Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte [Reprint 2020 ed.] 9783112364284, 9783112364277

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Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte [Reprint 2020 ed.]
 9783112364284, 9783112364277

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ERNST MICHALSKI

DIE BEDEUTUNG DER ÄSTHETISCHEN GRENZE FÜR DIE METHODE DER KUNSTGESCHICHTE

DEUTSCHER KUNSTVERLAG BERLIN 1932

WILHELM PINDER ZUGEEIGNET

DRUCK DES TEXTES VON J. ) . AUGUSTIN IN GLUCKSTADT UND HAMBURG MANULTIEFDRUCK DER BILDER VON F. ULLMANN IN ZWICKAU

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT I. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE EINFÜHRUNG II. ELFTES BIS VIERZEHNTES JAHRHUNDERT III. VIERZEHNTES UND FÜNFZEHNTES JAHRHUNDERT . . IV. RENAISSANCE V. MANIERISMUS UND BAROCK VI. SONDERBAROCK IN FRANKREICH UND ROKOKO

IV 1 15 64 113 145 215

VORWORT Die Absicht dieser Schrift ist es, die bedingte Gültigkeit geistesgeschichtlicher Phänomene u n d die beschränkte Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung innerhalb einer methodisch legitimen Kunstgeschichte darzulegen. N a t u r g e m ä ß k o n n t e das quod erat demonstrandum nicht schon den Gedankengängen dieser Arbeit als Voraussetzung zu Grunde gelegt werden. Der Verfasser sah sich deshalb genötigt, auch dort auf geistesgeschichtliche Phänomene einzugehen, wo es sich f ü r ihn gerade darum handelte, ihre Entbehrlichkeit innerhalb der Kunstgeschichte zu beweisen. Deshalb sei betont, d a ß das, was an kulturgeschichtlichem Material verarbeitet werden m u ß t e , stets n u r einen hilfswissenschaftlichen Wert besitzen k a n n u n d keinerlei Anspruch erhebt, als eigene Leistung mit zusammenfassenden geistesgeschichtlichen Interpretationen der betreffenden Epochen in eine Reihe zu treten. I n dieser Hinsicht h a t der Verfasser sich streng an die Ergebnisse der jeweils benutzten und ausführlich zitierten kulturhistorischen Arbeiten gehalten. Die vorliegende Schrift wurde im Februar 1931 von der philosophischen F a k u l t ä t der Universität München als Habilitationsschrift f ü r das Fach der Kunstgeschichte genehmigt. Sie wurde in den J a h r e n 1929—30 geschrieben, im J a h r e 1931 ergänzt. F ü r das Lesen der Korrektur ist der Verfasser Fräulein Gerda BenfeyKaula zu herzlichstem Dank verpflichtet.

DIE BEDEUTUNG DER „ÄSTHETISCHEN GRENZE FÜR DIE METHODE DER KUNSTGESCHICHTE. CHROFF stehen sich zwei Richtungen in der heutigen Kunstwissen» schaft gegenüber, die unter den Schlagworten „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte" und „Kunstgeschichte als Formgeschichte" zusammengefaßt werden können. Im Gegensatz zu einer morphologischen, lediglich Formenmerkmale verknüpfenden und aus ihnen eine Entwicklung aufbauenden Methode, betonte bereits Dehio, „daß es noch ein zweites, höheres Niveau der Betrachtung gäbe, auf dem die Einzelkunst nur als Ausfluß eines einheitlichen künstlerischen Gesamtbewußtseins, und dieses wiederum nur beschlossen in dem geistig-materiellen Gesamtzustande der jeweiligen Epoche erscheint." 1 Dehio hebt hervor, daß die Entwicklung vor allem der deutschen Kunst durch außerkünstlerische Gewalten der eigenen Volksgeschichte stets in besonders starkem Maße durchkreuzt worden sei. „So entstehen, ohne v o n i n n e n h e r a u s motiviert zu sein, Hebungen und Senkungen, Abbiegungen, Brüche, irrationale Erscheinungen an allen Enden. Der Nur-Kunsthistoriker hat ein Recht zu sagen: „Was ich hier sehe, ist keine Einheit." — Dehio faßt seine Auffassung von den Aufgaben der Kunstgeschichte schließlich in folgenden Worten zusammen: „Die historische Betrachtung aber verlangt mehr. Sie weiß, daß an der realen Existenz des Kunstwerks auch noch andere als ästhetische Kräfte mitarbeiten. (Man erwäge beispielsweise das große Kapitel Kunst und Religion.)" Diesen Anschauungen Dehios muß vor allem entgegnet werden, daß in diesem Zusammenhange von einem „höheren Niveau der Betrachtung" nicht gesprochen werden kann. Rothacker rollt den kunsthistorischen Methodenstreit auf in dem Gegensatze von „problemgeschichtlicher" und „kulturgeschichtlicher Methode" und zeigt, daß es sich hier zunächst um rein historische Tatsachenfragen handelt. 2 Er sagt: „Der Kern des Streites igt doch wohl der, welche Momente am Gesamtphänomen der Kunst die eigentlich wesentlichen seien. Sind es formale, so schreibe ich folgerichtigerweise Kunstgeschichte als Problemgeschichte. Sind es gehaltliche, schreibe ich sie als Lebensgeschichte. Um ein radikales Entweder-Oder zwischen Gehalt und Form braucht es sich dabei keineswegs zu handeln. Eine Entscheidung in ihrem Rangstreit genügt." Rothackers weitere Zurückführung 1 1

Dehio: Deutsche Kunstgeschichte und deutsche Geschichte. 1907. Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Manchen und Berlin 1927, S. 27 ff.

1 Michalik!.

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in diesem Zusammenhange nicht berücksichtigt zu werden. Die programmatischen Anschauungen Dehios gelangten am reinsten im Lebenswerk Max Dvoraks zum Ausdruck, das, unter dem Motto „Kunstgeschichte als Geisteegeschichte" zusammengefaßt, mit außerordentlichem interpretatorischem Erfolg Kunst- und Stilphftnomene auf kultur- und geistesgeschichtliche Tatsachen zurückführt. Als bahnbrechend muß in dieser Hinsicht Dvoraks Deutung der gotischen Kunst aus der christlichen Transzendenzidee heraus gelten. 1 Eine grundsätzliche Autonomie der künstlerischen Sphäre wird hier n i c h t gesetzt 2 . Die Kunst wird von einem außerkünstlerischen Faktor, dem Christentum, wesentlich mitbestimmt. Ästhetische Autonomie heißt in diesem Zusammenhange soviel wie ästhetische Immanenz. Das W e r d e n eines Stils vollzieht sich vorwiegend nach einer künstlerischen Eigengesetzlichkeit. Die Konsequenz der Setzung einer solchen ästhetischen Autonomie ist die Beschränkung der Kunstgeschichtsschreibung auf die historische oder typologische Darstellung spezifisch ästhetischer Probleme und ihre Lösungen. 3 Wird, wie bei Dvorak, eine solche Autonomie nicht gesetzt, das Stilwerden also auf ästhetisch transzendente Phänomene bezogen, muß von einer ästhetischen Heteronomie gesprochen werden. Die hierzu gehörige Methode ist die „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte." In typischem Gegensatz zu Dvorak steht in dieser Hinsicht Heinrich Wölfflin. In seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen" versucht er die Immanenz der Kunstentwicklung programmatisch darzulegen. Die bildende Kunst wird hier als reine Sichtbarkeit aufgefaßt, die nur Veränderungen optischer Art ausgesetzt sein kann. Wölfflin sieht daher die Aufgabe der Kunstgeschichte in einer deskriptiven Erfassung des Formwandels in seinem eigengesetzlichen Ablauf. Jede Form zeugt weiter fort, so daß eine „innerlich weiter arbeitende Formengeschichte" entsteht. Wölfflin wird von einer biologischen Auffassung geleitet, wenn er sagt: „Mit strengen Ansprüchen an die „Reinlichkeit" der Periodenteilungen kommt man nicht weiter. In der alten Form ist die neue schon enthalten, wie neben dem welkenden Laub der Keim des jungen schon da ist." 4 1

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Dvorak: Idealismas und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei. (Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. München 1924.) Über die Entwicklung der methodischen Einstellung Dvoraks vgl. Frey: Max Dvoraks Stellung in der Kunstgeschichte. Wiener J a h r b . f. Kunstgeschichte. 1921. — Hier wird sein Wandel von der Setzung eines Ästhetisch autonomen Stilwerdens zu der entscheidenden Einordnung der Kunst in die Universalgeschichte klar dargestellt. „Der Stilbegriff wird aus einem Substanzbegriff zu einem Funktionsbegriff." Vgl. Rothacker (a. a. O.). Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Mönchen. 1920. S. 253.

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Die wichtigsten Einwände gegen die Methode Dvoraks sind von Coellen ausgesprochen worden.1 „Hier (bei Dvorak) wird die Weltanschauung im tiefsten Sinne des Wortes, die Anschauung vom Bezug des Absoluten zum Dasein, als der Ursprung der Stilbildung und der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Stile gesetzt in einer Auffassung, die zum Universalgeschichtlichen hinweist, die also getragen ist von der Idee der allgemeinen einheitlichen Kulturentwicklung. Das erscheint ideell entschieden als der höchste Blickpunkt, aus dem sich Kunstgeschichte betrachten läßt, und es l " " " i kein Zweifel bestehen, daß die Bemühungen um die kunstgeschichtliche Methode ganz folgerichtig auf diesen Punkt hingedrängt haben.Wenn die Weltanschauung, oder wie ich aus gewissen Erwägungen heraus präziser sagen will, der Weltbegriff in seiner sinnesgeschichtlichen Veränderlichkeit als die Wurzel aller Kulturentwicklung und damit auch als die Wurzel der Stilentwicklung angesehen werden kann, dann läßt sich das Problem der Methode glatt fixieren. — Dann handelt es sich darum, die Formgesetzlichkeit eines Stils zu deduzieren, als den adäquaten Ausdruck des zugehörigen Weltbegriffs." Wie im Verlaufe des kunstgeschichtlichen Teils unserer Untersuchungen stets wieder betont werden wird, ist jedoch die Idee der allgemeinen einheitlichen Kulturentwicklung, auf der ein Verfahren wie das Dvoraks fußt, nicht aufrecht zu erhalten. Die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" im Sinne Pinders wird stets bei einem Vergleiche der verschiedenen Gebiete kulturellen Schaffens wieder beobachtet werden können.2 Dvoraks Zurückführung der Kunst auf außerästhetische Phänomene wird sich deshalb nur bei besonderen Konstellationen rechtfertigen lassen. Und auch in diesen Fällen treibt Dvorak im Grunde nicht Kunstgeschichte, sondern Kulturgeschichte, indem er auf künstlerische Phänomene exemplifiziert. Coellen hat Recht, wenn er sagt: „Solange nicht methodisch einwandfrei die Frage nach dem U r s p r u n g der Formgesetzlichkeit, um den es sich j a bei jenen Betrachtungen immer handelt, so gelöst werden kann, daß dabei die Sphäre der formalen Raumorganisation nicht durchbrochen wird, solange, umgekehrt gesagt, der dem Stil unterstellte Ursprung nur in einer der Raumform heterogenen Sphäre aufgewiesen wird, ist die Forderung nach Wissenschaftlichkeit unerfüllt, j a verletzt. Da verdient in der Tat die rein deskriptive Methode den Vorzug." 3 Dvorak und seine Anhänger verstoßen gegen die Forderung, „das kunstgeschichtliche Gebiet als ein in sich beschlossenes, autonomes und reines Formgebiet zu begreifen." 4 Mit welchem Recht wird

Coellen: Über die Methode der Kunstgeschichte. Darmstadt. 1924. S. 14. Pinder: Das Problem der Generation. Berlin 1927. S. 128ff. 3 Coellen (a. a. O.) S. 15. ' Coellen (a. a. O.) S. 18. 1

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nun diese Forderung aufgestellt? Ohne sie wäre Kunstwissenschaft als selbständige Wissenschaft zweifellos nicht möglich. Folgende Überlegung führt uns an diesem Punkte weiter: Wenn wir in einem gegebenen Ding unmittelbar sein Wesen erfaßt haben, kann nach dem Prinzip der Verträglichkeit phänomenologisch erkannt werden, daß zu dem empirisch gegebenen Gegenstand „ K u n s t " nur eine ästhetische Begriffsbildung gehören kann. 1 Es ist sinnlos und unverträglich oder von nur metaphorischer Bedeutung, ein Dreieck schön oder die Farbe Rot tugendhaft zu nennen. Das, was Husserl das regionale Wesen des Dinges nennt, hat nicht nur im kantischen Sinne regulative Bedeutung, sondern „grenzt konstitutiv die gesamte oberste Gattungseinheit ab, die zu einem Konkretum gehört." 2 Die „regionalen Kategorien" zeichnen sich dadurch aus, daß sie „dem regionalen Wesen eigentümlich Zugehöriges ausdrücken, bzw. in eidetischer (das heißt wesenhafter) Allgemeinheit ausdrücken, was einem individuellen Gegenstand der Region „ a priori" und synthetisch zukommen muß." Gewisse Zusammenhänge, die auf gewissen Gebieten des tatsächlichen und wesentlichen Seins sinnvoll sind, sind auf gewissen anderen Gebieten sinnlos. Daher „fordern gewisse Subjekte gewisse Prädikate mit Notwendigkeit/ 1 Die Betrachtung nach dem Prinzip der Verträglichkeit wird also nicht an den Gegenstand von außen herangetragen, sondern im Erkennen des Phänomens selbst miterfaßt. Die Folge der Methode Dvoraks ist ein Abirren von der Formsphäre in die Sphäre der Ausdeutung, ein wenn im Einzelfall auch zu richtigen Resultaten gelangender Subjektivismus, der psychologisch interpretiert und daher nicht zur Basis einer objektiven Methode der Kunstwissenschaft geeignet ist. Nach dem bisher Gesagten und nach der Ablehnung der geistesgeschichtlichen Methode für die Kunstwissenschaft, muß es scheinen, als ob Wölfflins morphologisches, im rein Optischen verharrendes, also einer ästhetischen Begriffsbildung entsprechendes Vorgehen die einzig mögliche Methode der Kunstwissenschaft sei. Diese Ansicht vertritt vor allem Kreis. 3 Für Kreis kann nach dem Ursprung eines Stils überhaupt nicht gefragt werden, denn der ästhetische Sinngehalt eines Kunstwerks widersetzt sich durch seinen völlig ahistorischen Charakter grundsätzlich jeder Einordnung in einen geschichtlichen Zusammenhang. Die eigenartige „Vollendung" in sich, die Distanz dem unmittelbaren Leben gegenüber, die Selbstgenügsamkeit des Ästhetischen bedingen seinen ahistorischen Charakter, der eine aus jeg1 2

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Husserl: Logische Untersuchungen. Bd. II. Halle 1922. S. 105ff. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Halle 1928. S. 30 f. Kreis: Der kunstgeschichtliche Gegenstand. Stuttgart 1928.

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liebem geschichtlichen Zusammenhang isolierte Betrachtungsweise erfordert. So bleibt für den ästhetischen Betrachter „alles das irrelevant, was das Kunstwerk zu einem notwendigen Glied der geschichtlichen Entwicklung macht, da die Zugehörigkeit zu einem Entwicklungsprozeß die „Voll-endung" zerstört, die den Sinn des Ästhetischen ausmacht."1 Daher dürfen nur, wie Wölfflin es tut, bestimmte Formelemente an den empirischen Kunstwerken begrifflich isoliert werden. Mit Hilfe dieser theoretisch festgehaltenen Formen wird dann ein Bedeutungszusammenhang unter den Kunstwerken hergestellt. Kreis betont den streng „empirischen" Charakter dieser stilgeschichtlichen Methode. Allerdings wird diese empirische Betrachtungsweise, sobald der erwähnte Bedeutungszusammenhang unter den Kunstwerken hergestellt wird, sofort in einem psychologischen Sinne umgebogen. Sie muß in diesem Sinne umgebogen werden, wenn nicht eine bloße Formensystematik das einzige Resultat bleiben soll. Kreis und mit ihm Wölfflins Methode muß aber noch aus einem anderen, rein realen Grunde abgelehnt werden. Es gibt deutlich Kunstperioden und Stile, für welche die nur ästhetische Betrachtung nicht ausreicht. Als heuristisches Hilfsmittel führt uns hier ein historisch festliegendes Beispiel aus der Kunstgeschichte weiter. Zu Beginn des dritten Jahrhunderts nach Christus entwickelt sich die antike Kunst in ihrer Bahn sowohl formengeschichtlich wie ausdrucksmäßig in gerader Linie fort und läßt Prachtbauten wie den Triumphbogen de6 Septimius Severus oder die Thermen des Caracalla entstehen. Gleichzeitig aber mit diesen in anthropomorpher Proportionalität gegliederten Werken eines von der Klassik gespeisten Körpergefühls und gleichzeitig mit der spätantiken impressionistischen Malerei wächst und reift eine andere Kunst, die christliche, die in den Katakomben und Nekropolen bedeutsame Zeugnisse eines unkörperlichen, wirklichkeitsfremden Stils hinterlassen hat. 2 Ohne die vielleicht ebenfalls vorhandenen außerästhetischen Bindungen der spätantiken Kunst zu untersuchen, kommt es uns hier nur darauf an, zu zeigen, daß ein Stilbruch von ganz seltenem Ausmaß und von ganz einzigartiger Konsequenz abrupt dadurch zu Stande kommen kann, daß die „lebensgeschichtliche" Verflechtung der Kunst sich verändert, das heißt, daß bisher nicht vorhandene und nicht berücksichtigte, a u ß e r ä s t h e t i s c h e Mächte wesentlichen Einfluß auf das Werden eines Stils gewinnen, ja die Kunst als solche in ihren Dienst spannen. Es handelt sich hier keineswegs um einen Ausnahmefall, sondern um eine höchst bezeichnende und zur Exemplifikation geeignete Kreis, (a. a. O.) S. 13. ' V g l . Dvorak: Die Entstehung der christlichen Kunst. Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte. 1923.

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Situation. Es ist also mit der durch keine methodologische Konstruktion umzustoßenden Tatsache zu rechnen, daß t a t s ä c h l i c h gewisse Stilstufen durch unleugbar außerkünstlerische, gebietsfremde Mächte, wie in diesem Falle durch das Christentum, wenn nicht begründet, so doch vorbereitet worden sind. Es könnte hier der Einwand gemacht werden, daß auch „autonome", ästhetisch immanente Stilstufen in enger Beziehung zu den allgemeinen geistes- und lebensgeschichtlichen Phänomenen ihrer Zeit ständen. Das ist sicherlich der Fall, es kommt aber, wie Rothacker mit Recht sagt, auf den Rang an, den diese Momente bei der Stilbildung einnehmen. Den Rang aber kann man danach entscheiden, ob die Kenntnis außerästhetischer Phänomene zum v o l l e n Verständnis der Kunstwerke notwendig ist, d. h. ob durch eine geistesgeschichtliche Unterbauung die rein morphologischen, ästhetischen Erkenntnisse noch erhellt werden oder nicht. Es braucht kaum von Neuem erwähnt zu werden, daß es sich hier nur um die Bestimmung des kunstgeschichtlichen Aufgabenkreises handelt. Der Kulturhistoriker wird selbstverständlich in allen Fällen nach einer gegenseitigen Erhellung der Phänomene forschen müssen. Dvoraks Weg muß, so sehr er im Einzelnen zu sachlich richtigen Ergebnissen führen mag, als Methode abgelehnt werden, da er die Selbständigkeit kunstgeschichtlicher Erkenntnismöglichkeiten verletzt. Andererseits offenbart allein unser Beispiel aus der Frühzeit der christlichen Kunst die Möglichkeit eines gleichzeitigen Nebeneinanders zweier ganz verschiedenen Gesetzen folgender Kunstströmungen: einer von christlichreligiösen Inhalten gespeisten neuen und einer auf breiter formengeschichtlicher Basis gleichmäßig zur Entwicklung gelangten alten Kunst, deren außerästhetische Bindungen, falls sie überhaupt vorhanden waren in eine ganz andere Richtung wiesen. Die Forderung Coellens, „das kunstgeschichtliche Gebiet als ein in sich geschlossenes, autonomes reines Formgebiet zu begreifen" wird sich also — in diesem eminenten Sinne jedenfalls — nicht aufrechterhalten lassen. Ebensowenig wird es möglich sein, der Behauptung Coellens beizupflichten, „der griechische und der gotische Bildhauer wollten das Gleiche, als sie ihre Statuen schufen." Es bedeutet eine allzu gleichförmige und enge, die künstlerische Zielsetzung verkennende Auffassung dieser Kunstphänomene, wenn er sagt, beide wollten „einen Individualraum organisieren nach den allgemeinen Kategorien des künstlerischen Formens einer sinnlich-räumlichen Gestalt/' Spätantike und gleichzeitige frühchristliche Kunst unterscheiden sich zu tiefst „durch das Gesetzliche, das in ihnen enthalten ist", sie wollten beide deutlich n i c h t das Gleiche. Aus der Tatsache des bestimmenden (nicht nur modifizierenden) Einflusses außerästhetischer Phänomene auf das Werden und die Gestaltung der Kunst nun aber eine Betrachtungsweise, wie diejenige Dvoraks 6

abzuleiten, wäre jedoch nach wie vor aus den oben dargelegten Gründen, in denen Coellen und Kreis völlig zugestimmt werden muß, im Interesse einer begrifflich selbständigen Kunstwissenschaft verfehlt. Die Kunstwissenschaft hat also bisher nur die Wahl zwischen methodischer Illegitimität und freiwilliger Beschränkung des Aktionsradius. Es erhebt sich also für den Kunstwissenschaftler die Forderung,.ein rein ästhetisches, d. h. in Bezug auf die bildende Kunst, aus der Sphäre des Optisch-Sichtbaren abstrahiertes Kriterium zu finden, an Hand dessen man entscheiden kann, wann es sich um autonome, und wann es sich um heteronome Kunst handelt. Dieses formale, von jeder psychologistischen Deutung unbelastete Kriterium muß zuvor rein phänomenologisch und assoziationslos anwendbar sein, um dann erst den Hinweis auf systematische Einteilungsmöglichkeiten des unübersehbaren Stoffes zu enthalten. Wir suchen ein Mittel, indem wir uns rein schauend verhalten, auf legitime Weise unser Objekt, das Kunstwerk, dorthin zuzuordnen, wohin es „seinem Wesen nach" gehört. Wir dürfen nicht primär interpretieren, wie Dvorak, wir wollen voraussetzungslos, rein deskriptiv, nach einem formalen Kriterium vorgehen und dadurch gezwungen werden, unserem Objekt den adäquaten Ort anzuweisen. Dieses Kriterium soll in der Sphäre des Sichtbaren verharren und uns dadurch die Möglichkeit geben, rein vom Ästhetischen aus zu den gleichen Resultaten zu gelangen, welche in manchen Fällen h i s t o r i s c h durchaus richtig von der kulturpsychologischen Methode gefunden worden sind. Wir müssen vom Sichtbaren aus das Problem des gebietsfremden, außerkünstlerischen Ursprungs zu lösen suchen. Durch eine formal-phänomenologische Betrachtungsweise hindurch darf erst die Notwendigkeit einer Kulturphänomene zu Rate ziehenden Methode erschlossen werden. Es gilt, anders gesagt, die Heteronomie eines Stils an formalen Kriterien zu erkennen, um den Forderungen einer methodisch selbständigen Kunstwissenschaft zu genügen. Nur dadurch wird sich die Legitimität, ja sogar die Notwendigkeit einer s e k u n d ä r e n Unterbauung durch kulturgeschichtliche Tatsachen erweisen lassen. Das Primäre kann immer nur das Aufsuchen rein aus der Formsphäre gewonnener, deskriptiver Kennzeichen sein, die dem Kunstwerk erst einmal seinen Platz anweisen müssen. Daß die in der wissenschaftlichen Betrachtung erst später zuzuziehenden Kulturphänomene tatsächlich in den entsprechenden Fällen auf die Genesis des so gearteten Stils eingewirkt haben, gibt dem Kunstwissenschaftler, der die Verpflichtung hat, zuerst völlig assoziationslos vor das Kunstwerk zu treten, noch keinesfalls das wissenschaftliche Recht, von dieser ihm nur durch gebietsfremde Hilfsmittel bekannten Erkenntnis der Genesis auszugehen. Das hieße ein Schauspiel gleichzeitig vom Zuschauerraum und vom Souffleurkasten aus betrachten wollen. 7

F ü r jede zu betrachtende Stilstufe m u ß die kritische Grundeinstellung erst von Neuem gewonnen werden, ehe entwicklungsgeschichtlich weitergeschritten werden darf. J e d e r Stilbruch bringt neue Voraussetzungen, die nicht aus Vorhergegangenem psychologisch oder gar durch Zuziehung geistesgeschichtlicher F a k t e n erklärt werden dürfen. E s braucht wohl k a u m darauf hingewiesen zu werden, daß das, was wir reine Sichtbarkeit nennen, hier nicht als eine Sinnesempfindung auf Grund eines psychologischen, durch das Auge als Sinnesorgan vermittelten Prozesses angesehen werden darf. Benedetto Croce betont sehr richtig: „ D a s physiologische Organ, das Auge, u n d der physiologische Sehvorgang gestatten als physiologische u n d naturalistische Begriffe keinen Übergang zum philosophischen Begriff der Kunst, die geistige Tätigkeit ist." 1 Der Begriff der reinen Sichtbarkeit ist bei uns nicht sensualistisch zu verstehen, sondern im Sinne Rickerts, umfassender, sinnbildlicher als die psychophysische Realität. Auch das Unsinnliche ist uns zugleich unmittelb a r gegeben. Dvorak entwickelt bezeichnenderweise seine Ideen vorwiegend an heteronomen Stilen. Sein feiner Instinkt empfindet, daß hier allein ein solches Verfahren f r u c h t b a r ist. Als den historischen Verlauf klar überschauender Forscher gibt er im übrigen die gleichwertig durch alle Stilstufen hindurch aufrecht zu erhaltende, von der theoretischen Ästhetik stets mehr aus methodologisch-konstruktiven Gründen postulierte, als mit Evidenz erkannte Idee von einer ständigen Autonomie der Kunst auf. E r betont nachdrücklich die immer variable Artung dessen, „was man unter K u n s t verstand, was m a n in ihr suchte und von ihr begehrte." Die tiefe Zäsur zu Beginn des 14. J a h r h u n d e r t s in Italien, an die sich für ihn das allmähliche Entstehen einer autonomen, um den Ausdruck einer Transzendenzidee und um die Wiedergabe der Natur gleich unbekümmerten Kunst k n ü p f t , wird ihm zur Geburtsstunde einer grundlegenden ästhetischen Umgestaltung, als deren Erfüllung sich ihm das Werk Giottos darstellt. 2 Dvorak geht nun allerdings nicht weiter auf die Entwicklung der Autonomiefrage ein. Es scheint beinahe, d a ß er die Eigengesetzlichkeit der K u n s t von diesem Zeitpunkt an als f ü r immer gesichert ansieht. Darauf deuten jedenfalls seine W o r t e h i n : „Die autonome Stellung der K u n s t im R a h m e n der das menschliche Dasein beherrschenden Gewalten erscheint uns heute so selbstverständlich, daß wir in der Regel die relativ späte E n t stehung dieser Stellung vergessen." (S. 126) Zu diesen Worten steht Dvoraks kunstwissenschaftliche Methode jedoch, wie wir gesehen haben, in 1

Croce: Zur Theorie und Kritik der Geschichte der bildenden Kunst. (Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. IV, 1926.) * Dvorak: Idealismus und Naturalismus etc. (a. a. 0.) S. 124ff.

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schroffem Gegensatz. U m so wichtiger erscheint es deshalb, Klarheit in die kunstwissenschaftliche Methodologie zu bringen. Es bleiben hier demnach noch zwei Fragen ungelöst: Besteht die Möglichkeit einer abermaligen Aufgabe dieser Autonomie zu Gunsten fremdgesetzlicher Übermächte ? U n d worin besteht das methodologisch f ü r den Kunstwissenschaftler einzig legitime, f o r m a l m i t g e s t a l t e t e Kriterium, nach dem die Frage v o n Autonomie u n d Heteronomie ohne Zuhilfenahme kulturpsychologischer D a t e n und Erkenntnisse gelöst werden k a n n ? Auch der innerhalb seiner materialistisch orientierten Zeit geniale und ganz neue Perspektiven weisende Begriff des „Kunstwollens", mit dem Riegl eine gleichmäßige u n d ständige Autonomie der Kunst sichern wollte, führt uns nicht weiter. Auch Riegl verharrt in einem psychologischen Historismus, wenn er z. B. empfiehlt, literarische Äußerungen über das Kunstwollen einer Zeit zu R a t e zu ziehen, u m zu kontrollieren, „ob m a n zur damaligen Zeit in der T a t dasjenige von der bildenden Kunst gewollt h a t , was wir uns auf Grund der Untersuchung der Denkmäler als das Gewollte vorstellen." 1 I n diesem Sinne sind auch die Worte Riegls an Dvorak zu verstehen: „Der beste Kunsthistoriker ist der, welcher keinen persönlichen Geschmack besitzt, denn es handelt sich in der Kunstgeschichte darum, objektive Kriterien der historischen Entwicklung zu finden." 2 Abgesehen davon, d a ß die Frage des persönlichen Geschmacks auf einer ganz anderen Ebene liegt, m u ß hier jedoch ausdrücklich betont werden, d a ß Riegl durch den Begriff des Kunstwollens keinesfalls o b j e k t i v e Kriterien erhalten konnte, sondern daß er psychologisch orientierten, subjektiven Interpretationen Tor u n d Tür geöffnet h a t . Panofsky h a t richtig betont, daß das Kunstwollen „keine begriffliche Zusammenfassung sei, sondern eine sinnesgeschichtliche E r k l ä r u n g " , d a ß es nur als psychologische Deutung Gegenstand kunstwissenschaftlicher Erkenntnis sein könne, und d a ß literarische Äußerungen von Künstlern selbst oder von Zeitgenossen ebenso der Deutung bedürftige u n d fähige Parallelphänomene seien" wie die künstlerischen Schöpfungen selbst. 3 Also bleibt der Kern doch stets f ü r unsere subjektive I n t e r p r e t a t i o n übrig. Das Kunstwollen sollte jedoch eigentlich das sein, „was (nicht f ü r uns, sondern objektiv) als endgültiger, letzter Sinn im künstlerischen Phänomene „liegt". Worin besteht nun jenes Kriterium, das geeignet ist, eine eindeutige Entscheidung in dem kunstwissenschaftlichen Methodenstreit zu erzielen ? D a s methodologische Ideal wäre ein rein phänomenologisch erfaßbares 1 1 3

Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901. Bd. I. S. 211ff. Dvorak: Alois Riegl. Jahrbuch der Zentralkommission. Wien 1905. Panofsky: Der Begriff des Kunstwollens. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 1920.

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Merkmal von beinahe „fibelhafter" Einfachheit und von eindeutiger Prägnanz, das sich, positiv oder negativ, an jeder kfinstlerischen Formation nachweisen läßt. Dieses methodologische Ideal wird sich jedoch vorläufig nur mit gewissen Einschränkungen verwirklichen lassen. Vor allem müssen Architektur und Kunstgewerbe, soweit es gebrauchsbestimmt ist, außer Acht gelassen werden, da die „Werkformen" dieser der Verwirklichung eines praktischen „Zwecks" dienenden Gattungen ihrem Wesen nach einer Erörterung des Autonomiebegriffes feindlich gegenüberstehen. 1 Das einfachste, in sich beinahe simple Kriterium ergibt sich unserer Meinung nach — für Malerei und Plastik — aus dem Verhältnis von Kunst und Realraum, das sich unter folgenden Gesichtspunkten betrachtet, mit Leichtigkeit ablesen läßt. Die entscheidende Frage ist: Wie steht das Kunstwerk zu uns, wo steht es, und wo stehen wir ? Ist der „Kunstraum" — nicht der Raum, den das Kunstwerk etwa darstellt oder abbildet, sondern der Raum, den es von sich aus, kraft seiner eigenen Tendenz, Energie und formalen Struktur umfaßt und braucht — mit dem „Realraum", dem Raum, in dem der Beschauer sich befindet, verbunden oder nicht? Die Grenze, die zwischen geformtem Kunstraum und ungeformtem Freiraum verläuft, wird hier als „ästhetische Grenze" bezeichnet. Diese Grenze ist nun keineswegs konstant und undurchbrechlich. Sie kann in verschiedenartiger Weise überschnitten werden. Die Kunstformation kann in den Realraum übergreifen und umgekehrt kann der Realraum, gleichsam als ungeformter Rohstoff, in den Kunstraum eindringen. Bei Architektur und Kunstgewerbe kann von einer ästhetischen Grenze nicht gesprochen werden. Der Gegensatz von Kunst- und Realraum besteht hier nicht, da Architektur und Kunstgewerbe als ästhetische Objekte eine Realität besitzen, die der reinen Anschaubarkeit von Malerei und Plastik fehlt. Die Feststellung der Stabilisierung einerseits und der Überbrückung der „ästhetischen Grenze" andererseits enthält die Antwort auf die methodisch entscheidende Frage nach der ästhetischen Autonomie des Kunstwerks. Es ist klar, daß das rein ästhetisch, assoziationslos erfaßbare und reflexionslos erschaubare Kriterium, das wir hier gefunden zu haben hoffen, in seiner Anwendbarkeit noch recht beschränkt ist. Am leichtesten wird sich die Beziehung von Kunst- und Realraum stets beim Relief ablesen lassen. Auch die Skulptur wird in ihrem jeweiligen Verhältnis zum Sockel, zur Nische, zur Architektur, zum Altar unserer Betrachtungsweise reiche Möglichkeiten eröffnen. Ebenso wird die Deckenmalerei mit ihren zeitweise stark hervortretenden illusionistischen Tendenzen, welche die Grenze 1

Über die Gebraucbsbestimmung als wesentlichen Maßstab bei der Beurteilung eines Bauwerks vgl. Kant: Kritik d. Urteilskraft. Originalausgabe. S. 208.

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von gemaltem und gebautem Räume zu verwischen suchen, ausführlich berücksichtigt werden müssen. Schwieriger gestaltet sich das Problem bei der Tafelmalerei, die ja in jedem Falle flächig, d. h. im Kunstraume gebunden bleibt. Die auch hier häufig vorhandenen ästhetischen Grenzverwischungen können allzu oft nur durch die Mithilfe der den Gehalt interpretierenden Psychologie deutlich gemacht werden, die innerhalb unserer Untersuchungen zur Stützung unserer Thesen zwar vergleichsweise angeführt werden, aber nicht ausschlaggebend, nie methodisch legitim sein darf. Um exemplifizierend eine einfache und fibelhaft klare Ablesung zu erzielen, greifen deshalb die folgenden Voruntersuchungen aus der Fülle der Möglichkeiten, neben Relief, Plastik und Deckenmalerei, aus dem Gebiet der Tafelmalerei vorwiegend eine Reihe von Kunstwerken heraus, die durch ein rein inhaltliches, man möchte sagen regietechnisches Motiv verbunden sind: Gemälde, bei denen ein Vorhang gleichsam die konkrete Rolle der „ästhetischen Grenze" übernommen hat. Dadurch wird, in Analogie zur Bühne, auf geradezu primitive Weise die Erkenntnis der Tatsache möglich, ob das Kunstwerk in einer vom Beschauer distanzierten Sphäre verharrt, oder ob es über sie hinaus tendiert. Es kommen deshalb hier nur solche Gestaltungen in Frage, bei denen sich der Vorhang nicht irgendwo im Bilde befindet, sondern bei denen er so in der vordersten Bildebene angebracht ist, daß seine potentielle Aufgabe, sich vor die Darstellung zu breiten, klar ersichtlich ist. In allen diesen Fällen beruht die Einsicht, ob das Kunstwerk die ästhetische Grenze wahrt oder nicht, auf rein phänomenologischer, deskriptiver und voraussetzungsloser Erkenntnis und bedarf keiner Stützung aus anderem, am wenigsten aus psychologischem Gebiet. Unser Kriterium, das an dem Übergreifen der Kunstformation in den Realraum den Realitätsanspruch und damit die lebensgeschichtliche Bedingtheit der Kunst erkennen will, steht in einem gewissen Gegensatz zu den Anschauungen Geigers, für den es auf das Aussehen, nicht auf die Realität des ästhetischen Gegenstandes ankommt.1 Deshalb solle die Ästhetik zunächst die ästhetischen Gegenstände nach ihrer phänomenalen Beschaffenheit untersuchen. Geiger folgert: „Im Augenblick, wo man den Gedanken des Scheins in die Ästhetik einführt, zergliedert man nicht einfach die ästhetischen Phänomene, sondern trägt Realitätsgesichtspunkte hinein. Nach der phänomenalen Seite hin ist der ästhetische Gegenstand nicht Schein."2 Auf diese Weise wird jedoch das Wesen der Kunstwerke und Stile verengt. Geiger bleibt einseitig, wenn er sagt: „Beim Ästhetischen hingegen wird die Landschaft auf einem Gemälde nicht als Realität auf1 2

M. Geiger: Zugänge zur Ästhetik. Leipzig 1928. S. 179. (Phänomenologische Ästhetik). Geiger (a. a. O.) S. 140. 11

gefaßt, nicht als ein Wirkliches, das sich nachher als unwirklich herausstellt, sondern als eine d a r g e s t e l l t e Landschaft, als eine Landschaft, die als dargestellt gegeben ist. Sowie man den Illusionsgedanken, den Gegensatz von gegebener Wirklichkeit und tatsächlicher Unwirklichkeit in die Ästhetik einführt, verläßt man das Gebiet des Phänomenalen." Unser Kriterium dagegen bleibt im Phänomenalen und arbeitet keineswegs mit dem Gegensatz von gegebener Wirklichkeit und tatsächlicher Unwirklichkeit. Es zeigt sich aber, daß die „gegebene Wirklichkeit" auf zwei grundverschiedene ästhetische Weisen gegeben sein kann, die, der phänomenologischen Methode durchaus gemäß, durch Analyse der Wesensmomente unmittelbar anschaulich gemacht werden können. Wird nun die ästhetische Grenze zwischen Kunst- und Realraum gewahrt, so kann man darin ein Zeugnis für die ästhetische Immanenz des Kunstwerkes, für die Autonomie seines Ursprungs erkennen. Wird aber die ästhetische Grenze überschritten, so spricht das für eine Heteronomie, ästhetische Transzendenz, außerästhetische Bedingtheit. Über den inneren Grund dieser Zuordnungen kann fürs Erste nichts ausgesagt werden. Unsere Erfahrungen und Beispiele zeigen jedoch, daß jedesmal, wenn die ästhetische Grenze gewahrt wird, dies auch einer ästhetischen Autonomie entspricht und umgekehrt. Es handelt sich hier keineswegs um das Aufschließen kausaler Zusammenhänge. Wir fragen nicht nach Gesetzen, sondern lediglich nach funktionalen Beziehungen, nach einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, über dessen innere Logik nichts ausgesagt werden kann. Es scheint jedoch, als ob die Beziehungslosigkeit der künstlerischen Formation zu einem Außerhalb im räumlich-physikalischen Sinne unmittelbar einer Beziehungslosigkeit der Formation zu einem Außerhalb in einem den Ursprung bedingenden, lebensgeschichtlichen Sinne entspräche. Der formalen Isolierung des Kunstwerkes aus dem Lebenszusammenhang scheint eine entstehungsgeschichtliche parallel zu laufen. Jedenfalls ergibt sich auf diese Weise die Möglichkeit, nach einem in den Dingen selbst liegenden, also legitimen Merkmal praktisch zu entscheiden, ob die Bestimmung eines Phänomens aus artfremdem, universalgeschichtlichem Gebiet ausgeschlossen werden kann oder nicht. Daß wir über den letzten logischen Grund unserer Zuordnungen nichts aussagen können, unterscheidet uns nicht von anderen methodologischen Versuchen. Wenn zum Beispiel Wölfflin sagt: „Jeder Künstler findet bestimmte „optische" Möglichkeiten vor, an die er gebunden ist. Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser „optischen Schichten" muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden"1 — so kann auch hier der innere logische 1

Wölfflin, (a. a. O.) S. 11. 12

Grund der Zuordnung der Phänomene zu anderen „optischen Grundlagen" nicht aufgedeckt werden. Lediglich die Anwendbarkeit der Kriterien muß für ihre Richtigkeit zeugen. Gleichzeitig wird es sich zeigen, daß ein formengeschichtlicher, in sich ganz gesetzmäßiger Ablauf von einer „ästhetischen" Wandlung durchkreuzt werden, und daß an einer in der Geschichte der Formen nicht sonderlich betonten Stelle eine tiefer wurzelnde Veränderung, ja eine Abkehr liegen kann. Die Folge dieses eindeutig deskriptiven Vorgehens kann nie ein wissenschaftlicher Relativismus sein. Die grundsätzliche Verschiedenheit des kunstwissenschaftlichen Verhaltens, die aus der Anwendung des formalphänomenologischen Kriteriums folgt, — nämlich daß der Kunstwissenschaftler sich einmal gezwungen sieht, zum letzten Verständnis eines künstlerischen Phänomens universal- und lebensgeschichtliche Fakten zuzuziehen, ein anderes Mal dagegen nicht, führt keineswegs zu einer relativistischen Anwendung zweier Betrachtungsweisen auf den gleichen Gegenstand der Erkenntnis. Im Gegenteil: die Notwendigkeit einer Differenzierung ergibt sich erst aus der deskriptiv erkannten inneren Verschiedenheit der Erkenntnisobjekte selbst. Lediglich zur Veranschaulichung des eben Klargelegten sei es erlaubt, interpretierend und in dem Bewußtsein der methodologischen Illegitimität zu sagen, daß die Überschneidung der ästhetischen Grenze als das aktive Heraustreten des Kunstwerkes über den eine eigene Welt darstellenden Kunstraum als eine tendenzerfüllte Attacke auf den Beschauer angesehen werden kann. Dieser soll durch das in seinen Raum übergreifende Kunstwerk, das einen Realitätszusammenhang mit ihm selbst herstellt, in irgend einem Sinne beeinflußt werden und zwar in einem Sinne, der bei der Gestaltung und Formgebung des Kunstwerkes als wesentliches Moment, wenn auch nicht immer bewußt, mitkonzipiert ist. Ein Kunstwerk dagegen, das durch keinen formalen Zug eine Verbindung und Verschleifung von Real- und Kunstraum herstellt, bekundet hierdurch zweifellos seine Unbekümmertheit um eine Außenwelt und um ein Publikum. Die Relevanz der „Isolierung", des Austritts aus dem Lebenszusammenhang für die ästhetische Bedeutsamkeit des Kunstwerks wird auch von Hamann, auf Münsterberg fußend, betont. 1 Dies sind andere Worte für das, was Kreis die „Voll-endung" in sich oder die Selbstgenügsamkeit des Ästhetischen nennt. Hamann geht vom „ästhetischen Verhalten 1 ' aus und will jede eigenbedeutsame „Wahrnehmung" zum Gegenstand der Ästhetik gemacht sehen, so daß ihm sogar die Wahrnehmung der Wirklichkeit ästhetisch wertvoll werden kann, wenn sie eigenbedeutsam ist, und es auf 1

Hamann: Ästhetik. Leipzig und Berlin. 1919.

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die Wirklichkeitsbedeutung als solche nicht ankommt. Er verführt auf diese Weise einerseits rein apperzeptionspsychologisch, andererseits trennt er Ästhetik und Kunst prinzipiell voneinander, wodurch z. B. religiöse Kunst für ihn (der von ihrer B e d e u t u n g und von dem gebietsfremden Wissen um ihre kulturellen Voraussetzungen und Zwecke ausgeht), zu „unästhetischer Kunst" (jedoch stets Kunst) wird. Hamann geht also interpretationspsychologisch vor und kann daher in unserem Sinne in keinem Fall zu einer seihständigen Wissenschaft gelangen. Die außerästhetische Bedingtheit eines Kunstwerkes muß und kann vielmehr an einem neutralen Merkmal so anschaulich werden, daß seihst der Angehörige einer fremden Kultur, dem das Christentum oder die soziologische Struktur der europäischen Völker ganz fremd sind, in die Lage versetzt wird, zu unterscheiden, wann er nach der außerästhetischen Bedingtheit forschen muß und wann nicht. Denn darauf kommt es uns ja in diesen Untersuchungen an: wir treiben hier nicht Ästhetik als reine theoretische Wissenschaft, sondern suchen nach einem methodisch legitimen kunstgeschichtlichen Verfahren. Im gleichen Sinne wie Hamann und Kreis sagt Georg Simmel über den Bilderrahmen: „Er schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird." 1 Da Distanz und Einheit, Antithese gegen uns und Synthese in sich Wechselbegriffe sind, wird für Simmel ein Kunstwerk, das auf ein Außerhalb Bezug nimmt, zu einem Gebilde, das diesen Namen nicht mehr verdient. Diese Gleichsetzung von künstlerischer Einheit (deutlich in einem qualitativen Sinne gemeint) mit Abgeschlossenheit gegen Beschauer und Welt, mit Selbstgenügsamkeit, ästhetischer Autonomie und Immanenz beruht auf einem von ganz subjektiver Wertung diktierten Kunstbegriff, der Simmel hier deutlich als Impressionisten des 19. Jahrhunderts kennzeichnet. Neben die in ihrem Ursprung autonome, aus jedem Lebenszusammenhang isolierte Kunst tritt mit der gleichen Vollgültigkeit, unabhängig von allen Qualitätsfragen und, wie wir sehen werden, im Verlauf der Geschichte in einer viel häufigeren und nachdrücklicheren Ausprägung, die heteronome Kunst, die Hamann (unter Beschränkung auf religiöse Kunst) „unästhetisch" genannt hat. Die allerdings nur an gewissen, bestimmt gearteten Gruppen von Kunstwerken phänomenologisch erkennbare, gleichsam ablesbare Entscheidung über die Wahrung oder die Überschneidung der ästhetischen Grenze stellt ein erstes jener aus methodologischen Gründen erforderlichen, rein formalen, vorerst völlig assoziationslos anzuwendenden Kriterien dar, nach welchen entschieden werden kann, was man in gewissen Zeiten „unter 1

Simmel: Zur Philosophie der Kunst: Der Bilden-ahmen. Potsdam 1922. S. 46ff.

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Kunst verstand, was man in ihr suchte und von ihr begehrte." (Dvorak). Es steht theoretisch nichts im Wege, und es muß sogar gehofft werden, daß neben unser vorerst etwas schematisch anmutendes, aus den Gegebenheiten der abendländischen Kunst abgeleitetes Kennzeichen später weitere und umfassendere formalphänomenologische Kriterien treten werden.

II. Eine ausgewählte Reihe von Kunstwerken aus verschiedenen wichtigen Stilstufen mag im Folgenden, unter besonderer Berücksichtigung der Reliefkunst, der in einem architektonischen Zusammenhang befindlichen Plastik, der Deckenmalerei und des Vorhangmotives in der Tafelmalerei, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, für die methodologische Brauchbarkeit unseres Kriteriums zeugen. Ein außerordentlich charakterisches Beispiel ist das Elfenbein-Diptychon des Konsuls Felix aus dem Jahre 428 n. Chr., das in der Pariser Nationalbibliothek bewahrt wird (Abb. 1). Dieses späte Dokument der weströmischen Kunst basiert stofflich und formengeschichtlich noch vollkommen auf den Grundlagen der antiken Vergangenheit. Diptycha, zwei durch Scharniere verbundene, auf der Innenseite mit Wachs überzogene Schreibtafeln, wurden die gesamte Antike hindurch zur Nachrichtenübermittlung verwendet. Sie waren aus Holz, Metall, Papyrus und Elfenbein gefertigt, die Außenseiten wurden meistens durch Reliefs geschmückt. I n der römischen Kaiserzeit wurde es Sitte, daß Beamte ihren Freunden beim Amtsantritt oder am Neujahrstage solche Diptycha schenkten, die dann häufig das Bild des Schenkers oder des Beschenkten trugen. Die uns erhaltenen Diptycha dieser Art sind ausschließlich Gaben von Konsuln; von Prätoren, Quästoren und Aedilen sind keine Diptycha auf unsere Zeit gekommen. Und wenn auch die Konsulardiptycha, die uns bekannt sind, alle erst aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammen, so muß doch betont werden, daß das Diptychon an sich auf eine lange antike Tradition zurückblicken konnte. Ebenso müssen die schmückenden Reliefs als Spätformen der sich ununterbrochen weiter entwickelnden antiken Plastik angesehen werden. Obwohl bei dem Felix-Diptychon in keiner Weise von der traditionellen Bestimmung und Gestaltung abgewichen wurde, obwohl gegenständlich und formengeschichtlich kein Eindringen frühchristlich-religiöser Züge zu bemerken ist, kann man doch sofort an einer rein formalen Tatsache erkennen, daß hinter dieser Kunst eine neue, der wahren Antike fremde Macht zu wirken beginnt, welche die Autonomie der ehemals ästhetisch distanzierten Kunstwelt zu Gunsten außerästhetischer Ziele aufhebt. 15

Kunst verstand, was man in ihr suchte und von ihr begehrte." (Dvorak). Es steht theoretisch nichts im Wege, und es muß sogar gehofft werden, daß neben unser vorerst etwas schematisch anmutendes, aus den Gegebenheiten der abendländischen Kunst abgeleitetes Kennzeichen später weitere und umfassendere formalphänomenologische Kriterien treten werden.

II. Eine ausgewählte Reihe von Kunstwerken aus verschiedenen wichtigen Stilstufen mag im Folgenden, unter besonderer Berücksichtigung der Reliefkunst, der in einem architektonischen Zusammenhang befindlichen Plastik, der Deckenmalerei und des Vorhangmotives in der Tafelmalerei, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, für die methodologische Brauchbarkeit unseres Kriteriums zeugen. Ein außerordentlich charakterisches Beispiel ist das Elfenbein-Diptychon des Konsuls Felix aus dem Jahre 428 n. Chr., das in der Pariser Nationalbibliothek bewahrt wird (Abb. 1). Dieses späte Dokument der weströmischen Kunst basiert stofflich und formengeschichtlich noch vollkommen auf den Grundlagen der antiken Vergangenheit. Diptycha, zwei durch Scharniere verbundene, auf der Innenseite mit Wachs überzogene Schreibtafeln, wurden die gesamte Antike hindurch zur Nachrichtenübermittlung verwendet. Sie waren aus Holz, Metall, Papyrus und Elfenbein gefertigt, die Außenseiten wurden meistens durch Reliefs geschmückt. I n der römischen Kaiserzeit wurde es Sitte, daß Beamte ihren Freunden beim Amtsantritt oder am Neujahrstage solche Diptycha schenkten, die dann häufig das Bild des Schenkers oder des Beschenkten trugen. Die uns erhaltenen Diptycha dieser Art sind ausschließlich Gaben von Konsuln; von Prätoren, Quästoren und Aedilen sind keine Diptycha auf unsere Zeit gekommen. Und wenn auch die Konsulardiptycha, die uns bekannt sind, alle erst aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammen, so muß doch betont werden, daß das Diptychon an sich auf eine lange antike Tradition zurückblicken konnte. Ebenso müssen die schmückenden Reliefs als Spätformen der sich ununterbrochen weiter entwickelnden antiken Plastik angesehen werden. Obwohl bei dem Felix-Diptychon in keiner Weise von der traditionellen Bestimmung und Gestaltung abgewichen wurde, obwohl gegenständlich und formengeschichtlich kein Eindringen frühchristlich-religiöser Züge zu bemerken ist, kann man doch sofort an einer rein formalen Tatsache erkennen, daß hinter dieser Kunst eine neue, der wahren Antike fremde Macht zu wirken beginnt, welche die Autonomie der ehemals ästhetisch distanzierten Kunstwelt zu Gunsten außerästhetischer Ziele aufhebt. 15

Der durch die architektonische Umrahmung des Reliefs streng begrenzte Biidraum, der die Gestalt des Konsuls umgibt, wird vom Beschauer durch einen von dem oberen Querbalken herabfallenden Vorhang getrennt. An den Berührungspunkten des Vorhangs mit der architektonischen Umrahmung läßt sich deutlich erkennen, daß der Bildraum durch diesen Vorhang nach vorn abgeschlossen werden kann. Zwischen den zur Seite gezogenen beiden Hälften der Draperie schiebt sich jedoch die Gestalt des Konsuls vor den eigentlich distanzierten Kunstraum hinaus. Das Szepter greift weit über den Vorhang, der Schenker des Diptychons drängt sich dem Beschenkten, dem Beschauer schlechthin, entgegen. Für die Figur ist die ideal entrückte und durch den Vorhang von der Außenwelt gleichsam abgeriegelte Bildbühnensphäre nicht mehr verbindlich. Die Gestalt schreitet in den freien Realraum, in dem wir uns befinden, herüber. So ist sogar an einem in seiner Entwicklungsgeschichte und in seinem Zwecke noch rein antik-heidnischen Motiv, welches von sich aus keine Beziehungen zu dem emporblühenden Christentum des 5. Jahrhunderts besitzt, zu erkennen, daß die Kunst dieser Zeit im allgemeinen von irgendeiner außerkünstlerischen Idee berührt worden, das heißt, daß ihre ästhetische Eigengesetzlichkeit aufgehoben ist. Es liegt nahe, das hinter dieser Kunst wirksame außerkünstlerische Phänomen in der religiösen Missionsidee zu suchen. Und in der Tat spricht der gleichzeitig wirkende Kirchenschriftsteller, der asketische Paulinus von Nola (353—431, Hauptwerke 410—413), ausdrücklich von der Aufgabe der Kunst, das Volk zu belehren und zu erbauen. Die Fresken an den Mauern einer Basilika wurden „als ein vor den Augen der Gemeinde stets aufgeschlagenes, den mündlichen Lehrvortrag unterstützendes Buch angesehen." 1 Paulinus betont ausdrücklich, eine Belehrung durch das Auge sei wirksamer als eine durch das Wort. Die Verwendung der Diptycha zu r e l i g i ö s e m Gebrauch, die sich bis in das 12. Jahrhundert hinein erhalten hat, beginnt erst in einer späteren Zeit. Es muß aber hervorgehoben werden, daß der heilige Augustin, der bereits 2 Jahre nach der Entstehung des Felix-Diptychons starb, die Gesetzestafeln Moses' ein steinernes Diptychon genannt und auf diese Weise die spätere Entwicklung vorbereitet hat. Die in dem noch ganz unchristlichen Felix-Diptychon inhaltlich nicht offen zu Tage tretende, außerästhetisch bedingte Kunstauffassung der Zeit erkennen wir trotzdem deutlich durch ein rein formales Kennzeichen. Und erst jetzt sind wir methodologisch berechtigt, ja sogar verpflichtet, unsere Betrachtungen auf die Kulturphänomene, deren Übermacht die Kunst aus einer autonomen in eine dienende Stellung gedrängt hat, auszudehnen. 1

Vergl. F. X. Kraus: Geschichte der christlichen Kunst, Band I S. 79.

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Als zweites Beispiel soll das Kelief des Abendmahls von der ilolztür zu St. Marien im Kapitol zu Köln dienen, das aus der Zeit zwischen den Jahren 1050—1065 stammt (Abb. 2). Auf einer flachen Bildbühne sitzen Christus und die Apostel hinter einer langen Tafel. Der obere Rand der Darstellung ist von einer Stange gesäumt, um die in ornamentaler Drapierung ein an den Seiten herabhängender Vorhang geschlungen ist. Die Analogie zu der Bühne eines Puppenspiels wurde als für alle Reliefs der Holztür charakteristisch bereits von Hamann betont. 1 Ob hier tatsächlich Beziehungen zu den Mysterienspielen vorliegen, die für die Bildgestaltung entscheidend waren, fällt außerhalb des Rahmens unserer Untersuchungen. Die Hauptwurzel des Wortes Mysterium ist das lateinische „ministerium". Aber die Vorstellung „mysticum" spielt herein. Es liegt eine Kontamination vor. 2 Ministerium bedeutet Dienst. Dienstspiel ist demnach eine für heteronome Kunst sehr treffende Wortprägung. Unabhängig hiervon ist jedoch die Tatsache von phänomenologischer und damit ästhetischer Wichtigkeit, daß die auf dem Relief weiter vorn sitzenden Jünger, vor allem aber der zu äußerst rechts Sitzende, durch ihre körperliche Ausdehnung über die durch die Vorhangsebene abgeriegelte Bildbühnensphäre herausragen, ebenso wie der Tisch und andere erhaben gebildete Teile der Darstellung die Rahmung des ganzen Reliefs überschneiden. Die Kunstformation greift also in den freien Realraum, in die Lebenssphäre des Beschauers über und bekundet, rein phänomenologisch mit dieser „Gebärde" die Beziehung zu einem Außerhalb im räumlich-physikalischen Sinne. Man kann hier psychologisch vorgehend ein auf Wirkung gerichtetes Wollen erkennen, über das wir aber interpretatorisch vorläufig noch nichts Näheres aussagen dürfen. Wir erhalten jedoch durch diese rein formale Tatsache die Anweisung, nunmehr s e k u n d ä r nach der Beziehung zu einem Außerhalb im entstehungsgeschichtlichen Sinne zu forschen, nach dem geistesgeschichtlichen Unterbau, der lebensgeschichtlichen Verflechtung dieser Kunst zu suchen, wozu wir j etzt methodologisch berechtigt sind, da ihre Heteronomie f o r m a l zur Gestaltung gelangt ist. Früher als das Kölner Relief, aber ebenfalls in das 11. Jahrhundert muß eine Buchillustration aus dem Evangeliar Kaiser Heinrichs II. in Bamberg gesetzt werden. 3 Vorhänge sind ein häufiges Motiv in der frühmittelalterlichen Malerei. Meistens werden sie jedoch lediglich in mannigfacher Schlingung und Drapierung ornamental verwertet. Das kleine Evangelistenbild aus dem Evangeliar Kaiser Heinrichs aber zeigt einen v o r der 1 1 8

H a m a n n : Die Holztfir der Pfarrkirche St. Marien im Kapitol. Marburg 1926, S. 9. Diesen Hinweis verdankt der Verfasser Herrn Geheimrat Vossler. Swarzenski: Die Salzburger Malerei von den Anfängen bis zur Blütezeit des romanischen Stils, Leipzig 1913, S. 37. Das Evangeliar wird mit Wahrscheinlichkeit auf Kaiser Heinrich II. bezogen, d e r von 1002 bis 1014 regierte. 2

Michalski.

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Bildbühne an einer Stange aufgehängten Vorhang, der neben seiner zweifellos auch ornamentalen Bedeutung, ebenso wie bei dem Kölner Relief, die vordere Ebene, die ästhetische Grenze gegen den Beschauer betont (Abb. 3). Am deutlichsten sieht man am oberen Bildrande, wo die Stange mit dem architektonischen Rahmen verbunden ist, wie sie zusammen mit dem von ihr herabfallenden Vorhang als vordere Begrenzungsfläche des Bildraumes gesehen werden will. Der Evangelist selbst ragt aber mit seiner Gestalt trotzdem über die Vorhangszone heraus, er fiberschreitet gleichsam seine Lebenssphäre und verbindet auf diese Weise den Kunstraum mit dem realen Freiraum. 1 Die Autonomie des künstlerischen Geschehens ist nicht gewahrt, wir müssen nach den außerästhetischen Kulturphänomenen suchen, denen diese Kunst dient. Diese Erkenntnisse stimmen durchaus mit den Resultaten der von einer Formenentwicklung ausgehenden, morphologischen Betrachtungsweise überein. Der Illusionismus, welcher — als Beispiel — bei der von spielenden Lichtern übergossenen Merseburger Grabplatte Rudolfs von Schwaben (gest. 1080) „in der Darstellung der Augen durch (heute ausgebrochene) Glasflüsse, in der bewußten Ausspielung der scharfen Glanzlichter gegen die Dunkelheiten, vor allem aber in der nur scheinbar linearen Bezeichnung der Falten, die in Wahrheit nicht sowohl durch eingeritzte Linien- als vielmehr durch die Randlichter der zart reliefierten Gewandzüge bewirkt wird", 2 zum Ausdruck kommt, setzt sich scharf gegen den plastischen Monumentalstil des 12. Jahrhunderts ab. Diese Entwicklung führt über das Grabdenkmal des Sachsenherzogs Widukind in Enger (um 1100) zu der Grabplatte Friedrichs von Wettin in Magdeburg (gestorben 1152).3 Der frühromanische Illusionismus des 11. Jahrhunderts, der in dem Vorhangsmotiv und 6einer Überschneidung durch einzelne Figuren und Gegenstände auf dem Kölner Relief besonders deutlich zu Tage tritt, wird in dieser betonten Form im 12. Jahrhundert aufgegeben. Es erscheinen ganz neue, deutlich im Formalen wurzelnde Probleme, im Gegensatz zu 1

Das gleiche Phänomen läßt sich neben einer Reihe anderer Beispiele auch bei den Evangelisten des Hilinus-Codex in der Kölner Dombibliothek beobachten, der in die Zeit um das Jahr 1000 gesetzt wird. Schon gegen das Ende des 9. Jahrhunderts zeigen sich in der Buchmalerei auffallende Rahmenüberschneidungen. So bei der „Steinigung des Stephanus" aus dem weiteren Kreis der Adagruppe (München) und bei dem sog. Psalter Lndwigs des Deutschen (Berlin), wo der auf einem Betschemel kniende Stifter weit aus dem eigentlichen Bildfeld herausragt. Nachdrückliche Rahmenüberschneidungen finden sich u. a. ferner: bei der Kreuzigung des Evangeliars Ottos II. oder III. im Aachener Domschatz (Reichenau. 4. Viertel d. 10. Jahrh.) und bei der Kreuzigung des EgbertCodex in Trier. (Reichenau, um 980.) (Goldschmidt: Die deutsche Buchmalerei. München 1928. I. Taf. 53, 63. II. Taf. 3, 6.) 1 Panofsky: Die deutsche Plastik des 11.—13. Jahrhunderts, München, 1924. S. 14. 3 Panofsky: (a. a. O.) S. 14.

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der vorwiegend religiös-erzählenden Kunst des 11. Jahrhunderts, welche Einzelformen und Gestalten mehr oder minder selbstlos im Ganzen aufgehen ließ. 1 Dieser Vorgang ist auch rein formengeschichtlich darstellbar. Wir betrachten ihn jedoch von einem anderen Richtpunkt aus. Architekturplastik und Einzelgestalt rücken immer stärker in den Vordergrund des künstlerischen Interesses. Es handelt sich sowohl um die formale Einordnung der Skulptur in dem Bau, der sie trägt, wie um eine ganz neue, selbständige und eigenwertige Durchbildung und Bewegung der betreffenden Figur selbst, kurz um ihre plastische Gestaltung. Ästhetische, zweckfreie Zielsetzungen tauchen auf. Gewiß bleibt auch hier im Großen die Einordnung in ein religiöses Ganzes, die Kirche, bestehen. Dennoch ist ein grundlegender Wandel eingetreten. „Die Beziehung zum Ganzen ist das o r d n e n d e Prinzip für alles Einzelne, aber nicht mehr das b e s e e l e n d e . 1 ' 2 Das 12. Jahrhundert muß in jeder Beziehung als eine Übergangszeit angesehen werden. Um die neuen, zweckfrei-ästhetischen Gestaltungsprobleme wird noch gerungen, sie sind noch nicht zur Herrschaft gelangt. Erst das reife 13. Jahrhundert sollte die Keime, die hier zur Entfaltung drängen, in ihrer Blüte sehen. Die Relieffiguren des 12. Jahrhunderts greifen nicht mehr mit der gleichen inneren Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit, wie bei dem Kölner Abendmahl-Relief und anderen Beispielen des 11. Jahrhunderts, unter denen vor allem die Hildesheimer Bernwardstüren zu nennen sind, über die Rahmung hinaus, um sich dem Beschauer entgegen zu recken. Während bei den Reliefs der Bernwardstüren Köpfe und Glieder der bronzenen Figuren in den Realraum hinausragen, so daß die Reliefs sich stellenweise bis zur vollrunden Plastik steigern, und die Löwenköpfe, welche die Ringe zum Anfassen der Türflügel tragen, in die Begrenzungen der rechtwinkligen Relieffelder einschneiden, tritt jetzt, besonders in Frankreich, eine gewisse Labilität des „ästhetischen Grenzgefühls" auf, die mit der Einstellung des 11. Jahrhunderts nicht mehr zu vergleichen ist. Bei dem Tympanonrelief in St. Denis wird die ästhetische Grenze der Reliefumrahmung streng gewahrt (1135—40), ebenso bei den meisten Reliefs des Königsportals der Chartreser Westfassade. 3 Für die Gewändefiguren von Chartre6-We8t ist von Rosenthal bereits das „Moment der individuellen Abgrenzung" als entscheidendes Merkmal hervorgehoben worden. 4 „Sie sind nach oben und unten isoliert, indem erst weit über ihren Köpfen ein

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Vgl. u. a. Beenken: Die romanische Skulptur in Deutschland, Leipzig, 1925, S. X X I I . * Beenken: (a. a. O.). S. XXIII. 3 Aubert: Die gotische Plastik Frankreichs von 1140—1225. Florenz und München 1929. Tafel 1, 5, 8—12. * Rosenthal: Giotto in der mittelalterlichen Geistesentwicklung. Augsburg 1924. S. 59.

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neues architektonisches Glied beginnt und das Postament ihrer Füße hoch über den Säulensockeln schwebt/' Die aus der Zeit um 1140 stammenden Figuren in St. Gilles spiegeln den ästhetischen Übergang des 12. Jahrhunderts in besonders deutlicher Weise.1 Die Gestalten sind hier in enge Wandnischen eingelassen, die ihrer Größe und ihren Bewegungstendenzen geradezu widersprechen und ihnen keine Entfaltungsmöglichkeiten gewähren. Jede Figur ist nochmals in der Nische für sich durch einen besonderen Sockel isoliert. Und wenn auch, im Profil betrachtet, das Körpervolumen der Gestalten gelegentlich über die Nische herausdringt, so spricht doch deutlich der Wille zur ästhetischen Distanz in den lastenden Architraven und abriegelnden Pilastern, welche die Figur in den Kunstraum bannen. Die Antithese gegen den Beschauer wird hier gleichsam vor unseren Augen gewaltsam hergestellt. Auch in SaintTrophime zu Arles erscheinen die Figuren in ihren Umrahmungen wie eingesperrt. 2 Dagegen ragen bei den Tympanonreliefs in Charlieu und Chartres (West, links) Engelsflügel und Heiligenscheine leise über die ornamentale Umrahmung der Reliefs, ohne dadurch jedoch eine bewußte Verbindung von Real- und Kunstraum zum Ausdruck zu bringen, besonders da man das gesamte Portalgiebelfeld mit den Archivolten als in die einheitliche Kunstzone gehörig empfinden kann. Ein immerhin nicht unbedeutendes Überschneiden des ornamentalen Reliefrahmens durch Formen aus der Bildsphäre findet sich jedoch in Carrières - St. Denis (drittes Viertel des 12. Jahrhunderts), wo rechts und links neben der thronenden Maria die Verkündigung und Taufe dargestellt sind. 3 Auch die Madonna an dem kleinen Nordportal der Reimser Kathedrale, die ebenfalls in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts gehört, ragt aus ihrer architektonisch gerahmten Bildnische, deren Tiefe durch einen von hinten nach vorn geschlungenen Vorhang angegeben ist, in den Freiraum hinaus.4 Der Thron und besonders die Platte unter den Füßen der Madonna treten über die Schwelle des Tabernakels. Allerdings muß auch hier betont werden, daß im Grunde erst das Halbrund des Portals als maßgebender und entscheidender Rahmen angesehen werden kann, um so mehr, als man wohl annehmen darf, daß die nähere Umgebung der nicht mehr an ihrer ursprünglichen Stelle befindlichen Madonna früher in irgendeinem Sinne bildnerisch ausgestaltet war. In ganz ähnlicher Weise stellt die thronende Jungfrau Aubert: (a. a. O.) Taf. 48—59. Aubert datiert 1160—70. Doch es muß Kingsley-Porter Romanesque Sculpture of the Pilgrimage Roads. Boston 1923) zugestimmt werden, der eine Entstehung um 1140 annimmt. ' Aubert (a. a. O.) Tafel 51. 3 Vitry-Brière : Documents de Sculpture Française du Moyen-age. Paris. 1904. Taf. 37. Abb. 2. 4 Aubert: (a. a. O.) Taf. 43. 1

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der Pariser Westfassade die Synthese mit dem Betrachter her.1 tüer greitt besonders die segnende Hand der Maria in den Freiraum hinein. Auch in Deutschland läßt sich das gleiche Schwanken nachweisen. Während die Relieffiguren des heiligen Grabes in Gernrode durchaus die ästhetische Grenze wahren, findet man bei den Figuren der in Deutschland gefertigten Nowgoroder Türen noch das knaufartige Hereinragen einzelner Figurenteile in den Freiraum, wie es bei den Bernwardstüren des 11. Jahrhunderts bereits zu beobachten war. Ebenso zeigen der Erfurter Altaraufsatz (um 1160) und die Gröninger Emporenbrüstung in Berlin (um 1170), daß das Gefühl für eine isolierende Rahmung noch nicht voll ausgeprägt ist. Auf der gleichen Stufe steht die Buchmalerei. Bei der Darstellung der heiligen drei Könige aus dem Hardehausener Evangeliar in Kassel (2. Hälfte des 12. Jahrh.) greift ein König in einer Art, der wir bezeichnenderweise im 14. Jahrhundert wieder begegnen werden, über den das Bildfeld begrenzenden ornamentierten Rahmen hinaus. Auch bei dem „Martyrium des heiligen Albanus" (Albanipsalter, Hildesheim) wird der Rahmen des Bildfeldes nachdrücklich überschnitten, ebenso bei der „Steinigung des heiligen Stephanus" im Salzburger Antiphonar der Stiftsbibliothek St. Peter (um 1147). Bei der Äbtissindarstellung eines Salzburger Graduales in der Stiftsbibliothek St. Peter (um 1178) ragt ein Schriftband weit aus dem eigentlichen Bildfeld heraus. 2 Von dem beinahe illusionistischen Heraustreten gemalter Figuren aus der Fläche, wie man es bei einigen Fresken aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, u. a. in Schwarzrheindorf oder in St. Gereon zu Köln, beobachten kann, wird noch in anderem Zusammenhange zu reden sein. Jedenfalls läßt sich die Zwitterstellung des 12. Jahrhunderts gerade in ästhetischer Beziehung nicht verkennen. Die Kunst hatte sich von ihrer alten kirchlich-didaktischen Gebundenheit bereits frei gemacht, ohne jedoch schon vollkommen auf eigenen Füßen stehen zu können. Auch in der italienischen Plastik des 12. Jahrhunderts tritt diese Zwiespältigkeit deutlich hervor. Die Reliefs des Meisters Wilhelm an der Fassade des Doms zu Modena aus dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts sind streng gerahmt. Dieser ästhetischen Haltung läuft in formengeschichtlicher Hinsicht eine deutliche Beziehung zur Antike parallel. 3 Auch das Relief des reitenden hl. Georg über dem Domportal zu Ferrara aus dem Jahre 1135, ein Werk des inschriftlich gesicherten Meisters Nikolaus, der, wie auch Vitzthum annimmt, kaum eine Beziehung zu Meister Wilhelm hatte, wahrt 1 Aubert: (a. a. O.) Taf. 42 b. » Swarzenski: (a. a. O.) Abb. 354, 447. Goldschmidt: Der Albanipsalter in Hildesheim. Berlin. 1895. Taf. VII. 3 Venturi: Storia dell'arte italiana. Bd. III. Abb. 121, 122, 129—132. — Vitzthum: Die Malerei u. Plastik d. Mittelalters in Italien. (Handbuch der Kunstwissenschaft) Taf. IV.

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deutlich die äußere Umrahmung der Lunette. 1 Aber bei Nikolaus' ebenfalls inschriftlich bezeichneten Fassadenreliefs von S. Zeno in Verona überschneiden die Figuren den Rahmen und „der fehlende Bodenstreif wird hier und da durch sockelartige Vorsprünge unter ihren Füßen ersetzt." 2 Die gleiche Erscheinung konnte bei der Reimser und bei der Pariser Sitzmadonna beobachtet werden. — Auch bei den Passionsreliefs am Pontile des Doms zu Modena treten Überschneidungen der ästhetischen Grenze auf. So vor allem am Abendmahlrelief, wo die Nimben der hinter dem Tische sitzenden Figuren in den Rahmen hineinragen. Die gereckte Gestalt Christi steigt beinahe aus dem Rahmen heraus und beansprucht durch diese Grenzüberschneidung besondere Aufmerksamkeit. 3 Gerade diese Grenzüberschneidungen verbinden den Modeneser Meister, neben anderen formalen Zügen, mit dem Meister der Apostelreliefs im nördlichen Seitenschiff des Mailänder Doms (1185—87).4 Diese Figuren sind in enge, durch Säulen abgeteilte Nischen eingefaßt. Doch die Füße der Apostel ragen alle über die Schwelle des Reliefs in den Freiraum hinaus, und die Heiligenscheine überschneiden den Architrav. Gall hat richtig auf die enge Beziehung dieser Figurenanordnung zu den Skulpturen von St. Trophime in Arles hingewiesen. Außer diesem Mailänder Künstler hat man vor allem in Benedetto Antelami einen Schüler des Meisters der Modeneser Passionsreliefs sehen wollen. In den Werken des Antelami zeigt sich gegen das Ende des 12. Jahrhunderts die Autonomie des Kunstraumes in einer bereits deutlich ausgebildeten Form. Auf Antelamis frühstem, bekannten Werk, dem 1178 datierten, von einer Kanzel stammenden Marmorrelief der Kreuzabnahme in der Kathedrale zu Parma, wird der Bildraum durch einen äußeren Rahmen, der mit Blatt- und Rankenornamenten geschmückt ist, in strenger Abgeschlossenheit von Betrachter und Welt gehalten. 5 Die Ansichten schwanken, ob man die sichtlich doch von Antelami stammenden Werke in Borgo San Donnino an das Relief in der Kathedrale von Parma anschließen soll oder nicht. Venturi glaubt, Antelami sei in den Jahren 1178—96 in Borgo San Donnino tätig gewesen. Vitzthum möchte die dortigen Arbeiten erst in den Beginn des 13. Jahrhunderts 1 Venturi: (a. a. O.) Bd. III. Abb. 170; Vitzthum: Abb. SO. * Vitzthum: (a. a. O.) S. 84. Abb. 51. Vitzthum bezweifelt nicht, daß es sich um den gleichen Meister Nikolaus handelt. 3 Venturi: (a. a. O.) Abb. 251, 252. — Vitzthum: (a. a. O.) Abb. 52. * Gall: Die Apostelreliefs im Mailänder Dom. Monatshefte f. Kunstwissenschaft. 1921. S. lff. Taf. 1. 5 Venturi: (a. a. O.) Bd. III, S. 279ff. Abb. 284, 287, 288, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 314, 315, 316, 317, 321, 325. Vitzthum (a. a. O.) Abb. 53. — Zur Datierung der Skulpturen von Borgo San Donnino in die Jahre 1178—96 vgl. auch A. Venturi in ThiemeBeckers Künstlerlexikon.

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setzen. Wir neigen dazu, Venturi Recht zu geben, da auch ein formengeschichtlicher Vergleich der Propheten in Borgo San Donnino mit den nach 1196 entstandenen Propheten am Baptisterium in Parma zeigt, daß die Figuren in Borgo San Donnino noch graphischer und weniger plastisch behandelt sind als die entsprechenden in Parma. Ein piorphologischer Vergleich wird jedoch durch die deutlich bevorstehende Werkstattbeteiligung bei den Arbeiten am Baptisterium von Parma erschwert. Man läuft auf diese Weise leicht Gefahr, eine mindere Qualität als „altertümlich" aufzufassen. Entscheidend aber ist für uns vor allem die Lösung der raumästhetischen Frage. Die Figuren des David und des Ezechiel in Borgo San Donnino werden von halbrunden Nischen umfangen. Die Gestalten stehen jede innerhalb der Nische auf einer besonderen Plinthe, die sich allerdings etwas in den Freiraum vorschiebt. Dennoch halten die Füße der Figuren an der Nischenschwelle, so daß kein Körperteil aus der umfriedeten Kunstzone heraustritt. I n der Nischenwölbung über dem Propheten Ezechiel erscheint als Hochrelief die Gestalt der Maria mit dem Kinde zwischen Buchsbaumzweigen. Der Umriß dieser Gruppe gehorcht genau der abschließenden Kante des Nischenrunds. Über dem König David ist die „Darbringung im Tempel" wiedergegeben. Hier ist das ästhetische GrenzgefOhl etwas labiler, doch die kleine Architektur der Darbringungsszene überschneidet nur das innere Profil des durch eine Hohlkehle abgestuften Nischenrahmens, das äußere nicht. Zweifellos steckt aber in der unentschiedenen, spannungslosen Art, wie die Reliefs mit der von Engeln geführten armen und reichen Familie ohne jegliche Rahmung in die Mauer der Fassade eingefügt sind, noch viel von der ästhetischen Unentschiedenheit des 12. Jahrhunderts. Die Engel befinden sich jedesmal auf der einen Seite der Nische, die Familien auf der anderen. Hierdurch entsteht eine unbegrenzte Beziehung der zusammengehörigen Gruppe über die Nische hinweg. Ganz anders wird dies bei Antelamis Arbeiten am Baptisterium in Parma, die 1196 begonnen wurden. Allein die Berücksichtigung unseres deskriptiven Kriteriums macht eine Entstehung dieser Skulpturen nach den Arbeiten in Borgo San Donnino wahrscheinlich. Wenn Vitzthum von den Reliefgestalten des Donninusfrieses in psychologischer Interpretation sagt: „Sie sprechen durchaus ad spectatores, aus dem Bilde heraus", so muß auch dies in unserem Sinne auf eine frühere Datierung hinweisen. 1 Denn es muß betont werden, daß die ästhetische Autonomie in Parma nachdrücklicher in die Erscheinung tritt, als bei den früheren Werken Antelamis. Sowohl bei den Tympanonreliefs, wie vor allem bei den in tiefe, kastenartige Nischen eingelassenen Einzelstatuen wird die ästhetische Grenze » Vitzthum: (a. a. O.) S. 93.

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stets deutlich gewahrt. Die beiden Engelsfiguren, die stehenden Gestalten Salomos und der Königin von Saba, deren enge Verwandtschaft mit der französischen Kathedralenplastik des 13. Jahrhunderts auch Vitzthum hervorhebt, sowie die sitzenden Propheten erscheinen innerhalb ihrer Bildbühne selbst durch besondere Plinthen nochmals aus jedem Lebenszusammenhang isoliert. Die Freiplastik tritt hier in unlösbarer Verbindung mit einem eigenen, nur ihr zugehörigen Bildraum auf. Die Tätigkeit des Antelami reicht bis in das 13. Jahrhundert hinein. Venturi schreibt ihm das Kreuzigungsrelief des hl. Andreas in Vercelli (1219) und das 1233 datierte Hochrelief des zu Pferde reitenden Oldrado da Tresseno am Palazzo della Ragione in Mailand zu. Für Vitzthum kreuzt sich hier eine von Antelami abgeleitete Kunst mit französischen Einflüssen. Ob es sich nun um eigenhändige Werke des Antelami handelt, oder nicht, jedenfalls wird hier die Entwicklung zu einer autonomen, ästhetisch distanzierten Kunst fortgesetzt. Auf dem Reiterrelief überragen Reiterund Pferdekopf zwar das die Rückwand der flachen Nische gliedernde rechteckige Feld, doch die Pfeiler und der halbrunde Abschluß der Nische selbst betonen mit der Undurchbrechbarkeit ihrer starken Quadern die ästhetische Autonomie dieses eine spätere Entwicklung bereits in reinster Form vorausahnenden Künstlers. 1 Die ästhetische Unentschiedenheit des 12. Jahrhunderts wird jedoch wieder deutlich, wenn ein von Antelami sogar stark beeinflußter Meister, der nach 1173 in San Mercuriale zu Forli arbeitete, eine besonders frappante Grenzüberschneidung bringt. 2 Auf dem Relief, das neben der Anbetung der Könige nochmals die schlafenden Könige zeigt, denen vom Engel die Verkündigung gebracht wird, ragt der Flügel des Engels weit über die ornamentale Rahmung hinaus. Auch der kulturgeschichtliche Weg führt zu dem gleichen Ergebnis einer Trennung von 11. und 12. Jahrhundert. 3 Dehio betont den rein kirchlichen, In welchem Grade man auch eine formale Beeinflussung Antelamis aus Arles und St. Gilles anzunehmen geneigt sein wird, in raumästhetischer Hinsicht vertreten seine Werke jedenfalls eine reifere Stufe als die sklavisch in den Architekturrahmen eingezwängten Figuren der Provence, die in einer für das 12. Jahrhundert typischen Weise noch die Bemühung um einen autonomen Kunstraum zeigen, der bei Antelami ungleich souveräner bereits zur Ausbildung gelangt ist. 1 Venturi: (a. a. O.) Bd. III. Abb. 328. 8 Den kurzen universalgeschichtlichen Exkursen, die den Verlauf unserer Untersuchungen durchsetzen werden, seien folgende Worte Max Webers vorausgeschickt: „Jene, die Menschen einer Epoche beherrschenden, d. h. diffus in ihnen wirksamen ,Ideen' selbst können wir, sobald es sich dabei um irgend kompliziertere Gedankengebilde handelt, mit begrifflicher Schärfe wiederum nur in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie empirisch ja in den Köpfen einer unbestimmten und wechselnden Vielzahl von Individuen leben und in ihnen die mannigfachsten Abschattierungen nach Form und Inhalt, Klarheit und 1

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der geistlichen Idee dienenden Charakter der frühromanischen Kunst. 1 Kr spricht in diesem Sinne von „ihrer zwecklichen Gebundenheit" u n d sagt: „Nach strengster kirchlicher Auffassung war j a die K u n s t ü b e r h a u p t nicht f ü r Menschen da, sondern zu allererst eine Gott wohlgefällige Darbringung, ein erweiterter Gottesdienst, Weihgeschenk, Opfergabe; d a n n in der W i r k u n g a u f d a s V o l k ein Vorrecht, ein Abzeichen höchster Würde, ähnlich wie der Priester im Moment der heiligen Handlung ein Prachtgewand anlegte, das so kein anderer Mensch t r u g . " Dehio erwähnt ferner die Auffassung Papst Gregors V I I . , das Bild ersetze dem des Lesens unkundigen Manne die Schrift, eine Auffassung, die seit der frühchristlichen Zeit stets wieder auftaucht. 2 Die Gestalt Gregors V I I . , der aus dem Orden der Cluniazenser hervorgegangen war, muß überhaupt als Symbol f ü r das streng kirchlich gerichtete 11. J a h r h u n d e r t angesehen werden. Die Gebräuche und Ordensregeln des Klosters Cluny stellten eine Verschärfung der Benediktinerregeln dar. Die „consuetudines" des Ordens wurden unter dem hl. Odilo ( f 1048), der A b t in Cluny war, festgelegt. Asketische Strenge und Gehorsam im Inneren, Wohltätigkeit und Gastfreundlichkeit nach außen sind die wichtigsten Gesichtspunkte dieser mönchischen Reform. 3 Die cluniazensischen Bestrebungen griffen bald nach Deutschland über. Unter dem Abte Wilhelm wurde im J a h r e 1077 die Cluniazenserregel im Kloster Hirsau in W ü r t t e m b e r g eingeführt. I n der Folgezeit wurden 150 Klöster von Hirsau aus kolonisiert und nahmen Wilhelms „Hirsauer Konstitutionen" mit ihrer asketischen Lebensordnung an. Die Klöster wollten nicht mehr n u r als Versorgungsanstalten gelten. Die Hirsauer fühlten sich, ebenso wie die Cluniazenser, als gehorsame Träger der päpstlichen Bestrebungen. Es ist f ü r die strenge Organisation dieser Orden bezeichnend, d a ß der A b t von Cluny König und Erzengel aller Mönche genannt wurde. I n dem gewaltigen K a m p f e des cluniazensischen P a p s t t u m s gegen Kaiser Heinrich IV. ging Gregor V I I . von der Vorstellung aus, Petrus gehörten sowohl das geistliche als auch das weltliche Schwert. Der P a p s t habe das weltliche Schwert n u r dem Kaiser übertragen. Der Streit u m Zölibat,

Sinn erfahren." (Über die Objektivität sozialwissenschaftlicher u. sozialpolitischer Erkenntnis. — Archiv f ü r Sozialwissenschaft n. Sozialpolitik. 1904. S. 70.) Hieraus ergibt sich, wie bei allen Idealtypen ihre n u r sehr problematische und relative Gültigkeit, wenn sie als historische Darstellung des empirisch Vorhandenen angesehen werden, dagegen ihr hoher heuristischer und systematischer Wert f&r Forschung und Darstellung. 1 Geschichte der deutschen K u n s t , Bd. I. S. 63ff. ' „ Q u o d legentibus est scriptura, hoc praestat idiotis pictura cernentibus". Gregorius magnus. Epist. I X . n. 208 in Mon. Germ. Epp. II. 195. 3 Vgl. Heimbucher: Die Orden und Kongregationen der kathol. Kirche, Paderborn 1907. B d . I. S. 242f.

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Simonie und Laieninvestitur, der mit dem großartigen Siege des Papstes über den Kaiser endigte, und die Kreuzzfige, die um rein religiöse Ideen, um Mission und christliche Propaganda geführt wurden, sind der stärkste Ausdruck dieser ganz von religiösen Inhalten erfällten Zeit. Auch in der Literatur kann man Verwandtes beobachten. Die bisher tonangebenden weltlichen Spielleute und ihre Gesänge treten zurück. Das dichterische Schaffen wird geistlich. Die deutsche Sprache wird in größerem Ausmaße als bisher verwandt, jedoch nicht in erster Linie aus einem innerlich-schöpferischen, also ästhetisch verankerten Verhältnis zum Wort, sondern vorwiegend, um im kirchlichen Sinne größere Wirkungsmöglichkeiten auf das niedere Volk zu besitzen. Schon im etwas vorgeschrittenen 12. Jahrhundert tritt aber in Cluny selbst eine durchgreifende Verweltlichung ein. Die profane Dichtung gelangt allmählich überall zur Herrschaft und wird durch das Ritterepos zu unerreichter Blüte gesteigert. Die Kreuzzüge dieser Zeit dienen weniger der christlichen Idee, als kriegerischen Zielen, weltlicher und wirtschaftlicher Macht oder ungestümer Abenteurerlust. Durch sie gewinnt vor allem der Ritterstand seine neue Bedeutung. Minnedienst, Kultur der gesellschaftlichen Lebensformen bis zu einer beinahe schäferhaften Grazie und spielerischen Erotik, die dann im 13. Jahrhundert ihre höchste Blüte erlebt, tritt langsam an die Stelle der ausschließlich auf das Transzendente gerichteten Askese des 11. Jahrhunderts. Unter den Hohenstaufen geht die Macht des Herrschers wieder an den Kaiser über. Die ästhetische Zwitterstellung des 12. Jahrhunderts findet hier ihre kulturgeschichtliche Parallele. Zwar blieben auch für die Menschen dieser Epoche Religion und Religiosität zentrales Erlebnis und Verhalten. Alle materiellen Dinge wurden Gott untergeordnet. Der Frühzeit des Mittelalters gegenüber neu ist jedoch die Tatsache, daß der Materie, der Welt, der Schönheit überhaupt ein Platz eingeräumt wird, wenn auch alle sinnliche Gegebenheiten stets auf einen Übersinn bezogen und dadurch umgedeutet werden. Die vorhergehende Zeit kannte diese Werte überhaupt nicht. Sie hatte sie völlig aus dem Bewußtsein gedrängt. In diesem Sinne betont Dvorak sehr richtig, daß der Kunst des 12. Jahrhunderts zwar noch kein Naturerlebnis als solches zu Grunde liege. Anfang und Ende bleibt in den meisten Fällen stets das Gotteserlebnis, das jetzt aber innerhalb irdischer Dinge gefunden werden kann, da das Absolute sieh auch in ihnen spiegelt. Immerhin ist es nicht unwichtig, in diesem Zusammenhange der „Carmina Burana" des 12. Jahrhunderts zu gedenken, jener lateinischen Dichtungen, von denen Jacob Burckhardt sagt: „Eine ungehemmte Freude an der Welt und ihren Genüssen, als deren Schutzgenien die alten Heidengötter wieder erscheinen, während Catonen und Scipionen die Stelle der Heiligen und christlichen Helden vertreten, strömt in prachtvollem Fluß durch die 26

gereimten Strophen." 1 Burckhardt erwähnt ferner die „auffallende Frivolität" in den lateinischen Poesien der Clerici Vagantes des 12. Jahrhunderts und sieht hier den Beginn einer Renaissance antiker Weltanschauung, während in formaler Hinsicht die mittelalterliche Reimform allerdings noch streng gewahrt wird. Der Weg zu einem diesseitigeren, nicht mehr ausschließlich spiritualistischen Weltbild ist freigelegt. Er wird noch nicht mit voller Eindeutigkeit weiter verfolgt. Das 12. Jahrhundert bleibt eine Übergangszeit — eine Bestätigung der durch unser formal-phänomenologisches Kriterium gewonnenen Erkenntnis von der Labilität des ästhetischen Grenzgefühls. Das reife 13. Jahrhundert entwickelte die Tendenzen des 12. Jahrhunderts weiter und brachte sie zu reiner Blüte. Die Hohenstaufen, die die Vorherrschaft des Papstes und der Kirche bis zu einem gewissen Grade gebrochen hatten, gelangten in steigendem Maße zu weltlicher Macht und internationaler Bedeutung. Selbstverständlich fehlte es dennoch nicht an religiösen Impulsen und an Mittelpunkten christlich-dogmatischer Bewegungen. Um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts fanden z. B. in Frankreich und Oberitalien die heftigen und erbitterten Glaubenskämpfe der Wanderprediger, der katholischen Häretiker und Waldenser gegen den verweltlichten Klerus statt. 2 Eine neue „evangelische Reinheit" des Lebens wurde gefordert. Doch vermochten diese sich gegen den Zug der Zeit stemmenden Bewegungen nicht entscheidend den kulturellen Generalnenner der Zeit zu beeinflussen. Vor allem drückt sich in ihnen gerade nicht das entscheidend Neue aus, das als eigenste Leistung des 13. Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes epochemachend wurde. Einer der berühmtesten Bekämpfer der Häresie in Mailand war Oldrado da Tresseno, dessen dem Antelami zugeschriebenes Reiterstandbild aus dem Jahre 1233 zu den wichtigsten Denkmälern gerade der autonomen Kunst gehört. Rosenthal betont, wie in den häretischen Bewegungen die Wendung zu einer subj e k t i v e n Religiosität das Wesentlichste und Bleibende war, und wie „dem subjektiven Schwung, mit welchem die Propaganda des evangelischen Lebens vorgetragen wurde, eine Künstlerschaft entsprach, die bestrebt war, sich selber ihre Gesetze zu geben." Zur gleichen Erkenntnis gelangt Konrad Burdach. „Daß alle Religion in dem i n n e r e n persönlichen Erlebnis ruht, tritt nun aufs neue vor die Augen und in das Bewußtsein der Menschen durch das Wirken zweier großer Erwecker. Joachim von Fiore in Kalabrien (+ 1202) und Franz von Assisi (1182—1226)"3. „Beide wenden sich ab von theologischer Gelehrsamkeit, von kirchlicher Macht und Herrschaft, von hierarchischem 1 1 3

Burckhardt: Die Kultur der Renaissance. 12. Auflage (Geiger) Leipzig 1919. I, S. 129. Vergl. Rosenthal (a. a. O.) S. 95 ff. Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus. Leipzig-Berlin 1926, S. 33ff. 27

Glanz, von Dogma u n d Buchstaben." I n diesen Worten wird ihre f ü r Söhne des 12. J a h r h u n d e r t s typische Zwischenstellung und Mittlerrolle deutlich gekennzeichnet. „ I h r e eigentliche Quelle, die wahre K r a f t ihrer Wirkung finden Joachim u n d Franz fibereinstimmend in der Sphäre menschlicher Seelenäußerung, die hineinragt in das Gebiet lebendiger Bewegung, in das Spiel der Phantasie.*' Burdach betont ferner, d a ß trotz aller Askese u n d Kasteiung beide doch gewissen ästhetischen K r ä f t e n und Bedürfnissen eine Macht einräumen. Franz von Assisi n a h m ebenso wie die Häretiker und Waldenser eine Sonderstellung zu Beginn des 13. J a h r h u n d e r t s ein. 1 E r wollte durch Armut, Reinheit, Menschenliebe u n d D e m u t ein zweites Reich Gottes auf Erden errichten. Die lediglich spiritualistische u n d transzendentalistische Bezogenheit auf ein Jenseits t r i t t jedoch auch bei ihm im Vergleich zu einer diesseitigen und innerweltlichen Frömmigkeit zurück. Die Lehre des heiligen Franz bedeutet in religiöser Hinsicht bereits ein R e s u l t a t der im 12. J a h r hundert eingeleiteten Bewegung. „Wie sich das ganze geistige Leben dem weltlichen in höherem Maße zugewendet h a t t e , so vollzog sich auch auf dem Gebiete des religiösen Fühlens eine Wendung zur Vertiefung der innerweltlichen Gefiihlsmomente, u n d es ist sicher kein Zufall, d a ß der predigende und das Lob Gottes u n d der Welt preisende Vagant sich mit Vorliebe als Gottes Troubadour bezeichnet hat. 2 J a , F r a n z von Assisi n a n n t e sich und seine Anhänger auch „ioculatores Domini", m a n möchte beinahe übersetzen, Hofnarren Gottes. Schon in der W a h l dieses metaphorischen Ausdruckes deutet sich eine immer stärker werdende unwillkürliche Diesseitsgebundenheit der Vorstellungswelt an, wenn auch der subjektive Wille zur Jenseitsbezogenheit noch über jeden Zweifel erhaben bleibt. Dvorak betont die Bildlichkeit u n d sinnliche Anschauungskraft der Predigten des heiligen Franz, aus denen im Grunde die Sehnsucht nach der Emanzipation des religiösen Individuums von der Autorität der Kirche spricht. Eine neue Bedeutung der Persönlichkeit und der naturalistischen Vergegenwärtigung ist die Parallele dieser religiösen Strömung in der Kunst, die von jeder der Kirche unmittelbar dienenden Aufgabe befreit war. Die individuelle Durchbildung des menschlichen Körpers h a t t e in Deutschland und Frankreich schon im 12. J a h r h u n d e r t begonnen und wurde auch in Italien bereits von Benedetto Antelami vorweggenommen. J e t z t steht der K a m p f u m eine autonome F o r m im Mittelpunkt des künstlerischen Geschehens. Der Vorrang ästhetisch immanenter Probleme vor ästhetisch transzendenten wird offenbar. Eine antikisierende, auch in 1

Auf den Zusammenhang des hl. Franz mit der Bewegung der Waldenger hat Dvorak hingewiesen. (Gesch. d. ital. Kunst Bd. I S. 34). 2 Dvorak: Gesch. d. ital. Kunst I, S. 34.

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Schrift und Wissenschaft sich auswirkende Kunstübung entwickelte sich unter Friedrich II. von Hohenstaufen. Man hat in diesem Sinne mit Recht vergleichsweise von einer „Protorenaissance" und einem „Protohumanismus" gesprochen. Burckhardt nennt Friedrich II. den ersten modernen Menschen auf dem Thron. 1 Zum ersten Male seit der Antike wird der individuelle Ruhmeskultus zu neuem Leben erweckt, der in der frühmittelalterlichen Weltanschauung, der christlichen Demut entsprechend, bisher keinen Platz haben konnte. Friedrich II. „ließ nach altrömischen Kaisermünzen seine sizilischen Augustalen prägen. Nach Niederwerfung der Mailänder bei Cortenova (1237) sandte er den Carroccio als Siegesbeute nach Rom und ließ die Römer wissen, daß er nach Art der alten Cäsaren zu triumphieren wünsche. In seinem Schloß in Lucera hatte er eine wirkliche Antikensammlung, die erste des christlichen Zeitalters." 2 Die Schrift „De tribus impostoribus", in der Moses, Christus und Mohammed als die drei großen Betrüger der Welt hingestellt wurden, wird heute zwar in keinen Zusammenhang mehr mit Friedrich II. gebracht. 3 Es bleibt jedoch für das Bild, das die Nachwelt sich von dem Kaiser machte, bezeichnend, daß diese Absage an das Christentum und an alle anderen monotheistischen Religionen ihm so lange Zeit hindurch zugeschrieben werden konnte. Unter der Herrschaft Friedrichs II. konnte sich eine Persönlichkeit von bisher im Mittelalter nicht dagewesenen Maßen entfalten: die des Ezzelino da Romano, der den Kampf um die Kaiserliche Herrschaft in Oberitalien führte. „Alle bisherige Eroberung und Ursurpation des Mittelalters war entweder auf Grund wirklicher oder vorgegebener Erbschaft und anderer Rechte oder im Kampf gegen die Ungläubigen oder Exkommunizierten vollbracht worden. Hier zum ersten Mal wird die Gründung eines Thrones versucht durch Massenmord und endlose Scheußlichkeiten, das heißt durch Aufwendung aller Mittel mit alleiniger Rücksicht auf den Zweck. Keiner der Späteren hat den Ezzelino an Kolossalität des Verbrechens irgendwie erreicht, auch Cesare Borgia nicht." 4 An die Stelle der christlichen Weltanschauung trat ein auf Astrologie fußender Determinismus, welcher der Handlungsweise der Menschen, ähnlich wie später in der Renaissance, wenigstens eine Scheinrechtfertigung gewährte. Friedrich II. hatte stets einen Astrologen bei sich, und Ezzelino unterhielt einen ganzen Stab von berühmten Sterndeutern. 6 Nicht nur in Italien beschäftigte man sich mit einer Wiederbelebung der Antike. Ein weithin tönender Vorklang der „Protorenaissance" ging von 1 s 3 4 6

Burckhardt (a. a. O.) S. 4f. Weisbach, Trionfi, Berlin, 1919. S. 3. Vgl. Burckhardt (a. a. O.) II, S. 171 f. Burckhardt: (a. a. O.) I, S. 5. vgl. Burckhardt (a. a. O.) II, S. 183ff.

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dem „Libellus de imaginibus Deorum" dee Albricus aas, der wahrscheinlich identisch ist mit dem 1207 gestorbenen englischen Humanisten Alexander von St. Albano.1 Dieses „mythologische Handbuch des hohen Mittelalters*' (und später auch der auf eine Rezeption der antiken Götterwelt bedachten Phase des Quattrocento) beschrieb, auf der griechischen Literatur fußend, das Aussehen und die Attribute der antiken Götterbilder. Diese Beschäftigung mit humanistischen und heidnisch-mythologischen Problemen muß als eine in ihrer Neuheit außerordentlich charakteristische Tat des werdenden 13. Jahrhunderts angesehen werden. Architektur und Plastik offenbaren in hohem Maße eine Wiedergeburt des antiken Proportions- und Körpergefühls. Künstlerische Motive des Altertums werden unmittelbar übernommen. Niccolo Pisano im Süden, der Reimser Heimsuchungsmeister und die großen Bildhauer der deutschen Dome im Norden müssen als die wichtigsten Exponenten dieser Bewegung angeführt werden. Die „Säkularisation" der Kunst kann nicht deutlicher dokumentiert werden. „Ein Strom weltbürgerlicher Tendenzen durchdringt das staufische Zeitalter." 2 Deutschland erlebt eine ungeahnte staatliche und wirtschaftliche Entwicklung. Freie Schulen und Universitäten werden gegründet, die Kunst, besonders die Literatur, löst sich endgültig von der Geistlichkeit und wird ein Betätigungsfeld des Laien. Das geistige Leben des 13. Jahrhunderts ist im Norden und Süden vorwiegend auf das Diesseits, auf seine Erfassung, Bereicherung und Verschönerung gerichtet. Hiervon legen die großen Ritterepen der Epoche beredtes Zeugnis ab. Das Nibelungenlied, das noch die ganze Übergangszeit des 12. Jahrhunderts hindurch in lebendigstem Wachstum begriffen war und im Munde von Spielleuten und Vaganten Mythe an Mythe reihte, wird um 1190 von einem Meister zu einem einheitlichen Kunstwerk zusammengefaßt. Die Helden der germanischen Vorzeit werden hier zu neuem Leben erweckt. Christentum und kirchlicher Kult sind nur äußerlich mit den Gestalten und ihren Handlungen verknüpft. Die altgermanische Blutrache gelangt in der Figur Kriemhilds zu einer dämonischen Gestaltung. Tief heidnisches Gefühl tritt an die Stelle christlicher Demut und Milde. Das beginnende 13. Jahrhundert zeitigte Gottfrieds von Straßburg „Tristan und Isolde". Auch Gottfried fußt auf Vorbildern des 12. Jahrhunderts, auf der Troubadourpoesie. Aber die sinnliche Kraft, mit der die Liebe hier zum Schicksal zweier Menschen wird, geht weit über alles bisher im Mittelalter Mögliche hinaus. Vasallenschwur, eheliche Treue und Gottesgericht werden nichtig gegenüber der Leidenschaft. Und in der Stellver1

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Saxl: Rinascimento dell'antichità. Repertorium für Kunstwissenschaft X V I I I . 1922. S. 238 ff. Dehio: Geschichte der deutschen Kunst, Bd. I Seite 208.

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tretung Brangänes bei Marke, die bis ins Kleinste ausgemalt wird, in der spielerischen Naivität, mit der Isolde das Gottesgericht ihrer Unschuld besteht, um zu erkennen, „daß unseren lieben Herrgott man, wie einen Ärmel wenden kann", gelangt eine kaum überbietbare Welthaftigkeit zum Ausdruck. Ja, man würde beinahe geneigt sein, die Art, wie Isolde getrost „auf Gottes Courtoisie" baut, frivol zu nennen, wenn nicht — in gewisser Weise — eine höfische Erotisierung Gottes selbst hier zu Tage träte, die sich bemüht, die Gottesvorstellung in ein grundsätzlich verändertes Weltbild hinüberzuretten und sie der unchristlichen höfischen Ethik des Rittertums anzupassen. Das Christentum ist kaum je vorher in so hohem Grade bloß Landesreligion, „Konfession" (im modernen Sinne des Wortes) gewesen, wie in dieser Generation, welcher der „Bamberger Reiter" als Idealtypus seine trotzigen Züge lieh. Zwar gibt das 13. Jahrhundert keineswegs den spiritualistischen Idealismus der Frühzeit des Mittelalters als überkommene Denk- und Glaubensform auf, es verbindet ihn jedoch erstaunlich reibungslos mit der neuen Weltbejahung. Gleichzeitig ist jedoch, wie Dvorak gezeigt hat, dieser Idealismus selbst auch nicht mehr ausschließlich auf Gott gerichtet, sondern ebenso auf das Subjekt und seine psychischen Phänomene. Auch in diesem Zusammenhang tauchen antike Werte und Zielsetzungen auf. Aber „der Mensch wurde in einem ganz anderen Sinne als in der Antike Mittelpunkt der Kunst: nicht als das Objekt, sondern als das Subjekt der künstlerischen Wahrheit und Gesetzmäßigkeit."1 Was für die Kunst gilt, gilt ebenso für das gesamte Weltbild. Die Welt wird dem menschlichen Bewußtsein untergeordnet, nicht wie im frühen Mittelalter, Gott. In der Antike aber waren Mensch und Welt koordiniert. Dvorak legt Wert darauf, diese neue Verständigung nicht als eine vom kirchlichen Leben „unabhängige profane Renaissancebewegung" aufzufassen, „denn das Neue wurzelt durchaus in dem christlichen Spiritualismus der mittelalterlichen Welt." „Wohl hat sich auf Grund einer ungemein komplizierten historischen Entwicklung eine bedingte Säkularisierung der geistigen Gewalten vollzogen, doch nicht im Gegensatz zu der religiösen Kultur des Mittelalters."2 Genetisch betrachtet hat Dvorak hier zweifellos Recht. Wi.e weit aber vom christlichen Spiritualismus, kritisch betrachtet, das 13. Jahrhundert sich dennoch entfernt hat, wird uns die bildende Kunst dieser Epoche mit letzter Deutlichkeit offenbaren. Gegen Dvoraks Auffassung vom 13. Jahrhundert läßt sich noch ein zweiter Einwand erheben. Ganz konsequent aus dem frühmittelalterlichen i Dvorak (a. a. O.) S. 102. » Dvorak (a. a. O.) S. 103 f. 31

Spiritualismus heraus geschieht im 13. J a h r h u n d e r t die Fortentwicklung zum Subjektivismus u n d Naturalismus keineswegs. Folgerichtig u n d organisch wäre es gewesen, wenn das 13. J a h r h u n d e r t in der N a t u r stets noch den Abglanz der Idee, des Übersinns erblickt h ä t t e , alles Vergängliche als Gleichnis des Unvergänglichen erkannt h ä t t e , so wie Thomas von Aquino es in den Worten gefaßt h a t : „ G o t t freut sich schlechthin aller Dinge, weil jedes mit seinem Wesen in tatsächlicher Übereinstimmung s t e h t " , — u n d wenn diese Übereinstimmung auch in den Dingen der N a t u r n u r die unterste Stufe erreichen konnte. U m den Grad der Verselbständigung gegenüber der Transzendenz im 13. J a h r h u n d e r t „erklären" zu können, m u ß m a n vom geistesgeschichtlichen S t a n d p u n k t aus ein stärkeres Agens suchen. Eine konsequente Entwicklung h ä t t e ohne neu auftretende K r ä f t e nie in so kurzer Zeit so weit führen können. Der Naturalismus des 13. J a h r h u n d e r t s ist als solcher innerlich bereits mit den ersten Keimen des erstarkenden Nominalismus verbunden. Bei den Reliefs am Bamberger Georgenchor (1225—35) bedeutet das Übergreifen der Apostelfiguren über den (inneren) tektonischen Rahmen, wie Dehio ihn nennt, kein Überschreiten der „ästhetischen Grenze". Der Streifen, der sich u m die Figuren herumlegt und stellenweise von ihnen überschnitten wird, ist lediglich ein den Reliefgrund gliederndes, ornamentales Kompositionselement, ist Objekt „im Kunstwerk". Der gegen den Realraum isolierende R a h m e n wird erst von der deutlichen architektonischen Umfassung der Nische gebildet. Dehio vergleicht dieses Kompositionselement der Bamberger Apostelreliefs mit ähnlichen Zügen in der Wandmalerei aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, (z. B. Schwarzrheindorf und St. Gereon, Köln). Während aber dort tatsächlich ein beinahe illusionistisch zu nennendes Hervortreten der Figuren über die farbig abweichende Rahmenzone zu bemerken ist, so daß die Gestalten sich manchmal von der Fläche loszulösen und in den Raum des Beschauers zu treten scheinen, so offenbart der j a auch durch sein graphisch-ornamentales Liniengefühl dem 12. J a h r h u n d e r t noch verbundene Meister des Bamberger Georgenchors in der Art, wie er noch einmal einen entscheidenden äußeren R a h m e n um den überschnittenen inneren legt, seine ästhetische Umwertung eines alten Motivs in der Auffassung einer grundlegend neuen Zeit. Immerhin sind die Apostelreliefs besonders lehrreiche Übergangsbeispiele, u m die ästhetische Wandlung zur Kunst des hohen 13. J a h r h u n d e r t s hin zu verdeutlichen. I n formengeschichtlicher Beziehung ist dieser Übergang von Altem zu Neuem j a schon immer in den Georgenchorreliefs bemerkt worden. Es ist daher bezeichnend, daß der innere, flache R a h m e n als ein etwas antiquiertes Motiv überhaupt nur bei der zweifellos älteren Gruppe der Reliefs vorhanden ist. Auch in der Buchmalerei ist in der ersten H ä l f t e des 13. J a h r h u n d e r t s eine starke Anlehnung 32

an das Alte erkennbar. Im Goslarer Evangeliar, das in die Zeit zwischen 1230 und 40 gesetzt wird, und bei dem Goldschmidt engste Bindungen an byzantinische Vorbilder nachgewiesen hat, wird der profilierte und ornamentierte Rahmen des Bildfeldes noch vielfach überschnitten.1 In der Plastik jedoch verwirklicht sich bereits etwas Neues. Typisch hierfür sind die Reliefkompositionen des 13. Jahrhunderts. Am oberen Rande der das Tympanon des Weltgerichtsportals der Reimser Nordfassade in horizontalen Streifen füllenden Szenen sind schematisch stilisierte, wolkenähnliche Gebilde vorhangartig „aufgehängt", die sich am besten mit BühnenSoffitten vergleichen lassen. Sie bilden die vorderste Ebene, hinter der erst die Darstellung beginnt, und über die mit keinem Glied und keiner Geste herausgegriffen wird. Der distanzierte Bühnenraum wird gewahrt. Diese „Soffitten" sind die letzten Überbleibsel der vorderen Blockfläche, in die der Meißel des Künstlers das Relief hineingearbeitet hat. Gleichzeitig spricht sich hierin die großartig einheitliche Idee der Fassade im 13. Jahrhundert aus, in welche die Plastik sich als reine Hüttenplastik völlig einzuordnen hat. Statt der wolkenartigen Soffitten findet man oft, so auch in Reims selbst, eine Reihe architektonisch ausgeführter Baldachine, die an der oberen Kante des Reliefs angebracht sind. Sie weisen der Ausdehnungsmöglichkeit der Relieffiguren genau so eine äußerste Grenze an, wie der Baldachin über den Rundskulpturen mit seiner vorspringenden Ecke stets die äußerste Grenze des Figurvolumens betont, meist sogar in der Weise, daß das Lot von der vorspringenden Ecke des Baldachins senkrecht auf den Nasenrücken der Figur trifft. Die Skulptur bleibt auf diese Weise stets in den Block, aus dem sie gearbeitet ist, eingespannt, was in diesem Falle mit strenger Wahrung der ästhetischen Grenze und Scheidung der Kunstsphäre von Realraum identisch ist. So wird durch ein rein phänomenologisch-deskriptives Vorgehen klargestellt, daß diese Kunst ohne alle weiteren Kulturphänomene zu verstehen, daß sie autonom und in sich selbst erfüllt ist. Kulturhistorische Parallelen haben hier nur den Wert einer zweifellos instruktiven, aber für den Kunstwissenschaftler methodisch nicht notwendigen Arabeske. Am deutlichsten wird die Isolierung der Kunst des 13. Jahrhunderts aus jedem Realitätszusammenhang bei der bis ins kleinste ausgeführten und künstlerisch durchgebildeten Figur des Königs Philipp August in Reims, die sich an völlig unsichtbarer Stelle befand, den Blicken eines jeglichen Beschauers entzogen, und erst von der modernen Forschung wieder entdeckt worden ist. Diese Kunst ruhte ganz in sich selbst und bedurfte keiner Beziehung zu einem Außerhalb. Hier muß auf Pinders Begriff der Anerkennung des Betrachters eingegangen werden. In Reims scheint es sich allerdings um dieses Problem 1

Goldschmidt: Das Evangeliar im Rathaus zu Goslar. Berlin 1910. 3 Michalski.

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eigentlich garnicht zu handeln. Denn hier kann geradezu von dem Verzicht auf einen Betrachter gesprochen werden. Die Anerkennung des Betrachters folgt keineswegs lediglich aus einer Überschneidung der ästhetischen Grenze. Der Betrachter kann auch von einer ästhetisch distanzierten Kunst durchaus anerkannt werden, was aus den verschiedensten Nebenmomenten deutlich wird. Entscheidend ist jedoch, wohin das Kunstwerk den Betrachter gesetzt sehen will, ob es ihn bloß als unerreichbares Gegenüber anerkennt, oder ob es ihn in einen Realitätszusammenhang mit sich selbst einbezieht. Gleichzeitig muß aber betont werden, daß der heilige Scholastiker Thomas von Aquino von 1225—74 lebte, also in der Epoche, da in Deutschland, Frankreich und Italien die ästhetisch distanzierte, klassische, mit der Antike in Vielem vergleichbare, heroische Monumentalplastik als stärkster künstlerischer Ausdruck der Zeit ihre höchste Blüte erreichte. Die Lehre des Thomas von Aquino erkannte in dem großen Universalienstreit des Mittelalters, der um die Bedeutung der Allgemeinbegriffe gekämpft wurde, den Ideen die größte „Realität" zu und bewies dadurch ihre innere Zugehörigkeit zu der spiritualistischen Weltauffassung des früheren Mittelalters. Die Erscheinungen der sichtbaren Welt waren für Thomas, wie Dvorak sagt, „nicht das Bleibende, Ewige, Normative", sondern „an sich bedeutungslose Tatsachen, die nur als „testimonia ad maiorem Dei gloriam", als Inkarnationen des Übernatürlichen im Sinnlichen in der Kultur der Zeit „eine individuelle Daseinsberechtigung gefunden haben." 1 Geistesgeschichtlich ist der heilige Thomas noch ganz als Vertreter des 12. Jahrhunderts anzusehen. Oder besser: er erhebt das, was unklar und ungleichmäßig im 12. Jahrhundert in das bisher rein spiritualistische Weltbild des frühen Mittelalters einzudringen begann, zum System. Er zieht die bewußte Synthese aus Idealismus und auf Gott bezogenem Naturalismus. Den p s y d i zentrischen und 8ubjektivi8tischen Idealismus des 13. Jahrhunderts kennt er nicht. Erst der in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts geborene Düna Scotus und sein subjektivistischer Voluntarismus entsprechen diesen Tendenzen. Wir stehen hier der häufig wiederkehrenden Tatsache gegenüber, daß die gleichzeitigen Emanationen einer Epoche auf verschiedenen Kulturgebieten durchaus nicht immer parallel zu laufen brauchen. Es ist keineswegs stets der Fall, daß die Lebensäußerungen einer Zeit sich zu einem einheitlichen Kulturbild zusammen fassen lassen, so wie es Spengler, bezeichnenderweise ein Kulturhistoriker, um seine Methode zu begründen, als Axiom in folgenden Worten ausdrückt: „Selbstverständlich herrscht aber auch innerhalb derselben Kultur auf jeder ihrer Entwicklungsstufen eine völlige Kongruenz aller ihrer Lebensäußerungen." 1

Dvorak (a. a. O.) S. 115.

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Unsere Überlegungen machen von neuem die Methode, welche eine Kulturerscheinung lediglich aus einer anderen der gleichen Zeit zu interpretieren sucht, zu einem mehr als problematischen Vorgehen. I n manchen F&llen wird nicht einmal die gleiche Wurzel angenommen werden dürfen, da die Phänomene verschiedenen Schichten kultureller Entwicklung zugeordnet werden müssen. Die Tatsache, daß die Kunst des 13. Jahrhunderts sich nur zu entwicklungsgeschichtlich fortgeschritteneren Ideen in Parallele setzen läßt, als sie Thomas von Aquino vertrat, bleibt keineswegs auffallend, wenn man den Gedankengängen Pinders folgend, die einzelnen Kulturphänomene selbst gleichsam als Generationen ansieht, denen es zu verschiedenen Zeitpunkten gegeben ist, das jeweils der Epoche Entsprechende und sie am meisten Bewegende in klarster Form auszudrücken. 1 Daß aber im 13. Jahrhundert die Kunst, vornehmlich Plastik und Epos, die Dominante im Chor der Kulturemanationen war, wird keinem fraglich erscheinen. Thomas von Aquino, als Kleriker ohnehin zur K o n s e r v a t i v s t prädestiniert, vertritt nicht das, was wir im Sinne Max Webers als den „reinen Typus" des 13. Jahrhunderts zusammenfassen können. In diese Zusammenhänge läßt sich genauer durch die Gedanken Mannheims über das Generationsproblem hineinleuchten. 2 Hier wird zwischen den Begriffen „Generationslagerung" und „Generationszusammenhang" unterschieden. Dieselbe Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem „Generationszusammenhang". Diejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationszusammenhangs in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene „Generationseinheiten im Rahmen desselben Generationszusammenhanges." Der „Zeitgeist" liegt stets polar gespalten vor. Bald ist dieser, bald jener Pol imstande, „eine aktiv werdende Generation zu stellen". Die neu durchbrechende „Generationsentelechie" kann sich nicht in allen Sphären des Geistes gleich gut durchsetzen. „Die Generationsentelechiebildung wird bald an einem, bald am anderen Pol möglich." In diesem Sinne hatte das 12. Jahrhundert gleichsam den Rohstoff, die beiden Pole geliefert, aus denen dann das 13. Jahrhundert den naturalistisch-subjektiven herausgriff, um ihn aktiv werden zu lassen und an ihm seine Generationsentelechien zu bilden. Daß nichtsdestoweniger die alte spiritualistische Richtung zum mindesten genetisch weiter wirkt, wurde bereits betont. Thomas von Aquino verleiht ihr seine Stimme. Aber auch er ist, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert, wie die zeitgenössische Kunst. Auf philosophischem Gebiete spiegelt sich die polare Spaltung 1

Pinder: Das Problem der Generation, Berlin 1926. • Mannheim: Das Problem d. Generation. Kölner Vierteljahrshefte f. Soziologie. Jahrg. 7 Heft 2, 3; S. 311, 396. 3*

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des „Zeitgeistes" am deutlichsten in dem Universalienstreit zwischen Realismus und Nominalismus, der allerdings erst im 14. Jahrhundert zu neuem Ausbruche gelangte, jedoch die ganze Scholastik hindurch seit dem Gegensatze des Anselm von Canterbury und des Johannes Roscellinus im 11. Jahrhundert unterirdisch weiter gewirkt hatte. Der Nominalismus, der 1092 in Soissons verdammt wurde, ist im 13. Jahrhundert bereit, sich wieder zu erheben. Seine Vorboten zeigen sich zuerst auf fremdem Gebiet, in der Kunst, deren konsequent diesseitige Entwicklung in den Lehren des Thomas von Aquino keine entsprechende Parallele hat. Aber auch auf philosophischem Gebiet leitete die Opposition des Duns Scotus, der der Lehrer Wilhelms von Occam wurde, gegen den Thomismus bereits im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts diesen Kampf ein. Es ist nicht ohne Bedeutung, sich klar zu machen, daß der heilige Franz, der von 1182—1226 lebte, an dessen Lebenszeit Bich die des heiligen Thomas gradlinig anschloß, geistesgeschichtlich der unmittelbare Vorgänger des Thomas von Aquino gewesen ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß in der subjektiven Frömmigkeit des Franz von Assisi, in seinem Gottesreich auf Erden sich die neue Emanzipation der Welt vom Jenseits in allerdings noch ganz religiösem Gewände doch allmählich vorbereitet hat und zwar in der für das 12. Jahrhundert bezeichnenden Bezogenheit auf die Transzendenz. Dieser ganze kulturgeschichtliche Exkurs diente dazu, unsere formalphänomenologisch abgelesene These von der Autonomie der Kunst des 13. Jahrhunderts auch von dieser Seite aus zu stützen. Der Kunstwissenschaftler braucht als solcher diese Erkenntnisse aus fremden Disziplinen nicht, um zu dem gleichen Ergebnis zu gelangen. Die Diesseitigkeit, Eigengesetzlichkeit und religiöse Unbeschwertheit der Kunst des 13. Jahrhunderts ist ihm primär evident. Diese Stilstufe kann in sich ohne jedes außerästhetische Phänomen verstanden werden. Alles was wir in unserem Exkurs vorbrachten, hat für den Kunstwissenschaftler nur den Wert einer Parallele, der keine „erklärende" Bedeutung zukommt. Die Gedanken des Thomas von Aquino, die zu ihrer Zeit nicht den dominierenden Pol der Epoche bedeuteten, werden in der Wellenbewegung der Generationen an der Wende zum 14. Jahrhundert wieder zur aktiveren Entelechie. Hier treten jene formalen Kennzeichen wieder auf, die uns offenbaren, daß eine neue Vorherrschaft religiöser Ideen auch die bisher hauptsächlich um formal-ästhetische Probleme bemühte Kunst ergriffen hat. Das künstlerische Gebiet, dessen Erscheinungsformen wohl am ehesten formal-phänomenologisch erkennen lassen, daß die Ideen des heiligen Thomas hier zum Vergleich herbeigezogen werden müssen, ist die Glasmalerei, die besonders in Nordfrankreich zu reichster Entwicklung gelangte. Schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts, als in der Plastik noch vorwiegend ein 36

um die formale Organisation des menschlichen Körpers bemühter Stil herrschte, entstanden in den großen Kathedralen Glasgemälde, die in ihrer ästhetischen Einstellung vorwärts auf ein neues künstlerisches Streben •wiesen. Auch hier hat Dvorak schon das Wesentlichste erkannt und — für andere Zusammenhänge — formuliert. Er spricht von dem „wirklichen Licht in der Gotik, welches in Verbindung mit der Glasmalerei dazu verwendet wurde, den Eindruck eines freien, übernatürlichen Schwebens der heiligen Gestalten in ihrer Wirkung auf den Beschauer zu steigern und sie mit dem Beschauer und der unbegrenzten Außenwelt zugleich zu verbinden." 1 Die für heteronome Stilstufen bezeichnende Raumverschleifung, die Aufhebung der Trennung von Kunst- und Realraum wird hier in einer für andere Künste unerreichbaren Steigerung nach zwei Richtungen hin verwirklicht. E i n Einheitsraum umfängt Gläubige, Bildgeschehnis und Außenwelt, die Verbindung der religiösen Phänomene mit der Realität ist vollzogen, in der „gesteigerten Wirkung auf den Beschauer" liegt aber, psychologisch gedeutet, ein Kerngedanke des religiösen „Realismus" des Thomas vonAquino. Man könnte bei der gotischen Glasmalerei von einem transzendentalistischen Illusionismus sprechen. Es wird unsere Aufgabe sein, zu zeigen, wie im 14. Jahrhundert eine innerlich gewandelte, aber für unsere Zwecke ebenso bezeichnende Art von Illusionismus zur Ausprägung gelangt. Schon im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts machen sich auch in der Plastik Anzeichen bemerkbar, die auf eine wiederum veränderte gesamtästhetische Stellung und Aufgabe des künstlerischen Schaffens schließen lassen. Ein didaktischer Zug drängt sich in die grandios-zweckfreie und autonome Kunst. In Magdeburg wird jener Portaltypus geschaffen, an dessen Gewände die Parabel der klugen und törichten Jungfrauen dargestellt ist, die sich in dieser Form im späten 13. Jahrhundert u. a. nach Straßburg, Freiburg, Bremen, Minden und Trier weiter verbreitete, und die im 14. Jahrhundert zu einem der häufigst dargestellten Themen wurde. „Die Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen gehört dem eschatologischen Ideenkreise an. Sie besaß in dem furchtbaren Ernst und in der Anschaulichkeit, mit der sie den für den Christen entscheidenden Gedanken des Gerichtstages, des Urteils über ewige Seligkeit oder Verdammnis, des „zu s p ä t " ! zum Ausdruck bringt, eine Gewalt der W i r k u n g auf den mittelalterlichen Menschen, von der wir uns schwer eine Vorstellung machen können. Die bekannte Nachricht, daß unter dem Eindruck des 1321 zu Eisenach aufgeführten „ludus de decem virginibus" Landgraf Friedrich der Freidige vom Schlage getroffen wurde und bis an seinen Tod stumm und lahm blieb, zeugt von den schweren seelischen Erschütterungen, die eine solche dramatische Aufführung der Parabel mit der Drohung der ver1

Dvorak (a. a. O.) S. 144.

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geblichen Fürbitte der Gottesmutter für die Verdammten beim Weltgericht auszulösen vermochte. So wenig ein Zusammenhang zwischen bildender Kunst und Dichtung hier in Frage kommt, so ist doch der gleiche sittlichreligiöse Geist in beiden Äußerungen der Zeit lebendig." 1 Diese ausgesprochene Wirkungsabsicht auf den Beschauer, dieses Heraustreten aus der bisher in sich beschlossenen, heroisch-monumentalen Ausdruckssphäre, das in den verzweifelten Gesichtern der Magdeburger törichten Jungfrauen, die bis zur Grimasse gesteigert sind, in suggestiv-schreckhafter Weise zum Ausdruck kommt, wäre vor dem Jahrhundertende nicht möglich gewesen. Deshalb möchten wir uns aus rein ästhetischen, von allen formengeschichtlichen Argumenten absehenden Gründen der Datierung der Magdeburger Jungfrauen in die Spätzeit des 13. Jahrhunderts anschließen, wie sie vor allem von Dehio vertreten wird.2 Paatz möchte, ebenso wie Jantzen, die Jungfrauen bereits in die vierziger Jahre des Jahrhunderts setzen. 3 Abgesehen von den schon angeführten Gründen scheint uns das noch aus anderen Ursachen nicht möglich zu sein. Paatz betont selbst, eine der klugen Jungfrauen (K. 4) wende ihren Kopf so stark, daß sie unbedingt auf eine Nachbarin bezogen werden müsse. Bei den übrigen Figuren ist jedoch das Prinzip der Isolierung der Einzelfigur nicht durchbrochen. Paatz beruft sich nun auf ein ähnliches Durchbrechen dieser Isolierung in Chartres und Straßburg. In Chartres kann (ebenso wie in Reims) jedoch unseres Erachtens überhaupt keine Rede davon sein. Die Heimsuchungsgruppe, auf die Paatz anspielt, ist dort als eine in sich geschlossene Komposition behandelt und als Gruppe ganz von der Umgebung gesondert. Die Auffassung, daß die Gestalten der Ecclesia und Synagoge in Straßburg über die Buchten der Portale hinweg miteinander korrespondieren, liegt vom modernen Standpunkt aus nahe. Franck-Oberaspach hat die Straßburger Figuren in seiner schönen Darstellung in diesem Sinne gedeutet.4 Aber es ist bereits von Jantzen betont worden, daß es sich hier nicht um einen Dialog oder ein Streitgespräch handeln darf, „wenn man an die große Reihe anderer statuarischer Darstellungen gleichen Inhalts denkt, in denen von einer solchen Dramatisierung keine Rede sein kann. Es ist auch nicht nötig, jede lebendige Wirkung in der Kunst aus einer Beziehung zur Natur oder zu einer anderen Wirklichkeitssphäre herzuleiten." 5 Die Bewegung der Jantzen: Deutsche Bildhauer d. 13. Jahrhunderts Leipzig, 1925. S. 184. P. J.Meier: Die Baugeschichte des Magdeburger Doms im 13. Jahrhundert. Pr. Jahrbuch 1924, S. 29ff. setzt die Jungfrauen in das Jahr 1274. — Panofsky (a. a. 0.) um 1255. — Giesau: 1245—50. — Hamann zwischen 1235 und 1266. 3 Paatz: Die Magdeburger Plastik um die Mitte d. 13. Jahrh. Pr. Jahrb. 1925. S. 100ff. 4 Franck-Oberaspach: Der Meister d. Ecclesia und Synagoge am Straßburger Münster. Düsseldorf, 1903. * Jantzen (a. a. O.) S. 40. 1 1

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Straßburger Figuren „entspringt nicht einem aus einer bestimmten Situation geforderten körperlichen Verhalten, sondern ist unmittelbar geformter Ausdruck für die der Figur zu Grunde liegende Idee." In Magdeburg liegen die Dinge jedoch anders. In dem jfthen, auch in Magdeburg singulären Herausbeugen des Kopfes aus der isolierten Sphäre der Einzelfigur, das weit über die leise Wendung der Straßburger Ecclesia hinausgeht, kündigt sich ein neues ästhetisches Verhalten an, das die Grenze von Realund Kunstraum wieder zu verwischen trachtet. Parallel hierzu läuft eine auch von Paatz betonte, im 13. Jahrhundert einzig dastehende Zerklüftung des Figurenblockes. Die Grenze von Raum und Skulptur ist auch in diesem Sinne überbrückt. Der „ R a u m " dringt in den Kern der Figur selbst ein. Das 14. Jahrhundert mit seinen vom Raum gleichsam gebogenen, unterhöhlten, negativ gemachten Figuren kündigt sich an. Eine weitere Steigerung der lehrhaft-moralischen Tendenz zeigt sich bei den klugen und törichten Jungfrauen an der Straßburger Westfassade, die aus dem letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts stammen. Hier ist auf der einen Seite der himmlische Bräutigam, auf der anderen der Verführer hinzugefügt, die beide in Magdeburg noch fehlen. Dehio schreibt von dieser „Nachblüte der Bauplastik im späten 13. Jahrhundert": „Ihre Geistigkeit ist aber durchaus anders beschaffen als die des heroischen Zeitalters der deutschen Plastik in der letzten Stauferzeit". Die Straßburger Allegorien (Jungfrauen, Tugenden, Laster) „rufen dem Kirchenbesucher mit lauter Stimme entgegen, daß das Leben des Menschen ein Kampf gegen die Versuchung des Bösen ist, und sogleich wird ihm gezeigt, wo er Hilfe und Erlösung zu suchen hat." Nach dem Vorhergesagten ist es für uns beinahe selbstverständlich, daß bei diesen Figuren ein Überschreiten der ästhetischen Grenze, ein Herausragen aus der eigentlichen künstlerischen Lebenssphäre der Figur, der Nische, sich bemerkbar machen muß. Die Jungfrauen, der himmlische Bräutigam und der Verführer greifen alle in den realen Freiraum über. Die durch die vordere Kante des krönenden Baldachins, die Plinthe und den Sockel angedeutete Form des Blockes, aus der im hohen 13. Jahrhundert die Figur gemeißelt war, und die in der Körperlichkeit der Statue stets deutlich zu erkennen blieb, wird jetzt nicht mehr als verbindlich erachtet. Die Skulptur drängt in eine andere Welt hinaus. Hier muß einer Auffassung Weigerts widersprochen werden, der in den Straßburger Jungfrauen zwar die morphologische Vorbereitung der Formenwelt des 14. Jahrhunderts deutlich erkennt. 1 Wenn er aber sagt, bei den Jungfrauen könne von mystischer oder religiöser Stimmung keine Rede sein, so hält er sich in seiner Interpretation zu sehr an den Gesichts1

Weigert: Die Stilstufen der deutschen Plastik von 1250—1350. Marburg. 1927. S. 107.

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au8druck der Figuren. An der formalphänomenologisch so belangvollen Tatsache der Überschneidung der ästhetischen Grenze läßt sich jedoch die Absicht dieser Kunst erkennen, aus einer ästhetisch autonomen Sphäre in einen im Sinne der religiösen Parabel 'wirksamen Realitätszusammenhang mit dem Beschauer zu treten. Die aufs Jenseits weisende Schwingung der Figuren, ihre Einbindung in die S-Linie entwickelt sich also nicht, eben weil es sich hier um eine heteronome Kunst handelt, „aus unerforschlichen Gründen" n e b e n dem Keimen einer mystisch-religiösen Gesinnung, um sich erst später mit ihr zu vereinigen, sondern in engstem Zusammenhang mit ihr. . Aus dem Gedankengang unserer Betrachtungen ergeben sich auch gleichzeitig Folgerungen für die Skulpturen des Naumburger Westchores. Man hat früher versucht, in der Versammlung der Stifter ein Bezogensein auf einen bestimmten Vorgang zu erkennen, der in verschiedener Weise u. a. als Meßopfer oder als Gottesgericht (unter Berücksichtigung der als „Occisus" bezeichneten Figur) gedeutet worden ist. Wie schon bei der Straßburger Ecclesia und Synagoge betont wurde, kann in der Rundplastik des hohen 13. Jahrhunderts, außer bei ihrerseits streng zusammengebundenenGruppen, von einer Durchbrechung der Isolierung der Einzelfigur nicht gesprochen werden. Zur plastischen Darstellung von S z e n e n diente nur das Relief. Ganz abgesehen davon, daß einige Figuren in Naumburg sich nicht der vorausgesetzten Handlung fügen, muß betont werden, wie unvereinbar mit dem auf rein formalphänomenologische Weise erschlossenen ästhetischen Charakter des reifen 13. Jahrhunderts ein Durchbrechen der distanzierten Kunstsphäre ist. Dies wurde bereits von Pinder betont. 1 „ J e d e der Figuren ist ein Komplex in sich, ein ganzer Feuerherd möglicher Handlungen, hier verdeckt und schwebend, dort Flammen sendend." „ S o entstand das „Als ob" eines Dramas, aber es ist nur eine Versammlung grandioser Charakterschauspieler." Auch Jantzen sagt: „In der psychischen Bewegtheit der Naumburger Stifter ist vielmehr allgemeines geistiges Wachsein gegeben, das einer besonderen Deutung nicht bedarf, da es auf kein bestimmtes Ziel gerichtet ist". 2 Nur an einer Statue der Stifterreihe kann man erkennen, daß der Stil, dem sie angehört, seinem Ende nahe ist: an der Gestalt des Wilhelm von Camburg. Der lyrisch bewegte Ausdruck dieser geschwungenen Figur, von der Pinder sagt, sie spiegele passiv „die Macht des Außerhalb", weist auf eine neue Zeit, deren Kunst nicht mehr streng von der Außenwelt distanziert lebt, sondern die entscheidend ihre Gestalten von nicht mitgebildeten, nicht mit in die künstlerische Form eingegangenen Mächten bestimmen läßt. Man kann also, wenn einmal formalphänomenologisch, Pinder: Der Naumburger Dom und seine Bildwerke, Berlin, 1925. S. 48, * Jantzen (a. a. 0.) S. 240. 1

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nicht interpretationspsychologisch, der veränderte Charakter des aufdämmernden 14. J a h r h u n d e r t s e r k a n n t ist, was in diesen Ausführungen noch geschehen wird, rückblickend in der Körperbildung des Wilhelm von Camburg ein p s y c h i s c h e s Überschreiten der ästhetischen Grenze erkennen, ein Überschreiten, das in dem beinahe barocken P a t h o s der Naumburger Lettnerfiguren psychisch u n d körperlich zum ergreifenden Ausdruck gelangt. Die Gestalten der Maria u n d des Johannes drängen aus ihren Nischen zu Seiten des Lettnerportals in den Freiraum hinaus. Deshalb möchten wir in ihnen, wie es auch Giesau t u t , im Gegensatz zu anderen Ansichten den Abschluß der Naumburger Skulpturenreihe und den Ausklang des klassischen Stils im 13. J a h r h u n d e r t erkennen. Giesau h a t auch m i t Recht darauf hingewiesen, d a ß das Herunterholen „der bisher in feierlicher Unerreichbarkeit, hoch über den Köpfen der Gläubigen thronenden Kreuzigungsgruppe auf ebene E r d e in die Vergleichbarkeit unmittelbarer Wirklichkeit" etwas völlig Neues bedeute. 1 Auch die formengeschichtlich deutlich von Naumburg abhängigen Meißener Figuren zeugen durch ihre sich an einen Betrachter wendenden Gebärden f ü r einen Wandel der K u n s t . Hier genügt nicht mehr ein n u r optisches Erfassen des Bildwerkes. Gleichzeitig und unwillkürlich m u ß das Aufkeimen einer neuen u n d heißen Religiosität erlebt werden. Es ist n u n außerordentlich interessant zu beobachten, wie auch in Italien im Wirken eines Schülers des Niccolo Pisano, des Arnolfo di Cambio, gegen das Ende des 13. J a h r h u n d e r t s ein Umschwung zu Tage t r i t t , der formengeschichtlich allein nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Denn den Figuren des Arnolfo eignet noch durchaus die plastische Fülle und R u n d h e i t des der Antike so nahen J a h r h u n d e r t s . Rosenthal spricht in diesem Zusammenhange von einer künstlerischen Verwandtschaft der Werke Cambios, zum Beispiel der Statue Karls von Anjou im Conservatoren-Palast zu R o m mit antiken Sitzstatuen, von den Heiligen, die, wie Römer, mit der Toga bekleidet sind (am Tabernakel in St. Paolo fuori le mura, Rom), von dem Einfluß der römischen Porträtbildhauer auf Arnolfo und seinen Kreis und von der Madonna über dem Grabmal des Kardinals de Braye, die den T y p u s einer J u n o zeigt. 2 Dagegen erkennt Rosenthal bei den Figuren Arnolfos in „der Einstellung des Auges in die Unendlichkeit" bereits einen von Niccolo Pisano abweichenden transzendenten Ausdruck, u n d bei den Engeln des Kardinalsgrabes spricht er von einer neuen „gefühlvollen Verbindung mit dem Toten, die in jeder Beugung und Bewegung zu Tage t r i t t . Arnolfo di Cambio ist in Rom der Einzige, der entschieden die Verbindung der an der Antike geschulten individuellen Formgestaltung mit den Elementen einer transzendenten Kunstrichtung hergestellt h a t . " 1 8

Giesau: Der Dom zu Naumburg. Burg bei Magdeburg. 1927. S. 33. Rosenthal (a. a. O.) S. 131 ff.

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All dies ist zweifellos richtig und darf gewiß nicht übersehen werden. Eine Wandlung des Gehaltes bei formengeschichtlicher Konstanz wird klar festgestellt, — aber was das Entscheidende ist, auf formenpsychologischem und gehaltsinterpretatorischem, also methodisch nicht erlaubtem Wege. Wir können dagegen, ohne von den kulturellen Vorgängen der Zeit irgend etwas zu wissen, aber auch ohne sie gehaltspsychologisch aus dem Kunstwerke herauszuanalysieren, an einer formalen Tatsache allein erkennen, daß die (grob gesagt) weltliche und diesseitige Strömung, der eine Autonomie des künstlerischen Schaffens mit ihrer ästhetisch begründeten Zuneigung zur Antike parallel lief, ein Ende erreicht hat. Arnolfos Grabmal des Kardinals de Braye (gest. 1282) in S. Domenico in Orvieto ist das erste Dokument der neuen Richtung (Abb. 6). Nur das Mittelstück des Grabmals, das den mit gekreutzen Händen ruhenden Toten auf seinem Lager zeigt, kommt für uns in Betracht. Vor dem Lager sind rechts und links Vorhänge angebracht, die von zwei Stangen herabhängen. Zwei Engel, welche von außen herzugetreten zu sein scheinen, breiten gerade die Vorhänge vor die Ruhestatt des Kardinals und entziehen ihn so den Blicken des Beschauers. Wir sehen sofort, daß die an dem Gesims des architektonischen Rahmens befestigten Vorhangstangen die vordere Grenze der Komposition darstellen und daß die Engel gleichsam ein Herausquellen plastischer Formen über den Kunstraum, über die ästhetische Grenze bedeuten. Eine Darstellung des gleichen Themas wäre natürlich auch bei strenger Innehaltung der ästhetischen Grenze denkbar. Doch müßten sich die Engel dann in der Bildbühne selbst gleichwertig neben dem Toten, seinem Lager und den Vorhängen befinden, und vor ihnen müßte gegen den Beschauer eine Trennung, eine Rampe, ein Rahmen vorhanden sein. Das ist hier nicht der Fall. Das Motiv ist bewußt illusionistisch verwertet. Das Geschehen wird uns nicht mit einem Unwirklichkeitsakzent dargeboten. Die Möglichkeit einer Verbindung zum Beschauer soll auf jede Weise betont werden. Kunst- und freier Realraum werden verschliffen. Für das, was wir rein phänomenologisch an dem Vorhangmotiv erkennen können, kommt es nicht darauf an, ob es sich hier um eine tatsächliche Übernahme des Motivs von den Ruhebetten der Zeit handelt. Wie der Vorhang als Grenze, die aber wieder überschnitten wird, verwendet ist, bleibt das Entscheidende bei diesem Grabmal, welches das erste Beispiel einer langen, sich tief bis in das 14. Jahrhundert erstreckenden Reihe von Darstellungen des gleichen Typs ist. Gleichzeitig zeugt das Werk des Arnolfo di Cambio für die Tatsache, daß an einer formengeschichtlich durchaus unbetonten Stelle der Entwicklung eine viel tiefer liegende ästhetische Abkehr ihren Platz haben kann. Das 14. Jahrhundert dämmert auf, das Jahrhundert der Mystik, das Jahrhundert, welches durch den Untergang des staufischen Kaisertums und durch das Interregnum vorbereitet wurde, und dessen Kunst ohne 42

die Lehren des Thomas von Aquino nicht völlig verstanden werden kann. Arnolfos Lehrer, Niccolo Pisano, der noch mit beiden Füßen im 13. Jahrhundert stand, beobachtete bei seinen Reliefdarstellungen an den Kanzeln in Pisa, in Siena und an dem Brunnen in Perugia stets peinlich die Grenze der Umrahmung, die durch keine Form fiberschnitten werden durfte. Noch deutlicher und, bei der eng gestopften Fülle der Figuren, noch auffalliger wird diese Tatsache, wenn man die Untersicht, auf welche die Reliefs gearbeitet sind, in Rechnung zieht. Die Figurenmasse bleibt stets mit außerordentlicher Präzision in die Umrahmung gebannt. Auch die Reliefs von Niccolos Sohn Giovanni, der, ebenso wie Arnolfo, in einer Übergangszeit lebte, zeigen noch im allgemeinen keine Überbrückung der Kluft zwischen Kunst- und Realraum. Aber eine gewisse Labilität wird bei ihm bereits fühlbar. Bei dem Relief des „bethlehemitischen Kindermordes" an der 1301 vollendeten Kanzel zu Pistoja und bei dem „Jüngsten Gericht" der 1311 fertig gestellten Pisaner Domkanzel fangen die Figuren schon an, den Rahmen als eine Fessel zu empfinden und zaghaft über ihn hinauszugreifen. Eine neue Spiritualisierung im religiösen Sinne ist von psychologisch interpretierender Seite bei Giovanni Pisano von jeher betont worden. Seine Elfenbein-Madonna in Pisa zeigt schon die typisch gotische Biegung, welche stets als eine über das irdische Sein hinausgehende Beschwingtheit und Bezogenheit auf ein Jenseits gedeutet worden ist. 1 In den Gesichtern der Figuren Giovannis glimmt ein neues, auf das Jenseits gerichtetes Pathos, die statuarische Ruhe der plastisch geschlossenen Köpfe des Niccolo Pisano ist verschwunden. Der geistesgeschichtliche Parallelismus zwischen Giovanni Pisano und Dante, dessen „Vita nuova" die gleiche „Einmündung in eine neue Entsinnlichung" bedeutet, ist von Rosenthal ausführlich dargestellt worden.2 „Giovanni Pisano und Dante haben um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert künstlerisch jene sichere Einordnung aller Dinge der Welt zu Gott vollzogen, welche logisch und ethisch rund ein Menschenalter früher Thomas von Aquin durchgeführt hatte". Dieses Schwanken zwischen zwei Weltbildern ist bei Dante allenthalben zu beobachten und das gibt ihm, wie allen an einer kulturellen „Wasserscheide" geborenen Menschen die umfassende Weite des Blicks und die Fülle der Expansionsmöglichkeiten. „In der „Divina Commedia" behandelt er die antike und die christliche Welt zwar nicht als gleichberechtigt, doch in beständiger Parallele; wie das frühere Mittelalter Typen und Antitypen aus den Geschichten und Gestalten des alten und neuen Testamentes Vergl. Rosenthal (a. a. 0.) S. 142 ff. — Dvorak (a. a. O.) Passim. « Rosenthal (a. a. O.) S. 152 ff.

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zusammengestellt hatte, so vereinigte er in der Regel ein christliches und ein heidnisches Beispiel derselben Tatsache. (Purgatorio X V I I I enthält zum Beispiel starke Belege: Maria eilt über das Gebirge, Cäsar nach Spanien. Maria ist arm und Fabricius uneigennützig.)" 1 Auch zu der Frage des irdischen Ruhmes vermag Dante nicht in eindeutiger Weise Stellung zu nehmen. Einerseits hat er den Dichterlorbeer als höchstes Ziel angesehen (Paradiso X X V ) , andererseits „hält sein großes Gedicht die Anschauung von der Nichtigkeit des Ruhmes fest, wenngleich in einer Weise, welche verrät, daß sein Herz sich noch nicht völlig von der Sehnsucht danach losgemacht." (Paradiso VI). 2 Einen weiteren Beitrag zum allmählichen Entstehen einer neuen Heteronomie der Kunst an der Wende zum 14. Jahrhundert bildet die zwar nicht mehr originale, aber mit höchster Wahrscheinlichkeit genau abgeschriebene Inschrift an der Basis von Giovanni Pisanos Domkanzel in Pisa. Der Text wendet sich deutlich an den Beschauer und will in seinem ersten Teile sogar den Eindruck erwecken, das Bildwerk selbst sei der Sprecher der Worte. „Der Stein übernimmt von sich aus die Fürsprache für seine Bildner". 3 Offenkundiger kann ein Kunstwerk kaum aus seiner ästhetischen Sphäre heraustreten, um aktiv in das Leben einzugreifen. Ein französisches Elfenbeinrelief im Louvre, das die Geburt Christi darstellt, illustriert gleichfalls durch die Art, wie hier das Vorhangmotiv verwendet ist, die ästhetische Stellung der Kunst am Ende des 13. Jahrhunderts. (Abb. 4). Ein an dem profilierten Gesims, das den oberen Abschluß des Reliefs bildet, hängender Vorhang ist rechts und links vor der Gruppe der heiligen Familie zurückgeschlagen und durch Klammern am Bildrande gerafft. Auch im Hintergrunde ist der Raum durch Draperien abgeschlossen. Die in stark erhabenem Relief gebildete Figur des heiligen Joseph rechts ragt beträchtlich über die Vorhangsebene heraus, und auch die stärker ausgebildeten Teile der Marienfigur und des Kindes drängen sich neben dem Vorhang hervor. Daß die Vorhangsebene aber eigentlich den vorderen Abschluß der Komposition bedeutet, sieht man klar am oberen Rande, wo, wie wir es schon ähnlich beim Grabmal des Kardinals de Braye beobachten konnten, die Rahmenleiste der Darstellung deutlich die Erstreckung des Reliefs nach vorn, in den Raum des Beschauers, begrenzt. Die Figuren ragen also in einer für heteronome, ästhetisch nicht distanzierte Stilepochen typischen Weise in den Realraum hinein und lassen dadurch automatisch an uns die Aufforderung ergehen, bei der Beschäftigung mit dieser Kunst, nicht nur bei formalen und ästhetischen, allein durch das Auge vermittelten Betrachtungen stehen zu bleiben, da Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 179. ' Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 120. 3 Vergl. Rosenthal (a. a. O.) S. 146ff. 1

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durch sie allein h i e r kein vollkommenes Erfassen der Phänomene möglich wäre. Von Arnolfo di Cambios Grabmal des Kardinals de Braye sind in der Folgezeit eine große Reihe von Grabdenkmälern des gleichen Typs abhängig, bei denen allen sich deutlich am Vorhangsmotiv die Überschneidung der ästhetischen Grenze ablesen läßt. Aus dem Jahre 1304 stammt das Grab Papst Benedikts X I . in S. Domenico zu Perugia. 1 Des stark von Giovanni Pisano beeinflußten Sienesen Tino da Camaino Grabdenkmal der Maria von Ungarn in der neapolitanischen Kirche S. Maria Donna Regina aus dem Jahre 1323 zeigt einen Baldachin, der von zwei Engeln beiseite gezogen wird.2 An dem Grabmal des Kardinals Napoleone Orsini in der Unterkirche von Assisi wird die ästhetische Grenzüberschreitung besonders deutlich. Die Engel überschneiden hier mit ihren Gestalten sogar den ornamentierten Rahmen der Grabnische. Sie ragen mit den Flügeln in eine andere Welt, sie gehören nicht mehr in die Darstellung. 3 Das OrsiniGrabmal muß ebenso wie das verwandte der Königin von Cypern in der Unterkirche zu Assisi in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts gesetzt werden.4 Das ehemals dem Giovanni Pisano zugeschriebene ScrovegniGrabmal in der Arenakapelle zu Padua gehört schon in die Jahrhundertmitte. (Abb. 5). Es vertritt in den Grundzügen noch unverändert den Typ des Arnolfo di Cambio. Die Wendung nach außen, die Beziehung zum Beschauer, die Verbindung von Real- und Kunstraum ist hier jedoch viel bewußter ausgestaltet. Während der Kardinal de Braye horizontal ruhend in seiner Nische lag, klappt der Künstler des vorgeschrittenen 14. Jahrhunderts, um die Sichtbarkeit zu erhöhen, das Lager des Enrico Scrovegni schräg empor, ein Zug, der sich schon bei dem Orsini-Grabmal leise bemerkbar machte. Wenn wir dieses Phänomenen psychologisch interpretieren, was für uns nur den Wert einer sekundären Erläuterung hat, so ist das Grabmal jetzt nicht so sehr für die ewige Ruhe des Toten errichtet, als für den Eindruck auf die noch lebenden Gläubigen, welche wie vor einen Altar treten, um durch das Bild des Todes und der Vergänglichkeit auch der Großen dieser Erde religiös erschüttert zu werden. Die Menschen sollen deutlich die Gestalt des Entschlafenen sehen, auf die der eine Vorhangsengel mit weiter Gebärde die Absicht des Monuments unterstreichend, hinweist. abgeb. bei Vitzthum: Die Malerei und Plastik des Mittelalters in Italien. Abb. 108. Handbuch der Kunstwissenschaft. * Abgeb. bei Vitzthum (a. a. O.) Abb. 110. 3 Abgeb. bei Venturi. Storia dell'arte Italiana, Bd. IV, Fig. 91. — Auf das ebenfalls über den Rahmen der Bildnische herausfallende Leichentuch wäre in diesem Zusammenhang noch hinzuweisen. 4 Abgeb. bei Venturi (a. a. O.) Bd. IV. Fig. 93. 1

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In ihrer gesamten Anlage von den Grabmälern der Zeit abhängig sind Kunstwerke, wie z. B. der heute im Turiner Museum befindliche Altar aus Carpiano, der aus der Schule des Lombarden Campioni stammt und ungefähr in das Jahr 1330 zu setzen ist. Die Szene, die das Bad der neugeborenen kleinen Maria darstellt, greift über den trennenden Vorhang hinaus, der im Bildgeschehen gar keine Funktion hat und eigentlich nur angebracht zu sein scheint, um gerade das Überschneiden der in ihm sichtbar gemachten ästhetischen Grenze deutlich werden zu lassen. Eine Variation der bisher angeführten Vorhangkompositionen stellt das kaum mehr als Relief zu bezeichnende Madonnenbild der Estensischen Sammlungen in Wien dar, das aus der Mitte des 14. Jahrhunderts stammt und dem venezianischen Kunstkreise zuzuschreiben ist. 1 Es war ursprünglich für ein Grabmonument gearbeitet. Der von Engeln gehaltene Vorhang hängt, ähnlich wie wir es stets sehen konnten, an einer mit dem rahmenden Gesims verbundenen Stange. In der Nische stellt sich den Gläubigen diesmal aber nicht der Tote dar, sondern die Gottesmutter mit dem Kinde. Die Gestalt ist beinahe vollplastisch gearbeitet und ragt weit über den Vorhang und den architektonischen Rahmen in den Freiraum hinein, so daß sogar die Basis, um die Figur zu stützen, sich unter ihren Füßen vorwölben muß. Der Vorhang wird auch im Hintergrunde sichtbar und umgibt die ganze Nische. Er bildet und begrenzt also gleichsam selbst den Kunstraum, aus dem die Madonna sich heraus entwickelt. Auf dem Relief der „Geburt Maria" am Tabernakel des Orcagna in Orsanmichele zu Florenz (1348—59) überdacht ein an die Rückwand des Gemaches anstoßender Baldachin das Lager der heiligen Anna. (Abb. 7). Von dem Baldachin gleitet vorn ein an Ringen hängender Vorhang nach rechts und links herab, der über dem Bett der Wöchnerin, an den Ecken der oktogonalen Umrahmung des Reliefs durch einen Knoten zusammengerafft wird, um dann senkrecht nach unten zu fallen. Die beiden Besucherinnen links, deren Gestalten sich so stark vom Reliefgrund lösen, daß ein dunkler Schatten auf die Rückwand fällt, ragen bedeutend vor die Vorhangebene hinaus, die, wie man bei einem Vergleich des Baldachins mit der Rahmenkante des Reliefs feststellen kann, durchaus die vordere Begrenzung wenigstens des oberen Teils der Darstellung bedeutet. Es ist Dvoraks Verdienst, in der gotischen Kunst den ständigen Streit und die ständige Verflechtung zweier entgegengesetzter Komponenten, des Idealismus und des Naturalismus, durch kulturpsychologische Deutung und formenpsychologische Analyse aufgedeckt zu haben. Die geistesgeschichtliche Parallele zu diesen künstlerischen Vorgängen ist, wie bereits 1

Vergl. Planiscig: Geschichte der venezianischen Skulptur im 14. Jahrh. Jahrbuch de allerhöchsten Kaiserhauses, Wien, 1902. Bd. XXIII. Taf. XVI.

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betont, der Universalienstreit zwischen dem sogenannten „ttealismus", aer die Ideen und Allgemeinbegriffe als „wirklich" auffaßte, und dem „Nominalismus", für den die „Universalien" nur terminologische Schemen, „Worte" ohne Existenz außerhalb des Denkens bedeuteten. In Analogie an die platonischen Ideen oder die aristotelischen Entelechien faßte der Realismus die Begriffe als „ante res" oder „in rebus" bestehend auf. Für den Nominalismus dagegen waren die Begriffe bloße Abstraktionen, nur „nomina rerum" oder „flatus vocis", die „post res" gebildet wurden. Alle Dinge bleiben in sich vereinzelt. I n der Begriffsbildung des Nominalismus, die streng genommen als solche eine contradictio in adjecto ist, steckt bereits die „Individuation" Nietzsches. Deshalb gibt es auch kein reines Denken und synthetisches Erkennen, sondern nur die in sich beschlossene sinnliche Wahrnehmung. Die „Realisten", deren hervorragender Vertreter Thomas von Aquino den Spiritualismus durch das 13. Jahrhundert hindurch gerettet hatte, sahen, wie schon erwähnt, im Sinnlichen nur „testimonia ad maiorem Dei gloriam", die „Nominalisten", deren Lehren im 14. Jahrhundert durch Wilhelm von Occam zu neuem Aufschwung gelangten, ließen nur das sinnliche Einzelding als das wahrhaft Wirkliche gelten. Ihre Weltanschauung war naturalistisch-anschaulich. So sagte Occam: „Die Erkenntnis kann ihren Ausgang nicht vom Allgemeinen, sondern nur vom Besonderen nehmen." Was bei Thomas von Aquino nur bedingt, als Spiegelung einer Transzendenz bedeutungsvoll erschien, rückt bei Occam zu einem selbständigen Eigenwert auf. 1 Dvorak spricht ausführlich von „dieser neuen dualistischen Scheidung der Menschen- und Naturerforschung vom Gottesbewußtsein, weil sie dem entspricht, was wir in der gleichzeitigen Kunst beobachten können, wo sich unmittelbare und voraussetzungslose Naturbeobachtung einerseits, andererseits aber ein über alles Irdische hinausgehender Idealstil gegenüberstehen". Der nominalistische Gedanke von der prinzipiellen Vereinzelung der Dinge und seine Vergleichbarkeit mit Nietzsches „Individuation" zeigt gleichzeitig, wie 6tark der Nominalismus zum Psychologismus treiben mußte. Auf den immanenten Subjektivismus des 13. Jahrhunderts folgt der wieder transzendente Psychologismus des vierzehnten. Es bleibt für unsere Betrachtungen, vorläufig gleich, ob die „Unwirklichkeit" der gestreckten Figuren des 14. Jahrhunderts sich mehr vom thomistischen „Realismus" herleiten läßt, ob die geschwungenen Körper, die nicht selbständig von sich aus ihren Platz ausfüllen können, die gleichsam von der Übermacht des Raumes geknickt werden, wie es der „realistischen" Weltanschauung entspricht, nur abhängige Spiegelungen einer metaphyi Vergl. Dvorak, (a. a. O.) S. 115—118.

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si sehen, absoluten Voraussetzung sind, oder ob der erschreckende und bisher nie so individuell gesteigert erscheinende Naturalismus und Psychologismus, welcher gleichzeitig besonders in nordischen Andachtsbildern des 14. Jahrhunderts zu Tage tritt, mehr als Ausdruck des „Nominalismus" zu werten ist. Im engsten Sinne religiös gebunden bleiben, im Gegensatz zu der Kunst des 13. Jahrhunderts, beide Richtungen, die auch oft genug eine untrennbare Verflechtung eingehen. Man denke nur an die berühmte „Pietà Röttgen" des Bonner Museums, die Weltenferne und krassesten Naturalismus zugleich enthält. Es handelt sich stets um den Dienst für die Kirche, um die Erschütterung der Gläubigen, die in diesem Sinne nur durch eine Sprengung der ästhetischen Distanz erreicht werden kann. Psychologisch und interpretatorisch bleibt es gleichgültig, ob diese gewaltige und erschütternde religiöse Attacke auf die Menschen durch den schrillen Schrei einer zerquälten Gottesmutter und den von Blut besudelten Leichnam Christi geschieht, oder durch die nur phänomenologisch relevante, dafür aber vom Kunstwissenschaftler auf eigenem Gebiet formal zu erfassende Durchbrechung der ästhetischen Grenze, durch die Verschleifung von Kunst- und Realraum, wie wir es am simpelsten an unseren Vorhangsbeispielen nachweisen konnten. Losgelöst von allem Naturalismus tritt in der Glasmalerei ein transzendentalistischer Illusionismus hervor. Wie in dieser Kunst eine geistige, irreale, überirdische Welt illusionistisch gestaltet wird, ist bereits in anderem Zusammenhange erwähnt worden. Hier wird die ästhetische Grenze nicht nur zwischen Beschauer und Bild, sondern auch zwischen Innenraum und Außenwelt verwischt und überbrückt. Wenn daher bei der Glasmalerei des 14. Jahrhunderts keineswegs von autonomer Kunst gesprochen werden kann, so herrscht doch hier trotz allem ein unvergleichlich größeres Quantum „als ob", als in dem naturalistischen Illusionismus, der besonders in den Passionsszenen, Vesperbildern und Schmerzensmanndarstellungen der deutschen Kunst zum Ausdruck gelangt. „Der Entschluß, solche isolierte Gehalte (der religiösen Geschichte) sichtbar zu machen, ist wesentlich deutsche Leistung des beginnenden 14. Jahrhunderts. Die erste urkundliche Erwähnung einer Pietà betrifft das Jahr 1298 und die Kölner Karmeliterkirche." „Der Geist der Mystik erzeugt mit der Inbrunst der Vergegenwärtigung zugleich die Lust am Symbol. Gerne gibt man dem Sockel die fünfblättrige „rosa mystica", golden auf blauem Grunde, Symbol der Hostie wie die Blutstrauben auf Brust und Händen. (Blut und Wein, Christus der Weinstock)".1 Als Symbol für die Distanzlosigkeit zwischen dem Gläubigen und dem religiösen Inhalt des Kunstwerkes muß der erst in dieser Zeit bildwürdig 1

Pinder: Die Pietà, Leipzig, 1922. S. 1 und 6.

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werdende Typ der Schutzmantelmadonna angesehen werden Die Ueschauer sind hier gleichsam in das Bildwerk mit aufgenommen und schmiegen sich eng unter den schützenden Mantel Marias. „Wieder ist eine alte Schriftstelle der Keim einer Schöpfung, die zunächst in Worten verläuft. „Sub tuum praesidium confugimus, sancta Dei genetrix, nostras deprecationes." „Unter Deinen Schutz, heilige Gottesgebärerin, flüchten wir unsere Gebete". Karl der Große ließ das Gebet aus dem Griechischen übernehmen... Caesarius von Heisterbach (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) hat im „Dialogus miraculorum" die Schilderung einer Vision hinterlassen: ein frommer Gsterzicnser schaut die Himmelskönigin in allem Glanz, von Heiligen und den Orden umgeben; der seinige fehlt, er fragt bestürzt, „und sie öffnete ihren Mantel, den man um sie wallen sah, und der eine wundersame Weite hatte, und zeigte ihm eine unzählige Menge von Mönchen, Konversen und Nonnen." 1 In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden in Verbindung mit den Geißlerfahrten und der, als Reaktion gegen die Weltlichkeit des hohen 13. Jahrhunderts, sich entwickelnden Bußfertigkeit eine Reihe religiöser Bruderschaften. „Von einer derselben erfahren wir, daß der Papst ihr 1267, also kurz nach jenem verzweifeltem Geißlertum, Förderung angedeihen ließ, ihr, auf die Misericordia Gottes vertrauend, misericorditer Abialf gewährte. Sie hieß die Bruderschaft der Schutzbefohlenen Mariae, in ihren Fahnen war die Madonna dargestellt, wie sie die Brüder mit ihrem Mantel überdeckt." 2 Hier wird von Neuem deutlich, wie ein geistiger Inhalt des 13. Jahrhunderts in der autonomen, ästhetisch immanenten Kunst dieser Zeit nicht zur sichtbaren Form gelangen konnte. In einem Fresko in Sta. Maria inter Angelos bei Spoleto aus der Zeit um 1280—1290 haben wir wohl die älteste Darstellung der Schutzmantelmadonna vor uns. 3 Die Schutzmantelmadonna gelangt erst zur bildnerischen Gestaltung, als die Stellung der Kunst in einem Wandel begriffen war; erst im 14. Jahrhundert fand dieses Motiv eine weitere Verbreitung. Die Erzbruderschaft „S. Maria della Misericordia" ließ 1359—64 von Alberto di Amoldo eine lebensgroße Statue der Schutzmantelmadonna anfertigen. Lippo Memmi (Orvieto, Domopera) Agnolo Gaddi, Bartolo di Fredi und andere gaben ihr eine monumentale Form. Besonders aber in der nordischen Plastik wird dieser Typ zu einem zentralen Thema künstlerischen Gestaltens. Die Furcht vor der Welt und ihren Schrecknissen führt zu dieser Sehnsucht nach der unmittelbaren Nähe der Gottheit. Die psychische Raum1

Pinder: Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance. (Handbuch der Kunstwissenschaft). Bd. I S. 105. a Vgl. Brockhaus: Forschungen über Florentiner Kunstwerke. Leipzig 1902. S. 10911. 3 van Marie: The development of the italian schools of Painting. Haag 1923. Bd. I. S. 407. 4

Michalik!.

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angst, der Erlösungswille vom Diesseits läßt die Menschen der Mystik grenzenlos aus der immanenten in die transzendente Zone hinübergleiten. Nicht umsonst ist das „Entwerden" zu einem zentralen Begriff der Zeit geworden. In diesem Sinne kann man vielleicht sagen, daß bei der religiösen Kunst des 14. Jahrhunderts das Bildwerk weniger in den Realitätszusammenhang eintritt, als umgekehrt die Realität in sich einsaugt, ihres Wirklichkeitsakzents entkleidet. „Das ganze Leben des christlichen Menschen ist ja nicht wie das des klassischen als in sich beschlossen, sondern in Beziehung zum Vorher und Nachher, zur Erbsünde und zur Erlösung empfunden. Der unendlichen Kette dieser Beziehungen entsprechend, ruhen und enden die Gestalten des 14. Jahrhunderts nicht in sich, sondern sind von einer unendlichen Bewegung durchflössen". 1 Wie in der bildenden Kunst machen sich auch in der Literatur bereits am Ende des 13. Jahrhunderts die ersten Anzeichen einer Abwendung von der Welt verbunden mit einer bewußt um religiösmoralisierenden Einfluß bemühten Tendenz bemerkbar. Rudolf von Ems überträgt in seiner Legende von „Balaam und Josaphat" den indischen Buddhamythos ins Christliche. Josaphat wird hier von dem Einsiedler Balaam zum Christentum bekehrt, wendet sich von der Welt ab und widmet sich einer asketischen Buße. Im „guten Gerhard" wird das ideale Charakterbild christlicher Güte und Entsagung gezeichnet. Konrad von Würzburg, dessen Schaffen noch ganz im Rahmen des Ritterepos des 13. Jahrhunderts begann, entwickelte sich in seiner Spätzeit zu einer weltfremden, Einkehr predigenden Legendendichtung. Sein „Alexius" verherrlicht das Gott geweihte Pilgerleben eines jungen Römers zur Zeit des Kaisers Theodosius. „Das gleiche Thema von der Nichtigkeit der Welt behandelt Konrad auch noch in der allegorischen Märe von „Der Welt Lohn", deren Held Wirut von Gravenberg, der Dichter des „Wigalois" ist. Vor diesen zu seiner Zeit so glänzenden Vertreter des Rittertums tritt die Welt in der Gestalt eines Weibes, das vorne mit allen Reizen herrlich geschmückt, aber hinten mit Schlangen und Schwären bedeckt ist, und der Eindruck dieser Begegnung auf den Ritter ist so übermächtig, daß er nur noch seines Seelenheils gedenkt und auf der Stelle beschließt, das Kreuz zu nehmen". 2 Das Entgleiten aus der klassischen Diesseitsverbundenheit des 13. Jahrhunderts tritt hier deutlich zu Tage. Die Abkehr von der Welt führt zu einem mönchischen Ideal. Das Streben nach dem „Entwerden", verbunden mit einer ganz persönlichen Beziehung zur Gottheit, gipfelt in den im 14. Jahrhundert immer häufiger werdenden Visionen. Noch im 13. Jahrhundert werden Askese und verzückte Weitabgewandtheit, bezeichnenderweise durch zwei Frauen, die Nonne Mechthild von Weigert (a. a. O.) S. 92. * Biese: Deutsche Literaturgeschichte. München 1916. Bd. I. S. 139f. 1

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Magdeburg und die hl. Elisabeth, in ungeahnter Weise verklärt. JJie Voraussetzung hierzu ist „eine mystische Geisteshaltung, die dazu neigt, Diesseitiges u n d Jenseitiges ineinander verfließen zu lassen. Nun ist allerdings die Mystik nicht erst nach 1250 entstanden, sondern h a t das Christentum auf seinem ganzen Wege begleitet. Aber erst n a c h 1250 ist 6ie aus einer Komponente zur Dominante des Christentums geworden. Besonders bezeichnend ist, daß der H ö h e p u n k t , den sie vorher mit Bernhard von Clairvaux u n d Hugo von S. Viktor erreichte, vor 1150, also vor dem Beginn der klassischen Periode lag. Diese selbst aber gehörte überwiegend der inteflektualistischen Scholastik. Die Theologie wurde, gestützt auf Aristoteles, zur Philosophie. E r s t nach 1250 verschiebt sich das Gewicht wieder von den intellektuellen auf die emotionalen Funktionen." 1 I m gleichen Maße wie die Mystik sich vorwiegend auf nordischem Boden entfaltete, entfernte sich die K u n s t auch dort radikaler von der klassischen Gestalt als im Süden. Italien vermochte f o r m e n g e s c h i c h t l i c h nie ganz von der Antike loszukommen, die klassische Tradition blieb stets lebendig u n d wurde besonders durch die „Protorenaissance" unter Friedrich I I . zu Beginn des 13. J a h r h u n d e r t s neu gestützt. Auch unsere Vorhangsbeispiele, die f ü r das 14. J a h r h u n d e r t beinahe ausschließlich durch italienische Grabdenkmäler repräsentiert werden, bedeuten formengeschichtlich keineswegs eine der nordischen K u n s t n u r annähernd entsprechende Negierung des antiken Formenideals. Zwar m u ß , der Zeit Nicolo Pisanos gegenüber, auch in Italien von einer gewissen „Gotisierung" gesprochen werden, doch die voluminösen Körper der Figuren breiten sich noch immer üppig unter den oft recht antikisch bewegten Gewändern, u n d klassisches Ebenmaß bleibt f ü r Gewichts- und Bewegungsponderation stets das spürbare Vorbild. Daß die Kunstwerke mit dem „regietechnisch" stets vergleichbaren Vorhangsmotiv f ü r das 14. J a h r h u n d e r t vorwiegend aus der italienischen, das heißt aus einer formengeschichtlich nicht ausgesprochen gotischen K u n s t ausgewählt werden m u ß t e n , liegt an der ikonographisch ungewöhnlich häufigen Verwendung des Vorhangsmotivs beim italienischen Grabmal. 2 Wie sehr aber, trotz der ungotischen Einzelform, die innere Gesamtstruktur doch gotisch ist, erkennt m a n an unserem raumästhetischen Kennzeichen, das wiederum die innere Wandlung an einer formengeschichtlich durchaus nicht betonten Stelle der Entwicklung aufzeigt und dadurch doppelte Bedeutung gewinnt. Eine eigentümliche Sonderstellung in der von uns skizzierten Entwicklung des 14. J a h r h u n d e r t s n i m m t die überragende Persönlichkeit Giottos 1 a

Weigert (a. a. O.) S. 114f. Über die Ableitung dieses Motivs von der (für unsere Zwecke nicht bezeichnenden) Verwendung auf altchristlichen Sarkophagen vgl. Bürger: Geschichte des Florentiner Grabmals von den ältesten Zeiten bis Michelangelo. Straßburg 1904. S. 16. 4*

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ein. Es wurde schon betont, daß für Dvorak im künstlerischen Schaffen Giottos die endgttltige Befreiung der Kunst zu Selbständigkeit und Autonomie vor sich gegangen ist. Giottos Idealstil ist „nicht der Ausfluß einer irrationellen Übernatfirlichkeit, wie in der Gotik, sondern eine künstlerische Paraphrase und Verklärung, Monumentalisierung der sinnlichen Wirklichkeit, wie sie in der antiken Kunst angestrebt wurde." „Die Kunst wurde eine selbständige, von metaphysischen Voraussetzungen unabhängige Quelle der Weltanschauung." „Jedes Gemälde Giottos ist eine Welt für sich, in der das Walten übernatürlicher Mächte nur in den geschilderten Vorgängen zum Ausdruck kommt, die aber in der künstlerischen Rekonstruktion dieser Vorgänge ihren eigenen Gesetzen folgt, durch welche die künstlerische Bedeutung der Figuren, ihre Erfindung, Anordnung, räumliche Stellung und Verbindung bestimmt wird." 1 Inwieweit Dvorak Unrecht hat, wenn er die Autonomie der Kunst vom Auftreten Giottos ab ein für alle Mal als gesichert ansieht, werden diese Ausführungen noch verschiedentlich zu bezeugen suchen. In diesen Abschnitt gehört die Frage, wie sich Giottos Werk in das als heteronom zu charakterisierende, durchaus metaphysischen Zwecken dienende 14. Jahrhundert eingliedern läßt. Es war in früheren Perioden der Kunstgeschichtsschreibung durchaus üblich, mit Giotto die Renaissance beginnen zu lassen. Und in der Tat: er steht völlig außerhalb dessen, was man als „Gotik" zu bezeichnen gewohnt ist. Sein von „metaphysischen Voraussetzungen freier Monumentalstil" ist von innen heraus autonom. Giottos Kunst ist ohne jede Hinzuziehung von Kulturphänomenen zu verstehen. Die Gewalt ihrer eigenbedeutsamen Sprache bedarf keines Kommentars. „Realismus44 und „Nominalismus", Thomas von Aquino und Wilhelm von Occam werden hier — für den Kunstwissenschaftler — zu peripheren Erscheinungen, von denen aus weder Licht noch Schatten auf das Werk des Florentiners fällt. Giottos Bildkompositionen spielen sich alle, wie durch eine unsichtbare Rampe vom Beschauer getrennt, in einem distanzierten Kunstraum ab. Kein Glied, keine Form und keine Geste ragen in den Realraum hinein. Das Vorhangsmotiv kommt bei Giotto nie in der vordersten Bildzone vor, so daß wir auf dieses am leichtesten ablesbare Motiv verzichten müssen. Der Vorhang auf der „Verkündigung Mariä" in Padua ist als Objekt im B i l d e , und weder als überschnittene, noch als gewahrte vordere ästhetische Grenze gegen den Realraum verwendet. Es muß hier betont werden, daß außer Giotto und seinem Kreise auch der etwas ältere Duccio deutlich seine ästhetische Autonomie formal bekundet, so daß nur unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, der in der Einzelform und Komposition gewiß „gotischere" Sienese ebenfalls als gleichwertiger 1

Dvorak, (a. a. O.) S. 125ff.

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Repräsentant des alten, künstlerisch selbständigen Stils angesehen werden muß. In dem gleichen Maße wie bei Giotto überschneiden auch bei Duccio Bildrand lind -rahmen ihrerseits Figuren und Formen, die sich in der vordersten Bildzone befinden. Auch hierin dokumentiert sich die trennende Macht der idealen ästhetischen Grenze, die keine Übergriffe erlaubt und das im Bilde dargestellte Geschehen zurückdrängt. Unter diesem, für uns wichtigsten Gesichtspunkt betrachtet, sind Giotto und Duccio durchaus in der Vergangenheit wurzelnde Künstler. Es handelt sich hier nicht darum, zu zeigen, welche vorwärts weisende Bedeutung Giottos formengeschichtliche, kompositionelle, mimisch-psychologische und dynamisch-rhythmische Neuschöpfungen besitzen. Die Blickrichtung auf diese Dinge ließ Dvorak Giotto als den Gründer einer künstlerischen Autonomie feiern, die, um nur Einen zu nennen, bei Niccolo Pisano schon lftnggt kritisch-ästhetisch (aber auch, was nur nebenbei gesagt sei, in der persönlichen Auffassung seines Künstlertums psychologisch-genetisch) verwirklicht war. In d i e s e r Hinsicht ist der Revolutionär Giotto noch Ducentist, Sohn des autonomen Kunstzeitalters, in dessen Mitte er ja auch, wie Duccio, geboren wurde. Dvorak selbst vergleicht die Fresken des 13. Jahrhunderts mit literarischen Enzyklopädien. 1 „Die endlosen Bilderreihen erzählen ohne jede suggestive Tendenz, man könnte sie leicht durch andere Erzählungen ersetzen. Man hat bereits im 13. Jahrhundert diese innere Irreligiosität der kirchlichen Kunst empfunden; ein gleichzeitiger anonymer Kunstschriftsteller beklagt sich bitter, ohne jedoch eine andere Auskunft zu kennen, als die Aufstellung einer neuen typologischen Reihe". Dvorak charakterisiert dann die Wandlung im 14. Jahrhundert als eine bewußte Beschränkung in der Wahl der Themen. An die Stelle von „Enzyklopädien" treten Andachtsbilder, bestimmte Passionsszenen und Madonnendarstellungen. (Man denke an den Schmerzensmann und die Pietä im Norden!) Mystik und lyrisches Christentum sehnen sich nach Symbolen, die einer tief innerlich erlebten, durch die Vorstellung vom Jenseits, vom Jüngsten Gericht und von den „letzten Dingen" genährten Missions- und Propagandaidee, deren Träger hauptsächlich die Bettelorden waren, sinnlich faßbare Suggestionskraft verleihen könnten. Die Brüder Lorenzetti, Simone Martini und Lippo Memmi vertreten u. a. diese Andachtsmalerei des 14. Jahrhunderts. Auch formengeschichtlich gliedern sie sich durch die „gotische" Schwingung und Körperlosigkeit der Figuren in den Stil des 14. Jahrhunderts unter Aufgabe der Monumentalität Giottos ein. Es ist mit Recht von der „dramatischnaturalistischen Transponierung Giottos ins Gotische" bei Pietro Lorenzetti und von der „Gotisierung Giottos im formalen Sinne" bei Simone Martini 1

Vergl. Dvorak: Die Illuminatoren des Johann von Neumarkt. Jahrbuch des allerhöchsten Kaiserhauses, Wien 1901, S. 106 ff.

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gesprochen worden.1 Gleichzeitig wurde hervorgehoben, wie bedeutsam Siena das Erbe Giottos gotisiert und an den Norden weitergegeben habe. Diese sienesische Ableitung aus der Kunst Giottos wurde vornehmlich durch Martini nach Avignon getragen und wirkte von dort aus weiter. Die auf Giotto folgende Gotik, die hier nur in formengeschichtlicher Hinsicht charakterisiert wurde, wird sich auch durch unser formal-phänomenologisches Kriterium belegen lassen. In den Fresken des Campo Santo in Pisa tritt die Wucht der religiösen Propaganda, in den Werken des Andrea Orcagna die „englische" Süße der Mystik des 14. Jahrhunderts besonders deutlich hervor. Auf Giottos und seiner unmittlebaren Schüler „Renaissance" folgt erst die wahre „Gotik". Wie steht es aber mit Giotto selbst ? Man verstehe nicht falsch, er soll weder qualitativ noch im Einzelnen mit den „endlosen Bilderreihen" der Kathedralen des Ducento in Vergleich gesetzt werden. Aber die „innere Irreligiosität", die Dvorak bei j e n e n fand, und die „Unabhängigkeit von metaphysischen Voraussetzungen", die Dvorak als Giottos neue Tat feststellte, sind in gewissem Sinne das Gleiche. Die Wahrung oder Überschneidung der ästhetischen Grenze, unser Kriterium für die ideelle Selbständigkeit oder Bedingtheit eines Stils, bestätigt das. „Die religiöse Inhaltsbestimmung", die ja z. B. bei einem Madonnenbilde des Trecento im wesentlichen dieselbe ist, wie bei einem barocken Martyrium, fehlt bei Giotto2. Er gehört in dieser Hinsicht noch zu den „Enziklopädisten" des 13. Jahrhunderts einerseits und zu Niccolo Pisano oder dem Meister der Reimser Heimsuchung, an den sich unsere großen Deutschen anschließen, andererseits. Es fehlt ihm gleichfalls jede „suggestive Tendenz", er ist tendenzlos, autonom, ästhetisch immanent. Seine künstlerische und menschliche Suggestionskraft hat auch dort, wo sie ihre Inhalte unmittelbar aus der Lebens- und Leidensgeschichte Christi zieht, andere Wurzeln und wirkt auf anderer Ebene. Giottos ungeheure und einzigartige Bedeutung, die ihn auch über Duccio hinaushebt, beruht darin, die ästhetische Einstellung und Selbständigkeit des Ducento mit formalen, morphologischen und kompositionellen Neuerungen, die sogar über das Trecento noch weit hinausgehen, vereint zu haben, so daß er sich, mehr als jedes andere Genie, einer e i n f ö r m i g e n und g l e i c h w e r t i g e n Normierung entzieht. Es muß hier mit allem Nachdruck betont werden, daß nicht alle „religiöse" Kunst unbedingt heteronom zu sein braucht. In den heteronomen Stilphasen gelangt eine in engerem Sinne kultisch gebundene, religiöse Kunst zur Ausprägung, die auf ein Außerhalb bezogen wird, in einen Aiital: Gedanken zur Entwicklung der Trecento- und Quattrocentomalerei in Siena und Florenz. Jahrb. für Kunstwissenschaft. 1924. S. 207 ff. * Dvorak: Die Illuminatoren etc. (a. a. O.) S. 106f. 1

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Realitätszusammenhang mit d e m Gläubigen t r e t e n will u n d daher tatsächlich außerästhetisch bedingt ist. Die religiöse K u n s t autonomer Stilphasen braucht deshalb aber nicht in einem n u r äußerlichen Sinne religiös zu sein. Ihre Religiosität spricht sich jedoch ohne Rest u n d Rückstand in der reinen Form, in der optischen Sichtbarkeit aus. J a , die Wahrung der ästhetischen Grenze, die Distanzierung des Kunstwerks k a n n sogar psychologisch einen starken Andachtswert besitzen. Das Religiöse ist hier jedoch so sublimiert, daß eine Erhellung des durch rein ästhetisches Verhalten dem Bilde gegenüber gewonnenen Eindruckes, auch in religiöser Hinsicht bei einer Hinzuziehung außerästhetischer Phänomene nicht mehr erfolgen kann. Die Vorläufer Giottos in der italienischen Malerei des Ducento, die Rusuti, Torriti und Cavallini haben, wie Rosenthal eindrücklich dargestellt h a t , weder mit der geistesgeschichtlichen, noch, was innerhalb unserer Betrachtungen wichtiger ist, mit der künstlerischen, durch die Plastik maßgebend vertretenen Entwicklung Schritt gehalten. 1 Die italienischen Maler des 13. J a h r h u n d e r t s bleiben vollkommen im Rahmen einer streng mittelalterlichen Tradition. Die formale Entwicklung, die sich durch die französische Plastik u n d durch Niccolo und Giovanni Pisano bezeichnen läßt, geht an ihnen spurlos vorüber. E s verdeutlicht den großen Unterschied, wenn m a n sich klar macht, d a ß Niccolo Pisano seine Gestalten, durch innere Affinität an die Antike gebunden, monumentalplastisch, statuarisch, autonom a u f b a u t , während Torriti nur insofern den im 13. J a h r h u n d e r t wieder auftauchenden antiken Vorbildern Tribut zollt, als er z. B. in S. Maria Maggiore in Rom, unterhalb seiner ganz abstrakt empfundenen Gestalten der Heiligen Franziskus u n d Antonius zwei antike Flußgötter zusammenhanglos erscheinen läßt. Rosenthal, der sein Buch u n t e r dem Gesichtspunkt des Entstehens der „ I n d i v i d u a t i o n " geschrieben h a t , die f ü r ihn durch die Gestalt Giottos in reinster Form repräsentiert wird, sieht in diesem Künstler deshalb den End- u n d Gipfelpunkt einer k o n t i n u i e r l i c h e n Entwicklung, deren Weg über die Plastik des 13. J a h r hunderts gegangen ist. Uns aber, die wir den Schwerpunkt unserer Darstellung anders gelagert haben, die wir den rhythmischen W e c h s e l von Autonomie u n d Heteronomie in der K u n s t durchleuchten wollen, muß Giotto in gewisser Beziehung als retrospektiv erscheinen. Wie nahe in ihren Endergebnissen sich jedoch diese Auffassung trotzdem mit der Rosenthals b e r ü h r t , wird klar, wenn m a n beachtet, d a ß Rosenthal den formengeschichtlichen und gehaltspsychologischen Zusammenhang Giottos mit der großen Plastik des 13. J a h r h u n d e r t s auf Schritt und T r i t t nachweist. Giottos Profilstellungen kommen nicht in der Malerei seiner unmittelbaren Vorgänger, aber bei den Pisani vor, sein Christustyp geht auf den „ B e a u D i e u 1

Rosenthal (a. a. O.) S. 161 ff.

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d'Amiens" zurück, die tiefe Beseelung seiner „Heimsuchungsgruppe" findet nur in Chartreg ihre Parallele. Wenn Rosenthal nun von Giottos „Illusionsbühne" spricht, so hat das bei ihm eine besondere terminologische Bedeutung. Er bezeichnet damit das Organische, Funktionelle, die unmittelbare Anschaulichkeit der bewegten Figur Giottos, die ihren „subjektiven R a u m " mit Notwendigkeit um sich entstehen läßt. Innerhalb unserer Betrachtungen wäre ja der Begriff „Illusionsbühne" beinahe eine contradictio in adjecto, da „Illusionismus" für uns eine Überschreitung, „Bühne" jedoch gerade eine strenge Wahrung der ästhetischen Grenze bedeutet. Daß aber Rosenthal, diese Begriffe in anderem Sinne gebraucht, geht auch aus der Erwähnung eines „klassischen Illusionismus" bei Giotto hervor. In einer Beziehung scheint aber auch Rosenthal an einen Illusionismus in unserem Sinne zu denken, der ja zweifellos dem 14. Jahrhundert im allgemeinen durchaus gemäß wäre, den wir aber nicht für Giotto in Anspruch nehmen zu dürfen glauben. Rosenthal sagt von der 1303—06 ausgemalten Arenakapelle in Padua: „Die Tonnendecke scheint mit ihrem tiefen Blau den Blick in den Himmel zu öffnen, und der blaue Himmel wird auf allen Fresken der Längswände sichtbar. Dadurch entsteht die Illusion, daß sich dieser seitlich herunterzieht, daß sich vor ihm alle Vorgänge abspielen". 1 Sicherlich mag bei der Wahl der blauen Farbe für den im übrigen, soweit das nach der Restauration noch festellbar ist, zweifellos gänzlich unschattierten Hintergrund der Fresken die Vorstellung des Himmels mitgesprochen haben. Aber das Himmelsblau übernimmt in seiner Flächigkeit, die den Bühnenraum wie eine Wand abschließt, hier nur die Rolle einer Folie wie etwa der Goldgrund bei Tafelbildern. Denn daß die Decke durch ihr Blau illusionistisch den Blick in den Himmel eröffnen wolle, scheint uns nach der gesamten Haltung der Kunst Giottos eine nicht mögliche Interpretation zu sein. Rosenthal selbst spricht in anderem Zusammenhang von dem Verzicht Giottos auf illusionistische Farbwirkung, der in dem gelb-grauen Einheitston seiner Landschaften zum Ausdruck gelangt, und der jedes naturalistische Naherücken und Einbeziehen des Beschauers in den Bildvorgang ausschließt. Bereits in der Entwicklung der heroischen, autonomen Monumentalplastik des 13. Jahrhunderts konnte beobachtet werden, wie die allmählich wieder zu Tage tretende Einspannung der Kunst in ein neues Abhängigkeitsverhältnis, das für uns formalphänomenologisch an einem Überschreiten der ästhetischen Grenze, an einem Durchbrechen der Isolierung der Einzelfigur sichtbar wurde, zuerst dort auftrat, wo schon rein inhaltlich eine moralisch-didaktische Tendenz vorherrschte. Man denke an das Magdeburger Jungfrauen-Portal und an die Tugenden und Laster in 1

Rosenthal (a. a. O.) S. 183.

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Straßburg. Bei Giotto, dessen prinzipielles V erwacüsensein mit aer autonomen K u n s t des hohen 13. J a h r h u n d e r t s soeben aufgezeigt wurde, begegnen wir der gleichen Tatsache. I n der Arenakapelle in P a d u a befindet sich unterhalb der Fresken mit der Passionsgeschichte eine Reihe allegorischer Darstellungen von Tugenden u n d Lastern, die teilweise durch lateinische Inschriften näher erläutert werden. Die lehrhafte Absicht dieser Figuren wird hierdurch ohne weiteres klar. Der Kunstwissenschaftler braucht aber garnicht von seinem Wissen u m die Bedeutung und den geistesgeschichtlichen Zusammenhang dieser in der scholastischen Theologie wurzelnden Allegorien auszugehen. Die grau in grau gemalten, beinahe Relief vortäuschenden Gestalten stehen vor dunklem Grund, der von einem helleren Rahmenstreifen umgeben wird, über den die Figuren aber stets durch Gebärden u n d bedeutungsvolle A t t r i b u t e in beinahe illusionistischer Weise herausragen. Die ästhetische Distanz zum Beschauer wird nicht gewahrt. Es ist eine Notwendigkeit, daß stets dort, wo die K u n s t aus ihrer autonomen Stellung herausgedrängt wird und auf ein Publikum Bezug n i m m t , unser ganz assoziationslos anwendbares, formales Kriterium die methodisch legitime Möglichkeit eröffnet, nach den hinter dieser K u n s t wirkenden K r ä f t e n nunmehr sekundär zu fragen. Die Magdeburger J u n g f r a u e n m u ß t e n u m ihrer parabolischen Bedeutung willen die Isolierung der Einzelfigur und den distanzierten Nischenraum ebenso durchbrechen, wie später noch stärker die Jungfrauen u n d die Allegorien in Straßburg. U n d als der sonst in seiner ästhetischen Einstellung ganz dem autonomen 13. J a h r h u n d e r t zugehörige Giotto einen Auftrag lehrhaften Charakters erfüllen wollte, m u ß t e ein aller heteronomen K u n s t immanenter Zwang seine Malerei zu einer bei ihm sonst nicht vorkommenden Darstellungsweise f ä h r e n . D a ß die Paduaner Allegorien in ihrem Verhältnis von Figur, Grund und Rahmen außerordentlich vergleichbar mit den bereits in anderem Zusammenhang erwähnten deutschen Fresken des 12. Jahrhunderts (Schwarzrheindorf, Köln) sind, wo die Figuren sich ebenso vom Grunde loszulösen, über den R a h m e n zu treten u n d die Gläubigen im realen R a u m beinahe berühren zu wollen scheinen, läßt auf eine tief verwurzelte Übereinstimmung in den Grundfragen dieser Stile schließen. Es ist hier der Platz, einige prinzipielle Bemerkungen über den Unterschied der Begriffe „Kunstschein" und „Illusionismus" einzufügen. Auch die ästhetisch distanzierten Fresken Giottos aus der Lebens- u n d Leidensgeschichte Christi wollen j a , wie jede starke Kunst, einen gewissen Grad von Erlebnisnähe u n d Ausdrucksfülle ausstrahlen. Was ist nun der Unterschied zwischen dem von ihnen ausgehenden Schein u n d der den Beschauer attackierenden Existenznähe der Allegorien? Diese Existenznähe ist bei manchen Kunstgebilden, die in den Realraum übergreifen, wie bei Giottos Tugenden u n d Lastern so stark, daß man durchaus von „Illusionismus" 57

reden k a n n . I n diesem Zusammenhange muß vorerst einmal vor einer Verwechslung mit der Wirkung des Panoramas und der Wachsfigur gewarnt werden. Eine noch so heteronome, grenzüberschreitende K u n s t , die gewiß illusionistisch eine Wirklichkeit vorzutäuschen beabsichtigt, will doch stets nur eine „Kunstwirklichkeit" schaffen, so lange man noch von K u n s t reden darf, — die Grenzen sind im 14. und 17. J a h r h u n d e r t allerdings oft schwer zu ziehen. Panorama undPanoptikum dagegen suchen eine „Lebenswirklichkeit" hervorzurufen. 1 Es wurde schon einleitend in der Auseinandersetzung mit Geiger betont, daß es sich f ü r uns nicht d a r u m handelt, den Gegensatz von gegebener Wirklichkeit u n d tatsächlicher Unwirklichkeit in die Ästhetik einzuführen. Die „gegebene Wirklichkeit" k a n n jedoch auf zwei ästhetisch grundverschiedene Weisen gegeben sein. Bei der Kunstwirklichkeit wird doch stets noch „das Geschaffensein von einem Künstler mit dem Kunstwerk zugleich erschaut." Diese Formulierung erscheint uns gut f ü r die Kunst außerästhetisch bedingter, heteronomer Epochen zu passen. Autonome, distanzierte K u n s t dagegen k a n n a m besten in dem Volkeltschen Begriffe des „Kunstscheins" (im Gegensatz zur „Kunstwirklichkeit") gefaßt werden. Volkelt erwähnt ferner, daß schon im Worte „Kunstschein", in Analogie zu „Sonnenschein" für unser Sprachgefühl nicht der Begriff der Täuschung so sehr enthalten sei, wie in dem Worte „Illusion". Diese terminologische Unterscheidung der Begriffe „Kunstwirklichkeit" ( = „Illusion") und „Kunstschein", wobei h i e r w i e d o r t ein allerdings verschieden großes Quantum „als o b " enthalten ist, das eben den Unterschied von der „Lebenswirklichkeit" ausmacht, wird von Volkelt in einem von dem unseren etwas abweichenden psychologisch orientierten Sinne gebraucht. Auch Volkelts nur moralisch zu stützendes Axiom, das den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen bildet, auf Betrug könne sich kein ästhetischer Wert gründen, kann in dieser Form f ü r uns keine Verbindlichkeit besitzen. Es handelt sich bei uns nicht um Betrug und Ehrlichkeit, sondern um Kunst und Wirklichkeit, um den Grad der Näherungsmöglichkeiten beider Pole und u m die sich daraus für den Kunstwissenschaftler ergebenden Folgen. Volkelts F o r m u l i e r u n g e n lassen sich jedoch sehr gut in unsere Überlegungen einordnen, so daß sich für uns eine Stufenfolge der Begriffe „Kunstschein" (autonome Kunst), „Kunstwirklichkeit", Illusionismus (heteronome Kunst) und „Lebenswirklichkeit" (Panorama und Panoptikum, die außerä&thetische Täuschungen hervorzurufen trachten und mit Kunst nichts mehr zu t u n haben) ergibt. 2 1

1

Vgl. Volkelt: Illusion und Wirklichkeit. Zeitschrift für Aesthetik und allgem. Kunstwissenschaft 1918. „Vor jedem ästhetisch aufgenommenen Gegenstand, mag er der Natur oder Kunst angehören,vollzieht sich eine deutlich fühlbare Herabsetzung unseres Wirklichkeitsgefühls." (Volkelt: System d. Ästhetik Bd. 1. S. 488ff.).

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Wenn wir also gerade bei autonomen, distanzierten, von der Realität isolierten Kunstformationen stets das „Als ob" besonders hervorheben mußten, so wird doch klar, daß auch heteronome Kunstwerke noch einen gewissen Unwirklichkeitsakzent stets in sich tragen, der nur bei einer Gegenüberstellung mit der anderen Kategorie vergleichsweise verschwindet. Das den Beschauer gleichsam Attackierende, von dem so oft die Rede war, verwandelt sich selbstverständlich bei Kunstwerken, die diesen Namen verdienen, nie zu einer Emotion, die einen kunstsinnigen Betrachter glauben lassen könnte, er verdanke einer gleichberechtigten Realität sein Erlebnis. Es wurde bereits erwähnt, daß dem Aufschwung des Nominalismus im 14. Jahrhundert, der in seiner Begriffsbildung, wenn überhaupt von einer solchen geredet werden darf, von den sinnlich faßbaren Einzeldingen ausging, in der Kunst ein immer stärker werdender Illusionismus parallel lief. In dem durch das Auftreten Wilhelms von Occam im 14. Jahrhundert neu entflammten „Universalienstreit" gewann der Nominalismus allmählich das Übergewicht. Im Gegensatz zum Realismus, der die Begriffe vor die Dinge setzen wollte, ließ er alle Dinge in ihrer „Individuation" beschlossen bleiben und kam so zu einer Vielheit von in sich vereinzelten Begriffen. Diese neue Bedeutung, die den Einzeldingen zugemessen wurde, hatte ein erstarktes Interesse an der Realität zur Folge. In der Kunst werden die wirklichkeitsfremden, spiritualistischen Tendenzen der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mehr und mehr verdrängt. Besonders die deutsche Kunst, der das Maßlose, die künstlerische Form beinahe Sprengende von jeher am Herzen lag, trat hier in den Vordergrund. Aber auch im Norden war erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein konsequent naturalistischer Illusionismus möglich, wie er z. B. in den Altarfiguren der Marienkirche zu Mühlhausen in Thüringen in die Erscheinung tritt, die in das achte Jahrzehnt des Jahrhunderts gesetzt werden.1 Die Gestalten Kaiser Karls IV. und seiner Gemahlin blicken, mit sprechenden Gebärden über die Brüstung gebeugt, lebensgroß vom Altan der Kirche herab. Pinder betont hier bereits die Vergleichbarkeit mit dem Barock. „Das Kaiserpaar blickt herab, wie wirklich auf dem Altan stehend, d. h. ohne eigentliche ästhetische Grenze gegen den Beschauer, — der plastisch hingestellte Teil einer als alljährlich wirklich gewünschten Szene, zu der die auf dem Platze versammelte Bürgerschaft als mitwirkender Teil gehört." Daß die Kunst hier hart an die Grenze des Panoptikums, der „Lebenswirklichkeit" stößt, kann nicht geleugnet werden. Die letzte Konsequenz der ästhetischen Entwicklung des 14. Jahrhunderts ist erreicht. Eine heteronome Kunst hat ihre Grenzen beinahe bis zur Überwindung und Vernichtung des auch in ihr enthaltenen „Als ob" geweitet. Bei aller innerlichen Verschiedenheit hat aber auch diese Kunst die allgemeine ästhetische Einstellung mit den Werken einer sich nach dem 1

Vgl. Pinder: Die Plastik des 14. Jahrh. München, 1925. Taf. 87, 88. Text S. 65f.

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„Entwerden" sehnenden Mystik gemein. Der aus religiöser Inbrunst gesteigerte Illusionismus enthält jedoch bereits die Keime zu der erneuten ästhetischen Wandlung der Kunst. Verwickelter gestalten sich unsere Untersuchungen, wenn man die Malerei des 14. Jahrhunderts heranzieht. Es wurde schon erwähnt, daß auf Giottos Renaissance erst die wahre Gotik folgte. Es wurde von der Andachtsmalerei Lippo Memmis und der Brüder Lorenzetti gesprochen, von der religiösen Propaganda, die von den Fresken de6 Campo Santo in Pisa ausgeht, und von der mystischen Süße der Figuren Andrea Orcagnas. Wir stehen hier jedoch vor der Tatsache, daß wir, besonders bei Werken der Malerei mit unserem kritisch-ästhetischen Kriterium nicht immer weiter arbeiten können. Hier liegt die Grenze unserer Betrachtungsweise, was ausdrücklich betont werden soll. Daß Andrea Orcagna allein durch sein Relief der „Geburt Mariä" die heteronome Einstellung seiner Kunst in unserem Sinne bekundete, wurde bereits hervorgehoben. Bei den Gemälden des gleichen Künstlers sind wir aber nur auf eine formenanalytische und gehaltspsychologische Deutung angewiesen, die, als Ausgangspunkt der Betrachtung, eben durch ihren notwendigen psychologischen Einschlag einer rigorosen Forderung nach methodologischer Legitimität nicht genügen kann. Es scheint uns aber immerhin von nicht zu unterschätzender Bedeutung zu sein, daß eine Zeit, ein Stil überhaupt das Phänomen der ästhetischen Grenzverwischung, sei es in der Reliefkunst und der Plastik, sei es in der Malerei, wo vor allem das Vorhangsmotiv die kritisch-ästhetische Erkennbarkeit erleichtert, zur typischen Ausprägung und Wirksamkeit hat gelangen lassen. Es ist j a schließlich bei dem Nachweis eines jeden geistesgeschichtlichen Ordnungsprinzips so, daß in der Objektenwelt nur eine Reihe besonders glücklicher Beispiele die aufgestellten Grundsätze in reiner Form verkörpert. Nachdem man die Prinzipien an den in dieser Hinsicht führenden Gestaltungen erkannt hat, wird auch da, wo der mit Händen greifbare Nachweis nicht zu erbringen ist, der Betrachtungswinkel richtig eingestellt werden können. Trotz dieser Einschränkungen gibt es in der Malerei des weiter fortgeschrittenen Jahrhunderts einige Beispiele, die in unserem Sinne deutlich für die Heteronomie dieser Stilstufe zeugen. Die Tatsache, daß auf dem berühmten Fresko der Unterkirche zu Assisi, welches die heilige Magdalena und den vor ihr knienden Stifter Teobaldo Pontano darstellt, beide Gestalten den gemalten, reich profilierten und ornamentierten Rahmen überschneiden, muß allein genügen, die Autorschaft Giottos auszuschließen. (Abb. 8.) Ein solches Heraustreten aus der distanzierten Bildbühne gibt es bei Giotto, außer bei den Paduaner Allegorien, niemals. Das Gemälde kann nur, wie die meisten Forscher heute auch aus formengeschichtlichen 60

Gründen annehmen, einem jüngeren Nachahmer triottos zugeschrieben werden. Die „Madonna del l a t t e " des Ambrogio Lorenzetti (Siena, S. Francesco) wird von einem gemalten dunklen Streifen umgeben, der sich vom Grunde scharf absetzt u n d gleichsam einen inneren R a h m e n darstellt, welcher von der äußeren Holzleiste nur fortgesetzt wird. (Abb. 9). Über diesen inneren R a h m e n greifen die Arme u n d der Heiligenschein der Maria hinaus. Die Madonna t r i t t beinahe illusionistisch aus der Fläche hervor. Die Überschneidung der ästhetischen Grenze ist hier deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine sehr ähnliche Erscheinung findet sich bei der „Kreuzigung" des Giovanni da Milano, ehemals in der Sammlung Artaud de Montor (um 1365) 1 . Ein gemalter u n d ornamentierter innerer Rahmen wird vielfach von den Figuren der Szene überschnitten. J a , sogar der horizontale Balken des Kreuzes Christi ist oben genau auf diesen Rahmenstreifen geheftet. So tritt die ganze Darstellung beinahe perspektivisch hervor, in den R a u m hinein, in welchem der Beschauer sich befindet. Auf dem grau in grau gemalten Gemälde des Guariento in der Eremitani-Kirche in Padua, welches das „Ecce h o m o " darstellt, ragen Heiligenschein und Geißel aus der täuschend gemalten Nische heraus. Die Geißel scheint ein ebenfalls nur gemaltes Kapitell zu berühren. Es soll der Eindruck einer aus ihrem Nischenraum übergreifenden Skulptur vorgespiegelt oder zum mindesten nachgeahmt werden. 2 Hier muß auch der im Kriege zerstörten Fresken der Capella vecchia auf San SaJvatore del Collato Erwähnung getan werden, die von Schlosser in Zusammenhang mit Tommaso da Modena gebracht worden sind. 3 Der innere, gemalte Rahmen der Darstellungen wird hier häufig durch die Gewänder der Figuren überschnitten. Als eine neue kulturgeschichtliche Parallele zu unseren kritisch-ästhetisch und formal-phänomenologisch begründeten Feststellungen mag erwähnt werden, wie Dvorak die K u n s t des hohen Trecento in Italien ansieht. 4 Das große Fresko des Andrea da Firenze in der Spanischen Kapelle zu Florenz, das die Wirksamkeit des Dominikanerordens darstellt, nennt Dvorak ein Lehrpoem. Er spricht hier von „gemalter L i t e r a t u r " u n d der überall spürbaren Wirkung der „Göttlichen Komödie". Tatsächlich braucht j a eine heteronome K u n s t durchaus nicht n u r ihren Sinn und Zweck unmittelbar von Religion u n d Kirche herzuleiten. Auch einer Literatur, besonders wenn das gesamte Weltbild der Zeit in ihr verarbeitet ist, k a n n die Kunst dienen. Dvorak sagt: „Nicht n u r in direkten Illustrationen, wie in der Darstellung 1

Vergl. Suida: Florentinische Maler um die Mitte des 14. Jahrh. Straßburg 1905 Taf. 25. • Vergl. Venturi: Storia dell'arte Bd. 5 Abb. 728. 3 Vergl. Schlosser: Tommaso da Modena und die ältere Malerei in Treviso. Jahrbuch der Kunsthist. Sammlungen X I X . Wien 1898. Tafel 32. 4 Gesch. der italienischen Kunst. Bd. I. S. 50ff.

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der letzten Dinge von Andrea di G o n e (Orcagna) in S. Maria Novella u n d einer anderen von einem u n b e k a n n t e n Meister im Camposanto zu Pisa, in denen die J a h r h u n d e r t e alte Vorstellung der Hölle durch jene ersetzt wird, die Dantes Geist ersonnen h a t , sondern auch dort, wo eine solche unmittelbare Übertragung nicht stattgefunden h a t , können wir den E i n f l u ß beobachten, den Dantes unsterbliches Werk auf die Freiheit u n d K ü h n h e i t der Phantasie ausgeübt h a t . " Deutlicher k a n n die Preisgabe der durch Giotto so machtvoll vertretenen Autonomie der Kunst, von einer Interpretation des Gehaltes ausgehend, nicht formuliert werden. Es bleibt eigentümlich, d a ß Dvorak diese Seite des Problems nicht weiter beachtet u n d die Autonomie der K u n s t vom A u f t r e t e n Giottos an, trotz allem, f ü r gesichert hält. F ü r das Weltbild des 14. J a h r h u n d e r t s ist besonders die Gestalt des römischen Tribunen Rienzo von symbolhafter Bedeutung. Durch klassische Studien f ü r die Staatsform der römischen Republik begeistert, f ü h l t er sich t r o t z dieser antikischen Orientierungspunkte stets als „Werkzeug des heiligen Geistes, als Diener der Kirche u n d des Papsttumes". 1 Sein Aufstand im J a h r e 1374 wendet sich gegen den römischen Adel, „aber von Anfang an gärt in diesem Revolutionär ein tiefer religiöser Drang, ein starker mystischer Glaube". „ U n d bei der größten und folgenreichsten politischen Handlung, der christlichen Weihe als miles candidatus spiritus sancti u n d der antike Triumphal-Riten nachbildenden Krönung und der Annahme des Augustus-Titels h a t t e er das Symbol der Wiedergeburt an seiner eigenen Person dargestellt, indem er in der Taufwanne des Kaisers K o n s t a n t i n das Ritterbad empfing u n d dieses ausdrücklich als T a u f b a d bezeichnete." „Gerade diese Durchdringung einer mystischen Andacht vor den tiefsten Geheimnissen und Köstlichkeiten des durch eine entartete Kirche verunstalteten Christentums ist die eigentliche Lebensquelle jener ganzen Zeit." I n diesen Worten Burdachs wird die dem 13. Jahrhundert entgegengesetzte Tendenz des vierzehnten in ihrem ganzen Umfange beschrieben. Selbst in eine so eminent politische Handlung, wie den Aufstand des Rienzo, der zudem noch wesentlich mit antiken Vorstellungen verk n ü p f t war, vermag das 14. J a h r h u n d e r t einen zu tiefst christlichen und transzendentalistischen Charakter zu legen. I n der deutschen Malerei des 14. J a h r h u n d e r t s zeugt unter anderm der Altenberger Altar eines mittelrheinischen Meisters u m 1330 (Städelinstitut, F r a n k f u r t a. M.) in einer den zuletzt angeführten italienischen Beispielen sehr verwandten Weise f ü r die künstlerische Heteronomie seiner Stilstufe. (Abb. 11). Die beiden Flügel des Altars sind mit j e vier religiösen Szenen geschmückt, die voneinander durch rot gemalte Rahmenstreifen getrennt werden. Die Darstellungen überschneiden aber allenthalben die gemalten 1

Burdach (a. a. O.) S. 12 ff.

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Grenzen. Die Drachen des Heiligen Michael, die Gewänder Christi und Mariä, die Köpfe und Heiligenscheine der um das Totenbett der Gottesmutter gescharten Apostel, der Flügel des Verkündigungsengels und der Finger des anbetenden Königs ragen über den eigentlichen Bildraum hinaus. Es ist die gleiche Erscheinung, die wir schon bei der „Madonna del latte" des Ambrogio Lorenzetti, bei der Kreuzigung des Giovanni da Milano erkennen konnten. Dieser Parallelismus bei untereinander gänzlich beziehungslosen Kunstwerken spricht für die der Zeit immanente Bedeutung des Phänomens. Der Altenberger Altar läßt sich formal zu der böhmischen Malerei der Zeit in Parallele setzen, und auch hier kommen oft ähnliche Überschneidungen der ästhetischen Grenze vor. Am deutlichsten wird dieser Vorgang bei einer Illustration des „Tschechischen Heilspiegels" (Handschrift III B. 18) im Böhmischen Museum zu Prag, der zu den hervorragendsten Werken der böhmischen Buchmalerei um die Mitte des 14. Jahrhunderts gehört.1 Bei dem quadratischen, mit profiliert gemaltem Rahmen umgebenen Bildchen, das Christus und Maria Magdalena darstellt, ragt in der linken unteren Ecke die Gestalt der Magdalena weit aus dem Bildfelde heraus. (Abb. 10). Die gleiche Erscheinung findet sich bei der Szene der „Auferstehung", wo der Sarg Christi den Rahmen durchbricht.2 In gleicher Konsequenz ist uns derselbe Vorgang in der Buchmalerei bisher nur im Hardehausener Evangeliar aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begegnet. Auch die berühmten Tafelbilder der Kirchenväter Augustinus und Ambrosius aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die sich in der Kreuzkapelle der Burg Karlstein befinden, weisen die Rahmenüberschneidung in besonders deutlicher Form auf, so daß die Figuren der Heiligen sich beinahe vor einer vertieften Bildnische zu befinden scheinen.3 Diese Werke eines böhmischen Künstlers, der oft mit dem Namen des Theoderich von Prag verbunden worden ist, sind sicherlich von den Evangelienbildern des Tommaso da Modena in Treviso abhängig, übertreffen aber die Vorbilder bei weitem, was plastische Fülle der Figuren und Heraustreten des Bildinhalts aus dem Kunst- in den Realraum anbelangt. Die Reihe dieser Beispiele mag genügen, um für die ästhetische Heteronomie des 14. Jahrhunderts zu zeugen. Das merkwürdige künstlerische Motiv des inneren gemalten Rahmens scheint eigens erfunden zu sein, um die Überschneidung der ästhetischen Grenze auch dort zu dokumentieren, wo sie von Natur nicht ohne eine „Hilfskonstruktion" sichtbar gestaltet werden konnte. Vergl. Neuwirth: Wandgemälde im Kreuzgange des Emausklosters in Prag, 1898. Taf.33. * Neuwirth (a. a. O.) Taf. 34. Abb. 4. ' Glaser: Zwei Jahrhunderte deutscher Malerei, München 1916. Abb. 5. 1

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III. E s ist zweifellos eine Vergewaltigung der Tatsachen u n d eine willkürliche Schematisierung des historischen Geschehens, wenn wir die künstlerischen Stile nach den J a h r h u n d e r t e n benennen u n d einteilen. Es ist in der T a t nicht einzusehen, w a r u m der i m m a n e n t e künstlerische Entwicklungsablauf der Zahl H u n d e r t folgen sollte, die wir, lediglich unserer Dezimalrechnung zuliebe, die historischen Cäsuren bezeichnen lassen. Der säkulare R h y t h m u s ist dem R h y t h m u s der Stilentwicklung keineswegs kongruent. Eine von der Vorstellung großer Einheitsrhythmen der Weltbewegung ausgehende B e t r a c h t u n g mag es zwar versuchen, im Dezimalsystem u n d in der Gruppierung der kulturellen oder künstlerischen Abfolgen dieselbe der abendländischen Menschheit gleichsam biologisch i m m a n e n t e Triebkraft zu erkennen, tatsächlich ist es jedoch in der Kunstgeschichte n u r in ganz seltenen Fällen, z. B. im 19. J a h r h u n d e r t so gewesen, d a ß die Stilphänomene und das J a h r h u n d e r t annähernd gleichmäßig blühten, reiften und welkten. Petrarca gehört innerlich zweifellos ebenso wie Giotto einer älteren Zeit an, als z. B. der nur wenig jüngere Rienzo (1313—54), über dessen Umdeutung selbst antikischer Triumphalriten ins Christliche und über dessen Gefühl einer höheren Sendung bei seinen politischen Unternehmungen bereits gesprochen wurde. Wie stark Petrarcas Schaffen, ganz im Sinne des 13. J a h r h u n d e r t s mit der antiken Ruhmesidee verknüpft war, hat Weisbach ausführlich dargestellt. 1 Petrarcas Freude an der ständigen Variation des Wortspiels von „laurus" u n d Laura entspringt diesem Geiste, für den die Dichterkrönung auf dem Kapitol den H ö h e p u n k t des Lebens bedeutete. Bei seinem Briefe an die Nachwelt ist er sich der Erstmaligkeit dieser T a t voll Stolzes bewußt, „quod ante me, u t arbitror, fecit nemo". Wie sehr er in einem starken Gegensatze zu seiner Zeit, die noch an den Bestrebungen des 13. J a h r h u n d e r t s festhielt, bezeugt auch Burckhardt, wenn er betont, daß die antiken Dichter, Schriftsteller u n d Historiker nur von „wenigen Auserwählten" in der Generation des Petrarca und Boccaccio verstanden u n d geschätzt wurden. 2 Gewiß k a n n m a n die Liebe Petrarcas zur Antike auch als nicht rückwärts auf das 13. J a h r h u n d e r t , sondern als vorwärts auf die Renaissance weisendes S y m p t o m interpretieren. Petrarca würde dann mit wenigen Anderen die schmale Brücke bilden, auf der, seit dem 13. J a h r h u n d e r t , über abgrundtiefe K l ü f t e hinweg der klassische Geist sich in die Z u k u n f t gerettet h a t . D a wir es jedoch gerade unternehmen, die völlig ungleiche Artung der Epochen aufzudecken und den Wechsel von klassisch-autonomen u n d unklassisch-heteronomen Kunstphasen zum Gegenstand unserer Untersuchung gemacht haben, k a n n Petrarca von uns 1 2

Weisbach: Trionfi (a. a. O.) S. 4. vgl. Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 161.

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nur als Parallele zu Giotto und als Erbe des 13. Jahrhunderts angesehen werden. Wie sehr sich z. B. Boccaccio selbst als Sonderfall innerhalb des streng kirchlichen 14. Jahrhunderts fühlte, beweist das schlechte Gewissen, das er bei seiner Beschäftigung mit der heidnischen Antike hatte. Er beteuert, er möge „anders als jetzt sich damals verhalten haben, da die Urkirche sich noch gegen die Heiden verteidigen mußte; heutzutage — Jesu Christo sei Dank! — sei die wahre Religion erstarkt, alles Heidentum vertilgt und die siegreiche Kirche im Besitze des feindlichen Lagers; jetzt könne man das Heidentum fast ohne Gefahr betrachten und behandeln.1 Diese gedanklich-literarische Entschuldigung Boccaccios kann als Parallele zu der Konzession an das 14. Jahrhundert bei den Paduaner Allegorien des Giotto angesehen werden. Auch hier muß sich ein klassisch autonomes Formgefühl gelegentlich vor den Bestrebungen einer neuen Generation beugen. Es ist auch nicht unwichtig zu erwähnen, daß Petrarca mit seiner berühmten Besteigung des Mont Ventoux bei Avignon, die so oft als das erste Anzeichen für die Entdeckung der Natur durch die Frührenaissance angesehen wird, sich unmittelbar an Dante anschließt, der j a auch schon leise zwischen dem Weltbild des 13. und dem des 14. Jahrhunderts schwankte. Dante „schildert nicht nur überzeugend in wenigen Zeilen die Morgenlüfte mit dem fernzitternden Licht des sanft bewegten Meeres, den Sturm im Walde und dergleichen, sondern er besteigt hohe Berge, in der einzig möglichen Absicht, den Fernblick zu genießen; vielleicht seit demAltertum einer der Ersten, der dies getan hat (PurgatorioIV)." 2 Boccaccio schuf in der Lebensbeschreibung desselben Dante die erste individuelle Biographie, wie Burckhardt sie nennt. Petrarca besaß eine große Sammlung antiker Urkunden, er entdeckte Briefe und Reden des Cicero wieder, und nur darin, daß er mit einem griechischen Homer, den er nicht lesen konnte, dennoch beinahe einen Kult trieb, kündigt sich auch bei ihm mit dem Zurückgehen des humanistischen Wissens der Verfall der Kultur des 13. Jahrhunderts an. Beinahe immer bedeuten die Jahrhundertgrenzen mehr oder minder willkürliche Einschnitte in den lebendigen Strom der Entwicklung. Wir denken hierbei nicht einmal an die „Polyphonie" jeder „Zeit", die durch das gleichzeitige Leben und Schaffen verschieden alter Generationen hervorgerufen wird, so daß Pinder mit Recht die Mehrdimensionalität einer Zeit in dem Begriff des „Zeitwürfels" anschaulich machen konnte.3 Wir versuchen nur, bei gewisser Distanz des Betrachtungspunktes, stilistisch homogene Kunstformationen unter einem Namen zusammenzufassen. Da 1 2 3

Burckhardt (a. a. 0.) Bd. I S. 175. Burckhardt (a. a. O.) Bd. II. S. 14. Pinder: Das Problem der Generation, (a. a. O.). 5

Michatalci.

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aber die Begriffe Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko einer fortwährenden Differenzierung ausgesetzt sind u n d teilweise n u r noch kurze H a l t e p u n k t e in der künstlerischen Entwicklung bezeichnen, teilweise aber in jeder Hinsicht divergierende Erscheinungen decken müssen, so scheint es uns in einigen Fällen unter bewußter Einschränkung des systematischen Wertes immerhin zweckmäßiger zu sein, als gröbste Gliederung des sonst unübersehbaren Materials die relativ neutralen J a h r h u n d e r t überschriften zu wählen. Auch hier zeigt es sich, wie stets, daß j e nach einer formengeschichtlichen, morphologischen oder allgemein ästhetischen Einstellung die Markungen verschieden gesetzt werden müssen. I n diesem Sinne wird sich auch das Quattrocento, das mit dem Namen Frührenaissance ohnehin fälschlich zu einer bloßen Vorstufe degradiert worden ist, als ein selbständiger, in sich aber, nach den Gesichtspunkten unserer Untersuchung, wechselnd geschichteter u n d dementsprechend zu betrachtender Stilablauf erweisen. Die ersten Künstler, die in Italien den neuen Stil gegen das in der auf Giotto folgenden Zeit relativ homogene 14. J a h r h u n d e r t durchsetzen, sind noch selbst ihrer Geburt u n d Schaffenszeit nach, Trecentisten. Vor allen sind hier zuerst Altichiero und Avanzo zu nennen, die Veroneser Maler, welche noch bis ins letzte Viertel des 14. J a h r h u n d e r t s hinein wirkten. I n ihren Hauptwerken zu Verona u n d P a d u a t r i t t die zu diesem Zeitpunkte neue Autonomie der K u n s t abermals auf, bezeichnenderweise in formengeschichtlichem Zusammenhange mit dem letzten großen Autonomen, Giotto, unter Überspringung der Zwischenglieder und verbunden mit einer neuen Naturbeobachtung, die Welt u n d Dinge u m ihrer selbst willen ansieht. An die auf Giotto erst folgende „ G o t i k " der italienischen Malerei und Plastik wird nicht angeknüpft. Es ist üblich geworden, den in seiner Klarheit so scharf erfaßbaren u n d in seiner Eindeutigkeit so seltenen normativen Begriff der Renaissance, auch auf historisch ältere Zeiten zu übertragen . Man läßt die Renaissance mit Giotto beginnen, einem Künstler, bei dem sich zweifellos, eben weil es sich u m autonome Kunst in unserem terminologischen Sinne handelt, viele Vergleichspunkte ergeben. Man spricht nicht nur von Frührenaissance, sondern glaubt sogar, eine Reihe von Protorenaissanceepochen erkennen zu können. D a ß die französische K u n s t des hohen 13. J a h r h u n d e r t s , d a ß in Italien Niccolo Pisano als die H a u p t t r ä g e r dieser vorzeitigen Renaissancestile angesehen werden, wird dem Leser unserer Ausführungen selbstverständlich erscheinen. Auch die Tatsache, daß man die ersten geistesgeschichtlichen Dokumente f ü r das Naturgefühl der Renaissance bei Petrarca (1304—74) und Boccaccio (1313—75) erkennen will, rückt jetzt in ein anderes Licht. P e t r a r c a u n d Boccaccio sind die literarischen Parallelen der Kunst Giottos, auf den das erste Quattrocento, eingeleitet von Altichiero und 66

Avanzo, künstlerisch z u r ü c k g r e i f t , an den es ai>er m c n t in Kontinuierlicher Entwicklung a n k n ü p f t . Die zeitliche Divergenz der Lebensdaten Petrarcas u n d Boccaccios einerseits u n d Giottos andererseits wird den nicht verwundern, der Pinders Gedanken zur Reihenfolge der K ü n s t e richtig verstanden hat. 1 Pinder sieht die einzelnen K ü n s t e gleichsam selbst als Generationen an, deren Bedeutung in dem Kulturzusammenklang der verschiedenen Zeiten wechselt. W a s der ein wenig ältere Giotto durch die zu seiner Zeit herrschende Oberstimme der Malerei f r ü h e r ausdrücken konnte, k a m in der Literatur mit der einen überragenden Ausnahme Dantes erst später, als die führende Rolle an die Dichtkunst übergegangen war, zu zwingender Gestaltung. Die mit Petraca u n d Boccaccio gleich alten bildenden Künstler strebten dagegen, wie wir wissen, ihrerseits bereits von Neuem anderen Zielen zu. Der Versuch Joels, den säkularen R h y t h m u s in der Geschichte dadurch zu begründen, daß drei Generationen gleichzeitig im organischen Zusammenhang miteinander leben, von denen jede, nach der alten Definition Rümelins die durchschnittliche Altersdifferenz von Vätern und Kindern besitzt, erscheint durchaus als verfehlt. 2 Diese Altersdifferenz wird auf 33—35 J a h r e angesetzt, so daß m a n durch 3 Mal 33 J a h r e die Zahl 100 erhalten m u ß . Der Generationsrhythmus ist jedoch keineswegs zu allen Zeiten gleichmäßig oder konstant, schon 5 J a h r e Altersunterschied können, geistesgeschichtlich betrachtet, einen Generationsunterschied zu gewissen Zeiten bedeuten. I m übrigen ist die zweite und dritte Generation, die Joel zu einem Säkulartypus zusammenfaßt, ihrerseits j a wieder die erste bzw. zweite Generation einer abermals zusammenfaßbaren Gruppe u n d so fort, so d a ß wir auf diese Weise n u r von neuem eine unendliche K e t t e erhalten, in die keine Zäsur zu schneiden ist. Bei einer Betrachtung der K u n s t des Quattrocento wird es sich n u n zeigen, d a ß sie, ganz abgesehen von ihrer formengeschichtlichen Eigenwertigkeit, auch ästhetisch nicht als „Frührenaissance" gedeutet werden k a n n , und d a ß sie von Perioden durchsetzt i6t, die allem Renaissancemäßigen durchaus widersprechen u n d grundsätzlich Anderes durch ihre K u n s t ausdrücken u n d erreichen wollen. Sogar eine formengeschichtliche Konstanz darf darüber nicht hinwegtäuschen. Das erste Quattrocento hält sich noch ganz in dem von Altichiero u n d Avanzo eingeleiteten, neuen Stil, der deutlich an die ästhetisch distanzierte K u n s t Giottos a n k n ü p f t . Deshalb konnte m a n mit gewissem Rechte Masaccio (1401—28) den Schöpfer des klassischen Stils nennen, k o n n t e zu der Bezeichnung „Frührenaissance" gelangen, wie m a n f ü r den Stil Giottos auch das Wort „Protorenaissance" geprägt h a t . Bei diesen Be1 2

Pinder: Das Problem der Generation, (a. a. O.). Joel: Der säkulare Rhythmus der Geschichte. Jahrbuch f. Soziologie. Bd. I.



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nennungen wurde nur fibersehen, d a ß ebene» wie Giottos Nachfolger seine „renai88ancistisch"-autonome K u n s t ästhetisch und formal wieder aufgegeben h a t t e n , auch die späteren Quattrocentisten zu ästhetisch durchaus abweichenden Raumlösungen gelangt sind, die es uns unmöglich machen, t r o t z aller morphologischen Verwandtschaft mit der K u n s t des ersten Quattrocento, auch hier noch von einer Frührenaissance zu reden. Gerade f ü r eine Untersuchung, die ihren Blick auf die ä s t h e t i s c h e S t e l l u n g des Kunstwerks richtet, kompliziert sich die Situation im Quattrocento außerordentlich. Zu der Vielheit der sich kreuzenden morphologischen Entwicklungstendenzen gesellt sich hier auch die Tatsache der formengeschichtlichen Konstanz, verbunden mit ästhetischer Abkehr, oder die der ästhetischen Konstanz bei formengeschichtlichem Bruch. Da die Interpretation einer morphologischen Entwicklung in unseren Zusammenhängen nur als Parallele und als sekundäre Stützung unserer Resultate Platz hat, k a n n es nicht unsere Aufgabe sein, ausführlich auf die interessante Entwicklungslinie, die von den gotisierenden Nachfolgern Giottos über die im letzten Viertel des 14. J a h r h u n d e r t s geborenen F r a Angelico u n d Lorenzo Monaco weit ins Quattrocento hineinführt, einzugehen, u n d sie der zweiten Linie entgegenzustellen, die, wie bereits erw ä h n t , neu bei den viel älteren Altichiero und Avanzo anhebt und unmittelbar von Masaccio fortgesetzt wird. F ü r uns ist es vor allem wichtig, d a ß die formal sich so stark unterscheidenden F r a Angelico u n d Lorenzo Monaco einerseits, sowie Masaccio andererseits (als wesentlichste Exponenten isoliert betrachtet), zur Zeit ihres gleichzeitigen Wirkens in e i n e ästhetische Gruppe fallen, sobald m a n sein Augenmerk auf das Verhältnis von Kunstund Realraum, auf die Wahrung der ästhetischen Grenze richtet. Bei den beiden älteren Meistern in ihren Frühwerken, bei Masaccio überhaupt, bleibt das Bildgeschehen in dem ideal distanzierten Bühnenraum beschlossen, die Formen tendieren nicht aus der Bildsphäre heraus, die Kunst will nicht nach dem Beschauer greifen, will ihn nicht ergreifen. Freilich darf m a n nicht übersehen, daß z. B. in Fra Angelicos „Madonna dei linaiuoli" von 1433 die Überschneidung der ästhetischen Grenze sich wieder an dem Vorhangsmotiv deutlich ablesen läßt. Aber dieses Werk gehört schon ins zweite Quattrocento, dessen abermals umgestellten Bestrebungen ein Gotiker wie F r a Angelico doppelt willig folgte. Wie die spätere Entwicklung bei Masaccio verlaufen wäre, der 1428 bereits als 27jähriger starb, muß dahin gestellt bleiben. Immerhin hat sein frühei Tod ihn verhindert, seine Kunst in den Dienst außerästhetischer Phänomene zu stellen und eine lebensgeschichtliche Bindung einzugehen. Es war ihm gegeben, innerhalb des so wechselvoll geschichteten Quattrocento eine eindeutige und konsequent-beispielhafte Stellung einzunehmen, die in sinnbildhafter Weise das Wesen des ersten Quattrocento als das einer 68

autonomen Stilstufe repräsentiert. Es ist aber wichtig zu betonen, daß auch Angelico und Monaco dem Stilzwang dieser Epoche zu ihrer Zeit Rechnung haben tragen müssen. In der Kunst des Masaccio ist Giottos eigengesetzlicher Bühnenraum wieder erstanden, ebenso wie die in sich beschlossene, aus blockhaft kubischen Körpern aufgebaute Komposition, der kein gotischer Zug inne wohnt. Wenn Dvorak auf die Diskrepanz in der Kunst des Masaccio hinweist, die, im Gegensatz zu Giotto, wo Raum und Figuren aus einem Guß sind, „zwischen der Tiefe des dargestellten Raumes und den Figuren besteht, welche über eine begrenzte Raumzone nicht hinausgehen, sondern im Vordergrund aneinandergeschlossen bleiben," so ist auch diese Feststellung für uns von Bedeutung. 1 Es zeugt für den entschlossenen Willen zur Wahrung der ästhetischen Grenze, wenn zu einer Zeit, in der die Tiefendimension und ihre perspektivischen Gesetze wissenschaftlich erobert werden, die Figurenkomposition einem Tiefendrang in der Bildsphäre noch ausweicht, da eine durchgehende Bewegung in die Tiefe j a stets für das Auge die Anweisung enthält, den Raum, in dem der Beschauer sich befindet, mit dem Kunstraum unmittelbar zu verbinden. Hier tauchen Berührungspunkte unserer Betrachtungsweise mit Wölfflins für Renaissance und Barock aufgestellten Kategorien der Fläche und Tiefe auf. Auch Beenken betont die Distanz der Gemälde Masaccios zum Betrachter und spricht bereits in diesem Zusammenhange vergleichsweise von der „parete di vetro", jenem aus der autonomen Stilgesinnung der Hochrenaissance erwachsenen Begriffe Leonardos. 2 Die Raumkonstruktion auf Masaccios Dreifaltigkeitsfresko in S. Maria Novella zu Florenz ist, ihrer nachdrücklichen Konsequenz wegen, mit Brunellesco selbst in Zusammenhang gebracht worden. Die Figuren bleiben jedoch von der perspektivischen Konstruktion vollkommen unberührt. Obwohl Beenken die scharfe Scheidung der Bildbühne Masaccios vom Räume des Beschauers nachdrücklich betont, will er in der Gestalt der Maria auf dem Dreifaltigkeitsfresko eine Wendung aus der Sphäre des Bildes heraus erkennen. Die auf die Trinität hinweisende Gebärde der Maria gilt hier jedoch keineswegs dem Betrachter, sondern nur den in der vordersten Bildzone knieenden Stiftern, wenn man sie nicht als eine reine Ausdrucksgebärde der Inbrunst auffassen will. Somit muß hier auch Beenkens Schlußfolgerung widersprochen werden, die sagt: „Nur gewisse Gestalten der Plastik sind darin schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts vorangegangen, aber sie waren noch nicht Glieder einer im modernen Sinne bildmäßigen räumlichen Welt, wie sie hier dem Beschauer als Totalität entgegentritt. Sie waren noch in die überpersönlichen Bindungen des Portalgewändes, die auf eine Transzendenz Dvorak: Gesch. d. ital. Kunst, (a. a. O.), S. 54f. * Beenken: Masaccio. Belvedere 1926. S. 167ff. 1

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hinweisen, einbezogen. So sehen wirklich zum ersten Male hier Bildwelt und Beschauerwelt, obschon scharf voneinander geschieden, sich dennoch Auge in Auge und behaupten derart ihr Eigenrecht gegeneinander." Daß der Eintritt des Kunstwerks in einen Lebenszusammenhang mit dem Betrachter im 14. Jahrhundert bereits in ganz anderem Ausmaße verwirklicht worden war, als es Beenken annimmt, haben wir dargestellt. Die Bezogenheit auf ein Außerhalb konnte also weder von Masaccio begründet werden, noch wurde sie es auch nur im Verhältnis eines reinen Gegenüber, wie es Beenken meint. Daß es sich bei der Eigengesetzlichkeit der Kunst im frühen 15. Jahrhundert um eine allgemein europäische Stilphase handelt, erkennt man, um nur zwei weitere Hauptgruppen zu nennen, wenn man die Prager Parlerplastik oder die Kunst des Jan van Eyck zum Vergleich heranzieht. Pinder vergleicht mit Recht den Geist und die Idee der Bildnisbüsten am Prager Trifolium mit den Statuen des Naumburger Westchores.1 Er spricht geradezu von einer „Renaissance"-Gesinnung. Pinder stellt ferner anschaulich dar, wie man in der Büstenreihe selbst die immer stärkere Einordnung der Plastik in einen eigenen Nischenraum, in einen umschließenden und von der Umgebung wie von dem Architekturraum isolierten Rahmen verfolgen kann. Schon in der Kunst von Masaccios bedeutendstem Nachfolger, Andrea del Castagno, (1410—57) macht sich eine wiederum neue Stellung und Bindung der Kunst bemerkbar. Die Tatsache, daß es sich bei Castagno um eine außerästhetisch bedingte, heteronome Kunst handelt, läßt sich ausschließlich an unserem formalphänomenologischen, rein deskriptiven Kriterium erkennen. Weder auf gehaltspsychologischem noch auf morphologischem Wege läßt sich ein Umschwung feststellen. Die Gestalten auf den Fresken der „uomini famosi" im Refektorium von S. Apollonia in Florenz treten alle aus dem neutralen Grund vor die gemalte Umrahmung hinaus oder greifen durch Gebärden über sie hinüber, um sich so dem Beschauer entgegen zu drängen, ein Eindruck, der durch die stark modellierende plastische Malweise noch verstärkt wird. Das Herausdrängen der Figuren aus den Nischen wird noch dadurch verstärkt, daß die Gebärden über die Zwischenräume hinweg von den beiden Nachbargestalten jeweils aufgenommen und variiert werden. So verbindet gleichsam eine Kette die Figuren untereinander, ohne eine Isolierung durch den Rahmen anzuerkennen. Gerade bei Castagno ist es sehr interessant, zu sehen, wie sogar ein antikisches Thema, der Heroenkult, mit einer bisher nur bei religiösem Kult vorkommenden Agressivität und propagandistischen Tendenz vorgetragen wird. Die Wiedergeburt antiker Ideen und Motive, die ja tatsächlich im Quattrocento einsetzt, bedient sich vorläufig noch der mittel1

Pinder: Die deutsche Plastik des 14. Jahrh., (a. a. O.) S. 71ff.

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alterlich-christlichen Grenzüberschneidung, u m sich dem Beschauer zu insinuieren. Erst später emanzipiert sich die antikisierende Entwicklungslinie der Quattrocentokunst von dieser Form, um, d e m wirklichen Geist der klassischenAntike entsprechend, ästhetisch distanzierte, eigengesetzlichautonome Kunst zu schaffen. Gleichzeitig ist bei Castagno eine schon After erwähnte Tatsache zu beobachten: Die ästhetische Umstellung einer Kunst braucht durchaus nicht mit einer formengeschichtlichen Veränderung verbunden zu sein, so daß also eine lediglich auf der Entwicklung von Formen basierende Kunstgeschichte an diesem Wandel blind vorüber gehen muß. I m Quattrocento zeugen, wie bereits im 13. und 14. J a h r h u n d e r t , eine Reihe von Grabdenkmälern, die durch die Verwendung des Vorhangmotivs unserer Betrachtungsweise sehr entgegenkommen, f ü r die jeweilige ästhetische Stellung ihrer Stilstufe. I n die Hauptschaffenszeit des Masaccio, in die J a h r e 1425—27, fällt Donatellos u n d Michelozzos Grabmal des Papstes J o h a n n X X I I I . im Florentiner Baptisterium (Abb. 12). Zwei Säulen bilden die Nische f ü r das Monument. Die Bronzefigur des Papstes liegt auf einer Bahre, die auf dem Marmorsarkophage steht. Von dem durch die Säulen getragenen Gesims der Architektur fällt ein an einem Ringe befestigter, baldachinartiger Marmorvorhang herab, der seitlich an den beiden Säulen noch einmal gerafft wird. Und wieder k a n n m a n beobachten, wie dieser Vorhang so angebracht ist, d a ß er die Figur des Grabmals völlig gegen den Realraum abschließen könnte. E r bildet die vorderste Ebene des Kunstraums, er riegelt das Bildgeschehen ab, wie denn auch die W a h r u n g der ästhetischen Grenze an der strengen Beschlossenheit des gesamten A u f b a u s in der durch das Intercolumnium gebildeten Nische zu erkennen ist. Das Grabmal Johanns X X I I I . ist das typische Werk des ersten Quattrocento. Es zeugt f ü r diese eigengesetzliche Stilstufe ebenso wie es die K u n s t des Masaccio t a t . Das Grabmonument des Kardinals Rinaldo Brancacci in S. Angelo a Nilo zu Neapel, ebenfalls aus der Zeit u m 1427, ist ein gemeinsames Werk von Donatello, Michelozzo u n d Pagno di Lapo Portigiani. (Abb. 13.) Die Gestalt des Toten r u h t hier auf dem Sarkophage selbst, der innerhalb eines Tabernakels von 3 Karyatiden getragen wird. Hinter dem Lager des Kardinals stehen zwei Mädchenfiguren, deren nach vorn gestreckte Arme die E n d e n eines Vorhangs halten, welcher an der lünettenförmigen Öffnung des Tabernakels befestigt ist. Die Bewegungen der Mädchen deuten darauf hin, daß sie den Vorhang gerade zuziehen wollen, u m so die gleichsam als Vision gedachte Erscheinung des Toten, über dem Maria mit dem Kinde u n d zwei Heilige auftauchen, den Blicken des Betrachters wieder zu entziehen. Zugezogen würde der seitlich geraffte und hochgehobene Vorhang die Gestalt des Toten verdecken. Auch hier ist die Scheidung von Kunst- u n d Realraum 71

aufs strengste durchgeführt. Das Grabmal des Dogen Tommaso Mocenigo in SS Giovanni e Paolo zu Venedig, ein Werk des Piero di Niccolo und des Giovanni di Martino da Fiesole ist ebenfalls ein Beispiel f ü r die Verkörperung der ästhetischen Grenze im Vorhangsmotiv. (Abb. 17.) Zu H ä u p t e n u n d zu Füßen des auf dem Sarkophag ruhenden Toten stehen zwei Engel, die den weit herabfallenden Vorhang, der im Hintergrund bereits den ganzen Sarkophag umhüllt, auch vorn u m die gesamte Darstellung zu breiten im Begriffe sind. Und wenn man hier entgegnen wollte, es drücke sich auf diese Weise gerade eine Rücksicht auf den Beschauer aus, so ist es vielmehr entscheidend, daß dieser Beschauer distanziert und nicht in einen Realitätszusammenhang einbezogen wird. Diese Verwendung des Vorhangs k a n n als ein Datierungsmoment f ü r das erste Drittel des Quattrocento angesehen werden. Tommaso Mocenigo ist auch im J a h r e 1423 gestorben. Aus dem J a h r e 1432 stammt das Sarego-Grabmal in S. Anastasia zu Verona. 1 Auch hier ist der von Knappen gehaltene Baldachin so dargestellt, daß die Möglichkeit, die Reiterfigur auf dem Sarkophage von der Außenwelt abzutrennen, klar zu Tage tritt. Bei allen diesen Grabdenkmälern ist der Vorhang nicht als ein Motiv oder ein Gegenstand im K u n s t r a u m e , bereits jenseits der ästhetischen Grenze, in einer tieferen Zone aufzufassen. E r verkörpert vielmehr die ästhetische Grenze in sich und besitzt daher, ästhetisch betrachtet, die Möglichkeit, sich vor die gesamte Darstellung zu breiten und auf diese Weise die Trennung von K u n s t - u n d Realraum zu sinnbildlicher Anschaubarkeit zu bringen. Bei dem Brenzonigrabmal des Nanni di Bartolo in S. Fermo zu Verona dagegen ist der Vorhang nicht in diesem Sinne verwendet. 2 E r ist hier ein Motiv innerhalb der Darstellung und schließt nur den Auferstehenden von den im Vordergründe vor dem Sarkophage schlafenden Wächtern ab. Diese Erkenntnisse stimmen durchaus mit den auf morphologischem Wege gewinnbaren Analysen der Kunst Donatellos zu dieser Zeit überein. Nach den tastenden, formal noch gotischen Anfängen der Prophetenfiguren an der Porta della Mandorla und dem frühen, schon leise der Antike verpflichteten Marmordavid im Bargello (1410) erscheint Donatello mit der Johannesstatue des Domes als reiner Renaissancekünstler (1415). Der hl. Georg, 1416 f ü r eine Außennische an Or san Michele geschaffen, bezeugt schon durch seine strenge Gebundenheit in den Nischenraum, durch die Unlösbarkeit aus der Bildbühne, über die er nicht hinausgreift, und in der er herb verschlossen bleibt, Donatellos Gefühl f ü r künstlerische Autonomie und ästhetische Distanz. Es befremdet daher u n d deckt die Mängel einer psychologisch interpretierenden Kunstbetrachtung auf, wenn Dvorak von dieser Statue sagt: „Man würde in der klassischen statuarischen K u n s t 1 1

Venturi: Storia Venturi: Storia

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Bd. VI. Abb. 122. Bd. VI. Abb. 120.

vergeblich nach einem ähnlichen Motiv suchen; es hätte dort gewiU Mißfallen erweckt, da es, allzu scharf die geistige und körperliche Gegenüberstellang und Relation zum Beschauer betonend, jene psychische und physische Isolierung und innere Geschlossenheit vermissen läßt, die die Griechen von jedem Bildwerk verlangten. Dagegen finden wir es wiederholt im Mittelalter, wo es aus dem Bestreben, die Unerschütterlichkeit zu verkörpern und den psychischen Kontakt mit dem Beschauer herzustellen, leicht erklärlich ist." 1 Doppelt erstaunlich sind diese Worte Dvoraks, da er die entscheidenden formalphänomenologischen Gesichtspunkte hier bereits sieht, durch seine psychologische Methode aber darin gehindert wird, sie assoziationslos und deshalb für den Kunstwissenschaftler allein eindeutig und fruchtbar anzuwenden. Neben den Kunstwerken, die durch das Vorhangmotiv die Ablesung unseres formalphänomenologischen Kriteriums erleichtern, und neben den Nischenstatuen steht die Reliefkunst, die durch ihre Gebundenheit an Rahmen und Fläche einerseits, durch die Möglichkeit eines plastischen Vorstoßes in den Realraum andererseits ebenso geeignet ist, die Entscheidung der Frage nach Währung oder Überschneidung der ästhetischen Grenze in sich zu verkörpern. Bezeichnend ist es, daß bei dem im Jahre 1401 stattfindenden Wettbewerb um den Auftrag für die Relieftür des Florentiner Baptisteriums Brunellesco in seinem bekannten Relief der Opferung Isaaks an mehreren Stellen die Vierpaßumrahmung durch die Figuren überschneiden läßt. Hierdurch beweist dieser als Architekt so revolutionäre Künstler, daß er als Bildhauer der Vergangenheit zugewendet ist, mit seinem Relief noch nicht in die autonome Stilstufe des ersten Quattrocento hineinragt. Sein Konkurrent Ghiberti dagegen, dessen Relief ja auch den Preis davon trug, wahrt in strengster Weise die ästhetische Grenze, er gehört hier bereits der neuen Zeit an. 2 Man hat Ghiberti stets im Gegensatz zu Donatello den letzten Gotiker genannt, was in formaler Hinsicht zweifellos richtig ist, und seine geschwungenen, körperlosen, in Gewandmassen untertauchenden Figuren sicherlich von Donatellos wuchtigen, ausgewogenen Gestalten unterscheidet. Auch wir müssen, ohne morphologisch vorzugehen, zum gleichen Ergebnis gelangen. Ghiberti ist ein Übergangsmeister, er wurzelt noch im 14. Jahrhundert. Bei den Reliefs für die erste Baptisteriumstür (1403—24) spielt er immer noch, im Gegensatz zu seinem früheren „Isaak 1 1

D v o r a k : Gesch. d. ital. K u n s t , S. 79f. Oder soll man in der GrenzOberschreitung des Brunelleschi schon den Vorklang der K u n s t des zweiten Quattrocento erblicken, die, wie wir sehen werden, zutiefst belastet von der Idee der Linearperspektive ist ? Bei einer so schnellen Folge von grundlegenden ästhetischen Umstellungen ist es gelegentlich schwer, das „noch" von d e m „schon wieder 44 zu unterscheiden.

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opfer", mit den Grenzen der Umrahmung. Die Vierpaßumrahmung der Reliefs, an sich j a ein Residuum aus gotischer Zeit, ist für Ghiberti keineswegs ein konstitutives Rahmenmotiv, dessen formaler Gesetzlichkeit die Komposition angeglichen werden muß. Ziemlich willkürlich füllen die Szenen und Figuren den Rahmen, und dementsprechend geht es gelegentlich nicht ohne eine leise Grenzüberschreitung ab. (Schiffbruch der Apostel, Abendmahl, Geißelung, Handwaschung des Pilatus). Man erkennt die Labilität von Ghibertis ästhetischem Empfinden auf Schritt und Tritt. „So umschließt der Rahmen nicht eine Fläche, die sich in der Richtung der Tiefendimension erweitern ließe, und zwar zum Bilde, das hinter der fest konstruierten Einfassung als eigene kleine Welt gedacht wurde, sondern diese Fläche bleibt als solche bestehen, und der Gestalten Fülle quillt aus dieser Wand hervor. Erst die äußere rechtwinklige Umrahmung mit den stark vorspringenden Köpfen aus den Ecken bestimmt die vordere Grenze der Relieferhebung in ihrer Mitte." 1 Wie sehr Ghiberti aber hier noch dem autonomen, ästhetisch distanzierten ersten Quattrocento Tribut zollt, erkennt man, wenn man die Weiterentwicklung des Künstlers im zweiten Quattrocento verfolgt und die Nordtür mit der sogenannten Paradiesestür des Florentiner Baptisteriums aus den Jahren 1425—52 vergleicht. Hier wird besonders an den Medaillonköpfen und Nischenfiguren der reich ornamentierten Lisenen, die zwischen den Reliefs verlaufen, die bewußte Durchbrechung der ästhetischen Grenze bemerkbar. Die Köpfe ragen knaufartig weit aus den Medaillons hervor, sie recken sich mit gewaltiger Energie dem Beschauer entgegen, sie spannen eine Brücke und stellen die Ichbezogenheit, die Verbindung von Kunst- und Realraum her. Auch die kleinen Nischenfiguren lösen sich beinahe völlig von der Fläche und treten in mannigfachen Überschneidungen weit aus ihrem Gehäuse, der Nische, hervor. Die Reliefs selbst wahren die ästhetische Grenze ebensowenig wie die der ersten Tür Ghibertis. Noch stärker als dort lösen sich einzelne Teile freiplastisch vom Reliefgrunde los und ragen, besonders wenn man die Reliefs von der Seite betrachtet, weit in den Realraum hinein. Auch die innerste „Leiste" an den reich profilierten unmittelbaren Rahmen der Reliefs wird oft überschnitten. Die Figuren scheinen aus ihrer Bildbühne heraustreten zu wollen. (Vgl. das Relief mit der Geschichte Jakobs und Esaus). Die Paradiesestür Ghibertis repräsentiert die gleiche Stilstufe wie die „uomini famosi" des Castagno. Sie sind beide die Vertreter einer heteronomen, von neuem ästhetisch transzendenten Kunst. Ähnlich wie bei Ghiberti verläuft die Entwicklung bei dem annähernd gleichaltrigen Sienesen Jacopo della Quercia, der um das Jahr 1374 1

Schmarso w: Ghibertis Kompositionsgesetze an der Nordtür des Florentiner Baptisteriums. Leipzig, 1899, S. 21.

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geboren ist. Ghiberti ist 1370 geboren, Donatello dagegen erst 1386, diese Zahlen allein bezeichnen die generationsmäßig verschiedene Lagerung der Künstler und lassen auf eine nicht ganz gleichmäßige Stellung zu den Problemen des ersten und des zweiten Quattrocento schließen. Quercias Altar in S. Frediano in Lucca, der aus den Jahren 1413—22 stammt, zeigt ein noch in gleichem Maße labiles ästhetisches Grenzgefiihl wie Ghibertis erste Tür. Die gotisch bewegten Gewandfiguren drängen leise aus ihren gotischen Nischen hervor, die Köpfe sind beinahe ebenso knaufartig nach vorn gereckt, wie Ghibertis Medaillonköpfe an der Paradiesestür. Der ganze Altar wird jedoch rechts und links von 2 Strebepfeilern gerahmt, die weiter hervorspringen als die Nischenpfeiler und dadurch wiederum die Figuren in die Bildbühne zurückschieben. Auch bei den im zweiten Jahrzehnt des Quattrocento entstandenen, heute sehr zerstörten Reliefs der Fönte Gaia zu Siena spielt Quercia noch leise mit der inneren, lünettenförmigen Umrahmung der Figuren. Eine ausgesprochene Überschneidung der ästhetischen Rahmengrenze kommt hier jedoch nicht mehr vor. Das autonome, ästhetisch immanente erste Quattrocento dringt auch in die Kunst des konservativen Sienesen ein. Die Entwicklung schreitet nun so fort, wie wir sie bereits mehrfach skizzieren konnten. Das Relief und die Nischenfiguren am Sieneser Taufbrunnen, die vor 1430 entstanden sind, wahren streng die ästhetische Distanz und ebenso zeugen die berühmten Reliefs Quercias an der Haupttür von S. Petronio in Bologna, die nach 1425 begonnen und kontinuierlich bis zu seinem Tode fortgeführt wurden, für das autonome, nicht ichbezogene frühe Quattrocento, so wie es die Kunst des Masaccio tat, mit dessen gewaltigen und monumentalen Figuren diese Reliefgestalten Quercias eine enge Verwandtschaft offenbaren. Ein Bildraum ist kaum angedeutet, die Figuren heben sich ebenso wie die Gestalten auf den Reliefs der Pisani vom Grunde .ab, was bereits von Dvorak betont wurde. Diese Beziehung zur Kunst des 13. Jahrhunderts ist durchaus bezeichnend, ebenso wie die Tatsache, daß die formengeschichtliche Forschung hier engste Beziehungen Quercias zu antiken Vorbildern aufdecken konnte. Im zweiten Drittel des Quattrocento tritt aber auch bei Quercia der mehrfach beobachtete Umschwung ein. Das Grabmal des Galeazzo Bentivoglio in S. Giacomo zu Bologna (um 1433) weist in dem Relief des dozierenden Juristen eine erstaunlich heftige Überschneidung der ästhetischen Grenze auf. Der Kopf des dargestellten Gelehrten ragt weit über die Rahmung heraus. Auf diese Weise mündet auch der Spätstil des Jacopo della Quercia in die heteronome Kunstphase des zweiten Quattrocento ein. Innerhalb der Entwicklung Donatellos hält das autonome erste Quattrocento noch einige Jahre länger an. Denn, wie bei jeder Stilwende, ist es auch hier unmöglich, den Umschwung überall genau auf ein Jahr festzulegen. Die Sängertribüne für den Florentiner Dom (1433—40) und die 75

Kanzel zu Prato (1434—38) mit ihren Reigen lebhaft bewegter Putten gehören noch ganz in die autonome Stil stufe. Schon Dvorak betont, daß bei diesen Reliefs die Hintergrundsebene eine Wand darstelle, „vor der sich der Reigen auf einer seichten wirklichen Bühne abspielt, die nach vorn durch den unteren und oberen Rand der Darstellung und durch Säulenstellungen begrenzt wird." 1 Die ästhetische Grenze wird durchaus gewahrt. Es geht mit dem weltlichen, kirchlich ganz unbelasteten Charakter dieser ersten Quattrocentokunst zusammen, daß Donatello, wie Dvorak auch richtig hervorgehoben hat, im Widerspruch mit der Tradition, die an Kanzeln und Sängertribünen sonst Szenen aus dem Leben Christi darzustellen pflegte, hier einen festlichen, beinahe bacchantischen Puttenreigen geschaffen hat, der es ihm ermöglichte, an einem Werke kirchlicher Bestimmung lebhaft bewegte nackte Körper anzubringen. Auch bei dem um 1435—40 entstandenen Verkündigungsrelief in Sta. Croce wird die ästhetische Grenze gewahrt. Nur der Saum des Engelsgewandes berührt ganz leise die Basis, auf der die Figuren stehen. Der tabernakelartige Rahmen umfaßt aber das Ganze und schließt es von der Außenwelt ab. Ja, die Flügel des Engels werden sogar ihrerseits vom Rahmen überschnitten, wodurch seine zurückdrängende, begrenzende Macht besonders deutlich in Erscheinung tritt. Bei den Bronzetüren für S. Lorenzo (um 1440) machen sich die ersten Anzeichen einer ästhetischen Umstellung Donatellos bemerkbar. Leise Überschneidungen des inneren Rahmenfrieses durch die Füße der Figuren treten auf. Am deutlichsten werden sie bei den an die Rahmung gelehnten, disputierenden Heiligen, deren Arme und Hände über die Grenze dringen. 1443 beginnen Donatellos Arbeiten für den Hochaltar des Santo in Padua. Hier befindet sich der Künstler nun völlig im zweiten Quattrocento. Vom Inhaltlichen her erkennen wir dies an der Madonna, die sich gerade von ihrem Throne erhebt und das Kind der gläubigen Menge entgegenhält. Assoziationslos, nur unserem formalphänomenologischcn Kriterium folgend, wird die Heteronomie dieser Kunst evident durch die Grenzüberschneidungen auf den Reliefs mit den Evangelistensymbolen. Hier herrscht ein in seiner Zwiespältigkeit besonders interessantes Gefühl für die ästhetische Funktion des Rahmens. Einzelne Figurenteile — besonders bei dem Engel des Matthäus und dem Ochsen des Lukas — werden ihrerseits vom Rahmen gedeckt. Das alte Gefühl für die abschließende Kraft und Bedeutung des Rahmens ist also noch nicht ganz verloren gegangen. Andererseits stoßen die Figuren aber wieder energisch über die vordere Grenze hinaus in den Realraum hinein. Noch deutlicher wird diese Grenzübertretung in dem Steinrelief der „Grablegung Christi" an der Rückseite de6 Paduaner Altars. Die Heftigkeit 1

Dvorak: Gesch. d. ital. Kunst, S. 98.

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der Rahmenüberschneidungen geht mit der Heftigkeit der Klagen und des Jammers um den Leichnam des Herrn parallel. Donatellos Relief ist eines der hervorragenden Beispiele für die kirchliche Gebundenheit und für die ästhetische Transzendenz, welche die Kunst des zweiten Quattrocento aus ihrer ästhetisch distanzierten, eigengesetzlichen Sphäre herauszutreten zwingen, um eine spezifisch psychologische Wirkung auf den Beschauer auszuüben. Es verdient, schon in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden, daß die in ihrer Illusionskraft beinahe Panoptikumwirkungen erreichenden Bologneser und Modeneser Tonskulpturen der Niccolo da Bari, Mazzoni und Begarelli, deren Werke vornehmlich in die vierte Stilstufe des Quattrocento gehören, von der Paduaner „Grablegung Christi" des Donatello ihren Ausgang genommen haben. Donatellos weitere Entwicklung fällt bis zu seinem Tode im Jahre 1466 beinahe genau mit dem Ablauf der zweiten Quattrocento-Phase zusammen. Der Wille, das Bildwerk distanzlos zu vergegenwärtigen, führt ihn im Jahre 1455 zu einer so schrankenlos naturalistischen Schöpfung wie der Florentiner Gruppe von Judith und Holofernes. Die matten Gliedmaßen des schon durch einen Schlag der schwertschwingenden Rächerin getroffenen Holofernes fallen Ober den reliefierten Sockel herab und gleiten in den Freiraum hinein. Da das Werk zu einer Brunnengruppe bestimmt war, so mußte das ursprünglich unter der Last des zusammensinkenden Holofernes aus den Ecken des Kissens herausquellende Wasser unwillkürlich als Blut aufgefaßt werden. Eine konsequentere Verbindung von Bildgeschehen und Realraum hatte es bisher kaum gegeben. Über die naturalistischen Statuen der Maria Magdalena im Florentiner Baptisterium und des Täufers im Dom zu Siena führt Donatellos Weg zu den Reliefs für die Kanzeln in S. Lorenzo, die um das Jahr 1460 entstanden sind. Hier sind die Überschneidungen des die Reliefs rahmenden Eierstabes durch die Figuren besonders stark. Und zwar ragen bezeichnenderweise stets die Figuren, auf denen der größte religiöse Nachdruck liegt, in den Realraum hinein. Der autonome Kunstraum wird für sie und ihre Absicht zu eng. Welch ein Unterschied gegenüber der Sängertribüne oder der Kanzel in Prato! Die Gestalten des aus dem Sarge steigenden und des von Engeln gen Himmel getragenen Christus, deren Köpfe und Hände sich beinahe wie bei Ghiberti knaufartig aus der sonst relativ flach reliefierten Umgebung herausheben, müssen hier besonders gekennzeichnet werden. Für eine morphologische Betrachtungsweise ist dies als eine Entwicklung zum Malerischen hin zu begreifen. Aber unsere Untersuchungen sind anders angelegt, uns interessiert die veränderte ästhetische Stellung des Kunstwerks. In formengeschichtlicher Beziehung muß die Reliefkunst des Agostino di Duccio von der Stilstufe des Donatello abgeleitet werden, die durch die Florentiner Sängertribüne und die Kanzel in Prato am deutlichsten ver77

treten wird. Agostinos Sybillen und Propheten, vor allem aber seine Engel und Putten, mit denen er in den Jahren 1448—56 das Innere des Tempio Malatestiano zu Rimini schmückte, unterscheiden sich jedoch von den wildbewegten Gestalten und den flatternden Gewändern auf den beiden Werken des Donatello durch ein gotisierendes Körpergefühl und einen graphischornamentalen Faltenrhythmus. Verbunden mit dieser formalen Regotisierung ist die im Gegensatz zu den Vorbildern ästhetisch heteronome Einstellung dieser Kunst, die durchaus der zweiten Quattrocentostufe angehört. Am deutlichsten offenbart sich dieses künstlerische Glaubensbekenntnis des Agostino di Duccio bei einem Engelsrelief aus der Kapelle des hl. Sigismund. 1 Eine im flachsten Relief gemeißelte Engelsgestalt zieht einen Vorhang zur Seite, über den sie mit Armen und Händen hinausgreift. Der Vorhang ist in viel erhabenerem Relief wiedergegeben als die Figur des Engels, und die den Vorhang überschneidenden Gliedmaßen ragen wiederum stärker aus der flachen Reliefzone heraus. Hierin drückt sich das innerhalb aller heteronomer Kunstphasen stets so auffallend übereinstimmende Bemühen aus, die Distanzierung der Bildbühne in irgendeiner Form zu durchbrechen, in den Realraum hineinzugreifen. Und wie stets spielt sich dieser Vorgang am deutlichsten für uns in einer Verbindung mit dem Vorhangmotiv ab. In der zweiten Phase des Quattrocento kommen zwei geistesgeschichtliche Probleme, von denen die Zeit erfüllt ist, gleichzeitig zur künstlerischen Gestaltung, obwohl sie in sich auf durchaus entgegengesetzten Voraussetzungen fußen: die moderne Linearperspektive, die große geistige Leidenschaft der Zeit, und, verbunden mit der formalen Regotisierung der Kunst, eine neue Frömmigkeit. Es bleibt erstaunlich, wie hinter der neuen Heteronomie der Kunst ein Diesseits- und ein Jenseitsproblem in so engem Zusammenhang stehen können. Die Brücke zwischen beiden, das, was ihnen gemeinsam ist, ist die Verbindung von Real- und Kunstraum. „Die moderne Linearperspektive bestimmt die Richtung und das Maß der Verkürzung mit Hilfe des Augenpunktes und der Distanz durch gesetzmäßige Konstruktion. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß sich der Bildraum in den Raum, in dem sich der Beschauer befindet, ohne Widerspruch einfügen lassen müsse." 2 „O che dolce cosa e questa prospettiva", — der berühmte Ausspruch des Uccello ist bezeichnend für die leidenschaftliche Hingabe an dieses Problem. Panofsky zitiert mit Recht inbezug auf die Perspektive als Stilmoment die Worte Ernst Cassirers von den „symbolischen Formen, durch die ein geistiger Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet Pointner: Agostino di Duccio. Straßburg 1909. Abb. 6a. 2 Kailab: Die toskanische Landschaftsmalerei im 14. und 15. Jahrhundert. Jahrbuch des allerhöchsten Kaiserhauses. Wien 1900.

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•wird."1 Die Linearperspektive wird in heute kaum verständlichem Maue zu einem geistigen Zentralerlebnis. Deshalb konnte auch die Verschleifung von dargestelltem und wirklichem Raum innerhalb der neuen Frömmigkeit ungewollt, aber zutiefst sinnvoll zur psychologischen Unterlage einer religiösen Propaganda und einer Suggestion werden, die jetzt von der Kunst ausgehen sollten. Man muß wieder mit psychologischen Faktoren rechnen, eine Betrachtungsweise, die sich der Kunst des Masaccio, des frühen Donatello, des Quercia gegenüber nicht mit der gleichen Notwendigkeit ergab. Die Kunst des zweiten Quattrocento ist im tiefsten Sinne des Wortes eine ästhetisch transzendente Kunst. Sie umfaßt alle Tendenzen der Zeit, alle Probleme der Gesellschaft und bringt sie zur Gestaltung. Die Kunst des ersten Quattrocento war dagegen ästhetisch immanent, nicht in der Gesellschaft verankert, was durch ihre Autonomie, ihre Unbeschwertheit aus formfremdem Gebiet verbürgt wird. Besonders deutlich wird dies, wenn man bedenkt, daß zur Zeit der ersten Quattrocentokunst die konstruktiven Ideen eines Brunellesco bereits ebenso die Geister erfüllten, wie nach 1435. Sie fanden aber damals in der Kunst keinen entsprechenden Niederschlag. In gewissen Sinne waren allerdings die Linearperspektive und der nach ihr konstruierte Bildraum, wie bereits erwähnt, auch schon in die Kunst des'Masaccio eingedrungen . Wir wiesen jedoch darauf hin, wie zwischen der Tiefe des dargestellten Raumes und den Figuren, die sich nur in einer vorderen Zone bewegen, bei Masaccio keinerlei Beziehung bestand. Bei seiner „Dreifaltigkeit" in S. Maria Novella zu Florenz bedeutet das gewölbte Kirchenschiff, das hinter den Figuren erscheint, lediglich eine gleichsam technische Zutat, die die Figurenkomposition des Gemäldes nicht berührt und die beinahe zu entfernen wäre, ohne an dem künstlerischen Eindruck der eigentlichen Darstellung irgendetwas zu verändern. Es ist daher begreiflich, daß man in dem architektonischen Teile des Freskos eine andere Hand, und zwar die Brunellescos selbst hat erkennen wollen. Der konstruierte Raum und die Figurenkomposition gehören bei Masaccio noch zwei grundlegend unverbundenen Ebenen menschlicher Betätigung an. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß die Beleuchtung der Fresken Masaccios in der Brancaccikapelle zu Florenz sich nach dem Standort des Bildes richtet. Die Helligkeit geht von dem Fenster in der Altarwand der Kapelle aus. Masaccio folgt hier deutlich den Bedingungen der örtlichkeit. Auf diese Weise wird in gewissem Sinne tatsächlich eine Art von Realitätszusammenhang zwischen Kunst- und Realraum hergestellt. Dennoch kann bei Masaccio nicht von einer wirklichen Überschneidung der ästhetischen Grenze gesprochen werden. Er nimmt lediglich auf die gegebene architektonische Situation Rücksicht, ohne jedoch 1

Panofsky: Die Perspektive als „symbolische Form", Vorträge d. Bibliothek Warburg. 1924—25. Leipzig 1927. 79

eine Verbindung mit dem Beschauer herzustellen. Sicherlich liegt hier bereits ein Keim, der aber erst im zweiten Quattrocento zur E n t f a l t u n g gelangen sollte. I n den heteronomen Stilstufen des Quattrocento wird die Linearperspektive zu einem wichtigen Ingrediens des künstlerischen Formungsprozesses selbst. Und nicht nur das. Die vordere Bildebene wird s p ä t e r möglichst mitten durch den dargestellten Innenraum gelegt, so d a ß m a n ihn in seiner Unvollständigkeit als ein Fragment, als eine bloße Fortsetzung des Realraumes empfinden mußte. Bei Masaccio jedoch ist auch der linearperspektivisch konstruierte Innenraum noch distanziert und u n b e t r e t b a r , dadurch, d a ß er im Grunde eine Außenarchitektur mit gleichsam gläserner Fassade darstellt. Wir schauen von außen, wie von einem archimedischen P u n k t e aus, in den R a u m hinein. Vielleicht bedurfte es erst eines neuen Transzendentalismus, der sich der Linearperspektive bediente, u m sie zu einem wesentlicheren Bestandteil der Bildkunst zu machen. Vielleicht war es aber auch umgekehrt so, d a ß die von neuem aus ihrer distanzierten Sphäre heraustretende Kunst ihrerseits die Beschauer anstachelte und zu neuer Frömmigkeit erweckte. D a ß also beinahe auf paradoxe Weise die in die Kunst gedrungene Linearperspektive eine neue Religiosität zur Folge hatte. Denn gerade heteronome K u n s t ist nicht nur Wirkung, Mittel u n d Spiegelung, sie k a n n auch Ursache sein. Das eigentümliche, nach zwei Seiten, dem Diesseits und dem Jenseits, gewandte Gesicht der zweiten Quattrocentokunst, die sonderbare Situation, die zwei geistesgeschichtlich scheinbar unvereinbare Strömungen gleichmäßig und in gegenseitiger Verklammerung zur Gestaltung kommen läßt, wird, wie wir sehen werden, in der Kunst des Barock wiederkehren. Und es scheint deshalb nicht zufällig, daß auch die morphologische Betrachtungsweise hier vielfach Parallelen zu der Kunst des 17. J a h r h u n d e r t s gezogen h a t . Die Rückkehr des zweiten Quattrocento zu einer neuen Religiosität, im Gegensatz zu den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts, läßt sich auch durch kulturgeschichtliche Parallelen belegen. Während im Jahre 1409 sich noch drei Päpste um die Herrschaft stritten, ein römischer, ein französischer und ein vom Konzil gewählter, so ging aus dem Konstanzer Konzil der päpstliche Absolutismus wieder siegreich hervor. Friedell sagt in seiner oft bedenklichen, aber an prägnanten und glücklichen Formulierungen reichen Kulturgeschichte, die Tatsache der Möglichkeit dreier Statthalter Christi auf Erden zur gleichen Zeit bedeute „ f ü r die damaligen Menschen ungefähr so viel, wie wenn m a n ihnen plötzlich eröffnet hätte, es habe drei Erlöser gegeben oder jeder Mensch besitze drei Väter." 1 Mit dem Mißtrauen gegen die Gottgewolltheit des Papsttumes m u ß t e ein Zusammen1

Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit, München, 1928. Bd. I. S. 105.

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brach aller Glaubenswerte H a n d in H a n d geben. Diesseitsprobleme erfüllten statt dessen die Menschen der ersten Periode des 15. J a h r h u n d e r t s . Friedell spricht geradezu von einer „ E r k r a n k u n g des metaphysischen Organs", eine Tatsache, die f ü r den Kunstwissenschaftler formalphänomenologisch durch die Autonomie der K u n s t dieser Zeit deutlich gegeben ist. Die Diesseitsverbundenheit der Menschen h a t einen großen wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge. Eine realistische Dichtung gibt u n t e r Bevorzugung der Satire den herrschenden Gefühlen Ausdruck. E r s t e Vorboten einer Reformation tauchen auf. Die Ideen des bereits 1384 verstorbenen englischen Reformators J o h n Wiclif greifen jetzt erst, besonders in Mitteleuropa u m sich. Wiclif h a t t e gegen den Bilder- u n d Reliquiendienst, gegen die Ohrenbeichte gekämpft und das Priesterzölibat abgelehnt. Aber der Rückschlag bereitete sich schon vor. Wiclif wurde 1415 durch das Konstanzer Konzil zum Ketzer erklärt, u n d Hus, der vornehmlich seine Ideen verbreitet h a t t e , wurde im gleichen J a h r e v e r b r a n n t . Das J a h r 1418 beseitigte mit der Beendigung des Konzils auch das Schisma. Martin V. stieg wieder als absoluter Kirchenfürst auf den Stuhl Petri. Sogar ursprünglich höchst revolutionäre, gegen P a p s t t u m u n d Glauben gerichtete Bestrebungen des ersten Quattrocento m ü n d e t e n wieder in die Bezirke der allein selig machenden Kirche. Dies verdeutlicht am eindrucksvollsten die Entwicklung des Humanisten Lorenzo Valla. „ W e n n Lorenzo Valla Moses und die Evangelisten bloße Historiker n e n n t , so will er damit zwar ihrer Würde und ihrem Ansehen nichts nehmen, ist sich aber wohl bewußt, daß er durch diese Behauptung in einen ebenso großen Gegensatz zur hergebrachten kirchlichen Anschauung t r i t t , wie mit dem Widerspruch gegen die Abfassung des apostolischen Symbolums durch alle Apostel und gegen die Echtheit des Briefes des Abgarus an Christus". 1 I n seinem Dialog „de voluptate" läßt Valla einen Stoiker u n d einen Epikureer sich über das höchste Gut streiten. Sie gelangen zu dem Ergebnis, d a ß dieses „summum b o n u m " nur in der voluptas, im schrankenlosen Genüsse liegen könne. Doch später ändert Valla seine Überzeugung. „Wohl mag es halb ein in der Zeit liegendes Schwanken sein, halb erscheint es doch als Accomodation, wenn Valla schließlich Epikureer wie Stoiker abweist u n d der übersinnlichen, christlichen Ordnung der Dinge sich anheim gibt." 2 Und so beschloß derselbe Mann, der das Lehensrecht des Papstes bestritten und die Grundlage dieses Rechtes, die konstantinische Schenkung, als apokryph angefochten hatte, dessen polemische u n d bibelkritische Schriften bereits von so starker Reformationsgesinnung 1 3

Burckhardt (a. a. 0.) Bd. II. S. 178 ff. Dilthey: Auffassung und Analyse der Menschen im 15. und 16. J a h r h u n d e r t . Archiv f. Gesch. d. Philos. IV. 1891. S. 67ff. 6

Michaliki.

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zeugten, daß sie später von Hatten und Erasmus aufgegriffen werden konnten, sein Leben ausgesöhnt mit Papsttum und Kirche als Kanonikus der Kurie in Rom. Bußprediger und religiöse Eiferer gewinnen wieder eine Bedeutung. Roberto da Lecce beschließt „den Kreis seiner Fastenpredigten während der Pestzeit 1448 in Perugia mit einer Karfreitagsaufftthrung der Passion streng nach der Darstellung des Neuen Testaments. Nur wenige Personen traten auf, aber das ganze Volk weinte laut". 1 Burckhardt will hier eine geistesgeschichtliche Parallele zu den Tongruppen des Guido Mazzoni erkennen, „wenn der den Christus vorstellende Autor mit Striemen bedeckt und scheinbar Blut schwitzend, j a aus der Seitenwunde blutend auftreten mußte". Dadurch greift er bereits auf die vierte Phase des Quattrocento voraus. Aber die Parallelität zu Donatellos Relief der Grablegung muß hier deutlich empfunden werden. Das zweite Quattrocento wird durch eine neue und machtvolle Belebung des Katholizismus eingeleitet. Diese Feststellung ist für den Kunstwissenschaftler zweifellos interessant, sie hat jedoch, wie stets, nur den Wert einer Parallele. Aber auch bei solchen Parallelen ist, wie wir wissen, nicht von einer Regelmäßigkeit zu reden. Die gleichzeitigen Emanationen einer Epoche auf den verschiedenen Kulturgebieten laufen, wie man immer wieder beobachten kann, durchaus nicht notwendig parallel. Es gibt Kulturideen, die gar keinen Niederschlag in der Kunst gefunden haben und andere, die erst viel später in die Kunst eindringen konnten, sei es, weil die künstlerische Autonomie zu schwer zu durchbrechen war und nur allmählich unterminiert werden konnte, sei es, weil diese Ideen erst in einem späteren Stadium ihrer Entfaltung der Spiegelung und der Verbreitung durch die Kunst bedurften. Da die geistesgeschichtlich interpretierende Methode innerhalb unserer Untersuchung ohnehin nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, so können wir bei der Betrachtung des Quattrocento, wie auch schon früher, die in manchen Fällen zeitlich annähernde Kongruenz von Bild- und Kulturwandel aufzeigen, ohne daraus einen methodischen oder gar kausalen Zusammenhang zu konstruieren. Im Gegenteil: es ist nur von Neuem für uns eine Gelegenheit, auf die für den Kunstwissenschaftler allein sichere und legitime Betrachtungsweise an Hand der formalphänomenologischen Kriterien hinzuweisen. Eines der bedeutendsten Beispiele für die Gruppe der Vorhangsbilder im zweiten Quattrocento stammt von Piero della Francesca, dem großen umbrischen Luminaristen, der auch bezeichnenderweise Verfasser einer „Prospectiva pingendi" gewesen ist. Seine „Madonna del Parto" in Monterchi, wohl während Pieros dortigen Aufenthaltes in den Jahren 1467—68 ent1

Burckhardt (a. a. 0.) Bd. II. S. 102.

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standen, steht in monumentaler Breite unter einem Zeltdach. (Abb. I4).1 Zwei Engel raffen rechts und links in großem Bogen den schließenden Vorhang zur Seite, und aus dem neutralen Innenraume tritt die Gestalt der Madonna in greifbarer Plastizität hervor, über den Vorhang hinaus, bis an die äußerste Kante des Bildrandes. Mit einer deutlich weisenden Gebärde öffnet sie das Kleid über dem gewölbten Leibe, sinnbildhaft bereitet sich vor unseren Augen die Geburt des Gottessohnes vor. Maria tritt aus ihrer umhegten Individualwelt, dem kemenatenhaften Zelte heraus, den Gläubigen entgegen, um ihnen die Frucht ihres Leibes zu schenken, den Erlöser der Welt, der die Sünden der Menschheit auf sich zu nehmen bestimmt war. Auch hier wird ein religiöser Inhalt, der als vornehmstes Ziel einer heteronomen, außerästhetisch bedingten Kunst vorschwebte, am deutlichsten durch die unverhüllte Verbindung von Real- und Kunstraum gekennzeichnet. Eine willkommene Parallele zu dieser Erkenntnis ist auf formengeschichtlichem Gebiet der spätgotische Kielbogen, der durch die Kurvatur des Vorhanges beschrieben wird, sodaß die Madonna wie aus einer gotischen Nische herauszutreten scheint. In deutlicher Abhängigkeit von der kompositionellen Verwendung des Vorhangs bei der „Madonna del Parto" des Piero della Francesca stellt ein unbekannter mittelitalienischer Künstler der Zeit die „Heimsuchung" dar, die in der Pinakothek zu Lucca bewahrt wird. (Abb. 15.) Hier ist der Vorhang eine Abbreviatur geworden, die am oberen Rand des halbrund schließenden Bildes angebracht ist. Die realistische Motivierung des Vorhanges durch ein Zelt oder einen Baldachin ist aufgegeben. Der Vorhang scheint ein bereits bewährtes kompositionelles Mittel geworden zu sein, um die Darstellung dem Beschauer näher zu rücken, indem er anzeigt, wie die Hauptszene vor der eigentlichen, abschließbaren Bildbühne spielt. Auch bei der luccheser Heimsuchung ist es so. Oben, an seinen Ansatzstellen bezeichnet der Vorhang die vorderste Ebene des Bildes, hinter welche die Landschaft, die Engel, der gesamte Bildraum zurücktreten. Aber von der Zone an, die von der Gruppe der Maria und der Elisabeth erfüllt ist, scheint sich gleichsam der Figurenblock nach vorn zu schieben. Die Gestalten stehen weit vor der Vorhangsebene, 6ie gleiten, wie wir es schon öfter beobachten konnten, aus der distanzierten Sphäre heraus, sodaß sogar der Erdboden, gleichsam wie ein Konsol, aus dem Bilde vortreten muß, um die Figuren zu unterfangen. Auch hier muß auf die spitzbogig-gotische Formation des Vorhangsausschnitts hingeweisen werden. Es scheint kein Zufall zu sein, daß in dieser Kunst des zweiten Quattrocento die Darstellung der Schutzmantelmadonna, ebenso wie im 14. Jahrhundert, besonders gepflegt wird. In der ersten Phase des Quattrocento ist nur von 1

Die Madonna del Parto wird von Venturi mit wenig Wahrscheinlichkeit einem Schäler Keros, dem Lorentino d'Arezzo zugeschrieben.

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drei Beispielen dieses Typs in Florenz die Rede: von einem nicht mehr erhaltenen Bilde der „Compagnia di S. Maria della Pietà o della Misericordia'1 aus den Jahren 1410—14, von einem Fresko im Klosterhof von S. Martino zu Majano und von einem Bildchen unbekannter Herkunft in der Akademie zu Florenz. 1 Im zweiten Quattrocento rückt die Schutzmantelmadonna jedoch von einem vereinzelten, in besonderen Klostertraditionen verwurzelten Thema unbekannter Maler zu einem Hauptmotiv der großen Kunst auf. Für die Türlünette des Oratoriums der Misericordia in Arezzo arbeitet bereits im Jahre 1434 Bernardo Rosselino ein Relief mit dieser Darstellung.* Und Piero della Francesca läßt auf seiner Tafel der mater misericordiae in Borgo San Sepolcro (1445) die Menschen sich ganz nah an die monumentale Gestalt der Maria schmiegen, — die Gottheit soll durch keine Scheidewand von den Menschen getrennt sein. Auch in dem Umkreise eines Künstlers, der innerlich durchaus noch dem ersten Quattrocento angehört, begegnet man einer Schutzmantelmadonna. Das dem Fra Filippo Lippi zugeschriebene Gemälde in Berlin ist eine Werkstattarbeit aus der allerletzten Zeit des Meisters, (f 1469), so daß in der Wahl dieses Themas schon die Hin; neigung eines vielleicht jüngeren Künstlers zu einer neuen ästhetischen Bindung zum Ausdruck gelangt. 3 In den Kreis der von Piero della Francesca abhängigen Künstler gehört auch der Umbrer Giovanni Santi, Raffaels Vater. Auch er hat den Vorhang als oberen Eckenabschluß auf mehreren Bildkompositionen verwendet. Sowohl bei seiner Madonna in der National Gallery in London, wie bei der im Kaiser-Friedrich-Museum zu Berlin ist der Vorhang deutlich als distanzierende vordere Fläche empfunden. Er überschneidet und verdeckt in beiden Fällen sogar einen Teil des Heiligenscheines der Maria. Besonders bei dem Londoner Bilde wird aber deutlich, wie die Komposition im formalphänomenologischen Sinne die ästhetische Grenze wiederum überschreitet. Das Kind liegt auf einer Balustrade vor Maria. Schon diese Balustrade scheint bei den beiden Bildern Giovanni Santis durch die große Aufsicht, mit der sie dargestellt ist, über die von dem Vorhang angegebene vordere Begrenzungsfläche herauszuragen. Die hintere Kante der Brüstung berührt ungefähr die Vorhangsebene. Und auf dem Londoner Bild greift zudem das Mantelende der Maria, auf dem das Christkind liegt, noch über die ohnedies vorgeschobene Balustrade hinaus, eine Verbindung zu dem Raum schaffend, in welchem der Beschauer sich befindet. Während in der oberen 1 8

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Vgl. Brockhaus (a. a. O.) S. 107 ff. Vgl. v. Fabriczy : Ein Jugendwerk Bernardo Rosselinos und später unbeachtete Schöpfungen seines Meißels. Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen. Berlin, 1910 X X I . Abb. S. 36. Vgl. Mendelssohn: Fra Filippo Lippi. Berlin 1909. S. 185f.

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Hälfte des Bildes die Kunstzone durch den Vorhang abgeriegelt wird, tritt der untere Teil der Kompdsition deutlich über die ästhetische Grenze hinaus. Auch die Grabdenkmäler des zweiten Quattrocento werden, im Gegensatz zu den früheren Beispielen, denen sie sich formengeschichtlich zwar unmittelbar anschließen, zu Trägern der neuen Raumverschleifung, die jeder heteronomen Kunst eigen ist. Schon bei dem Grabmal des 1457 verstorbenen Dogen Francecso Foscari in der Frarikirche zu Venedig, das dem Rizzo oder dem Buon zugeschrieben wird, und das ikonographisch dem Mocenigograbmal in S. S. Giovanni e Paolo so außerordentlich nahe steht, ist eine in unserem Sinne veränderte Verwendung des Vorhangmotivs zu bemerken (Abb. 18). Während bei dem Mocenigograbmal die beiden Engel den baldachinartigen Vorhang um den Toten, um den gesamten Sarkophag und sogar um sich selbst breiten wollen, ist das gleiche Motiv 30 Jahre später beim Foscarigrabmal grundsätzlich verändert. Die den Engeln entsprechenden Knappen stehen auf gesonderten Säulenpostamenten neben und außerhalb der eigentlichen Darstellung. Sie fassen den Vorhang daher von außen, und die Frauenfiguren, die am Lager des Toten stehen, treten weit hervor, überragen mit Kopf und Ellenbogen die Vorhangsebene, so daß die distanzierend-verhüllende, vom Realraum trennende Bestimmung des Vorhangs hier in das Gegenteil verwandelt wird. Die ungleichförmige Situation der Kunst im Quattrocento, der Wechsel von ästhetischer Immanenz und Transzendenz und damit verbunden die kunstwissenschaftliche Notwendigkeit, in einer stets veränderten methodischen Einstellung den Kunstwerken dieser Zeit gegenüberzutreten, bezeugt aufs deutlichste das nur vier Jahre nach dem Foscarigrabmal begonnene, 1466 vollendete Grabmal des Kardinals von Portugal von Antonio Rosselino in S. Miniato bei Florenz, das abermals einen ästhetischen Umschwung bezeichnet. Der an der Archivolte einer sich im Halbrund schließenden Nische befestigte Vorhang ist zurückgezogen und enthüllt das Grabmonument mit der Gestalt des Toten, mit Engeln und Putten. Aus einem von zwei fliegenden Engeln gehaltenen Tondo schaut die Jungfrau mit dem Kinde auf den jungen Kardinal herab. (Abb. 16). Wie unrecht Wölfflin hat, wenn er hier von „der Spielerei eine steinernen Vorhanges" spricht, beweist die tief ästhetische Bedeutung, die gerade diesem Vorhang zukommt, der die sonst allzu leicht betretbare Nische von der Außenwelt abriegelt und durch diesen Unwirklichkeitsakzent heraushebt aus der heteronomen Kunst des zweiten Quattrocento, welche ebenso sehr im Dienste der seit dem Konstanzer Konzil wieder erstarkten Kirche, wie als Betätigungsfeld wissenschaftlich-konstruktiver und mathematischperspektivischer Bestrebungen außerästhetisch bedingt war. 1 1

Wölfflin: Die klassische Kunst, München, 1924. S. 74.

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Diese dritte Quattrocentokunst, die ästhetisch wieder autonom wurde, brachte besonders unter den Grabmälerif der Zeit einen Stil zur Ausprägung, der in einer bisher selten verwirklichten Weise erfüllt war v o m freien Spiel der Phantasie, von einer Variationsfreude der Formen, des Schmucks u n d der Dekoration, die es wirklich gerechtfertigt erscheinen lassen, hier von einer Frührenaissance zu sprechen. Während m a n bei Niccolo Pisano und Giotto ebenso wie bei Masaccio richtiger, wenn überh a u p t von einer Protorenaissance reden sollte, von einem Stil, der vorzeitig gewisse Züge der eigentlichen Renaissancekunst vorwegnahm, so k a n n m a n das dritte Quattrocento, das in den sechziger J a h r e n des J a h r hunderts beginnt, in dem Sinne als eine Frührenaissance bezeichnen, in welchem m a n von der Jugendzeit einer Epoche zu reden pflegt. Die ästhetische Grundeinstellung der Renaissance ist da, u n d in spielerischer, nicht .verspielter, Weise lösen sich aus der Entfesselung der Formen zu einer eigengesetzlich ästhetischen Bedeutsamkeit bereits die formalen u n d kompositionellen Grundvorstellungen der Renaissance. Diese Grabmäler wollen den Gläubigen in der Kirche nicht mehr das Bild des Verstorbenen in erschütternder oder, im wahrsten Sinne des Wortes, denkmalshafterweise einprägen. Die Gestalt des Toten ist n u r ein gleichwertiger F a k t o r in dem heiteren u n d lebenssprühenden Tanz der Formen. U n d wenn natürlich auch dem Auftrage zu einem Grabdenkmal stets die Idee einer Verherrlichung, eines Eindrucks auf den Beschauer zu Grunde lag, so wurde dieser Auftrag im dritten Quattrocento, obwohl oder gerade weil eine besondere Pracht entfaltet wurde, ästhetisch so umgewertet, d a ß es nur der künstlerische Gehalt des Monumentes, nicht der individuelle und psychologisch interpretierte Charakter der Persönlichkeit, welcher das Denkmal galt, oder gar ein religiöser, mit der Idee des Todes verbundener Ausdruck zu sein schien, der in dem Werke als solchem zur Gestaltung k o m m e n sollte. Es zeigt sich von neuem, daß eine Anerkennung des Betrachters keineswegs mit einer Überschneidung der ästhetischen Grenze H a n d in H a n d zu gehen braucht. Das Grabmal der Maria von Aragonien in der Kirche des Monte Oliveto zu Neapel, von Rosselino bei seinem Tode 1479 unvollendet zurückgelassen und von Benedetto da Majano beendet, wiederholt beinahe übereinstimmend die Komposition des Portugalgrabmales in S. Miniato. Auch hier bezeichnet der Vorhang deutlich die ästhetische Grenze u n d verbürgt dadurch die Autonomie des Bildgeschehens. I n den gleichen Zusammenhang gehört Benedettos Altar der heiligen Fina aus dem J a h r e 1475 in der Collegiata zu S. Gimignano. Obwohl es sich hier nicht um ein eigentliches Grabmal handelt, ist ein d e m Portugalgrabmal sehr ähnliches Kompositionsschema verwendet. S t a t t des Aufbaus mit dem Sarkophag und dem Toten, ist hier ein reich mit Reliefs geschmückter Altar, auf dem zwei Engel knien, in die Nische gestellt. Der Altar wird von einem schmalen Sarkophag

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bekrönt, in dem die Gebeine der heiligen i'ina bestattet sind. D a r ü b e r erscheint, zwischen zwei fliegenden Engeln, Maria in einer Mandorla. Der zur Seite geschlagene Vorhang vermag wieder schließend v o r die Szene gezogen zu werden, wodurch das ganze als Vision in eine unerreichbare, unwirkliche Bühnensphäre zurückgedrängt wird. Die beim Portugalgrabmal nur die obere Hälfte der Darstellung ausfüllende Dreieckskomposition ist beim Altar der heiligen Fina zum Grundprinzip des gesamten Altaraufbaus geworden, und es m u ß als sehr bezeichnend angesehen werden, d a ß dieses so eminent abstrakt-idealistische Kompositionsschema, das später in der Renaissance eine so ungeheure Bedeutung erlangen sollte, in konstituierender Weise gerade innerhalb einer Stilstufe des Quattrocento a u f t r i t t , die, eigengesetzlich u n d unbeschwert von außen, rein formale Gebilde aus sich herausstellen konnte. Giovanni Antonio Amadeo, der 1770—76 f ü r die Gapella Colleoni in Bergamo t ä t i g war, h a t dort das Grabmal der 1476 gestorbenen Medea Colleoni geschaffen, das wie ein gerahmtes Bild erhöht auf einem Postamente r u h t . (Abb. 19). Schon hierdurch wird die grundsätzliche Isolierung, die Trennung vom Realraum deutlich betont. Der am oberen Rahmengebälk hängende Vorhang könnte zwar in diesem Falle nicht vor die gesamte Darstellung gebreitet werden. E r ist zu kurz dazu. Dennoch gibt auch er die ideale vordere Fläche an, über die mit keiner Form hinaus gegriffen werden darf. Der Vorhang ist hier gleichsam ein ästhetisches Symbol geworden. E r wird in einem ganz neuen Sinne ornamental durch parallele K u r v e n gegliedert u n d bekommt durch die komplizierte Aufhängung eine besonders dekorative Note, wie denn das Abstrakt-Dekorative hier auch durch das Schachbrettmuster des Hintergrundes im Sinne eines idealistischen Formwillens betont wird. Der Reduktionsprozeß, dem das Vorhangmotiv ausgesetzt ist, so d a ß es schließlich selbst n u r noch eine Abstraktion bedeutet, erreicht in dem Grabmal des Grafen Hugo von Andeburg in der Badia zu Florenz, einem Werk des Mino da Fiesole aus dem J a h r e 1481, seinen H ö h e p u n k t (Abb. 20). Der Vorhang ist zu einem n u r noch schwach hervortretenden Ornament auf der Rahmenleiste verkümmert, die den Sarkophag, den Toten u n d eine allegorische Gestalt der Caritas umschließt. Die Errichtung dieses Grabmals ist selbst als eine symbolische Handlung anzusehen, denn der Graf H u b o von Andeburg, der Stifter der Abtei, war bereits um das J a h r 1000 gestorben. Seiner gleichsam schon mythisch gewordenen Persönlichkeit sollte ein nachträgliches Monument errichtet werden. F ü r den K u n s t wissenschaftler ist dieser Unwirklichkeitsakzent prinzipiell schon durch die Behandlung des Vorhangmotivs gegeben. Gleichzeitig aber offenbart sich noch etwas Anderes in diesem Denkmal. Der Vorhang schließt n u r die Sarkophag-Nische selbst potentiell vom Realraume ab. Das Monument als Ganzes erweitert sich jedoch über diese Nische selbst hinaus. U n d es 87

stehen bereits zwei Knäblein von neuem neben den E n d e n des Vorhangs, außerhalb der abgeriegelten Bildsphäre in der Zone des architektonischen Rahmens. Dem entspricht, d a ß die Gestalt der Caritas den sie umschließenden, reich profilierten R a h m e n mehrfach überschneidet. Und wenn diese Grenzübertretung auch innerhalb der Bildsphäre selbst geschieht, so beweist sie doch die abermals beginnende Labilität des ästhetischen Grenzgefuhls, um so mehr als dieser R a h m e n keine gegenständliche Bedeutung im Bilde h a t und lediglich ästhetische F u n k t i o n besitzt. Das Werk des Mino da Fiesole aus dem J a h r e 1480 bedeutet demnach einen Übergang zu einer neuen, vierten Phase innerhalb der K u n s t des Quattrocento. Das Andeburg- Grabmal, in seinem Bildzentrum noch der autonomen dritten Stilstufe zugehörig, weist trotzdem bereits auf das Aufkommen einer neuen Heteronomie hin. Bevor wir aber dieses vierte Quattrocento, auf das uns die Entwicklung des Grabmals in gerader Linie hingeführt h a t , näher betrachten, wollen wir uns noch einigen anderen Erscheinungsformen der früheren Quattrocentokunst zuwenden. Das Werk des Andrea Mantegna spiegelt den Wechsel von autonomer u n d heteronomer Kunstauffassung im Quattrocento in einer von den bisher gezeigten Beispielen etwas abweichenden Weise. Man k a n n im oeuvre des 1431 geborenen Künstlers im Grunde nur eine große Cäsur unterscheiden, die ungefähr u m das J a h r 1455 liegt. Es gibt bei ihm nur ein autonomes und ein heteronomes Quattrocento. Die heteronome Stilstufe reicht bis zu seinem Tode im J a h r e 1506. Bei Mantegnas Eremitanifresken in P a d u a fällt der Abschluß des Bildraumes und der Figurensphäre mit der Bildebene zusammen. Es wird streng vermieden, eine Verbindung von Kunst- u n d Realraum herzustellen. Die Fresken stammen aus dem J a h r e 1451, einem Zeitpunkt, der eigentlich in die zweite heteronome Stilstufe des Quattrocento fällt. Aber bereits die Madonna aus S. Zeno in Verona (1456—59) bekundet einen ästhetischen Wandel und das A u f k o m m e n einer heteronomen K u n s t im Schaffen Mantegnas. Vor der Architektur, einer dreischiffigen Halle, hängen hier an einem Gesimse guirlandenhaft schwingende Festons, die aus Blumen und Früchten gewunden sind. Sie bezeichnen die vorderste Bildebene u n d haben die gleiche ästhetische F u n k t i o n wie sonst die Vorhänge oder Draperien. D a ß diese Festons geradezu als eine Reduktion des Vorhangmotivs aufzufassen sind, beweist ein allerdings erst 10 J a h r e später entstandenes Gemälde des Cosimo Tura, auf das noch einzugehen sein wird, und das den Übergang vom Vorhang z u m Feston gleichsam in s t a t u nascendi durch eine Zwischenstufe vorführt. Die Architektur auf der „Zeno-Madonna" erreicht ihren vorderen Abschluß nicht mit der Bildebene, wir sehen nur einen unvollkommenen Raumteil, in dem Maria mit dem Kinde, umgeben von zwei Gruppen von Heiligen, t h r o n t . Der R a u m erstreckt sich noch über

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die Bildzone hinaus, greift auf den Kähmen über, aui dieses berühmte Meisterstück quattrocentistischer Schnitzkunst, das durch seine architektonische Ausgestaltung den Bildraum fortsetzt und auf diese Weise mit dem Realraum verbindet. Vor allem aber treten links und rechts die Heiligen Petrus und Johannes der Täufer über die durch die Festons bezeichnete vorderste Bildebene deutlich hinaus und betonen auf diese Weise die Wendung an ein Publikum. Um 1462 entstand die Tafel mit dem hl. Georg in der Akademie zu Venedig. (Abb. 21). Der Heilige steht vor dem erlegten Drachen in einem perspektivisch gemalten Rahmen, wie in einer Tür, durch die hindurch im Hintergründe der Blick auf eine bergige Landschaft frei gegeben wird. Zwischen den Pfosten der Tür schwingt wieder ein Feston aus Blumen und Früchten. Über diese vorderste Ebene greift aber der Heilige mit Hand und Speer hinaus, und der Kopf des Drachens ragt sinnbildhaft deutlich in den Realraum hinüber. Diese zweite Stilstufe des Mantegna deckt sich zeitlich mit dem ebenfalls ästhetisch heteronomen zweiten Quattrocento. Ihr folgt jedoch in diesem Falle nicht die Autonomisierung des dritten Quattrocento. In den Jahren 1468—74 schmückte Mantegna die Camera degli sposi im Castello di corte zu Mantua für den Marchese Ludovico Gonzaga mit Fresken aus. 1469—70 entstand das berühmte Deckengemälde, das als das erste Beispiel einer ausgesprochen illusionistischen Raumerweiterung seit der Glasmalerei des 14. Jahrhunderts anzusehen ist. Mantegna erhöht das flache Spiegelgewölbe der camera degli sposi scheinbar durch eine gemalte Balustrade, die wie ein von unten gesehener Kuppeltambour gebildet ist, und über der sich, an Stelle einer Kuppel, der bewölkte Himmel wölbt. Über die Balustrade schauen Frauen, Engelknaben und ein großer Pfau in das Schlafzimmer des Herzogspaares hinab. Eine so täuschende Verbindung von Real- und Kunstraum war bisher weder je versucht, noch erreicht worden. Die Illusion ist überzeugend, obwohl, wie richtig beobachtet worden ist, die vorgespiegelte Realität vom architektonischen Standpunkte aus unmöglich auszuführen wäre. Es fehlt ein konstruktiv vermittelndes Bauglied zwischen dem gemalten Tambour und den tragenden Rippen des wirklichen Gewölbes. Aus dem Jahre 1474 stammt da6 über einer Tür befindliche Fresko, auf dem Putten die Inschrifttafel hochhalten, welche die Vollendung des malerischen Werkes durch Andrea Mantegna zu Ehren des Herzogs Ludovico Gonzaga und seiner Gattin in prunkvollen Worten meldet. Am rechten Bildrande hängt ein beiseite gezogener, phantasievoll gewundener Vorhang, der, obwohl er oben die abschließende vordere Bildebene bezeichnet, unten aus dem Bilde her ausgleitet, die gemalte Pilastergliederung der Wand überschneidet und über die architektonisch ausgeführte Türbekrönung herabfällt. Es ist, als ob der Beschauer einer Denkmalsenthüllung beiwohnt, die 89

trennenden Vorhänge fallen, die Inschrifttafel wird ihm entgegen gehalten, die ästhetische Grenze wird bewußt entwertet. J e t z t h a t der Kunstwissenschaftler die durch formale Kriterien legitimierte Veranlassung, nach den kulturhistorischen Zusammenhängen einer so eminent auf ein Außerhalb bezogenen K u n s t zu fragen. U n d es erscheint dementsprechend als außerordentlich bezeichnend, d a ß Mantegna, der 1460, ein J a h r nach der Beendigung des S. Zeno-Altars von Márchese Ludovico Gonzaga nach M a n t u a berufen wurde, fortan, mit Unterbrechungen, in seinem Dienste blieb u n d sein künstlerisches Schaffen den Zwecken u n d Forderungen des Hofes widmete, was seine ästhetische Einstellung f ü r die Z u k u n f t festlegte. I m Werke des Mantegna geschieht es in der neueren Kunstgeschichte zum ersten Male, d a ß nicht die Kirche, sondern ein weltlicher Fürst u n d sein Hof die K u n s t außerästhetisch belasten u n d heteronomisieren. Neben viele teilweise bereits erwähnte formale Züge u n d neben das Auftreten einer illusionistischen Deckenmalerei t r i t t nun auch die soziologische Bindung an ein Herrschertum, welche die Vergleichbarkeit dieser Phase des Quattrocento mit dem Barock abermals nahe legt. Der hl. Sebastian im Museum der Ca d'oro zu Venedig, der 1505—06 entstanden ist, zeigt auch bei einem religiösen Motiv die f ü r alle heteronome Kunst charakteristische Raumverschleifung von Mantegnas Spätstil. Der heilige Sebastian scheint in heftiger Bewegung aus dem Bilde herauseilen zu wollen. Wie aus einer Nische strebt er aus dem dunklen Hintergrund hervor über die architektonische R a h m u n g hinaus. Statt der sonst bei Mantegna üblichen Festons sind oben von der Mitte der Umrahmung nach den Seiten zwei dünne K e t t e n aus Glasperlen gezogen. Diese Ketten haben keine gegenständliche Bedeutung im Bilde, sie sind n u r als das beinahe auf einen bloßen ästhetischen Akzent reduzierte Vorhangmotiv zu verstehen, das, je nach der ästhetischen Stellung, immer wieder gebraucht wird, u m die gewahrte oder überbrückte Distanz zum Beschauer besonders deutlich werden zu lassen. Die Rückkehr zur kirchlichen Kunst., zu einer in ihrer Formgebung besonders ergreifenden u n d asketischen Heiligengestalt in den ersten J a h r e n des 16. J a h r h u n d e r t s fällt auch bei Mantegna mit der allgemeinen religiösen Erneuerung zusammen, die das vierte Quattrocento kennzeichnet. Man sieht also, wie ungleichmäßig die ästhetische Entwicklung im Quattrocento gegliedert war, wenn Mantegnas künstlerisches Schaffen als die Aufeinanderfolge eines verspäteten ersten und eines zweiten Quattrocento zu verstehen ist, das kontinuierlich in die vierte Stilstufe des J a h r h u n d e r t s übergeht. Man sieht ferner, d a ß unsere Einteilung in die vier Phasen nur den Wert einer allgemeinen Orientierung haben kann. Die in formengeschichtlicher Hinsicht von Mantegna abhängigen Künstler lassen sich jedoch wieder durchaus in die vier Abteilungen des Quattrocento einordnen. Um das J a h r 1465, als das zweite Quattrocento aufhörte

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und wieder einer autonomen Phase Platz machte, sind die Orgelflügel des Gentile Bellini in S. Marco zu Venedig entstanden. Gentile Bellini war zweifellos außerordentlich von der Zeno-Madonna seines Schwagers Mantegna beeinflußt, als er die Heiligen Markus und Theodor vor einschiffige Gewölbearchitekturen stellte, die vorn, ganz im Sinne Mantegnas, von einem hängenden Feston abgeschlossen werden, der ja letzten Endes die Abbreviatur eines Vorhangs bedeutet. Beide Heilige ragen nun mit den Fußspitzen, der heilige Theodor auch mit Arm und Lanze über diese vorderste Grenze hinaus, so daß sich für und der nicht nur ästhetisch faßbare Sinn dieser Kunst fibelhaft ablesen läßt. Diese Überschneidungen sind relativ geringfügig, und so deuten auch die Orgelflügel des Gentile Bellini bereits auf einen sich vorbereitenden ästhetischen Umschwung hin. Vor allem fällt der Abschluß der Architektur mit der vorderen Bildebene zusammen — das Gleiche sahen wir bereits bei den Eremitanifresken des Mantegna und früher bei der „Dreifaltigkeit" des Masaccio — so daß der Beschauer nicht in das Fragment eines Innenraumes hineinblickt, das er unwillkürlich als eine übertragene Fortsetzung des Realraumes auffassen muß. Er steht vielmehr einer Außenarchitektur mit gleichsam gläserner Fassade gegenüber. Durch diese Raumgestaltung kündigt sich die neue ästhetische Autonomie des dritten Quattrocento an, dem die „Verkündigung" des Cosimo Tura im Dome zu Ferrara ihrer Entstehungszeit im Jahre 1469 wie ihrer ästhetischen Distanzierung nach angehört. (Abb. 22). Auch hier ist vor einem zweischiffigen Gewölbe, in welchem der Engel der knienden Maria erscheint, ein in zwei Bögen schwingender Vorhang aufgehängt, der in ähnlichem Sinne, wie wir es schon bei dem Grabmal der Medea Colleoni sahen, nicht um einer realen, sondern nur um einer ästhetischen Funktion willen vorhanden ist. Bei Tura sind die durch dekorative Knotungen an der Architektur befestigten Draperien beinahe schon zu Festons geworden. Wie Schalen bergen sie in sich Laub und Früchte, die aus dem Inneren des reich gefalteten Stoffes herausquellen. Hier ist ein in morphologischer Beziehung wichtiger Punkt der Entwicklung, da man beobachten kann, wie das Motiv des vor der Szene hängenden Festons oder der Guirlande, das bei Mantegna zwar schon zehn Jahre früher auftritt, sich aus dem Vorhangmotiv durch allmähliche Reduktion und immer stärkere Beschränkung auf den rein ästhetischen Symbolwert entwickelt. Der autonomen Stilstufe des dritten Quattrocento gemäß, bezeichnet dieser in formaler Umwandlung befindliche Vorhangsrest die vordere vom Realraum trennende Ebene, die unsichtbare Wand, hinter der das Bildgeschehen spielt. Ebenso fügt sich die Darstellung der Architektur dieser ästhetischen Einstellung. Obwohl die kassettierten Tonnengewölbe, die Fluchtlinien der Gesimse, der Wände und des Fußbodens genau nach den Gesetzen der Linearperspektive konstruiert sind, ist es uns, wie bei den Orgelflügeln des 91

Gentile Bellini, doch ganz unmöglich gemacht, den gemalten R a u m auch nur im weitesten Sinne als eine Fortsetzung des Raumes, in dem wir uns befinden, aufzufassen. Die Architektur erreicht ihren vorderen Abschluß mit der Bildebene, die gleichzeitig die Vorhangsebene ist, und die Grenze des Bildraums u n d des Realraumes angibt. Die vordere Ebene ist nicht etwa mitten durch den Bildraum hindurch gelegt, — die seltsame Gewölbearchitektur Turas ist ü b e r h a u p t kein eigentlicher Innenraum. Sie ist im Grunde wieder eine Außenarchitektur mit fortgezogener Vorderwand, durch die hindurch von einem betont außerhalb liegenden S t a n d p u n k t der Beschauer in das Innere blickt. Es muß in diesem Zusammenhange darauf hingewiesen werden, daß es sich bei den schilderhausartig offenen Architekturen, denen wir schon mehrfach bei unseren Betrachtungen begegnet sind, u m Übernahmen aus den Mysterienspielen handelt. Dort wurde in mehreren gleichzeitig sichtbaren Gebäuden dieser Art, sogenannte „mansions" gespielt, die durch Vorhänge nach außen abgeschlossen werden konnten, so daß sich durch den Wechsel der „mansion", in der gerade gespielt wurde, eine schnelle Aufeinanderfolge der Szenen u n d ein häufiger Austausch des Schauplatzes ermöglichen ließ. 1 Es handelte sich hier im wahrsten Sinne des Wortes u m „Kammerspiele". Mansionartige Architekturen wurden bereits im Trecento, bei Giotto selbst, vor allem aber bei seinen Nachfolgern, von der Malerei rezipiert. Sie bedeuteten dort aber nur ein ikonographisches Motiv, wie jedes andere. Erst im Quattrocento wird diese von der Bühne, vom Theater übernommene Raumvorstellung mit einer spezifischen ästhetischen Funktion verwendet und zwar begreiflicherweise gerade dann, wenn es dem künstlerischen Gefühl gemäß war, den Beschauer grundsätzlich v o n a u ß e n in die Bildbühne hineinschauen zu lassen. Denn d a n n entsprach das Verhältnis von Kunst- und Realraum dem Verhältnis, das auch bei den Mysterienspielen zwischen dem Publikum u n d dem Spiel in der „mansion" herrschte. Von diesen Gesichtspunkten aus erscheint auch die Vorliebe der Künstler, Vorhangsabbreviaturen in Gestalt von Festons, Guirlanden oder wenigstens Ketten vor den mansionartigen R ä u m e n aufzuhängen, doppelt begreiflich. Das Bühnenmäßige der ganzen Anlage soll nicht vergessenwerden, das Bühnenmäßige, das j a innerhalb unserer Untersuchungen stets als ein entscheidendes Betrachtungsprinzip erkannt werden konnte. Aus den J a h r e n 1476—77 s t a m m t das Fresko des Melozzo da Forli im Vatikan, welches Papst Sixtus IV. mit seinen Nepoten u n d dem knienden Bibliothekar Piatina darstellt. Die Figuren befinden sich in der vordersten Zone einer monumentalen Pfeilerhalle, deren vorderer Abschluß mit der Bildfläche zusammenfällt. Wir schauen wieder, wie bei einem Guckkasten, von außen in die Architektur hinein, eine Raumauffassung, die schon durch 1

O. Fischel: Über Mysterienbühnen. Sitzungsberichte d. Berl. kunsthist. Ges. 1928/29.

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ihre Grundlage die ästhetische Distanzierung ausdrückt. Das Gewand des knienden Piatina gleitet jedoch über die Schwelle der Architektur hinaus, wenn auch die begrenzenden seitlichen Pfeiler noch weiter vorspringen, sodaß diese Grenzüberschneidung nicht eigentlich aus der Bildsphäre selbst herausdringt. Vor allem aber weist Piatina auf eine Inschrifttafel am unteren Bildrande hin, der im Grunde der gemalte Rahmen des Bildes ist, mit einer Gebärde, deren Deutlichkeit ebenso dem Papste wie dem Beschauer gilt. Vier Jahre vor dem 1481 entstandenen Andeburg-Grabmal Minos da Fiesole erscheint hier in ähnlicher Form der Übergang zum vierten Quattrocento. Dort überschnitt die Gestalt der Caritas, zwar noch in der Bildsphäre selbst verharrend, den sie umschließenden Rahmen und zwei kleine Putten traten über die Vorhangsebene hinaus in die Rahmenarchitektur hinein. Bei Melozzo stellt die durch die weisende Hand des Bibliothekars mit dem Bildgeschehen verbundene Inschrifttafel den Übergriff auf den Rahmen dar. Bereits ganz dem vierten Quattrocento angehörig sind nun die Kuppelfresken des Melozzo in der Capella di tesoro zu Loreto aus dem Jahre 1478. Diese mit unerhörtem perspektivischem Raffinement gemalte Scheinarchitektur ist ohne Mantegnas Vorbild in der Camera degli sposi nicht zu denken. Die aus den scheinbar von Fenstern durchbrochenen Gewölbekappen, wie plastische Körper in den Kirchenraum von außen hineinschwebenden Engel und die auf dem Kuppelgesimse kauernden Prophetengestalten besitzen eine bisher nie erreichte Illusionskraft. Die künstlerische Autonomie des vom Ende der sechziger bis zu den achtziger Jahren reichenden dritten Quattrocento im Gegensatz zu der von neuem einsetzenden außerästhetischen Bedingtheit im vierten, läßt sich wiederum kurz durch einige Daten aus der allgemeinen kulturgeschichtlichen Entwicklung parallelisieren. Nach der Periode einer auf das Konstanzer Konzil und die Beseitigung des Schismas folgenden Kirchlichkeit erstarkte in Florenz in der dritten Phase des Jahrhunderts unter den Medici die weltliche Macht wieder in außerordentlicher Weise. Humanistische Bestrebungen traten, besonders unter der Regierung des Lorenzo Magnifico, an die Stelle der kirchlichen. Künstler und Gelehrte verdrängten an Bedeutung und Einfluß die Priester. Angelo Poliziano, der Freund und Hofdichter des Lorenzo, und Pico della Mirandola wurden neben Anderen zu kulturtragenden Exponenten der Zeit. Enea Silvio Piccolomini, ein vollendeter Humanist nach antikem Vorbild, bestieg im Jahre 1458 als Pius II. den Stuhl Petri. Weisbach sagt mit Recht, es habe etwas Symptomatisches, wenn Enea Silvio „in einem Brief an den kaiserlichen Kanzler Kaspar Schlick, mit dem er seit 1442 in Korrespondenz stand, bekennt: Me nihil magis delectat quam hedera, quod est premium doctarum frontium". 1 In diesem Ruhmeskultus 1

Weisbach: Trionfi, S. 5ff.

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des Quattrocento liegt die stärkste Absage gegen die mittelalterliche Kirche und gegen das Christentum überhaupt, dessen erste Forderung stets die Demut geblieben war. Das Verlangen nach Ruhm wird jetzt durch den Platonismus philosophisch gerechtfertigt, indem „Marsilius Ficinus in seiner Schrift „Über die Liebe oder Piatons Gastmahl" die Ruhmesliebe als eine Wirkung des Eros ausdeutet."1 Wenn Pius II. auch schon 1464, bevor das dritte Quattrocento in der Kunstgeschichte einsetzte, starb, so beweist sein Pontifikat dennoch, in welchem Grade das Papsttum einer Verweltlichung und Rationalisierung im wissenschaftlichen Sinne ausgesetzt war. Zwar erwarb Pius II. im Jahre 1462 das Haupt des Apostels Andreas und legte diese Reliquie mit großem Pomp in der Peterskirche nieder. Aber auch diese Handlung wurde nicht eigentlich von religiösem Glauben diktiert, sondern eher von weltlichem Prestigegründen. „Aus seiner eigenen Relation geht hervor, daß er dies tat aus einer Art von Scham, als schon viele Fürsten sich um die Reliquie bewarben."2 Hierzu paßt der in der Lebensbeschreibung Pius' II. durch den Bibliothekar Piatina überlieferte Ausspruch des Papstes: „Wenn das Christentum auch nicht durch Wunder bestätigt wäre, so hätte es doch schon um seiner Moralität willen angenommen werden müssen". Obwohl Burckhardt betont, Piatina sei keine völlig authentische Quelle, so ist für uns dieser Ausspruch in seiner ganz im Sinne der Enzyklopädisten oder des 18. Jahrhunderts aufklärerischen Haltung ebenso wesentlich, wenn er nur die Denkweise des päpstlichen Bibliothekars und Vertrauensmannes spiegelt, als wenn er aus dem Munde Pius' II. selbst stammt.3 Auch der große Gegner Pius' II., Sigismondo Malatesta, Herzog von Rimini muß als typischer Vertreter des dritten, religiös unbelasteten Quattrocento angesprochen werden. Er regierte von 1432—79, so daß die Zeit seines Wirkens zwar das zweite Quattrocento auch mit umfaßt, geistesgeschichtlich betrachtet gehört er jedoch ganz in die dritte Phase des Jahrhunderts, deren Lebensstil er schon früher verwirklichte. Burckhardt nennt ihn einen „frechen Heiden". An Sigismondos Hofe versammelten sich gelehrte Philologen und Dichter, die sich an der Antike entzündeten. Zu Ehren seiner Geliebten, der schönen Isotta degli Atti erfolgte der Umbau von S. Francesco in Rimini durch Leone Battista Alberti, den berühmten Florentiner „uomo universale". Die Kirche war zum Grabmal der Isotta bestimmt. „Um dem päpstlichen Bannfluche zu entgehen, ließ Malatesta Isottas Bildnis abschaben und die Marmorinschrift des Grabmals mit einer Bronzeplatte verdecken, die mit einer anderen Inschrift versehen wurde."4 Eine größere Gotteslästerung, als eine christliche Kirche zum Grabdenkmal für eine Geliebte zu bestimmen, war bis dahin wohl kaum i Weisbach (a. a. O.) S. 5 ff. 3 Burckhardt (a. a. O.) Bd. II S. 178.

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* Burckhardt (a. a. 0.) Bd. II, S. 162. Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 197.

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vorgekommen. Und dennoch hatte Pius II., der Malatesta mit dem .Bannflüche belegte und in effigie verbrennen ließ, Verständnis für die wertfreie Größe von Sigismondo6 Persönlichkeit. Er sagte von ihm: „Sigismondo kannte die Historien und besaß eine große Kunde der Philosophie; zu allem, was er ergriff, schien er geboren."1 Diese Worte sind ebenso bezeichnend für den großen Condottiere, wie für den Papst. Sie sind unter der Voraussetzung, daß man der Unmöglichkeit eingedenk bleibt, eine sich vollständig deckende zeitliche Kongruenz aus sämtlichen Kulturemanationen konstruieren zu können, auch für unsere Untersuchung von Bedeutung. Innerhalb dieser Zusammenhänge ist es nicht weiter erstaunlich, wenn die aus dem Ruhmkultus nach dem Vorbilde antiker Triumphe hervorgehenden Fest- und Ehrenzüge auch auf das religiöse Zeremoniell übergreifen. Bei einer Fronleichnamsprozession in Viterbo, die unter der Anwesenheit von Pius II. zelebriert wurde, wurde die Gestalt Christi selbst wie in einem Triumphzug durch die Stadt gefahren. „Der Heiland wurde von einem lebendigen Manne dargestellt, der bis auf ein Schamtuch ganz nackt war, die Dornenkrone auf dem Haupt, das Kreuz auf der Schulter, und es sah aus, als ob er Blut schwitzte." 2 An dieser Tatsache erkennt man, wie schwer kulturhistorische Erscheinungen eine eindeutige Begriffsbildung zulassen, wie stark 6ich der historische und der geistesgeschichtliche Zeitbegriff unterscheiden. Innerhalb einer Entwicklung, deren Entfremdung von kirchlichen Inhalten wir gerade anzudeuten versuchten, erscheint dennoch ein Phänomen, das unter Benutzung der nämlichen unchristlichen, antikischen Institutionen gerade eine, im wahren Sinne des Wortes, s c h r a n k e n l o s e Vergegenwärtigung religiöser Vorgänge ermöglicht. Die mitleiderregende Gestalt des „Schmerzensmannes" wird, durchaus den Tendenzen des 14. Jahrhunderts vergleichbar, in stärkstem Naturalismus, greifbar nahe, ungetrennt und distanzlos mitten durch das Volk gefahren ! Man muß diese Tatsache als eine auch zeitlich durchaus entsprechende Parallele zum heteronomen zweiten Quattrocento in der Kunst ansehen, ebenso wie die erwähnte Karfreitagsaufführung des Roberto da Lecce aus dem Jahre 1448, obwohl die Gestalt Pius' II. mit seiner humanistischen Wissenschafts- und antikischen Ruhmkultur der autonomen dritten Phase des Jahrhunderts zugehört. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 waren durch die griechischen Emigranten in Italien die humanistischen Studien neu angeregt worden. 1470, als das künstlerisch autonome dritte Quattrocento in höchster Blüte stand, wurde in Florenz die Akademie zur Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 197. ' Weisbach (a. a. O.) S. 15. 1

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Erforschimg der Platonischen Philosophie gegründet, und wenn auch der Piatonismus hier in Verbindung mit neuplatonischen u n d mystischchristlichen Ideen gepflegt wurde, so bleibt doch die entscheidende Lösung von der Kirche als dem eigentlichen Kulturzentrum bestehen. Höfische Empfindsamkeit und Eleganz der Umgangsformen beherrschten die Oberschichten, von denen auch die K u n s t genährt wurde. U n d deshalb k o n n t e sie unbelastet aus formfremdem Gebiet ihre Blüten treiben. Der Piatonismus wird hier lediglich als eine Parallele zu der gleichzeitigen ästhetischen Immanenz der K u n s t angeführt. E r ist selbst in keiner Weise in die Kunst eingegangen und konnte sie daher nicht heteronomisieren. Es h a t vorher eine christlich-religiöse, aber nie eine platonistische K u n s t gegeben. Die Verschwörung der Pazzi im J a h r e 1478, in die P a p s t Sixtus I V . u n d Francesco Salviati, der Erzbischof von Pisa, verwickelt waren, beweist, welcher Verweltlichung u n d Politisierung der Clerus ausgesetzt war, und wie er um seinen Primat kämpfen mußte. „Bei den Florentinern, so oft sie sich der Medici entledigen oder entledigen wollten, galt der Tyrannenmord als ein offen zugestandenes Ideal. So stellte Alamanno Rinuccini in einem Dialoge von der Freiheit die T a t der Pazzi der des Brutus u n d Cassius ebenbürtig an die Seite und beklagte ihr Mißlingen." 1 Der H a u p t m a n n , der zur Ermordung der Medici von den Pazzi gedungen war, wollte die T a t nicht im Dome vollziehen. „An seiner Stelle verstanden sich zwei Geistliche dazu, „die der heiligen Orte gewohnt waren und sich deshalb nicht scheuten", wie es in einem zeitgenössischen Berichte heißt." I n diesen Worten enthüllt sich das leere und schale Gewohnheitschristentum dieser Generation mit aller Schärfe. Giuliano de'Medici wurde von den Verschwörern ermordet, sein Bruder Lorenzo jedoch ging als Sieger aus diesem Streit hervor, und sein Hof wurde zum Brennpunkt aller geistigen und künstlerischen Interessen. I m J a h r e 1477 malte Botticelli, wahrscheinlich im Auftrage des Lorenzo Magnifico selbst, seine berühmte „ P r i m a v e r a " , in der sieb der Ideenkreis des damaligen florentiner Humanismus genau spiegelt. Und wenn m a n auch in dieser Tatsache eine Belastung f ü r die Kunst sehen könnte, so geschieht diese Belastung doch nicht aus einem fremden, sondern aus einem selbst ästhetischen Gebiet heraus. Die humanistischen Dichter am Mediceerhofe h a t t e n Botticelli mit den antiken Mythen und Motiven vertraut gemacht. Ob nun die ,,Primavera", wie Dvorak meint, direkt auf den im Kreise des Lorenzo viel gelesenen antiken Dichter Fulgentius und sein „Mythologicon" zurückgeht, oder, was wahrscheinlicher ist, auf Polizians berühmtes Gedicht, in welchem die „ G i o s t r a " verherrlicht wurde, das große Turnier im J a h r e 1475, aus dem der später ermordete Giuliano als Sieger hervorgegangen war, das ist in diesem Zusammenhange gleichgültig. Jedenfalls 1

Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 49 f.

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handelt es sich bei jenen Giostren der Medici um „antikisch verbrämte Kampfesspiele einer die Chevälerie nachahmenden, politisch mächtig gewordenen K a u f m a n n s c h a f t , " und um einen grundsätzlich unchristlichen, unkirchlichen Vorstellungskreis, dessen Geltungsbedürfnis nicht die esoterische Sphäre von K u n s t u n d Wissenschaft zu überschreiten beabsichtigte oder seiner gesamten inneren S t r u k t u r nach auch nur vermochte. 1 Bei einem trionfo zu E h r e n Johannes des Täufers läßt Lorenzo Magnifico inmitten der Prozessionswagen mit religiösen Symbolen vier antike Triumphe erscheinen. Der Wandel gegenüber der erwähnten Fronleichnamsprozession in Viterbo ist offenbar. Die Erkenntnis der Vergänglichkeit alles Irdischen wurde nicht, wie im Mittelalter u n d in den christlichen Phasen des Quattrocento, zur Quelle eines aufs Transzendente gerichteten Lebens, dessen Erfüllung erst das Jenseits bringen konnte, sondern begründete jene zwar mit einer gewissen „morbidezza" vermischte, immanente Lebensfreude, die in den b e r ü h m t e n , zu einer Trionfoszene mit Bacchus u n d Ariadne gedichteten Versen des Lorenzo de'Medici so vollkommen zum Ausdruck gelangt : „ Q u a n t ' è bella giovinezza Che si fugge t u t t a v i a Chi vuol' essere lieto sia Di doman' non è certezza!" Der Typ der jungen Simonetta Vespucci, Giulianos schwindsüchtiger Herzensdame, ging in die Frauengestalten nicht nur der Kunst ein, er wurde auch im Leben zum gesellschaftlichen Ideal der Zeit, die ebensosehr Distinktion im gesellschaftlichen wie unnahbare Distanziertheit im ästhetischen Sinne des Wortes zu ihrem Grundverhalten gemacht hatte. Auch Botticellis „ G e b u r t der Venus" folgt einer Schilderung des Polizian in seiner „Giostra". Antike Vorbilder werden allenthalben verwendet, die Figur der Venus selbst ist beinahe eine Wiederholung der sogenannten mediceischen Venusstatue, von der römische Kopien schon zu Botticellis Zeit bekannt waren. Seine Gemälde in Florenz und London, die Pallas und den Kentauren oder Mars und Venus darstellen, sind abhängig von antiken Sarkophagreliefs. 2 Auch der Gewandstil Botticellis und seiner Zeitgenossen spiegelt den Einfluß antiker Vorbilder. Saxl und Warburg haben nachgewiesen, wie von den Künstlern gerade bei der Darstellung von Bewegungsausdruck und P a t h o s auf die Antike zurückgegriffen wurde. 3 Auch in der Literatur wurden bei der Schilderung bewegter Vorgänge Vorbilder aus der Antike zu R a t e gezogen. So folgt z. B. Polizian bei der Darstellung des 1 2 3

Saxl: Rinascimento dell'antichità. Repertorium f. Kunstwissenschaft. X L I I I S. 255. Tietze-Conrat : Botticelli and the antique. Burlington Magazine. 1925. Saxl (a. a. O.) S. 223 f. 7

Michalski.

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Raubes der Europa in seiner „Giostra" den „Metamorphosen" des Ovid. „Nirgends aber offenbart sich die wiedererwachte heidnische Pathetik stärker als in jenem Drama des „Orfeo", das der junge Polizian, durchglüht von Leidenschaft für die Antike, in wenigen Tagen niederschrieb und in den bildlichen Darstellungen der Renaissance vom Ende des thrazischen Sängers." Durch dieses Drama aus dem Jahre 1471 prägt Polizian „die Form für das heidnisch wilde Erleben des Renaissance-Menschen." 1 Gegen die antikisch bewegten, beschwingten Gestalten in der Kunst eifert bezeichnenderweise später Savonarola, da er in ihnen wesentliche Exponenten der zu bekämpfenden Kulturstufe erkennen mußte. Und ausdrücklich nimmt er Anstoß an dem flatternden Schleier der die Obstschale tragenden Dienerin auf Ghirlandajos Fresko mit der Geburt Johannes des Täufers in S. Maria Novella, obwohl gerade dieser bekleideten Frauengestalt nichts „Unkeusches" oder Heidnisch-Wildes anhaften konnte. Nicht nur weil von dem klassischen 5. Jahrhundert der Griechen zu jener Zeit noch keine klare Vorstellung herrschte, sondern auch aus einer inneren Affinität heraus griff das Quattrocento zu den Kulturformen des Hellenismus, des antiken Barock, der den schon mehrfach beobachteten barocken Tendenzen des 15. Jahrhunderts sehr entgegenkam. Warburg sieht im Wiederaufleben der hellenistischen Astrologie „die Parallele zu jener Wiedergeburt der antiken Ausdrucksformeln für die körperliche und seelische Erregung". 2 Marsilio Ficino verehrt den Saturn als seinen Dämon. „Ihn schaut man als unklassisch erregenden Götzen!" In seiner Schrift „De vita triplici" beschäftigt sich Ficino mit den Sterngottheiten, mit schützenden Amuletten, Heilrezepten und den wunderbaren Kräften, die den Strahlen der Sterne innewohnen. „Den gestirngemäßen Weg zu einer unsterblichen vita contemplativa will Ficino in diesem Buch „De vita coelibus comparanda" die Menschen erkennen lehren." Die Nachwirkung dieser Schrift des Ficino reichte unter Überspringung der vierten Phase des Quattrocento bis in die Hochrenaissance hinein und lebt vor allem in Dürers Stich der „Melancholie" wieder auf. Cossas Fresken im Palazzo Schiffanoja zu Ferrara stellen ein „auf die Ebene übertragenes Sphärensystem" dar. Es wird deutlich, „wie entsetzlich lebendig, wie unklassisch erregend die antiken Dämonen für den Frührenaissancemenschen sein konnten." Die Fremdheit den Inhalten der christlichen Kirche gegenüber kann nicht drastischer bezeichnet werden, als es Saxl tut. 3 Aus dem Jahre 1485 stammt Domenico Ghirlandajos Fresko der „Bestätigung der Franziskanerregel" in S. Trinita zu Florenz. Hier vollzieht 1 2 3

Saxl (a. a. O. S.) 224f. Saxl (a. a. O. S.) 227—32. Nach Warburgs Aufsatz: Francesco Sassetis letztwillige Verfügung. In: Kunstwissensch. Beiträge f. Aug. Schmergow, Leipzig 1907.

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sich in bisher unbekanntem Ausmaße das Eindringen der zeitgenössischen Umwelt in das religiöse Geschehen. Der Stifter und seine Söhne haben sich im Vordergründe darstellen lassen. Entscheidend aber ist, daß auf dem Bilde „auch Lorenzo de' Medici, dem Polizian seine Kinder zuführt, die Personen der Legende gleichsam patronisiert." Deutlicher kann der höhere Rang des Weltlichen dem Geistlichen gegenüber nicht zum Ausdruck gebracht werden. (Die von unten eine Treppe heraufkommenden Gestalten werden unbedenklich vom Bildrahmen überschnitten. In dieser außerordentlich krassen Verdeutlichung der Macht, welche die ästhetische Begrenzung hier besitzt, tritt für uns, ohne jede weitere Assoziation, bereits die grundsätzliche Unbeschwertheit dieser Kunst von kirchlichen Inhalten zutage.) „So stark ist der Wandel der offiziellen Formensprache, daß selbst ein kunsthistorisch allgemein gebildeter Zuschauer unvorbereitet in Domenicos Fresko zunächst alles eher suchen würde, als eine Szene aus der heiligen Legende." Dennoch erfällte Francesco Sassetti durch die Stiftung dieser Fresken ein Gelübde, mit dessen Befolgung er es, wie wir durch Warburgs Forschungen wissen, sehr ernst nahm. Aber die subjektiv vorhandene Religiosität des Individuums konnte nicht ein tragender Gedanke dieser Zeitphase werden, konnte sich nicht der Kunst als verbindlicher Ausdruck aufprägen. In diesem Zusammenhang ist es auch typisch, wenn Saxl sagt: „Als kirchlicher Donator läßt Rucellai an der von ihm gestifteten Fassade von S. Maria Novella das heidnische Emblem der Fortuna anbringen. Und ungestörte christliche Gefühlsgewohnheit, sich fromm in Gottes unerforschlichen Ratschluß zu ergeben, erlaubt ihm dennoch, sich im Sinne heidnischer Philosophie die Frage vorzulegen, ob denn menschliche Vernunft und praktische Klugheit etwas gegen die Zufälle der Fortuna, des Schicksals, vermögen, und sich von Marsilio Ficino, dem geheimen und göttlichen Geiste Piatos entsprechend, eine durchaus weltliche Instruction für den Kampf mit der Fortuna geben zu lassen." 1 In dem Symbol der humanistischen Fortuna sehen Warburg und Saxl für den Menschen des Quattrocento „ein Mittel zum Ausgleich zwischen Heidnischem und Christlichem." Jedenfalls bildete die neben der apollinischen stark in den Vordergrund tretende dionysische Komponente der Kultur des dritten Quattrocento, durch ihre astrologischen Geheimlehren, ihre mystische Symbolik und ihren Determinismus, ebenso wie bereits in der alexandrinischen Spätantike, den Nährboden für einen Rückschlag ins Christliche, der nunmehr in den achtziger Jahren des Quattrocento einsetzt. Für den Kunsthistoriker war der neue religiöse Impuls durch das abermalige Auftreten der Überschneidung der ästhetischen Grenze in der Kunst bereits zu erwarten. Polizian selbst, der noch 1480 den Lehrstuhl 1

Saxl (a. a. O.) S. 262. 7*

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f ü r griechische und römische Literatur an der Florentiner Akademie erhalten h a t t e , wurde im J a h r e 1486 Kanonikus der Kathedrale von Florenz. Ob dieser humanistische Denker und Schriftsteller, dessen Vorstellungskreis bisher von heidnisch-antiken Mythen gespeist worden war, n u n wirklich an dem Rückschlag zu einer neuen Religiosität menschlich teilnahm, oder ob er n u r der Strömung folgend, Amt und Würde eines Kanonikus aus gesellschaftlichen Gründen annahm, bleibt innerhalb unserer Untersuchungen gleichgültig. Die Rückkehr in den Schoß des Glaubens und der Kirche dokumentiert sich jedenfalls gleichzeitig auch aufs deutlichste in der geistigen Entwicklung des Pico della Mirandola, dessen Neuplatonismus immer mehr eine mystisch-christliche, j a eine asketische F ä r b u n g annahm. Dabei war er im Jahre 1486 noch wegen seiner „Conclusiones philosophicae cabalisticae et theologicae" der Ketzerei angeklagt, wenn auch d a n n freigesprochen worden. Wir beobachten hier den gleichen geistesgeschichtlichen Vorgang, den wir beim Übergang vom künstlerisch autonomen ersten zum heteronomen zweiten Quattrocento an dem Beispiel des Lorenzo Valla verfolgen k o n n t e n , des Epikureers und Kirchengegners, der die konstantinische Schenkung anfocht und schließlich doch sein Leben als Kanonikus im L a t e r a n beschloß. Die neue religiöse Begeisterung kulminierte in der Bewegung, die von dem Dominikaner Savonarola entfesselt wurde, der 1490 Prior des Klosters S. Marco in Florenz geworden war und seit dem J a h r e 1494 eine große Wirksamkeit gegen die Tyrannis und die Weltlichkeit des Lorenzo de' Medici entfaltete. Friedell nennt diese Aktion des fanatischen Mönches mit Recht den „letzten heroischen Versuch, den neuen Geist zu ersticken und zur Gotik zurückzufinden." „Nach der Flucht der Medici im J a h r e 1494 n a h m m a n aus ihrem Palaste Donatellos Bronzegruppe der J u d i t h mit dem t o t e n Holofernes und setzte sie vor den Signorenpalast an die Stelle, wo später Michelangelos David stand, mit der Inschrift: exemplum salutis publicae cives posuere. 1495." 1 Es ist interessant zu beobachten, wie Donatellos heteronomes Kunstwerk aus der zweiten Phase des Quattrocento gerade j e t z t zu neuen Ehren gelangt, da von der K u n s t wieder die Erfüllung eines außerästhetischen Zweckes verlangt wird. Die J a h r e 1497, in welchem Savonarola mit dem B a n n belegt, u n d 1498, in dem er gefoltert, gehenkt und verbrannt wurde, bedeuten geistesgeschichtlich den Abschluß des vierten Quattrocento, wie des Quattrocento überhaupt. Aber auch hier wollen wir es nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß der historische Zeitbegriff grundlegend unterschieden ist von dem geistesgeschichtlichen, d a ß aber vor allem auch der geistesgeschichtliche selbst wiederum als für jeden Zweig selbständig u n d in einem eigenen R h y t h m u s ablaufend anzusehen ist. Kunstwerke, die innerlich dem vierten Quattrocento angehören, 1

Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 50.

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findet man bis in die nunmehr wirklich einsetzende Zeit der Kenaissance hinein. Es handelt sich hierbei jedoch um Künstler, deren Geburtsjahre noch ins Quattrocento fallen. In den Karnevalstagen der Jahre 1495—97 fanden in Florenz große Autodafes statt. Maskenkleider, Schmuck, Toilettengegenstände, Parfüms, Spiegel und Schleier wurden verbrannt zusammen mit den Schriften antiker Dichter, mit den Werken des Boccaccio und Petrarca. Auch Werke der bildenden Kunst wurden der Vernichtung preisgegeben: Miniaturen, Gemälde mit der Darstellung weiblicher Schönheit, antike Skulpturen und vor allem sämtliche bis dahin entstandenen Gemälde des Fra Bartolommeo, die der Künstler unter dem Einfluß des Savonarola freiwillig opferte. 1 Erst im Jahre 1504 begann Fra Bartolommeo wieder zu malen. Der asketische Fanatismus des Savonarola hat, wie es ganz selten geschieht, nicht nur den Wert einer allgemeinen geistesgeschichtlichen Parallele, sondern er hat bei vielen Künstlern eine Veränderung des Weltbildes und des Stils geradezu bewirkt. Daß aber die Kunstentwicklung den Keim zu einer erneuten ästhetischen Umstellung auch ohne das Eingreifen Savonarolas bereits in sich trug, beweist Mantegna, der ja, fern von Florenz und Rom, übergangslos aus dem heteronomen zweiten Quattrocento in das vierte hinüberleitete, ebenso wie die Entwicklung des Melozzo da Forli, vor allem aber das Andeburg-Grabmal des Mino da Fiesole das in Florenz selbst bereits im Jahre 1481, lange vor der Wirksamkeit des Savonarola und vor anderen Anzeichen einer religiösen Rückkehr, die Bereitschaft der Kunst, eine außerästhetische Belastung zu empfangen, durch die Labilität des ästhetischen Grenzgefühls zum Ausdruck gebracht hatte. Auch an diesem Punkt der Entwicklung taucht, wie in allen heteronomen Kunstphasen, die Schutzmantelmadonna an hervorragender Stelle wieder auf. Domenico Ghirlandajos Madonna della Misericordia in der Kirche Ognissanti zu Florenz, eine Stiftung der Familie Vespucci, stammt aus der Zeit um 1480. Unter den Künstlern, die durch Savonarola eine umwälzende Veränderung erfuhren, nimmt Botticelli die erste Stelle ein. Ebenso wie er sich früher den höfischen humanistischen und antikischen Vorstellungen des Mediceer-Kreises hingegeben hatte, bringt er in seinen späten Andachtsbildern die Askese und die religiöse Einkehr nicht ohne das Pathos eines religiösen Propagators zum Ausdruck, der eine bestimmte Wirkung zu erzielen beabsichtigt. Etwa in das Jahr 1494, das Jahr, in dem Savonarolas Wirksamkeit beginnt, gehört der „Heilige Augustinus" in den Uffizien (Abb. 23.) Der Kirchenvater sitzt an einem Schreibpult in seiner engen Zelle, vor der an einer Stange ein Vorhang hängt, der gerade zur Seite geschlagen ist. Diesmal ist es der Vorhang selbst, der die rahmende Architektur überschneidet und somit aus dem gemalten Kunstraum in den Real1

vgl. Burckhardt (a. a. O.) Bd. II S. 159.

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räum hinaus zu greifen scheint. In der Tatsache, daß hier nicht der Vorhang, sondern die Rahmenarchitektur die vordere Bildebene „absteckt", liegt der grundlegende Unterschied z. B. gegenüber dem Grabmal des Michelozzo in San Angelo a Nilo in Neapel. Ein anderes Vorhangsbild, die Madonna mit dem Kinde und dem kleinen Johannesknaben, des Vincenzo Foppa, die sich in der Sammlung Genoulhiac-Frizzoni in Mailand befindet, verkörpert den reifen Typ des die ästhetische Grenze überschreitenden Bildes im vierten Quattrocento. (Abb. 24.) Maria schaut wie aus einem Fenster heraus, dessen Gardine zur Seite gezogen ist. Der kleine Johannes streckt seinen Kopf hervor und das auf einem Kissen sitzende Christkind ragt aus der Fensteröffnung. Die beiden Darstellungen der Beweinung Christi von Botticelli, die sich in der Münchener Pinakothek und im Museo PoldiPezzoli in Mailand befinden, zeigen auch in morphologischer Hinsicht die Rückkehr zu einem gotisierenden, mit der religiös gebundenen Kunst des Mittelalters verwandten Stil unter dem Einfluß des Savonarola. Dieser hatte die Darstellung der Passion Christi als den vornehmsten Zweck der Kunst hingestellt, und so widmete sich auch Boticelli diesen Inhalten, die er bisher nie zu gestalten versucht hatte. Wir wissen, daß er sogar in der Komposition, der Raumgestaltung und in den Gebärden ganz den anschaulichen Schilderungen des wortgewaltigen Mönches folgte, die dieser in seinen Predigten gab, von denen Pico della Mirandola berichtet, sie hätten die überwältigten Zuhörer in wildes Weinen ausbrechen lassen. Eine beinahe schon barocke Bewegung erfüllt alle diese Kunstwerke, ein krampfhaftes, ekstatisches, religiöses Erlebnis schüttelt die Menschen, wird von ihnen reflektiert und nach außen weiter gegeben. Parallel zu der Entwicklung Boticellis geht die fast aller Künstler der Zeit, unter denen vor allem Filippino Lippi in Florenz und Francesco di Giorgio in Siena zu nennen sind. Luca Signorellis Fresken in Orvieto (1499—1505), welche die „letzten Dinge" darstellen, hat Dvorak mit Recht eine bildnerische Parallele zu den Predigten Savonarolas genannt. „In den Bogenzwickeln treten die Figuren bis zu greifbarer Nähe dem Beschauer entgegen, breiten sich am Rande der Darstellung vor seinen Augen aus" und die Figuren des „Jüngsten Gerichts", besonders die Verdammten, „sind nicht für diese idealenSphären sondern für den irdischen Zusammenhang erfunden."1 Zu einer ganz merkwürdigen Formation gelangt die Kunst des vierten Quattrocento in Neri di Biccis „Geburt Christi" im Tabernakelrahmen. (Abb. 27).2 Die eigentliche Szene wird von einem oben abgerundeten Rahmen umschlossen. Dieser Rahmen ruht wiederum auf einer von elfenbeinernen Füllhörnern gebildeten (gemalten) Konsole. Von oben fällt, wie 1 8

Dvorak: Gesch. d. ital. Kunst, (a. a. 0.) S. 170. Katalog d. Sammlung Joseph Spiridon. Paris. Herausgegeben von Oskar Fische], Berlin 1929. Nr. 57.

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ein Zeltdach, ein Baldachin hernieder, dessen verhüllender Brokatstoff vor dem inneren Bilde, der Geburt Christi, durch zwei Engel beiseite geschlagen wird. Die Engel fassen die Draperie mit den Linken, stoßen mit den Gesichtern an den Rahmen des inneren Bildes, das sie beide mit scharf gewendetem Kopfe betrachten. Die ganze Tafel ist den äußeren Umrissen des Baldachins folgend ausgesägt. Fischel glaubt, es hier mit dem Teil einer vorübergehenden kirchlichen Festdekoration zu tun zu haben. „In seiner seltsamen Form könnte das Stück zur Verhüllung des Sakraments oder auch zum Aufsatz eines Triumphwagens gedient haben." Jedenfalls ist die eigenartige Grenzverwischung dieser Tafel nur aus einer unmittelbaren kirchlichen Gebundenheit zu erklären. In der Plastik ist ein sehr bezeichnendes Beispiel für die Kunst des vierten Quattrocento die Christus- und Thomas-Gruppe des Verrocchio (1476—83). Die Figuren treten weit aus Donatellos und Michelozzos streng komponiertem Nischentabernakel an Or San Michele heraus, das aus dem Jahre 1423 stammt. Auf diese Weise setzen sich die Gegensätze der ersten und vierten Phase der Quattrocentokunst auf engem Räume auseinander. Als typischstes Beispiel einer die ästhetische Grenze nicht nur überschreitenden, sondern sie garnicht anerkennenden Kunst, muß die bologneser und modeneser Tonplastik dieser Zeit angesprochen werden. Hier ist der Illusionswille, dieTäuschungsabsicht so stark, daß beinahe Panoptikumwirkungen erreicht werden. DerUnwirklichkeitsakzent, der auch einer die Kluft zwischen Real- und Kunstraum überbrückenden und verwischenden Kunst stets innewohnt, ist hier fast ausgelöscht. Von Donatellos wild bewegtem Paduaner „Grablegungsrelief" und seiner um 1450 entstandenen expressiv-naturalistischen „Beweinung Christi" im Victoria und Albert-Museum in London leitet die Tongruppe der Pietä Niccolos da Bari in S. Maria della Vita zu Bologna (um 1463) ihren künstlerischen Ursprung her.1 Dieses, wie Donatellos Reliefs, zeitlich noch dem zweiten Quattrocento angehörende Werk bildet in formengeschichtlicher Beziehung die Brücke zu der großen Reihe von Bildwerken verwandten Charakters. Niccolo stammte aus Apulien, der Heimat der Weihnachtskrippen, ephemerer, nur zum Weihnachtsfest aufgestellter Gruppen, deren Sinn es gerade war, mitten in das Leben der Menschen zu dringen und ihnen die Geburt Christi so nah und so gegenständlich wie möglich vor Augen zu führen. Die wild bewegten, sich ihrem Schmerz hemmungslos hingebenden Tonfiguren des Niccolo stehen, in keiner Weise aus dem Realitätszusammenhang isoliert, auf dem Fußboden der Kirche. Der Gläubige kann unbehindert an sie herantreten, zwischen ihnen umherwandeln, ja erst dann wird sich die Gruppe überhaupt dem Betrachter ganz erschließen, da bei jeder Ansicht von einem außerhalb befindlichen Stand1

vgl. Schubring: Niccolo da Bari. Zeitschrift f. bildende Kunst. 1904. S. 209ff.

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punkt einzelne Figuren verdeckt werden. Ihre Blüte erlebte diese Tonplastik erst im vierten Quattrocento. Der Modenese Guido Mazzoni schuf 1477—80 seine naturalistisch bemalte Pietà für S. Giovanni in Modena, stark von Niccolo da Bari beeinflußt. Mazzonis Krippe in der Krypta des Doms zu Modena war Jahrhunderte lang durch die greifbare Wirklichkeitsnähe der die Suppe für das Kind kühlenden Dienerin berühmt. Die hohe religiöse Ekstase des späten Donatello oder des späten Botticelli wird hier volkstümlich wirksam. Und es erscheint als kein Zufall, daß Jacob Burckhardt sich bereits bei der Beschreibung einer sehr veristischen Karfreitagsaufführung aus dem Jahre 1448 an Mazzoni erinnert fühlt. Gemeinsam ist beiden die grundsätzliche Negierung des autonomen Kunstraumes. In den gleichen künstlerischen Zusammenhang gehören der Sienese Giacomo Cozzarelli, ein Schüler des Francesco di Giorgio, mit seiner Pietà in der Osservanza bei Siena und Agostino dei Fonduti mit seiner 1491 bemalten Pietà in S. Satiro zu Mailand. Schubring sagt von dieser Gruppe, die alle Altersstufen vom Säugling bis zur Jungfrau, vom Jüngling bis zum Greis, alle Klassen und Rassen umfaßt, — sogar eine Negerin ist dabei — : „Für jeden Beter ist also gesorgt, daß er zu einem gleichaltrigen aufschauen kann, der das Stammeln seiner Lippen begreift." 1 Deutlicher kann die beabsichtigte Verbindung mit dem Beschauer nicht gekennzeichnet werden. Bode erwähnt, daß in Florenz freiplastische Gruppen, welche die Pietà, die Beweinung oder die Grablegung darstellen, erst auf die Forderung hin, die Savonarola an die Kunst stellte, bei Giovanni della Robbia vorkommen.2 Bezeichnenderweise waren diese Werke meist unglasiert, im Gegensatz zu den sonstigen Arbeiten des Meisters, da die Glasur durch ihren keramischen Charakter der Wirklichkeitsillusion Abbruch getan hätte. Den Einfluß der Bühne auf die modeneser Tonskulptur hat Venturi betont. 3 Mysterienspiele sind ja von jeher bis zum „theatrum sacrum" der Jesuiten in der Barockzeit das beliebteste und wirksamste künstlerische Instrument der Kirche gewesen. Und es erscheint als kein Zufall, wenn die naturalistisch bemalten Tongruppen, die aus einer früheren Zeit stammen, nicht etwa aus dem ersten oder dritten Quattrocento herrühren, sondern — abgesehen von dem noch unbemalten Werk des Niccolo da Bari — in das 14. Jahrhundert gehören, die Zeit, in der auch im Norden die große Blüte des Vesper- und Andachtsbildes sich entfaltet hatte. („Anbetung der Könige", S. Steffano, Bologna und „Grablegung", S. Anastasia, Verona). 4 1

2 3 4

Schübling: Handbuch der Kunstwissenschaft: Die Plastik d. Quattrocento in Italien, S. 231. Bode: Die Werke der Familie della Robbia. Berlin, 1914. Venturi: La scultura nel Rinascimento. Archivio storico dell'Arte. Bd. III S. 5 Weber: Antonio Begarelli, Zeitschrift f. bildende Kunst 1906 S. 274ff.

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Mit dem gegen das Ende des Jahrhunderts geborenen Antonio Begarelli, einem Schüler des Guido Mazzoni, dessen selbständige Arbeiten erst im zweiten Jahrzehnt des Cinquecento beginnen, geht die modeneser Tonplastik dann wieder in eine ästhetisch distanzierte Kunstphase über, da Begarelli seine Werke nie naturalistisch bunt bemalt, sondern ihnen eine marmorähnliche Tönung gibt, die Figuren nicht mehr auf das gleiche Niveau mit dem Beschauer stellt und das Ganze auf eine einheitliche Ansicht hin komponiert. Unsere Betrachtungen haben bisher die Architektiur als solche beiseite gelassen, da sie als innerlich stets unmittelbar zweckbestimmte Kunst für die Erörterung des Eigengesetzlichkeitsproblems nicht geeignet ist. Außerdem liegt es ja im Wesen jeder reinen, nicht von plastischen oder malerischen Hilfsmitteln durchsetzten Architektur, stets Realräume zu schaffen und zu umfangen, so daß der Gegensatz von Kunst- und Realraum, auf dem unsere Untersuchungen fußen, von selbst fortfällt. Dennoch soll hier, nur um zu zeigen, wie der raumverschleifende Illusionismus des vierten Quattrocento sogar auf ein ihm innerlich fremdes Gebiet übergreift, des Scheinchors von S. Maria presso S. Satiro in Mailand Erwähnung getan werden, der auf Bramante zurückgeht. Da der Chorarm dieses Zentralbaus wegen einer vorüberfahrenden Straße nicht entsprechend ausgebaut werden konnte, verkürzte Bramante den zu kurzen Chor durch eine Art von malerischer Bühnenperspektive, so daß für das Auge von einem bestimmten Standpunkt aus der Eindruck eines tiefen Chores hervorgerufen wurde. Solche malerisch-illusionistischen Kunststücke sollten bei einer realen Architektur erst wieder im Barock in Erscheinung treten. Nach diesem schmalen Querschnitt durch die italienische Quattrocentokunst, der uns den rhythmischen Wechsel von je zwei autonomen und zwei heteronomen Kunstphasen auf Grund unseres deskriptiven formalphänomenologischen Kriteriums offenbarte, ist es am Platze, unsere Resultate mit den auf formengeschichtlichem und ausdrucks-psychologischem Wege gewonnenen Ergebnissen Antals zu vergleichen. 1 Nach der sich von der Gotik abkehrenden Stilstufe des Masaccio entsteht für Antat eine Regotisierung bei Nanni di Banco, bei dem Donatello der dreißiger Jahre, bei Gentile da Fabriano und bei Masolino. Auf diese Phase folgt wiederum „ein Entlehnen statuarischer Motive aus der Antike im Dienste des Naturalismus, wobei die Ausdrucksprobleme und die Bewegungsdarstellungen zeitweilig in den Hintergrund treten müssen." Hierauf folgt ein Rückschlag durch die „Weiterentwicklung und Steigerung dieses Naturalismus in wiederum gotischem Sinne. Dieses Phänomen: eine kurze Zeit lang die 1

Aiital: Gedanken zur Entwicklung der Trecento und Quattrocentomalerei in Siena und Florenz. Jahrbuch d. Kunstwissenschaft. 1924. Studien zur Gotik im Quattrocento. Pr. Jahrbuch 1925.

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Antike zu studieren, u m mit dem Erlernten zur Gotik zurückzukehren u n d sie zu stärken, — ist eine Grunderscheinung der italienisch-gotischenKunstentwicklung." Von gänzlich abweichenden Gesichtspunkten aus wird hier ein dem unsrigen ganz paralleles Ergebnis gewonnen. Die Cäsuren liegen, wie wir es bei einer morphologischen Betrachtungsweise stets beobachten konnten, etwas anders verteilt. Aber es gehört j a zu unserer Grundanschauung, daß auch bei formengeschichtlicher Konstanz ein ästhetischer Wandel s t a t t f i n d e n kann. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß Antal, u m n u r ein Beispiel herauszuheben, Piero della Francesca als den unmittelbaren Fortsetzer der von Masaccio im Quattrocento eingeschlagenen Richtung ansieht. Wir dagegen erkannten ihn, trotz der sicherlich großen formalen u n d konstruktiven Verwandtschaft mit Masaccio, als einen typischen Vertreter der heteronomen, in ihrer Grundeinstellung der K u n s t des Masaccio gerade entgegengesetzten zweiten Stufe des Jahrhunderts. Das Wesentliche ist jedoch, daß auch von der morphologischen Seite her die grundlegende Abtrennung des Quattrocento von dem Begriffe einer Frührenaissance als notwendig empfunden wird. Dieses Quattrocento selbst wird von vier bedeutungsvollen Phasen durchfurcht, die Antal von seinem Standpunkte aus als einen Wechsel von formaler und ausdrucksmäßiger Ent- und Regotisierung ansieht, bei denen wir jedoch den Wechsel von künstlerischer Autonomie und Heteronomie in den Vordergrund stellen wollen. Auch aus der Kunstentwicklung in den nordischen Ländern lassen sich für das fünfzehnte J a h r h u n d e r t einige Beispiele von Vorhangsbildern herausgreifen, die sich durch ihre ästhetische Haltung in die Gliederung des J a h r h u n d e r t s fügen, deren Gültigkeit f ü r die italienische K u n s t ausführlich nachgewiesen wurde. Ungefähr u m das J a h r 1444 entstand das P o r t r ä t König Karls VII. von Frankreich von Jean Fouquet, das heute im Louvre hängt. (Abb. 25.) Dieses D a t u m fällt in die Zeit des heteronomen zweiten Quattrocento in Italien. Fouquet setzt die als Halbfigur sichtbare Gestalt des Königs in einen fensterartigen Ausschnitt, welcher rechts u n d links von einem Vorhang begrenzt wird, der von einer dem Bildrahmen parallel laufenden gemalten Querleiste herabfällt. I n derselben Weise, wie wir es im zweiten Quattrocento, z. B. bei Giovanni Santi beobachten konnten, schiebt sich der Körper des Königs in der unteren Bildhälfte über die Vorhangsebene hinaus. Die sich in gewaltiger Kurve aus der Bildtiefe nach vorn entwickelnden Arme treffen sich auf einem Kissen, das in den Realraum hineinzuragen scheint. Die ästhetische Grenze wird deutlich überschritten. Deshalb darf hier auch daran erinnert werden, daß dieser Karl VII., der so offensichtlich in einen Realitätszusammenhang mit dem Beschauer gebracht werden soll, es war, der nach siegreichem Kampfe 106

gegen die Engländer durch Jeanne d'Arc in Keims gekrönt wurde, und an dem sich dadurch die Wundertat einer Heiligen vollzog. In ihm prägte sich bereits in hervorragendem Maße das starke Souveränitätsbewußtsein der französischen Könige aus, denen auch religiöse Phänomene nur zur Stärkung ihres Herrschertums dienten. Renan hat das Wort von dem achten Sakrament geprägt, das Frankreich geschaffen habe: das Sakrament des Königtums. Und Renan betont auch, die heilige Johanna habe „nach dem Buchstaben der Religion von Reims" den König nicht vom heiligen Michael oder der hl. Katharina unterschieden. Im Jahre 1438, kurz vor der Entstehung von Fouquets Bildnis, erließ Karl VII. eine pragramatische Sanktion, durch welche nach den Beschlüssen des Basler Konzils die Freiheiten und Rechte der gallikanischen Kirche, die j a von jeher dem Papste gegenüber eine besondere Stellung eingenommen hatte, neu geregelt wurden. Die kirchliche Jurisdiktion wurde eingeschränkt und der königlichen untergeordnet. „Die Freiheiten, die der gallikanische Klerus gegenüber dem Papste dabei errungen hatte, lebten ganz und gar von dem guten Willen einer weltlichen Macht: des Königs."1 Doch dies geschah nicht im Sinne einer allgemeinen Verweltlichung, die der Kunst autonome Möglichkeiten hätte eröffnen können. Über die Kirche noch erhob sich in beinahe mystischer Weise das Herrschertum. Durch die Salbung wurde den Königen sogar die Macht verliehen, durch Handauflegung wundertätige Heilungen zu vollziehen. Aus dieser Gedankenwelt heraus wurde die Kunst, wie wir bereits an unserem formal-phänomenologischen Kriterium erkennen konnten, heteronomisiert. Bei der Betrachtung der Masaccio haben wir der Kunst des Jan van Eyck als einer nordischen Parallele zu der künstlerisch autonomen ersten Stilstufe des 15. Jahrhunderts Erwähnung getan. Jedoch auch in Eycks Schaffen machen sich um die gleiche Zeit, als auch in Italien das Heteronome zweite Quattrocento einsetzte, Anzeichen einer ästhetischen Umstellung bemerkbar. Panofsky betont richtig, daß Jan van Eyck den dreidimensionalen Raum von seiner Bindung an die Vorderebene des Gemäldes befreit hat. 2 „Bisher war die Räumlichkeit so dargestellt, daß sie — obgleich nach den Seiten und vielfach auch schon nach hinten weit fortsetzbar — doch ihren vorderen Abschluß mit der Bildebene erreichte; in Jan van Eycks „Kirchenmadonna" (Berlin) aber fällt der Beginn des Raumes nicht mehr mit der Grenze des Bildes zusammen, sondern die Bildebene ist mitten durch ihn hindurch gelegt, so daß er dieselbe nach vorn zu überschreiten, ja bei der Kürze der Distanz den vor der Tafel stehenden Beschauer mitzuumfassen scheint. Das Bild ist in den Maßen 1 s

Vossler: Frankreichs Kultur und Sprache, Heidelberg 1929 S. 191. Panofsky: Die Perspektive als „symbolische Form". Vorträge der Bibliothek Warburg 1924—25. Leipzig 1927. 107

und in dem Sinne zum „Wirklichkeitsausschnitt" geworden, daß der vorgestellte R a u m n u n m e h r nach allen Richtungen hin über den dargestellten hinausgreift." Deshalb datiert Panofsky mit Recht die „Kirchenm a d o n n a " als ein Werk des J a n k a u m vor 1433—34 und betont richtig, d a ß das Berliner Bild, welches dem H u b e r t v a n Eyck nur wegen einer Ähnlichkeit mit dem „Totenoffizium" aus den „Heures de Milan" zugewiesen wurde, sich dennoch grundlegend von diesen Miniaturen unterscheide, da m a n es dort noch nicht gewagt habe, „den R a u m durch den Bildrand so auszuschneiden, daß sein objektiver Anfang diesseits der Bildebene zu liegen scheint." Die späte Ansetzung des Bildes u n d somit seine Ausschaltung aus dem Werke des H u b e r t v a n E y c k stimmt völlig mit den aus unseren raumästhetischen Kriterien sich ergebenden Folgerungen überein. Es muß nur im Gegensatz zu Panofsky betont werden, daß das Auseinanderfallen von Raumbeginn u n d Bildgrenze nicht als ein Fortschritt schlechthin bezeichnet werden darf, da wir j a in der Entwicklung des italienischen Quattrocento beobachten konnten, wie doch stets wieder der vordere Abschluß der dargestellten Räumlichkeit mit der Bildebene zusammenfiel, sobald eine auf ästhetische Distanzierung abzielende K u n s t am Werke war. Aus der Zeit kurz nach 1475 s t a m m t die „ A n b e t u n g der H i r t e n " des Hugo van der Goes im Kaiser-Friedrich-Museum zu Berlin. (Abb. 26). Maria und Joseph knien, von einem Engelchor umgeben, im Stalle. Von links eilen erregt die anbetenden Hirten herbei, im Hintergrunde rechts erblickt m a n die Hirtenverkündigung. I n der vordersten Zone des Bildes halten zwei nur bis zu den H ü f t e n sichtbare, vom R a h m e n überschnittene Prophetengestalten rechts u n d links einen Vorhang, der an einer quer vor der gesamten Szene entlang laufenden reliefmäßig hervortretenden Stange aufgehängt ist. Die beiden Propheten greifen mit den Händen über die Vorhangsebene hinaus, der rechte hält die Draperie sogar hinter sich und tritt mit seiner ganzen Gestalt vor die Rampe. Die Abhängigkeit dieser Komposition des van der Goes von einem Bühnenbild, von einer Situation bei Mysterienspielen wurde von jeher betont. Friedländer sagt von diesem Bilde: „Die Männer des alten Bundes haben nach mittelalterlicher Vorstellung das Erscheinen des Heilands vorausgesagt u n d wurden gelegentlich als die Verkünder neben dem Verkündigten gezeigt. Mit persönlicher Schöpferkraft h a t v a n der Goes das theologisch Lehrhafte zum menschlich Ergreifenden, das geistig Beziehungsreiche zum Visionären gemacht." 1 Die Verkünderrolle der Prophetengestalten, das zum menschlich Ergreifenden gewandelte theologisch L e h r h a f t e ist j a gerade der entscheidende Zug, der stets das Wesen einer außerästhetisch bedingten K u n s t ausmacht. 1

Friedländer: Die alt-niederländische Malerei. Bd. IV. Hugo v. d. Goes. Berlin 1926, S. 52.

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Die Kunst des Hugo v a n der Goes m u ß zu dem vierten (Quattrocento in Italien in Parallele gesetzt werden, zu jener Stilstufe, in welcher die Künstler bis zur Exaltation religiöse I n b r u n s t und Versenkung in ihren Werken zum Ausdruck brachten und durch ihre Kunst einer spezifisch kirchlichen Missionsidee dienen wollten. Wie sehr dieses in Italien von Savonarola geschürte Aufflammen der religiösen Begeisterung eine allgemein europäische Zeiterscheinung war, beweist Hugo v a n der Goes als Persönlichkeit selbst. Das Psychologische t r i t t auch bei ihm, wie in jeder ästhetisch heteronomen K u n s t als intensiver Wirkungsfaktor hervor, und sein „Marientod" in Brügge m u ß in seiner psychologischen Pointiertheit als nordische Parallelerscheinung zu den späten Beweinungsdarstellungen des Boticelli angesehen werden. Der religiösen Ekstase und Exaltation der späten Quattrocentisten entspricht auch das, was m a n Goes' „geistige Erk r a n k u n g " zu nennen pflegt. Der Künstler verschwindet plötzlich aus dem bürgerlichen Leben in Gent, scheidet aus der Gilde der Maler aus und tritt in ein Kloster bei Brüssel ein. E r widmet sich dort zwar weiter seiner Kunst, wird aber oft von Melancholien und quälenden Depressionen befallen, die in der Wahnvorstellung gipfeln, er sei ein Sohn der Verdammnis. E r lehnt sein ganzes bisheriges Leben ab und weiht sich in Buße u n d Gebet einer inneren Umkehr. Auch hier könnte man, wie bei Savonarola, von „dem letzten heroischen Versuch" sprechen, den neuen Geist zu ersticken und zur Gotik zurückzufinden. Die geistige Welle, die in Florenz Savonarola emportrug, brandet u n d überschlägt sich in der Seele eines Künstlers selbst, der als der wichtigste E x p o n e n t der K u n s t des späten 15. Jahrhunderts in den Niederlanden angesehen werden muß. Ein typisches Beispiel f ü r die Gültigkeit unseres formalphänomenologischen Kriteriums auch in der deutschen K u n s t stellt Martin Schongauers Kupferstich des thronenden Heilands dar. (Abb. 31.) Dieses Blatt, das als spätes Werk des Meisters in die achtziger J a h r e des 15. Jahrhunderts zu setzen ist, zeigt die thronende Gestalt Christi mit Krone, Szepter und segnend erhobener Rechten. Der Thron wächst gleichsam aus einer dunklen Nische heraus, die von Vorhängen abgeschlossen wird, welche rechts und links von zwei Engeln beiseite gezogen werden. Der Sitz und die Gestalt Christi ragen aber mit einer solchen Intensität über die Vorhangsebene hinaus, d a ß die Estrade, auf welcher der Thron steht, sich nach vorn erweitern m u ß , u m genug Platz zu schaffen. E s ist, als ob die beiden den Vorhang haltenden Engel gleichzeitig den T h r o n Christi aus der „Bühnentiefe" nach vorn geschoben h ä t t e n , dem Beschauer entgegen, welchem die hieratisch-strenge Gebärde des Heilands gilt. So sehen wir an einigen ausgewählten Beispielen aus der nordischen Malerei, d a ß auch hier im 15. J a h r h u n d e r t ein Wechsel von autonomer u n d heteronomer Kunstauffassung bestanden h a t , wenn er auch weniger 109

deutlich markiert u n d v o r allem weniger rhythmisch gewesen ist, als i n Italien. I n der deutschen Plastik des 15. J a h r h u n d e r t s läßt sich die Einteilung in die vier Phasen des Quattrocento nicht ganz durchfuhren. I n d e m gleichen Maße wie m a n auf Grund einer morphologischen Betrachtungsweise hier stets von Spätgotik im Sinne einer entwicklungsgeschichtlichen Fortsetzung des 14. J a h r h u n d e r t s gesprochen h a t , müssen auch wir im ästhetischen Sinne von einer vorwiegend wie im 14. J a h r h u n d e r t heteronom bedingten Kunst reden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das f ü r uns entscheidende Verhältnis der Figur zur Nische, zum Sockel oder zum Altar richten, so ergibt es sich, d a ß an den bedeutendsten, die Stilentwicklung des J a h r h u n d e r t s vollgültig repräsentierenden Werken die ästhetische Grenze durchweg überschnitten wird. Auf dem Grabmal des Erzbischofs Konrad von D a u n im Mainzer Dom aus der Zeit u m 1435 drängt die ursprünglich liegend zu denkende Figur des Kirchenfürsten in massiger Fülle aus der Rahmennische heraus. Unten überspült das Gewand die K a n t e der Grabplatte. Die W a p p e n und Bischofshut haltenden Löwen greifen in den Realraum hinein. Wie im 14. J a h r h u n d e r t bleibt das „Ecce h o m o " ein beliebtes Thema religiöser Darstellung. Aus der Zeit zwischen 1430 u n d 40 s t a m m t der den Beschauer mit deutlicher Gebärde auf seine W u n d e weisende Schmerzensm a n n aus der Dorotheenkirche zu Breslau. Die dem Multscher zugeschriebene Figur gleichen Inhalts aus dem J a h r e 1429 streckt ihre Füße weit aus der von einem Baldachin bedeckten Pfeilernische am Westportal des Ulmer Münsters hervor. Auch die Gruppe der Pietà, jener auf stärkste psychologische Wirkung abzielende Bildtyp, den das 14. J a h r h u n d e r t geschaffen h a t t e , wird nach wie vor häufig dargestellt. Die unmittelbare Ichbezogenheit, der Realitätszusammenhang mit dem Beschauer ist das Ziel dieser spätgotischen Kunst, die stets religiös gebunden bleibt u n d von jeder ästhetischen Eigengesetzlichkeit weit entfernt ist. Aus dem J a h r e 1464 stammen die lebensgroßen Halbfiguren des Nikolaus Gerhaert von Leyden, die sich ursprünglich an der Straßburger Kanzlei befanden, der sogenannte Graf von Hanau-Lichtenberg u n d das „Bärbele". Es ist bezeichnend, daß sich ein reicher Anekdotenkranz u m diese Figuren bildete, die durch die Art, wie sie, in keiner Weise aus dem realen Freiraum isoliert, illusionistisch von dem Gebäude gleichsam herabzublicken schienen, eine außerästhetische Bindung beinahe überdeutlich zur Schau trugen. Eine rein optische u n d formale B e t r a c h t u n g wird diesen Figuren nicht gerecht, unwillkürlich m u ß zum vollen Verständnis nach dem bestimmenden Inhalt aus formfremdem Gebiet gesucht werden. E s lag etwas „dahinter", was Erklärung brauchte. Da aber der I n h a l t nicht mit Sicherheit mehr fest-

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zustellen war, mußten Anekdoten das Bedürfnis nach Erhellung befriedigen, das von einer ästhetisch transzendenten Kunst erweckt worden war. Grenzüberschneidungen aller Art treten immer wieder auf. Bei dem Peter von Wederath zugeschriebenen Epitaph der Elisabeth von Görlitz in Trier aus der Zeit um 1465 úberragen die weit gebreiteten Flügel des Engels den Rahmen der Flachnische, aus der die Engelsfigur sich heraus entwickelt, und bei dem Hochrelief des hl. Michael in der Severikirche zu Erfurt (1467) dringen Gewand, Flügel, Speer und vor allem der Drache über die Umrahmung hinaus. Ebenso überqueren auf dem Grabmal des Truchseß von Waldburg die Füße der liegenden Gestalt, die Lanzenspitze und das Kissen, auf dem Kopf des Ritters ruht, die wie ein Bilderrahmen gestaltete Umfassung der Bronzeplatte. Wie in allen Zeiten einer heteronomen Kunstübung nimmt auch im 15. Jahrhundert die Schutzmantelmadonna einen besonderen Platz ein. Die distanzlose Nähe von Mensch und Kunstwerk tritt hier schon in dem Motiv als solchem besonders deutlich zutage. Ein Hochrelief der sechziger Jahre im Dom zu Olmütz zeigt Maria mit dem Kinde, während zwei fliegende Engel die Enden ihres Mantels hochheben, unter denen sich die schutzbedürftige und anbetende Menge schart. Maria steht unter einem aus Zweigen gebildeten Baldachin, hinter dem vom oberen Rande des Reliefs rechts und links Vorhänge herab fallen. Maria selbst ragt in ihrer beinahe vollplastisch gebildeten Körperlichkeit über die durch Baldachin und Vorhänge angegebene vordere Ebene des Reliefs hinaus, auch die beiden Engel überschneiden die Vorhänge, so daß hier die Heteronomie dieser Kunst sich wieder in fibelhafter Weise, gänzlich assoziationslos ablesen läßt. 1 Die Beispiele lassen sich noch vermehren. Nikolaus Gerhaerts BusangEpitaph aus dem Jahre 1464, das sich in der Johanneskapelle des Straßburger Münsters befindet, läßt Maria mit dem Kinde und dem Stifter als Halbfiguren hinter einer Brüstung erscheinen, die eine spitzbogig gerahmte Bildnische nach vorn abschließt. Die Figuren tendieren jedoch entscheidend über diesen Rahmen hinaus, so daß der Eindruck entsteht, als ob die Gestalten sich aus einem Kirchenfenster herauslehnen. Besonders die heute abgebrochenen Beine des Christkindes müssen ursprünglich weit in den Realraum hineingeragt haben. Das Verhältnis der spätgotischen Figur zu dem sie umfangenden Räume des Altarschreins kann am Marienaltar Michael Pachers in St. Wolfgang (1471—81) am deutlichsten abgelesen werden. Hier quellen die üppigen Gewänder der heiligen Figuren allenthalben über die rahmende und gliedernde Architektur des Altars hinaus, schwere Faltenbahnen fallen weit 1

Pinder: Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum-Ende der Renaissance. (Handbuch der Kunstwissenschaft) Bd. II. Abb. S. 293.

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über die Sockel der Figuren hinab. Kleine Engel stehen vor der Szene, in die Einer zu F ü ß e n der Maria mit deutlicher W e n d u n g zum Beschauer hineindeutet, u n d ziehen die Gewänder noch weiter aus der Bildtiefe heraus, gleichsam in den Realraum hinein. Der Bischofsstab des heiligen Benedikt u n d das Kirchenmodell des heiligen Wolfgang überschneiden sogar den äußersten ornamentierten R a h m e n des Schreins. ^Das gleiche raumverschleifende ästhetische Gefühl herrscht in dem Hochaltar von K e f e r m a r k t in Oberösterreich. (1480—90). Eine f r a p p a n t e F o r m n i m m t der Wunsch nach einer Verbindung der Kunstzone mit dem Realraum in d e m Flügel des Kefermarkter Altars an, der den Tod der Maria zeigt. (Abb. 32). Auf diesem durch einen vorkragenden geschnitzten R a h m e n bildmäßig gefaßten Relief stößt der in schräger, durchaus malerischer Verkürzung u n d Perspektive wiedergegebene Betthimmel über dem Lager der J u n g f r a u weit aus der Reliefzone heraus, wie ein Keil in den R a u m des Beschauers hinein. Selbstverständlich wird der R a h m e n des Reliefs in keiner Weise geachtet. Eine eigenartige Verbindung mit dem f ü r eine formalphänomenologische Betrachtung so ergiebigen Vorhangmotiv entsteht dadurch, daß rechts vorn auf einem bereits in der Rahmenzone fußenden Säulenpostament ein kleiner Engel steht, der den a m Betthimmel befestigten Vorhang zur Seite zieht u n d damit die sterbende Maria den Blicken des Beschauers preisgibt. Wie wenig das Zurückziehen des Vorhangs im Geschehen des Bildes selbst begründet ist, läßt sich d a r a n erkennen, d a ß die vor dem Lager befindlichen Apostel Maria den Rücken zuwenden. Die kleine Engelsfigur ist also lediglich dazu da, die Distanz zum Beschauer zu durchbrechen. Am oberen Bildrande erscheint die kleine Figur Gottvaters, der mit der Seele der Maria gen Himmel schwebt. Auch hier wird die Rahmengrenze durchstoßen. Nichtsdestoweniger darf nicht verschwiegen werden, daß gerade in einer Reihe von Altarkompositionen der gleichen J a h r e , H a n d in H a n d mit einer gewissen formalen Beruhigung, die ästhetische Grenze durchaus gewahrt und die Umhüllung der Figuren durch den Schrein als verbindlich erachtet wird. So bei den Altären von Bopfingen (1472), von Nördlingen (1478—80), von Pipping (1480), von Lautenbach (1480er Jahre), von Blaubeuren (1493—94), und von Heilbronn (1498). Eine gewisse vorzeitige Renaissancestimmung scheint sich, ähnlich wie in den autonomen Phasen des italienischen Quattrocento, hier bemerkbar zu machen. Über das Problem der deutschen Renaissance wird jedoch in anderem Zusammenhange noch zu sprechen sein. Jedenfalls aber ist es deutlich, daß diesseits wie jenseits der Alpen der H a u p t s t r o m künstlerischer Entwicklung im 15. J a h r h u n d e r t in eine heteronome, nicht lediglich ästhetischen Zielsetzungen dienende Stilphase mündete. I n bewußtem Gegensatz hierzu konnte, d a n n die zeitlich so kurze, nur 112

durch wenige vollkommen gültige Werke innerhalb der bildenden K u n s t belegbare, in ihrer Bedeutung und Nachwirkung aber u m so gewaltigere Epoche der Klassik erstehen.

IV. Giorgiones heute zerstörte, im J a h r e 1508 entstandene Fassadenfresken für den Fondaco dei Tedeschi in Venedig sind uns nur fragmentarisch durch Radierungen des 18. J a h r h u n d e r t s überliefert. Nach diesen Zeugnissen ragten die bewegten Akte, die in Nischen oder in einem rahmenden architektonischen Zusammenhang wiedergegeben waren, mehrfach über die distanzierenden Begrenzungen hinaus. Das entspricht vollkommen der Stellung Giorgiones an der Schwelle der klassischen Kunst. E r bleibt auch in formengeschichtlicher Beziehung noch vielfach mit der letzten Phase des Quattrocento v e r k n ü p f t . Darüber hinaus enthalten diese Grenzüberschneidungen aber eine Anweisung, nach den außerästhetischen Wurzeln der Kunst des Giorgione zu suchen. I n welchem Maß das gerade hier notwendig ist, h a t H a r t l a u b nachgewiesen, der den Künstler in enge Beziehung zu dem Logenwesen, den Sodalitäten u n d der hermetischen Symbolik der Zeit gesetzt hat. 1 Giorgiones K u n s t ist im wahrsten Sinne des Wortes, trotz mancher bereits klassischer Züge, noch heteronom. Sie war bis zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge voller Rätsel und Anlaß zu einem Übermaß von mißglückten Deutungsversuchen. I n diesem Zusammenhange ist es daher erst von sekundärer Bedeutung, ob die hinter der K u n s t des Giorgione wirksame u n d sie durchdringende Welt bereits die paganisierte der Renaissance oder noch die christlich-religiöse des letzten Quattrocento ist. Der Vorgang an sich ist der gleiche. Andererseits wissen wir, daß bereits Giovanni Bellini in der Spätzeit seines Schaffens den keimenden Autonomieregungen der klassischen K u n s t nicht nur durch seine Werke, sondern auch durch sein Verhalten Ausdruck verliehen h a t . I n einem bedeutsamen Briefe vom 1. J a n u a r 1505 schreibt Bembo an Isabella d ' E s t e , f ü r die er ein Bild des Giovanni Bellini besorgen soll, der Künstler wehre sich gegen jede Vorschrift und jedes gelehrte Programm, welches das freie Spiel seiner Phantasie fesseln könne. E r wolle nicht „che molte signati termini si diano al suo stile." Die ästhetische Stellung des klassischen Kunstwerks läßt sich mit Hilfe unseres formal-phänomenologischen Kriteriums an einem Beispiel erschöpfend beleuchten: an der „Sixtinischen Madonna" des Raffael, in welcher auch die formengeschichtliche Betrachtungsweise bereits alles konzentriert gefunden h a t , was f ü r sie zur Kennzeichnung der Klassik gehörte. Dieses um das J a h r 1514 entstandene Gemälde, das f ü r den Hochaltar der 1

H a r t l a u b : Giorgiones Geheimnis. München. 1925. 8

Michilaki.

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durch wenige vollkommen gültige Werke innerhalb der bildenden K u n s t belegbare, in ihrer Bedeutung und Nachwirkung aber u m so gewaltigere Epoche der Klassik erstehen.

IV. Giorgiones heute zerstörte, im J a h r e 1508 entstandene Fassadenfresken für den Fondaco dei Tedeschi in Venedig sind uns nur fragmentarisch durch Radierungen des 18. J a h r h u n d e r t s überliefert. Nach diesen Zeugnissen ragten die bewegten Akte, die in Nischen oder in einem rahmenden architektonischen Zusammenhang wiedergegeben waren, mehrfach über die distanzierenden Begrenzungen hinaus. Das entspricht vollkommen der Stellung Giorgiones an der Schwelle der klassischen Kunst. E r bleibt auch in formengeschichtlicher Beziehung noch vielfach mit der letzten Phase des Quattrocento v e r k n ü p f t . Darüber hinaus enthalten diese Grenzüberschneidungen aber eine Anweisung, nach den außerästhetischen Wurzeln der Kunst des Giorgione zu suchen. I n welchem Maß das gerade hier notwendig ist, h a t H a r t l a u b nachgewiesen, der den Künstler in enge Beziehung zu dem Logenwesen, den Sodalitäten u n d der hermetischen Symbolik der Zeit gesetzt hat. 1 Giorgiones K u n s t ist im wahrsten Sinne des Wortes, trotz mancher bereits klassischer Züge, noch heteronom. Sie war bis zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge voller Rätsel und Anlaß zu einem Übermaß von mißglückten Deutungsversuchen. I n diesem Zusammenhange ist es daher erst von sekundärer Bedeutung, ob die hinter der K u n s t des Giorgione wirksame u n d sie durchdringende Welt bereits die paganisierte der Renaissance oder noch die christlich-religiöse des letzten Quattrocento ist. Der Vorgang an sich ist der gleiche. Andererseits wissen wir, daß bereits Giovanni Bellini in der Spätzeit seines Schaffens den keimenden Autonomieregungen der klassischen K u n s t nicht nur durch seine Werke, sondern auch durch sein Verhalten Ausdruck verliehen h a t . I n einem bedeutsamen Briefe vom 1. J a n u a r 1505 schreibt Bembo an Isabella d ' E s t e , f ü r die er ein Bild des Giovanni Bellini besorgen soll, der Künstler wehre sich gegen jede Vorschrift und jedes gelehrte Programm, welches das freie Spiel seiner Phantasie fesseln könne. E r wolle nicht „che molte signati termini si diano al suo stile." Die ästhetische Stellung des klassischen Kunstwerks läßt sich mit Hilfe unseres formal-phänomenologischen Kriteriums an einem Beispiel erschöpfend beleuchten: an der „Sixtinischen Madonna" des Raffael, in welcher auch die formengeschichtliche Betrachtungsweise bereits alles konzentriert gefunden h a t , was f ü r sie zur Kennzeichnung der Klassik gehörte. Dieses um das J a h r 1514 entstandene Gemälde, das f ü r den Hochaltar der 1

H a r t l a u b : Giorgiones Geheimnis. München. 1925. 8

Michilaki.

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Kirche San Sisto in Piacenza bestimmt war und sich heute in der Dresdener Gemäldegalerie befindet, vereinigt in sich alle Zfige, die als renaissancemäßig angesprochen werden müssen. 1 Aus den Figuren des Bildes ist ein großes, im wahrsten Sinne des Wortes monumentales (denkmalhaftes) Dreieck aufgebaut, in dessen Mittelachse Maria mit dem Kinde steht. Auch die Vorhänge, die die oberen Ecken des Bildes füllen, sind so angeordnet, daß symmetrische Raumkompartimente zu beiden Seiten Marias abgeteilt werden, wodurch die Madonna in einer ganz besonderen Weise hervorgehoben und akzentuiert erscheint. 2 Es gibt hier nicht mehr, wie im Quattrocento, getrennt für sich zu betrachtende Aufmerksamkeitszentren. Der heilige Sixtus links und die heilige Barbara rechts — so viele Reize sie bei einer Einzelbetrachtung auch offenbaren mögen — sind der höheren Aufgabe untergeordnet, Teile in der Gesamtkomposition zu sein. Auch die Gewänder führen kein Eigenleben mehr. Sie lassen die Bewegungsmotive der Körper deutlich erkennen und dienen nur den Figuren selbst. Wenn man sich nun von diesen bekannten formalen Tatsachen zum seelischen Gehalt des Bildes wendet, so erhebt sich die Frage, ob durch eine religionsgeschichtliche Analyse des Werkes noch eine Erhellung der durch ästhetische Analyse gewonnenen Erkenntnis eintritt. Ist es für den Kunsthistoriker hier notwendig die Madonnenauffassung Raffaels in irgend eine Beziehung zu der Religiosität der Renaissance zu setzen ? Ein Versuch wird stets beweisen, daß die „Sixtinische Madonna" als Kunstwerk eines geistesgeschichtlichen Unterbaus nicht mehr bedarf. Unsere stereotype Frage nach der Wahrung oder Überschneidung der ästhetischen Grenze gibt die gleiche Antwort. Die Verwendung der an einer sichtbaren Ringstange aufgehängten Vorhänge, deren formale Bedeutung als Eckfüllung schon erwähnt wurde, und einer den unteren Bildrand noch vor den Vorhängen säumenden Rampe, über welche die beiden Engel herüberlugen, legt wiederum den Vergleich mit einer Bühne nahe. Die beiden Engelknaben scheinen gleichsam den Platz des Souffleurs im modernen Theater einzunehmen, ein Gedanke, der in diesem Zusammenhange anachronistisch scheint, dennoch aber auf den Charakter der Komposition Raffaels ein treffendes Schlaglicht wirft. Bei keinem unserer Beispiele ist das Bühnenmäßige durch Rampe und Vorhang so eindeutig ausgeprägt gewesen, — und noch nie geschah auch die Distanzierung von Bildgeschehen und Beschauer so bewußt und zwangsläufig, 1

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Zur Datierung der „Sixtinischen Madonna" vgl. Filippini: Raffaello a Bologna. Cronache d'Arte. 1925. S. 225 ff. Die Vorhänge sind, trotz gelegentlicher Zweifel, bestimmt ursprünglich. Die von Stübel (Raffaels Sixt. Madonna, Dresden 1926) vertretenen Ansichten werden widerlegt von Posse (Zur Frage d. Sixt. Madonna. Zeitschrift für bildende Kunst 1926/27. S. 233 ff. und Pantheon 1931, S. 286.)

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wie in der Renaissance. Es ist eine abgrundtiefe Trennung zwischen uns und der Madonna, deren Blick erhaben u n d beziehungslos in die Ferne schweift; wir leben nicht im gleichen R a u m , a t m e n nicht die gleiche L u f t . Weniger der Vorhang, vor dem sich noch die Gestalten des hl. Sixtus u n d der hl. Barbara befinden, als die in der vordersten Bildebene streng gezogene R a m p e riegelt den Bildraum entscheidend vom Realraum ab. Die hinweisende Gebärde des hl. Sixtus wird dadurch zu einer bloßen Gebärde im Bilde selbst und greift nicht über die R a m p e . Es fehlt ihr jede Beziehung zu einem Außerhalb. Die Rampe in ihrem streng horizontalen Verlauf gibt gleichzeitig das formale Prinzip an, nach dem das Bild durchgefurcht ist. Die grundsätzlich flächenhafte Anordnung der Figuren in getrennten Schichten hintereinander verbietet von selbst eine tiefenhafte Verbindung des Beschauers mit dem Bild. Wir sehen hier abermals einen Berührungspunkt unserer Betrachtungsweise mit der Wölfflins, obwohl diese ganz anderen, rein morphologischen Zielen zustrebt. Religiös gebunden im engeren Sinne des Wortes ist die „Sixtinische Madonna" keineswegs, denn eine kultisch-religiöse Kunst k a n n ihrem Wesen nach nicht derartig „reserviert" bleiben. Der große Andachtswert, der einer solchen Distanzierung innewohnt, widerspricht nicht unserer Erkenntnis der ästhetischen Autonomie. Der Gehalt des Bildes kann nicht durch außerästhetische Erkenntnisse weiter aufgeklärt werden, und dem entspricht es, wenn auch der Andächtige in die Rolle eines reinen „Gegenü b e r " versetzt u n d kein Realitätszusammenhang mit ihm hergestellt wird. Wenn es sich auch der Entstehungsgeschichte, dem Auftrage entsprechend u m ein Hochaltargemälde u n d u m eine kirchliche Bestimmung handelt, so k a n n innerhalb der kurzen, aber ganz reinen klassischen Phase des Cinquecento diese Bestimmung nicht zu einer Bedingtheit werden. Welthafte Züge, die unmittelbar faßlich sind, dringen ein. Maria ist nicht mehr ausschließlich als Mutter Gottes dargestellt, sie ist gleichzeitig in einem neuen Sinne die K ö n i g i n des Alls. Die religiös-mittelalterliche Auffassung ist einer Aristokratisierung gewichen, die ohne jede Kenntnis außerästhetischer Tatsachen erfaßt werden kann. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, — die höchste Erhabenheit verbindet sich f ü r den Renaissancemenschen gleichzeitig mit der höchsten w e l t l i c h e n Würde, er läßt Maria sieghaft über den Wolken auf die Erdkugel treten. Welch ein Wandel seit den von religiöser Inbrunst verzehrten, von Schmerz geknickten Madonnen Botticellis, die in den Ausdrucksformen des vierten Quattrocento die christliche Überwindung des Fleisches durch den Geist, des Diesseits durch die Bezogenheit auf ein Jenseits erschütternd u n d nach dem Beschauer greifend, undistanziert u n d ihm nahe spiegelten. Alles Wissen u m Geist und Kult u r der Renaissance, das heute j a zum festen Bestand und Maßstab euro8

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püischer Bildung gehört, b r a u c h t der Kunstwissenschaftler jedoch, wie bei jeder ästhetisch distanzierten K u n s t , nicht zu R a t e zu ziehen. E r k a n n sich ganz der formalen S t r u k t u r dieser K u n s t hingeben, ohne befürchten zu müssen, ein unvollkommenes Verständnis ihrer Bildwerke zu gewinnen. Geistesgeschichtliche I n h a l t e sind n u r ganz mittelbar in sie eingegangen, sie stehen an Rang weit hinter den ästhetischen zurück. Dem widerspricht nicht, wenn wir uns zur richtigen Datierung der „Sixtinischen Madonna", neben stilistischen Erwägungen, der historischen und ikonographischen Beweisführung Filippinis anschließen. E s geht mit dem Stil des früher in die Zeit zwischen 1515—1519 gesetzten Gemäldes gut zusammen, daß Filippini aus der Porträtähnlichkeit des heiligen Sixtus mit Julius I I . (gest. 1513) und aus der Anwesenheit der heiligen B a r b a r a , der Heiligen der Artillerie, zu einer früheren Datierung gelangt. Filippini sieht in dem Bilde eine „Madonna della Vittoria", entstanden nach dem blutigen Sieg über die Franzosen und der Abtretung von P a r m a u n d Piacenza an den Kirchenstaat. Nach 1515, nach der Schlacht von Marignano, wurde Piacenza dem Papste wieder entrissen und von den Franzosen zurückerobert. Wenn wir auch nicht mit Filippini die „ S i x t i n a " in das J a h r 1512 setzen können, so erscheint doch 1515 als terminus ante quem richtig gewählt. Der heilige Sixtus in der Gestalt Julius' I I . k a n n auch nach dem Tode des Papstes noch in der Stadt, die u n t e r seinem Pontifikat dem Kirchenstaate gewonnen worden war, aufgestellt worden sein. Diese von außen herangetragenen Erwägungen haben nur einen hilfswissenschaftlichen Wert, u m die kunsthistorische Datierung sicher zu stellen. Eine außerästhetische Bedingtheit k o m m t in dem Kunstwerk selbst nirgends zum Ausdruck. Die klassische K u n s t dient nicht, sie ist in keiner Weise außerästhetisch bedingt, u n d d a r u m gerade durch ihre Unwillkürlichkeit der vielleicht vollkommenste u n d schöpferischste Ausdruck ihrer Zeit geworden. Die Renaissance ist der Stillstand, die Beruhigung zwischen zwei Bewegungsstößen: dem Quattrocento und dem Barock. (Auf den mit den frühen Äußerungen des Barocks gleichzeitigen Manierismus wird noch gesondert einzugehen sein.) Wenn erst diese eigentümliche entwicklungsgeschichtliche Lagerung der Renaissancekunst klar erkannt ist, ergibt sich von selbst die Notwendigkeit, sie historisch auf eine ganz kurze Zeit zu beschränken. Die klassische K u n s t h a t sich n u r in ganz wenigen Kunstwerken verwirklicht. Der „ t o t e P u n k t " — im dynamischen Sinne — zwischen zwei Bewegungsstößen k a n n keine Dauer besitzen. Wie stark in dieser kurzen Zeitspanne das Gefühl f ü r den abschließenden Sinn des Rahmens ausgeprägt war, k o m m t bereits in Leonardos „Abendm a h l " , dem A u f t a k t zur K u n s t der Renaissance, z u m Ausdruck (1494—98). Als grundlegende Unterschiede gegenüber den Abendmahldarstellungen des 116

Quattrocento wurden stets die Umwandlung des an den Jacken umgebrochenen Tisches in einen geraden, und die Aufgabe der bisher üblichen Isolierung des Judas an der Vorderseite der Tafel angesehen. Diesen Veränderungen liegt nun nicht nur, wie Wölfflin meint, das Bedürfnis nach einer tektonischen Disposition zu Grunde. Die quer über das Bild gezogene Horizontale des Tisches, die wie eine Barriere wirkt, über die nicht hinausgegriffen werden darf, beweist, daß Leonardo durch die Umwandlung des alten ikonographischen Schemas, ebenso sehr die Wahrung der ästhetischen Grenze betonen wollte. Dies wird ganz deutlich, wenn man ihn mit seinen Vorgängern im Quattrocento vergleicht. Castagnos Abendmahl im Cenacolo die S. Apollonia in Florenz (um 1450) weist zwar keine fibelhaft ablesbare Überschneidung der ästhetischen Grenze in Gestalt einer unmittelbaren Rahmenüberschneidung auf. Da wir aber die Heteronomie und außerästhetische Gebundenheit dieses zweiten Quattrocentostils bei Castagno selbst und bei anderen Künstlern deskriptiv erschlossen haben, ordnet sich für uns die gegen den Beschauer vorstoßende, gleichsam umfangende Eckbiegung des Tisches und die sich isoliert vorschiebende Stellung des Judas an der Vorderseite der Tafel in den Zusammenhang der Kriterien ein, die eine Überschneidung der ästhetischen Grenze bezeichnen. Ebenso ist es bei Ghirlandajos Abendmahl in Ognissanti (1480). Es gehört in das heteronome vierte Quattrocento. Hier wird die Verbindung von Real,- und Kunstraum besonders dadurch betont, daß die Architektur des Refektoriums in das Bild weitergeleitet wird. Ghirlandajo gibt eine Scheinverlängerung des gebauten Raumes um die Tiefe eines Wandbogens, ja er bezieht sogar die Konsolen, die den Druck des Gewölbes in die Wand leiten, in die malerische Komposition ein, rückt die Gestalt Christi aus der Mittelachse heraus und läßt die in der Wandmitte sich körperhaft herabsenkende Konsole durch die Gruppe von Christus, Johannes und dem allein an der einen Tischseite sitzenden Judas frei umspielen. Von einer Interpretation des Bildgehalts ausgehend, erscheint es als durchaus konsequent, wenn um eine unmittelbar religiöse W i r k u n g besonders bemühte Stilstufen den Verräter Judas gesondert dem Beschauer entgegenhalten, und wenn eine nicht so kirchlich gesonnene Zeit ihn annähernd gleichwertig in die Schar der übrigen Apostel aufnimmt. Man kann jedoch auf formal-phänomenologische Weise, unabhängig von allen Assoziationen, ohne ein Hilfsgerüst aus artfremdem, religionspsychologischem Gebiet zu der gleichen Erkenntnis gelangen. Leonardos Aufgabe in S. Maria delle grazie zu Mailand war fast übereinstimmend mit der Ghirlandajos. Auch hier stützt sich das Gewölbe des Refektoriums auf Konsolen, die sich in die Bildwand herabsenken. Leonardo fühlt sich jedoch nicht durch die Gegebenheiten der realen Archi117

tektur gebunden. Er schneidet vor allem die Halbkreisbogen im Oberteil der Wand von der eigentlichen Bildzone ab und füllt sie rein dekorativ. Das Abendmahl selbst spielt in einem Raum, der sich grundsätzlich von dem des Refektoriums unterscheidet. Jede Scheinerweiterung wird vermieden, eine eigengesetzliche Bfihnenwelt öffnet sich. Die Rahmengerechtigkeit der Komposition Leonardos bezeichnet das Gleiche. Auch hier besteht formen- und kompositionsgeschichtlich ein Gegensatz zum zweiten und vierten Quattrocento, nicht aber zum ersten Quattrocento Masaccios, zu den ideal distanzierten Grabmälern der dritten Stufe des fünfzehnten Jahrhunderts, oder gar zu der autonomen Kunst Giottos. Daher erscheint es als höchst bezeichnend, daß bei Giottos „Abendmahl" in der Arenakapelle zu Padua ebenfalls kein aus der Bildebene vorstoßender geknickter Tisch vorhanden ist. Und wenn hier zwar die Vorderseite des Tisches von den Aposteln besetzt wird, so wird gerade durch diese sich abkehrenden Rückenfiguren eine gänzliche Unbekümmertheit um den Beschauer dokumentiert. Auch Judas ist auf diese Weise nicht isoliert. Es ist der gleiche, allem Didaktischen fremde Geist wie bei Leonardo. Dvorak sagt, Christi Worte seien sinnlos, „wenn der Verräter selbst durch seine Absonderung seine Tat anzeigt, so daß sie jedem sogleich ersichtlich sein muß." 1 Für eine religiös dienende, heteronome Kunst war jedoch gerade diese sofortige Ersichtlichkeit zutiefst sinnvoll. Und so malt noch um 1500 ein älterer Meister, der 1446 geborene Perugino sein Abendmahl in S. Onofrio zu Florenz nach dem alten Schema mit umgebrochenem Tisch und an der Vorderseite der Tafel isoliertem, sich sogar zum Beschauer umwendenden Judas, was dem dargestellten Vorgang als solchem durchaus widersprechen mußte. Die Rahmenverwandtschaft und den Rahmenzwang der klassischen Kunst verdeutlichen vor allem Rafifaels Fresken im Vatikan. Auf der „Disputä" in der Stanza della Segnatura (1509—11) ragen rechts und links zwei abriegelnde „Versatzstücke" in das Bild, ein gemaltes Geländer und eine Brüstung. Hinter ihnen beginnt erst die eigentliche Darstellung. Die in die Wände der Stanzen einschneidenden Fenster- und Türumrahmungen werden als durchaus verbindliche Begrenzungen respektiert. Die gesamte Komposition wird nach ihnen eingeteilt. Raffael versucht durch keinerlei Grenzüberschneidungen oder Übergriffe die Ansatzpunkte der Gegebenheiten des Realraumes an den Bildraum zu verwischen. Die Fresken werden stets in sich noch einmal von einem gemalten Rahmen umgeben, die autonome Zone der Bildbühne wird streng distanziert. Doch schon bei der „Befreiung Petri aus dem Gefängnis" in der Stanza d'Eliodoro (1511—14) liegt die Versuchung, die ästhetische Distanz zu durchbrechen, 1

Dvorak: Gesch. d. ital. Kunst. I (a. a. O.). S. 181.

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von neuem nahe. Auf dem Fresko gehen rechts und links von dem Kerker des Apostels Treppen hernieder, die leicht zu einer Verbindung des Realraumes mit dem Bilde hätten verwendet werden können. Doch Raffael umschließt die Szene noch durch den updurchbrechlichen breiten Rahmen. In der „Befreiung Petri" wurde von jeher eine Anspielung auf einen nicht im Bilde selbst zur Form gewordenen Inhalt gesehen. Ob es sich nun um eine Allegorie auf die Befreiung des Kardinals Medici, des späteren Papstes Leo X., nach der Schlacht bei Ravenna handelt, oder ob eine Beziehung auf Julius I I . beabsichtigt ist, auf dessen Zeit der Entwurf noch zurückgeht, ist für uns gleichgültig. Pastor glaubt mit Grimm und Steinmann an die Anspielung auf Julius II., der als Kardinal sieben Jahre lang die Titelkirche S. Pietro in Vincoli inne gehabt hatte, und 1512 als Dank für den Sieg über die Franzosen zu dieser Kirche Petri, als des ersten Papstes, gepilgert war. 1 Auch für das Hauptfresko der gleichen Stanze, der „Vertreibung des Heliodor aus dem Tempel" wird ein volles Verständnis erst durch außerästhetische Zusammenhänge ermöglicht. Die Vertreibung des Tempelräubers Heliodor nach dem 2. Buche der Makkabäer allegorisiert den Sieg Julius' I I . über das Konzil der abtrünnigen Kardinäle. Der Papst selbst wird ein einem Tragsessel als Zeuge des himmlischen Strafgerichts herbeigetragen. Mit der „Messe von Bolsena" zusammen, die auf eine Wallfahrt des Papstes nach Orvieto anspielt, als Dank für die Befreiung Roms von den Franzosen, vereinigen sich die drei groBen Fresken der Stanza d'Eliodoro zu einer einheitlichen Verherrlichung der siegreichen Kirche. Dieser Erkenntnis entspricht es, daß in morphologischer Hinsicht, vor allem in der „Vertreibung des Heliodor" stets alle Keime der späteren Barockentwicklung entdeckt worden sind. Die Fresken der Stanza della Segnatura dagegen hatten die ihnen zu Grunde liegenden, viel allgemeineren Inhalte ungleich stärker in die reineForm eingeschmolzen. Die wahrhaft klassische Kunst verschmäht stets die illusionistische Raumverschleifung. Die Divergenz von Kunst- und Realraum wird streng betont, der ästhetische Wert jeglicher Begrenzung wird ausdrücklich unterstrichen. Nach dem Beschauer soll nicht gegriffen, er soll nicht ergriffen werden. Ein tief ästhetisches Gleichgewichtserlebnis ist der Sinn dieser Kunst, deren Bestimmung allein innerhalb der Kunstspähre wurzelt und bleibt, der keinerlei außerästhetische Bestimmung aufgebürdet ist, und der deshalb auch keine psychologische Berechnung zugrunde liegt. Hermann Grimm faßt diesen über Raffaels klassische Phase hinaus für alle reine Renaissancekunst bezeichnenden Charakter in die Worte: „Seine Schöpfungen sollten den Anschein von Blumen haben, deren Schönheit sich von selbst versteht, und bei denen wir nicht nach besonderen Absichten ihres Schöpfers fragen. Diese Wirkung, daß das Kunstwerk als ein 1

vgl. Pastor: Gesch. d. Päpste. Freiburg 1924. Bd. 3. S. 1035ff.

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Teil der schaffenden Natur erscheint, ist der höchste Erfolg künstlerischer Arbeit." Und bei ber Betrachtung der „Grablegung" des Meisters sagt Grimm: „Raffael will nichts. Seine Werke sind sofort verständlich. Er schafft absichtslos wie die Natur. Eine Rose ist eine Rose: nichts mehr und nichts weniger; Nachtigallengesang ist Nachtigallengesang: keine Geheimnisse sind da noch weiter zu ergründen. So auch sind Raffaele Werke frei von persönlicher Zutat, bei ihm fehlt auch den erschütterndsten Dingen alle persönliche Besonderheit, als seien eigene Erlebnisse des Künstlers hineingearbeitet worden, seine Persönlichkeit drängt sich nirgends vor." 1 Obwohl durch Mantegna und Melozzo da Forlì das illusionistische, raumerweiternde Deckengemälde in außerordentlich geglückter und perspektivisch vervollkommneter Weise in die neuere Kunst eingeführt worden war, gibt Raffael bewußt diese Form wieder auf. Seine Decke der Stanza della Segnatura (1509—11) weist in den Plafond eingelassene Bilder und Medaillons auf, die keineswegs auf eine Untersicht hin komponiert sind und dadurch die Unwirklichkeit ihrer Anbringung offen zur Schau tragen. Doppelt bedeutsam wird diese Tatsache, wenn man bedenkt, daß die Decke der Stanza della Segnatura möglicherweise ursprünglich ein Werk des Melozzo da Forli war. Raffael behält zwar die Gesamtgliederung bei, ersetzt aber die Durchblicke auf verkürzt gemalte, schwebende Gestalten durch seine bildmäßigen Medaillons. Nur das Mittelstück des Melozzo, zwölf spielende, die Umrahmung mehrfach durchbrechende Engel, bleibt erhalten und bildet nun einen seltsamen Gegensatz zu der veränderten Auffassung einer neuen Zeit. Aber auch hier ist die Renaissance von ihrem ästhetischen Standpunkt aus korrigierend vorgegangen. „Es ist schwer, den entscheidenden Charakter dieser kleinen Flügelknaben herauszufinden und das Ursprüngliche festzuhalten; denn sie sind offenbar von anderer Hand übermalt, die nicht nur die plastische Wirkung der klaren perspektivischen Malerei zu mildern oder vielmehr zu verwischen gestrebt, sondern auch die Physiognomien der Köpfe mehrfach verändert hat." 3 Schmarsow glaubt hier die Hand des Sodoma zu erkennen, der vor Raffael in der Stanza della Segnatura beschäftigt war. 3 Im Jahre 1516 wird die Kuppel der Capella Chigi in S. Maria del Popolo durch den Venezianer Luigi de Pace nach Entwürfen Raffaels mit Mosaiken geschmückt. Hier erscheint allerdings auf blauem Himmelsgnuide in der Mitte die segnende Gestalt Gottvaters, von Engeln umgeben, in perspek1 2 3

Grimm: Das Leben Raphaels. Berlin 1886. (in einem Bande) S. 8. S. 282. Schmarsow: Melozzo da Forli. Berlin n. Stuttgart, 1886. S. 230. Gombosi: Sodomas u. Peruzzis Anteil an d. Deckenmalereien d. Stanza della Segnatura. Jahrb. f. Kunstwissenschaft. 1930. S. 14 ff. Hier werden neben dem Rahminwerk auch die wappenhaltenden Putten für Arbeiten des Sodoma erklärt. Gombosi betont jedoch die „mantegnesk-lombardischen" Wurzeln von Sodomas Stil.

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tivisch verkürzter Untersicht. Wie in der Stanza d'Eliodoro kündigt sich hier etwas Neues an. Der Durchblick auf ein Außerhalb wird vorgetäuscht. Der entscheidende Unterschied gegenüber der von Melozzo da Forli bereits verwirklichten Stufe der Deckenmalerei besteht aber auch hier darin, daß diese Raumerweiterung zu keiner Raumverschleifung wird. Bei Raffael ist der Durchblick streng, wie in dem Bildfelde eines Fernrohres, eingeschlossen; bei Melozzos Kuppelfresken der Capella di tesoro zu Loreto aus dem Jahre 1478 scheinen die Engel durch die von Fenstern durchbrochenen Gewölbekappen in den Kirchenraum hinein zu schweben. Auch die 1518 unter starker Beteiligung der Werkstatt vollendeten Zwickelfresken Raffaels in der Sala di Psiche der Villa Farnesina zu Rom zeigen die klassische Distanzierung des Kunstraums kurz vor dem Umschlagen in einen neuen Illusionismus. Die in den Wolken thronenden und schwebenden Göttergestalten werden hier nicht nur verkürzt in Untersicht dargestellt, ihre Gebärden weisen bereits in den Realraum hinein, und eine Gestalt wie der in heftigster Bewegung dargestellte Merkur wird nur durch ein laubenartiges System von Guirlanden und Fruchtgehängen, das mit der gebauten Architektur keinen Zusammenhang hat, verhindert, die ästhetische Grenze entscheidend zu durchbrechen. Gleichzeitig wird die bildmäßige Darstellung ohne jede Untersicht der beiden Deckengemälde dadurch leise umgedeutet, daß Raffael sie als an der Decke aufgespannte Teppiche behandelt. Die sixtinische Decke Michelangelos und die Loggien Raffaels kennen keinen Illusionismus. Sie sind jeweils aus einem System stets streng von einander getrennter Gemälde aufgebaut. Die gänzliche Beziehungslosigkeit zu einem vorgestellten Beschauer, die Rücksichtslosigkeit auf jegliches Publikum, die Bindungslosigkeit an ein Außerhalb erreichen in der Decke der sixtinischen Kapelle ihren Höhepunkt. Denn der Betrachter müßte sich flach auf den Rücken legen, um die Blickrichtung zu gewinnen, die den Fresken Michelangelos gebührt. Nur bei den Figuren Gottvaters auf der „Gestaltung des Chaos" und der „Weltsegnung", sowie bei dem Propheten Jonas kann von einer annähernd konsequenten Konzeption auf eine Untersicht hin gesprochen werden. Als Gerüst für die Fresken baut Michelangelo zwar eine gemalte Rahmenarchitektur auf. In welchem Maße sie aber j egliche Illusionsabsicht vermeidet, zeugt für das grandiose Autonomiegefühl des Renaissancekünstlers. Für „Michelangelo war seine Quadratur nur Mittel, nur Rahmenwerk; eine Maschinerie, mit der er spielt. Daß sie sonst nicht die geringste Bedeutung habe, zeigt der Verzicht auf perspektivische Konsequenz. Er sorgt dafür, jeden Versuch des Ernstnehmens zu vereiteln. Die Gemälde samt ihren Einrahmungen haben je ihren eigenen Augenpunkt, und dieser ist nicht der der Besucher der Kapelle unten; immer wird der gewählt, in dem die Figur am natürlichsten sich darstellt, ohne perspek121

tivische Verzerrung. Den Illusionismus der Mantegna-Melozzosehen Kuppelfresken hat er, wo nicht mißbilligt, so doch persönlich abgelehnt. Es gibt keine gröbere Verkennung seiner Absicht und Nichtbeachtung dessen, was man wirklich sieht, als wenn man sich diese thronenden Männer und Weiber dort oben wie auf Emporen denken wollte, etwa als Zeugen der Vorgänge dort unten; oder die Sklaven mit den Gebärden und Ängsten lebendiger Dachdecker. Sogar die oben im Äther schwebenden Wesen, in den offenen Zwischenräumen der horizontalen Decke, sehen wir so, als befanden wir uns in ihrer Raumschicht. Ja, wie eine Verhöhnung des Verismus hat er ihnen die Gewässer der großen Flut angereiht."1 Diesen Erkenntnissen widerspricht nicht, daß auf Raffaels „Madonna von Foligno" Johannes der Täufer mit deutlicher Gebärde auf Maria hinweist. Denn hier handelt es sich schon dadurch, daß Johannes in einer tieferen Schicht des Bildes steht, um eine Geste im Bilde selbst. Trotz des in die Ferne schweifenden Blickes gilt die Weisung des Täufers eher dem knienden Franziskus als dem Beschauer, ebenso wie die Bewegung des Hieronymus sich auf den Stifter bezieht. Anders dagegen ist es bei der um 1514 entstandenen „Madonna dell'Impannata" im Palazzo Pitti. Hier bezieht sich die auffällig auf Maria hindeutende Hand des am Bildrande sitzenden Johannesknaben bewußt auf ein Publikum. In dieser Gebärde wird die Ausdrucksform der Renaissance verlassen. Hier wird nochmals der große Unterschied gegenüber dem hl. Sixtus auf Raffaels „Sixtina" deutlich, wo die weisende Hand durch die Rampe aus jedem Realitätszusammenhang mit dem Beschauer gelöst wird. Um 1514 ist also eine solche Überschneidung der ästhetischen Grenze bei Raffael selbst unmöglich. Etwas Neues kündigt sich in der „Madonna dell'Impannata" an, das aber nicht auf Raffaels Rechnung zu setzen, sondern später geborenen Schülern zuzuschreiben ist, die, wie die morphologische Betrachtungsweise auch ihrerseits festgestellt hat, zweifellos dieses Gemälde nach den Entwürfen des Meisters ausgeführt haben. Von diesen Entwürfen ist eine Skizze ohne die bedeutsame Figur des Johannes in Windsor (Nr. 82) erhalten. Aus dieser Zeichnung läßt sich schließen, daß Raffael bei seiner ersten Beschäftigung mit der Komposition diese eine Verbindung zum Beschauer herstellende Gestalt überhaupt nicht mit konzipiert hat. Im Berliner Kupferstichkabinett befindet sich allerdings eine in ihrer graphischen Oberfläche nicht mehr ganz originale Silberstiftzeichnung, die den weisenden Johannes und das Christkind aus der „Madonna dell' Impannata" darstellt. Für den Fall, daß man dieses etwas problematische Blatt als eine eigenhändige Vorzeichnung Raffaels ansehen will, ergeben sich dem Gemälde gegenüber sehr wesentliche Unterschiede. Johannes und das Christkind sind einander viel näher gerückt als auf dem Florentiner Bilde. Das 1

Justi: Michelangelo. Bd. I, Berlin 1922. S. 22 f. 122

Kind ist auf der Zeichnung in einer tieferen Raumschicht gegeben, so daß der ausgestreckte, wie auf dem Gemälde über den Rumpf weggreifende Arm des Johannes den in einer formal entsprechenden Gegenkurve nach hinten bewegten Arm des Christkindes berührt. Der psychologische, demonstrative Gehalt des Zeigemotivs ist hier also noch keineswegs ausgeprägt. Es handelt sich vielmehr um ein Anfassen, auch die Bewegung der Finger ist dementsprechend noch ganz anders. Auf der Zeichnung verläuft der Arm des Johannes zudem viel wagerechter, wodurch sich eine harmonischornamentale Kurvenverbindung mit dem Arme Christi bildet; auf dem Gemälde der Raffaelschüler ist der Arm des Täufers im Ellenbogen weit mehr geknickt, so daß eine senkrecht nach oben auf Maria weisende Gebärde entsteht. Diese entscheidenden Veränderungen im Sinne einer neuen Kunsttendenz erscheinen doppelt bedeutsam, da sonst Sitz- und Bewegungsmotive aus der Zeichnung genau Übernommen sind. Man sieht auf diese Weise von Neuem, daß unsere Frage nach der Wahrung der ästhetischen Grenze, wie wir es auch bei einem Fresko der Giottoschule feststellen konnten, bis in Zuschreibungsfragen hinein ihren Wert behält. Ein eigenartiges Beispiel für die bewußte Trennung des Bildgeschehens vom Beschauer, für die Aufhebung jedes Realitätszusammenhangs und jeder Ichbezogenheit ist Lorenzo Lottos „Abschied Christi von Maria" aus dem Jahre 1521 im Berliner Kaiser-Friedrich-Museum. Hier ragen in der vordersten Ebene des Bildes, vom Rahmen überschnitten und gänzlich beziehungslos zu dem dargestellten Vorgang, ein Kirschenzweig, eine Orange und ein gefalteter Brief, der die Signierung des Künstlers trägt, in das Gemälde hinein. Diese neutralen Zwischenglieder besitzen die gleiche ästhetische Funktion wie die distanzierenden Fruchtgehänge im Quattrocento. Dadurch, daß der Zweig relativ groß wiedergegeben ist, charakterisiert er in besonderem Maße die kleineren Gestalten der Abschiedsszene als ein Fernbild, das unerreichbar innerhalb einer autonomen Kunstsphäre gebannt bleibt. Die Nischenstatuen der reinen Renaissance sind wie in einen Schrein eingeschlossen. Sie leben in der Nische wie in einer anderen Welt, keine Gebärde, kein Körperteil und kein Gewandzipfel ragt in den Freiraum hinein. Die gleiche ästhetische Einstellung wie bei der bildenden Kunst läßt sich auch bei dem Theater der Renaissance beobachten. Die Verwendungsart des Vorhangs, welche von uns ja stets als „regietechnisch", wenn auch in einem tieferen Sinne, bezeichnet wurde, wird naturgemäß zum Kernproblem. Hier finden wir daher eine Ergänzung für die in der bildenden Kunst nur durch die „Sixtinische Madonna" wahrhaft zu repräsentierenden Vorhangsdarstellungen der Zeit. 123

In den deutschen Passions- und Fastnachtsspielen des späten Mittelalters umschloß das Publikum von a l l e n S e i t e n die Darsteller. Der Zuschauer sah hinter dem Spielfeld die anderen Zuschauer, so daß das Spiel n u r in einem ausgesparten Teile des Freiraumes, des Raumes, in dem der Zuschauer sich selbst befand, statt hatte. 1 „Ist es doch der Ursinn dieses sozialen Spieles, das ursprünglich ein Spiel aller für alle war, ein Spiel, in dem Publikum und Darsteller zusammen fielen, daß die Sonderdarsteller, die allmählich gewissermaßen die Vertreter der Gesamtheit sind, wenigstens immer noch einen nicht herauslösbaren Teil der ganzen am Spiel beteiligten Menge sind." 2 Wie wir es beim vierten Quattrocento in der bildenden Kunst gesehen haben, macht sich auch in der Entwicklung des Theaterspieles im ausgehenden 15. Jahrhundert die „Sehnsucht nach neuem Pathos zunächst in den selbständigen Marienklagen theatralischen Charakters, dann auch in den entsprechenden Szenen des Passionsspieles die große Geste, besonders die weit ausladende Bewegung der Arme" bemerkbar. 3 Im Gegensatz hierzu erscheint das Theater der Renaissancezeit untheatralisch. „Der Schauplatz darf nicht länger die von allen Seiten vom Publikum umstandene . . . . einen Teil seines Seins bildende Marktplatzoder Stubenbühne sein, sondern muß als ein für sich bestehendes Etwas, als ein Bild erscheinen, dem das Publikum, nur noch locker mit ihm verbunden, gegenüber sitzt." 4 Hier finden wir durchaus das gleiche Verhältnis zwischen Kunstsphäre und Realraum, das von uns für jede ästhetisch autonome Kunstperiode als charakteristisch erkannt worden ist. Auch in den Pantomimen und lebenden Bildern des sechzehnten Jahrhunderts ist „die grundlegende Veränderung der Vorführungsform gegenüber dem Mittelalter unverkennbar, sobald wir deren entsprechende Gebilde, die lebenden Bilder der Fronleichnamsprozessionen, mit diesen Renaissanceschöpfungen vergleichen. Jene werden auf Wagen gefahren und, wie das Passionsspiel, von allen Seiten angesehen; sie sind wie dieses gewissermaßen eine Leistung des Publikums; diese dagegen werden als Werke einer individuellen Künstlerschaft vor das Publikum hingestellt, der Vorhang, der das Bild zunächst bedeckt, wird gewissermaßen von der Seele des einen schaffenden Meisters fortgezogen, so daß die Beschauer nur in eine ihnen eigentlich fremde Welt hineinschauen." 5 Herr1

In der nordischen Malerei und Plastik des 15. Jahrhunderts war der Wechsel von Autonomie und Heteronomie nicht so klar ausgeprägt wie in Italien. So hat auch die ästhetische Entwicklung der deutschen Bühne in dieser Zeit keinen entsprechenden Wandel durchgemacht. ' Herrmann: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance. Berlin 1914. S. 504. » Herrmann (a. a. O.) S. 509. 1 Herrmann (a. a. O.) S. 510. s Herrmann (a. a. O.) S. 511 f.

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mann weist auf die Brüsseler lebenden Bilder des J a h r e s 1496 als auf bezeichnende Dokumente des neuen Stils hin. (Abb. 28.) I m Zusammenhang mit ihnen erwähnt er auch die Berliner „ A n b e t u n g der H i r t e n " des Hugo van der Goes, über deren Beziehungen zum Theater wir bereits gesprochen haben. H e r r m a n n wird jedoch dem grundlegenden ästhetischen Unterschied der beiden Kunstformationen nicht gerecht, wenn er sagt: „Hier sehen wir, genau wie auf den Schaugerüsten der Brüsseler Handschrift, am rechten u n d am linken Bildrande einen zurückgezogenen Vorhang, der hier n u r dadurch etwas mehr ins Bildkünstlerische gezogen wird, daß an jeder Seite ein Prophet in seine Falten greift." 1 An der Überschneidung der ästhetischen Grenze bei v a n der Goes erkannten wir die Zugehörigkeit des Künstlers zu einer heteronomen Stilstufe, deren außerästhetische Bedingtheit aus der religiös erhitzten, pathetischen Stimmung der letzten Phase des fünfzehnten J a h r h u n d e r t s heraus ihre Bestätigung fand, und in diesem Falle noch verstärkt wurde durch eine individuelle Entwicklung zu Weltflucht und Askese. Zwischen dem Gemälde des v a n der Goes aus dem E n d e der siebziger J a h r e u n d den Brüsseler lebenden Bildern von 1496 liegt ein grundsätzlicher ästhetischer Umschwung. Durch den im J a h r e 1493 zu Lyon erschienenen illustrierten Terenz des flandrischen Humanisten Jodocus Badius u n d durch seine zahlreichen italienischen Nachbildungen verbreitete sich die Bühnenform mit dem geschlossenen, die Szene vom Publikum trennenden Vorhang auch in Italien. Das Phänomen, das wir heute mit dem Ausdruck „Renaissance" zu bezeichnen pflegen, ist im Grunde n u r in Italien ganz rein zur Verwirklichung gelangt. Obgleich das von J a c o b Burckhardt in die deutsche Terminologie eingeführte Wort aus Michelets „Histoire de F r a n c e " übernommen wurde, wo es f ü r das französische sechzehnte J a h r h u n d e r t geprägt worden war, erscheinen uns heute die „Renaissancen" aller übrigen Länder, mit Ausnahme Italiens, als abgeleitete unreine Formen, die n u r vergleichsweise mit diesem in sich so präzisen Begriff belegt werden können. Immerhin lassen sich überall Gemeinsamkeiten u n d Berührungspunkte aufspüren, ungefähr in demselben Grade, wie sie auch bei den „ P r o t o - " und „Frührenaissancen" zu bemerken waren. I m Grunde sind diese Begriffsverwischungen jedoch abzulehnen. Es ist sehr zu bedauern, d a ß der autochthone italienische Ausdruck „rinascita", der von Vasari so vielversprechend in die Kunstgeschichtsschreibung eingeführt wurde, sich nicht auch bei uns als terminus technicus eingebürgert hat. Durch unser formalphänomenologisches Kriterium läßt sich n u n ganz unmittelbar erkennen, daß in Deutschland keineswegs von einer Italien entsprechenden, gleichzeitigen „Renaissance" gesprochen werden darf. Die 1

Herrmann (a. a. O.) S. 978.

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noch eng mit der Gotik v e r k n ü p f t e K u n s t der letzten Phase des f ü n f z e h n t e n J a h r h u n d e r t s lebt hier ungebrochen weiter. Grünewalds „ V e r k ü n d i g u n g " vom Isenheimer Altar gehört in die Reihe der f ü r unsere Betrachtungsweise fruchtbaren Vorhangskompositionen. Grünewalds Altar wurde 1511, n u r ein J a h r vor Michelangelos sixtinischer Decke, vollendet. Wie bedeutend erscheint jedoch der Unterschied in der ästhetischen Stellung des K u n s t werkes! Die Verkündigung Mariä geschieht in einer einschiffigen, kreuzgewölbten Kapelle. Maria ist an ihrem Betpult niedergesunken. Z i t t e r n d und überwältigt wendet sie den Kopf ab vor dem in gewaltigem Schwünge hereinrauschenden Erzengel, der ihr mit sprechender Gebärde die Verkündigung überbringt. Das Gewölbejoch, u n t e r dem Maria kniet, ist nach vorn und nach hinten durch zwei quer laufende Stangen, von denen Vorhänge herabfallen, von dem umgebenden R ä u m e abgetrennt. Die Ansatzpunkte der vorderen Stange liegen deutlich an der vorderen Grenze der Architektur, die ihrerseits mit der Bildebene zusammenfällt. Dennoch schiebt sich, wie wir es auch schon im italienischen Quattrocento beobachten konnten, am unteren Bildrande der Fußboden weiter vor. Die im oberen Teile des Bildes bis an die äußerste Grenze der vorderen Bildebene reichende Architektur weicht unten gleichsam zurück, öffnet einen Zwischenraum zwischen sich und dem Rahmen, und in diesen vorspringenden Raum hinein erweitert sich das Gewand der Maria, über den roten Vorhang hinaus, in breitem Fall. Die ästhetische Grenze des Bildgeschehens, die der Vorhang auf Grund seiner Anbringung eigentlich in sich verkörpern müßte, wird nicht geachtet. Grünewalds Kunst erweist sich allein durch diesen Zug in höchst unrenaissancemäßiger Weise als heteronom. Die bewußte Wendung an ein Publikum dokumentiert gleichzeitig die vor der Kapellenarchitektur wie eine dimensionslose Erscheinung schwebende kleine Gestalt eines Propheten, wahrscheinlich des Jesaias, der, magisch beleuchtet und in gotischer Schwingung bewegt, dem Betrachter die geöffnete heilige Schrift weist. Auch Dürers Holzschnitt von 1511 „Der heilige Hieronymus in der Zelle" (B. 114) zeigt eine deutliche Überschneidung der ästhetischen Grenze. Vor der Zelle des Heiligen hängt ein halb zur Seite gezogener Vorhang. Die Art seiner Aufhängung läßt sich gegenständlich nicht recht erkennen. Man sieht zwar die Vorhangsringe, aber eine Stange, an der sie befestigt sein könnten, ist nicht vorhanden. U n d wenn m a n selbst die hellen Schraffuren des Hintergrundes als eine Andeutung der Stange gelten lassen wollte, so würde sie doch in der Mitte des Raumes, an dem P u n k t e , bis zu welchem der Vorhang gezogen ist, unvermittelt aufhören. Schon aus dieser Unklarheit im Gegenständlichen erkennt man, daß die Bedeutung des Vorhangs innerhalb einer anderen, geistigen Ebene liegt. Abgesehen von der rein dekorativen Wirkung, die stets von einer Draperie ausgeht, ist die ästhetische Funktion hier das E n t 126

scheidende. Durch diesen Vorhang ist es für uns leicht, das Herausquellen des Bildgeschehens über die ästhetische Grenze gleichsam fibelhaft abzulesen. Wiederum schließt der Bildraum oben deutlich mit der Vorhangsebene ab, so daß der Vorhang keineswegs nur ein Motiv im Bilde ist, aber unten springt der Raum so weit hervor, daß sogar der Löwe des Heiligen und eine Truhe vor dem Vorhang Platz haben. Übereinstimmend mit der morphologischen Betrachtungsweise können auch wir sagen, daß wahrhafte, ästhetisch distanzierte Renaissancewerke in Deutschland eigentlich nur dann vorkommen, wenn eine starke Bindung an die internationale, das heißt damals vorwiegend die italienische Kunst besteht. Der Kampf um die klare italienische Renaissanceform, den Dürer gegen sein eigenes gotisch-nordisches, labyrinthhaftes Formengefbhl bis zur Selbstentäußerung ausgefochten hat, ist das erschütternde Dokument dafür. Und ebenso wie in das spätgotische Formengefühl fällt er auch stets wieder in eine Heteronomie des Kunstraumes zurück. Im Jahre 1504 entwirft er die „Begegnung an der goldenen Pforte" für die Holzschnittfolge des Marienlebens. Die örtlichkeit des Vorgangs wird bei Dürer zum Rahmenmotiv. Ein ornamentierter Rundbogen umfängt die Szene, die vorn durch eine Schwelle abgeriegelt ist. Man schaut von außen in einen unbetretbaren Bildraum hinein. In diesem Blatt spiegelt sich deutlich ein bis zu gewissem Grade italianisiertes Formgefühl, wie die Bindung der beiden Gestalten zu einer Gruppe mit geschlossenem Umriß beweist, ein Gestaltungsvorgang, der im gleichen Jahre ganz ähnlich empfunden bei der „Heimsuchung" des Carpaccio aus dessen Zyklus des Marienlebens für die Scuola degli Albanesi in Venedig vorkommt. (Heute im Museo cívico.)1 Noch deutlicher wird die Verwandtschaft mit dem Blatt Dürers in Carpaccios Darstellung des gleichen Themas, der Begegnung Joachims und Annas vom Jahre 1515 in der Akademie zu Venedig. 8 Hier fällt es schwer, bei Carpaccio keine Bekanntschaft mit der Komposition des in Venedig so angesehenen, nordischen Künstlers vorauszusetzen, die sich ihrem Wesen nach ohne jede Hemmung in ein italienisches Bild einordnen ließ. Wenn Dürer aber, wahrscheinlich im gleichen Jahre 1504, die heilige Familie, ein dem heimischen Boden entsprossenes, nordisch empfundenes Motiv, für einen Holzschnitt zeichnet, (B. 100), so ragt das Gewand der Maria über die wie bei der „Begegnung" auch hier ganz ähnlich vorhandene Schwelle hinaus, und der Zettel mit der Signatur drängt sich als deutlicher Hinweis vor die ästhetische Grenze. Die Torbogenumrahmung ist von Dürer dann öfter verwendet worden. Auf der Verkündigung des Marienlebens um 1506 stehen zwar ein Blumenglas und das Monogrammschild a u f der Schwelle, v o r die aber keine Form 1 2

vgl. Hausenstein: Vittore Carpaccio. Berlin u. Leipzig 1925. Taf. 49. vgl. Ludwig-Molmenti: Vittore Carpaccio. Mailand 1906. Taf. 282.

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sich schiebt. Die Distanz z u m R e a l r a u m wird hier noch besonders unterstrichen durch einen Querbalken, der auf den Kapitellen der Portikusstützen r u h t und sich wie eine Barriere vor die ganze Szene legt. I n ähnlicher Weise wird die Grenze auch bei der Emmausszene der „Kleinen Passion" gewahrt. Als es Dürer gelang, im J a h r e 1526 eine einmalige großartige Synthese aus nordischem u n d italienischem Stilgefühl in den Münchener Apostelbildern zu ziehen, so d a ß m a n angesichts dieser beruhigten, groß gesehenen Gestalten, die zweckfrei u n d a u t o n o m in einer ästhetisch distanzierten Kunstsphäre leben, wirklich von deutscher Renaissance reden möchte, so widerlegte er sich selbst im gleichen J a h r e von neuem durch das P o r t r ä t J o h a n n Klebergers, das heute in Wien bewahrt wird. Der aus grünem Grunde wie eine plastische Büste hervorspringende Kopf überschneidet die medaillonartige r u n d e U m r a h m u n g u n d scheint beinahe illusionistisch die Bildebene zu durchstoßen. E r ist ein Beweis f ü r die abermals heteronome Einstellung von Dürers K u n s t . Hans Holbein d. J . , der einzige wirkliche Renaissancekünstler, der deutschem Boden entsprossen ist, k a n n in seinen reifen Werken im Grunde nur als eine internationale Erscheinung verstanden werden. I n den heute nicht mehr erhaltenen Fassadenmalereien seiner Frühzeit am Hertensteinhaus in Luzern und am „ H a u s zum Tanz 1 ' in Basel k o m m t , soweit sie nach Kopien und Rekonstruktionen zu beurteilen sind, auch bei Holbein ein Illusionismus zum Ausdruck, der eine schrankenlose Verbindung von gemaltem und freiem R ä u m e vortäuscht. Auf die glatte Fassade des Hertensteinhauses malt er eine illusionistische Loggia mit Gestalten u n d das u m 1520 entstandene „ H a u s zum T a n z " wird durch Malerei aus einem alten gotischen Bau in einen Palast mit Durchblicken u n d Baikonen verwandelt. Die mit höchster Täuschungskraft aus einer Nische heraussprengende gemalte Reiterstatue stellt in erstaunlicher Weise die Verbindung von Kunst- und Realraum her. Das Gefühl f ü r die ästhetische Distanz ist in Deutschland zu dieser Zeit durchaus labil. Und wenn bei einem Künstler wie Strigel ein so außerordentlich distanziertes P o r t r ä t , wie der hinter einem Fensterausschnitt sichtbare, streng umschlossene Kaiser Maximilian des Wiener Museums vorkommt, so handelt es sich u m eine Ausnahme in seinem Schaffen und u m einen Schnittpunkt der innerdeutschen Entwicklungslinie mit der von Italien ausgehenden Strömung. Als typisch erscheint in diesem Zusammenhange das Gemälde des Joos v a n Cleve im Museum zu Neapel, welches das Christkind und den kleinen Johannes darstellt. 1 Dieses in den Jahren 1528—29 entstandene Werk zeigt die einander küssenden Kinder auf einem Lager, das von Vorhängen verdeckt werden könnte, die zu beiden Seiten 1

Baldass: Joos van Cleve Wien 1925. Abb. 73.

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wie Fenstergardinen hinter einer Bordüre von Lambrequins hervorkommen. Vor diese mit der Bildebene zusammenfallende Bordüre und die Vorhänge dringt das Bildgeschehen nicht hinaus. Eine ideal distanzierte Bühne ist errichtet, die künstlerische Autonomie der klassischen Kunst ist in diesem Bilde verwirklicht. Ein anderes Gesicht nimmt aber diese Tatsache an, wenn man hinzufügt, daß Joos van Cleves Komposition unmittelbar von Luinis „Heiliger Familie" im Prado abhängig ist. Die distanzierte Renaissanceform scheint für einen nordischen Maler ohne die Mitwirkung Italiens nicht erreichbar zu sein. Ein deutliches Beispiel für die renaissancefremde Strömung in der deutschen Kunst im ersten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts ist Hans Burgkmairs Selbstbildnis mit seiner Frau aus dem Jahre 1529 in Wien. Hier sieht man bereits, wie leicht es später der Barock haben sollte, in die nordische Kunst einzudringen. Ebenso wie für die Formengeschichte, gestaltet sich auch für unsere Betrachtungsweise die Entwicklung der deutschen Kunst zu einer nur durch kleine Zwischenspiele unterbrochenen Folge von Spätgotik und Barock. Die beiden Gestalten auf dem Bilde Burgkmairs tauchen aus einem weichen Dunkel auf, scharf blicken die Augen des Künstlers aus dem Bilde heraus, dem Beschauer entgegen, dem auch die ausdrucksvolle Gebärde der Hand gilt, die durch keine Grenzzone abgeriegelt wird. Bei der Darstellung seiner Frau läßt Burgkmair es sich aber mit der Wiedergabe des vom Leben gezeichneten, ergreifend abgearteten Gesichtes nicht genügen. Er gibt der Frau einen Konvexspiegel in die Hand, aus dem zwei Totenköpfe herausschauen. Die reine Form wird dadurch ad usum spectatoris gleichsam kommentiert. Die Gestaltung eines menschlichen Phänomens als solches befriedigt Burgkmair nicht. Eine lehrhafte Tendenz muß hinzugefügt werden. Für eine heteronome Kunst, die auf diese Weise aus der Bildsphäre heraus eine Brücke zum Beschauer schlägt, ist alles Irdische nur ein Gleichnis. Auch in der deutschen Plastik der Renaissancezeit zeigt sich eine innere Zwiespältigkeit. Die außer in der formal beruhigten und ästhetisch distanzierten Sondergruppe von Schnitzaltären (Bopfingen, Nördlingen, etc.) im 15. Jahrhundert stets wirksame heteronome Richtung wird fortgesetzt. Der bei den Straßburger Halbfiguren des Nikolaus Gerhaert schon auftretende Illusionswille gelangt bei den Selbstbildnissen des Anton Pilgram in St. Stefan zu Wien (1513—1515) zu einer beinahe barocken Steigerung. Am Orgelfuß stellt der Künstler sich dar, als beuge er sich aus einem gerahmten Fensterausschnitt heraus, während auf seinem Rücken eine tragende Konsole lastet. 1 Die Hände der sich vom Relief bis zur Rundplastik entwickelnden Figur ragen mit Reißzeug und Lineal über den Rahmenausschnitt in den Kirchenraum hinein. Unterstützt durch die 1

vgl. Feulner: Die deutsche Plastik d. 16. Jahrh. München 1926. Taf. 21. 9

Michalik!.

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naturalistische Bemalu n g wird hier eine LebensnShe u n d ein Realitätszusammenhang mit dem Beschauer erreicht, der als solcher der Wirkung der modeneser Tonplastik des Quattrocento k a u m nachsteht. An der Wiener Kanzel stellt Pilgram sich dar als eine sich am Fensterpfosten haltende u n d sich über die Brüstung hinausbeugende Halbfigur, deren K r a f t , die K l u f t von Kunst- u n d Realraum zu fiberbrücken, ganz außerordentlich ist. 1 Man f ü h l t sich hier u n d bei den anderen Kanzelreliefs des Künstlers bereits an illusionistische Kompositionen des Barock, wie Berninis Cornaro-Reliefs in S. Maria della Vittoria zu Rom erinnert. Auch Benedikt Dreyers Lettnerfiguren der Lübecker Marienkirche (1510—15) treten weit aus ihren Wandnischen heraus, u n d sogar bei einem gerade in seinem architektonischen Teil so renaissancemäßig empfundenen Monument, wie bei Backoffens G r a b m a l des Erzbischofs Uriel von Gemmingen ( t 1514) in Mainz wird der gezahnte und profilierte Sockel von den Gewandzipfeln der Figuren leise fiberschnitten. Selbst Peter Vischer, den m a n in morphologischer Hinsicht als einen der wenigen Vertreter deutscher Renaissance anzusprechen geneigt ist, verbindet diese Formgebung oft mit den Merkmalen einer außerästhetischen Bedingtheit. So wie auf der ihm zugeschriebenen f r ü h e n Gedenktafel der Bischöfe Hariolf u n d Erolf in der Stiftskirche zu Ellwangen die Gestalten aus dem Reliefgrunde weit hervorquellen, Bischofsstab u n d Bischofsmütze den Inschriftsrahmen fiberschneiden, treten auch in den J a h r e n 1508 und 1509 die Statuetten a m Sebaldusgrab in Nürnberg, die den Meister selbst u n d den heiligen Sebaldus darstellen, in schreitender Bewegung aus ihren Nischenräumen über die Grenze des Realraums. 2 Und wenn man in formengeschichtlicher Hinsicht gerade bei den Sebaldusgrabstatuetten Vischers Erinnerungen an die klassische Monumentalplastik des hohen 13. J a h r h u n d e r t s mit Recht gesehen h a t , so m u ß doch im Gegensatz dazu betont werden, wie stark hier immer noch die seit dem 14. J a h r h u n d e r t herrschende Verwandlung der ästhetischen Funktion ist. Bei den Söhnen Peter Vischers verstärkt sich die künstlerische Heteronomie noch trotz reichlicher A u f n a h m e italienischen Formengutes der Renaissance. Auf H e r m a n n Vischers d. J . Deckplatte f ü r das Grabmal Elisabeths und Hermanns V I I I . zu Henneberg in Römhild ragt der Ellenbogen des Ritters in einer f ü r diese ausgewogene Komposition beinahe brutalen Weise in den Inschriftsrahmen hinein. Es ist, als ob ein immanenter Zwang ohne jede gegenständliche Notwendigkeit die isolierende Bedeutung des Rahmens aufheben müßte. 3 Noch deutlicher wird dies bei den Statuetten 1

vgl. Pinder: Die deutsche Plastik vom aasgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance (a. a. O.) Bd. II Abb. 430. ' vgl. Melier: Peter Vischer d. Ä. u. seine Werkstatt. Leipzig 1925. Abb. 37, 1, 43. » vgl. Melier (a. a. O.) Abb. 70, 74—77.

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des Römhilder Grabmals. Besonders der Maria die Schmuckkassette anbietende König Kaspar aus der Szene der Anbetung, bei welcher jede Figur einzeln, von den anderen weit getrennt auf einem Sockel für sich und vor eine Hohlkehle gestellt ist, schiebt sich seitwärts aus seiner Raumzone heraus und stellt durch den Freiraum hindurch eine Verbindung zur Jungfrau her. Diese Einbeziehung des Realraums in die Komposition wäre besonders dem 13. Jahrhundert ganz unmöglich gewesen, was anläßlich der Straßburger Ecclesia und Synagoge betont wurde. Peter Vischers d. J . Epitaph des Kanonikus Anton Kress (t 1513) in der Lorenzkirche zu Nürnberg bringt eine perspektivische Bildnische in den architektonischen Formen des italienischen Quattrocento.1 Im Vordergründe des Bildraumes ist eine Stufe, über die das Gewand des knienden Kanonikus gleichsam in den Realraum hineingleitet, wodurch das Relief zu einem Fragment des Raumes wird, in dem der Beschauer sich befindet. Auch auf dem Relief des jüngeren Peter Vischer am Sebaldusgrab, das den Heiligen zeigt, wie er sich am brennenden Eiszapfen wärmt, ragt am rechten Bildrande der Arm eines Mannes freiplastisch weit über den Reliefgrund hinaus. Es ist interessant zu beobachten, wie in der Vischer-Werkstatt die ästhetische Autonomie als konstitutives Kennzeichen erst dann einkehrt, wenn auch in morphologischem Sinne von einer manieristischen Formgebung gesprochen werden muß. Immerhin soll betont werden, daß schon bei Peter Vischer d. Ä. die Kunstwerke, bei denen die ästhetische Grenze gewahrt wird, nicht mehr selten sind. Die Unausgeglichenheit des raumästhetischen Gefühls, das Schwanken zwischen renaissancemäßiger Autonomie und spätgotischer Heteronomie kennzeichnet, wie die deutsche Malerei, auch die Plastik des ersten Viertels des 16. Jahrhunderts. Auch durch eine Berücksichtigung der verschiedenen Generationsreihen läßt sich in diese Zwiespältigkeit keine Ordnung bringen. Der Stil als solcher ist in ästhetischer Hinsicht grundsätzlich labil, und dementsprechend werden wir dort, wo wir angewiesen werden, nach den hinter dieser Kunst wirksamen Kulturphänomenen zu suchen, die gleiche Uneinheitlichkeit finden. Selbst ein in seiner klassischen Monumentalität durchaus renaissancemäßig anmutendes Werk wie Loy Herings Denkmal des heiligen Willibald in Eichstätt (1514) spielt leise mit der ästhetischen Grenze. Und wenn es hier nur die Fußspitze des Heiligen ist, die ganz schwach über die Plinthe der in einer Nische thronenden Figur hinaus ragt, so steigert sich die Nichtachtung der Rahmenbegrenzung in einem Spätwerk des gleichen Künstlers, in dem Epitaph des Johann Menger (t 1554) in der Klosterkirche von Kastl, zu einer ganz eigenartigen Formation. (Abb. 29.) Hier steht Maria mit dem Kind in einer flachen Reliefnische, die durch eine verkürzt wiedergegebene 1

vgl. Melier (a. a. O.) Abb. 103. 9*

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Apsisrundung eine gewisse Scheintiefe erhält. Der A b t aber, dem das Grabmal gilt, kniet neben der J u n g f r a u außerhalb des durch die Nische angegebenen rechteckigen Feldes, auf einer besonderen Konsole. Seine Gestalt hebt sich von dem weit in den Realraum hinein f l a t t e r n d e n Mantel der Maria wie von einem Reliefgrunde ab. Auch in formaler Beziehung m u ß hier der Willibaldstatue gegenüber von einer Regotisierung gesprochen werden. Die Dimensionslosigkeit der Stilstufe, die m a n deutscheRenaissance nennt, kann nicht deutlicher zum Ausdruck gelangen. I n einer besonders auffallenden Weise t r i t t die Heteronomie der K u n s t des Loy Hering in dem Altarrelief zu Rupertsbuch bei E i c h s t ä t t (1551) hervor (Abb. 30.) Hier hat der Künstler die Dreifaltigkeit in enger Anlehnung an Dürers Holzschnitt von 1511 zur Darstellung gebracht. Abgesehen von einigen durchgreifenden Veränderungen der Einzelformen und von der Hinzufügung der Stifter h a t Hering vor allem die Komposition als solche in einem f ü r uns entscheidenden Sinne verwandelt. Wo Dürer, durch das Format des Blattes gezwungen, Engelsflügel und Gewandteile vom Rande überschneiden läßt, die trennende K r a f t der Umfassung also anerkennt, ergänzt der Reliefbildner die überschnittenen Formen stets wieder und läßt sie allenthalben auf den wie ein Bildrahmen gestalteten, profilierten Rahmen der Altarplatte übergreifen. J a , nicht einmal diese Rahmenüberschneidungen genügen ihm. Links oben silhouettieren sich Flügel und Ärmel eines Engels sogar frei gegen den L u f t r a u m . Die Reihe dieser Beispiele ließe sich noch durch H a n s Dauchers E p i t a p h des Wolfgang Peisser (f 1526) in der Ingolstädter Minoritenkirche vermehren, wo die in einer vertieften perspektivischen Nische erscheinenden Engelsgestalten mit den H ä n d e n über die Brüstung greifen, die, als Inschrifttafel ausgestaltet, die vordere Grenze u n d neutrale Trennungszone gegen den Beschauer darstellt. 1 I m Werke Adolf Dauchers, des Vaters, können ästhetische Grenzüberschneidungen jedoch nicht nachgewiesen werden. Und in der gleichen Zeitspanne wird sogar das Motiv der Schutzmantelmadonna am Locherer-Altar des Sixt von Staufen (1522—24) im Freiburger Münster ästhetisch distanziert. Auch die Reihe der autonomen Kunstwerke könnte noch vermehrt werden. Man m u ß jedoch stets betonen, daß die heteronome, dem reinen Renaissancebegriff fremde Strömung in der deutschen Kunst des 16. J a h r h u n d e r t s überwiegt und ununterbrochen fortlebt. Über die gleichzeitig auftretenden Werke des manieristischen Stils innerhalb der deutschen Plastik wird in anderem Zusammenhange gesprochen werden. Um unsere auf rein deskriptiv-ästhetischem Wege gewonnene Erkenntnis der Entbehrlichkeit geistesgeschichtlicher Phänomene bei einer kunstwissenschaftlichen Erfassung der italienischen Renaissancekunst nach1

vgl. Feulner (a. a. O) Taf. 73.

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träglich auch durch die Ergebnisse anderer Betrachtungsweisen zu erhellen, soll hier wieder ein kurzer Überblick über die allgemeine kulturelle Haltung der Zeit folgen. Als eine der typischsten Erscheinungen der Renaissance muß Niccolo Machiavelli angesehen werden. Dilthey sagt, der Mensch sei f ü r Machiavelli eine N a t u r k r a f t , eine lebendige Energie gewesen. 1 Aus dieser gleichsam dynamischen Auffassung ergibt sich eine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber der Richtung der bewegenden K r a f t u n d gegenüber jeglicher Wertung in ethischen Fragen. W e n n Machiavelli gegen das P a p s t t u m als die Quelle aller Korruption a n k ä m p f t e , so geschah dies nur aus ökonomischen und politischen Erwägungen. E r h a t t e die Exzesse Sixtus IV. und Innocenz V I I I . miterlebt, der Päpste, die durch den religiösen Läuterungsprozeß im vierten Quattrocento, in dessen B r e n n p u n k t Savonarola stand, völlig unberührt geblieben waren. Die u n t e r Sixtus IV. ins Schrankenlose wachsende Simonie schildert Burckhardt in folgenden W o r t e n : „Käuflich sind bei uns Priester u n d Heiligtümer, Altäre und Gebete, j a der Himmel u n d Gott selbst, klagte ein damaliger frommer Dichter, der den Papst, der übrigens selbst die päpstliche W ü r d e nicht ohne Bestechung erhalten h a t t e , aufs dringendste ermahnte, solche Übel abzustellen." 2 Und über Innocenz V I I I . heißt es: „ H a t t e Sixtus das Geld beschafft, durch den Verkauf aller geistlichen Gnaden u n d Würden, so errichten Innocenz V I I I . u n d sein Sohn eine Bank der weltlichen Gnaden, wo gegen Erlegung von hohen Taxen Pardon f ü r Mord u n d Totschlag zu haben war. Von jeder Buße kamen 150 Dukaten an die päpstliche K a m m e r . " Machiavelli lehnte das P a p s t t u m ab, „aber seine Komödien zeigen, wie skrupellos er die Korruption der Zeit nicht nur h i n n a h m , sondern genoß." 3 E r war ein bewußter Gegner der christlichen Religion, von der er sagte: „Diese läßt uns die E h r e der Welt geringer schätzen und m a c h t uns d a r u m sanfter und milder. Die Alten aber hielten diese Ehre f ü r das höchste Gut u n d waren darum in ihren T a t e n und in ihren Opfern kühner. Die alte Religion sprach überdies nur die Menschen selig, welche weltlichen Glanzes voll waren, wie Führer der Heere und Lenker der Staaten. Unsere Religion h a t mehr die demütigen u n d beschaulichen Menschen verklärt als die handelnden. Sie hat das höchste Gut in die D e m u t , die Niedrigkeit und die Verachtung des Irdischen gesetzt, die Alten setzten es in Geistesgröße, Körperstärke u n d alles, was sonst geeignet ist, die Menschen recht t a p f e r zu machen. Unsere Religion verlangt die Stärke mehr zum Leiden, als u m eine tapfere Tat zu vollbringen. So ist die Welt zur Beute von Bösewichtern geworden, welche mit Sicherheit über sie schalten können, weil die Menschen um ins Paradies 1 2 3

Dilthey (a. a. O.) S. 633. Burckhardt (a. a. O.) Bd. I. S. 89. S. 91. Dilthey (a. a. O.) S. 635.

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zu kommen, mehr darauf bedacht sind, ihre Mißhandlungen zu dulden als sie zu rächen." Aus diesen Anschauungen heraus erklären sich seine höhnischen Worte: „Könnte man die Kurie in die Schweiz, als das religiöseste und kriegerischste Land senden, so würde dieses Experiment erweisen, wie der päpstlichen Korruption und Intrige keine Frömmigkeit und keine kriegerische Kraft widerstehen können." (Discorsi I, 12.) Herrschaft, Macht und Größe im Sinne des römischen Imperatorentums werden nicht zuletzt durch Machiavelli und seine Schrift „II Principe" zu den leitenden Idealen der Renaissance. Wie sehr nicht nur das antiquarische Interesse an der Antike, sondern die Einfühlung in das antike Weltbild allgemein geworden war, beweist das Verhalten des sieneser Domherrn Tizio, von dem Burckhardt erzählt.1 Als Feinde des Tizio Vaterstadt belagerten, „gedachte er dessen, was im dritten Buch des Macobius (Saturnalien) geschrieben steht, las eine Messe und sprach dann die in jenem Autor aufgezeichnete Devotionsformel gegen die Feinde aus, nur daß er statt „tellus mater teque Jupiter obtestor" sagte: „tellus teque Christe Deus obtestor." Nachdem er damit noch an den zwei folgenden Tagen fortgefahren, zogen die Feinde ab. Von der einen Seite sieht dergleichen aus wie eine unschuldige Stil- und Modesache, von der anderen aber, wie ein religiöser Abfall." Ihren Höhepunkt erreichte die Korruption und Grausamkeit im Dienste einer hemmungslosen Machtgier bei den Borgia. Unter dem Pontifikate Alexanders VI. (1492—1503) übersteigen skrupellose Simonie, Schacher und Wucher mit geistlichen Würden, gegenseitige Verfolgung, Bespitzelung, Gift- und Meuchelmord alles Dagewesene. In der Gestalt des Cesare Borgia, dem Sohne des Papstes, findet der schrankenlose Individualismus der Renaissance ihren reinsten Typus. Diese Lebensform ist es, von der der seinerseits in gleichem Maße von christlichen Wertungen freie Nietzsche bewundernd sagt: „Die Renaissance bleibt immer noch die Höhe dieses Jahrtausends; und was seither geschah, ist die große Reaktion aller Art von Herdentrieben gegen den „Individualismus" jener Epoche". Mit Notwendigkeit taucht hier die Erinnerung an einen Charakter wie Sigismondo Malatesta auf, den grausamen und gotteslästerlichen Condottiere aus der dritten, künstlerisch autonomen Phase des Quattrocento. Auch dieselbe Freiheit-und Grenzenlosigkeit des erotischen Lebens kehrt wieder. Es zeugte gewiß schon von einer mit der reifen Renaissance vergleichbaren Gesinnung, als Sigismondo seinerzeit die Kirche S. Francesco in Rimini als Grabmal für seine Geliebte errichtete. Immerhin tat ihn der zwar durch seine wissenschaftliche Orientierung an der Antike selbst der Religion entfremdete Pius II. dennoch in den Bann, während nun das Papsttum selbst zum Zentrum einer unerhörten sittlichen Krise wird. Die Absage Burdachs 1

Burckhardt (a. a. O.) Bd. II. S. 183. 134

gegen den ,Renaissancemenschen" von Nietzsches und Burckhardts Prägung erscheint deshalb als nicht ganz berechtigt. Burckhardt faßt in seinem weiten Renaissancebegriff allerdings nicht nur die Menschen der Frähzeit des 16. Jahrhunderts. In der Beschränkung auf diese Zeit kann Burdach nicht entschieden genug zugestimmt werden. Wenn Burdach aber sagt, im Zeitalter der Renaissance seien „tausende und abertausende Bilder für Kirchen bestellt, gemalt, bezahlt worden", 1 so erkannten wir bereits an unserem formal-phänomenologischem Kriterium, daß diese rein historischgenetische Tatsache nicht gegen eine vollkommene, innerliche Säkularisierung und ästhetische Immanenz der Kunst sprechen kann. . Wenn Troeltsch glaubt, das, was man als das Heidentum der Renaissance bezeichnet, hafte gerade an den Theorien und Maximen der nicht schöpferischen Geister oder an der Praxis derjenigen, die mit den großen Schöpfungen auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft nichts zu tun hatten, so muß dem widersprochen werden. 2 Troeltsch sagt: „ I n den großen schaffenden Geistern bemerkt man zum weitaus überwiegenden Teil die Sehnsucht, christliche Seelentiefe mit der neu entdeckten Sinnlichkeit und Naturherrlichkeit durch ein höheres Drittes zu vereinen, das freilich auch so scharf genug von der alten Welt sich abhebt.' 4 Troeltsch stützt diese These auf Künstler wie Donatello und Ghirlandajo, die, wie wir gesehen haben, in die beiden heteronomen Phasen des Quattrocento gehören und keineswegs gültige Exponenten der Renaissance sind, und auf Michelangelo, der sich, wie alle großen schöpferischen Persönlichkeiten, in der kurzen Pause, welche die Renaissancekunst zwischen zwei Bewegungsstößen darstellte, nicht erfüllen und entfalten konnte und daher vom vierten Quattrocento bis zum Frühbarock (unter Berührung des Manierismus) reichte. In der Renaissance lenkte sich „die trotz allem vorhandene starke Religiosität bei den tieferen Naturen" höchstens in die Bahnen des Deismus. 3 Der Deismus nimmt einen Gott als gegeben an, der die Welt geschaffen hat, sie nun aber sich selbst überläßt, so daß alles ohne jeglichen erneuten göttlichen Eingriff seinen Weg nimmt. Es ist das gleiche, wenn Machiavelli sagt: „Wir können uns nicht ändern, sondern müssen dem nachgeben, wozu unsere Natur neigt." (Discorsi III.) Hieraus folgt nun aber keineswegs ein Determinismus. Im Gegensatz zur Reformation, die Luthers Prädestinationslehre, wie wir noch näher sehen werden, freudig ertrug, wäre dies dem Individualitätsbegriff der Renaissance inadäquat gewesen. Machiavelli sagt daher auch im „Principe", in deutlicher Anlehnung an den antiken Schicksals- und Fortunabegriff: „Ich glaube, daß das Glück die 1 2

3

Burdach (a. a. O.) S. 91. Troeltsch: Renaissance und Reformation. (Ges. Schriften. Bd. IV. Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie) Tübingen 1925, S. 270. Burckhardt (a. a. 0.) Bd. II. S. 220.

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H ä l f t e unserer Handlungen gebietet, d a ß es aber die andere H ä l f t e uns selbst überläßt." Der von Machtbewußtsein erfüllte T i t a n , der Übermensch, bleibt die Inkarnation der Renaissance, wobei es als selbstverständlich erscheint, daß, schon als Korrelat zu diesem Herrschertyp, eine breite Schicht duldender u n d geknechteter Menschen zur gleichen Zeit gelebt haben muß. E n t scheidend ist nur, daß das, was f r ü h e r eine Komponente des Daseins darstellte, jetzt zur Dominante geworden ist. Deshalb heftete auch Machiavelli alle Hoffnungen auf einen geeinten Staat an die Persönlichkeit des Cesare Borgia, der ihm alle Voraussetzungen zu besitzen schien, den Kirchenstaat zu säkularisieren und der Uberreife des P a p s t t u m s ein Ende zu bereiten. F ü r Machiavelli stand die staatspoiitische Notwendigkeit und Nützlichkeit über aller Moral, über aller Kirche. I m Grunde ist dieses verkappt ästhetische Einheitsideal für den politischen Organismus durchaus das Gleiche, wie die Autonomie, die Unbeschwertheit aus formfremdem Gebiet, die Unbekümmertheit um außerästhetische Zwecke und Ziele, welche der Kunst der Renaissance innewohnt. Eine deutliche Parallele zu der Betonung der ästhetischen Grenze zwischen K u n s t und Wirklichkeit t r i t t in dem Verhalten des Lodovico Moro von Mailand, des Mäzens Leonardos da Vinci, hervor. Es wird berichtet, der Herzog habe bei seinen Audienzen zwischen sich und die Abgesandten eine Barriere aufgestellt, so d a ß die Besucher in weiter Entfernung verharren m u ß t e n und sich oft nur schwer verständlich machen konnten. 1 „Odi p r o f a n u m vulgus et arceo." Wenn auch unter dem Pontifikate Julius I I . (1503—13) die Sittenlosigkeit und Willkür einer geordneten Lebensweise Platz machten, die Simonie verboten und gegen Gift und Mord energisch eingeschritten wurde, so bleibt die Gestalt des Papstes, in anderer Weise zwar, doch ebenso entscheidend von seiner ursprünglichen Bestimmung als Statthalter Christi auf Erden entfernt. Julius pflegte in schlemmerhafter Weise die Genüsse der Tafel. „Auch sonst war er im Leben und Denken echt weltlich gesinnt, hielt weder Bundesgenossen, noch Gegnern Treu und Glauben, aber er ging in seiner Politik unverrückt auf ein großes Ziel los und imponierte dadurch den Widersachern." 2 Burckhardt weist mit Recht darauf hin, daß der Plan Bramantes f ü r den Neubau von St. Peter in seiner gedrungenen Kraftfülle als der symbolische Ausdruck f ü r die einheitliche Macht gelten könne, die sich in Julius II., dem „Pontifice terribile", — was hier durchaus als Lob zu verstehen ist, — konzentrierte. So soll der Papst, wie Vasari und ähnlich Condivi (Kap. 32) berichten, zu Michelangelo gesagt haben, als dieser an seiner P o r t r ä t s t a t u e arbeitete und ihn fragte, ob er ihm ein Buch in die H a n d geben sollte: „Mettivi una spada, che io non so lettere." 1 4

vgl. Burckhardt (a. a. O.) Bd. I. S. 95 und Dilthey (a. a. O.) S. 634. Burckhardt (a. a. O.) Bd. I. S. 100.

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In höchst geistvoller Weise h a t Burckhardt die innerlich notwendige Verknüpfung des Spottes und der Satire, der Verkleinerung menschlicher Größe also, mit dem Übermenschenideal der Renaissance dargelegt." Das Korrektiv nicht nur des Ruhmes u n d der modernen Ruhmbegier, sondern des höher entwickelten Individualismus überhaupt ist der moderne Spott und H o h n , womöglich in der siegreichen Form des Witzes." 1 Hierdurch wurde erst eine Erscheinung wie Pietro Aretino möglich, der Pamphletist, scheinheiliger Sittenrichter, geistvollerSpötter, ausschweifender Lebemann, skrupelloser Erpresser u n d feinsinnigster Kunstliebhaber in einer Person war. Leo X . (1513—21), Nachfolger Julius I I . auf dem Stuhle P e t r i u n d Sohn des Lorenzo Magnifico de'Medici, h a t t e ständig Narren u n d Spaßmacher an seinem Hofe. „Der auf die feinsten geistigen Genüsse gerichtete und darin unersättliche Fürst erträgt u n d verlangt doch an seiner Tafel ein paar witzige Possenreißer u n d Freßkünstler, darunter zwei Mönche und einen K r ü p p e l ; bei festlichen Zeiten behandelte er sie mit gesucht antikem H o h n als Parasiten, indem ihnen Affen und R a t t e n unter dem Anschein köstlicher Braten aufgestellt wurden." 2 P r u n k , Theater, Karneval u n d Festlichkeiten lösten einander ab. Bek a n n t ist die Karnevalsaufführung des Jahres 1521, bei der die Frivolität und die Verspottung eines christlich-asketischen Lebens so weit geführt wurde, daß einem Eremiten von der Liebesgöttin Venus ein schönes Mädchen zugeführt wurde. Leos Bedarf an Geld stieg ins Ungemessene. Um seine zerrütteten Finanzen etwas zu heben, versprach er im Jahre 1517 der Christenheit einen allgemeinen Ablaß, der durch die Bezahlung einer Summe für den Bau der Peterskirche erworben werden sollte. An diesem P u n k t e setzte politisch die Reformation Luthers ein. Die E r b i t t e r u n g war in Deutschland besonders angewachsen. Man wollte die Käuflichkeit von Heilstatsachen nicht länger dulden. Wir haben an H a n d eines Querschnitts durch die deutsche K u n s t des beginnenden 16. J a h r h u n d e r t s rein deskriptiv erkannt, wie wenig ausgewogen hier das f ü r uns entscheidende Verhältnis von Kunst- u n d Realraum war. E s wird nun f ü r die Gültigkeit und Beweiskraft unseres formalphänomenologischen Kriteriums zeugen, wenn, im Gegensatz zu der Kulturder italienischen Renaissance, diese Zwiespältigkeit auch von geistesgeschichtlicher Seite in der deutschen Reformation, dem bedeutendsten K u l t u r p h ä n o m e n e n des 16. J a h r h u n d e r t s diesseits der Alpen, aufgedeckt werden k a n n . Aus der im vierten Quattrocento neu erstarkten Religiosität leitet sich auch die Idee einer Wiedergeburt der christlichen Religion her. Hinzu tritt die durch die Lektüre der antiken Klassiker zu einer Selbstverständlichkeit 1 2

Burckhardt (a. a. O.) Bd. I. S. 130. Burckhardt (a. a. O.) Bd. I S. 134.

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gewordene philosophische Forderung der Renaissance: ad fontes! Auf die Religion übertragen bedeutete das ein unmittelbares Zurückgehen auf Christus selbst und auf Paulus, als den eigentlichen Stifter und Organisator der christlichen Kirche. Dieses Herauswachsen der reformatorischen Bewegung aus dem Geiste des Humanismus und der Renaissance verkörperte sich in der Person des E r a s m u s von Rotterdam. Erasmus, den Dilthey den Voltaire des 16. J a h r h u n d e r t s genannt h a t , war das H a u p t der antipäpstlichen Bewegung. I n seinem „Lob der Narrheit" spottete er über Kirche, Mönchtum und Heiligenkult. E r forderte religiöse Toleranz, radikalen Pazifismus und t r a t f ü r die liberalen Ideen des Humanismus ein. Und als Humanist versuchte er, den Geist der Bergpredigt auf seine Weise wiederherzustellen. E r restituierte 1516 das neue Testament im griechischen Urt e x t . „ E r wollte das reine Evangelium erfassen. Dieser Aufgabe diente seine wichtigste wissenschaftliche Arbeit, die Edition des Neuen Testaments ; dann die nach Vallas Vorgang auf historisch-kritisches Verständnis gerichteten Annotationen zum Neuen Testament und Paraphrasen zu den Briefen und zu den Evangelien des Matthäus und J o h a n n e s ; ebenso seine Leistungen: Anfänge einer Patrologie. Mit all diesen gelehrten patristischen Hilfsmitteln suchte er n u n aber vorzudringen bis zu der „Philosophie Christi" 1 . Schon in diesem Ausdruck liegt die contradictio in adjecto, die innere Zwiespältigkeit der Reformationsbewegung angedeutet. Zwischen wissenschaftlicher Autonomie des individuellen Denkens und mittelalterlicher Heteronomie des dogmatisch festgelegten Glaubens schwankt die Reformation von ihren Anfängen an in allen ihren Richtungen und Vertretern. Besonders bezeichnend hierfür ist die persönliche Entwicklung Luthers selbst. Wie tief er im Schöße der Kirche verwurzelt war, deckt sein plötzlicher Eintritt ins Kloster im J a h r e 1505 auf, der alle seine bisherigen Pläne über den H a u f e n warf. Der schreckhafte Eindruck eines Gewitters war das auslösende Moment, und m a n hat mit Recht stets den Vergleich mit dem Erlebnis Pauli zu Damaskus gezogen. Luther bekennt später selbst seinem Vater, d a ß er das Gelübde, ins Kloster zu gehen, nicht freiwillig geleistet habe, sondern daß es ihm von der Not u n d von der Angst vor einem plötzlichen Tode abgepreßt worden sei. E r h a t es dann erfüllt, um sein Wort zu halten, vielleicht auch aus einer gewissen alttestamentarischen Furcht vor der Rache Gottes. Und so geht Luthers Entwicklung weiter. Die Verbindung zur katholischen Kirche des Mittelalters wird im Altprotestantismus lutherischer Observanz nie ganz durchbrochen. Enge Fäden verknüpfen Luther mit der Mystik Taulers, mit dem weltfremden, mittelalterlichen Gedanken des „Entwerdens", und als er im J a h r e 1517 seine 95 Thesen an die Wittenberger Schloßkirche schlägt, so hofft er, 1

Dilthey: II. Teil d. „Auffassung und Analyse d. Menschen im 15. u. 16. Jahrhundert: die Reformation." (Ges. Schriften Bd. II) Leipzig u. Berlin 1914. S. 43f.

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noch im Rahmen der römischen Kirche, den käuflichen Ablaß bekämpfen zu können. Er stellte die Gnade an die Stelle des Ablasses, persönliche Religiosität und Glauben sollten den Gottesdienst aus der Technik der Zeremonien in das Innere des Menschen verlegen. In diesem religiösen Individualismus der persönlichen Glaubensüberzeugung hat man stets die enge Verwandtschaft Luthers mit dem Individualismus der autonomen Renaissancepersönlichkeit gesehen. Doch aus den Worten Luthers: „ D a unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, will er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen eine stete, ständige Buße sei," klingt alles andere als die Weltfreudigkeit der Renaissance. „Das ganze Leben Buße, nicht nur so oft die Kirche im Beichtstuhle es fordert, das ganze Leben ein großer Sterbeprozeß, bis im Tode die Seele ihr leiblich Haus verläßt, — hier klingen Töne der Mystik." 1 Ungefähr gleichzeitig schrieb aber Ulrich von Hutten 1518 in einem Brief an Willibald Pirckheimer: „O saeculum, 0 litterae! Juvat vivere etsi quiescere nondum iuvat, Bilibalde!" Das Ineinander von Autonomie und Heteronomie, das wir in der Kunst beobachten konnten, spiegelt sich hier wieder. Deshalb hat auch Vossler recht, wenn er sagt: „Luther durchbrach die anstaltliche Verabreichung der göttlichen Gnade und setzte die Persönlichkeit des einzelnen Christen in unmittelbare Verbindung mit Gott und holte sich seine Rechtfertigung aus dem eigenen Glauben und beruhigte sich in einer gottergebenen Gewißheit, die erst am römischen Widerspruch erkannte, wie kühn sie war und sich doch nicht beirren ließ.2 Troeltsch hat diese Zwiespältigkeit Luthers in seiner inneren Gebundenheit an die Kirche des Mittelalters klar herausgearbeitet. 3 „Auch die Innerlichkeit und Persönlichkeit der Gewissensüberzeugung, damit der prinzipielle religiöse Individualismus war immer nur relativ betont und immer als vermittelt gedacht durch die objektiv heilstiftenden Kräfte des Wortes Gottes, der Predigt und der Kirche. Nachdem die feste Formel für die Verbindung des objektiven Mittels und des subjektiv-persönlichen Heilsbesitzes gefunden war, blieb alle persönliche individuelle Überzeugung doch zugleich eine eng dogmatisch und kirchlich gebundene." Im Protestantismus ist „der Verkehr mit Gott stets ein objektiv vermittelter, nur daß die Vermittlung nicht in einem hierarchischsakramentalen Heilsapparat, sondern in der Bibel und ihrer Zentrallehre besteht."' Der Individualismus der Renaissance dagegen „ist wirklich autoritätslose, völlige Autonomie des Subjekts, völlig frei beweglich in 1 2 3

4

Köhler: Martin Luther und die deutsche Reformation. Leipzig 1917, S. 85. Vossler: Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist. München 1926. S. 29. Troeltsch: Das Verhältnis des Protestantismus zur Kultur. Gesammelte Schriften. Bd. IV. (a. a. O.) S. 194. Troeltsch: Renaissance und Reformation. Geg. Schriften Bd. IV. (a. a. O.) S. 275. S. 276.

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der künstlerischen Anschauung und lediglich an die Regeln der Logik gebunden in der intellektuellen Arbeit." Auch in dem zweiten, oft als weltlich angesprochenen Element der Religiosität Luthers, in der Erklärung des profanen Lebens für eine Art Gottesdienst, der „religiösen Heiligung der diesseitigen Weltarbeit", deckt Troeltsch den mittelalterlichen Kern auf. Zwar ist es „der Sinn der protestantischen Ethik gegenüber der katholischen, daß sie die natürlichen Lebensformen des relativen Naturgesetzes, d. h. das Leben in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Berufen, nicht als eine nur relativ christianisierte Unterstufe dem Oberbau der Kirche, der Gnadenanstalt und der streng christlichen, mönchisch gefärbten Ethik unterordnet, sondern beides zusammenzieht."1 Dennoch „trennt Luther die persönliche Herzensmoral der Bergpredigt von der durch Amt und Beruf auferlegten, durch die Sünde notwendig gewordenen weltlichen Lebensform. Insofern bleibt ein starker Rest christlicher Überweltlichkeit." „Unter diesen Umständen ist die Heiligung der Welt, die religiös positive Schätzung der Kultur doch nur eine sehr bedingte. Aber wie eingeschränkt sie auch sei, es steht darin doch jedenfalls eine religiöse Würdigung der Arbeit, die zur dauernden Pflicht für jeden wird und jeden zur Leistungfür das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet." 2 „Allein diese protestantische Weltbejahung ist nun doch in ihrem inneren Wesen etwas völlig anderes als die Auflösung der christlichen Askese und Jenseitigkeit durch die Renaissance. Sie bleibt auf dem Untergrund des strengsten Sündengedankens und der überzeugtesten Jenseitigkeit. Familie, Staat, Privateigentum, Handel, Gesellschaft sind wie im Katholizismus „Ausdruck der sündig gewordenen Natur, wie für Augustin Stiftungen der Sünde. Und diese so bedingte Weltbejahung der Reformation ist zudem im Berufs- und Arbeitsbegriff verankert, während die Renaissance „künstlerisch-freie Bildung", „Selbstkultur" und Emanzipation von jedem „bürgerlichen Berufsschematismus" im „uomo universale" als Ideal aufgestellt hatte. Der Geist der Lehren Luthers schaut in gleichem Maße nach zwei Seiten, wie die in ihrem ästhetischen Grundgefühl und ihrer formalen Durchgestaltung unentschiedene Kunst der sogenannten deutschen Renaissance. Wir stehen hier vor einem der seltenen Fälle innerer geistiger Koinzidenz zweier so bedeutender gleichzeitiger Kulturemanationen. Vielleicht konnte diese Koinzidenz nur darum so vollkommen sein, weil die deutsche Kunst dieser Zeit in keiner Weise Anspruch auf die Selbständigkeit eigener Stilwerte erheben durfte. 1 2 3

Troeltsch: Das Verhältnis des Protestantismus zur Kultur, (a. a. O.) S. 195 Troeltsch: Das Verhältnis des Protestantismus zur Kultur, (a. a. O.) S. 196. Troeltsch: Renaissance und Reformation (a. a. 0.) S. 277.

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In seinem Aufsatz „ L u t h e r , der Protestantismus und die moderne Welt" stellt Troeltsch die Antinomie der Reformation aufs klarste dar. 1 E r sieht im Protestantismus „die Vorbedingung u n d den Anreger einer neuen, spezifisch modernen, jedenfalls von dem Kirchenwunder u n d altchristlichen Dogma gelösten Religiosität/' Doch gleichzeitig m u ß betont werden: „Und wenn er, derartig nach vorwärts gesehen, als wichtige Elemente einer kirchenfreien u n d undogmatischen Religiosität u n d Gesittung in sich tragend erscheint, so stellt er sich, nach rückwärts gesehen, gerade an entscheidenden P u n k t e n geradezu als Fortsetzung u n d Neubelebung des mittelalterlichen Geistes d a r . " „Der Protestantismus setzt die Idee der Kirche als einer objektiven, von Gottmenschen gegründeten u n d überall wirksam erfüllten, der erbsündig verlorenen Welt schlechthin gegenüberstehenden Anstalt f o r t " (S. 207). Sie ist jedoch nicht mehr von der geweihten priesterlichen Sukzession Christi durch den P a p s t begründet, sondern durch die Heilige Schrift, die das Heil „objektiv u n d n o r m a t i v " enthält. „Die Heilsanstalt h a t sich in das W u n d e r der Schrift zusammengezogen und wächst aus ihr wieder hervor." (S. 208.) „ U n d wenn schon in diesen Kernstücken das Mittelalter fortwirkt, so noch viel ungehemmter in dem ganzen allgemeinen R a h m e n der Dogmatik, die diesen K e r n mit der Trinitäts-, Urstands-, Gottmenschheits- u n d Wiederkunftslehre umr a h m t und u m diesen geistlichen R a h m e n noch den weiteren weltlichen des scholastisch-geozentrisch-anthropozentrischen Weltbildes s p a n n t . " „Der ganze Protestantismus h a t Copernicus u n d Galilei verworfen, genau wie der Katholizismus, u n d Giordano Bruno f a n d auch in Wittenberg, Marburg u n d Genf keinen R u h e p u n k t f ü r seine I r r f a h r t . So ist es nicht verwunderlich, daß die beiden Protestantismen ähnlich oder mehr noch als die Gegenreformation eine Nachblüte des Mittelalters bedeuten inmitten einer gänzlich veränderten Welt, die den bereits gebildeten Trieben u n d Knospen einer weltlichen K u l t u r den Saft entzieht." (S. 214.) Trotz der entscheidenden Manifestation des neuen Geistes in der Ersetzung der Sakramentsreligion durch eine ganz persönliche, psychologische Glaubensreligion, wobei der Glaube auf denkender Erkenntnis basieren soll, k o m m t Troeltsch zu dem Schluß: „ E i n verinnerlichtes, verpersönlichtes und verbürgerlichtes, in seiner religiösen Tiefe bis zum höchsten Glauben und bis zum Fanatismus neu erregtes Spätmittelalter steht hier vor u n s . " (S. 215.) Andererseits ist im Protestantismus jeder sein eigener Priester. Es gibt keinen Priesterstand mehr, sondern nur ein Priesteramt. Seelsorge t r i t t an die Stelle des Kultus. Dem P a p s t wird das Privileg der Bibelauslegung genommen, jeder Christ darf individuell ohne Mittlertum zur Schrift u n d dadurch zu seinem Gotte in Beziehung treten. L u t h e r bestreitet, auf Lorenzo Valla fußend, das Recht der Konstantinischen Schenkung u n d 1

Troeltsch: Gesammelte Schriften. Bd. IV. (a. a. O.) S. 202ff.

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t a s t e t dadurch die Grundfeste der katholischen Hierarchie an. E r h e b t das Zölibat auf, reformiert die Orden und löst den Klosterzwang. 1520 erscheinen seine Schriften „ V o n der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" und „Von der Freiheit eines Christenmenschen." Doch hier drückt sich schon die seltsame Zweigesichtigkeit der Lehre Luthers in den Worten a u s : „ein Christenmensch ist ein Herr über alle Dinge und Niemand Untert a n , ein Christenmensch ist ein Knecht aller Dinge und J e d e r m a n n Untertan." Die Ethik wird, wie Troeltsch sagt, zur Gesinnungsethik. Das Handeln des Menschen drückt seinen Charakter aus und ist nicht mehr „die Summe einzelner zersplitterter „ W e r k e " , sondern die Auswirkung einer einheitlichen Gesinnung in einer einheitlichen Lebenshaltung und einem einheitlichen Lebenszweck." (S. 222.) Zweifellos tauchen hier wiederum Berührungspunkte zu der Vereinheitlichung und Harmonisierung der Persönlichkeit auf, die als das ästhetische Ideal der italienischen Renaissance galt. Eine Autonomie der religiösen Gesetzlichkeit and der eigenen Überzeugung wird durch die Reformation konstituiert, die der individuellen Autonomie der Renaissance durchaus verwandt ist. Aber Luther ist dennoch nicht „der radikale religiöse Individualist der persönlichen Gewissensüberzeugung, als den ihn die Modernen gern feiern, wenn sie etwas Gutes von ihm sagen wollen. Gewiß ist sein Erlebnis etwas rein Persönliches und soll es das auch bei allen anderen sein. Aber die persönliche innere Gewißwerdung geht aus von der Schrift, sei es unmittelbar aus der Lesung der Schrift oder indem die Schriftwahrheit in Wort oder T a t des Mitchristen uns begegnet." (S. 236.) Auch Luthers Erbsündenlehre m u t e t noch ganz mittelalterlich an. „Alles wahrhaft Gute ist überhaupt nur durch Gnade möglich". Luther „ h a t das psychologische Wunder des Mittelalters in der T a t durch die totale Verinnerlichung noch u m Vieles weiter psychologisiert. Aber er h a t dabei die grundsätzliche Denkweise des Mittelalters nicht aufgehoben, die ganze Wunder-, Autoritäts- und Kirchenwelt im allgemeinen bestehen lassen u n d selbst in der Aussprache und Empfindung seines Grunderlebnisses die Wunderpsychologie nicht wirklich verlassen." „Durch seine enge K e t t u n g an die Schrift und vermittelst der Schrift an die Schriftanstalt der Kirche, blieb Luther an das mittelalterliche Denken gebunden und aus der Schrift, die ihm immer mehr zum Inbegriff aller Autorität wurde, stand ein großer Teil des alten Denkens wieder auf. Eine Menge der alten Dogmen kehrte wieder, von der Intimität mit dem Teufel gar nicht zu reden. Das Weltbild ist völlig das des Mittelalters, alle modernen Geister, Copernicus, Sebastian Franck, Erasmus werden verflucht." (S. 246—47.) Dies drückt sich in dem Kampf gegen Erasmus von Rotterdam, den „größten Vertreter eines modern anmutenden universalen und relativ historisch u n d psychologisch denkenden Theismus", „den Fürsten 142

des nordischen, von der Renaissance stark angeregten Humanismus", welchen Luther in seiner Schrift „De servo arbitrio" ausfocht, am deutlichsten aus. „Luther erkennt den eigentlichen Gegner in dem — gegenKatholizismus und Reformation im Grunde gleich fremdartigen — Autonomiegedanken, in dem Ideal einer Selbst und Leben bejahenden produktiven Kraft der Vernunft. Dem stellt er mit radikalster Schärfe den reinen und bedingungslosen Gedanken der Theonomie gegenüber, daß alles Endliche, darum auch die endliche Vernunft und die sittliche Güte, lediglich existiert in der Kraft und Wirkung Gottes, und daß alle Spontaneität nur die Form ist, in dem die Allwirksamkeit des einzigen produktiven und schaffenden Willens, nämlich des göttlichen sich äußert." (S. 248.) Luther gelangt auf diese Weise zu einem bedingungslosen Determinismus und einer einzig von Gott ausgehenden Prädestination. Dies sind die Elemente „der lutherischen Lehre, durch die der reine Glaubenscharakter der reformatorischen Religion vor der Vermischung mit menschlichem Meinen und Denken geschützt wurde." 1 Der asketische Calvinismus geht hierin noch weiter, das Problem der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes existiert nicht für ihn. Der absolute souveräne Willen Gottes wird konstituiert. „Die Idee der Gnade ist reine verdienstlose Gnade und hat schlechthin nichts zu tun mit einer Gerechtigkeit, welche die elende Kreatur vom Herrn der Welt fordern könnte." „Wie Niemand einen Anspruch hat, ein Mensch zu sein statt eines Tieres, so hat Niemand Anspruch darauf, ein Erwählter zu sein, statt eines Verdammten. Gottes majestätischer Herrenwille ist der Grund aller Gründe, die Norm aller Normen." „Die Leistungen und guten Werke sind zwar nicht Bedingung, aber sicherstes Zeichen der Gnadenwahl, Symptom." 8 Vossler unterstreicht den inneren Gegensatz von Calvinismus und Renaissance, wenn, er sagt: „Es ist ein fastender, asketischer, lustloser Individualismus, ganz sittliche Gesinnung und Innerlichkeit, ohne Glück und Freude. Kaum kann man sich zwischen diesem und dem hedonistischen Individualismus des Renaissancemenschen, der in einem selbstgefälligen Urbehagen an seinem Ich aufgeht, die Entfernung groß genug denken." Auch dort, wo ein gesteigerter Individualismus, der an die Renaissance gemahnen könnte, auftritt, wie im Wiedertäufertum, wird er sofort in einem beinahe urchristlichen Sinne umgebogen. Thomas Münzer wollte, wie Luther, jede Vermittlung zwischen Gott und dem Einzelmenschen ausgeschaltet wissen. Im Gegensatz zu seinem großen Widersacher lehrte er jedoch, die subjektive Frömmigkeit gehe nicht aus der heiligen Schrift hervor, sondern beruhe auf einer Offenbarung, die unmittelbar von Gott stamme. Hier sind enge Beziehungen zu der Mystik des 14. Jahrhunderts. 1 2

Troeltsch: Calvinismus und Luthertum. (Ges. Schriften Bd. IV. a. a. O. S. 254). S.257. Vossler: Frankreichs Kultur und Sprache (a. a. O.) S. 202f. 143

Die Taufe solle erst als freier Willensakt und individuelle Handlung des erwachsenen Menschen vollzogen werden. Münzer wollte mit Gewalt ein Gottesreich auf Erden, verbunden mit sozialem Kommunismus, Verweigerung von Eid, Amt und Waffendienst herbeiführen. Luther nannte ihn einen Mordpropheten, und Münzer schrieb 1524 gegen Luther einen Traktat, der den Titel trug: „Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg." Luther ließ dann, wie ihm seitdem oft vorgeworfen worden ist, das Wiedertäufertum als Ketzerei und Gotteslästerung niederschlagen. Und wenn erl518 geschrieben hatte, Ketzerverbrennung sei wider den Willen des heiligen Geistes, so hat er seit etwa 1530 sogar die Todesstrafe gebilligt. Es ist richtig darauf hingewiesen worden, daß man hier praktisch beinahe auf die Inquisitionspraxis des Mittelalters zurückgriff.1 Vielleicht sollte lieber auf die Inquisition der Gegenreformation verwiesen werden. Das wäre eine geistesgeschichtliche Parallele zu dem kontinuierlichen, ununterbrochenen Übergang der deutschen Kunst von der Spätgotik zum Barock. Indem Luther aber, wie Dilthey es formuliert hat, „den religiösen Prozeß ganz losgelöst hat von der Bildlichkeit des dogmatischen Denkens und der regimentalen Äußerlichkeit der Kirche", konnte es naturgemäß für den Protestantismus eine Bildkunst nicht geben, die in ihrer heteronomen Form gerade die sakramentale Magie der überwundenen katholischen Kirche in hervorragendem Maße vermittelt hatte. „Nur in die unsinnlichste der Künste, in die Musik als Kirchenmusik, strömte das protestantische Gefühlsleben aus und eng verbunden ist damit die geistliche Lyrik." 2 Das Wort trat als Ausdrucksmittel an die erste Stelle. Die sprachbildende Kraft der Bibelübersetzung Luthers verdrängte das Bild. Die Predigt wurde Mittelpunkt des Gottesdienstes. Die Erfindung der Buchdruckerkunst tat das Ihrige. Dehio sagt: „Das deutsche Volk hat sich durch zu vieles Lesen die Augen verdorben." 3 Die bildende Kunst war frei, ohne lebensgeschichtliche Verflechtung. Das unmittelbar der Andacht, dem Kultus gewidmete Bild trat zurück, und da, wo religiöse Themen gestaltet wurden, geschah das mehr um des unerschöpflichen menschlichen und anekdotenhaften Inhalts der Bibel wegen, als um einen kirchlichen Zweck zu erfüllen. Dennoch kann, wie wir sahen, keineswegs von einer durchwegs autonomen Kunst gesprochen werden. Trotz der Bildfeindlichkeit des Protestantismus drückt sich die auch der Reformation noch innewohnende Verbindung mit der Kirchlichkeit des Mittelalters in ganz anderem Maße in der gleichzeitigen Kunst aus, als in der wahrhaft autonomisierten, wenn auch im konfessionellen Sinne 1 2 3

vgl. Köhler (a. a. O.) S. 81. Troeltsch: Das Verhältnis des Protestantismus zur Kultur, (a. a. O.) S. 201. Dehio: Gesch. d. deutschen Kunst. Bd. III. S. 8.

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nach außen katholischen Renaissancekunst Italiens. Dürers Kunst mußte in der Hauptsache, dem ihr gemäßen, stets wieder durchbrechenden Grundverhalten entsprechend, als heteronom charakterisiert werden. Und doch wissen wir gerade von Dürer, daß er, als ihn in den Niederlanden eine falsche Todesnachricht Luthers erreichte, voller Verzweiflung die Worte schrieb: „O Gott, ist Luther tot, wer wird uns hinfort das heilige Evangelium so klar vortragen? Was hätt' er uns noch in zehn oder zwanzig Jahren schreiben mögen ?" Reformation und heteronome Kunst sind ebensowenig Widersprüche, wie Reformation und autonome Kunst. Die Reformation kann, trotz ihrer Kunstfremdheit, als bedingendes Moment in die Kunst eingehen, sie braucht es jedoch nicht zu tun. Die gleiche Tatsache wird uns bei Rembrandt wieder begegnen, in dessen Kunst die Kräfte des heteronomen, gegenreformatorischen Barock, trotz des Protestantismus des Künstlers, wirksam sind.

V. Es wurde bereits davon gesprochen, aus welchen Gründen die Renaissancekunst, im dynamischen Sinne gleichsam der tote Punkt zwischen zwei Bewegungsstößen, weder Dauer noch Ausdehnung besitzen konnte. Schon kurz nach dem Jahre 1520 machen sich die ersten Anzeichen für jenen zweiten Bewegungsstoß bemerkbar, der zuerst nicht näher definiert, sondern nur deskriptiv als ein neues Herausdringen der Kunstformation über die ästhetische Grenze erfaßt werden soll. Auf Burgkmairs Selbstbildnis mit seiner Frau aus dem Jahre 1529 wurde bereits in anderem Zusammenhange hingewiesen. Doch unabhängig von den besonderen Schwierigkeiten, die die Renaissancekunst hinderten, auf nordischem Boden festen Fuß zu fassen, muß auch für Italien betont werden, daß ganz kurze Zeit, nachdem in der „Sixtinischen Madonna" und denStanzenfresken Raffaels reinste Typen der Renaissancekunst entstanden waren, sich ein Umschwung bemerkbar macht. J a , bereits im Jahre 1515, als Raffael noch an der Sixtina arbeitete, zeigen sich bei einem jüngeren Meister, bei der dresdener „Madonna mit dem heiligen Franziskus" des Correggio gewisse Züge, die auf eine Überwindung der Klassik hinweisen. Wieder einmal gelangt ein innerer Wandel in der bildenden Kunst viel früher zum Ausdruck als in allen übrigen Kulturgebieten. Die Kunst als empfindlichster Seismograph zeigt eine sich vorbereitende Erschütterung des Weltbildes lange vor der eigentlichen Eruption an. Die Komposition der Madonna des Correggio ist im Großen der der „Sixtinischen Madonna" sehr verwandt. Auch hier ist das bestimmende Motiv ein gleichschenkliges Dreieck, in dessen Mitte Maria denkmalhaft sitzt. Die Akzentuierung der Hauptgruppe durch die Archi10

Michalik!.

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nach außen katholischen Renaissancekunst Italiens. Dürers Kunst mußte in der Hauptsache, dem ihr gemäßen, stets wieder durchbrechenden Grundverhalten entsprechend, als heteronom charakterisiert werden. Und doch wissen wir gerade von Dürer, daß er, als ihn in den Niederlanden eine falsche Todesnachricht Luthers erreichte, voller Verzweiflung die Worte schrieb: „O Gott, ist Luther tot, wer wird uns hinfort das heilige Evangelium so klar vortragen? Was hätt' er uns noch in zehn oder zwanzig Jahren schreiben mögen ?" Reformation und heteronome Kunst sind ebensowenig Widersprüche, wie Reformation und autonome Kunst. Die Reformation kann, trotz ihrer Kunstfremdheit, als bedingendes Moment in die Kunst eingehen, sie braucht es jedoch nicht zu tun. Die gleiche Tatsache wird uns bei Rembrandt wieder begegnen, in dessen Kunst die Kräfte des heteronomen, gegenreformatorischen Barock, trotz des Protestantismus des Künstlers, wirksam sind.

V. Es wurde bereits davon gesprochen, aus welchen Gründen die Renaissancekunst, im dynamischen Sinne gleichsam der tote Punkt zwischen zwei Bewegungsstößen, weder Dauer noch Ausdehnung besitzen konnte. Schon kurz nach dem Jahre 1520 machen sich die ersten Anzeichen für jenen zweiten Bewegungsstoß bemerkbar, der zuerst nicht näher definiert, sondern nur deskriptiv als ein neues Herausdringen der Kunstformation über die ästhetische Grenze erfaßt werden soll. Auf Burgkmairs Selbstbildnis mit seiner Frau aus dem Jahre 1529 wurde bereits in anderem Zusammenhange hingewiesen. Doch unabhängig von den besonderen Schwierigkeiten, die die Renaissancekunst hinderten, auf nordischem Boden festen Fuß zu fassen, muß auch für Italien betont werden, daß ganz kurze Zeit, nachdem in der „Sixtinischen Madonna" und denStanzenfresken Raffaels reinste Typen der Renaissancekunst entstanden waren, sich ein Umschwung bemerkbar macht. J a , bereits im Jahre 1515, als Raffael noch an der Sixtina arbeitete, zeigen sich bei einem jüngeren Meister, bei der dresdener „Madonna mit dem heiligen Franziskus" des Correggio gewisse Züge, die auf eine Überwindung der Klassik hinweisen. Wieder einmal gelangt ein innerer Wandel in der bildenden Kunst viel früher zum Ausdruck als in allen übrigen Kulturgebieten. Die Kunst als empfindlichster Seismograph zeigt eine sich vorbereitende Erschütterung des Weltbildes lange vor der eigentlichen Eruption an. Die Komposition der Madonna des Correggio ist im Großen der der „Sixtinischen Madonna" sehr verwandt. Auch hier ist das bestimmende Motiv ein gleichschenkliges Dreieck, in dessen Mitte Maria denkmalhaft sitzt. Die Akzentuierung der Hauptgruppe durch die Archi10

Michalik!.

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tektur ist renaissancemäßig. Maria sitzt genau unter der Mitte des Bogens und wird dadurch besonders hervorgehoben. Zwei Züge lassen jedoch eine Absage an den reinen Typ der Renaissance erkennen. Wiederum vollzieht sich eine ästhetische Abkehr trotz einer Konstanz in formengeschichtlicher Beziehung. Der heilige Johannes, der rechts vorn vor dem Thron der Madonna steht, wendet sich aus dem Bilde herausschauend an ein Publikum, das er mit deutlicher Gebärde zur Verehrung der Gottesmutter einlädt. Man erinnert sich hier der 1514 entstandenen „Madonna delT Impannata" des Raffael, wo eine ähnliche Ichbezogenheit durch die weisende Hand des Johannesknaben bewirkt wurde. Wir erkannten in der bei Raffael zu dieser Zeit und in dieser Form unmöglichen Überschneidung der ästhetischen Grenze die Mitwirkung von Schülern. Bei der „Sixtinischen Madonna" wird die weisende Gebärde des Sixtus durch die trennende Rampe aus jeder Ichbezogenheit gelöst. Giulio Romano (geb. 1492) und Francesco Penni (geb. 1488), die hier in Frage kommen, sind Generationsgenossen von Correggio. (geb. 1489). Entscheidend für die ästhetische Stellung der Franziskusmadonna des Correggio ist aber ein zweiter Zug, der rein deskriptiv abgelesen werden kann. Über der Gestalt der Maria sind rechts und links zwei Engel dargestellt, von denen der eine in die Bildtiefe hineinfliegt, der andere aus der Tiefe herausschießt. Auf diese Weise entsteht eine kreisende Bewegung, durch die man angewiesen wird, den Lauf, den die Engel nehmen werden, zu ergänzen. So ergibt sich die klare räumliche Vorstellung, daß der linke Engel aus dem Bilde heraus in den Realraum hineinfliegen muß, um dahin zu gelangen, wo sich jetzt der rechte Engel befindet. Aus der kreisenden Bewegung der Engel folgt mit noch größerer Evidenz, als aus der Gebärde des Johannes, die Überwindung der Distanz zwischen Beschauer und Bild. Es ist ein Raum, wo bei Raffaels Sixtina durch die Rampe eine strenge Trennung errichtet wird. Die grandios zweckfreie Isolierung der Renaissancemadonna ist bereits zu derselben Zeit überwunden, in der ihr reinster Typus erst zur Gestaltung gebracht wird. Doppelt klar wird die Veränderung des Verhältnisses von Kunst- und Realraum, wenn man Correggios Engel mit den sehr ähnlich bewegten auf Raffaels hurz vorher entstandenem Galateafresko in der Villa Farnesina vergleicht. Raffael legt die Amoretten so deutlich in die Fläche, daß eine Durchstoßung der vorderen Bildebene unmöglich wird. Durch die Hinzufügung eines dritten Engels wird die ästhetische Funktion völlig umgewertet: es entsteht lediglich ein Dreieckszusammenhang, durch den ein Auf und Ab in der Fläche zum Ausdruck gelangt. Wie deutlich Raffael einer künstlerisch älteren Generation angehörte als Correggio, beweist auch seine „Transfiguration", die der Meister bei seinem Tode im Jahre 1520 unvollendet zurückließ. Bei diesem Bilde ist von der morphologischen Forschung schon stets eine über das Renaissancemaß 146

hinaus bewegte Formensprache festgestellt worden. Die entscheidende Durchstoßung der vorderen Bildebene kommt für Raffael hier jedoch nicht in Frage. Besonders deutlich wird dies an den Gestalten der Propheten Moses und Elias, die in ähnlicher Weise schwebend um den verklärten Christus kreisen, wie bei Correggio die Engel um Maria. Diese Szene, die zu dem noch von Raffael eigenhändig ausgeführten Teil des Gemäldes gehört, ist dadurch, daß sie in den Mittelgrund zurückgeschoben ist, nur ein Vorgang im Bilde, ihre Bewegungstendenzen reichen nicht über die distanzierte Kunstsphäre hinaus. In das Jahr 1517 gehört Andrea del Sartos „Madonna delle arpie", in den Uffizien. Auch hier keimt schon jene rotierende Bewegung in den Gestalten der Heiligen Franz und Johannes. Doch der Kreis, den diese Gestalten um den Sockel abzuschreiten scheinen, auf dem Maria, im Bilde nochmals distanziert, steht, bleibt wie bei Raffael streng jenseits der ästhetischen Grenze. Bis zum Bildrande ist für die Bewegungskurve genug Raum. Erst bei Correggio muß man den Kunstraum in den Realraum hinein erweitern, um den Schwung der Engel nicht abbrechen zu lassen. Deshalb erscheint es nicht weiter erstaunlich, daß Correggio zuerst um 1518 in der Camera di S. Paolo wieder an die illusionistische Deckenkunst eines Mantegna und eines Melozzo da Forli anknüpft. Die als Laube gebildete Decke ist von medaillonartigen Durchblicken durchbrochen, hinter denen Puttengruppen erscheinen, die sich wie auf einem unsichtbaren Laufgang außerhalb der Laube bewegen und vielfach in den Realraum übergreifen. Sein Kuppelfresko der Kirche S. Giovanni Evangelista zu Parma, das in den Jahren 1520—1524 entstanden ist, komponiert Correggio wieder „di sotto in sü", im Gegensatz zu den Deckengemälden des Raffael oder der sixtinischen Decke des Michelangelo, die schon dadurch, daß sie nicht auf eine einheitliche Untersicht konzipiert waren, jede illusionistische Raumerweiterung bewußt ausschlössen. Über dem Kuppeltambour erscheint, in den Wolken thronend, der Kranz der Apostel, und in der Mitte steigt, scheinbar aus dem Kirchenraume emporschwebend, Christus in den sich öffnenden Himmel auf. Es muß allerdings betont werden, daß der bei Mantegna und Melozzo schon erreichte Grad der Raumverschleifung hier, trotz aller Fortentwicklung im Technischen und Formalen, noch nicht im gleichen Maße wieder gesucht wird. Die architektonisch gegebene Tambourumrahmung wird nicht überschnitten, sie legt sich wie ein Ring um das Kuppelgemälde. Man erinnert sich an Raffaels Kuppel der Capeila Chigi. Die konsequente Verbindung von Kunst- und Realraum bleibt noch einer späteren Zeit vorbehalten. Es ist jedoch bedeutsam genug, daß das illusionistische Deckengemälde mit seiner verkürzten, von den Gegebenheiten des Realraumes aus konzipierten, also nicht autonomen Perspektive, das in der reinen Klassik in dieser Konsequenz nicht vorkommen konnte, 10*

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hier wieder zur Gestaltung gelangt. I n den Jahren 1526—30 schuf Correggio die Himmelfahrt der Maria als Kuppelgemälde für den Dom von Parma. Jetzt geht der Künstler in der entschlossenen Absicht, die Grenzen des architektonisch ausgestalteten Realraumes und des gemalten Kunstraumes zu verwischen, bedeutend weiter. Der breite Tambour setzt sich in das Kuppelgemälde hinein durch eine gemalte Architektur fort, deren Illusionskraft außerordentlich ist. Vor dieser Architektur werden in virtuos verkürzter Untersicht die Gestalten der zwölf Apostel sichtbar. Wie sehr nun das gemalte Geschehen den Schein von dreidimensionaler Realität erwecken will, kann man daran erkennen, daß die Füße der Apostel von dem Marmorband des Tambours verdeckt werden, so daß man glauben muß, sie ständen wirklich auf dem Tambourring, wie auf einer Galerie. Gleichzeitig wird hierdurch der Berührungspunkt von Architektur und Gemälde kunstvoll verdeckt. In einem wildbewegten Kranz von Wolken und Engelsscharen wird Maria über die Apostel hinweg gen Himmel getragen. Von oben schweben ihr die Seligen und die Figuren des Alten Testaments entgegen. Aus der höchsten Höhe der Kuppel stürzt aber, wie ein zuckender Blitz, die Gestalt eines Erzengels auf Maria zu. Durch dieses Gegeneinander von Aufwärtsschweben und Abwärtssausen wird die begrenzende Kuppelwandung in bisher nicht verwirklichter Weise durchstoßen, so daß, beinahe im Sinne der Glasgemälde des 14. Jahrhunderts, gleichzeitig die ununterbrochene Verbindung zu einer zweiten Realität, dem freien Außenraum, hergestellt zu sein scheint. Auch in der Plastik ist eine entscheidende Veränderung des ästhetischen Raumgefühls zu bemerken. Michelangelos Mediceergräber, in den Jahren 1524—27 begonnen, 1530—34 fortgeführt, vom Künstler schließlich unvollendet zurückgelassen, bezeugen den Umschwung in eindrücklichster Weise. Die allegorischen Figuren der Tageszeiten, die in die zweite Arbeitsperiode an dem großen Werke gehören, sind in ihrem Bewegungsreichtum, der Wucht ihrer Kontraposte, der gewaltigen Gegensätzlichkeit ihrer Lagerung und der plastischen Kraft ihrer körperlichen Durchbildung stets als Denkmale des Ringens um einen neuen, sich von der Klassik abkehrenden Stil gewertet worden. Auch der tragisch-kämpferische Gefühlsinhalt weicht von dem sieghaften Übermenschenideal der Renaissance weit ab. Zwischen dumpfer Ohnmacht, qualvollemAnkämpfen und angespanntem Widerstand gegen den Druck des Schicksals dehnt sich die Gefühlsskala dieser elementaren Gestalten. Entscheidend aber für unsere Betrachtungen ist etwas anderes. „Nacht" und „Tag", „Morgen" und „Abend" sind auf den Sarkophagen so gelagert, daß sie in unmittelbarer Bewegung von ihren sockelhaften Stützpunkten in den Kapellenraum hineinzugleiten scheinen. Schon das unmittelbare 148

Lager der Figuren, die mit ihnen aus einem Stück gearbeitete Plinthe, ragt weit über die Voluten des Sarkophages hinaus. Man h a t hierin eine Verlegenheitslösung Michelangelos sehen wollen. Doch das hieße n u r , mit jetzt nicht mehr gültigen Renaissancemaßstäben an diese Werke eines neuen, ringenden Stils herangehen. Die ästhetische Distanz zu dem R ä u m e , in dem der Beschauer sich befindet, soll absichtlich durchstoßen werden, in unmittelbarer, greifbarer Nähe soll sich das „ergreifende" künstlerische Geschehen abspielen, dem es nicht mehr auf das ästhetische Gleichgewichtserlebnis a n k o m m t , sondern auf eine erschütternde A t t a c k e im Dienst einer Idee. Der Barock verdrängt die Renaissance. H e r r m a n n Grimms Worte über Raffael sind in ihr Gegenteil v e r k e h r t : die Schönheit dieser Schöpfungen versteht sich nicht mehr von selbst. Allein durch unser formalphänomenologisches Kriterium werden wir angewiesen, „nach den besonderen Absichten" des Künstlers zu fragen. Michelangelo schafft nicht „absichtslos wie die N a t u r " . Bei ihm wäre eine Rose viel mehr und viel weniger als eine Rose u n d viele „Geheimnisse sind noch zu ergründen". Nichts ist „frei von persönlicher Z u t a t " , u n d auch den gleichgültigsten Dingen gibt er eine „persönliche Besonderheit, als seien eigene Erlebnisse des Künstlers hineingearbeitet worden." Seine Persönlichkeit drängt sich, im wörtlichsten, phänomenologischen Sinne stets hervor. Dies ist mehr als die selbstverständliche Prägung des Kunstwerkes durch die Individualität des Künstlers. Seine Biographie gewinnt eine künstlerische Funktion. Die Idee nun, die besondere Absicht, mit der Michelangelo die Mediceergräber schuf, ist, wie D v o r a k es formuliert h a t , die Katastrophe des Hauses Medici, an dessen Schicksalen Michelangelo so unmittelbar teilnahm. Deshalb ragen auch die beiden S t a t u t e n der letzten Mediceer, Giulianos, des Herzogs von Nemours, und Lorenzos des jüngeren, Herzogs von Urbino, aus ihren Nischen hervor u n d sind den Allegorien derZeit und der Vergänglichkeit, wie Michelangelo die Tageszeiten selbst erklärt haben wollte, in unmittelbare Nähe gerückt. Eine Beziehung, die von diesen in den Realraum hinein an die Menschen weiter geleitet wird. Die K u n s t ist wieder heteronom geworden. An dieser Stelle muß mit Entschiedenheit den Thesen Hetzers widersprochen werden, der bei einem Versuche, die Verschiedenheit deutscher und italienischer Kunst zu umreißen, zu folgenden Formulierungen gelangt. 1 „ D e r Italiener gesellt das Kunstwerk der Welt nicht zu, er stellt es ihr als Abbild gegenüber. Die Fläche, die das Bild a u f n i m m t , schließt es ein u n d ab, ist die ideale Wirklichkeit." „Der R a h m e n ist nicht willkürlicher Abschluß, sondern naturgemäße Grenze." D a ß diese Sätze nicht die italienische K u n s t schlechthin treffen, sondern nur das spezifisch Klassische, das zweifellos in Italien zu reinster Ausprägung gelangt ist, ist nach unseren Ausführungen offensichtlich u n d wird nach der Be1

Hetzer: Das deutsche Element in der ital. Malerei d. 16. Jahrhunderts. Berlin 1929. S. 8ff.

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handlung der Barockkunst noch deutlicher werden. Nach der Ansicht Hetzers steht nun das deutsche Kunstwerk der N a t u r nicht als Abbild gegenüber, sondern t r i t t „als ein Geschaffenes neu in die W e l t " ein. „ J e n e Scheidung zwischen Urbild und Nachahmung, realer u n d idealer Welt besteht ursprünglich f ü r den Deutschen nicht, das Kunstwerk ist i n der Realität, nicht ihr gegenüber/' Auch hier m u ß vornehmlich u n t e r Hinweis auf die deutsche Monumentalplastik des 13. J a h r h u n d e r t s , widersprochen werden. N u r soviel müssen auch wir zugeben, d a ß die heteronome K u n s t von Deutschen zeitweise mehr als von Italienern ausgebildet wurde, was in der Problematik der deutschen Renaissance deutlich zu Tage t r i t t . Auch Hetzer scheidet, wie wir, das italienische Quattrocento streng vom Cinquecento. D a f ü r sieht er von 1500—1800 eine große einheitliche Kunstepoche. „ E s ist zunächst jene Stabilisierung eines Reiches der K u n s t , die im 16. J a h r hundert erfolgt. Dieses Reich ist autonom, es gibt sich selbst seine Gesetze; m a n k o m m t vom Künstlerischen zur K u n s t . Es ist international." 1 Hetzer verfährt hier ähnlich wie Dvorak, der die Autonomie der K u n s t allerdings schon viel früher, seit Giotto, ein f ü r alle Mal als gesichert ansieht. Diese Autonomie wird jedoch, wie wir bereits sahen, auch nach der Renaissance von neuem aufgegeben. 2 Eine eigenartige u n d problematische Erscheinung in der künstlerischen Entwicklung des nachklassischen Cinquecento ist der Manierismus. D a n k der Forschungen vor allem Dvoraks u n d Pinders hat m a n diese Kunst, die nur als Verfall u n d unfruchtbarer Elektizismus gewertet wurde, heute als einen nach eigenen formalen Gesetzen schaffenden, selbständigen Stil anerkannt, der sich zwischen die Renaissance u n d den eigentlichen Barock des 17. J a h r h u n d e r t s schiebt. 3 Nichtsdestoweniger muß doch stets betont 1 Hetzer (a. a. O.) S. 21, vgl. S. 32. ' Hetzers Terminologie zeichnet sich hier durch eine gewisse Unklarheit aus. Er spricht (S. 41) von dem „bestimmenden Eingreifen des Freskos in den Raum" und fährt fort: „die Autonomie des Bildes wird durch plastische Rahmung, durch Vortreten vor die Mauerfläche betont." Auf S. 42 heißt es von der italienischen Kunst: „Seit dem 16. Jahrhundert aber umfängt uns der Raum als einePhantasie des Künstlers. Waren wir vordem nurBetrachter, so finden wir uns jetzt in einer uns gemäßen Sphäre. In all den Menschen, die gemalt und skulpiert dieWände bevölkern, erblicken wir uns selber wieder, sie haben unmittelbar auf uns Bezug, etc., etc." Darf das als Autonomie des Bildes bezeichnet werden ? Vor allem, wie geht das mit Hetzers eigener Definition italienischer Kunst zusammen, die von dem Kunstwerk spricht, das der Welt nicht zugesellt, sondern als Abbild gegenübergestellt wird, — das von der Bildfläche ein- und abgeschlossen wird ? (siehe oben) War es nach Hetzer nicht gerade ein Kennzeichen deutscher Kunst, „in der Realität nicht ihr gegenüber" zu sein ?

* Die Gedanken Pinders wurden vornehmlich in Vorlesungen und Übungen entwickelt. Sie sind als Andeutungen fixiert: Das Problem der Generation, Berlin 1926. S. 56f. Handbuch der Kunstwissenschaft: Deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance. Bd. II. S. 252, 255, 261f., 287, 451,ff., 452, 475ff.

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werden, daß der Barock sich andererseits wiederum in gerader Linie ohne Zwischenglied aus der Renaissance herausentwickelt hat. Nicht umsonst hat man Michelangelo als den Vater des Barock angesehen und in den Spätwerken Raffaels, in Correggio und Tizian alle morphologischen und koloristischen Keime der weiteren Entwicklung erkennen können. Dvorak, der in seinem Aufsatz „Greco und der Manierismus" den Manierismus von dem Odium eines nur in das kunsthistorische Raritätenkabinett gehörigen Phänomens befreit und zum ersten Male Künstler wie Tintoretto und Greco konsequent in den ihnen zukommenden Stilzusammenhang gestellt hat, während vorher Greco nur als genetisch mit dem Manierismus verbunden angesehen wurde, erblickt die Urzelle des Manierismus in Michelangelos letztem Stil, vor allem in der unvollendeten Pietä Rondanini.1 Und er deutet die neu zum Ausdruck gelangende Verinnerlichung, transzendentale Sehnsucht und Weltfremdheit, die schließlich in der magischen Ekstase des Greco ihren Höhepunkt erreicht, von einem Wandel, einem persönlichen Alterserlebnis Michelangelos aus, als ob am Ende seines Lebens die unter dem Sterne Savonarolas stehenden Jugendeindrücke wieder hervorgebrochen seien. Pinder hat dann mit höchster Akribie die aller manieristischen Kunst gemeinsamen Formen- und Kompositionsprinzipien, die diesen Stil sowohl von der Renaissance als auch vom Barock unterscheiden, herausgearbeitet: die konstitutive Bedeutung des Vacuums, die aufdringliche Konsonanz der Linien, die fallende Diagonale, „die unstatische, in konkaven Bildräumen farbig schwebende Gestaltenwelt," die gebrochene Farbe u. a. Auf diese Weise gelangte man zu einem in der Kunstgeschichte seit der Spätantike in solcher Zwiespältigkeit nicht vorkommenden Nebeneinander zweier grundverschiedener Stile in der zweiten Hälfte des Cinquecento. Man half sich darauf damit, einen Protobarock noch vor dem Manierismus einzuschalten, dann den Manierismus in seiner gesamten Entwicklung von seiner dekorativen Früh- bis zu seiner expressiven Spätphase dazwischen zu stellen und schließlich erst im 17. Jahrhundert den eigentlichen Barock beginnen zu lassen. „Die Kräfte dieses Früh- oder Protobarocks gären in Italien unter der Decke des Manierismus weiter, nähern sich sehr deutlich in der zweiten Schicht der Manieristen, der des Tintoretto, des Veronese, des Jean de Boulogne, des Alessandro Vittoria, des Baroccio besonders, der Oberfläche, sprengen sie gelegentlich, tauchen wieder im dritten Manierismus unter, um erst im 17. Jahrhundert, als Hochbarock siegreich hochzusteigen."2 Hier ergibt sich nun ein sehr schwieriges kulturhistorisches Problem. Welcher Stil ist als Ausdruck der neuen großen religiösen Erschütterung, des größten europäischen Erlebnisses der nachklassischen Zeit anzusehen ? Dvorak: Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, München 1924. S. 259. * Pinder: Deutsche Plastik etc. (a. a. O.) Bd. II. S. 452.

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Ist der Barock die Kunst der Gegenreformation oder ist es der Manierismus ? Wir werden versuchen, diese Frage an Hand unseres formal-phänomenologischen Kriteriums zu lösen. Der Tatbestand ist folgender: Nachdem im Spätstil Raffaels, bei Correggio und dem späten Michelangelo das Aufsteigen einer abermals heteronomen Kunst aus der autonomen, ästhetisch distanzierten Klassik durch die erneute Uberschneidung der ästhetischen Grenze sich rein deskriptiv erfassen ließ, spaltet sich in der nun folgenden jüngeren Generation, unter unseren Gesichtspunkten betrachtet, die Kunst in zwei Strömungen. Untersucht man ausschließlich die von der morphologischen Kunstforschung auf gemeinsame Stilmerkmale hin unter dem Begriffe des Manierismus zusammengefaßten Meister, so gelangt man zu eigenartigen Ergebnissen.1 Eine Anzahl der Hauptkünstler des formal von der frühbarocken Stilstufe so unterschiedenen Manierismus stimmen dennoch in bezug auf ihr ästhetisches Grenzgefühl in der Frühphase ihrer Entwicklung mit den Künstlern eben dieser sich aus der Renaissance herauslösenden Richtung überein, so daß man zu dem Resultat gelangen muß, das für die Nachklassik Entscheidende sei, über alle formalen Fragen hinaus, erst einmal das noch tastende Suchen nach einer veränderten Grundeinstellung zum Zweck, Ziel und Sinn der Kunst gewesen. In den Jahren 1520—22 malt Pontormo die Lünette im großen Saal der Villa Poggio a Caiano bei Florenz.2 Dargestellt sind eine Reihe von Naturgottheiten, — darunter Vertumnus und Pomona, — vor einer Gartenmauer. Der Erdboden, auf welchem die Figuren sitzen, schneidet in gerader Fläche, wie eine Bühnenrampe, mit der idealen Vorderebene des Freskos ab. Dennoch ragen die Beine der Männer und die Röcke der Frauen über diese Rampe hinweg und bekunden so den Willen zur Verbindung mit dem Realraume. Gleichzeitig muß aber betont werden, daß im Werke des Pontormo so offensichtliche Grenzüberschneidungen sonst nicht vorkommen. Sowohl bei seinen zahlreichen Bildnissen wie bei seinen Passionsfresken im Klosterhofe der Certosa di Val d'Ema offenbart sich ein außerordentlich strenges Gefühl für Rahmung und ästhetische Distanz. Pontormo läßt später sogar gern besonders wichtige Figuren ihrerseits durch den Rahmen überschneiden, was ja immer für die trennende Macht des Rahmens spricht, so daß häufig, — und dies wurde stets als besonders manieristisch hervorgehoben, — Halbfiguren im Vordergründe des Bildes auftauchen. 3 1

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vgl. zur Stilkritik des Manierismus: Pevsner: Die italienische Malerei vom Ende der Renaissance bis zum ausgehenden Rokoko. Handbuch der Kunstwissenschaft. I. Kapitel: Manierismus und Protobarock. — Fröhlich-Bum: Parmigianino und der Manierismus. Wien 1921. vgl. Pevsner (a. a. O.) Abb. 20. — Voss: Die Malerei der Spätrenaissance in Rom und Florenz, Berlin 1920. Abb. 48. vgl. Christus vor Pilatus. Certosa di Val d'Ema. Pevsner (a. a. O.) Abb. 21.

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Im Jahre 1523 dekorierte Gaudenzio Ferrari die Kreuzigungskapelle des Sacro Monte in Varallo. 1 Der Künstler schuf hier Skulpturen und Hintergrundsfresken in engster Verbindung. Das Ganze erreicht eine panoramahafte Wirkung. Ferrari ist bestrebt, den letzten Rest des „als ob" aus seinem Werke zu tilgen. Man erinnert sich bei diesen naturalistisch bemalten Figuren mit ihren natürlichen Haaren und Surrogatstoffen an die modeneser Tonplastik des heteronomen vierten Quattrocento, die durch ähnliche Mittel einen Realitätszusammenhang mit dem Beschauer herzustellen suchte, deren Tendenzen aber in der Renaissance durch die in gerader Linie sich aus dem Stile des Guido Mazzoni entwickelnde, farblose und ideal distanzierte Kunst des Antonio Begarelli bereits aufgegeben worden waren. Gaudenzio Ferraris Entwicklung erscheint, unter dem Gesichtspunkte der ästhetischen Grenze betrachtet, besonders interessant. Der Künstler wächst aus einer relativ reinen Klassik heraus. Seine einundzwanzig Fresken mit der Lebensgeschichte Christi in S. Maria delle Grazie zu Varallo aus dem Jahre 1513 sind streng gerahmt. Auch seine Ancona in S. Maria zu Arona besteht aus einem Nebeneinander undurchbrechbar gerahmter Tafeln. Ebenso der Altar in S. Gaudenzio zu Novara aus dem Jahre 1514.2 Zum ersten Male machen sich leise Züge einer ästhetischen Umstellung bei der „Madonna mit dem Kinde" in der Brera bemerkbar, die noch vor das Jahr 1520 zu setzen ist. Hier dringt der untere Teil der Komposition, wie wir es schon mehrfach im Quattrocento gesehen haben, dadurch daß die Ausdehnung des Bildraumes absichtlich im Unklaren gelassen wird, vor die Zone, die auf dem oberen Teile des Gemäldes durch die rechts und links gerafften Vorhänge als abschließende vordere Fläche charakterisiert zu sein scheint. Ebenso läßt sich eine leise Überschneidung des Vorhangs auf der „Vermählung der heiligen Katharina" des Gaudenzio Ferrari erkennen, die das untere Mittelstück einer vielteiligen Ancona in S. Gaudenzio zu Varallo bildet. 3 Die Raumverschleifung im ästhetischen Sinne gipfelt nun in der Kreuzigungskapelle des Sacro Monte, um dann mit einem seltsamen Zwischenstadium aus Gaudenzio FerrarisKunst wieder zu verschwinden. Auf dem Fresko der „Geburt Christi" in S. Cristofero zu Vercelli (1532—34) findet zwar keine Grenzüberschneidung zum Realraume hin statt, aber eine eigenartige Grenzüberschneidung innerhalb der Kunstsphäre selbst. Noch einmal besonders umrandet erscheinen im Zusammenhange des Geburtsfreskos oben die im Maßstabe viel kleineren Szenen der Verkündigung und der Heimsuchung. Die Pflanzen aber, die auf dem Erdboden des Hauptbildes wurzeln, ragen auch in die kleinen Darstellungen 1

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Pevsner. (a. a. O.) Abb. 31. — Brinckmann: Barockplastik. Handbuch d. Kunstwissenschaft. Abb. 111. vgl. Halsey: Gaudenzio Ferrari. London 1904. Tafel S. 42, S. 38, S. 60, S. 66. vgl. Halsey (a. a. O.): Taf. S. 68, S. 104.

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hinein. Hier ist in seltener Weise der unbewußte künstlerische Prozeß einer ästhetischen Umstellung in seiner Verwandlung selbst zu beobachten. Die ästhetische Grenzüberschreitung des Sacro Monte klingt noch nach, als Ganzes ist die K u n s t jedoch bereits wieder ideal distanziert. I m Gegenteil: alle Verbindung zur Realität wird innerlich abgelehnt, was sich j a schon in der ganz irrealen Verbindung der verschieden proportionierten Darstellungen offenbart. Auch in der K u n s t des Giovanni Antonio Licinio gen. Pordenone macht sich die Überschneidung der ästhetischen Grenze deutlich bemerkbar. Bei seinem Kreuztragungsfresko im D o m von Cremona (1520) läßt er die H a n d der zu Boden gesunkenen Christusgestalt aus der Bildsphäre herauslangen u n d sich auf die gemalte Rahmenleiste stützen. 1 Und auch auf dem Gemälde, das die Heiligen Martin u n d Christophorus in der Mitte einer nach dem Schema eines Triptychons geteilten, dreischiffigen Säulenarchitektur darstellt, (Venedig, S. Rocco 1528) dringt die Volksmenge aus den beiden seitlichen Raumteilen vor die Architektur und scheint, ebenso wie das Roß des hl. Martin selbst, in den Realraum hineinzutreten. Am stärksten wird Pordenones illusionistische Raumverschleifung bei dem Fresko der „Bekehrung P a u l i " im D o m von Spilimbergo. 2 Hier ragt der linke Vorderf u ß des Pferdes Pauli über die Brüstung des Portikus, der die Szene umschließt, hinaus, scheinbar weit in den Kirchenraum hinein. Und ebenso durchsticht das Schwert des zu Boden gesunkenen Apostels die ideale vordere Bildebene. Die Problematik des ganzen Manierismus-Komplexes wird schlaglichtartig beleuchtet, wenn Pevsner bei Betrachtung der Stilkrise u m 1520 von den cremoneser Fresken Pordenones, „dem einzigen Maler, der gegen die Renaissance in der narkotisierenden Atmosphäre Venedigs revoltiert," sagt: „sie gehören in ihren ausfahrenden Bewegungen dem Sprengen der Rahmengrenzen, der ganzen strotzenden K r a f t zum B a r o c k e s t e n , was die Zeit der Krise hervorgebracht h a t . " 3 I n ästhetischer Beziehung fallen Frühbarock und Manierismus zeitweilig durchaus zusammen, innig verbunden durch die gleichzeitige Abkehr von der Renaissance. Am klarsten t r i t t dies bei den in die frühen zwanziger J a h r e des 16. J a h r hunderts gehörigen Fresken des Parmigianino in S. Giovanni Evangelista zu P a r m a hervor. 4 Aus gemalten Nischen greifen die Figuren illusionistisch in den Realraum hinein, u n d der heilige Georg mit seinem sich mächtig bäumenden Pferde überquert die ästhetische Grenze wie der Paulus des 1

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vgl. v. d. Berken: Malerei der Früh- und Hochrenaissance in Ober-Italien. Handbuch der Kunstwissenschaft. Abb. 232, 233. vgl. Patzak: Die Villa Imperiale in Pesaro, Leipzig 1908. Abb. 203. Pevsner (a. a. O.) S. 40. Fröhlich-Bum (a. a. O.) Abb. 2—5.

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Pordenone. Diese Frühwerke des Parmigianino, stark von Correggio beeinflußt, sind bezeichnenderweise in ihrer Formgebung noch ganz unmanieristisch und gehören zu den ersten Beispielen eines Frühbarock Hand in Hand mit der Entwicklung zu den Formen des Manierismus geht auch bei Parmigianino die Entwicklung zur ästhetischen Distanzierung des Kunstraums. Neben den illusionistischen Scheinarchitekturen Girolamo Gengas in der Villa Imperiale zu Pesaro (1530f.) gehören vor allem die Fresken Vasaris in der Cancelleria zu Rom in die Reihe der heteronomen manieristischen Malerei. Dieser Michelangelo-Schüler erweiterte die Wände der Sala di Paolo I I I in der Cancelleria (1546) durch eine Raumverschleifung raffiniertester Art. 1 Vasari läßt aus dem Saale gemalte Treppen in die Bildbühne aufsteigen, auf denen eine Reihe von Gestalten als Zuschauer des Geschehens im Bilde lagern. Diese meist nackten Vordergrundsfiguren, die ,,nudi" des Manierismus, werden uns bei Beccafumi und Tintoretto in einer ganz anderen ästhetischen Funktion wieder begegnen. Hier sind sie in den engsten Realitätszusammenhang mit dem Beschauer gebracht, — auch psychologisch, da sie als Zuschauer gleichsam eine übergangslose Zwischenstufe zwischen realem und gemaltem Geschehen verkörpern. Es versteht sich von selbst, daß es für unsere Überlegungen gleichgültig ist, was der betreffende Künstler bewußt wollte. Wie Pinder es formuliert hat, suchen wir nicht „die Absichten der Künstler, sondern die Wege der Kunst." Der Künstler selbst wählte seine Gestaltungsart meistens nur, weil er sie „schön" fand. „Bei Vasari war die Umsetzung der Fläche in gemalte Architektur so restlos beabsichtigt, daß auch die Verkürzung der Gesimse und sonstigen Bauglieder, die Wirkung des Lichteinfalls auf ihnen, überhaupt alles, was zur Illusion des Dreidimensionalen notwendig ist, mit berücksichtigt wurde." 2 Ebenso wie Pontormo gibt Vasari jedoch später diese Verschleifung von Kunst- und Realraum wieder auf. Seine Fresken im Palazzo Vecchio zu Florenz(1555f.) und in der Sala Regia des Vatikans (1571) wahren durchaus die ästhetische Grenze, wenn auch der immer barocker werdende Tiefenzug seiner späteren Tafelbilder, im Gegensatz zu der von links nach rechts abzulesenden Flächenschichtung der Renaissance, in morphologischer Hinsicht eine Durchstoßung der idealen vorderen Bildebene bemerkbar werden läßt. In die vierziger Jahre des Cinquecento gehört die Madonna mit den Heiligen Bernhard und Robert in der Pinakothek zu Parma von der Hand des Girolamo Bedoli. Das durch eine gemalte Rahmenarchitektur als Triptychon gegliederte Gemälde bildete ursprünglich das Untergeschoß eines 1 2

vgl. Voss ( a . « . O.) Abb. 92, 93. Pevsner (a. a. 0.) Abb. 7. Voss (a. a. O.) S. 270.

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im Ganzen sechsteiligen Altarbildes. Die Madonna erscheint i m mittleren Teil im Hintergrunde, der heilige Bernhard t r i t t jedoch links vor die Rahmenarchitektur und weist mit deutlicher Gebärde den Beschauer auf die Gottesmutter hin. Auch die schlafende Gestalt des Johannesknaben, der sich an einen der mittleren Rahmenpfosten lehnt, greift durch das über die Bildgrenze herausgestreckte Bein in den Realraum hinüber. Bei Bedoli scheint der Wille zur ästhetischen Grenzüberschreitung, mehr als bei den anderen Manieristen, ein entscheidender Zug seiner K u n s t zu sein. Man kann ihn bei diesem Künstler stets wieder rein deskriptiv erkennen, so bei seiner „Verkündigung" und bei dem Bildnis eines Schneiders in Neapel, wo die wie eine Rampe wirkende Tischkante durch ein Stück Stoff überschnitten wird. 1 Bei Bedolis „Madonna mit den Heiligen Sebastian u n d Franziskus" in der Gemäldegalerie zu Dresden lehnt sich der rechts im Vordergründe stehende heilige Sebastian an die Säule einer Ruinenarchit e k t u r . Maria sitzt auf einem durch zwei Stufen erhöhten Marmorpodium. Der heilige Sebastian steht nun vor der vordersten Stufe dieses Podiums und gleichzeitig vor dem die ganze Szene rahmenden Torbogen, obwohl die Ruinenarchitektur, zu der die Säule gehört, natürlich als hinter dem Torbogen befindlich zu denken ist. 2 Diese Verunklärung des räumlichen Zusammenhangs, die ein typisch manieristisches Stilmerkmal ist, enthält ein starkes irreales Moment, obgleich in der Überschneidung der ästhetischen Grenze durch die Sebastiansgestalt, die sich vor den distanzierenden Porticus schiebt, eigentlich ein Realitätszusammenhang mit dem Beschauer hergestellt wird. Hier offenbart sich von neuem die Zwiespältigkeit der manieristischen Übergangskunst. Wenn man mit idealtypischen Begriffen im Sinne Max Webers arbeitet und an ihnen die Wirklichkeit mißt, so muß hervorgehoben werden, daß diese Gedankenbilder Utopien sind, die als solche nie in der Wirklichkeit vorkommen können. Weber h a t die Aufgabe der historischen Arbeit dahin formuliert, „in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie ferne die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht." 3 Daher wird man bei einer Messung der Wirklichkeit an unserem formalphänomenologischen Kriterium auch dort eine Entscheidung treffen können, wo, bei der Mannigfaltigkeit künstlerischen Gestaltens, die Kennzeichen mehr oder minder verhüllt auftreten. Man wird dann ebenfalls bei Bedolis „Allegorie der unbefleckten Empfängnis" in Parma, die aus den Jahren 1533—38 stammt, an der Art, wie die nackte aus dem Bild herausschauende und gleichzeitig in das Bild hineinweisende Gestalt im Vordergrunde v o r die gemalte Architektur gesetzt ist, erkennen, daß dieser „ n u d o " , wie wir es schon bei 1 2 3

vgl. Fröhlich-Bum (a. a. O.) Abb. 126 Taf. 17, Abb. 127. vgl.PoBse: Die staatliche Gemäldegalerie zu Dresden, Berlin und Dresden 1929. Abb. S. 80. Weber (a. a. O.) S. 50ff.

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Vasaris Fresken in der Cancellerìa sahen, die Funktion hat, die Brücke zwischen Bild und Außenwelt herzustellen. 1 Auch f ü r die Deckenmalerei der nachcorreggiesken Zeit lassen sich einige Beispiele beibringen, wobei allerdings betont werden muß, daß hier schon von der morphologisch-stilkritischen Forschung die Beziehungen zum Manierismus als relativ gering erachtet worden sind. Es handelt sich hier im Grunde durchweg u m frühbarocke Werke. Aus der Zeit zwischen 1546—52 s t a m m t die achteckige Decke des Niccolò dell' Abbate, der wohl erst in seiner Spätzeit in Fontainebleau ein reiner Manierist geworden ist. Das Deckengemälde, das aus Scandiano stammt und heute in der Pinakot h e k zu Modena bewahrt wird, setzt den Real- und K u n s t r a u m vollkommen verbindenden Illusionismus der Domkuppel Correggios nicht fort, sondern hält sich an den quattrocentistischen T y p des Mantegna, wie es Correggio zuerst selbst bei seiner Decke in S. Giovanni Evangelista in Parma getan h a t t e . Die Szene stellt ein Gesellschaftsstück dar, musizierende Damen und Kavaliere scheinen in den R a u m unter sich hinabzublicken. 2 Das Ganze ist jedoch von einem R a h m e n umfangen, der nun allerdings mehrfach überschnitten wird. Die H a n d einer Dame, das I n s t r u m e n t eines Flötenspielers ragen über den R a h m e n hinaus. Auch der Saum einer Damenjacke weht in den Freiraum hinein. Ahnlich ist es bei dem Fries des Abbate im Palazzo dell' Università zu Bologna, der eine Karten spielende Gesellschaft zeigt. 3 Auch hier ragt der Federhut einer Dame weit in den architektonisch ausgestalteten Rahmen des Bildes hinein. Mehr an Correggio k n ü p f t Giulio Campi mit seinem illusionistischen Deckengemälde in S. Sigismondo zu Cremona an, welches die Ausgießung des heiligen Geistes darstellt. (1557). 4 Mit Recht spricht Pevsner hier von einem „Exzess perspektivischer Untersicht". Campi verfolgt das Prinzip seiner Täuschung soweit, daß die Köpfe der Apostel garnicht oder k a u m mehr zu sehen sind, als ob die Gestalten wirklich auf dem in das Mittelschiffsgewölbe gemalten Tambourgesims der Scheinkuppel ständen. Hier darf k a u m noch von einer Beziehung zum Manierismus gesprochen werden. Die Schwierigkeit, feste Grenzen zwischen Manierismus und Barock zu ziehen, weist Pevsner in der Kunst des Bernardino Poccetti nach, der in sich Manierismus und Barock verbindet. Sicherlich barock ist es, wenn Poccetti in seinem Fresko des bethlehemitischen Kindermords im Ospedale degli Innocenti zu Florenz (um 1610) eine den Cancelleriafresken Vasaris verwandte, raumverschleifende Treppenanlage vor der eigentlichen Szene malt, oder wenn er in der Capella Neri bei S. M. Maddalena de' Pazzi 1 2 3 4

Fröhlich-Bum (a. a. O.) Tafel 18. — Pevsner (a. a. 0.) Abb. 47. vgl. Patzak. (a. a. O.) Abb. 273. Fiocco : Paolo Veronese. Bologna 1928. Abb. 9. Pevsner (a. a. O.) Abb. 52. u. S. 92—93.

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(ca. 1600) gemalte Nischenfiguren bringt, die in den Freiraum hinein zu ragen scheinen. 1 Neben diesen Beispielen, in denen sich die Heteronomie der K u n s t , ebenso wie bei dem späten Michelangelo oder bei Correggio, mehr oder minder stark ausprägt, läuft n u n eine zweite, annähernd gleichzeitige auch formengeschichtlich rein manieristische Reihe, deren Gemeinsamkeit in der autonomen Wahrung der ästhetischen Grenze besteht. Allerdings setzt die ästhetisch autonome K u n s t des Manierismus erst in einer späteren E n t wicklungsstufe des Stils ein. Die Abkehr von der Klassik war vollzogen und bedurfte der ästhetischen Grenzüberschneidung nicht mehr als eines Mittels des Protestes. Wir sahen schon an den Beispielen Parmigianinos, Pontormos und Vasaris, wie auch diese Künstler sich später wieder zur ästhetischen Distanz bekehrten. Am deutlichsten wird der Gegensatz beider Richtungen bei der in ihrer Funktion so verschiedenartigen Verwendung der f ü r den Manierismus typischen nackten Vordergrundsfigur. Während sie bei Vasari und Bedoli als Brücke zwischen dem Real- und dem K u n s t r a u m diente, ein Mittel der vervollkommneten Raumverschleifung war, verkörpert sich in ihr bei Beccafumi gerade die ästhetische Grenze selbst. Auf Beccafumis Gemälde „Christus in der Vorhölle" in der Akademie zu Siena lagert sich der mit keinem Glied über die ästhetische Grenze hinausragende und um den Beschauer gänzlich unbekümmerte nudo so im Vordergrunde, daß er wie die Inkarnation einer Barriere wirkt. 2 Noch deutlicher wird diese ästhetische Funktion der Vordergrundsgestalt bei dem „Abendmahl" Tintorettos in der Scuola di San Rocco werden. Die strenge Distanzierung des Bildraumes kennzeichnet Beccafumis gesamtes Schaffen. Die Wand- u n d Deckenfresken im Palazzo della Repubblica zu Siena (1529—35) weisen alle eine isolierende und nicht durchbrechbare R a h m u n g auf. Eine der eigenartigsten Erscheinungen des Manierismus ist Pierino del Vaga, der unmittelbar aus der Schule Raffaels herausgewachsen, als Vorbild f ü r die meisten manieristischen Freskenmaler gelten kann. E r soll in diesem Zusammenhang absichtlich erst jetzt behandelt werden. Nachdem die beiden ästhetisch divergierenden Strömungen des Manierismus kurz skizziert sind, wird die K u n s t des Pierino del Vaga sich leichter einreihen lassen. I n seinem H a u p t w e r k , den Fresken der Sala Paolina der Engelsburg in Rom (um 1536) schafft er ein kompliziertes System von gemalter Plastik, grenzüberschneidenden Malereien und streng gerahmten Bildern. Die Wände des Saales sind durch eine Säulenstellung gegliedert. Die Gestalten in den schmalen Interkolumnien sind so illusionistisch gemalt, daß sie aus ihren Nischen herauszutreten scheinen. Gleichzeitig greifen sie über die 1 2

Voss (a. a. O.) Abb. 138, 139. vgl. Voss (a. a. O.) Abb. 63. Abb. 5. — Pevsner (a. a. 0.)A.bb. 27.

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rahmenden Säulen hinweg. Die Darstellungen aus dem Leben Alexanders des Großen in den breiten Interkolumnien dagegen zeichnen sich durch ein strenges Gefühl für Rahmung und ästhetische Distanz aus. In diesem von rein dekorativen Gesetzen diktierten Ensemble fällt die eigentümliche Unsicherheit der ästhetischen Einstellung auf, die alle Möglichkeiten des Manierismus in einem Zusammenhang zur Gestaltung bringt, wie es nur bei einem noch tastenden und schwankenden Übergangsstil vorkommen kann. Dieses unentschiedene Suchen nach einem neuen ästhetischen Glaubensbekenntnis kommt auf eine ganz sonderbare Art in der doppelseitig bemalten Tafel des Daniele da Volterra im Louvre zum Ausdruck, die den Kampf Davids und Goliaths darstellt. 1 Die Malerei tritt hier in Konkurrenz mit der Skulptur und stellt die gleiche, bewegte Gruppe von zwei Seiten gesehen dar. Betrachtet man nur die eine Seite des Bildes, müßte man glauben, eine ästhetisch distanzierte Darstellung vor sich zu haben. Rein deskriptiv ist keine Überschneidung der Grenze zu erfassen. Dennoch vollzieht sich hier eine ästhetische Grenzüberschneidung seltsamer Art. Während bisher naturgemäß immer die vordere Bildfläche, die dem Beschauer zugekehrt ist, überschnitten wurde, handelt es sich bei dieser frei im Räume aufzustellenden Tafel um eine Durchstoßung der Hintergrundsebene. Die Tendenz ist beide Male die gleiche, denn bei dem Gemälde des Daniele da Volterra kann der Beschauer auch jeweils auf der anderen Seite des Hintergrundes stehen, so daß das Bild auf reziprokem Wege die Verbindung von Kunst- und Realraum herstellt. Es war dem Manierismus vorbehalten, die alte renaissancemäßige Erweiterung des Bildraumes in die Tiefe mit der wieder aufdämmernden Verbindung zum Realraume, die im Barock auf andere Weise erreicht werden sollte, zu vereinen. Bei der Mehrzahl der manieristischen Hauptmeister wird die ästhetische Grenze jedoch durchaus gewahrt. Salviati, der im Vordergrund der Stilentwicklung stehende Parmigianino und die Brüder Zuccari weisen dort, wo sie als eindeutige Manieristen anzusprechen sind, keinerlei Grenzüberschreitungen auf und gehören völlig der autonomen Richtung an. Besonders deutlich wird dieses an den Fresken des Taddeo Zuccaro im Palazzo Farnese zu Caprarola. (1563—66). Jede Darstellung ist von einem breiten Rahmen uibgeben. Die Haupthandlung wird meist in den Hintergrund verlegt. Den Vordergrund füllt statt dessen eine neutrale, trennende Architekturkulisse. 2 Auf dem Gemälde, das Papst Julius III. darstellt, wie er den Besitz von Parma bestätigt, füllen im Vordergrunde Marmorschranken, Kandelaber und eine große Vase gleichsam die ästhetische Grenzzone. 3 Eine Barriere 1 2 3

vgl. Pevsner (a. a. O.) Abb. 36, 37. vgl. Voss (a. a. O.) Abb. 169. vgl. Weisbach: Der Manierismus. Zeitschrift für bildende Kunst, 1919. Abb. 13.

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aus hohen Gegenständen wird zwischen dem Beschauer u n d d e m Bildgeschehen aufgebaut, der Barriere vergleichbar, die der Renaissancemensch Ludovico Moro bei seinen Audienzen zwischen sich u n d dem Volk zu errichten pflegte. Ähnlich liegt der Fall bei Tintoretto. Auf seinem „ A b e n d m a h l " in der Scuola di San Rocco aus den J a h r e n 1577—81 wird die H a u p t h a n d l u n g ebenfalls in den Mittelgrund zurückgedrängt 1 . Am Bildrande aber, zu Füßen zweier Stufen, die von den F l u t e n des Kanals erst in den eigentlichen R a u m des Geschehens hinaufführen, lagern inmitten von F r ü c h t e n und Blumen zwei gleichsam nicht individuierte Gestalten, der manieristische nudo und ein junges Mädchen, die weder in eine kompositionelle, noch eine inhaltliche Beziehung zu der Haupthandlung gesetzt sind. Sie dienen vielmehr hier, wie schon bei Beccafumi, lediglich dazu, die Funktion der ästhetischen Grenze in neutraler, dekorativer, assoziationsloser reiner Sichtbarkeit zu verkörpern. Was frühere Zeiten durch Vorhänge, durch Festons, Guirlanden oder Fruchtgehänge zur Gestaltung brachten, wird hier durch ein gleichsam stillebenhaftes Beieinander von Menschen, Pflanzen und Früchten ausgedrückt. Selbst wenn man den beiden Gestalten dadurch eine gegenständliche Motivierung geben würde, daß m a n sie als die Armen ansieht, die beim Gastmahl gespeist werden, so würde sich ihre funktionelle Bedeutung kaum ändern. Bei dem jungen Tintoretto der Frühzeit muß jedoch zweifellos von einer frühbarocken Periode gesprochen werden. Die „Befreiung des Sklaven durch den heiligen Marcus" aus dem Jahre 1548 und der „Tempelgang Mariä" in S. Maria dell' Orto zu Venedig wurden aus formengeschichtlichen Gründen von jeher zu den ersten Dokumenten der Barockkunst in Venedig gezählt. I n raumästhetischer Hinsicht tritt der barocke, grenzverwischende Charakter der FrühzeitTintorettos am klarsten in den um 1552 entstandenen Bildern der Antichiesetta des Dogenpalastes hervor, von denen eines die Heiligen Andreas und Hieronymus, das andere die Heiligen Ludwig und Georg mit der Königstochter darstellt. 2 Beide Szenen spielen sich im Rahmen einer gemalten Pfeilerarchitektur ab, die gleichsam über eine Schwelle hinweg den Ausblick ins Freie offen läßt. Über diese Schwelle aber ragen Gewand und Kreuz des heiligen Andreas und der vom heiligen Georg erlegte Drache hinaus in den Raum des Beschauers. Die gleiche Grenzüberschreitung ist bei dem Gemälde der Krankenheilung Christi in der Kirche S. Rocco zu Venedig (um 1559) zu beobachten. 3 Hier quellen die in drangvoller Enge den Kunstraum füllenden Figuren geradezu aus dem Bilde heraus und überqueren den Rahmen. I n dem gleichen Maße nun 1 a 3

vgl. Bercken-Mayer: Jacopo Tintoretto. München 1923, Abb. S. 128. Bercken-Mayer (a. a. O.) Abb. S. 48, 49. Bercken-Mayer (a. a. 0 ) Abb. S. 53.

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wie Tintorettos Kunst in ihren Stilmerkmalen manieristischer wird, t r i t t das Gefühl f ü r ideale Distanz und f ü r strenge R a h m u n g wieder mehr hervor. Auch Pevsner spricht von einem reinen Manierismus bei Tintoretto erst a b 1560, dem Jahre, das, mit Dvoraks Worten, eine „geistige Wiederg e b u r t " bezeichnet. Es ist derselbe Wandel, der sich koloristisch in der Entwicklung vom „goldenen" zum „ g r ü n e n " Stil darstellt. Von dem Abendmahl in der Scuola di San Rocco war schon die Rede. Die Deckengemälde der Scuola (1577—81) sind zwar in verkürzter Untersicht gemalt, werden aber durch dicke Stuckrahmen so sehr aus dem Realitätszusammenhang isoliert, daß keine illusionistische R a u m v e r b i n d u n g entstehen kann. 1 Das Gleiche gilt von den Deckenbildern Tintorettos im Dogenpalast. Die Grenze zwischen Bildgeschehen u n d Beschauer wird stets betont. Und wenn bei manieristischer Kunst so oft von Magie u n d Zauberei geredet worden ist, so muß gesagt werden, daß j a Magie u n d Zauberei nur bei einer gewissen Distanz ihren Schimmer u n d Nimbus behalten. I m Schaffen von Tintorettos Zeitgenossen Paolo Veronese vollzieht sich eine ähnliche ästhetische Entwicklung. Einen Höhepunkt frühbarocker, illusionistischer Raumerweiterung stellen die Fresken in der Villa Giacomelli zu Mas£r dar, die in die Zeit u m 1560 gehören. I n der Decke der Sala delT Olimpo t r i t t eine eigentümliche Differenzierung des ästhetischen Grenzgefühls hervor. 2 Während am Rande des Deckengemäldes hinter einer Balustrade, zwischen gewundenen Säulen u n d vor perspektivisch verkürzten Fensterausschnitten die Gestalten von Zuschauern, ein Affe, ein H u n d und ein Papagei auftauchen, die sich in einer beinahe panoramah a f t e n Weise in den Realraum vorschieben, u m in den Saal unter ihnen hinabzublicken, ist das mythologische Geschehen in den Wolken, das die eigentlichen Deckenfelder füllt, isolierend gerahmt, so daß, trotz der Untersicht, kein Realitätszusammenhang mit dem Beschauer entstehen kann. Wir begegnen hier der Tatsache, daß der Manierismus, wenn er die ästhetische Grenze überschneidet, dies eher bei einem weltlichen, gesellschaftlichen Thema t u t . Das Gleiche war bereits bei Pontormo, Vasari u n d Niccolo dell' Abbate zu beobachten. Unwirkliche Inhalte religiöser, allegorischer und mythologischer N a t u r werden in allen Fällen, wo es sich u m wirklich reine manieristische K u n s t handelt, distanziert. Es zeigt sich also auch hier wieder, daß eine religiöse Kunst durchaus autonom, ästhetisch immanent sein kann. Dennoch braucht nach den kulturgeschichtlichen Bedingungen dieser Religiosität nicht gefragt werden, da der Andächtige lediglich als ein Gegenüber anerkannt ist. Die Grenzüberschneidungen des Manierismus finden sich auch nur in der dekorativen Frühstufe des Stiles. Die schrankenlose Ichbezogenheit der K u n s t des jüngeren Veronese, in 1 2

vgl. Bercken-Mayer (a. a. O.) Abb. S. 112—121. Fiocco (a. a. O.) Abb. 49. 11

Michalik!.

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der zweifellos alle barocken Keime derZeit zur Entfaltung drängen, erreicht ihren Gipfel, wenn man, durch eine Reihe von Tfiren hindurchblickend, am Ende einer Raumflucht Veronese selbst in Jägertracht mit seinem Hunde aus einer scheinbar ins Freie führenden Tür eintreten sieht und erst kurz vor dem Fresko selbst die Täuschung erkennt. (Abb. 40.) Der Illusionswille ist hier so stark, daß der Künstler den Degenknauf und den Speer der gemalten Gestalt einen Schatten auf die Türumrahmung werfen läßt. Später aber gibt Veronese, wie Tintoretto, obwohl er im Einzelnen sich durchaus zum Barock hinentwickelt und sich seiner individuellen Veranlagung nach der expressiven magischen Spätstufe des Manierismus nicht anschließen kann, diese Raumverschleifung wieder auf. Seine Deckengemälde, wie zum Beispiel der berühmte „Triumph der Venezia" im Dogenpalast (1580) sind alle streng und bewußt gerahmt. Außerdem schließt die Verwendung von Außenarchitektur und von Landschaften im Deckenbilde jede wirklich illusionistische Raumerweiterung aus. Man erkennt hier, wie die autonome Kunstauffassung des späten Manierismus sogar für einen Künstler verbindlich wird, der in formengeschichtlicher Hinsicht mit vollen Segeln der reifen Barockkunst zusteuert. Man kommt also zu dem Ergebnis, wenn man die manieristische Malerei auf ihr Verhältnis zum Begriff der ästhetischen Grenze hin untersucht, daß nach einer mit der energischen Abkehr von der Klassik verbundenen Phase der Grenzüberschneidungen, die bei allen Künstlern noch in der dekorativen Frühstufe des Manierismus liegt und vorwiegend bei weltlichen Inhalten in Erscheinung tritt, die Entwicklung zu einer strengen Wahrung der ästhetischen Distanz in der expressiven Spätstufe des Stils fortschreitet. Schon einmal begegneten wir in unseren Untersuchungen einer Zeit, bei der das ästhetische Grenzgefühl nicht ganz einheitlich ausgeprägt war. Auch das 12. Jahrhundert konnte keine ganz einheitliche Entscheidung zwischen autonomer und heteronomer Kunstauffassung treffen. Seinen Höhepunkt, seine reinste Verkörperung und gleichzeitig sein Ende erreichte der Manierismus in der Kunst des Domenico Theotocopoli genannt el Greco. Wie es bei einer sich so beispiellos von den Gesetzen des Realität abkehrenden Kunst selbstverständlich ist, bestehen hier kaum irgend welche Brücken zur Wirklichkeit. Magie und Wunder, Unwirklichkeit und Ferne waren für Greco der Sinn seines Schaffens. Die Bedeutung der Kunst auf dieser Welt bestand für ihn vornehmlich darin, Erlösung von eben dieser Welt zu bringen und eine grundsätzlich andere Welt nach autonomer, eigener Gesetzmäßigkeit zu errichten. „Credo quia absurdum", der tiefe Sinn dieses Wortes des Tertullian kann nicht sichtbarer gemacht werden, als durch das Werk des Greco. Nur ein einziges Mal taucht auch bei diesem entrücktesten aller Künstler, bezeichnenderweise in seiner Frühzeit, und bei einer gesellschaftlich-repräsentativen Szene, ein relativ 162

geringfügiger Zug auf, der beweist, dalJ aucb Ureco, wie alle Mamensten, um die vollkommene ästhetische Distanz erst ringen mußte. Auf dem Gemälde der „Beerdigung des Grafen Orgaz" in Toledo (1586) steht im Vordergrund ein kleiner Page, der aus dem Bilde herausschauend den Beschauer auf den Leichnam des Grafen hinweist. Dies ist der schmale Steg, der die Kunst des Greco mit dem Barock, mit einer außerästhetisch belasteten Kunst verbindet.1 Auch bei der Plastik zeigt sich der gleiche Unterschied zwischen frflhem und spätem Manierismus. Eine Gegenüberstellung des Reliefstils von Benvenuto Cellini und von Giovanni da Bologna umspannt die ganze Entwicklung. Während Cellini in schroffem Gegensatz zum flächig gebundenen Relief der Renaissance seine Figuren aus der Reliefzone in den Realraum vordringen läßt, bleibt bei Giovanni da Bologna die Darstellung auf einer „objektiven Reliefbühne" distanziert. Aus der Zeit seines Wirkens in Frankreich stammt Cellinis berühmtes Lünettenrelief der sogenannten „Nymphe von Fontainebleau", heute im Louvre zu Paris. (1543—44.)2 In einer uns schon aus dem Quattrocento von Ghiberti her bekannten Weise stößt inmitten der sonst relativ flach reliefierten Komposition der von vorn gesehene Hirschkopf rundplastisch tief in den Freiraum hinein, und das Geweih des Tieres ragt wie ein krönendes Ornament weit über die Lünettenumrahmung hinaus. 1553 ist Cellinis schon 1545 begonnene Gruppe des Perseus mit dem Haupte der Medusa vollendet, die den Ruhm des Künstlers weithin verbreitete. (Loggia dei Lanzi zu Florenz.) Bei den vier kleinen Nischenfiguren am Sockel der Gruppe wird die Überschneidung der ästhetischen Grenze besonders durch die Gestalt der Danae deutlich, die von einem kleinen, in den Realraum gleitenden Putto selbst beinahe aus ihrer Nische herausgezogen wird.3 Wenn man die vier Nischenfiguren des Jacopo Sansovino an der Loggetta in Venedig (1537—40) zum Vergleich heranzieht, die in ihrer Anbringung und gesamten Gestaltung als die unmittelbaren Vorbilder Cellinis gelten können, wird die Veränderung des ästhetischen Raumgefühls bei Cellini besonders deutlich. Sansovino gehört hier noch vollkommen der Renaissance an. Auch in bezug auf die formale Durchbildung im Einzelnen konnte stets bei ihm von einem „antikisch-raffaelischen Schönheitskanon" gesprochen werden. Grecos Gemaide mit der Ansicht von Toledo, auf dem am rechten Bildrande ein Knabe den Plan der Stadt ausbreitet, kann in formal-phfinomenologischer Hinsicht nicht als ein Dokument ästhetischer Grenzfiberschreitung angesprochen werden, da der Knabe mit dem Plan in beinahe wappenhafter Weise in die Bildebene gebunden bleibt und durch keine Gebärde den Beschauer in einen Realitätszusammenhang mit dem Bildgeschehen setzen will. ' vgl. Brinckmann . (a. a. O.) Abb. 109. 3 vgl. u. a. Popp : Fälschlich Michelangelo zugeschriebene Zeichnungen. Zeitschrift für bUdende Kunst. 1927/28. Abb. S. 9.

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11*

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Bei der Gruppe des Perseus u n d der Medusa selbst drängt sich die Erinnerung an eine auch im Motiv ähnliche Plastik aus d e m heteronomen Quattrocento von selbst auf: an die J u d i t h des Donatello. I n sehr verwandter Weise wird durch das Blut, das dort als Wasser aus dem Kissen, auf dem Holofernes r u h t , hier aus dem Hals der geköpften Medusa in den Realraum hervorschießt, eine konsequente Verbindung zum Beschauer hergestellt. Ganz anders liegt der Fall bei einem spätmanieristischen Künstler, wie Giovanni da Bologna. Aus dem J a h r e 1579 s t a m m t sein Relief mit der Darstellung des Raubes der Sabinerinnen am Sockel der großen Raptusgruppe, die sich ebenfalls in der Loggia bei Lanzi befindet. 1 Es repräsentiert in reinster F o r m jene objektive Reliefbühne, von der aus keine Verbindung zu dem R ä u m e , in dem der Beschauer sich befindet, hergestellt werden kann. Auch bei seinen rundplastischen Skulpturen achtet Giovanni stets genau darauf, die Figuren nicht aus der ihm durch die Basis angewiesenen Kunstsphäre in den Freiraum hineinragen zu lassen. Sogar bei so bewegten Gestaltungen, wie es der Merkur oder der Sabinerinraub sind, bleibt die Komposition streng, wie von unsichtbaren Grenzen gerahmt, in dem Luftraum oberhalb des Sockels befangen. J a , es macht bei diesen Skulpturen in morphologischer Hinsicht gerade ein wichtiges Stilmerkmal des Manierismus aus, daß, gleichsam durch den raumästhetischen Zwang, jene unwirkliche, in schwingenden K u r v e n verlaufende, wendeltreppenartig gedrehte Bewegung erzielt wird. Obwohl das Problem der manieristischen Architektur nicht eigentlich in den R a h m e n unserer Untersuchungen fällt, soll in diesem Zusammenhange doch auf das f ü r unsere Gedankengänge sehr bezeichnende Teatro Olimpico in Vicenza hingewiesen werden, das 1579 von Palladio begonnen und 1584 von Scamozzi beendet wurde. 2 Hier wird auf der Bühne durch eine sich nach malerischen Gesetzen verkürzende Reliefperspektive der Eindruck einer Architektur mit tiefen Straßendurchblicken hervorgerufen, ähnlich wie bereits im vierten Quattrocento B r a m a n t e dem Chor von S. Maria presso S. Satiro in Mailand eine täuschende Tiefe zu geben suchte. Der für den Manierismus entscheidende Unterschied ist jedoch, daß das illusionistische Kunststück sich jetzt in einer grundsätzlich irrealen, für Spiel und Täuschung geschaffenen, vom Zuschauerraum aus nicht betretbaren Bühnensphäre abspielt. Zwischen Bühne und Zuschauerraum schiebt sich außerdem noch die nach dem Zeugnis von Bertotti Scamozzi wahrscheinlich vertiefte Orchestra, so daß der heutige Zustand des Theaters dem Originaleindruck entspricht. 3 Wie sehr die Täuschung des Manierismus 1 !

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vgl. Brinckmann (a. a. O.) Abb. 137. vgl. Michalski: Das Problem d. Manierismus in d. italienischen Architektur (erscheint demnächst). Bertotti Scamozzi: Lea batiments et les dessins de Andre Palladio. Vicenze 1776.

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außerhalb jedes Realitätszusammenhangs stand, beweist, daß die kleinen Bühnenstraßen nicht einmal von den Schauspielern betreten werden konnten, sondern, wie Hammitzsch meint, durch Marionetten belebt wurden, zu deren Herstellung schon Serlio Anweisungen gegeben hatte. 1 Das heteronome Quattrocento dagegen konstruierte im Chor von San Satiro in Mailand, ebenso wie später Borromini in der Colonnade des Palazzo Spada zu Rom, betretbare und in realem, architektonischem Zusammenhang stehende R ä u m e auf eine illusionistische Wirkung hin. Auf den Manierismus im Norden braucht n u r kurz eingegangen zu werden. F ü r die überwiegende Mehrheit der Künstler existiert keine Verbindung zwischen Bild u n d Wirklichkeit. Heemskerck u n d Goltzius, Pieter Aertsen, Lucas v a n Leyden u n d Bloemart, Aldegrever, H a n s v. Aachen u n d Joseph Heintz, — sie alle kennen keine Überschneidung der ästhetischen Grenze. Bei Bernaert v a n Orley t r i t t dieses Kriterium der künstlerischen Autonomie besonders stark in den nach seinen E n t w ü r f e n gewebten Tapisserien hervor. Die stets von einer reich ornamentierten Bordüre umgebenen Szenen greifen nicht auf die R a h m u n g über. N u r bei J a n Gossaert gen. Mabuse machen sich, wie im Süden, auf der frühesten Stufe des Manierismus gewisse Grenzübergriffe bemerkbar. Auf dem palermitaner Triptychon, einem kleinen Reisealtärchen, ragen die Füße musizierender Engel u n d Gewandteilchen über den gemalten, als geschnitzt zu denkenden Rahmen der eigentlichen Darstellung. Und auf die Rückseite des Carandolet-Dyptichons im Louvre (1517) malt Mabuse einen Totenkopf, dessen Kinnlade weit aus der Nische, in der er r u h t , herauszuragen scheint. 2 Mabuse gibt seinen Porträtfiguren u n d einigen Madonnendarstellungen mit Vorliebe eine fensterrahmenartige Architektur als Hintergrund, aus der die Gestalten herausgetreten zu sein scheinen. Doch k a n n hier durchweg nicht von einer Überschneidung der ästhetischen Grenze gesprochen werden, außer auf dem Männerbildnis der ehemaligen Sammlung Holford in London, wo die H a n d des Dargestellten über einen gemalten v o r d e r e n R a h m e n hinausgreift. 3 J a n v a n Scorel t r e n n t seine Halbfigurenreihe der „ J e r u s a l e m f a h r e r " im Museum zu Utrecht aus den J a h r e n 1525—26 durch einen rampenartigen Streifen streng von der Außenwelt ab. Und er behält diese Scheidewand auch bei der zweiten u n d dritten Serie der Jerusalemfahrer-Bilder im Frans-Hals-Museum zu Haarlem u n d im Museum zu Utrecht bei. I m J a h r e 1531 distanziert Scorel ein Knabenbildnis, heute im BoymansMuseum zu R o t t e r d a m , durch eine quer über das Bild gelegte InschriftLeiste, hinter welcher der Dargestellte erst aufragt. 4 In dieser Hinsicht 1

Hammitzsch: Der moderne Theaterbau. Berlin 1906. S. 16. vgl. Weisz: Jan Gossaert gen. Mabuse. Parchim 1913. Tafel III. ä vgl. Weisz (a. a. O.) Tafel X X I I I . * vgl. Hoogewerff: Jan van Scorel. Haag 1923. Tafel 13, 15, 17, 19. 2

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abhängig von Scorel ist Antonis Mor, der die Halbfignren seiner Bilder im Museum zu Utrecht (1541) und die beiden Domherren des Doppelbildnisses im Berliner Kaiser Friedrich-Museum (1544) durch ebensolchen Inschrift-Streifen aus jedem Realitätszusammenhang herausbebt. Mors spätere Porträts bedürfen eines derartigen Hilfsmittels nicht mehr, sie sind innerlich u n d äußerlich in gleicher Weise distanziert. Ebenso wie im Süden kommen in der Spätstufe des Manierismus auch im Norden keine Grenzüberschneidungen vor. Die einzige Ausnahme, die dem Verfasser bekannt ist, findet sich in dem Werke des Bartholomäus Spranger aus der Zeit nach 1600. Man ist hier jedoch aus mehr als einem Grunde berechtigt, von einem endgültigen Eingehen des Manierismus in den Barock 2u sprechen. Das Gemälde „Amor verläßt Psyche" im Museum zu Oldenburg ist nach der Art eines Fassadenschmucks aufgeteilt. 1 Amor fliegt durch eine Fensteröffnung gleichsam in den Realraum hinein. Psyche sucht ihn zu halten, eines ihrer Beine ragt aus dem Rahmen heraus. Schon in dieser krassen Überschneidung der ästhetischen Grenze, ebenso wie in der besonders malerischen Haltung und in dem starken Tiefenaug des Bildes drückt sich eine innere Zugehörigkeit zum Barock aus. Den reinsten und bedeutendsten Vertreter im Norden hat die manieristische Kunst in Pieter Brueghel d. Ä. gefunden. An seinem Werk läßt sich in typischer Formung noch einmal alles ablesen, was wir an deskriptiven Erkenntnissen aus den verschiedensten künstlerischen Lagern zusammengetragen haben. Dvorak hat es in seiner unnachahmlichen Weise verstanden, trotz der lehrhaften und satirischen Tendenz der Bilder Brueghels, das Autonom-Schöpferische als den entscheidenden Zug des Künstlers hervorzuheben. „ E s verwandelt sich die alte, religiös bedingte didaktische Satire in ein künstlerisch-souveränes Sittenbild." 2 Die gleiche Erkenntnis gewinnen wir formal-phänomenologisch aus der Achtung der ästhetischen Grenze bei Brueghel, die sogar bei seinen Buchillustrationen, Stichen und Radierungen, die er im Dienste des Verlages Hieronymus flock fertigte, die künstlerische Autonomie verbürgt. Oft drängt er seine Bildinhalte durch den schon von Scorel her bekannten Inschrift-Streifen zurück, der in ästhetischer Beziehung innerhalb der manieristischen Kunst die gleiche Funktion h a t , wie die nudi u n d neutralen Vordergrundsfiguren bei Beccafumi u n d Tintoretto, nämlich eine neutrale, distanzierende Zone zwischen Bild und Beschauer zu bilden. Auch dann, wenn diese Inschrift das Bildgeschehen ausdrücklich erläutert und sich also mit Worten an ein Publikum wendet, so geschieht dies doch, ästhetisch betrachtet, in einer 1

vgl. Dietz: Der Hofmaler Bartholomäus Spranger. Jahrbuch des allerhöchsten Kaiserhauses, Wien XXVIII. Taf. X X I I . ' Dvorak: Pieter Brueghel d. Ä. (Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. (München 1924)). S. 226.

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Übertragung wie durch einen Rhapsoden oder den Chor in der antiken Tragödie, der sich als Zwischenglied zwischen das künstlerische Geschehen und den Zuhörer schiebt, um, wie Schiller im Vorwort zur „Braut von Messina" sagt, „eine lebendige Mauer zu sein, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre politische Freiheit zu bewahren." Es wäre das Thema einer besonderen Untersuchung, an der Art, wie erklärende, sich an den Beschauer wendende Beischriften in der Entwicklung der Illustration innerhalb der künstlerischen Komposition angebracht und verteilt werden, nachzuweisen, ob es sich um autonome oder heteronome Kunst handelt. Der Barock verankert das schriftliche Kommentar in einer ganz anderen Weise in der künstlerischen Sphäre selbst, so daß die Beziehung zum Publikum sich ganz unmittelbar und zwischengliedlos gestalten mußte. I n einem einzigen Falle läßt auch Brueghel Teile des Bildes selbst auf die InschriftLeiste übergreifen: bei dem Kupferstich des „Sommers" (1568) ragen die Sense und der Fuß eines Schnitters über die ästhetische Grenze hinaus. 1 Diese Grenzüberschreitungen finden sich auch bei Brueghels Vorzeichnung in Hamburg. 2 Es ist hier jedoch auffällig, daß die obere Kontur der für die Inschrift frei gelassenen Leiste deutlichst sichtbar durch den Stiel und die Schneide der Sense durchgezogen wird und gleichzeitig die Ferse vom Fuße des Schnitters abtrennt. Auf der Zeichnung wird auch die Sense in stärkerem Maße von dem unteren Rande des Blattes abgeschnitten als auf dem Stich, so daß, bei der Einmaligkeit einer solchen Grenzübertretung im Schaffen Brueghels, der Verdacht aufsteigt, die über den Rand ragenden Teile seien erst nachträglich, vielleicht von Brueghels eigener Hand, hinzugefügt worden, um die Vorzeichnung besonderen Wünschen des Verlegers oder des Stechers anzupassen. Vielleicht kündigt sich aber in der Grenzüberschneidung dieser sehr späten Arbeit Brueghels auch schon das Ende des Manierismus und der Keim eines Überganges zum Barock an. In diesem Sinne sagt Friedländer von der Hamburger Zeichnung: „Vielleicht ist uns in diesem Blatt ein Blick eröffnet auf ein Gebiet, das zu betreten Brueghel durch seinen frühen Tod verhindert wurde. Unter allen Schöpfungen des Meisters erinnert diese Erfindung am ehesten an Rubens und damit an die Zukunft der niederländischen Kunst." 3 Auch in der deutschen Plastik des Manierismus wird die ästhetische Grenze gewahrt, im Gegensatz zu den vielfach noch gleichzeitigen Werken des „spätgotischen Barocks." Hans Leinberger schließt die Gestalten seines Moosburger Altars (1513) in ihrem Schreine streng von der Außenwelt ab, und der Lübecker Meister Gaus Berg dokumentiert in seinem Altar von 1 2 3

vgl. Friedländer: Pieter Brueghel, Berlin 1921, Abb. 66. vgl. Tolnai: Die Zeichnungen Pieter Brueghels, Mönchen 1925. Abb. 51. Friedländer (a. a. 0.) S. 122.

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Odense in Dänemark (um 1522) sein ausgeprägtes Gefühl f ü r die Autonomie des Kunstraumes. I n die gleiche Reihe gehört auch Andreas Morgenstern, dessen wichtigstes Werk der Hochaltar aus Zwettel (1516—25) sich j e t z t in Adamsthal in Mähren befindet. Der deutsche Hauptmeister der manieristischen Plastik zu Beginn des sechzehnten J a h r h u n d e r t s ist zweifellos der nur mit seinen Initialen bekannte Meister H . L., der auch in seinen Stichen als ein typischer Vertreter manieristischer K u n s t angesehen werden muß. Sein Breisacher Hochaltar von 1526 schließt jeglichen Realitätszusammenhang mit dem Beschauer prinzipiell aus. Besonders deutlich wird dies an der Predella des Altars, wo die vier Evangelisten als Halbfiguren erscheinen. Trotz der heftigen Erregung u n d Bewegtheit der Figuren werden alle Bewegungstendenzen im K u n s t r a u m e zurückgehalten. Keine Grenzüberschneidung in den Realraum hinein findet statt. Diese Leistung eines autonomen Kunstwollens t r i t t in ihrer Entschiedenheit doppelt hervor, wenn m a n sich zum Beispiel der Wiener Halbfiguren des Anton Pilgram erinnert, die den Vergleich mit den illusionistischen Barockreliefs Berninis in der Capella Cornaro nahe legten, ein Vergleich, der dem Motive nach, f ü r den Meister H . L. ebenso bestehen könnte, wenn nicht eine grundsätzlich veränderte ästhetische Funktion zutage t r e t e n würde. Auch im Altar zu Niederrottweil (um 1530), dem vielleicht typischsten Werk der manieristischen Plastik in Deutschland, wahrt H . L. die ästhetische Distanz. Es bedeutet einen interessanten Beitrag zu unseren Gesichtspunkten, wenn er in dem Relief des Engelkampfes sich an Dürers Holzschnitt des Kampfes Michaels mit dem Drachen aus der Apokalypse anlehnt und sein Vorbild, im Gegensatz zu Loy Hering, auf ästhetisch-autonome Weise variiert, während dieser Künstler der sogenannten deutschen Renaissance Dürers „Dreifaltigkeit" gerade zu einem heteronomen Kunstwerk umgestaltete. D a ß die ästhetische Distanz in der Vischer-Werkstatt mit der manieristischen Formgebung zur gleichen Zeit ihren Einzug hielt, wurde bereits in anderem Zusammenhang erwähnt. 1 Abschließend sei noch einmal im raumästhetischen Sinne das Verhältnis von Renaissance, Frühbarock und Manierismus an der Wanderung und Wandlung eines von Raffael herstammenden Motivs illustriert. Die Zeichnung eines nackten, breitbeinig auf einem Felsen sitzenden Jünglings im British Museum zu London m u ß als das Vorbild des Gemäldes Johannes des Täufers im Louvre angesprochen werden, das j e t z t meistens als ein Werk des frühen Giulio Romano gilt. 2 (Abb. 33, 34.) Die Zeichnung enthält die gleiche über den Rumpf hinweggreifende Bewegung des Armes, die wir 1

Zur deutschen Plastik des Manierismus vgl. u. a. Feulner (a. a. O.) Taf. 22,23,24, 47,48, 49, 57, 58, 59, 67, 68, 77, 78, 79. ' Die Zeichnung bei Fischel: Raphaels Zeichnungen, Berlin 1924. Abtlg. V Nr. 223. — Auch Sebastiano del Piombo wurde für das Gemälde Johannes des Täufers vorgeschlagen.

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schon als ein Anfassen aus der Berliner Vorzeichnung zur „Madonna dell' Impannata", als ein demonstratives Zeigen aus der endgültigen Fassung dieses Gemäldes selbst kennen, an dem auch Giulio Romano beteiligt war. Während aber bei der londoner Jünglingszeichnung wie bei der berliner Skizze, die Gebärde durch eine Beziehung innerhalb der Kunstsphäre selbst motiviert wird, — der Jüngling faßt einen Stab, — so wandelt sie sich bei dem sonst seinem Vorbilde ziemlich genau folgenden Romano wieder zu einer Weisung an den Beschauer, zu einer Brücke zwischen Realund Kunst räum. Der Renaissancekünstler Raffael wahrt die ästhetische Grenze, der frühbarocke überschneidet sie. Es ist nun Fischeis Verdienst, die Wiederkehr des gleichen Bewegungsmotivs bei dem „Parnass" des niederländischen Manieristen Uitenwael (1594) in der Dresdener Gemäldegalerie nachgewiesen zu haben. (Abb. 35.) Hier sitzt im Mittelgrunde die Gestalt des leierspielenden Apollo in der gleichen Stellung und Haltung wie der Jüngling Raffaels und der Johannes des Romano. Bei Uitenwael bleibt die Bewegung des Armes jedoch wiederum innerhalb der Kunstsphäre gebunden. Apollo greift mit der bekannten, den Rumpf überkreuzenden Gebärde in die Saiten, so wie der Jüngling Raffaels den Stab faßte. Die Überschneidung der ästhetischen Grenze, die der Barock in diese Bewegung legte, ist vom Manierismus wieder aufgegeben worden. Zusammenfassend muß also von der manieristischen Kunst des Cinquecento gesagt werden, daß sie nach unserem formal-phänomenologischen Kriterium zum größten Teil als ästhetisch autonom und als unbedingt von soziologischen Phänomenen angesprochen werden muß. Wo sie in ihrer Frühstufe durch die Überschneidung der ästhetischen Grenze als heteronom erscheint, kann dies nur aus der nachdrücklichen Absage gegen die Renaissance erklärt werden. Hierin gingen die frühmanieristischen mit den frühbarocken Künstlern Hand in Hand, wie es denn in den meisten dieser Fälle auch unter morphologischen Gesichtspunkten schwer fallen würde, eine strenge formale Scheidung von der barocken Stilrichtung vorzunehmen. Sein Eigenstes und Entscheidendes, das, was nur ihm zu sagen vorbehalten war, hat der Manierismus jedenfalls innerhalb einer autonomen, ideal distanzierten Kunst zur Gestaltung gebracht. Walter Friedländer hat vom Manierismus, den er den „antiklassischen Stil" nennt, gesagt, man schaffe „ein angeschautes Objekt künstlerisch", wie man es nicht sieht, „aber aus rein künstlerisch autonomem Motiv möchte, daß es gesehen wird." 1 Über die eigentümliche Lösung des Raumproblems im Manierismus sagt Friedländer: „Im antiklassischen Manierismus bleiben die Figuren plastisch und volumenhaft, wenn auch unreal im 1

Friedländer: Die Entstehung des antiklassischen Stils. Repertorium für Kunstwissenschaft. 1925. Band 46.

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normativen Sinne. Der R a u m , wenn er ü b e r h a u p t außerhalb der Volumen vorbanden ist, geht nicht auf eine reale W i r k u n g a u s / ' Demnach fällt die Streitfrage, ob Manierismus oder Barock die Kunst der Gegenreformation gewesen sei, f ü r uns in sich zusammen. Auch die Tatsache, daß gewisse H a u p t d a t e n der Gegenreformation mit der E n t stehungszeit wichtiger manieristischer Werke zeitlich parallel laufen, k a n n unsere auf deskriptivem Wege gewonnene Einsicht nicht hinfällig machen. Die Divergenz des historischen und geistesgeschichtlichen Zeitbegriffs wurde unseren Untersuchungen von Anfang an zugrunde gelegt. Die Kunst des reifen Manierismus ist in ihrer reinen Sichtbarkeit vollkommen ohne jedes Wissen u m den Geist der Gegenreformation zu erfassen, sie spricht ebenso ihre eigene, autonome, aus formfremdem Gebiet unbeeinflußte Sprache, wie die K u n s t der Klassik. Gewiß prägt sich in der Spätstufe des Stils, bei Tintoretto u n d Greco ganz primär ein neues u n d heißes Gefühl aus, das vielleicht aus den gleichen, einer wissenschaftlichen Erfassung sich verschließenden Urquellen alles menschlichen Tuns u n d Seins aufsteigt, wie die Bewegung der Gegenreformation. Die „ K u n s t der Gegenreformation" ist der Manierismus d a r u m aber noch nicht. Nicht nur, weil das innere, genetisch vielleicht vorhandene Verhältnis dieser beiden Phänomene garnicht Zu fassen ist, sondern weil, kritisch betrachtet, u n d nur dies k o m m t f ü r die Kunstwissenschaft in Frage, eine Beziehung niclft zur Gestalt wird. D a ß eine solche Beziehung aber sehr wohl zur greifbaren Form werden kann, wird sich bei der Betrachtung der reifen Barockkunst herausstellen, die w a h r h a f t die Kunst der Gegenreformation gewesen ist. Sie wird von der Gegenreformation in Besitz genommen, ihren Zwecken dienstbar gemacht, sie wird heteronomisiert. U m einem „Mißverstehen der Form aus Unkenntnis ihrer geistigen Voraussetzungen" zu entgehen, sagt Pevsner: „ F ü r wenige Epochen ist eingehendes Wissen um die allgemeingeistigen Probleme heute eine so notwendige Voraussetzung kunstgeschichtlicher Arbeit wie f ü r das 16. Jahrh u n d e r t . " 1 Und er f ä h r t f o r t : „ N u r ein wirkliches Sich-Versenken in die geistige Struktur dieser Epoche vermag zur richtigen Deutung ihrer Kunsterscheinungen zu führen, ganz im gleichen Sinne, wie dies etwa f ü r das 14. J a h r h u n d e r t erforderlich ist." Da wir n u n m e h r glauben, deskriptiv, auf einem voraussetzungslosen und daher f ü r eine selbständige Kunstwissenschaft legitimen Wege nachgewiesen zu haben, daß diese Forderung f ü r die ihrem Wesen nach heteronome K u n s t des 14. J a h r h u n d e r t s tatsächlich ihre Berechtigung hat, f ü r die autonome Kunst des typischen Manierismus jedoch keine Notwendigkeit bedeutet, so k a n n auch Pevsners Gleichung keine Gültigkeit f ü r uns besitzen, die aussagt, der Geist des 1

vgl. Pevsner. (a. a. O.) S. 3.

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ersten 14. J a h r h u n d e r t s stehe zu dem des 13. in ähnlichem Verhältnis wie der Geist des Manierismus zu dem der Renaissance. W e n n das vorläufig noch f ü r rein künstlerische Phänomene reservierte W o r t „Manierismus" in der Formulierung Pevsners nicht vorkäme, wäre, isoliert b e t r a c h t e t , nicht viel gegen sie einzuwenden. Denn der G e i s t der zweiten H ä l f t e des Cinquecento besitzt tatsächlich eine gewisse Parallelisierbarkeit zu dem des 14. J a h r h u n d e r t s . Aber es k a n n nicht oft genug wiederholt werden, d a ß es f ü r uns nicht p r i m ä r auf den Geist der Zeit a n k o m m t , u m die K u n s t darin zu bespiegeln, sondern auf das n u r phänomenologisch, nie psychologisch durch gebietsfremde Hilfsmittel erfaßbare Wesen der K u n s t selbst. Der Unterschied von historischem und geistesgeschichtlichem Zeitbegriff m u ß um8omehr betont werden, als es nicht einmal möglich ist, alle gleichzeitigen geistesgeschichtlichen Phänomene unter sich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Über die Zeit, die kulturelle Einzeltatsachen brauchen, bis sie die Gesamtkultur ergreifen, h a t sich Weisbach, auf den kultursoziologischen Anschauungen Emil Lederers f u ß e n d , ausführlich ausgesprochen. 1 Hier m u ß Weisbach völlig zugestimmt werden, obwohl seine psychologistische Methode an sich unseren methodischen Forderungen zuwider l ä u f t , und obwohl vor allem in seiner Auseinandersetzung mit den Thesen Pevsners, manche auch von uns geteilten Argumente durch einen zu engen Manierismus-Begriff, der an den Gipfeln dieses Stils vorbeisieht, entwertet werden. Es ist gewiß interessant u n d bleibt ein kulturgeschichtliches Verdienst Pevsners, aufgezeigt zu haben, wie ungefähr gleichzeitig mit der morphologischen Stilkrise zwischen Renaissance und Manierismus auch eine Reaktion in religiöser Beziehung durch die Reformierung geistlicher Orden und die Neugründung von Klöstern einsetzt. Wie wenig dies aber v o r l ä u f i g kunstwissenschaftlich von Belang ist, deckt ein Vergleich mit dem 11. J a h r h u n d e r t auf. Die Gründung u n d immer anwachsende Bedeutung von Cluny b e r u h t e auf einer „gegenreformatorischen" Abspaltung von dem zu frei gewordenen Mutterorden der Benediktiner. Wie in diesem Falle auch die K u n s t von der religiösen Reaktion ergriffen u n d heteronomisiert wurde, h a b e n wir bei der Behandlung des frühromanischen Illusionismus gesehen. Obwohl nun kulturgeschichtlich in genau entsprechender Weise 1522 die Kamaldulenser von Monte Corona, 1525 die Kapuziner sich von ihren im Paganisierungsprozeß der Renaissance zu sehr verweltlichten Mutterkongregationen trennen, und obwohl eine Fülle von religiösen Neugründungen folgte, bis zur Stiftung des Jesuitenordens durch Ignaz von Loyola im J a h r e 1540, so springt gerade bei der Vergleichbarkeit des religiösen Verhaltens mit dem des 11. J a h r h u n d e r t s , der Unterschied 1

Weisbach: Gegenreformation-Manierismua-Barock. Repertorium f. Kunstwissensch. 1928 S. 22.

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des künstlerischen Verhaltens doppelt in die Augen.1 Besonders der Jesuitismus sollte ja erst später zum wichtigsten Ingrediens der Barockkunst werden, der Manierismus bleibt von ihm noch völlig unberührt. In diesem Falle muß allerdings betont werden, daß sogar das kulturgeschichtliche Material selbst, das Pevsner anführt, um seine These vom Manierismus als der Kunst der Gegenreformation zu stützen, gegen diese Anschauung spricht. Ignaz von Loyola war in seiner Jugend ein spanischer Ritter gewesen. Durch eine schwere Verwundung wurde er genötigt, seinen militärischen Abschied zu nehmen. Und aus einer während seiner Genesung erzwungenen Beschäftigung mit Ritterepen und Heiligenlegenden wächst eine neue Lebensform für Ignaz heraus. Es ging um eine der eindeutigsten Diesseits-Fragen, um ein tief renaissancemäßig empfundenes, subjektives Heldenideal, als Ignaz sich zum religiösen Streiter aufschwang. „Die Sehnsucht nach Ruhm verläßt ihn nicht. Kann er ihn als Soldat nicht mehr erlangen, so vielleicht als Heiliger," sagt Pevsner. Nicht aus einem primären, religiös-schöpferischen Bezogensein auf den Glauben und ein Jenseits, wie es bei den religiösen Bewegungen des 14. Jahrhunderts der Fall war, entstand die wichtigste Keimzelle der Gegenreformation. Die Transzendenz muß nur als ein vorerst logisches Korrelat in die auf eine Erfüllung im Diesseits aufgebaute Rechnung Ignaz' eingeführt werden. Daß er den Jesuitenorden nach streng militärischen Regeln organisiert, ist für die irreligiöse Genesis dieser s p ä t e r eine tiefe religiöse Bedeutung erlangenden Bewegung bezeichnend. Ignaz insinuiert sich durchaus mit der Mentalität der Renaissance. Nur sein körperliches Schicksal zwingt ihn in das religiöse Lager. Gewiß mag in diesem Vorgang verborgen die List einer weltgeschichtlichen Idee erblickt werden, die sich dieser Verkleidung bedient, um in einer noch nicht gewandelten Zeit Fuß zu fassen. Doch das gehört nicht in das Bereich einer wissenschaftlichen Analyse. Hier ahnt man die Magie, nach der das ganze Leben der Welt seinen Ablauf nimmt. In gewissem Sinne ist die Ordensgründung des Ignaz von Loyola, die erste bedeutende Tat der Gegenreformation, ein innerlich ganz irreligiöser Versuch, die Religion zu erneuern. Und wenn durchaus eine Parallele zur Kunst gezogen werden soll, so kann man in der strengen Unterordnung des Einzelnen unter das Reglement des Jesuitenordens allerdings einen Berührungspunkt mit der Unterordnung der Figur unter ein dekoratives oder später expressives, jedenfalls aber abstraktes und unwirkliches Schema im Manierismus erblicken. Der heilige Ignaz sagte: „Jedem muß sein Oberer Christus sein." Doch auch dies entspricht im Allgemeinen noch dem Geist der Renaissance, für deren Übermenschen und sich schrankenlos aus1

Wichtiges kulturgeschichtliches Material zu diesem Problem wurde zusammengestellt von Pevsner: Gegenreformtion und Manierismus. Repertorium für Kunstwissenschaft. 1925. Bd. 46. 172

wirkende Titanen ebenso eine unterdrückte Masse bestehen mußte, an der sich die Gewalt erst entfalten konnte. Und in der Kunst der Renaissance wurden Körper und Raum im Prinzip ganz ebenso einer autonomen ästhetischen Idee unterworfen, nur daß diese Idee anderen morphologischen Gesetzen entsprach, als die des Manierismus. Man kommt also auch auf dem Umwege über die größte und folgenreichste kulturgeschichtliche Tat der Zeit zu dem gleichen Ergebnis wie auf deskriptivem Wege, daß Renaissancekunst und Manierismus ästhetisch in den gleichen autonomen, jeweils einer abstrakten Idee gehorchenden Ablauf gehören. Die Zäsur liegt für uns erst bei dem Eindringen der Gegenreformation in die Kunst, bei dem Aktivwerden dessen, was besonders bei Ignaz von Loyola noch beziehungslos zu einem bildkünstlerischen Medium war. Der, wenn auch als Seitenströmung neben dem Manierismus herlaufende Frühbarock, dessen Heteronomie als ein nachdrücklicher Bruch mit der Renaissance zu verstehen ist, bewahrte der Kunst die Empfänglichkeit, eine außerästhetische Bindung auf sich zu nehmen. Im Seicento ist die Bewegung der Gegenreformation innerlich konsolidiert. Erst jetzt kann sie sich in der Kunst ein Medium schaffen, das ihre Ideen vertreten und verbreiten soll. Erst jetzt kann eine Kunst „der" Gegenreformation entstehen, als deren wichtigste psychologische Komponenten Weisbach das Heroische, Mystische, Erotische, Asketische und Grausame aufgestellt hat. 1 Pevsner will die Mischung von Mystik und Realismus der geistlichen Übungen des heiligen Ignaz in der Kunst des Manierismus wiedererkennen. Der Absicht Loyolas, metaphysische Ziele in lebenskluger Weise und in einer beinahe pedantisch ausgearbeiteten Methodik erreichen zu wollen, soll die Vorliebe des Manierismus für „getreu wiedergegebene Trachten, für frappierende Vordergrundsstilleben" entsprechen, die nie Selbstzweck werden, wie im Barock, sondern sich der abstrakten Bildgesetzlichkeit fügen müssen. Abgesehen davon, daß die rein ästhetische Funktion der frappierenden Vordergrundsstilleben von uns aufgedeckt wurde, muß gefragt werden, ob überhaupt der nur scheinbare Selbstzweck des realistischen Details im Barock (von späteren ikonographischen Emanzipationen einer bürgerlichen Strömung abgesehen) nicht gerade ein im ästhetisch transzendenten Sinne höchst erwünschtes Mittel zum Zweck gewesen sei, eine Brücke zum Beschauer zu schlagen und die Propaganda der gegenreformatorischen Inhalte mit größerem Nachdruck zu betreiben. So daß also letzten Endes gerade die barocke Mischung von Realismus und Metaphysik den geistlichen Übungen des Loyola weit mehr entspräche als die unbetretbar isolierte, einer autonomen, anderen Welt zugehörige Kunst des reifen Manierismus. Pevsner sagt selbst: „In Verbindung mit dem Ziel des steten Kampfes für Gott und die wahre Religion hat der Orden von Anfang an eine bis dahin 1

vgl. Weisbach: Der Barock als Kunst der Gegenreformation. Berlin. 1921. 173

unerhörte Propaganda getrieben. Durch Festzüge und Theater suchte man auf die Menge zu wirken, und hier Í6t in der Tat eine Tendenz schon angedeutet, die im Barock in den Mittelpunkt der jesuitischen Tätigkeit gestellt wurde." 1 Und wenn Pevsner die Ansicht ausspricht, „erst eine so metaphysischen Zielen zugewandte Kunst (wie der Manierismus) konnte überhaupt die Lüsternheit in die hohe Kunst einführen," weil die christliche Überzeugung von der Sündhaftigkeit des Körpers dazugehöre, so muß dagegen gesagt werden, daß es vorwiegend der frühe, dekorative, mit dem Frühbarock vielfach verschlungene Manierismus ist, der diese Lüsternheit ausgeprägt hat. In die bildende Kunst eingeführt worden ist sie zudem von dem frühbarocken Correggio. Pevsners These, der Barock sei dagegen wieder unbefangen erotisch gewesen, stimmt ebenso sehr für Rubens, wie sie falsch für Bernini ist. 2 Im Gegensatz zu Weisbach vertritt Pevsner, daß es eine Mystik nur in der Kunst des Manierismus, nicht aber in der des Barock gegeben habe. „Der grundsätzliche Fehler scheint mir darin zu liegen, daß Weisbach das Malen mystischer Zustände (z. B. Berninis Teresa) und Inhalte für die leichtest faßbare Offenbarung mystischer Kunst hält, anstatt viel freier und weiter in der Kunst mystische Bilder, nicht mystische Zustände zu suchen." 3 Und er fährt fort: „Bei der naturalistischen Wiedergabe visionärer Zustände hingegen und gar, wenn es mit soviel Sensualismus wie bei Bernini geschieht, wird immer der Argwohn nahe liegen, daß so sachliche Beobachtung schon eine innere Entfernung vom wirklichen Durchleben entsprechender Seelenzustände voraussetzt." Hiergegen muß in erster Linie vorgebracht werden, daß dann nach Pevsners eigenen Argumenten die heilige Therese selbst, die bedeutendste Frau der Gegenreformation, in ihren Aufzeichnungen, (an die der nach der jesuitischen Regel lebende Bernini sich bei seinem Werk genau gehalten hat), eine argwohnerregende Objektivation mystischer und visionärer Zustände, die sie mit großer, beinahe schöpferischer Sprachgewalt bis ins Kleinste naturalistisch ausgemalt hat, hinterlassen hätte. Pevsner sagt, die Zeit des Ignaz und der Teresa hätte „eine so konkrete Darstellung dessen, was wirklich gefühlt wurde, verpönt." Aber es ist nicht einzusehen, warum die Formung eines Erlebnisses in Worten eine größere Nähe zur religiösen Offenbarung und eine geringere Profanierung enthalten solle, als eine Formung mit den 1 Pevsner: Gegenreformation und Manierismus, (a. a. O.) S. 250. * Pevsner scheint seine Ansicht allerdings selbst geändert zu haben, wenn er in seinem Aufsatz „Beiträge zur Stilgeschichte des Früh- und Hochbarock" (Repertorium, Bd. 49, 1928) auf Seite 241 schreibt: „Man verkenne übrigens auch hier nicht den fundamentalen Unterschied zur Sinnlichkeit der Renaissance. Das Natürliche ist es, was sie im Barock verloren hat, verloren für immer infolge der tiefgreifendenVeränderungen, welche die europäische Menschheit im Zeitalter des Manierismus erfahren h a t t e " . 3 Pevsner: Gegenreformation und Manierismus, (a. a. O.) S. 259.

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Mitteln der Skulptur, um so mehr als die „Obras de la gloriosa Madre Teresa de J e s u s " keineswegs als intime Abreaktionen ganz privater Natur anzusehen sind, sondern mit der Verantwortlichkeit, der Akribie und dem vollen Bewußtsein ihres religiösen Wertes von der Heiligen festgehalten wurden. Pevsner selbst nennt Teresa ein „Organisationstalent, das einen ganzen Orden zu-reformieren und sechzehn Klöster zu gründen vermochte." Wenn Pevsner außerdem in der realistisch-sensualistischen Wiedergabe mystischer Zustände durch die Barockkunst eine Entfernung vom wahren Kern der Mystik sieht, so widerspricht er sich damit selbst, da er j a andererseits gerade das Ineinander von Realismus und Metaphysik als gegenreformatorisch und daher nach seiner These als manieristisch gekennzeizhnet hat. Von diesen prinzipiellen Einwänden abgesehen, muß jedoch nachdrücklichst betont werden, daß die Jahre, die in der Kunst den autonomen Manierismus hervorbrachten, in religiöser und weltanschaulicher Beziehung eine Regeneration des Christentums heranreifen sahen. Schon Jacob Burckhardt erkannte im „Sacco di Roma" (1527) die erste Auslösung einer kulturellen Umwertung. Clemens VII. (1523—34) war der letzte Renaissancemensch auf dem Stuhle Petri. Schon unter seinem Pontifikat zogen predigende Eremiten durch die Lande, die den Weltuntergang voraussagten, den Papst als Antichrist und Rom als Babylon bezeichneten. Als nun das spanisch-deutsche Heer die ewige Stadt brandschatzte, stieg „mitten aus der Verwüstung von Rom der Geist der kirchlich-weltlichen Restauration empor." 1 Unglück und Leiden, die Flucht des Papstes nach Orvieto zwangen zur Einkehr. Während Clemens VII. noch im Jahre 1533 sich eine politische Unterstützung von den deutschen Protestanten beim Anschluß an Franz I. versprach, trat unter Paul III. (1534—42) ein durch den Widerstand gegen den gemeinsamen Feind, die Reformation, mit dem Kaiser wieder geeintes Papsttum in neuer Kraft hervor.2 So war es, wie Burckhardt dargelegt hat, letzten Endes die Reformation, welche die Säkularisation des Kirchenstaats, die beim „Sacco di Roma" nahe bevorstand, verhindert hat. „In diesem Sinne kann man mit voller Wahrheit sagen, daß das Papsttum in moralischer Beziehung durch seine Todfeinde gerettet worden ist." 3 Die Zeit der Gegenreformation brach an. 1542 wurde die Inquisition, 1543 die Druckzensur wieder eingeführt. Von 1545—63 tagte das Konzil in Trient. Hier wurde der Index aufgestellt und dadurch die Freiheit des literarischen Lebens unterbunden. Die Durchführung der tridentinischen Beschlüsse wurde der Inquisition übertragen, als deren bedeutendstes Opfer Giordano Bruno im Jahre 1600 1 a 8

Burckhardt. (a. a. O.) Bd. I. S. 105. Pevsner: Gegenreformation und Manierismus, (a. a. O.) S. 245. Burckhardt (a. a. O.) Bd. I. S. 107.

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in Rom wegen Ketzerei lebendig verbrannt wurde. Papst Marzellus 11.(1555) konnte in seinem Lebenswandel mit den Heiligen verglichen werden, und Karl V. zog sich im gleichen Jahre, angeekelt von der Welt, ins Kloster zurück. In den Jahren 1565—66 wurde in Mailand und Rom beschlossen, daß die ärztliche Behandlung von Kranken nach drei Tagen aufgegeben werden müsse, wenn diese nicht inzwischen gebeichtet hätten. 1 Unter den Pontifikaten Pauls IV. (1555—59) und Pius' V. (1565—72) steigerte sich die religiöse Strenge zum Fanatismus. Der asketische Lebenswandel Pius' V., der beispielhaft wurde, führte sogar zur Verkümmerung des römischen Karnevals. Auf den Befehl Pauls IV. mußte Daniele da Volterra den nackten Gestalten auf Michelangelos „Jüngstem Gericht" Hosen malen. Die unbekleideten Allegorien des Guglielmo della Porta am Grabmale Pauls III. mußten 1594—95 mit Metallgewändern bedeckt werden, und Paolo Veronese wurde 1593 vor die Inquisition geladen, weil die profanen Gestalten auf seinem „Gastmahl des Levi" der Würde des religiösen Vorgangs Abbruch zu tun drohten. Wie wenig diese Prüderie sich aber in der manieristischen Kunst durchsetzen konnte, beweist ihre Vorliebe gerade für nackte Gestalten. Auch Bartolommeo Ammanatis „Lettera agli Academici delDisegno" aus dem Jahre 1582, in der er es bereut, die Nacktheit des menschlichen Körpers in seinen Plastiken verherrlicht zu haben, kann für die lebendige Kunst der Zeit in keiner Weise als Symptom angesehen werden. Schlosser sagt mit Recht: „Gerade in derselben Zeit entstand Giovanni da Bolognas Raub der Sabinerin, eine Gruppe von viel stärkerer Sinnlichkeit als die zahmen und kühlen Akte des Ammanati." 2 Man braucht sich nur an den Einfluß des Savonarola auf die Kunst des vierten Quattrocento zu erinnern, um zu erkennen, wie anders sich die Dinge gestalten, wenn tatsächlich ein religiöser Fanatismus die gleichzeitige Kunst zu heteronomisieren vermag. Ammanati war alt und unproduktiv geworden, als er seine künstlerische Vergangenheit abschwor, Botticelli aber stellte seine reife Kunst in den Dienst des neuen Glaubens. Auch die beiden Dialoge des Giovanni Andrea Gilio aus Fabriano, die 1564 zu Camerino im Druck erschienen, sprechen dafür, wie wenig der Manierismus als die Kunst der Gegenreformation anzusehen ist. Weisbach und Schlosser haben nachdrücklich auf die Bedeutung Gilios hingewiesen.3 Zwar tadelt auch er die Nacktheit der Figuren auf Michelangelos „Jüngstem Gericht", aber, wie Schlosser betont hat, mehr von dem Renaissancebegriff des „Decorum" ausgehend. Die Sixtinische Kapelle sei hierfür nicht der geeignete Ort. Im Übrigen aber weist Gilio in seinen 1 ! 3

Pevsner: Gegenreformation und Manierismus, (a. a. 0.) S. 251. Schlosser: Die Kunstliteratur. Wien. 1924. S. 383. Weisbach: Barock als Kunst der Gegenreformation, (a. a. O.) S. 9ff. Schlosser (a. a. 0.) S. 378 ff.

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Forderungen auf Dinge hin, die erst in der Barockkunst verwirklicht werden sollten. Er kritisiert gerade vom Standpunkt der Gegenreformation aus die gleichzeitige manieristische Kunst und fordert naturalistischen Ausdruck um jeden Preis. Und obwohl er der vorklassischen Kunst ablehnend gegenübersteht, so betont er doch, daß sie jedenfalls mehr „Andacht" enthalte als die Kunst seiner Zeit. Der Leichnam Christi bei der „Kreuzabnahme" solle nicht idealisiert werden, sondern mit Wunden bedeckt erscheinen, und bei Martyriendarstellungen solle das Häßliche, Qualvolle und Abstoßende des Vorgangs ungemindert zur Gestaltung gelangen. Hier ist eine Quelle für die Grausamkeit, die von Weisbach als psychologisches Kriterium der barocken Kunst aufgestellt worden ist. Pevsners Einwand, Gilio sei eine Ausnahme, hat Weisbach durch die Anführung der gleichen Ansichten bei Borghini und Possevino entkräftet. 1 Der Jesuit Possevino schreibt in seiner „Tractatio de Poesi et Pictura" (Lyon 1594): „Ganz gewiß hat Gott gewollt, daß die Wfclt seinen Sohn Jesus um unserer Sünden willen ehtstellt, von Blut triefend, durch die Geißeln zerfleischt, mit Speichel besudelt, durch die Wunden erschöpft vor sich sehe." Aus der Passion sollte eine Kompassion werden. Dies lag aber niemals in der Absicht der manieristischen Kunst, auch nicht in der ihrer expressiven Spätstufe. Wundertäter und Heilige treten wieder auf. Was Pevsner aber in seiner Charakteristik des heiligen Filippo Neri anführt, jene Vermischung von derb Irdischem und Supranaturalem, scheint jedoch wiederum nur mit der Barockkunst, keineswegs mit dem Manierismus, parallelisierbar zu sein. Filippo spricht z. B. „von der Madonna als „la mamma," schmatzte beim Genuß der Hostie vor Vergnügen laut, rät einem Visionär, seine Erscheinungen anzuspucken, damit sie verschwinden, und war gegen jeden Verdrossenen auf der Straße sogleich mit Ohrfeigen bei der Hand." Andererseits ist aber „ein Mensch, dem das Wunder geschieht, daß sich auf sein Flehen um Empfang der unendlichen göttlichen Liebe sein Brustkorb hebt und weitet, so daß nach seinem Tode diese Abnormität festgestellt werden kann, jedenfalls in seinem Wesen nicht als satirischerKynikerund Realist erschöpft." 2 Die gleiche Vermischung heiliger und profaner Dinge gehört zu den häufigsten Erscheinungen des Seicento. Die Anschaulichkeit und greifbare Nähe sollte hierdurch erhöht werden. „ I m Dom von Mailand predigte P. Orchi von der Beichte, indem er sie einer Wäscherin verglich, die die Seele wie ein schmutziges Tuch ins Wasser legt, mit heißem Seifenschaum reibt, und sie schüttelt und windet und dreht und zieht und endlich aus Weisbach: Gegenreformation-Manierismus-Barock, (a. a. O.) S. 24f. * Pevsner: Gegenreformation und Manierismus, (a. a. O.) S. 253. 1

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Michalski.

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einem letzten reinen Wasser klarer und zarter als zuvor herauszieht." 1 U n d der Jesuit Segneri vergleicht den Himmel mit Sälen u n d R ä u m e n , deren prächtige Gewölbe und Teppiche er genau beschreibt. Bei einer Gegenüberstellung des heiligen Filippo Neri mit diesen Predigern des Barock t r i t t die Zusammengehörigkeit der ein que- und der seicentistischen Phase der Gegenreformation deutlich zutage. ' Wie wenig die Gegenreformation in der zweiten Hälfte des Cinquecento in das künstlerische Lager eingedrungen war, beweist auch hier wieder der größte manieristische Bildhauer, Giovanni da Bologna, der sich wegen seiner religiösen Gleichgültigkeit der Inquisition sehr verdächtig gemacht h a t t e . Dem steht der streng nach jesuitischer Regel und Übung lebende Bernini als typischer Exponent des Barock gegenüber. Die Beziehungslosigkeit Pauls IV. und Pius' V., der beiden Hauptvertreter der religiösen Bewegung, zu der ganz anders gearteten Kunst ihrer Zeit t r a t offen zutage, als Paul IV. die byzantinische Mosaikkunst zu neuem Leben zu erwecken versuchte," indem er die echten Eremiten, die noch wie zu Hieronymus' Zeiten auf den Klippen Dalmatiens hausten, nach Italien verpflanzte, sie zugleich veranlaßte, ihre heimische Kunstübung mitzubringen und zu pflegen." 2 U n d Pius V. ließ sich von Bartholomäus Spranger Fra Angélicos „Jüngstes Gericht" kopieren und bestimmte es später zum Schmucke seines Grabmals. 3 Es bedarf wohl keines anderen Zeugnisses dafür, d a ß gerade die Träger der gegenreformatorischen Idee den ästhetisch autonomen Manierismus nicht als die ihnen gemäße Kunst empfinden konnten. Besonders deutlich wird auch die Unkirchlichkeit in der Architektur, die man als manieristisch bezeichnen kann. Alle wirklich kirchliche Architektur der Zeit bediente sich unwillkürlich des barocken Stils. Man braucht nur an den 1568 begonnenen Bau der Kirche Gesü in Rom zu denken, die von Vignola auf Befehl des Jesuitengenerals Francisco Borgia ausgeführt wurde. Die weltlichen Bauten dagegen, an denen die Zeit der ersten strengen Gegenreformation keineswegs arm war, obwohl auch sie vorwiegend f ü r geistliche Bauherren bestimmt waren, gehören beinahe durchweg der manieristischen Stilstufe an. 1550—69 baute Pirro Ligorio die Villa d ' E s t e in Tivoli f ü r den Kardinal Ippolito d'Este, 1550—52 wurde die Villa di P a p a Giulio von Vignola, unter Mithilfe Julius' I I I . selbst, errichtet. Die berühmte Loggia (1554—55) geht auf einen Entwurf Ammanatis zurück und das Nymphenbad ist ein gemeinsames Werk Ammanatis und Vasaris. 1561 entstand neben anderen der Sommersitz des Kardinals Sittich von Hohenembs, die Villa Tusculana oder Vecchia in Frascati, 1547—49 baute derselbe Vignola, der in der Jesuitenkirche dem Früh1 2 3

Weibel: Jesuitismus und Barockskulptur in Rom. Straßburg 1909. S. 22. Gothein: Ignatius von Loyola und die Gegenreformation. Halle 1895. S. 88. vgl. Weisbach: Barock als Kunst d. Gegenreformation, (a. a. O.) S. 8.

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barock gefolgt war, für den Kardinal Alessandro Farnese das Schloß Caprarola in ausgesprochen manieristischer Formgebung. Unter den strengen Fanatikern Paul IV. und Pius V. wurden, obwohl Paul IV. Michelangelos Peterskuppel genehmigte, keine wesentlichen architektonischen Leistungen vollbracht. Zwischen diesen beiden Pontifikaten ließ aber Papst Pius IV. das 1561 vollendete Casino, das seinem persönlichen Prunkbedürfnis diente und zu den wichtigsten Denkmälern manieristischer Architektur gehört, von Pirro Ligorio errichten. 1 Die ästhetische Zurückhaltung der Kunst im Manierismus findet eine vielsagende Parallele im „Cortigiano" des Baldassare Castiglione, der 1527 erschien. Obgleich man im „Cortigiano" und in seiner Forderung einer ireien, gleichmäßigen, harmonischen Entfaltung der Persönlichkeit stets das Universalmenschenideal der Renaissance wiedererkannt hat, das durch Koordination aller Faktoren die autonome Individualität selbst wie ein Kunstwerk gestaltet wissen wollte, muß doch betont werden, daß gerade in dieser grundsätzlichen Autonomie der Persönlichkeit gleichzeitig auch eine gewisse Verwandtschaft mit der Einstellung des Manierismus zutage tritt. Denn, worauf Weisbach bereits hingewiesen hat, die von Castiglione neben der freien Entfaltung aller Fähigkeiten empfohlene Nachahmung der spanischen Zurückhaltung, der gravitä riposata des sosiego, zeugt für die Distanz, die die Menschen dieser Zeit zwischen sich und die Außenwelt zu legen bestrebt waren. 2 Diesen Geist atmet noch mehr als das Renaissancebildnis das manieristische Porträt. Und Bronzino hat in den seltsam ergreifenden Porträts der Eleonore von Toledo in Berlin und Florenz jene maskenhafte Erstarrung eines menschlichen Schicksals, jenes beinahe wappenhafte Gefrieren einer inneren Bewegtheit in ergreifender Weise gestaltet. Künstlerische Autonomie und Freiheit von jedem Zwang wird ein Grundprinzip der manieristischen Künstler. Feste Regeln, besonders die, welche aus der Mathematik abgeleitet sind, werden verpönt. Panofsky zitiert den Ausspruch des Giordano Bruno aus den 1585 erschienenen „Eroici furori", „wonach allein der Künstler Urheber der Regeln sei, und wahre Regeln überhaupt nur insofern und nur in solcher Anzahl existierten, als es wahre Künstler gebe." Deshalb polemisierte auch Federigo Zuccaro gegen die Kunst Dürers, der, „obzwar ein tüchtiger Maler, kraft eigener Willkür auf Grund mathematischer Regeln menschliche Körper bilden wollte... Denn das Denken (des Künstlers) muß nicht nur klar sein, sondern auch f r e i , und sein Geist muß g e l ö s t sein und n i c h t b e s c h r ä n k t durch eine mechanische Abhängigkeit von derartigen Regeln." 3 Panofsky betont aus1

a 3

vgl. Escher: Barock und Klassizismus, Studien zur Geschichte d. Architektur Roms. Leipzig 1910. S. 8 ff. vgl. Vossler: Frankreichs Kultur und Sprache, (a. a. O.) S. 317f. Panofsky: Idea. Leipzig 1924. S. 38, 42f.

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drücklich, daß die bei vielen gleichzeitigen Theoretikern wiederkehrende Ablehnung der mathematischen Methode hier nicht allein wegen der Beweglichkeit der darzustellenden Körper erfolge, sondern „aus dem Subjekt, nämlich aus dem Freiheitsbedürfnis des künstlerischen Geistes" heraus. Und wenn Panofsky in diesem Zusammenhange auch mit Recht sagt, Zuccaro tue Dürer Unrecht, da Dürer selbst sein mathematisches Proportionssystem, in dem er die menschliche Schönheit auf eine Formel bringen wollte, nach seinen eigenen Äußerungen stets nur als ein Mittel zum Zweck, um eine „gute Augenmaß" zu erwerben, betrachtet hat, so drückt sich vielleicht in dem Herantragen eines artfremden, wissenschaftlichen Systems an die Kunst bei Dürer doch jene mittelalterliche Gebundenheit aus, die wir als das nie ganz erlöschende Kennzeichen seiner Kunst anläßlich des Problems der nordischen Renaissance schon deskriptiv aufgedeckt haben. Es erscheint deshalb auch als bezeichnend, daß Piero della Francesca, der Einzige, der vor Dürer in gleicher Konsequenz die künstlerische Form auf geometrisch-konstruktivem Wege gewinnen wollte, auch in anderer Hinsicht in eine heteronome Kunstphase, in das zweite Quattrocento gehört. Wie alle Krisen- und Übergangsstile entbehrte auch der Manierismus nicht einer gewissen inneren Gegensätzlichkeit. „Dieselbe Zeit, die die künstlerische Freiheit so mutig gegen die Tyrannei der Regeln verteidigt, macht aus der Kunst einen rational organisierten Kosmos, dessen Gesetze selbst der Begabteste erkannt haben muß und selbst der Unbegabteste erkennen kann." 1 Es ist aber kein Zufall, daß hier zwei Künstler in erster Reihe stehen, deren Werke nicht als vollgültige Exponenten der manieristischen Kunst angesprochen werden dürfen. Lomazzo, dessen Traktat 1584 erschien, war ein relativ unbedeutender Maler, der erst nach seiner Erblindung um 1570 zur Feder griff. Vincenzo Danti, ein eklektizistischer Bildhauer, der sich selbst nicht zu den für die Kunst Geborenen rechnete, schrieb 1567 „II primo libro del trattato delle perfette proportioni di tutte le cose che imitare e ritrarre si possono con Parte del disegno." Beide Schriftsteller behandeln hier vor allem die Proportionslehre und suchen einen wissenschaftlich-rationalisierbaren Weg zur Kunst, weil ihnen der unmittelbar schöpferische, wie sie selbst einsehen mußten, versperrt war. Andererseits darf nicht verschwiegen werden, daß bei aller Betonung der künstlerischen Freiheit in dem schon erwähnten, 1607 erschienenen Werke des Federigo Zuccaro, „L'Idea de' pittori, scultori ed architetti" ein stark religiöser Zug sich bemerkbar macht. Wie Panofsky ausführlich analysiert hat, ist für Zuccaro eine künstlerische Darstellung erst dadurch überhaupt möglich, daß die geistige Vorstellung des Künstlers, der „disegno interno" oder die „Idea", — das, was wir heute die künstlerische Konzeption nennen 1

Panofsky: Idea (a. a. O.) S. 43.

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würden, — in den Geist des Menschen durch Gott gepflanzt worden ist. „Denn ursprünglich und eigentlich ist die Idee, für deren Auffassung sich Zuccaro zwar dem Namen nach auf Plato, der Sache nach aber weit mehr auf die bekannte und von ihm genau zitierte Thomas-Stelle (Summa 1,1,15) stützt, nur das dem Intellekte Gottes immanente Urbild, nach dessen Muster dieser die Welt erschafft, (so daß also auch Gott, indem er schafft, gleichsam innerlich und äußerlich „zeichnet.") 1 Auch die menschlichen Sinne und die durch sie vermittelte Aufnahme der Natur sind der göttlichen Idee unterworfen. Wie wenig aber dieser dem Thomas von Aquino so verwandte Idealismus seinem Wesen nach in der Kunst aktiv werden konnte, braucht nicht noch einmal hervorgehoben zu werden. Wenn man von den wenigen Beispielen manieristischer Grenzüberschneidung absieht, deren enge Verknüpfung mit dem Frühbarock auch in formellgeschichtlicher Hinsicht stets wieder betont werden muß, so kann gesagt werden, daß, was im Mittelalter als gotischer Idealismus und Naturalismus in der Kunst v e r f l o c h t e n zur Gestaltung gelangte und daher auch die ästhetische Grenze zu sprengen vermochte, jetzt neben- oder nacheinander und unverbunden zum Ausdruck kommt: im ideal distanzierten Manierismus und im heteronomen, wirksamen Barock. Pevsner setzt den Beginn der Barockkultur mit dem Pontifikat Urbans VIII. (1623—44) an. Gewiß muß jetzt von einem erneuten Wandel in der Haltung der Kirche gesprochen werden. Wenn aber Pevsner, auf Gothein fußend, sagt, von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab sei in Kirchenzucht und Sittlichkeit wieder alles so bestellt, wie in der Renaissance, und in diesem Zusammenhange anführt, unter Urban VIII. sei die Vatikanische Bibliothek als Zeughaus verwendet und in Tivoli eine Gewehrfabrik gegründet worden, so vergißt er, daß eine geistige Bewegung, in unserem Falle die Gegenreformation, nicht in einem ständigen Produzieren bestehen kann, sondern daß die soziologische Verankerung und politische Befestigung der neu eroberten kirchlichen Vormachtstellung in gleichem Maße dazu gehört. Und wenn auch in sittlicher Hinsicht und in der Tatsache, daß Urban VIII. z. B. biblische Stoffe in horazische Metren übertrug, einige Berührungspunkte mit den Päpsten der Renaissancezeit aufzutauchen scheinen, so muß doch, trotz gewisser individueller Gleichheiten, betont werden, daß die religiöse F u n k t i o n der Barockpäpste keineswegs mit der der Renaissancepäpste gleichgesetzt werden darf. Heilige, wie Marzellus VI., religiöse Fanatiker wie Paul IV. und Pius V. waren tatsächlich jetzt nicht mehr auf dem Stuhle Petri möglich. Immerhin sind es, um bei Pevsners Beispiel zu bleiben, doch noch b i b l i s c h e Stoffe, die Urban VIII. den seit der Renaissance überhaupt nie mehr verlöschenden und neben allen geistigen Strömungen herlaufenden antiquarischen Neigungen anpaßte. 1

Panofsky: Idea (a. a. 0.) S. 48.

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Vor allem darf aber in diesem Zusammenhange nicht vergessen werden, daß im letzten Drittel des Seicento eine neue religiöse Verinnerlichung erstand, deren wichtigster Exponent in Rom der spanische Mystiker Don Miguel de Molinos war. 1675 erschien seine „Guida spirituale", die eine Wiedererweckung der Lehren der hl. Therese darstellt. Und wenn de Molinos auch später von der Inquisition verurteilt wurde, so darf sein Einfluß auf das religiöse Leben doch nicht unterschätzt werden. Weibel erwähnt, wie verwandt de Molinos' Vorstellung von dem Blute des Heilands als der von den Sünden erlösenden Flut mit einer in Baldinuccis Lebensbeschreibung Berninis erwähnten Zeichnung aus der Spätzeit ist, die der Künstler als Stich verbreiten und als Gemälde ausführen ließ. „Der Erlöser am Kreuze schwebt über einem Meere von Blut, in das aus seinen fünf Wunden immer neue Ströme sich ergießen. Maria fängt den kostbaren Strom aus der Seitenwunde auf und bietet das Versöhnungsopfer Gottvater an, der über dem Kreuz aus dem Himmel herabschwebt."1 In den ersten beiden Dritteln des Jahrhunderts kam es jedoch zweifellos mehr auf die Verteidigung, die Extensivierung als auf die Intensivierung der kirchlichen Autorität an. Im Jahre 1622 gründete Gregor XV. die „Congregazione della Propaganda Fide", deren Name allein die Richtung der geistigen Bestrebungen des 17. Jahrhunderts enthüllt. 1627 stiftete Urban VIII. das „Collegio da Propaganda Fide", das die Ausbildung eingeborener Missionare für die heidnischen Völker organisieren sollte. Mit dem Augenblick, da der Geist der Gegenreformation in der Kunst aktiv wirksam wird, tritt ein für die Barockkunst besonders wichtiger konstitutiver zweiter Faktor hervor: der Absolutismus, auf den auch schon von Weisbach hingewiesen worden ist. Er ist genetisch eng mit der Gegenreformationsidee verbunden. Aus der streng militärischen Gliederung des Jesuitenordens und aus der Forderung, einem Jeden müsse sein Oberer wie Christus sein, entwickelte sich geradlinig ein Macht- und Herrscherbewußtsein, welches den Päpsten ermöglichte, im Namen der Kirche ein absolutistisches Regiment zu entfalten. An die Stelle des religiösen Fanatikers tritt jetzt der politische Fanatiker im Dienste der gegenreformatorischen Kirche. Dies sind zwei innerlich eng verbundene Stadien der gleichen Bewegung. Dadurch, daß der Jesuitenorden als vornehmster Orden überhaupt, Aristokraten aller Länder in seiner Gemeinschaft umfaßte und seinen Zöglingen eine höfische Erziehung angedeihen ließ, wurde er gleichzeitig zu einer bedeutsamen Brücke zwischen Kirche und Herrschertum. Die von den Jesuiten gepflegten Theateraufführungen vereinigten in sich den gegenreformatorischen und den absolutistischen Geist. Weisbach erwähnt in seinem Aufsatze „Barock als Stilphänomen", in welchem Maße das Jesuitentheater in den Dienst der Höfe gestellt wurde, um den Festen 1

Weibel (a. a. O.) S. 9 ff. 182

einen besonderen Glanz zu verleihen. Die Jesuitenbühne „ist stellenweise, wie in München und Wien eine Zeit lang geradezu H o f b ü h n e gewesen." 1 I n Frankreich emanzipierte sich die absolutistische Idee immer mehr aus den kirchlichen Zusammenhängen. I n welchem Maße gerade dadurch die K u n s t heteronomisiert wurde, erkennt m a n allein an der Tatsache, daß auf Veranlassung Colberts ganze Zweige künstlerischer Betätigung unter königlicher Regie u n d Organisation genommen wurden. Auch dies wurde bereits von Weisbach betont. Königliche Manufakturen wurden gegründet, die vorwiegend Erzeugnisse des Kunstgewerbes, wie Porzellan oder Tapisserien, nach dem einheitlichen K u n s t p r o g r a m m des Hofes herstellen m u ß t e n . Über die Wirksamkeit des französischen Absolutismus in der K u n s t wird noch ausführlicher gesprochen werden. Diese enge Verklammerung weltlicher u n d religiöser Ideen im Barock beleuchtet Vossler, wenn er vom hl. F r a n z von Sales sagt, er h a b e „ s t a r k u n t e r dem Eindruck der spanischen Mystik, den Franzosen eine Frömmigkeit empfohlen, die zwar innerlich ganz dem Himmel, äußerlich aber ganz der Welt und ihren gesellschaftlichen F o r m e n gehört." 2 D a ß sich aus dem Bestreben, u m jeden Preis die gegenreformatorische Idee ins Volk zu tragen, zu verbreiten u n d zu befestigen, eine gewisse Verweltlichung in K u n s t u n d Politik ergeben m u ß t e , ist selbstverständlich. Auch die K u n s t des 14. J a h r h u n d e r t s m u ß t e , u m das Mitleid der Gläubigen zu schüren, den Schmerzensinhalt der Passionsszenen bis zu einem beinahe klinischen Naturalismus steigern. Daher ist sowohl die „rationalistische Fürsorge" des heiligen Vincenz von P a u l a (1576—1660) wie der „Salonpietismus" des heiligen Franz von Sales (1567—1622), die Pevsner als der Gegenreformation so fremd empfindet, keineswegs Symptome eines Abfalls, was auch von Weisbach betont wurde. Es m u t e t wie eine unmittelbare Parallele zu unserer Auffassung der Barockkunst an, wenn Vossler von Franz von Sales sagt, er habe „den Katholizismus nicht n u r praktisch gemacht, — was er ohnedem ist, — sondern umgänglich, gesellig u n d höchst salonfähig." 3 J e t z t erst erfüllen sich die Forderungen, welche die Schriftsteller der manieristischen Zeit, wie Gilio, Borghini und Possevino damals vergeblich an die Kunst stellten. Wie sehr gerade die Züge der barocken K u n s t , die m a n als Verweltlichung angesprochen h a t , sich aus Zentralideen der Gegenreformation herleiten lassen, ist ebenfalls von Weisbach an H a n d der Vorschriften im Übungsbuch des heiligen Ignaz ausgeführt worden. „An einer Stelle des Übungsbuches wird gleichsam der Kardinalpunkt des ganzen Systems, 1

2 3

Weisbach: Barock als Stilphänomen. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgesch. II. 1924. S. 252. Vossler: Frankreichs Kultur und Sprache (a. a. O.) S. 320. Vossler: Frankreichs Kultur und Sprache (a. a. O.) S. 320.

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der Zweck der sinnlichen Anschauung f ü r das religiöse Erlebnis e n t h ü l l t : „Man soll die Kleider, örtlichkeiten, S t ä t t e n u n d alles, was mit den vorgestellten Persönlichkeiten in Zusammenhang steht, durch innere Berührung erfassen und m i t d e n A u g e n g r e i f e n , denn dadurch erlange m a n einen besseren Zugang zur Frömmigkeit, wie zu jedwedem geistlichen G u t . " 1 I n seinen „Geistlichen Ü b u n g e n " h a t Ignaz von Loyola Leseanweisungen gegeben, durch die selbst bei abstrakten Begriffen konkrete u n d anschauliche Vorstellungen erweckt werden sollten. Bei der Betrachtung über die Hölle heißt es d a n n ganz ausdrücklich: „Der heilige Vater (Ignatius von Loyola) will, d a ß diese Betrachtung durch sinnliche Anschauung (per applicationem sensuum) angestellt werde. Daher 1. S i e h e die von dichtem Rauch umhüllten feurigen Kugeln, die wie ein roter Blitz zum Entsetzen der Augen auffunkeln. 2. H ö r e das Zähneknirschen, das vergebliche Stöhnen, die allzuspäten Klagen, das Fluchen und J a m m e r n der Verzweifelten u n d ihre nutzlose u n d ohnmächtige W u t . 3. R i e c h e den Höllenbrodem der Leiber, die im schwefeligen Sumpf unter stinkendem Schweiße verfaulen. 4. S c h m e c k e aus der Schale des göttlichen Zornes das Schlangengift, das unter scheußlichen Krämpfen die Därme vergiftet. 5. F ü h l e die Kohlenglut, und nimm mit Deinen Sinnen die brennende K r a f t des höllischen Feuers wahr, das alle Glieder verwüstet und bis aufs Mark der Knochen selber w ü t e t . " 2 Dem entspricht es, wenn Francisco Borgia, der dritte Jesuitengeneral, „sich selbst und die von ihm geführten Seelen durch Bilder der Verwesung, durch den Moderduft, den alles Irdische seiner Ansicht nach umschwebt, peinigt und q u ä l t . " 3 Borgia wurde 1565 Jesuitengeneral, im gleichen Jahre, als Pius V., der strengste aller gegenreformatorischen Fanatiker, den Stuhl Petri bestieg. Diese grausame Askese wurde aber erst im Seicento von der Kunst des Barock aufgenommen, als die Päpste aus den Häusern Borghese, Barberini, Chigi und Doria in ihrem Lebenswandel keineswegs mehr ihren Vorgängern aus dem ersten Stadium der Gegenreformation entsprachen. Die „ecclesia militans" ist im Barock zur „ecclesia t r i u m p h a n s " geworden. Alles was an Weltlichkeit und P o m p entfaltet wurde, strahlte letzten Endes auf das P a p s t t u m zurück, das in sich d e n T r i u m p h der Kirche über die Ketzerei symbolisierte. Das rauschende Monument des Legros am Ignatiusaltar der Kirche Gesù zu Rom m u ß als die typische Verkörperung der außerästhetischen Belastung der barocken K u n s t angesprochen werden: die Religion h a t t e die Häresie besiegt. Weibel h a t daraufhingewiesen, wie stark die triumphierende Kirche sich der kämpfenden aus der Frühzeit der Gegenreformation 1 2 3

Weisbach: Der Barock als K u n s t der Gegenreformation, (a. a. O.) S. 13. Weibel (a. a. O.) S. 20. vgl. Weisbach : Barock als K u n s t der Gegenreformation, (a. a. O.) S. 17. von Waldberg: Zur Entwicklungsgesch. der „schönen Seele" bei d. span. Mystikern. Berlin 1910. S. 46.

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verbunden fühlte, als im J a h r e 1622 die Kanonisation der Heiligen Isidor, Ignaz, Franz X a v e r , Teresa u n d Filippo Neri s t a t t f a n d . Auch die Ruhmsucht Urbans V I I I . , der sich zu Lebzeiten auf dem Capitol von Bernini eine Bildsäule errichten ließ, was durch frühere Beschlüsse f ü r alle Zeit verboten worden war, k a n n an der soziologischen F u n k t i o n dieser Tatsache nichts ändern. Wenn U r b a n sagte, der alte Beschluß könne f ü r „einen P a p s t , wie er es sei, nicht Geltung h a b e n " , so sprach er dies doch nicht in dem Maße als Individuum, wie es bei einem Renaissancepapst der Fall gewesen wäre, sondern vor allem als Fürst der Kirche, was ihm subjektiv vielleicht unterbewußt blieb. Der P a p s t besaß,auch bei einer so weltlichen Handlung im Barock keine individuelle Autonomie. I n welchem Maße sich die Kunst des 17. J a h r h u n d e r t s ihrer propagandistischen Bedeutung voll bewußt war, geht hervor aus dem „ T r a t t a t o della P i t t u r a e Scultura, uso et abuso loro. Composto da u n Teologo e da u n P i t t o r e " (Florenz 1652). I n diesem von dem Jesuiten Giandomenico Ottonelli und dem Maler Pietro da Cortona gemeinsam herausgegebenen Werk wird ausdrücklich gesagt: „ D a s heilige Bild dient als Mittel der Religion vielleicht in noch höherem Maße als Wort und Schrift. Gott spricht mit Hilfe der Maler durch die Bilder." So habe Carlo Dolci das Gelübde getan, nie etwas anderes zu malen, als „heilige Bilder oder heilige Geschichten, die so dargestellt sein sollten, daß sie in jedem Beschauer Werke der christlichen Liebe erwecken könnten. Und in der Karwoche wollte er immer n u r Gegenstände aus dem Leben des Herrn malen." 1 Zu sinnbildhafter Deutlichkeit gelangt die grundsätzlich und bewußt außerästhetische Bindung der Barockkunst durch die Inschrift an der Fassade der lutherischen Kirche zu Bückeburg (1613—15), einem Musterbeispiel der frühbarocken Formenwelt in Deutschland. Die Stimmung der Gegenreformation greift hier sogar auf die reformierte Kirche über. Künstler und Auftraggeber wehren sich gegen den Verdacht eines autonomen Kunstwollens, indem sie die Worte in den Stein meißeln: „ E x e m plum Religionis non S t r u c t u r a e . " Dieser Satz könnte der gesamten Barockkunst als Motto dienen. Nach diesem kulturhistorischen Exkurs, der sich als notwendig erwies, um die auf deskriptivem Wege als vorwiegend autonom erkannte K u n s t des Manierismus von jeder Belastung durch die Ideen der Gegenreformation zu befreien, kann die Betrachtung der Kunstwerke dort wieder aufgenommen werden, wo sie abgebrochen wurde. Der Frühbarock war durch die üppige Blüte des Manierismus, obwohl er im Schaffen Correggios bereits einen H ö h e p u n k t erreicht h a t t e , in der zweiten Hälfte des Cinquecento zu einer Nebenströmung geworden. Es m u ß jedoch betont werden, d a ß nichtsdestoweniger die geradlinige Entwicklung des Barock aus der Renaissance 1

Weibel (a. a. O.) S. 19.

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heraus nie unterbrochen worden ist. J a wir sahen sogar, daß die ästhetische Heteronomie, die sich als barockes Kriterium durch die Überschneidung der ästhetischen Grenze überall bemerkbar machte, gelegentlich auch auf morphologisch dem Manierismus zugehörige oder nahverwandte Werke übergriff. Die konsequente Absage gegen die distanzierte Kunst der Renaissance war durchaus ein Werk des werdenden Barock, der hierdurch gleichzeitig auch die Sonderstellung des Manierismus erst möglich machte. Auf die mannigfachen Berührungspunkte mit dem Barock in der Kunst der Vasari, Pordenone, Vernese oder des Giulio Campi wurde hingewiesen. Die grenzverwischenden Tendenzen, die vielleicht am stärksten in den Fresken Veroneses zu Maser (um 1560) hervortraten, begegnen uns ohne jegliche kompositionelle oder formengeschichtliche Beziehung zum Manierismus bei einem Spätwerk des in seinen Anfängen noch ganz in der Klassik wurzelnden Moretto. Auf seinen Fresken im Palazzo Salvadego zu Brescia erscheinen acht Frauengestalten, die der Familie Martinengo angehören, hinter gemalten Brüstungen. 1 Über die Brüstungen sind Teppiche gelegt, die in den Realraum hineinzuragen scheinen, und einige der Damen greifen, ähnlich wie wir es schon beiVeronese gesehen haben, mit den Händen aus der Bildfläche heraus. Moretto starb im Jahre 1555, kurz vorher müssen diese Fresken entstanden sein. Sie fallen allerdings durch ihre vergleichsweise geringe Qualität, vor allem aber durch ihre raumästhetische Haltung so sehr aus dem Werke des Moretto heraus, daß man die Mitwirkung von jüngeren Schülerhänden für wahrscheinlich erklären möchte. Wie dem aber auch sei: es steht hier ein wichtiges Beispiel frühbarocker Illusionskunst vor uns. Durch psychologische Interpretation des Bildgehaltes ist auch beim späten Tizian die Überschneidung der ästhetischen Grenze beobachtet worden. Bei dem Bildnis des Jacopo de Strada zum Beispiel, das aus dem Jahre 1568 stammt und im Wiener Museum bewahrt wird, „durchbricht und erweitert Tizian das Gefüge des Bildausschnitts, indem er den Dargestellten sich in lebhafter Drehung zu einer außerhalb des Rahmens gedachten Person wenden läßt, der er die antike Statue zeigt." 2 Da eine solche psychologische Interpretation zur Ableitung unserer Kriterien als nicht legitim erscheint, so halten wir uns an das besonders interessante Männerbildnis, das von A. L. Mayer mit guten Gründen einem Schüler des Greco, dem Juan Bautista del Mayno zugeschrieben worden ist und sich heute im Pariser Kunsthandel befindet. 3 Quer über dieses Bild, das Mayer in die 1580er Jahre setzt, ist eine Schnur gemalt, von der am linken Bildrand ein perlgrauer Vorhang herabfällt, um dann wieder nach 1 2 3

Ugoletti: Brescia. Bergamo 1909. Abb. S. 106, 107. Buschbeck: Führer durch die Gemäldegalerie, Wien 1928. S. 78f. A. L. Mayer: Zu El Greco. Pantheon 1928. S. 94ff. Abb. S. 97.

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oben geschlungen zu werden und hinter dem Bildrande zu verschwinden. Der dargestellte Kavalier stößt mit seiner Rechten an die mit der vorderen Bildebene zusammenfallende Vorhangskante leise an. Die H a n d verharrt ganz knapp vor der Schwelle des Bildes. Der Schüler des Greco wagt es aber noch nicht, die ästhetische Grenze mit Entschiedenheit zu durchstoßen. D a ß der Gedanke ihm aber nicht mehr fern lag, beweist das zögernde Spiel des Handknöchels an der K a n t e des Vorhangs. Deshalb ist kein Werk geeigneter als dieses, in unseren Untersuchungen den Übergang vom Manierismus zum reifen Barock zu vertreten. Eine nochmalige, sehr eindrucksvolle Kontrastierung zur Kunst der Renaissance ermöglicht sich bei einer Gegenüberstellung des „Ecce h o m o " von Domenico Feti und des überzeugend dem Paris Bordone zugeschriebenen Männerporträts von 1523, beide in der Pinakothek zu München. (Abb. 36, 37). Es handelt sich in beiden Fällen u m Halbfiguren, die hinter einer Brüstung erscheinen. Während bei Bordone der Dargestellte nur ein Buch auf die Brüstung zu stützen wagt, die abschließende K r a f t der Rampe jedoch respektiert, so gleiten bei Feti die gefesselten Hände Christi über die Brüstung hinaus und erobern sich dadurch die dritte Dimension und den Realraum. Gleichzeitig mit diesem formalphänomenologisch erfaßbaren Unterschied tritt auch ein psychologischer hervor. Die Rampe wird bei Bordone, dadurch daß sie nur die lateinischen Ziffern der Jahreszahl trägt, gleichsam neutralisiert. Der Barockkünstler jedoch läßt hier die Worte aufleuchten: Ego pro te haec passus sum. T u vero quid fecisti pro me. I m Zusammenhang mit der Bedeutung des Bildrahmens f ü r die Isolierung der Kunstsphäre aus jedem Lebenszusammenhang wird im Barock jene Rahmenform immer häufiger, die Simmel in seinem auf einseitige Werturteile gerichteten Aufsatz über den Bildrahmen als verwerflich bezeichnet. 1 Die inneren Rahmenseiten werden vielfach erhöht, so daß der R a h m e n nach außen abfällt. „Da der Blick, wie die körperliche Bewegung leichter vom Hohen zum Tiefen geht als umgekehrt, so wird er auf diese Weise unvermeidlich vom Bilde weg nach außen geführt u n d der Zusammenhalt des Bildes einer zentrifugalen Zerstreuung ausgesetzt." Simmel lehnt diese Rahmenform vollkommen a b : „Deshalb darf der R a h m e n nirgends durch seine Konfiguration eine Lücke oder eine Brücke bieten, an der sozusagen die Welt hinein könnte oder an der es (das Kunstwerk) in die Welt hinaus könnte, — wie dies z. B. durch die Fortsetzung des Bildinhaltes in den Rahmen hinein geschieht, eine zum Glück seltene Verirrung, die das Fürsich-Sein des Kunstwerks und eben damit den Sinn des Rahmens völlig verneint." 2 1 2

Simmel (a. a. O.) S. 47. Simmel (a. a. O.) S. 48.

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Dem typischen Barockrahmen genügt es jedoch nicht, „das Bild durch F o r m , Dekoration u n d F a r b e des Rahmens bestens zur Geltung zu bringen und es zugleich in vorteilhafter Weise mit der Wand zu verbinden; auch den Inhalt des Bildes wußten sie im R a h m e n wenigstens a n z u d e u t e n / ' 1 So pflegte m a n in der holländischen Barockkunst den Bildinhalt dadurch auf den R a h m e n zu übertragen, daß m a n „bei Porträts von Offizieren u n d Seehelden allerhand Trophäen oder Schiffsembleme auf breiten Leisten" malerisch ringsum anordnete. Auf Stilleben-Rahmen wurden Blumen u n d Früchte angebracht, auf den R a h m e n von Musikszenen I n s t r u m e n t e . Die Künstlerpersönlichkeit, in der sich alle Strömungen der barocken Kunst Italiens, dieses klassischen Landes der Gegenreformation, vereinen, ist Gianlorenzo Bernini. E r ist der reinste T y p u s des südlichen Barockkünstlers. Die Erkenntnisse, die an seiner K u n s t gewonnen werden können, sind verbindlich f ü r das gesamte Schaffen der Zeit. Schon bei Berninis Jugendwerk, der Medaillonbüste des Bischofs Santoni in S. Prassede zu Rom (um 1615) ragt der Kopf des Dargestellten mit vorgerecktem Halse knaufartig aus der U m r a h m u n g in den Freiraum hinein, ästhetisch nah verwandt den Medaillonköpfen an Ghibertis Paradiestür aus dem zweiten Quattrocento. Über alle formalen Unterschiede hinweg bedient sich eine heteronome Kunst stets der gleichen ästhetischen Mittel, um sich zu insinuieren. Die gleichfalls aus einer Medaillonnische herauswachsende Halbfigur des Pedro de Montoya an seinem Grabmal in S. Maria di Monserrato in Rom (um 1623) legt in der Art, wie Kopf und Rumpf des Portraitierten den R a n d des Medaillons überschneiden, den Vergleich mit Dürers gemaltem Medaillonporträt des J o h a n n Kleberger nahe, das im J a h r e 1526 in ganz ähnlicher Weise die Distanz zum Beschauer zu überwinden suchte. Die Greifbarkeit und unmittelbare Nähe der künstlerischen Gestalten, die, wie wir gesehen haben, mit den religiösen Forderungen, die seinerzeit von Ignaz von Loyola aufgestellt worden waren, genau übereinstimmt, läßt sich, wie stets, auch bei Bernini deskriptiv am deutlichsten an dem Verhältnis der Figuren zum Nischenraum oder zur architektonischen Umrahmung erfassen. Die heilige Bibbiana streckt die empfangend geöffnete Rechte aus ihrem Nischenraum heraus, und die Figur der Markgräfin Mathilde von Tuscien scheint aus der perspektivisch virtuos verkürzten Aedicula geraden Wegs in das Seitenschiff von St. Peter hineinschreiten zu wollen. Schon Weibel h a t darauf hingewiesen, daß Bernini seine Figuren absichtlich zu groß im Verhältnis zur Nische bildet. Die Markgräfin Mathilde würde, wenn sie im Grunde der Nische bleiben wollte, mit dem Kopf an die Decke stoßen und allein durch ihre Proportionen den K u n s t r a u m zu sprengen drohen. Die allegorischen Figuren an den Papstgräbern Berninis 1

Bode: Bilderrahmen in alter und neuer Zeit. Pan. 1898.

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drängen aus dem architektonischen Zusammenhang heraus, am stärksten aber wird die Überschneidung der ästhetischen Grenze bei den Statuen des Daniel und des H a b a k u k in S. Maria del popolo in Rom (1656—57). Hier ragen die Figuren so weit in den Realraum hinein, daß m a n die enge u n d viel zu kleine Nische garnicht mehr als ursprünglichen R a u m der Figuren empfinden kann. Das gleiche hemmungslose Sich-Ergießen in den Freiraum geschieht auch bei den Gestalten der Heiligen Magdalena u n d Hieronymus im Dom zu Siena. Eine besondere Stellung im Werke Berninis n i m m t die „Verzückung der heiligen Therese" in S. Maria della Vittoria zu Rom ein. Auf dieses H a u p t w e r k Berninis wurde schon kurz bei der Erörterung der psychologischen u n d geistesgeschichtlichen Parallelen zur Kunst des Barock eingegangen. N u n m e h r ist es unsere Aufgabe, das, was in anderem Zusammenhange vorwegnehmend auf einem f ü r die Kunstwissenschaft methodisch nicht legitimen Wege erkannt wurde, durch ein deskriptives Erfassen der formal-phänomenologischen Tatsachen darzulegen. Die Gruppe der heiligen Therese selbst schmückt den Hochaltar, der mit den n u r schwach angedeuteten Querschiffen der Kirche zu einer einheitlichen Kapelle zusammengezogen ist, die Bernini f ü r den Kardinal Federigo Cornaro in den J a h r e n 1644—47 schuf. Die Heilige ist, auf Wolken ruhend, im Zustande der ohnmächtigen Verzückung dargestellt, kurz bevor ein Engel ihr, genau wie sie es selbst in den „Obras" beschrieben h a t , mit einem glühenden Pfeile die Brust durchbohren wird. Die Szene u m r a h m t eine von Säulen gebildete Aedicula, in deren Hintergrund goldene Strahlen herniederschießen und die, wie beim Theater, von magischem, von unsichtbarer Quelle gespeistem Licht durchflutet wird. Das Wolkenlager aber, auf dem die Heilige r u h t , leitet, gleichsam athmosphärisch schwebend, aus der Nische heraus in den Kirchenraum hinein, den erschütterten Gläubigen entgegen. Die sinnliche Verbundenheit selbst mit einem übersinnlich gedachten R a u m k a n n nicht entschiedener vollzogen werden. Die Verbindung der H a u p t g r u p p e mit der Umgebung wird nun noch durch die übrige Ausgestaltung der Cornaro-Kapelle unterstützt und verstärkt. I n den Seitenarmen sind rechts u n d links Reliefs angebracht, auf denen jeweils vier Mitglieder der Familie Cornaro als Halbfiguren auftauchen. Die Seitenschiffe der Kirche scheinen sich hier, illusionistisch verkürzt, weiter in die Tiefe zu erstrecken, im Vordergrunde der Reliefs aber beugen sich die Zuschauer in heftiger Bewegung über eine Brüstung, betrachten u n d diskutieren den Vorgang, der sich auf dem Hochaltar abspielt. Diese Reliefs sind in sich Zeugnisse f ü r die barocke Grenzüberschneidung. Die Gestalten ragen vielfach über die architektonische U m r a h m u n g heraus. Vor allem aber beziehen sie den Freiraum der Kapelle, in dem der Beschauer sich befindet, in den künstlerischen Vorgang ein, da die Blicke und Gesten der Relieffiguren durch diesen realen

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R a u m hindurch mit der Hauptgruppe der heiligen Therese in Verbindung gebracht sind. Außerdem bedeuten die erregten Zuschauer auf den Reliefs gleichzeitig eine „Leseanweisung" f ü r die Verzückung der Heiligen, wie auch Ignaz von Loyola in seinem Übungsbuch Leseanweisungen f ü r ein möglichst anschauliches und sinnliches Erfassen der religiösen Vorstellungen gegeben hatte. Doch all das genügt Bernini noch nicht. Nicht allein nach oben und nach den Seiten hin soll der R a u m in den Hauptvorgang einbezogen werden. Auch von unten, vom Fußboden her wird die ästhetische Grenze durchstoßen. Zwei Skelette scheinen sich aus dem Boden zu erheben, und blicken händeringend auf die Heilige. Der Beschauer wird hier in einer bisher nicht verwirklichten Weise von den grenzenlos mit dem Realr a u m verbundenen Kunstformationen eingekreist. Berninis unter dem Einfluß des Miguel de Molinos zu ganz besonderer Inbrunst entflammter Spätstil erscheint rein in dem Grabmal des Fonseca, in der Kirche S. Lorenzo in Lucina zu Rom. Der Leibarzt Innocenz' X . lehnt sich weit aus einem Fensterrahmen heraus u n d schaut, wie in einer Vision, zum Hochaltar. Die inbrünstige Gebärde der Linken, die den Rosenkranz umklammernde Rechte, das von transzendentalem Ausdruck erfüllte Gesicht illustrieren psychologisch die machtvolle Kirchlichkeit einer Kunst, die ihre Figuren in beinahe k r a m p f h a f t e r Sehnsucht aus der autonomen Kunstsphäre in eine außerästhetische Zone, in den Schoß der allein seligmachenden Kirche streben läßt. I n ähnlicher Weise ist uns bereits das eigentümliche, nach zwei Seiten, dem Diesseits und dem Jenseits, gewandte Gesicht der Kunst im zweiten Quattrocento begegnet. Auch dort gelangten zwei geistesgeschichtlich scheinbar unvereinbare Strömungen gleichmäßig und in gegenseitiger Verklammerung zur Gestaltung: die um die Eroberung der Welt bemühte Linearperspektive und eine auf Erlösung von der Welt bedachte Religiosität. I m Barock ist diese „coincidentia oppositorum" anders gelagert, sie tritt aber aufs deutlichste zutage in Berninis Definition des Schönheitsbegriffs: „Das Schöne in allen Dingen, ebenso wie in der Architektur besteht in der Proportion. Man k a n n sagen, daß die Proportion ein Teil der Göttlichkeit ist, weil sie ihren Ursprung im Körper Adams h a t , der nicht nur durch Gottes Hände, sondern auch nach seinem Ebenbild geschaffen wurde." So mündet auch hier alles Diesseitige wieder in Gott. I m Gegensatz zum Manierismus, der illusionistische Effekte in der unwirklichen und distanzierten Theaterarchitektur verwandte, erstreckt sich der illusionistische Täuschungswille des Barock auch auf betretbare Räume, die realen Zwecken dienen. Die Grenze von K u n s t r a u m und Wirklichkeit war so endgültig niedergerissen, daß die Kunst es durchaus als ihres Amtes empfand, Scheinwerte auch auf so real greifbare Gegebenheiten, wie es die der Architektur sind, zu übertragen. 190

Die Grundsätze der szenischen Gestaltung von Palladios Teatro Olympico in Vicenza werden j e t z t allenthalben innerhalb von Realitätszusammenhängen verwendet. 1 Borromini konstruiert im J a h r e 1632 eine Kolonnade im Hofe des Palazzo Spada in Rom nach der Art, wie Palladio seine Theaterstraßen angelegt hatte. Alle Abmessungen dieses 8,58 m langen Ganges, dessen Wände, im Gegensatz zu denen der Scala regia parallel laufen, verkürzen sich nach rückwärts. Die Breite der in den Gang gestellten Säulenordnung vermindert sich von 3,12 m auf 1 m, die Höhe von 5,60 m auf 2,45 m. U m diese überaus starke perspektivische Verkürzung zu verschleiern, zerlegt Borromini das Gewölbe u n d die Säulenordnung des Ganges durch drei Intervalle in vier Teile. Der Fußboden steigt an, und die Täuschung war besonders f r ü h e r , als m a n von einem heute zugemauerten Gang des Palastes einen weiteren Blick auf die Kolonnade h a t t e , so vollkommen, daß eine im Hintergrund aufgestellte Skulptur dem Auge als groß und weit entfernt erschien, obwohl sie t a t sächlich klein und nahe ist. Nur auf den durch das Auge vermittelten psychologischen Effekt k o m m t es an, wie bei aller heteronomen K u n s t . D a ß m a n beim Durchschreiten der Kolonnade die Täuschung entdeckt, ist dem Barockkünstler ebenso gleichgültig wie die Tatsache, daß der mit Blut bedeckte Leib eines mitleiderregenden Märtyrers, der greifbar nahe erscheint, sich beim Zufassen als bloß zweidimensional oder marmorkühl enthüllt. I n beiden Fällen wird die psychologische Wirkung durch eine Überschneidung der ästhetischen Grenze, durch eine Überbrückung der K l u f t zwischen Kunst- u n d Realraum gewonnen. Die psychologische Wirkung aber ist nur die E m a n a t i o n eines formal-phänomenologisch und deskriptiv erfaßbaren Gestaltungsvorgangs. Die Vermischung von Spiel und Wirklichkeit, Theater und Architektur, welche die Barockkunst in besonderem Maße als heteronome Kunst kennzeichnet, f ü h r t zu einer Betrachtung des Theaterproblems selbst. Es wurde bereits erwähnt, daß auch die Bühne unter den Propagandamitteln der triumphierenden, gegenreformatorischen Kirche eine hervorragende Stelle einnahm. Die Jesuiten organisierten besondere Spiele didaktischer Tendenz, die im Freien und vor allem in den Kirchen selbst zur Darstellung gelangten, oft aber auch den Glanz höfischer Feste erhöhen halfen. Berühmt ist des Jesuiten und Malerarchitekten Pozzo lebendes Bild der Hochzeit von 1

Im Gegensatz zu den Ansichten Gurlitts, Brinckmanns, Roses und Panofskys muß es nach dem Aufsatz von Voss (Bernini als Architekt an der Scala regia und an den Kolonnaden von St. Peter. Pr. Jahrb. 1922) als erwiesen angenommen werden, daß Bernini durch die Verwendung konvergierender Säulenstellungen in der Scala regia und durch das Divergieren der Platzwände der sog. Piazza retta den Beschauer nicht über die Länge der Treppe oder über die Raumtiefe täuschen wollte. Er fand sich vielmehr auf diese Weise mit der gegebenen baulichen Situation ab.

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K a n a , das 1685 in S. Ignazio in Rom aufgestellt wurde. I n seinem berühmt e n u n d weitverbreiteten Buche, den 1693—1700 in Rom zuerst erschienenen „Perspectivae pictorum atque architectorum" beschreibt Pozzo genau die Anlage eines 1695 von ihm errichteten „ t e a t r u m sacrum". 1 (Abb. 41). E r schließt mit den W o r t e n : „Dasselbe bestünde aber aus zerschiedenen Stücken, die theils zusammengefügt, theils auch von einander abgesondert, mithin mit sichtlichen u n d verborgenen Liechtern beleuchtet waren; welche dann ihres Theils nicht minder das Aug' betrogen, in dem sie nach der Perspektiv-Kunst, u n d wie es die äußersten Linien des Wercks erforderten, hin und wieder aufgestellt werden: also daß einer wohl geschworen hätte, dise Schieber oder Szene wären r u n d ; da sie doch an und für sich selbsten gantz flach und eben gewesen. Dahero es auch eine unlaugbahre Sache ist, das grosse Risse oder Gemähide, wann sie nach den Regulen der Bau-Mahler- und Perspektiv-Kunst gemacht sind, das Auge trefflich betriegen: allermaßen ich mich noch wohl erinnere, daß ich etliche Persohnen gesehen, die diese Stafflen hinaufsteigen wolten, auch den Betrug nicht eher vermerckt, biss sie selbige mit den Händen betastet." Aus der illusionistisch gemalten Szene führen Treppen in das Kirchenschiff hinab. Die Verbindung der Szene mit dem Zuschauerraum durch Stufen kehrt auch bei den wirklichen Bühnen des Barock immer wieder. (Abb. 42). Die in anderen Künsten nur phänomenologisch evidente Überschneidung der ästhetischen Grenze wird hier empirisch faßbar vollzogen. Die Darsteller pflegten auf den Stufen von der Bühne zu den im Parterre sitzenden Fürstlichkeiten herabzusteigen. „Es bildet sich jetzt zwischen Bühne und Parterre ein Verkehr aus, der zunächst die Ballettänzer von der Bühne nach dem Parterre f ü h r t , bald aber auch die vornehmen Zuschauer aus dem Parterre auf die Bühne schreiten ließ, wo sie selbst tätigen Anteil am Ballet nahmen." 2 Zur gleichen Zeit, als aus der Darstellung religiöser Passionsszenen eine „Compassion" wurde, konnte auch das Spiel erst in einem distanzlosen Mitspielen genossen werden. Das Publikum dringt immer konsequenter auf die Bühne vor. Das englische Barocktheater besaß besondere Bühnenlogen f ü r die Gönner des Hauses und „wie auf der altenglischen Bühne die Lords, so sehen wir auf der Moltärebühne den Adel sich breit machen. Erst durch das Eingreifen Voltaires verschwanden 1748 endgültig die Edelleute u n d die Stutzer von ihren Sitzen auf der Bühne." 3 Und wenn auch Joseph Furttenbach, der Ulmer Stadtbaumeister und Architekturtheoretiker, der 1612—22 in Rom weilte und uns in seiner 1628 veröffentlichten „Architectura civilis" viele Beispiele italienischer Bühnen 1

„Der Mahler und Baumeister Perspectiv" herausgegeben von Johann Boxbarth, Augsburg 1708—09. II. Teil, Figura 45—47 u. Fig. 48. * Hammitzsch (a. a. O.) S. 23. 3 Hammitzsch (a. a. O.) S. 59.

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mit Treppen zum Publikum überliefert hat, in seiner „Architectura recreationis" (Augsburg 1640) einen vorderen „Graben" vor der Bühne für die „Instrumentisten" fordert, so ist zunächst der vertiefte Orchesterraum noch sehr unbedeutend, da er dem Wunsche nach der Verbindung von Real- und Kunstraum entgegen gestanden hätte. „Noch lassen sich die verbindenden Treppen zwischen Bühne und Parterre nicht verdrängen. Francesco Guitti kommt zu einem Kompromiß, indem er das bescheidene Orchester vor die Mitte der Bühne legt, zu beiden Seiten aber die Anlage der Treppen derartig gestattet, daß diese das Orchester umfassen." 1 Erst die fortschreitende Entwicklung der Oper zwingt zu einer weiteren Ausdehnung des Orchesterraumes. Durch Shakespeare war das Theater auf dem Theater in die Dramaturgie des Barock eingeführt worden. Die Labilität des ästhetischen Grenzgefühls und die Heteronomie einer solchen Kunstübung offenbart vollends die Beschreibung einer Komödie, die Bernini selbst im Karneval 1637 aufführen ließ, und die den Titel trug: „Due teatri l'uno a specchio dell'altro." „Maximilian Montecucoli hat dem Herzog von Modena den Inhalt brieflich geschildert. Als der Vorhang hochging, sah man sehr viel Menschen auf der Bühne, es waren teils lebende, teils gemalte Gestalten, die durchaus jenen glichen, die den Saal füllten. Mitten unter ihnen standen zwei Spottvögel, die Papier und Kreide in der Hand hielten und zu zeichnen vorgaben, der eine das wirkliche, der andre das gemalte Publikum. Nach einigen Augenblicken unterbrach der eine die Stille und machte seinen Gefährten, den er gut zu kennen schien, darauf aufmerksam, daß er durch seine Art zu stehen ein nicht gerade gutes Benehmen verrate. „ W a r u m ? " fragte der zweite Coviello. „Weil Du dem Publikum den Rücken zuwendest," gab der erste zur Antwort. „Auch du beleidigst die Zuhörer", verteidigte sich der Angegriffene und verwies seinen Gefährten auf die gemalten Zuschauer. Sie gerieten in große Verlegenheit und wußten nicht, wie sie sich hinstellen sollten, um weder dem einen noch dem anderen Teil des Publikums zu nahe zu treten; nach längerem Hin und Her einigten sie sich dahin, eine Leinewand mitten durch die Bühne zu ziehen, damit jeder vor seinen Zuhörern spiele. So geschah es, jeder deklamierte einen Monolog für sich, und nach einer Weile fanden sie sich wieder vor der Bühne und teilten sich die Eindrücke mit, die ihr Spiel dem Publikum gemacht hatte. „Zeige mir, womit Du Deine Hörer amüsiert h a s t ? " sagte der erste Coviello. Da gab der zweite der Regie ein Zeichen und dem wirklichen Publikum zeigte sich ein prachtvoller Anblick: Nacht, der Mond am sternenübersäten Himmel, eilende Wolken, dann brach der Morgen an; eine wundervolle Gegend voller Frühlingsgrün, mit Gärten, Häusern und Palästen tauchte auf. Auf der Bühne erschienen singende und tanzende Landmädchen, Herren zu Pferde, 1

Hammitzsch (a. a. O.) S. 32. 13

Michalski.

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Damen in sechsspännigen Wagen und S&nften, und das Publikum konnte in den Vorbeiziehenden das Ebenbild jener erkennen, die die Ränge und Logen füllten. Da damals nichts ohne Seltsamkeiten abging, erschienen zum Schluß Pagen in Trauerkleidern mit brennenden schwarzen Fackeln. Ihnen folgte der Tod auf einem ausgemergelten Klepper, mit der Sense in der Rechten; er schritt dreimal über die Bühne. Erschrocken über diesen Anblick wandte sich einer der beiden Hanswürste an das Publikum und erklärte, der Tod zerschneide den Faden jeder Komödie und zerstöre die Lust an allen weltlichen Vergnügungen. Mit dieser Apostrophe schloß die Aufführung, der vierzehn Kardinäle und eine Unzahl von Prälaten und römischen Berühmtheiten beigewohnt hatte." 1 Hier zeigt sich, wenn auch etwas ins Spielerische abgeartet, das stets wache Bewußtsein des Barock von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Sehr typisch erscheint es, daß das unlösbare Ineinander von Schein und Wirklichkeit in diesem barocken Theaterstück mit beinahe romantisch zu nennender Ironie nur dadurch geklärt werden kann, daß eine trennende Leinwand über die Bühne gezogen wird. Diese Tatsache allein zeugt abermals für die Bedeutung der deskriptiven Unterscheidungsmöglichkeit nach der Wahrung oder der Durchbrechung der ästhetischen Grenze. Außer der Architektur und dem Theater wurde vor allem die Deckenmalerei von einem raumverschleifenden Illusionismus ergriffen. 8 Die barocke Deckenmalerei nahm ihren Ausgang von der Galleria Farnese des Annibale Caracci in Rom (um 1597—1604). Die tonnengewölbte Halle sollte mit mythologischen Szenen geschmückt werden, die den Triumph der Liebe im Weltall darstellten. I n der Kunst Annibale Caraccis laufen, wie in einem Sammelbecken, alle Strömungen der Kunst der Vergangenheit zusammen. Er entwickelt sich von einer starken Verbundenheit mit Correggio über Tizian, Veronese und Tintoretto zu einem stark von Raffael und Michelangelo beeinflußten Stil. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, daß er mit der Decke der Galleria Farnese an die Sixtinische Decke anknüpft. Er malt in den Hauptdarstellungen nicht „di sotto in su", sondern gibt, wie Michelangelo, ein System von gerahmten Bildern. Der bedeutungsvolle Unterschied in raumästhetischer Hinsicht ist nun folgender: in einer viel konsequenteren Weise läßt Caracci die Tragefiguren, Hermen und Sklaven, des gliedernden Architekturgerüstes sich gegeneinander verschieben und überschneiden, so daß die Grenzen von gemalter Plastik und Malerei vollkommen verschwimmen. Und wenn die einzelnen Bilder auch in sich gerahmt bleiben, so klingt die barocke Grenzverwischung doch in der Art auf, wie „diese Einzelbilder nun hinsichtlich ihres Realitätsgrades untereinander ab1 2

Chledowski: Rom. Die Menschen des Barock, München 1914. S. 401 f. Zur Entwicklung des Illusionismus. Posse: Das Deckenfresko des Pietro da Cortona und die Deckenmalerei in Rom. Pr. Jahrb. 1919. S. 93 ff., 126 ff.

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gestuft sind; die überwiegende Zahl ist mit breiten, verschieden gestalteten Rahmen versehen, -während in einzelnen Fällen das Bild unmittelbar, wie durch eine Lücke der Scheinarchitektur gesehen, von den tragenden Karyatiden eingefaßt wird. An den vier Saalecken wird die Auflockerung des architektonischen Systems ganz unmittelbar verdeutlicht: hier öffnet sich über einer vorgetäuschten Balustrade der Himmel, vor dem Putten stehen. Es ist also ein Stück unverhohlener Illusionsmalerei, aber gewissermaßen nur von der Bedeutung einer bescheidenen dekorativen Eckfüllung. . . . . Illusionistisch ist auch sonst vieles in der motivischen Durchbildung der Decke. So sind mehrfach die breiten goldenen Rahmen der „Bilder" plastisch wirksam ausgestaltet; sie überschneiden und beschatten die Medaillons wie die übrige Architektur."1 Annibale Caraccis Schüler Domenichino geht da, wo er frei schalten kann, in bezug auf die Verbindung von Kunst- und Realraum bedeutend über seinen Lehrer hinaus. In den Fresken der Chorwölbung von S. Andrea della Valle in Rom (1624—28) ist er zwar durch die strenge architektonische Gliederung, durch Gurte und Bögen an einer illusionistischen Entfaltung verhindert. Aus den Kuppelzwickeln derselben Kirche aber läßt Domenichino die vier Evangelisten mit gewaltigem Schwung in den Kirchenraum hineinschweben.2 Die Gestalten sind in Untersicht dargestellt, und ihre Attribute ragen allenthalben über die Rahmen der Pendentifs hinaus. Noch weiter in dieser Richtung entwickelt sich Domenichino in dem Zwickelfresko der Capeila di S. Gennaro zu Neapel. Hier balanzieren die Gestalten der untersten Zone des Gemäldes auf der unteren Begrenzung wie auf einer Schwelle. Gewänder und Füße ragen in den Realraum hinein, und die Gestalt eines von hinten gesehenen, knienden Mannes droht beinahe aus dem Bilde herauszustürzen. Eine ganz konsequente Erweiterung des gebauten Raumes in das Deckengemälde hinein, unter Zuhilfenahme der Quadraturmalerei, findet sich auf Guercinos „Aurora" im Casino Ludovisi zu Rom. (1621—23)3. Hier wird das bereits von Guido Reni verwendete Motiv endgültig und konsequent mit barockem Raumgefühl erfüllt. Das Gespann der Göttin mit den schräg von unten gesehenen Rossen scheint inmitten der in das Bild hinein verlängerten Architektur des Saales vom Himmel herab zu steigen. Der Künstler führt hier die Entwertung jeder Begrenzung sogar so weit, daß er bei dem Lünettenfresko der „Nacht", das an der einen Schmalseite des Saales den Übergang der Decke in die Wand vermittelt, die halbkreisförmige Umrahmung und das Gewände des kellerartigen Gewölbes, von dem die Gestalten der Komposition umschlossen sind, wie bei einer Ruine 1

2 3

Die Malerei des Barock in Rom. Berlin 1924. S. 494. Abb. S. 167—173. Voss: Barockmalerei (a. a. O.) Abb. S. 208. 209. 211. Weisbach: Kunst des Barock. Berlin 1924. Abb. 217, 219.

VOSB:

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durchbricht, um auf diese Weise eine unmittelbare Verbindung mit der Hauptszene, der „Aurora" zu ermöglichen. Bei dem zweiten Lünettenfresko dem „Tag", ist die architektonische Umrahmung unversehrt erhalten. Die von Wolken getragene allegorische Gestalt scheint jedoch aus der Lünette heraus in den Saal zu schweben und die symbolischen brennenden Kerzen werden hoch erhoben aus dem Bilde herausgestreckt. (Abb. 38.) Während Giovanni Lanfranco nicht über die bereits von Correggio verwirklichte Stufe eines gemäßigten Illusionismus hinausgeht, so feiert im Werke des Pietro da Cortona die ästhetische Raumverschleifung einen Triumph. Cortona vereinigt in sich den Beruf eines Malers, Architekten und Stuckateurs, so daß er ungehemmt die Gegebenheiten des Raumes seinen Vorstellungen anzupassen vermag. Sein Hauptwerk sind die Deckenmalereien des großen Saales im Palazzo Barberini zu Rom. (1633—39). 1 Sie sind perspektivisch auf einen Blickpunkt am Eingang des Saales hinkomponiert. Auch hier ist das allegorische Mittelbild von einem architektonischen Rahmen umgeben, aber nur, um durch seine Existenz das schrankenlose Überschneiden jeglicher Begrenzung doppelt deutlich zu machen. Die Figuren des Plafonds verbinden sich mit denen der Wände, und alle zusammen scheinen einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen dem freien Außenraum, Himmel und Wolken und dem Saale des Palastes herzustellen. „Bei einer so weit gehenden Verkettung aller Teile erscheint es nun lediglich als eine logische Weiterentwicklung, wenn die schon früher angebahnte Verwischung der Grenze zwischen Rahmen und Gerahmten, zwischen vorgetäuschter Realität und unverhohlener Bilddarstellung aufs entschiedenste gefördert wird. Cortona bereichert den dekorativen Teil seiner Deckenlösung derart, daß die darin in Fülle enthaltenen figürlichen Elemente mit den Gestalten der „Bilder" in Konkurrenz treten. Man erkennt nicht mehr deutlich, wo die (scheinbare) Wirklichkeit aufhört und wo der bewußte Schein beginnt. Damit ist die nach Caraccis Vorgang bislang auch von Pietro gewahrte bildmäßige Selbständigkeit der „quadri riportati" preisgegeben zugunsten der absoluten Einheitswirkung des Ganzen, die selbst eine deutliche Sonderung der verschiedenen Illusionsgrade nicht mehr verträgt. Hat bei Caracci jedes Bild noch seine eigene Realität und dementsprechend seine kompositionelle und geistige Autonomie, so kann die Barberinidecke nur mehr als ein Ineinanderfließen verschiedener Illusionsgrade aufgefaßt werden, als eine groß angelegte, umfassende Aktion, deren viele Einzelszenen über verschiedene Stufen der Realität hinweg zu einer grandiosen, komplexen Gesamtwirkung zusammen wachsen." 2 Die Decke Cortonas wurde nach einem Programm gemalt, in dessen Mittelpunkt die Verherrlichung Urbans V I I I . Barberini stand, mit dessen 1

Voss: Barockmalerei (a. a. O.) Abb. S. 242 —45.

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Voss: Barockmalerei (a. a. O.) S. 538-

Wappen die drei Musen zum Himmel empor schweben. Die gesamte antike Mythologie ist aufgeboten, u m den Triumph der Kirche und ihren Sieg über die Ketzerei zu allegorisieren. Gleichzeitig wird der P a p s t als Herrscher des Kirchenstaates verherrlicht, der Laster u n d Verbrechen b e k ä m p f t , den Frieden wahrt, doch einem Kriege nicht unvorbereitet entgegensieht. Die ungehemmte Überschwemmung der ästhetischen Grenze in diesem Werke Cortonas geht, wie stets, mit einer dienenden Aufgabe, mit einer Bindung der K u n s t an einen außerästhetischen Zweck H a n d in H a n d , was hier noch durch das zu Grunde liegende P r o g r a m m besonders betont wird. Pietro da Cortonas spätere Deckenlösungen im Palazzo P i t t i zu Florenz (1641—47) oder in S. Maria in Yallicella zu R o m (1647—65) erreichen nicht wieder die Schrankenlosigkeit der Barberini-Decke. Die Rahmengrenzen der einzelnen Fresken k o m m e n hier mehr zur Geltung, wenn auch die Täuschungskraft der illusionistischen Deckenöffnungen u n d — besonders in der „Sala di M a r t e " des Palazzo P i t t i die perspektivische Verbindung von Real- u n d K u n s t r a u m den Barberinifresken k a u m nachstehen. 1 Scheinwölbungen u n d Raumerweiterungen t u n sich auf, u n d die Grenzen von Architektur, Malerei u n d Plastik werden auch hier ständig überschnitten, sei es, d a ß die Malerei architektonische Gegebenheiten verschleiert, sei es, daß die dekorative Plastik in das Bereich der Malerei eindringt. Ihre höchste Steigerung sollte die illusionistische Deckenmalerei jedoch erst in den 70er u n d 80er J a h r e n des Seicento erreichen. Hier sind die stets gemeinsam arbeitenden luccheser Künstler Giovanni Coli u n d Filippo Gherardi zu nennen, deren H a u p t w e r k die große Decke des Hauptsaales im Palazzo Colonna in R o m ist. (1675—78). Sie sind ohne die Kunst des Pietro da Cortona nicht zu denken. Ein im gewissen Sinne unwirklicher Zug macht sich jedoch, t r o t z der mit höchster Täuschungskraft vollzogenen perspektivischen Verkürzung, bei dem Mittelbild, der Seeschlacht von Lepanto, bemerkbar, da die Decke sich hier nicht wie sonst meist dem Himmel öffnet, sondern u n b e k ü m m e r t u m alle Vorstellungsmöglichkeiten das bewegte Meer mit Schiffen im Plafond erscheinen läßt. 2 Hier liegen bei aller barocken Grenzüberschneidung schon Keime der Deckenmalerei einer späteren Zeit verborgen. Die Vollendung typischsten Barocks erreichte die Deckenkunst aber durch den Jesuitenpater Andrea Pozzo, von dem schon in anderem Zusammenhang gesprochen wurde. Pozzo ging bewußt auf einen Betrug der Augen aus. E r sagt selbst in seinem Vorwort an den Leser seiner „Perspectivae pictorum atque a r c h i t e c t o r u m " : „ D a s Aug', ob es wohl unter unseren äußerlichen Sinnen das schlaueste ist, wird dannoch mit einer wunderbahrlichen Belustigung von der Perspektiv-Kunst betrogen." I n 1 2

Voss: Barockmalerei, (a. a. O.) Abb. S. 249—52. Voss: Barockmalerei, (a. a. 0 . ) Abb. S. 306. S. 311—13.

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diesem Sinne malte er im J a h r e 1685 f ü r die unvollendete Kirche S. Ignazio in R o m eine heute nicht mehr vorhandene Scheinkuppel, deren raumerweiternde Wirkung die Zeitgenossen zur höchsten Bewunderung hinriß. Auch die Ausmalung des Langhausgewölbes u n d der Tribuna in S. Ignazio ist Pozzos Werk. 1 Das Gemälde der Tribuna stellt den heiligen Ignaz in dei Glorie dar. Pozzo wollte den realen R a u m u m jeden Preis nach oben erweitern u n d ging sogar so weit, auf eine konkave Fläche eine senkrecht emporsteigende Scheinarchitektur als Fortsetzung der Kirchenarchitektui zu malen. Selbstverständlich konnte der erwünschte Eindruck n u r von einem bestimmten Blickpunkt aus gewonnen werden. I m Deckenfresko des Hauptschiffes setzt der Künstler die reale Architektur durch ein sieb genau anfügendes zweites Geschoß fort, über dessen gekuppelten Säulei u n d hoher Attika sich dann der Himmel a u f t u t , u m den Ordensstifter dei Jesuiten auf Wolken thronend, inmitten von Engeln u n d Heiligen aus dei Kirche ins Jenseits schweben zu lassen. Auch hier k a n n die beabsichtigt« Wirkung nur von dem in der Mitte des Langhauses gelegenen Blickpunkt aus zur Geltung gelangen, auf den die ganze Konstruktion berechnet ist Von diesem P u n k t e aus erscheint die Verbindung von Kunst- u n d Realraum aber als so vollkommen, daß es fast unmöglich ist, die Absatzstellen zwischen Architektur und Malerei herauszufinden. Auch jenseits der Alper hat Pozzo in der Jesuitenkirche und im Hauptsaale des Liechtensteinschec Gartenpalais zu Wien Beispiele seiner virtuosen K u n s t hinterlassen. Typiscb f ü r den von einer heteronomen Kunst besessenen Jesuiten ist auch sein Selbstbildnis in den Uffizien zu Florenz. 2 Der im Vordergrund sitzende Künstler weist aus dem Bilde herausschauend mit weit ausladender Gebärde den Beschauer auf eine im Hintergrund in schräger Verkürzung auftauchende Scheinarchitektur hin, die absichtlich auf einen anderen Augenp u n k t berechnet ist. Pozzo läßt uns gleichsam hinter seine Kulissen schauen und bewirkt dadurch die persönlichste Fühlungnahme mit dem Publikum, die es geben kann. Als letzter in der Reihe der barocken Deckenmaler soll Giovanni Battista Gaulli (gen. Baciccio) hier Erwähnung finden. Sein Hauptwerk ist die 1683 vollendete Neuausmalung der Kirche Gesù in Rom. I m Langhausgewölbe stellte Gaulli die Anbetung des Namens Jesu dar, während ein Höllensturz der Verdammten über den Rahmen des Gemäldes hinaus in wildem Knäuel in den Kirchenraum hinabzubrausen scheint. 3 Nirgends halten sich die gemalten Figuren an die architektonischen Grenzen, alles gleitet übet R a h m e n , Gurte und Gesimse hinaus. Eine der seltsamsten und kompliziertesten Grenzüberschneidungen nicht n u r des Barock, sondern überhaupt aller heteronomen K u n s t , be1 2

Voss: Barockmalerei, (a. a. 0.) Abb. S. 306. S. 311—13. 8 Voss : Barockmalerei, (a. a. O.) Abb. S. 308. Voss : Barockmalerei (a. a. O.) Abb. S. 320.

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gegnet m a n im Werke des Velazquez. Das b e r ü h m t e Gemälde „Las Meninas" des spanischen Meisters aus dem J a h r e 1656 verbindet Kunstu n d Realraum auf eine bisher noch nicht dagewesene Weise. Der Künstler stellt sich hier selbst dar, wie er an einem großen, n u r von der Rückseite sichtbaren Gemälde arbeitet, während neben ihm zwei Hofdamen sich u m die kleine Infantin Margarita bemühen, das Töchterchen Philipps IV. von Spanien. Die kleine Prinzessin wird in eine zeremonielle H a l t u n g gestellt, zwei Zwerge u n d eine große Dogge vervollständigen den Hofstaat. Der Maler, den Pinsel in der H a n d , die Infantin, die Zwergin, alle schauen gespannt zum Bilde heraus, auf J e m a n d , dem ihre Stellungen u n d Gebärden gelten, der aber im Bilde selbst nicht unmittelbar sichtbar wird. Alle Formen u n d Bewegungstendenzen sind auf diesen P u n k t außerhalb des Bildes bezogen. Wen malt Velazquez, und wem zeigt sich die Prinzessin? Bei genauerem Zusehen entdeckt m a n an der Rückwand des Raumes, in dem der Vorgang spielt, einen Spiegel, in welchem die Gestalten des Königspaares erscheinen. Durch ihre Anwesenheit erklärt sich erst das ganze Geschehen des Bildes. Es zeugt von der ungeheuren Kühnheit barocker Einbeziehung des Realraums in das Kunstwerk, wenn Velazquez die H a u p t f i g u r e n des ganzen Vorgangs auf den S t a n d p u n k t des Beschauers stellt, u n d n u r durch einen Reflex im Bilde selbst sichtbar macht. Diese außerordentlich komplizierte Situation ist nicht etwa als eine zufällig beim Porträtieren des Königspaares von Velazquez als malerisch reizvoll empf u n d e n e Szene zu verstehen, sondern deutet auf einen bewußt suchenden Kompositionswillen hin, da j a der Vorgang so, wie er dargestellt ist, von Velazquez selbst beim Malen nie konzipiert werden konnte. Der Barock war erfinderisch in stets neuen Mitteln ästhetischer Grenzüberschneidung. Und es erscheint deshalb nicht als eine unzulässige literarische Unterschiebung, wenn man, nachdem die Heteronomie dieser Kunst deskriptiv erkannt ist, sagt, der Dienst a m Absolutismus, dem nach der Gegenreformation zweiten konstitutiven F a k t o r der Barockkunst, lasse hier den Abglanz u n d Einfluß des Herrschertums auch in Vorgänge eindringen, an denen der Herrscher selbst unmittelbar nicht teilnimmt. Die gleiche, seltene Art ästhetischer Grenzüberschneidung findet sich auf einem Gemälde des Nicolaes Maes, „Der unartige Trommler", das sich heute in der Sammlung Thyssen befindet. 1 Valentiner setzt das Bild in das J a h r 1656, — zufällig das J a h r , in dem auch die „Meninas" entstanden sind. Bei Maes handelt es sich u m eine Genreszene; in einem Spiegel des Hintergrundes erscheint der Maler selbst bei seiner Tätigkeit. Und wieder erscheint das gleiche Motiv auf Charles Lebruns Bildnis des Kölner Bankiers J a b a c h mit seiner Familie (um 1660) das sich heute im Kaiser-Friedrich1

Valentiner: Nicolaes Maes. Berlin-Leipzig. 1924. Taf. 16. S. 42. Katalog der Sammlung Schloß Rohoncz. München 1930. Taf. 51.

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Museum zu Berlin befindet. Drei ganz verschiedene Künstler, die untereinander in keinem Zusammenbang stehen, wählen hier dasselbe barocke Mittel, die Beziehung des Kunstwerkes zu einem Außerhalb zu dokumentieren, welche auch dort erwünscht war, wo die Bindung an Kirche oder Absolutismus nicht unmittelbar deutlich wird. Das Vorhangmotiv, das uns in den ersten Teilen unserer Untersuchungen für die Tafelmalerei als Auswahlprinzip aus der Fülle des Materials gedient hatte, da an ihm eine rein phänomenologisch evidente und fibelhaft klare Ablesung des Verhältnisses von Kunst- und Realraum zu erzielen war, hat uns bereits im Manierismus und im italienischen Barock im Stich gelassen, so daß wir an anderen Beispielen die Wahrung oder Überschneidung der ästhetischen Grenze nachweisen mußten. Es wurde schon in der theoretischen Einleitung betont, daß die Anwendbarkeit unseres rein ästhetischen, assoziationslos erfaßbaren und reflexionslos erschaubaren Kriteriums nur in gewissen Fällen möglich sei. Und es wurde auch deutlich hervorgehoben, daß besonders bei der in jedem Falle flächigen, d. h. in handgreiflichem Sinne im Kunstraum gebunden bleibenden Malerei ästhetische Grenzverwischungen oft nur durch eine Analyse der Einzelformen verbunden mit einer psychologischen Interpretation aufgedeckt werden können. Wir sprachen einleitend die Hoffnung aus, daß nach einer Exemplifizierung an den für unsere Gesichtspunkte „reinsten Typen" die Frage nach der raumästhetischen Stellung des Kunstwerkes auch dort entschieden werden könne, wo sich eine so fibelhafte und eindeutige Ablesung nicht ermöglichen lasse. Daß es sich bei unseren Untersuchungen nicht etwa um die Aufstellung eines Systems handele, wurde stets betont. Es galt nur, zu versuchen, aus den dazu meist geeigneten Phänomenen eines Stils deskriptiv eine methodisch gesicherte Grundlage zu errichten, von der aus dann die Erscheinungen betrachtet werden können, bei denen man nicht ohne morphologisch-psychologische Interpretation auskommt. Unser Ziel ist erreicht, wenn es uns gelungen ist, an den in unserem Sinne „reinsten Typen" eines Stils voraussetzungslos die ästhetische Haltung klar gelegt zu haben. Ein morphologischer Gesichtspunkt, der jedoch eng mit unserer phänomenologischen Betrachtung der Funktion der ästhetischen Grenze zusammen geht, ist das, was Pinder die „Rahmenverwandtschaft" der Einzelformen genannt hat. Es ist eine Tatsache, daß in allen autonomen Stilstufen das Bewußtsein von der isolierenden Macht des Rahmens in einem solchen Grade konstitutiv bei der Komposition auch der Binnenformen des Bildes mitgewirkt hat, daß eine allgemeine Orientierung an den vier Rahmenkanten stets mehr oder minder nachgewiesen werden kann. In heteronomen Stilen dagegen, wo die Kunstformationen in den Realraum hinaus zudrängen suchen, kann von einer Rahmenverwandtschaft nicht die 200

Rede sein. Der R a h m e n existiert nicht als formbestimmendes Moment. Die Einzelformen gleichen sich der ungestalteten Wirklichkeit an, von der ein Teil zu sein, sie die Illusion erwecken wollen. Daher fallen in der Barockkunst Raumbeginn u n d Bildgrenze nie zusammen. I m Gegenteil: die als nicht existent gesetzte Bildgrenze durchschneidet den dargestellten R a u m möglichst willkürlich, so daß er auch dort als ein Fragment des Realraumes erscheinen m u ß , wo es sich, wie etwa bei der „Amazonenschlacht" des Rubens, u m eine in sich formal zusammengefaßte Figurenkomposition handelt. Der Beschauer wird auf diese Weise mit dem Bildgeschehen in einen engen Realitätszusammenhang versetzt, wie es als klarstes Beispiel bei den „Meninas" des Velazquez zutage t r i t t . Für eine rigoros deskriptive Betrachtungsweise nicht sehr ergiebig ist Rubens. Bei ihm läßt sich in den meisten Fällen die Überschneidung der ästhetischen Grenze nur auf formalpsychologische Weise erkennen. I n seinem Werk kommen selten Vorhänge, R a m p e n , Barrieren, R a h m e n oder ähnliche Motive vor, die eine formalphänomenologische Entscheidung ermöglichen würden. Auch eine in sich so evidente Verbindung von K u n s t u n d Realraum, wie sie durch die kreisenden Engel auf Correggios „ F r a n ziskusmadonna" oder auf den „Meninas" des Velazquez hergestellt wird, gibt es bei Rubens nicht. Der an den vorhergehenden Beispielen geschulte Blick wird jedoch auch hier die Grenzüberschneidungen ohne eine besondere formenpsychologische Analyse in einem abgekürzten Erkenntnisprozeß aufnehmen können. Die grundsätzlich fehlende Rahmenverwandtschaft der Formen und das Auseinanderfallen von Raumbeginn u n d vorderer Bildgrenze weisen den Weg. Immerhin gibt es bei Rubens doch einige Belege, die rein deskriptiv erfaßbar sind. Bei den Skizzen im Prado, die den Triumph des Abendmahls darstellen und in den J a h r e n 1625—28 als Vorbilder f ü r Wandteppiche gemalt worden sind, dringen Figuren und Gegenstände des Bildes an vielen Stellen über die gemalte architektonische U m r a h m u n g hinaus. Die typisch barocke Grenzüberschneidung t r i t t also auch bei Rubens sofort in deskriptiv erfaßbarer Weise auf, wenn n u r ein der formal-phänomenologischen Ablesung entgegenkommendes Motiv zur Verwendung gelangt. I n dem Madrider Abendmahlzyklus u n d vor allem in den dazugehörigen typologischen Paralleldarstellungen aus dem alten Testament, dem „Opfer des alten Bundes" (Althorp, Earl of Spencer) und der „Begegnung A b r a h a m s und Melchisedeks" (London, Herzog von Westminster) kehren auch die charakteristischen Vorhänge u n d Festons wieder. Sie sind hier am Archit r a v der Rahmenarchitektur befestigt u n d werden in deutlichster Weise von Engeln, die aus dem Bilde herausschweben, überquert. Die Gemälde, die nach Rubens' E n t w ü r f e n f ü r die Triumphbögen der Stadt Antwerpen beim feierlichen E m p f a n g des Kardinal-Infanten Ferdinand, 201

des Statthalters der Niederlande, im Jahre 1635 gemalt wurden, sind von einem ausgesprochen illusionistischen Täuschungswillen erfüllt. Die Skizzen des Meisters, die zum größten Teil in der Petersburger Eremitage bewahrt werden, zeugen für die schrankenlose Einbeziehung des Freiraumes in das künstlerische Machtbereich der Festdekoration. Gemalte Nischenstatuen lösen sich aus der Fläche und treten scheinbar dem Beschauer entgegen, Putten strecken ihre Beine aus der Kunstzone heraus. Die Gestalten auf der Wiedergabe des „Janustempels" drohen in heftigem Schwung aus der Bildbühne zu schleudern, und die Schwellen der gemalten Architektur werden oftmals überschnitten. In die Reihe dieser Festdekorationen gehört auch die Darstellung Kaiser Karls V. in der Wiener Akademie. Der Kaiser sitzt, wie ein Denkmal, auf einem Sockel, der von einer halbrunden Nische umschlossen wird. Der Monarch will sich gerade erheben, mit einem Beine steigt er bereits von dem Sockel herab, das Schwert ist aus der Nische herausgezückt: der Eintritt der Gestalt in den Realraum ist für das Auge bereits vollzogen. Und ebenso ist es bei den Porträts Alberts von Österreich und Isabellas von Spanien im Museum zu Brüssel. Auch diese Bilder waren für einen Triumphbogen bestimmt. Die Fürstlichkeiten erscheinen hinter einer profilierten Balustrade, als ob sie auf einem Balkone ständen. Der Erzherzog streckt Arm und Hut grüßend über die den Kunstraum abriegelnde Barriere hinaus, und die Infantin greift mit der Hand über das Geländer. Rubens' „Madonna im Blumenkranze" in der Münchener Pinakothek (um 1620) spiegelt deutlich, bis zu welchem Grade der Barockzeit der Begriff eines abschließenden Rahmens verloren gegangen war. Inmitten eines Engelreigens und eines (von J a n Brueghel d. Ä. gemalten) Blumenkranzes erscheinen Maria und das Kind als Halbfiguren, von einem gemalten profilierten Holzrahmen umgeben, der an einer Cartouche befestigt ist. Die Figuren sind jedoch keineswegs als ein Bild im Bilde gemalt. Im Gegenteil: sie besitzen die gleiche Lebensnähe und den gleichen Realitätsgrad wie die tanzenden Engel. Die Frage, ob hier ein Bild der Madonna oder diese selbst bekränzt wird, bleibt durchaus offen. Der Rahmen ist seines ästhetischfunktionellen Sinnes völlig beraubt und zu einem lediglich dekorativen Motiv im Bilde geworden. Die Heteronomie der deutschen Barockplastik — die Malerei war seit dem 30jährigen Kriege in Deutschland arm an hervorragenden, stilbildenden und stiltragenden Persönlichkeiten — wird in typischer Weise durch die Kunst des Balthasar Permoser vertreten, der, wie alle echten Barockbildhauer im Norden, stark von Bernini beeinflußt war. Bei diesem am Hofe Augusts des Starken in Dresden tätigen Künstler tritt der Absolutismus als kunstbedingendes Element neben einer sich bis ins hohe Alter hinein immer steigernden, bußwilligen Frömmigkeit deutlich hervor. Beide Fak202

toren treffen sich in einer entschlossenen Vernichtung der ästbetiscben Grenze. Die reine Verkörperung absolutistischen Diktats ist Permosers berühmte Apotheose des Prinzen Eugen, heute im Barockmuseum zu Wien. (1718—21).1 Die Gruppe „ist in eine Spiralkurve eingebunden, sie bietet dem Auge keine auch nur irgendwie bevorzugte Schauseite, aus einem Labyrinth von Formen sollen ersj allmählich . . . . Gestalten und Gebilde in dauerndem ruhelosen Umkreisen und Abtasten der Gruppe mit dem Auge erkannt werden. Die plastische Geschlossenheit des Steinblocks ist zertrümmert. Ein malerisches Einbeziehen von Licht und Schatten tritt an ihre Stelle. Aus dem tief zerklüfteten und unterhöhlten Komplex sprühen die mit unerhörter Virtuosität gemeisterten Formationen vielfältig in den Raum hinaus, um gleichzeitig den Raum wiederum in das Gefüge der Gruppe eindringen zu lassen. Der als Herkules durch Keule und Löwenfell allegorisierte Prinz tritt auf die Schulter eines kauernden Besiegten, während ihm eine geflügelte Nike den Strahlenkranz des Siegers entgegenhält, und die den Ruhm verkündende Fama seinen Fuß stützt. Mit lässiger Gebärde verschließt der bescheidene Held jedoch die Mündung der Posaune Bis in die kleinsten Teile ist die Apotheose von symbolischen Zügen erfüllt, die die enge Gebundenheit Permosers an den höfisch-repräsentativen Zweck offenbaren, und die das Dienende derBarockkunst wiederum zeigen. Vom türkischen Halbmond, den die Nike in ihrer Linken hält, bis zu den Medusenschnallen an den Fußknöcheln des Türkenbesiegers, die, wie ein zeitgenössisches Gedicht Ulrich von Königs sagt, die Versteinerung der Feinde beim Anblick des Prinzen symbolisieren sollen, ist alles nach einem um bildkünstlerische Gesetze unbekümmerten Programm durchgeführt. Die formale Hypertrophie fußt letzten Endes auf gedanklicher Überladung. In dem kauernden Besiegten soll, nach alter Überlieferung, der unter der Vielfältigkeit der Aufgabe zusammengebrochene Künstler sich selbst dargestellt haben. Er weist auf eine Pergamentrolle mit den Worten: „Du bist Marcell" und regt dadurch den Beschauer zu einem Vergleich des Prinzen Eugen mit dem römischen Helden an. So wird auch hier die ästhetische Grenze autonomer Kunst, . . . . durch die entschiedene Wendung an das Publikum in typisch barocker Weise durchbrochen." 2 Ebenso empfänglich, wie für eine höfische, war Permosers Kunst für eine kirchliche Bedingtheit. In welchem Maße das Religiöse die Kunst des Meisters zu heteronomisieren vermochte, beweist sein letzter Stil, der auf die Periode einer gewissen Abgeklärtheit, Beruhigung und Distanziertheit folgte. Eine unerhörte religiöse Leidenschaft brach plötzlich hervor. Wir wissen, daß im Jahre 1725 der 74jährige Künstler zu Fuß von Dresden über Salzburg nach Rom wallte. Auf dieser Reise 1 2

Michalski: Balthasar Permoser. Frankfurt a. M. 1927. Abb. 67, 68. Michalski (a. a. 0.) S. 18 f.

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hat er in „rot gesprenktem" Untersberger Marmor die Gestalt eines Schmerzensmannes, jenes alte Motiv der heteronomen deutschen Kunstphasen, gemeißelt, die wahrscheinlich mit der Figur im Schloß Moritzburg bei Dresden identisch ist. Der rot gefleckte Marmor erweckt unwillkürlich die Illusion blutüberströmten Fleisches, „die qualvoll gebrochene Silhouette mit den stechend spitz herausdrängenden Ellenbogen vereinigt sich mit dem gewaltsam vorgepreßten Brustkorb und dem zurückgeworfenen Leidenshaupt zu erschütternder Wirkung." 1 Wie in der Plastik des vierzehnten Jahrhunderts, werden auch im Barock Mittel verwandt, welche an die des Panoptikums grenzen, um der Bezogenheit der Kunst auf ein Außerhalb Ausdruck zu verleihen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß trotz der grundsätzlichen Bilderfeindlichkeit des Protestantismus und seiner Bindung an Schrift, Wort und Predigt, die Werke protestantischer Künstler dennoch völlig den heteronomen Charakter des herrschenden Stils annehmen können. Das ist auch in Holland im siebzehnten Jahrhundert der Fall. Aus der gegenreformatorischen und absolutistischen Strömung des übrigen Europa emanzipierte sich hier das reiche und mächtige Bürgertum. Und wenn auch in heftigem Gegensatz zu Spanien und zu den südlichen, katholischen Niederlanden die reformierte, calvinistische Gesinnung verteidigt wurde, so blieb doch die allgemeine geistige Orientierung an den bestimmenden europäischen Phänomenen der Zeit, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, bestehen. Für die Kunst war es im Grunde gleichgültig, ob sie in den Dienst eines die Produktion bestimmenden Fürsten oder einer breiten, kapitalistischen Bürgerschicht trat, die in sich ein ebenso homogenes Kulturzentrum verkörperte. Bei der holländischen Malerei des Barock sind wie wieder in der Lage, die raumästhetische Stellung des Kunstwerkes an der typischen Verwendung des Vorhangs abzulesen. In erster Reihe ist hier Honthorsts 1624 datiertes Gemälde „Das Konzert" in Paris zu nennen (Abb. 39). In dem auf eine Untersicht hin komponierten Bilde erscheint eine Gruppe musizierender Frauen hinter der Brüstung eines Balkons. Von oben hängt zu beiden Seiten in gewohnter Weise ein Vorhang in die Szene hinein. Am oberen Rande des Bildes scheint die ideale Vorderebene mit der Zone des Vorhangs zusammenzufallen. Zwei geflügelte Putten mit Lorbeerzweig und Kranz schweben jedoch aus der Tiefe bereits über den abgrenzenden Vorhang hinaus, der auch von den Köpfen der Musikantinnen vielfach überschnitten wird. Die eine der Frauen sitzt auf der Brüstung, über die der breite Bausch ihres Rockes herüber fällt, und scheint greifbar nahe in den Realraum hinein zu ragen. Auch die Notenblätter gleiten über die Rampe ins Diesseits. Honthorst, der lange in Italien als Schüler des Caravaggio 1

Michalski (a. a. O.) S. 22. Abb. 88, 89.

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tätig war, m u ß als das wichtigste Bindeglied zwischen dem italienischen und dem holländischen Barock angesehen werden. Das Damenbildnis des Bartholomäus v a n der Heist aus dem J a h r e 1652 in der Gemäldegalerie zu Dresden repräsentiert in reinster F o r m die heteronomisierende Macht des reichen Bürgertums. (Abb. 45). Die Dargestellte greift hier selbst in die F a l t e n des leuchtend grünen Seidenvorhangs, der als stärkster farbiger Akzent im Bilde seine potentielle Bedeut u n g als vom Beschauer trennende Schicht doppelt deutlich zur Schau t r ä g t . Die üppigen Formen der F r a u drängen jedoch vor den Vorhang hinaus, der saturierte Reichtum eines geordneten bürgerlichen Lebens, dessen Ausdruck dieses Bild gilt, soll durchaus in unmittelbaren Realitätszusammenhang mit dem Beschauer treten. Das Autonomieproblem entrollt sich in seiner ganzen Breite bei einer Betrachtung der Entwicklung R e m b r a n d t s . Von einer psychologischen Interpretation des Gehalts ausgehend ist der starke religiöse Geist seiner K u n s t stets hervorgehoben worden. So sagt Weisbach: „ E s gibt K u n s t werke von starker individueller Religiosität, die ohne Zusammenhang mit einer offiziellen Kirchlichkeit stehen", u n d k o m m t zu dem Schluß, d a ß im Barock in formaler Hinsicht kein wesentlicher Unterschied zwischen katholischer und protestantischer K u n s t vorhanden sei. 1 U n d Pinder betont, d a ß „ R e m b r a n d t s stark bewegte, alttestamentliche Bilder in den späteren dreißiger J a h r e n („Blendung Simsons" in F r a n k f u r t ) in der Zeitfarbe gemeinsamer Mittel und T h e m e n protestantische Parellelen zu den grausig-glanzvollen katholischen Martyrien des R u b e n s " sind. 2 I n welchem Grade der gegenreformatorische Geist auch in die protestantische K u n s t übung einzudringen vermochte, bewies die Inschrift an der lutherischen Kirche zu Bückeburg. Von neuem werden die Worte Treitschkes b e s t ä t i g t : „Die Notwendigkeit der großen Wandlungen des historischen Lebens erscheint d a n n am anschaulichsten, wenn sie durch widerwillige Werkzeuge vollstreckt werden." Es ist begreiflich, daß Carl N e u m a n n es versucht h a t , das religiöse Element in der K u n s t Rembrandts, das der Bildfeindlichkeit seines protestantischen Glaubens so widerspricht, von der Mystik J a k o b Böhmes herzuleiten. Wie dem auch sei, m a n ist sich stets der religiösen, außerästhetischen Bindung der K u n s t R e m b r a n d t s bewußt gewesen. Wie gelangt n u n diese interpretatorisch erschlossene Heteronomie innerhalb unserer formalphänomenologischen Gesichtspunkte zum A u s d r u c k ? An zwei Beispielen wird sich auf methodisch legitime Weise die Antwort geben lassen. I m J a h r e 1639 wurde Raffaels berühmtes P o r t r ä t des Grafen Baldassare Gastiglione in Amsterdam versteigert. R e m b r a n d t sah das Gemälde und 1 2

Weisbach: Barock ala Kunst der Gegenreformation, (a. a. O.) S. 2. Pinder: Das Problem der Generation, (a. a. O.) S. 60.

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fixierte seinen Eindruck in einer Federzeichnung, die sich heute in der Albertina zu Wien befindet (Abb. 43). Durch eine Beischrift brachte er zum Ausdruck, daß auf ihn vor allem die Haltung des Bildnisses, die Einspannung in den Rahmen, einen Eindruck gemacht hatte. Die Federzeichnung wahrt dementsprechend, wie das Vorbild Raffaels, streng die ästhetische Grenze, obwohl sie durch die Verstärkung der Hell-Dunkelkontraste und durch die Schrägstellung des Baretts in formengeschichtlicher Hinsicht bereits eine Umwertung ins Barocke vornimmt. Trotz der ausdrücklichen Betonung der Rahmenbezogenheit der Formen wird der Niederschlag dieses künstlerischen Eindrucks im Werke Rembrandts später dennoch in einem ganz abweichenden Sinne umgeformt. Sowohl das radierte Selbstbildnis von 1639 (B. 21), wie (im Gegensinn) das gemalte von 1640 in der Nationalgalerie zu London wiederholen die Stellung, Haltung und vor allem das Bewegungsmotiv des Armes vom Castiglioneporträt Raffaels. (Abb. 44). Während dieses aber, was Rembrandt so gut empfunden hatte, in idealer Ferne, aus jedem Realitätszusammenhang isoliert blieb, war es dem Künstler des Barock ein Bedürfnis durch eine hinzugefügte Brüstung über die der pompöse Ärmel beide Male in mächtiger Kurve hinausragt, die Ichbezogenheit und damit die Heteronomie seiner Kunst anzudeuten. Es ist richtig beobachtet worden, daß hier auch Eindrücke von Tizians Porträt des sogenannten Ariost (1506—08), das sich zu Rembrandts Zeiten in Holland befand (heute in der Londoner Nationalgalerie), von Rembrandt verarbeitet worden sind. Vor allem findet sich, bei einer verwandten Bewegung des Körpers, hier schon die Brüstung, auf welcher der Arm des Dargestellten aufliegt. Doch der abschließende Rand der Brüstung wird bei Tizian streng gewahrt, wie es für ein Renaissancewerk selbstverständlich ist: Arm und Ärmel bleiben deutlich im Kunstraum gebannt. Ein zweites Beispiel für die Heteronomie der Kunst Rembrandts ist das berühmte Selbstbildnis des Künstlers mit seiner Gattin Saskia aus der Mitte der dreißiger Jahre, das heute in der Gemäldegalerie zu Dresden bewahrt wird. Hier begegnen wir einer typisch bürgerlichen Emanzipation aus dem Themenschatz des katholischen, gegenreformatorischen Barock. Es handelt sich um eine Verwandlung jener Szene aus der Geschichte des verlorenen Sohnes, die den jungen Prasser in lockerer Gesellschaft zeigt. Rembrandt stellt sich hier selbst dar, wie er seine junge Gattin, einer Beute gleich, auf dem Schöße hält. Lachend wendet er sich mit erhobenem Glase in jäher Wendung zum Bilde heraus — auch Saskia dreht ihren Kopf, — und trinkt dem Betrachter zu, als wolle er sich dessen Zustimmung zu seiner Wahl versichern. Jedoch auch, wenn man alle Interpretation beiseite läßt, bleibt die rein deskriptiv erfaßbare Tatsache bestehen, daß alle Gebärden des Bildes auf ein Außerhalb bezogen sind. Daher ist es besonders bezeichnend, daß diese als Doppelporträt auftretende Komposition in ihrer ge206

samten Haltung noch deutlich als mit einer religiösen liegende verbunden erscheint, aus der die allerdings weltlichste Episode herausgelöst worden ist. Die Geschichte des verlorenen Sohnes kam den zur Entfaltung drängenden Tendenzen der bürgerlichen Kunst Hollands sehr entgegen. Und es ist eine lohnende Aufgabe, zu verfolgen, wie aus dem Motiv des verlorenen Sohnes als Schweinehirt sich allmählich das selbständige Tierstück entwickelt hat. Obwohl das Kultbild aus der protestantischen Kunst verbannt ist, kann sie doch zum mindesten einen, ikonographischen Halt an der biblischen Geschichte nicht entbehren. Bei Rembrandts Porträts eine6 Gelehrten in Petersburg (1631) und des Marten Looten (1632) in Londoner Privatbesitz fällt es auf, daß die Dargestellten mit geöffneten Mündern zum Bilde herausreden. Gern zeigt auch der Rembrandt der Frühzeit „seine Figuren am offenen Fenster oder in einer Türe oder läßt sie die Hand dem Beschauer entgegenstrecken. Diese Kunstgriffe, die auf starke Illusion ausgehen und daher den geistigen Ausdruck leicht etwas beeinträchtigen, verschmäht er später." 1 Um 1640 igt aus formalen Gründen von jeher ein großer Wendepunkt in der Kunst Rembrandts erblickt worden. Auch wir müssen hier, ohne jede psychologische Wertung, an formalphänomenologischen Kennzeichen die Wandlung zu einer autonomen Kunstauffassung erkennen, was in ästhetischer, wenn auch vielleicht nicht in formengeschichtlicher Beziehung einen Bruch mit den Zielen und Bedingungen des Barock bedeutet. Es handelt sich also wieder um eine relative formengeschichtliche Konstanz, die trotzdem mit einer gleichzeitigen ästhetischen Abkehr verbunden ist. Das bedeutsamste Zeugnis der neuen lebensgeschichtlichen Isolierung der Kunst Rembrandts ist die „Heilige Familie" in Kassel aus dem Jahre 1646. (Abb. 49). Rembrandt malt die heilige Nacht als Bild im Bilde. Ein breiter geschnitzter Barockrahmen umfängt die Szene, und, nicht genug, die Darstellung wird quer von einer Stange durchschnitten, von der ein Vorhang herabfällt, wie er damals oft zum Schutze vor die Bilder gehängt wurde. Nur zwei Drittel der Szene gibt der Vorhang frei, ein Drittel bleibt verdeckt, so daß die trennende ästhetische Funktion der Draperie deutlich in Erscheinung tritt. Franz Roh sagt richtig, ohne allerdings die prinzipielle Bedeutung zu erkennen, das Zimmer erscheine als „ein Unbetretbares, als bloßes Traumgesicht an einem Stückchen Wirklichkeit entfaltet." Er betont gleichzeitig, daß jeder Tiefendrang in der Komposition ausgelöscht sei. „Wie Kind und Mutter ist das Vorn und Hinten des Raums einander nahegebracht, nur seitlich scheint Erdehnung zugelassen. Das wenige Licht nimmt auch nur seitlichen Verlauf und steckt nicht etwa Zimmertiefe ab."2 1 a

Bode: Die hol], u. vlaem. Malerschalen. Leipzig 1917. S. 26. Roh: Holländische Malerei, Jena 1921. S. 39.

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Es ist versucht worden, gerade in Rembrandts kasseler Bilde enge Beziehungen zu der gleichzeitigen Amsterdamer Bühne aufzudecken. 1 „Zwischen 1638 und dem Jahre 1665, in dem J a n Vos den italienischen Aufbau der (je sieben) Seitenkulissen und des in dreifach verschiedener Tiefe aufstellbaren Hintergrundes einführte, sah die Amsterdamer B ü h n e . . . . folgendermaßen aus: Zwei durch Türen verschließbare Aufgänge führten rechts und links zu einem erhöhten breiten Raum, dem hellen Proszenium. Hinter diesem erhob sich der Szenenbau, dessen verschiedene Öffnungen durch Vorhänge zu schließen waren, sowohl das große breite Portal in der Mitte, das die intime, dunklere Innenbühne umrahmte, wie die darüber befindliche Oberbühne und die daneben zwischen Säulen befindlichen Ausblicke in die Landschaft." Rembrandts Gemälde soll nun dementsprechend die Anlage einer Innenbühne mit dem Innenbühnenvorhang wiederspiegeln. Auch die Beleuchtung wird als ein künstliches Bühnenbild gedeutet. Wir möchten hier allerdings lieber an eine Übernahme des Motivs von den schützenden Vorhängen denken, die in den Bürgerhäusern vor kostbaren Gemälden angebracht wurden. So hängt zum Beispiel auf Metsus „Briefleserin" (Sammlung Sir Otto Beit, London) ein solches Bild an der Wand des dargestellten Raumes. 2 Wie dem aber auch sei: die isolierende ästhetische Bedeutung des Vorhangs bleibt stets die gleiche. Rembrandt strebt gleichzeitig mit der Verinnerlichung seines Alterstils, der formalen Beruhigung und der Rahmenverwandtschaft der Formen einer neuen künstlerischen Autonomie zu. Auch auf dem kopenhagener Emmausbild aus dem Jahre 1648 befindet sich am linken Bildrande in ähnlicher Weise ein Vorhang, der ganz vor die unbetretbare und ideal distanzierte Szene gezogen werden könnte. Als sehr typisch erscheint es in diesem Zusammenhange, daß Rembrandt kurz vor seinem Tode aus der Legende des verlorenen Sohnes die Rückkehr und Versöhnung mit dem Vater in jenem unvergleichlichen, von magischem, allen Realitätszusammenhang aufzehrendem Licht erfüllten Bilde in Petersburg herausgreift, das in mehr als einem Zug an die unwirklichen und distanzierten Schöpfungen des späten Manierismus erinnert. Gleichzeitig wandelt sich seine Auffassung eines Liebespaares zu jenem stillen Beieinander auf dem amsterdamer Gemälde der „Judenbraut", wo der Mann den Herzschlag der Frau zu belauschen scheint, ernst, keusch und unbekümmert um jede Außenwelt. Die Entwicklung von dem dresdner Doppelporträt zu diesen beiden Gestaltungen deckt den inneren Weg Rembrandts auf. Nichtsdestoweniger muß betont werden, daß dennoch auch im Spätstile des Meisters eine Reihe von Beispielen ästhetischer Grenzüberschneidung Wustmann: Rembrandt und die Bühne. (Seemanns „Die Galerien Europas") S. 57ff. * Bode (a. a. O.) Abb. S. 95. 1

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vorkommt. Das Bildnis eines jungen Mädchens, wahrscheinlich der Hendrickje Stoffels, aus der Zeit um 1654, heute im Besitz von Lord Ridley in London, zeigt in ähnlicher Weise, wie wir es schon bei Bartholomäus van der Heist sahen, ein Mädchen, das selbst in die Falten des die Bildbühne potentiell abschließenden Vorhangs greift, um sich zur Geltung zu bringen. Gleichzeitig greifen die Finger der Dargestellten über die mit der Vorderfläche des Bildes abschließende Brüstung hinaus. Und ebenso ragen die Seiten des Heftes, in dem Rembrandts kleiner Sohn Titus schreibt, auf dem 1655 datierten Bilde beim Earl of Crawford in Haigh Hall, Wigan, über die abriegelnde Fensterbank hinaus. Auch das berühmte Bild der Hendrickje Stoffels aus dem Ende der fünfziger Jahre im berliner Museum gehört hierher. Die junge Frau präsentiert sich den Blicken des Beschauers in einem Fensterausschnitt, und ihr Ärmel gleitet in den Realraum hinüber. Bei Bildnissen, die durch die Wünsche des Auftraggebers oder des Dargestellten eher in gewissem Sinne zu einer künstlerischen Heteronomie neigen, hat auch der späte Rembrandt sich ästhetisch nicht von der Bedingtheit des Barock frei machen können. Er war jedoch der Erste, der im 17. Jahrhundert überhaupt wieder in bewußter Weise einer autonomen Kunstrichtung den Weg bereitet hat. Ähnlich wie bei Rembrandt tritt auch bei Gerard Dou um 1645 eine entschiedene Distanzierung des Bildgeschehens auf. Auf seinem Selbstbildnis im Rijksmuseum zu Amsterdam stellt der Künstler sich dar, wie er aus einem Fenster herausschaut, über dessen Brüstung ein Buch ragt, in dem er gerade geblättert hat. (Abb. 46). Die sich hierin andeutende Möglichkeit einer Überschneidung der ästhetischen Grenze wird jedoch bei Dou wieder entwertet durch einen beiseite geschobenen Vorhang, der an einer quer vor dem Fenster befestigten Stange hängt. Zugezogen, würde er das ganze Bild verdecken. Es ist, als ob Dou dadurch daß er zuerst die Durchbrechung der Distanz zum Beschauer andeutet, dann aber die Bildbühne durch den Vorhang wieder abriegelt, in bewußter Weise den hergebrachten, barocken Realitätszusammenhang mit der Außenwelt in seiner Kunst korrigieren und vernichten wollte. Dies erscheint als doppelt wahrscheinlich, da der Vorhang, gegenständlich ganz sinnlos, an der Außenseite des Hauses angebracht ist. Allerdings bleibt Dou nicht immer dieser autonomen Kunstauffassung treu. Später, um 1660, malt er auf seinem Stilleben in Dresden eine Vorhangskomposition, in welcher die durch den Vorhang konkret gemachte, ideale vordere Ebene von einem über Eck gestellten Buch und einer vor der Vorhangsschnur hängenden Uhr wieder durchbrochen wird. In dieser Generation gelangt die von neuem entstehende Autonomie der Kunst erst gelegentlich zur reinen Gestaltung. Der Sitte, den Schutzvorhang vor der als Bild im Bilde doppelt in die Ferne gerückten Darstellung aus ästhetischen Gründen mitzumalen, ae14

Michalski.

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gegnet m a n in der holländischen K u n s t noch öfter. Des Carel v a n der P l u y m Parabel von den Arbeitern im Weinberge in der Sammlung Cook zu Richmond wird von einer Vorhangsstange, deren Ansatzpunkte jenseits der Rahmengrenzen liegen, überquert. Der Bildraum wird durch den Vorh a n g potentiell abgeschlossen. Die Felsenlandschaft des Abraham Hondius, ehemals im berliner K u n s t handel, ist zu zwei Dritteln von einem gemalten Vorhang verdeckt, der, u m seine isolierende Bedeutung noch zu verstärken u n d den Realitätswert der Landschaft gänzlich zu vernichten, einen dunklen Schatten auf die Leinwand hinter sich wirft. (Abb. 50). Ein typisches Beispiel dieser Art findet sich bereits im Werke des der älteren Generation zugehörigen, ungefähr u m 1600 geborenen Gerard Houckgeest. Auf seinem nach J a n t z e n vermutlich 1654 entstandenen Architekturbild, das die Delfter Oudekerk mit dem Kanzelpfeiler darstellt (Rijksmuseum, Amsterdam), ist der Ausschnitt von einem gemalten braunen R a h m e n umschlossen, Ober den eine Ringstange l ä u f t , von der am rechten Bildrande ein grüner Vorhang herabfällt. (Abb. 47). Hierdurch wird bewußt verhindert, den dargestellten R a u m in irgendeiner Weise als ein Fragment des Realraums aufzufassen, obwohl der Raumbeginn keineswegs mit der vorderen Bildebene zusammenfällt. Damit läuft bei Houckgeest eine von J a n t z e n ausführlich gekennzeichnete, eigentümlich flächige Konstruktion parallel. „Die Fluchtlinien vereinigen sich nicht mehr im Augenp u n k t , sondern laufen nach zwei verschiedenen, zu beiden Seiten der S t a t h m e befindlichen Fluchtpunkten. Dadurch entsteht eine eigentümliche Dispersion des Raumes, ein gewisses Abfluten des Raumes nach beiden Seiten hin. Der Raum dehnt sich gewissermaßen hinter die seitlichen Bildgrenzen aus." 1 Eine Verbindung nach vorn zum Realraum hinüber wird auf diese Weise ausgeschlossen. Wenn aber J a n t z e n von v a n Vliets Gemälde der Oudekerk in Delft mit dem Grabmal des Piet Hein (Richmond, Sammlung Cook) sagt: „Van Vliet h a t hier die Distanz so klein genommen, wie wir es sonst selten bei ihm sehen. Aber das Experiment glückte ihm. Wir glauben mit zwei Schritten über den Bildrand diesen R a u m betreten zu können, so eindringlich wirkt das optische Erlebnis," so übersieht er vollkommen die auch auf diesem Bild durch den an einer Stange hängenden, gerafften Vorhang, betonte Isolierung vom Beschauer. Gerade das komplizierte Ineinander der Distanzierung eines Nahraumes durch die konkrete u n d funktionelle Betonung der Grenze ist der Sinn dieser Kompositionen. 2 J a n t z e n deutet die Entwicklung des Raumes in der holländischen K u n s t überhaupt in genau umgekehrter Richtung als wir. E r sagt von der Frühzeit des 17. J a h r h u n d e r t s : „Auch gegen den Beschauer wird plastische Ge1 Jantzen: Das niederländische Architekturbild, Leipzig 1910. S. 96. * Jantzen (a. a. 0.) Abb. 50 a. S. 103.

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schlossenheit des Raumes erstrebt. Die vordere Kaumzone wird nicht nur nach dem Hintergrund zu isoliert: sie drückt sich gegen die Bildebene platt wie gegen eine Glaswand. Die Respektierung dieser „unsichtbaren Vorderfläche" bleibt Oberhaupt lange Zeit wichtig f ü r die Raumwirkung, auch über die erste Entwicklungsphase hinaus. F ü r die f r ü h e Landschaft sei zunächst auf Esaias v a n de Velde verwiesen. E s läßt sich beobachten, wie bei ihm die Bäume zu den Seiten des Vordergrundes sich völlig in die Fläche umlegen, parallel der Bildebene, so auf Bildern wie der „ F ä h r e " von 1622 im Rijksmuseum und dem „ J a h r m a r k t " von 1625 der Sammlung Six. Bei großfigurigen Bildern, wie sie die Utrechter etwa malten, entspricht dies in die Fläche umlegen der Profilstellung der handelnden Figuren (Honthorst)." 1 W e n n diese Beobachtungen auch im Einzelnen stimmen mögen, u n d wenn gewiß besonders in der Landschaftsmalerei die Keime der neuen Autonomie sich früher zeigen, als auf anderen Gebieten, so muß doch bet o n t werden, daß, wie wir es j a auch gerade bei Honthorst sehen konnten, die grundsätzliche Verbindung von Kunst- u n d Realraum gerade zu Beginn des Jahrhunderts noch in voller Blüte steht. Noch entschiedener m u ß aber J a n t z e n widersprochen werden, wenn er gerade als Kriterien des neuen Raumstils in den fünfziger J a h r e n des J a h r h u n d e r t s das „ S t r e b e n nach Raumentwicklung aus dem Bilde heraus", nach einem „Fallenlassen der Schranken, die den Beschauer von dem dargestellten Freiraum t r e n n e n " , aufstellt. Durch die häufige Übereckstellung des Innenraums bei Vermeer wird der Beschauer nach der Ansicht Jantzens gezwungen, „das fehlende Raumdreieck, in dessen weitest vorgeschriebenem Winkel er selbst steht, sich zu ergänzen und wird damit in engste Verbindung zur Darstellung gebracht." 2 Durch die Aufrollung dieser Frage werden wir von selbst zu einer Betrachtung der K u n s t des J a n Vermeer v a n Delft geführt. Schon bei Vermeers f r ü h e m Gemälde der „ K u p p l e r i n " aus dem J a h r e 1656 in der Dresdner Gemäldegalerie ringt sich die ästhetische Einstellung des Künstlers durch. Diese Szene, die, ebenso wie R e m b r a n d t s P o r t r ä t mit Saskia, ikonographisch aus der Legende des verlorenen Sohnes herausgewachsen ist, offenbart deutlich die Unterschiede gegenüber der älteren K u n s t . Hermann Voss sieht in dem „befremdlichen Gedanken, die Szene hinter die Brüstung eines Balkons zu verlegen einen in Utrecht besonders beliebten Kunstgriff, um eine b ü h n e n h a f t e Greifbarkeit hervorzubringen" und weistin diesem Zusammenhange ausdrücklich auf Honthorsts „ K o n z e r t " im Louvre hin. 3 Wenn die Ableitung des Motivs von der Utrechter Schule formengeschichtlich auch zu Recht besteht, so m u ß doch die entgegengesetzte ästhetische Funktion doppelt unterstrichen werden. Von „bühnen1 2 3

Jantzen (a. a. O.) S. 133. Jantzen (a. a. 0.) S. 149. Voss: Vermeer und die Utrechter Schule. Monatshefte für Kunstwissenschaft. 1912. 14*

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h a f t e r Greifbarkeit", eigentlich einer contradictio in adjecto, k a n n bei Vermeer nicht die Rede sein. Die Kavaliere, die Kupplerin u n d das sich gleichmütig verkaufende Mädchen erscheinen hinter der Brüstung, die v o n schweren Stoffen bedeckt ist, wie abgeriegelt von der Außenwelt. Keine Form ragt über die trennende Zone hinaus. N u r in der Art, wie der eine Herr sein Glas hebt und zum Bilde herausschaut, scheint der letzte Nachklang der Zeit lebendig zu sein, die R e m b r a n d t s Doppelporträt entstehen ließ. Dieser Rest eines Realitätszusammenhangs mit dem Beschauer verliert sich jedoch bald bei Vermeer. Bei allen Interieurs des Künstlers, sogar dort, wo ein schräg gestelltes Vordergrundsmöbel a u f t r i t t , scheint der Beginn des dargestellten Raumes, zumindest aber des Raumkompartimentes, mit der Grenze des Bildes wieder zusammenzufallen, so d a ß m a n keineswegs angewiesen wird, den K u n s t r a u m als Fortsetzung oder Teil des Realraums zu sehen. I n deutlichster Weise t r i t t dies auf der dresdner „Briefleserin 44 hervor, wo wiederum ein vor der Szene aufgehängter Vorhang die vordere Bildebene in konkreter Weise anschaulich m a c h t und dadurch eine fibelh a f t e Ablesung des Verhältnisses von K u n s t - und Realraum gestattet. (Abb. 48). Die Ringstange überquert ohne sichtbare Befestigungspunkte das ganze Bild. Der grüne Vorhang, jenes zauberhafte Stück Malerei, breitet sich vor einen Teil des Bildraumes u n d auch dort, wo er den Durchblick frei läßt, übernimmt der Tisch mit dem sich türmenden Stilleben die abschließende Rolle. Die flächenhafte Gliederung einer solchen Komposition ist stets betont worden. Die ins Profil gedrehte Frauengestalt, die Zurückführung des Raums auf Ebenen, „die seitlichere Dehnung des Stillebens, das kaum noch Raumvorstoß bedeutet", 1 alles ergänzt von der morphologischen Seite aus unsere deskriptiv gewonnene ästhetische Erkenntnis. Pinder spricht von der Rahmenverwandtschaft der Einzelformen als von einem spezifischen K u n s t m i t t e l der Vermeergeneration. „Der R a u m , die ganze Komposition wird rahmengerecht, mit rahmenverwandten Geraden gegliedert, ein klarer Bildraumkasten von kristallischer Klarheit. Barocke Nachklänge, etwa bei Vermeer, im Vordergrunde aber nur, u m das „eigentliche" Bild als „zweites Bild" im Hintergrunde, wie in einem gemalten Bezirke fernzurücken. Die Figur gerne in Rückenansicht anonym gemacht, am besten im Spiegelbilde unwirklich entfernt." 2 Auch Eisler hebt hervor, wie noch bei dem f r ü h s t e n Gemälde Vermeers „Christus bei Maria und Martha' 4 Tiefe u n d Fläche im K a m p f e liegen, bis schließlich die Fläche siegt. 3 Schon die „Diana 4 4 des Mauritshuis hat keine Raumabsicht mehr. Vermeer greift entschlossen zum Ornament. Die Gründe 1

Roh (a. a. O.) S. 62. Pinder: Das Problem der Generation (a. a. O.) S. 61. " Eisler: Der Raum bei Jan Vermeer. Jahrbuch d. allerhöchsten Kaiserhauses. X X X I I I . Wien, 1916. 1

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werden immer mehr in flacher Keihung paralleüsiert. Aucü psycüoiogiscn ist die von uns formalphänomenologisch erkannte Isolierung hervorgehoben worden. „Die Einzelfigur, die ihre Aufmerksamkeit auf sich, ihr geringfügiges Tun und ihr versonnenes Innenleben richtet, hält auch die seelische Spannung im einfachen, in sich beschlossenen Bildraum." 1 Eisler fügt hier einschränkend in einer Anmerkung hinzu: „Mit wenigen Ausnahmen, die sich auch sonst als bestelltes Werk, der vornehmen Bürgerschicht entsprechend, zu erkennen geben. Dann blickt die Dame aus dem Bild, ihre Aufmerksamkeit korrespondiert mit dem Beschauer und seinem Räume." Und von dem am meisten in die Tiefe treibenden Bilde, der „Musikstunde" in Windsor, sagt Eisler, es widerspreche Vermeers eigenstem Wesen. „Der Delfter Bürger als Auftraggeber drängt seinen Hausrat und das Gesellschaftliche auf." So muß auch Vermeer noch gewisse Konzessionen an den Barockgeist der älteren Generation machen. Entscheidend ist aber, daß auch Eisler bereits die Umsetzung einer soziologischen Bedingtheit der Kunst in spezifisch ästhetisch autonome Erscheinungen bei Vermeer erkannt hat. Im „Liebesbrief" des Amsterdamer Rijkmuseums wird die eigentliche Szene, wie ein Bild im Bilde, in die Ferne gerückt. Ein absichtlich neutraler Vordergrund und ein in das Bild hineinhängender Vorhang hemmen den Tiefenzug. Sogar da, wo Vermeer inhaltlich vom Geiste der Gegenreformation und des italienischen Barock berührt zu sein scheint, wie in der Allegorie des neuen Testaments (vormals in der Sammlung Bredius, Haag), gewährleistet er die Autonomie des Bildraumes durch den typischen Vorhang, der malerisch und koloristisch den stärksten Akzent des Bildes darstellt. Eisler sieht in diesem Charakter der Kunst des Vermeer die ersten Anzeichen eines Klassizismus. Obwohl in Holland der Barock, besonders auch in der Architektur, unmittelbar in einem Klassizismus ausläuft, möchten wir hier gleichzeitig eine im Schöße des Barock entstehende ästhetische Wandlung zum Rokoko erkennen, die diesen Stil zwar nicht in formengeschichtlicher, aber in ästhetischer Hinsicht vom Barock grundlegend loslöst. Was bei Rembrandt noch zaghaft und nicht mit letzter Konsequenz um Ausdruck ringt, war dem jüngeren Künstler Vermeer, in reiner Form zu gestalten vergönnt. Bevor wir uns jedoch der Kunst des Rokoko zuwenden, müssen noch einige Parallelerscheinungen des Vermeer betrachtet werden, die beweisen, daß es sich bei ihm um keinen vereinzelten Fall handelt. Pieter de Hooch, der zweite delfter Hauptmeister, offenbart das gleiche Gefühl für die Distanz des Kunstraumes in seinem „Das Menuett" genannten frühen Gemälde in Kopenhagen.2 Auch hier fällt von einer das ganze Bild überquerenden Ringstange ein Vorhang herab, der, im Unterschiede zu Ver1 2

Eisler (a. a. O.) S. 269. Valentiner: Pieter de Hooch. „Klassiker d. Kunst". 1929. Abb. 84.

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meer, jedoch wieder nach oben geschlungen wird. Aber auch auf diese Weise ist de Hooch in der Lage, die Bedeutung des Vorhangs als vorderen Abschluß der Bildbühne zu demonstrieren. Bei de Hoochs Ansicht des Bürgermeistersaales im Amsterdamer Rathaus (Julius Böhler, München) ist das Vorhangmotiv in fast gleicher Weise verwendet. 1 Die Bingstange, a n welcher der Vorhang h ä n g t , ist hier allerdings nicht sichtbar. Umsomehr wird es deutlich, daß der Vorhang, der in keiner Weise gegenständlich motiviert ist, nur eine ästhetische F u n k t i o n besitzen k a n n . E r v e r t r i t t auch hier die „parete di v e t r o " , von der bei Leonardo die Rede war. Dementsprechend ist der Bildraum, obgleich er n u r ein Raumteil des dargestellten Saales ist, in sich vollendet u n d abgeschlossen, m a n schaut von außen in ihn, wie in einen Kasten hinein, er k a n n nie als eine Fortsetzung des wirklichen Raumes aufgefaßt werden. Bildgrenze und Raumgrenze fallen zusammen. I n ganz ähnlicher Art k o m m t das Vorhangmotiv bei dem b e r ü h m t e n Wirtshausbild J a n Steens im Haag vor, das aus den sechziger J a h r e n s t a m m t . (Abb. 51). Und bei Steens 1663 datierter „Morgentoilette" im Privatbesitze des Königs von England distanziert ein streng rahmender Türausschnitt die eigentliche, ins Nebenzimmer verlegte Szene zu einem Fernbild. Auf der Türschwelle liegen Noten und eine Mandoline. Die ästhetische Grenze verkörpert sich dieses Mal jedoch nicht in der Schwelle selbst. Diese ist hier nur ein Motiv im Bilde, die Säulen der T ü r u m r a h m u n g treten noch vor sie hinaus. Auf diese Weise muß auch hier von einer strengen Trennung von Kunst- und Realraum gesprochen werden. I n welchem Maße unser raumästhetisches Kriterium seine Bedeutung bis in Zuschreibungsfragen hinein behält, beweist von neuem der Fall Hendrik v a n den Burch. 2 Dieser Künstler, dessen Werke bisher hauptsächlich unter dem Namen Pieter de Hoochs gingen, wird erst jetzt allmählich nach formengeschichtlichen Merkmalen in seiner Eigentümlichkeit herausgearbeitet. I n seinem „ J u n g e n P a a r auf der V e r a n d a " (Colnaghi, London) bringt v a n den Burch eine perspektivisch komplizierte Komposition bei der m a n durch ein geöffnetes Fenster von einem I n n e n r a u m in einen Außenraum hinausblickt. 3 Die K a n t e des Fenstergesimses verkörpert in sich die ästhetische Grenze. Ein Stilleben aus Degen u n d Bandelier ruht im Fensterausschnitt u n d stößt deutlich in den Realraum vor. Allein dieser Zug läßt es als ausgeschlossen erscheinen, das Gemälde dem Vermeer oder dem de Hooch zuzuschreiben. Es muß einem Meister angehören, welcher der neuen Autonomisierung des Kunstraumes noch f r e m d gegenüber steht. 1 s

3

vgl. de R u d d e r : Pieter de Hooch. Paris-Brüssel 1914. S. 104. Valentiner: Ein unbekanntes Meisterwerk der holländischen Genremalerei. Pantheon. 1929. S. 105 ff. Valentiner: Pieter de Hooch. (a. a. 0.) Abb. S. 251 u. S. 243.

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Besonders deutlich wird dies bei dem von Valentiner dem van den Burch zugeschriebenen Gemälde eines Offiziers am Fenster, das von Bode als Vermeer angesehen worden ist. (Versteigerung Robinson, etc. London 1922). Die starke Überschneidung der ästhetischen Grenze schaltet, von allen handschriftlichen und kompositionellen Zügen abgesehen, die Autorschaft Vermeers von vornherein aus.

VI. Frankreich spielt in der Geschichte der Kunst seit dem 17. Jahrhundert eine eigenartige Rolle. Es steht deutlich neben der allgemeinen europäischen Entwicklung: einen dem deutschen, dem niederländischen oder dem italienischen entsprechenden Barock hat es hier in formengeschichtlicher Hinsicht nicht gegeben. Immer wieder überwindet ein dem Franzosen innewohnender Hang zum Klassizismus, zur Ordnung, Klarheit und Rationalität die barocke Formenwelt. Wo, wie bei den früheren Werken des Poussin (Erasmusmarter, Vatikan) oder bei den Skulpturen des Füget eine von innen heraus barocke Formenwelt zur Gestaltung gelangt, handelt es sich nicht um autochthone französische Kunst, sondern um ein Eingehen in den italienischen Barock, was durch die Schulung und den Aufenthalt der betreffenden Künstler in Italien selbst seine Erklärung findet. Wenn daher bei einer ausschließlich formengeschichtlichen Betrachtungsweise der klassizistisch gerichtete Sonderbarock Frankreichs unterscheidend hervorgehoben werden muß, so ist es innerhalb unserer Untersuchungen doppelt bedeutsam, daß in raumästhetischer Beziehung die französische Kunst des 17. Jahrhunderts dennoch mit den allgemeinen Barocktendenzen übereinstimmt. Eine der wenigen Deckenkompositionen Poussins ist das heute im Louvre befindliche Gemälde „Die Zeit befreit die Wahrheit von Zorn und Neid".1 Es stammt aus der Zeit um 1641 und wurde für Richelieu gemalt. Im Jahre 1709 schmückte es das „Grand Cabinet" Ludwigs XIV. im Louvre. Die in perspektivischer Verkürzung gesehenen allegorischen Gestalten werden von einem gemalten, zahnradartig gezackten Ring gerahmt. Die Zorn und Neid symbolisierenden Figuren sitzen auf dem Rande dieses Ringes, während Beine und Gewänder gleichsam in den realen Raum unter sich hineinhängen. Auf diese Weise bezeugt der in seiner Formgebung so typisch klassizistische, dem Barock ferne Poussin, wie außerästhetisch bedingt auch seine Kunst ist. Als charakteristischer Vertreter der hochbarocken Malerei in Frankreich muß Charles Lebrun, der gefeierte Hofmaler Ludwigs XIV., angesprochen 1

W. Friedländer: Nicolas Poussin. München 1914. Abb. 212.

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Besonders deutlich wird dies bei dem von Valentiner dem van den Burch zugeschriebenen Gemälde eines Offiziers am Fenster, das von Bode als Vermeer angesehen worden ist. (Versteigerung Robinson, etc. London 1922). Die starke Überschneidung der ästhetischen Grenze schaltet, von allen handschriftlichen und kompositionellen Zügen abgesehen, die Autorschaft Vermeers von vornherein aus.

VI. Frankreich spielt in der Geschichte der Kunst seit dem 17. Jahrhundert eine eigenartige Rolle. Es steht deutlich neben der allgemeinen europäischen Entwicklung: einen dem deutschen, dem niederländischen oder dem italienischen entsprechenden Barock hat es hier in formengeschichtlicher Hinsicht nicht gegeben. Immer wieder überwindet ein dem Franzosen innewohnender Hang zum Klassizismus, zur Ordnung, Klarheit und Rationalität die barocke Formenwelt. Wo, wie bei den früheren Werken des Poussin (Erasmusmarter, Vatikan) oder bei den Skulpturen des Füget eine von innen heraus barocke Formenwelt zur Gestaltung gelangt, handelt es sich nicht um autochthone französische Kunst, sondern um ein Eingehen in den italienischen Barock, was durch die Schulung und den Aufenthalt der betreffenden Künstler in Italien selbst seine Erklärung findet. Wenn daher bei einer ausschließlich formengeschichtlichen Betrachtungsweise der klassizistisch gerichtete Sonderbarock Frankreichs unterscheidend hervorgehoben werden muß, so ist es innerhalb unserer Untersuchungen doppelt bedeutsam, daß in raumästhetischer Beziehung die französische Kunst des 17. Jahrhunderts dennoch mit den allgemeinen Barocktendenzen übereinstimmt. Eine der wenigen Deckenkompositionen Poussins ist das heute im Louvre befindliche Gemälde „Die Zeit befreit die Wahrheit von Zorn und Neid".1 Es stammt aus der Zeit um 1641 und wurde für Richelieu gemalt. Im Jahre 1709 schmückte es das „Grand Cabinet" Ludwigs XIV. im Louvre. Die in perspektivischer Verkürzung gesehenen allegorischen Gestalten werden von einem gemalten, zahnradartig gezackten Ring gerahmt. Die Zorn und Neid symbolisierenden Figuren sitzen auf dem Rande dieses Ringes, während Beine und Gewänder gleichsam in den realen Raum unter sich hineinhängen. Auf diese Weise bezeugt der in seiner Formgebung so typisch klassizistische, dem Barock ferne Poussin, wie außerästhetisch bedingt auch seine Kunst ist. Als charakteristischer Vertreter der hochbarocken Malerei in Frankreich muß Charles Lebrun, der gefeierte Hofmaler Ludwigs XIV., angesprochen 1

W. Friedländer: Nicolas Poussin. München 1914. Abb. 212.

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werden. Sein mit Velazquez u n d Nicolas Maes verwandtes K u n s t m i t t e l , durch Spiegelung im Bilde den Realraum in den K u n s t r a u m eindringen zu lassen, ist uns bereits auf dem Gruppenbildnis der Familie J a b a c h begegnet. Lebrun stellt den reinsten T y p eines unmittelbar durch eine übergeordnete Macht heteronomisierten Künstlers dar. ,^Lebrun, der der K u n s t von Paris seinen Stempel aufdrückt, ist nur Erfüller von Ideen, die ein Mächtigerer entwickelt h a t : J e a n Baptiste Colbert, seit 1661 Generalkontrolleur der Finanzen u n d damit an der Spitze des gesamten wirtschaftlichen u n d künstlerischen Lebens von Frankreich stehend." 1 Hier wird die K u n s t zu einem ganz unmittelbaren politischen Wirkungsmittel des Absolutismus. „Mit dem geschickt vorgebrachten Grunde, d a ß Selbständigkeit der Z ü n f t e in der Kunst den Interessen des Throns zuwiderlaufe, wird Anfang 1648 in Paris die „Académie royale de peinture et de sculpture" begründet. Lebrun ist das treibende Moment. Aber erst 1664, als sich Colbert der kränkelnden Institution a n n i m m t , ihr neue Satzungen verleiht u n d sie zum I n s t r u m e n t seiner Kunstpolitik m a c h t , erringt sie ihre das K u n s t leben beherrschende Stellung. Die politische Parallele liegt nahe: absolute Zentralisation unter dem Königtum, als Programm schon von Heinrich I V . aufgestellt, ist möglich, wenn die Sonderkräfte geschwächt oder zerbrochen sind." 2 Der Kunstakademie war die schon 1635 von Richelieu unter der Regierung Ludwigs X I I I . gegründete Académie française vorausgegangen, die den Zweck h a t t e , Sprache u n d Literatur von obenher zu leiten u n d zu einem offiziellen Mittel der Krone zu machen. Kunstgesetze werden rational und durch Majoritätsbeschluß festgelegt, die Akademien üben einen militärischen Zwang auf ihre Mitglieder aus, so daß ihr Regiment mit Recht stets dem des auch in Frankreich eine besondere Blüte erlebenden Jesuitenordens verglichen werden konnte. Dementsprechend begegnet man überall in der Kunst Lebruns, wo die Möglichkeit dazu gegeben ist, der typisch barocken Grenzverwischung. I n der „Apollogalerie" des Louvre (nach 1661) läßt der „peintre du roi" die sechseckigen Rahmen der Deckenfelder durch Teile der Komposition vielfach überschneiden. Besonders die das Königswappen tragenden Engel drängen sich weit über ihre Rahmenfeld hinaus, dem Beschauer entgegen. Am deutlichsten t r i t t diese lebensgeschichtliche Verflechtung des Kunstwerkes zutage in der Dekoration der großen Treppe des Schlosses zu Versailles („Escalier des Ambassadeurs") aus den J a h r e n 1674—78, die heute zerstört und nur in den Stichen Baudets überliefert ist. Hier blickten in einer Weise, die in gewissem Sinne an die Fresken Veroneses in Masèr gem a h n t , aus illusionistisch gemalten Wandöffnungen, die Loggien vortäuschen sollten, allegorische Vertreter der verschiedenen Nationen Euro1 2

Brinckmann: Barockskulptur (a. a. O.) S. 329. Brinckmann : Barockskulptur (a. a. O.) S. 330.

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pas, Asiens, Amerikas und Afrikas über eine B r ü s t u n g gebeugt auf die Treppe der Gesandten herab. Dadurch wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, daß der Einzug in das Schloß des Sonnenkönigs unter der Aufmerksamkeit der ganzen Welt vor sich ging. Auch die Attika des Treppengewölbes öffnete sich in illusionistischer Weise, u m den Realraum durch das Bild hindurch zu erweitern. Auf den Balustraden der gemalten R ä u m e erscheinen, ähnlich wie bei Veronese, P f a u e n , Affen u n d Hähne, die dazu beitragen, einen Realitätszusammenhang mit d e m wirklichen Freiraum vorzutäuschen. Lebruns raumästhetisches Gefühl k o m m t klar in einem Blatt seiner „Devises pour les tapisseries des q u a t r e élémens" (Gravées par Le Clerc) zum Ausdruck. Auf dem „Pour les ballets" b e n a n n t e n Entwurf (Blatt 44) erscheint das als Medaillon gerahmte Bild eines antiken Amphitheaters zwischen den beiseite gezogenen Teilen eines von einer Ringstange herabhängenden Vorhanges. Rechts schaut jedoch der Kopf eines maskierten Komödianten durch einen großen Schlitz der Draperie hindurch, links t r i t t ein Schauspieler hinter dem Vorhang hervor u n d greift in die Falten, in seiner Funktion nahe verwandt den beiden Prophetengestalten, die auf v a n der Goes' „Anbetung der H i r t e n " den Vorhang beiseite zogen u n d durch die Überschneidung der ästhetischen Grenze die Heteronomie der K u n s t im vierten Quattrocento zur F o r m werden ließen. I n den J a h r e n 1679—84 dekorierte Lebrun die „Galerie des glaces" („Grande Galerie") in Versailles und ihre Nebenräume. Hier ist die Überschneidung der ästhetischen Grenze wie im italienischen Barock zu einem selbstverständlichen Kunstmittel geworden. Die Fresken, die die Siegesund Ruhmestaten Ludwigs X I V . verherrlichen, werden auf diese Weise, wie stets in den engsten und wirksamsten Realitätszusammenhang mit dem Beschauer gebracht. An den Schmalseiten der Galerie schweben Engel im Spiele mit einer Draperie illusionistisch in den R a u m hinein, und die den R u h m des Königs in die Welt hinausblasenden Famagestalten durchbrechen die Bildfläche in gewaltigem Schwünge. I n stärkstem „di sotto in s u " sind „Merkur und die Friedensgöttin" wiedergegeben (Abb. 52). Hier ist, wie bei Pozzo, von dem entsprechenden Blickpunkte aus jede Grenze zwischen Fläche und R a u m aufgehoben. I n gleicher Absicht läßt Eustache Lesueur in seiner Plafondmalerei des ehemaligen Hotels Fieubet „Der Engel verläßt Tobias", heute im Museum zu Grenoble, illusionistisch gemalte Treppen aus dem Bilde in den Realr a u m führen. 1 Deutlich spricht auch das echte barocke Raumgefühl aus Rigauds Doppelbildnis der beiden bedeutendsten Maler seiner Zeit: Lebrun und 1

Dimier: Histoire de la Peinture française du Retour de Vouet à la Mort de Lebrun. Tome II. Paria u. Brüssel 1927. Taf. VI.

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Mignard. (Louvre) 1 . Die Künstler erscheinen, bis zu den H ü f t e n sichtbar, hinter einer Marmorbalustrade. Mignard bewegt seine geöffnete H a n d d e m Beschauer entgegen und scheint mit dem gereckten Zeigefinger beinahe die Bildfläche durchstoßen zu wollen. Richtig h a t Hildebrandt den gleichsam „absolutistischen" Ausdruck dieses Bildes interpretiert, wenn er von der Gestalt Lebruns sagt : „Der friedliche Malstock wird in seinen H ä n d e n zum Zepter, die Pinsel zu einem Bündel Pfeile, die wie drohend ihre Spitzen emporrecken." Hildebrandt irrt aber in der Meinung, daß die im Vordergründe das Bild überquerende Balustrade „den Helden von der s t a u n e n d e n Mitwelt" abschließe. I m Gegenteil: die von der Schulter Lebruns in großem Schwünge herabgleitende Schärpe, deren Ende über die Brüstung hinausfällt, enthält dadurch die Anweisung, den R a u m des Beschauers unmittelb a r mit dem Bildraum in Verbindung zu setzen. Das gleiche Prinzip verkörpert ein anderes Doppelbildnis zweier bedeutender Künstler der Zeit: François Mansard und Claude Perrault, dem Philippe de Champaigne zugeschrieben, heute im Louvre. 2 Die beiden Architekten erscheinen ganz wie bei dem Doppelporträt des Rigaud, hinter einer Brüstung. Perrault weist mit deutlicher Gebärde den Beschauer auf die Statue einer Ruhmesgöttin mit K r a n z hin, die im Hintergrunde sichtbar wird. Mansard läßt seine H a n d über die Brüstung gleiten, deren Bedeutung als distanzierende Barriere zwischen Bild und Wirklichkeit dadurch entwertet wird. Auch der Mantel des Perrault überschneidet die Balustrade. Den Vertretern dieser höfischen, der Idee des Absolutismus dienenden Kunst wird auch im P o r t r ä t auf diese Weise der Stempel der ästhetischen Heteronomie aufgedrückt. Das nach einem Entwürfe Lebruns von Tuby gemeißelte Grabmal der 1668 verstorbenen Mutter Lebruns in der Karlskapelle der Kirche St. Nicolas du Chardonnet in Paris spiegelt durch seine ästhetische Haltung, obwohl es sich hier um ein privates Sujet handelt, auf gleiche Weise die allgemeine ästhetische Transzendenz der K u n s t . 3 Der geöffnete Sarkophag schiebt sich aus einer flachen Nische in den Kapellenraum hinein, die Verstorbene steigt illusionistisch aus der Tiefe des Sarges auf, während ein Tuba blasender Engel gen Himmel fliegt und die halbkreisförmige innere U m r a h m u n g der Nische, jede Rahmenverwandtschaft der Formen bewußt negierend, überschneidet. Auf Puget, den bedeutendsten französischen Bildhauer des Barock, braucht in diesem Zusammenhange nicht eingegangen zu werden. E r ordnet sich formal und ästhetisch in einem solchen Maße der italienischen 1

Hildebrandt: Malerei und Plastik des 18. Jahrhunderts in Frankreich. (Handbuch der Kunstwissenschaft. 1924). Abb. 3 u. S. 2. * Marcel: La peinture au Musée du Louvre. Ecole française. 17. Siècle. Paris o. J. Abb. 34. 3 Dimier (a. a. O.) Tome II. Taf. XL.

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Richtung ein, daß sich bei einer B e t r a c h t u n g seiner Kunst für uns kein neuer Gesichtspunkt ergibt. Seine Skulpturen sprengen, wie bei Bernini, den Nischenraum, in den sie gestellt sind, (Ambrosius und Sebastian, S. Maria in Carignano, Genua), quellen über den aus dem Realitätszusammenhang potentiell isolierenden Sockel hinaus, (Unbefleckte E m p fängnis, Oratorio di San Filippo Neri, Genua, Milon v. Croton im Louvre), und seine Reliefs erobern aus der Flächenbindung heraus freiplastisch den Realraum. 1 Anders liegt der Fall dagegen bei dem zweiten großen Barockbildhauer Frankreichs, bei Girardon. Wie Lebrun Hofkünstler Ludwigs XIV., ordnet er sich der von Italien angegebenen Barockrichtung in formaler Hinsicht keineswegs ein und wurde daher stets als H a u p t v e r t r e t e r des französischen Klassizismus bezeichnet. U m so entscheidender ist es, daß auch er durch sein raumästhetisches Verhalten f ü r die typisch barocke Heteronomie seiner K u n s t zeugt. Am deutlichsten wird dies, wenn man Girardons Proserpinaraub in Versailles (1699) u n d den Sabinerinraub des Manieristen Giovanni da Bologna vergleicht, mit dem die Komposition des Franzosen, in morphologischer Hinsicht sehr bezeichnend, eine größere Verwandtschaft besitzt, als mit Berninis „ P l u t o und Proserpina". Während aber Giovanni da Bologna, dadurch daß er seine Gruppe in den Luftkubus über dem Sockel b a n n t , f ü r die Autonomie des manieristischen Stiles bürgt, entwickelt sich die Gruppe Girardons, die von einer Zeichnung Lebruns abhängig ist, in heftiger Diagonalbewegung aus dem Luftraum, der einer Verlängerung des Sockels nach oben entspricht, heraus und sprüht in freien Endigungen in den Realraum. Auch Girardons in den J a h r e n 1666—75 nach Zeichnungen Lebruns entstandene Gruppe des von den N y m p h e n bedienten Apoll muß, so weit ihre ursprüngliche Aufstellung rekonstruiert werden k a n n , als eine in gewissem Sinne illusionistische Komposition gelten. Ein von höfischer Allegorie überladenes Programm lag diesem Werk zu Grunde, den Vorschriften vergleichbar, die Permoser in seiner Apotheose des Prinzen Eugen verwirklichen mußte. Wenn auch der Deutsche sein Programm ungefähr 50 J a h r e später als Girardon noch in einer hochbarocken Formensprache ausdrückte, der Franzose dagegen in seiner Apollogruppe eines der wichtigsten Denkmale des Klassizismus schuf, so bleibt doch Eines dieser heteronomen Kunst stets gemeinsam : die reibungslose Einordnung in einen Realitätszusammenhang mit dem Beschauer. „Die Idee f ü r den von Nymphen bedienten Apoll schreibt sich Charles Perrault, der gewandte Attaché Colberts, zu. Da der König als Devise die Sonne gewählt habe, viele der Gruppen von Versailles, wie das Latonabecken, sich schon auf Helios bezögen, sei das Motiv gegeben : de m e t t r e Apollon, qui va se coucher chez Thétis après avoir fait le tour 1

Auquier: Pierre Puget, Paris o. J. Abb. S. 33, 41, 45, 49, 81, 89 etc.

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de la terre, pour représenter que le Roi vient se reposer à Versailles après avoir travaillé à faire du bien à t o u t le monde. Es ist die große Zeremonie des coucher du Roi. Die Idee bringt der B r a d e r Claude zu Papier u n d entwirft auch 1667 die mit Muscheln u n d Tropfstein dekorierte Architekturgrotte, die einstmals am Platz, wo heute das Vestibül der Schloßkapelle steht, sich in drei Konchen öffnete. I n der mittleren standen Apoll und die ihn von den Spuren heißer F a h r t säubernden Nymphen, in den seitlichen j e zwei Sonnenrosse, von Tritonen getränkt". 1 Und wenn die Grotten zwar durch Gitter gegen den Platz abgeschlossen werden konnten, eine Maßnahme, die dem Schutze der S t a t u e n diente, so beweist doch die zwanglose -Einordnung der Gruppen in eine der N a t u r angeglichene Grottenformation, daß auch hier die Herstellung des distanzlosen Realitätszusammenhangs mit dem Beschauer der übergeordnete Gesichtspunkt war. Als hinter den Kunstphänomenen wirksames Element verdrängt im Frankreich des 17. J a h r h u n d e r t s der nationale Absolutismus immer mehr die Gegenreformation. Schon der Kardinal Richelieu b e k ä m p f t e die Reformierten u n d Calvinisten mehr im Interesse der Krone als in dem der Kirche. Die religiösen Freiheiten der Hugenotten wurden vorläufig aber noch geduldet, n u r ihre politisch-militärische Macht wurde 1628 durch die Einnahme von La Rochelle gebrochen. „ I n den achtziger J a h r e n des 17. J a h r hunderts beginnt unter Ludwig X I V . eine neue, systematische, unerbittliche Verfolgung der völlig wehrlosen und unschädlichen Protestanten. Mit der Aufhebung des Toleranzediktes von Nantes (1685) wird ihnen der Todesstoß versetzt. Man würde sich aber täuschen, wenn m a n glaubte, dieser letzte Schlag sei etwa von Rom aus oder sonstwie durch religiösen Fanatismus der katholischen Welt geführt oder auch n u r gewünscht worden. Nein, der wahre Todfeind und Henker, der nun zutage kommt, ist der Gallikanismus. Zu der Zeit, da die Regierung Ludwigs X I V . die Protestanten verfolgte, hat dieselbe Regierung auch die Autorität des Papstes über die katholische Geistlichkeit in Frankreich bekämpft und die unpolitische Form des Katholizismus, den Jansenismus vernichtet." 2 Die jansenistische Bewegung selbst konnte keinen Einfluß auf die Kunst gewinnen. „ D a die J a n se nisten meist in der Notwehr sich befanden, so haben sie es zu einer rednerischen K u n s t der Propaganda nicht gebracht. Es ist ihnen mehr um die nackte, schmucklose Aufrichtigkeit als u m die Wirkungskraft des Ausdrucks zu t u n . " 3 Wie sehr aber auch die extrem absolutistische Herrschaft Ludwigs X I V . letzten Endes als ein Ergebnis der Gegenreformation aufzufassen ist, h a t 1 1 5

Brinckmann: Barockskulptur (a. a. 0.) S. 332 f. Vossler: Frankreichs K u l t u r und Sprache (a. a. O.) S. 206. Vossler (a. a. O.) S. 211. — Weisbach: Barock als K u n s t d. Gegenreformation (a. a. O.) S. 190 f.

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Vossler dargestellt. „Der Gallikanismus, wie er in Frankreich u n t e r Ludwig X I V . sich ausgebildet h a t , ist zwar einerseits die Fortsetzung und Weiterbildung einer alten nationalen Lebensform, aber er ist auch ebensosehr eine Nachbildung spanischer Verhältnisse Nirgends wurde die Forderung des Gehorsams vom politischen u n d nationalen Leben herüber so unerbittlich und bedingungslos auf das religiöse ausgedehnt wie in Spanien; und in keiner menschlichen Gemeinschaft ist die Pflicht des Gehorsams jemals radikaler verstanden u n d gehandhabt worden als in der Societas Jesu. Hier h a t m a n das Gehorchen mit bewußter Systematik zu einer Kunst, zu einer Virtuosität der Seele gesteigert." 1 Von dem Einfluß der gegenreformatorischen Mystik auf den hl. Franz von Sales war bereits die Rede. „Bedenkt m a n die ungeheure geistige Macht, die in der ersten Hälfte des 17. J a h r h u n d e r t s von den Jesuiten in Frankreich ausgeübt wurde, wie die besten Köpfe des Landes durch ihre Schule gegangen sind und wie in der zweiten Hälfte des J a h r h u n d e r t s auch die französische Politik von ihnen beeinflußt wurde, so eröffnete sich von diesem einzigen P u n k t e aus der Blick auf ein labyrinthisches Netz von Straßen und Schleichwegen, auf denen der spanische Geist die ganze französische Kultur durchdrungen h a t . " 2 Vossler h a t deutlich gemacht wie in Frankreich der Geist der Gegenreformation umgewandelt u n d gemildert worden ist, wie aus dem spanischen sosiego das französischen Preziösent u m entstand, so daß der preziöse Mensch zur „eigentlich französischen Spielart des Menschheitsideals der Gegenreformation" wurde. Auf diese Weise bleibt, wie in Italien, auch in Frankreich das 17. J a h r h u n d e r t eng mit dem Geiste der Gegenreformation verbunden. Auch bei dem preziösen Menschen des absolutistischen Hofes ist wie bei dem Menschen der Gegenreformation „die Spontaneität gebrochen, ist zwischen Geist u n d N a t u r ein Schnitt gemacht." 3 Auf andere Weise als im italienischen Barock begeht hier der Geist der Gegenreformation den „Sündenfall ins Konkrete" (Max Weber). Über die Vorschriften des „Cortegiano" geht der Franzose Nicolas Faret noch hinaus, dessen „L'homme honeste ou l'art de plaire à la cour" 1637 erschien. Wie Vossler ausführlich nachgewiesen h a t , m u ß der französische Edelmann ganz im Sinne der Gegenreformation auch im 17. J a h r h u n d e r t noch sich fortwährend mißtrauen, sich überwachen und „contenance" halten. I m Mittelpunkt der Vorschriften Farets steht die „souplesse", die Geschmeidigkeit, die, wie Vossler betont, geradezu die des Jesuiten ist. „ E t véritablement une des plus infaillibles marques d'une ame bien née c'est d'estre universelle et susceptible de plusieurs formes, pourveu que ce soit par raison, et non par légerté ny p a r foiblesse." 4 Die Disziplin, Absichtlich1 2

Vossler (a. a. O.) S. 315f. Vossler (a. a. 0.) S. 3f9 (Anmerkung).

3 4

Vossler (a. a. O.) S. 321. Vossler (a. a. O.) S. 322f.

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keit und Willensschulung, die von einem wohlerzogenen Menschen gefordert werden, erinnern deutlich noch an die Exerzitien des Ignaz von Loyola. Vossler weist ferner darauf hin und belegt es durch Quellenforschung und Sprachgeschichte, daß der Sittenkodex des französischen Barock „neben einer innerweltlichen auch eine starke religiöse Wurzel habe/ 4 So muß auch der klassizistische französische Barockstil, dadurch daß er eine heteronome Kunst ist, letzten Endes, wie der formal so anders geartete Barock Italiens, als eine Kunstform der in der Kultur des höfischen Absolutismus soziologisch wirksam gewordenen Gegenreformation angesehen werden. Obwohl in der französischen Kunst des 17. Jahrhunderts das Kunstwerk vorwiegend in einen engen Lebenszusammenhang mit dem Beschauer tritt, darf es nicht unerwähnt bleiben, daß bei Gaspard Marsys Grabmal des Königs Johann Casimir von Polen (f 1672) in St. Germain des Prés vereinzelt bereits eine bewußte ästhetische Isolierung des Kunstwerkes auftaucht, und dadurch den unterirdisch zu neuer Wirksamkeit drängenden Autonomiewillen der Kunst zum Ausdruck bringt. 1 In eine halbrunde Nische ist hier, in der Art der Florentiner Grabmäler des Quattrocento, ein schwarzer Marmorvorhang eingezogen, der an den Seiten gerafft wird und dann herabfällt. Er verkörpert in sich die ästhetische Grenze, hinter welcher der kniende König dargestellt ist, wie er Zepter und Krone dem heiligen Casimir opfert. Lebruns Nebenbuhler und Nachfolger als Direktor der Akademie war Pierre Mignard. In seinem 1663 vollendeten Hauptwerk, dem Kuppelfresko im „Val de Grâce" zu Paris gibt auch er, trotz aller Malerei „di sotto in su" ein Beispiel jener durch eine Trennungszone vom Realraum deutlich geschiedenen Deckenkunst, wie sie etwa in der ersten Kuppel Correggios, in San Giovanni Evangelista zu Parma ausgeprägt worden ist. 2 Auch Mignard gehört zu den Künstlern, die als erste, wie auf ganz andere Weise Rembrandt und Vermeer, die neue Autonomie der Kunst vorzeitig zur Gestaltung brachten. Zwischen der Generation Lebruns und Watteaus, dem Großmeister des neuen Stils, sind vor allem zwei Künstler erwähnenswert: Charles de la Fosse und Antoine Coypel. Wie man bereits in der holländischen Kunst beobachten konnte, wird auch in Frankreich die neue, schon gelegentlich zur Gestaltung gelangende Autonomie nicht durchweg von den folgenden Künstlern aufgenommen. De la Fosse war hauptsächlich Deckenmaler. Sein bedeutendstes Werk ist die Kuppel der Invalidenkirche in Paris (1692).3 Ahnlich wie bei Mignard ist auch hier der sich im KuppelMichel: Histoire de l'art. Paris 1922. Bd. VI, 2. Abb. 496. » Dimier (a. a. O.) Taf. XLIV. 3 Réau: Histoire de la peinture française au 18ième siècle. Tome 1. Parie und Brüssel 1925. Taf. IV. 1

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fresko öffnende Himmel durch einen architektonisch ausgestalteten Rahmenring von der Wirklichkeit distanziert. Die Darstellungen der gleichfalls von de la Fosse ausgemalten Kuppelpendentifs halten sich streng in ihren ornamentierten R a h m e n , und diesem Beispiele folgen die übrigen Künstler, die in der Invalidenkirche beschäftigt waren: J e a n Jouvenet mit seinen Gewölbedekorationen, Louis de Boullogne mit den Malereien in der Augustinskapelle, Michel Corneille mit der Ausschmückung und Bon Boullogne mit der Kuppel in der Kapelle des hl. Gregor. 1 Dagegen finden sich in den 1708—09 vollendeten Gewölbemalereien Coypels in der Schloßkapelle zu Versailles noch in echt barocker Weise Überschneidungen des dekorativen Rahmensystems durch die Gestalten der Deckenöffnungen. 2 In einer Skizze f ü r die ihm ab 1702 übertragene Ausmalung der Grande Galérie des Palais Royal, die den Olymp darstellt und sich heute im Museum von Angers befindet, bringt Coypel sogar, wie Pozzo, eine gemalte Fortsetzung der gebauten Architektur im Bilde, so daß auf diese Weise das Deckenfresko mit seinen alle Rahmenformen überschneidenden Massen als eine unmittelbare Fortsetzung des wirklichen Raumes u n d als von demselben Realitätsgrade wie dieser erscheinen muß. Gleichzeitig treten aber in der Grande Galerie auch schon isolierend gerahmte Wandgemälde auf, die in keiner Weise eine Raumerweiterung vortäuschen wollen. 3 Ludwig X I V . starb im J a h r e 1715. Die nun folgende, bis zum J a h r e 1723 dauernde Zeit der Regentschaft des Herzogs von Orleans wird auch in der Kunstgeschichte vielfach gesondert als „Régence" bezeichnet. E r erscheint jedoch richtiger hier von einem Frührokoko zu sprechen, vor allem weil das Schaffen W a t t e a u s (f 1721) ausschließlich«! diese Zeit fällt, u n d weil die gerade f ü r das Rokoko in formaler Hinsicht charakteristische Durchsetzung aller Kunstformationen von dem ornamentalen Spiel der „Rocaille" jetzt schon deutlich ausgeprägt ist. Bei einer Betrachtung der Rokokokunst wird es sich herausstellen, daß die Frage nach ästhetischer Autonomie oder Heteronomie sich hier nicht auf einheitliche Weise lösen läßt. Während bisher innerhalb einer Stilperiode, wäre sie auch noch so kurz begrenzt, wie die einzelnen Phasen des Quattrocento, und noch so unabhängig von formengeschichtlichen Wandlungen, die raumästhetische Stellung der K u n s t sich formalphänomenologisch und deskriptiv eindeutig ablesen ließ, so steht m a n im 18. J a h r hundert vor der Tatsache, d a ß der Stil an sich keinem raumästhetischen Zwang mehr verbunden ist. Es herrscht ein beinahe gleichmäßiges Neben1

Pierre Marcel: La peinture française au début du 18ième siècle: 1690—1721. Paris o. J. Abb. 7, 8, 9, 10, 13, 14. 2 Dimier : Peintres français du 18ième siècle. Tome I. Paris u. Brüssel 1928. Taf. X X — X X I I . » Pierre Marcel (a. a. O.) Abb. 27—30.

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einander a u s g e p r ä g t heteronomer und a u s g e p r ä g t autonomer Kunst. Allein dadurch, daß die autonome Kunst dem Barock gegenüber wieder bedeutsam hervortritt, ergibt sich allerdings die Notwendigkeit, das Rokoko grundsätzlich vom Barock loszulösen und nicht lediglich als eine Spätstufe dieses Stils aufzufassen. Bereits in der Kunst des 12. Jahrhunderts ist uns ein ästhetisch labiler Übergangsstil begegnet, der keine grundsätzliche Entscheidung zwischen Wahrung und Überschneidung der ästhetischen Grenze getroffen hatte. Die Heteronomie des 11. Jahrhunderts wirkte noch nach, die Autonomie der Monumentalplastik des 13. Jahrhunderts war noch nicht vollkommen gesichert. Die ästhetische Grenze wurde oft unsicher und zaghaft umspielt. Am deutlichsten wurde das 12. Jahrhundert durch die Nischenfiguren von St. Gilles repräsentiert, bei denen das Entstehen und die Bemühung um die kommende Isolierung des Kunstraums aus jedem Lebenszusammenhang gleichsam „in statu nascendi" anschaulich wurde. Die Relieffiguren waren in viel zu engen Nischen eingepreßt, die Abgrenzung wurde auf Kosten der statuarischen Freiheit vorgenommen, der Übergangsstil war noch nicht souverän genug, ohne Gewaltsamkeiten eine Distanzierung der Kunstformation herzustellen. Dieser Vergleich mit dem 12. Jahrhundert offenbart, daß beim Rokoko nicht im gleichen Sinne von einem Übergangsstil geredet werden darf, obwohl es nahe läge, die neue Autonomie des Kunstraumes auch hier als eine ästhetische Vorbereitung des Klassizismus aufzufassen, während andererseits noch nicht alle Brücken zum Barock abgebrochen sind, — so wie das 12. Jahrhundert noch nicht frei vom frühromanischen Illusionismus, und noch nicht reif für die Klassik des 13. Jahrhunderts war. Aber im Rokoko handelt es sich, wie wir sehen werden, nicht um das Nebeneinander einer absterbenden und einer keimenden ästhetischen Einstellung, sondern um das Nebeneinander zweier, jede bereits bis in ihre letzte Konsequenz ausgeprägter Gestaltungsmöglichkeiten. Auch im 16. Jahrhundert konnten zwei Stile nebeneinander beobachtet werden: Frühbarock und Manierismus. Nach der Renaissance setzte zuerst der Frühbarock mit einer erneuten Überschneidung der ästhetischen Grenze ein, um dann den Primat an den Manierismus abzugeben, der das für seine Sonderart Entscheidende innerhalb einer autonomen Kunstphase zum Ausdruck brachte, bis der unterirdisch weiterwirkende Barock wieder hervorbrach und im 17. Jahrhundert zum einheitlichen und umfassenden Stil wurde. Dem Nebeneinander von Frühbarock und Manierismus entspricht jedoch im 18. Jahrhundert nicht ein Nebeneinander von Spätbarock und Rokoko. Eine grundsätzlich neue, bisher nicht verwirklichte Situation der Kunst gelangt jetzt zum Ausdruck. Formengeschichtlich wird das Rokoko zusammengehalten von dem Ornament der Rocaille, jener kraft geladenen, asymmetrischen Kombi224

nation sphärischer Kurven, die in mehr oder minder deutlicher Weise als konstitutives Prinzip jede Rokokoformation durchsetzt, als „Grundriß" in jeder Bildkomposition und als auferlegtes Bewegungsschema in jeder Gestalt nachgewiesen werden kann. Diese Angleichung an eine abstrakte, irreale Ornamentform muß durchaus als ein morphologisches Korrelat zu der dem Barock gegenüber wieder stark und bewußt hervortretenden Autonomie des Kunstraumes angesehen werden. Der reinste Vertreter dieser neuen ästhetischen Distanz war Antoine Watteau. Schon dadurch, daß seine Motive und Gestalten beinahe ausschließlich die Welt der italienischen Komödie spiegeln, entrückt er seine Bilder jedem Realitätszusammenhange. Es muß betont werden, daß die oft tendenziösen und moralisierenden Titel, unter denen Watteaus Bilder heute bekannt sind, auf apokryphe Benennungen zurückgehen. Sehr bezeichnend ist es auch, daß die Kostüme der Figuren Watteaus nicht die seiner Zeit sind, sondern ganz persönliche Umformungen des italienischen Bühnenkostüms darstellen, die erst etwa zehn Jahre nach Watteaus Tode zuin Zeitkostüm werden. Schon durch die seltsame Angleichung beinahe aller seiner Kompositionen und Einzelfiguren an das ornamentale Spiel und Gesetz der Rocaille vermeidet Watteau jede lebensgeschichtliche Verflechtung seiner Kunst. Noch nie vorher war ein Ornament so zur Quintessenz eines ganzen Stiles geworden, wie jetzt. Das Ornament früherer Zeiten war nur Symptom der im Großen stilbildenden Kräfte gewesen. Oft kehren auf den Bildern Watteaus die gleichen Motive in immer neuen Kombinationen und Zusammenstellungen wieder. Und jedesmal haben sie eine neue ästhetische Funktion, die, unbewußt und nie in einem grammatikalisch genauen Sinne, aber doch deutlich spürbar der unendlich variationsfähigen Rocaillenform neue Seiten abgewinnt. (Man vergleiche die stets neue Verwendung der Gruppen auf dem sogenannten „ F a u x p a s " im Louvre, auf dem „Konzert" in Sanssouci und schließlich auf dem „Liebesfest" in Dresden). 1 Eine tiefe Wesensverwandtschaft zur ostasiatischen Malerei taucht auf. Auch hier wird der Realitätseindruck erst durch einen tausendfältigen Filtrierungsprozeß in die endgültige Form geleitet. Die Motive und Notizen der Skizzenbücher werden schließlich zu einem Gebilde höherer Ordnung umgestaltet. In Watteaus berühmten „Gilles" (Louvre) erreicht die Irrealität der Bühnensphäre einen Höhepunkt. Die Komödiantenfiguren spiegeln die Reflexe des Rampenlichts und die Nebenfiguren bewegen sich in einer undefinierbaren Raumzone. Das Ganze folgt einer eigenen Logik, welche nicht die des realen Raumes ist. Dieser Wille zur Distanzierung des Bildgeschehens, zu einer grundsätzlichen Aufhebung jedes Realitätszusammenhangs mit dem Beschauer läßt sich an Hand unseres Kriteriums programmatisch bei Watteaus letztem 1

Hildebrandt: Watteau. Berlin 1922. Abb. 4. 64.

15 Michalik!

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Bild, dem Ende 1720 entstandenen Firmenschild des Kunsthändlers Gersaint (Schloß Charlottenburg) ablesen. Das „Firmenschild" war für den Kunsthändler Gersaint auf dem Pont Notre Dame in Paris bestimmt. Nach dem „Mercure" war es jedoch nur vierzehn Tage dort ausgestellt, es wurde dann weiter verkauft. Gersaint sagt von dem Bilde in seiner Lebensbeschreibung Watteaus, „qu'il attirait les yeux des passants." (Notice en tête du catalogue de la vente Quentin de Lorangère, Paris 1744.) Es handelte sich für Watteau also um eine Aufgabe, deren enge Zweckgebundenheit offensichtlich ist. Man könnte daher gerade hier eine heteronome, von einem außerästhetischen Inhalt aus konstituierte Kunst erwarten. Desto bedeutsamer ist es, wie Watteau, man möchte sagen, beinahe wider seinen Willen grundsätzlich die ästhetische Eigengesetzlichkeit demonstriert. Die alte in sich beschlossene Raumtotalität der Guckkastenbühne tut sich von neuem vor uns auf. Durch die „parete di vetro" sehen wir in den Verkaufsraum des Kunsthändlers, vor dem sich eine gleichsam neutrale Zone erstreckt, die durch eine Stufe mit dem eigentlichen Laden verbunden ist. Vordergrundstilleben, Strohbündel und ein schlafender Hund distanzieren das Geschehen zu einem Fernbild auf andere Weise, aber in der gleichen Absicht wie bei Vermeer. Es wäre durchaus verfehlt, in dem mit Pflastersteinen bedeckten vorderen Bildabschnitt eine Verbindung zur Straße erkennen zu wollen. Vielleicht entsprach dies tatsächlich der zu Grunde liegenden Idee des Kunsthändlers, der auf seine Kunden die Suggestion eines unmittelbaren Eintritts in den Laden ausüben wollte. Entscheidend ist jedoch, wie Watteau dieses Thema gestaltet hat. Die vordere Zone hat durchaus die Funktion einer Rampe. Die Strohbündel und der Hund sind ganz in dem Sinne verwendet, wie die Vordergrundstilleben im Manierismus : die nudi bei Beccafumi und Tintoretto, die Vasen und Schmuckstücke in den Fresken Zuccaros in Caprarola. Vergegenwärtigt man sich die Komposition Watteaus in dem Stich des Aveline (nach einer Kopie von Pater), die den unverstümmelten, ursprünglichen Zustand des heute zerschnittenen Bildes spiegelt, so tritt die strenge Rahmung des Ganzen durch die Hausmauern rechts und links noch doppelt hervor.1 Hildebrandts feine Einfühlung in das Wesen des Künstlers gelangt auf dem Wege literarisch-psychologischer Interpretation zu den gleichen Ergebnissen. „Mitten in die Straße hinein ist ein großes Loch gerissen. Die Mauern des Gersaintschen Hauses sind aufgespalten, und nur am Rande rechts und links ragen ein paar Rustikaquadern wie die Stützen eines Theatervorhangs, der für einige Momente in die Höhe gezogen den Blick auf die Bühne freigibt In dieser Märchenwelt wächst unbekümmert um alle räumliche Logik ein Ladentisch unmittelbar aus den steinernen Häuserpfosten heraus, und die Gemälde füllen die imaginären Wände bis 1

Hildebrandt: Antoine Watteau. Berlin 1922. Abb. 20 n. S. 57f. 226

an den vordersten R a n d . " Allerdings f ä h r t Hildebrandt dann f o r t : „Wer Lust h a t , k a n n sie von der Straße h e r mit einem ,kühnen' Griff über den Ladentisch erreichen." Hierdurch beweist er, wie unklar ihm t r o t z seines richtigen Instinkts die Raumabsicht des W a t t e a u geblieben ist. Denn er sagt schließlich in deutlichem Widerspruch zu seiner letzten Formulierung: „ W a t t e a u ist der Antipode eines Velazquez. So sehr beiden die Farbe Lebenselement bedeutet: die überwältigende Logik eines Meninas-Raumes wäre f ü r diese Märchenprinzen u n d -prinzessinnen ein unmöglicher R a h m e n , ein Käfig, da diese Wesen selbst die behaglicheren Raumperspektiven der alten holländischen Klassiker noch als Fessel empfinden würden." Hier wiederum konfrontiert Hildebrandt mit sicherem Gefühl den raumverschleifenden Illusionismus des Barock u n d den raumtrennenden Idealismus des Rokoko. I s t das erst einmal erkannt, so n i m m t eine Tatsache, die auch von Hildeb r a n d t erwähnt wird, ein anderes Gesicht an. Auf dem „Gersamt-Schild" k o m m t der junge Kavalier mit der großen Allonge-Perücke in engstem räumlichen Zusammenhang dreimal vor, u n d auch die Käuferin u n d die Verkäuferin a m Ladentisch gleichen einander wie Spiegelbilder. Hierin muß, von einer anderen Seite aus, die grundsätzliche Beziehungslosigkeit W a t t e a u s zu allen Realitätszusammenhängen erblickt werden. W a t t e a u s stoffliche Verbundenheit mit der Welt des Theaters, der commedia dell'arte, deren Bekanntschaft ihm schon durch seinen Lehrer Gillot vermittelt wurde, erhält durch eine formalphänomenologische Betrachtung seiner K u n s t einen tiefen stilgeschichtlichen Sinn, der weit über die in einer Individualpsychologie verharrende, zweifellos gleichzeitig zutreffende Deut u n g als Erlösung, Wunschtraum u n d letzter Euphorie des häßlichen und b r u s t k r a n k e n Melancholikers hinausführt in das autonome Reich der Kunst.1 Die Generation der reifen Rokokomaler ist die der u m 1700 Geborenen: Chardin (1699), Boucher (1703), Natoire (1700). Die f ü r die Anwendung unserer Gesichtspunkte so f r u c h t b a r e Dekorationsmalerei wird j e t z t in typischer Weise durch Natoires Wandfüllungen, Darstellungen aus dem Leben der Psyche, im Hotel de Soubise zu Paris repräsentiert. (1737—39). Die einzelnen Gemälde sind streng gerahmt u n d täuschen keinerlei Raumerweiterung vor. Die organische Verbindung mit der Umgebung, die unlösbare Verflechtung mit dem dekorativen Ensemble der W a n d geschieht jetzt 1

Die beiden untereinander sehr verwandten Bilder W a t t e a u s : „Maskerade" (Sir Edgard Vincent, London) und „Italienische Schauspielergesellschaft" (Baron E. de Rothschild, Paris) sind nicht Kompositionen, bei denen der Vorhang in sich die ästhetische Grenze verkörpert. Er ist hier nur ein Motiv i m K u n s t r a u m , da er sich in beiden Fällen erst hinter sämtlichen Gestalten des Bildes befindet. (Vgl. Zimmermann: W a t t e a u , Klassiker der Kunst. Stuttgart 1912. Abb. 24, 183). 15

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auf eine andere, lediglich formale Weise. Die Rahmen werden durch die von ihnen ausgehenden, aus ihnen sprießenden Rocaillen ornamental im Wandgefüge verankert. 1 Formen werden verschliffen, statt, wie bisher, Räume. Die Vergoldung und Versilberung der Ornamente läßt einen einheitlich schwimmenden malerischen Ton entstehen, in dem sich die Einzelformen grenzenlos mit der gesamten Atmosphäre verbinden. Die auf diese Weise entstehenden Reflexlichter werden gesteigert durch die häufige Verwendung von Spiegeln. Es wäre aber falsch, in den Spiegeln der Rokokowände raumerweiternde und raumverwischende Illusionen im Sinne etwa der barocken Deckenmalerei zu sehen. Gewiß erscheint ein Raum durch Spiegelwände größer als er in Wirklichkeit ist, und sicherlich wurde dieser Zweck unter Umständen verfolgt. Dennoch verstand man es, stets den herabgesetzten Realitätsgrad der Kunstsphäre zu betonen. Die Spiegel ,,sollen eine Wand wenigstens bis zu einem gewissen Grade bedeuten, also dazu beitragen, die Umgebung als Sphäre des Spiels herzustellen und vor jedem derben Verstoß zu bewahren, das heißt das abonnement suspendu aufrecht zu erhalten. Deshalb trifft diese Kunst allerlei Vorkehrungen, die das Auge gerade auf die Beachtung der Oberfläche als solcher hinleiten. So bewirken schon die aufgemalten Blumen der venezianischen Spiegel eine Trennung der Glasfläche vorn von der Raumillusion dahinter." 2 Auch die Gemälde des Boucher sind in keiner Weise auf ein Außerhalb bezogen. Schon dadurch, daß Boucher seine Bilder oft auf bestimmte, dem ornamentalen Spiel der Rocaille angeglichene Rahmen hin komponiert, distanziert er seine Bildbühne, die in einer irrealen Form eingefangen ist. Beispiele dieser Art sind Bouchers Supraporten „de forme chantournée" und die von seiner Hand stammenden Panneaux für das „Cabinet des médailles" in der königlichen Bibliothek. (1746).3 Neben Boucher waren hier auch Natoire und Carle van Loo beschäftigt. Die Bilder befinden sich heute ohne Rahmen, aus ihrem dekorativen Zusammenhang gerissen, im „Cabinet des Estampes". Auch die Wandmalereien der Salle du Conseil in Fontainebleau von Boucher, Carle van Loo und anderen (1753) weisen ein Gefüge streng gerahmter Panneaux auf. 4 Besonders deutlich tritt das ästhetische Grundgesetz des Rokoko bei den in die Wand eingelassenen Gemälden des Lancret im Musikzimmer des Potsdamer Schlosses hervor. (Abb. 54.) In phantastischen Kurven schwingende deutsche Rocaillen rahmen die Bilder und heben sie aus jedem Realitätszusammenhang heraus. Gleichzeitig aber überschneiden dieselben Rocaillen willkürlich die rechteckige Feldeinteilung der Wand. Ästhetische Osborn: Die Kunst des Rokoko. Berlin 1929. Abb. 132, 192. Schmarsow: Barock und Rokoko. Leipzig 1897. S. 355 f. 3 Mantz: François Boucher, Lemoyne et Natoire, Paris o. J . Taf. S. 106, 108. * Osborn (a. a. O.) Abb. 136. 1 2

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Distanzierung verbrüdert sich mit gegenseitiger Orenzüberscbneidung der Einzelformen innerhalb der Kunstzone. Freie Endigungen des Rocaillenrahmens greifen sogar in das Bild hinein und legen sich wie Schlingpflanzen über die Malerei. Während im Barock das Bild über den Rahmen zu treten bestrebt war, tritt der Rahmen im Rokoko über das Bild und drängt es doppelt zurück. Chardin, der dritte Großmeister des französischen Rokoko, wurde bereits von Fromentin und den Brüdern Goncourt in Parallele zu Vermeer van Delft gesetzt. Wenn von seiner Kunst gesagt wurde, sie bringe nie „eine außerhalb des Augenerlebnisses liegende Pointe" 1 , sie gebe „statt der Handlung die Pause" 2 , ja, sie lasse, „was absoluteste Gleichgültigkeit gegen den Beschauer betrifft, alles in Holland geleistete weit hinter sich" 3 , so entspricht das vollkommen dem, was deskriptiv an der Organisation von Chardins Kun6traum zu erkennen ist. Wie bei Vermeer glaubt man gleichsam durch eine Glaswand von außen in die abgeschlossenen und unbetretbaren Raumkompartimente der Bilder Chardins hineinzuschauen. Der „Gilles" des Watteau muß auch in morphologischer Hinsicht als ein Bindeglied zwischen Vermeer und Chardin angesehen werden. Die Formen der Bildzone erstrecken sich bei Chardin mit feinfühligster Genauigkeit nur bis an die unsichtbare vordere Grenzfläche. Die offene Schublade mit dem herausragenden Buntstift auf dem Bilde des „Kindes mit dem Kreisel" im Louvre (1738), die Ecke des schräg gestellten Tisches auf dem großen Louvrestilleben, die gleichfalls offene Schublade auf der Darstellung des kartenspielenden Kindes in der Eremitage zu Petersburg halten stets in ihrer formalen Ausdehnung kurz vor der unsichtbaren Grenze des Kunstraumes inne. Auf dem „Kartenhaus" im Louvre bezeichnet die Tischkante die Rampe, über die keine Form des Bildes hinausdringen darf. Gern baut Chardin, wie Watteau und früher die Manieristen, vor seinen Figurenbildern eine neutrale Stillebenzone auf, welche die Gelassenheit, die distanzierte Reserviertheit, die Selbstgenügsamkeit seiner Kompositionen noch unterstreicht. Auf dem berühmten „Tischgebet" (1739 oder 40), das in mehreren Fassungen existiert, sind im Vordergrund ein Kohlenbecken und ein Trommelstock dargestellt. Diese Gegenstände dienen als „Repoussoirs", um die Entfernung des Bildkernes von der vorderen Ebene erkennen und ermessen zu lassen. Die nachmeßbare Distanz kann schlechthin als das vom Gegenständlichen losgelöste Thema aller Kompositionen Chardins angesprochen werden. Die Entfernung aller Gegenstände im Bilde von der idealen vorderen Ebene wird bis ins Letzte geklärt. Von Etappe zu Etappe wird das Auge in die Tiefe geführt, die genau durch „Entfernungsmesser" 1 2 3

Grantoff: J . B. S. Chardin. Kunst und Künstler. 1908. S. 496ff. Pinder: Chardin. Spemanns Museum, 1906, S. 41 ff. Hildebrandt: Malerei u. Plastik des 18. Jahrhunderts in Frankreich, (a. a. O.) S. 168.

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abgesteckt ist. Auf dem Bilde des „Kindes mit dem Kreise" wird dieses Prinzip besonders deutlich. Der die „parete di vetro" gleichsam berührende Buntstift gibt die Entfernung bis zur Schublade an, diese wieder die Distanz des Tisches, an dessen Rand der Kreisel einen neuen Haltepunkt für das Auge darstellt. Das Bflcherstilleben auf dem Tische ist kunstvoll so über Kreuz aufgebaut, daß die Distanz jedes Gegenstandes vom anderen anschaulich wird. Die Antithese gegen den Betrachter wird zum Grundgesetz jedes Körpers im Bilde gegen den nächsten. Auch in koloristischer Hinsicht hat Chardin, wie l»mm ein anderer Künstler, dieses Prinzip durchgeführt. Das Rot hat in diesem Bilde die Bedeutung einer „Grenzmarkierung". Von der roten Kreide des Buntstiftes vorn, führt es zu dem roten Schnitt des vorderen Buches, zu dem rot schimmernden Rücken des hinteren Buches bis zu den schmalen roten Streifen, die in dem gelb- und grünbraun gestreiften Hintergrund auftauchen. Die gleichen Gestaltungsprinzipien lassen sich beinahe in jedem Gemälde des Chardin nachweisen. Ein Bruch mit dem Prinzip der ästhetischen Distanz macht sich aber bei Chardin auf dem späten Obststilleben im Louvre von 1763 bemerkbar. Hier ragen eine Weintraube und der Stiel eines Messers über die das Bild horizontal durchquerende Tischkante hinaus. 1 Eine gewisse Willkür in der Lösung der raumästhetischen Frage tritt auf. Schon Sobotka hat betont, daß sich mit dem Begriff des Rokoko, von wenigen Werken der Kleinplastik etwa Clodions abgesehen, in der französischen Bildhauerei nichts anfangen lasse. 2 Er warf gleichzeitig die Frage auf, ob es möglich sei, diese Epoche der französischen Skulptur überhaupt unter einem einheitlichen Begriff zusammenzufassen. Unsere formalphänomenologische Betrachtungsweise wird Sobotkas Ansicht bestätigen. Gaspard Marsys Grabmal des Königs Johann Casimir von Polen hatte bereits um 1672 die neue künstlerische Autonomie in der Plastik zum Ausdruck gebracht. Dieselbe Tendenz vertraten Mignard, de la Fosse und sein Kreis in der Malerei. In dem gleichen Sinne aber wie der 1661 geborene Antoine Coypel von Neuem auf den barocken Illusionismus zurückgreift, tut es auch der 1666 geborene Robert le Lorrain, ein Schüler und Mitarbeiter Girardons. 1664 ist auch Andreas Schlüter geboren, in dem neben Permoser (geb. 1651) die deutsche Barockplastik erst gipfelt, obwohl beider, besonders aber Permosers Schaffen bis weit in das 18. Jahrhundert hineinreicht. Lorrains Relief, das die „Tränke der Sonnenrosse" darstellt an der Imprimerie Nationale (Palais de Rohan) zu Paris, stammt erst aus 1

2

vgl. Dayot: L'oeuvre de Chardin et de Fragonard. Paris o. J . Taf. 6 (bis), 13, 25. — Schäfer: Chardin. Paris o. J . Abb. S. 97. Sobotka: Die Bildhauerei der Barockzeit. Wien 1927. S. 119.

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den J a h r e n 1740—43. 1 I n typisch barocker Weise ist der L u f t r a u m zwischen Relief und Beschauer in die Komposition einbezogen. Der Grund des an einer Fassade angebrachten Reliefs ist als Rustika behandelt. Dadurch entsteht der Eindruck eines unmittelbaren Herauswachsens der Figuren aus den Quadern der Architektur. Einzelne Teile lösen sich freiplastisch aus der Fläche, und eine Wolke gleitet Ober den profilierten Rahmen des architektonischen Bogens hinaus, der in das Relief einschneidet. Bei der Statue der Maria Leszynska im Louvre (1730—31) von Guillaume Coustou (geb. 1677) überschneiden die Wolken, auf denen die Königin steht, mit starker raumverschleifender Wirkung den Sockel. 2 U m 1700 ist die Generation der Bouchardon, Lambert-Sigisbert Adam u n d Lemoyne geboren. Bouchardons „Fontaine de Grenelle" in Paris (1739) isoliert die allegorische Figur der Stadt Paris und die beiden Flußgötter Seine u n d Marne auf gemeinsamem Sockel, über den keine Form hinausdringt, aus jeglichem Realitätszusammenhang. 3 Die Nischenfiguren an den Seiten der Brunnenarchitektur sprengen nicht mehr ihren R a u m , wie im Barock. Die Nische fungiert wieder als R a h m e n und Gehäuse. Auch die Figuren des Jahreszeitenreliefs bleiben an den Reliefgrund gebunden, emanzipieren sich nicht zu einem freiplastischen VorstoB in den Realraum und wahren die ästhetische Grenze. Gleichzeitig treten jedoch überall kleine, unbedeutende, schnörkelhafte Sockelüberschneidungen auf, wie bei Bouchardons „ A m o r " im Louvre. 4 I n denselben Zusammenhang gehören Adams allegorische Marmorgruppen im P a r k von Sansouci (1752) 5 . Doch auch hier gleiten die Füße der Gestalten stets wieder leise über die K a n t e n des Sockels hinüber. Lemoynes Bronzemodell f ü r ein Denkmal Ludwigs X V . im Louvre (1772) bringt dagegen H a n d in H a n d mit der irrealen Gesetzmäßigkeit der Rocaille die W a h r u n g der ästhetischen Grenze zur Gestaltung. 6 Es zeigt sich also, d a ß die ästhetische Autonomie in der Skulptur nicht einmal in dem Maße wie in der Malerei zur Verwirklichung gelangt. Bei den mit großen Rokokomalern gleich alten Bildhauern macht sich vielmehr eine konservative Verbundenheit mit dem Barock bemerkbar, die mit einer ständigen formengeschichtlichen Nachwirkung des römischen Barock, vor allem Berninis, H a n d in H a n d geht. Auch die Rocaille, die Quintessenz des neuen Stils, tritt dementsprechend viel weniger deutlich als konstitutives Prinzip auf, als in der Malerei. Wo sie doch in die Erscheinung tritt, wie bei dem Bronzemodell des Lemoyne, wird auch die ästhetische Grenze 1 Hildebrandt: Malerei und Plastik des 18. Jahrhunderts etc. (a. a. O.) Abb. 57. * Hildebrandt (a. a. O.) Abb. 53. 3 Osborn (a. a. O.) Abb. 251. 4 Osborn (a. a. O.) Abb. 248. s Osborn (a. a. O.) Abb. 244. * Osborn (a. a. O.) Abb. 243.

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gewahrt. In der Skulptur wird daher vorwiegend nicht von einem Rokoko, sondern besser von einem Spätbarock gesprochen werden müssen, der, wie der Frühbarock neben dem Manierismus, mit dem Rokoko gleichzeitig besteht. So tritt auch in der Statue des heiligen Bruno in St. Peter zu Rom, einem Werke des 1705 geborenen Michelange Slodtz eine extreme Grenzüberschneidung im Sinne der italienischen Barockskulptur auf. 1 Der Nischenraum ist wie bei Bernini für die Gestalt zu klein, der Realraum muß mit dem Kunstraum verbunden werden, um der Figur eine volle Ausdehnungsmöglichkeit zu gewähren. Der Bischofsstab ist außen an den Nischenpfeiler angelehnt. Ein von schwerer Draperie umrauschter Putto steht neben dem Sockel und reicht dem Heiligen den Bischofshut. Die Grabmäler des Pigalle (geb. 1714) setzen diese heteronome spätbarocke Strömung innerhalb der Plastik fort. Besonders das Grabmal des Marschalls Moritz von Sachsen in der Thomaskirche zu Straßburg (1753—70) läßt die Formationen der Kunstsphäre allseitig über die architektonischen Begrenzungen des Aufbaus hinausragen. Dem geht eine den barocken Bildprogrammen vergleichbare allegorische Überladung im Inhaltlichen parallel. Vor einer gequaderten Pyramide schreitet der Marschall die Stufen zu seinem Sarge hinab, von einer weinenden Frau, die das verzweifelte Frankreish personifizieren soll, zurückgehalten. Mit ihr trauert Herkules. Der Tod als Skelett mit Stundenglas öffnet den Sarg, ein Putto entflieht mit gesenkter Fackel. An der einen Seite des Aufbaus sieht man einen Adler — Symbol des Marschalls selbst — siegreich über wilde Tiere, Löwe und Bär, triumphieren. Doch auch die in keiner Weise inhaltlich belastete „Baigneuse" des Falconet (geb. 1716) spielt leise mit der ästhetischen Grenze. Der zögernd über den Sockel geschobene Fuß des Mädchens, ebenso wie die rocaillenfremde Formgebung beweisen, daß es sich hier nicht im eigentlichen Sinne um Rokokokunst handelt, sondern um einen gedämpften, gemilderten Barock. Schon Falconets Aufnahmestück für die Akademie aus dem Jahre 1745, der heute im Louvre befindliche „Milon von Croton", zeigt die barocke Grundhaltung des Künstlers. Er übernimmt von Puget das in seiner grausamen Skurrilität echt barocke Motiv des von einem Löwen zerfleischt werdenden Milon und überbietet den Meister des 17. Jahrhunderts noch an Wucht, Dramatik und vor allem an Sockelüberschneidungen.2 Sobotka hat bereits darauf hingewiesen, daß Falconet nur für eine oberflächliche Auffassung als typischer Rokokokünstler gelten könne. Bei den kleinen Gruppen des Künstlers, die schon beinahe als Zierkunst anzusehen sind, so bei der Grazienuhr, wird die ästhetische Grenze allerdings meistens gewahrt. Im Jahre 1782 schafft Falconet jedoch noch ein Werk, das alle 1 8

Osborn (a. a. O.) Abb. 247. Osborn (a. a. O.) Taf. X X I , Hildebrandt (a. a. O.) Abb. 76, 64.

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Tendenzen der Barockkunst in sich z u s a m m e n f a ß t : das Reiterdenkmal Peters des Großen in Petersburg. Der A u f t r a g Katharinas II., der Dienst f ü r eine absolutistische Idee läßt Falconets spätbarocke K u n s t beinahe in einen Hochbarock zurückschnellen. Aus der Reife des Stils s t a m m t auch die Idee, den Reiter nicht auf einen die Isolierung aus dem Realitätszusammenhang begünstigenden Sockel zu stellen, sondern auf einen unbehauenen, rohen Felsblock. Puget h a t t e dies f ü r ein Reiterstandbild Ludwigs X I V . in Marseille geplant. So erscheint der Zar mit seinem sich bäumenden Pferde durch nichts von der Welt des Beobachters getrennt, auf n a t u r h a f t e m Boden. Die ästhetische Grenze ist nicht vorhanden. Ist dieser Charakter der französischen Skulptur des 18. J a h r h u n d e r t s erkannt, so wundert man sich nicht, einen Triumph barocker Grenzverwischung in der „Himmelfahrt Mariä" des Charles-Antoine Bridan (geb. 1730) in der Kathedrale von Chartres zu begegnen. 1 Hier wird noch in den J a h r e n 1768—73 ein unmittelbares Hineinschweben in den Kirchenraum vorgetäuscht, eine Illusion, die seit der „Heiligen Therese" des Bernini mit mehr oder weniger Virtuosität stets durch die gleichen Kunstmittel erreicht wurde. Parallel zu Slodtz, Pigalle u n d Falconet t r e t e n auch in der Malerei vereinzelte Grenzüberschneidungen auf. I m Werke des meist bewußt distanzierte P o r t r ä t s schaffenden Nattier, der 1685, nur ein J a h r nach W a t t e a u geboren wurde, kommt ein Bild wie das D a m e n p o r t r ä t des Louvre aus dem J a h r e 1741 vor, auf dem ein gemalter R a h m e n durch Ärmel und Ellenbogen der Dargestellten in nachdrücklichster Weise überschnitten wird. (Abb. 55). Und das späte lachende Selbstbildnis des Liotard (geb. 1702) im Genfer Museum, das in die Zeit u m 1775 gehört, verbindet eine typisch heteronome Vorhangskomposition mit einer in echt barocker Weise auf den Beschauer bezogenen Gebärde. (Abb. 53.) Die eigenartige „Laterna magica" genannte Komposition des Charles-Amedee-Philippe van Loo (nach Diderot 1718, nach anderen 1719 geboren) macht die Rahmendurchbrechung zum zentralen Motiv des Bildes, indem die Figuren aus dem mitgemalten Louis-seize-Rahmen herausgreifen, und den Projektionsapparat gleichsam aus dem Realraum in den K u n s t r a u m hinein heben. (Abb. 56.) Es ist vielleicht kein Zufall, d a ß bei diesen Bildern die Rocaille als konstitutives Grundprinzip nicht in gleichem Maße hervortritt. Auch in Deutschland läßt sich ein gewisses Nebeneinander von autonomer u n d heteronomer Kunst im 18. J a h r h u n d e r t nachweisen. Es ist immer wieder betont worden, d a ß erst im deutschen Rokoko der Weltbarock seine eigentliche Erfüllung u n d Krönung gefunden habe. Nichtsdestoweniger darf auch hier das Rokoko nicht als eine bloße Endphase und 1

Hüdebrandt (a. a. O.) Abb. 58.

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Spätstufe des Barock aufgefaßt werden. Formengeschichtlich vor allem muß wiederum die konstitutive Bedeutung der Rocaille, der Quintessenz des Stils, hervorgehoben werden, die in Deutschland eine viel kompliziertere und verschlungenere Form annimmt als in Frankreich. Während dort Symmetrie, Ordnung und Rationalität in einem hohen Grade erhalten bleiben, steigert sich in Deutschland das Ineinander der Formen zu einem leidenschaftlichen Tanz. Schon dadurch, daß alle Formationen dem Leitmotiv der Rocaille mehr oder minder angeglichen werden, wird eine gewisse Irrealität der Kunstsphäre verbürgt. Im Gegensatz zu des Verfassers eigener, früher vertretener Ansicht muß aber betont werden, daß in raumästhetischer und in formengeschichtlicher Hinsicht auch die deutsche Kunst des 18. Jahrhunderts nicht als etwas Einheitlichesund Ungegliedertes aufgefaßt werden darf. Auch hier gehen Heteronomie und Autonomie nebeneinander her. So kann es geschehen, daß ein Künstler zwischen beiden ästhetischen Möglichkeiten hin und herschwankt. Der Stil des deutschen Rokoko hat sich, im Gegensatz zu Frankreich, vornehmlich innerhalb einer kirchlichen Kunst verwirklicht. Daher wird die Deckenmalerei, die schon immer unserer formalphänomenologischen Betrachtungsweise sehr entgegenkam, zum Ausgangspunkt unserer Untersuchungen. Während in Frankreich die dekorative Wandfüllung, das Panneau, dominiert, werden in Deutschland die raumerweiternden Tendenzen des römischen Barock fortgesetzt und umgewandelt. Dvorak hat mit Recht betont, daß die illusionistische Durchbrechung der Decke an sich schon auf die transzendenten Ideale einer Zeit schließen läßt. Die Werke Cosmas Damian Asams bilden den Übergang der deutschen Deckenmalerei vom Barock zum Rokoko. Der Künstler wurde bereits im Jahre 1686 geboren, doch seine Tätigkeit reicht in die Rokokozeit hinein, deren Beginn in Deutschland um 1730 angesetzt werden muß. Obgleich er und sein Bruder Egid Quirin (geb. 1692) in den Jahren 1712—13 in Rom waren, knüpft er doch nicht an die den gebauten Raum durch gemalte Scheinarchitekturen u n m i t t e l b a r fortsetzende Gewölbekunst des Pozzo an, sondern läßt, wie es Correggio zu Beginn des Barock getan hatte, und wie es bei Domenichino und Lanfranco vorkam, einen Rahmen sich um die Kunstzone legen, hinter dem erst die visionäre Sphäre mit allen illusionistischen Mitteln des Barock errichtet wird. Die perspektivische Komposition wird, wie bei Pozzo, für einen bestimmten Blickpunkt des Beschauers angelegt und kann nur von diesem aus richtig gesehen werden. Das Deckenbild bedarf also des Realraumes, um seinen eigenen Sinn erst an ihm zu entfalten. In Asams Fresken zu Weingarten aus dem Jahre 1718 sind in der Art Pozzos verkürzte Säulenstellungen verwendet. „Über der westlichen Längsseite steht auf dunkler Wolke der Glaube, vor ihm stürzen der Unglaube 234

und die Laster herab, sie dringen über die Umrahmung vor, und der geflügelte Dämon ragt mit dem Haupte schon in den Scheidbogen hinein." 1 Asams 1721 datiertes Kuppelgemälde in Weltenburg dagegen setzt sich als in Licht und Farbe aufgelöster Kunstraum deutlich gegen die reich stuckierte Kuppelwandung der gebauten Architektur ab. 2 Das Gemälde selbst beginnt erst hinter einer Hohlkehle und einer Rahmenleiste. Es erscheint doppelt distanziert durch einen scheinbar frei schwebenden ovalen Reifen, der in einiger Entfernung die Umrißlinie des Rahmens nach innen zu wiederholt. Auch Feulner hat hier eine Schranke erkannt, „die die heiligen Zonen von aller Profanität abtrennt." Auf diese Weise wird die Darstellung selbst, der Triumph der Kirche, Maria und die Dreifaltigkeit, die Scharen der Heiligen und Engel durch die Deckenöffnung hindurch, magisch beleuchtet, wie in weiter Ferne gleichsam durch die Öffnung eines Fernrohres gesehen. Ein Realitätszusammenhang mit dem Beschauer ist nicht mehr beabsichtigt. Eine gewisse Überschneidung der ästhetischen Grenze entsteht allerdings auch hier dadurch, daß die kleinen Stuckengel und die Wolkenballen, die den scheinbar frei schwebenden goldenen Reifen stützen müssen, über den äußeren Rahmen und die Hohlkehle in den Freiraum hinein greifen. In der Tatsache dagegen, daß Cosmas Damian Asam sich selbst gemalt hat, „in der Zeittracht mit Allongeperücke, selig lächelnd, als ob er sich eben aus der Versammlung der Heiligen weggestohlen hätte, um mit dem Beschauer Zwiesprache zu halten" muß der letzte Rest einer Verbindung von Realund Kunstraum erblickt werden, der hier jedoch nicht mehr rein deskriptiv, sondern nur durch eine Deutung des Inhalts erfaßt werden kann. Aus der Zeit um 1730 stammt Asams Deckengemälde im Saale des Schlosses von Alteglofsheim.3 Auch hier isoliert sich das Gemälde deutlich von den Gegebenheiten des Realraums. Der dekorativ ausgezackte Rahmen mit seinen Rocaillenornamenten bedeutet eine Grenze, die von keiner Form des Bildes überschritten wird. Auch Feulner hat erkannt, daß hier keineswegs mehr von barocker Raumerweiterung gesprochen werden darf. „Als Flächendekoration, die sich wie die Umrahmung in der unregelmäßigen höchst geschmackvollen Verteilung der Akzente, der Pointen, gefällt, will das Fresko in erster Linie wirken. Die illusionistische Wirkung ist mit Absicht vernachlässigt; nur die Eckgruppen in den Diagonalen sind verkürzt, die Mittelgruppe liegt in der Sehebene." 4 Es ist die gleiche Entwick1 2

3 4

Feulner: Bayrisches Rokoko, München 1923, S. 103. vgl. Die Kunstdenkmäler von Niederbayern. Bezirksamt Kelheim. Bd. VII, München 1922, Taf. X X I I . Feulner (a. a. O.) Taf. nach S. 89. Feulner (a. a. O.) S. 90.

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lung zu einer autonomen Kunst, die in Frankreich durch die bevorzugte Verwendung des gerahmten Panneau zum Ausdruck gelangt. Auch auf Asams Fresko im Kloster Brevnov bei Prag (1728) wird die äußere Umrandung nirgends durchbrochen.1 Sie ist hier ganz in der Art eines Bilderrahmens gebildet, bedeutet aber gleichzeitig die Basis, von der eine mit außerordentlich illusionistischer Virtuosität gemalte Balustrade sich in den Bildraum hineinentwickelt und auf der verkürzt gesehene Gestalten sich bewegen. Über dem verkürzt gemalten Bildraum mit dem Gastmahl des heiligen Günter erscheint gleichsam ein Deckengemälde im Deckengemälde. Eine gleichfalls gemalte Kuppel öffnet sich, aus der die allegorische Gestalt der Abundantia ihr Füllhorn über die Tafel des Heiligen ausgießt. Durch die Kuppelöffnung sind zwei Seile gespannt, die eine Draperie halten, welche im gewaltigen Schwung aus dem gemalten Kunstraum zweiter Ordnung in den gemalten Kunstraum erster Ordnung überleitet. Unmittelbar in den Realraum führt jedoch keine Brücke hinüber. Die „Verklärung des hl. Benedikt" in Fürstenfeld-Bruck wird durch Stuckrocaillen, die von der Bildumfassung ausgehen, auf das Gemälde übergreifen und durch die gemalten Formen variiert und weiter fortgeführt werden, in einem solchen Grade in irrealdekorative Flächenkompartimente aufgeteilt, daß die ganze Szene wie hinter einem ornamentalen Netz erscheint und schon auf diese Weise distanziert wird.2 Ein besonders anschauliches Beispiel für die Verschleifung rahmenverwandter Formen innerhalb der ideal distanzierten Kunstzone selbst! Sehr eigenartig ist es auch, daß die Hauptscene mit dem Heiligen nur in geringer Verkürzung wiedergegeben ist. Die in einer gemalten Kuppel den Gestalten des Bildes selbst erscheinende „Ausgießung des heiligen Geistes" dagegen wird durch eine konsequente Untersicht ihrerseits mit dem Kunstraum erster Ordnung, in dem der heilige Benediktus sich befindet, in Beziehung gebracht. Die grenzenlose Verbindung, die sonst zwischen Kunst- und Realraum hergestellt wurde, vollzieht sich jetzt ebenso wie in Bf-evnov in der Kunstzone selbst zwischen dem Raum der dargestellten Personen und dem ihrer subjektiven Vision. Der Künstler des 18. Jahrhunderts verfügt mit einer gewissen Freiheit über die Mittel, die für frühere Zeiten einen eindeutigen Zwang darstellten. Die gleiche Erscheinung findet sich bei Asams Fresken aus dem Leben des heiligen Norbert in Osterhofen. (1732).3 Auch hier ist die Bühne des dargestellten Schauspiels durch einen ornamentierten Rahmen aus jedem Realitätszusammenhang mit dem Beschauer herausgehoben. Die eigentlichen Grenzüberschneidungen finden innerhalb des Kunstraumes statt, 1 2 3

Feulner (a. a. O.) Taf. nach S. 90. Feulner (a. a. O.) Abb. 118. Feulner (a. a. 0.) Taf. nach S. 91. 236

wo in der Art Pozzos gemalte Architekturkulissen das sich im Bilde selbst öffnende Deckenbild zweiter Ordnung, welches den Himmel und seine Glorien darstellt, mit der Zone, in der sich das Leben des Heiligen abspielt, verbinden. Sicher hat Feulner Recht, wenn er von dem großen Fresko in Osterhofen sagt: „In der schwulstigen Umschreibung des Themas, der Vermischung von Sinnlichem und Übernatürlichem, von Allegorie und Zeitgeschichte, der prunkvollen Überladung und zugleich dramatischen Pointierung, in der ekstatisch sinnlichen Weihrauchstimmung verkörpern die Fresken Asams noch ganz den religiösen Geist des gegenreformatorischen Barock." 1 Dennoch ist eine gewisse raumästhetische Abkehr vom Barock nicht zu verkennen. 1736 schuf Asam das Deckengemälde des Maria-Viktoriasaales in Ingolstadt. 2 Hier scheint ein gewisser Rückschlag seiner raumästhetischen Haltung in den Barock eingetreten zu sein. Denn hier greifen wieder Teile der Komposition auf die Umrahmung über. Eine Fahne flattert in den Freiraum hinaus, Füße und Hände der dargestellten Personen überqueren die ästhetische Grenze. Es muß auch erwähnt werden, daß im Werke des Asam häufig einzelne Teile einer gemalten Figur plastisch in Stuck fortgesetzt werden, so daß diese Teile über die Umrahmung hinausragen.8 Hier treffen wir auf den seltsamen ästhetischen Gegensatz, in dem sich Egid Quirin Asams Plastik zu den Malereien seines Bruders befindet. Wenn bei Cosmas Damian trotz gelegentlicher Grenzüberschneidungen von einer außerordentlichen Entwicklung zu einer Eigengesetzlichkeit des Kunstraumes, dem Barock gegenüber, gesprochen werden muß, so übersteigert Egid Quirin wenn möglich, noch die raumverschleifenden Tendenzen des römischen Barock. Egid Quirins „Himmelfahrt der Maria" in der Klosterkirche zu Rohr stammt aus dem Jahre 1722.4 Die von Engeln getragene Gestalt der Jungfrau schwebt freiplastisch in den Kirchenraum hinein, während unten die Apostel in rauschend-pathetischer Bewegung um das Grab geschart sind. Ihre Gestalten greifen über die architektonische Umfassung des Altarraumes und damit über ihre Aktionsbühne hinaus, wodurch ein Zusammenhang mit dem Beschauer hergestellt wird. In typisch barocker Weise ist der Eindruck der frei schwebenden Assunta nur in der Frontansicht wirksam. Von der Seite sieht man die Eisenstange, welche die Gruppe hält. Doch das stört Asam ebensowenig, wie es Borromini oder Pozzo störte, daß ihre perspektivischen Täuschungseffekte auch stets nur von gewissen Blickpunkten aus betrachtet werden durften. Während Cosmas Damians Fresko in Osterhofen einen autonomen Kunst 1 2 3 4

Feulner (a. a. O.) S. 93. Dehio: Gesch. d. deutsch. Kunst. III Abb. 628. Feulner (a. a. O.) S. 107. Feulner (a. a. O.) Taf. nach S. 125.

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räum darstellt, sind Egid Quirins Gruppen des Glaubens und der Hoffnung am Hochaltar Beispiele extremer Grenzübertretung.1 Besonders der Glaube, der die Ketzerei in die Tiefe des Freiraums hinausstößt, erinnert an die typischsten Gestaltungen des römischen Barock. An den Sohlbänken der Fenster tauchen in Osterhofen Stiftergruppen auf, die, was bereits von Feulner betont wurde, Steigerungen von Berninis Stifterreliefs der Gapella Cornaro in S. Maria della Vittoria zu Rom darstellen. Die Gestalten täuschen mit einer Illusionskraft, welche den letzten Rest des „als o b " zu tilgen beabsichtigt, ihre Teilnahme am Gottesdienst vor. Asam geht in der Vergegenwärtigung der momentanen Situation sogar so weit, daß er eine Dame zum Schutze gegen die Sonne den Fächer hochheben läßt. Ebenso wie die perspektivischen Effekte nur auf einen Blickpunkt hinkomponiert sind, ist es dem Künstler hier auch gleichgültig, wie die Gebärde motiviert sein soll, wenn die Sonne nicht scheint. Der eigentliche süddeutsche Rokokomaler war Matthäus Günther (1705—88). Bei ihm treten wieder deutlich dekorative Absichten hervor. Die Decke soll gefüllt und gegliedert, nicht in gleichem Maße illusionistisch geöffnet werden. In Günthers frühen Fresken in Druisheim verbindet sich bereits eine im Sinne Pozzos gemalte Scheinarchitektur, die auf einen bestimmten Standpunkt des Betrachters berechnet ist, mit einer Figurenauffassung die eng mit der Welt des Tafelbildes verbunden bleibt. Und von den Kuppelfresken in Weiden (1732) sagt der Biograph Günthers: „Was die Kalotte hier durchaus erwarten ließe, einen einheitlichen Bewegungszug von der Wand zur Decke, bindend und durchdringend, wird gehemmt von dem starken Kranzgesims, das in fast grausam-tektonischer Sauberkeit gebauten und gemalten Raum scheidet." 2 Gundersheimer weist daraufhin, wie dieses Prinzip bei Günther jedoch wieder durchbrochen wird, indem einzelne Figuren plastisch aus dem Fresko herausgreifen und das architektonische Gesims überschneiden. Gundersheimer betont zwar, das Gesims stelle „in seiner starken Realität an dieser Stelle des Übergangs vom Sein zum Schein eine großartig kontrastierende Folie für die Belanglosigkeit solcher Seitensprünge auf die Gesamtwirkung dar." Wir müssen hierin jedoch eine erst jetzt mögliche freie Wählbarkeit zwischen den sonst einander ausschließenden Formen raumästhetischer Gestaltung erkennen. Im ganzen überwiegen aber bühnenhafte Distanz und strenge Rahmung im Schaffen Günthers. In Neustift und Rattenberg verwendet er sogar Vorhänge in ästhetisch begrenzender Funktion. 3 Die rocaillenfÖrmigen Rahmen und Kabuschen entstehen vor den Gemälden, die sich 1 Feulner (a. a. O.) Abb. 169, 170. * Gundersheimer: Matthäus Günther. Die Freskomalerei im säddeutschen Kirchenbau d. 18. Jahrh. Augsburg 1930. S. 13 ff. Abb. 4—7. 3 Gundersheimer (a. a. O.) Abb. 19, 22, 29, 41, 42.

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wie Tafelbilder einzufügen haben. Obwohl aber Günthers Entwicklung vom Illusionsbild zurück zum Bühnenbild zu führen scheint, malt er im Kuppelfresko von Oberammergau Balkone, die als Fortsetzungen des Realraumes gedacht sind. Von einem dieser Balkone springt ein mit höchster Virtuosität gemalter Mann scheinbar in die Tiefe des Kirchenraums, — die Grenze zwischen gemaltem und gebautem Raum ist von neuem willkürlich eingerissen. Günthers Deckenmalereien in der Kirche zu Fiecht in Tirol (1743—44) zeigen wiederum eine Überwindung des illusionistischen Stils zu Gunsten eines dekorativen Wand- und Deckenschmucks. Sie „sind vielfach in geschweifte Stuckrahmen gefaßt und zwar begleiten die Kurven der Nebenbilder die des Hauptbildes. Die Bilder selbst prunken trotzdem mit kühnen, von unten gesehenen Scheinarchitekturen: aber diese können nun in keiner Weise mehr wie der Deckenöffnung aufgesetzte Baugebilde wirken, denn die Schnörkelung des Randes zerstört von vornherein die Illusion, als hätte man es mit einer wirklichen Deckenöffnung zu tun. Diese Scheinarchitekturen spielen vielmehr nur in den Bildern selbst eine Rolle, sie gehören zur Darstellung, statt ihren Rahmen zu bilden wie bei Pozzo." 1 In Amorbach greifen die Stuckrocaillen des Rahmens distanzierend auf das streng gerahmte Bild über und 1749 erscheinen in Hergottsruh an der Decke statt himmlischer Erscheinungen irdische Landschaftsbilder. Entwicklungsgeschichtlich bedeutet dies einen Rückgriff auf die bei Veronese verwirklichte bühnenhafte Stufe der Deckenmalerei. Auch 1751 in Gossensaß trennt Günther noch deutlich Bild- und Realraum, um darauf 1752 bei seinen Deckenmalereien im „Käppele" zu Würzburg eine frühere Entwicklungstufe zu rekapitulieren.2 Pozzohaft verkürzte Architekturen tauchen von neuem auf, von einer Scheinerweiterung des gebauten Raumes kann jedoch keine Rede mehr sein, ebensowenig von einer Durchbrechung des Rahmens. Gundersheimer hat mit Recht auf die Begegnung mit Tiepolo in Würzburg hingewiesen, die Günther weniger formal beeinflußt, als raumästhetisch von neuem auf den italienischen Spätbarock hingewiesen hat. Günthers für die gesamte Deckenmalerei in ihrer Unentschiedenheit beispielhafte Entwicklung führt nun weiter zu den Fresken in Wilten (1754), wo ein Heerlager und Stadtveduten in unwirklicher Situation an der Decke erscheinen. Nur in den weltlichen Fresken des Stuttgarter Schlosses, die im gleichen Jahre 1754 begonnen und 1757 vollendet wurden, ist ein unmittelbarer Einfluß Tiepolos zu erkennen. Und Hand in Hand damit treten neue Überschneidungen der ästhetischen Grenze auf. Die 1763 vollendeten Kuppelfresken in Rott am Inn wiederum dienen einer rein dekorativen Idee und vermeiden jede Beziehung zu einem ]

2

Hammer: Die Entwicklung der barocken Deckenmalerei in Tirol. Straßbarg 1912. S. 274 f. Taf. 25—33. vgl. Gundersheimer (a. a. O.) S. 45. Abb. 44, 57, 65, 66, 69, 70, 76, 80, 93.

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Außerhalb. In seinen letzten Werken nähert sich Günther dann immer mehr dem Klassizismus. Auch Dvorak stellt in der Deckenmalerei des 18. Jahrhunderts eine Lockerung des Zusammenhanges mit der Architektur fest. 1 Die im Deckenbild gemalte Architektur charakterisiert sich deutlich als eine Bühnenarchitektur, deren Gegensatz zur wirklichen Architektur, um mit Dvorak zu reden, so deutlich ist, „als ob uns der Maler zwei getrennte Welten hätte zeigen wollen." Von Daniel Grans Deckengemälden im Palais Schwarzenberg und in der Hofbibliothek heißt es: „Der einheitliche Zug, die malerische Massenkomposition, das gewaltige Hinaufbrausen der architektonischen Energien, in der Malerei fortgesetzt, sind ganz verschwunden. Ungebunden, nur einer zarten verschleierten Rhythmik angepaßt, heben sich und senken die Wellen der Komposition über den Rand der architektonischen Einrahmung." Auf dem Kuppelfresko der Hofbibliothek erscheinen illusionistische Loggienöffnungen hinter einer gemalten Balustrade, die teilweise unterbrochen ist, um den auf dem Gesims sitzenden Figuren die Möglichkeit zu geben, scheinbar in den Freiraum überzugreifen. Darüber befinden sich Gewölbeöffnungen in der Art von Ochsenaugen mit perspektivisch gemalten Durchblicken in vorgetäuschte Nebenräume. Der Rand der architektonischen Einrahmung wird bei dem 1694, in engstem Generationszusammenhang mit Egid Asam (1692) geborenen Gran deutlicher durchbrochen, als Dvorak es in seinen Worten andeutet. Es bleibt die freie Wahl zwischen den illusionistischen Möglichkeiten des Spätbarock und der neuen Distanz. Auf den Deckengemälden des in Italien geschulten Tirolers Paul Troger (geb. 1698) in der Bibliothek zu Melk finden sich kleine Grenzüberschneidungen, die jedoch der außerordentlichen Betonung des Rahmens gegenüber an Bedeutung verlieren.2 Auf dem Fresko des Melker Marmorsaales wird sogar eine Art von Scheinarchitektur verwendet. Wie Tietze jedoch richtig hervorhebt, ist bei Troger das Verhältnis zum Räume das gleiche wie bei seinem Vorbild Tiepolo: „Reiche Architektur rahmt das ganze Bildfeld und hebt mit den gekuppelten Säulen, die die Höhenrichtung verstärken und das feste Gerüste des perspektivischen Aufbaus bilden, die Hauptszene in die Höhe. Dadurch daß dieser auf die Mitte des Raumes orientiert ist, — wodurch das Grell-Subjektive einer für den Eintretenden berechneten Perspektive vermieden wird — und daß die Architektur den C h a r a k t e r d e s R a h m e n d e n dadurch wahrt, daß sie nur ausnahmsweise als naturalistischer Bau aufgefaßt, handelnde Personen aufnimmt, bleibt Dvorak: Zur Entwicklungsgeschichte der barocken Deckenmalerei in Wien. Wien o. J . S. 12. Taf. 11, 12.—Oshorn (a. a. 0.) Abb. 379. 'österreichische Kunsttopographie. Bd. III Wien 1909. Abb. 333—34. Taf. 27. Text: (Tietze) S. X X X I V . 1

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die Architekturmalerei dienendes Glied und ihre Unterordnung unter die figurale Bemalung gewahrt. Bei dieser ist der Eindruck des Oben und Unten verwischt, hier sollen nicht die mathematischen Gesetze der Perspektive sondern die unberechenbaren Eindrücke des endlosen Luftraumes walten." Der Hauptmeister der österreichischen Malerei des 18. Jahrhunderts ist Anton Maulpertsch (geb. 1724), ein gebürtiger Seeschwabe. Benesch hebt als Kennzeichen seiner Deckenkunst im Gegensatz zum Barock die Distanz zwischen der erhöhten Bühne und der betrachtenden Menge hervor. 1 In der Betonung der bei Maulpertsch häufigen Bilddistanzierung muß Benesch zugestimmt werden, weniger jedoch in der Zurückführung dieser Distanz auf Italien. Die starkeformengeschichtlicheBindungMaulpertschs an italienische Vorbilder, die Benesch ausführlich nachgewiesen hat, besonders anPiazzetta und Bazzani, scheint uns vielmehr umgekehrt die gelegentliche Überschneidung der ästhetischen Grenze genetisch zu begründen, die sich zwar nicht so regelmäßig wie bei Gran, bei Maulpertsch doch findet, so vor allem in den Deckenfresken des Lehenssaales in Kremsier (1758—60) oder in den Malereien der Pfarrkirche in Schwechat (1765). Gerade hier fällt das Nebeneinander isolierter und raumverwischender Deckenmalerei besonders auf. Die Darstellungen mit der „Probe des wahren Kreuzes" und der „Himmelfahrt Mariae" sind medaillonartig gerahmt, der weihrauchschwingende Engel des Chorfreskos dagegen stürzt in gewaltigem Schwünge aus der gemalten Scheinkuppel in den Realraum. Am konsequentesten ist Maulpertschs Verbindung von Kunst- und Realraum in der Augustinerkirche zu Kronenburg (1772). Der Hochaltar steht in einer Nische, die aus zwei Paaren perspektivisch nach der Tiefe zu konvergierender Säulen gebildet wird: das letzte Säulenpaar ist bereits gemalt und hinter ihm erscheint das Wandgemälde Maulpertschs, welches das „Abendmahl" darstellt. Im Gewölbe wird die plastisch ausgeführte Figur Gottvaters sichtbar inmitten einer Engel- und Wolkenglorie, die unmittelbar und mit großer Illusionskraft in die Malerei des Bildes überleitet. Die konvergierenden Säulen und die perspektivische Täuschungsabsicht stellen Maulpertsch hier den großen Barockmeistern an die Seite. Die österreichische Deckenmalerei schwankt ebenso wie die süddeutsche zwischen beiden Polen raumästhetischer Gestaltung. Das autonome Prinzip ist rein verwirklicht in den Malereien der Süddeutschen Johann Baptist Zimmermann (Deckenbild in Berg am Laim), Johann Evangelist Holzer (St. Anton in Partenkirchen) und Nikolaus Gottfried Stuber (Schloß Brühl). 2 Alle diese Künstler vereinigen das Prinzip weitestgehender Formüberschneidungen innerhalb der Kunstsphäre mit strengster Wahrung der ästhetischen Grenze. In Christian Wink (geb. 1738) und Januarius Zick 1

2

Benesch: Anton Maulbertsch. Zu den Quellen seines malerischen Stils. Städeljahrbuch. Frankfurt a. M. 1924. S. 107ff. Taf. X X X V — X X X V I I . Abb. 99—104. 109. Feulner (a. a. O.) Abb. 121, 122, 145, 146, 158 159. 16

Michalik!.

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(geb. 1732) sieht Feulner bereits eine Überleitung zum Klassizismus. E r betont, Wink zerstöre das Visionäre, indem er das Fresko wie ein Tafelbild behandele. Da die raumästhetische Entwicklung aber im 18. Jahrhundert konsequent diesem Ziele zusteuerte, und da vor allem in den reifen Hauptwerken von Wink und Zick die Rocaille Triumphe feiert, so kann hier noch nicht von Klassizismus gesprochen werden. Zu diesen Ergebnissen einer formalphänomenologischen Untersuchung des Verhältnisses von Kunst- und Realraum in der deutschen Deckenmalerei des 18. Jahrhunderts steht es in keinem Widerspruch, daß die meisten dieser Malereien wie im Barock nach gelehrten, allegorischen Bildprogrammen komponiert werden mußten, die den Malern strenge Vorschriften machten.1 Feulner erwähnt das Deckenfresko derWiblinger Klosterbibliothek von Franz Martin Kuen, wo das System der Scholastik durch eine Gegenüberstellung der christlichen und der heidnischen Wissenschaft in allegorischen Figuren entwickelt wurde. Feulner sagt, das Verständnis des Freskos erfordere ausgedehnte theologische Kenntnisse. Auch Matthäus Günther führte im Bibliotheksaale des Klosters Aldersbach (1760) ein ähnlich kompliziertes, literarisches Programm aus: die Verdienste des Zisterzienserordens um die Wissenschaften. Gundersheimer bedauert, daß Günther nicht mehr die Schwungkraft hatte, dieser Aufgabe eine neue Form zu geben, sondern wieder auf das alte System der Scheinarchitektur zurückgriff. Uns scheint das im Wesen dieser außerästhetisch bedingten Malerei tief verankert zu liegen, wenn auch betont werden muß, daß weder in Wiblingen, noch in Aldersbach eine illusionistische Erweiterung des Realraumes in den Kunstraum mehr stattgefunden hat. Dem entspricht es, daß das Bildprogramm im Rokoko vorwiegend in die kunsthistorische Ikonographie, in das Gebiet einer Hilfswissenschaft gehört, während es im Barock darüber hinaus, die Gestaltung des Kunstwerkes selbst bis ins Letzte beeinflußte und infolgedessen zum vollständigen Verständnis unbedingt berücksichtigt werden mußte. Im Zusammenhang hiermit muß jedoch betont werden, daß eine Nebenströmung in Österreich den barocken Illusionismus mit letzter Konsequenz fortgebildet hat. 2 Die Wandmalereien von Johann Bergl im Schloß St. Veit bei Wien (1762—69), im Gartenpavillon in Melk (1763—64), im Erdgeschoß des Schlosses Schönbrunn (1774) und an anderen Orten zeigen die barocke Raumerweiterung auf einem Höhepunkt. Die Wände scheinen panoramatisch den Blick ins Freie zu öffnen. Bei den Fresken in Schloß Pielach (1766) sind Decke und Wände des Saales einheitlich und zusammenhängend bemalt, und die umlaufende leere Sockelzone des Raumes 1 1

Feulner (a. a. O.) S. 84—86. Abb. 149, 151. Gundersheimer (a.a. O.) S. 52—54. Abb. 82. Feulner: Wandmalereien ans Schloß Premstätten. Pantheon I 1928. S. 256ff. mit Abb. —österr. Kunsttopographie (a. a. O.) Bd. III, Abb. 337, 385, 426f., 442, 451, 452, Bd. II Abb. 221-22.

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wird vielfach von den Gestalten und Gegenständen des Freskos aberschnitten. Während trotz allen Schwankens die autonomen Tendenzen in der deutschen Malerei des 18. Jahrhunderts überwogen, bleibt die Plastik, wenn auch nicht in so starkem Maße wie in Frankreich, vielfach bei einem heteronomen Spätbarock. Auf die Gegensätzlichkeit des Schaffens der Brüder Asam wurde bereits hingewiesen. Ebensowenig wie bei Egid Asam, kann bei den „Kirchenvätern" in Diessen von Joachim Dietrich formal oder ästhetisch von reinem Rokoko geredet werden (um 1730). Diese an Permosers Bautzener „Kirchenväter "gemahnenden Statuen treten durch deutliche Sockelüberschneidungen in einen Realitätszusammenhang mit dem Beschauer. Hier liegt die letzte Nachwirkung des römischen Barock. 1 Gestaltungen, wie Asams illusionistischen Gruppen in Osterhofen, oder frei in den Raum hineinschwebende Figuren, wie in Rohr, kommen innerhalb des Rokokostils nicht mehr vor. Johann Baptist Straub (geb. 1704), Joseph Christian (geb. 1706), Christian Wenzinger (geb. 1710) und Ignaz Günther (geb. 1725) sind die Hauptvertreter des neuen Stils. Straub und Günther sind Bayern. Trotz einer deutlichen Abkehr vom italienischen Barock und trotz einer starken formalen Bindung an die Gesetzlichkeit der Rocaille, wahren die Werke dieser Künstler, die hauptsächlich Altarplastik schufen, nicht die ästhetische Grenze. Die Figuren treten über ihre Sockel hinaus, lösen sich aus ihrer architektonischen Gebundenheit an die Altäre und setzen sich durch ausladende Gebärden oft mit dem Geschehen des Altargemäldes in Verbindung. 2 Diese Verbindung von Kunst- und Realraum tritt auch in der profanen Plastik zutage. Bei Ignaz Günthers Portal der Ostfassade des Schleißheimer Schlosses überschneiden der auf den Voluten des Türsturzes sitzende Engel und der hinter Trophäen hervorschauende Löwe die Rahmung nicht nur der Tür selbst, sondern sogar auch die umgebende Architektur. Das Hochrelief steigert sich gleichzeitig in barocker Weise zur Freiplastik. In ähnlicher Weise gestaltet Johann Baptist Zimmermann eine Türbekrönung an der Amalienburg, was um so bemerkenswerter ist, als es sich hier um den gleichen Zimmermann handelt, der als Deckenmaler (in Wies, Berg am Laim, Schäftlarn u. a.) die ästhetische Distanz des Kunstraumes genau aufrecht hielt. 3 Des Badensers Christian Wenzinger bemalte Tonfiguren von einem ölberg aus der Kirche in Staufen (um 1745) zeugen gleichfalls für die ästhetische Heteronomie der Rokokoplastik. Sie befinden sich heute in der Skulpturen* Sammlung des Städel-Instituts zu Frankfurt a.M. 4 Die ursprüngliche 1 2

3 4

Feulner ( a . a. O.) Abb. 175, 176. vgl. bei Giedeon-Welcker: J. B. Straub. München 1922. — Feulner: Ignaz Günther, Wien 1920. Feulner: Bayrisches Rokoko (a. a. O.) Abb. 81, 184. Schmitt: Barockplastik, Frankfurt a. M. Taf. 65—72; Münzel: Christian Wenzingers Oelberg in Staufen. Münch. Jahrb. der bildenden Kunst III. 1908. S. 35ff. Abb. 1—9. 16*

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Aufstellung der Figuren war in einem kleinen gedeckten Bau an der südlichen Seite der Kirche. Das in Deutschland ungewöhnliche Material des naturalistisch bemalten und gebrannten Tons läßt auf den Einfluß Italiens schließen, wohin Wenzinger eine Studienreise unternommen hatte. In den Zusammenhang des ölbergs gehörte auch die Darstellung eines Mannes in zeitgenössischer Tracht mit pelzverbrämtem Rock und Muffe, die als ein Selbstporträt des Künstlers identifiziert werden konnte. Diese schrankenlose Vergegenwärtigung, die wie im Quattrocento eine unmittelbare Verbindung mit dem Gläubigen herstellte, macht es wahrscheinlich, daß der ölberg wie ein Panorama aufgestellt war, in der Art der neapolitaner Krippen des 18. Jahrhunderts, die in Italien die Tradition der modeneser Tonplastik des vierten Quattrocento aufrecht hielten. Der Reliefstil des Rokoko unterscheidet sich in raumästhetischer Hinsicht allerdings grundlegend von dem des Barock. Während Andreas Faistenberger (geb. 1647) in seinem Verkündigungsrelief der münchener Bürgersaalkirche in typischer Weise den Rahmen der Darstellung überschneidet, kommt dies bei Straub und Günther nicht mehr vor. 1 In reinster Form tritt uns das Rokokorelief im Schaffen des Schwaben Joseph Christian entgegen.2 Aus den Jahren 1744—52 und 1757—66 stammen die Reliefs, mit denen die Rückwände der Chorgestühle in den Klosterkirchen zu Zwiefalten und Ottobeuren geschmückt sind. Die „objektive" Reliefbühne, wie sie am klarsten im späten Manierismus durch Giovanni da Bologna zur Verwirklichung gelangt war, erlebt hier ihre Wiedergeburt. Von dem Raum des Reliefs läßt sich keinerlei Beziehung zu dem Raum, in dem der Betrachter sich befindet, herstellen. In Zwiefalten trägt der mit Rocaillenornamenten geschmückte Rahmen, der jedes einzelne Relief wie ein Bild umfaßt, in der Mitte der unteren Kante eine Muschel, aus der ein kleiner Puttenkopf, wie unter einem Souffleurkasten, hervorschaut, so daß die Analogie zu einem Theater, das sich hinter einer Rampe und hinter Vorhängen vollzieht, die auf einigen Reliefs erst gerade von Engeln gerafft werden, doppelt deutlich wird.3 Die nach Christians Entwürfen von Johann Michael Feichtmayr und vom jüngeren Christian ausgeführten Stuckfiguren sind jedoch wiederum in gleichem Maße wie die Werke Straubs oder Günthers auf ein Außerhalb bezogen. Die österreichische Plastik des 18. Jahrhunderts wird durch Georg Raffael Donner repräsentiert, der durch seine Geburt im Jahre 1693 generationsmäßig zu Egid Asam und Gran gehört. Donner hat von jeher als eine problematische Erscheinung innerhalb der Rokokokunst gegolten. Durch seinen Lehrer Giuliani und durch wahrscheinlich mehrere Reisen war er 1 2 8

Feulner: Miinchener Barockskulptnr. München 1922, Abb. 5. Michalski: Joseph Christian. Leipzig 1926. S. 14 ff. Michalski (a. a. O.) Abb. 13—22. 40—48.

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der venezianischen Kunst besonders stark verpflichtet. Ans Venedig hat man auch seine in gewissem Sinne klassizistische, rocaillenfremde Formgebung abzuleiten versucht. Sobotka hat aber richtig erkannt, daß „das Problematische des Falles vielleicht weniger in der Frage liegt, woher Donner zu seinem Klassizismus kam, als in der Tatsache selbst, daß er gerade in Wien, im Hauptsitz einer dekorativen, malerischen Barockgesinnung zu einer anderen, klassizistischen Auffassung gelangte." 1 Wir stehen hier vor einem besonders bemerkenswerten Beispiel des Auseinanderfallens von morphologischen und raumästhetischen Stilmerkmalen. Donners Kunst verbindet nämlich eine tatsächlich „klassizistische" oder besser spätmanieristische Formgebung im Sinne Giovannis da Bologna mit einer typisch barocken, der wiener Tradition durchaus entsprechenden Herstellung eines Realitätszusammenhanges mit dem Betrachter. Vor allem die Flußfiguren vom 1739 vollendeten Brunnen auf dem Neuen Markt in Wien treten über den Rand des Wasserbeckens weit in den Realraum hinein.2 Besonders die Männergestalten, welche die Flüsse Enns und Traun allegorisieren, greifen weit aus der Kunstsphäre heraus. Im Gegensatz zu Giovanni da Bologna bleiben Donners Figuren nicht in dem Luftkubus über dem Sockel gebunden. So überschneidet auch auf dem Standbild des hl. Martin, ehemals am Hochaltar des Doms zu Preßburg (1732) der vor den Füßen des sich bäumenden Pferdes zusammengesunkene Bettler mit Bein und Stab den Sockel des Monuments.3 Diesen spätbarocken Skulpturen stehen jedoch auch im Schaffen Donners die Reliefs gegenüber, welche stets streng gerahmt sind und die ästhetische Grenze genau wahren.4 In Italien kann im eigentlichen Sinne des Wortes kaum von einem Rokokostil geredet werden. Der Italiener hat für die Kunst des 18. Jahrhunderts kein besonderes Wort und spricht nur vom „Settecento", was gleichzeitig mit seiner Vorliebe für neutrale Jahrhundertbezeichnungen zusammenhängt, die alles Begriffliche vermeiden. Immerhin sind die Begriffe „rinascitä" und „barocco" auch in Italien geläufig, während das Rokoko als solches nicht terminologisch isoliert wird. E s muß aber betont werden, daß auch in Italien das seltsame, alle Körper, Bildgrundrisse und Formationen durchsetzende Walten der Rocaille nachgewiesen werden kann, am stärksten vielleicht bei Piazzetta (vgl. den „Fahnenträger" und das „Opfer Abrahams" in Dresden oder die „Ländliche Szene" in Dublin). 5 Sein auf Leinwand gemaltes Deckengemälde mit der Glorie des Heiligen Dominicus in S. S. Giovanni e Paolo zu Venedig ist trotz eines konsequenten „di sotto in su", von einem dicken, reich verkröpften und geSobotka (a. a. O.) S. 154. * Das Wiener Barockmuseum, 1929. Abb. 18—32. Webbach: Die Kunst des Barock (a. a. 0.) Abb. 411. ' Das Wiener Barockmuseum (a. a. O.) Abb. 10—13. 5 Ravä: G. B. Piazzetta. Florenz 1921. Abb. 27, 29, 38,12. 1

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schweiften Bilderrahmen umfaßt. Es gehörte zu den maßgebenden Vorbildern Tiepolos. Tiepolo dagegen erweist sich als der Vollender der Barocktradition in der Deckenmalerei Italiens. Es ist bezeichnend, daß der Spätbarock hier in formengeschichtlicher Hinsicht an einen Meister der frühbarocken Entwicklung anknüpft: an Veronese. Auch in raumästhetischer Hinsicht ist Tiepolo Veronese außerordentlich verwandt. In Veroneses Schaffen wird die gesamte Skala von ästhetisch distanzierten Werken, wie den Deckengemälden im Dogenpalast, bis zu extrem illusionistischen Raumerweiterungen, wie den Fresken in Mas£r, abgewandelt. Ebenso finden sich auch bei Tiepolo streng gerahmte und isolierte Deckenbilder, wie die Fresken des Palazzo Trento in Vicenza (40er Jahre) oder die aus dem Palazzo Porto in Vicenza stammenden Malereien, die sich zuletzt in der Sammlung Eduard Simon in Berlin befanden, neben solchen, wo die Rahmung nachdrücklich überschnitten wird. (Palazzo Dugnani, Mailand, (1721—25), S. Maria del Rosario in Venedig (1739), S. Maria degli Scalzi (1743), Palazzo Rezzonico (um 1746) in Venedig).1 Auch Tiepolos Malereien in der erzbischöflichen Residenz in Würzburg arbeiten mit illusionistischen Raumerweiterungen(1751—53). Im Treppenhause scheinen einige Figuren aus der Bildzone herauszusteigen, um auf das Gesims der realen Wandarchitektur überzugreifen. Und obwohl bei den Fresken des Kaisersaales getönte Stuckvorhänge, von Engeln gehalten und gerafft, vor dem Bilde herabgleiten könnten, wird die ästhetische Grenze doch wieder durch täuschende perspektivische Bravourstückchen, vor allem aber durch freiplastisch in Stuck gebildete Teile überschnitten, die aus der Bildbühne in den realen Raum hinausragen. Unmittelbar an die illusionistischen Tendenzen Veroneses knüpft Tiepolo in den Fresken des Palazzo Labia in Venedig (1757) an. Die Täuschungskraft wird noch gesteigert durch die seit Pozzo geläufige Ausführung der Scheinarchitektur von einem besonders ausgebildeten Quadraturmaler: Girolamo Mengozzi-Colonna, mit dem Tiepolo viel, so auch bei der Decke der Scalzikirche, zusammen arbeitete. 2 Die Architektur des Saales im Palazzo Labia ist nur an der Eingangswand dreidimensional ausgeführt. An den beiden Seitenwänden wird sie mit höchster perspektivischer Kunst von einer Scheinarchitektur fortgesetzt, in welche die tatsächlich vorhandenen Türen und Fenster so geschickt einbezogen sind, daß es unmöglich ist, ihre Realitätsdifferenz von den nur gemalten Wandöffnungen mit den Augen allein festzustellen. Durchblicke auf Nebenräume werden vorgetäuscht und in der Mitte führen Stufen unmittelbar aus dem Saal durch einen gemalten Portikus, der dem realen der gegenüberliegenden Eingangswand genau entspricht, zu der Festtafel Sack: Giambattista und Domenico Tiepolo, Hamburg 1910. Abb. 78, 34—36, 59, 64, 79, 80, 84, 85. * Sack (a. a. O.) Abb. 114—117. 1

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der Cleopatra. Ein Zwerg steigt gerade die Treppen, die aus dem Realraum in das Bild führen, hinauf und verstärkt auf diese Weise die reibungslose Raumverschleifung. Die zweite Wandöffnung zeigt mit der gleichen Virtuosität die Szene, wie Antonius die Cleopatra auf das Schiff geleitet. Aus den schmalen Wandfeldern schaut hinter Balustraden das Gefolge der Königin in den Saal. Das Vorherrschen einer ästhetischen Heteronomie im Schaffen Tiepolos ist offensichtlich. Außer den Fresken der beiden vicentiner Paläste und außer einigen Werken aus seiner späten Tätigkeit in Spanien wird bei ihm die ästhetische Grenze nicht gewahrt. Das Deckenfresko des Saals der Garden im Schlosse zu Madrid (1762) ist zwar isolierend gerahmt, doch die Plafondmalerei im Großen Saale des Palastes (1764) bringt wieder eine konsequente Verbindung von Kunst- und Realraum. 1 Die im 18. Jahrhundert überall, wenn auch in verschieden starkem Maße, erkennbare ästhetische Diskrepanz zwischen Wahrung und Überschneidung der ästhetischen Grenze, die oft innerhalb des Schaffens eines einzelnen Künstlers, oft in der Gegensätzlichkeit von Malerei und Plastik der gleichen Zeit auftritt, läßt die Kunst des Rokoko in einer bisher nicht bekannten Weise als freizügig in ästhetischer Hinsicht erscheinen. Daß es sich hier nicht um Übergangserscheinungen, wie etwa im 12. Jahrhundert, handeln kann, wurde schon hervorgehoben. Auch über das in sich mehr geordnete Nebeneinander von Frühbarock und Manierismus geht die Spaltung im 18. Jahrhundert weit hinaus. Der Stil vermag nur noch in geringem Maße einen raumästhetischen Zwang auszuüben. Eine gewisse Willkür ist eingetreten. Am ehesten muß an das Nebeneinander von künstlerischer Autonomie und Heteronomie in der Plastik der sogenannten deutschen Renaissance erinnert werden. Die grundsätzliche Labilität dieses Stils veranlaßte dort den Kunsthistoriker, die Uneinheitlichkeit der wirksamen Kulturphänomene aufzuspüren. Wenn Dilthey Erasmus von Rotterdam den Voltaire des 16. Jahrhunderts nannte, so gewinnt dieser Vergleich für uns nunmehr seine besondere Bedeutung. Das „ästhetische Schisma" steigert sich im 18. Jahrhundert bis an die Grenze der Regellosigkeit. Doch auch hier können wir auf deskriptive, formalphänomenologische und assoziationslose Weise erkennen, daß die Menschen dieser Spätzeit der europäischen Kunstentwicklung bereits zu viel wissen, um sich festlegen zu können. Sie haben zu viel gesehen und zu viel Verständnis für alle künstlerischen Möglichkeiten, sie sammeln bereits die Werke vergangener Epochen und können sich historizistisch in sie einfühlen. Das bedeutet nicht, daß jetzt in qualitativer Hinsicht keine ganz großen, eigenen und tiefen Leistungen mehr möglich wären. Aber sie sind nun der persönlichen Entscheidung des schaffenden Individuums mehr als je vorher anheimgegeben. Die Frage nach der allgemeinen raumästhetischen Haltung ver1

Sack (a. a. 0.) Abb. 131c, 134. 247

liert ihre Bedeutung. Gleichzeitig "wird die Zuordnung der ästhetischen Distanz zu einer Autonomie der Kunst, sowie die der Verbindung von Real- u n d K u n s t r a u m zu einer Heteronomie zerstört. Denn wo persönliche Willkür herrscht, ist der Schluß auf einen überpersönlichen Zwang nicht mehr möglich. J e t z t gibt es — wenigstens in raumästhetischer Beziehung nur noch Absichten der Künstler und nicht mehr Wege der K u n s t . Der typisch barocke Künstler mußte auf ein Außerhalb bezogene K u n s t schaffen, auch wenn er als Protestant nicht unmittelbar vom Geiste der Gegenreformation erfaßt werden konnte. Der Künstler des 18. J a h r h u n d e r t s k a n n es, er braucht es jedoch nicht zu t u n . Die vielfachen Möglichkeiten und Perspektiven, die sich f ü r die Lösung einer jeden Frage des Lebens ergeben, der Relativismus, das Kennzeichen des modernen Menschen, dringt zum ersten Male in die K u n s t , nicht in das einzeln f ü r sich betrachtete Kunstwerk ein. Und wenn auch gewisse Gruppen innerhalb der Rokokoströmung, wie die süddeutschen Deckenmaler, eine ästhetische Autonomie bevorzugen, so geht doch im Großen die ästhetische Bindung des Stils verloren. Entscheidend innerhalb unserer Untersuchungen bleibt es jedoch, d a ß das relativistische „sowohl als auch", vorläufig ohne jede Kenntnis der Geistesgeschichte, sich allein an unserem formalphänomenologischen Kriterium ablesen läßt, das also auch in diesem besonders komplizierten Falle seine Gültigkeit beweist. Die gleiche Zwiespältigkeit wird zum Kennzeichen der Bühnengestaltung im 18. J a h r h u n d e r t . Ferdinando Galli Bibiena (1657—1743), der, außer in Italien, vor allem im Dienste Karls V I . in Wien tätig war, stellt als Erster den Bühnenraum im Verhältnis zur Bühnenöffnung übereck. 1 Frey weist mit Recht d a r a u f h i n , d a ß auf diese Weise der Realraum grundsätzlich wieder von der Szene getrennt wird, denn „indem dem R a u m der Bühne ein ganz anderes Achsenkreuz zugrunde liegt, stellt er sich unmittelbar als ein grundsätzlich anderes Raumsystem dar, als der R a u m des Zuschauers. Da aber der Bühnenraum andererseits in der ideellen Ergänzung, die er fordert, über die Bühnenöffnung hinaus in den Zuschauerr a u m eindringt, sich gleichsam mit diesem verschneidet, wird doch wieder der Zuschauerraum mit dem Bühnenraum in Beziehung gesetzt." 2 Wichtig f ü r den Historismus des 18. J a h r h u n d e r t s und f ü r das, was wir als freie Wählbarkeit bezeichneten, ist Bernhard Fischer von Erlachs d. J . im J a h r e 1721 veröffentlichter „ E n t w u r f f einer historischen Architektur", in dessen Einleitung den Architekten alle nationalen u n d historischen Stilrichtungen zur Auswahl empfohlen werden. 1

1

„L'architettnre civile preparata su la geometria e ridotta alla prospettiva." Parma, Monti 1711. p. 137 f. Dagobert Frey: Gotik und Renaissance als Grundlagen der modernen Weltanschauung. Augsburg 1929. S. 225. Abb. 76.

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Die ästhetische Bindung des Stils geht früher als die formengeschichtliche Bindung verloren. Die formengeschichtliche Einheitlichkeit wird mit letzter Konsequenz erst im 20. Jahrhundert geopfert, wo es soviel Stile wie kollektivistische Gruppen oder isolierte Individualitäten gibt. Die Rocaille leistet bis zu einem hohen Grade für eine morphologische Einheitlichkeit wenigstens innerhalb der Rokokoströmung Gewähr.Das 18. Jahrhundert ist ein Zeitalter, das in seiner Zersplitterung und Auflösung, in seiner Uneinheitlichkeit aller Ziele bisher ohne Vorbild ist. Hiermit hängt es zusammen, daß an die Stelle der von einem kirchlichen oder weltlichen Oberhaupt diktierten Richtung die Vielköpfigkeit der „öffentlichen Meinung" tritt, die gleichzeitig eine starke Dosis Skepsis enthält. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wächst die Bedeutung und der Einfluß der Zeitschriften und der Journalistik in beträchtlichem Maße, bis im Jahre 1777 mit dem „Journal de Paris" die erste Tageszeitung erscheint. Unter den mannigfachen Perspektiven, die sich überall auftun, wird nach den Grundsätzen der Vernunft gewählt. Die „Vernunft" wird zum großen Schlagwort des 18. Jahrhunderts und neben sie tritt die „Natur" als richtungsgebende Größe. Das, was wir freie Wählbarkeit nannten, muß in der Tat bei einer Orientierung an den vielen Spielarten und Möglichkeiten der „Natur" zum allgemeinen Grundprinzip werden. Mit dem Skeptizismus verbindet sich Aufklärung und weitgehende Toleranz. Die Philosophie verdrängt nicht nur die Religion, sondern entwertet auch jede kirchliche Zeremonie. Bayles philosophisches Wörterbuch hat man mit Recht die Bibel des 18. Jahrhunderts genannt. Durch Montesquieu und Voltaire gewinnt die englische Philosophie des 17. Jahrhunderts erst ihre allgemeine europäische Verbreitung. Die meisten Geister der Zeit bekennen sich keineswegs zu einem konsequenten Atheismus, aber, —für das „sowohl als auch" sehr bezeichnend — zum Deismus, der zwar an einen Gott als Weltschöpfer glaubt, aber eine weitere Einmischung dieses Gottes in den Lauf der Welt und die Geschichte der Menschen ablehnt. In der Renaissance hatte der Deismus keine so bedeutende Rolle gespielt. Daher setzt sich besonders Voltaire, im Gegensatz zu der im 17. Jahrhundert trotz aller philosophischen Angriffe stets siegreichen gegenreformatorischen Kirche, mit Erfolg für die Abschaffung aller Dogmen und jedes Kultus ein. Die Form der Gottesverehrung soll jedem Menschen persönlich überlassen bleiben. Die freie Wählbarkeit auf religiösem Gebiete läuft der auf ästhetischem Gebiete parallel. Charakteristisch sind Voltaires bekannte Worte: „Die Philosophie zeigt uns wohl, daß es einen Gott gibt, aber sie ist außer Stande zu sagen, was er ist, warum er handelt, ob er in der Zeit und im Raum ist. Man müßte Gott selbst sein, um es zu wissen." Deutlich tritt die Zwiespältigkeit des 18. Jahrhunderts in dem Gegensatz von Voltaire und Berkeley hervor. Pinder hat auf den Generationszusammenhang des englischen Philosophen Berkeley mit Watteau, die beide 249

im Jahre 1684 geboren sind, hingewiesen. Voltaire nähert sich dagegen der Generation Bouchers. Der Idealismus Berkeleys erscheint Pinder mit Recht als Parallele zu der immateriellen Formenwelt Watteaus. 1 Die Außenwelt existiert für Berkeley nur als Idee, als Vorstellung. Esse est percipi, — abstrakte Ideen gibt es nicht, er ist hierin ein vollkommener Nominalist. E s ist aber stets betont worden, daß Berkeley nun nicht, wie alle anderen Nominalisten zum Sensualismus und Materialismus gelangte, sondern zu einem konsequenten Spiritualismus. Es existieren für ihn keine Erscheinungen, nur Geister, Ideen und Gott, dessen Ideen als Ganzes wir Natur nennen. Da Gott allmächtig ist, kann er die Kausalität und die Naturgesetzlichkeit, die nur in der Reihenfolge seiner Perzeptionen besteht, willkürlich verändern. Hierdurch können „Wunder" entstehen. Wirklich und dinghaft sind nur Gott, die Geister und die Ideen. Die maßgebenden Persönlichkeiten der Zeit, die philosophischen Schriftsteller Frankreichs, waren alle keine ursprünglich produktiven Köpfe. Sie fußten vornehmlich auf der englischen Philosophie des 17. Jahrhunderts, vor allem auf Locke. Aber im 18. Jahrhundert konnte sogar ein Eklektizismus von bisher unbekannten Dimensionen geistig wirksam und produktiv gemacht werden. Dieser Eklektizismus wurde gekrönt von einer wahrhaft bedeutsamen Idee, der Zusammenfassung des gesamten Zeitwissens in der „Encyclopédie". Diderot, der treibende Geist, wurde auf diese Weise, wenn auch nicht zum Vater der modernen Geisteswissenschaft, so doch zum Vater des modernen geisteswissenschaftlichen Verfahrens. Die aufklärerische Toleranz verband sich mit dem Wunsche, allen bestehenden Phänomenen gerecht zu werden. So wurden in den Themenkreis der Enzyklopädie sogar die Handwerke unter besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Kunst mit einbezogen, einNovum zu dieser Zeit, ein Keim zur modernen Werkkunstauffassung lange vor Morris und van de Velde. Gegen die unbeschränkte Herrschaft der Vernunft setzte Rousseau Gefühl und Empfindung. Im Jahre 1764 wurde in Frankreich der Jesuitenorden aufgehoben, in dessen Händen besonders im 17. Jahrhundert die gesamte Erziehung der oberen Schichten der europäischen Völker gelegen hatte. 1767 wurden die Jesuiten aus ihrem Stammlande Spanien vertrieben, und 1773 hob Clemens X I V . durch eine Bulle den gesamten Orden auf. Darauf wurden die Jesuiten auch aus Deutschland und Österreich gewiesen. Im Jahre 1762 erschien Rousseaus „Emile", der als neues Erziehungsideal die Entfaltung der Persönlichkeit in und durch die Natur aufstellte. Die bisherige Gesellschaftsordnung wurde von allen Seiten zersetzt. Die Vollkommenheit, als Ideal, konnte nach der Entwertung des Christentums nicht mehr in der Bildung des eigenen Inneren gesucht und erstrebt werden. Sie wurde nach außen projiziert, auf die äußeren wirtschaftlichen Verhält1

Pinder: Problem der Generation (a. a. O.) S. 135.

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nisse, auf den sozialen Fortschritt übertragen, der n u n m e h r das „ s u m m u m b o n u m " darstellte. Deshalb wurde von den Schriftstellern, allen voran von Voltaire, China, das infolge seiner räumlichen E n t f e r n u n g mit einem Nimbus bekleidet wurde, als der Inbegriff irdischen Glückes u n d vollkommener sozialer Zustände hingestellt. Bereits im J a h r e 1680 h a t t e P a t e r Philippe Couplet die allgemeine Aufmerksamkeit auf den „Confuzius" von da Costa gelenkt. „Hier wird zum ersten Male der Dreiklang angeschlagen, der f ü r die gelehrte Welt des 18. J a h r h u n d e r t s , wenn sie von China sprach, immer unzerlegbar blieb: China — Confuzius — politische Moral." 1 Der französische Hof beging die erste Neujahrsfeier des 18. J a h r h u n d e r t s mit chinesischen Festen. Lackarbeiten, Porzellan, Papiertapete u n d Teekultur wurden aus China übernommen. Die Bekleidung ä la chinoise wurde zur Lieblingsspielerei des Rokoko. Schon W a t t e a u dekorierte 1716 ein heute zerstörtes chinesisches Kabinett im Schloß La Muette bei Paris. Die Beliebtheit der „Chinoiserie" als Ziermotiv steigerte sich immer mehr. Wie aber diese dem Kurvendrang des Rokoko ästhetisch immanente Zierform, die bei W a t t e a u , bei frühen Meißener Porzellanen, in Augusts des Starken „indianischem Lusthaus 4 ' zu Pillnitz, in Pöppelmanns dresdner Japanischem Palais bereits vorkommt, mit den Ergebnissen literarischphilosophischer Überlegungen und Phantasien verquickt u n d dadurch zu einer auch ästhetisch transzendenten, geistesgeschichtlichen Symbolkraft gesteigert wird, ist für die ästhetische Zwiespältigkeit des 18. J a h r h u n d e r t s besonders bezeichnend. Das Nebeneinander dessen, was wir als Autonomie u n d Heteronomie in der K u n s t bezeichnen, kann auch in der zeitgenössischen Literatur beobachtet werden. Einerseits wurden „Tragödie u n d Komödie lehrhaft ausgenützt, durch Voltaire, Destouches, Piron, Gresset, oder umgearbeitet zu bürgerlichen Rühr- und Thesendramen durch La Chausee, Marivaux, Diderot, Beaumarchais", — andererseits aber „verflüchtigen sie sich ins Weltfremde, in Märchenspiele und Opern, in Melodramen u n d Vaudevilles. E c h t e Poesie gedieh zumeist nur noch als Spiel, T a n d u n d Illusion, als Marivaudage, oder in Anlehnung an Musik, oder abschweifend von der Wirklichkeit, ausschweifend in Humor, Ironie u n d Persiflage. Die starke dichterische Sachlichkeit des 17. J a h r h u n d e r t s ist dahin. Nur am R a n d e des Lebens noch, den Alltag umzierend, wie die Ornamentik des Rokoko, hält sich das Poetische, angeklebt und aufgemalt, ohne eigene Grundlage hängt es im geistigen R a u m . " 2 Der gegenreformatorische Charakter des P a p s t t u m e s verschwindet Benedikt IV., der 1740 den Stuhl Petri bestieg, hielt in tolerantester Weise engste Fühlung mit den Enzyklopädisten und mit Voltaire, der ihm sogar 1 a

Reichwein: China u. Europa im 18. Jahrh. Berlin 1923. S. 26. Vossler: Frankreichs Kultur u. Sprache, (a. a. O.) S. 339f.

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seinen „ M a h o m e t " widmete. Die bedeutendste Herrscherpersönlichkeit der Zeit war Friedrich der Große. E r vertrat eine F o r m des Königtums, die schon zu ihrer Zeit als „aufgeklärter Absolutismus" bezeichnet wurde. D e r eindeutige Absolutismus, der bis in den Beginn des 18. J a h r h u n d e r t s hinein in der Barockkunst wirksam war, besteht nicht mehr. Das Eindringen der Aufklärung in den Barock m u ß auch hier als f ü r das Rokoko charakteristisch angesehen werden. D a im 18. J a h r h u n d e r t die Frage nach Autonomie oder Heteronomie der K u n s t ihre Bedeutung verloren hat, da die einheitliche raumästhetische Bindung des Stils endgültig aufgegeben worden ist, sind unsere Untersuchungen an ihrem E n d e angelangt. Historizismus, Relativismus, „freie Wählbarkeit" bedeuten den Verlust jener „Unschuld", die es allein ermöglicht, die Zwangsläufigkeit der Wege der Kunst aufzuspüren. I n Heinrich von Kleists „Dialog über das Marionettentheater" heißt es: „Mithin m ü ß t e n wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, u m in den Stand der Unschuld zurückzufallen?" „Allerdings", antwortet er „das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt." Wenn m a n gesagt hat, „die Lehre von den stilwandelnden K r ä f t e n " sei ohne Zweifel das „schwächste Kapitel" der Kunstwissenschaft, so h o f f t der Verfasser dieses Kapitel nunmehr ausgebaut zu haben. 1 E r konnte nicht der Ansicht beipflichten, die g l a u b t : „Die Ursachen von Veränderungen" (Kräfte), die m a n zur Erklärung des Wandels ansetzt, sind größtenteils solche, die nicht immanent im Gebiete der Kunst selbst wirken, sondern „von a u ß e n " eingreifen". E r hofft aber, bis zu einem gewissen Grade das erfüllt zu haben, was Rose vorschwebte, als er von einer Deutung des Stilwandels aus der Relation ästhetischer Wertreihen mit ethischen sprach, „zwischen denen im Ablauf der Geschichte ständige Fluktuation und Neugruppierung beobachtet werden k a n n . " 8 Rose „hält es f ü r möglich, die gesamte Kunstentwicklung zu deuten als eine periodische Trübung ästhetischer Werte durch ethische und umgekehrt als eine Abstoßung ethischer Werte zugunsten der reinen Herausstellung ästhetischer Ideale, Umwertungen, die j e nach der Art des Wertpostulates und n a c h d e m Stoff, auf den sie sich erstrecken, die mannigfaltigsten Wirkungen hervorzurufen imstande sind." Von ganz anderen methodologischen Forderungen ausgehend, erscheint die von Rose skizzierte Möglichkeit jetzt als erfüllt. Nur mit einem großen Unterschied: es k a n n sich bei unserer primär rein phänomenologischen, assoziationslosen Methode nicht um eine „ D e u t u n g " der Kunstentwicklung handeln, sondern nur u m eine eindeutige Ablesung, u n d dementsprechend werden ästhetische oder ethische Werte nicht an ihren Wirkungen gemessen, sondern an lediglich deskriptiven Kriterien anschaulich gemacht. 1 1

Sedlmayr: Eine „genetische Monographie". Kritische Berichte 1928/29. Heft 2. S. 190. Rose: Kommentar zu Wölfflins „Renaissance a n d Barock" München 1926. S. 326f.

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DIE

BILDER

F E L I X - D I P T Y C H O N . (428 N. C H R . ) P A R I S , B I B L . NAT.

2. KÖLNER MEISTER DER MITTE D E S 11. J A H R H U N D E R T S : ABENDM AHLRELIEF KÖLN, H O L Z T Ü R VON ST. MARI/. IM KAPITOL.

3. EVANGELIAR KAISER HEINRICH!- II.: DER EVANGELIST MATTHÄUS. BAMBERG

5. PISANISCHE SCHULE DER ERSTEN HÄLFTE DES 14. JAHRHUNDERTS GRABMAL DES ENRICO SCROVEGNI. PADUA. ARENAKAPELLE.


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