier eingeräumte Möglichkeit zum Erlass von Verordnungen zukommen.97 Die Strafrechtssetzung ist jedoch nach dem Grundgesetz Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Dem Bundestag steht damit unter den Voraussetzungen der Erforderlichkeit im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG die Entscheidung über die Frage der Strafbarkeit von bestimmten Verhaltensweisen zu. Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz auch weitgehend Gebrauch gemacht, so dass für das Länderstrafrecht nur ein sehr eng umgrenzter Bereich bleibt.98 Demgegenüber heißen die Normen, die im Rahmen der Europäischen Rechtssetzung ergehen, nicht Gesetze, sondern „Verordnungen“ und „Richtlinien“,99 auch wenn Art. 289 Abs. 3 AEUV Rechtsakte, die gemäß einem „Gesetzgebungsverfahren“ angenommen werden, als „Gesetzgebungsakte“ bezeichnet. Dass der AEUV von „Gesetzgebungsakten“ bzw. von einem „ordentlichen oder besonderen Gesetzgebungsverfahren“ spricht, obwohl die Union keine Gesetze im technischen Sinne erlassen kann, stellt schon begrifflich einen Widerspruch dar, auch wenn der Begriff des „Gesetzgebungsverfahrens“ noch ein Relikt des ursprünglich geplanten Verfassungsvertrages sein mag. Ein europäischer Gesetzgeber, wie er für die strafrechtliche Rechtssetzung als notwendig vorgestellt wurde, existiert gerade nicht. Auch der Vertrag von Lissabon hat das demokratische Defizit der Union durch die Stärkung des Europäischen Parlaments nicht beseitigen können.100 Den einzelstaatlichen Parlamenten wird durch die Übertragung von strafrechtlichen Rechtssetzungsbefugnissen auf europäische Institutio97  Vgl. hierzu die Einleitung unter B. II. 5. und den 2. Teil unter C. II. Ebenso besteht nach dem Vertrag von Lissabon die Möglichkeit, im Bereich des Zollwesens nach Art. 33 AEUV supranationale Straftatbestände zu schaffen: „Das Europäische Parlament und der Rat treffen im Rahmen des Geltungsbereichs der Verträge gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zum Ausbau der Zusammenarbeit im Zollwesen zwischen den Mitgliedstaaten (…).“; gleiches gilt für das Gebiet der illegalen Einwanderung bzw. den Menschenhandel, Art. 79 lit c und lit. d AEUV. 98  Vgl. hierzu insgesamt auch Koller, Die Staatsanwaltschaft – Organ der Judikative oder Exekutivbehörde? (1997), S. 311; Maunz, in: ders./Dürig, GrundgesetzKommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 74 Rn. 68. 99  Kritisch auch schon Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, in: FS für Mangakis (1999), S. 751 (761). 100  Vgl. demgegenüber aber Sieber, Rechtliche Ordnung in einer globalen Welt, in: Rechtstheorie, Bd. 41 (2010), 151 (185).

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nen die Rechtssetzung in diesem Bereich entzogen bzw. sie sind auch bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien faktisch nur noch ausführendes Organ. Das macht insbesondere ein aktueller Richtlinienvorschlag der Kommission „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ vom 11.7.2012 auf der Grundlage des Art. 325 Abs. 4 AEUV deutlich.101 Die Richtlinie soll das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und die diesbezüglichen Protokolle102 ersetzen und schließt an die im Mai 2011 veröffentlichte Mitteilung der Kommission über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union durch strafrechtliche Vorschriften und verwaltungsrechtliche Sanktionen103 sowie an die Mitteilung der Kommission vom September 2011 „Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht“104 an.105 Die Richtlinie soll einerseits harmonisierte strafrechtliche Vorschriften für den Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der EU festlegen und andererseits den Mitgliedstaaten einen gewissen Handlungsspielraum für die Einführung schärferer Bestimmungen lassen.106 Der Vorschlag enthält u. a. eine Definition der von den Mitgliedstaaten unter Strafe zu stellenden betrügerischen Handlungen sowie einen Tatbestand, der die gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten betrugsähnlichen Straftaten zum Inhalt hat (wie 101  KOM(2012) 363 final. Der Rat der Europäischen Union ist – entgegen der Auffassung der Kommission – der Ansicht, Art. 83 Abs. 2 AEUV sei gegenüber Art. 325 AUEV lex specialis und sei daher die treffende Rechtsgrundlage für die in der Richtlinie vorgesehenen Straftaten. s. hierzu das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rats der Europäischen Union Ratsdok. 15309/12. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung zwischen Kommission und Rat auch Brodowski, Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union- ein Überblick, in: ZIS 2013, 455 (464). 102  Übereinkommen vom 26. Juli 1995 aufgrund Art. K 3 des Vertrags über die Europäische Union zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. C 316 vom 27.11.1995, S. 49), erstes Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (Abl. EG 1996 NR. C 313, S. 2) (Betrug), Übereinkommen vom 26.5.1997 über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind (Abl. C 195 vom 25.6.1997) (Korruption) und Protokoll vom 29.11.1996 betreffend die Auslegung des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung (Abl. C 151 vom 20.5.1997, S. 2); zweites Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 19.6.1997 (Abl. C 221 vom 19.7.1997, S. 12) (Geldwäsche). 103  KOM(2011) 293 endg.; vgl. hierzu 2. Teil C. II., D. III. 104  KOM(2011) 573; vgl. hierzu 2. Teil unter C. II., D. III. 105  KOM(2012) 363 final, S. 4 f. 106  KOM(2012) 363 final, S. 9.



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Geldwäsche, Bestechung und Bestechlichkeit und die missbräuchliche Verwendung von Geldern durch Amtsträger).107 Zudem sieht der Entwurf Mindeststrafen108 und Mindestverjährungsregeln109 vor. Obwohl Richtlinien gemäß Art. 288 UAbs. 3 AEUV110 für die Mitgliedstaaten nur hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich sein sollen und den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlassen, geht der genannte Richtlinienentwurf wesentlich weiter, indem er den Mitgliedstaaten das Mittel „die Verhängung von Strafe“ sowie Mindeststrafmaße vorgibt und insofern die Wahlmöglichkeiten der Mitgliedstaaten bei der Gesetzgebung stark einschränkt. Den Mitgliedstaaten bleibt vornehmlich die Möglichkeit, die Strafen im Mindestmaß zu erhöhen oder längere Verjährungsfristen vorzusehen. Der Vorschlag zeigt daher deutlich, in welchem Umfang der unionale Gesetzgeber den innerstaatlichen Stellen die Form und Mittel der Rechtssetzung vorschreiben kann. 2. Probleme der Bestimmbarkeit der Grenzen europäischer Strafrechtssetzung Problematisch ist zudem, dass – selbst wenn man die Möglichkeit einer Übertragung von strafrechtlichen Hoheitsrechten auf europäische Institutionen grundsätzlich für zulässig erachten würde – eine solche dann nur in einer genau bestimmten und eng umgrenzten Weise bezogen auf konkrete europäische Rechtsgüter erfolgen könnte.111 Demgegenüber mangelt es sowohl im Rahmen des Art. 83 AEUV als auch hinsichtlich Art. 325 Abs. 4 AEUV an einer solchen Bestimmbarkeit.112 107  Art. 3

und 4 der Richtlinie. und 8 der Richtlinie sehen Mindeststrafen für natürliche Personen vor (wie z. B. sechs Monate Freiheitsstrafe, sofern ein gewisser Mindestschaden von 100.000 EUR bei Betrug, von 30.000 EUR bei Geldwäsche und Korruption überschritten ist). Art. 9 enthält Mindestsanktionen für juristische Personen. 109  Art. 12 der Richtlinie. Danach dürfen der Richtlinie unterfallende Straftaten frühestens nach fünf Jahren verjähren; bei einer „effektive(n) Aufnahme der Ermittlungen oder der Strafverfolgung“ soll die Verjährung jedenfalls innerhalb der ersten zehn Jahre unterbrochen werden. 110  Näher hierzu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 59. Ergänzungslfg. (2016), Art. 288 AEUV Rn. 112 ff. 111  s. a. Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, in: FS für Mangakis (1999), S. 751, 760 f.; Rosenau, Zur Europäisierung im Strafrecht, in: ZIS 2008, 9 (17 ff.); Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, in: GA 2004, 193 (198 ff.). 112  Es geht vorliegend um die Frage der Bestimmtheit von Regelungen im Rahmen des Primärrechts. Vgl. demgegenüber zur Problematik von Blankettnormen vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots grundlegend Moll, 108  Art. 7

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

a) Art. 83 Abs. 1 AEUV sieht eine Rechtsangleichung im Rahmen des materiellen Strafrechts vor. Hier können durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festgelegt werden, die auf Grund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Je nach Entwicklung der Kriminalität können diese Bereiche sogar nach Art. 83 UA 3 AEUV erweitert werden. Ferner sieht Art. 83 Abs. 2 AEUV eine Annexkompetenz für alle Gebiete vor, auf denen Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, sofern sich die „Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union“ auf diesen Gebieten erweist. Bedingt durch die Erstreckung unionaler Tätigkeit auf sämtliche gesellschaftliche und politische Lebensbereiche könnte diese Regelung ein Einfallstor für eine umfassende Harmonisierung des Strafrechts zur Durchsetzung der europäischen Politik werden.113 Zudem überlässt bereits Art. 83 AEUV als Primärnorm dem nationalen Gesetzgeber nicht die Wahl der Mittel, denn die Norm beinhaltet gerade die Anweisung zum Erlass von strafrechtlichen Regelungen durch die Mitgliedstaaten. Diese müssen Straftaten und Strafen in den Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 jeweils durch die in der jeweiligen Richtlinie vorgesehenen Bereichen festlegen. So können die Mitgliedstaaten zur Schaffung von konkret festgelegten Straftatbeständen und Rechtsfolgen verpflichtet werden. Zwar werden die Harmonisierungsmaßnahmen – jedenfalls in Art. 83 Abs. 1 AEUV114 – im materiellen Strafrecht auf bestimmte scheinbar schwere Kriminalitätsformen begrenzt, jedoch mangelt es auch hier an einer Bestimmbarkeit. Denn es stellt sich die Frage, wann jedenfalls eine Tat in den Bereichen nicht besonders schwer ist.115 So ist beispielsweise fraglich, ob jede kleinere Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung? (1998), S. 119 ff.; s. a. Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015), Kapitel 7 Rn. 76 ff.; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 11 Rn. 54 ff. 113  Anschaulich Kubiciel, Strafrechtswissenschaft und europäische Kriminalpolitik, in: ZIS 2010, 742 (744); Ambos/Rackow, Erste Überlegungen zu den Konsequenzen des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, in: ZIS 2009, 397 (403); Zimmermann, Die Auslegung künftiger EU-Strafrechtssetzungskompetenzen, in: Jura 2009, 844 (847). s. a. schon Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, in: GA 2004, 193 (199). 114  Demgegenüber sieht Art. 83 Abs. 2 AEUV jedenfalls seinem Wortlaut nach eine Beschränkung auf „besonders schwere Kriminalität“ nicht vor, s. hierzu die Kritik von Weigend, Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht, ZStW 116 (2004), S. 275 (284). 115  Weigend, Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht, in: ZStW 116 (2004), 275 (283); s. a. Köhler, Die Verfassungsstruktur des europäischen



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Form des Drogenhandels oder jede Form von Computerkriminalität, auch wenn sie grenzüberschreitend erfolgt, eine „besondere Schwere“ aufweist.116 Auch die im Einzelnen aufgelisteten Bereiche in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV, wie „Terrorismus“, „illegaler Drogen- und Waffenhandel“, „Organisierte Kriminalität“ sind kriminologische Begriffe und insoweit auch unbestimmt, als dass sie keine wirkliche Eingrenzung darstellen können.117 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung gefordert, es müsse eine restriktive Auslegung dieser Vertragsregelung erfolgen, jedoch genügt eine solche Vorgabe nicht, um das grundsätzliche Problem der mangelnden Konkretheit und Bestimmbarkeit der Primärnormen auszuräumen.118 b) Das Problem einer konkret bestimmbaren Eingrenzung der Unionstätigkeit im Bereich der materiellen Strafrechtssetzung zeigt sich noch deutlicher in Art. 325 Abs. 4 AEUV. Danach beschließen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofs zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten. Unter Maßnahmen im Sinne von Art. 325 Abs. 4 AEUV können auch Richtlinien und Verordnungen gefasst werden. Diese ergehen im sog. ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Es gilt damit das Mehrheitsprinzip im Rat, so dass einzelne Mitgliedstaaten im Rahmen des souveränitätsbedeutsamen Bereichs des Strafrechts überstimmt werden können. Anders als die Art. 82 Abs. 3 und 83 Abs. 3 AEUV sieht Art. 325 Abs. 4 AEUV zudem keinen sog. Notbremsmechanismus vor.119 Bereits der Begriff „Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten“ lässt sich nicht auf den Betrugstatbestand reduzieren, sondern umfasst alle „sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen“ (vgl. Art. 325 I AEUV). Wie der Rechts, in: Puppe-FS (2011) S. 1461 (1483); Mylonopoulos, Strafrechtsdogmatik nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZStW 123 (2011), 633 (647). 116  Weigend zum damaligen Verfassungsentwurf, Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht, in: ZStW 116 (2004), 275 (283). 117  Vgl. auch Braum, Europäisches Strafrecht im Fokus konfligierender Verfassungsmodelle, in: ZIS 2009, 418 (421); Kubiciel, Strafrechtswissenschaft und europäische Kriminalpolitik, in: ZIS 2010, 742 (743). 118  s. hierzu auch Köhler, Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts, in: Puppe-FS (2011), S. 1461, (1483); Mylonopoulos, Strafrechtsdogmatik nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZStW 123 (2011), 633 (647). 119  s. hierzu die Einleitung unter B. II. 5.

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

neue Richtlinienentwurf120 zeigt, können zum einen ebenso betrugsähnliche Straftaten wie Geldwäsche, Bestechung und Bestechlichkeit darunter gefasst und zum anderen werden auch Regelungen des Allgemeinen Teils des Strafrechts tangiert, wie z. B. die Frage der Strafbarkeit juristischer Personen und Verjährungsvorschriften.121 Maßgebliches Tatbestandsmerkmal ist, „dass auf Kosten des EU-Haushaltes (und somit der Steuerzahler) illegale Erträge ‚erwirtschaftet‘ werden“.122 Der Union kommt insofern mit Art. 325 AEUV eine sehr weitreichende Strafrechtssetzungskompetenz zu, die eine konkrete Begrenzung auf bestimmte einzelne Tatbestände nicht ermöglicht.123 Auch der Begriff „erforderlich“ im Rahmen des Art. 325 Abs. 4 AEUV bewirkt keine Begrenzung der Rechtssetzungskompetenz der EU. „Erforderlich“ meint hier zwar nicht nur den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern auch das in Art. 5 Abs. 3 EUV ausdrücklich normierte Subsidiaritätsprinzip.124 Danach wird die Union nur in den Bereichen tätig, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Auch wenn damit den Mitgliedstaaten zunächst die Bekämpfung von Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen überlassen bleiben (vgl. auch Art. 325 Abs. 1 AEUV), kommt der Union hier eine Rechtssetzungskompetenz zu, die inhaltlich weder konkret begrenzt noch bestimmt ist. Angegeben ist allein der Zweck, nämlich die Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes der finan120  KOM(2012) 363 final, S. 7 zu Art. 325 Abs. 4 AEUV: „ ‚Betrug‘ ist in diesem Zusammenhang im weiteren Sinne als ein Straftatbestand zu verstehen, der auch bestimmte betrugsähnliche Straftaten einschließt.“ 121  Vgl. zur Unionskompetenz im Rahmen des Art. 325 AEUV auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. (2016), § 8 Rn. 25; Zimmermann, Die Auslegung künftiger EU-Strafrechtskompetenzen, in: Jura 2009, 844 (846); beide weisen zutreffend daraufhin, dass insgesamt Handlungen mit Täuschungscharakter unter Art. 325 AEUV gefasst werden können und damit ebenso z. B. Urkundsdelikte. 122  KOM(2012) 363 final, S. 4. Der Begriff der „finanziellen Interessen der U ­ nion“ bezieht sich auf sämtliche Einnahmen und Ausgaben, die entweder im Haushaltsplan der Union oder in den Haushaltsplänen der nach den Verträgen geschaffenen Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen oder in den von diesen verwalteten und überwachten Haushaltsplänen erfasst werden. 123  Vgl. bereits die Kritik Weigends an Art. III-321 VE, Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht, in: ZStW 116 (2004), 275 (288). 124  s. a. Krüger, Unmittelbare EU-Strafkompetenzen aus Sicht des deutschen Strafrechts, in: HRRS 2012, 311 (314 m. w. N.).



C. Europäische Strafrechtssetzung371

ziellen Interessen der Union. Die Mittel hierfür ergeben sich aus dem Zweck und reichen von unverbindlichen Stellungnahmen bis hin zum Erlass von Verordnungen, die für die Mitgliedstaaten in allen Teilen verbindlich sind und unmittelbare Geltung beanspruchen (vgl. Art. 288 AEUV). Der neue Richtlinienvorschlag zeigt deutlich, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der kaum präzisierbare Rechtsbegriff der Subsidiarität125 überhaupt keine Einschränkung für eine unionale Strafrechtssetzung bieten können. So bejaht die Kommission die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes mit folgendem Satz: „Nur die EU ist in der Lage, verbindliche, in allen Mitgliedstaaten anwendbare Angleichungsvorschriften zu erlassen und so einen Rechtsrahmen zu schaffen, der dazu beitragen könnte, die bestehenden Schwachpunkte zu beseitigen und insbesondere den Mangel an Gleichwertigkeit zu beheben, der mit den Zielen von Artikel 325 Abs. 4 AEUV nicht vereinbar ist.“126 Eine Begründung gibt die Kommission damit nicht, sondern stellt die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes lediglich fest. Gleiches gilt für das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Hierzu heißt es lapidar: „Es wurde sorgfältig darauf geachtet, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinausgehen und somit verhältnismäßig sind.“127 Der vorgestellte Richtlinienentwurf offenbart damit, wie wenig Begründungsaufwand die Kommission hinsichtlich der Frage der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit leisten muss, um den Voraussetzungen des Art. 325 Abs. 4 AEUV zu genügen und damit eine unionale Rechtssetzungskompetenz annehmen zu können.128 Bedingt durch die Möglichkeit der Vorgaben seitens der Union für eine Rechtsangleichung strafrechtlicher Bestimmungen bzw. der Möglichkeit eigener europäischer Strafrechtssetzung kristallisieren sich auch eigenständige 125  Vgl. zur Kritik des Begriffs der Subsidiarität auch Köhler, Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts, in: FS-Puppe (2011), S. 1461 (1480); Mylonopoulos, Strafrechtsdogmatik nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZStW 123 (2011), 633 (637). 126  KOM(2012) 363 final, S.  9; vgl. auch den Kommissionsvorschlag einer Richtlinie „über strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulation v. 20.10.2011, KOM(2011) 654 endg., S. 5 f. 127  KOM(2012) 363 final, S. 9; ähnlich der Kommissionsvorschlag einer Richtlinie auf der Grundlage des Art. 83 Abs. 2 AEUV „über strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulation“ v. 20.10.2011, KOM(2011) 654 endg., S. 6: „An diesem Grundsatz (der Verhältnismäßigkeit, Anm. Verf.) orientierte sich der gesamte Prozess von der Ermittlung und Bewertung alternativer politischer Optionen bis zur Abfassung dieses Vorschlags.“ 128  Vgl. auch schon die Kritik des „Manifestes zur Europäischen Kriminalpolitik“, in: ZIS 2009, 697 (699, 701 f., 704 f.).

372

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

„unionale“ Strafzwecke heraus, die insbesondere auf die Gesichtspunkte der Abschreckung und Wirksamkeit gerichtet sind.129

D. „Unionale“ Strafzwecke im Spannungsverhältnis zu einer freiheitlichen Strafrechtsbegründung Schon im Titel des oben genannten aktuellen Richtlinienvorschlags der Kommission „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ wird die Bedeutung des Strafrechts als Mittel zur Verbrechensbekämpfung deutlich. Das Strafrecht wird funktional eingesetzt: Es dient dem Erhalt der finanzpolitischen Ordnung der Union (unter I.). Vor dem Hintergrund der Darlegung einer freiheitlichen Strafrechtsbegründung verbunden mit dem vorgestellten Legitimationsproblem der Europäischen Union als supranationaler Rechtsordnung ist die Ausrichtung des Strafrechts auf europäischer Ebene als Instrument zur Ahndung von gegen Unionsinteressen gerichteten Straftaten mit Mitteln einer in allen Staaten gleichsam wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionierung130 kritisch zu würdigen. Es soll dabei die Problematik des im Unionsrecht besonders sichtbar werdenden funktionalen Einsatzes des Strafrechts als Mittel kriminalpolitischer Bedürfnisse dargelegt werden (unter II.).

I. Die unionalen Strafzwecke am Beispiel des Richtlinienentwurfs „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ Die Kommission begründet ihren Richtlinienvorschlag zunächst mit dem durch Betrugsdelikte und ähnliche rechtwidrige Handlungen verursachten enormen Volumen des Gesamtschadens131 hinsichtlich des EU-Haushaltes. Die Mitgliedstaaten wiesen in Bezug auf den Schutz der finanziellen Inte­ ressen stark divergierende Rechtsvorschriften auf, so dass ein gleichwertiger Schutz der finanziellen Interessen innerhalb der Union nicht gegeben sei. Dieser sei aber für „die Glaubwürdigkeit der Organe, Einrichtungen, Ämter 129  Vgl.

III.

zu den „unionalen“ Strafzwecken die Darstellung im 2. Teil unter D.

130  Vgl. zu den Begriffen „Wirksamkeit“, „Verhältnismäßigkeit“ und „Abschreckung“ im Sinne des Unionsrechts die Ausführungen im 2. Teil unter D. III. 131  Alljährlich würden ca. 600 Millionen EUR als Gesamtschadensvolumen verzeichnet, wobei das tatsächliche Schadensvolumen wesentlich höher geschätzt wird. KOM(2012) 363 final, S. 2.



D. „Unionale“ Strafzwecke373

und Agenturen der EU sowie für den ordnungsgemäßen Vollzug des EUHaushaltes“ von besonderer Bedeutung.132 Ziel des Richtlinienvorschlags sei es daher, sicherzustellen, dass die gegen die finanziellen Interessen der EU gerichteten Straftaten in allen Mitgliedstaaten in gleicher Weise mit wirksamen und abschreckenden Sanktionen geahndet werden können (vgl. Art. 7 des Richtlinienvorschlags).133 Vorgegebene Mindestfreiheitsstrafen sollen insofern für eine Kohärenz bei den Sanktionen sorgen. Denn gerade die Wirtschaftskriminalität sei ein Bereich, in dem von strafrechtlichen Sanktionen ein besonderer Abschreckungseffekt ausgehen könne, weil zu erwarten sei, dass potenzielle Straftäter eine Risikoabwägung vornähmen, bevor sie sich auf kriminelle Machenschaften einließen.134 Die Vorgabe eines konkreten unteren Strafmaßes von mindestens sechs Monaten begründet die Kommission damit, dass dieses zum einen im Verhältnis zur Schwere der Straftaten stehe und zum anderen gewährleiste, dass für die in Artikel 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl aufgeführten Straftaten ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt und vollstreckt werden könne, so dass für eine möglichst wirksame Zusammenarbeit der Justiz gesorgt sei.135 Der Kommissionsvorschlag sieht zudem Mindestsanktionen für juristische Personen vor.136 Eine juristische Person kann nach Art. 6 Abs. 1 u. a. dann haftbar gemacht werden, wenn eine Straftat „zu ihren Gunsten von einer Person begangen wurde, die entweder allein oder als Teil eines Organs der juristischen Person gehandelt hat und die eine Führungsposition innerhalb der juristischen Person innehat (…).“137 Art. 6 Abs. 2 sieht ferner eine Haftung bei Überwachungsverschulden vor.138 Als Mindestsanktionen für juristische Personen sind Geldstrafen und Geldbußen vorgesehen. Auch können 132  KOM(2012) 133  KOM(2012)

363 final, S. 4. 363 final, S. 4, 7 f., 9. Vgl. zudem Art. 7 des Richtlinienvor-

schlags. 134  KOM(2012) 363 final, S. 11. 135  KOM(2012) 363 final, S. 11 f. 136  Vgl. ebenso Art. 8 des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie „über strafrechliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulation“ vom 20.10.2011, KOM(2011) 654. 137  Diese Führungsposition kann „aufgrund (a) einer Befugnis zur Vertretung der juristischen Person, (b) einer Befugnis, Entscheidungen im Namen der juristischen Person zu treffen oder (c) einer Kontrollbefugnis innerhalb der juristischen Personen“ gegeben sein. 138  „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um zudem sicherzustellen, dass eine juristische Person haftbar gemacht werden kann, wenn mangelnde Überwachung oder Kontrolle durch eine der in Absatz 1 genannten Personen die Begehung einer Straftat im Sinne des Titels II zugunsten der juristischen Person durch eine ihr unterstellte Person ermöglicht hat.“

374

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

folgende weitere Sanktionen eingeschlossen werden: „(a) Ausschluss von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen, (b) vorübergehendes oder ständiges Verbot der Ausübung einer Handelstätigkeit, (c) Unterstellung unter richterliche Aufsicht, (d) richterlich angeordnete Eröffnung des Liquidationsverfahrens, (e) vorübergehende oder endgültige Schließung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden.“ Die Mitgliedstaaten haben jedenfalls die Maßnahmen zu treffen, die sicherstellen, dass gegen eine juristische Person wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen verhängt werden können.139 Der Vorschlag erkennt auch, so die Kommission, dass er sich auf die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechte und Grundsätze auswirke. Betroffen seien z. B. das Recht auf Freiheit und das Recht auf Achtung des Familienlebens durch eine mögliche Inhaftierung verurteilter Täter, die Berufsfreiheit und die unternehmerische Freiheit durch ein mögliches Berufsverbot verurteilter Täter und das Eigentumsrecht durch die mögliche Schließung von Unternehmen, die Straftaten begangen haben.140 Diese Eingriffe seien aber gerechtfertigt, weil sie einerseits den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprächen (Art. 52 Abs. 1 GRCharta) und vor allem dazu dienten, wirksame und abschreckende Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union zu ermöglichen.141

II. Der funktionale Strafbegriff des Unionsrechts im Spannungsverhältnis zu einem freiheitlichen Begriff der Rechtsstrafe Die Berechtigung des Anliegens, bedeutende europäische Rechtsgüter zu schützen, soll nicht in Abrede gestellt werden. Auch sind effektive Verbrechensbekämpfung und effiziente Strafverfolgungsmaßnahmen für sich genommen wünschenswert. Die einfache Zweck-Mittel-Verbindung beider Anliegen kann allerdings die notwendige Legitimität des damit vermeintlich als alternativlos ausgewiesenen Einsatzes von Strafrecht nicht hinreichend begründen. Das freiheitliche Rechtsprinzip macht eine Fundierung aus der Freiheit des Einzelnen notwendig. Sie muss weiterhin Quelle des Rechts bleiben und damit auch im Rahmen europäischer Rechtssetzung den Maßstab bilden. Im Folgenden ist der in der europäischen Rechtstradition erarbeitete Freiheits- und Rechtsbegriff mit dem, wie er dem bisherigen europäischen 139  KOM(2012)

363 final, S. 9. 363 final, S. 9. 141  KOM(2012) 363 final, S. 9. 140  KOM(2012)



D. „Unionale“ Strafzwecke375

Strafrecht zugrunde gelegt ist, zu konfrontieren. So zeigt der Kommissionsentwurf deutlich, wie die Union das Strafrecht als ein Mittel zur Sicherung ihres Bestandes einsetzt. Scheinen bestimmte Bereiche – wie das Finanz­ interesse der Union – besonders gefährdet, soll die Einführung von Strafbestimmungen einer solchen Gefährdung entgegenwirken. Die Fokussierung auf den Aspekt der Sicherheit erinnert wiederum an die Aufgabenstimmung des Strafrechts von Hobbes und Beccaria, die es ebenfalls als Mittel zur Gewährleistung der Sicherheit und des Gemeinwohls angesehen haben.142 1. Problematisch ist an der Ausrichtung des Strafrechts an Sicherheitsinteressen allgemein zum einen die Gefahr der Uferlosigkeit, da sich vollkommene Sicherheit nicht erreichen lässt.143 Eine Vorbeugung von möglichen Unrechtstaten kann dann nie früh genug erfolgen.144 Das Strafrecht erfährt so eine Ausdehnung in den Bereich des Polizeirechts, welchem originär die Aufgabe der Gefahrenabwehr zukommt. Dessen Maßnahmen sind jedoch nicht auf Repression gerichtet, sondern auf die Verhinderung eines möglichen Schadenseintritts oder von Straftaten, z. B. durch Identitätsfeststellungen, Platzverweise, Ingewahrsamnahmen. Anknüpfungspunkt des Präventionsinteresses ist daher nicht die Qualität einer bereits erfolgten Rechtsverletzung und die Suche nach einer gerechten Reaktion,145 sondern die Sicherheit. Unter Sicherheitsaspekten kommt die Strafe jedoch immer zu spät, denn mit der Unrechtstat ist die abzuwehrende Gefahr bereits eingetreten. Zum anderen ist bei einer Ausrichtung des Strafrechts an generalpräventiven oder spezialpräventiven Interessen nicht mehr die – für die Strafe als notwendig vorausgesetzte – Schuld des Einzelnen für die Strafbestimmung entscheidend,146 sondern allein die potentielle Gefährlichkeit. Nicht das begangene Unrecht des freien Subjekts bildet die Basis der Strafbegründung oder Strafbegrenzung, sondern das Sicherheitsbedürfnis der Gemeinschaft.147 Der Mensch wird zu einem „natürlichen Gefahrenpotential“, seine Subjektqualität wird damit negiert, er wird „unter die Gegenstände des Sachenrechts 142  Vgl.

hierzu den 1. Teil unter C. I. Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 82. Vgl. auch allgemein zur Kritik gegenüber der europäischen Tendenz zur Punitivität und Strafschärfung Frisch, Konzepte und Entwicklungen des Strafrechts in Europa, in: GA 2009, 385 (404 f.). 144  Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 82 m. w. N. 145  Vgl. hierzu den 3. Teil der Arbeit unter D. I. und II. 146  Vgl. hierzu die Ausführungen im 3. Teil unter D. II. 2. 147  Vgl. zur Kritik gegenüber präventiven Ansätzen insgesamt E. A. Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention, in: ZStW 1997 (1985), 786 (791 ff.); Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 44 ff.; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S.  82 ff. 143  Pawlik,

376

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

gemengt“148.149 Mit einem freiheitlichen Rechtsbegriff, der gerade die Selbstbestimmung des Einzelnen als Basis nimmt und darauf seine Rechtsordnung gründet (vgl. das GG ebenso wie den EUV und die GRCharta) ist ein solches Verständnis jedoch nicht kompatibel.150 2.  Die angesprochene allgemeine Problematik der Ausrichtung des Strafrechts an Sicherheitsinteressen und das damit verbundene reduzierte Freiheitsverständnis ist im Folgenden anhand einer kritischen Prüfung des Richtlinienentwurfs zu verdeutlichen. a) Der Kommissionsentwurf hebt in seiner Begründung zunächst die generalpräventive Ausrichtung des Unionsstrafrechts hervor. So sei die Wirtschaftskriminalität ein Bereich, in dem von strafrechtlichen Sanktionen ein besonderer Abschreckungseffekt ausgehen könne, weil zu erwarten sei, dass potenzielle Straftäter eine Risikoabwägung vornähmen, bevor sie sich auf kriminelle Machenschaften einließen.151 Auch diese Aussagen erinnern an die hobbesche Strafbestimmung: Es müssten „so hohe Strafen für die einzelnen festgesetzt werden, daß aus ihrer Begehung augenscheinlich ein größeres Übel als aus ihrer Unterlassung folgt. Denn alle Menschen wählen mit Naturnotwendigkeit, was ihnen als ein Gut für sie selbst erscheint.“152 Abgesehen von der Problematik einer empirischen Nachweisbarkeit des Abschreckungseffekts153 zeigt sich auch hier, wie der Einzelne auf ein Wesen reduziert wird, das rein nach Nützlichkeitserwägungen agiert. Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und damit unabhängig von äußeren Zweckerwägungen zu handeln, wird demgegenüber unterbestimmt.154 Zudem ist der Gedanke der Abschreckung nicht in der Lage, die Strafe gegenüber dem konkreten Täter zu begründen. Denn die Strafandrohung und die Verhängung der Strafe richtet sich an die nach Klugheitsregeln agierenden tatgeneigten Personen, während der Täter selbst aus dem Blick gerät.155 Seine Bestrafung erfolgt allein, um den Deliktsgeneigten zu zeigen, dass sich die Begehung einer 148  Kant,

MdS, A 196, B 226. Das neuere Verständnis von Generalprävention, in: ZStW 1997 (1985), 786 (796); Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 45. 150  Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 45. 151  KOM(2012) 363 final, S. 11. 152  De Cive, S. 133, ebenso S. 215; vgl. auch Beccaria, Verbrechen und Strafe, § 4 S. 74. 153  Siehe hierzu Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. (2005), § 41 Rn. 6. Vgl. auch die Kritik der BRAK in ihrer Stellungnahme Nr. 11/Juni 2013 zum Richtlinienentwurf unter 3. 154  Vgl. hierzu grundlegend E. A. Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention, in: ZStW 1997 (1985), 786 (791 ff.). 155  Deutlich auch Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 68 f. 149  E. A. Wolff,



D. „Unionale“ Strafzwecke377

Straftat nicht „rechnet“, da die „Kosten“ höher sind als ihr „Nutzen“. Der Täter wird damit zum bloßen „Objekt der Verbrechens­bekämpfung“.156 Da es für die Abschreckungswirkung nicht auf die begangene Unrechtstat und eine sie ausgleichende, gerechte Strafe ankommt, bestimmt sich auch das Strafmaß allein nach der Abschreckungswirkung. Dabei kann auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht korrigierend wirken, da die Eingriffe in die betroffenen Freiheitsrechte des Täters, die auch die Entwurfsbegründung auflistet, gegenüber der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung quantitativ geringer wiegen. Denn das Ziel, wirksame und abschreckende Maßnahmen zum Schutz der finanziellen Unionsinteressen zu ermöglichen, ist bereits als gegenüber dem Einzelrecht höherrangig gesetzt. Die Betrachtung der beiden Abwägungskriterien, die Allgemeinheit auf der einen Seite und das Recht des Einzelnen auf der anderen Seite, führt dann zwangsläufig dazu, dass der Einzelne bei der Verhältnismäßigkeitsbestimmung immer unterlegen ist.157 So heißt es auch im Richtlinienentwurf nur, dass die Eingriffe gerechtfertigt seien, „weil sie den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen“.158 Das Wohl der Allgemeinheit kann jedoch für sich genommen keinen Grund angeben, warum es gegenüber dem Einzelnen automatisch ein Recht, insbesondere ein Recht zu strafen, beanspruchen kann.159 b) Zudem stellt der Richtlinienentwurf – wenn auch nicht ausdrücklich, so doch konkludent – auf spezialpräventive Wirkungen v.  Liszt’ scher Prägung160 ab. Nach v. Liszt sind die wesentlichen Wirkungen der Strafe und die damit möglichen Formen des Rechtsgüterschutzes durch Strafe Besserung, Abschreckung und Unschädlichmachung. Die besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Täter sollen gebessert werden, die nicht besserungsbedürftigen Verbrecher sollen abgeschreckt werden und die nicht besserungsfähigen sollen unschädlich gemacht werden.161 Der Kommissionsent156  Köhler, Strafrecht AT (1997), 45; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers (2012), S. 69; E. A. Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention, in: ZStW 1997 (1985), 786 (796); vgl. auch schon die Kritik Kants, MdS, A 196 f., B 226 f. s. hierzu bereits die Ausführungen im 1. Teil unter E. I. 2. c) sowie im 3. Teil unter D. II. 2. 157  Vgl. insgesamt zur Kritik gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Köhler, Prozeßrechtsverhältnis und Ermittlungseingriff, in: ZStW 107 (1995), 10 (15 ff.); Verf., Grenzenloser Spielraum des Gesetzgebers im Strafrecht?, in: ZJS 2009, 15 (18 ff.). 158  KOM(2012) 363 final, S. 9 mit Verweis auf Art. 52 Abs. 1 der GRCharta. 159  Vgl. nochmals Kant: „Der Nutz vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen“, Reflexionen zur Moralphilosophie, Akademie-Ausgabe, Bd. XIX, 6586. 160  Zu spezialpräventiven Aspekten im Europäischen Strafrecht auch Frisch, Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa, in: GA 2009, 385 (402 f.). 161  v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: ZStW 3 (1883), 1 (36).

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

wurf sieht neben den Mindestsanktionen für juristische Personen in Form von Geldstrafen und Geldbußen162 weitere mögliche Strafen vor, wie u. a. ein vorübergehendes oder ständiges Verbot der Ausübung einer Handelstätigkeit, die Unterstellung unter richterliche Aufsicht, die richterlich angeordnete Eröffnung des Liquidationsverfahrens sowie die vorübergehende oder endgültige Schließung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden. Das sind Sanktionen, die nicht auf den Ausgleich der Tat an sich gerichtet sind, sondern spezialpräventiv wirken sollen bis hin zur endgültigen Unschädlichmachung eines Unternehmens durch Eröffnung des Liquidationsverfahrens bzw. die Schließung von zur Begehung der Straftat genutzten Einrichtungen. Damit wird eine Art „Todesstrafe“ für Unternehmen eingeführt. Auch ist mit dem vorgestellten Begriff der Rechtsstrafe bereits die Strafbarkeit von Unternehmen überhaupt nicht kompatibel.163 Das zeigt sich schon im Rahmen der Rechtsbegründung: Ein Unternehmen oder allgemein eine juristische Person wird vom Recht konstituiert, ist aber nicht fähig, an der Konstitution des Rechts teilzuhaben wie natürliche Personen.164 Ebenso wenig kann sie das Recht schuldhaft tätig negieren, da sie einer subjektiven Zurechnung nicht fähig ist. Die Strafe trifft dann vielmehr automatisch die für das Unternehmen tätigen Personen, denen schuldhaftes Handeln einfach unterstellt werden würde, was jedoch mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbaren ist.165 c)  Verbunden ist mit dem Präventionsgedanken schließlich die Bedeutung der Effizienz bei der Strafverfolgung. So sahen auch Hobbes und Beccaria 162  Der Richtlinienentwurf räumt dabei den Mitgliedstaaten eine Wahlmöglichkeit ein, ob sie gegenüber Unternehmen „Geldstrafen“ oder „Geldbußen“ verhängen (vgl. Art. 9). Allerdings handelt es sich auch hierbei jedenfalls um ein Strafrecht im weiteren Sinne, da die Sanktionen repressiven Charakter aufweisen. Vgl. hierzu bereits die Ausführungen zum Europäischen Kartellbußgeldverfahren in der Einleitung unter B. I. 2. Vgl. zur Kritik gegenüber der europäischen Entwicklung der Strafbarkeit juristischer Person auch Kelker, Die Strafbarkeit juristischer Personen unter europäischem Konvergenzdruck, in: FS-Krey (2010), S. 221 ff. Eine Übersicht über die Entwicklung der Unternehmensstrafbarkeit in den letzten Jahren gibt Engelhart, Unternehmensstrafbarkeit im europäischen und internationalen Recht, in: eurocrim 2012, 110 ff. 163  Vgl. hierzu insgesamt die grundlegende Kritik von v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe (1998), insbes. S. 55 ff., 183 ff. 164  Murmann, Kritik des funktionalen Strafrechts, in: Koriath/Krack u. a. (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts (2010), S. 189 (204). 165  Köhler, Strafrecht AT (1997), S. 562. In Betracht kommt daher nur eine Bestrafung der für das Unternehmen arbeitenden Personen nach den allgemeinen Beteiligungsregeln. s. a. für eine Kritik gegenüber der Unternehmensstrafbarkeit aus rechtspolitischer Sicht den Beitrag von Leipold, Unternehmensstrafrecht – Eine rechtspolitische Notwendigkeit?, in: ZRP 2013, 34 ff.



E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen379

die Hauptaufgabe des Strafverfahrens in einer effizienten Strafverfolgung. Bei Vorliegen eines Verbrechens müsse unverzüglich und unausweichlich die Strafe folgen, um das Ziel der Abschreckung zu erreichen.166 Ebenso verweist der Richtlinienentwurf auf die Notwendigkeit der Vereinheitlichung zur Durchsetzung der Strafvorschriften, um die abschreckende Wirkung zu verstärken und die Möglichkeit der Durchsetzung der einschlägigen Vorschriften zu verbessern.167 Auch die Vorgabe eines unteren Strafmaßes von mindestens sechs Monaten wird kriminalpolitisch-funktional begründet: Sie gewährleiste, dass für die in Artikel 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl aufgeführten Straftaten ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt und vollstreckt werden könne.168 Demgegenüber fehlen Ausführungen, warum das untere Strafmaß im Verhältnis zur Schwere der Straftat steht, vielmehr wird dieses nur behauptet.169 Den materiellen Strafrahmen allein danach festzulegen, ob bestimmte prozessuale Maßnahmen greifen oder nicht, lassen einen an Rechtsprinzipien orientierten Maßstab vermissen. Die Europäisierung des Strafrechts dient dann vielmehr vornehmlich, wie Beccaria es schon im Rahmen der Notwendigkeit einer Internationalisierung des Strafrechts gefordert hat, als „höchst wirksames ­ Mittel“, Verbrechen zu verhindern, da nicht „eine Spanne Landes zu finden sei, wo wirkliche Verbrechen straflos blieben“.170 Die Ausprägung des Präventions- und Effizienzgedankens im Rahmen der Europäisierung des Strafverfahrens wird besonders deutlich in dem Verordnungsvorschlag der Kommission „über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft“ vom 17.7.2013171, auf den nun einzugehen ist.

E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen im Spannungsverhältnis zu einem rechtsstaatlichen Strafverfahren Rechtsgrundlage des Verordnungvorschlags172 bildet Art. 86 AEUV. Nach Art. 86 Abs. 2 AEUV soll die Europäische Staatsanwaltschaft zuständig sein „für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklage­ 166  Hobbes,

XIX.

De Cive, S. 216; Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, §§ XX,

167  KOM(2012)

363 final, S. 4. 363 final, S. 11 f. 169  Vgl. zudem die Kritik der BRAK in ihrer Stellungnahme Nr. 11/Juni 2013 unter 3. 170  Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § 21, S. 125. 171  KOM(2013) 534 final; zuletzt Ratsdok. 15100/15 v. 22.12.2015. 172  KOM(2013) 534 final. 168  KOM(2012)

380

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

erhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begangen haben“. Die Europäische Staatsanwaltschaft hat bei diesen Straftaten vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrzunehmen. Die Einzelheiten für die Erfüllung ihrer Aufgaben, die für ihre Tätigkeit geltenden Verfahrensvorschriften sowie die Regeln für die Zulässigkeit von Beweismitteln und für die gerichtliche Kontrolle der von der Europäischen Staatsanwaltschaft bei der Erfüllung ihrer Aufgaben vorgenommenen Prozesshandlungen sollen durch Verordnung näher festgelegt werden (Art. 86 Abs. 3 AEUV). Der Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft ist im Folgenden in seinen Grundzügen vorzustellen (unter I.) und im Anschluss daran kritisch zu würdigen (unter II.).

I. Übersicht über den Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft Der Entwurf umfasst sowohl die Etablierung einer Europäischen Staatsanwaltschaft als auch die Regelung ihrer Zuständigkeiten und des Verfahrens. Er soll den oben vorgestellten Richtlinienvorschlag der Kommission „über die Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ ergänzen.173 Die Begründung und Ziele des Verordnungsvorschlages zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft weisen daher Übereinstimmungen zu der des Richtlinienentwurfs auf. 1. Ziele des Verordnungsvorschlages zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft Ebenso wie der Richtlinienvorschlag verfolgt der Verordnungsentwurf insgesamt das Ziel, eine effiziente, kohärente und effektive Ermittlung und Strafverfolgung bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu erreichen. Da die bisherige ausschließliche Verfolgung dieser Straftaten seitens der Justiz der Mitgliedstaaten nicht effektiv, gleichwertig 173  KOM(2013) 534 final, S. 2 f. Der Vorschlag nimmt zudem in seiner Begründung ausdrücklich auf das bereits im Dezember 2001 von der Europäischen Kommission vorgelegte Grünbuch „zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“ Bezug. s. zum Grünbuch auch die Ausführungen der Einleitung unter B. I. 3. sowie im 2. Teil unter D. II. 1.



E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen381

und abschreckend genug sei, müsse ein einheitliches europäisches System für die Ermittlung und Strafverfolgung bei diesen Straftaten eingeführt werden, welches eine enge Zusammenarbeit und einen effektiven Informationsaustausch zwischen europäischen und einzelstaatlichen Behörden gewährleiste.174 Der Europäischen Staatsanwaltschaft solle die ausschließliche Zuständigkeit für die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zukommen (Art. 11 Abs. 4). Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten haben die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen der Europäischen Staatsanwaltschaft auf deren Antrag aktiv zu unterstützen und alle Handlungen, politischen Maßnahmen und Verfahren zu unterlassen, die ihren Fortgang verzögern oder behindern könnten (Art. 11 Abs. 7). Mit der Europäischen Staatsanwaltschaft solle die Strafverfolgungsquote gesteigert werden, so dass es zu mehr Verurteilungen komme und rechtswidrig erlangte Unionsmittel wieder eingezogen werden könnten. So könne eine stärkere Abschreckung gegenüber Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union erreicht werden.175 Ebenso wie im oben genannten Richtlinienentwurf fallen die Ausführungen zum Prinzip der Subsidiarität und zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Sinne des Art. 325 AEUV sehr knapp aus. Hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzip heißt es nur: „Dieses Ziel (wirksamer Schutz der finanziellen Inte­ressen der Union, Anm. B. N.) lässt sich wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip nur auf Unionsebene verwirklichen.“176 Bezüglich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erklärt der Verordnungsvorschlag: „Entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht die vorliegende Verordnung nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus. Es wurden in diesem Vorschlag durchweg die Optionen gewählt, die am wenigstens in die Rechtsordnung und institutionelle Struktur der Mitgliedstaaten eingreifen.“ Es folgt dann eine Aufzählung der zentralen Elemente des Entwurfs.177 2. Status und Organisation der Europäischen Staatsanwaltschaft Die Europäische Staatsanwaltschaft soll sachlich und persönlich unabhängig sein (Art. Abs. 1), d. h. sie darf bei der Erfüllung ihrer Pflichten Weisungen von Personen, Mitgliedstaaten oder Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union weder einholen noch entgegennehmen (Art. 5 Abs. 2 S. 1). Auch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union und 174  KOM(2013)

534 534 176  KOM(2013) 534 177  KOM(2013) 534 175  KOM(2013)

final, final, final, final,

S. 2. S. 5. S. 5. S. 5.

382

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

die Mitgliedstaaten müssen die Unabhängigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft achten und dürfen nicht versuchen, sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen (Art. 5 Abs. 2 S. 2). Es soll damit gewährleistet werden, dass die Europäische Staatsanwaltschaft ihre Aufgaben und ihre Befugnisse in einer Weise wahrnehmen kann, die sie vor ungebührlicher Einflussnahme schützt.178 Allerdings unterliegt sie für ihre allgemeine Tätigkeit einer Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission (vgl. Art. 5 Abs. 3). Die Europäische Staatsanwaltschaft setzt sich aus einem Europäischen Staatsanwalt (mit vier Stellvertretern) sowie Abgeordneten Europäischen Staatsanwälten in den Mitgliedstaaten (Art. 1) zusammen und ist in sich hierarchisch organisiert (vgl. Art. 6). So unterliegen insbesondere die einzelnen von den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen und vom Europäischen Staatsanwalt ernannten Abgeordneten Staatsanwälte179 bei der Durchführung der ihnen übertragenen Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen dem Weisungsrecht des Europäischen Staatsanwalts; sie haben allein seine Weisungen, Leitlinien und Beschlüsse zu befolgen (Art. 6 Abs. 5). Geleitet wird das Ermittlungsverfahren grundsätzlich180 vom jeweiligen Abgeordneten Europäischen Staatsanwalt. Der Abgeordnete Staatsanwalt kann die Ermittlungsmaßnahmen entweder selbst durchführen oder die zuständigen Strafverfolgungsbehörden in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Standort hat, dazu anweisen. Die Behörden haben dann die Weisungen des Abgeordneten Europäischen Staatsanwalts zu befolgen und die ihnen übertragenen Ermittlungsmaßnahmen durchzuführen (Art. 18). 3. Aufgaben und Zuständigkeiten der Europäischen Staatsanwaltschaft Aufgabe der Europäischen Staatsanwaltschaft soll es nach Art. 4 Abs. 1 insgesamt sein, „Straftaten zum Nachteil der finanziellen Union zu bekämpfen“. Sie wird zuständig sein für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie Anklageerhebung „in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer die in Absatz 1 genannten Straftaten begangen haben“.181 178  KOM(2013)

534 final, S. 6. zum Verfahren der Ernennung und Entlassung der Abgeordneten Europäischen Staatsanwälte Art. 10. 180  Zu den Ausnahmen, in denen der Europäische Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren selbst leiten kann, vgl. Art. 16 Abs. 2 und Art. 18 Abs. 5. 181  Eine Ausdehnung des sachlichen Zuständigkeitsbereichs der Europäischen Staatsanwaltschaft auf schwere Straftaten mit grenzüberschreitender Dimension (vgl. Art. 86 Abs. 4 AEUV) sieht der Verordnungsentwurf nicht vor. 179  Vgl.



E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen383

In diesem Zusammenhang leitet und beaufsichtigt die Europäische Staatsanwaltschaft die Ermittlungen und trifft die Strafverfolgungsmaßnahmen, einschließlich der Einstellung des Verfahrens182 (Art. 4 Abs. 2). Vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten hat die Europäische Staatsanwaltschaft die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrzunehmen. Eingeschlossen sind die Erhebung der Anklage und die Einlegung von Rechtsmitteln bis zur endgültigen Entscheidung der Sache (Art. 4 Abs. 3). Die Europäische Staatsanwaltschaft hat von Amts wegen (vgl. Art. 12 und 14) bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen (unter Bezug auf die oben im vorgestellten Richtlinienentwurf „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ Straftatbestände) zu ermitteln und ist hier ausschließlich zuständig (Art. 11 Abs. 4 und Art. 12). Das Legalitätsprinzip soll deshalb gelten, „um Rechtssicherheit und Nulltoleranz“ gegenüber diesen Straftaten zu gewährleisten.183 Die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft kann sich zudem für weitere Straftaten kraft Sachzusammenhangs ergeben, wenn „die in Artikel 12 genannten Straftaten untrennbar mit anderen als den in Artikel 12 genannten Straftaten verbunden sind und ihre gemeinsame Ermittlung und Verfolgung im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegt (…), sofern der Schwerpunkt auf den in Artikel 12 genannten Straftaten liegt und die anderen Straftaten auf demselben Sachverhalt beruhen“.184 Die Letztentscheidung über die Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs hat die einzelstaatliche Justizbehörde, die für die Bestimmung der Zuständigkeiten für die Strafverfolgung auf einzelstaatlicher Ebene zuständig ist (Art. 13 Abs. 3). Voraussetzung für die Ausübung der ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft ist weiter, dass die in den Art. 12 und 13 genannten Straftaten ganz oder zum Teil im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder von einem ihrer Staatsangehörigen oder von Bediensteten der Union oder Mitgliedstaaten der Organe“ begangen wurden (Art. 14). Es gilt damit das Territorialitäts- und das aktive Personalitätsprinzip. Die Europäische Staatsanwaltschaft kann zudem im Rahmen eines Vergleichs nach Schadenswiedergutmachung das Verfahren einstellen. Art. 29 182  Vgl. zu den Voraussetzungen der Einstellung des Verfahrens durch die Europäische Staatsanwaltschaft Art. 28. Diese kann u. a. dann das Verfahren einstellen, wenn es sich um eine geringfügige Tat handelt (Art. 28 Abs. 2 lit. a)). 183  Erwägungsgrund 20. 184  Nach dem Erwägungsgrund 22 des Verordnungsvorschlages soll der Schwerpunkt anhand von folgenden Kriterien ermittelt werden: „finanzielle Auswirkungen der Straftaten auf die Union und die Haushalte der Mitgliedstaaten, Zahl der Opfer oder andere Umstände im Zusammenhang mit der Schwere der Straftaten oder anwendbare Sanktionen“.

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

Abs. 1 sieht vor, dass sie dem Verdächtigten, sofern das Verfahren nicht aus anderen Gründen bereits eingestellt wurde, es der geordneten Rechtspflege dient und der Schaden ersetzt wurde, eine pauschale Geldstrafe vorschlagen kann. Akzeptiert der Verdächtige den Vergleich und zahlt die Geldstrafe, stellt die Europäische Staatsanwaltschaft das Verfahren endgültig ein (Art. 29 Abs. 2). Diese Einstellung unterliegt auch nicht einer gerichtlichen Kontrolle seitens der Mitgliedstaaten oder des Europäischen Gerichtshofs (Art. 29 Abs. 3). 4. Ermittlungsbefugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft und die Zulässigkeit von Beweismitteln Der Europäischen Staatsanwaltschaft sollen ferner umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen zukommen, wobei sie gehalten ist, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren, d. h. Ermittlungsmaßnahmen dürfen nicht angeordnet werden, wenn „kein vernünftiger Grund besteht oder das Ziel auch mit weniger eingreifenden Mitteln erreicht werden kann“ (Art. 26 Abs. 3). Der Vorschlag sieht vor, dass die Europäische Staatsanwaltschaft beispielsweise beantragen und anordnen kann, dass Durchsuchungen durchgeführt, Tatwerkzeuge oder Erträge von Straftaten sichergestellt, der Telekommunikationsverkehr und finanzielle Transaktionen überwacht und verdeckte Ermittlungen durchgeführt werden (vgl. insgesamt Art. 26 Abs. 1 lit. a–j). Die Mitgliedstaaten müssen bei diesen Maßnahmen sicherstellen, dass eine Genehmigung der zuständigen Justizbehörde des Mitgliedstaates erforderlich ist, in dem die Ermittlungsmaßnahme durchgeführt werden soll (Art. 26 Abs. 4). Ferner kann die Europäische Staatsanwaltschaft z. B. beantragen und anordnen, dass Verdächtige und Zeugen vorgeladen und vernommen werden, dass Verdächtige und Dritte an öffentlichen Orten überwacht werden und Gegenstände sichergestellt werden (vgl. insgesamt Art. 26 Abs. 1 lit. k–u). Voraussetzung für diese Maßnahmen ist eine richterliche Genehmigung, sofern diese im innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats, in dem die Ermittlungsmaßnahme durchgeführt werden soll, vorgeschrieben ist (Art. 26 Abs. 5). Schließlich kann die Europäische Staatsanwaltschaft bei der zuständigen Justizbehörde beantragen, dass der Verdächtige im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht festgenommen oder in Untersuchungshaft genommen wird (Art. 26 Abs. 7). Die einzelnen Ermittlungsmaßnahmen seitens der Europäischen Staatsanwaltschaft richten sich dabei nach dem Recht der Mitgliedstaaten, in dem die Beweise erhoben werden sollen. Zudem obliegt die Wahl des Prozessgerichts für die Anklageerhebung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Der Europäische Staatsanwalt wählt in enger Abstimmung mit dem jeweiligen Abgeordneten Europäischen Staatsanwalt unter Berücksichtigung der geordneten Rechtspflege das Prozessge-



E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen385

richt aus und ermittelt das zuständige einzelstaatliche Gericht (Art. 27 Abs. 4). Bei ihrer Auswahl hat die Europäische Staatsanwaltschaft bestimmte Kriterien zu berücksichtigten, wie den Ort, an dem die Straftat begangen wurde, den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Beschuldigten, den Ort, an dem sich die Beweismittel befinden sowie den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts der direkten Opfer. Insbesondere im Rahmen von Ermittlungen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen, können somit das Gericht, welches über die Beweiserhebung entscheidet, und das Prozessgericht auseinanderfallen. Um eine wirksame Strafverfolgung in grenzüberschreitenden Fällen zu gewährleisten,185 soll dann das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gelten. Das einzelstaatliche Prozessgericht darf ein Beweismittel nicht deshalb als unzulässig ablehnen, weil die Erhebung des Beweismittels nach dem für das Gericht geltendem einzelstaatlichen Recht anderen Bedingungen oder Vorschriften unterliegt: „Die von der Europäischen Staatsanwaltschaft vor dem Prozessgericht beigebrachten Beweismittel sind ohne Validierung oder ein sonstiges rechtliches Verfahren zulässig und zwar auch dann, wenn das innerstaatliche Recht des Mitgliedstaats, in dem das Gericht seinen Sitz hat, andere Vorschriften für die Erhebung oder Beibringung dieser Beweismittel enthält – wenn sich ihre Zulassung nach Auffassung des Gerichts nicht negativ auf die Fairness des Verfahrens auswirken würde, wie sie in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäi­ schen Union verankert sind.“ (Art. 30 Abs. 1). Allerdings soll die Zulassung der Beweismittel nicht die Befugnis des mitgliedstaatlichen Gerichts berühren, die von der Europäischen Staatsanwaltschaft im Verfahren beigebrachten Beweismittel frei zu würdigen (Art. 30 Abs. 2). 5. Verfahrensgarantien des Verdächtigen, Beschuldigten oder sonstiger Beteiligter Der Verordnungsentwurf sieht ein eigenes Kapitel (IV) über die Verfahrensgarantien Verdächtiger, Beschuldigter oder sonstiger Beteiligter vor, wie das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen186, auf Belehrung und Unterrichtung und Akteneinsicht187, auf Rechtsbeistand sowie auf Aussageverweigerung und Unschuldsvermutung (vgl. insgesamt Art. 32). Neben 185  Vgl. hierzu auch die Begründung der Kommission in ihrem „Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“ vom 11.12.2001, KOM (2001) 715 endg., S. 63 f. 186  Unter Verweis auf die RL 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates. 187  Unter Verweis auf die RL 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates.

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

diesen ausdrücklich benannten Rechten, gelten zudem die im innerstaatlichen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates vorgesehenen Verfahrensrechte. Für den Verdächtigen oder den Beschuldigten normiert Art. 33 für die Vernehmung nochmals ausdrücklich das „Recht auf Aussageverweigerung und Unschuldsvermutung“: „(1) Ein an einem Verfahren der Europäischen Staatsanwaltschaft beteiligter Verdächtiger oder Beschuldigter hat im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht das Recht auf Aussageverweigerung, wenn er zu den ihm zur Last gelegten Straftaten vernommen wird und wird darüber aufgeklärt, dass er sich nicht selbst belasten muss. (2) Ein Verdächtiger oder Beschuldigter gilt bis zum Beweis seiner Schuld gemäß dem einzelstaatlichen Recht als unschuldig.“ Die Europäische Staatsanwaltschaft hat schließlich zu gewährleisten, dass bei ihrer Tätigkeit neben dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechte beachtet werden (Art. 11 Abs. 1). Die gerichtliche Kontrolle über die Ermittlungsund Strafverfolgungsmaßnahmen der Europäischen Staatsanwaltschaft liegt bei den Gerichten der Mitgliedstaaten. Die Europäische Staatsanwaltschaft gilt insoweit als einzelstaatliche Behörde (Art. 36 Abs. 1).

II. Effektive Verbrechensbekämpfung durch eine Europäische Staatsanwaltschaft im Spannungsverhältnis zu einem rechtsstaatlich ausgestalteten Strafverfahren und zum Strafverfahrensrecht der Mitgliedstaaten Da eine grundlegende Kritik an einer rein präventiven Ausrichtung des Strafrechts bereits erfolgt ist,188 konzentriert sich die folgende kritische Würdigung des Verordnungsentwurfs auf die hier angelegten Besonderheiten. Dabei soll nicht auf alle Vorschriften des Verordnungsvorschlages eingegangen werden, sondern es sind einzelne, gewichtige Aspekte herauszustellen. In dem Verordnungsvorschlag werden zum einen Gefahren des Verlustes rechtsstaatlicher Prinzipien deutlich, die mit der Vorstellung eines Strafverfahrens, welches vornehmlich auf eine effektive Verbrechensbekämpfung ausgerichtet ist, unmittelbar zusammenhängen (unter 1.). Problematisch ist zum anderen ihre Zwitterstellung zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Institution. Das oben aufgezeigte Spannungsverhältnis zwischen der Europäischen Union als supranationaler Rechtsordnung und der Souveränität der Mitgliedstaaten zeigt sich insoweit bei der Etablierung einer Europäi­ schen Staatsanwaltschaft in aller Deutlichkeit (unter 2.). 188  Vgl.

oben unter D. II.



E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen387

1. Die Aufgabe der Europäischen Staatsanwaltschaft, Straftaten zu bekämpfen, wie sie in Art. 14 Abs. 1 formuliert ist, widerspricht dem eigentlichen Tätigkeitsfeld der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren. Aufgabe des Strafverfahrens insgesamt und damit auch der Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren ist es gerade nicht, Straftaten zu bekämpfen, sondern bereits begangene Straftaten in einem rechtlich geordneten Verfahren aufzuklären.189 Die Rolle der Staatsanwaltschaft ist dabei nicht auf bloße Effektivität und damit das Ziel ausgerichtet, eine möglichst schnelle Verurteilung zu erreichen. Sie hat vielmehr, wie sich in der historischen Entwicklung des reformierten Strafprozesses in Deutschland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch in anderen kontinentaleuropäischen Staaten gezeigt hat, als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ die Rechtsposition des Beschuldigten zu sichern und die Ermittlungstätigkeit insgesamt zu überwachen. Daher ist sie berufen, sowohl be- als auch entlastende Umstände zu ermitteln.190 Ebenso wenig ist es stimmig, wie bereits in Art. 86 AEUV zu lesen ist und wie es der Verordnungsentwurf z. T. macht, im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens von „Tätern oder Teilnehmern“, die „Straftaten begangen haben“ zu sprechen. Denn es geht um die Feststellung eines Tatverdachts, also darum, ob jemand möglicherweise an einer Tat beteiligt war und wenn ja, in welcher Weise und nicht um die Verurteilung; diese ist und bleibt auch nach Einführung der Europäischen Staatsanwaltschaft Aufgabe des mitgliedstaatlichen Gerichts.191 Ferner zeigt die Begründung des Legalitätsprinzips, dass sich der Verordnungsgeber nicht von rechtsstaatlichen Gründen leiten lässt, sondern von funktionalen Erwägungen, wie sie dem Europäischen Recht immanent sind. So heißt es in den Erwägungsgründen, das Legalitätsprinzip sei deshalb 189  Vgl. hierzu näher die Ausführungen im 3. Teil unter D. V. 2. Eine Verbrechensbekämpfung ließe sich zudem nicht durch die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft erreichen, sondern müsste ganz andere Maßnahmen zum Inhalt haben, wie z. B. eine nähere rechtliche Prüfung der Erklärungen oder Unterlagen bei der Mittelerhebung und Mittelvergabe durch Europäische Institutionen. Vgl. auch die Kritik der BRAK und des Deutschen Anwaltsvereins in ihrer Stellungnahme Nr. 48/2012 unter I. 2; s. a. Kempf, Der Europäische Staatsanwalt, in: StV 2003 (Beilage), 128. 190  Vgl. hierzu auch den 1. Teil unter D. III.; s.  a. Radtke, Der Europäische Staatsanwalt, in: GA 2004, 1 (11 ff.). 191  Ebenso zu kritisieren sind insofern auch eine Reihe von Bestimmungen in der StPO, die im Rahmen von Ermittlungsmaßnahmen nicht mehr vom Beschuldigten, sondern bereits vom Täter oder Teilnehmer sprechen, vgl. z. B. §§ 98a Abs. 1, 100c Abs. 1 Nr. 1, 163e StPO. Vgl. hierzu auch Zaczyk, Prozeßsubjekte oder Störer?, in: StV 1993, 490 (491); Kelker, Die Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren, in: ZStW 118 (2006), 389 (404).

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

gewählt worden, um „Rechtssicherheit und Nulltoleranz gegenüber Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten“.192 Der Amtsermittlungsgrundsatz ergibt sich jedoch im Strafrecht – wie dargelegt – aus dem Verhältnis der Exekutiven zum Gesetzgeber. Die ausführende Gewalt hat im Strafrecht aufgrund des freiheitsbedeutsamen Bereichs den Gesetzen gemäß zu handeln und übt damit eine die Gesetze vollziehende Tätigkeit aus. Da es Aufgabe des Gesetzgebers und damit des Allgemeinwillens ist, die Voraussetzungen der Strafbarkeit zu bestimmen, können sich die Ermittlungsbehörden nicht über diesen hinwegsetzen, sondern sind an ihn gebunden.193 Das Legalitätsprinzip ist damit eine Notwendigkeit, die mit der Gewaltenteilung unmittelbar in einem Zusammenhang steht. Dass sich eine Teilung der Gewalten aufgrund der supranationalen Struktur der Union nicht in ihr realisieren lässt, wurde bereits oben näher aufgewiesen. Das kann aber nicht zur Folge haben, dass rechtsstaatliche Aspekte beiseite gelegt werden, sondern gerade dann bedürfte es ausführlicher Überlegungen, nach welchen Rechtsprinzipien eine supranationale Ermittlungsbehörde auszugestalten ist. Bloß politische geforderte Effektivitätserwägungen genügen dafür sicherlich nicht. Aus diesem Grund ist auch der in Art. 29 normierte Vergleich bei einer Schadenswiedergutmachung problematisch. Hier kommt der Europäischen Staatsanwaltschaft ein erheblicher Ermessensspielraum zu und es ist zu erwarten, dass eine solche Form der Einstellung vor allem dann erfolgt, wenn sich die Aussicht einer Verurteilung der betroffenen Person als gering erweist.194 Im 1. Teil und 3. Teil der Arbeit wurde schon auf die rechtsstaatliche Problematik der Einschränkung des Legalititätsprinzip zugunsten einer effektiven Strafrechtspflege durch § 153a StPO hingewiesen.195 Voraussetzung des § 153a StPO ist jedoch zumindest, dass bei der Einstellung des Verfahrens das ansonsten zu einer Verurteilung führende Verfahren verkürzt werden soll. Besteht aber nicht einmal eine Verurteilungswahrscheinlichkeit, trifft der europäische Vergleich im Strafverfahren „einen voraussichtlich 192  Erwägungsgrund

2.

193  Vgl.

20. hierzu die Ausführungen im 3. Teil unter C. II. 2. b) und unter D. V.

194  So die Begründung im Grünbuch der Kommission „zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“ vom 11.12.2001, KOM (2001) 715 endg., S. 50: „Diese Möglichkeit (des Vergleichs, Anm. Verf.) könnte dann nützlich sein, wenn die Aussicht auf eine Verurteilung der betreffenden Person gering ist.“; zutreffend kritisch Schünemann, Bürgerrechte ernst nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens!, in: StV 2003, 116 (121); Murmann, Über den Zweck des Strafprozesses, in: GA 2004, 65 (84). 195  Im 1. Teil unter E. III. 2. und im 3. Teil unter D. V. 2.



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unwiderlegbar Unschuldigen“,196 was einen eklatanten Widerspruch auch zu der in Art. 33 des Verordnungsvorschlages selbst normierten Unschuldsvermutung darstellt. Hinsichtlich der Formulierung des Art. 33 fällt allerdings auch auf, dass dieser von einem „Recht auf Unschuldsvermutung“ spricht und davon, dass der Verdächtige oder Beschuldigte „bis zum Beweis seiner Schuld (…) als unschuldig“ gilt. Bei der Unschuldsvermutung handelt es sich jedoch nicht um ein Recht, das dem Beschuldigten vonseiten der Ermittlungsbehörden freundlicherweise zugestanden wird und der bloßen ­ Selbstbeschränkung der Strafverfolgungsorgane dient, sie stellt vielmehr eine verfahrensrechtliche Notwendigkeit dar.197 Der Einzelne ist nicht und zwar auch dann nicht, wenn er einer Strafrecht verdächtig ist, auf seine empirische Seite zu reduzieren, sondern als ein grundsätzlich selbstbestimmt, frei handelndes Subjekt anzuerkennen. Daher bedarf es auch des Schuldnachweises für seine Bestrafung. Seine Unschuld ist bis zum Urteil zu vermuten. Der Beschuldigte oder Angeklagte gilt damit nicht nur als unschuldig, sondern er ist es.198 Die dargelegte Kritik macht deutlich, wie eine Orientierung der Strafverfolgung an der Verbrechensbekämpfung insgesamt Gefahr läuft, die Freiheit des Einzelnen aus dem Blick zu verlieren, sobald er einer Straftat verdächtig ist. Bereits der Verdächtige wird nur noch zum bloßen Gefahrenobjekt, dem von außen bestimmte Rechte gewährt werden; seine Stellung als ein notwendig mit Rechten ausgestattetes Subjekt tritt dahinter zurück. 2.  Die Etablierung einer Europäischen Staatsanwaltschaft199 führt zudem zu einem erheblichen Eingriff in das Rechts- und Institutionengefüge der 196  Murmann, Über den Zweck des Strafprozesses, in: GA 2004, 65 (85); vgl. auch die Kritik von Schünemann, Bürgerrechte ernst nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens!, in: StV 2003, 116 (121). 197  s. a. Murmann, Über den Zweck des Strafprozesses, in: GA 2004, 65 (85). 198  s. hierzu näher die Ausführungen im 3. Teil unter D. III. 199  Der Terminus „Europäische Staatsanwaltschaft“ stellt für sich genommen (jedenfalls in der deutschen Übersetzung, in der es – traditionsbedingt – anders als z. B. im Englischen („European Public Prosecutor’s Office) kein Pendant zum Begriff einer „öffentlichen Strafverfolgungsbehörde“ gibt, einen Widerspruch dar: Es handelt sich gerade nicht um eine Staatsanwaltschaft, sondern um eine genuin europäische Institution. Die Europäische Union stellt jedoch keinen Staat dar, sondern einen Staatenverbund. Es fehlt ihr an dem für die Staatskonstitution notwendigen Moment eines einheitlichen Legitimationssubjekts, einem Staatsvolk (s. hierzu die Ausführungen oben unter C. I.). Zwar werden die einzelnen Europäischen Staatsanwälte von den jeweiligen Mitgliedstaaten abgeordnet, nehmen vor den Gerichten die Aufgaben eines Staatsanwaltes wahr und gelten zum Zwecke der gerichtlichen Kontrolle als einzelstaatliche Behörde (Art. 36 Abs. 1), damit die Gültigkeit der Handlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft vor den Gerichten der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des einzelstaatlichen Rechts angefochten werden können. Insoweit sind sie institutionell auch an die Mitgliedstaaten gebunden. Die Abgeordneten Eu-

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

einzelnen Mitgliedstaaten und wirkt sich daher auch unmittelbar auf die Rechte des einzelnen Beschuldigten aus. a)  So sind die Ermittlungsbefugnisse seitens der Europäischen Staatsanwaltschaft erheblich. Zwar bedarf es für Eingriffsmaßnahmen einer Genehmigung der zuständigen Justizbehörde oder bei besonders intensiven Grundrechtseingriffen auch einer richterlichen Genehmigung, sofern diese im innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaates, in dem die Ermittlungsmaßnahme durchgeführt werden soll, vorgeschrieben ist. Es fragt sich jedoch, inwieweit der Behörde oder dem Gericht hierbei ein eigenständiges Prüfungsrecht zukommt. Denn die Mitgliedstaaten sind zugleich zur aktiven Unterstützung der Europäischen Staatsanwaltschaft verpflichtet und haben Handlungen zu unterlassen, die das Verfahren verzögern oder verhindern könnten (vgl. Art. 11 Abs. 7). Im Rahmen des Europäischen Kartellbußgeldverfahrens hat sich gezeigt, dass hier den mitgliedstaatlichen Gerichten nur eine sehr eingeschränkte Kontrollbefugnis gegenüber den Kommissionsentscheidungen zukommt. Sie haben nur die Echtheit der Entscheidung der Kommission zu prüfen und ob die von ihr beabsichtigte Zwangsmaßnahme nicht willkürlich oder unverhältnismäßig ist. Demgegenüber sind sie nicht befugt, die Notwendigkeit der Maßnahme in Frage zu stellen (vgl. Art. 21 III VO 1 / 2003).200 Aufgrund der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Loyalität im Rahmen der Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft und der Begründung des Verordnungsvorschlages, der gerade darauf hinweist, dass sich in der Vergangenheit gezeigt habe, dass das Vorgehen der mitgliedstaatlichen Justiz gegen Straftaten zu Lasten der finanziellen Interessen der Union nicht effektiv, gleichwertig und abschreckend genug sei, werden die einzelstaat­ lichen Behörden und Gerichte hier – ebenso wie im Rahmen des Europäischen Kartellbußgeldverfahrens – nur ein sehr begrenztes Prüfungsrecht ausüben können, so dass freiheitsintensive Zwangsmaßnahmen vor allem auf dem Ermessen der Europäischen Staatsanwaltschaft beruhen werden. Der Beschuldigte ist dann auf eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle ropäischen Staatsanwälte unterliegen aber inhaltlich unmittelbar der Weisung des Europäischen Staatsanwalts und sind von den Mitgliedstaaten und deren Justizbehörden insofern unabhängig. Letztere haben vielmehr den Weisungen des Abgeordneten Europäischen Staatsanwalts Folge zu leisten. Zudem müssen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen der Europäischen Staatsanwaltschaft auf deren Antrag aktiv fördern und unterstützen (Art. 11 Abs. 7). Auch kann die Europäische Staatsanwaltschaft das Prozessgericht nach ihrem Ermessen bestimmen, so dass sie sich damit die Prozessordnung aussuchen kann und den Richter, von dem sie sich kontrollieren lassen will (vgl. auch die Kritik von Kempf, Der Europäische Staatsanwalt, in: StV 2003 [Beilage], 128). Die Europäische Staatsanwaltschaft stellt damit eine eigenständige supranationale Strafverfolgungsbehörde dar, die nicht bloß das Recht der Mitgliedstaaten vollzieht. 200  s. hierzu näher die Ausführungen in der Einleitung unter B. I. 2. b).



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durch das mitgliedstaatliche Gericht angewiesen, wobei auch hier die Frage des tatsächlichen Prüfungsumfangs eine Rolle spielt. Denn das Gericht hat neben den Verfahrensrechten des Betroffenen auch die Interessen der Europäischen Staatsanwaltschaft an einer effektiven Strafverfolgung in seine Entscheidung mit einzubeziehen, da es aufgrund der mitgliedstaatlichen Pflicht zu gemeinschaftstreuem Verhalten verpflichtet ist, das nationale Recht zum effektiven Schutz der Europäischen Rechtsgüter einzusetzen.201 b)  Ferner beruht das Modell der Europäischen Staatsanwaltschaft auf der Möglichkeit der europäischen Verkehrsfähigkeit von Beweisen nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Das einzelstaatliche Prozessgericht kann ein Beweismittel nicht deshalb als unzulässig ablehnen, weil die Beweiserhebung nach dem für das Gericht geltenden einzelstaatlichen Bestimmungen anderen Bedingungen oder Vorschriften unterliegt. Es besteht hier zum einen die Gefahr, dass die Europäische Staatsanwaltschaft im Wege eines sog. „forum shoppings“ die Beweiserhebung in dem Mitgliedstaat wählt, dessen Rechtsordnung die niedrigsten Eingriffsvoraussetzungen aufweist, sofern für die Beweisermittlung mehrere Mitgliedstaaten in Betracht kommen.202 Zum anderen zeigt sich, dass sich das aus der Warenverkehrsfreiheit entlehnte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht auf den Beweistransfer übertragen lässt, ohne dass die in sich konsistenten Strafverfahrensordnun201  s.  a. EuGH v. 21.9.1989, Rs. 68/88 Slg. 1989, 2965. Vgl. hierzu auch die Ausführungen im 2. Teil der Arbeit unter D. I., II. 3. und unter III.; vgl. auch die Kritik von Böse, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (2004), S. 151 (180) und Satzger, Gefahren für eine effektive Verteidigung im geplanten europäischen Verfahrensrecht, in: StV 2003 (Beilage), 137 f. 202  Vgl. allgemein zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Bereich des Strafverfahrens die Ausführungen in der Einleitung unter B. II. 2. a). Vgl. zur Kritik ebenso Nestler, Europäisches Strafprozessrecht, in: ZStW 116 (2004), 332 (342); Satzger, Gefahren für eine effektive Verteidigung im geplanten europäischen Verfahrensrecht, in: StV 2003 (Beilage), 137 (139); Schünemann, Bürgerrechte ernst nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens!, in: StV 2003, 116 (119); anschaulich Sommer, Die Europäische Staatsanwaltschaft, in: StV 2003 (Beilage), 126: „Die erste Vernehmung wird man nicht in Spanien durchführen, wenn man auf die Anwesenheit des Verteidigers keinen großen Wert legt. Statt dessen würden sich Frankreich, Österreich oder die Niederlande anbieten, die den Verteidiger bei der polizeilichen Vernehmung ausschließen (…). Zur Schaltung einer – europaweiten – Telefonüberwachung bietet sich eine Rückkehr zum spanischen Ermittlungsrichter an, der eine solche Maßnahme nicht vom Vorliegen einer Katalogtat oder der Definition besonders schwerer Kriminalität abhängig macht, sondern dies bei jeder Staftat anordnen kann. Soll eine zwangsweise körperliche Untersuchung des Beschuldigten zu Beweismitteln führen, empfiehlt sich abzuwarten, bis der Beschuldigte die Niederlande verlassen hat; dort wäre eine solche Maßnahme nicht zulässig.“

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

gen der Mitgliedstaaten eine Durchbrechung erfahren würden.203 Die Rechtssysteme bilden eine je für sich geschlossene Ordnung. Ermittlungsverfahren, Zwischen- und Hauptverfahren sind aufeinander abgestimmt und bilden insgesamt eine Einheit. Die Erhebung von Beweisen im Ermittlungsverfahren und deren anschließende Verwertung in der Hauptverhandlung lassen sich daher nicht bruchlos auseinanderreißen. Der erhobene Beweis selbst ist kein in sich fertiges Produkt, das einfach in einen anderen Mitgliedstaat transportiert werden könnte.204 Vielmehr muss er noch in das Erkenntnis- und Hauptverfahren eingeführt, bewertet und verwertet werden. Die unterschiedlichen Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten divergieren diesbezüglich, da die Ausgestaltung der verschiedenen Verfahrensabschnitte mit der jeweiligen Strafverfahrensordnung der Mitgliedstaaten zusammenhängt.205 So variiert die Wertigkeit der einzelnen Beweise und ihre Einführung in das Haupterfahren in den europäischen Staaten erheblich, was den unterschiedlich stark ausgeprägten Verfahrensgrundsätzen in den einzelnen Ländern geschuldet ist. Während beispielsweise das angelsächsische Recht dem Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz eine herausgehobene Stellung beimisst und daher für den Zeugenbeweis verlangt, dass der jeweilige Zeuge vor Gericht selbst aussagt, lässt das französische Strafverfahrensrecht auch die Verlesung eines Zeugenprotokolls zu.206 Dies rührt daher, dass bereits kurz nach dem Tatgeschehen ein offizielles Organ das Protokoll aufgenommen hat, welches dann als solches Schriftstück in die Hauptverhandlung eingeführt werden kann, weil es als besonders zuverlässig gilt.207 Die Übertragung des aus dem Warenverkehr entstammenden Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf den strafrechtlichen Beweistransfer hinter203  Deutlich auch Radtke, Der Europäische Staatsanwalt, in: GA 2004, 1 (17); Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 2003, 131 (146 ff.); dies., Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in ZStW 2004, 353 (365 ff.); Böse, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (2004), S.  151 (155 ff.). 204  Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 2003, 131 (148); Böse, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Straf­ sachen, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (2004), S. 151 (156). 205  Radtke, Der Europäische Staatsanwalt, in: GA 2004, 1 (17); Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 115 (2003), 131 (140); Böse, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (2004), S. 151 (156); Nestler, Europäisches Strafprozessrecht, in: ZStW 116 (2004), 332 (346). 206  Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 115 (2003), 131 (140). 207  Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 115 (2003), 131 (140).



E. Unionale Strafverfolgungsmaßnahmen393

lässt nicht nur prinzipielle Brüche in den mitgliedstaatlichen Strafverfahrensordnungen, sondern wirkt sich unmittelbar auf die Rechte des Beschuldigten aus. Denn das Prozessgericht muss einen Beweis verwerten, den es auf der Grundlage seiner Rechtsordnung nicht hätte erheben und verwerten können, welches aber in ihrem Namen ergeht. Abgesehen davon, dass dem Betroffenen dadurch ein Recht oktroyiert wird, welches nicht er selbst, sondern ein fremder Gesetzgeber legitimiert hat,208 wird die Balance zwischen den Grund- und Verfahrensrechten des Betroffenen einerseits und dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung andererseits durch die Kombination unterschiedlicher Verfahrensordnungen gestört.209 Die verschiedenen Verfahrensordnungen weisen ein besonderes System auf, in dem beispielsweise bei der Beweisgewinnung in bestimmten Bereichen niedrigere Eingriffsschwellen vorausgesetzt, dafür aber durch höhere Erfordernisse an anderer Stelle wieder aufgewogen werden.210 In Frankreich fehlt z. B. eine Auflistung eines Straftatenkataloges für die Anordnung der Telefon­ überwachung, die aber dadurch ausgeglichen wird, dass eine Telefonüberwachung nur durch den Untersuchungsrichter nach Eröffnung einer gerichtlichen Voruntersuchung angeordnet werden kann, nicht jedoch durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei.211 Zwar macht Art. 30 Abs. 1 die Einschränkung, dass die Zulassung der Anerkennung eines Beweises nur erfolgen darf, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass sie sich nicht negativ auf die Fairness des Verfahrens oder die Verteidigungsrechte auswirkt (unter Verweis auf Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union), jedoch erfolgt dadurch noch keine echte Grenzbestimmung. So benennen die genannten Artikel nur das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein unparteiisches Gericht (Art. 47), die Unschuldsvermutung und allgemein die Gewährleistung der Verteidigungsrechte (Art. 48), geben aber keine konkreten Vorgaben für das Beweisrecht im Strafverfahren. Erst recht enthalten sie keine Systematik von bestimmten Beweisregeln, diese sollen sich vielmehr aus 208  s. a. Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 115 (2003), 131 (147). 209  Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 115 (2003), 131 (147); Schünemann, Bürgerrechte ernst nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens!, in: StV 2003, 116 (119); Böse, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (2004), S. 151 (155). 210  Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 115 (2003), 131 (147). 211  Beispiel bei Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, in: ZStW 115 (2003), 131 (147). s. zur Kritik auch Schünemann, Bürgerrechte ernst nehmen bei der Europäisierung des Strafverfahrens!, in: StV 2003, 116 (119) mit weiteren Beispielen.

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5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

den nationalen Rechtsordnungen ergeben, wie Art. 26 deutlich macht. Ebenso wenig bietet der allgemeine Hinweis auf die Verfahrensfairness eine konkrete Grenze hinsichtlich der Beweiszulassung, da auch hier das Gericht zwischen dem Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren einerseits und dem Interesse der Europäischen Staatsanwaltschaft an einer effektiven Strafverfolgung Europäischer Rechtsgüter andererseits steht. c) Schließlich kann die Europäische Staatsanwaltschaft das Prozessgericht bestimmen, bei welchem sie Anklage erhebt. Zwar nennt der Verordnungsvorschlag einzelne Kriterien, die zu beachten sind, dennoch verbleibt der Europäischen Staatsanwaltschaft ein erheblicher Ermessensspielraum. Ein solcher lässt sich jedoch nicht mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters212 in Einklang bringen, der in fast allen europäischen Mitgliedstaaten ausdrücklich garantiert wird, sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt und in Art. 47 Abs. 2 GRCharta normiert ist.213 Die Einführung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters stellte gerade eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts dar und richtete sich gegen jede Form der Kabinettsjustiz, er sollte die Macht der staatlichen Exekutive bannen.214 Der Beschuldigte soll auch vorhersehen können, vor welchem Gericht die ihm vorgeworfene Tat verhandelt wird. Die Gerichtsverfassung, die Strafprozessordnung und auch die Geschäftsverteilungspläne der Gerichte der Mitgliedstaaten stellen diese Vorhersehbarkeit sicher und überlassen der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit der Gerichte daher nur einen eingeschränkten Ermessensspielraum. Durch den weiten Ermessensspielraum seitens der Europäischen Staatsanwaltschaft bei der Wahl des Prozessgerichts ist eine solche Vorhersehbarkeit nicht mehr gegeben, so dass auch die Verteidigungssituation des Angeklagten wesentlich erschwert wird. Ein deutscher Staatsbürger kann beispielsweise vor einem belgischen Gericht angeklagt werden, weil das Opfer dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, während die Beweismittel in Italien (und damit nach italienischem Recht) erhoben wurden. Eine effektive Verteidigung wird angesichts der unterschiedlichen Rechtsordnungen, der Sprachbarrieren und der räumlichen Entfernung kaum möglich sein.215 Von einer Verfahrensbalance zwischen 212  s. hierzu

auch die Ausführungen im 3. Teil unter D. V. 3. Gefahren für eine effektive Verteidigung im geplanten europäischen Verfahrensrecht, in: StV 2003 (Beilage), 137 (140); Braum, Europäisches Strafrecht im administrativen Rechtsstil, in: ZRP 2002, 508 (512). 214  Vgl. hierzu auch Maunz, in: ders./Dürig, GG-Kommentar, 77. Ergänzungslfg. (2016), Art. 101 Rn. 1 m. w. N.; deutlich auch BVerfG NJW 1956, 545. 215  Das Grünbuch der Europäischen Kommission „zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“ begründet das weite Ermessen der Europäischen Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Auswahl des Prozessgerichts u. a. damit, dass der Beschuldig213  Satzger,



F. Ergebnis395

den Verfahrensbeteiligten in dem Sinne, dass auch der Beschuldigte eine faire Chance hat, die von den Strafverfolgungsbehörden zusammengetragenen belastenden Beweise kritisch zu prüfen und Stellung zu beziehen, kann dann nicht mehr die Rede sein. Hinzu kommt, dass die Europäische Staatsanwaltschaft angesichts ihrer Zielbestimmung, wie sie in dem Verordnungsvorschlag ihren Ausdruck findet, nämlich eine effiziente und effektive Ermittlung und Strafverfolgung zu erreichen, die zu mehr Verurteilungen führt und zur Einziehung rechtswidrig erlangter Unionsmittel, im Zweifelsfall bestrebt sein muss, das Prozessgericht in dem Mitgliedstaat wählen wird, bei welchem aus seiner Sicht die Verurteilung besonders wahrscheinlich ist. So erscheinen die englischen Gerichte „als optimales Feld für den europäischen Staatsanwalt zur Anklage­ erhebung, wenn dem Gericht negative Schlussfolgerungen aus dem bisherigen Schweigen des Beschuldigten nahegelegt werden sollen. Sollte demgegenüber ein Zeuge vom Hörensagen maßgebliches Beweismittel darstellen, wird die Staatsanwaltschaft mit ihrer Anklage die Flucht zum Festland antreten, da nur dort ein solches Beweismittel Grundlage für die Überzeugungsbildung eines Gerichts sein kann“.216 Mit einem an Rechtsprinzipien orientierten Strafverfahren lassen sich solche funktionalen Erwägungen nicht in Einklang bringen.

F. Ergebnis Das Fehlen eines Europäischen Staatsvolkes ist keine bloße Formalie, die durch mehr Parlamentsbeteiligung, sei es der mitgliedstaatlichen Parlamente, sei es des Europäischen Parlaments reguliert werden könnte. Das Volk als eine „Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ bildet die materielle Basis des Staates überhaupt. Solange die Europäische Union kein eigenes Staatsvolk hat, können sich die für einen Rechtsstaat notwendigen Strukturprinzipien nicht realisieren. Das Europäische Recht setzt demgegenüber an bereits bestehende Rechtsstaaten an und ist insofern auch anders ausgerichtet. Ausgangspunkt der Europäischen Gemeinschaft war es zunächst, den Frieden in Europa durch die Vergemeinschaftung der Schlüsselindustrien zu te für die Grenzüberschreitung selbst verantwortlich sei, da er in mehreren Mitgliedstaaten tätig war (KOM [2001] 715 endg., S. 79). Ein derartiger Hinweis stellt einen augenfälligen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar. Denn bei Anklageerhebung steht gerade noch nicht fest, ob der Beschuldigte auch tatsächlich Täter oder Teilnehmer der Tat war. So zutreffend Satzger, Gefahren für eine effektive Verteidigung im geplanten europäischen Verfahrensrecht, in: StV 2003 (Beilage), 137 (140). 216  Sommer, Die Europäische Staatsanwaltschaft, in: StV 2003 (Beilage), 126; vgl. auch Braum, Europäisches Strafrecht im administrativen Rechtsstil, in: ZRP 2002, 508 (513).

396

5. Teil: Die Europäische Union als supranationale Rechtsordnung

sichern und durch weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stützen.217 Der Wille der Union bezieht sich damit nicht auf die Konstitution eines freiheitlichen Zusammenschlusses eines Volkes, sondern ihr Anliegen ist eine Vereinigung von Einzelstaaten. Mit dem Fortschreiten der Vergemeinschaftung, insbesondere der Öffnung der Grenzen und der engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit korrespondieren Änderungen auf anderen Gebieten, wie im Bereich des Strafrechts. Dieses berührt jedoch in besonderem Maße die Freiheitsrechte des Einzelnen. Im 3. Teil wurde dargelegt, dass das Strafrecht selbst Teil der Staatsbegründung und daher auch nicht nur zufällig an staatliche Strukturen gebunden ist. Ein Recht zu strafen ergibt sich erst im Rahmen eines öffentlichen Staatszustandes. Das Strafrecht und seine Ausübung sind damit auf diese Form angewiesen. Eine Übertragung von strafrechtlichen Legislativbefugnissen auf eine dem Staat übergeordnete, europäische Ebene ist daher nicht bruchlos möglich. Gemeint ist damit keine Ablehnung des europäischen Einigungsprozesses oder der Europäischen Institutionen insgesamt. Der dem vorliegenden Ergebnis wiederholt entgegengehaltene Vorwurf, er stelle ein veraltetes, unzeitgemäßes nationalstaatliches Denken dar, welches nicht flexibel genug wäre, sich auf neue globale Zeiten einzustellen, verkennt, dass es allein um das Pochen auf die Notwendigkeit geht, den freien Einzelnen als Ausgangsund Zielpunkt von Recht zu setzen. Aus ihm ergeben sich Strukturnotwendigkeiten von Rechtsverhältnissen, die auch bei der Legitimation von su­ pranationalem Recht zu beachten sind. Obwohl sich die Union gerade die Sicherung der Freiheit des Einzelnen zum Ziel gesetzt hat und dabei auch bemüht ist, demokratische Grundsätze zu realisieren sowie institutionelle Kontrollmechanismen einzubauen, kann sie ihr Anliegen letztlich nicht praktisch einlösen, sondern muss sich insbesondere exekutivistisch organisieren. Den Regelungen der Union liegt nicht die Vorstellung zu Grunde, auf die Allgemeinheit bezogene Regelungen zu schaffen, sondern – bedingt durch die „natürliche“ Heterogenität der Mitgliedstaaten – einen für ihren Zusammenschluss und ihre Zusammenarbeit förderlichen politischen Kompromiss zu finden. Diese Kompromissfindung folgt jedoch anderen Prinzipien, als denjenigen, die hier für die Legitimation eines Strafrechts als notwendig vorgestellt wurden. Das Unionsrecht ist final orientiert. Ihm geht es vor allem um die Durchsetzung und Sicherung der Unionsziele. Das Strafrecht soll dabei ein Mittel darstellen, um sie zu erreichen, und ist daher notwendig funktional ausgerichtet. Sowohl im Rahmen der Harmonisierung des materiellen Strafrechts als auch des Verfahrensrechts geht es der Union 217  Vgl. hierzu zusammenfassend Everling, Die Europäische Union als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht 2009, S. 963 ff.



F. Ergebnis397

hier primär um eine effektive und abschreckende Strafbekämpfung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union. Dahinter tritt der einer freiheitlichen Strafrechtsbegründung immanente Gedanke eines gerechten Schuldausgleichs bzw. der Sicherung eines justizförmigen Strafverfahrens zurück. Jedoch darf auch und gerade im internationalen Recht die Freiheit des Einzelnen nicht zugunsten von Effizienz- und Präventionserwägungen verloren gehen. Es muss daher ein Weg gefunden werden, bei dem der freie Einzelne als Mitbegründer des Rechts nicht aus dem Blickfeld gerät. So haben auch die Gründer der Montanunion betont: „(N)icht der Staat, sondern der Mensch“ soll maßgeblicher Bezugspunkt sein und das Recht soll schaffen, „was Blut und Eisen in Jahrhunderten nicht vermochten“. Die Europäische Union als „Gegenprojekt zum Absolutismus des Staates“ darf somit nicht in sein Gegenteil, einem „despotischen Europa“ verkehrt werden, allein um eine „effiziente Verbrechensbekämpfung“ zu gewährleisten. Abschließend soll daher auf die aus dem vorliegenden Begründungszusammenhang folgenden prinzipiellen Möglichkeiten einer legitimen europäi­ schen Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts eingegangen werden.

Folgerungen: Möglichkeiten einer legitimen europäischen Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts A. Einleitung Die Absage an ein genuines Europäisches Strafrecht führt nicht dazu, dass es nicht Formen legitimer europäischer Kooperationen im Strafrecht geben kann. Auch soll nicht die Europäische Integration insgesamt in Frage gestellt werden und damit ebenso wenig das Zusammenwirken europäischer Einzelstaaten in anderen Bereichen (wie z. B. im Rahmen des Verbraucherschutzes), welche eigenen Gesetzlichkeiten unterliegt. Vielmehr hat sich die Arbeit auf die Frage konzentriert, inwieweit eine Rechtsangleichung oder -vereinheitlichung auf strafrechtlichem Gebiet legitim ist. Das Spannungsverhältnis zwischen der Europäischen Idee der Freiheit und der Etablierung eines sog. „Europäischen Strafrechts“ ist nach dem vorliegenden Begründungszusammenhang nur dann aufzulösen, wenn die europäische Zusammenarbeit in diesem Bereich so geartet ist, dass die Souveränität der Mitgliedstaaten erhalten bleibt. Möglich ist damit eine Europäisierung des Strafrechts im einzelstaatlichen Recht, nicht jedoch die Schaffung eines eigenständigen Europäischen Strafrechts. Auf die Notwendigkeit einer europäischen Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts zwischen Einzelstaaten bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Souveränität auf diesem Gebiet hat schon Weigend auf der Strafrechtslehrertagung 1993 in seinem Referat „Strafrecht durch internationale Vereinbarungen – Verlust an nationaler Strafrechtskultur?“ hingewiesen: „Europäische, vielleicht sogar weltweite Gemeinsamkeit ist notwendig, soweit supranationale Interessen des gleichmäßigen Schutzes durch Strafrecht bedürfen. Gemeinsamkeit ist wünschenswert bei der Anerkennung der Mindeststandards des Menschenrechtsschutzes, speziell im Strafverfahren. Im Übrigen bedarf es auch in Zukunft keiner vereinheitlichten ‚europäischen Strafrechtsordnung‘, sondern der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Staaten auf der Grundlage der Achtung nationaler Traditionen.“1 Die im fünften Teil herausgearbeiteten Kritikpunkte gegenüber einzelnen das Strafrecht betreffenden Bestimmungen des Vertrages von Lissabon und 1  Abgedruckt

in: ZStW 1993, 774 (802).



B. Die Union als Verbund souveräner Rechtsstaaten399

ihren Konkretisierungen in einem aktuellen Richtlinien- und Verordnungsentwurf sollen im Folgenden für eine mögliche Koordinierung einzelstaat­ licher Regelungen im strafrechtlichen Bereich (unter C.) sowie einer mögli­ chen Zusammenarbeit im Strafverfahren (unter D.) fruchtbar gemacht werden. Zunächst ist jedoch kurz an die Grundbestimmung der Union als Verbund souveräner Staaten unter Berücksichtigung der basalen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon in Verbindung mit der vorgestellten rechtsphilosophischen Grundlegung zu erinnern (unter B.).

B. Die Union als Verbund souveräner Rechtsstaaten Das Bundesverfassungsgericht hat die Europäische Union als „Staatenverbund“2 bezeichnet. Das Gericht definiert den Begriff des Verbundes als „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“3 Mit seiner Definition des Staatenverbundes macht das Gericht deutlich, dass auch im Rahmen der europäischen Integration erstens die Subjekte, die Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten, Ausgangspunkt demokratischer Legitimation bleiben müssen. Daher müssten insbesondere Entscheidungen im Rahmen von Grundrechtseingriffen auf einen frei gebildeten Mehrheitswillen des Volkes zurückreichen. Die Bürger dürfen keiner politischen Gewalt unterworfen sein, der sie nicht ausweichen können und die sie nicht prinzipiell personell und sachlich zu gleichem Anteil in Freiheit zu bestimmen vermögen.4 Zweitens müssen die Einzelstaaten, so das Gericht, im Verhältnis zur Europäischen Union ihre Souveränität erhalten. Das Grundgesetz ermächtige nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität aufzugeben. Die Mitgliedstaaten müssen vielmehr dauerhaft „Herren der Verträge“ bleiben.5 Drittens bilden nach Auffassung des Gerichts Verträge die Grundlage der Verbindung zwischen den Einzelstaaten. Demgegenüber könne es für die 2  BVerfGE

123, 123, 4  BVerfGE 123, 5  BVerfGE 123, 3  BVerfGE

267. 267 (Leitsatz 1, 348). 267 (341). 267 (346 ff.).

400

Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

europäische Unionsgewalt kein eigenständiges Legitimationssubjekt geben, das sich unabgeleitet von fremdem Willen und damit aus eigenem Recht gleichsam auf höherer Ebene verfasse.6 Der vom Bundesverfassungsgericht verwendete Begriff und seine aus ihm folgenden Grundbestimmungen des „Staatenverbundes“ decken sich in seiner Basis mit dem hier dargelegten Begründungszusammenhang. So wurde im dritten Teil der Arbeit aufgewiesen, dass notwendig an der Freiheit des Einzelnen anzusetzen ist, um rechtliche Prinzipien überhaupt zu begründen. Im Rechtsstaat gibt der Einzelne seine Freiheit nicht zugunsten einer ihm vorgesetzten Macht auf, sondern der Staat muss in seinen Konstitutionsbedingungen auf das freie Subjekt rückführbar sein. Der Staat muss notwendig Strukturen aufweisen, die der Form des freien Handelns entsprechen. Voraussetzung ist, dass einerseits der einzelne Bürger selbst Mitkonstituent des Rechts ist (Volkssouveränität) und andererseits eine Dreiteilung der Gewalten, analog eines kategorischen Vernunftschlusses praktischen Handelns, in Legislative, Exekutive und Judikative gegeben ist. Die Prinzipien des Rechtsstaates wie repräsentative Demokratie und Gewaltenteilung sind somit freiheitsrealisierende Vernunftnotwendigkeiten, die gerade für den freiheitssensiblen Bereich des Strafrechts von besonderer Bedeutung sind. Im vierten Teil der Arbeit wurde im Rahmen der rechtlichen Verhältnisse der Staaten zueinander und ihrer Bürger untereinander dargelegt, dass es zur dauerhaften Friedenssicherung notwendig ist, dass sich (benachbarte) Staaten durch Vertrag freiwillig zu einem Völkerstaatenbund zusammenschließen. Dabei müssen die souveränen Einzelstaaten erhalten bleiben, sie sind „Herren des Vertrages“. Die Staaten stehen in einem Gleichheitsverhältnis nebeneinander, das eine Hierarchisierung nicht zulässt. Ebenso wenig verlangt das Weltbürgerrecht die Konstitution einer den Staaten übergeordneten Zwangsgewalt, vielmehr soll es den Bürgern vor allem einen Austausch mit anderen Staaten und deren Bürgern ermöglichen. Insgesamt wurde damit gezeigt, dass Staats-, Völkerstaaten- und das Weltbürgerrecht Notwendigkeiten zur Friedenssicherung in einer gemeinsamen Welt darstellen. Auch die Väter der Europäischen Gemeinschaft sahen in einer dauerhaften Friedenssicherung die Gewähr für die Sicherung freiheitlicher Verhältnisse. Ebenso nennt der Unionsvertrag selbst in Art. 2 EUV als grundlegende „Werte“ zunächst die Achtung der Menschenwürde und die Freiheit sowie in Art. 3 Abs. 1 EUV an erster Stelle das Unionsziel der Friedenssicherung. 6  BVerfGE

123, 267 (349).



C. Koordinierungsmöglichkeiten mitgliedstaatlicher Rechtsetzung401

Soll der freie Einzelne auch im Rahmen internationaler bzw. europäischer Rechtsverhältnisse Ausgangspunkt bleiben, so dürfen Legislativbefugnisse, insbesondere im freiheitsbedeutsamen Bereich des Strafrechts, nicht auf eine den Staaten übergeordnete internationale oder europäische Ebene übertragen werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat im Grundsatz festgestellt, dass die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten, über den Rang von Rechtsgütern und den Sinn und das Maß der Strafandrohung in besonderem Maße dem demokratischen Entscheidungsprozess überantwortet sei. Eine Übertragung von Hoheitsrechten über die intergouvernementale Zusammenarbeit hinaus dürfe in diesem grundrechtsbedeutsamen Bereich nur für bestimmte grenzüberschreitende Sachverhalte unter restriktiven Voraussetzungen zu einer Harmonisierung führen; dabei müssten den Mitgliedstaaten jedoch grundsätzlich substantielle Handlungsfreiräume erhalten bleiben.7

C. Koordinierungsmöglichkeiten mitgliedstaatlicher Rechtsetzung im Bereich des materiellen Strafrechts Im Folgenden soll skizziert werden, wie eine legitime Zusammenarbeit der Einzelstaaten in der Union als Verbund souveräner Mitgliedstaaten nach freiheitlichen Prinzipien aussehen könnte. Ist im Bereich des Strafrechts zwar eine Übertragung von unmittelbaren Rechtssetzungsbefugnissen auf die europäische Ebene nicht legitim, können jedoch durch Verträge Gesetze koordiniert werden (unter I.). Allerdings kann auch nicht jedes Rechtsgut hier Gegenstand der Europäisierung sein, sondern nur ein solches, das für die Union entweder selbst konstitutiv ist oder in besonderer Weise den gemeinschaftlichen Lebens- und Rechtsraum betrifft (unter II. 1.). Dabei müssen die in der Arbeit erörterten grundlegenden, materiellen Rechtsprinzipien, die auch im „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“ vorgetragen wurden, Beachtung finden (unter II. 2.).

I. Mögliche Handlungsform: Rahmenverträge Die Souveränität der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts bleibt gewahrt, wenn eine Angleichung der Rechtsvorschriften auf vertraglicher Basis erfolgt. Das setzt zum einen voraus, dass die Angleichung unter allen Mitgliedstaaten konsentiert ist und zum anderen, dass eine Transformation durch den Gesetzgeber der Einzelstaaten in das jeweilige nationale Recht erfolgt. Schließlich muss diesem bei der Rechtssetzung ein echter Umsetzungs- und Gestaltungsspielraum verbleiben. 7  BVerfGE

123, 267 (360) unter Verweis auf BVerfGE 113, 273 (298 f.).

402

Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

Beispiel für ein solches vertragliches Konzept kann ein Rahmenvertrag zwischen den Mitgliedstaaten sein. Der Begriff des Vertrages macht deutlich, dass nur diejenigen Mitgliedstaaten an den Vertrag gebunden sind, die ihm auch zugestimmt haben. Die Union selbst bildet demgegenüber kein eigenständiges Legitimationssubjekt mit eigenständigen Legislativbefugnissen. Zudem muss den Einzelstaaten ein echter Umsetzungsspielraum verbleiben, dieser dürfte auch nicht – wie in der Vergangenheit im Bereich der Rahmenbeschlüsse – dadurch aufgeweicht werden, dass der Rahmenvertrag Mindesthöchststrafen oder Mindestverjährungsregeln vorgibt8 oder mitgliedstaatliche Behörden oder Gerichte durch die Rechtsprechung des EuGH verpflichtet werden, ihr nationales Recht im Einklang mit dem Wortlaut und Zweck des Rahmenvertrages auszulegen9. Vielmehr ist der Begriff des Rahmens ernst zu nehmen, d. h. die jeweiligen Einzelstaaten bestimmen eigenständig die Tatbestandsvoraussetzungen und die Rechtsfolgen (Strafe oder ordnungsrechtliche Sanktionen) ebenso wie Regelungen, die den Allgemeinen Teil des Strafrechts betreffen (z. B. Vorsatz und Fahrlässigkeit oder Fragen der Beteiligung an einer Straftat). Nur dann ist gewährleistet, dass die Souveränität der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts erhalten und auch die jeweiligen (Straf-)Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in sich kohärent bleiben.

II. Bestimmung möglicher Europäischer Rechtsgüter unter Beachtung materieller Rechtsprinzipien 1. Für die Angleichung im Bereich des Strafrechts kommen nur solche Rechtsgüter in Betracht, die für die Existenz der Union und ihre Funktionsfähigkeit sowie für die Durchsetzung spezifischer unionaler Rechtsbereiche von Bedeutung sind.10 Demgegenüber kann eine Strafrechtsangleichung 8  So aber z.  B. der Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung in Art. 5 Abs. 3, der hinsichtlich bestimmter terroristischer Akte die Mindesthöchststrafe auf 15 Jahre festgesetzt hat (2008/919/JI, Abl. 2008 Nr. L 330/21); ebenso der Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels in Art. 3 Abs. 2 lit. a) (2002/629/ JI, Abl. 2002 Nr. 203/1). Vgl. insgesamt auch die Kritik des „Manifestes zur Europäischen Kriminalpolitik“, in: ZIS 2009, 697 (705 f.). 9  So der EuGH in seiner Entscheidung von v. 16.6.2005, Rs C-105/05, Slg. 2005, I-5285 – Maria Pupino; vgl. hierzu auch die Ausführungen in der Einleitung unter B. I. 1. 10  Damit ist noch nicht geklärt, welcher konkrete Maßstab für die Bestimmung einzelner Rechtsgüter herangezogen werden muss. Das bedürfte einer grundlegenden Ausarbeitung, die hier im Rahmen eines bloß kursorischen Umrisses in Bezug auf die Möglichkeiten einer europäischen Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts nicht geleistet werden kann. Vgl. hierzu schon Dieblich, Der strafrechtliche Schutz der Rechtsgüter der Europäischen Gemeinschaften (1985).



C. Koordinierungsmöglichkeiten mitgliedstaatlicher Rechtsetzung403

nicht allein damit begründet werden, dass sie zur Sicherung der Durchsetzung von Unionspolitiken notwendig ist.11 Es muss sich vielmehr um Rechtsgüter handeln, welche gerade die Union selbst konstituieren und somit für ihr Bestehen notwendig sind. Darunter fallen vor allem neben dem Vermögen der Union (sog. Schutz ihrer Finanzinteressen, z. B. Geldfälschung) auch solche Delikte, die die Ordnungsmäßigkeit der Amtsführung innerhalb europäischer Institutionen zum Gegenstand haben (wie z. B. Bestechung, Bestechlichkeit und die missbräuchliche Verwendung von Geldern durch Amtsträger).12 Bedingt durch den gemeinschaftlichen Lebensraum können zudem beispielsweise die Umwelt und aufgrund eines gemeinschaftlichen Wirtschaftsraums auch der Wettbewerb europäische Rechtsgüter darstellen. Für eine strafrechtliche Rechtsangleichung bedarf es aber in diesen Bereichen einer besonderen Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes, d. h. sie kommt nur in Betracht, wenn eine solche notwendig ist, weil das betroffene Rechtsgut wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen eine gemeinschaftliche Regelung erfordert und sich nicht sinnvollerweise nur von einzelnen Mitgliedstaaten regeln lässt.13 So können mehrere Mitgliedstaaten durch bestimmte Auswirkungen im Bereich der Umweltdelikte betroffen sein, da sie nicht vor einzelstaatlichen Grenzen Halt machen. Ebenso kann es aufgrund der Schaffung eines gemeinsamen, marktwirtschaftlich geprägten Binnenmarktes erforderlich sein, dass ein gemeinsames System des unverfälschten Wettbewerbs errichtet wird. Daher ist z. B. ein Rahmenvertrag bzgl. eines gemeinschaftlichen Ordnungsrechts (Strafrecht im weiteren Sinne), wie ein europäisches Kartellverbot oder ein Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung denkbar (vgl. Art. 101 und 102 AEUV). Allerdings bedeutet dies nicht, dass automatisch alle einzelnen Erscheinungsformen in diesen Bereichen eine europäische Rechtsangleichung nach sich ziehen. Voraussetzung ist eine eingehende Prüfung der Subsidiarität und keine bloß formelhafte Bejahung derselben, wie sie z. B. im Erwägungsgrund 14 der „Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt“14 zu finden 11  So aber wohl Hecker, Europäisches Strafrecht, 5.  Aufl. (2012), Kapitel 7 Rn. 31, der als „europäische Rechtsgüter“ auch solche ansieht, die für die Durchsetzung der europäischen Politiken von Bedeutung sind. Wie hier das „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“, in: ZIS 2009, 697 und 699 f. mit Beispielen. 12  Vgl. insoweit auch die im Richtlinienentwurf der Kommission „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug“ vorgeschlagenen Tatbestände (KOM[2012] 363 final). s. a. Köhler, Rechtsstaatliches Strafrecht und Europäische Rechtsangleichung, in: FSMangakis (1999), S. 751 (756). 13  Vgl. auch Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, in: ZIS 2013, 697 (699). 14  RL 2008/99/EG vom 19. November 2008, ABl. 2008 Nr. L 328/28.

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Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

ist: „Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich die Sicherstellung eines wirksameren Umweltschutzes, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen dieser Richtlinie besser auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen sind, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrages niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden“.15 Das Subsidiaritätsprinzip (vgl. auch Art. 5 Abs. 3 EUV) verlangt vielmehr eine nähere Begründung dafür, dass die Ziele auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht ausreichend erreicht werden können und dass sie daher wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen allein auf europäischer Ebene erreicht werden können. So kann z. B. die Einleitung, Abgabe oder Einbringung einer Menge von Stoffen oder ionisierenden Strahlungen in die Luft, den Boden oder das Wasser, die schwerwiegende Folgen für das Leben oder die Gesundheit von Menschen haben (vgl. Art. 3 lit. a) der RL16), nicht nur einen Mitgliedstaat treffen, sondern aufgrund ihrer Wirkweise ebenso grenzüberschreitende Auswirkungen haben, so dass ein gemeinschaftliches strafrechtliches Vorgehen gegen bestimmte Verhaltensweisen auf europäischer Ebene notwendig ist. Fraglich ist demgegenüber, ob es erforderlich ist, dass jedes Verhalten, das eine erhebliche Schädigung innerhalb eines geschützten Gebiets verursacht (vgl. Art. 3 lit. h) der RL17), einer Rechtsangleichung bedarf, wenn dieses Gebiet in sich abgrenzbar ist und jeweils nur ein Mitgliedstaat davon betroffen sein kann. 2.  Ferner müssen auch im Rahmen der Vertragsbindung materielle Prinzipien beachtet werden, die einem rechtsstaatlichen Strafrecht immanent sind. Erstens darf sich die Notwendigkeit des unionsvertragsrechtlichen Strafrechtseinsatzes nicht allein auf Effizienz- oder Sicherheitsinteressen und damit auf bloße general- oder spezialpräventive Aspekte stützen. Vielmehr muss das Tatunrecht selbst in den Blick genommen werden, d. h. es muss eine fundamentale Rechtsverletzung vorliegen, die die Rechtsfolge Strafe rechtfertigen kann.18 Legitim kann daher beispielsweise das strafbewehrte Verbot der vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Einleitung, Abgabe oder Einbringung einer Menge von Stoffen oder ionisierenden Strahlen in die Luft, den Boden oder das Wasser sein, die den Tod von Personen oder erhebliche Schäden hinsichtlich der Luft, des Bodens oder der Wasserqualität verursachen (vgl. Art. 3 lit. a der RL19). Demgegenüber ist es nicht ausreichend, wenn Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden sollen, 15  Vgl. zu weiteren Beispielen das „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“, in: ZIS 2009, 697 (704 f.). 16  Richtlinie 2008/99/EG, ABl. 2008 Nr. 328/28. 17  Richtlinie 2008/99/EG, ABl. 2008 Nr. 328/28. 18  Vgl. hierzu auch die Ausführungen im 3. Teil unter D. II. 1. m. w. N. 19  Richtlinie 2008/99/EG, ABl. 2008 Nr. 328/28.



C. Koordinierungsmöglichkeiten mitgliedstaatlicher Rechtsetzung405

weil sie bestimmte Formalien nicht wahren. So soll z. B. nach Art. 3 lit. der Umweltstrafrechtsrichtlinie eine strafbare Handlung vorliegen, wenn die Verbringung von Abfällen ohne Benachrichtigung aller beteiligten Behörden erfolgt (vgl. Art. 2 Nr. 35 lit a VO (EG) 1013 / 2006). Hier liegt ein bloßes Ordnungsunrecht vor, dass eine Bestrafung nicht rechtfertigen kann.20 Zweitens muss das Schuldprinzip gewahrt bleiben. Es darf keine dem Schuldprinzip entgegenstehenden Sanktionen vorgesehen werden. Dass die Bemessung des konkreten Strafmaßes überhaupt den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern überlassen bleiben muss, wurde schon dargelegt. Eine Verpflichtung zur Bestrafung juristischer Personen könnte zudem nicht vertraglich festlegt werden, weil sich eine Kriminalisierung solcher Personen nicht mit dem Schuldprinzip als persönlicher Vorwerfbarkeit vereinbaren ließe und daher in Deutschland auch nicht vorgesehen ist.21 Drittens verlangt das Bestimmtheitsgebot, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit hinreichend deutlich umschrieben werden. Der Normbetroffene soll erkennen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist.22 Das bedeutet insbesondere, dass im Rahmenvertrag keine Verweisungsketten auf einzelne Bestimmungen des Unionsrechts oder weitere Verträge der europäi­ schen Mitgliedstaaten erfolgen dürfen, die von den Mitgliedstaaten in ihr Recht übernommen werden müssen. Als Negativbeispiel mag auch hier die Richtlinie zum Umweltstrafrecht dienen (vgl. nur Art. 3 lit c)23. Denn dadurch würde unter dem Deckmantel des Vertrages genuines Unionsstrafrecht eingeführt. Der einzelstaatliche Gesetzgeber wäre dann nicht mehr in der Lage, eigenes Recht zu setzen, sondern müsste mit unbestimmten Verweisungsklauseln arbeiten, was mit dem auch in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Bestimmtheitsgrundsatz nicht kompatibel wäre.24

20  s. hierzu auch das „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“, in: ZIS 2009, 697 (701). 21  Näher Kelker, Die Strafbarkeit juristischer Personen unter europäischem Konvergenzdruck, in: FS-Krey (2010), S. 221 (S. 234 ff.); zu Regelungen in anderen europäischen Ländern S. 237 ff. Vgl. aber auch den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeiten von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ seitens des Landes Nordrhein-Westfalen. Siehe hierzu die Kritik der BRAK in ihrer Stellungnahmen Nr. 9/2013. 22  Vgl. hierzu näher den 3. Teil der Arbeit unter D. V. 1. 23  Richtlinie 2008/99/EG, ABl. 2008 Nr. 328/28. 24  s. hierzu auch das „Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik“, in: ZIS 2009, 697 (704).

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Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

D. Die vertragliche Zusammenarbeit der Unionsstaaten im Bereich des Strafverfahrens Die Schaffung einer eigenen genuinen europäischen Strafprozessrechtsordnung oder einer durch Verordnung errichteten „Europäischen Staatsanwaltschaft“ ist – wie dargelegt – aufgrund eines fehlenden europäischen Legitimationssubjekts nicht möglich. Vielmehr bedarf es einer auf vertraglicher Basis beruhenden vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, ohne dass dabei die Souveränität der Einzelstaaten verletzt oder die Subjektstellung des Betroffenen berührt wird.

I. Europäische Rechtshilfe als Teil  eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens25 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung26 in der Form, dass eine Entscheidung eines justiziellen Organs aus einem anderen Unionsstaat quasi automatisch seitens eines anderen Mitgliedstaates anzuerkennen ist, ist durch ein vertragliches (multilaterales) Auslieferungs- und Rechtshilferecht im Strafverfahren abzulösen. Denn das aus dem freien Warenverkehr stammende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Bereich des Strafrechts erlaubt zum Teil intensive Eingriffe in die Freiheits- und Grundrechte der Betroffenen, ohne dass die Behörden oder die Justiz des ersuchten Staates die Rechtmäßigkeit derselben überprüfen können. Das gilt selbst dann, wenn sich der Staat unter Umständen zu seiner eigenen Rechtsordnung in Widerspruch setzt. Die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auch im Bereich des Strafverfahrens wird insbesondere mit der Gewährleistung einer effizienten Durchführung eines grenzüberschreitenden Strafverfahrens begründet. So heißt es z. B. im Erwägungsgrund 5 des Rahmenbeschlusses des Rates „über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“ (RbEuHb)27: „Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der 25  Auf die Frage nach der Rechtsnatur der Rechtshilfe soll hier nicht näher eingegangen werden; vgl. hierzu zusammenfassend Andreou, Gegenseitige Anerkennung, S.  64 ff. m. w. N. 26  s. zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auch die Ausführungen in der Einleitung unter B. II. 2. 27  Vgl. zum Europäischen Haftbefehl auch die Ausführungen im 2. Teil der Arbeit unter B. III. 2.



D. Die vertragliche Zusammenarbeit der Unionsstaaten407

Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen (…) innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.“28 Jedoch kann sich auch eine staatlich übergreifende Strafverfolgung nicht bloß an Effizienzgesichtspunkten orientieren.29 Das Zusammenwirken der Unionsstaaten in diesem Bereich hat vielmehr ebenso an der allgemeinen Zielbestimmung des Strafverfahrens als rechtlich ausgestaltetem Verfahren zur Klärung eines Tatverdachts anzusetzen.30 Denn auch die unionale Rechts- und Auslieferungshilfe auf dem Gebiet des Strafrechts betrifft nicht nur die betroffenen Staaten, sondern tangiert zugleich die Freiheitsrechte des Einzelnen.31 Durch die Beteiligung mehrerer europäischer Unionsstaaten am Strafverfahren dürfen daher weder die rechtsstaatliche Strafverfolgung erschwert noch die Rechte des Beschuldigten stärker als im rein staatlichen Strafverfahren eingeschränkt werden.32 Vielmehr sind auch im Rahmen eines europäischen Zusammenwirkens insbesondere das Prinzip der Gesetzlichkeit sowie der Justizförmigkeit des Verfahrens zu beachten.33 Zugleich ist bei vertraglichen Vereinbarungen zwischen Einzelstaaten darauf zu achten, dass die einzelstaatlichen Prozessordnungen in sich kohärent bleiben können.34 28  Abl. L 190 v. 18.7.2002; vgl. ebenso den Erwägungsgrund 16 des Rahmenbeschlusses über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (Abl. L 350/73 v. 30.12.2008). Vgl. ebenso die Ausführungen im 5. Teil unter E. I. 1). 29  Vgl. zur grundlegenden Kritik die Ausführungen im 5. Teil der Arbeit unter E. II. 30  Das Bundesverfassungsgericht spricht daher treffend davon, Maßnahmen der internationalen Amts- und Rechtshilfe seien Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt, BVerfGE 61, 28 (34). Hierzu auch Schomburg/ Lagodny/Gleß/Hackner, IRG-Kommentar (Hrsg.), 5. Aufl. (2012), Einl. Rn. 112. 31  s. a. Schomburg/Lagodny, Verteidigung im international-arbeitsteiligen Strafverfahren, in: NJW 2012, 348 (349); das übersieht Andreou, Gegenseitige Anerkennung (2009), S. 68. 32  s. a. Schomburg/Lagodny, Verteidigung im international-arbeitsteiligen Strafverfahren, in: NJW 2012, 348 (349). 33  s. hierzu auch das „Manifest zum Europäischen Strafverfahren“, in: ZIS 2013, 412 (423 f.); vgl. auch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 15/3831, S. 3 f. 34  s.  a. das „Manifest zum Europäischen Strafverfahren“, in: ZIS 2013, 412 (426 f.).

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Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

Eine auf vertraglicher Basis erfolgende europäische Kooperation im Bereich des Strafverfahrens erfasst einerseits die bestehende Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten aufgrund der Etablierung Europäischer Rechtsgüter sowie grenzüberschreitender Kriminalität, erkennt aber andererseits die tatsächlich bestehenden Unterschiede der Rechtsordnungen an und gewährleistet die Subjektstellung des Betroffenen. Damit ist auch die Gefahr eines sog. forum shoppings gebannt, welche besteht, wenn in jedem Mitgliedstaat automatisch das anzuerkennen oder zu vollstrecken ist, was ein anderer Mitgliedstaat in Strafsachen vorsieht.35 Im Folgenden soll beispielhaft skizziert werden, welchen materiellen Grenzen eine vertragliche Zusammenarbeit der europäischen Mitgliedstaaten im Bereich des Strafverfahrens unterliegt.

II. Einzelne materielle Grenzen des unionalen Zusammenwirkens im Rahmen des Strafverfahrens Zu bedeutenden Prinzipien im Rahmen der europäischen Zusammen­ arbeit, die z. B. im RbEuHb und im Verordnungsvorschlag „über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft“ zugunsten des „Prinzips der gegenseitigen Anerkennung“ zurückgetreten sind, gehört insbesondere36 der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit und der Gesetzlichkeit sowie der sog. ordre public. Schließlich erfordert eine vertrauensvolle Zusammen­ arbeit zwischen den Mitgliedstaaten die Anerkennung konkreter gemein­ samer Mindeststandards hinsichtlich der Beschuldigten- und Verteidigerrechten. 1.  Anders als es beispielsweise Art. 2 Abs. 2 RbEuHb für eine Reihe von Deliktsgruppen vorsieht, ist insbesondere in den Fällen, in denen es um die Auslieferung eigener Staatsbürger geht, an dem Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit37 festzuhalten. Der ersuchte Staat muss eine Auslieferung seines Staatsbürgers verweigern können, wenn es seitens des ersuchenden Staates um eine Straftat geht, die im ersuchten Staat nicht strafbar ist.38 35  Vgl. hierzu auch die Ausführungen im 5. Teil unter E. II.; s. a. die Kritik von Schünemann, Europäischer Haftbefehl, in: ZRP 2003, 185 (187); ebenso Gazeas, Die Europäische Beweisanordnung, in: ZRP 2005, 18 (21). 36  Vgl. zu weiteren Prinzipien auch das „Manifest zum Europäischen Strafverfahren“, in: ZIS 2013, 412 ff. 37  Näher zu diesem Grundsatz Andreou, Gegenseitige Anerkennung (2009), S.  57 ff.; Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 335 ff., 432 ff. 38  Anders demgegenüber Andreou, Gegenseitige Anerkennung (2009), S. 60  f., der meint der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit könne durch den ordre-public Vorbehalt ersetzt werden. Speziell zur Auslieferung eigener Staatsbürger in Ver-



D. Die vertragliche Zusammenarbeit der Unionsstaaten409

Die Bedeutung des Grundsatzes der beiderseitigen Strafbarkeit hängt einerseits mit der Souveränität des Staates zusammen: Der ersuchte Staat darf nicht zum bloß „blinden“ ausführenden Organ des ersuchenden Staates werden.39 Andererseits verlangt auch das Gesetzlichkeitsprinzip, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit hinreichend deutlich umschrieben werden.40 Denn der Normbetroffene muss erkennen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist.41 Beim Wegfall der beiderseitigen Strafbarkeit gerät dieser Grundsatz in Gefahr. Denn für den Bürger eines EU-Staates ist gerade nicht vorhersehbar, was in einem anderen EU-Staat strafbar ist oder wie die Strafgesetze in der Rechtsanwendung ausgelegt werden.42 Ihm gegenüber können daher die Strafnormen eines fremden EU-Staates, in dem er sich noch nicht einmal aufhält, nicht angewendet werden.43 Für die Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit genügt auch nicht die Aufzählung des in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb aufgeführten Deliktskatalogs. Denn dieser besteht zum Teil aus bloßen kriminalpolitischen Begriffen, wie „Cyberkriminalität, „Rassismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“. Es handelt sich „damit geradezu (um) die Karikatur einer rechtsstaatlichen Regelung“ nach dem Maßstab der Gesetzesbestimmtheit im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG)“.44 Ferner werden zwar auch einzelne Deliktsgruppen genannt, deren einzelne Tatbestandsvoraussetzungen oder Sanktionsfolgen in den EU-Ländern jedoch sehr unterschiedlich ausfallen, wie z. B. die Tatbestände des „illegalen Handels mit Drogen“, der „vorsätzlichen Tötung“, der „schweren Körperverletzung“, bindung mit der Abschaffung des Prinzips beiderseitiger Strafbarkeit, S. 190 ff. Auch diese hält Andreou für möglich, da die Geltung des Strafrechts nicht von der Natio­ nalität abhängen könne. 39  s. a. Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: GA 2005, 681 (692). 40  s. hierzu näher Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 423 ff. 41  Vgl. hierzu auch die Ausführungen im 3. Teil unter D. V. 1. 42  Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: GA 2005, 681 (692); Gleß, Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: ZStW 2004, 353, (361). 43  So könnte beispielsweise nach dem RbEuHb ein Deutscher an die Niederlande ausgeliefert werden, der einer Niederländerin einen aufgedrängten Zungenkuss gibt, da ein solcher nach niederländischem Recht eine vollendete Vergewaltigung darstellt. Das Beispiel wurde von dem Berichterstatter Di Fabio während der Verhandlungen des BVerfG über den Europäischen Haftbefehl gebildet, abgedruckt bei Schorkopf, Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgerichts (2006), S. 218. 44  Schünemann, Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene, in: ZRP 2003, 185 (188); ebenso Nestler, Europäisches Strafprozessrecht, in: ZStW 116 (2004), S. 332 (337); vgl. zur gleichen Problematik im Rahmen der Europäischen Beweisanordnung auch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 15/3831, S. 5; ebenso Gazeas, Die Europäische Beweisanordnung, in: ZRP 2005, 18 (19 f.).

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Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

der „Vergewaltigung“, der „Brandstiftung“ oder des „Betruges“.45 Es ist daher an dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit im Rechtshilfeverfahren, vor allem wenn es um die Auslieferung eigener Staatsbürger geht, festzuhalten.46 2.  Auch darf der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht so weit gehen, dass das einzelstaatliche Prozessgericht ein Beweismittel nicht deshalb als unzulässig ablehnen darf, weil die Erhebung des Beweismittels nach dem für das Gericht geltenden einzelstaatlichen Recht anderen Bedingungen oder Vorschriften unterliegt (vgl. Art. 30 Abs. 1 des Verordnungsvorschlages zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft).47 Ein solches Vorgehen führt zu Wertungswidersprüchen innerhalb der mitgliedstaatlichen Strafverfahrensordnungen und wirkt sich zugleich unmittelbar auf die Rechte des Beschuldigten aus. Denn die Einzelstaaten haben ein in sich konsistentes System bei der Beweisgewinnung, Beweiseinführung in die Hauptverhandlung und der Beweisverwertung, so dass die uneingeschränkte Übernahme von in anderen Ländern rechtmäßig gewonnenen Beweisen die Verfahrensgrundsätze des anzuerkennenden Mitgliedstaates aushebeln kann.48 Die auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruhende Verkehrsfähigkeit von Beweisen berührt damit das Verhältnis zwischen den Grund- und Verfahrensrechten des Betroffenen und dem ­öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung, indem es eine Kombination unterschiedlicher Verfahrensordnungen ermöglicht und somit zu einer Zwangsharmonisierung des einzelstaatlichen Rechts mit dem Rechtssystem anderer Staaten führt. 3. Um die Kohärenz der mitgliedstaatlichen Strafverfahrensordnungen und ihrer verfassungsrechtlichen Grundsätze und damit auch die Souveränität der Einzelstaaten zu wahren, ist zudem der Grundsatz des „ordre public“ im Rechtshilferecht weiterhin anzuerkennen. So muss z. B. eine Auslieferung unzulässig sein und vom ersuchten Staat verweigert werden können, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung widersprechen würde. Während dieser Grundsatz im Bereich der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 36 AEUV ausdrücklich und z. B. auch 45  Vgl. zur Kritik gegenüber der unscharfen Bestimmung der einzelnen Delikte das „Manifest zum Europäischen Strafverfahren“, in: ZIS 2013, 412 (419 f., 424); Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: GA 2005, 681 (692); Nestler, Europäisches Strafprozessrecht, in: ZStW 116 (2004), 332 (337). 46  Vgl. näher zur konkreten Ausgestaltung des beiderseitigen Strafbarkeit Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 434 ff. 47  KOM(2013) 534 final. Vgl. hierzu bereits die Ausführungen im 5. Teil unter E. II. m. w. N.; vgl. zudem Mavany, Die Europäische Beweisanordnung (2012), S.  163 ff. 48  Hierzu näher die Ausführungen im 5. Teil unter E. II.



D. Die vertragliche Zusammenarbeit der Unionsstaaten411

bei der Vollstreckung von bestimmten Entscheidungen in Zivilverfahren (vgl. Art. 45 Nr. 1 lit. a der EU-GVVO49) vorgesehen ist, fehlt ein solcher Vorbehalt im Rahmen des Strafrechts.50 Vielmehr erfolgt beispielsweise in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb nur ein allgemeiner Verweis auf die Beachtung des Art. 6 des EUV und damit auf die Pflicht, die dort niedergelegten Grundrechte und die allgemeinen Grundsätze zu achten.51 Die Problematik einer solchen bloß pauschalen Verweisungsnorm zeigt sich in einer Entscheidung des EuGH vom 26.2.2013, in der er die Berufung des einzelnen Mitgliedstaates auf den „ordre public“ im Bereich der Strafrechtspflege nicht anerkennt.52 So sei es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der Begründung auf weitergehendes nationales Verfassungsrecht abzulehnen. Vielmehr würde dies die Einheitlichkeit des im Rahmenbeschluss festgelegten Grundrechtsschutzstandards in Frage stellen und so „zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die der Rahmenbeschluss stärken solle, führen und daher die Wirksamkeit dieses Rahmenbeschlusses beeinträchtigen“.53 Um Wertungswidersprüche zu vermeiden und die Kohärenz des Rechts der Mitgliedstaaten im Bereich des Strafverfahrens zu bewahren, muss der ersuchte Staat jedoch weiterhin die Möglichkeit haben, die Rechtshilfe ge49  VO

(EU) 1215/2012, Abl. EU 2012 Nr. L 351, S. 1. zur Kritik auch Manifest zum Europäischen Strafverfahren, in: ZIS 2013, 412 (419); vgl. zum Problem des ordre-public-Vorbehalts im Rahmen der Europäischen Beweisanordnung Gleß, Europäische Beweisanordnung, in: Sieber/ Brüner u. a. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (2011), § 38 Rn. 54. 51  s. zur Ordre-public-Klausel im Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl auch Andreou, Gegenseitige Anerkennung, S. 198 ff. 52  EuGH v. 26.2.2013, C 399/11 – Mellonie. In dem zugrunde liegenden Fall verlangte Italien von Spanien die Vollstreckung eines italienischen EU-Haftbefehls. Italien hatte zuvor den Auszuliefernden in seiner Abwesenheit wegen betrügerischen Konkurses zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Das spanische Verfassungsgericht war der Ansicht, dass die Vollstreckung des EU-Haftbefehls den Wesensgehalt auf ein faires Verfahren nach der spanischen Verfassung verletzen könnte. Spanien wollte die Vollstreckung daher an die Bedingung knüpfen, dass der Betroffene in Italien ein Rechtsmittel gegen seine Verurteilung zur Verfügung gestellt werde. Der EuGH versagte Spanien, die Vollstreckung an ein erneutes Rechtsmittel zu binden. Vgl. hierzu auch Brodowski, Strafrechtsrelvante Entwicklungen in der Europäischen Union, in: ZIS 2013, 455 (469 f.); Gaede, Minimalistischer EU-Grundrechtsschutz bei der Kooperation im Strafverfahren, in: NJW 2013, 1279, (1280 ff.). Vgl. jetzt aber auch die Entscheidung des EuGH hinsichtlich der Beschränkungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens aufgrund der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung um Ausstellungsstaat: EuGH, Urteil v. 5.4.2016 – C-404/15 u. C-659/15 (PPU) (Aranyosi und Cӑldӑraru) und hierzu die Anm. von Meyer, in: JZ 2016, 621 ff. 53  EuGH, C 399/11 – Mellonie, Rn. 63. 50  Vgl.

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Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

genüber dem ersuchenden Staat unter Berufung auf die wesentlichen Grundsätze seiner Rechtsordnung verweigern zu können. 4. Für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen der Rechtshilfe ist zudem eine vertragliche Einigung auf konkrete gemeinsame Mindeststandards hinsichtlich der Beschuldigtenund Verteidigerrechten erforderlich. Zwar enthalten auch die EMRK (Art. 6) und die GRCharta (vgl. insbesondere Art. 47 ff.) das Recht auf ein rechtstaatliches und faires Strafverfahren. Jedoch bedarf es einer Konkretisierung von Verfahrensrechten. So findet sich – wie dargelegt – beispielsweise im RbEuHb (Art. 1 Abs. 3) nur eine pauschale Verweisung auf die EMRK oder die GRCharta, ohne dass die Beschuldigtenrechte näher konkretisiert werden. In der EuGH-Entscheidung zum Fall „Mellonie“54 zeigt sich die Problematik von nicht substantiell bestimmten Beschuldigtenrechten deutlich.55 Gerade im Bereich des grenzüberschreitenden Strafverfahrens ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Beschuldigte und auch Dritte (wie z. B. Zeugen) einer fremden Rechtsordnung gegenüberstehen. Innerhalb des transnationalen Strafverfahrensrecht sind damit nicht nur sprachliche Barrieren, sondern auch fach- und damit rechtsspezifische Auslegungs- und Wertungsfragen verbunden.56 Zur möglichen Wahrnehmung der betroffenen Rechte bedarf es daher einer mit großem Aufwand verbundenen Organisation der Verteidigung bzw. eines Rechtsbeistandes.57 54  EuGH v. 26.2.2013, C 399/11; vgl. auch EuGH v. 29.1.2013, C-396/11 – Radu. 55  So auch das „Manifest zum Europäischen Strafverfahren“, in: ZIS 2013, 412 (416). 56  Manifest zum Europäischen Strafverfahren, in: ZIS 2013, 412 (427); Schomburg/Lagodny, Verteidigung im international-arbeitsteiligen Verfahren, in: NJW 2012, 348 (351). 57  Manifest zum Europäischen Strafverfahren, in: ZIS 2013, 412 (427). Zu beachten sind hierbei beispielsweise der Anspruch auf rechtliches Gehör (Schomburg/ Lagodny/Gleß/Hackner [Hrsg.], IRG-Kommentar, 5. Aufl. [2012], Einl. Rn. 112; vgl. hierzu auch Braum, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: GA 2005, 681 [693]), der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (vgl. zu derzeitigen Problemen diesbezüglich innerhalb der europäische Strafverfolgung Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. [2015], Kapitel 5 Rn. 103 ff.), die Unschuldsvermutung (Schomburg/ Lagodny/Gleß/Hackner [Hrsg.], IRG-Kommentar, 5. Aufl. [2012], Einl. Rn. 197; vgl. allgemein zur Unschuldsvermutung auch die Ausführungen im 3. Teil unter D. III.), die Pflicht zur Belehrung über das Schweigerecht (Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner [Hrsg.], IRG-Kommentar, 5. Aufl. [2012], Einl. Rn. 141 f.; vgl. auch die Richtlinie über das Recht auf Belehrung im Strafverfahren 2012/13/EU, Abl. EU 2012 Nr. L 142), der Anspruch auf einen Verteidiger (vgl. hierzu näher Schomburg/Lagodny, Verteidigung im international-arbeitsteiligen Verfahren, in: NJW 2012, 348 [352]; Lagodny/Schomburg/Hackner [Hrsg.], IRG-Kommentar, 5. Aufl. [2012], § 40



E. Schluss413

Um daher auch im internationalen bzw. europäischen Strafverfahren einen fairen und rechtsstaatlichen Prozess zu gewährleisten, bedarf es in diesem Bereich einer besonderen Ausgestaltung der hierdurch betroffenen Rechte des Beschuldigten (oder Dritter). Insgesamt muss das „Verbot der Individualbenachteiligung“ auch im Bereich des europäischen Strafverfahrens Geltung beanspruchen: „Keines der (z. B. in einer nationalen Verfassung, in der EuMRK, im IPbpR genannten) Rechte darf nur deshalb in geringerem Maße gewährt oder in höherem Maße eingeschränkt werden, weil in einem bestimmten Strafverfahren die Behörden oder Gerichte auch eines anderen Staates tätig werden sollen oder müssen.“58

E. Schluss Der vorliegende Begründungszusammenhang stellt nicht das Projekt der Europäischen Union und ihrer Institutionen insgesamt in Frage, sondern hat sich auf die Frage nach der Legitimation eines genuinen Europäischen Strafrechts konzentriert. Die Arbeit hat dabei ausgehend von der Entwicklung der gemeinsamen europäischen Ideengeschichte der Neuzeit deren Errungenschaft aufgezeigt: Die Anerkennung des freien Einzelnen als Grund und Ziel des Rechts. Diese führt zu der notwendigen gegenseitigen Anerkennung der bestehenden Unterschiede anderer Mitgliedstaaten im freiheitsbedeutsamen Bereich des Strafrechts. Die als Konsequenzen aus den dargelegten Basisbestimmungen vorgestellten Möglichkeiten einer legitimen Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts mögen kontraintuitiv oder anachronistisch59 sein. Insbesondere scheint eine Vereinfachung und Beschleunigung im Bereich der Rechtshilfe angesichts der Grenzöffnungen und der Professionalisierung krimineller Strukturen politisch geboten, während eine bloß vertragliche Bindung zwischen den Staaten kein effektives Mittel zur Bewältigung dieser neuen Herausforderungen zu sein scheint. Rn. 5 ff., § 53 Rn. 1 ff.; vgl. auch die Vorschläge des Manifestes zum Europäischen Strafverfahren, in: ZIS 2013, 412 [422  f.]; vgl. den Ansatz im Ratsdokument Nr. 12899/12) und einen Dolmetscher (vgl. auch RL über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren 2010/64/EU, ABl. EU 2010 Nr. L 280). Um einer mehrfachen Strafverfolgung entgegenzuwirken, bedarf es zudem der Festlegung klarer Kompetenzregelungen auf europäischer Ebene (s. hierzu auch das Manifest zum Europäischen Strafverfahren, in: ZIS 2013, 412 [423 f.]). 58  Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner (Hrsg.), IRG-Kommentar, 5. Aufl. (2012), Einl. Rn. 118. 59  Vgl. Wasmeier, Entwicklung des Rechtshilferechts in der EU, in: Sieber/ Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (2011), § 32 Rn. 4.

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Folgerungen: Legitime europäische Zusammenarbeit im Strafrecht

Der hier vorgelegte Begründungszusammenhang von freiheitlicher Rechts­ verfassung und Strafe trifft jedoch keine politischen Aussagen, sondern stellt eine an Freiheits- und Rechtsprinzipien orientierte wissenschaftliche Arbeit dar. Soll sich die Europäische Idee der Freiheit im Bereich des Strafrechts nicht politischen Kompromissen beugen, sondern erhalten bleiben, bedarf es einer vertrauensvollen Zusammenarbeit auf vertraglicher Ebene, die die Subjektstellung der Betroffenen ernst nimmt und die Souveränität der Einzelstaaten wahrt.

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Personen- und Sachwortverzeichnis Allgemeiner Wille  124 f., 133 f., 278 ff., 285 f., 286, 336, 357 Anerkennung, Grundsatz gegenseitiger Anerkennung  43 ff., 59, 196, 208, 345, 385, 391 ff., 398, 406, 408 ff. Annexkompetenz  368 Antinomie  243 Auslieferung  43 f., 193 ff., 211 ff., 406 ff. Außen- und Sicherheitspolitik siehe Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Autonomie  122, 128 ff., 134, 157, 164, 173, 219, 231, 239, 250, 252, 258, 279 f., 285, 290, 293, 303, 316, 348, 353 Beccaria, Cesare  81 ff., 103, 111, 161, 237, 352, 375, 378 f. Beschuldigtenrechte  80, 92, 114 ff., 139 f., 149, 160 ff., 197 f., 302 ff., 315 ff., 385 ff., 407 ff. Besitz  30, 36 f., 95, 109, 256, 259, 264 f., 268 ff., 281, 289, 299 f. –– Empirischer Besitz  264 –– Gemeinbesitz  119, 268 ff., 322 f., 339 f. –– Gesamtbesitz  326 f. –– Intelligibler Besitz  264 Bestimmtheitsgrundsatz  22, 32 f., 37 f., 111 f., 141, 185 f., 312 ff. Besuchsrecht, Hospitalität  339 ff. Binding, Karl Lorenz  117, 144 Binnenmarkt  42 f., 171, 177, 185, 190, 234, 354, 403 Betrugsbekämpfung  22 f., 40, 49 ff., 190, 204 f., 224, 233 ff., 366 ff., 380, 383

Bürgerlicher Zustand  118, 262 ff. Carpzov, Benedikt  71 Constitutio Criminalis Carolina (CCC) 71 Demokratie  18 f., 22, 52 f., 61 ff., 98, 102, 116 ff., 154 f., 164, 173 f., 183 ff., 194 ff., 206 ff., 220, 223, 237 ff., 277 f., 286 f., 302, 305, 308 ff., 318 f., 343, 346 f., 401 –– Direkte Demokratie  125 ff., 133 f., 282 –– Repräsentative Demokratie  69, 107, 133 f., 206 f., 215, 282, 318, 346, 400 –– Unionale Demokratie  22, 58 f., 64 f., 167 f., 176, 181 ff., 215 ff., 232, 242 f., 354 ff., 396 Demokratische Legitimation  19, 20 ff., 38, 56, 58 ff., 69, 142, 173 f., 182 ff., 194, 197, 200, 207 ff., 216, 219 ff., 232 f., 239, 302, 308 f., 343, 345, 354, 356, 357 ff., 364, 372, 389, 393, 396, 399 ff. Despotie, Despotismus  74, 88, 91, 98 f., 120, 133 f., 163, 279, 282, 284, 335 ff., 343, 346, 397 Determinismus  240 f., 305 f. Diktatur  140 Effet utile  178, 228 ff. Emminger-Verordnung  150 f. Ermittlungsbefugnisse  27, 34, 36, 37 f., 47 ff., 139 f., 160 ff., 171, 187 f., 303 ff., 314 ff., 382, 384 f., 388, 390 f. Ermittlungsverfahren  17, 47 ff., 71 ff., 84, 102, 114 ff., 139 f., 149, 161 ff., 198, 301, 302 ff., 312, 314 ff., 367, 380 ff., 386 ff.



Personen- und Sachwortverzeichnis449

Eurojust  39 f., 47 ff., 191, 206 Europäische Beweisanordnung  28 Europäische Grundrechtscharta  32, 36, 201, 213, 235, 303, 349 f., 374 ff., 385 f., 393 f., 412 Europäische Kommission, EG-Kommission  22 f., 27 ff., 45, 47 f., 50 ff., 59, 68, 160, 165, 170 f., 175, 177, 181, 202, 205 f., 221 ff., 234 ff., 362, 366, 371 ff., 379 ff., 385, 388, 390, 394, 403 Europäische Verfassung  21, 40, 200 f., 358 Europäischer Gerichtshof (EuGH) 22, 25 f., 28, 31 ff., 170, 172 ff., 178, 181, 186, 189, 190, 192 f., 198 f., 202 f., 210, 212 ff., 220, 225 ff., 384, 391, 402, 411 f. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 30, 36, 214, Europäischer Rat  22, 24, 25, 27, 41 ff., 52, 59 f., 68, 160, 170 f., 175, 181, 186, 189, 190 ff., 197, 199, 202 ff., 208 f., 211, 215 f., 218 ff., 228, 230 f., 236, 348, 360 ff., 365 f., 369, 382, 385, 406 Europäisches Kartellbußgeldverfahren  23, 27 ff. Europäisches Parlament  22, 26 f., 44 ff., 56, 59 f., 175, 177 f., 181, 184, 188 f., 199, 202 ff., 215 ff., 229 ff., 231, 359 ff., 365, 369, 382, 395 Europäisches Strafrecht  19, 23 ff., 63, 64 ff., 165, 200 ff., 319 ff., 344 ff. Europol  40, 46 ff., 179, 191 Exekutive, Vollziehende (ausführende) Gewalt  18, 33, 97, 99, 100, 103 f., 107 ff., 126, 134 f., 137, 151, 154 f., 168, 221, 232, 242, 278, 280, 283 ff., 310, 312 ff., 335 ff., 362, 388, 394, 400 Feuerbach, Paul Johann Anselm  79, 83, 110 ff., 147, 313 Fichte, Johann Gottlieb  338

Föderalismus, Föderalität  219, 324, 328 ff. Freiheit  17 ff., 34 ff., 60 ff., 65 ff., 70 f., 75 ff., 82 ff., 89, 92 ff., 99 ff., 115 f., 120 ff., 137 ff., 152 ff., 189 ff., 203, 206 f., 237 ff., 327 ff., 340 f., 372 ff., 388 ff., 396 ff., 406 f., 413 f. Freiheitsgesetze  95, 333, 335 Friedenssicherung  20, 74 ff., 79, 81, 306, 321, 330, 334, 343, 354 ff., 400 Friedrich II.  86 ff., 352 Geldbußen  27 ff., 171, 187, 234 f., 373, 378 Geldstrafen  146, 384 Gemeinsame Außen- und Sicherheits­ politik (GASP) 23 f., 176 f., 179, 186, 188 Gemeinwille siehe Wille Generalprävention  111, 234, 307, 375 ff. Gerechtigkeit  75 f., 80, 83 f., 93 f., 101, 104, 140, 149, 156, 237, 266, 280, 285 f., 300 f., 306 f., 325, 347 –– Austeilende Gerechtigkeit  263 f., 266, 268 ff., 326 –– Beschützende Gerechtigkeit  157, 268 ff., 375 ff., 397 –– Erwerbende Gerechtigkeit  268 ff., 283 –– Öffentliche Gerechtigkeit  135, 268 ff., 285, 326 –– Strafgerechtigkeit  136 ff., 157, 293 f., 298 f., 311 f., 375 ff., 397 Gesellschaftsvertrag  82, 87, 94 f., 118 f., 121 ff., 132, 139 Gesetzesvorbehalt, Parlamentsvorbehalt  24, 35, 55 ff., 109, 156, 173, 185, 411 Gesetzgebung  32, 41 f., 44 ff., 59, 83, 107, 124, 131 ff., 142 f., 155, 168, 201, 204, 209, 216 ff., 309 f., 342, 361 f., 365 f., 369 Gesetzlichkeitsprinzip  141, 148, 315, 344 f., 407 f.

450

Personen- und Sachwortverzeichnis

Gewalt –– Gesetzgebende Gewalt siehe Legislative –– Richterliche Gewalt siehe Judikative –– Vollziehende Gewalt siehe Exekutive Gewaltenteilung (-gliederung, -trennung, Grundsatz der)  18, 56, 59, 63, 68, 77, 79, 92, 93, 97, 99 ff., 134 f., 137 f., 141 f., 154 f., 166, 168, 215, 220 ff., 238 f., 250, 277 ff., 311 f., 319, 326, 336, 343, 346, 362 f., 388, 400 Gleichheit  18, 54, 94, 102, 118 ff., 124 f., 132 f., 139 f., 164 f., 183, 197, 206 f., 218 ff., 227, 242 f., 259, 261, 282, 288, 296, 306 f., 310, 328, 334 f., 337, 342, 347, 355, 359 ff., 369 ff., 398, 400 Globalisierung  57, 65, 166, 327 Goldschmidt, James  148 ff. Grundgesetz  18, 22, 34 f., 41, 55 f., 58 ff., 62, 64, 67, 117 f., 152 ff., 165 ff., 193 ff., 206 f., 209 ff., 238, 285 f., 298, 308, 310, 313 ff., 329 f., 350, 359 f., 364 f., 376, 399, 405, 409 Handlungsprinzip  247, 250, 252, 261, 279, 289, 292 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  61, 63, 70, 145, 158, 247, 249, 271, 278, 289, 292 ff., 300 f., 304 Hobbes, Thomas  18, 55, 61, 70, 75 ff., 90 ff., 118 f., 122, 126, 130, 137, 161, 163, 346, 351 ff., 375 f., 378 f. Hohe Behörde  19, 170 f. Identitätskontrolle  210 ff. Imperativ –– Hypothetische Imperative  254, 290, 293, 332, 348, 353 f. –– Kategorischer Imperativ  128 f., 136 f., 153, 243 ff., 260, 263, 271 f., 279, 289, 290, 292 f., 297 f., 323, 335, 348 f. –– Moralischer Imperativ  258, 291 f. –– Rechtsimperativ  129, 254, 258, 260, 272, 294 ff.

Inquisitionsprozess  71 ff., 101 f., 105, 114 ff., 138, 149 Institutionelles Gleichgewicht  104, 215, 220 ff., 362 Intergouvernementale Zusammenarbeit  42 f., 51, 179, 188 ff., 202 f., 365, 398 ff. Judikative, Richterliche (rechtsprechende) Gewalt  58, 88, 99 f., 103 f., 107 f., 134 f., 154, 156, 168, 221, 230, 242, 278, 280 f., 285 f., 288, 310, 314, 335, 400 Justizförmigkeit  345, 397, 407 Kant, Immanuel  55, 61, 62 f., 65, 70, 74, 110 f., 118, 121, 127 ff., 145, 147, 153 f., 158, 237, 240 ff., 347 ff., 360, 363, 376, 377 Köhler, Michael  55 f., 100, 119, 130, 135, 161 ff., 259, 262, 269 f., 276, 278 ff., 285 f., 292, 294 ff., 301 ff., 307, 309, 314 f., 318 f., 352, 361 f., 365, 367 ff., 371, 375 ff., 403 Kompetenz-Kompetenz  21, 186, 207 Kriegszustand  74 ff., 82, 93, 97 f., 315, 325 ff., 330 Legalitätsprinzip  54, 150, 161, 314 f., 383, 387 f. Legislative, Gesetzgebende (rechtssetzende) Gewalt  18 f., 26, 51, 55, 58, 65, 69, 83, 88, 92, 95 ff., 126, 134 ff., 142 f., 151, 154 ff., 164, 168, 173 f. 177, 180 ff., 187 f., 199, 202, 207 ff., 215 f., 218, 221, 230, 232, 278 ff., 310 ff., 326, 328, 335 ff., 341 f., 345, 354 ff., 359 f., 362 ff., 388, 393, 396, 400 f. Liberalismus  71, 92 ff., 110, 112 ff., 140, 150, 163 f. Liszt, Franz von  44, 117, 144 ff., 151, 159, 160, 240, 377 Locke, John  61, 70, 92 ff., 100, 104, 118, 125, 126, 352



Personen- und Sachwortverzeichnis451

Machtbalance  107, 134, 280, 288 Marburger Programm  145 Maxime  128, 130, 245 ff., 249, 251 ff., 257 f., 260, 263, 280, 283, 288, 290 ff. Mehrebenensystem  69, 329 Mehrheit(s-Grundsatz, -Prinzip) 18, 45, 96, 124, 143 f., 168, 184, 203, 209, 216, 222, 230, 261, 357 ff., 369, 399 Menschenrecht (angeborenes, ursprüngliches)  22, 58, 89, 107, 117, 128, 152, 153 f., 214, 242, 338, 347, 357, 398 Menschenwürde siehe Würde Mittermaier, Carl Joseph  112 Monarchie  98 f., 102, 140, 142 –– Absolute Monarchie  20, 71, 85 ff., 96, 105 ff., 126, 138, 141, 352 –– Konstitutionelle Monarchie  67, 71, 91 ff. Montanunion  19, 169 ff., 397 Montesquieu, Charles Louis  53, 59, 61, 70, 82 f., 92 f., 97 ff., 107, 113, 118, 125 f., 134 f., 155 Moral, Moralität  79, 111 f., 129, 134, 137, 158 f., 245, 247, 249 ff., 257 f., 260 f., 269, 290 f., 294 f., 301, 304, 335 Naturgesetz  95 f., 157, 249 Naturrecht  81, 87, 127, 152, 156 ff., 266, 289 Naturzustand  74, 76 ff., 93 ff., 97, 118 ff., 124, 129, 131, 262 ff., 274, 277, 279, 289, 299, 301, 321 ff., 335, 351 Notbremsverfahren, -mechanismus  42, 45, 46, 51, 58, 209, 369 Offizialmaxime  71 OLAF (Office de la Lutte Anti-Fraude)  23, 49 ff. Opportunitätsprinzip  54, 151, 162 Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit (PJZS)  24, 25, 40, 190 ff., 197, 203, 208

Preußische Kriminalordnung (KO)  89 ff. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung  24, 178, 186, 210 Privatrecht (Kant)  256, 262 ff., 271 ff., 280 ff., 289, 300, 323, 325 ff., 339, 342 Positivismus  108, 114, 116 f., 140, 143 ff., 240, 242 –– Gesetzespositivismus  77, 79, 145 –– Rechtspositivismus  154, 309 Pufendorf, Samuel  84, 86 Rache  260, 300 f. Radbruch, Gustav  156 f. Rahmenverträge  401 f. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts  44, 54, 68, 189 ff., 203, 217, 226, 235, 242, 345, 350 ff., 406 f. Rechtshilfe  20, 38, 193, 197, 212, 406 f., 410 ff. Rechtsprinzip (freiheitliches)  65, 133, 152, 175, 238, 260, 267, 274 ff., 297, 320, 322, 332 f., 340, 342 f., 355, 361, 374, 379, 388, 395, 401 f., 414 Rechtssicherheit  22, 33, 83, 141, 156, 285, 383, 388 Rechtsstaat, rechtsstaatlich, Rechtsstaatlichkeit  18 f., 22, 37 f., 55, 58, 60 ff., 68, 70 f., 110, 116 ff., 167 ff., 174, 182, 195, 210, 215, 238 f., 242 f., 262, 269, 277 ff., 284 ff., 298, 303, 309 ff., 321, 345 ff., 354, 356, 357, 379 ff., 399 ff., 404, 406 ff., 412 f. Rechtsstrafe  137 f., 243, 288 ff., 374 ff. Republik, republikanisch  71, 89, 98 f., 116, 118, 122, 125, 127 ff., 140, 142 f., 237 ff., 284, 342 Rousseau, Jean-Jacques  55, 61, 70, 82, 118 ff., 129, 131 f., 134, 139, 361 Savigny, Friedrich Carl von  54, 114 Schmitt, Carl  79, 143 Schuldprinzip  53, 158, 213, 298, 303, 319, 378, 405

452

Personen- und Sachwortverzeichnis

Selbstbestimmung  18 f., 122, 128, 139, 157, 208, 220, 240, 253, 255, 279, 290, 298, 303, 309 f., 347 ff., 376, 389, 399 Sicherheit  23 f., 40, 44, 54, 61, 68, 75 f., 80 ff., 91 ff., 105, 107, 130 f., 142, 146, 151, 157, 160, 162, 163 f., 189 ff., 203, 205, 208, 217, 226, 235, 242, 263, 306, 308, 333 f., 345, 350, 364, 375 f., 404 Souverän, Souveränität  18, 20 f., 51, 53, 55 ff., 62 f., 68 f., 76 ff., 92, 97, 104 f., 109, 118, 122 ff., 134, 137, 140, 154, 163, 167 ff., 179, 185, 207, 219 f., 233, 277 f., 282, 286, 311, 320, 322 ff., 330, 332 ff., 342, 345 f., 352, 355, 357 ff., 386, 398 ff., 406, 409 f., 414 Spezialprävention  79, 159 f., 305 ff., 375, 377 f., 404 Staat, Staatstheorie, Staatsverständnis  21, 55 ff., 61 f., 67 ff., 74 ff., 92 f., 105, 108, 116, 118 ff., 152, 163 f., 168, 187, 209, 219, 233, 243, 250, 261 ff. –– Staatsbürger  65, 89, 122, 133 f., 138, 147, 177, 194 f., 279, 282, 284, 320, 322, 335ff., 355 f., 358, 408 ff. –– Staatsformen  71, 126, 133 f., 164, 284 –– Staatsgebiet  20 f., 123, 195, 261 –– Staatsgewalt, staatliche Herrschaft, Staatsmacht  18 ff., 61, 64, 72, 80, 95, 106 ff., 118, 134, 140, 141 f., 144, 153 ff., 165, 168 f., 180 ff., 194 ff., 261, 286, 335 –– Staatsvolk  18, 21, 56, 122, 126, 183, 207, 218 f., 261, 276, 323 f., 335, 358 f., 389, 395 Staaten(ver)bund, Staatengemeinschaft  21, 58 f., 169 f., 172, 174 f., 180, 183 f., 186, 188, 201, 327, 328 ff., 348, 356, 399 ff. Staatsbürgerrecht  98, 321 Strafe  17, 19, 23, 29, 41, 54, 62, 63, 69, 71 f., 76ff., 94, 99, 101 ff., 110 ff., 123 f., 129, 136 ff., 157 ff., 164, 187,

191, 211, 236 ff., 240, 260, 288, 289 ff., 329, 342, 346, 366 ff., 375 ff., 389, 396, 401 f., 404 f., 409, 414 –– Begriff der Strafe  289 ff., 295 ff., 299 f., 301, 374 ff. Strafgerechtigkeit siehe Gerechtigkeit Strafunrecht  294 ff., 300 Strafverfahren  20, 25, 27 f., 38 ff., 43 ff., 80 ff., 93, 99, 101 ff., 108 f., 113 ff., 139 f., 148 ff., 160 ff., 189, 196, 198, 203, 205, 208, 213, 228, 236 ff., 302 f., 314, 316 ff., 345 f., 379 ff., 397 ff., 406 ff. Subsidiarität(sprinzip)  154, 167, 178 f., 185, 196, 210, 216 f., 344 f., 370 f., 381, 403 f. Teilhabe(gerechtigkeit)  64, 12, 107, 181, 207, 268 f., 323, 336 Ultra-vires-Kontrolle  209 f. Unionsbürgerschaft, Unionsbürger  21, 177, 201, 203, 218 ff., 223, 231, 235, 358 f. Unschuldsvermutung  36 f., 198, 302 ff., 319, 385 f., 389, 393, 395, 412 Utilitarismus  95 f., 232, 277 Verbrechensbekämpfung, -prävention  82, 84, 90, 147, 159, 162 f., 235, 237, 302, 306, 316, 346, 372, 374, 377, 379, 386 ff., 397 Verfahrensgarantien  160, 193, 212, 286, 385 f., 394 Verfassung  18, 56, 59, 62, 68 ff., 89, 92 f., 99, 104 ff., 113, 115, 118, 127, 133, 152, 156, 163, 167 ff., 172 f., 175, 200 f., 219 f., 227, 241, 261 f., 273, 277 ff., 283, 286, 309, 321, 323 f., 332 f., 337, 340, 342 f., 348, 357 f., 360 f., 364, 400, 411, 413 –– Rechtsstaatliche Verfassung  67, 70 f., 134, 227, 322 f., 342, 346 f., 355, 362, 414 –– Republikanische Verfassung  89, 127, 140, 237



Personen- und Sachwortverzeichnis453

–– Staatsverfassung  58, 61 f., 98, 132, 136, 164, 183, 188, 262, 278, 338 Verfassungsidentität  207, 214 Vernunftschluss  83, 264, 282, 299 –– Hypothetischer Vernunftschluss  253 f., 293 –– Kategorischer Vernunftschluss  134, 250, 254, 257, 260, 280, 284 ff., 293, 332 f., 357, 400 –– Praktischer Vernunftschluss  134, 250 ff., 278 ff., 287 ff., 297, 323 Vogel, Joachim  44 ff., 57 ff., 63 f., 197, 222, 358 Völkerbund  324, 328, 330 f., 333, 337, 342, 355 Völkerstaatenrecht  65, 273, 321 ff., 338 ff., 356, 400 Vorbehalt des Gesetzes  312 ff., 318

Werte  18, 54, 99, 153, 201, 221, 223, 231, 242 ff., 254, 263, 272, 274, 309, 347 ff., 354, 356, 400 Wille  18, 55 f., 59, 75 f., 79 f., 92, 122 ff., 131, 133 ff., 140, 143 f., 161, 164 f., 168, 171, 183 f., 201 f., 207, 217 f., 220, 225, 227 f., 240 ff., 248 ff., 252, 257 f., 261, 264 ff., 279 ff., 300 f., 305, 311 ff., 323, 326, 331, 335 ff., 354, 357, 359, 361 f., 388, 396, 400 Willkür  31, 35, 54, 79, 90, 94, 95, 101, 103, 109 f., 129, 141, 147, 156, 164, 254, 256 ff., 261, 264, 268, 271, 277, 279, 287, 288, 290, 294 ff., 311, 318, 321, 327 f., 332 f., 339, 390 Wolff, Ernst Amadeus  286, 375 ff. Würde  18, 135, 152 f., 161, 195, 207, 213, 242 f., 298, 303, 347 ff., 354, 400

Weimarer Reichsverfassung (WRV)  116 ff., 140 ff., 154 Weltbürgerrecht  65, 273 f., 321 ff., 328, 338 ff., 356, 400 Weltstaat, Weltrepublik  273, 275, 326 f., 330 ff., 343, 356

Zwang(s-Befugnis, Rechtszwang)  17, 30 f., 35 f., 47, 50, 60, 63 f., 67 ff., 76, 79, 80, 99, 110 f., 116, 123, 129 f., 133, 136, 161, 164, 176, 238 f., 259 f., 267, 283, 295, 299, 303, 314, 327, 329, 330, 333, 334, 337, 341 ff., 346 f., 351, 390 f., 400