Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg [79]

Table of contents :
Herbert Maas, Der Name Nürnberg in Sprichwörtern, Redensarten
und Bezeichnungen...................................................... 1—59
Walter Haas, Zum Fünfeckturm der Nürnberger Burg . . . 61— 88
Reinhard Seyboth, Reichsinstitutionen und Reichsbehörden in
Nürnberg im 15./16. Jahrhundert....................................... 89—121
Wolfgang von Stromer, Meister Konrad Scherp, Regiomontans
Experte für Feinmechanik in der Nürnberger Officina
Febrilis und für den wissenschaftlichen Buchdruck . . . 123 — 132
Matthias Mende, Dürer der Maler. Zur Neuausgabe des Kataloges
der Gemälde durch Fedja Anzelewsky ......................... 133—150
Janos Büza, „Ungerlein 1678“. Die Verbannung des ungarischen
Denars aus dem Geldumlauf der Reichsstadt Nürnberg . . 151 — 168
Werner Schultheiß, Ein Nürnberger Freischützspiel . . . 169—175
Manfred Vasold, Blattern und Blatternhäuser in Nürnberg im
19. Jahrhundert..........................................................................177-198
Miszellen
Helge Weingärtner, Die Wappen von der ehemaligen
Wöhrdertorbastei ............................................................... 199—203
Rolf Pohle, Strom- und Fernwärmeerzeugung im Gaswerk
Nürnberg (1910-1975) 205-207
Buchbesprechungen (siehe nächste Seite) .................................. 209—250
Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte ............................. 251—255
Jahresbericht über das 114. Vereinsjahr 1991 256—269
Mitgliederverzeichnis ............................................................... 271—295
V
BUCHBESPRECHUNGEN
Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. 3: Die lateinischen mittelalterlichen
Handschriften — Juristische Handschriften. Bearb. von Ingeborg Neske, Wiesbaden
1991. (Klaus Frhr. v. Andrian-Werburg) .............................................................. 209
Joachim Schneider: Heinrich Deichsler und die Nürnberger Chronistik des 15. Jahrhunderts,
Wiesbaden 1991. (Gerhard Hirschmann)......................................................... 210
Renate Gold: Ehrenpforten, Baldachine, Feuerwerke. Nürnberger Herrscherempfänge
vom 16. Jahrhundert bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts, Nürnberg 1990. (Wiltrud
Fischer-Pache)......................................................................................................................211
Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3. Bearb. von Helga Scheible, München 1989.
(Niklas Holzberg).................................................................................................................213
Michael Herr 1591 — 1661. Ein Künstler zwischen Manierismus und Barock, Sigmaringen
1991. (Ulrike Swoboda).......................................................................................................216
Georg Philipp Harsdörffer. Hrsg, von Italo Michele Battafarano, Bern 1991. (Dieter
Merzbacher) ......................................................................................................................218
Sabina Leßmann: Susanna Maria von Sandrart (1658—1716), Hildesheim 1991. (Cordula
Bischoff)...............................................................................................................................223
Jakob Konrad: 333 Jahre Felsecker Sebald, Nürnberg 1990. (Udo Winkel).................... 224
Peter Fasel: Dr. Adolf Braun (1862 —1929). Diss. Würzburg 1990. (Helmut Beer) . . 225
Peter Szyszka: Zeitungswissenschaft in Nürnberg (1919—1945), Nürnberg 1990.
(Robert Fritzsch).................................................................................................................226
Franz Pöggeler: Der Lehrer Julius Streicher, Frankfurt/Main 1991. (Hermann
Froschauer)..........................................................................................................................227
Robert Fritzsch: Nürnberger Erinnerungen 5, Nürnberg 1991. (Udo Winkel) . . . 228
Faszination und Gewalt. Nürnberg und der Nationalsozialismus. Hrsg.: Bernd Ogan
u. a., Nürnberg 1990. (Joachim Stang) ............................................................................. 229
Kulissen der Gewalt. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, München 1992. (Helmut
Beer)....................................................................................................................................230
Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus. Hrsg, von
Bernd Ogan u. a., Nürnberg 1992. (Helmut Beer).........................................................230
Herbert Bäuerlein / Hartmut Beck / Manfred Gillert: Nürnberger Überblicke,
Nürnberg 1991. (Helmut Beer) ....................................................................................... 232
Rudolf Käs / Gerd Dollhopf: Stadtwandel, München 1990. (Helmut Beer) .... 233
Rudolf Groh / Knud Willenberg: Buchenbühl, Nürnberg 1991. (Bernhard Ebneth) 234
Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens, Bd. 1: Geschichte der Schule
in Bayern. Hrsg, von Max Liedtke, Bad Heilbrunn 1991. (Richard Kölbel) . . 236
Dieter J. Weiss: Die Geschichte der Deutschordens-Ballei Franken im Mittelalter, Neustadt
a. d. Aisch 1991. (Kuno Ulshöfer)............................................................................. 237
Urkunden und Regesten des Klosters und Stiftes St. Gumbert in Ansbach 786-1400.
Bearb. von Walter Scherzer, Neustadt a. d. Aisch 1989. (Michael Diefenbacher) . 238
Friedrich Ei gier: Schwabach, München 1990. (Gerhard Hirschmann) ................................239
Walter Wambach: Die Kirchenbibliothek Schwabach, Baden-Baden 1990. (Günther
Schuhmann)..........................................................................................................................241
Zwangsläufig oder abwendbar? 200 Jahre Hamburgische Allgemeine Armenanstalt. Hrsg.
von Erich Braun u. a., Hamburg 1990. (Bernd Halfar) ...............................................242
Klaus-Peter Schroeder: Das alte Reich und seine Städte, München 1991. (Hartmut
Frommer) ...........................................................................................................................243
Ludwig Spaenle: Der Philhellenismus in Bayern 1821 — 1832, München 1990. (Ernst-
Friedrich Schultheiß)........................................................................................................... 245
VI
Monika Bergmeier: Wirtschaftsleben und Mentalität. Modernisierung im Spiegel der
bayerischen Physikatsberichte 1858 — 1862, München 1990. (Wilfried Feldenkirchen)................................................................................................................
...............246
Rainer Braun: Die Glockenenteignungen 1917/18 im Nürnberger Land, Nürnberg 1990.
(Georg Stolz) ......................................................................................................................248
Die Sturmflut und das Ende. Geschichte der 17. SS-Panzergrenadierdivision „Götz von
Berlichingen“, Bd. 3: Helmut Günther: Mit dem Rücken zur Wand, München
1991. (Karl Kunze) ............................................................................................................248
Volker Alberti: 40 Jahre Altnürnberger Landschaft, Nürnberg 1991. (Albert Bartelmeß)
....................................................................................................................................249

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Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

79. Band 1992

Nürnberg 1992 Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

Schriftleitung: Dr. Michael Diefenbacher, Dr. Peter Fleischmann und Dr. Gerhard Hirschmann unter Mitarbeit von Dr. Wiltrud Fischer-Pache Für Form und Inhalt der Aufsätze und Rezensionen sind die Verfasser verantwortlich

Zum Druck des Bandes trugen durch Zuschüsse bzw. Spenden bei: Die Stadt Nürnberg, der Bezirk Mittelfranken, die Stadtsparkasse Nürnberg. Der Verein dankt dafür bestens.

Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, Neustadt/Aisch Alle Rechte, auch des Abdrucks im Auszug, Vorbehalten. Copyright by Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg (Geschäftsstelle: Egidienplatz 23, 8500 Nürnberg 1) ISSN 0083-5579

INHALT Herbert Maas, Der Name Nürnberg in Sprichwörtern, Redens­ arten und Bezeichnungen...................................................... Walter Haas, Zum Fünfeckturm der Nürnberger Burg

.

.

1—59 .

61— 88

Reinhard Seyboth, Reichsinstitutionen und Reichsbehörden in Nürnberg im 15./16. Jahrhundert.......................................

89—121

Wolfgang von Stromer, Meister Konrad Scherp, Regiomontans Experte für Feinmechanik in der Nürnberger Officina Febrilis und für den wissenschaftlichen Buchdruck . . .

123 — 132

Matthias Mende, Dürer der Maler. Zur Neuausgabe des Kataloges der Gemälde durch Fedja Anzelewsky ......................... 133—150 Janos Büza, „Ungerlein 1678“. Die Verbannung des ungarischen Denars aus dem Geldumlauf der Reichsstadt Nürnberg . . Werner Schultheiß, Ein Nürnberger Freischützspiel

.

.

151 — 168 .

169—175

Manfred Vasold, Blattern und Blatternhäuser in Nürnberg im 19. Jahrhundert..........................................................................177-198 Miszellen

Helge Weingärtner, Die Wappen von der ehemaligen Wöhrdertorbastei ...............................................................

199—203

Rolf Pohle, Strom- und Fernwärmeerzeugung im Gaswerk Nürnberg (1910-1975)

205-207

Buchbesprechungen (siehe nächste Seite)

..................................

209—250

.............................

251—255

Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte Jahresbericht über das 114. Vereinsjahr 1991

256—269

Mitgliederverzeichnis

271—295

...............................................................

V

BUCHBESPRECHUNGEN

Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. 3: Die lateinischen mittelalterlichen Handschriften — Juristische Handschriften. Bearb. von Ingeborg Neske, Wies­ baden 1991. (Klaus Frhr. v. Andrian-Werburg) .............................................................. 209 Joachim Schneider: Heinrich Deichsler und die Nürnberger Chronistik des 15. Jahr­ hunderts, Wiesbaden 1991. (Gerhard Hirschmann)......................................................... 210 Renate Gold: Ehrenpforten, Baldachine, Feuerwerke. Nürnberger Herrscherempfänge vom 16. Jahrhundert bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts, Nürnberg 1990. (Wiltrud Fischer-Pache)......................................................................................................................211 Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3. Bearb. von Helga Scheible, München 1989. (Niklas Holzberg).................................................................................................................213 Michael Herr 1591 — 1661. Ein Künstler zwischen Manierismus und Barock, Sigmaringen 1991. (Ulrike Swoboda).......................................................................................................216 Georg Philipp Harsdörffer. Hrsg, von Italo Michele Battafarano, Bern 1991. (Dieter Merzbacher) ......................................................................................................................218 Sabina Leßmann: Susanna Maria von Sandrart (1658—1716), Hildesheim 1991. (Cordula Bischoff)................................................................................................................................223 Jakob Konrad: 333 Jahre Felsecker Sebald, Nürnberg 1990. (Udo Winkel).................... 224 Peter Fasel: Dr. Adolf Braun (1862 —1929). Diss. Würzburg 1990. (Helmut Beer) . . 225 Peter Szyszka: Zeitungswissenschaft in Nürnberg (1919—1945), Nürnberg 1990. (Robert Fritzsch).................................................................................................................226 Franz Pöggeler: Der Lehrer Julius Streicher, Frankfurt/Main 1991. (Hermann Froschauer)...........................................................................................................................227 Robert Fritzsch: Nürnberger Erinnerungen 5, Nürnberg 1991. (Udo Winkel) . . . 228 Faszination und Gewalt. Nürnberg und der Nationalsozialismus. Hrsg.: Bernd Ogan u. a., Nürnberg 1990. (Joachim Stang) ............................................................................. 229 Kulissen der Gewalt. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, München 1992. (Helmut Beer).....................................................................................................................................230 Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus. Hrsg, von Bernd Ogan u. a., Nürnberg 1992. (Helmut Beer)......................................................... 230 Herbert Bäuerlein / Hartmut Beck / Manfred Gillert: Nürnberger Überblicke, Nürnberg 1991. (Helmut Beer) ....................................................................................... 232 Rudolf Käs / Gerd Dollhopf: Stadtwandel, München 1990. (Helmut Beer) .... 233 Rudolf Groh / Knud Willenberg: Buchenbühl, Nürnberg 1991. (Bernhard Ebneth) 234 Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens, Bd. 1: Geschichte der Schule in Bayern. Hrsg, von Max Liedtke, Bad Heilbrunn 1991. (Richard Kölbel) . . 236 Dieter J. Weiss: Die Geschichte der Deutschordens-Ballei Franken im Mittelalter, Neu­ stadt a. d. Aisch 1991. (Kuno Ulshöfer)............................................................................. 237 Urkunden und Regesten des Klosters und Stiftes St. Gumbert in Ansbach 786-1400. Bearb. von Walter Scherzer, Neustadt a. d. Aisch 1989. (Michael Diefenbacher) . 238 Friedrich Ei gier: Schwabach, München 1990. (Gerhard Hirschmann) ................................239 Walter Wambach: Die Kirchenbibliothek Schwabach, Baden-Baden 1990. (Günther Schuhmann)...........................................................................................................................241 Zwangsläufig oder abwendbar? 200 Jahre Hamburgische Allgemeine Armenanstalt. Hrsg. von Erich Braun u. a., Hamburg 1990. (Bernd Halfar) ...............................................242 Klaus-Peter Schroeder: Das alte Reich und seine Städte, München 1991. (Hartmut Frommer) ...........................................................................................................................243 Ludwig Spaenle: Der Philhellenismus in Bayern 1821 — 1832, München 1990. (ErnstFriedrich Schultheiß)........................................................................................................... 245

VI

Monika Bergmeier: Wirtschaftsleben und Mentalität. Modernisierung im Spiegel der bayerischen Physikatsberichte 1858 — 1862, München 1990. (Wilfried Feldenkirchen)................................................................................................................................246 Rainer Braun: Die Glockenenteignungen 1917/18 im Nürnberger Land, Nürnberg 1990. (Georg Stolz) ......................................................................................................................248 Die Sturmflut und das Ende. Geschichte der 17. SS-Panzergrenadierdivision „Götz von Berlichingen“, Bd. 3: Helmut Günther: Mit dem Rücken zur Wand, München 1991. (Karl Kunze) ............................................................................................................248 Volker Alberti: 40 Jahre Altnürnberger Landschaft, Nürnberg 1991. (Albert Bartel­ meß) .....................................................................................................................................249

VII

VERZEICHNIS DER MITARBEITER Andrian-Werburg, Klaus Frhr. von, Dr., Ltd. Archivdirektor, Thomas-Mann-Str. 43, 8500 Nürnberg 50 Bartelmeß, Albert, Archivoberrrat a. D., Hallweg 7, 8501 Wendelstein-Sperberslohe Beer, Helmut, Dr., Stadthistoriker, Landgrabenstr. 6, 8500 Nürnberg 40 Bischoff, Cordula, Dr., Universität Trier, Postfach 3825, 5500 Trier Buza, Jänos, Dr., Leiter des Lehrstuhls für Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftsuniver­ sität Budapest, H-1828 Budapest 5, Postfach 489 Diefenbacher, Michael, Dr., Archivdirektor, Ringstr. 17, 8807 Heilsbronn Ebneth, Bernhard, Student, Obere Weiherstr. 16, 8507 Oberasbach Feldenkirchen, Wilfried, Dr. Prof., Lehrstuhl für Wirtschafts-, Sozial- und Unter­ nehmensgeschichte, Universität Erlangen-Nürnberg, Findelgasse 7, 8500 Nürnberg 1 Fischer-Pache, Wiltrud, Dr., Archivrätin z.A., Mühlweg 14, 8504 Stein Fritzsch, Robert, Ltd. Bibliotheksdirektor, Egidienplatz 23, 8500 Nürnberg 1 Frommer, Hartmut, Dr., berufsm. Stadtrat, Traubenstr. 3, 8501 Allersberg Froschauer, Hermann, Lehrer, Roonstr. 3 Gebhart, Walter, Bibliotheksoberinspektor, Drausnickstr. 8, 8520 Erlangen Haas, Walter, Prof., Dr.-Ing., Techn. Hochschule, EL-Lissitzky-Str. 1, 6100 Darmstadt Halfar, Bernd, Dr., Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftspolitik, Universität Bam­ berg, Jasminweg 5, 8500 Nürnberg 30 Hirschmann, Gerhard, Dr., Ltd. Archivdirektor i. R., Gerngrosstr. 26, 8500 Nürnberg 10 Holzberg, Niklas, Dr. Univ.-Prof., Schleißheimer Str. 91, 8000 München 40 Kölbel, Richard, Dr., Oberstudiendirektor i. R., Neuwerker Weg 66, 8504 Stein Kunze, Karl, Dr., Oberstudiendirektor, Brombeerweg 7, 8500 Nürnberg 30 Maas, Herbert, Dr., Studiendirektor i. R., Kachletstr. 45, 8500 Nürnberg 30 Mende, Matthias, Stadtgeschichtliche Museen Nürnberg, Karolinenstr. 44, 8500 Nürnberg 1 Merzbacher, Dieter, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Bertramstr. 12, 3300 Braunschweig Pohle, Rolf, Dr., Stadtdirektor i. R., Rilkestr. 25, 8500 Nürnberg 90 Schuhmann, Günther, Dr., Ltd. Archivdirektor i. R., Kressenstr. 16, 8500 Nürnberg 90 Schultheiß, Ernst-Friedrich, Dr., Oberstudienrat, Moosstr. 14, 8500 Nürnberg 10 Schultheiß, Werner, Dr., Richter, Pirckheimerstr. 38, 8500 Nürnberg 10 Seyboth, Reinhard, Dr., Friedrich-Ebert-Str. 34, 8400 Regensburg Stang, Joachim, Dr., Gabelsbergerstr. 51, 8500 Nürnberg 40 Stolz, Georg, Architekt BDA, Baumeister an St. Lorenz, Kuckucksweg 6, 8510 Fürth Stromer von Reichenbach, Wolfgang Frhr. von, em. Prof. Dr., Burg Grünsberg, 8505 Altdorf Swoboda, Ulrike, M.A., Kunsthistorikerin, Hirscheigasse 11, 8500 Nürnberg 1

VIII

Vasold, Manfred, Dr., Jarezöd 15a, 8201 Großkarolinenfeld Ulshöfer, Kuno, Dr., Ltd. Archivdirektor a. D., Hebelweg 3, 7170 Schwäbisch Hall Weingärtner, Helge, M.A., Kunsthistoriker, Großgründlacher Hauptstr. 29, 8500 Nürnberg 90 Winkel, Udo, Dr., Sozialwissenschaftler, Kleinreuther Weg 16, 8500 Nürnberg 10

IX

DER NAME NÜRNBERG IN SPRICHWÖRTERN, REDENSARTEN UND BEZEICHNUNGEN Von Herbert Maas Inhaltsverzeichnis Einleitung

............................................................................................

Seite 2

Allgemeines 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Es ist nur ein Nürnberg ............................................................... 3 Wenn Nürnberg mein wäre, wollt ichs in Bamberg verzehren . . 6 Nürnberg, des deutschen Reiches Schatzkästlein ......................... 7 Nürnberger Stil und Nürnberger Madonna............................. 11 Der Nürnberger Trichter.......................................................... 12 Sonstige Sprichwörter und Redensarten ....................................... 13 Fünf Spitznamen für die Nürnberger....................................... 16

Politik und Recht 8. 9. 10. 11.

Nürnberger Recht und Gesetzgebung in alter Zeit...................... 20 Wenn du zu Nürnberg wärst, so gäb man dir die Wahl .... 22 Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor ... 24 Die Nürnberger Reichsparteitage, die Nürnberger Gesetze und die Nürnberger Prozesse ...........................................................................26

Handwerk 12. 13. 14. 15.

Der Nürnberger Witz.................................................................. 29 Nürnberger Markenzeichen..................................................... 30 Das Nürnberger Ei.................................................................... 35 Nürnberger Speisen .................................................................... 37

Handel 16. Nürnberger Hand geht durch alle Land ..............................................43 17. Spott über rigorose Handelspraktiken und Billigwaren .... 46 18. Nürnberger Tand ......................................................................... 50 Alphabetisches Verzeichnis aller behandelten Sprichwörter, Redensarten und Bezeichnungen ....................................................................

57

1

Herbert Maas

EINLEITUNG „Mit keiner anderen deutschen Stadt hat sich das Sprichwort so häufig beschäf­ tigt als mit Nürnberg. Laut rühmt es den Kunst- und Gewerbefleiß der alten Reichsstadt, doch offen deckt es auch die Schwächen ihrer Bewohner auf.“ So schreibt Aloys Dreyer 1920 in seinem Buch „Nürnberg und die Nürnberger in der Karikatur ihrer Zeit“1. Diese Behauptung läßt sich mit Hilfe anderer Lite­ ratur zahlenmäßig belegen. Karl Friedrich Wilhelm Wander hat in seiner fünf­ bändigen umfangreichen Sprichwörtersammlung2 viele Beispiele zusammenge­ tragen, die sich auf alte und bedeutende deutsche und europäische Städte beziehen. Daraus läßt sich, was die Häufigkeit der genannten Städte anlangt, folgende Rangliste aufstellen: an erster Stelle rangiert natürlich Rom als caput mundi mit 129 Belegen, gefolgt von einer Spitzengruppe von vier Städten: Paris (26), Köln (19), Nürnberg (17) und Wien (16). Dann erscheint ein relativ kleines Mittelfeld: Leipzig mit 12, Straßburg und Venedig mit je 9, Halle mit 8, Bremen mit 7 und Ulm, Bern, München, Amsterdam und Madrid mit je 6 Nennungen. Aachen ist fünfmal, Berlin, Mailand, Frankfurt am Main, Magde­ burg, Hamburg und Stuttgart sind je viermal aufgeführt. Die meisten anderen europäischen und deutschen Städte sind im deutschen Sprichwort gar nicht oder fast nicht erwähnt, wie zahlreiche Stichproben ergaben. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die beiden frühen deutschen Universal-Lexika des 18. Jahrhunderts, das Oekonomische Universal-Lexikon von Krünitz3 und das Große Universal-Lexikon von Zedier4 untersucht. Es ergibt sich dabei, was die Aufzählung feststehender Begriffe angeht, die mit deutschen Städtenamen gebildet sind, folgendes Bild: Führend ist Nürnberg mit 19 bzw. 24 Beispielen. Alle anderen deutschen Städte sind weit abge­ schlagen, nur Wien, Straßburg, Lübeck und Ulm werden einige Male genannt. Diese Feststellung wird wiederum aufgrund zahlreicher Stichproben getroffen. Warum Nürnberg so oft genannt wird, nimmt nicht wunder. Nicht nur Ein­ heimische haben ihre Stadt in zahllosen und blumigen Zitaten erwähnt, auch Auswärtige haben die Bedeutung unserer Stadt häufig hervorgehoben. Ursula Pfistermeister hat in ihrem Nürnberg-Buch5 viele solcher Zitate zusammenge-

1 Aloys Dreyer: Nürnberg und die Nürnberger in der Karikatur ihrer Zeit, München 1920, S. 3-8. 2 Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon (in 5 Bänden); Neudruck der Ausgabe von 1873, Aalen 1963, Bd. 3, Sp. 1070-1071. 3 Oekonomische Encyclopädie, hg. v. Johann Georg Krünitz, 205 Theile, Brünn 1787-1851, 103. Theil, S. 14-24. 4 Großes vollständiges Universal Lexikon aller Wissenschafften und Künste, hg. v. Johann Hein­ rich Zedier, Bd. 1-64, Halle-Leipzig 1732-1751, Bd. 24, Sp. 1608-1617. 5 Ursula Pfistermeister: Nürnberg, Zauber einer unvergänglichen Stadt in Farbbildern und alten Stichen, Nürnberg 1975.

2

MVGN 79 (1992)

Der Name Nürnberg

stellt. Ich erwähne hier beispielshalber nur einige Namen: den Papst Aeneas Silvius Piccolomini, den Humanisten Jacob Wimpfeling, Martin Luther, den Mathematiker Johannes Müller, genannt Regiomontanus, und die Dichter Wilhelm Heinrich Wackenroder, Adalbert Stifter und Ernst Moritz Arndt. Aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert stammen Lobeshymnen wie „Nürn­ berg ist das Vaterland der Klugheit und das Wohnhaus der Künstler“6 oder „Nürnberg ist der Mittelpunkt Deutschlands und Europas“6. Andererseits wird auch die zweite, oben erwähnte Behauptung Dreyers bestätigt: Wer hoch steht, fällt tief. Das Absinken Nürnbergs im Laufe des 18. Jahrhunderts ist bekannt. Aber auch schon vorher hatten sich spöttische, boshafte und neidische Bemerkungen an den Namen unserer Stadt geheftet. Wer das alphabetische Verzeichnis am Schluß dieses Aufsatzes liest, wird fest­ stellen, daß es sich bei den rund einhundert Sachbezeichnungen, Redensarten und Sprichwörtern zu drei Vierteln um ernst gemeinte, lobende, zu einem Viertel um negative oder spöttische Aussagen handelt. Ein letztes noch zur Überschrift dieser kleinen Abhandlung: Die Begriffe Sprichwort und Redensart sind einigermaßen klar, und die Beispiele können ohne Abgrenzungsprobleme aufgezählt werden. Schwierig ist dagegen die Auswahl bei dem Begriff ,Bezeichnung*. 1. Ich konnte natürlich nicht die etwa 80 Firmennamen aufnehmen, die im neuesten Telefonbuch stehen, etwa die Nürnberger Aufbaugesellschaft, die Nürnberger Lebensversicherung, die Nürnberger Nachrichten oder die Nürnberger Fremdsprachenschule. 2. Auch allgemeine Wortverbindungen mit dem Namen Nürnberg, die praktisch auch mit vielen anderen Ortsnamen gebildet werden können, wie Nürnberger Burg, Nürnberger Hafen, Nürnberger Mundart, Nürnberger Gesundheitswesen, Nürnberger Lehrerverein mußten selbstverständlich unerwähnt bleiben. Was ich in diese Sammlung aufgenommen habe, sind ältere wirtschaftliche Produk­ tionsbezeichnungen und feststehende Begriffe, wie sie in alten Lexika Vor­ kommen und wie sie in ganz Deutschland und sogar im Ausland bekannt waren. 1. ES IST NUR EIN NÜRNBERG Die Bedeutung des Sprichworts ist klar: Nürnberg ist einzigartig, alle anderen Städte verblassen neben ihm. Die frühesten Belege, die ich bisher finden konnte, stammen aus dem 18. Jahrhundert. Der erste steht im Diplomatischen Magazin von Georg Andreas Will von 1782.7 Der Altdorfer Gelehrte ver­ breitet sich in seinem siebenseitigen Aufsatz hauptsächlich über die Einmalig­ keit des Ortsnamens in geographischer Hinsicht und zählt einige Dörfer auf, 6 Aus der Deutschen Romanzeitung, zitiert nach Wander (wie Anm. 2), Nr. 5 u. 6. 7 Georg Andreas Will: Historisch Diplomatisches Magazin, 1782, Bd. 2, S. 415—422.

3

Herbert Maas

die den gleichen Namen wie die Stadt haben. Für unsere Zwecke ist aber die einleitende Bemerkung wichtig, die den Ausführungen vorausgeht. Will spricht davon, daß die Schönen Frauenzimmer, die nicht weit herumge­ kommen sind und nur ihre Heimatstadt und deren nähere Umgebung kennen, dieses Sprichwort im Munde führen. Er fährt dann wörtlich fort: „Vielleicht war es ehehin gegründeter, wo noch Kaiserliche Hoflager und Reichsver­ sammlungen, mehrere Lustbarkeiten, mehr Volk, Geld und Kunst in Nürn­ berg, und die Stadt in ihrem größten Flor war. Zu den Zeiten, da Nürnberg noch wichtige Kriege führte, Kaisern Hülfvölker gab, das beste Geschütz hatte, vom Kaiser und Reich sowie vom Schwäbischen Bund zur Execution ansehnlicher Reichsfürsten aufgefordert wurde, Eroberungen machte, bei der Kirchen-Reformation wichtigen Einfluß hatte, das Orakel der Reichsstädte war und unter ihnen den Ton angab, da konnte man wol sagen: es ist nur Ein Nürnberg. Auch wenn man die vorzüglichen Freiheiten und Rechte der Stadt, die sie überhaupt und in Beziehung auf den Kaiser, auf das Reich und dessen Stände, so wie in Ansehung des Fränkischen Kreises hat, wenn man ihre Größe, ihr schönes ansehnliches Gebiet und noch dieses in Betrachtung nimmt, daß sie die einzige Reichsstadt ist, die eine Universität hat, so mag es auch wol wahr seyn: es ist nur Ein Nürnberg.“ Der zweite Beleg stammt aus dem um 1815 abgeschlossenen Manuskript „Nürnberger Sprüchwörter und deren Erklärung“ von Benedict Wilhelm Zahn, der in ähnlicher Weise wie Will erklärt. Zahn stellt das Sprichwort an den Anfang seiner etwa 200 Artikel enthaltenden Sammlung.8 Ich zitiere hier bruchstückweise aus dem umfangreicheren, nur im Entwurf vorhandenen Kapitel, das die ersten 16 Blätter des Manuskripts umfaßt: Also sprechen mehrerentheils gebohrene Nürnberger, denen es entweder in fremden Orten nicht so wol gefällt als in ihrer Vaterstadt, in welcher sie sich öfters eigener Besit­ zungeni, auch des Umgangs mit ihren Anverwandten und Bekannten zu erfreuen haben und in vorigen Zeiten ruhig und zufrieden leben konnten, oder welche auswärtige Länder und Städte nicht besuchet haben und nach dem gemeinen Sprüchwort nicht 3 Meilen über den Backofen hinaus gekommen sind, folglich auch keinen richtigen Vergleich mit anderen Orten zu treffen im Stande sind. Nach etwas weitschweifigen Ausführungen über zahlreiche Lobeshymnen historischer Art kommt der Verfasser am Ende seines Aufsatzes auf das Sprichwort zurück: Betrachtet man nun die bereits angeführten und theils ihrer ungeheuren Menge wegen unangezeigt gelaßenen gelehrten Werke, Beschreibungen u. Schriften, welche unsere Vaterstadt, ihre Verdienste und Vorzüge überhaupts und einzelne Gegenstände derselben umständlich berührety so wird vielleicht keine andere Stadt in ganz Deutschland zu finden 8 Benedict Wilhelm Zahn: Nürnberger Sprüchwörter und deren Erklärung, Hs. von ca. 1815 in der StB Nürnberg, Sign. Amb. 439 2°, Bl. 2, 8 u. 13.

4

MVGN 79 (1992)

Der Name Nürnberg

seyn, von der und über die so vieles und zwar größten Theils zu ihrem Lob und Ehren gesagt und geschrieben worden . . . Auch in dieser Rücksicht konnte man in vorigen Zeiten mit Wahrheit ausrufen: Es ist nur Ein Nürnberg. Wir würden auch jetzt noch uns dieses Ausdrucks bedienen, wenn nicht die in unserer Zeit ausgebrochenen, ganz Europa verheerenden, langwührigen Kriege und andere viele daraus entsprungene Ungemache uns vermüßigten, den Trojanern ihr trauriges FUIMUS nachzusprechen. Will und Zahn stimmen darin überein, daß das Sprichwort starken Lokalpatriotismus verrät und im 18. Jahrhundert seine ursprüngliche Bedeutung eingebüßt hat, daß es aber älter sein muß und in früheren Zeiten zu Recht bestand. In einem vor 25 Jahren erschienenen Auf­ satz von Eike Eberhard Unger9 finden wir die leider durch keine Quelle belegte Behauptung: „Entstand dieses Wort (Es gibt nur ein Nürnberg) auch erst im Ausgang des Spätmittelalters, so hat Nürnberg doch schon früh begonnen, einer solchen Stellung entgegenzuarbeiten“ (gemeint ist: auf eine solche Stellung hinzuarbeiten). Unger zitiert das Sprichwort übrigens nach der Handelsgeschichte von Roth: „Es giebt nur ein Nürnberg“10. Was nun das Problem des Alters des Sprichworts angeht, ist ein Zufallsfund im umfangreichen Sprichwörterlexikon Wanders hilfreich. Unter dem Orts­ namen Wien stehen zwei ähnliche Sprichwörter: Es gibt nur ein Wien; es gibt nur ein Wien und ein Fügen in der Welt.11 Wander bemerkt dazu ironisch: „Mit nicht geringem Selbstgefühl behaupten dies die Zillerthaler von ihrem Dorf Fügen, das sie bescheiden neben Wien stellen“. Unter Frankfurt erwähnt Wander: Es ist nur aan Frankfurt (mit Bezug auf den großen Wohltätigkeits­ sinn der Frankfurter).12 Unter anderen deutschen Städtenamen konnte ich zwar noch keine Parallele finden, doch die lokalpatriotische-provinzielle Sicht­ weise wird aus einem ähnlichen modernen Phänomen sichtbar. Junge Leute kleben Stickers mit der Aufschrift „Schwabach“ oder „Röthenbach grüßt den Rest der Welt“ an ihren Pkw. Leider muß die Frage offen bleiben, ob das Sprichwort von Nürnberg auf Wien übertragen wurde oder ob es von der Hauptstadt des Heiligen Römi­ schen Reiches von Wien nach Nürnberg gewandert ist.

9 Eike Eberhard Unger: Nürnbergs Handel mit Hamburg im 16. und beginnenden 17. Jahrhun­ dert, in: MVGN 54 (1966), S. 6. 10 Johann Ferdinand Roth: Geschichte des Nürnbergischen Handels, 4 Theile, Nürnberg 1800-1802, Theill, S. 4. 11 Wander (wie Anm. 2), Bd. 5, Sp. 230, Nr. 10 u. 11. 12 Wander (wie Anm. 2), Bd. 1, Sp. 1100, Nr. 2.

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2. WENN NÜRNBERG MEIN WÄRE, SO WOLLT ICHS ZU BAMBERG VERZEHREN Viel klarer, was Alter und Quellen-Lage anlangt, ist dieses bis ins 19. Jahrhun­ dert bekannte Sprichwort, mit dem vorigen verglichen. Es ist in der ersten deutschen Sprichwörtersammlung des Johann Agricola zu lesen, die im Jahr 1528 entstand.13 Johann Agricola (latinisierte Form des deutschen Namens Schnitter) ist vor 1500 in Eisleben geboren und war ein Freund Luthers. Von ihm stammt die erste evangelische Schulordnung. 1540 war er Hofprediger in Berlin, wo er 1566 gestorben ist. Als kämpferischer Protestant erklärt Agricola das Sprichwort mit zynischen Seitenhieben auf die lockeren sittlichen Zustände in der Bischofsstadt Bamberg: „Wenn Nüremberg mein were, so wolt ichs zu Bamberg verzeren . . . Diß Sprichwort wirt eyn gutter schlucker (= Schlemmer) erfunden haben, der beyder Stedt art gewust hatt. Zu Nürmberg ist ettwan der handel und der gelt gewinn groß gewesen von wegen der Straß von Venedig herauß, welche Strassen Antwerb zum teyl gelegt hatt. Zu Bamberg ist solcher gelt gewinn nicht gewesen, ist auch noch nit, aber besser und neher ist alles zu bekomen zu Bamberg denn zu Nürmberg so ist auch erlaubt mit mer sicherheyt hürerey und ehebruch öffentlich zu treiben, dieweil eyn Stifft da ist, die niemandt gethar straffen, denn zu Nürmberg. Vnd ob schon etwas zu Nüremberg wie inn aller weit geschieht, so ist es doch heymlicher vnd mit grosser gefar denn zu Bamberg, da man der öffentlichen exempel des Stiffts halben vil hat, darauß der schlucker geschlossen, er wolle zu Bamberg verzeren was er zu Nürmberg erwerbe.“ (Hinweis auf Frankfurt und Maintz/Leyptzig und Freyburg). Während das Sprichwort heutzutage in der Hochsprache, Umgangssprache und Mundart völlig ausgestorben ist, führen es noch Zahn in seiner oft zitier­ ten Handschrift14 und Wander in seinem Sprichwörterlexikon15 an. Letzterer bemerkt dazu folgendes: „In Nürnberg herrschte Kunst, Gewerbefleiss; im reichen Bisthum Bamberg war wenig Arbeit, aber desto mehr Wohlleben und besonders waren, wie Agricola bemerkt, die Ansichten in Bezug auf den Genuss der sinnlichen Liebe sehr liberal, was in Nürnberg nicht der Fall gewesen sein soll . . . Wer sich also zu seinem Lebenszweck den Genuss gestellt hatte, war in Bamberg mehr an seinem Ort als in Nürnberg, wo damals wie heute nützliche Thätigkeit obenan steht.“ Wander zitiert abschließend die Übersetzung des Sprichworts ins Holländische: Wanneer Neurenburg mijn was, zoo, wilde ik het te Bamberg verteren.

13 Johann Agricola: Sybenhundert vnd Fünfftzig Teutsche Sprichwörter, vernewert vnd gebes­ sert, Hagenaw 1534, Nr. 345. 14 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 6. 15 Wander (wie Anm. 2), Nr. 12.

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Wie schon Agricola andeutet, gab es aus anderen Gegenden Deutschlands Varianten, die ich hier zusammenstelle: 1. Wenn Leipzig mein wäre, wollte ichs in Freyberg verzehren.16 2. Wenn Frankfurt mein wäre, wollte ichs in Mainz verzehren.17 3. Wenn Amsterdam mein wäre, wollte ichs in Utrecht ver­ zehren.18 4. Wenn Naumburg mein wäre, wollte ichs in Jena verzehren19 und 5. Wenn Hamburg mein wäre, wollte ichs in Paris verthun.20 Wo der Ursprung des sogenannten Wandersprichworts liegt, ist zwar nicht entschieden, doch steht fest, daß die frühe Reformationszeit den Spruch geprägt hat. Die katho­ lischen Städte Bamberg, Utrecht und Mainz liegen 40—80 Kilometer von den protestantischen Wirtschaftsmetropolen Nürnberg, Amsterdam und Frankfurt entfernt. Die anderen Fälle sind wohl spielerisch nach den erstgenannten ent­ standen. Jena und Freyberg sind keine Bischofsstädte. Wander bemerkt dazu: „Vielleicht daher entstanden, weil Freyberg (100 km von Leipzig entfernt) wegen seiner gesunden Lage berühmt ist; auch flüchtete sich der sächsische Hof als im Jahre 1678 die Pest in Dresden und Leipzig wüthet in diese gesunde Bergstadt.“ Besonders deutlich wird die Nachahmung an der Gegenüberstel­ lung von Hamburg und Paris. 3. NÜRNBERG, DES DEUTSCHEN REICHES SCHATZKÄSTLEIN Der schmückende Beiname ist jedem Nürnberger heute noch bekannt und ist auch weit über unsere Vaterstadt hinaus eine gängige Bezeichnung. Verkürzt spricht man genau so oft vom Reichsschatzkästlein. Was schwingt bei der Ver­ wendung des Ausdrucks beim heutigen Sprecher mit? Eine Umfrage bei Nürn­ berger Volksschullehrern zeigte mir 1990, daß man dabei an den Aufbewah­ rungsort der Reichskleinodien denkt, die sich ja von 1424 bis 1796 in Nürn­ berg befanden. Viele andere Nürnberger, die weniger historisch informiert sind, unterstellen allerdings beim Gebrauch des Wortes, daß ihre Heimatstadt bis 1945 wegen seiner vielen Kunstschätze und seines mittelalterlichen Stra­ ßenbildes ein wahres Schatzkästlein gewesen ist. Ich komme auf diese beiden Ansichten weiter unten zurück. Wie alt ist nun diese Benennung? Zunächst fällt auf, daß die historische und kunsthistorische Fachliteratur das Schlagwort relativ selten verwendet. Umso mehr wird es aber in der populärwissenschaftlichen Literatur, in Reiseführern und Bildbänden gebraucht. Hier einige Beispiele aus der Nachkriegszeit: August Sieghardt schreibt in seinem 1954 erschienenen Stadtführer21: „Nürn16 17 18 19 20 21

Wander (wie Anm. 2), Bd. 3, Wander (wie Anm. 2), Bd. 1, Wander (wie Anm. 2), Bd. 1, Wander (wie Anm. 2), Bd. 3, Wander (wie Anm. 2), Bd. 2, August Sieghardt: Handbuch

Sp. 30, Nr. 8. Sp. 1100, Nr. 3. Sp. 69, Nr. 2. Sp. 975. Sp. 290, Nr. 3. und Stadtführer Nürnberg, Nürnberg 1954, S. 8.

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berg, einst des deutschen Reiches Schatzkästlein“; ein von Werner Schultheiß und Ernst Eichhorn 1957 herausgegebener Bildband22 trägt den Titel: „Nürn­ berg, die alte deutsche Stadt, Schatzkästlein der Deutschen“; in einem 1971 von denselben Autoren zusammengestellten Bildband heißt es sogar23: „Tat­ sächlich verdient auch heute noch diese Stadt, als Schatzkästlein der deutschen Nation bezeichnet zu werden“; im Merianheft Nürnberg 1966 hat Wilhelm Schwemmer einen Aufsatz über den Wiederaufbau Nürnbergs verfaßt, den er „das reparierte Schatzkästlein“ nennt;24 Eugen Kusch versteigt sich in seinem bekannten Buch „Nürnberg, Lebensbild einer Stadt“, endlich zu der Aussage: „das Schatzkästlein des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“25. Besonders häufig wurde die Formulierung natürlich im Dritten Reich ver­ wendet, wo die Erinnerung an die mittelalterliche Weltgeltung Nürnbergs zusammen mit der Funktion als Stadt der Reichsparteitage ideologisch eine große Rolle spielte. So heißt es z. B. in einem 1935 erschienenen Kurzführer mit dem Titel „Nürnberg, des deutschen Reiches Schatzkästlein“26: „Nürnberg hat wieder seine Reichstage wie vor Jahrhunderten. Im Rathaus finden wie einst die großen Empfänge statt. Auch die alten Reichskleinodien in Gestalt der Aachener Nachbildung kommen zu den Reichsparteitagen wieder in den Schutz der jungen Reichsstadt als Sinnbild der vergangenen Größe, als Sinn­ bild des Gedankens vom Heiligen Deutschen Reich“. Man merkt hier beson­ ders deutlich, wie ideologische Geschichtsklitterung ernsthafte Forschung ver­ drängt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier die Geburts­ stunde eines mit neuem Sinn erfüllten Gebrauchs des Zitats vom Reichsschatzkästlein und seine Koppelung mit den Reichskleinodien zu suchen wäre. Aller­ dings weist Willy Liebei, der Oberbürgermeister von Nürnberg im Dritten Reich, auf den früheren Ursprung des Schlagworts hin: „So wird Nürnberg in sich die Zeugen großer deutscher Vergangenheit mit denen einer vielleicht noch größeren Gegenwart vereinigen und seinen einstigen Ehrentitel von neuem mit Recht tragen: des Deutschen Reiches Schatzkästlein“.27 Liebei hat recht, wie die folgenden Beispiele aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zeigen. 1913 erschien von einer damals sehr bekannten und viel gele­ senen Jugendschriftstellerin Margarethe Lenk in Zwickau eine Erzählung für die Jugend mit dem Titel „Nürnberg, des Deutschen Reiches Schatzkästlein“.

22 Werner Schultheiß u. Ernst Eichhorn: Nürnberg, die alte deutsche Stadt, Schatzkästlein der Deutschen, Nürnberg '1957. 23 Werner Schultheiß und Ernst Eichhorn: Nürnberg, Dürerstadt, Florenz des Nordens, Nürn­ berg 31971, S. 5. 24 Nürnberg in: Merian XIX 8 (1966), S. 18—19; 65 — 70. 25 Eugen Kusch: Nürnberg, Lebensbild einer Stadt, Nürnberg 51989, S. 2. 26 Verfasserin: Grete Freytag. Exemplar in der StB Nürnberg, Sign. Nor. 4398 8°, S. 16. 22 In: Bayerland 46 (1935), S. 226.

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Es handelt sich um eine gefühlvolle, im Stil der ,Gartenlaube4 geschriebene Lobeshymne auf die Stadt von 82 Seiten. Bemerkenswert ist, daß bei der Schil­ derung der Einbringung der Reichskleinodien28 keinerlei Bezug zum Titel der Novelle zu finden ist. — 1909 heißt es in der Geschichte der Stadt Nürnberg von Georg Schrötter29 „Nürnbergs politische Bedeutung, die wirtschaftliche Wichtigkeit und ihre kulturelle Überlegenheit ließen sie als ,des Reiches Schatzkästlein’ erscheinen“. — Vom 1.—3. August 1899 fand in unserer Stadt die 14. Hauptversammlung des bayerischen Volksschullehrervereins statt. Dazu erschien eine umfassende Festgabe30 für die Teilnehmer, in der u. a. ein Gedicht von Hans Berthold über die Lorenzkirche abgedruckt ist. Die letzte Strophe lautet: „Farbenreiche Fenster fesseln deine Blicke. / Sieh mit Fleiß dich weiter um, dein Führer schweigt, / Und du dankst gewiß dem gnädigen Geschicke, / Das dir diesen Schatz im ,Schatzkästlein4 gezeigt.“ Im Deutschen Familienblatt von 188Q31 schreibt ein Berliner Journalist über den Niedergang Alt-Nürnbergs und meint u. a. wörtlich: „Wer ein so reiches Erbe überkommen hat, der hat die Pflicht, es in seiner unvergleichlichen Pracht, in seinem entzückenden Reichtum an Farben und Formen zu bewahren, daß sich auch die späteren Geschlechter an diesem Schatzkästlein des deutschen Reiches erfreuen können.“ Auch die ,Gartenlaube4, eine einst vielgelesene Unterhaltungszeitschrift, greift in die Debatte mit ein. 1870 erwähnt sie Nürnberg als „Deutschlands Schmuckkästchen“32. Vor allem ist aber ein Artikel aus dem Jahre 1872 sehr aufschlußreich, der hier ausführlicher zitiert werden muß.33 Die Überschrift lautet „Das Reliquienkästlein des deutschen Reiches“. Es werden eingangs 18 000 Taler erwähnt, die der Reichstag für den Ausbau des Germanischen National-Museums bewilligt hatte. Anschließend wird die empörende Tat­ sache kritisiert, daß die Nürnberger ihre Tore und Ringmauern einreißen wollen. Dann fährt der Schreiber des Aufsatzes wörtlich fort: „So soll denn unsere ehrwürdigste deutsche und einst freie Reichsstadt, das ,Reliquienkäst­ lein des deutschen Reiches4 — so viel ,Heiligthümer4, wie nach altem Sprachge­ brauch die Benennung lautet, umschließen diese Mauern — sie soll aufhören das zu sein und lebendiges Zeugniß abzulegen, von dem was die Väter bauten, aufhören ein Wallfahrtsort zu sein für Alle, die sich gern einmal zurückver­ setzen mögen in die Blüthezeit deutscher mittelalterlicher Kunst und Herrlich-

28 Margarethe Lenk: Nürnberg, des Deutschen Reiches Schatzkästlein, Zwickau 1913 (StB Nürn­ berg, Sign. Amb. 1901 8°), S. 28. 29 Georg Schrötter: Geschichte der Stadt Nürnberg, Nürnberg 1909, S. 129. 30 StB Nürnberg, Sign. Lau A 192. Nr. 17 vom 30. 4. 1880, S. 286. 32 Wander (wie Anm. 2), Nr. 8. 33 Heft 27, S. 446.

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keit, deren Erinnerung wir jetzt noch in Nürnberg auf Schritt und Tritt begegnen. Denn die Reliquien und Heiligthümer, um die es sich hier handelt, sind keine sagenhaften Todtengebeine, sie sind unsterbliche Kunstschöp­ fungen deutscher Meister wie Albrecht Dürer, Adam Kraft, Veit Stoß, Peter Vischer etc. Die herrlichen Kirchen, von frommen Baubrüderschaften in rein­ ster Gothik erbaut, die noch stehenden Häuser der berühmten Geschlechter . . . und wo Jahrhunderte lang der alte Krönungsornat als „Reichsheiligthum“ aufbewahrt worden ist . . . So ist eben ganz Nürnberg selbst sammt seinen Gassen und Gäßlein, seinen Brücken, Thoren und Wällen ein germanisches Museum . . . ein treu bewahrtes lebensvolles Denkmal aus dem Mittelalter wie keine andere Stadt im Reich!“ Mit dieser Quellenaussage wird der Ursprung der Bezeichnung Schatzkästlein besonders deutlich. Die nationale, neuromantische Begeisterung über das Mittelalter hat die Ausdrücke Schatzkästlein, Reliquienkästlein und Schmuck­ kästchen geprägt. Vordergründig wird der Wortinhalt,Gesamtheit der mittel­ alterlichen Bauwerke und Kunstschätze Nürnbergs4 klar. Nur nebenbei ist von den Reichskleinodien die Rede, wenn man auch, wie wir aus anderen Quellen wissen, ernsthaft an eine Rückführung aus dem „ausländischen“ Wien nach Nürnberg dachte.34 Die nationale Strömung, die zur Gründung des Bismarck-Reichs führte, warf natürlich schon ihre Schatten weit voraus, und so erklärt sich die — nach den bisherigen Forschungen — erste Erwähnung Nürnbergs als Schatzkästlein aus dem Jahre 1861. In diesem Jahre fand in Nürnberg ein Sängerfest statt. In dem dazu erschienenen Gedenkbuch heißt es: „Die Stadt Nürnberg, dieses reiche Schatzkästlein des Mittelalters trägt schon im Alltagsgewande der Zierden genug in der überraschenden Mannichfaltigkeit ihrer Bauwerke und deren vielgestaltiger Gruppirung.“35 Zum Abschluß noch zwei sprachliche Beobachtungen: 1. Die Bezeichnung ,Deutsches Reich4 bezieht sich nach dem Deutschen Wörterbuch auf das Zweite Reich Bismarcks und nicht auf das Erste, das fast immer Heiliges Reich oder Römisches Reich genannt wird.36 2. Das Wort Schatzkasten ist zwar im ausgehenden Mittelalter im konkreten Sinn für „Schatztruhe“ üblich37 und wird das erste Mal 1625 im übertragenen Sinne und in der Verkleinerungsform greifbar: ein in Frankfurt erschienenes Buch wird „Thesaurus Philopoliticus 34 Norbert Götz: Um Neugotik und Nürnberger Stil (Nürnberger Forschungen 23), Nürnberg 1981, S. 135. 35 Gedenkbuch des in der Stadt Nürnberg 1861 begangenen großen deutschen Sängerfestes, S. 11. — Ich danke Herrn Dr. Gerhard Hirschmann, der mich auf den Beleg verwies. 36 Deutsches Wörterbuch, begr. v. Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854—1971, Bd. 8, Sp. 575-576. 37 Grimm (wie Anm. 36), Bd. 8, Sp. 2287.

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oder Politisches Schatzkästlein“ genannt.38 Vor allem aber ist es die Romantik, die den Begriff Schatzkästlein im Sinne von ,Gedicht- oder Geschichtensamm­ lung4 verwendet. Johann Peter Hebel nennt seine heute noch in den Schulen gelesene Sammlung von Kurzgeschichten 1811 „Schatzkästlein des Rheini­ schen Hausfreundes“; Berthold Auerbach betitelt eine seiner Schwarzwälder Dorfgeschichten 1858 „Schatzkästlein des Gevattermanns“. Dann erst erfolgt die Übertragung des süddeutschen Wortes — Nachsilbe -lein statt norddeutsch -chen — auf Nürnberg als Schatzkästlein des Reiches. 4. NÜRNBERGER STIL UND NÜRNBERGER MADONNA Es ist nach den im letzten Kapitel gemachten Ausführungen nicht überra­ schend, daß zwei kunsthistorische Bezeichnungen den Namen Nürnbergs tragen, die etwas kurzlebige Stilbezeichnung und die weithin bekannte Marienfigur. Unter Nürnberger Stil versteht man die Nachahmung des historischen Stils von 1881 —1890.39 Initiator war der Architekt Konradin Walther. Es handelte sich um eine Anlehnung an den Renaissancestil Nürnbergs, bei dem die bis dahin übliche Traufenstellung des Nürnberger Bürgerhauses nicht mehr beachtet wurde. Er wurde später durch andere Stilexperimente, des Eklekti­ zismus abgelöst. Das beste, leider nicht mehr vorhandene Beispiel für den Nürnberger Stil war nach Norbert Götz, der die Stilart in seinem Buch „Die Neugotik und der Nürnberger Stil“ ausführlich behandelt, ein Bauwerk in Berlin, das 1887 bis 1891 erbaute Gebäude der Tucher-Brauerei. In Nürnberg gehören das frühere Haus des Fränkischen Kuriers und hochragende Giebel­ häuser in der Königstraße hierher. Erhalten geblieben ist das 1888/89 erbaute Hotel „Deutscher Kaiser“. Die Fassade hat die Kriegsschäden gut über­ standen, im Inneren wurden die neugotischen Fresken entfernt; nur die Emp­ fangsloge, ein Schild mit dem Namen des Architekten und ein buntbemalter Wandschrank erinnern noch an den einstigen Zustand. Die lebensgroße Figur der sogenannten Nürnberger Madonna aus Linden­ holz wurde erst im 19. Jahrhundert wieder entdeckt und befindet sich im Ger­ manischen Nationalmuseum in Nürnberg. Sie gehört zu den schönsten Marien-Darstellungen des Spätmittelalters und stammt aus der Zeit um 1520. Da die Mutter Gottes kein Kind auf den Armen trägt, handelt es sich wahr­ scheinlich um die trauernde Maria aus einer ehemaligen Kreuzigungsgruppe. Wenn auch der Künstler, der sie geschaffen hat, nicht genau bekannt ist, so

38 Erschienen in Frankfurt/M. 1625—31. — Den Hinweis verdanke ich Herrn Dr. Peter Fleisch­ mann. » Götz (wie Anm. 34), S. 178-208.

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rechnet man das Kunstwerk einem Holzschnitzer aus der Werkstatt Peter Vischers des Älteren zu.40 5. DER NÜRNBERGER TRICHTER Der Nürnberger Trichter gehört zu den vielen Spottbezeichnungen, die mit dem Namen Nürnbergs gebildet wurden. Gemeint ist mit ,eintrichtern* oder ,mit dem Nürnberger Trichter eingießen* — man kennt auch die Wendungen: ,Es geht ihm nicht ein, man muß den Nürnberger Trichter holen* und ,Hier hilft kein Nürnberger Trichter* —eine etwas zweifelhafte Art der Vermittlung von Wissen und Gelehrsamkeit, die dem sonstigen guten Ruf Nürnbergs als Stätte der Pädagogik eigentlich nicht gerecht wird. Man denke nur an die Gründung des ersten deutschen Gymnasiums durch Melanchthon oder an den Ruf der Altdorfer Universität. In allen Andenkenläden Nürnbergs wird heute noch die berühmte Szene — aus Porzellan, Zinn, Marzipan und Schokolade gefertigt — dargestellt, wie ein bebrillter Professor, dem altmodisch geklei­ deten Schüler mit einer Halskrause den Trichter auf den Kopf hält und ihm die Weisheit eingeußt. Zunächst etwas zur Geschichte des Wortes Trichter. Das Lehnwort ist weit über tausend Jahre alt und hängt mit der römischen Weinkultur zusammen, die die Germanen im frühen Mittelalter am Rhein und am Limes kennenlernten. Da sie für Gegenstände und Tätigkeiten in diesem Bereich keine eigenen Wörter hatten, übernahmen sie einfach die römischen Bezeichnungen zusammen mit den Dingen. So wird aus lateinisch vinum deutsch Wein, aus vinum mustum Most, aus acetum Essig, aus cellarium Keller, aus pressa, torculum und calcatura, den Namen für die Weinpresse, Presse, Torkel und Kelter. Das Gerät nun, mit dessen Hilfe man Wein aus dem Faß, Bottich oder Eimer in kleinere Gefäße wie Schlauch oder Kanne goß, nannten die römi­ schen Weinbauern traiectorium, eigentlich „Umschütter, Umgießer“. Das fünfsilbige Wort wurde im Laufe der Zeit, wie so oft, abgeschliffen und zum zweisilbigen Wort Trachter oder Trechter verkürzt. Bis heute heißt der Gegenstand in der bairischen und alemannischen Mundart so. Die Tonerhö­ hung zu Trichter, die sich später im Hochdeutschen durchsetzte, geht nach Kluges Etymologischem Wörterbuch auf Nürnberger Einfluß zurück.41 Die Nürnberger Metallwarenherstellung und Produktion von Haushaltgeräten, auf die später noch eingegangen wird, war in der beginnenden Neuzeit so umfang­ reich, daß man sich gut vorstellen kann, daß das Nürnberger Wort Trichter sich gegen Trachter und Trechter durchgesetzt hat. 40 Gerhard Pfeiffer u. Wilhelm Schwemmen Geschichte Nürnbergs in Bilddokumenten, Mün­ chen 1971, Nr. 192, Text S. 47. 41 Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin l91963, S. 791.

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Daß der Nürnberger Trichter auf ein Buch des berühmten Nürnberger Patriziers Philipp Georg Harsdörffer zurückgeht, ist allgemein bekannt. Er nennt sein 1647 erschienenes Buch in barocker Weitschweifigkeit: „Poetischer Trichter / Die Teutsche Dicht- und Reimkunst / Ohne Behuf der Lateinischen Sprache / in VI Stunden einzugiessen“. Wenn der Buchtitel des Pegnitzschäfers auch der Ursprung des Nürnberger Trichters ist, den Vergleich vom Eintrich­ tern hat Harsdörffer von älteren Vorbildern übernommen. Wir sind darüber durch den neubearbeiteten Band des Deutschen Wörterbuchs genauestens unterrichtet.42 Schon vierzig Jahre früher erschien in Tübingen eine Lateinfibel mit dem Titel „Der hebräische trächter, die sprach leicht einzugieszen“. Bereits 1541 wird die Redensart „mit eim trechter eingieszen“ in der berühmten Sprichwörtersammlung von Sebastian Franck angeführt. Der früheste Beleg, den das Deutsche Wörterbuch aufführt, stammt aus dem Jahre 1521. Der Fran­ ziskanermönch Eberlin von Günzburg, ein früher Anhänger Luthers und der Reformation, ließ ein Büchlein über das Lob der Pfarrer in Basel erscheinen, in dem es folgendermaßen heißt: „der heylige geyst schüt es mit keynem trichter eyn wunderbarlich, so man ein ding wol natürlich haben mag“. Die Bedeutung von eintrichtern „Wissen einbläuend, im Schnellverfahren vermitteln“ ist also lang vor Harsdörffer üblich gewesen.

6. SONSTIGE SPRICHWÖRTER UND REDENSARTEN Für die Bekanntheit Nürnbergs sprechen die zwei folgenden Belege: Im Schwäbischen Wörterbuch von Hermann Fischer wird auf ein Tanzliedchen verwiesen, in dem es heißt: „Bin überall gwese, als z Nürnberg nit“43. Wander zitiert die ,Gartenlaube4 mit dem Reim: „Wer einmal nur in Nürnberg war, der käm gern wieder jedes Jahr.“44 Nicht allzu ernst gemeint sind die folgenden Sprichwörter, die sich auf Nürnberg beziehen. Aloys Dreyer führt eine Aussage an45, für die ich noch keine Parallelbelege finden konnte: Ich tus nicht, sagt man in Nürn­ berg, aufs andere Jahr kommen die Heiden. Gemeint wird etwa sein: Ich erfülle die Forderung nicht, denn bald wird sowieso alles zerstört. In Altbayern und Schwaben wurde und wird auf Nürnberg verwiesen, wenn man ausdrücken will, daß man sich nicht um alles kümmern will: In Nürn-

42 Grimm (wie Anm. 36), Bd. 11, 1, 2, Sp. 423-429. 43 Hermann Fischer u. Wilhelm Pfleiderer: Schwäbisches Wörterbuch, 6 Bände, Tübingen 1904-1936, Bd. 4, Sp. 2087 u. Bd. 6, Sp. 2699. 44 Wander (wie Anm. 2), Nr. 13. 45 Dreyer (wie Anm. 1).

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berg ist auch einer, der nicht alles weiß46; in Nürnberg isch au no a Maa hat nit alles gsehe; z* Nürnberg ist au e Männle, des net alles weiß43. Überraschend auch ein Einzelbeleg aus dem Frankfurter Wörterbuch: Aah, ewe geht de Nürnberger Mond uff; die Bedeutung wirkt aufgesetzt: ,von Frauen, die beim Sprechen ein lautes Organ haben4.47 Merkwürdig und heute noch gut bekannt ist auch eine andere Redensart: Die Nürnberger gehen unterm Regen weg. In der Vollmundart kann man z. B. heute noch hören: ,Di Närmbercher genger undern Reeng wechc, ein humorvoller Kommentar, wenn man bei Regen seinen Schirm vergessen hat. Die Redensart ist wesentlich älter und wird von Zahn in seiner oft zitierten Handschrift48 wie folgt zitiert:, Was thust du, wenn es regnet?' — ,Ich mache es wie die Herren von Nürnberg.' — ,Wie machen es diese?' — ,Sie lassen halt regnen oder: sie gehen unter dem Regen weg'. — Der Sinn dieses Sprüchworts ist dieser: Wenn man eine Sache oder ein Ereignis, z. B. den Regen auf keine Weise abzuändern oder abwendig zu machen im Stande ist, so soll man sich der Nothwendigkeit fügen und nach dem Beispiel der Stadt Nürnberg sein Schicksal geduldig ertragen . . . Diese Klugheitsregel verdienet allgemein ange­ priesen zu werden, und gereichet also oben erwähntes Sprüchwort der Stadt Nürnberg. . . zu Ehren . . . Nach Wander und Röhrich49 witzeln die Ham­ burger bei Regenwetter: Ik mak et as de Nürnberger, ik ga darünner weg. Das Wort ist nicht nur auf Nürnberg zugeschnitten, wie Parallelen aus anderen Gegenden zeigen. Wander50 kennt: Er macht es wie die Pariser, er läßt es regnen, wenn es regnet oder: faire comme ä Paris, laisser pleuvoir. Auch aus Westdeutschland sind zwei Beispiele bekannt: Man muß es machen wie die Herren zu Metz, die lassen’s geschehen, wenn es regnet."51 Im Elsaß: Ingerm Rege onne gehn wie d Rohrer (Einwohner von Rohr)52. Fast sieht es so aus, als sei die Redensart von Westen nach Osten gewandert. Eine andere Redensart ist zwar heute ausgestorben, war aber früher unge­ mein häufig: Was geht mich Nürnberg an, ich habe kein Haus (mitunter auch: keinen Stein) drin. Die Bedeutung war nach Wander53: Was gehen mich die Angelegenheiten anderer an? Was mich nicht brennt, das brauche ich nicht zu löschen. Das Sprichwort ist schon in einer Sprichwörter-

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Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg 1973, Bd. 2, S. 689—690. Frankfurter Wörterbuch, hg. v. Wolfgang Brückner, Frankfurt/M. 1971 — 1985, S. 2186. Zahn (wie Anm. 8), Bl. 140. Wander (wie Anm. 2) und Röhrich (wie Anm. 46). Wander (wie Anm. 2), Bd. 3, Sp. 1185. Wander (wie Anm. 2), Bd. 3, Sp. 300, Nr. 33. Ernst Martin und Hans Lienhart: Elsässisches Wörterbuch, Straßburg 1899-1907, Bd. 2, S. 241. 53 Wander (wie Anm. 2), Nr. 9 und Bd. 1, Sp. 86, Nr. 11.

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Sammlung aus dem Jahre 160554 enthalten, in der Form: Manchen jrret Nürn­ berg, der kein Hauß darin hat. Es wird auch im Schwäbischen, Rheinischen, Westfälischen und sogar aus Dänemark in folgenden Varianten belegt: Was frag ich nach Nürnberg, ich hau ja kein Haus drinne55; wat schert mich Nürn­ berg, ich han kein Hus dren56; hai bekümmert sick ümme Nuiernberg und hett er da kain Hius inne; (Driburg)57; bekymer sig om Nyrnbergee hvor (wo) man ei (nicht) har (hat) een stan udi (drin)58. Es handelt sich hier um ein besonders deutliches Beispiel für das, was man in der Germanistik mit dem Fachwort,Wandersprichwort4 belegt hat. Folgendes ist damit gemeint: Irgendwo — man weiß nicht genau, um welche Stadt es sich ursprünglich gehandelt hat — ist ein Sprichwort geprägt worden. Es verbreitete sich mündlich im näheren Umfeld, oft aber auch auf alten Handelsstraßen in weit entfernte Gebiete. Witzige Leute, die Sinn für Satire hatten, übernahmen ein Sprichwort gerne und übertrugen es auf andere räumliche Gegebenheiten. Ich führe hier die mir bekannten Parallel-Sprichwörter an: 1. Was geht mich Rom an, hab ich doch kein Haus darin.59 Rom geht ihn nichts an, er hat kein Haus darin; viele bekümmern sich um Rom und haben doch kein Haus drin. 2. Woss gieht mich Brassei (Breslau) an, ho ich doch kee Hauss drinne.60 3. „Sorg nicht für Augsburg, wenn du kein Haus drinnen hast“, sagt man in Ulm.61 4. Was frag ich nach Paris, ich hau ja kein Haus drinn; Was goht mi Paris aa, ich hau ja kei Haus drinn.62 Obwohl Nürnberg in so vielen Beispielen genannt ist, könnte bei Betrach­ tung der Gesamtlage doch Rom der eigentliche Ausgangspunkt des Sprich­ worts gewesen sein. Diese Ansicht wird durch ein anderes Sprichwort bestä­ tigt, das zunächst auf Rom bezogen ist: „Je näher Rom je näher der Hölle“ und dann auf Nürnberg übertragen wurde: Es hat einer zu Nürnberg so nahe zum Himmel als zu Rohm vnd auch so nahe zur Hölle.63

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Friedrich Petri: Der Teutschen Weissheit, 1605, Bd. 2, S. 448. Fischer (wie Anm. 43). Rheinisches Wörterbuch, hg. v. Josef Müller, Bonn und Berlin 1928—1971, Bd. 6, Sp. 284. Wander (wie Anm. 2), Nr. 14. Wander (wie Anm. 2), Nr. 9. Wander (wie Anm. 2), Bd. 3, Sp. 1717, Nr. 58. Wander (wie Anm. 2), Bd. 1, Sp. 462. Fischer (wie Anm. 43), Bd. 1, Sp. 445. Fischer (wie Anm. 43), Bd. 1, Sp. 646. Wander (wie Anm. 2), Nr. 1.

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7. FÜNF SPITZNAMEN FÜR DIE NÜRNBERGER Es gab und gibt für uns Nürnberger fünf Spitznamen, von denen vier nur noch aus der Literatur bekannt sind und einer heute noch gebräuchlich ist. Der älteste ist Nürnberger Sandhasen. Die Bezeichnung ist auch in anderen Gegenden Deutschlands üblich, so z. B. in Mainz, Dannstadt, Nieder­ otterbach und Trulben in der Pfalz, wie für die Einwohner von Wieseck bei Gießen, Ludwigslust in Mecklenburg64 und in unserer Umgebung für Speikern bei Schnaittach65. Die Ortsschelten sind immer dann entstanden, wenn san­ diger Boden vorhanden war. So auch in Nürnberg. Seit dem Mittelalter ist der Sandboden als eines der hervorstechenden Merkmale der Stadt genannt. Waldau66 zitiert zwei Belege aus mittelhochdeutschen Epen, und auch im großen Freiheitsbrief Friedrichs II. ist auf den rauhen Boden hingewiesen. Noch deutlicher formuliert es dann Sebastian Münster in seiner Kosmographie von 1544: „Diese mechtige und reiche statt ligt gantz und gar uff einem ongeschlachten und sannichten Boden“67. Hans Sachs reimt: „Die Nüremberger alle stunden werden genennet die sandhasen, weil sie bawen all mesz und strasen“68. Hier ist deutlich auf die Gewohnheit der Sandhasen, einer Art von Kaninchen angespielt, die Gänge und Höhlen bauen. Das Aufstellen der Krambuden und das Ziehen der Nürnberger Kaufmannszüge von Stadt zu Stadt wird vom Dichter damit verglichen. Benedict Wilhelm Zahn erwähnt den Spitznamen noch um 1800.69 Es giebt in Deutschland viele Städte und Orte, deren Bewohner scherz- oder spottweise auch Über- oder sogenannte Spitz­ namen beygeleget werden. Ein gleiches widerfahret auch den Einwohnern und Unterthanen der Stadt Nürnberg, welche unter anderm auch Sandhasen genennet werden . . . Wenn auch die Ortsschelte heute nicht mehr gebräuch­ lich ist, erinnern doch noch alte Flurnamen wie ,Am Sand* bei den Fischer­ gassen, Sandreuth und der Sandberg in Johannis an ihre Voraussetzung. Was sind nun eigentlich Sandhasen? Moderne zoologische Lexika schweigen sich, so viel ich feststellen konnte, aus, doch findet man den Ausdruck gele­ gentlich in der Jägerfachsprache. Altere Lexika kennen den Ausdruck: Das Schweizer Idiotikon70 erklärt Sandhase als eine Art Kaninchen, das wegen der

64 Adolf Bach: Deutsche Namenkunde, Bd. 1, 1 u. 2 Die deutschen Personennamen, Die deutschen Ortsnamen, Bd. 3 Registerband, Heidelberg 1952 — 1956, Bd. 1, § 65 Friedrich Bock: Nürnberger Spitznamen, in: MVGN 45 (1954), S. 111. 66 Georg Ernst Waldau: Vermischte Beyträge zur Geschichte der Stadt Nürnberg, S. 334 u. 337. 67 Kusch (wie Anm. 25), S. 33. 68 Grimm (wie Anm. 36), Bd. 8, Sp. 1766. 69 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 49. 70 Schweizerisches Idiotikon, hg. v. Friedrich Staub u. Ludwig Tobler, Frauenfeld Bd. 2, Sp. 1669.

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Bd. 2, 1 u. 2 263, 2. 1789, Bd. 4,

1881 — 1990,

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Ähnlichkeit an Farbe und Größe nach dem gleichnamigen Hasen benannt sei (Aargau und Thurgau). Auch im Deutschen Wörterbuch71 wird auf älteren Sprachgebrauch hingewiesen: eigentlich die auf Sandboden lebenden Hasen, ferner eine Art von Kaninchen, die dem Hasen an Größe und Farbe ähnlich sind. Der zweite Spitzname Nürnberger Pfeffersäcke geht ebenfalls bis in den Beginn der Neuzeit zurück. Der Pfeffer, der von Indien über Venedig nach Deutschland gelangte, war wegen der damals üblichen Konservierungs­ methode des Einpökelns von Fleisch eine wichtige Handelsware und brachte viel Geld ein. Seit 1536 taucht nach Kluge72 das Scheltwort Pfeffersack für deutsche Kaufleute auf. Es handelt sich um eine sogenannte Pars-pro-toto-Bildung, so wie man einen schläfrigen Menschen nach seiner Schlafmütze ,Schlafhaube*, einen Bauern nach seinem Dreschgerät,Flegel* und einen Schmied nach seinem Hauptprodukt ,Hufnagel* benennt. Das Schimpfwort, das sicher aus Neid geprägt wurde, ist in seiner Entstehung recht anschaulich: der reiche, wohlgenährte Pfefferhändler wird mit dem prall gefüllten Pfeffersack vergli­ chen. Die Schelte wird, wie drei große deutsche Wörterbücher bestätigen, frühzeitig auf die Nürnberger Großkaufleute eingeengt. Schmeller73 schreibt, daß die Nürnberger seit dem 15. Jahrhundert wegen ihres Handels, von Für­ sten und Rittern Pfeffersäcke genannt werden. Fischer74 spricht von einem alten Schimpfwort, speziell für die Nürnberger, und das Deutsche Wörter­ buch75 zitiert ein altes Volkslied von 1545 „darnach thet er manchen nürn­ berger pfeffersack jagen.** Auch bei den Nürnberger Hergottsschwärzern handelt es sich um einen historischen Spitznamen. Bei Zahn heißt es wörtlich76: „Herrgotts­ schwärzer. Also nennet man boßhafterweise die Nürnberger und zwar aus fol­ gendem Grund. Zwischen den beyden Thürmen der Haupt- und Pfarrkirche zu Sankt Sebald in Nürnberg hänget der Herr Christus 1675 Pfund schwer aus Mößing gegossen am Kreuz . . . Daß bei den Katholiken der Crucifix Herrgott genennet worden, ist bekannt. Warum aber die Nürnberger Herrgotts­ schwärzer benennet werden, beruht auf nachfolgender Legende. Man sagt nämlich, dieses durch die Länge der Zeit und Witterung schwarz angelaufene Cruzifix sey von Silber gewesen. Als aber in dem 30jährigen Krieg die Schweden sich der Stadt Nürnberg genähert und man befürchtet habe, daß der

71 Grimm (wie Anm. 36), Bd. 8, Sp. 1766. 72 Kluge (wie Anm. 41), S. 541. 73 Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch, 2. Ausgabe von Georg Karl Frommann, Stuttgart 1872-1877, Bd. 1, Sp. 421. 74 Fischer (wie Anm. 43), Bd. 1, Sp. 1025. 75 Grimm (wie Anm. 36), Bd. 7, Sp. 1639. 76 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 49 u. 50.

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Feind solches erbeuten möge, hat man die List gebraucht, selbiges schwarz anstreichen zu lassen und auf diese Weise dasselbe gerettet. “ Moritz Maximilian

Mayer77 erzählt die Sage ähnlich, spricht vom „Silbernen Herrgott“ und nennt die Jahreszahl 1625 als Zeitpunkt der Abnahme des Kunstwerks. Wörtlich fährt er fort: „Von dieser Zeit an soll sich auch der Name Herrgottsschwärzer, mit welchem Auswärtige, z. B. die Altdorfer, Fürther, Läufer etc. heute noch die Nürnberger zu nennen pflegen, herschreiben.“ In modernen fachwissen­ schaftlichen Aufsätzen wird das Renovierungsdatum bestätigt, von der Sage und dem Spitznamen ist allerdings nicht die Rede.78 Auch der vierte Spitzname Nürnberger Säiwalaist heute in der Mund­ art ausgestorben. Wir kennen ihn allerdings aus zwei Nürnberger Hand­ schriften um 1800 gut. Einen letzten Rest konnte ich vor rund dreißig Jahren noch von einer längst verstorbenen Nürnbergerin erfahren. Zahn schreibt79: Das Wort säiweln bedeutet so viel als die reine deutsche Sprache nach dem ver­ derbten, zu Nürnberg bey dem gemeinen Volk (vorzüglich in der Gegend der Sankt Jakober Kirche) herrschenden Dialekt oder der sogenannten Nürnberger Mundart aussprechen, in welcher der bekannte Volksdichter Johann Conrad Grübel allhier . . . sich besonders ausgezeichnet hat. Von dem, der also spricht, sagt man nun: er säiwelt oder Er ist ein Nürnberger Säiwala. Der im Diminutiv gewöhnliche Name Säiwala kommt her von dem Schutzpatron der vordersten Haupt- und Pfarrkirche daselbst . . . Hässlein80 führt an: Sebalin, Seibala Nürnberger Seibala, so werden diejenigen genannt, welche die hiesige Sprache nach der Mundart des gemeinen Mannes reden. Eine weitere wichtige Beleg­ stelle liegt in den Nürnberger Neujahrsgesprächen vor. Dort wird eine typisch Mundart sprechende Nürnbergerin Frau Seibalin genannt.81 Und nun zum letzten, heute noch gut bekannten Spitznamen, dem Nürn­ berger Peterleinsbub, in der Vollmundart Närmbercher Bäiderlasbou. Wie die Ortsschelte entstanden ist, kann man leicht erraten. Die Petersilie heißt heute noch in der Stadtmundart der Bäiderla. Ortsspitznamen nach dem Anbau bestimmter Nutzpflanzen oder der Vorliebe für gewisse Gerichte gibt es auch andernorts in Hülle und Fülle. So heißen nach Adolf Bach die Ein­ wohner bestimmter Ortschaften: Worschtzippel, Käsfresser, Quatschekuche, Griewewörscht, Krumbirekäfer. Auch die Ulmer Spätzli gehören hierzu.82 77 Moritz Maximilian Mayer: Nürnberger Merkwürdigkeiten und Kunstschätze, Bd. 1 Die Kirche des Heiligen Sebaldus, S. 7. 78 Karl Kohn: Der Starcksche Kruzifixus, in: MVGN 68 (1981), S. 297-302. - Klaus Pechstein: Der große Messingkruzifixus von St. Sebald, in: MVGN 70 (1983), S. 1-12. 79 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 178. 80 Johann Heinrich Hässlein: Versuch eines Nürnberger Idiotikons, Abschrift durch Georg Karl Frommann im Germ. Nationalmuseum in Nürnberg, Sign. Hs. 128678. 81 Nürnberger Neujahrsgespräche, gesammelt in der StB Nürnberg, Sign. Nor. 282 2°. 82 Bach (wie Anm. 64), Bd. 1, § 263, Nr. 10.

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Im Knoblauchsland wurde die Petersilie seit langer Zeit angebaut. Bäiderla und Schwemmgniedla (Petersilie und Schwemmklöße) kann man als eine Art Nürnberger Nationalspeise bezeichnen. Darüber hinaus war die Petersilie ein sehr beliebtes Küchengewürz bei den Nürnberger Hausfrauen. Das zeigen nicht nur alte Kochbücher, sondern auch die genaue Beschreibung bei Zahn83 Sowol das Kraut als die Wurzel des bekannten Küchengewächses oder Gemüses Petersilgen, insgemein Peterlein genannt, ist nebst Rindfleisch abge­ kocht in Nürnberg eine vorzüglich beliebte Speise und mit dem Kraut alleine werden die Schüsseln verschiedener Gerichte, z. B. der gesottenen Fische, Krebse, ehe sie aufgetischt werden, ausgezieret. Zahn erwähnt zwar das Schimpfwort Peterlein auf allen Suppen für den Wichtigtuer, aber noch nicht den Peterleinsbuben. Auch in einem handschriftlichen Idiotikon vom Ende des 19. Jahrhunderts ist der Spitzname noch unbekannt. Die ältesten Belege für das Neckwort stammen erst aus der Zeit nach 1900. Einer der vielen Mundart­ dichter, die in der Art Grübels ihre Verslein schmiedeten, hieß Friedrich Wil­ helm Becker (1860—1925). Er schrieb zwischen 1903 und 1918 eine Reihe von Vortragsgedichten, die in Heftchenform erschienen. Sie hießen z. B. „Kraut und Roubn", „Der Radfahrer", eines davon „Der Peterlesbou". Becker darf als Verbreiter dieses Spitznamens, vielleicht sogar als Schöpfer angesehen werden. Die Gedichte sind es nicht wert, wörtlich wiedergegeben zu werden, doch müssen in diesem Zusammenhang wenigstens vier der Peterlesboum-Gedichte beschrieben werden. Beim ersten handelt es sich um ein vom Fremdenhaß der Vorkriegszeit geprägtes Machwerk: Eine Bierrunde von sechs Tschechen wagt es, einen zufällig anwesenden Schmied aus Nürnberg-Leonhard als Peiterlasboum zu verspotten und ihm Schwäche und Feigheit vorzuwerfen. Der Schmied wird wütend und schlägt einen der Herausforderer in Grund und Boden. Der Schluß lautet: „Und wöi er wieder is erwacht / Haut er banah ka Maul afbracht / Er lallt ner blouß: Wer haut dös tou? / Öitz sagt der Schmied: A Peiterlasbou!" — Die zweite Probe, das Peiterlasboubn-Lied, ist eine einzige Lobeshymne. Der Nürnberger Peterlesbou wird mit Milliarden von Buben, mit Engeln, Fürsten, Grafen, ja Königen verglichen und schneidet dabei sehr gut ab. Auch eine Schüssel voll Schwemmkniedla und Peiterla wird erwähnt. In der dritten Probe wird der Peterlesbou nach seinem Tod vom Himmels­ pförtner Sankt Peter erkannt und als solcher eingelassen. Endlich sei noch auf eine der bekanntesten Nummern Beckers hingewiesen, die vielleicht besonders zur Verbreitung und Festigung des Spitznamens beigetragen hat, sein Couplet „Ich bin ä Nürnberger", das bei Festen und Kabarettvorstellungen nach der Melodie „Das süße Mädel" oft gesungen wurde. Der Refrain lautete: „I bin ä Nürnberger / I bin ä Peiterlasbou / Schwemmkniedla ess i gern / und Peiterla ah derzou.“ 83 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 70.

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8. NÜRNBERGER RECHT UND GESETZGEBUNG IN ALTER ZEIT Die Nürnberger Rechtsprechung hat seit dem Hochmittelalter eine hervor­ ragende Rolle im deutschen Rechtsleben gespielt. Maßgebende Fachleute haben dies in neuester Zeit betont. So spricht z. B. Rudolf Wenisch vom Platz Nürnbergs unter den bedeutenden deutschen Oberhöfen wie Aachen, Frank­ furt, Ingelheim, Köln, Lübeck, Magdeburg, Soest, Straßburg.84 — Werner Schultheiß kommt zu folgenden Ergebnissen: „Jedenfalls hat sich Nürnberg, besonders in der reichsstädtischen Zeit, Verdienste auf dem juristischen Gebiet erworben, die seinen Leistungen in der Kunst und in den übrigen Zweigen der Wissenschaft ebenbürtig an die Seite gestellt werden können.“ — „Nürnbergs Recht war bekannt und gerühmt wie seine Waren und Erzeugnisse. Es ist das Werk erfahrener, nach praktischen Lösungen suchender Kaufleute und Poli­ tiker.“85 — Klaus Kästner führt ungefähr folgendes aus: Wenn sich auch keine Stadtrechtsfamilie im Hochmittelalter im Nürnberger Markt- und Stadtrecht ausbildet, in dem Ausmaß des Freiburger, Lübecker und Magdeburger Rechts, so waren damals schon die Nürnberger Rechtssat­ zungen vorbildlich für Bamberg, Eger, Karlsbad und bis 1387 sogar für Prag. Bis nach Hermannstadt in Siebenbürgen strahlte es und wird dort im Index als Nürenbergisch Recht bezeichnet. — Die Hochblüte des Nürnberger Rechts hat sich aber erst unter der heute noch in der Fachliteratur üblichen Bezeichnung Nürnbergische Reformation ausgewirkt. Da diese Refor­ mation als erste in Deutschland gedruckt wird, und zwar im Jahre 1479, übt sie einen starken Einfluß aus. Die 35 Titel der „Newen Reformacion der Stadt Nuremberg“ enthalten prozeß-, erb-, familienrechtliche und andere Gebiete des Zivilrechts. Auch die Überarbeitung des Gesetzbuchs von 1564 „Der Stadt verneute Reformation“ enthält eine Neukodifikation des Nürnberger Rechts mit Ausnahme des Straf- und Verwaltungsrechts, das das hohe Ansehen der Nürnberger Gesetzeskunst wegen seiner Systematik und seiner sprachlich gelungenen Formulierungen krönt.86 Zum Wort Reformation ist sprachlich anzumerken: Das Lehnwort aus lateinisch reformare „umgestalten, planmäßig erneuern“ bezog sich zunächst auf das rechtliche Gebiet und war lange, bevor es durch die lutherische Refor­ mation Schlagwort auf kirchlichem Gebiet wurde, bekannt. Ein Beispiel aus den Nürnberger polizey Ordnungen: „reformation König Maximilians, die 84 Rudolf Wenisch: Nürnbergs Bedeutung als Oberhof im Spiegel der Ratsverlässe, in: MVGN 51 (1962), S. 443-467. 85 Werner Schultheiß: Geschichte des Nürnberger Ortsrechts, Nürnberg 21972, S. 20. — Werner Schultheiß: Die Einwirkung des Nürnberger Stadtrechts auf Deutschland, besonders Franken, Böhmen und die Oberpfalz (der Nürnberger Stadtrechtskreis), in: JfL 2 (1936), S. 54. 86 Klaus Kästner: Nürnberg — eine Stadt der deutschen Rechtsgeschichte, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 37 (1982), S. 2057.

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freischöpfen und das heimlich gericht zu Westphalen betreffend, zu Wormbs anno 1495 aufgericht.“87 Die obigen Ausführungen erhalten eine wertvolle lite­ rarische Bestätigung durch Walther von der Vogelweide, der schon um 1224 dichtet: ze Nurenberg was guot gerichte, das sage ich ze mere.88 Hier ist wohl auch der Platz, von den Nürnberger Reichstagen zu sprechen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation hatte bis zum 17. Jahrhundert keine feste Hauptstadt. Die Hof-, später Reichstage, bei denen das damalige „Parlament“ mit dem Kaiser zusammentraf, wurden abwechselnd in einer der großen Reichsstädte wie Augsburg, Köln, Worms, Speyer und Nürnberg abgehalten. Von den vielen Reichstagen, die zwischen 1298 und 1543 in Nürn­ berg stattfanden, seien nur wenige ausgewählt: 1298 stattet Albrecht I. Nürn­ berg mit Privilegien aus und verkündet einen Landfrieden; 1323 wird unter Ludwig dem Bayern wiederum ein Landfriede verkündet; 1356 läßt Karl IV. in Nürnberg das wichtige Reichsgesetz, die Goldene Bulle beschließen, wonach den sieben Kurfürsten das Recht zustand, den König zu wählen, und Nürn­ berg als Tagungsort des ersten Reichstags des jeweils neu gekrönten Königs bestimmt wurde. Unter Kaiser Sigismund wurden auf mehreren Reichstagen Kreuzzüge gegen die Hussiten beschlossen, so 1422, 1426, 1428 und 1430/31. Friedrich III. und Maximilian I. wie Karl V. hielten bedeutende Reichstage in Nürnberg ab. 1500 trat das erste Reichsregiment in Nürnberg zusammen. Vor allem der Reichstag von 1532 ist als Nürnberger Religionsfriede oder Nürnberger Anstand in die Geschichte eingegangen. Das mittel­ hochdeutsche Wort anstant, das heute auf ,ordentliches und sittlich einwand­ freies Verhalten4 beschränkt ist, hatte ursprünglich eine vielfältige Bedeutung: ,Anstellung, Amt, Hochsitz, Hindernis, Waffenstillstand, Friede4. Der Krieg stand an oder still, wie ein Wagen anstehen oder Stillstehen konnte.89 Was geschah im Jahre 1532 in Nürnberg bei diesem Anstand? Zunächst waren katholische und evangelische Fürsten in Regensburg und Schweinfurt zu Verhandlungen über einen Religionsfrieden zusammengetreten, da der Kaiser durch die Türkengefahr gezwungen war, einen Kompromiß mit den ungeliebten Protestanten einzugehen. Am 23. Juli 1532 wurden die Verhand­ lungen nach Nürnberg verlegt. Das Ergebnis war folgendes: Bis zum nächsten Konzil oder Reichstag sollte gemeiner Friede bestehen, Krieg und Beraubung sollten ausgeschlossen sein und alle Religionsprozesse eingestellt werden. Die Protestanten versprachen dafür Gehorsam und Türkenhilfe.90 Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten. Dies erweist sich nicht nur beim Ruhm der Nürnberger Wirtschaft in folgenden Kapiteln, sondern auch beim 87 88 89 90

Grimm (wie Anm. 36), Bd. 8, Sp. 492. Zitiert nach Waldau (wie Anm. 66), Bd. 4, S. 332. Grimm (wie Anm. 36), Bd. 1, Sp. 473 u. 480. Emil Reicke: Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1896, S. 863 — 864.

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Nürnberger Recht und Gesetz. Zunächst zwei weniger bekannte Sprich­ wörter: Nach Nürnberger Recht muß der die Prügel behalten, der sie bekommen hat oder ähnlich: Nach Nürnberger Recht behält der die Schläge, der sie hat.91 Wahrscheinlich galt diese Redensart erst allgemein und wurde nachträglich auf Nürnberg bezogen. Wander gibt einen wertvollen Hinweis: Aus dem 18. Jahrhundert wird aus dem preußisch-märkischen Recht bezeugt: een jeder mag behole wat he hefft. So soll ein märkischer Amtmann bei der Schlichtung von Prügeleien gesagt haben91. Eine zweite negative Äuße­ rung über die Strenge der Nürnberger Richter erfahren wir aus den rheinischen Mundarten: In Nürnberg han se rer gehänkt, die wore besser wie der Ko bl92. Bei dem Kobl (= Jakob) scheint es sich um einen Schwerstverbrecher gehandelt zu haben, während die strengen Nürnberger Urteile sich auf leichtere Fälle bezogen. In diesen Zusammenhang steht auch das im nächsten Kapitel behandelte, heute nicht mehr zu hörende Sprichwort, das gleicher­ maßen positiv wie negatv interpretiert werden kann.

9. WENN DU ZU NÜRNBERG WÄREST, SO GÄB MAN DIR DIE WAHL Schon im 18. Jahrhundert war dieses Sprichwort, das vor allem im 16. Jahr­ hundert Geltung hatte, ausgestorben. Die Erklärung macht erhebliche Schwie­ rigkeiten, auch wenn es einen ausführlichen Aufsatz aus dem Jahre 1865 gibt.93 Zunächst einmal die Quellen: Der erste Beleg stammt aus der Zimmerschen Chronik von 1514. Es handelt sich in dem Minnegespräch „Des Weibes Tücke“ um folgenden Zusammenhang: ein häßlicher Ritter hofiert eine Dame, die ihm eine deutliche Abfuhr gibt: „Gesell, ez geschieht nit halb, was du begerst, Wann du zu Nurmberg werst, so geb man dir die wal. . . du darfst mir nit hoffieren.“ Gemeint ist ungefähr: Wenn du in Nürnberg wärst, könntest du wählen, bei mir nicht.94 Thomas Murner, der geistvolle Spötter der Reformationszeit auf katho­ lischer Seite, führt die Redensart zweimal an: in seiner Narrenbeschwörung heißt es wörtlich: „Im todt wendt sy ouch han den fal. Zuo Nürnberg liesz man in die wal. Hie liesz man sy den ritten hon, Ee das man geb den val davon.“ Die Übersetzung lautet nach Barack: In Nürnberg läßt man die Leute 91 Wander (wie Anm. 2), Bd. 3, Sp. 1415 u. Sp. 1527. — Dreyer (wie Anm. 1). 92 Müller (wie Anm. 56). 93 Karl August Barack: „Wann du zu Nürnberg wärest, so gab man dir die wal.“ Sprichwörtliche Redensart im 16. Jahrhundert, in: Album des literarischen Vereins in Nürnberg, 1865, S. 76—80. — Die folgenden Belegstellen von Murner stammen aus diesem Aufsatz. 94 Direkt zitiert aus der Zimmerischen Chronik, hg. v. Karl August Barack, in: Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Tübingen 1869, Bd. 94, S. 318, Vers 17—25.

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vorher sterben, und zwar eines natürlichen Todes (Ritten = Fieber), bevor man die Todessteuer von ihnen verlangt. Das will keinen rechten Sinn für unser heutiges Verständnis geben. Auch die zweite Belegstelle, die aus dem Großen Lutherischen Narren von Murner stammt, ist keineswegs eindeutig. Dort heißt es: „Ich habs doch vormal me gehört/ Wer eine freie wal begert/ Dem gibt man sie zu Nürenberg/ Wie er wil schlecht (schlicht, einfach, ungekünstelt) oder zwerg (= verkehrt, schräg, querliegend). Barack erklärt: In Nürnberg übte man keinen Zwang aus und sein Wille konnte frei verfügen. Auch Lutz Röhrich95 ist sich bei seiner Erklärung nicht sicher, wenn er meint: „Vermutlich liegt hier der Gedanke an die freiheitliche Verfassung der Stadt zugrunde, die nun der Neid der weniger glücklichen Orte mit dieser abwertenden Bemerkung gern zu einer Stadt der ,unbegrenzten Möglichkeiten* abstempeln wollen.“ Das befriedigt alles recht wenig. Etwas klarer ist die Darstellung Baracks in seinem genannten Aufsatz, die an eine sagenhafte Erzählung erinnert, die auf Nürnberg — gewissermaßen wie auf den Ort Schilda — eingeengt wurde: Man ließ einem zu Tod verurteilten Verbrecher einen letzten Wunsch, sich eine bestimmte Todesart zu wählen. Der arme, schlaue Mann erkor sich den Tod durch Alter oder Krankheit. Da die Richter das Versprechen nicht brechen wollten, mußte man auf seine Wahl eingehen. Irgendein lustiger Kauz verlegte den Ort dieses Geschehens nach Nürnberg. Zu dieser letztgenannten Interpretation paßt sehr gut ein Hinweis im Schles­ wig-Holsteinischen Wörterbuch96, dort ist ebenfalls von einem zum Tod ver­ urteilten Gefangenen die Rede, der aus den Strohhalmen seiner letzten Lager­ statt einen Knoten geflochten haben soll, der sich nur durch einen ganz raffi­ nierten Trick entwirren ließ. Man vergleiche hier das weiter unten Nürnberger Tand genannte Spielzeug, das Zankeisen! Er habe dieses Spielzeug seinen Rich­ tern als Trickaufgabe überlassen. Da diese den Knoten nicht lösen konnten, mußten sie dem Delinquenten seinen letzten Wunsch erfüllen und ihn frei­ lassen. Aus den verwirrenden Interpretationen läßt sich zweierlei erkennen: positiv tritt zutage, daß die Nürnberger Urteilssprechung bei aller Strenge doch ein Hinterpförtchen hatte, das einer gewissen Milde Raum gibt. Negativ ist aller­ dings zu bemerken, daß der kluge Verurteilte den Nürnberger Richtern ein Schnippchen schlug. In diese Richtung weist das viel bekanntere, heute noch übliche Sprichwort des nächsten Kapitels.

95 Röhrich (wie Anm. 46). 96 Otto Mensing: Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch, Neumünster 1927—1935, Bd. 3, Sp.823.

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10. DIE NÜRNBERGER HÄNGEN KEINEN, SIE HÄTTEN IHN DENN ZUVOR Das Sprichwort, das nach Wander97 in ganz Deutschland zitiert wird, bedeutet ungefähr folgendes: 1. vom Standpunkt des Straffälligen aus gesehen: ich schlage die Warnung in den Wind, in der Hoffnung der angedrohten Strafe zu entgehen oder einfacher: man wird mich schon nicht erwischen. 2. vom Stand­ punkt der Öffentlichkeit: der Schuldige kann erst belangt werden, wenn man seiner habhaft geworden ist. Das Sprichwort geht weit in die Vergangenheit zurück und sollte den Spott über die biederen, rechtlich denkenden, aber spießigen Nürnberger ausdrücken, die vom Eulenspiegel-Eppelein hereingelegt wurden. Schmunzelnd erzählen heute noch die Einheimischen dem Touristen die bekannte Sage vom Raubritter Eppelein — nach neuesten Forschungen Eckelein — von Gai­ lingen98, der Nürnberg quälte und 1381 gefangen und mit dem Rade hinge­ richtet wurde. Ort der Erzählung ist meist die Mauer neben dem Fünfeckigen Turm, in die die angeblichen Hufeindrücke des Ritters eingemeißelt sind. Ich gebe hier gekürzt den Wortlaut der Sage wieder, wie sie Aufsberg in seiner Sammlung „Es war einmal“, um 191099 erzählt hat: „Der versammelte Rat der Stadt hatte Eppelein wegen seiner vielen Gewalttaten Nürnberger Kaufleuten gegenüber zum Tode durch das Schwert verurteilt. Als er auf die Freiung geführt wurde, um hingerichtet zu werden, war es sein letzter Wunsch, noch einmal ein Paar Runden auf seinem treuen Rappen zu reiten, der in der Nähe an einem Baum angebunden war. Mit raschem Schwung saß der Ritter im Sattel. Der Rappe blies die Nüstern und wieherte laut. Die Söldner ergötzten sich an den Reitkünsten Eppeleins, der ganz zu vergessen schien, daß ihm die nächsten Minuten den Tod bringen sollten. Immer näher lenkte er sein Roß der Mauer zu, die den Burggraben nach innen umschloß. Plötzlich erhob sich sein Pferd zu einem gewaltigen Sprung, und Roß und Reiter waren ver­ schwunden.“ — So weit die Sage. Wichtige Hinweise auf ihre Entstehung erhalten wir durch Waldau100 1786 und den Sagenforscher Rochus von Liliencron 1865101. Beide zitierten ein Volkslied vom Ritter Eppele, das im 14.

97 Wander (wie Anm. 2). Eine interessante Variante fand ich zufällig in der Münchner Zeitschrift „Radfahr-Humor“ vom 4. 12. 1897: Ein damaliges Radler-Sprichwort lautete „Die Nürnberger Schutzleute schreiben keinen auf, ehe sie ihn haben“. 98 Hans Frhr. von und zu Heßberg: „Eppelein von Gailingen“, in: JfL 40 (1980), S. 9—13. 99 Theodor Aufsberg: Es war einmal, Nürnberger Sagen und Geschichten, Nürnberg o.J., S. 13-17. i°o Waldau (wie Anm. 66), Bd. 1, S. 209-234. 101 Rochus von Liliencron: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. —16. Jahrhundert, Bd. 1, S. 92, Nr. 28.

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und 15. Jahrhundert mündlich tradiert und erst nach der Erfindung des Buch­ drucks im 16. Jahrhundert in mehreren Fassungen vorliegt. Hier ist zwar nicht vom Sprung über den Burggraben, aber von der Flucht vor den Nürnbergern und einem kühnen Sprung in den Main die Rede. Eppelein soll nach Waldau einem Wächter am Frauentor ein Paar Stiefel ins Gesicht geschlagen haben, worauf die Nürnberger ihn bis an den Main verfolgt haben sollen. Es heißt dann wörtlich: „Sie schickten zwen und siebenzig Reuter ongfer/ wo der Eppele von Geylingen hinkommen wer/ Ihr Söldner, euer Gefangener wil ich nit sein/ Sind euer zwen und siebenzig, bin ich nur allein/ Sie trieben in hinter sich auf ein hohen stein/ Der Eppele von Geylingen sprengt in den Mayn/ Ir Nürnberger Söldner seid nit ehren werdt/ Euer keiner hat ein gutes Reuter­ pferd.“ Der Schauplatz der Burg zu Nürnberg ist demnach sekundär. Die Topographie spricht gegen ihn, auch wenn der Graben zu Zeiten Eppeleins viel schmäler war. Ob ein Unfall vom 4. Dezember 1487, bei dem ein kaiser­ licher Knappe mit seinem Pferd in den Graben gestürzt sein soll, an der Verle­ gung des Geschehens schuld war, steht dahin. Eugen Kusch schildert den Vor­ fall in seinem bekannten Buch, ohne die Quelle zu nennen. Der tollkühne Sprung, für die Volksphantasie ein sehr zugkräftiges Thema, wird, wie bei Wandersagen üblich, auch andernorts bezeugt. Das Schwäbische Wörterbuch102 kennt das Sprichwort auch in Bezug auf die Ulmer und nennt eine Variante aus Spaichingen: In Nürnberg henkt ma s und in Rottweil schneidet ma Kurzes (= Viehfutter, Häckerling), wenn ma s hat. Vor allem aber ist der sogenannte Harrassche Sprung bekannt geworden: 1499 soll ein Ritter Dietrich von Harras auf der Flucht vor seinen Feinden in die Zschopau gesprungen sein.103 Theodor Körner hat nach diesem Motiv eine Ballade „Harras der kühne Springer“ gedichtet. Uns interessiert hier vor allem die Entstehung des Sprichworts und weniger die Problematik der Eppeleinsage. Daß der Raubritter der Urheber des berühmten Sprichworts war, ist nur zu vermuten und nicht mehr historisch zu beweisen. Der älteste Beleg steht in einer 1605 in Hamburg erschienenen Sprichwörtersammlung von Petri ,Der Teutschen Weisheit4: Es hengen die von Nürnberg keinen, sie haben jhn denn104. Verbreitung fand das Sprichwort sicherlich durch den bekannten Roman von Johann Jakob Christoffei von Grimmelshausen, in dem es 1669 heißt: „Du aber must wissen, dass die Herren von Nürnberg keinen hencken lassen, sie haben ihn denn.“105

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Fischer (wie Anm. 43). Allgemeine deutsche Biographie, 55 Bände, Leipzig 1875-1910, Bd. 10, S. 639. Zitiert nach Wander (wie Anm. 2), Nr. 2. Adelbert von Keller, in: Bibliothek des literarischen Vereins, Stuttgart 1854, S. 605 in Kapitel 15 des 1. Buches.

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Ein weiterer Beleg stammt von Zahn in seiner viel zitierten Handschrift von 1815.106 Der Nürnberger Jurist, der allzeit auf den guten Ruf seiner Vaterstadt bedacht ist, möchte aus dem Spottwort interessanterweise ein Loblieb machen: Die Nürnberger henken/hängen keinen, den sie nicht haben oder die Nürn­ berger hängen keinen Dieb an den Galgen, dessen Person sie sich nicht vorher bemächtiget haben. Damit wird — sollte auch unter diesem Sprüchwort eine Spötterey verborgen liegen — gleichwol zum Lob der Stadt Nürnberg so viel gesaget als: Die Nürnberger sind gewohnt, sich nicht zu übereilen, sondern bey allen wichtigen Unternehmungen gehörige Vorsicht zu gebrauchen und den Weg der Sicherheit einzuschlagen. Daher bedient man sich auch im gemeinen Leben dieses Sprüchworts, gleichsam als Ermahnung, in allen Fällen und Handlungen mit Überlegung und Vorsicht zu Werk zu gehen und nichts anzu­ fangen, wo man nicht eines der Absicht entsprechenden Ausgangs im voraus versichert seyn kan.

11. DIE NÜRNBERGER REICHSPARTEITAGE, DIE NÜRNBERGER GESETZE UND DIE NÜRNBERGER PROZESSE Während in den letzten drei Kapiteln die Kritik an Nürnbergs politischen und rechtlichen Aktivitäten relativ gemäßigt ausfiel, hat in der jüngeren Geschichte der Ruf Nürnbergs durch den Nationalsozialismus sehr gelitten. Besonders im Ausland drohte der Ruhm der Stadt der Reichstage durch den üblen Klang des Beinamens ,Stadt der Reichsparteitage4 verdrängt zu werden. Auch die vorbild­ liche Rechtsprechung Nürnbergs im Mittelalter wurde durch das üble Mach­ werk der Nürnberger Gesetze verdrängt. Die Parteitage, die außer den Olym­ pischen Spielen 1936 in Berlin die größte Machtentfaltung und den staatlichen Pomp der Hitler-Partei zeigten, fanden jährlich im September in Nürnberg statt. Es ist hier nicht der Platz, Organisation und Erscheinungsbild im ein­ zelnen zu zeigen. Das hat Robert Fritzsch in seinem Buch „Nürnberg unterm Hakenkreuz“ bereits getan. Hier nur einige kurze Bemerkungen: Hitler hatte schon vor seiner Machtergreifung zweimal — 1927 und 1929 — Parteitage in seinen Mauern abgehalten, 1933 verlieh er Nürnberg den Ehrentitel: Stadt der Reichsparteitage. Teilweise ist in der historischen Literatur107 und in Lexika108 auch von den Nürnberger Parteitagen die Rede. Jede der riesigen Veran­ staltungen hatte ihren eigenen Namen: 1933 Parteitag des Sieges; 1934 Partei­ tag der Macht; 1935 Parteitag der Freiheit; 1936 Parteitag der Ehre; 1937 Par-

106 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 145. 107 Alan Bullock: Hitler, eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1959, S. 831. los Meyers Großes Universallexikon von 1984, Bd. 10, S. 211.

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teitag der Arbeit und 1938 Parteitag Großdeutschland. Für 1939 war — eine Ironie der Weltgeschichte — der Name Parteitag des Friedens geplant, der durch die Ereignisse Lügen gestraft wurde. Es gibt in der Literatur über den Grund, warum Nürnberg als Veranstal­ tungsort ausgewählt wurde, zwei verschiedene Ansichten. Klaus Kästner109 verweist darauf, daß Nürnberg nicht allzu „braun“ gewesen sei, wenn man die Ergebnisse der Reichstagswahlen vor Hitler betrachtet und daß die Wahl Nürnbergs als Stätte der Parteitage „eher zufällig war“. Robert Fritzsch110, Siegfried Zelnhefer111 und schon Josef Henke111 sind anderer Meinung: sie betonen als Faktoren nicht nur die zentrale Verkehrslage der Stadt und die guten Eisenbahnverbindungen, sondern auch das unverhüllte Entgegen­ kommen der Polizei gegenüber rechts orientierten Gruppen und Parteien vor der Machtergreifung und einen zuverlässig und straff organisierten Anhänger­ stamm unter dem Gauleiter Streicher in Nürnberg. Nürnberg hatte schon vor 1933 den Ruf als eine der fünf Führerstädte mit München, Berlin, Linz und Hamburg. Daß auch das Empfinden vieler Nürnberger in diese Richtung ging und daß es sich kaum um reinen Zufall handelte, warum die Stadt als Veranstaltungsort der Parteitage gewählt wurde, zeigt ein interessantes Zitat aus einer kleinen, fünfzehn Seiten umfassenden Schrift, die 1935 von Grete Frey tag112 verfaßt wurde: „Der Geist, der Vorjahrhunderten das ,große4 Nürnberg durchwob, er war stark und einmalig in seiner Art, so stark, daß er noch heute durch das, was er uns hinterließ, packend auf uns wirkt. Es ist wie die ewige Wiederkehr alles Großen, wenn wir jetzt ein neues Erwachen der alten Stadt und ihrer Größe erleben. Das feine Gefühl Hitlers hat die Wiedergeburt Nürnbergs angebahnt. Wieder ist Nürnberg zu einer Weltbedeutung geworden, zu einem Mittelpunkt des Reiches, wie es einst gewesen war — zu einer Sehnsucht für jeden Deutschen . . .“. Besonders die Nürnberger Gesetze — der Begriff steht heute noch in jedem Konversationslexikon - haben unserer Stadt eine „traurige Berühmtheit“ ein-

109 Kästner (wie Anm. 86), S. 2056. 110 Robert Fritzsch: Nürnberg unterm Hakenkreuz, Düsseldorf 1983, S. 11 u.12. 111 Siegfried Zelnhefer: Die Reichsparteitage der NSDAP, Geschichte, Struktur und Bedeutung der größten Propagandafeste im nationalsozialistischen Feierjahr, in: Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, hg. v. Michael Diefenbacher, Rudolf Endres und Gerhard Hirschmann, 46 (1991), S. 58 u. 270—271. — Josef Henke: Die Reichsparteitage der NSDAP in Nürnberg 1933 — 1938, Planung, Organisation, Propaganda, in: Aus der Arbeit des Bundes­ archivs, Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte, hg. v. Heinz Boberach und Hans Booms, Boppard 1977, S. 398—399. 112 Freytag (wie Anm. 26).

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gebracht, wie es Hanns Hubert Hofmann113 formuliert. Es handelt sich dabei um drei Gesetze: 1. das weniger wichtige Reichsflaggengesetz; 2. das Reichs­ bürgergesetz und 3. das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Sie wurden am 15. 9. 1935 vom eiligst einberufenen Reichtstag im Gebäude des Industrie- und Kulturvereins am Frauentorgraben, an der Stelle des heutigen Verwaltungsgebäudes der Allgemeinen Ortskrankenkasse, erlassen. Durch das Reichsbürgergesetz wurden Juden vom Reichsbürgerrecht ausge­ schlossen, wenn es in § 2.1 heißt: „Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes. . .“ Im anderen Gesetz werden Ehe­ schließungen zwischen Deutschen und Juden in § 1.1 verboten; in § 2 wird der außereheliche Verkehr zwischen Deutschen und Juden untersagt; § 3 verbietet die Verwendung von deutschen weiblichen Hausangestellten in jüdischen Haushalten; in § 5 werden Zuchthaus- und Gefängnisstrafen im Ubertretungsfalle festgelegt. Es hat lange gedauert, bis sich Nürnberg vom Mißbrauch seines Namens durch die unmenschlichen Gesetze erholt hat. Heute noch, fast 60 Jahre danach, brechen bei manchen Anlässen die alten Wunden auf. Daran konnte auch die Sühne der Verbrechen, die in den Nürnberger Pro­ zessen versucht wurde, nichts ändern. Unter Nürnberger Prozessen versteht man die Verfahren vor dem Internationalen Militär-Tribunal (IMT), die nach dem Krieg im Nürnberger Justizpalast in der Fürther Straße stattfanden. Es handelt sich hierbei um den Hauptprozeß gegen Kriegsverbrecher wie Göring, Heß, Keitel, Kaltenbrunner, Streicher und andere, der vom 18. 10. 1945 bis zum 1. 10. 1946 dauerte und mit der Hinrichtung von zehn Angeklagten endete. Diesem Prozeß folgten bis 1949 zwölf weitere gegen 177 Einzelper­ sonen wie auch gegen verbrecherische Institutionen wie SS, SD, Gestapo, Führerchor der NSDAP. Besonders bekannt waren der Arzteprozeß, der Juri­ stenprozeß, der Einsatzgruppenprozeß und der Wilhelmstraßenprozeß. Heute, 46 Jahre nach den Geschehnissen, faßt das Lexikon von Meyer das Ergebnis zusammen114: „Wenn auch die Nürnberger Prozesse ein beträcht­ liches Element an ,politischer Justiz* enthielten, . . . stellen sie einen bedeu­ tenden Einschnitt in der Entwicklung des Völkerrechts dar“. Warum fanden die Kriegsverbrecherprozesse ausgerechnet in Nürnberg statt? Sollte gerade im braunen Nürnberg ein Exempel statuiert werden oder nicht? Viel Unrichtiges ist darüber geschrieben worden. Eine einigermaßen befriedigende Antwort erteilt der bereits zitierte Klaus Kästner115: Er hält die 113 Nürnberg, Geschichte einer europäischen Stadt, hg. v. Gerhard Pfeiffer, München 1971, Bd. 1, S. 456. 114 Meyer (wie Anm. 108), S. 212. 115 Kästner (wie Anm. 86), S. 2056.

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Meinung für abwegig, daß Nürnberg als Strafe der Alliierten zum Ort der Pro­ zesse gewählt worden sei, daß es sich gewissermaßen um eine Rache an der Stadt der Reichsparteitage, der Nürnberger Gesetze und der Stadt des Frankenführers Julius Streicher gehandelt habe. Er kann sich dabei auf die Tat­ sache stützen, daß auf einer Konferenz in London vom 25. 6.-8. 8. 1945 geplant wurde, die maßgeblichen Führer von Partei und Staat abzuurteilen. General Lucius Clay, der damalige Stellvertreter von General Dwight Eisenhower, der von 1947—1949 Militärgouverneur der amerikanischen Besat­ zungszone war, machte dabei den Vorschlag, Nürnberg zum Ort des Interna­ tionalen Militär-Tribunals zu machen, da das unzerstörte Gerichtsgebäude und das ebenfalls unzerstörte Gefängnis nahe beieinander lägen. Der russische Vertreter in der Kommission, der zunächst Berlin vorgeschlagen hatte, gab schließlich nach. 12. DER NÜRNBERGER WITZ Bis auf unsere Tage ist das Schlagwort vom Nürnberger Witz lebendig geblieben. Es hält die Erinnerung an alte Bedeutungen des heutigen Wortes Witz wach. Althochdeutsch diu wizzi, mittelhochdeutsch diu witze bedeutete soviel wie ,Verstand, Wissen, Klugheit und Weisheit4. Das Wort gehört sprachgeschichtlich zum neuhochdeutschen Verbum ich weiß, wie die Wörter Hitze neben heiß oder schwitzen neben Schweiß stehen. Altmodisch klingende Wen­ dungen wie Aberwitz, Mutterwitz, Wahnwitz, gewitztes Bürschchen halten noch die alte Bedeutung fest. Auch in Vorwitz und vorwitzig ist sie noch vor­ handen, ebenso in der germanischen Schwestersprache, dem Englischen: wit, wits ,geistige Fähigkeit, Intelligenz, Verstand4, z. B. to be at one’s wits’ end ,mit seiner Weisheit am Ende sein4; to have one’s wits about one ,seine fünf Sinne beisammen haben4; out of one’s wits ,von Sinnen, verrückt sein4, dann aber auch ,Witz, witziger Einfall4. In unserer Sprache fand dieselbe Entwicklung statt. Um 1350 heißt es z. B. bei Konrad von Megenberg: „diu zwai sint unterschaiden, weishait und witz, wan weishait ist, aigenleich ain spiegelschawen götleicher unde übernatürleicher ding . . . aber witz ist ain umbsichtichait in menschleichen werken, daz ze halden ist, und daz ze lazen“116. An dieser Text­ stelle merken wir ganz deutlich die Einengung des Wortes Witz auf praktische Klugheit, technisches Know-how4, wie z. B. auch ein einstmals bekannter Reim aus der Blütezeit nürnbergischen Handwerker- und Unternehmergeists zeigt: „Hätt ich Venedigs Macht/ und Augsburger Pracht/ Nürnberger Witz, Straß­ burger Geschütz/ und Ulmer Geld/ so wär ich der reichste auf der Welt.44 Auf ein Manuskript der Kurfürstlichen Bibliothek in Dresden hatte sein erster 116 Grimm (wie Anm. 36), Bd. 14, 2, Sp. 868.

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Besitzer Kotze von Lipsik (Leipzig) um 1484 geschrieben: „Het ich Hertzoch Jorgen von Beyern gud/ Und der von Vlem mud/ Und Hertzoch Christoffels von Mönchen leip/ Und Hertzoch Siegmuntz von Oesterreich weip/ Und der von Norenberchg witz/ Ich geb um alle Sachsen nicht ein Switz.“117 1544 wird der Nürnberger Witz genau von Sebastian Münster in seiner Cosmographia umschrieben und als „spitzige vernunfft“ bezeichnet. „Diese mechtige und reiche statt ligt gantz und gar uff einem ongeschlachten und sannichten boden, aber hat dester sinnreicher werckmeister und kauffherren. Dann so sie mit dem ertrich nichts mugen anfahen, schlagen sie ire spitzige ver­ nunfft dester fleißiger uff subteile werck und künsten.**118 — Gleichzeitig ver­ wendet Hans Sachs das Wort in seinem heute noch von Laienbühnen gespielten Schwank ,Der Roßdieb von Fünsing*, in dem die Tolpatschigkeit der Bauern verspottet wird. Es heißt wörtlich: „Lindei Fricz spricht: Schaw, Gangei Dötsch, der Steffel hat uns geben ein spicigen rat. — Gangei Dötsch spricht: Ich het warlich, mein Liendel Fricz, pey im nit gesuecht so vil wicz.“ Hier steht die Bedeutung ,Schlauheit* im Vordergrund. Dazu paßt gut ein für Dinslaken-Steele im Rheinischen belegtes Sprichwort: De Nürnberger melkt nich in en Emmer (Eimer), wo ken Born (Boden) drin es119. Auch in die klassische Literatur ist noch im 18. Jahrhundert das Schlagwort vom Nürnberger Witz eingedrungen. Bei Goethe heißt es in der 2. Szene des 2. Aktes seines ,Götz von Berlichingen*: „. . . Wollte Gott, der Burgemeister von Nürnberg, mit der güldenen Kett um den Hals kam uns in Wurf, er sollt sich mit all seinem Witz verwundern." Erst um diese Zeit schlägt dann die Bedeutung des Wortes Witz unter dem Einfluß von französisch esprit zu ,Satire, geistreicher Spott* um, im 19. Jahr­ hundert geht sie in ,Scherz und Spaß* über, wie es die Wörter Witzblatt und Witzbold zeigen.120 13. NÜRNBERGER MARKENZEICHEN Daß wir dem Nürnberger Witz, d. h. der Tüftelei und dem Erfindungsgeist seiner Handwerker, zahlreiche und vielfältige technische Neuerungen ver­ danken, ist andernorts ausführlich beschrieben worden. Hier seien nur die­ jenigen aufgeführt, die den Namen der Stadt tragen oder getragen haben.

117 Zitiert nach Johann Christian Siebenkees: Materialien zur Nürnberger Geschichte, Bd. 2, S. 636. 118 Pfistermeister (wie Anm. 5), S. 12. 119 Müller (wie Anm. 56). 120 Auch für das Schlagwort „Nürnberger Witz“ erfolgt im 19. Jahrhundert eine Bedeutungsver­ änderung. Daniel Sanders führt in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache (Leipzig 1876, Bd. 1, S. 117) folgendes an: Nürnberger Witz = Wortwitz, Wortspiel und schlechter Witz.

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Zunächst ein Beispiel aus dem Gebiet der Druck-Erzeugnisse. Seit dem 17. Jahrhundert kommt der Ausdruck Nürnberger Bilderbogen vor. Heutzutage sind die Bilderbogen längst durch andere Publikationsformen wie Fernsehen, Journale und Comic-Hefte ersetzt worden. Die Geschichte der Bilderbogen läßt sich stichhaltig im Reallexikon der deutschen Literatur121 erkennen: Es wird dort ausgeführt, wie zunächst die Schaufreude des 13. und 14. Jahrhunderts den Holztafeldruck aufkommen ließ. Man bezeichnete diese Einblattdrucke noch nicht als Bilderbogen, sondern als Flugschriften und Flugblätter. Erst als im 17. Jahrhundert die Kupferstichblätter aufkommen, spricht man von Bilderbogen. Einer ihrer eifrigsten Verleger war der Nürn­ berger Paulus Fürst (1605 — 1666). Über ihn und seine Tätigkeit sind wir gut unterrichtet122: „In ihrer starken Wirkung auf weiteste Kreise stellen sich die Paul Fürstschen Blätter ebenbürtig neben die Hervorbringungen des Verlags Aubry in Frankfurt, Alkenbach in Köln und die Thourneyschen in Lyon . . . An Zahl und Verbreitung übertreffen sie Jahrzehnte hindurch die FlugblätterProduktion aller gleichzeitigen Kunstverleger.“ Im 19. Jahrhundert erlebte die Nürnberger Bilderbogen-Produktion noch einmal einen Höhepunkt, als Friedrich Campe seinen bekannten Verlag eröffnete. Freilich traten in zuneh­ mendem Ausmaß seit 1775 die Neuruppiner und seit 1850 die Münchener Bilderbogen neben die Nürnberger Veröffentlichungen. Im Brockhaus von 1971 steht allerdings immer noch das Stichwort: „Nürnberger Bilderbogen, die vom 15. —18. Jahrhundert hergestellten und verkauften Bilderbogen, meist Einblattdrucke. “123 Beim zweiten Ausdruck handelt es sich um ein Beispiel aus der Geschichte des Musikinstrumentenbaus, der in Nürnberg immer einen guten Ruf hatte. Das Wort war zwar nicht so langlebig wie die Meistersinger von Nürn­ berg, die heute noch — nicht zuletzt wegen Richard Wagners Oper — in jedermanns Mund sind. Es handelt sich um das Nürnberger Geigenwerk, das von dem Nürnberger Hans Heyden (oder Hayden), gestorben 1613, um 1610 erfunden wurde und bei Doppelmayr 1730 genau beschrieben ist.124 Noch 1971 erklärt die Brockhaus-Enzyklopädie125 „Streichklavier, Bogenkla­ vier, Geigenklavier nach dem Prinzip der Drehleier konstruiertes, größeres, klavierähnliches Musikinstrument, dessen Saiten durch sich drehende Räder

121 Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begr. v. Paul Merker u. Wolfgang Stammler, Berlin 21958, Bd. 1, S. 174. 122 Theodor Hampe: Beiträge zur Geschichte des Buch- und Kunsthandels in Nürnberg. Paulus Fürst und sein Kunstverlag, Nürnberg 1915, S. 65. 123 Brockhaus Enzyklopädie, 17. Auflage des Großen Brockhaus 1971, Bd. 13, S. 612. 124 Johann Gabriel Doppelmayr: Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern, Nürnberg 1730, S. 212, Abb. Tafel 4. 125 Brockhaus (wie Anm. 123), Bd. 18, S. 220.

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angestrichen wurden und bei dem Tasten einer Klaviatur die Saiten gegen diese durch Pedale angetriebene Räder drückten oder umgekehrt. Konnte sich nie durchsetzen, vermutlich, weil das mechanische Streichen der Saiten im Gegen­ satz zu dem der Streichinstrumente zu starr und undifferenziert wirkte/4 1904 wird in einem Fachwerk über den Geigenbau erwähnt, daß sich zwei Beispiele des Nürnberger Geigenwerks in den Museen Steen in Antwerpen und im Escorial in Spanien befunden hätten. 1613 erhielt der Erfinder übrigens von Kaiser Rudolf II. ein Patent für sein Geigenwerk.126 Die folgenden Begriffe oder Markenbezeichnungen stammen aus dem Handwerk der Farbproduktion und des Vergoldens. Die Farbbezeichnungen Nürnberger Roth, wie auch Nürnberger Grün und Nürnberger Violett für sehr haltbare Malerfarben hatten einen guten Ruf, lange bevor Zehner seine Ultramarin-Fabrik im 19. Jahrhundert begründete. Die Farbnamen sind noch bei Lueger127 und im Meyer-Lexikon von 18 8 8128 erwähnt. Ich entnehme die folgende Beschreibung der Handelsgeschichte von Roth129: „Nürnberger Roth heißt man eine rothe Farbenerde, die im Nürnbergischen, bey Pezenstein, einem zwischen Nürnberg und Baireuth gelegenen Städtchen nebst einer schönen gelben Erde gegraben, daselbst viele Klafter tief aus der Erde geholt, in Öfen gedörrt und bey ganzen Fudern nach Nürnberg verkauft, von da aber ins Ausland Centnerweise geschikt wird. Sie wird in der Mahlerey gebraucht, muß aber wohl troken und nicht steinicht seyn.“ Ein anderer Fachausdruck, der Nürnberger Goldglanz, stammt aus der Werkstatt des weithin bekannten Handwerksmeisters und Künstlers Johann Hautsch, der von 1595 bis 1670 lebte und dessen Gesamtwerk in den „Nürn­ berger Mitteilungen“ beschrieben ist.130 Beim Nürnberger oder Hautschischen Gold- oder Streuglanz handelt es sich um eine Vergoldungsmethode, die für vielerlei Gegenstände verwendet werden konnte. Bis weit ins 18. Jahrhundert wurde er von Nürnberg aus exportiert und besonders zur Herstellung wert­ voller Tapeten gebraucht. Seine Produktion ist ausführlich im oben genannten Aufsatz wie im Zedlerschen Lexikon beschrieben. Der letzte der drei Markennamen ist das Nürnberger Glühwachs, das noch in den Lexika des 19. Jahrhunderts erwähnt ist.131 Es wird als Mittel zum

126 Willibald Leo Frhr. v. Lütgendorff: Die Geigen- und Lautenmacher vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Frankfurt/Main 1904, S. 283. 127 Lexikon der gesamten Technik, hg. v. Otto Lueger, Stuttgart 1894—1899, Bd. 6, S. 679. 128 Meyers Konversationslexikon, 1888, Bd. 12, S. 285. 129 Roth (wie Anm. 10), Thl. 2, S. 359. 130 Ernst Hautsch: Der Nürnberger Zirkelschmied Johann Hautsch und seine Erfindungen. Dar­ gestellt nach urkundlichen und literarischen Zeugnissen von seinem Nachkommen E. H., in: MVGN 46 (1955), S. 533-556. 131 Z. B. Meyers Neues Konversationslexikon von 1860, Bd. 11, S. 1132.

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Vergolden definiert, das aus einer „Mischung von geschmolzenem Wachs, Röthelstein, Vitriol, gebranntem Kupfer, Grünspan und Borax“ bestand. Aus dem Metallgewerbe stammen folgende Produktionsbezeichnungen: Nürnbergische Panzerhemden. Diese Bezeichnung wird durch den Spa­ nier Pero Tafur in seinem Reisebericht von 1435 erwähnt.132 Wörtlich heißt es dort „e aqui se fazen los ja^eranes que dizen de Nirumberga“ (= und hier stellt man die Panzerhemden her, die man Nürnbergisch nennt). Die zweite Markenbezeichnung, mach in a Norimbergensis133, bezieht sich auf eine Erfindung des oben schon genannten Kunstschlossers Johann Hautsch. Es handelt sich um ein ausgeklügeltes Spielwerk, bei dem 72 Handwerkerfigürchen mit etwa einhundert Bewegungen gleichzeitig durch einen mechanischen Impuls in Gang gesetzt wurden. Die dritte Bezeichnung ist die Nürnberger Schere, wie sie noch in Meyers Lexikon von 1929134 aufgeführt wird. Es war dies ein aus gelenkig ver­ bundenen flachen Holz- oder Metallstangen bestehendes Gestell, das ausein­ andergeschoben werden kann. Die Vorrichtung diente als Spielzeug, Greif­ werkzeug, Hebewerk, Leiter und Lampenständer. Über den bedeutendsten Nürnberger Ausdruck aus dem Metallgewerbe, das Nürnberger Ei, wird weiter unten in einem eigenen Kapitel die Rede sein. Eine ganz andere Bezeichnung, die mit dem Namen der Stadt Nürnberg ver­ bunden ist, stammt aus dem Gebiet des Feuerlöschwesens. Nürnberg war schon im Mittelalter durch seine vorbildliche Feuerschutzbestimmungen bekannt. Reicke135 beschreibt sie in seiner Geschichte der Stadt Nürnberg sehr anschaulich und genau. Es ist daher kein Wunder, daß es noch im 19. Jahrhun­ dert die Fachbezeichnung Nürnberger Leiter gab. Es war dies eine frei­ stehende zweirädrige Feuerwehrleiter, etwa 30 m hoch, die man nicht ans brennende Haus anzulehnen brauchte. Die Nürnberger Firma Braun, vormals Fischer und Stahl, hat diese Leitern hergestellt. Sie sind ausführlich beschrieben und abgebildet in technischen136 und allgemeinbildenden Lexika137. Ein eigentümlicher Ausdruck stammt aus der Drechslersprache, der Nürnberger, d. h. „ein Ausrutschen oder Ausfahren des Werkzeugs, das eine Beschädigung des Werkstücks hervorrufen kann“. Der Nürnberger ist in Lexika und Fachbüchern erwähnt und heute noch in der Drechslerfach-

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In: MVGN 50 (1960), S. 104. Hautsch (wie Anm. 130). Meyers Konversationslexikon von 1929, Bd. 10, Sp. 1185. Reicke (wie Anm. 90), S. 570—574. Lueger (wie Anm. 127). Der Große Brockhaus von 1932, Bd. 13, S. 546.

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spräche138 üblich. Ich zitiere hier ein Fachbuch ausführlich, weil es sich um eine besonders merkwürdige Art handelt, in der der Name der Stadt Nürnberg verallgemeinert wurde. In dem Kapitel über Führung der Werkzeuge beim Drehen von Holz heißt es wörtlich: „Die Art der Einwirkung des Drehstahles beim Drehen von Holz ist von den Eigenschaften des Arbeitsstoffes abhängig, und die Führung des Stahles ist umso schwieriger, als die Struktur der Roh­ stoffe eine mehr faserige ist und sich nicht nach allen Richtungen gleich gut bearbeiten läßt. Das Werkzeug muß sozusagen auf Schnitt gestellt werden und schälend wirken, wodurch bei ungünstigem Angriff ein Ausfahren, Zurück­ schlagen des Werkzeuges erfolgt, was im Werkstattjargon der Drechsler mit Nürnberger bezeichnet wird.“139 Zum Abschluß noch einige Markenbezeichnungen aus dem Gebiet der Medizin und Kosmetik: Im Schwäbischen Wörterbuch werden die Nürn­ berger Seuren140 genannt, eine bestimmte Art von Pusteln. Ferner gab es das Nürnberger Schmink-Wasser141, das u. a. aus Bleiweiß, Froschlaich, Rosenwasser, Pomeranzenblüten, Eiweiß, Kampher und Zitronensaft gemischt wurde. Auch die Nürnberger Lebens tropfen142, eine heilsame Kräutermischung von an die dreißig Ingredienzien, ist bekannt. Ihre die Lebensgeister stärkende Kraft, Zubereitung und Aufbewahrung werden bei Krünitz genau beschrieben. Zedier macht breite Ausführungen über das Heil­ wasser des Nürnberger Wildbads. Am bekanntesten dürfte allerdings das sogenannte Nürnberger Pflaster gewesen sein. Noch im Brockhaus von 1932 wird es als Mutterpflaster, be­ stehend aus Mennige, Erdnuß, gelbem Wachs und Kampher genannt. Krü­ nitz143 und Roth143 in seiner Handelsgeschichte verbreiten sich über das Pfla­ ster. Nach Roth war ein gewisser Simon Irnsinger der Erfinder des Pflasters, „welches auch das Nürnbergische oder Grubersche Pflaster genennet wird“, weil Irnsinger den Johann Georg Gruber zum Vollstrecker seines Testaments einsetzte und ihm vor seinem Tod das Geheimnis anvertraute. Gruber ließ sich 1653 sein Pflaster durch kaiserliches Privileg patentieren. Es folgen weitere Angaben darüber, daß der Nürnberger Rat bereits 1651 ein Gutachten einge­ holt habe, das dahin lautete, daß die Nürnberger Bader ein allgemein bewährtes Pflaster verwendeten, während der Farbkrämer Irnsinger ein Idiot in der Arznei sei, ein unwahrhafter und leichtsinniger Marktschreier.144 138 Ich danke Herrn Drechslermeister Vierlinger, Nürnberg, der mir den Ausdruck für die heutige Nürnberger Fachsprache bestätigte. 139 Christian Hermann Walde u. Hugo Knoppe: Handbuch der Drechslerei, Leipzig 1903. 140 Fischer (wie Anm. 43). 141 Zedier (wie Anm. 4). 142 Krünitz (wie Anm. 3). 143 Krünitz (wie Anm. 3), Thl. 111, S. 769. — Roth (wie Anm. 10), Thl. 2, S. 64 u. Thl. 3, S. 6. 144 Vgl. auch Friedhelm Büser: Die Geschichte der Familie Fink, in: MVGN 53 (1965), S. 264.

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Bekannter und langlebiger als alle bisher beschriebenen Markennamen des Nürnberger Handwerks waren und sind aber die im nächsten Kapitel behan­ delten Nürnberger Eier geblieben. 14. DAS NÜRNBERGER EI Der Nürnberger Peter Henlein soll bekanntlich 1510 die erste Taschenuhr der Welt mit Feder und Unruh erfunden haben. Sie ist als eines der spektakulärsten Ausstellungstücke im Germanischen Nationalmuseum zu sehen. Eingraviert ist: Peter Hele me f(ecit) 1510. Im 19. Jahrhundert wurde Henlein im Zuge einer romantisierenden und Geschichte mit Geschichten verwechselnden Auf­ fassung zum alleinigen Erfinder hochstilisiert. U. a. setzte sich der Hofuhr­ macher und Forscher F. Speckhardt für diese These ein. 1905 wurde das PeterHenlein-Denkmal in Nürnberg errichtet. Der Veit-Harlan-Film ,Das unsterb­ liche Herz4 von 1936 hat zum Ruhme Henleins ein übriges beigetragen. Nach neueren Forschungen von Ernst Zinner145, Werner Schultheiß145 und Johannes Willers146 ist von dieser Legende nicht viel übrig geblieben. Zinner erkannte, daß die Aufschrift auf der Hele-Uhr wahrscheinlich erst im 19. Jahrhundert eingraviert wurde, da es sich um eine andere Schrift als auf dem Zifferblatt han­ delt. Willers reduzierte die wirklich greifbaren Fakten des Lebens Henleins auf die erste urkundliche Erwähnung 1504, eine Haftstrafe 1530, diverse Liefe­ rungen von Uhren seit 1522, Tod 1542. Fest steht danach nur, daß Henlein bestimmt maßgeblichen Einfluß bei der Entwicklung der Taschenuhr hatte, als Erfinder darf man ihn hingegen nicht ansprechen. Ein zweites Mal wird der Nürnberger desillusioniert, wenn er nach dem Nürnbergischen Ei Ausschau hält. Sowohl die Uhr im Germanischen Natio­ nalmuseum als auch der Gegenstand, den die Denkmalsfigur in Händen hält, sind keine Eier, sondern Dosen. Eiförmige und plattgedrückt eiförmige Uhren gibt es erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Wer die Entstehung des Ausdrucks Nürnberger Ei erklären will, muß sich zunächst mit der Entstehung des Wortes Uhr befassen. Die Sonnen- und Wasseruhren der Antike werden mit dem griechisch-lateinischen Wort horologium benannt, was als ,Stundenmesser4 zu übersetzen wäre. Lateinisch hora „Stunde“ hat französisch heure, italienisch ora, englisch hour und deutsch Uhr ergeben. Als im Mittelalter die ersten Turm-, Gewicht- und Pendeluhren erfunden wurden, hießen sie am Rhein147 orglocke. Auch die ersten Taschen-

145 Deutsche Uhrmacherzeitung vom 24. 10. 1942. 146 In: Fränkische Lebensbilder 11 (1984), S. 80—90 und im Merianheft Nürnberg, XXXIV 6 (1981), S. 64 u. 65. — Dazu auch Gerhard Hirschmann: Zum Geburtsjahr Peter Henleins, in: MVGN 69 (1982), S. 345-348. 147 Kluge (wie Anm. 41), S. 802.

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uhren im 16. Jahrhundert werden als orologium, arologium, oralogium, aber auch als hörlein bezeichnet. Erst später wird der Ausdruck Sackuhr bekannt. Bei Neudörfer in seinen Nachrichten von den Nürnberger Künstlern und Werkleuten heißt es 1547: „Dieser Heinlein (Verwechslung mit Peter Henlein?) ist fast der ersten einer, so die kleinen Uhrlein in die Bisamköpff zu machen erfunden . . .“148 Bisamköpfe oder Bisamäpfel waren aus Metall ge­ fertigte, walnußgroße Riechfläschchen, die man um den Hals trug. Der Ausdruck Eier kommt dagegen das erste Mal in Fischarts Geschichts­ klitterung von 1582 vor, die eine Übertragung des bekannten französischen Werks ,Gargantua und PantagrueF von Rabelais ins Deutsche ist. Es heißt dort wörtlich „ohn die Nörnbergischen lebendigen Aeurlein“, und im Glossar ist auf das Wortspiel Aurlein mit Eierlein verwiesen.149 Es erhob sich nun die lange andauernde Streitfrage: Heißen die Nürnberger Eierlein wegen des Wortspiels Eierlein = Ührlein oder nach ihrer eiförmigen Form so? Zunächst die Vertreter des Wortspiels Eierlein = Ührlein. 1. Fischart war Elsässer. Im Elsaß konnte wie in anderen oberdeutschen Mundarten Uhr zu Auer diphtongiert werden und die Verkleinerungsform Auerlein entstehen, die in unmittelbare Nähe des Klangs von Ührlein rückte. 2. Auch in Nürnberg ist ,Aar‘ statt des jüngeren mundartlichen Worts ,Gaggerla‘ bereits für 1655 bezeugt.150 Auch hier klingen die Verkleinerungsformen ,Aierla‘ und ,Öirlac statt hochdeutsch Ührlein sehr ähnlich. 3. Meyers Universallexikon von 1985 bestätigt ebenso wie Goldmanns Presse­ dienst von 1963151: „doch leitet sich der Name Eierlein von örlein = hora (Stunde) ab“. Dagegen wird von anderer Seite nachhaltig auf die eiförmige Form der Uhren hingewiesen, wie sie z. B. in Meyers Großem Universallexikon von 1985 abgebildet ist: eine eiförmige Federzug-Taschenuhr mit Spindelhemmung aus dem Science Museum in London.151 1. Roth schreibt in seiner Geschichte des Handels: „. . . welche man Nürnbergische Eyer, von ihrer Form nannte.“152 2. Krünitz kommentiert: „Nürnberger Eyer, so nannte man die ersten Taschenuhren, weil sie von Nürnberg aus in den Handel kamen und eyförmig waren.“153

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Zitiert nach Willers, Lebensbilder (wie Anm. 146), S. 89. Text der Ausgabe letzter Hand, mit einem Glossar von Ute Nyssen, Düsseldorf 1963, S. 254/8. Friedrich Bock: Nürnberger Mundartdichtung bis 1800, in: MVGN 29 (1928), S. 344. Meyer (wie Anm. 107), Bd. 14, S. 482. — Karlheinz Goldmann, Pressedienst Noris, 1963. — Meyer (wie Anm. 107), Bd. 14, S. 479. 152 Roth (wie Anm. 10), Thl. 3, S. 237. 153 Krünitz (wie Anm. 3).

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3. In der kurzen Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg von 1800 heißt es: Peter Hele verfertigte zuerst diejenigen Sackuhren, die man wegen ihrer Form auswärts, weil sie aus Nürnberg kamen, die Nürnbergischen Eyer nannte.154 4. Vor allem aber ist es das Trübnersche Wörterbuch155, wo auf die „gering­ schätzige Bezeichnung dicker Taschenuhren“ hingewiesen wird und auch die spöttischen Synonyme Kartoffel und Zwiebel erwähnt werden. In der Tat sagt man in der Nürnberger, Fürther und Bamberger Mundart heute noch spöttisch Zwiefl statt Taschenuhr. Ferner ist in der Nürnberger Stadtbibliothek ein Neujahrsspruch aus dem 18. Jahrhundert156 erhalten, in dem es heißt: „Ein junger Mann sucht eine wolfeyle Uhr, damit man ihm nicht in der Betrunken­ heit eine Podacken (= Mundartwort für Kartoffel), an einer stählernen Ketten angemacht, herausziehen darf.“ Auf den ersten Blick scheinen die beiden Erklärungen: Eierlein = Ührlein und Eierlein, weil sie eiförmig waren, kompromißlos gegenüberzustehen. Die Sprachgeschichte zeigt aber in vielen Fällen der Wortentwicklung, daß meh­ rere Gründe zusammengewirkt haben können. Warum soll also nicht der Gleichklang: Eierlein-Ührlein und die Metapher: Uhr = Ei gleichermaßen bei der Entstehung der Nürnberger Eier eine Rolle gespielt haben? 15. NÜRNBERGER SPEISEN Zum Nürnberger Handwerksruhm gehören neben den vielen metall- und holzverarbeitenden Gewerben auch das Nahrungsmittelgewerbe der Bäcker und Metzger. Daß die Nürnberger wie viele andere Städter keine Kostverächter waren, zeigt die Tradition des Kochbuchs in unserer Stadt. Ich nenne hier aus der langen Liste nur vier der ältesten: Vollständiges Nürnbergisches Kochbuch, Nürnberg 1691; Vortreffliches Nürnberger Kochbuch der aus dem Parnasso ehemals entlauffenen vortrefflichen Köchin. . . Gemerckzettul von 1702; das Kleine Nürnberger Kochbuch oder die Curiöse Köchin. . . von 1726 und Die in ihrer Kunst vortrefflich geübte Köchin oder auserlesenes und vollständig vermehrtes Nürnbergisches Koch-Buch. . . von 1734.157 Zunächst die Bezeichnungen einiger Nährmittel und Backwaren, die den Namen Nürnbergs trugen und tragen. Im Thüringischen Wörterbuch158 wird eine Linsensuppe erwähnt, die den scherzhaften Namen Nürnberger 154 Kurze Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg, ein Handbuch für Einheimische und Fremde, hg. v. Christian Gottlieb Müller, Nürnberg 1800, S. 215. 155 Trübners Deutsches Wörterbuch, hg. v. Alfred Götze und Walther Mitzka, Berlin 1936, Bd. 7, S. 219. 156 StB Nürnberg, Sign. Will VIII, 422 a. 157 Zitiert nach Pfistermeister (wie Anm. 5), S. 192. 158 Thüringisches Wörterbuch, hg. v. Karl Spangenberg, Berlin 1965 — 1992, Bd. 4, Sp. 916.

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Nudeln trug; im allgemeinen verstand man die feingeschnittenen Suppen­ nudeln darunter. Im Bayerischen Wörterbuch heißt es:159 „Unter Nürnberger Nudel versteht man im Werdenfelsischen Maccaroni.“ Krünitz160 erwähnt die Nürnberger Graupen: „Die kleinen Nürnberger Gräupchen sind sehr beliebt.“ Im Frankfurter Wörterbuch161 ist von „12 Gebund Nurmberger Küch­ lein“ die Rede. Verschiedene Kochbücher erwähnen folgende Backwaren: Nürnberger Anisschnitten, Nürnberger Eierzucker, Nürn­ berger Allerlei, Nürnberger Busserl (= Plätzchen), Nürnberger Marzipan und Nürnberger Butterzeug. Bei Krünitz ist von einem Nürnberger Commißbrotdie Rede.162 Wenn man die Beschreibung liest, kann man sich den Ausdruck Commißbrot, der von Anfang an nur auf grob­ gearbeitetes, minderwertiges Brot für das Militär bezogen ist163, nur als spöt­ tische Benennung erklären: „Nimm 15 Eyerdotter, quirle sie in einem Topfe, bis sie klar sind, dann thue dazu 12 Loth fein gestoßenen Zucker und ebenso viel Mandeln, von 2 Zitronen die Schale abgerieben, 1 Loth Zimmt und 3 Quentchen Nelken, beydes gröblich gestoßen; alles dieses muß ohne Auf­ hören eine ganze Stunde gequirlt werden. Wenn es dann ganz dick und wie ein Schaum geworden, so quirle noch 6 Loth Hausbackenbrot (welches zuvor in dünne Scheiben geschnitten und in der Tortenpfanne gelblich geröstet, hart geworden, hernach klein gestoßen und durch ein flornes Läppchen gesiebet ist) darunter, aber nicht länger, als bis solches in der vorigen Masse sich recht ver­ rühret hat. Dann schütte solches in ein mit Butter bestrichenes Tortenblech und backe es im Backofen, oder schütte es in eine Tortenpfanne und backe es in derselben.“ Das einzige, was bei dieser Feinschmeckerei an das Commiß­ brot erinnert, sind die 6 Loth Hausbackenbrot. Bei Krünitz164 ist übrigens auch eine andere süße Spezialität erwähnt, der sogenannte Nürnberger Liqueur, dessen Zubereitung ebenso umständlich und exakt beschrieben wird. Der bekannteste, seit langem gebräuchliche und heute noch in aller Welt genannte Ausdruck sind die Nürnberger Lebkuchen. Zedier erwähnt neben diesem breit erklärten Stichwort auch noch Nürnberger Honigkuchen, Nürnberger Lebzelten und Nürnberger Mandellebzelten.165 Eine der Grund-

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Schmeller (wie Anm. 73), Bd. 1, Sp. 1729. Krünitz (wie Anm. 3), Thl. 19, S. 801. Brückner (wie Anm. 47). Krünitz (wie Anm. 3). Hans Schulz u. Otto Basler, Deutsches Fremdwörterbuch, Straßburg und Berlin 1913 — 1988, Bd. 1, S. 363. 164 Krünitz (wie Anm. 3). 165 Zedier (wie Anm. 4).

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lagen, warum die Nürnberger Lebkuchen Weltruf erlangten und warum Nürnberg die Lebkuchenstadt wurde, ist in der Tradition zu suchen: Zeidlerund Imkerwesen konnte sich einst im Reichswald gut entwickeln, weil der san­ dige Boden den Kiefernwuchs förderte, der wiederum die Bienenzucht begün­ stigte. Natürlich reicht auch in anderen Gegenden Deutschlands die Kunst des Lebkuchenbackens weit zurück. In den mittelalterlichen Klöstern waren die Honigkuchen für die Nonnen und die Pfefferkuchen für die Mönche ein bekanntes Gebäck. Nähere ausführliche Angaben zur Geschichte der Nürn­ berger Lebkuchen sind bereits in den Nürnberger Mitteilungen abgedruckt worden.166 In Nürnberg ist das Wort Lekuchen seit dem 14. Jahrhundert belegt. 1392 leitet Hermann Lekucherer seinen Namen von seiner Berufs­ bezeichnung des Lebküchners ab.167 Die hier erwähnte Wortform lekuche statt lebkuche, hat schon lange schlaue Volksetymologen auf den Plan gerufen. In der Vollmundart spricht man heute noch Jekoung4. Dabei handelt es sich keineswegs um einen ,Leckkuchen4, son­ dern nur um die bekannte Nürnberger Sprachfaulheit, die eine schwierige Konsonantenverbindung bk zu kk auflöst und erleichtert, ähnlich wie man ,schdabbarch4 statt Stadtpark oder ,schdagroom4 statt Stadtgraben sagt. Ein zweiter etymologischer Versuch, Leb- zu erklären, ist viel ernsthafter: man schließt an das lateinische Wort libum ,Fladen4 an. Eine dritte, wiederum laienhafte und volksetymologische Deutung ist die Ableitung vom neuhoch­ deutschen Wort Leben. So erklärt 1698 der Nürnberger Kupferstecher Christoff Weigel: „Wo aber eigentlich der Name Lebkuchen herkomme, ist zu muthmassen, weil dass Honig, sowohl innerlich wie äußerlich gebraucht, ein zur Lebens-Unterhaltung sehr heilsames Mitei ist und viel 100 Jahre bewährt befunden worden, daß mancher dadurch sein Leben sehr hoch gebracht und nechst Gottes Beyhülf ein hohes Alter erlanget, so mag der von Honig berei­ tete Kuchen hiervon den Namen Lebkuchen bekommen haben, als welcher das Leben gleichsam stärke und mit neuer Kraft begäbe.44168 Das Klugesche Ety­ mologische Wörterbuch in seiner neuesten (22.) Auflage kann auch noch keine endgültige Erklärung geben. Es lehnt die früher in diesem Werk vertretene Ableitung von lateinisch libum ab, bezeichnet aber auch die Ableitung der Wortsilbe Leb- von neuhochdeutsch Laib, germanisch -:-kloibha, klibho, das vor der Entdeckung des Sauerteigs „das in der Pfanne angebackene Brot44 bedeutete, als nicht ganz gesichert.

Marianne Ebert-Wolf: Geschichte des Nürnberger Lebkuchens, in: MVGN 52 (1963/64), S. 491-531. 167 Charlotte Scheffler-Erhard: Alt-Nürnberger Namenbuch (Nürnberger Forschungen 5), Nürn­ berg 1959, S. 207. 148 Zitiert nach Ebert-Wolf (wie Anm. 166), S. 498. im

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Auch bei der Zubereitung von Fleisch und Wurstwaren hat der Name Nürnbergs herhalten müssen. Im Brockhaus-Lexikon von 1932 werden die Nürnberger Lerchentauben erwähnt, die im Gegensatz zu den Coburger Tauben besonders schmackhafte und zarte Tauben waren. Darüber hinaus sind wir durch die Fachsprache der Taubenzüchter169 über drei Taubenrassen unterrichtet: 1. die Nürnberger Bagdette, ein Zuchtprodukt, das lange Jahre in Nürnberg gezüchtet wurde; 2. die Nürnberger Lerche und 3. die Nürnberger Schwalbe. Weiterhin gibt es den Nürnberger Sauerbraten, wie einige Kochbücher ihn erwähnen, und das bekannte Närmbercher Gwerch. Es handelt sich um ein Wort der Mundart, das man ins Hochdeutsche eigentlich als Nürn­ berger Gewürg (= Gemengsel) übertragen könnte. Ich beschreibe das beliebte kalte Gericht, das mit seiner Benennung noch auf vielen einheimischen Speise­ karten zu finden ist, nach Ursula Pfistermeister170: „Dazu braucht man je XU Pfund weiße und rote Nürnberger Stadtwurst und je V4 Pfund weißen und roten Preßsack. Von der Stadtwurst die Haut abziehen und in feine Streifen schneiden, auch den Preßsack in Stücke schneiden. 2—3 Zwiebeln in feine Scheiben schneiden und zusammen mit der Stadtwurst und dem Preßsack in Essig, Ol, Salz und Pfeffer und etwas Wasser anmachen und gut durchziehen lassen.“ — Oft wird das Gericht auch durch individuelle Zutaten wie Emmen­ taler, Radieschen und Gurkenscheiben, Ochsenmaulsalat und harte Eier ergänzt. In Deutschland, dem Land der Würste, werden einige Wurstsorten durch Städtenamen benannt, wie z. B. die Wiener Würstchen oder Wienerle, die Frankfurter Würstchen, Göttinger, Krakauer und die Thüringer Rotwurst. In diesen Zusammenhang gehören natürlich auch die weltberühmten Nürn­ berger Bratwürste und die nur regional bekannte Nürnberger Stadt­ wurst. Im Gegensatz zu den fränkischen Bratwürsten, die etwa 15 cm lang und daumendick sind, handelt es sich bei den Nürnberger Bratwürsten um etwa 6 cm lange Würstchen, die nur so dick wie der kleine Finger sind. Sie werden seit dem Mittelalter in den Bratwurstküchen auf dem Holzkohlengrill gebraten. Wenn auch das bekannte Bratwurst-Glöckle, das bis zum Zweiten Weltkrieg an der Nordseite der St. Moritzkapelle in der Nähe der Sebalduskirche angebaut war und in dem schon Albrecht Dürer verkehrt haben soll, nicht wieder aufgebaut wurde, so sind doch Bratwurst-Röslein, -Herzle und -Häusle Touristenattraktionen ersten Ranges. Wegen ihrer Kleinheit witzelte

169 Friedrich Peemöller: Rassen der Haustaube, Berlin 1936, S. 131, 150 u. 160. 170 Pfistermeister (wie Anm. 5), S. 187.

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man schon im alten Nürnberg, daß die Würstchen durch die Schlüssellöcher der Stadttore passen müßten. Auf den ersten Blick meint man, daß sie ihren Namen davon tragen, weil sie gebraten werden. Das stimmt allerdings nicht. In der Fachsprache der Metzger gibt es heute noch das Wort Brät für ,feingehacktes Fleisch4. Nach Auskunft etymologischer171 und mittelhochdeutscher Wörterbücher172 gab es im Mittelalter zwei ähnlich klingende Wörter, die etymologisch nichts miteinander zu tun hatten: das erste, althochdeutsch bratan, hängt mit den Wörtern Brühe und brauen zusammen und bedeutet ursprünglich „erhitzen“; das zweite, althoch­ deutsch brato „Fleisch ohne Speck und Knochen, schieres Fleisch“, wird schon im 5. Jahrhundert nach Christus von einem byzantinischen Arzt in West­ franken — latinisiert brado — in der Bedeutung „Schinken“ erwähnt. Ein Beleg aus dem mittelhochdeutschen Heldenepos Iwein macht deutlich, daß dieses Wort mit braten nichts zu tun hat: „der lewe zarte im cleid und brät als lanc sö der ruke gät von den ahseln herabe“.172 Die mittelhochdeutsche pratwurst war also eigentlich die Brätwurst oder Fleischwurst, die mit Schweinefleischgehäck gefüllte Wurst, so wie man andere Würste nach ihrer Füllung Hirnwurst, Blut­ wurst oder Speckwurst nennt. Erst später wurde das Wort wegen der Herstel­ lungsweise an braten angeglichen, und heute noch erklärt der Normalsprecher Bratwurst als die ,gebratene Wurst4. Die bei Brockhaus-Wahrig zitierte Kurz­ form Nürnberger, statt Nürnberger Bratwurst ist in Nürnberg selbst nicht üblich.173 Noch wenig erforscht ist der Name der Nürnberger Stadtwurst. Es gibt in Nürnberg zwei Arten: die gröbere weiße oder leicht angeräucherte rote Haus­ macher Stadtwurst, verkürzt auch Hausmacher genannt, und die einfache, feiner gehackte Stadtwurst, die meist rot ist. Gelegentlich kann man auch eine weiße „Einfache“ kaufen. Der bodenständige Nürnberger ist immer wieder erstaunt, wenn er das Stadtgebiet und die nähere Umgebung verläßt, in aus­ wärtigen Gasthäusern Stadtwurst verlangt und nicht verstanden wird. Zwar kennt man sie noch in Ansbach, Bayreuth, Emskirchen, Neustadt an der Aisch, Sulzbach und Weiden. In München dagegen kennt man statt der ein­ fachen Stadtwurst nur die Lyoner oder Leoner, in Unterfranken beginnt das Gebiet der Fleischwurst. Daß es sich um eine nur in unserer Gegend übliche Bezeichnung handelt, erfuhr ich vor kurzem von einem aus Niederbayern nach Nürnberg-Ost zugezogenen Metzger- oder Fleischermeister. Er kannte, als er sich hier einarbeitete, weder Zubereitung noch Namen der Stadtwurst und mußte ihre Herstellungsweise erst erlernen. 171 Kluge (wie Anm. 41), S. 96. 172 Georg Friedrich Benecke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, neue Auflage, Hildesheim 1963, Bd. 1, S. 233. 173 Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch in 6 Bänden, Bd. 4, S. 874.

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Aber nicht nur räumlich ist der Name der Nürnberger Stadtwurst begrenzt, sondern auch zeitlich. Man könnte meinen, daß es sie schon zu reichsstädti­ schen Zeiten gegeben habe. Aber die handschriftlichen Wortsammlungen von Hässlein 1790174, Zahn 1815175 und Arnold 1890176 schweigen sich noch aus. Auch in der Mundartdichtung kommt der Ausdruck nicht vor 1900 vor. In den Akten der städtischen Untersuchungsanstalt für Nahrungs- und Genußmittel im Stadtarchiv Nürnberg wird die Stadtwurst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum ersten Mal aktenkundig. Seit 1889 wird in den Auf­ zeichnungen zwischen Stadtwurst und Lyoner unterschieden. Vom 21. Juli 1892 liegt eine Aktennotiz vor, daß Stadtwurst, Schinkenwurst und Leoner Wurst mit Mehl verfälscht worden seien. Daraus kann man schließen, daß erst die Hausmacher als Stadtwurst bezeichnet wurde und später die einfache. Besonders anschaulich ist ein Bericht vom 24. August 1897: Heute morgen gegen 11 Uhr überbrachte der Reisende N.N. ein Stück geräucherter und noch ziemlich warmer Stadtwurst, welche er kurz vorher in einer Gastwirtschaft. . . vorgesetzt erhalten hatte. Die übergebene Wurst besaß zwar noch kein anor­ males Aussehen, dagegen einen ziemlich starken Fäulnisgeruch und eine bereits verdorbene Beschaffenheit . . . Der Unterzeichnete begab sich sofort in die Wirtschaft und fand dort sechs Ringe zu je ungefähr fünf Pfund der gleichen Würste vor. Der Wirt, der sich natürlich überrascht und unschuldig stellte, mußte im Beisein des Inspektors die Würste zerhacken und in das Fütterungs­ gefäß seiner Hühner schütten.177 Der Name ,Stadtwurst* wird aus einem Bericht klar, den mir in den siebziger Jahren der damalige Obermeister der Nürnberger Fleischerinnung gab: Um 1900 wurde die auf dem Land produzierte hausgemachte Wurst durch die in der Stadt (Nürnberg) arbeitenden Metzger verbessert. Sie hatten modernere wurstverarbeitende Geräte und konnten somit die Konkurrenz der Land­ metzger ausschalten. Abschließend kann man behaupten, daß die (Nürnberger) Stadtwurst seit der Jahrhundertwende die nach der Machart der Nürnberger Stadtmetzger hergestellte Wurst ist. Der Ausdruck hat, von Nürnberg ausstrahlend, im Nürnberger Umland Verbreitung gefunden.

174 175 176 *77

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Hässlein (wie Anm. 80). Zahn (wie Anm. 8). Georg Arnold: Handschriftliches Idiotikon in der StB Nürnberg, Sign. 732 2°. StadtAN, Rep. C 7/1 Nr. 7147.

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16. NÜRNBERGER HAND GEHT DURCH ALLE LAND Daß der Nürnberger Handel am Beginn der Neuzeit Weltgeltung besaß, ist bekannt. Ohne Nürnberg keine Messen soll im 15. Jahrhundert ein fest­ stehendes Sprichwort gewesen sein.178 Den Ruhm der Handelsstadt Nürnberg beweist auch ein anderes, sehr häufiges und gut belegtes Sprichwort: Nürn­ berger Hand geht durch alle Land oder Nürnberger Hand ernährt alle Land. Auch die Form: Nürnberger Witz und künstliche Hand findet Weg durch alle Land, war im 19. Jahrhundert gang und gäbe. Selbst in einer Zeit des Niedergangs ist diese Wendung noch gut bekannt, wie die weiter unten zitierte Beschreibung von Benedict Wilhelm Zahn beweist. Auf die jün­ gere Version: Nürnberger Tand geht durch alle Land, wird im Schlußkapitel des Aufsatzes näher eingegangen. Es handelt sich wiederum um ein Wander­ sprichwort, wie die vielen Varianten ohne die Nennung des Namens Nürnberg beweisen. Wander179 führt folgende Beispiele an: Eine ehrliche Hand kommt durch das ganze Land (und wieder zurück); fleißige hand bawet Leut vnd Land; fleißige Hand erwirbt sich Brot in jedem Land; getreue Hand gehet durch alle Land; hertzhafft Hand erhelt Leuth und Land. Der Reim der Wörter Hand und Land war also schon immer beliebt. Auf eine besonders des­ pektierliche Sproßform komme ich weiter unten zu sprechen. Zahn ist, wie wir schon aus anderen Beispielen gesehen haben, sehr stolz auf den Ruhm seiner Vaterstadt. Das drückt er deutlich bei der Erläuterung des Sprichworts aus180: Nürnberger Hand geht durch alle Land oder Nürnberger Hand ernährt alle Land. Die vormalige Reichsstadt Nürnberg wurde von jeher, theils ihres Wohlstands wegen beneidet, theils von ihren Feinden geschmähet, theils aber auch von den rechtschaffensten und gelehrtesten Män­ nern in öffentlichen Schriften, deren Sammlung eine kleine Bibliothek aus­ machen würde, gelobet und geehret. Besonders hat sich diese Stadt durch kluges Benehmen, Gelehrsamkeit, neue nützliche Erfindungen, Kunstfleiß, Ausbreitung des Handels in alle Welttheile und Fabrikarbeiten vorzüglich ruhmvoll ausgezeichnet, und man kann daher mit Wahrheit behaupten, daß die Fabrikate Nürnberger Künstler und Handwerksleute in das ganze Land, ja fast in alle Welttheile versendet worden . . . Leider ist aber unsere gute Vater­ stadt jetzt länger nicht mehr, was sie sonst gewesen sondern durch die ganz Europa betreffenden traurigen Zeitläufte, und Veränderung der politischen Länderverfassungen . . . Hemmung des Handels und der Gewerbe sehr herab­ gesunken und würde bey längerer Andauer ermeldeter Drangsale deren gänz­ liche Verarmung zu befürchten stehen, wenn nicht die nun wieder zu erken­ nende Friedenssonne neues Leben und Segen verhoffen ließe. 178 Z. B. Kusch (wie Anm. 25), S. 153, leider ohne Quellenangabe. 179 Wander (wie Anm. 2), Bd. 2, Sp. 293, Nr. 108, 157, 160, 181, 209. 180 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 2 u. 4.

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Ähnlich hat sich schon Wander geäußert, der zu seinen Belegen für das Sprichwort Nürnberger Hand geht durchs ganze Land181 von 1709, 1716 und 1837 erläutert: „bezieht sich nicht nur auf Spielwaren, sondern auf den regen Eifer der Nürnberger auf allen Gebieten der Kunst, Wissenschaft, des Handels und der Industrie.“ Auch Zedier schreibt unter dem Stichwort Nürnberger Hand oder Handlung: . weshalben das gewöhnliche Sprüchwort: Nürn­ berger Hand gehet durch alle Land gar füglich statt findet . . . kleine Baga­ tellen, insonderheit Holtzwaare betrifft.“ Dann erfolgt ein Hinweis auf die Verlegerrolle der Nürnberger Kaufleute, die ihre Waren (Messer, Spiegel, Schellen und dergleichen) in Afrika und Amerika vertreiben.182 Es ist aus dem Vorhergesagten kein Wunder, daß die großen UniversalLexika des 18. Jahrhunderts von Zedier und Krünitz eine Reihe von Bezeich­ nungen aufführen, die mit dem Namen unserer Stadt verbunden sind: Nürn­ berger Maß und Gewicht183 (Längenmaße wie Stadtschuh, Elle, Fuß und Ruthe; Raummaße wie Simmer, Metzen, Diethäuftlein; Schenkmaße wie Eimer, Maß und Seidel). Auch das Nürnberger Geleit184 wird genannt: das Nürnbergische Meßgeleit der auf die Frankfurter und Leipziger Messe rei­ senden Kaufleute. Auch eine Landkutsche für acht Personen wurde einst so genannt. Ferner ist von der Nürnberger Uhr185 oder den Nürnberger Stunden die Rede. Neben der normalen Stundeneinteilung des Tages gab es einst in Nürnberg und in anderen nahe gelegenen Städten wie Regensburg, Windsheim und Rothenburg die sogenannte Nürnberger große Uhr. Nach Reicke186 funktionierte sie folgendermaßen: Tag- und Nachtstunden wurden als gesonderte Reihe gezählt und je nach Jahreszeit verändert, so daß z. B. am kürzesten Tag der Tag nur 8 Stunden, die Nacht 16 Stunden zählte. Da die Uhren und ihre Schlagwerke auf diesen komplizierten Wechsel nicht einge­ richtet waren, verkündeten Wächter mit einer von Hand geläuteten Glocke die jeweilige Stunde der Großen Uhr. Diese Zeitrechnung — eigentlich eine recht pragmatische, den Verhältnissen angepaßte, hielt sich vom 14. Jahrhundert bis zum Ende der Reichsstadt. Aus der Zeit kurz vor der Einverleibung Nürn­ bergs ins Königreich Bayern liegt allerdings ein interessanter Aufsatz vor, der den Mißstand der Nürnberger Uhr aufzeigt.187 Dort wird über die Aufhebung alter umständlicher Bräuche in Nürnberg durch die kaiserliche Subdelegation

181 182 183 184 185 186 187

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Wander (wie Anm. 2), Bd. 2, Sp. 307, Nr. 318. Zedier (wie Anm. 4). Krünitz (wie Anm. 3). Krünitz (wie Anm. 3) und Zedier (wie Anm. 4). Krünitz (wie Anm. 3) und Zedier (wie Anm. 4). Reicke (wie Anm. 90), S. 562—565. Franz Buhl: Der Niedergang der reichsstädtischen Finanzwirtschaft und die Kaiserliche Subdelegations-Kommission 1797-1806, in: MVGN 26 (1926), S. 257-258.

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berichtet. Fremde, die um 1800 nach Nürnberg kamen, wurden völlig verwirrt, weil die Hauptkirchen die große oder italienische Uhr schlugen, während die übrigen Zeitverkünder wie der Läufer Schlagturm oder der Weiße Turm schon die Nürnberger Kleine Uhr oder die moderne Stundenrechnung verkündeten. Diese Verhältnisse fanden natürlich auch in einem spöttischen Sprichwort ihren Niederschlag: Man weiß, was es geschlagen hat, nur die Nürnberger wissen es nicht. Ein besonders eindringliches Beispiel für die Bedeutung Nürnbergs im Mit­ telalter ist die Bezeichnung für die Safranschau. Nürnberg wurde von den ver­ schiedensten Handelsstädten Europas seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bis ins 17. Jahrhundert hinein aufgefordert, das wertvolle Gewürz zu untersuchen und Gutachten für die einzelnen Proben auszuarbeiten. In den Quellen ist dabei oft vom Nürnbergisch gerecht geschaut gut188 die Rede. Natürlich tauchen in anderen Gegenden Deutschlands und im Ausland ständig Bezeichnungen für die Nürnberger Handelsgüter auf, die den Namen der Stadt in alle Welt trugen: In den Zolltarifen ist nach Ludwig Veit189 der Ausdruck Nürnberger Waren für die Metallwaren gängig. In Hamburger Quellen ist durchwegs von Nürnberger kramwaren, Nürnbergerei, merces Norimbergenses, Nürnberger Kram und Nürnberger Cramerye die Rede.190 Auch für den Begriff Spielwaren aus Nürnberg taucht bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein immer wieder der Begriff Nürnberger Waren auf. Wander191 zitiert z. B. Nürnberger Waare (= fein, nett, gut und zierlich gearbeitet). Ein anderes Synonym für Nürnberger Waren war der Aus­ druck bfemberd oder bfemberdkauf 192. Das Wort ist aus ,Pfennige wert4 entstanden und hat heute noch in der Nürnberger Vollmundart seine Spur hin­ terlassen: ein ,Bfemferer‘ oder eine ,Bfemferi‘ sind Personen, die um Pfennige feilschen. Auch aus dem Ausland liegen aufschlußreiche Bezeichnungen vor. Nach Wander193 gab es die dänische für das Jahr 1761 datierte Redensart: Nürnbergs arbeyd det er net og fint (das ist hübsch und fein). 1830 standen in der Prachtstraße des alten St. Petersburg die Nürnberger Buden (= sechs Kaufläden).194 Auch ist die Rede davon, daß man auf die Bezeichnung 188 Paul Schneider: Nürnbergisch gerecht geschaut gut, Nürnberger Schauanstalten im Spätmittel­ alter, Nürnberg 1940, S. 95. 189 Ludwig Veit: Handel und Wandel mit aller Welt, in: Veröffentlichungen des Germanischen Nationalmuseums, 14. 190 Unger (wie Anm. 9), S. 56—58. 191 Wander (wie Anm. 2), Bd. 4, Sp. 1716, Nr. 143. 192 Horst Pohl: Das Rechnungsbuch des Nürnberger Großkaufmanns Praun von 1471 —1478, in: MVGN 55 (1967/68), S. 123. 193 Wander (wie Anm. 2), Bd. 4, Sp. 1716. 194 Gerhard Hirschmann: Die Beteiligung des Nürnberger Handelsvorstandes am Aufbau eines bayerischen Konsularnetzes seit 1826, in: Land, Reich, Stamm und Nation, Festgabe für Max Spindler, 1984, S. 475.

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Nürnberger Waren wie in anderen Städten (Wien und London) großen Wert lege und sie nicht entbehren könne, wenn sie auch großenteils verboten seien. Ein polnischer Professor hielt 1978 in Nürnberg einen Vortrag, in dem er den Begriff Nurenbergiskie zitierte, der im Polnischen lange Zeit ein Synonym für Metall und Kleinwaren war.195 Im tschechischen Konversationslexikon findet man den Ausdruck Norimberske zbozi „Waren“, d. h. Spiel- und Kleinwaren.196 Hier ist auch der Ort, auf drei moderne weltbekannte Bezeichnungen hinzu­ weisen: 1. den Nürnberger Christkindlesmarkt, der früher Kindleins­ markt hieß und mindestens seit dem 17. Jahrhundert bezeugt ist; 2. die Nürn­ berger Spielwaren und 3. die Nürnberger Spielwarenmesse, wie die Internationale Spielwarenmesse unserer Zeit in der Umgangssprache heißt. Aus der Zeit des Niedergangs des Nürnberger Handels stammt ein bei Zahn zitiertes, recht anschaulich und gut erläutertes Sprichwort: Fürth, Schwa­ bach und Erlang machen Nürnberg angst und bang197. In diesen 3 von der Stadt Nürnberg einige biß 3 Stunden weit entfernten, großentbeils in dem Fürstentum Ansbach und Bayreuth im Fränkischen Kreiß gelegenen Orten, befinden sich sehr viele Fabrikanten, deren Produkte weit und breit versendet werden. Nun liefern zwar die Nürnb ergischen Handwerksleute die nemlichen und mehrere andere Artikel in gleicher und manche in viel besserer Qualität, konnten aber theils wegen der großen Auflagen, welche die Ein­ wohner der Stadt Nürnberg, solange sie eine Reichsstadt gewesen, entrichten mußten, theils weil an obgesagten 3 Orten ungleich wolfeiler zu leben war, ihre Arbeit nicht um gleichen Preiß abliefern und finden ihre Produkte daher einen weit geringeren Absatz, wodurch dann der Handel mit Nürnb ergischen Manufaktur-Waaren sehr geschwächt wurde und den Nürnb ergischen Profeßionisten für die Zukunft allerdings bange werden mußte, und somit obvermeldetes Sprüchwort veranlaßt worden, welches jedoch bey nunmehr eingetrettenem Frieden, bey dem vorzüglichen Kunstfleiß der Nürnb ergischen Profeßionisten hoffentlich bald nicht mehr stattfinden wird.

17. SPOTT ÜBER RIGOROSE HANDELSPRAKTIKEN UND BILLIGWAREN So positiv das Erscheinungsbild des Nürnberger Handels in den bisherigen Redensarten, Sprichwörtern und Bezeichnungen ist, so negativ klingen die fol195 Ich danke Herrn Dr. Gerhard Hirschmann für den wertvollen Hinweis. 196 Ottuv Slovnfk Naucny, illustrovanä Ecncyclopaedie obecnych vedomosti, 28 Bände, Prag 1888-1909, Bd. 18, S. 404. 197 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 194.

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genden Beispiele. Besonders bei weniger erfolgreichen Handelspartnern, wie beim niederen Volk, das ja bekanntlich an der Ausbildung von Sprichwörtern keinen geringen Anteil hat, machten sich oft Mißgunst und Neid bemerkbar. Das äußerte sich oft in harmlosem, manchmal auch in beißendem Spott. Beginnen wir mit dem Nürnberger Bot oder Nürnberger Gebot.198 Dreyer kennt das Sprichwort: Nürnberger Bot ist halb ab, das macht rechte kauff198. Das Sprichwort wird auch durch das Schwäbische und Deutsche Wörterbuch bestätigt. Die Bedeutung muß etwa so umschrieben werden: Der Käufer darf nur die Hälfte zahlen, denn das Angebot liegt bei 200% des eigentlichen Preises. Zahn198 beschreibt den Sachverhalt: Wenn jemand in Nürnberg über den Trödelmarkt oder sogenannten Säumarkt gehet und sich daselbst bey den Trödlerinnen oder Käuflinnen um den Preiß der zum Verkauf ausgestellten schon gebrauchten Hausgeräte, abgelegten Kleider, Gemählde, Bücher oder überhaupts bey Juden in Kramläden erkundiget, so wird derselbe gemeiniglich hoch angegeben und der Kauflustige dadurch von dem Kauf abgeschröket. Weil aber die Verkäufer gleichwol Geld zu lösen wün­ schen, so ermuntern sie die Käufer gewöhnlich unter Anführung des bekannten Sprüchworts ,Bot und Wiederbot macht Leykaufl, d. i. wenn auf das Angebot ein annehmbares Gegengebot erfolget, so kann der Kauf zu Stande kommen, zur näheren Erklärung, wieviel sie für den verkäuflichen Gegenstand zu bezalen gesonnen sind. Hierauf wird nun öfter mit dem Ausdruck ,Nürnberger Bot( geantwortet, d. i., es wird nur die Hälfte des verlangten Preißes auf die Sache geleget, wo sodann beide Theile in Ansehung desselben näher zusam­ menrücken und endlich den Kauf abschliesen . . . Hier muß man nun auch an das erinnern, was unter dem Spitznamen Nürn­ berger Pfeffersack oben erwähnt wurde. Ebenso gut zeigen die beiden fol­ genden Sprichwörter die wenig zimperlichen Handelspraktiken der Nürn­ berger Kaufleute: Ich glaub, daß mans zu Nürnberg tut und: Was macht man nicht zu Nürnberg ums Geld? Das erstgenannte Wort wird von Barack199 und Röhrich200 zitiert. Es war schon im 16. Jahrhundert bekannt, und gemeint war damit ,alles, was schlecht und unerlaubt ist*. Das zweite ist anscheinend erst später entstanden, und es gibt interessante Paral­ lelen, die sich auf alle Deutschen beziehen. Wander201 führt außer: Was macht man nicht zu Nürnberg ums Geld? an: Was thut der Deutsche nicht fürs Geld? Hvad de Tydske ei for penge gjoere (dänisch); Wat de Dütsch doch vor Geld makt, segt de Schwed; auch Wat de Dütsch vor Geld makt, säd de Franzos. 198 Grimm (wie Anm. 36), Bd. 4,1,1, Sp. 1803. - Dreyer (wie Anm. 1). - Zahn (wie Anm. 8), BL 105. 199 Barack (wie Anm. 93). 200 Röhrich (wie Anm. 46). 201 Wander (wie Anm. 2), Bd. 3, Sp. 1070, Nr. 10 u. Bd. 1, Sp. 580, Nr. 38—41.

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Wander vermutet zunächst eine Anerkennung des deutschen Fleißes, Talents, der Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit durch Nichtdeutsche, gibt aber auch die Verspottung der Geldliebe der Deutschen zu. Auf alle Fälle versteht das deutsche Familienblatt202 das Sprichwort in diesem Sinne. Es verweist auf den beleidigenden Unterton der Nordeuropäer gegen das wieder erstarkte deut­ sche Reich Bismarcks. Aus Köln erfahren wir nach Wander203 einen Ausspruch, bei dem die Nürn­ berger Handelsgepflogenheiten nicht gut wegkommen: Zu Cöln ist gut handelen, da man kan vmb ein wundsch so vil kauffen als zu Nürnberg vmb drey last. Der Spruch soll von 1616 stammen und auf die hohen Preisforderungen der Nürnberger hinweisen. — Zum nächsten Sprich­ wort, das die Nürnberger verspottet und wie es Dreyer zitiert204: Die Nürn­ berger Eier tragen zwei Dotter statt einem in ihrem Kragen. In einem Wanderliede, das im 19. Jahrhundert aufgezeichnet wurde, heißt es: „In Nürnberg wölln wir verbleiben/ Ist uns gar trefflich nütz./ Was man sonst nir­ gend vertreibet,/ Das hat alldort einen Sitz. Man rühmet darzu: ihr Eier, die tragen/ Statt einen zween Dotter in ihrem Kragen,/ Lobt Nürnberger Witz.“205 Die Redensart ist — ohne den Bezug auf Nürnberg — in deutschen Mund­ arten sehr häufig: im Elsässischen sagt(e) man: E Teil Lüt meinen, ihri Eier hän zwei Dutter206, im rheinischen207, südhessischen208 und pfälzischen Wörter­ buch209 wird die Redensart angeführt, z. B. De ment, seng Ei hätt zwin Dotter oder Er glääbt, sein Eier hän zwää Dotter; nach Wander210 bezog man die Aus­ sage auch auf die Breslauer: Ei Brassei schäln se kee Ei, das nicht zwei Dotter hat. Das Badische Wörterbuch211 erklärt sehr exakt: „Dem sinne Eier henn zwei Dotter ,er hat bessere Sachen als andere*, sagt man von einem Prahlhans in Mittelbaden, und zwar am liebsten von rühmenden Geflügelhaltern an der nördlichen Murg, geradezu als Ortsneckerei auf die Leute von Obertsrot.“ Die Bedeutung wird überall gleich angegeben „für den Prahlhans oder Großsprecher“. Im Schwäbischen Wörterbuch heißt es genau: „für einen

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Deutsches Familienblatt von 1880, Heft 6, S. 104. Wander (wie Anm. 2), Bd. 2, Sp. 1464, Nr. 8. Dreyer (wie Anm. 1). Deutsche Volks- und Gesellschaftslieder, hg. v. Franz Wilhelm von Ditfurt, Nördlingen 1872, Nr. 217, S. 258. Martin (wie Anm. 52), Bd. 1, S. 2. Müller (wie Anm. 56), Bd. 1, Sp. 1427. Friedrich Maurer und Roland Mulch: Südhessisches Wörterbuch, Marburg 1965 — 1992, Bd. 1, Sp. 1612: Spöttische Zurückweisung einer Behauptung: Geh häm unn lee e Ei midd zwaa Dotter! Julius Krämer: Pfälzisches Wörterbuch, Wiesbaden 1965 — 1992, Bd. 2, S. 386. Wander (wie Anm. 2), Bd. 1, Sp. 462. Ernst Ochs: Badisches Wörterbuch, Lahr 1925 — 1973, Bd. 1, S. 520.

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Großsprecher und Profitlichen“. Die Einengung auf die Nürnberger scheint erst im 19. Jahrhundert erfolgt zu sein, heute ist das Wort ausgestorben. Nürn­ berg scheint sich überhaupt in dieser Zeit und schon vorher, wie der fiktive Ort Schilda, zur Zielscheibe des Volksspotts entwickelt zu haben. Man denkt unwillkürlich auch daran, daß zwei der Streiche Eulenspiegels — die Verfol­ gung durch die Stadtknechte und die „Heilung“ der Kranken — durch Hans Sachs nach Nürnberg verlegt wurden. Auch die massenhafte Fabrikation von Billigwaren hat nicht zum Ruhme des Nürnberger Handwerks und Handels beigetragen. Das folgende Sprich­ wort ist zwar vielleicht älter, wird aber von Zahn erst im Jahre 1815212 belegt: Man kan es bei Duzenten haben wie die Nürnberger TaschenMeßer. Zahn erklärt ausführlich: Die Meßerer oder Meßerschmiede, eine eigene mit besonderen Frey beiten begabte Handwerkerzunft in Nürnberg ver­ fertigten eine Art von kleinen Taschenmeß ern, die duzentweise um sehr wol­ feilen Preiß verkauft und versendet wurden, die aber auch von schlechter, geringer Beschaffenheit sind. Wenn nun im gemeinen Leben irgend jemand einen keiner Seltenheit unterworfenen Gegenstand Kaufs- oder anderer Weise an sich zu bringen suchet, der Werth desselben aber von dem Verkäufer in alzu hohem und übertriebenem Maße angesezet wird, so antwortet gewöhnlich der Kauflustige, anstatt ein Gegengeboth auf die Sache zu legen, mit oben ange­ zeigtem Sprüchwort und will damit so viel sagen als: man kann dergleichen gemeine Waare aller Orten in größerer Menge und um geringen Preiß erhalten. Gleiche Sprache führen auch Ehelustige Personen, welche bey ihren Liebesanträgen einen Abschlag oder wie man insgemein sagt, einen Korb erhalten, womit sie sich, wenn sie deshalb bedauert oder verlachet werden, trösten, und den Korb geduldig tragen . . . Aus dem 19. Jahrhundert sind in den deutschen Mundartwörterbüchern weitere spöttische Aussagen über die schlechte Handelsware der Nürnberger in Hülle und Fülle vorhanden. So sagte man z. B. in Mecklenburg213: Dat höllt as Nürnbarger Wor und Dat s Nürnbarger Arbeit für schlechte, nicht dauerhafte Ware. In Frankfurt ist folgende Redensart bezeugt214: Wann des Wetter ääch nor hält, von elf bis Middag wie die nernberjer Waar. Damit wird auf die zur Frankfurter Messe geschickten Nürnberger Spielwaren angespielt. In Aachen215 kannte und kennt man den Spruch: Nörnbergschs Werk: wähl jemacht än net zu stärk, und am Rhein gibt und gab es das böse Wort: Dat ös Nürnberger 212 Zahn (wie Anm. 8), Bl. 201. 213 Richard Wossidlo u. Hermann Teuchert: Mecklenburgisches Wörterbuch, Neumünster 1942-1988, Bd. 5, Sp. 144. 214 Brückner (wie Anm. 47). 215 Will Hermanns: Aachener Sprachschatz, Aachen 1970, S. 406.

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War, dreimal gebacken on noch net gar, womit nicht nur auf Back­ waren, sondern ganz allgemein auf nicht dauerhafte Geräte angespielt ist.216 Interessant dürfte in diesem Zusammenhang auch sein, was Siebenkees fürs 18. Jahrhundert bezeugt. In einer kleinen Abhandlung über den lobenden Spruch vom Nürnberger Witz meint er wörtlich: „. . . so wie in neueren Zeiten durch das unveränderliche Hängen am Alten und die wenigen Fortschritte im neueren Geschmack, die so viele nach alten Formen fabrizirte Producte beweisen, Lavater das Wort Vernürnbergert als Synonym von geschmacklos* in die Teutsche Sprache hat einführen wollen.“217 Der Höhepunkt an negativen Aussagen steht allerdings in einer Bamberger Handschrift aus dem Jahre 1550. Es handelt sich um ein Verzeichnis der Fer­ tigkeiten und Erfindungen des bekannten Nürnberger Handwerkermeisters Hans Lobsinger.218 Die Aufstellung schließt mit der Bitte Lobsingers, daß der Rat der Stadt Nürnberg seine Leistung gerecht beurteilen möge und ihm, der in Not geraten ist, auch finanzielle Unterstützung zuteil werden lasse. Von fremder Hand ist später eine kleine Nachschrift angefügt: „Vil und kheins recht, Nurn(berger) hand bescheist alle landen“. Ob mit diesem emotionalen und boshaften Urteil auf die Rechtsprechung und Handlungs­ weise des Rats angespielt wird, muß offen bleiben, doch kommen die Nürn­ berger insgesamt bei der harten Kritik nicht gut weg. 18. DER NÜRNBERGER TAND Das soeben erwähnte und weiter oben ausführlich behandelte Sprichwort Nürnberger Hand geht durch alle Land ist heute ausgestorben. Es wurde durch die bekannte Aussage Nürnberger Tand geht durch alle Land ersetzt. Am Gebäude der Industrie- und Handelskammer am Hauptmarkt ist ein Gemälde zu sehen, das sich über die ganze Breite des Hauses erstreckt; ein Nürnberger Kaufmannszug. Es stammt von Georg Kellner und wurde 1910 aufgemalt.219 Darunter steht das Sprichwort Nürnberger Tand geht durch alle Land. Tand bedeutet demnach ,Kaufmannsgut, Handelsware*. So selbstver­ ständlich die heutige Bedeutung für jeden Nürnberger ist, so schwierig und problemreich ist allerdings die Geschichte des Wortes Tand. Als die Germanen die fortgeschrittene Wirtschaftsform der Römer an der Wende von der Antike zum Mittelalter kennenlernten, haben sie viele Einrich­ tungen und deren lateinische Bezeichnungen übernommen. Lehnwörter wie 216 Müller (wie Anm. 56). 217 Siebenkees (wie Anm. 117), Bd. 1, S. 638. — Johann Kaspar Lavater (1741 — 1801), bekannter Theologe, Philosoph und Schriftsteller. 218 Albert Barthelmess: Hans Lobsinger und seine Erfindungen, in: MVGN 52 (1963/64), S. 264. 219 Erich Mulzer: Baedeker von Nürnberg, S. 49.

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kaufen (von lateinisch caupo,Schenkwirt, Kleinhändler4), Markt (von lateinisch mercatum), Pfund (von lateinisch pondus ,Gewicht4) und Münze von (latei­ nisch moneta) zeigen dies deutlich. Auch die römische Sitte des Versteigerns wird nach neueren Forschungen von den Germanen beobachtet und imitiert: der Versteigerer fragt die anwesenden Kauflustigen: quantum? (= wieviel wird geboten?) und man antwortet: tantum (= so viel).220 Die beiden römischen Fragewörter haben im frühen Bairischen die Wörter Gant (Versteigerung) und Tand (Angebot) ergeben. Nun spielt uns leider die chronologische Überliefe­ rung des Worts einen Streich. Während die althochdeutschen Lehnwörter koufen, markat, pfunt und munizza schon in sehr frühen Quellen, z. B. bei Isidor von Sevilla221 im 8. Jahrhundert bezeugt sind, taucht der älteste Beleg für tant nur im übertragenen, nicht im kaufmännischen Sinne auf: tantarön wird im 8./9. Jahrhundert mit ,delirare4 übersetzt, was deutsch so viel wie ,rasen, wahnsinnig sein, faseln4 bedeutet. Tand wurde frühzeitig verallgemeinert und für die Bedeutung,wertloses Zeug4, aber auch,Geschwätz4 verwendet, wofür es viele mittelhochdeutsche Zeugnisse gibt. Bei Lexer heißt es beispielsweise: die trlbent manegen tant oder ich sag euch keinen tant „ich erzähle euch nichts Falsches, keine Lüge.“222 Im berühmten Liebeslied Walthers von der Vogel­ weide223 taucht um 1200 möglicherweise eine Sproßform des Wortes auf: „Linder der linden/ an der heide/ dä unser zweier bette was,/ dä mugent ir vinden/ schöne beide/ gebrochen bluomen unde gras/ vor dem walde in einem tal/ tandaradei!/ schöne sanc diu nahtegal.44 Das spielerisch verwendete Wort tanderadei wurde von der bisherigen Etymologie als Lautnachahmung eines Vogelrufs gedeutet. Es ist nicht leicht, einen Vogelruf tand oder ähnlich zu identifizieren, das fällt bei anderen Lautnachahmungen wie Kuckuck, Kiebitz oder piepen wesentlich leichter. Man vergleiche auch, was weiter unten unter dem spielerisch entstandenen Wort tanterlant gesagt wird! Der früheste Beleg mit kaufmännischer Bedeutung stammt aus der Zeit nach 1200 aus einem satirisch-didaktischen Gedicht ,Des Teufels Netz4. Dort heißt es auf die Verkaufsgewohnheiten eines Gewandschneiders bezogen wörtlich: und tuot im diu ein umb fünf Schilling lan, die muos man borgs umb siben han . . . das ist recht umb fünf Schilling ind hand und siben uf den tant (= Borg).224 Bei Lexer werden auch die frühen Wörter tendeler ,Trödler4 und tendelmarkt ,Trödelmarkt4 erwähnt. Der nächste Beleg führt nun allerdings zum Kern­ problem des Wortes Nürnberger Tand. Auf dem Reichstag von Konstanz 220 Kluge (wie Anm. 41), S. 769 u. S. 231. 221 Isidor-Glossen des 8. u. 9. Jahrhunderts; zitiert nach Eberhard Gottlieb Graff: Althochdeut­ scher Sprachschatz, Bd. 5, S. 437. 222 Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Leipzig 1872 — 1878, Bd. 2, Sp. 1402. 223 Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, hg. v. Karl Lachmann, Berlin 71902, S. 49. 224 Handschrift aus Donaueschingen, hg.v. Karl August Barack, Stuttgart 1863, Vers 9214.

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1414—1418 wird der Burggraf Friedrich von Nürnberg bekanntlich vom Kaiser als Markgraf in der Mark Brandenburg eingesetzt. Er soll dort Ordnung schaffen, da alteingesessene Adelsgeschlechter, sprich: rivalisierende Raub­ ritter, das Heft in der Hand haben. In der Magdeburger Schöppenchronik225 heißt es nun: „darna huldigeden om de stede gemeinliken, sunder de mechtigesten mann der landen nemelike de van Quitzow gemein, Wichard van Rochow, de van Holzendorp und vele andere weren darwedder und heilden den herren vor nicht und de herre was lange tid or tant van Nurenberch und se meinden sulven de land to dwingende als se des lange gewond weren gewest“. Die neuhochdeutsche Übersetzung müßte etwa lauten: „Darnach huldigten ihm alle Städte, aber die mächtigsten Männer im Land, nämlich . . . waren gegen ihn und huldigten dem Herren einstweilen nicht und der Herr war lange Zeit ihr Tand von Nürnberg und sie beabsichtigten selbst das Land zu beherr­ schen, wie sie es lange gewohnt gewesen waren.“226 Etwa aus der gleichen Zeit stammt ein zweiter wichtiger Beleg aus dem norddeutschen Raum, der die Geschichte des Wortes Tand erhellen kann. Ein altes Volkslied227 spottet über den neuen Herren in der Mark Brandenburg: „Si wugen den fürsten so ein scherf/ hi was er tand von Nurenberg/ het hi vor unse slote gewerf, des willn wi wol genesen.“ „Sie erachteten den Fürsten für nicht mehr als ein Scherf (= halber Heller), er war für sie Herr (oder ihr) Tand von Nürnberg. Wenn er auch zuvor unsere Burgen niedergeworfen hat, das wollen wir doch überstehen.“226 In beiden Fällen handelt es sich bei diesen wichtigen Belegen nicht um eine direkte Bezeichnung von Nürnberger Spielzeug oder Kleinwaren oder gar Kaufmannsgut, sondern um eine spöttische Metapher im Sinne von „Mensch, der so wenig wert ist wie Kaufmannskram“. Doch steht mit diesen beiden Belegen fest, daß der Ausdruck Nürnberger Tand in seiner konkreten Grund­ bedeutung außerhalb von Nürnberg zumindest schon im 15. Jahrhundert üblich gewesen sein muß. Der nächste Beleg, der nun eindeutig mit Kramwaren oder Kaufmannsgut übersetzt werden darf, stammt aus der bekannten bairischen Chronik des Geschichtsschreibers Aventin aus dem Jahre 152 0228: „unser vorvordern lieszen damals die kaufleut zue inen ziehen, nit darumb, das sie verlangen hieten nach einicherlei frembder war und gattung, oder das sie begereten und gestatteten, das man solch tand zue in fuert und brächt“. Etwa zu gleicher Zeit 225 Hg. v. Karl Janicke, 1869, S. 334, Zeile 1-6. 226 Ich danke Herrn Prof. Dr. Manfred Lemmer, Halle/Saale, der mich bei der Übersetzung beriet und auf die Problematik: er/or in mittelniederdeutschen Texten hinwies, das sowohl „ihr“ als auch „Herr“ bedeuten kann. 227 von Liliencron (wie Anm. 101), Bd. 1, S. 223, Nr. 48, 7. 228-232 Zitiert nach dem Deutschen Wörterbuch, Grimm (wie Anm. 36), Bd. 11,1,1, Sp. 103—108.

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schreibt Paracelsus229: „ihr doctores die ausz den büchern als auf dem dentelmarkt ihre künst lernen“. Schon aus dem Jahr 1462 ist in Wien der Tendier (= Trödler) bekannt: dise zwen waren tendier, auch waren vier gewendler. Tändler und Tändelmarkt — ohne Umlaut Tandler und Tandelmarkt sind heute noch im Bairischen und Österreichischen die üblichen Wörter für ,Kleinhändler* und ,Trödelmarkt*. Das Wort Tand in seiner übertragenen Bedeutung „Nichtiges, Wertloses“ ist im 16. Jahrhundert gang und gäbe. Luther spricht in seinen Tischreden vom „teufelsleben und menschlichem tand“230. Hans Sachs reimt als Parteigänger der Reformation: „(Luther) deckt auf die lugen und den tand/ welchen triebe der geistliche stand/ mit irer falschen menschenlehr.“231 Auch das Wort tandmäre verwendet er „drumb schweig still mit deinen tandmärn“. Die gleiche Bedeutung ,fabulöse Erzählung* wird bei einem gleichzeitigen Schriftsteller greifbar: „(die Fürsten hören) die tantmären der Schalksnarren, tellerschlecker und Schmeichler“232. Ebenfalls für das 16. Jahrhundert liegt nun aus Nürnberg ein erstes wichtiges Zeugnis vor, daß Tand auch ,Spielzeug* bedeuten kann. Es handelt sich um den „Schönen Spruch von dem löblichen Handwerk der Holz-, Metall- und Beindrechsler“. Darin heißt es: Auch drehen wir das ganze Jahr/ In dem Handwerk viel Krämerswar/ Als Ludel, Becher und Schlötterlein/ Kindstender, Hausrat groß und klein/ Denn die Krämer, auch die Kauf­ leut/ Die kaufen uns ab viel Arbeit/ Und führen’s in die fremde Land/ wie dieselbigen sein benannt.233 Etwas später — 1604 — wird der Ausdruck Nürnberger Tand als ,(wertloses) Kinderspielzeug* auf niederdeutschem Boden in einer Laienbibel deutlich; es heißt dort wörtlich: „. . . (verbringen ihre Zeit) mit leddichgange, kuseldryuende . . . wörpelspelende, mit dem Nörenbergischen tanterlante vnde anderen gögelschen dingen.“234 Die Übersetzung lautet: verbringen ihre Zeit mit Müßiggang, Kreiselspiel, Würfelspiel, Nürnberger Tand und anderen Gaukeleien. Interessant ist hier nicht nur die Bedeutung: ,nichtiges, eitles Geschwätz und Ding; Possen*, sondern auch die spielerische Erweiterung des Grundworts Tand zu tanderland und sogar tanterlantant. Man denkt hier unwillkürlich an das oben erwähnte Walthersche tandaradei. Solche spieleri­ schen Wörter kennen wir im Deutschen öfter: papperlapapp, trallalala. Vom 1540 von Ehemann erfundenen Zankeisen oder Nürnberger Tand wird weiter unten noch ausführlich die Rede sein. So wie in Norddeutschland, ist auch aus Süddeutschland eine Reihe ein­ schlägiger Beispiele bekannt. Ich greife aus der Fülle der Belege der verschie233 Zitiert nach Otto Senst: Die Metallwarenindustrie und der Spielzeughandel von Nürnberg und Fürth, Erlangen 1901, S. 9. 234 Karl Schiller und August Lübben: Mittelniederdeutsches Wörterbuch, Bremen 1875—1881, Bd. 4, S. 510.

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denen Mundartwörterbücher nur einige heraus: Tand „wertloses Zeug, Trödel, Gebaren, Einfälle, Geschwätz, Kinderspielzeug“235. Tändeln oder süd­ deutsch tändeln sagt man z. B. für folgende Bedeutungen: ,mit gebrauchter Ware handeln, mogeln, leichtfertig mit Geld umgehen, spielen, Zeit vertrö­ deln*235. Von den Wörtern Tandler und Tandelmarkt war weiter oben schon die Rede. Seit der Klassik wird das Wort auch mehr und mehr in der Schriftsprache üblich. So heißt es z. B. in der ersten Szene von Goethes ,Faust*: „Ist es nicht Staub, was diese hohe Wand/ aus hundert Fächern mir verenget?/ Der Trödel, der mit tausendfachem Tand/ in dieser Mottenwelt mich dränget?** — Fontane reimt in seinem bekannten Gedicht ,Die Brück am Tay*: „Tand, Tand, ist das Gebild von Menschenhand.** Nach diesem kleinen Gang durch die Wortgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart zurück zum 15. und 16. Jahrhundert. Dem Gebrauch des Wortes als Spottbezeichnung des Nürnberger Burggrafen nach müßte das Grundwort Tand in seiner Bedeutung: „kleine und kleinste Waren, die von den Nürnberger Handwerkern hergestellt wurden“, schon damals häufig gewesen sein. Eine neuere Veröffentlichung in den Nürnberger Mitteilungen überträgt die Bezeichnung „Nürnberger Tand“ — allerdings sehr vorsichtig, da in Anführungszeichen — auf die Nürnberger Waren des 15. Jahrhunderts.236 Überprüfen wir aber mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Quellen auf das Vorkommen des Wortes Tand in der Bedeutung „Kram- und Spiel­ waren“, müssen wir feststellen, daß andere Wörter üblich sind und Tand fast nicht vorkommt. Von Hans Sachs kennen wir das Gespräch eines Kaufherren mit einem Ballenbinder von 1568, in dem es heißt: „Mein pallenpinder kumb mit mir/ Guet arbeit will ich schaffen dir/ das du mir einschlagest zu gfallen/ in fesser und einpindest pallen/ Mancherley war, gros und klain/ Auf die mes gen Franckfurt am Main“.237 Wie ich schon weiter oben angedeutet habe, sind es die folgenden Wörter, die den Begriff „Nürnberger Waren“ im Frühneuhoch­ deutschen abdecken: Nürnberger Kram, Nürnberger Kramwaren, Nürnbergerei, Pfembert oder Pfenwert; kinderwerck, Holtzarbeit usw.238 Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts scheint sich in Nürnberg der Begriff Nürnberger Tand langsam durchzusetzen. 235 Bayerisch-österreichisches Wörterbuch, I. Österreich, hg. im Auftrag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich, Wien 1970-1992, Bd. 4, Sp. 560-563. 236 Pohl (wie Anm. 192), S. 123. 237 Zitiert nach Veit (wie Anm. 189), S. 34. 238 Meine Gewährsleute für diese Behauptung: Horst Pohl (wie Anm. 192); Eike Eberhard Unger (wie Anm. 9); Karl Rosenhaupt: Die Nürnberg-Fürther Metallspielwarenindustrie in geschichtlicher und sozialpolitischer Beleuchtung, Stuttgart Berlin 1907; Georg Wenzel, Geschichte des Nürnberger Spielzeugs, Erlangen 1967.

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Zusammenfassend läßt sich also folgendes sagen: Bis in die neuere Zeit hinein ist außerhalb Nürnbergs und vor allem in Nürnberg selbst eine allge­ meine Abneigung gegen die Verwendung des Ausdrucks Nürnberger Tand spürbar. Man achte in diesem Zusammenhang auch auf die Bemerkung „Kunstschloß, welches zwar keinen sonderlichen Nuzen gewähret und daher auswärts mit dem Namen Nürnberger Tand beleget wird" im weiter unten fol­ genden Zitat von Zahn. Schuld daran ist sicher die Tatsache, daß Tand früher einen abwertenden, ja beleidigenden Sinn hatte. Eine Sonderstellung in der Wortgeschichte nimmt allerdings die Bezeich­ nung des Zang- oder Zankeisens als Nürnberger Tand ein. Es handelte sich dabei um ein Vexierspiel, das man auch Nürnberger Grillenspiel, Grillen­ fänger, Wirreisen nannte. Von einer mit einem Stiel versehenen eisernen Gabel mußten mehrere aus Messing oder Eisen gefertigte Ringe, die ineinander ver­ flochten waren, gelöst werden. Die früheste Nachricht des angeblich von dem Nürnberger Kunstschlosser Hans Ehemann erfundenen Spielzeugs stammt aus dem Jahr 1697 von Wagenseil239: „Fuit qui certiorem me reddidit alicubi hoc specimen acuminis humanae industriae vocari der Nürnberger Tand, Noribergenses ineptias, Ferrum Jugiosum, das Zankeisen." 1730 erwähnte Doppel­ mayer240 das Spielzeug, und 1803 erschien in Nürnberg im Verlag Monath ein 70 Seiten starkes Büchlein ,Das Zankspiel, sonst Zankeisen und Nürnberger Tand genannt4, das eine exakte Beschreibung und Bedienungsanleitung enthält. Daß das Spielzeug sehr populär war, zeigt die Entstehung des Schimpfworts Zankeisen für eine zanksüchtige Frau (Zange wird dabei volksetymologisch in Zank umbenannt). Gabler hat das Zanckeisen, eine schimpfende und keifende Frau, in seinem bekannten Schimpfwörterbuch von 1799 abgebildet.241 Zahn schreibt 1815 sehr genau242: Das insgemein so genannte Zankeisen oder Nürn­ berger Tand sollte eigentlich seiner Gestalt wegen Zangeisen genennet werden. Es ist solches ein von Hans Ehemann, Kunstschlosser, der im Jahr 1551 in Nürnberg verstorben, erfundenes Instrument oder auf gewiese Art zu ge­ brauchendes Kunstschloß, welches zwar keinen sonderlichen Nuzen gewähret und daher auswärts mit dem Namen Nürnberger Tand beleget wird, jedoch aber wegen seiner künstlichen Einrichtung und mathematisch berechneten Behandlung allerdings dem Erfinder Ehre bringet. . . Weil nun Personen, so damit nicht umzugehen wissen, lange Zeit und Gedult verwenden müssen, biß sie die an diesem Zangen- oder gabelförmigen Instrument befindlichen metal­ lenen Ringe übereinander und von demselben herabspielen und die Spieler sol­ chergestalt zur Ungedult oder Unwillen gereizet werden, mag es gekommen 239 240 241 242

Johann Christoph Wagenseil: De civitate Norimbergense commentatio, S. 150. Doppelmayr (wie Anm. 124), S. 283. Ambrosius Gabler: Die Nürnberger Schimpfwörter, Nürnberg 61985, Bl. 16. Zahn (wie Anm. 8), Bl. 72.

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seyn, daß der Name Zang- zu Zank-Eisen verwandelt und Weiber, die zu unaufloörliebem Zanken einen vorzüglichen starken Hang besizen mit diesem Zankeisen verglichen und also gescholten werden. Und nun zum Alter des Sprichworts Nürnberger Tand geht durch alle Land, das offensichtlich das ältere Sprichwort Nürnberger Hand geht durch alle Land ersetzt hat. Werner Schultheiß243 hat offen gelassen, wann Tand statt Hand im Sprichwort üblich wird. Nach meinen Unterlagen läßt sich zur Zeit­ stellung folgendes sagen: Zedier erwähnt die moderne Form um 1740 noch nicht, ebensowenig Zahn um 1815 und auch Arnold um 1890 noch nicht. Sogar Dreyer kennt um 1920 nur die alte Form mit ,Hand‘. Der früheste Beleg wird bei Wander um 1873 greifbar. Vielleicht hat die eingangs erwähnte bildliche Darstellung des Sprichworts am Haus der Industrie- und Handelskammer erst richtig für die Verbreitung der modernen Form mit ,Tand‘ gesorgt. Zuletzt noch eine Bemerkung zu der Behauptung, Nürnberger Tand sei von den Tantes, den Nürnberger Rechenpfennigen abzuleiten. Wenzel244 schreibt wörtlich: „Eigentlich leitete sich dieser Ausdruck aus den berühmten Nürn­ berger Rechenpfennigen ab, die Tandes geheißen wurden. Bald verstand man dann unter Nürnberger Tand nicht nur die Rechenpfennige oder das Zank­ eisen, sondern alles Nürnberger Spielzeug.“ Für diese Behauptung fehlt jeg­ licher Beleg. Es stimmt wohl, daß in den Ratsverlässen bereits 1583 die Rechenpfennigschlager genannt werden245 und daß Rechenpfennige eine bekannte Exportware Nürnbergs waren, aber sie heißen in dieser Zeit nie Tantes. Das spanische Wort ist erst im 18. Jahrhundert mit anderen Aus­ drücken der Spielersprache übers Französische in unsere Sprache einge­ drungen. Der früheste Beleg für tantos ,Spielmarken4 ist 1733 für Würzburg feststellbar.246 Von da aus ist das Wort auch in die Mundarten eingedrungen. In Fürth heißt es z. B. heute noch ,kan Danders werd‘.247 Damit bin ich zum Ende meiner Ausführungen gelangt. Ich hoffe, gezeigt zu haben, welch guten Klang der Name Nürnbergs lange Zeit in ganz Europa hatte, wie er allerdings auch oft — teils berechtigt, teils unberechtigt — durch Neider und die Spottlust des Volkes verunglimpft wurde.

243 Werner Schultheiß: Aus der Geschichte des Nürnberger Spielzeugs, in: MVGN 53 (1965), S. 425. 244 Wenzel (wie Anm. 238), S. 48. 245 Theodor Hampe: Nürnberger Ratsverlässe, Wien-Leipzig 1904, Bd. 2, S. 114, Nr. 672 u. 673. 246 Schmeller (wie Anm. 73), Bd. 1, Sp. 610. 247 Eugen Berthold: Dei hulli alli 6, Fürther Mundartwörterbuch, Selbstverlag 1975, S. 36.

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Alphabetisches Verzeichnis aller behandelten Sprichwörter, Redensarten und Bezeichnungen248 Seite Aah, ewe geht de Nürnberger Mond uff .............................................. 14 Bin überall gwese als z Nürnberg nit ................................................... 13 Dat höllt as Nürnbarger Wor.................................................................. 49 Dat ös Nürnberger War, dreimol gebacke on noch net gar .... 49 Dat’s Nürnbarger Arbeit ....................................................................... 49 De Nürnberger melkt nich in en Emmer, wo ken Born drin es ... 30 Die Nürnberger Eier tragen/ zwei Dotter statt einem in ihrem Kragen . 48 Die Nürnberger gehen unterm Regen weg.............................................. 14 Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor .... 24 Es hat einer zu Nürnberg so nahe zum Himmel als zu Rohm vnd auch so nahe zur Hölle ................................................................................. 15 Es ist nur ein Nürnberg............................................................................ 3 Fürth, Schwabach und Erlang machen Nürnberg angst und bang . . 46 Ich glaub, daß mans zu Nürnberg tut ................................................... 47 Ich tu’s nicht, sagt man in Nürnberg, aufs andere Jahr kommen die Heiden................................................................................................ 13 In Nürnberg hanse rer gehänkt die wore besser wie der Kobl ... 22 In Nürnberg ist auch einer, der nicht alles weiß .................................... 13 machina Norimbergensis ....................................................................... 33 Man kan es bei Dutzenden haben wie die Nürnberger Taschenmeßer . 49 Man weiß, was es geschlagen hat, nur die Nürnberger wissen es nicht . 45 Meistersinger von Nürnberg .................................................................. 31 merces Norimbergenses ..............................................................................45 Nach Nürnberger Recht behält der die Schläge, der sie hat .... 22 Närmbercher Gwerch ................................................ 40 Norimberske zbozi ................................................................................. 46 Nörnbergschs Werk, wähl jemacht än net zu stärk ............................... 49 Nürenbergisch Recht ............................................................................ 20 Nurenbergiskie .............................................................................................46 Nürnberg, des deutschen Reiches Schatzkästlein ............................... 7 Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage .............................................. 26 Nürnberger ........................................................................................... 33 Nürnberger Allerlei................................................................................. 38 Nürnberger Anisschnitten....................................................................... 38 Nürnberger Anstand ............................................................................ 21

248 Die 107 bisher gefundenen Sprichwörter, Redensarten und Bezeichnungen sind auf der je­ weiligen Seite in der Überschrift oder im Sperrdruck des Textes zu finden.

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Nürnberger Bagdette ......................................................................... 40 Nürnberger Bilderbogen .................................................................... 31 Nürnberger Bot (ist halb ab, das macht rechte kauff) ............................... 47 Nürnberger Bratwürste......................................................................... 40 Nürnberger Buden .............................................................................. 45 Nürnberger Busserl .............................................................................. 38 Nürnberger Butterzeug......................................................................... 38 Nürnberger Christkindlesmarkt........................................................... 46 Nürnberger Commißbrot.................................................................... 38 Nürnberger Cramerye ......................................................................... 45 Nürnbergerei ........................................................................................45 Nürnberger Ei........................................................................................ 35 Nürnberger Eierzucker......................................................................... 38 Nürnberger Geigenwerk .................................................................... 31 Nürnberger Geleit .............................................................................. 44 Nürnberger Gesetze.................................................................................... 26 Nürnberger Glühwachs .................................................................... 32 Nürnberger Goldglanz......................................................................... 32 Nürnberger Graupen (Nürnberger Gräupchen).................................. 38 Nürnberger Grün .............................................................................. 32 Nürnberger hand bescheist alle landen................................................. 50 Nürnberger Hand geht durch alle Land .................................................. 43 Nürnberger Herrgottsschwärzer.......................................................... 17 Nürnberger Kram .............................................................................. 45 Nürnberger Kramwaren .................................................................... 45 Nürnberger Küchlein ......................................................................... 38 Nürnberger Lebenstropfen ............................................................... 34 Nürnberger Lebkuchen......................................................................... 38 Nürnberger Leiter .............................................................................. 33 Nürnberger Lerche(ntauben)............................................................... 40 Nürnberger Liqueur.............................................................................. 38 Nürnberger Madonna ......................................................................... 11 Nürnberger Marzipan ......................................................................... 38 Nürnberger Maß und Gewicht .......................................................... 44 Nürnberger Nudeln.............................................................................. 37 Nürnberger Parteitage ......................................................................... 26 Nürnberger Peterleinsbub................................. 18 Nürnberger Pfeffersäcke .................................................................... 17 (Nürnberger) pfemberd oder pfemberdkauf ....................................... 45 Nürnberger Pflaster.............................................................................. 34 Nürnberger Prozesse ......................................................................... 26 Nürnberger Religionsfriede ............................................................... 21 58

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Nürnberger Roth...................................................................................... 32 Nürnberger Säiwala................................................................................. 18 Nürnberger Sandhasen............................................................................ 16 Nürnberger Sauerbraten ....................................................................... 40 Nürnberger Schere ................................................................................. 33 Nürnberger Schminkwasser .................................................................. 34 Nürnberger Schwalbe ............................................................................ 40 Nürnberger Seuren ................................................................................. 34 Nürnberger Spielwaren, Nürnberger Spielwarenmesse ........................... 46 Nürnberger Stadtwurst............................................................................ 40 Nürnberger Stil ...................................................................................... 11 Nürnberger Tand (geht durch alle Land) .............................................. 50 Nürnberger Trichter................................................................................. 12 Nürnberger Uhr (Nürnberger Stunden) .................................................... 44 Nürnberger Violett ................................................................................. 32 Nürnberger Waren ................................................................................. 45 Nürnberger Wildbad ......................... 34 Nürnberger Witz...................................................................................... 29 Nürnberger Witz und künstliche Hand findet Weg durch alle Land . 43 Nürnbergische Panzerhemden ............................................................. 33 Nürnbergische Reformation .................................................................. 20 Nürnbergisch gerecht geschaut gut ........................................................ 45 Nürnbergs arbeyd det er net og fint........................................................ 45 Ohne Nürnberg keine Messen ............................................................. 43 vernürnbergert ...................................................................................... 50 Wann des Wedder ääch nor hält, von elf bis Middag wie die nernberjer Waar .......................................................................................................49 Was geht mich Nürnberg an, habe kein Haus drin ............................... 14 Was macht man nicht in Nürnberg ums Geld? .................................... 47 Wenn du zu Nürnberg wärst, so gab man dir die Wahl......................... 22 Wenn Nürnberg mein wäre, wollt ichs in Bamberg verzehren ... 6 Zu Cöln ist gut handelen, da kan man vmb ein wünsch so vil kauffen als in Nürnberg vmb drei last ............................................................. 48

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ZUM FÜNFECKTURM DER NÜRNBERGER BURG Von Walter Haas Der Fünfeckige Turm der Nürnberger Burg gilt als der älteste aufrechtste­ hende Teil dieser großen, vielteiligen Wehranlage. Er sei „der Überlieferung nach“ noch im 11. Jahrhundert als Bergfried der salischen (Kaiser-)Burg errichtet worden. So gibt das Dehio-Handbuch1 die herrschende Meinung wieder, die auch von den Amtlichen Führern und vom „Kurzinventar“2 ver­ treten wird. „Etwa aus der Zeit um 1100“ stamme er, wird noch 1985 nur wenig vorsichtiger behauptet3. Wenn man jedoch nicht von der Geschichte Nürnbergs ausgeht, sondern von der Entwicklungsgeschichte der Burgen und ihrer Türme, so kommt man zu anderen zeitlichen Einordnungen. Schon 1964 stellte Bornheim gen. Schilling bei der Besprechung des Turmtyps mit fünf­ seitigem Grundriß ohne nähere Begründung fest: „Der fünfeckige Turm der Nürnberger Burg, häufig ebenfalls für das 11. Jahrhundert in Anspruch genommen, entstand zweifellos nicht vor dem letzten Viertel des 12. Jahr­ hunderts.“4 Arens, der sich speziell mit den staufischen Teilen der Burg beschäftigt,5 nennt im einzelnen die Grundrißform, die Art des Mauerwerks und den aus der Mauerstärke ausgesparten Abortraum als Elemente, die es erlauben, das 11. Jahrhundert als Entstehungszeitraum auszuschließen und die für das späte 12. Jh. sprechen. Das Fehlen von Zangenlöchern und Steinmetz­ zeichen führt er als Argument für eine Entstehung nach 1220 an. Er schlägt als Datierung die Zeit nach 1192, also nach der Übertragung des Burggrafenamtes an die Hohenzollern, vor und greift damit die von H. Vocke schon 100 Jahre zuvor mit anderer Begründung vertretene These wieder auf.6 Die um mehr als ein Jahrhundert differierenden Datierungen sind ein zusätzlicher Grund, den Fünfeckturm genauer anzusehen. Der Hauptgrund ist jedoch der, daß es bisher kaum geschehen ist.7 Als Instandsetzungsarbeiten am 1 2

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Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bayern I: Franken, München/Berlin 1979, S. 610. Erich Bachmann: Kaiserburg Nürnberg, 1964. — Günther P. Fehring und Anton Ress: Die Stadt Nürnberg (Bayerische Kunstdenkmale X), München/Berlin 11961, S. 23 f. „vor der Mitte des 11. Jh.“; 21977, S. 163 „noch im 11. Jh.“ Walter Haas und Ursula Pfistermeister: Romanik in Bayern, Stuttgart 1985, S. 312. Werner Bornheim gen. Schilling: Rheinische Höhenburgen, Neuss 1964, Bd. I, S. 81. Fritz Arens: Die staufische Burg zu Nürnberg, in: JfL 46 (1986), S. 1—25, zum Fünfeckturm bes. S. 21 ff. Arens (wie Anm. 5) zitiert in seiner Anm. 58: H. Vocke, Das burggräfliche Schloß zu Nürn­ berg, 1882, S. 14. Neben Arens ist K. Pilz zu nennen, der sich nach dem 2. Weltkrieg mit dem Fünfeckigen Turm beschäftigt hat: K. P.: Nürnberg, Seine Kunst und seine Künstler 1050—1950, Bd. I, Nürnberg 1956.

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Äußeren des Turmes 1988 eine Einrüstung erforderlich machten, sorgte das Hochbauamt der Stadt Nürnberg — Untere Denkmalschutzbehörde — jeden­ falls dafür, daß diese Gelegenheit zu einer baugeschichtlichen Untersuchung genutzt wurde.

Der Fünfeckige Turm vor und nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Zuständigkeit des Städtischen Hochbauamtes ergibt sich nicht aus den Eigentumsverhältnissen, denn die ganze Burg gehört dem Freistaat Bayern und untersteht der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen. Zwar hatte die Reichsstadt Nürnberg schon seit dem 14. Jahrhundert mehr und mehr Rechte und Pflichten an der Kaiserburg übernommen, sodaß sie all­ mählich zur faktischen Besitzerin wurde; 1427 kaufte sie auch die Ruine der seit 1420 zerstörten Burggrafenburg; einige Gebäude, der Luginsland (1377) und die „Kaiserstallung“ (1494/95) vor allem, sind von vornherein als Bau­ werke der Stadt errichtet worden, sodaß also schließlich die Burg mit allen ihren Teilen ein städtischer Komplex war. Doch Rechtsnachfolger der Reichs­ stadt wurde 1806 das Königreich Bayern. Von ihm wurden der Stadt mit dem Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung verschiedene Kompetenzen, Lie­ genschaften und Gebäude übertragen, und auf irgendeine Weise ist bald nach 1806 auch ein großer Teil der Burg wieder an die Stadt gekommen, nämlich der ganze mittlere und östliche Teil vom Tiefen Brunnen über den Sinwellturm und die Freiung bis zum Luginsland. Als aber König Maximilian II. (1848—64), der in der Nürnberger Burg eine Art Nebenresidenz sah, beabsich­ tigte, sie dafür auszubauen, kaufte der bayerische Staat im Januar 1856 der Stadt alle diese Gebäude und Grundstücke um 20 000 fl. ab.7a Bekannt war der Fünfeckige Turm bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem wegen der Folterkammer, die er beherbergte. Es war dies eine etwas zufällig zusammengetragene, „Kriminal- und kulturhistorisches Museum“ benannte Sammlung mit Exponaten von recht unterschiedlichem Wert, die keinerlei Beziehung zur Örtlichkeit hatten. Nicht alle Stockwerke waren auf diese Weise genutzt und zugänglich. Der Ausbau der anschließenden „Kaiser­ stallung“ zur Jugendherberge 1937/38 betraf den Turm nicht. Bei dem verheerenden Luftangriff vom 2. Januar 1945 wurde auch der Fünf­ eckturm von Brandbomben getroffen und brannte aus. Alles Holzwerk — Zwischendecken, Treppen und Dachkonstruktion — wurde restlos zerstört. 7a Diese Angaben nach einem 1991 abgeschlossenen Ms. von Gerhard Pfeiffer, in das der Autor freundlicherweise Einblick gewährte.

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Die Mauern blieben stehen, erlitten aber durch die Hitze Oberflächenschäden, die unterschiedlich tief gingen. Als 1951 der Wiederaufbau der Kaiserstallung als Jugendherberge und Jugendwohnheim begann, wurde bald auch der Fünfeckturm in die Planung einbezogen, während mit dem Wiederaufbau des fast völlig eingestürzten Luginsland8 zunächst noch nicht gerechnet wurde.9 Initiatoren des ganzen Unternehmens war der städtische Sozialreferent, Dr. K. Th. Marx, der sich als Bauträger des Ortsverbandes der Nürnberger Wohlfahrtspflege e.V. bediente. In der vertraglichen Regelung der Bau- und Nutzungsrechte wurde auch die Bauunterhaltsverpflichtung der Stadt vereinbart. Deshalb wird hier statt des für die staatlichen Bauten zuständigen Landbauamtes das Städtische Hoch­ bauamt tätig. Voraussetzung für den Wiederaufbau war die möglichst weitgehende Nutz­ barkeit des neu entstehenden Raumvolumens.10 Um verschiedene, voneinander unabhängig benützbare Räume zu schaffen und die Sicherheit im Brandfall zu gewährleisten, war es nötig, ein abgeschlossenes Treppenhaus und daneben in jedem Stockwerk Einzelräume zu schaffen. Die Nutzung, die den Wieder­ aufbau 1952/53 ermöglichte, schloß also das Wiedergewinnen der ununter­ teilten Innenräume in den einzelnen Stockwerken aus.

Lage und Gestalt des Turmes

Der Fünfeckige Turm steht im Ostteil der Burganlage und dicht an ihrer Nordgrenze auf einer Felskuppe, die nach Osten zu (zum Zwinger hinter der Kaiserstallung) steil um rd. 11 m abfällt, und die im Norden zum Stadtgraben senkrecht abgearbeitet ist. Auch nach Süden, wo der Fels nicht freiliegt, fällt das Gelände ziemlich steil ab, und nur nach Westen zu, beim „Eppeleins­ sprung“, setzt sich der Fels, der den Turm trägt, in unverminderter Höhe fort.11 Sonst bleibt rings um den Turm ein etwa 2 m breites Vorfeld, das zum Stadtgraben hin mit einer Art Wehrgang überbaut ist. 8 Der Turm war von einer Sprengbombe getroffen worden, die in seinem Innern explodierte. Nur ein Stumpf von wenigen Metern Höhe, der mit dem Tonnengewölbe über dem Erdgeschoß endete, war stehengeblieben. 9 Die Kaiserstallung erhielt deshalb einen Ostgiebel, der nach wenigen Jahren durch die als Erweiterung der Jugendherberge dienende Rekonstruktion des Luginsland zum größten Teil wieder verdeckt wurde. 10 An der Kaiserstallung wurden sämtliche Geschosse des hohen Dachkörpers für den neu ent­ stehenden Saal und darüber für die Jugendherberge genutzt. 11 Gegenüber den Himmelsrichtungen steht der Turm im Uhrzeigersinn um 28° verdreht. Bei den Richtungsangaben wird diese Abweichung hier vernachlässigt. „Süd“ z. B. steht für ein korrek­ teres, aber umständliches „Südsüdwest“.

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Seine besonders im Blick von Norden oder Westen eindrucksvolle Höhe verdankt der Turm in erster Linie seiner exponierten Stellung, bei der 19 m Grabentiefe zur Turmhöhe hinzukommen (Abb. 1). Die eigenen Höhenmaße des Bauwerks sind eher bescheiden. Über dem tiefsten Punkt des unmittelbar anschließenden Terrains12 beträgt die Firsthöhe rd. 28 m, die Traufhöhe knapp 23 m. Der gemauerte Turmschaft, der nur bis zur Brüstung des obersten Stockwerks reicht, ist 20,75 m hoch. Am Turmkörper zeichnet sich ringsum deutlich eine Materialgrenze ab zwischen dem Bossenquader-Mauerwerk aus Sandstein und einer vorwiegend aus Backstein gemauerten Aufhöhung. Der untere, ältere Teil ist 16 m hoch erhalten. Die Grenze steigt nach Osten zu um vier Quaderschichten an. Das ältere Mauerwerk reicht hier noch um 1,65 m höher13. Im Grundriß bildet der Turm ein dem Quadrat angenähertes Rechteck von (O-W) 10,9 zu 10,7 m (N-S) äußerer Seitenlänge. Die namengebende fünfte Ecke entsteht durch eine massive, im Grundriß dreieckige Verstärkung des Mauerkörpers an der Nordhälfte der Ostseite. Die Mauerstärke beträgt auf allen Seiten etwa 2,6 m. Der Sporn mit der fünften Ecke springt etwa ebenso weit vor. Der verbleibende Innenraum mißt 5,70 X 5,48 m.14 Die überbaute Fläche beträgt somit 123 m2, von denen 31,2 m2 auf den Innenbau und rd. 92 m2 auf den Mauerquerschnitt entfallen, d. h. rd. ein Viertel der Grundfläche ist als Innenraum nutzbar, drei Viertel nimmt das Mauerwerk ein.

Befunde am Außenbau des Turmschaftes

Der Fünfeckturm ist durch sein Bossenquader-Mauerwerk charakterisiert. Die Sichtflächen der einzelnen Quader sind durch die Randschläge als Ebene fixiert, doch innerhalb des Randschlags sind die Werkstücke unbearbeitet belassen. In der Literatur werden die Bezeichnungen „Bossenquader“ und „Buckelquader“ oft synonym gebraucht, doch läßt sich meistens klar unter­ scheiden zwischen Quadern mit bewußt geformten, kissenartigen „Buckeln“ und den sich aus dem Bearbeitungsvorgang ergebenden „Bossen“, mit denen wir es bei diesem Turm zu tun haben. Die vieldiskutierte Frage, ob die Bossen einen besonderen fortifikatorischen Wert haben (sie erschweren das Hochschieben von Sturmleitern, doch sie ver12 Von der SW-Kante, 345,35 üb. NN. Die Höhen sind der photogrammetrischen Bauaufnahme von J. Linsinger von 1988 entnommen, die vom Hochbauamt der Stadt veranlaßt und zur Ver­ fügung gestellt wurde. 13 Das Quaderwerk ist überall bis 361,35 über NN erhalten und maximal bis 363,0 üb. NN. 14 Diese Maße sind in dem im ersten Obergeschoß eingerichteten Fotolabor — und nur noch dort — feststellbar.

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hindern es nicht), oder ob sie ökonomisch bedingt sind (man spart das Glätten des Quaderspiegels, doch bei den Buckelquadern hat man nicht viel weniger aufgewendet, um den Buckeln die gewünschte Form zu geben), läßt sich wohl so beantworten, daß das Mauerwerk zwar gewiß stark und fest sein, vor allem aber stark und fest aussehen sollte, und daß dieser Eindruck mit der rauhen Oberfläche besser erzielt werden konnte als mit einer geglätteten. Das Baumaterial wird üblicherweise als Blasensandstein bezeichnet wegen der Hohlräume, die Lehmschlüsse enthalten, aber rasch ausgewaschen werden, wenn sie durch die Steinbearbeitung geöffnet sind. Geologische Karten zeigen, daß Blasensandstein hauptsächlich westlich von Nürnberg in einiger Entfer­ nung ansteht. Doch hier verwenden Geologen und Steinmetzen den selben Begriff in verschiedener Bedeutung. Das Auswechseln von Quadern gab 1988 Gelegenheit, dem Bayerischen Geologischen Landesamt Materialproben zur Bestimmung vorzulegen. Dort wurde er als blasiger, bräunlicher und heller, teilweise verkieselter Burgsandstein angesprochen, der wohl aus der nächsten Umgebung des Nürnberger Burgberges stamme. Es handle sich nicht um Blasensandstein.15 Die Quader sind in horizontalen Schichten von recht unterschiedlicher Höhe verbaut. Die meisten messen zwischen 30 und 40 cm, doch die Extreme sind 18 und 55 cm. Streckenweise sind hohe Schichten in zwei flache gespalten. Springende Lagerfugen sind zwar nicht häufig, kommen aber doch immer wieder vor, und zwar meistens in der Nähe einer Kante. Nur etwa die Hälfte der Schichten läuft in völlig einheitlicher Höhe um den ganzen Turmschaft um. Die Quaderlänge ist sehr unterschiedlich, übersteigt aber nur selten 1 m. Gerade bei den hohen Schichten sind etwa quadratische oder gar hochrecht­ eckige Sichtflächen häufig. Die an den Turmkanten ablesbare Einbindtiefe der Quader unterschreitet kaum je 35 cm. Der Turm steht auf keiner Seite in voller Höhe frei. Im Osten schließt die Kaiserstallung an, im Norden und Westen der wehrgangartige Vorbau. Auf der Südseite besteht das Terrain aus einer Auffüllung hinter einer Stützmauer, die allem Anschein nach gebaut wurde, um den ebenerdigen Zugang zum Dachgeschoß der Kaiserstallung zu schaffen. Hier auf der Südseite hat das Städt. Hochbauamt 1988 eine Grube ausheben lassen16, in der festgestellt werden konnte, in welcher Tiefe das Turmmauer­ werk ansetzt (Abb. 2). Unter der vom heutigen Pflaster überschnittenen, sehr schadhaften Quaderschicht liegen noch vier Bossenquaderschichten mit 38, 51, 15 Diese Auskunft gab Dr. Hellmut Haunschild, dem für seine Expertise besonders zu danken ist. Dank auch Herrn Dipl. Geol. Dr. Weinig, der sie vermittelt hat. 16 Im Aushub fanden sich außer Tierknochen Scherben von innenglasierten Gefäßen. Das Material wurde der Außenstelle Nürnberg des B. Landesamtes für Denkmalpflege übergeben und von deren Leiter, Dr. R. Koch, ins 15./16. Jh. datiert. Dieser Zeitansatz stützt die Annahme, daß die Auffüllung mit dem Bau der Kaiserstallung 1494/95 zusammenhängt.

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42 und 46 cm Höhe17. Die Beschädigungen reichen ca. 80 cm unter das Pflaster, darunter sind die Quaderoberflächen ganz sauber erhalten. Offenbar war das Mauerwerk bis zu dieser Höhe immer geschützt. Unter den Bossenquadern liegen noch zwei Schichten mit glatten Quadern. Die obere, 33 cm hoch, springt 3 cm, also knapp um die Bossenstärke, vor den Randschlag der auflie­ genden Schicht vor. Die unterste, 35 cm hohe Schicht bildet eine 13 cm vor­ springende „Sockelstufe“. Sie scheint direkt auf dem Fels aufzuliegen, der aber wenige Zentimeter hinter die Quaderfläche zurücktritt und anscheinend ein Stück weit senkrecht abgearbeitet ist. Die Grube endete aber so knapp unter der untersten Quaderschicht, daß keine sichere Beobachtung der Bodenfuge und des Baugrundes möglich war. An dieser Stelle reicht das Turmmauerwerk insgesamt 2,56 m unter das Pflaster. Es setzt somit bei 343,3 m über NN an. Darin ist allerdings nicht die Höhe einer einheitlichen Standfläche des ganzen Turmes zu sehen. Der zum Stadtgraben hin abgearbeitete Fels steht an der Westseite stellenweise bis 344,2 m und an der Nordseite bis 344,7 m an. Deshalb wird man in den beiden glatten Quaderschichten auf der Südseite auch keine Sockel sehen dürfen, sondern Ausgleichsschichten über dem unein­ heitlichen Bauniveau. Von der Steinbearbeitung sind an den Außenflächen des Turmes nur die Randschläge zu sehen (Abb. 3), die, wie üblich, mit dem „Schlageisen“ herge­ stellt sind, einem Flachmeißel von 3—5 cm Breite, der dabei meist nicht in voller Breite aufliegt, sondern außen mehr oder weniger übersteht. Die Rand­ schlagbreite beträgt in der Regel 2—3 cm. An den Bossen, die zwischen 3 und 10 cm vortreten, sind zwar vereinzelt Spitzeisenspuren zu erkennen, aber keine Anzeichen systematischer Bearbeitung. An den Kantenquadern sind beide Sichtseiten von Randschlägen gerahmt. Die Kante des Baukörpers wird also gebildet durch eine Folge von Randschlägen über alle Schichten hinweg, die normalerweise — und das auch an der „fünften Ecke“ — rechtwinklig aneinander stoßen, an der stumpfen Nordostecke aber unter 132° (Abb. 4). An der einspringenden sechsten Ecke an der Ostseite wird nur durch wenige Winkelsteine eine Verbindung hergestellt. In den meisten Schichten stoßen die Quader in diesem Winkel stumpf aneinander. Die Fugen sind durchweg recht schmal gehalten. Lager- und Stoßfugen sind nur selten stärker als 5 mm, meistens sind sie nur 2—3 mm stark. Von all den Angaben, die hier bisher zum Außenbau gemacht wurden, gibt es Ausnahmen. Neben dem hellbräunlichen, blasigen Steinmaterial gibt es auch rötlichen, dichten Sandstein, und es gibt Quaderflächen ohne Randschlag, bei denen die Bossen schon an den Fugen ansetzen. Bei den Kantenquadern bedeutet das, daß die Bosse nicht vor der Kante endet, sondern umläuft. Die Kante ist dann nicht als Grat zwischen Randschlägen scharf markiert, sondern 17 Reihenfolge von oben nach unten.

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bildet sich unpräzis durch eine Folge um die Ecke geführter Bossen aus. Diese Erscheinungen treten konzentriert an der Südwestkante auf, an anderen Teilen des Turmes finden sie sich vereinzelt. Stets gehen das andere Material und die andere Steinbearbeitung zusammen. Diese Quader sind mit besonders engen Pressfugen versetzt. Größere Steinlängen (um 1 m) kommen hier häufiger vor. Innerhalb eines einheitlichen Bauvorgangs wäre die zwar nicht auffällige, aber doch deutliche Unterschiedlichkeit von Material, Bearbeitung und Ver­ setzweise nur schwer verständlich. Tatsächlich fand sich ein Beleg dafür, daß das so charakterisierte Quaderwerk von einer umfangreichen Instandsetzung des Turmes stammt. Die ältesten, leider undatierten Fotos, die Einzelheiten erkennen lassen, zeigen die Südwestkante mit besonders beschädigten Qua­ dern, mit Sprüngen, klaffenden Fugen und Ausbrüchen (Abb. 5, 6). Auf einer Fotoserie von 1919 (Abb. 7, vgl. auch Abb. 1) ist die selbe Kante mit dem geschlossenen Bossenquaderwerk zu sehen, das über die Kriegszerstörung von 1945 hinweg weitgehend bis heute erhalten ist. Hier wird eine umfangreiche Reparatur des Turmes greifbar. Man wird den Befund zusammen sehen dürfen mit der Mitteilung Mummenhoffs, auf die Arens wieder aufmerksam gemacht hat: Der Turm sei im Herbst 1895 restauriert worden.173 Die ursprünglich einzige Zugangsöffnung liegt im Westteil der Südseite in ca. 5 m Höhe.18 Sie dient jetzt als Fenster. Ihre Gewände sind ganz erneuert. Altere Fotos können den früheren Zustand deshalb nicht wiedergeben, weil der hölzerne Erkervorbau und der verbretterte Treppenaufgang das Mauer­ werk in diesem Bereich verdecken. Auskunft geben nur noch die Fotos des Ruinenzustandes zwischen 1945 und 1952. Ein Bild von etwa 1950 (Abb. 8) zeigt die Öffnung als rechteckiges Feld, in das steinerne Gewändepfosten und ein Sturz eingesetzt sind. Sie stehen nicht im Mauerverband und sind stark brandbeschädigt. Dem Eindruck nach handelt es sich nicht um die ursprüng­ lich zugehörigen Gewände, sondern um eine Erneuerung. Diagonal an die Ecken des Türfeldes anschließend fallen vier Balkenlöcher auf, in denen die Traghölzer des Erkervorbaus steckten. Daß sie nicht mit den Schichthöhen übereinstimmen, könnte dafür sprechen, daß sie nachträglich ausgearbeitet sind. Vier Schichten unter den unteren Löchern sind — weniger auffallend — die Ausarbeitungen für Schrägstreben zu erkennen. Im Ruinenzustand zeichneten sich auch die Dachspuren und die darunter liegende Zone des Treppenaufgangs ab, der ja zur Zeit der „Folterkammer“ aus dem westseitigen Anbau heraus zu dem Erker vor dem Eingang führte. Eine gleichartige Dachspur führte aber, der Südmauer entlang, auch nach Osten. Das bedeutet, es hat entweder zeitweilig zwei Treppenaufgänge zu dem Erker 17a Ernst Mummenhoff: Die Burg zu Nürnberg, 4. Aufl. 1926, S. 101, Anm. 8. 18 Die Schwellenhöhe dieses Zugangs liegt 350,95 üb. NN, also 5,6 m über dem Gelände vor der SW-Kante.

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gegeben, oder der Aufgang von Osten ist in einer Zeit, aus der keine Abbil­ dungen vorliegen, durch die um die Südwestkante herumführende Treppe ersetzt worden. Zu den ursprünglichen Öffnungen zählen die Schlitzfenster, von denen es zwei auf der Westseite und vier auf der Südseite gibt. Sie sind alle ungefähr in der Mitte der Mauerflächen angeordnet. Auf der Südseite sitzt das unterste, das später verbreitert wurde, mit seiner Bankhöhe 346 m üb. NN über dem Ter­ rain, das zweite (Bankhöhe 352,25) neben der Zugangsöffnung, das dritte (356,60) und vierte (360,50) im Geschoßabstand darüber. Die beiden West­ fenster stimmen in der Höhe (352,40 und 356,65) recht gut mit dem zweiten und dritten der Südseite überein. Am Außenbau treten die Fenster nur als handbreiter Spalt zwischen den Bossenquadern in Erscheinung. Die äußere Breite der sich nach innen weitenden Öffnungen ist z. T. durch Nacharbeiten der Gewändekanten etwas vergrößert. Das Erdgeschoßfenster auf der Südseite ist durch die Ausweitung auf 60 cm als Durchschlupf geeignet und dagegen wieder durch ein Gitter gesichert. Bei drei Schlitzfenstern stimmt die Gewändehöhe mit den Schichthöhen des Quaderwerkes überein. Aus dem Sturzquader, der jeweils den Schlitz über­ deckt, ist ein kleiner Rundbogen ausgearbeitet. Die beiden Schlitzfenster im Stockwerk über dem Eingangsgeschoß nehmen jedoch nicht die ganze Höhe von zwei Quaderschichten ein. Hier sind die Sturzquader in die obere Schicht eingesenkt und haben eine um dieses Maß vergrößerte Höhe, sodaß die nächst­ folgende Quaderschicht wieder glatt durchlaufen kann. Auf der Nordseite hatte der Turm ursprünglich weder Tür noch Fenster, doch gibt es eine 35 cm breite rechteckige Öffnung, deren untere Grenze vom Dach des Vorbaues überschnitten wird und sich deshalb nicht genau feststellen läßt. Sie ist mindestens 70 cm hoch und reicht bis etwa in die Fußbodenhöhe des Eingangsgeschosses hinauf.19 Leider hat das Gerüst 1988 diese Stelle nicht zugänglich gemacht, sondern im Gegenteil sie verstellt. So konnte der Verlauf in die Mauertiefe nicht untersucht werden. Aus der Lage ergibt sich aber, daß sie mit der aus der Mauer ausgesparten Nische im Eingangsgeschoß Zusam­ menhängen muß. Sie ist aber kein Fenster, sondern eine Öffnung, die unter dieser Nische ins Freie führt. Wenn es richtig ist, in der Anlage einen Abtritt zu sehen, (und es gibt keinen Grund, der dagegen spräche),20 dann muß es sich bei der Öffnung um eine Ableitung nach außen handeln, deren genaue Durch­ bildung aber nicht geklärt werden konnte. Der Sturzquader, der sie überdeckt, ist wesentlich höher als die Schicht, in der er liegt. Er ragt in die folgende 19 Unterkante Sturz bei 351,10 üb. NN, Schwellhöhe Eingangstür 350,95. 20 Für Arens (wie Anm. 5) ist diese Deutung keiner Diskussion bedürftig. Beim Wiederaufbau ist der Raum — nun mit einem Fensterchen und mit Einrichtungen des 20. Jhs. versehen — wieder diesem Zweck zugeführt worden.

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Schicht hinein und wird durch einen flachen Quader zu deren voller Höhe ergänzt. Die Ostseite samt dem vorspringenden Sporn war ursprünglich ohne jede Öffnung. Gerüstlöcher sind ein weiteres Merkmal des Quadermauerwerkes. Es sind dies Aussparungen von etwa quadratischem oder auch unregelmäßigem Quer­ schnitt, deren Größe hier zwischen 7 und 18 cm Durchmesser bzw. Seiten­ länge beträgt und manchmal nur in derselben Tiefe ausgearbeitet sind, manchmal aber bis zu 2 m tief in das Mauerwerk hineinreichen.21 Die Nordseite des Turmes, die nur wenige Schäden erlitten hat und deshalb auch wenig durch Flickungen gestört ist, gibt den besten Überblick. Hier zeichnen sich sechs Gerüstlagen ab, deren senkrechter Abstand 1,6 —1,8 m, in einem Fall aber 2,5 m beträgt. Meist sind es in einer Höhe drei Gerüstlöcher auf der ganzen Länge der Turmseite, nur einmal bilden vier eine Lage. So ergeben sich waagrechte Abstände zwischen 3,8 und 5,1 m von Gerüstloch zu Gerüstloch. Meistens sind die Gerüstlöcher aus einer Ecke des Quaders ordentlich recht­ winklig ausgearbeitet. Der Randschlag, der diese Ausklinkung säumt, zeigt, daß sie schon beim Zurichten des Quaders vorgenommen wurde (Abb. 9). Der konnte, je nach Notwendigkeit, mit der Ausarbeitung nach unten oder nach oben versetzt werden. Es kommt aber vor, daß Gerüstlöcher erst beim Hoch­ führen der Mauer angeordnet werden, und daß man dazu ohne besondere Sorgfalt eine Quaderecke oder auch zwei benachbarte abschlug (Abb. 10). Auf den anderen Turmseiten ist nur noch ein Teil der Gerüstlöcher offen. Andere sind vermauert, sodaß man sie noch erkennen, ihre Beschaffenheit und Tiefe aber nicht feststellen kann. Ihre Lage entspricht aber soweit der auf der Nordseite, daß sich sagen läßt, die Anordnung in einheitlichen Höhen und von meist drei Löchern pro Turmseite in jeder Etage ziehe sich um den Turm herum. Auf der Westseite fällt auf, daß die Löcher nur eine geringe Tiefe zwi­ schen 11 und 30 cm haben. Die regelmäßige Anordnung setzt sich auch in dem erneuerten Mauerwerk an der Südwestkante fort. Auf der Nordseite der „fünften Ecke“ liegen zwei Löcher in jeder Lage. Auf allen Seiten liegen einzelne Löcher außerhalb des „Rasters“ in abweichender Höhe. Ihre Bedeutung läßt sich nicht klären, aber die anderen, regelrecht ange­ ordneten, erlauben einige Aussagen über das beim Bau des Turmes verwendete Gerüst. Die Tiefe der meisten Gerüstlöcher auf der Nordseite (größtes gemessenes Maß 2,06 m) ist so groß, daß ein darin steckendes Holz fest eingespannt war und als Kragarm hätte belastet werden können. Dennoch läßt sich mit Sicher21 Die anderwärts häufige Erscheinung, daß Gerüstlöcher die ganze Mauer durchdringen, wurde am Fünfeckigen Turm nicht beobachtet.

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heit sagen, daß kein Kraggerüst verwendet worden ist. Die Abstände der eingespannten Gerüstriegel sind dafür zu groß, und es ist auch keine Vorsorge getroffen, das Gerüst um die Turmkanten herumzuführen. Die von Kraggerü­ sten verbleibenden Gerüstlöcher, wie wir sie von vielen anderen Bauten kennen, sind wesentlich dichter angeordnet (Abstände unter 1,5 m), und sie sind auf die Ecken zu in die Diagonalen gedreht, damit sie einen um die Kante herumführenden Belag tragen können. Am Fünfeckturm haben wir uns ein Stangengerüst vorzustellen, mit senk­ rechten Masten, die auf dem Felsen aufstanden und die durch angebundene waagrechte Streichstangen verbunden waren. Beim Hochführen der Mauer wurden in Höhe der Gerüstlagen Hölzer eingemauert, die waagrecht heraus­ ragten und an die Masten und Streichstangen angebunden wurden. So waren sie an dem hochwachsenden Turm befestigt und gegen Wegkippen gesichert. Bei dem relativ großen Abstand zwischen den in der Mauer steckenden Gerüstriegeln (bis zu 5 m!) waren für die Bohlen, die die Arbeitsfläche bil­ deten, weitere Unterlagen nötig. Es wird also nahe an der Mauer einen Kranz von Masten gegeben haben und im Abstand der Gerüstbreite davor einen zweiten. Die waagrechten Stangen haben Riegelhölzer getragen, von denen nur einige mit der Mauer verbunden waren. Die seichten Gerüstlöcher auf der Westseite eignen sich zwar zur Auflage, doch wird ein Gerüstriegel dort nicht fest­ gehalten. Das Gerüst muß hier auf eine andere Weise am Mauerwerk befestigt gewesen sein, vielleicht durch die beiden Schlitzfenster hindurch.

Befunde im Inneren des Turmschaftes

Der Brand von 1945 hat an den Steinoberflächen im Innern des Turmes erheb­ liche Verwüstungen angerichtet. Beim Wiederaufbau 1952/53 mußten deshalb fast überall durch Vormauern neue Wandflächen hergestellt werden. Damit sind auch die Abmessungen des Innenraumes etwas verändert worden. Alte Oberflächen sind nur noch in einem Stockwerk — dem unter der alten Zugangshöhe liegenden ersten Obergeschoß — und in einem Teil der Mauer­ öffnungen zu sehen. Zuverlässige Bauaufnahmen aus der Zeit vor der Zerstörung scheint es nicht zu geben. Den Baueingabeplänen von 1952 liegt ein Aufmaß des Erdgeschosses zugrunde, das damals der einzige zugängliche Teil der Ruine war.22 Die Pläne stellen eine unter baurechtlichen Gesichtspunkten prüfbare Absichtserklärung dar, versuchen aber nicht, eine exakte Befunddarstellung zu geben. 22 Um eine zuverlässigere Unterlage für die Dachkonstruktion zu bekommen, wurde außerdem mit Hilfe einer Feuerwehrleiter der Grundriß der Mauerkrone vermessen.

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Abb. 1.

Nürnberg, Burg. Fünfeckiger Turm und Luginsland von Westen. Aufnahme: Bildstelle des Hochbauamts 1919.

Abb. 2.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Grube mit dem freigelegten Mauerwerk der Süd­ seite unter dem heutigen Terrain. Aufn.: Bildstelle 11.8. 1988.

Abb. 3.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Bossenquaderwerk auf der Westseite. Streifblick vom Gerüst aus. Aufn.: Haas 1988.

Abb. 4.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Aufblick entlang der stumpfen Nordostkante vom Gerüst aus. Aufn.: Haas 1988.

Abb. 5.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm und Kaiserstallung von Westen. Aufn.: Bildstelle vor 1895.

Abb. 6. Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Südwestkante und Aufgang zur „Folterkammer“. Foto Marburg vor 1895.

Abb. 7.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm von Südwest und Westgiebel der Kaiserstallung. Aufn.: Bildstelle 1919.

Abb. 8.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm von Süden nach der Kriegszerstörung. Aufn.: Bild­ stelle etwa 1950.

Abb. 9.

Abb. 10.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Nordseite. Gerüstloch, das beim Zurichten des Quaders vorbereitet wurde. Aufn.: Haas 1988.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm, Nordseite. Gerüstloch, das erst beim Versetzen der Quader ausgearbeitet wurde. Aufn.: Haas 1988.

Abb. 11.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. „Verlies“ im Erdgeschoß nach der Kriegszerstö­ rung, Südseite und Südwestkante. Aufn.: Foto Seitz, etwa 1950.

Abb. 12.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Erdgeschoß beim Beginn des Wiederaufbaus gegen Südwesten. In der Westmauer der neu geschaffene Durchbruch. Aufn.: Bildstelle 18. 11. 1952.

Abb. 13.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm, Westwand des „Verlieses“ im Erdgeschoß mit dem Mauerdurchbruch von 1952, des Eingangsgeschosses und des 2. Obergeschosses. Aufn.: Bildstelle 18. 11. 1952.

Abb. 14.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Erhaltenes Mauerwerk im Südostwinkel des heu­ tigen 1. Obergeschosses. Aufn.: Bildstelle 1988.

Abb. 15.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Fenstertrichter eines Schlitzfensters im Eingangsgeschoß, Überdeckung mit Bogen­ stürzen. Aufn.: Haas 1988.

Abb. 16.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Aus der Nordmauer ausgesparte Nische im Ein­ gangsgeschoß mit Tonnengewölbe. Aufn.: Bildstelle 1988.

0

1

|»'|||M|| Abb. 17.

2 3^5 | |..I -f | -f-l 4 Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Grundriß des Eingangsgeschosses, ursprünglicher Zustand. Rekonstruktion Haas, Zeichnung P. Reus.

Abb. 18.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm von Nordosten. Aufn.: Bildstelle 1919.

Abb. 19.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Oberteil von Südosten. Aufn.: Linsinger 1988.

Abb. 20.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. In einen nachträglichen Ausbruch gesetzte gotische Tür im Südteil der Ostseite neben der „sechsten Ecke“. Aufnahme vom kriegsbeschädigten Dachraum der Kaiserstallung aus, Fr. Nagel 7. 9. 1942.

Abb. 22.

Nürnberg, Burg, Östlicher Halsgraben. Felsprofil unter dem Ostteil der Kaiserstallung. Umzeich­ nung von P. Reus 1991 nach der Maßaufnahme von W. Haas 1951.

I I I I | I I I -H-4

STADTGRABEN

ZWINGER

FUNDAMENTGRÄBEN JULI

Abb. 23.

1951

LUGINSLAND

Nürnberg, Burg, Schematischer Grundriß der Kaiserstallung mit Angabe der Lage des 1937 und wieder 1951 aufgedeckten Halsgrabens. Umzeichnung P. Reus 1991 nach W. Haas 1951.

Abb. 24.

Nürnberg, Burg, Kaiserstallung, Bogen im Fundament der Südmauer, mit dem der Felseinschnitt des Halsgrabens überbrückt wird. Aufn.: Fr. Nagel 17. 12. 1937.

Abb. 25. Älteste Darstellung des Fünfeckigen Turms der Nürnberger Burg im Hintergrund eines Altarbildes von Michael Wohlgemut um 1485. Straubing, St. Jakob; bis 1590 Nürnberg, Augustinerkirche.

Abb. 26.

Nürnberg, Burg, Fünfeckiger Turm. Innenraum (4. Obergeschoß gegen Süden?) mit der Einrichtung der „Folterkammer“. Aufn.: Bildstelle 1933.

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So sind die zuverlässigsten Dokumente, die über das Innere des Turmes Auskunft geben, außer den greifbaren Teilen der Bausubstanz, die Fotos, die kurz vor und gleich nach dem Beginn der Aufbauarbeiten gemacht wurden (Abb. 11 —13)23. Zufällig geben sie alle nur die Westseite und die anschlie­ ßenden Teile der Süd- und Nordseite wieder. Sie zeigen das Mauerwerk des Erdgeschosses und z. T. auch des alten Eingangsgeschosses. Nur eine Auf­ nahme reicht bis in das 2. Obergeschoß hinauf. Ein Geschoßabsatz zeichnet sich nirgends ab. Vermutlich umfaßte der ganze, außen durch sein Bossenquaderwerk gekennzeichnete Turmschaft einen mit einheitlichem Querschnitt in voller Höhe durchgehenden Schacht als Innenraum. Die sich abzeichnende Schichtung des Mauerwerks in Zonen, die sich deut­ lich voneinander unterscheiden, ist wohl nur zum Teil Folge der Brandzerstörung. Der unterste Abschnitt des Turmschachtes zeigt regelmäßiges Quader­ mauerwerk aus Sandstein. Das Netz der schmalen Fugen ist exakt recht­ winklig. Die Schichthöhen differieren im unteren Bereich stärker und werden nach oben zu gleichmäßiger. 21 Schichten lassen sich abzählen, von denen die meisten — soweit auf den Fotos zu erkennen — einheitlich umlaufen. Nur vier Schichten, die 10. —13., wechseln innerhalb der Südseite, nahe der Südwest­ ecke, die Höhe. Die unteren 9 haben ihre Oberflächen durch Abplatzen des Steines restlos verloren. Die erhaltenen Quaderspiegel setzen in der 10. Schicht ein. Von der 12. an sind die Sichtflächen zum größten Teil — wenn auch nicht ohne Schäden — erhalten. Die Quaderspiegel sind zwar eben abgearbeitet (im Gegensatz zu den Bossenquadern des Außenbaues), aber doch nur grob. Die Hiebspuren der „Fläche“ (des Steinmetz-Beiles) sitzen recht ungeordnet in den Sichtflächen. Randschläge sind nur streckenweise zu erkennen. In der 18. Schicht zeichnet sich eine Gerüstlage ab. An zwei Quadern der Westseite und an je einem in den fotografierten Teilen der Süd- und Nordseite ist unten eine Ecke ausgearbeitet, so daß ein Gerüstloch von schätzungsweise 12 X 12 cm Querschnitt entstand. Es ist offenkundig, daß es sich hier um einen einheitlichen Abschnitt des Turmes handelt. Die stärkere Beschädigung der unteren Zone ist durch das Ausbrennen des herabgestürzten Holzwerks verursacht. Dabei sind Steine ausgeglüht. Weiter oben war diese Beanspruchung sichtlich geringer, so daß ihr die meisten Steine standgehalten haben. Das ist die Zone des heutigen ersten Obergeschosses, in dem keine Vormauerung erforderlich war und das Quaderwerk mit einigen Reparaturen sichtbar belassen werden konnte (Abb. 14). Diese Geschoßteilung ist erst beim Wiederaufbau um der Raum23 Vor dem Arbeitsbeginn eine Aufnahme der Südwestecke, Foto Seitz, Bildstelle der Stadt Nbg. LR 691/2a; nach Arbeitsbeginn die Aufnahmen der Bildstelle vom 8. 11. 1952 L 51/1—IV.

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Ausnutzung willen geschaffen worden. Vorher, und sicher schon ursprüng­ lich, war der fast 5,5 m hohe und damit annähernd würfelförmige und nur von oben zugängliche Raum vom Felsboden bis zur Eingangshöhe ungeteilt. Er hatte auf der Südseite eine Lichtöffnung, die als nachträglich ausgeweitetes, erdgeschossiges Schlitzfenster schon beim Außenbau besprochen wurde. Es hatte einen sich nach innen weitenden Fenstertrichter, dessen Gewände aus­ gearbeitet sind, dessen Gewölbe aber ungestört geblieben ist: eine konisch zu­ laufende Tonne aus sieben Keilsteinschichten.24 Zur direkten Erschließung des Erdgeschosses und auch als Arbeitszugang wurde 1952 zu Beginn des Wiederaufbaus ein Durchbruch durch die West­ mauer geschaffen, ein weiterer dann auch noch durch die Nordmauer. Das „Verlies“ des Fünfeckturmes endete oben mit einer Balkendecke. In der 22. Schicht zeichnen sich in der Westmauer drei unregelmäßig verteilte und verschieden große Balkenlöcher ab, die anscheinend von Unterzügen stammen, denn die eigentlichen Dachbalken, mit einem Streichbalken entlang der Westwand beginnend, waren nord-südlich gespannt und banden in der 23. Schicht in die Nordwand ein. Drei Balkenlöcher sind im fotografierten Abschnitt zu erkennen, sechs oder sieben müßten es gewesen sein. In Höhe dieser Decke liegt im Westteil der Südmauer der ursprüngliche Zugang des Turmes. Im Eingangsgeschoß zeigen die Fotos von 1952 wieder stark zerstörtes Mauerwerk. Das könnte darauf hindeuten, daß die eben besprochene Balken­ decke dem Feuer eine Weile standgehalten hat und das von oben herab­ gestürzte Holzwerk solange in dieser Höhe brannte. Doch die brandzerstörten Mauerflächen bieten hier ein anderes Bild als im unteren Teil des Erd­ geschosses. Zwar ist auch hier ein orthogonales Fugennetz zu erkennen, doch die Schichthöhen und Steingrößen variieren stärker, und die Art, in der die Oberflächen abgesprengt sind, legt die Vermutung nahe, daß hier ein anderer Werkstein verbaut ist als im Geschoß darunter. Die Nische der Zugangsöffnung ist mit einer Tonne aus Keilsteinen über­ deckt. In der Westmauer sitzt, etwas außermittig, nach Norden verschoben, das Fenster, das am Außenbau als unteres Schlitzfenster registriert wurde. Sein Gewände nimmt dort die Höhe einer Quaderschicht von 50 cm ein, und sein Bogen ist aus dem Deckquader ausgearbeitet. Nach innen weitet es sich mit einem Fenstertrichter, der mit einer Folge von Bogenstürzen überdeckt war. Ein weiteres solches Fenster sitzt an der Südmauer (Abb.15). Östlich davon wurde 1953 der neue Eingang ausgebrochen, der die Mauerstärke nutzt, um einen Teil der Treppe unterzubringen, sodaß die neue hölzerne Außentreppe weniger hoch hinaufgeführt werden mußte. 24 Die Fensterbank liegt in Höhe der fünften Quaderschicht, der Bogen setzt mit der 10. Schicht an. Die 13. Schicht zieht über den Bogenscheitel, den sie tangiert, weg.

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In der Nordmauer liegt im Eingangsgeschoß die im Grundriß rechteckige Nische, die nur 1,03 m breit, aber 2,23 m tief ist und damit die Mauerstärke bis auf die 35 cm starke Außenschale durchdringt. Die Nische ist ganz nach Osten gerückt, sodaß ihre Ostwand mit der des Hauptraumes fluchtet, und sie ist mit einer Quadertonne aus fünf Schichten überdeckt. Eine schmale Scheitelschicht schließt das darunter beidseits aus je zwei breiten Schichten gebildete Gewölbe (Abb. 16). Die Öffnung, die unter der Fußbodenhöhe der als Abtritt gedeu­ teten Nische ins Freie führt, ist im Zusammenhang mit dem Außenbau bespro­ chen worden. Das quadratische Fensterchen, das den kleinen Raum heute belichtet, gehört nicht zum ursprünglichen Baubestand. Das Eingangsstockwerk schloß mit einer in West-Ost-Richtung gespannten Balkendecke ab. Das einzige Ruinenfoto, das so hoch hinaufreicht, zeigt in der Westmauer in regelmäßiger Anordnung sechs Balkenlöcher. Im folgenden Stockwerk war das Mauerwerk ähnlich stark verbrannt wie im Eingangsgeschoß. Es wirkt eher noch etwas kleinteiliger und ist an einigen Stellen mit Backstein ausgeflickt. In der Mitte der Westwand sitzt ein Fenster, dessen Trichter mit Keilsteinen überwölbt war (wie im Erdgeschoß), nicht mit Bogenstürzen überdeckt (wie im Eingangsgeschoß). Eine über dem alten Ein­ gang angeordnete große Südöffnung ist an ihren Backsteingewänden als spä­ terer Ausbruch zu erkennen. Weiter reichen die Auskünfte nicht, die den Ruinenfotos abzugewinnen sind. Uber das folgende Stockwerk ist nur zu sagen, daß es durch ein einziges Schlitzfenster von Süden her belichtet war.

Zur Funktion des Turmes in seiner ursprünglichen Gestalt

Der alte Schaft des Fünfeckturmes hatte im Innern der erhaltenen Höhe vier Stockwerke mit je einem annähernd quadratischen Raum. Die vier Räume hatten wohl alle die gleiche Grundfläche von 31m2 25 und waren durch Holz­ balkendecken getrennt. Als Verbindung zwischen den Geschossen wird man sich Leitern oder Blocktreppen vorzustellen haben. Da die Spannrichtung der Deckenbalken wechselte, können diese Treppen nicht übereinander ange­ ordnet gewesen sein, wie wir es von mehrgeschossigen Bauten gewohnt sind, sondern müssen die Steigrichtung, entsprechend den Balkenzwischenräumen, gewechselt haben. Das erdgeschossige „Verlies“, das nur von oben zugänglich war, ist nicht, 25 Im heutigen 5. Obergeschoß beträgt die Mauerstärke nur 1,6 m, sodaß ein Innenraum von ca. 58 m2 bleibt. Die Ausweitung könnte im Zusammenhang mit der späteren Aufhöhung des Turmes erfolgt sein.

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wie üblich, ringsum geschlossen, sondern hat auf der Südseite ein Schlitz­ fenster. Es entsprach damit etwa den Obergeschossen. Vom Eingang, der in das erste Obergeschoß führte, wissen wir nicht, wie er ursprünglich zugänglich war. Leiter, hölzerne Außentreppe oder Steg von einem nahegelegenen Bau sind die Möglichkeiten. Die Öffnung wird mit einem Türblatt verschließbar gewesen sein. Das Zugangsgeschoß (Abb. 17) hatte zwei Fenster, je eines auf der Süd- und der Westseite, und auf der Ost­ seite, dem Eingang diagonal gegenüber, die Abtrittnische. Ob sie mit einer Tür abgeschlossen werden konnte, ist nicht festzustellen. Das folgende zweite Obergeschoß hatte ebenfalls je ein Fenster im Süden und im Westen, das dritte nur eines auf der Südseite. Ob dann noch ein viertes Obergeschoß folgte, wie das Mauerwerk des Turmschaftes endete und wie er bedacht war, ist unbekannt. Der Turm dürfte als allseitig freistehendes Bauwerk errichtet worden sein. Die Ostseite ist durch die Mauerverstärkung und das Fehlen aller Öffnungen als Feindseite charakterisiert. Hier wurde mit Wurfgeschossen eines Angreifers gerechnet. Im Norden war die unzugängliche Außenseite, die sich allerdings auch unter klimatischen Gesichtspunkten für den Abtritt eignete. Die Südseite war die der Burg zugewandte, relativ offene Innenseite, und auch die Westseite war der Lage nach zum Teil dem Burg-Inneren zugewandt. Die hier angeord­ neten Fenster sagen dazu aber nichts aus. Dem Typus nach wird man den Fünfeckturm zwar nicht als echten Wohn­ turm, aber doch als bewohnbaren Turm bezeichnen dürfen. Die stattliche Größe seiner Innenräume und das Vorhandensein einer Abtrittnische sprechen dafür. Allerdings besteht kein Hinweis auf irgendeine Feuerstelle, doch ist das Turminnere nicht gut genug dokumentiert, um mit Sicherheit ausschließen zu können, daß es in einem der Obergeschosse einen Kamin gegeben hat. Daß wir heute Räume mit so kleinen und dazu unverschließbaren Fenstern nicht als wohnlich empfinden, ist jedoch kein stichhaltiges Gegenargument. Zudem sind hölzerne Einbauten, die Teilräume ausgrenzten, nicht undenkbar. Daß der Turm zu keiner Zeit die einzige Wohnmöglichkeit innerhalb des Burgteils war, wird man wohl unterstellen dürfen.

Die Auflföhung des Turmes und andere Veränderungen Der obere Teil des Turmes fällt vor allem wegen des hier verwendeten Back­ steins als ein anderer, nachträglich hinzugefügter Bauteil auf. Es handelt sich aber nicht einfach um das Aufsetzen eines zusätzlichen Stockwerks. Das Bossenquaderwerk ist ja nicht bis zu einer einheitlichen Höhe erhalten, sondern endet mit einer mehrfach springenden Linie, offenbar einer Abbruchkante. 74

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Der Aufhöhung ist also eine Beschädigung oder Zerstörung vorausgegangen. Reparatur und Veränderung gingen zusammen. Der Aufsatz ist im Material nicht einheitlich. Vor allem auf der Nord- und Ostseite liegen über dem Bossenquaderwerk zuerst, bis zu 6 Schichten hoch, andersartige Sandsteinquader, z. T. mit Bossen, die sich durch die Zangen­ löcher, aber auch durch das Steinmaterial und die Bearbeitung klar vom alten Turmschaft absetzen. Dessen Fluchten werden nicht überall eingehalten. Vor allem auf der Nordseite und im Bereich der „fünften Ecke“ gibt es einen Rücksprung von bis zu 15 cm. Die darunter vortretende oberste Schicht des alten Mauerwerks ist deshalb in diesen Abschnitten stark abgewittert. Nur auf der Südseite und einem Teil der Westseite setzt das Backsteinmauerwerk direkt und bündig auf dem älteren Quaderwerk auf. Backstein und jüngere Quader scheinen einem einheitlichen Bauvorgang zuzugehören. Auf der Nordseite wird nämlich der auf Quadern aufliegende Backstein wieder von Quaderschichten überlagert. So ist hier eine Verzahnung der Materialien entstanden, die beim Nacheinander einer Quader- und einer Backsteinphase nicht möglich wäre. Die verwendeten Backsteine haben ein durchschnittliches Format von 7,5 X 13,5 X 28 cm. Bei rd. 100 genommenen Einzelmaßen ergaben sich für die Flöhen Extremmaße von 6,7 und 8,0 cm, für die Breiten von 12,5 und 13,8 und für die Längen von 26,0 und 28,7. Zehn Schichten ergeben eine Höhe von 84,7 cm. Die Steine sind in einem sehr sorgfältig ausgeführten und regelmäßigen „gotischen“ Verband vermauert. In jeder Schicht wechseln Läufer — Binder — Läufer — Binder. An den Kanten sitzt jeweils neben den Eckbindern ein Vier­ telstein, um die Fugenüberdeckung zu erreichen. Die Backsteinmauer ist 92 cm stark und folgt in dieser Stärke der Außen­ kontur des Turmes, d. h. sie läßt die „fünfte Ecke“ als Ausweitung des Innen­ raumes offen. Da der Backsteinaufsatz beim Wiederaufbau 1953 durch die Anordnung von insgesamt 8 neuen Fenstern erheblich verändert worden ist,26 können über den Urzustand wieder nur ältere Abbildungen Auskunft geben (vgl. Abb. 1, 5, 7, 8). Die zeigen im Bereich des Aufsatzes sechs Öffnungen, von denen nur drei bei der Turmaufhöhung entstanden, die anderen drei aber nachträglich ausge­ brochen sind. In der Mitte der Süd- und der Westseite saß je ein aus der Mauer ausgespartes Schlitzfenster von 6 Schichten Höhe (also etwa 52 cm). Die Breite konnte mit einer Backsteinlage gut überbrückt werden und dürfte somit etwa 18—20 cm gemessen haben. 26 Die neuen Sandsteingewände sind so sorgfältig in das Backsteinmauerwerk eingebunden, und auch die Reparaturen im schadhaften Mauerwerk sind so akkurat ausgeführt, daß es fast nicht möglich ist, die Grenzen der unverändert erhaltenen, alten Maueroberflächen zu bestimmen.

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Auf der Nordseite (Abb. 18) ragte im oberen Teil des Backsteinaufsatzes ein Erker heraus. Er saß etwa im östlichen Drittelspunkt der Wandfläche auf zwei zweischichtigen Werksteinkonsolen, die in der Höhe mit den beiden obersten Quaderschichten der Aufhöhung übereinstimmten. Der Erker selbst bestand im 20. Jahrhundert nicht mehr. Die Fotos zeigen über den Konsolen im Back­ steinmauerwerk eine Unterbrechung, die ohne besondere Sorgfalt vermauert war. Zweifellos handelt es sich hier um einen Abtritt, der sicher nicht zufällig nahezu senkrecht über der Ableitungsöffnung der Abtritt-Nische im Ein­ gangsgeschoß angeordnet war. Auf der Ostseite liegt im geraden Teil, südlich neben der einspringenden „sechsten Ecke“, eine mit Backstein vermauerte Rechteck-Öffnung (Abb. 19). Von ihrer Werkstein-Rahmung sind drei Stücke, nämlich die Bank, das linke Gewände und der Sturz, noch in situ. Der Ausbruch, in den diese Gewände­ stücke eingesetzt wurden, war etwa 1,6 m breit und ebenso hoch. Er umfaßt die beiden obersten Schichten des alten Turmschaftes und zwei Quader­ schichten der Aufhöhung. Die Öffnung war außen mit einem umlaufenden Falz versehen und war im Lichten 1,05 m breit und 1,4 m hoch. Von der Süd­ ostkante hatte sie einen Abstand von 2,1 m. Eine gleichartige Öffnung, von gleicher Größe und Durchbildung, lag gerade gegenüber im Südteil der Westseite. Ältere Abbildungen (vgl. Abb. 1 u. 5) zeigen sie durch Backsteinvermauerung zu einem kleinen, vergitterten Fen­ ster reduziert. Ihretwegen waren sogar drei Schichten des alten, hier etwas höher anstehenden Bossenquaderwerks ausgebrochen worden. Beim Wieder­ aufbau wurde an ihrer Stelle, um eine Schicht angehoben und in der Breite und Höhe ausgeweitet, die Öffnung für einen neuen Holzerker geschaffen. Ebenfalls verschwunden ist die dritte nachträglich ausgebrochene Öffnung, ein Rechteckfenster im Nordteil der Westseite. Es dürfte etwa 0,6 m breit und 1,2 m hoch gewesen sein und hatte ebenfalls einen umlaufenden Falz an der Außenseite. Die Gewändepfosten sind aus je zwei Werksteinen zusammen­ gesetzt, die in der Laibung die Einlaßspuren eines Gitters trugen. Sonst ent­ sprach das Fenster in seiner Durchbildung den beiden eben besprochenen, etwas größeren und tiefersitzenden Öffnungen. Vier von diesen sechs Öffnungen sind unproblematisch. Es zeichnet sich im Backsteinaufsatz ein unteres Geschoß ab, das zunächst nur durch die beiden Schlitzfenster belichtet war und später das größere Westfenster dazubekam, und ein oberes, zu dem anscheinend seit jeher der Fachwerkaufsatz oberhalb der Brüstung gehörte. Hier war auf der Nordseite der Abtritt angeordnet. Schwer zu deuten sind die beiden tieferliegenden Öffnungen wegen ihrer Höhenlage und ihrer Größe. Sie sind zu groß, als daß man sie als Fenster ver­ stehen könnte, aber zu niedrig, um als Türen dienen zu können (wozu hätten Türen in dieser Höhe auch dienen sollen?). Auf der Westseite liegen die Unter­ kante des Sturzes dieser Öffnung und die Oberkante der Bank des nördlich 76

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benachbarten Fensters etwa in einer Höhe. Zwischen beiden kann also keine Geschoßdecke gelegen haben. Andererseits liegt die Bankhöhe der großen Öffnungen (361,6 üb. NN) nur wenig höher als der Scheitel des alten Schlitz­ fensters auf der Südseite (361,2). Wenn dazwischen eine Geschoßdecke gelegen haben sollte, hätten die beiden großen Rechtecköffnungen in Fußbodenhöhe angesetzt. Dann wäre ihre Höhe von 1,4 m für jeden denkbaren Zweck zu gering. Nimmt man zwischen dem obersten alten Schlitzfenster und den Fenstern im Aufsatz eine Geschoßdecke in einer zu beiden passenden Höhe an, so würden die beiden großen Öffnungen von ihr durchschnitten. Die Falze auf der Außenseite der Gewände rechnen mit Klappläden, die nach außen aufschlagen. Von ihren Angeln sind aber keine Spuren zu er­ kennen. Wenn die Deutungen als Fenster und Türen ausscheiden, bleibt die als (Auf­ zugs-?)Luke, doch auch hier finden sich leicht Gegenargumente. So müssen also die beiden nachträglich an der Grenze zwischen altem Turmschaft und Aufhöhung angelegten Öffnungen nicht nur selbst ungeklärt bleiben. Sie stören auch das sonst so einfache und klare Bild, das man sich aufgrund der Fensteranordnung von der Geschoßteilung im Innern machen könnte. Dieses ehemals vierte Obergeschoß, das innerhalb des Backsteinaufsatzes liegt, scheint durch ein Foto des ungestörten Zustandes dokumentiert zu sein. Die Bildstelle des Hochbauamtes besitzt eine „1933“ datierte Aufnahme, die sichtlich der damals neu geordneten Folterkammer galt (Abb. 26). Der Raum zeigt über einer mannshohen, verputzten Wandzone Backsteinmauerwerk und darin ein Fenster, das von einem Sandsteinsturz mit Zangenloch überdeckt wird. Die Treppe, die, einmal gewinkelt, ins nächste Geschoß hinaufführt, überschneidet eine Öffnung, die wie eine Türnische aussieht. Es dürfte sich um die auf dem Bossenquaderwerk fußende, vermauerte Öffnung ungeklärter Bedeutung im Südteil der Ostseite handeln (vgl. Abb. 19 und 21). Das Fenster wäre dann das von außen in den Abb. 5, 7 und 8 auf der Südseite in der Mitte des Backsteinaufsatzes erkennbare. Der rechte Teil des Raumes ist durch eine Fachwerkwand abgetrennt, die nicht die volle Stockwerkshöhe erreicht. Sollte es sich um einen wegen der Beheizbarkeit niedrig gehaltenen Stubeneinbau handeln? Seine Decke hätte dann etwa in der Bankhöhe des Fensters und der Sturzhöhe der „Tür“ auf der Westseite (vgl. Abb. 5) gelegen. Von einer Fort­ setzung dieser hypothetischen Decke könnte auch die Putzgrenze an der Süd­ seite stammen. Hier ist freilich über Vermutungen nicht mehr hinauszu­ kommen. Ablesen läßt sich dagegen, daß das Stockwerk mit einem Mauerrück­ sprung abschließt, auf dem die Decke aufliegt. Das folgende, durch natürliches Licht (?) hell ausgeleuchtete Geschoß müßte schon das oberste des Turmes gewesen sein, das über die Krone des Backsteinmauerwerks hinausgriff. Nachträglich ausgebrochene Öffnungen gibt es auch im alten Turmschaft. 77

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Im Südteil der Ostseite, unter der eben genannten, letztlich rätselhaft geblie­ benen Rechteck-Öffnung gibt es einen ungefähr rechteckigen Ausbruch, der etwa bei 355,0 m über NN ansetzt und über 6 Quaderschichten bis ca. 357,6, also 2,6 m hoch, reicht und 1,6 m breit ist. In diesem Ausbruch sitzt etwas ver­ tieft hinter der Mauerflucht das Steingewände einer spätgotischen Spitzbogen­ tür, die an der Außenkante profiliert war (Abb. 20). Sie stellte eine Verbindung zwischen dem zweiten Obergeschoß des Turmes und einem der Dachge­ schosse der Kaiserstallung her, war vor der Kriegszerstörung vermauert und wurde beim Wiederaufbau als Verbindung zwischen Turm und Jugendher­ berge wiederhergestellt. Da diese beiden Bauten in ihrer Nutzung aber getrennt sind, ist die Tür normalerweise verschlossen. Etwa in der gleichen Höhe (Schwellenhöhe ca. 355,3 üb. NN) gab es auch in der Südmauer achsial über der Eingangsöffnung eine rundbogig geschlossene Türöffnung, die mit glatt bearbeiteten Quadern außenbündig in einen fünf Quaderschichten hohen Ausbruch gesetzt war. Altere Fotos zeigen neben dem unteren Ende dieser Öffnung zwei Balkenlöcher. Es muß hier also einen bal­ konartigen Austritt oder einen Erker gegeben haben. Auf die Datierung aller aufgeführten Veränderungen wird noch zurück­ zukommen sein. Dabei werden sich noch weitere Fragen zur Begründung und Erklärung der einzelnen Eingriffe stellen. Als buchstäblich oberflächliche Veränderung ist schließlich noch zu regi­ strieren, daß auf den durch den Anbau der Kaiserstallung verdeckten Seiten — der „geraden“ Ostseite und der Südseite des Sporns — alle Bossen mit wenigen Ausnahmen abgearbeitet worden sind, sodaß hier zwar eine sehr rauhe, aber annähernd ebene Mauerfläche entstanden ist. Die Abarbeitung endet mit einer horizontalen Linie (etwa bei 359,5 üb. NN), sie reicht also nicht bis zum First der Kaiserstallung (Abb. 21). Die grundsätzlichen Veränderungen von 1953 (veränderte Geschoßteilung, Unterteilung der Stockwerke und neue, zusätzliche Fensteröffnungen) brau­ chen hier nicht im einzelnen besprochen zu werden.

Ein Befund zum östlichen Abschluß der Burg

Der Burgberg ist ein langgestreckter Felsrücken, der nach Norden und Süden steil, nach Osten und Westen aber wesentlich sanfter abfällt. Der Stadtgraben schneidet aus diesem Fels den höchsten Abschnitt aus und bildet im Norden und Westen auch die Begrenzung der Burg. Der ältere östliche Stadtgraben, dessen Verlauf heute durch die „Sieben Zeilen“ markiert wird, war aber nie zugleich Burggraben. Die Burggrafenburg, die den Ostteil des Burgberges ein­ nahm, und deren Westgrenze die Mauer bildete, die Amtmannswohnung und Walpurgiskapelle verbindet, kann nach Osten nur bis in die Nähe des Lugins78

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land gereicht haben. Dieser Turm ist ja 1377 von der Stadt auf ihrem Grund, doch möglichst dicht vor der Burggrafenburg errichtet worden. Die aber endete offenbar nicht mit dem Fünfeckturm, sondern griff im Süden und Osten noch um die Felskuppe herum, auf der er steht. Spätestens mit dem Bau der „Kaiserstallung“, die 1494/95 als „Kornhaus auf der Veste“ errichtet wurde, ist die Grenze zwischen städtischem und burggräf­ lichem Gebiet verwischt worden, doch ihre Spur ist tief in den Felsen einge­ graben und in diesem Jahrhundert schon zweimal stellenweise aufgedeckt worden. Beim ersten Ausbau der „Kaiserstallung“ zur Jugendherberge 1937/38 ist entlang dem Ostgiebel ein Heizkeller angelegt worden. Er brauchte aber nicht ganz aus dem Fels ausgestemmt zu werden, denn der senkte sich nach Westen zu noch unter die beabsichtigte Kellersohle ab. Friedrich Nagel, der rechtzeitig zur Stelle war, um das nur für kurze Zeit Freiliegende zu fotografieren,27 bezeichnete das Vorgefundene in der Beschriftung seiner Aufnahmen als „Pass-Schlucht“ oder „Pass-Senke“. Beim Wiederaufbau 1952/5328 sollte die Nutzung der Kaiserstallung intensi­ viert werden. Der Saal, der damals im unteren Teil des Dachkörpers eingebaut wurde, ist neben dem Fünfeckturm von Westen her ebenerdig zugänglich, braucht aber nach den Sicherheitsvorschriften einen zweiten unabhängigen Ausgang ins Freie. Dafür wurde in der Südostecke des Gebäudes ein Treppen­ haus angelegt und auf der Ostseite eine Türe. Die Umfassungsmauern waren in diesem Teil des Gebäudes völlig heruntergebrochen und mußten von der Erd­ gleiche an neu hochgeführt werden. Die alten Fundamente waren noch ver­ wendbar, doch die Treppe mußte neu fundiert werden. Dazu wurden unter dem Boden des 1937/38 angelegten Kellers zwei Gräben ausgehoben, die bis auf den Fels reichen sollten. Der wurde in der Osthälfte der beiden 7 m langen Fundamentgräben auch bald unter der Kellersohle angetroffen, doch nach Westen zu, wo er unter der Aushubgrenze von 1937/38 geblieben war, fällt er steil ab und liegt an der tiefsten Stelle etwa 3,5 m unter der Kellersohle, und das heißt 6,5 m unter dem Erdgeschoßniveau der Kaiserstallung (Abb. 22).29 Der parallele Fundamentgraben, der in einem lichten Abstand von ca. 3 m weiter nördlich auszuheben war, wurde nicht mehr ganz bis in diese Tiefe hin­ untergeführt, doch wurde durch Sondieren festgestellt, daß sich das Felsprofil 27 Die im Fotoarchiv der Städtischen Bildstelle verwahrten Aufnahmen tragen die Daten 17. 12. 37, 22. 12. 37 und 15. 1. 38. 28 Wie ein Jahr später beim Fünfeckturm waren der Städtische Sozialreferent Dr. K. Th. Marx Initiator und faktischer Bauherr, der Ortsverband der Nürnberger Wohlfahrtspflege Bauträger und Julius Lincke der mit der Planung und Durchführung beauftragte Architekt. 29 Das Felsprofil ist im Juli 1951 vom Verf., der damals örtlicher Bauleiter im Architekturbüro Lincke war, aufgenommen und der Befund in einer Zeichnung festgehalten worden, die den hier wiedergegebenen Umzeichnungen zugrunde liegt.

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in den beiden Gräben nicht nennenswert unterscheidet. Der hier aufgedeckte Felseinschnitt verläuft also in dem kurzen verfolgbaren Abschnitt recht genau senkrecht zur Südmauer der Kaiserstallung (Abb. 23), die nicht durchgehend auf dem Felsen gegründet ist, sondern den Einschnitt mit einem Backstein­ bogen überwindet (Abb. 24).30 Obwohl am Felsen keine Werkzeugspuren zu beobachten waren, kann kein Zweifel bestehen, daß es sich nicht um eine natürliche Einsenkung oder Erosionsrinne handelt, sondern um einen künstlich angelegten Graben. Offen­ sichtlich ist es ein Halsgraben, der die Burggrafenburg nach Osten begrenzte. 1951 war nicht das ganze Grabenprofil aufgedeckt. Die Sohlenbreite beträgt 1,10 m. Die feldseitige Böschung steigt in etwa gleichmäßiger Schräge unter ca. 65° an. Auf der Burgseite liegt knapp 1 m über der Sohle ein Absatz, doch konnte der weitere Verlauf nicht beobachtet werden, weil die Treppenfunda­ mente nicht weiter nach Westen geführt werden mußten. Im größten Teil der Kaiserstallung steht der Fels bis nahe unter dem Fußboden an. Sicher war der Graben auch nach Westen klar begrenzt. Er mag sich nach oben bis zu einer Breite von vielleicht 7 m geweitet haben. Dann hatte der Luginsland etwa 10 m Abstand von der äußeren Grabkante gehabt, der Fünfeckturm 30 m von der inneren. Mit den Befunden von 1937/38 und 1951 ist nicht nur eine Grenze wieder­ gefunden worden, deren genaue Lage seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert in Vergessenheit geraten war. Hier hat sich unter der Kaiserstallung auch ein älterer Typ des Grabens erhalten, der sonst überall der Modernisierung der Befestigung zum Opfer gefallen ist. Wir kennen ja hauptsächlich den Graben der jüngsten Stadtbefestigung mit seiner Sohlbreite in der Größenordnung von 20—25 m, den nur geringfügig geböschten Futtermauern, die ihm einen fast rechteckigen Querschnitt geben, und mit seiner Tiefe von über 10 m.31 Für den älteren Stadtgraben, von dem beim Herrenschießhaus und an der Peter-Vischer-Straße noch Abschnitte erhalten sind, waren im Bereich des Kornmarktes 22 m Breite und maximal 5 m Tiefe festzustellen.32 30 Auf der Nordseite der Kaiserstallung sind im Erdgeschoß-Mauerwerk westlich des Mitteltürm­ chens einige Keilsteine eines ehemals über 7 m weit gespannten Segmentbogens erhalten. Auch hier ist an das Überbrücken einer Lücke im Baugrund zu denken, doch kann es sich dabei nicht um die Fortsetzung dieses Halsgrabens nach Norden gehandelt haben. Während der Bogen im Südfundament nach wie vor in Funktion ist, wird der auf der Nordseite von mehreren Mauer­ öffnungen durchbrochen und hat damit seine Gewölbewirkung verloren. 31 Der Fußboden der Kaiserstallung liegt bei ca. 333,5 üb. NN, die Sohle des Hälsgrabens bei ca. 329 m, die Stadtgrabensohle an dieser Stelle bei ca. 325 m. 50 m weiter östlich liegt der Boden beim „Eppeleinssprung“ neben dem Fünfeckturm (ca. 345,5 m) 19 m über der Grabensohle (ca. 326,5 m). Mit deren Aufhöhungen durch Einfüllen ist in Grenzen zu rechnen. 32 Walter Haas: Ein Stück der älteren Nürnberger Stadtmauer beim Kornmarkt, in: MVGN 76 (1989) S. 161-173.

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Zwischen Luginsland und Maxtor wurden bei der Anlage der neuen Stadt­ befestigung im 14. Jh. ein Abschnitt des älteren Mauerringes beibehalten. Ob der Graben hier erweitert und vertieft oder einfach belassen wurde, ist vorerst nicht festzustellen. Er mag seinen heutigen Querschnitt schon im 13. oder erst im 15. Jahrhundert erhalten haben. Der Felsgraben unter der Kaiserstallung gehört jedenfalls einem ganz anderen Typus und sicher auch einer anderen Zeit an. Er könnte schon von den Anfängen der Burg im 11. Jh. stammen oder auch erst im 12. Jh. angelegt worden sein. In der Zeit, in der die Ostseite der Burg mit diesem Spitzgraben befestigt wurde, müssen wir uns aber die Gräben auf ihrer Nord- und Westseite ähnlich vorstellen. Die senkrechte Abarbeitung des Felsens auf der Nord- und West­ seite des Fünfeckturmes gehört sicher nicht zu dieser Phase der Befestigung, die wir nur generell als „romanisch“ bezeichnen können, sondern erst in den Zusammenhang der gotischen Stadtbefestigungen, wenn der senkrechte Fels­ absturz im Bereich des „Eppeleinssprunges“ nicht überhaupt erst beim Bau der Bastionen im 16. Jh. hergestellt wurde. Eine weitere Frage ist im Zusammenhang mit dem hier vorgestellten Hals­ graben noch zu besprechen. Wenn Nagel von Pass-Senke spricht, so liegt dem die Vorstellung zugrunde, die Burgstraße hätte sich als Weg über den Burgberg in Richtung zur heutigen Pilotystraße fortgesetzt und hätte im Scheitelbereich diesen Einschnitt benützt, um ein Stück Steigung zu sparen. So einleuchtend dieser Gedanke auch ist, die Befunde stützen ihn nicht. Gewichtigster Beleg der These ist eine Zeichnung im Besitz der Schlösserverwaltung, die um 1535 datiert wird und die Burg von Norden wiedergibt33. Sie zeigt einen Steg, der über den Stadtgraben führt und durch eine Mauerpforte auf den Verbin­ dungsbau zwischen Luginsland und Kaiserstallung zielt. Diese anscheinend einzige Darstellung des Stegs zeigt ihn zu einem Zeitpunkt, wo er nur in den Zwinger führen konnte, die Fortsetzung des Weges aber durch die Kaiserstal­ lung versperrt war. Der Bogen in ihrem Südfundament hat nicht etwa einen Hohlweg überbrückt, sondern eine bodenlose Stelle übersprungen. Irgend­ welche Wegspuren waren auf dem Felsen nicht zu erkennen. Da der Hals­ graben nach Süden, zur Stadt hin, ja irgendwie ausgelaufen sein muß, kann er von dieser Seite auch betretbar gewesen sein, aber für eine ordentliche Weg­ führung durch diesen Graben gibt es keinen Anhaltspunkt.

33 Abgebildet bei G. Pfeiffer und W. Schwemmen Geschichte Nürnbergs in Bilddokumenten, München 21970, Abb. 6. Zur Grobdatierung: Die Kaiserstallung (1495) steht, der Sinwellturm ist noch ohne Aufsatz (ca. 1560).

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Zur Einordnung des Fünfeckturms Historische Nachrichten über die Errichtung des fünfeckigen Turmes gibt es nicht. Baumaterialien, die eine absolute Datierung auf naturwissenschaftlichem Wege erlauben würden, gibt es auch nicht mehr, nachdem alles Holzwerk 1945 verbrannt ist.34 So ist die Bauzeit des Turmes nur durch die Bestimmung seines Ortes in der historischen Entwicklung zu erschließen, sei es durch das Ein­ ordnen in die lokale Geschichte, sei es durch das Einordnen in die Entwick­ lung der Bautypen, Bauformen und Bauweisen. Aus dem, was wir über die Geschichte Nürnbergs im Hochmittelalter wissen, ist allenfalls zu erschließen, daß es die Nürnberger Burg 1040 noch nicht, wohl aber 1050 gegeben habe.35 Aber bis ins 14. Jahrhundert fehlen Quellen, die es erlauben würden zu postulieren oder auszuschließen, daß es bestimmte Gebäude der Burganlage zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben habe. Nicht aus den historischen Nachrichten, sondern nur von den Bau­ werken selbst ist zu erfahren, wann sie errichtet wurden. Für die Errichtung unseres Turmes bieten sich zunächst als Kriterien an: der Typus des kantigen Bergfrieds aus Bossenquaderwerk, die fünfeckige Grund­ rißform, der Steinschnitt und die Durchbildung des Quaderwerks. Das gängige Bild der hochmittelalterlichen Burg ist am stärksten durch die Anlagen des 13. Jahrhunderts geprägt. Von Burgen des 12. oder gar des 11. Jahrhunderts haben wir nur in wenigen Fällen eine solid begründete Vor­ stellung. Hier besteht immer wieder die Gefahr, daß das aus späteren Bauten gewonnene Bild auf frühere Anlagen projiziert wird. Daß Burgen Baugruppen sind, die in einem Turm gipfeln, ist keineswegs selbstverständlich und gilt vor allem nicht zu jeder Zeit. Die aus Bossenquadern errichteten kantigen Bergfriede wurden anscheinend erst im späteren 12. Jh. zu einem geläufigen Element des Burgenbaus, und sie blieben es das ganze 13. Jh. hindurch. Da der Nürnberger Turm diesem Grundtyp zuzu­ rechnen ist, bliebe für ihn zunächst ein Datierungsspielraum, der das ganze 13. Jahrhundert einschließt, aber nicht vor der Mitte des 12. beginnt. Türme mit fünfseitigem Grundriß sind nicht selten. In der Literatur wird das auffällige Phänomen immer wieder angesprochen. Es sind immerhin meh­ rere Dutzend Beispiele, die von verschiedenen Autoren zusammengetragen

34 Außer der Jahresringdatierung von Holz wäre noch die Zeitbestimmung der Backsteine mittels Thermoluminiszenz denkbar, die aber nur Grobdatierungen zu geben vermag. 35 Das Fundament für diesen Schluß — Heinrich III. urkundet 1040 in Mögeldorf, 1050 aber in Nürnberg — ist freilich recht schwach. Aus der Grenzziehung zwischen den Diözesen Eichstätt und Bamberg entlang der Pegnitz im Jahr 1015 ist nur zu schließen, daß es Nürnberg als etwas den Fluß Ubergreifendes noch nicht gab.

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wurden.36 Die früheste Datierung ist dabei die des Fünfeckturms von Ehren­ breitstein (der aber nicht erhalten geblieben ist) in die Zeit des Trierer Erz­ bischofs Hillin (1152—69).37 Die meisten anderen werden um das Jahr 1200 oder in das 13. Jahrhundert datiert. Freilich ist der Nürnberger Turm dieser Gruppe nur mit einem Vorbehalt zuzurechnen. Für den „Sonderfall“ des fünf­ kantigen Bergfrieds gibt es als „Normalform“ den Grundriß, der aus einem Rechteck und einem Dreieck besteht, das eine Rechteckseite als Basis ver­ wendet. In Nürnberg aber ist das Dreieck asymmetrisch und nur vor einer halben Rechteckseite angeordnet (vgl. Abb. 17). Das ist eine anscheinend sin­ guläre Sonderform. Dennoch besteht zweifellos ein Zusammenhang. Dem Grundriß liegt in jedem dieser Fälle die Vorstellung zugrunde, daß der Bau­ körper einem Angriff besser standzuhalten vermöge, wenn er Rammböcken oder Ballisten-Geschossen nicht mit einer Front, sondern mit einer Kante und schrägen Flächen gegenübertritt. Das Ubereckstellen quadratischer Türme geht sicher auf die gleiche Überlegung zurück. Als weitere Begründung für die fünfte Ecke wird angeführt, daß so die Fläche vergrößert wird, auf der auf dem Turm die Verteidiger stehen können.38 Ein aktives Bekämpfen von Angreifern ist ja nicht aus den Innenräumen heraus möglich, — die Schlitzfenster eignen sich nicht als Schießscharten! — sondern nur von der Plattform aus, mit denen die Türme enden. Versucht man, das zeitliche Verhältnis der Nürnberger Sonderform zur „Normalform“ der Fünfecktürme zu bestimmen, so muß man als wahrschein­ lich annehmen, daß die „klassische“ Ausformung des Typus noch nicht geprägt und üblich geworden war, als der Nürnberger Turm gebaut wurde. Das Gegenargument, es handele sich um eine Variante, und eine Form müsse erst entwickelt sein, ehe sie variiert werden könne, dürfte weniger stichhaltig sein. So darf man das mittlere und späte 13. Jh., in dem besonders regelmäßig durchgebildete Fünfecktürme entstanden sind, wohl ausscheiden und den Nürnberger Turm eher in die Nähe der früheren Beispiele setzen dürfen, die in die Jahrzehnte um 1200 datiert werden. Die Betrachtung des Quaderwerks führt zu ähnlichen Ergebnissen. Bei den Kirchen setzt ein Quaderbau zwar schon im 11. Jh. allmählich ein, doch die

36 Otto Piper: Burgenkunde, München 1912 (Neudruck 1967), S. 182 ff. — Werner Bornheim gen. Schilling (wie Anm. 4), S. 81 f. — Alexander Antonow: Planung und Bau von Burgen im süddeutschen Raum, Frankfurt/M. 1983, S. 173 f. u. 189 f. — Udo Lissem: Randbemerkungen zu polygonalen Bergfrieden am Mittelrhein, bei besonderer Berücksichtigung von Fünfeck­ türmen. In: Burgen und Schlösser 84/1, 25 (1984), S. 53—65. — Hans Erich Kubach und Albert Verbeek: Romanische Baukunst an Rhein und Maas, Bd. 4, Berlin 1989, S. 539. 37 Bornheim (wie Anm. 4), S. 81. 38 So Antonow (wie Anm. 36), S. 174.

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gezielte Verwendung von Bossenquadern ist vor der Mitte des 12. Jahrhun­ derts nicht bekannt. Auf das Fehlen von Zangenlöchern und Steinmetzzeichen am Nürnberger Fünfeckturm hat Arens schon hingewiesen. Die schmalen Randschläge, die unterschiedlich weit ausladenden Bossen,, die stark wech­ selnden Schichthöhen und das gelegentliche Springen von Lagerfugen sowie die Verwendung von relativ kurzen Quadern sind Kennzeichen einer frühen Entwicklungsstufe. Der benachbarte Sinwellturm zeigt mit seinen in der Flöhe nur wenig schwankenden, gleichmäßig umgeführten Schichten, mit den breiten Randschlägen, den gleichmäßigen flacheren Buckeln, den gestreckteren Steinformaten und den Zangenlöchern Merkmale der beträchtlichen Weiter­ entwicklung, die sich im Lauf des 13. Jhs. ergeben hatte. Auch der ausgeprägte Sockel des Sinwellturms hat am älteren Fünfeckturm noch keine Ent­ sprechung. Zu vermerken ist weiter, daß von den Innenräumen keiner überwölbt war. Deshalb bestand auch keine Veranlassung, Treppen außerhalb der Räume unterzubringen. Dafür hätten sich ja die Umfassungsmauern mit ihrer großen Stärke angeboten, doch die Chance, mittels Aussparungen aus dem Mauer­ werk eine Bereicherung und Differenzierung der Raumbildung zu erreichen, ist kaum genutzt worden. Die Abtrittnische im Eingangsgeschoß ist kaum anders durchgebildet als die Türnische gegenüber. Die Vielzahl der Indizien, die zur Zeitbestimmung herangezogen werden können, und die sich in ihren Aussagen gegenseitig stützen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß keines davon zur Feindatierung geeignet ist. Innerhalb des genannten Zeitraumes, der das halbe 12. und das ganze 13. Jahrhundert umfaßt, erlauben sie aber doch eine beachtliche Einschränkung: Einerseits weisen sie alle auf den früheren Teil dieses Zeitraumes, andererseits gibt es keinen Grund, in dem Nürnberger Turm einen Vorreiter oder den Ausgangs­ punkt der ganzen Entwicklung zu sehen. So bleibt — und darin behalten Born­ heim und Arens in vollem Umfang recht — ein zeitlicher Schwerpunkt um das Jahr 1200 und ein Datierungsspielraum, der erst um 1170 und um 1220 einiger­ maßen sichere Grenzen findet. Natürlich ist es verlockend, in diesen Jahrzehnten nach dem Ereignis zu suchen, das den Bau des Fünfeckturms ausgelöst hat. Arens schlägt dafür die Übernahme des Burggrafenamtes durch die Hohenzollern 1192 vor. Dieser Zeitpunkt ist gar nicht unwahrscheinlich, wenn auch nicht mehr als eine bloße Vermutung innerhalb einer leidlich gesicherten Zeitspanne. Einzuordnen sind auch die Veränderungen am Fünfeckturm, sein Backstein­ aufsatz und die nachträglich geschaffenen Öffnungen. Der Aufhöhung muß eine erhebliche Beschädigung vorausgegangen sein, und ausdrücklich über­ liefert ist nur eine Zerstörung der Burggrafenburg: In einer Fehde zwischen dem Burggrafen und dem bairischen Herzog wurde sie 1420 in der Nacht vom 84

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20. zum 21. Oktober niedergebrannt.39 Durch die Überlieferung wird aber nicht bezeugt, daß diese Zerstörung die einzige war. So wird auch auf den „Städtekrieg“ von 1388 verwiesen, in dessen Verlauf es zu gegenseitigem Brandschatzen von städtischem und burggräflichem Besitz gekommen war. Ob davon auch die Burggrafenburg betroffen wurde, ist nicht bekannt. Natür­ lich können Bauschäden auch ohne Krieg entstehen, und es ist nicht unge­ wöhnlich, wenn keine Quelle davon berichtet. Das Backsteinmauerwerk läßt sich nur generell als spätgotisch ansprechen. Das Ziegelformat und der „gotische“ Steinverband finden sich in nahezu allen Backsteinteilen auf der Burg in ähnlicher Art wieder, z. B. am „Heimlichen Wächtergang“ zwischen Freiung und äußerem Burghof, an der Westmauer des inneren Burghofs, am Westgiebel des Palas und an den Obergeschossen des Heidenturms. So kann aus dem heutigen Baubefund nicht geschlossen werden, ob Instandsetzung oder Aufhöhung des Turms erst nach 1427 erfolgt sind, nachdem die Stadt diesen Teil der Burg gekauft hatte, oder schon früher irgendwann im 14. Jahrhundert. Anhaltspunkte gibt die älteste Abbildung des Turmes, die sich im Hinter­ grund eines Altarflügels findet, der um 1485 in der Wohlgemut-Werkstatt ent­ standen ist. Der Hochaltar der Augustinerkirche, zu dem diese Tafel gehört, wurde 1590 nach Straubing verkauft.40 Dort haben sich seine Teile erhalten. Das Bild gibt den Blick die Burgstraße hinauf recht realistisch wieder und zeigt den Fünfeckturm von Südosten (Abb. 25). Klar zu erkennen sind die Unterscheidung zwischen altem Turmschaft und Aufsatz, ein unten abge­ strebter Fachwerkerker vor der Zugangsöffnung (allerdings ohne Treppenauf­ gang), darüber die eine nachträglich eingebrochene Öffnung und auf der Ost­ seite die ebenfalls nachträgliche Spitzbogentür. Das mit Hohlziegeln gedeckte Walmdach (mit kurzem First in Nord-Süd-Richtung) hat an seiner Südwest­ ecke einen Fachwerkausbau, der in beiden Richtungen über die Mauerflucht vorspringt und mit Streben abgestützt ist. Über der fünften Ecke ragt ein Schornstein aus dem Dach, ein zweiter lugt über den Südwestgrat. Von den Aussagen dieses Bildes sind einige für unsere Fragestellung von Bedeutung: Die Spitzbogentür, die heute in das Dach der Kaiserstallung mündet, war schon da, ehe dieses städtische Kornhaus 1494/95 errichtet wurde. Da es sich eindeutig um einen Zugang handelt (vgl. Abb. 20), muß es hier schon vor dem Bau der Kaiserstallung ein hochreichendes Gebäude gegeben haben, das aber zum Zeitpunkt der Darstellung nicht mehr bestand. Ob es in burggräflicher Zeit entstanden war und beim Brand 1420 zerstört 39 Mummenhoff (wie Anm. 17a). — Theodor Hampe und Eberhard Lutze: Nürnberg, Leipzig 1934, S. 26. 40 Felix Mader: Die Kunstdenkmäler von Niederbayern VI, Stadt Straubing, München 1921, S. 42-45.

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wurde, oder ob es von der Stadt nach 1427 errichtet wurde (und warum es dann bis 1485 schon wieder verschwunden war), muß offen bleiben.41 Das oberste Stockwerk des aufgehöhten Turmes war ein Wohngeschoß. Die großen Fenster unterhalb der Traufe, die Schornsteine und auch der auf der Nordseite nachgewiesene Abtritterker lassen dies erkennen. Man wird hier aber nicht an eine Wohnung des Burgherrn, sondern an die eines Turmwäch­ ters zu denken haben. Der über die Ecke gesetzte Ausbau, der auch auf dem Holzschnitt der Schedel’schen Weltchronik von 1493 zu erkennen ist, muß wohl als Beobachtungsstand verstanden werden. Er wendet sich eindeutig der Kaiserburg zu. Diese von hier aus zu beobachten, hatte aber nur einen Sinn, solange der Burggraf seine Burg noch besaß, die Kaiserburg aber schon in städtischer Obhut war.42 Wenn diese Überlegung richtig ist, dann muß der fünfeckige Turm den Burgbrand von 1420 unzerstört überstanden haben. Weiter wäre damit erwiesen, daß er seinen Backsteinaufsatz schon früher bekommen hat.

Der Fünfeckige Turm in der Geschichte der Nürnberger Burg Spätestens seit den Arbeiten Mummenhoffs schien die Geschichte der Burg im wesentlichen geklärt. Die Ausgrabungen im Palas 1963/64 und 1989/90 zwingen jedoch zu beträchtlichen Korrekturen, und die von Bornheim und Arens geforderte Umdatierung des Fünfeckturms, die hier nur bestätigt werden konnte, kommt hinzu. Für das neue Bild der Burg, das nun gezeichnet werden muß, wird die Auswertung der Palasgrabungen entscheidend sein.43 41 Von einem Saalbau, der anstelle des späteren Kornhauses auf der Veste gestanden habe und 1247 während eines Festes eingestürzt sei, berichtet Lazarus Holzschuher (f 1523) in einem Memo­ rialbuch. Er gibt an, wo die Opfer dieses Unglücks bestattet wurden und stützt sich mit seiner Zeitangabe auf die Jahreszahl auf einen Grabstein in der Egidienkirche; Hampe/Lutze (wie Anm. 39), S. 26. Wenn Holzschuher den Sachverhalt und seine Datierung richtig wiedergibt (nach zweieinhalb Jahrhunderten darf dies ja nicht als selbstverständlich gelten!), kann dieser Saalbau mit der zweifellos jüngeren Spitzbogentür nichts zu tun gehabt haben. Zu erinnern ist aber auch daran, daß die Kaiserstallung im Westteil ihrer Nordmauer ein Stück eines Bauwerks einbezieht, das älter sein muß, aber, wie an den Bauformen und den Steinmetzzeichen des dazu­ gehörigen Mitteltürmchens abzulesen ist, sicher nicht vor das 15. Jahrhundert zurückgeht. Auch hier ist ein Zusammenhang mit der hochliegenden Turmtür nicht leicht festzustellen. 42 Diesen Schluß zieht auch Mummenhoff (wie Anm. 17a) S. 12. 43 Günther P. Fehring: Zur älteren Geschichte von Burg und Pfalz zu Nürnberg. In: Burgen und Schlösser 72/1,1972. — Ders. u. Günther Stachel: Grabungsbefunde des hohen und späten Mit­ telalters auf der Burg zu Nürnberg, in: JfL 28 (1968) S. 69. Die neuen Grabungen haben Anschlußbefunde nach Osten zu erbracht, die zur Deutung der 1963/64 gefundenen wesentlich beitragen werden. Die Befunde von 1989/90 sind bisher nur über Presseberichte bekanntgegeben worden. Ihre Durcharbeitung und Publikation bleiben abzuwarten.

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Fünfeckturm

Die Neubewertung der historischen Quellen hat Gerhard Pfeiffer bereits in Angriff genommen. Von der Warte des Fünfeckturmes aus lassen sich nur einige Striche skizzieren, die in das Bild einfließen können. Die Doppelkapelle der Kaiserburg ist als ein im wesentlichen einheitliches Werk, dessen Konzeption die beiden durch die Mittelöffnungen kommunizie­ renden Kapellenräume, die Altarräume und wenigstens ein weiteres Geschoß des Heidenturmes umfaßt, in der Spätzeit Barbarossas errichtet worden.44 Wenn sie, was wohl sicher ist, zwischen 1180 und 1190 entstanden ist, der Fünfeckige Turm aber, was als wahrscheinlich gelten darf, erst gegen 1200, dann ist die Kapelle älter. Zudem hat es im Palasbereich schon vorher eine Bebauung gegeben. So muß die These aufgegeben werden, der Fünfeckturm sei als Bergfried der salischen Kaiserburg entstanden, ehe sie durch den weiter westlich errichteten staufischen Burgbau ersetzt worden sei. Vielmehr wurde der Turm als Teil der Burggrafenburg errichtet. Zugleich wird jetzt unsicher, ob wirklich ein Teil der älteren Kaiserburg von den Burggrafen übernommen wurde, oder ob diese ihre Burg als eigenen Neubau neben die Kaiserburg gesetzt haben. Als ältesten Turm der Burg haben wir nun den Heidenturm anzusehen, allerdings nicht in seiner heutigen Gestalt und Höhe. Seine beiden Backstein­ geschosse sind als gotisch anzusprechen, bisher aber nicht näher datiert. Das auf dem Altarraum der Oberkapelle aufsitzende Werksteingeschoß ist, wie aus dem Fehlen von Zangenlöchern geschlossen werden darf, noch in romanischer Zeit errichtet, doch die Gliederung durch Kantenlisenen bricht schon nach zwei Schichten ab. Selbst wenn die Fortsetzung einer späteren Auswechslung der Kantenquader zum Opfer gefallen sein sollte — durch die Steinfarbe und durch einzelne Zangenlöcher setzen sich diese Mauerpartien ab —, deutet nichts darauf hin, daß die begonnene Rahmung dieses Geschosses jemals zu Ende gebracht war. Als der Fünfeckturm gebaut wurde, stand die Doppel­ kapelle also wahrscheinlich mit dem Torso ihres Chorturms. Die Gründe für die Annahme, es habe zum Zeitpunkt der Ersterwähnung Nürnbergs im Jahr 1050 dort schon eine Burg gegeben, bestehen nach wie vor. Über ihre Lage und ihr Aussehen sind von der Auswertung der Palasgrabung manche Erkenntnisse zu erwarten, doch werden sich auch wegen der begrenz­ ten Ausdehnung dieser Untersuchung nicht alle Fragen beantworten lassen. Die Frage nach der Frühgeschichte der Burggrafenburg ist z. Zt. völlig offen. Der Fünfeckturm wird kaum einen Vorgänger gehabt haben. Vor seiner 44 Die eingehende Untersuchung von Arens (s. Anm. 5) hat die seit langen geltende Datierung bestätigt, sie aber nur mit Vorsicht präzisiert. Er hat den Baubefund, der es nicht erlaubt, zwi­ schen oberer und unterer Kapelle und zwischen dem Turm und den Kapellen Zäsuren anzu­ nehmen, mit kunsthistorischen Argumenten bekräftigt. Nur die Säulen der oberen Kapelle lassen sich isolieren. Bis zu ihrer Lieferung hätte sich die Fertigstellung des Baues verzögert.

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Zeit war ein Bergfried ja gar kein notwendiger Bestandteil einer solchen Burg. Ob es hier schon eine Burganlage gegeben hat, die gegen 1200 mit dem Turmbau bereichert wurde, oder ob der Turm zu einer Neuanlage dieser Zeit gehört, ist ohne archäologische Untersuchung dieses Bereichs nicht zu klären. Am Turm selbst läßt sich feststellen, daß er ursprünglich nach Osten zu völlig geschlossen war, sodaß man geneigt sein konnte, in dem östlichen Steil­ abfall des Felsens die Grenze der Anlage zu sehen. Doch der 30 m entfernte Halsgraben bezog schon frühzeitig ein Vorfeld mit ein, zu dem sich der Turm dann auch durch eine später angelegte Tür öffnete. Der Fünfeckige Turm hat seinen historischen Ort als Ausgangspunkte der Stadtbaugeschichte Nürnbergs eingebüßt. Die Stellung, die ihm jetzt zuge­ wiesen werden muß, ist aber nicht von geringerer Bedeutung, zumal da sie nicht mehr im Nebel eines ungewissen Anfangs liegt, sondern wesentlich klarer zu bestimmen ist. Daß neben neuen Erkenntnissen manches andere wieder fraglich geworden ist, was sicher schien, ist gewiß kein Nachteil. Es gibt wieder so viel Fragwürdiges, d. h. Fragenswertes, was der Forschung im Zusammenhang der Nürnberger Burg- und Stadtgeschichte offensteht, daß man auch zuversichtlich neue Antworten erwarten darf.45

45 Für die intensive Unterstützung dieser Untersuchung ist neben Herrn Baudir. Dipl. —Ing. H. Haygis besonders dem Sachbearbeiter im Hochbauamt, Herrn H. Bäuerlein zu danken. Wichtig war der briefliche Gedankenaustausch mit Prof. Dr. G. Pfeiffer, der auch bereitwillig Einblick in seine Manuskripte gewährte. Für Auskünfte ist Herrn Stadtheimatpfleger, Baumei­ ster G. Stolz, zu danken, der 1952/53 im Architekturbüro J. Lincke der für die Planung und Bauleitung beim Wiederaufbau des Turms Zuständige war.

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REICHSINSTITUTIONEN UND REICHSBEHÖRDEN IN NÜRNBERG IM 15./16. JAHRHUNDERT Von Reinhard Seyboth

I. Einleitung Seit seinen frühesten Anfängen bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit zählte für Nürnberg die enge Verbindung zum Reich und dessen Oberhaupt zu jenen ehernen politischen Grundprinzipien, die es um keinen Preis aufzugeben gewillt war. Im Dienst für Kaiser und Reich sah die große fränkische Reichs­ stadt eine beinahe existentielle Aufgabe, die allerdings nicht auf reiner Selbst­ losigkeit beruhte, sondern vornehmlich auf konkrete Gegenleistungen abzielte, welche entscheidend dazu beitrugen, Nürnbergs Rangstellung im Reich dauerhaft abzusichern und weiter zu erhöhen. Diese oft beschriebene, spezifische Form der Reichstreue manifestierte sich in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Bereiche. Ein sehr wesentlicher davon ist Nürnbergs Bedeutung als Schauplatz zahlreicher Reichsversammlungen des hohen und späten Mittelalters.1 Ausschlaggebend für diese Funktion waren neben dem erwähnten besonderen Engagement für Belange des Reiches und der stets gesuchten Nähe zum Königtum vor allem günstige naturgegebene Faktoren, die für Nürnberg als Malstatt sprachen, sowie nicht zuletzt dessen große organisatorische Kompetenz, die es sich bei der Vorbereitung und Aus­ richtung vieler Reichsversammlungen über einen langen Zeitraum hinweg erwarb. Insgesamt betrachtet kann Nürnberg wohl von allen Reichsstädten — ausgenommen vielleicht nur Frankfurt — am unmittelbarsten mit dem Reich identifiziert werden, als jene Stadt, die in ihrer Blütezeit im späten Mittelalter die meisten reichsrelevanten Funktionen auf sich vereinigte. Außer den Reichsversammlungen ist hier u. a. die Verwahrung der Reichskleinodien zu nennen, die bekanntermaßen im Auftrag des Reiches durch den Nürnberger Rat unter Verschluß gehalten und als Symbole der monarchischen Herrschaft zu jeder Krönung eines römischen Königs nach Aachen gebracht wurden. Bislang weitgehend unbeachtet blieb hingegen jene Verbindung Nürnbergs mit dem Reich, die im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert durch eine Reihe hier etablierter Reichsinstitutionen und Reichsbehörden geschaffen wurde. Einige davon sollen im folgenden in ihren spezifischen Beziehungen zu Nürn­ berg dargestellt werden. Der erste Abschnitt behandelt die Rolle Nürnbergs als Legestätte bzw. Einsammlungsorgan für die Reichsanschläge der Jahre 1427, 1486 und 1487 und seine daraus ablesbare finanztechnische Kompetenz sowie 1

Vgl. dazu Reinhard Seyboth: Reichsstadt und Reichstag. Nürnberg als Schauplatz von Reichs­ versammlungen im späten Mittelalter, in: Festschrift für Alfred Wendehorst zum 65. Ge­ burtstag (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 52), hg. v. Jürgen Schneider und Gerhard Rechter, Neustadt a. d. Aisch 1992, S. 209—221.

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seine funktionale Bedeutung für die Finanzverwaltung des spätmittelalter­ lichen Reiches. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den beiden Reichs­ regimentern, die von 1500—1502 bzw. 1521 — 1524 jeweils zusammen mit dem Reichskammergericht ihren Sitz in Nürnberg hatten und dabei — ähnlich wie die Reichstage — die Stadt für längere Zeit in den Brennpunkt der Reichs­ politik rückten. II. Nürnberg als Legestätte von Reichsanschlägen 1. Die Hussitensteuer von 1427 Am 2. Dezember 1427 beschlossen die auf dem Frankfurter Reichstag versam­ melten Stände ein Gesetz zur Finanzierung eines großen Feldzuges gegen die Hussiten, die das Reich seit Jahren akut bedrohten.2 Es sah vor, von allen Reichsuntertanen — Geistlichen wie Laien — eine Steuer zu erheben und deren Ertrag für die Aufstellung eines Söldnerheeres zu verwenden. Bei der Ein­ hebung der Steuer erhielt Nürnberg eine wichtige, ja die führende Rolle zuge­ wiesen. Es wurde — zusammen mit Köln, Erfurt, Salzburg und Breslau — als eine von fünf Legestätten bestimmt, bei denen die Abgaben der im jeweils zugehörigen Sammelbezirk — terminei genannt — wohnhaften Untertanen abgeliefert werden sollten.3 Die genannten Städte wurden deshalb als Sammel­ orte gewählt, weil es sich um Zentren des Verkehrs bzw. der kirchlichen Ver­ waltung handelte. Die Nürnberg zugeordnete Terminei hatte eine besonders große geographische Ausdehnung4 und umfaßte drei Unterbezirke: Zum ersten gehörten alle Herzogtümer, Bistümer, Abteien, Prälaturen, Städte und Dörfer oberhalb Kölns, in den Kirchenprovinzen Mainz und Trier sowie in 2

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Druck des Steuergesetzes: Deutsche Reichstagsakten Ältere Reihe, Bd. 9: 1427—1431, hg. v. Dietrich Kerler, Göttingen 21956 [zit.: RTA ÄR 9], S. 91 — 110. Zu seiner Entstehung und Bewertung ausführlich Johann Gustav Droysen: Die Reichskriegssteuer von 1427, in: Bericht über die Verhandlungen der Königlich sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philologisch-historische Classe, Bd. 7, Leipzig 1835, S. 143 — 190. — Albert Werminghoff: Die deutschen Reichskriegssteuergesetze von 1422 bis 1427 und die deutsche Kirche. Ein Beitrag zur Geschichte des vorreformatorischen deutschen Staatskirchenrechts, Weimar 1916. — Friedrich von Bezold: König Sigmund und die Reichskriege gegen die Hussiten, 2. Abt.: Die Jahre 1423 — 1428, München 1875. — Werner Wild: Steuern und Reichsherrschaft. Studien zu den finanziellen Ressourcen der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich, Bremen 1984. — Vgl. darüber hinaus Christiane Mathies: Kurfürstenbund und Königtum in der Zeit der Hussitenkriege. Die kurfürstliche Reichspolitik gegen Sigmund im Kraftzentrum Mittelrhein (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 32), Mainz 1978, S. 222 f. — Sabine Wefers: Das politische System Kaiser Sigmunds (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 138), Stuttgart 1989, S. 148-155. Die Abgrenzung der Legestättenbezirke in den Artikeln 16—23 des Steuergesetzes. RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 101 — 104. Art. 18-20. RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 102 f.

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der Diözese Bamberg, zum zweiten alle italienischen Erzdiözesen und Diözesen, die Herzogtümer Savoyen und Mailand, das Fürstentum Orange, die Kommunen Venedig, Florenz, Genua, Bern, Zürich, Luzern sowie die Eid­ genossen, zum dritten schließlich die Kurpfalz, die bayerischen Herzogtümer sowie die Diözesen Würzburg, Regensburg, Passau, Konstanz, Augsburg, Chur, Eichstätt, Freising, Basel, Straßburg, Speyer und Worms. Die Abgaben aller in diesen weitverstreuten Gebieten ansässigen geistlichen und weltlichen Untertanen sollten nach Nürnberg fließen, ebenso diejenigen Gelder, die in der Köln zugeordneten Terminei eingingen. In Nürnberg befand sich also gewissermaßen die Hauptkasse für die Hussitensteuer. Hingegen sollte nach den Intentionen des Steuergesetzes das in den übrigen drei Legestätten Erfurt, Salzburg und Breslau eingehende Geld dort an Ort und Stelle verwahrt, also nicht an die Nürnberger Hauptkasse übersandt werden. In der Praxis wurde aber später das Legestättenprinzip ganz übergangen und die Gelder aus dem ganzen Reich direkt an die Zentralkasse in Nürnberg gezahlt.5 Zuständig für die Einsammlung der Steuer in den Legestätten war jeweils ein aus sechs Personen bestehender Ausschuß. In Nürnberg waren dies die Bürger Hans Tetzel, Hans Teufel, Ulrich Ortlieb, Fritz Holzschuher und Hermann Braun. Zu diesen Ratsmitgliedern kam Wilhelm von Werdenau, der Hauskomthur des Deutschordenshauses zu Nürnberg, hinzu.6 In allen Legestätten mußten die Sechsmännerausschüsse die Geldeingänge sorgfältig verzeichnen und in zwei Registern doppelt registrieren, um den Kurfürsten und Fürsten einen Überblick über den Ertrag der Steuer zu ermöglichen.7 Auch bei der vorläufigen Verwaltung und anschließenden kriegsmäßigen Verwendung der Hussitenabgabe sah das Steuergesetz eine maßgebliche Mit­ wirkung Nürnbergs vor. Je ein Beauftragter der sechs Kurfürsten sowie drei Vertreter der Frei- und Reichsstädte bildeten zusammen eine neunköpfige zen­ trale Kommission, die erstmals am 29. Februar 1428 und anschließend peri­ odisch jeweils am Sonntag nach Fronfasten oder auf Weisung des obersten Reichshauptmanns für den Hussitenkrieg in Nürnberg zusammentreten sollte. Dieses Amt hatte Kurfürst Friedrich I. von Brandenburg inne. Zusammen mit ihm sollte das Neunergremium über die Verwendung des in den Legestätten eingegangenen Geldes entscheiden und vor allem die Anwerbung von Truppen in die Hand nehmen.8 In Nürnberg wurde also auch das entscheidende Organ für die Organisation des Hussitenkrieges etabliert, dem die alleinige Verfü­ gungsgewalt über die Reichssteuer oblag. Welche drei Vertreter der Frei- und Reichsstädte in diesem Gremium mitwirken sollten, war im Steuergesetz nicht 5 6 7 8

Werminghoff (wie Anm. 2), S. 95. RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 249. Art. 28 Steuergesetz. RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 106. Art. 25 u. 26 Steuergesetz. RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 104 f.

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festgelegt, doch lassen sich in dieser Funktion nur Nürnberger Bürger und Ratsmitglieder ermitteln, nämlich Peter Volkmeir, Stefan Koler und Sebald Pfinzing.9 Die Reichsstadt hatte also nicht nur bei der Einsammlung, sondern auch bei der Verwendung der Hussitensteuer ein gewichtiges Mitspracherecht. Die ihr damit gleichzeitig zufallende umfassende Verantwortung kam deutlich zum Ausdruck in der vom Steuergesetz verlangten schriftlichen Verpflich­ tungserklärung des Rates gegenüber den Kurfürsten, das eingehende Geld getrewlichen einzunemeny zu behalten und außzugeben10. Konkret bedeutete dies, daß die Stadtführung das vereinnahmte Bargeld an einem sicheren Ort in Verwahrung zu nehmen hatte und ausschließlich auf Weisung des Neuner­ kollegiums in Teilbeträgen auszahlen durfte. Bei der Bewältigung der ihnen übertragenen Aufgabe, die Hauptkasse für die Hussitensteuer zu verwalten, ließ das aus den oben genannten fünf Nürn­ berger Ratsmitgliedern und dem Hauskomthur Wilhelm von Werdenau beste­ hende Sechserkollegium große Sorgfalt walten. Alle eingehenden Gelder wurden, wie es das Steuergesetz verlangte, in einem besonderen Register, dem Liber Tewthunicorum des einnemens, notiert, das den Zeitraum vom 30. Juni 1428 bis zum 2. Juni 1430 umfaßt. Ebenso vermerkt ein bis zum 14. Februar 1431 reichendes Ausgabenverzeichnis alle ausgezahlten, d. h. für Kriegszwecke verwendeten Beträge.11 Vor allem das Einnahmenregister spiegelt die bunte Vielfalt der aus den verschiedenen Regionen des Reiches in der zentralen Steuerkasse eingehenden Münzsorten wider. Sie unterscheiden, benennen und wertmäßig spezifizieren zu können, erforderte sicherlich genaueste münz- und währungstechnische Kenntnisse, wie sie nur im Umgang mit Geld geübte Per­ sonen haben konnten. Hierzu gehörte auch die exakte buchungsmäßige Erfas­ sung und Verrechnung der Gelder, die Erstellung von Zwischenrechnungen, Rechnungsabschlüssen usw. Für all diese Anforderungen brachten die vielfach als Kaufleute im europäischen Warenhandel engagierten Nürnberger Rats­ herren die besten Voraussetzungen mit. Auch sonst war der Stadtführung sichtlich an einer genauen und verantwort­ lichen Abwicklung der Steuereinhebung gelegen. Allen Versuchen zu Unkor­ rektheiten, die den Bestimmungen des Steuergesetzes zuwiderliefen, trat sie energisch entgegen. So lehnte der Nürnberger Rat das Ersuchen Kölns und anderer Städte, das dort erhobene Hussitengeld direkt in Empfang zu nehmen, mit dem Hinweis ab, daß dies niht wol füblichen sei, und verwies auf das dafür 9 RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 230 Anm. 1, S. 300. 10 Art. 27. RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 105 f. 11 Der erste Teil des Einnahmenregisters ist in Form von Inhaltsangaben und einigen Originalaus­ zügen ediert in RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 248 f. (Anmerkungen), der zweite Teil vom 25. Februar 1429 bis zum 2. Juni 1430 fast vollständig im Wortlaut ebd., S. 253 f. Vom Ausga­ benregister sind nur einige Auszüge gedruckt ebd., S. 230 Anm. 1 u. S. 299 f. Anm. 2. Beide Verzeichnisse sind erwähnt bei Bezold (wie Anm. 2), S. 154 Anm. 1.

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zuständige Sechserkollegium.12 Auch eine Unterstützung der Bemühungen des Kölner Erzbischofs und Pfalzgraf Johanns, das bei ihnen erhobene und in Nürnberg deponierte Geld zur Verwendung für ihre Truppen im Hussitenkrieg wieder zurückzuerhalten, wies der Rat energisch zurück.13 Das Frankfurter Hussitensteuergesetz von 1427 erbrachte allerdings nicht die Erträge, die man sich von ihm erwartet hatte. Von den bis Juni 1430 gezahlten Geldern, darunter 31780 rheinischen Gulden als Hauptposten, konnten nur ein bescheidenes Truppenkontingent und sonstige Aufwen­ dungen für den Hussitenkrieg finanziert werden. Schuld an diesem finanziellen Mißerfolg trugen weder der oberste Hauptmann Kurfürst Friedrich I. von Brandenburg noch seine neun kurfürstlichen und städtischen Beigeordneten, die immer wieder Mahnschreiben an säumige Zahler ausgehen ließen,14 schon gar nicht die gewissenhaften Nürnberger Verwalter der Hauptsteuerkasse, die nur für die ordnungsgemäße Verbuchung der Einnahmen und Ausgaben zuständig waren. Ausschlaggebend war letztlich ganz einfach die mangelnde Zahlungsbereitschaft der Reichsstände. Doch nicht dieses allgemeine Ergebnis der Hussitenabgabe von 1427 gilt es hier herauszustellen, sondern die spezifische Rolle, die Nürnberg im Zusam­ menhang damit spielte. Sie ist, wie gezeigt werden konnte, in mehrfacher Hin­ sicht bemerkenswert und aufschlußreich. Zweifellos ist die Tatsache, daß unter all den zahlreichen Reichsstädten gerade Nürnberg als Legestätte der größten Terminei, als Verwalter der Hauptsteuerkasse sowie als Sitz des für die Kriegs­ organisation zuständigen neunköpfigen Zentralausschusses ausgewählt wurde, ein deutliches Indiz für die hohe Meinung der Zeitgenossen von Nürnbergs finanztechnischer Erfahrung und Kompetenz, die für die Steuereinsammlung vonnöten war, sowie der in Gelddingen unabdingbaren Seriosität und Zuver­ lässigkeit. Es scheint denn auch ganz selbstverständlich und unstrittig gewesen zu sein, daß die Stadt mit den genannten Aufgaben und Funktionen betraut wurde, galt sie doch zu Beginn des 15. Jahrhunderts als führender Finanzplatz des ganzen Reiches, während ihre Reichstreue gerade auch im stets wichtigen monetären Bereich zum Ausdruck kam, u. a. durch zahlreiche König Sigmund gewährte Darlehen.15 12 RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 282. 13 RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 282 Anm. 2. 14 Z. B. RTA ÄR 9 (wie Anm. 2), S. 230,290 f. Vgl. auch das insgesamt nur relativ wenige Namen umfassende Verzeichnis der Reichsstände, die das Hussitengeld tatsächlich gezahlt haben. Ebd., S. 248 f. 15 Nürnbergs enge finanzielle Verbindungen mit dem Königtum insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert sind herausgearbeitet bei Wolfgang von Stromer: Oberdeutsche Hochfinanz 1350-1450 (VSWG, Beihefte 55-57), Wiesbaden 1970, S. 219-294. - Peter Moraw: Königtum und Hochfinanz in Deutschland 1350—1450, in: ZGO 112 (1974), S. 23—34. — Paul-Joachim Heinig: Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389-1450. Ein Beitrag zur

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Die maßgebliche Rolle, die Nürnberg bei der Einsammlung der Hussitensteuer von 1427 spielte, blieb kein einmaliger Fall, begründete vielmehr für die Reichsstadt insofern in gewisser Weise eine Tradition, als sie Jahrzehnte später, bei der Erhebung der Reichsanschläge von 1486 und 1487, erneut als Legestätte bestimmt wurde. 2. Der Frankfurter Reichsanschlag von 1486 Das zentrale Thema des Frankfurter Reichstags von 1486 war die Frage, wie der ungarische König Matthias Corvinus, der seit Jahren Krieg gegen Kaiser Friedrich III. führte und bereits einen Großteil der habsburgischen Erblande besetzt hatte, von dort wieder vertrieben und sein weiteres Vordringen ins Reich verhindert werden konnte. Die Organisation des zu diesem Zweck geplanten Reichskriegs war in erster Linie ein finanzielles Problem, zu dessen Bewältigung der Kaiser, sein Sohn König Maximilian sowie die Reichsstände eine ganze Reihe unterschiedlicher Pläne entwickelten. Man einigte sich schließlich auf den Vorschlag Maximilians, zur Befreiung der Erblande eine Eilende Hilfe zu erheben, von der die erste Hälfte von ihm selbst, den Kurfür­ sten, Erzherzog Sigmund von Tirol sowie den zahlreichen Reichsstädten, die zweite Hälfte von den Fürsten, Prälaten und Grafen des Reiches aufgebracht werden sollte.16 Hinsichtlich des Termins und des Modus der Zahlung plä­ dierten die Kurfürsten zunächst dafür, das Geld solle uf zeit, so man einig wurdy und hinder die, der man sich vereyniget, hinderlegt werden.17 Erst im Verlauf ihrer weiteren, von Frankfurt nach Köln verlegten Beratungen ent­ schieden sich Kaiser und Stände für Nürnberg als Legestätte.18 Dort sollte bis zum 3. Juni 1486 die Eilende Hilfe bezahlt werden den, so es bevolhn wirdt [y sie] ein[zu]nemenXf). Der Kaiser kündigte an, er und evtl, auch die Kurfürsten würden einen oder mehrere Beauftragte nach Nürnberg schicken, die das Geld an sich nehmen und es für Kriegszwecke verwenden sollten.20 Die Ankunft des angekündigten kaiserlichen Bevollmächtigten in Nürnberg — die Kurfürsten schickten schließlich doch niemand — ließ etliche Wochen

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deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 108), Wiesbaden 1983, S. 21—23, 42—44, 62—70 u. ö. Der Vorschlag Maximilians in Deutsche Reichstagsakten Mittlere Reihe, Bd. 1: Reichstag zu Frankfurt 1486, bearb. von Heinz Angermeier unter Mitwirkung von Reinhard Seyboth, Göt­ tingen 1989 [zit.: RTA MR 1], Nr. 331, dazu auch Nr. 332 S. 380. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 334. Welche Überlegungen und Beweggründe zu dieser Wahl führten und ob darüber Verhand­ lungen stattfanden, geht aus den Reichstagsakten nicht hervor. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 872 S. 808. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 376. Dies teilte auch Nürnberg am 6. Juni mehreren Städten mit. Ebd., Nr. 387 S. 428.

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auf sich warten. Am 28. Juni antwortete der Rat auf eine entsprechende Anfrage Straßburgs, es sei noch nymant von der k[ai]s[er]l[ichen] M[ajestä]t wegen hie, der in den dingen handel ader bevelh habe21. Erst am 1. Juli teilte der Kaiser Nürnberg mit, er habe den Graner Erzbischof und Administrator von Salzburg, Johann Beckensloer, beauftragt, die in Nürnberg eingehende Eilende Hilfe für Belange des Krieges gegen König Matthias von Ungarn zu verwenden, und befahl, diesem die der Stadt auferlegte Summe zu bezahlen.22 Erzbischof Johann von Gran war einer der engsten politischen Vertrauten Friedrichs III. und bereits in vielen wichtigen Angelegenheiten, zuletzt bei der Vorbereitung der Königswahl des Kaisersohnes Maximilian auf dem Frank­ furter Reichstag, für die Habsburger tätig gewesen.23 Am 21. Mai hatte ihn der Kaiser zum Statthalter in seinen Erblanden ernannt und ihn mit der Anwer­ bung von Truppen und anderen organisatorischen Maßnahmen zur Abwehr der Ungarn beauftragt.24 Um den 10. Juli traf Erzbischof Johann in Nürnberg ein, um die Gelder der Eilenden Hilfe in Empfang zu nehmen.25 So quittierte er am 20. Juli den Kur­ fürsten von Mainz, Köln, Pfalz, Sachsen und Brandenburg die Zahlung von jeweils 3000, also insgesamt 15000 Gulden, die der Kurmainzer Sekretär Ewald Weimar als kurfürstlichen Anteil an der Eilenden Hilfe überbracht hatte.26 Auch die Beiträge einiger Städte, darunter Memmingen, Schwäbisch Gmünd und Kempten, nahm er noch in Nürnberg in Empfang27 und ließ sie durch Boten der Reichsstadt in die Erblande bringen, um damit Truppen anzu-

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RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 414. Auch Esslingen hatte am 16. Juni entsprechend nach­ gefragt. Ebd., Nr. 402. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 416. Zur Person Beckensloers vgl. Friederike Zaisberger: Bernhard von Rohr und Johann Becken­ sloer, Erzbischof von Gran, zwei Salzburger Kirchenfürsten in der zweiten Hälfte des 15. Jahr­ hunderts, phil. Diss. masch. Wien 1963. — J. Gottschalk: Der Breslauer Johann Beckensloer, Erzbischof von Gran und Salzburg, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 27 (1969), S. 98—129. — Heinz Dopsch, Salzburg im 15. Jahrhundert, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 1,1, hg. von Heinz Dopsch, Salzburg 1981, S. 437—593, hier S. 553—563. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 542, 544. Am 11. Juli teilten Gabriel Nützel und Ulman Stromer Straßburg seine Anwesenheit in der Stadt mit. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 421. Vom 17. Juli datiert ein Schreiben des Kaisers an den Erzbischof mit der Aufforderung, alles zu tun, damit das vom ungarischen König hart bedrängte Wiener Neustadt mit dem gelt, so du von unsern wegen eingenomen hast und wir dir furan zuordnen, gespeist und errett werde. Ebd., Nr. 546. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 365. Über die Überbringung informierte Nürnberg Mem­ mingen am 28. Juli. Ebd., Nr. 432. Dies geht hervor aus der Gesamtabrechnung über alle Einnahmen und Ausgaben der Eilenden Hilfe, die Erzbischof Johann 1487 auf Weisung des Kaisers erstellte. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 551, die Einnahmen hier S. 533 f. Zur Zahlung Memmingens vgl. auch Nr. 433.

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werben.28 Am 2. August verließ er, wie es scheint in Eile, Nürnberg in Rich­ tung österreichische Erblande.29 Bis zur Abreise des Erzbischofs hatte der Nürnberger Rat nichts unmittelbar mit der in Frankfurt beschlossenen Eilenden Hilfe zu tun gehabt. Dies änderte sich, als der Kaiser am 4. Oktober 1486 den Reichserbmarschall Sigmund von Pappenheim beauftragte, nach Nürnberg zu gehen und dort die Eilende Hilfe der Reichsstädte einzusammeln, von denen die meisten ihre Anteile noch nicht bezahlt hatten.30 Von dem eingenommenen Geld sollte Sigmund Erzbischof Johann von Gran auf dessen Ersuchen entsprechende Teilbeträge zur Verwen­ dung für den Ungarnkrieg übersenden.31 Den Nürnberger Ratsherren wurde vom Kaiser die Aufgabe zugewiesen, das eingehende Geld hinder euch zu nemen. Sie waren also, ähnlich wie schon 1427, verantwortlich für die sichere Verwahrung des eingezahlten Bargelds. Davon sollten sie — in Absprache mit dem Erbmarschall — Auszahlungen an Erzbischof Johann vornehmen.32 Der Rat betraute mit dieser Aufgabe Hans Tücher d. A., in dessen Hand die Ein­ sammlung und Verrechnung der städtischen Hilfsgelder lag. Im Namen des kaiserlichen Beauftragten Sigmund von Pappenheim wurden nur die Einzah­ lungsquittungen ausgefertigt.33 Wie aus seiner für den Kaiser erstellten Abrech­ nung34 hervorgeht, nahm Hans Tücher in peywesen H. Sigmüntz, marschalk, zwischen dem 27. November 1486 und dem 26. Februar 1487 von 16 Reichs­ städten insgesamt 15724 Gulden ein. Teilsummen davon zahlte er — auf beson­ dere Weisung des Kaisers — an Abgesandte einiger von König Matthias bedrängter österreichischer Städte, darunter Wiener Neustadt und Krems, aus,

28 In seiner Gesamtabrechnung verzeichnet Erzbischof Johann mehrfach Kosten für besagte Boten. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 551 S. 552, 553. Geld zahlte er auch den Schreibern, so zu Nurmberg und anderstwo musterzedel geschriben haben. Ebd., S. 556. 29 Am 31. Juli informierte Nürnberg Windsheim über die bevorstehende, am 11. August Heil­ bronn und Wimpfen über die am 2. August erfolgte Abreise des Erzbischofs. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 434, 444. Ein möglicher Grund für den überstürzt wirkenden Weggang war die Einnahme von Stein an der Donau durch König Matthias, über den der Straßburger Gesandte am Kaiserhof am 31. Juli berichtete. Er äußerte diesbezüglich auch seine Besorgnis, es werd grosser schad darus entsten, und das mein H[err] von Gran solichs nit wenden mug, dan mich bedunkt, er werd in sein bevelh von grossen leuten vast verrucht. Ebd., Nr. 904 S. 872. Ähnlich in seinem Schreiben vom 1. August: Darumb [d. h. wegen des Falls von Stein] wer not, das furderlich darzu getan wurd. Dann ich versten, das nieman willig ist, dem B[ischo]f von Gran nach seinem bevelh gehorsam zu beweisen. Ebd., Nr. 905 S. 873. 30 RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 458. Die Aufforderung Friedrichs an die Städte, ihren Anteil zu Händen Sigmunds von Pappenheim in Nürnberg zu bezahlen, ebd., Nr. 460. 31 RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 483. 32 Tiroler Landesarchiv Innsbruck, Sigmundiana XIV/542. Vgl. RTA MR 1 (wie Anm. 16), S. 483 Anm. 2. 33 Eine Liste von Quittungen RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 527. 34 RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 522.

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weitere 3312 Gulden an Beauftragte Johanns von Gran.35 Zusammen mit Aus­ zahlungen nach dem 26. Februar flössen insgesamt 5672 Gulden aus der Nürn­ berger Sammelkasse an den Erzbischof für Zwecke der Kriegsführung.36 Der Transfer der Gelder lag in der Hand des Nürnberger Ratsherrn Niklas Groß d. A.37 1700 Gulden der genannten Summe überwies er dem Erzbischof nicht in bar, sondern kaufte ihm dafür Stoffe {gewannt). Dye habe ich wider hinausgeben umb 2550 fl. rh., pringt der gewin an den tuechen 850 fl. rh.} vermerkte der Erzbischof über dieses Geschäft in seiner Gesamtabrechnung.38 Diese Nachricht findet eine entsprechende Ergänzung in der Feststellung, daß ein Großteil des Nachschubs an Salpeter und Pulver für die kaiserlichen Truppen auf dem österreichischen Kriegsschauplatz aus Nürnberg stammte.39 Auch am Handel mit anderem Kriegsbedarf waren Nürnberger Kaufleute ver­ mutlich beteiligt. Dadurch deutet sich ein interessanter Zusammenhang zwi­ schen finanztechnischer und wirtschaftlicher Betätigung an, der Nürnbergs Erfolge als eines der führenden Wirtschafts- und Handelszentren des spät­ mittelalterlichen deutschen Reiches exemplarisch verdeutlicht. Nürnbergs Beteiligung an der Einsammlung der Eilenden Hilfe von 1486 wurde schließlich förmlich abgeschlossen durch eine Urkunde Kaiser Fried­ richs III. vom 15. Juli 1487, in der dieser dem Rat die ordnungsgemäße Ver­ rechnung und Ablieferung der von den Reichsstädten bezahlten Eilenden Hilfe bestätigte und ihn wegen aller handlung, darunder ergangen und geübt, genzlich quity ledig und los sagte.40

35 Über diese Auszahlungen vgl. auch das von der kaiserlichen Kanzlei angefertigte Verzeichnis in Haus-, Hof- und Staatsarchiv [zit.: HHSA] Wien, Fridericiana 6, Konv. 1487, fol. 175a u. b sowie die Mitteilung Nürnbergs an den Erzbischof von Gran vom 23. Januar 1487 in StAN, Reichsstadt Nürnberg [zit.: Rst. Nbg.], Briefbücher [zit.: BB] 40, fol. 21b. 36 Diese Summe nennt der Erzbischof in seiner Gesamtabrechnung. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 551 S. 534. 37 Am 23. Januar 1487 teilte Niklas Groß dem Erzbischof mit, derzeit seien in der Kasse der Eilenden Hilfe nur 212 Gulden vorhanden. Den demnächst zu erwartenden Anteil Augsburgs dürfe Nürnberg ohne ausdrückliche Weisung des Kaisers nicht auszahlen. StAN, BB 40, fol. 21b—22a. — In seiner Gesamtabrechnung verzeichnet der Erzbischof unter dem Datum 7. November 1486 Kosten für einen poten gen Nürnberg zu Niclasen Groß. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 551 S. 559. 38 RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 551 S. 534. 39 Am 30. Januar 1487 wies der Kaiser Sigmund von Pappenheim und den Nürnberger Rat an, die jetzt seiner Kenntnis nach in der Stadt befindlichen 80 Zentner Salpeter aufzukaufen. HHSA Wien, Fridericiana 6, Konv. 1487, fol. 9. — Johann von Gran vermerkt in seiner Abrechnung, er habe für 504 Gulden zu Nurmberg kauft saliter und pulver 36 Zentner und die geschickt gen Prugk an der Mur, daz man es mit der speis in die Neustat bringen sol. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 551 S. 557. 40 StAN, Rst. Nbg., Urkunden des siebenfarbigen Alphabets Nr. 3617. Regest: RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nt. 525. Unter dem Urkundentext steht der Kanzleivermerk: So Hans Tücher der eher von eins ratz wegen eingenomen und also verrecket hot etc. 15724 fl.

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Das Engagement und Pflichtbewußtsein, das Nürnberg bei der Bewältigung der ihm von Reichs wegen übertragenen Aufgabe an den Tag legte, hinderte es allerdings einmal mehr nicht daran, auch an seinen eigenen Vorteil zu denken. So setzte es frühzeitig alles daran, die ihm selbst auferlegte Anschlagsumme von 6240 Gulden möglichst weit zu reduzieren. Am 28. Juli 1486 begaben sich drei Mitglieder des Rats zu dem in der Stadt weilenden Erzbischof Johann von Gran, übergaben ihm 3120 Gulden und baten unter Hinweis auf das willig bewisen, das sy unserm allergn[edi]st[en] H[errn]y dem K[ai]s[er], allweg getan habind, sowohl im Krieg mit Herzog Karl dem Kühnen von Burgund wie auch in den innerösterreichischen Auseinandersetzungen Friedrichs III., er möge ihren Wunsch nach Erlaß der zweiten Anschlaghälfte durch einen firder­ brief an den Kaiser unterstützen.41 Mit dem vom Erzbischof ausgestellten Empfehlungsschreiben beorderte der Rat Sebald Rieter zum Kaiser, um diesem Nürnbergs notdurfty anligend und beswärde des aufgelegten gelts halb darzu­ legen und ihn zu bitten, uns darin gnediglich zu erscheinen,42 Zunächst hatte es den Anschein, als würde Friedrich dem Wunsch der ihm so eng verbundenen Reichsstadt entsprechen. Ohne eine Summe zu nennen, quittierte er ihr am 12. September die Zahlung des Frankfurter Anschlags43 und wies Erzbischof Johann von Gran an, sie wegen der unbezahlten zweiten Hälfte nicht weiter zu behelligen.44 Um so überraschender mußte für den Rat das Mandat vom 12. Januar 1487 kommen, in dem der in akute finanzielle wie militärische Bedräng­ nis geratene Kaiser von Nürnberg — und einigen anderen Städten — mit allem Nachdruck die Zahlung der vollen Eilenden Hilfe binnen 15 Tagen verlangte und drohte, falls dies nicht geschehe, werde am 7. Februar der Prozeß gegen die säumigen Zahler eröffnet.45 Diese Ankündigung beeindruckte Nürnberg offensichtlich derart, daß es sich rasch entschloß, die zweite Hälfte des Anschlags doch noch zu entrichten. Dafür stellte der Kaiser am 8. Februar,

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Über dieses Ersuchen und die ihm vorausgehenden Verhandlungen im Nürnberger Rat berich­ tete der Memminger Abgesandte Matthias Steinbach, der sich selbst bei Erzbischof Johann von Gran um eine Reduzierung des Memminger Beitrags bemühte. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 433. Vgl. auch Nr. 422. StAN, Rst. Nbg., BB 39, fol. 25a und RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 445. — Auch andere Städte, wie etwa Colmar und Schlettstadt, richteten derartige Petitionen an den Kaiser, die dieser ohne Umschweife ablehnte. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 455, 461. Memmingen, Din­ kelsbühl u. a. wurden bei Erzbischof Johann von Gran vorstellig. Ebd., Nr. 433, 444, 465. HHSA Wien, Reichsregisterbuch CC, fol. 20a. Seine entsprechende Mitteilung an Nürnberg vom 2. November 1486 in StAN, Rst. Nbg., Akten der C-Laden S II L 85 Nr. 15. Bereits am 12. Oktober hatte Nürnberg dem Erzbischof mitgeteilt, es habe beim Kaiser auf ewr Gn. furderung und unser anpringen sovil erlangt, das sich ewr Gn. auf solichen halben teyl nicht verlassen bedarf. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 462. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 510.

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einen Tag nach der avisierten Eröffnung des Rechtsverfahrens, Nürnberg eine Quittung aus über die ganze summ [des Frankfurter Anschlags], nemlich 6240 Gulden.46 3. Der Nürnberger Reichsanschlag von 1487 Noch während des Frankfurter Reichstags im März 1486 wurde unter den Teilnehmern die Vermutung geäußert, daß bald ein neuer Reichstag nach Nürnberg einberufen werde, zu dem auch die in Frankfurt nicht anwesenden Stände und Städte geladen würden, um mit ihnen das weiter akute Problem der Reichshilfe für den Ungarnkrieg zu erörtern.47 Es dauerte dann aber doch ein volles Jahr, bis diese Versammlung vom Kaiser nach Nürnberg ausgeschrieben wurde. Ende März 1487 begannen die Verhandlungen, in deren Mittelpunkt erneut die Frage stand, in welcher Form sich das Reich an den Kosten für den Krieg des Kaisers gegen König Matthias von Ungarn beteiligen würde. Ergebnis dieser Beratungen war der Reichsanschlag vom 12. Juni.48 Mit seiner Einsammlung wurde — in seiner Eigenschaft als Reichserzkämmerer — Kur­ fürst Johann von Brandenburg beauftragt, der allerdings seinen Halbbruder Markgraf Friedrich d. Ä. von Ansbach-Kulmbach bat, stellvertretend für ihn die Einhebung durchzuführen. Als Legestätte bestimmte der Reichstag erneut Nürnberg.49 Markgraf Friedrich wiederum betraute mit der Einsammlung einen seiner bewährtesten und zuverlässigsten Räte, Dr. Johann Pfotel. Ihn wies er an, sich mitsambt einem knecht und einem pferd nach Nürnberg zu begeben, dort die Gelder von den Ständen gegen Quittung in Empfang zu nehmen und sie an den zum Reichshauptmann ernannten Herzog Albrecht von Sachsen zum Zwecke der Kriegsfinanzierung in die umkämpften Erblande weiterzuleiten.50 Pfotel traf um den 22. Juli 1487 in Nürnberg ein51 und blieb dort bis ca. 16. Februar 1488. In diesem Zeitraum nahm er, wie das von ihm erstellte Ver-

46 HHSA Wien, Reichsregisterbuch T, fol. 133b. 47 Darüber berichteten die oberbayerischen, Nördlinger und Straßburger Gesandten. RTA MR 1 (wie Anm. 16), Nr. 862 S. 785, Nr. 866 S. 789, Nr. 897 S. 864, Nr. 902 S. 870. 48 Johann Joachim Müller: Des Heil. Römischen Reichs Teutscher Nation Reichs-Tagstheatrum, wie selbiges unter Keyser Friedrichs V. allerhöchster Regierung von anno 1440 bis 1493 gestanden, Jena 1713, III. Vorstellung, S. 103-106. 49 In einer Denkschrift zur Reichshilfeproblematik erklärten die Fürsten ihre Bereitschaft, Kur­ fürst Johann von Brandenburg ihre Anschlaggelder bis zum 25. Juli hie zu Noremberg zu bezahlen. HHSA Wien, Mainzer Erzkanzlerarchiv, Nichtpermanente Reichstagsakten Fasz. 3a, fol. 215b—216a. Im selben Sinn äußerten sich auch die Kurfürsten. Ebd., fol. 214a u. b. 50 StAN, Fürstentum Ansbach [zit.: Ft. Ansb.], Reichstagsakten Nr. 4, fol. 100a (vom 18. Juli). 51 Am 21. Juli teilte Markgraf Friedrich von Ansbach aus Herzog Albrecht mit, er werde am nächsten Tag Dr. Pfotel nach Nürnberg schicken. StAN, Ft. Ansb., Reichstagsakten Nr. 4, fol. 101a. Ebd. auch das Beglaubigungsschreiben für Pfotel vom selben Tag.

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zeichnis52 ausweist, 51428 Gulden ein, von denen er *50800 Gulden in Teil­ beträgen an Herzog Albrecht auszahlte. Als „Dienstzimmer“, in dem er die überbrachten Gelder entgegennahm und quittierte, stellte ihm der Nürnberger Rat die Losungsstube im Rathaus zur Verfügung.53 Dies ist allerdings auch die einzig greifbare Verbindung Pfotels zur Reichsstadt im Rahmen seiner Sam­ meltätigkeit. Im Gegensatz zur Reichshilfe von 1486 hatte der Rat von Nürn­ berg mit der Einhebung des Anschlags von 1487 direkt nichts zu tun, und dies, obwohl hier bis Mitte Juli der Reichstag tagte und sich Kaiser Friedrich sogar noch bis zum Ende des Jahres in der Stadt aufhielt. Möglicherweise achtete aber auch der markgräfliche Rat Pfotel aus einem tiefverwurzelten Mißtrauen gegen Nürnberg heraus besonders darauf, bei der ihm übertragenen Aufgabe völlig selbständig und allein verantwortlich zu bleiben. So ergab sich für Nürn­ berg nur eine mittelbare Verbindung mit dem Anschlag dadurch, daß sich eine Reihe von Städten, darunter Köln und Heilbronn, und auch ein Reichsfürst, Landgraf Wilhelm der Jüngere von Hessen, vom Rat Geld für die Bezahlung ihres Anteils liehen.54 Schließlich erfolgte auch die Verteilung des Mandats vom 5. September 1487, in dem der Kaiser säumige Stände im ganzen Reich unter Androhung eines Rechtsverfahrens zur Zahlung des Anschlags aufforderte, durch Nürnberger Boten55. Die drei genannten Beispiele der Reichsanschläge von 1427, 1486 und 1487, bei denen Nürnberg jeweils als Legestätte bzw. Einsammlungsorgan fungierte, führen die wichtige Rolle der Reichsstadt im Rahmen der Finanzverwaltung des spätmittelalterlichen Reiches deutlich vor Augen. Da eine Reichsfinanzver­ waltung im modernen Sinn mit festen, dauerhaften Organisationsstrukturen und Organen noch nicht existierte, mußten im Bedarfsfall geeignete Ad-hocInstanzen geschaffen werden. Daß dabei über Jahrzehnte hinweg die Wahl immer wieder auf den Rat von Nürnberg fiel, ist zum einen ein Indiz dafür, daß dessen finanztechnisches Fachwissen allseits bekannt und geschätzt war, spricht aber auch für das umfassende Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Reichsstadt. Beide Aspekte zusammengenommen charakterisieren die ökono­ mische wie die politische Blüte Nürnbergs im 15. Jahrhundert in besonders signifikanter Weise. 52 HHSA Wien, Reichshofkanzlei, Nichtpermanente Reichstagsakten Fasz. la, fol. 10a—15b, 21a—22a. 53 Mehrfach heißt es im Einnahmenverzeichnis ausdrücklich: Enpfangen [. . .] in der losungsstuben. 54 Köln lieh sich 3640, Heilbronn 400 und Landgraf Wilhelm 3500 Gulden. StAN, Rst. Nbg., BB 40, fol. 79a bzw. 79b. — Urkundenbuch der Stadt Heilbronn, Bd. 2 (1476—1500) (Württembergische Geschichtsquellen 15), bearb. von Moriz von Rauch, Stuttgart 1913, Nr. 1461. 55 Als Verteiler werden u. a. genannt: Bartholomeus Krieger, burger zu Nürnberg; Lienhart Hagenauery burger zu Nurmberg; Hans Hirschvogely burger zu Nurmberg; Gotz Franck, Nurmberger bot. Tiroler Landesarchiv Innsbruck, Cod. 1689/1.

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III. Nürnberg als Sitz von Reichsregiment und Reichskammergericht 1. Das erste Reichsregiment und das Reichskammergericht zu Nürnberg 1500—1502 Auf dem Augsburger Reichstag des Jahres 1500 riefen König Maximilian und die Reichsstände mit dem Reichsregiment eine Institution ins Leben, die zuvor bereits jahrzehntelang diskutiert und mit dem Entwurf der Reichsregiments­ ordnung vom Wormser Reichstag 1495 sogar konkret geplant worden, dann aber doch immer wieder an den kontroversen Auffassungen von Königtum und Ständen gescheitert war. Das in Augsburg geschaffene zwanzigköpfige Gremium sollte nach einem bestimmten Verteilerschlüssel von sämtlichen ständischen Gruppen besetzt werden, wichtige Regierungsaufgaben über­ nehmen und so die Entschlossenheit der Stände zur Teilnahme an der Herr­ schaftsausübung im Reich zum Ausdruck bringen.56 Neben dieser Neugründung ging es auf dem Augsburger Reichstag auch um das weitere Schicksal einer anderen wichtigen, bereits seit 1495 bestehenden Reichsbehörde, des Reichskammergerichts. Obwohl König Maximilian es gerne wieder unter seine Kontrolle gebracht hätte, stimmte er schließlich doch widerstrebend dem Verlangen der Stände zu, das Kammergericht dem als Aufsichts— und Vollstreckungsorgan fungierenden Regiment zu unterstellen und zu diesem Zweck beide Institutionen an einem gemeinsamen Ort zu etablieren.57 Die Wahl fiel dabei auf Nürnberg.58 Größere Diskussionen hierüber scheint es unter den Reichstagsteilnehmern nicht gegeben zu haben, vor allem nicht, nachdem König Maximilian seine ursprüngliche Absicht aufgegeben hatte, das Regiment an seinen nicht ortsfesten Hof zu binden.59 Faßt man die politischen 56 Zum Reichsregiment von 1500 und zu seiner historischen Bedeutung vgl. allgemein Victor von Kraus: Das Nürnberger Reichsregiment. Gründung und Verfall 1500—1502, Innsbruck 1883, Neudruck Aalen 1969. — Reiner Wolgarten: Das erste und das zweite Nürnberger Reichsregi­ ment, jur. Diss. masch. Köln 1957. — Heinz Angermeier, Die Reichsregimenter und ihre Staatsidee, in: HZ 211 (1970), S. 265-315. 57 Augsburger Kammergerichtsordnung, gedruckt bei Johann Jakob Schmauss u. Heinrich Chri­ stian Senckenberg: Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede, Teil 2, Frankfurt 1747, Nachdruck Osnabrück 1967, S. 67. Dazu Rudolf Smend: Das Reichskammergericht, Weimar 1911, S. 85. 58 Reichsregimentsordnung vom 2. Juli 1500, gedruckt bei Schmauss/Senckenberg (wie Anm. 57), S. 56 Art. 1. 59 In seinem Bericht vom 4. Juli schreibt der Frankfurter Reichstagsgesandte Johann Reysse: In welcher stait aber das kammergericht und der richsraidt sin solle und ob euss in zweyn stetten oder eyner sin solle, ist noch zwoispellikeit Zusehen dem konig und fürsten. Johannes Janssen: Frankfurts Reichscorrespondenz 1376—1519, Bd. II: 1440—1519, Freiburg 1872, S. 657, 659 ff. Aus dieser Äußerung lassen sich allerdings wohl kaum Meinungsverschiedenheiten darüber ablesen, ob das Regiment nach Nürnberg oder in eine andere Stadt gelegt werden solle, sondern

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Rahmenbedingungen der Regimentsgründung vom Jahr 1500 ins Auge, so kann die Entscheidung für Nürnberg sogar als bestmöglicher Kompromiß bezeichnet werden. Denn für König Maximilian wäre wohl Regensburg als die den habsburgischen Erblanden am nächsten gelegene und von ihm seit ihrer Hinwendung zu Herzog Albrecht von Bayern im Jahre 1486 genauestens kon­ trollierte Reichsstadt die geeignetste Malstatt für Reichsregiment und Reichs­ kammergericht gewesen. Demgegenüber war Maximilians großer politischer Gegenspieler, der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg, bestrebt, am Mittelrhein ein eigenes, kurfürstliches Machtzentrum zu schaffen, als dessen Mittelpunkt sich Frankfurt anbot. Nicht umsonst wurden auf dem Höhepunkt der Reichsreformdiskussion Ende des 15. Jahrhunderts auf Bertholds Betreiben mehrere wichtige Reichsinstitutionen wie das 1495 in Worms gegründete Reichskammergericht und die mit der Einsammlung der Reichs­ steuer des Gemeinen Pfennigs betrauten Reichsschatzmeister in Frankfurt angesiedelt. Auch das 1495 schon einmal geplante Reichsregiment und das Reichsarchiv sollten dort ihren Sitz erhalten.60 Geographisch ziemlich genau zwischen diesen beiden Machtpolen Regensburg und Frankfurt lag Nürnberg, das sich deshalb bei der Suche nach einer allseits akzeptablen Malstatt für das Reichsregiment als die quasi neutrale „mittlere Lösung“ anbot.61 Darüber hinaus spielten sicherlich auch die einleitend herausgestellte Reichstreue der Stadt sowie ihre bei der Ausrichtung vieler Reichsversammlungen unter Beweis gestellten organisatorischen Fähigkeiten eine nicht unwesentliche Rolle. Als Termin für die Konstituierung des Reichsregiments bestimmte die Regi­ mentsordnung den 16. September 1500.62 Doch erst am 21. September traf Erz­ bischof Berthold von Mainz, der als erster Kurfürst den Vorsitz im Reichsrat übernehmen sollte, in Nürnberg ein.63 Bereits vor seiner Ankunft war es in der Frage der Beherbergung und Verköstigung der Regimentsmitglieder zu Miß­ helligkeiten gekommen. Der zu Nürnberg stets gute Kontakte unterhaltende königliche Hofkammermeister Balthasar Wolff von Wolfsthal trug dem Rat

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eher unterschiedliche Auffassungen über die ortsfeste bzw. hofgebundene Etablierung des Regiments und damit seinen grundsätzlichen Charakter als ständische oder monarchische Institution. So Heinrich Ulmann: Kaiser Maximilian I., Bd. 2, Stuttgart 1891, Nachdruck Wien 1967, S. 13. Eduard Ziehen: Frankfurt, Reichsreform und Reichsgedanke 1486—1504 (Historische Studien 371), Berlin 1940, S. 102. Eduard Ziehen: Mittelrhein und Reich im Zeitalter der Reichsreform 1356—1504, Bd. 2 (1491 — 1504), Frankfurt 1937, S. 605 f. — Zu den Motiven für die Wahl Nürnbergs vgl. auch Eugen Franz: Nürnberg, Kaiser und Reich. Studien zur reichsstädtischen Außenpolitik, Mün­ chen 1930, S. 54. Schmauss/Senckenberg (wie Anm. 57), S. 57 Art. 2. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Nürnberg Bd. V, Leipzig 1874, Nachdruck Göttingen 1961 [zit.: Städtechroniken V], S. 622.

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den auf dem Augsburger Reichstag lautgewordenen Vorwurf zu, die Nürn­ berger beabsichtigten, die Kurfürsten, Fürsten und anderen, so zu dem könig­ lichen reichsrat und cammergericht hierher sollen komen, unzimlicher weise mit herbergen, malen und anderm zu beschweren. Dies gelte vor allem für den Nürnberger Bürger Leonhard von Ploben, der für die Herberge des Mainzer Erzbischofs drei Gulden pro Tag verlange. Etliche Herbergsinhaber hätten zudem für sechs Mahlzeiten einen Gulden verlangt. In seiner Antwort stellte sich der Rat voll und ganz hinter die Beschuldigten. Andere Fürsten hätten früher bei Leonhard von Ploben Herbergskosten in gleicher Höhe bezahlt, zumal dieser dem Erzbischof mit den gemechen, pethen und andern [. . .] gewartend sei. Im übrigen vertrete Nürnberg die Meinung: Zimlichen gelebt, dafür erfolgt auch pillichen gepürliche und zimliche bezalung. Um jedoch im Zusammenhang mit den geäußerten Vorwürfen übler Nachrede und mög­ lichen Nachteilen zuvorzukommen, bat der Rat Balthasar Wolff sowie den aus Nürnberg stammenden königlichen Sekretär Sixtus Ölhafen, die Stadt bei König Maximilian und Erzbischof Berthold entsprechend zu rechtfertigen.64 Ansonsten sind über die örtlichen Voraussetzungen für das erste Reichsregi­ ment in der Stadt nur spärliche Nachrichten überliefert. Seine Sitzungen hielt es zweifellos im Rathaus ab.65 Hier, im großen Saal, fand am 26. Oktober 1500 auch die feierliche Eröffnung des Regiments durch König Maximilian in Anwesenheit des Nürnberger Rats statt.66 Der Monarch war aus diesem Anlaß zum ersten Mal seit dem Nürnberger Reichstag von 1491 wieder in die Stadt gekommen und wohnte in der Kaiserburg.67 In der durch Graf Eitelfriedrich von Zollern verlesenen Ansprache hob Maximilian seine enge Verbundenheit mit Nürnberg hervor, die ihn veranlaßt habe, hier das für das Wohl und die

64 Schreiben vom 7. September 1500. StAN, Rst. Nbg., BB 47, fol. 62a—63a. 65 In den Ratsverlässen heißt es unter dem 15. März 1501: So des reychs rat nach tisch gehalten wird, sollen die fünf in der neuen Stuben am hader sitzen. StAN, Rst. Nbg., Ratsverlässe [zit.: RV] 395, fol. 14b. 66 Den Einzug des Königs in die Stadt, die Empfangszeremonien, die Eröffnung des Reichsregi­ ments, die Huldigung des Nürnberger Rats und der Bürgerschaft sowie die Abreise Maximi­ lians schildert eine zeitgenössische Aufzeichnung in StAN, Rst. Nbg., Krönungsakten Nr. 1, fol. 75a—79a. Über Maximilians Aufenthalt vgl. auch die Schilderung in Städtechroniken V (wie Anm. 63), S. 623—625 sowie Albrecht Kircher: Deutsche Kaiser in Nürnberg. Eine Studie zur Geschichte des öffentlichen Lebens der Reichsstadt Nürnberg von 1500—1612, Nürnberg 1955, S. 22-24. 67 Am 31. August 1500 hatte Maximilian den Nürnberger Rat von Augsburg aus angewiesen, seinem Kammerknecht Adrian Hederlein behilflich zu sein, Herbergen für das königliche Gefolge sowie Stallungen für 300 Pferde zu beschaffen und auch die bürg zu Nüremberg für unser person zu richten. StAN, Rst. Nbg., Akten der A-Laden S I L 77 Nr. 45, Prod. 2. Am 10. Oktober schließlich beorderte der König Hederlein erneut nach Nürnberg, um mit dem Rat etlicher bew halben, in dem sloss zu Nürnberg zu volbringeny zu reden. Ebd., Prod. 1.

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Aufgaben des Reiches so bedeutsame Reichsregiment zu etablieren.68 Im Anschluß daran leistete der Nürnberger Rat dem König als Nachfolger seines 1493 verstorbenen Vaters Kaiser Friedrich III. den üblichen Huldigungseid. Am Nachmittag und in den folgenden Tagen huldigten auch die Bürger aller Stadtviertel. Und ist zu jedem mal der [Erzbischof] von Menz anstat k[öni]gl[icher] M[ajestä]t auf dem rothaus gewest. Nach Beratungen mit den Mitglie­ dern des Reichsregiments verließ der König Nürnberg am 7. November wieder und reiste über Neumarkt und Regensburg in seine Erblande. Bereits um die Jahreswende 1500/1501 plante er einen weiteren Besuch,69 doch fand dieser dann doch erst einige Monate später statt. Am 13. April 1501 ritt Maximilian in die Stadt ein, bezog wiederum Quartier in der Kaiserburg und führte bis zu seiner Abreise am 21. April diverse Verhandlungen mit dem Reichsregiment.70 Im Vergleich zur recht zügigen Einrichtung des Reichsregiments verzögerte sich die Etablierung des Reichskammergerichts in Nürnberg um einige Monate, vermutlich deshalb, weil der von König Maximilian zum Kammer­ richter ernannte Graf Adolf von Nassau erst Mitte Februar 1501 nach Nürn­ berg kam, aber auch wegen Unklarheiten bei der Besetzung der Beisitzer­ stellen.71 Erst am 31. März 1501 wurde das Reichskammergericht wieder eröffnet und entwickelte bald eine recht rege Tätigkeit.72 Untergebracht war es im Haus des Ratsherrn Wilhelm Derrer, das der Nürnberger Rat für diesen Zweck entsprechend einrichten ließ.73

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Unser allergnedigister herr, der römisch könig, hie entgegen, hat sich aus sondern gnaden und zunaigung, so ir kgl. Mt. zu diser löblichen stat Nürmberg hat, hergefugt, der mainung, das ir kgl. Mt. wole anfahen und Volbringen das löblich, erlich und tröstlich furnemen regiment und Ordnung, so durch ir kgl. Mt. mitsampt unsern gnedigisten und gnedigen herren churfürsten und fürsten, auch ander stende des heiligen reichs auf ytz ne ch stgeh alten reichstag zu Augspurg beschlossen und in diser löblichen stat ze halten ist angesehen, dem hailigen reich und teutscher nacion zu glückseliger wolfart und allen christenmenschen zu gut, damit meniglich vor den anfechtern beschützt und beschirmet, auch frid und recht gehandhapt, auch alle ding löblich geregirt und in gutem wesen gehalten werden mugen. Am 9. Dezember 1500 teilte Maximilian dem Reichsregiment mit, er wolle, sobald es seine Geschäfte erlaubten, nach Nürnberg kommen. Ingeborg Friedhuber: König Maximilian I., die Erbländer, das Reich und Europa im Jahre 1500, phil. Diss. masch. Graz 1963, S. 86 f. mit Anm. 10. Am 30. Dezember übersandte er dem Rat im Hinblick auf seinen geplanten Aufent­ halt bey euch zu Nürmberg im sloß ein Verzeichnis von Bauten, die dort ausgeführt werden sollten. StAN, Rst. Nbg., Akten der A-Laden S I L 77 Nr. 45, Prod. 3. Über Vorbereitungen des Nürnberger Rats für den Besuch des Königs StAN, Rst. Nbg., RV 396, fol. 5b, 6b, 7a; RV 397, fol. la, 13a. — Städtechroniken V (wie Anm. 63), S. 633 f. Roland Schäffer: König Maximilian I., Europa, das Reich und die Erbländer im Jahre 1501, phil. Diss. masch. Graz 1964, S. 179. Smend (wie Anm. 57), S. 87. Über die Vorbereitungen für die Aufnahme des Kammergerichts vermerken die Ratsverlässe: Die doctoren zu bitten, ein mitleyden mit den camergerichtzschreybern zu haben, bis die stule in Derrers baw fertig werden (6. März). StAN, Rst. Nbg., RV 395, fol. 8b. — Des Derrers paw in rue stellen etliche monat, bis man siht, ob das kamergericht furgee oder nit (9. März). RV 395,

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Während ihrer ca. anderthalb- bzw. einjährigen Anwesenheit hinterließen Reichsregiment und Reichskammergericht nur recht geringe Spuren im Leben der Stadt, ihre Verbindungen zur politischen Führung und zur Bevölkerung Nürnbergs waren offensichtlich eher lose. So wurde eine Reihe innerstädti­ scher Angelegenheiten und Streitfälle vor beiden Institutionen verhandelt74 oder diese wandten sich umgekehrt mit eigenen Fragen an den Rat.75 Auf gesellschaftlicher Ebene ergaben sich Kontakte durch Einladungen und Gastmähler des Nürnberger Rats zu Ehren der Regiments- und Kammergerichts­ mitglieder76 oder durch manches persönliche Geschenk der Stadtführung.77 Vertreter Nürnbergs im Regiment war Anton Tetzel.78 Ein anderer Nürn­ berger, der die Regimentskanzlei leitende Sixtus Ölhafen, heiratete am 24. April 1501 Anna Pfinzing, die Schwester des Nürnberger Propstes Mel­ chior Pfinzing. Die Hochzeitsfeier fand unter großem Aufwand und in An­ wesenheit zahlreicher hochgestellter Gäste in der Herberge des Mainzer Erz­ bischofs Berthold von Henneberg statt.79 Mit dem Nürnberger Reichstag vom 25. Juli bis zum 14. September 150180 begann die große Krise des Reichsregiments; sie endete mit dessen Auflösung im Frühjahr des folgenden Jahres. Von Anfang an krankte die Institution an dem Widerspruch, daß die Stände sie zwar gefordert und schließlich auch auf dem Augsburger Reichstag 1500 gegenüber König Maximilian durchgesetzt

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fol. 10a. — Polster an des kamergerichtz benk zu legen: P. Harsdorfer, W. Derrer (24. März). RV 395, fol. 20a. Erwähnungen z. B. in StAN, Rst. Nbg., RV 400, fol. 11b, 18a; RV 407, fol. 7a, 7b, 12b; RV 408, fol. 5b, 9a; RV 410, fol. lb, 2b. Z. B. am 19. Juli 1501: Des reychs regemendt beth, durch [den Erzbischof von] Mentz an ein rat gelangt, von wegen des münzmeysters goltkauf mit zimlichen Worten abzuleynen. StAN, Rst. Nbg., RV 400, fol. 3b. So etwa der Ratsbeschluß vom 24. April 1501: Des reychs regiment uf montag das heyltumb zeygen. StAN, Rst. Nbg., RV 397, fol. 10a. — Am 22. November: Uf freytag zu nacht des reychs rat und das camergericht zu eyner bursen zu laden uf die Stuben. RV 404, fol. 13b. — Am 26. November: Die procurator am camergericht sind zu laden zu dem mal abgeteilt. RV 405, fol. lb. Beschluß vom 10. März 1501: Dem erzbischof zu Menz ein lagel guten passauer zu schenken. StAN, Rst. Nbg., RV 395, fol. 10b. - Am 9. August: Friedrich bey des reychs rat und Ambrosy am cammergericht ist ein veßlein mit wein an ungelt einzulegem vergundt worden mit wissen des ungelters. RV 401, fol. 3b. - Am 5. Januar 1502: Dem pedel am kamergericht 2 gülden zu einem opfergelt geben. RV 406, fol. 9b. — Am 17. Januar: Fridrichen Bayr, türhüter im reicbsrat, sol man vier guldin zu dem Opfergelt geben. StAN, Rst. Nbg., Ratsbuch 7, fol. 192b. Ratsbeschluß vom 17. September 1501: Herrn Anthonio Tetzel darumby das er etliche zeyt in des reychs rat ist gesessen, sollen im 200 pfund novi gegeben werden. StAN, Rst. Nbg., RV 402, fol. 11b. Städtechroniken V (wie Anm. 63), S. 629. — Christoph von Imhoff (Hg.): Berühmte Nürn­ berger aus neun Jahrhunderten, Nürnberg 1984, S. 65 f. — Ziehen: Mittelrhein (wie Anm. 61), S. 626. Dazu Kraus (wie Anm. 56), S. 133 — 153.

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hatten, anschließend aber nur mehr erstaunlich geringes Interesse an ihr zeigten. Etliche Stände und Städte kamen ihrer Pflicht zur Mitbesetzung des Regiments nicht oder nur sehr zögernd nach. Einer der Gründe hierfür war, daß vor allem die einflußreichen rheinischen Kurfürsten und Fürsten Regiment und Kammergericht statt im fränkischen Nürnberg lieber in einer Stadt ihres Einflußbereiches gesehen hätten. Als zweite Ursache kam hinzu, daß sich die alten latenten Spannungen zwischen der Reichsstadt und den benachbarten Markgrafen von Ansbach-Kulmbach gerade in den Jahren 1500—1502 erheb­ lich verschärften und eine große bewaffnete Auseinandersetzung beider Kon­ trahenten mit unabsehbaren Weiterungen und Folgen täglich zu gewärtigen war.81 Diese in der Stadt herrschende Atmosphäre ständiger Unsicherheit und Bedrohung hatte nicht nur eine geringe Beteiligung der Stände am Nürnberger Reichstag des Jahres 1501 zur Folge, sondern war verständlicherweise auch einer ruhigen Arbeit am Regiment und am Kammergericht wenig zuträglich. So kam schließlich aus den Reihen der Tagungsteilnehmer der Vorschlag, dweyl sich etlich stende alher ghein Nuremherg zu komen beschweren und ungelegen achten, solle man den Reichstag und das Reichsregiment an eyne andere gelegen malstatt als ghein Wormß oder Frankfurt verlegen.82 Mit der­ selben Begründung plädierte schließlich auch der Abschied vom 14. September für eine Transferierung der Reichsversammlung, des Regiments und des Kam­ mergerichts nach Frankfurt.83 Die alten Bestrebungen der rheinischen Kurfür­ sten und Fürsten, alle wichtigen Reichsinstitutionen möglichst geschlossen in ihrem Machtbereich anzusiedeln, und die daraus resultierende spezifische Konkurrenz zwischen Nürnberg und Frankfurt kam also auch hier unüber­ sehbar zum Tragen. König Maximilian durchschaute allerdings die Absichten der Stände und lehnte die erbetene Zustimmung zur Übersiedlung von Regi­ ment und Kammergericht kategorisch ab. Um beide Institutionen ganz sicher von Frankfurt fernzuhalten, kündigte er an, unnser und des Reichs regiment und camergericht gen Regenspurg zu bringen, d. h. in seinen eigenen Einfluß81

Sie fand schließlich nach Auflösung des Regiments in der Schlacht von Affalterbach vom 19. Juni 1502 doch noch statt. Hierzu und zur Konfrontation zwischen Nürnberg und den Mark­ grafen in den Jahren ab 1500 im allgemeinen vgl. Reinhard Seyboth: Die Markgraftümer Ans­ bach und Kulmbach unter der Regierung Markgraf Friedrichs d. Ä. (1486 — 1515) (Schriften­ reihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 24), Göttingen 1984, S. 249-268. 82 So das Gutachten des Reichstagsausschusses aus der ersten Augusthälfte. Kraus (wie Anm. 56), S. 236. — Zu denen, die den Reichstag und das Reichsregiment boykottierten und nicht nach Nürnberg kamen, gehörte auch Markgraf Friedrich von Ansbach-Kulmbach. Er wollte dem vom Regiment angestrebten Vermittlungsversuch zwischen ihm und Nürnberg aus dem Weg gehen und ließ deshalb durch Gesandte mitteilen, seine gegenwärtigen Differenzen mit der Reichsstadt seien so massiv, daß es ihm ungelegen und beschwerlich sei, auf dasmal gein Nürn­ berg zu reyten. Seyboth: Markgraftümer (wie Anm. 81), S. 258. 83 Schmauss/Senckenberg (wie Anm. 57), S. 95 Art 10.

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bereich. Die Stadt an der Donau sei, so Maximilian, ein Schild der deutschen Nation gegen die Türken und man werde ihr als Sitz von Regiment und Kam­ mergericht bei einem Angriff um so mehr helfen müssen. Zudem liege Regens­ burg für einen Großteil der Stände und auch für ihn selbst besonders günstig.84 Diese Ankündigung ließ in kaum verhüllter Form die weiterführende Absicht Maximilians erkennen, beide Behörden durch ihre Verlegung nach Regensburg den Ständen aus der Hand zu nehmen und sie in Institutionen unter monarchischer Kontrolle umzuwandeln. Ihre Tage in Nürnberg waren damit endgültig gezählt. Während das Kammergericht nach den Weihnachts­ ferien zu Beginn des Jahres 1502 gar nicht mehr zusammentrat,85 klagten die wenigen noch verbliebenen Mitglieder des Regiments am 13. Januar gegenüber Maximilian, sie hätten etlich zeit her in kleiner anczal alhie beharret und zum Bestand ihrer Behörde das Bestmögliche getan. Auf Dauer sähen sie sich aber dazu ohne Unterstützung durch einen königlichen Statthalter nicht in der Lage. Maximilian möge daher schnellstmöglich einen Vertreter am Regiment benennen.86 Erst über zwei Monate später, am 21. März, antwortete Maximi­ lian, er habe niemand zur Übernahme des Statthalteramts bewegen können und deshalb Erzbischof Berthold von Mainz das — durch die Regiments­ kanzlei gebrauchte — königliche Siegel abgefordert.87 Dies bedeutete die fakti­ sche Auflösung des Reichsregiments. In den Nürnberger Ratsverlässen wird es letztmals am 2. April 1502 erwähnt,88 während der Mainzer Erzbischof in einem Schreiben aus den letzten Apriltagen bemerkte, daß sich vom Reichsrat niemand mehr in Nürnberg aufhalte.89 Nürnbergs Rolle als Sitz zweier wichtiger Reichsbehörden war damit schon nach kurzer Zeit wieder beendet. Eine Ursache hierfür war die besondere poli­ tische Situation am Tagungsort aufgrund der schwelenden territorialpoliti­ schen Auseinandersetzungen Nürnbergs mit den Markgrafen von Branden­ burg, die ein Klima allgemeiner Unsicherheit und Bedrohung erzeugten. Einen zweiten, noch schwerer wiegenden Grund stellte die fundamentale Konkur­ renz der monarchischen und ständischen Machtinteressen dar, durch die auch Reichsregiment und Reichskammergericht von vornherein auf einer längerfri­ stig wenig tragfähigen Basis standen. Gewinner war letztlich der König, dem es 84 Schreiben Maximilians an das Reichsregiment vom 25. November 1501, zit. nach Alfred Schröcker: Unio atque concordia. Reichspolitik Bertholds von Henneberg 1484 bis 1504, phil. Diss. masch. Würzburg 1970, S. 327. Die Verlegung von Regiment und Kammergericht nach Frankfurt hatte der König zuvor schon einmal, am 13. Oktober, entschieden abgelehnt. Schaffer (wie Anm. 71), S. 172 f. 85 Schaffer (wie Anm. 71), S. 184. 86 Kraus (wie Anm. 56), S. 243. 87 Kraus (wie Anm. 56), S. 244. 88 StAN, Rst. Nbg., RV 410, fol. 2b. 89 Schröcker (wie Anm. 84), S. 328.

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bald gelang, beide Institutionen an sich zu binden. Am 14./15. November 1502 kündigte er in einem feierlichen Akt auf dem Augsburger Rathaus sowohl die Errichtung eines neuen zwölfköpfigen Reichsregiments wie auch die baldige Wiederaufnahme der Tätigkeit des Reichskammergerichts an. Beide Institu­ tionen sollten ihren Sitz in Regensburg erhalten und dort ganz der Kontrolle Maximilians unterstehen.90 Tatsächlich nahm das Reichskammergericht am 28. April 1503 in Regensburg seine Sitzungen wieder auf.91 Das von Maxi­ milian stets ungeliebte Reichsregiment hingegen kam unter seiner Regierung überhaupt nicht mehr zustande. 2. Das zweite Reichsregiment und das Reichskammergericht zu Nürnberg 1521 — 1524 Der vorhergehende Abschnitt über das erste Nürnberger Reichsregiment hat gezeigt, wie die das ganze Mittelalter hindurch gültige enge Bindung der Reichsstadt an das Königtum und ihre Identifizierung mit dem Reich auch unter Maximilian I. an der Schwelle zur Neuzeit fortbestand. Unter Karl V. schien sich an dieser Konstellation zunächst auch zu Beginn des 16. Jahrhun­ derts nichts zu ändern, was nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck kam, daß der Kaiser in seiner Wahlkapitulation vom 3. Juli 1519 versprach, auch er werde der Bestimmung der Goldenen Bulle nachkommen, jeder neugewählte Monarch solle seinen ersten Reichstag nach Nürnberg einberufen.92 Darüber hinaus sagte er die erneute Aufrichtung eines Reichsregiments zu.93 Die Bera­ tungen darüber sollten nach dem Wunsch einiger Kurfürsten schon auf dem für Mitte November 1519 geplanten Reichstag in Nürnberg stattfinden.94 Da jedoch dort eine schwere Seuche grassierte, die zahlreiche Opfer forderte, faßte man statt dessen einen Tagungsort am Rhein — Frankfurt, Speyer oder Worms — ins Auge.95 Dem auf Worms lautenden Vorschlag des Kaisers96 stimmten die Kurfürsten zu,97 so daß Karl unter ausdrücklichem Hinweis darauf, daß er der 90 Kraus (wie Anm. 56), S. 187 f. — Ziehen:Mittelrhein (wie Anm. 61), S. 671. 91 Smend (wie Anm. 57), S. 92. - Ulmann(wie Anm. 59), S. 80. — Bereits im März hatte Maximi­ lian Herzog Albrecht von Bayern die bevorstehende Errichtung des Kammergerichts in Regensburg angezeigt, auch Weisungen zu dessen Führung erteilt. Schröcker (wie Anm. 84), S. 344 Anm. 3. 92 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 1, bearb. v. August Kluckhohn, Göttingen 21962 [zit.: RTA JR 1], S. 875 Art. [3]. 93 RTA JR 1 (wie Anm. 92), S. 866 Art. [4]. 94 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 2, bearb. v. Adolf Wrede, Göttingen 21962 [zit.: RTA JR 2], S. 3, 5. 95 RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 73, 134. 96 RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 132. 97 RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 135 f.

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sterbenden leuf halben an der Abhaltung seines ersten Reichstags in Nürnberg gehindert werde, die Versammlung schließlich für den 6. Januar 1521 in die Stadt am Rhein einberief.98 Eines der wichtigsten Ergebnisse dieses Reichstags war die neuerliche Schaf­ fung eines Reichsregiments, das viele Parallelen zur Vorgängerinstitution des Jahres 1500 aufwies. U. a. wurde ihm wiederum Nürnberg als Sitz zugewiesen. Diskussionen darüber scheint es auch diesmal nicht gegeben zu haben. Dem Vorschlag der Stände, daß solh regiment nach gestalt und gelegenheit der itzigen leuft und Sachen nirgent hin besser und bequemer gelegt werden möge, dann gein Nurmberg," stimmte der Kaiser vorbehaltlos zu,100 so daß die end­ gültige Regimentsordnung vom 26. Mai 1521 Nürnberg definitiv als Malstatt festlegen konnte. Der neue Reichsrat wurde dort für zunächst anderthalb Jahre etabliert. Nach Ablauf dieser Zeit sollten Präsident und Räte über eine even­ tuelle Verlegung an einen anderen Ort entscheiden, u. U. auch schon früher, wenn es merklicher sterbleuf oder anderer ehaft halber die notdurft erfordert101 — eine Vorsichtsmaßnahme angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht völlig beseitigten Seuchengefahr in Nürnberg. Eine deutliche Parallele zu 1500 stellte auch der gleichfalls gemeinsame Beschluß von Kaiser und Ständen dar, das Reichskammergericht wieder dem als Kontrollinstanz fungierenden Reichsregiment zuzuordnen und es deshalb wie dieses in Nürnberg anzusiedeln.102 Für die Nürnberger war die Aussicht, die beiden wichtigen Reichsbehörden in ihrer Stadt beherbergen zu können, von allergrößter Bedeutung, vor allem deshalb, weil sie diesmal eben nicht ihr traditionelles verfassungsmäßiges Recht hatten wahrnehmen können, Gastgeber für den ersten Reichstag des neugewählten Kaisers zu sein. Als daher im März 1521 die Nürnberger Gesandten aus Worms vom Versuch einiger Kurfürsten berichteten, die Wahl Nürnbergs als Sitz von Regiment und Kammergericht wegen fortbestehender Seuchengefahr zugunsten Frankfurts oder einer anderen Stadt zu hinter­ treiben, dementierte der Rat energisch. Die Sterberate in der Stadt sei bei weitem nicht mehr so hoch, sondern habe sich zu gutem, leidlichen abnemen geschickt. Gleiches gelte für die Zahl der Kranken, von denen sich derzeit nur noch 58 im Lazarett befänden.103 98 99 100 101 102

RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 136 f. RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 178 Art. [4]. RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 193 Art. [1]. RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 225 f. Art. [8]. So im ständischen Entwurf der Regimentsordnung RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 178 Art. [4], im kaiserlichen Gegenentwurf ebd., S. 193 Art. [1] und in der endgültigen Ordnung ebd., S. 226 Art. [10]. 103 StAN, Rst. Nbg., BB 82, fol. 92b. Regest: RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 821. Ähnlich beruhi­ gende Nachrichten übermittelte der Rat am 4. April. BB 82, fol. 113. — Wieviel Nürnberg

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Nachdem sich der Wormser Reichstag definitiv für Nürnberg als Sitz von Regiment und Kammergericht entschieden und den 29. September 1521 (Michaelis) als Tag der Eröffnung des Reichsrats festgelegt hatte, begannen die organisatorischen Vorbereitungen des Nürnberger Rats. Der Baumeister erhielt Anweisung, die Kaiserburg als Herberge für den zur Eröffnung des Regiments erwarteten Erzherzog Ferdinand von Österreich sowie das Rathaus als Tagungsort des Regiments herzurichten.104 In diesem Zusammenhang wurde der große Rathaussaal nach dem Entwurf Albrecht Dürers mit dem Triumphzug Kaiser Maximilians ausgeschmückt.105 Mit einigem Aufwand verbunden war die Auswahl und Vorbereitung anderer geeigneter Gebäude für die beiden Reichsbehörden. So erwies sich die Wasserversorgung des Hauses von Anton Tetzel am Markt, in dem Pfalzgraf Friedrich, der Vertreter Erzherzog Ferdinands am Regiment, wohnen sollte, als unzureichend. Um den hochgestellten Gast zufriedenzustellen, ließ der Rat vom Schönen Brunnen mittels einer eigens installierten Leitung Frischwasser in das Tetzelsche Haus führen.106 Auf der Suche nach einer standesgemäßen Herberge für den Kammerrichter Graf Adam von Beichlingen und dessen Gemahlin, eine geborene Landgräfin von Hessen, ließ der Nürnberger Rat eine ganze Reihe von Häusern besich­ tigen und fand schließlich bei Wilbold Planck eine schön, lustig, wolerpauen und weite behausung für 170 Gulden Jahresmiete. Darüber hinaus stellte der Besitzer zwölf Betten sowie Stallungen für zehn Pferde zur Verfügung.107 Das

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gerade zu diesem Zeitpunkt daran lag, sein Prestige als mit Kaiser und Reich eng verbundene Stadt möglichst zu fördern, zeigt auch die im selben Schreiben übermittelte Weisung an die Gesandten, sie sollten sich mit der Begründung, im eigentlich dafür vorgesehenen Augsburg grassierten Seuchen, dafür einsetzen, daß die geplante Hochzeit Erzherzog Ferdinands von Österreich mit der Königin von Ungarn in Nürnberg abgehalten werde, damit unser nit gar vergessen wurd. Mitteilung des Rats an seine Gesandten in Worms vom 20. April. StAN, Rst. Nbg., BB 82, fol. 124a. Regest: RTA JR 2 (wie Anm. 94), S. 821 Anm. 2. — Im Rathaus stand dem Regiment ein eigener Raum, die Regimentsstube, für seine Sitzungen zur Verfügung. So heißt es über eine Zusammenkunft der Stände auf dem Rathaus im Rahmen des Nürnberger Reichstags von 1524, es seien die von Stetten in der regimentsstuben bi einander gewesen bis 5 uren, ursach das die herren vom regiment sich geletzt mit den alten herren von Nürnberg zum nachtimbs in der stubeny darinne bishar die von stetten gewesen sint. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 4, bearb. v. Adolf Wrede, Göttingen 21963 [zit.: RTA JR 4], S. 244. Darüber hinaus gab es im Rathaus mit der ausschußstuben (ebd., S. 129) und der churfursten Stuben (ebd., S. 154) noch andere spezielle Räumlichkeiten, in denen während der Reichstage die ent­ sprechenden Gremien zusammentraten. Matthias Mende: Dürer und die Ausstattung des Nürnberger Rathaussaales, in: MVGN 63 (1976), S. 427-429. Schreiben des Rats an den Pfalzgrafen vom 21. September. StAN, Rst. Nbg., BB 82, fol. 243a u. b; Ratsbuch 12, fol. 34b. Schreiben des Rats an Graf Adam vom 14. und 18. August (hier das Zitat) sowie 15. September. StAN, Rst. Nbg., BB 82, fol. 210b-211a, 226b-227a, 242b.

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Kammergericht selbst erhielt seinen Sitz im Hause Heinrich Meissners bei der Fleischbrücke. Die Miete von jährlich 200 Gulden übernahm der Rat, desglei­ chen erfolgten verschiedene notwendige Umbaumaßnahmen auf gemainer stat costen108. Die Gerichtskanzlei schließlich wurde bei Eustachius Rieter unterge­ bracht.109 Trotz dieser engagierten organisatorischen Unterstützung durch den Nürn­ berger Rat verzögerte sich zu dessen Leidwesen die für den 30. September vor­ gesehene Eröffnung von Regiment und Kammergericht. Mitte September waren von den 22 Regimentsmitgliedern erst wenige in Nürnberg eingetroffen, nur ein Teil der Kammergerichtsbeisitzer hatte Herberge bestellt, während die Übersendung der umfangreichen Gerichtsakten — zu ca. 3500 anhängigen Pro­ zessen — aus Worms zwar für Ende des Monats angekündigt war, jedoch nicht fristgerecht erfolgte.110 Hintergrund der Verzögerung waren, wie der Rat erfuhr, Intrigen der Stadt Worms beim Kaiser mit dem Ziel, die Entscheidung des Reichstags für Nürnberg als Malstatt des Reichskammergerichts rück­ gängig zu machen und dieses in Worms zu belassen, wo es bis 1519 tätig gewesen war.111 Aufgrund der beschlossenen Verknüpfung beider Behörden wäre dann wohl auch das Reichsregiment in Worms angesiedelt worden, wodurch die Stadt insgesamt einen erheblichen Prestigezuwachs erlangt hätte. Um Stimmung gegen den Konkurrenten Nürnberg zu machen, wurde behauptet, die Seuchengefahr sei dort nach wie vor nicht gebannt und stelle eine erhebliche Bedrohung für die Mitglieder von Regiment und Kammerge­ richt dar. Auch herrsche in der Stadt allgemeine Unsicherheit, nachdem das sich für die Lehre Luthers begeisternde Volk die Obrigkeit gezwungen habe, zwei lutherische Prediger aus Wittenberg zu berufen. Schließlich seien auf den Straßen rund um Nürnberg zahlreiche Personen durch den berüchtigten Raub­ ritter Thomas von Absberg ermordet worden. Der Nürnberger Rat erkannte die von diesen Gerüchten ausgehende Gefahr und beauftragte seine Gesandten am Kaiserhof, Hans Lochinger und Pangraz Wagner, zu entsprechenden Dementis. Vor allem sollten sie ein eventuelles Mißtrauen Karls V. wegen der 108 StAN, Rst. Nbg., Ratsbuch 12, fol. 34b. 109 Hans von Schubert: Lazarus Spengler und die Reformation in Nürnberg (Quellen und For­ schungen zur Reformationsgeschichte XVII), Leipzig 1934, Reprint New York/London 1971, S. 316. 110 Schreiben Gabriel Nützels und Leonhard Grolands an Johann Rehlinger vom 17. September. StAN, Rst. Nbg., BB 82, fol. 244a u. b. 1,1 StAN, Rst. Nbg., BB 82, fol. 262b; BB 83, fol. 9a u. b. - Auch dem kursächsischen Vertreter beim Reichsregiment, Hans von der Planitz, kamen diese Bestrebungen zu Ohren. Am 26. Sep­ tember schrieb er an Kurfürst Friedrich den Weisen, es sei die Rede davon, als solt es zch Nurmbergk widerumb anheben zch sterben. Treffe dies zu, so sei es möglich, das man das rege­ ment und kamergericht villeicht an eyn ander ortt legen wolde. Des kursächsischen Rathes Hans von der Planitz Berichte aus dem Reichsregiment in Nürnberg 1521 — 1523, bearb. von Hans Virck, Leipzig 1899, S. 2.

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angeblichen reformatorischen Umtriebe in der Stadt zerstreuen. Die hiesigen Ratsherren wüßten sich in dieser Angelegenheit durchaus als from christenleut zu gehorsam Gottes, der christenlichen kirchen und kays[erliche]r M[ajestä]t woll und unnachredlich zu halten112. Hier deutet sich bereits das Spannungsver­ hältnis zum habsburgisch-katholischen Kaiserhaus an, in das Nürnberg auf­ grund seiner wachsenden Hinneigung zur Reformation schon bald hineinge­ riet. Auch an die wegen der tatsächlich noch immer nicht ganz gebannten Seu­ chengefahr besorgten Regimentsmitglieder wandte sich der Rat in Form einer Supplikation.113 Er erinnerte darin an die ganz bewußte Entscheidung des Wormser Reichstags zugunsten Nürnbergs als Sitz von Reichsregiment und Reichskammergericht, da sich bey uns an ainichem vleis, guter Ordnung, Provi­ sion und fursehung nichtzit erwindt. Um dieses Vertrauen in die in Nürnberg gegebenen günstigen Voraussetzungen und die Obsorge für die Reichsbe­ hörden zu rechtfertigen, habe sich der Rat entschlossen, das vor den Mauern der Stadt gelegene und eigentlich bereits geschlossene Lazarett für die Pest­ kranken wieder zu öffnen und alle erdenklichen sonstigen Vorkehrungen zum Schutz der auswärtigen Gäste zu treffen. Diese Maßnahmen trugen so weit zur Beruhigung der Gemüter bei, daß am 18. November 1521 das Reichsregiment feierlich eröffnet werden konnte und zwei Tage später die Mitglieder des Kammergerichts vereidigt wurden.114 Vier Wochen später teilte der Nürnberger Rat auf eine Anfrage Straßburgs wegen der eventuellen Verlegung des Regiments zufrieden mit, dieses habe vor einiger Zeit seine Arbeit aufgenommen. Vormittags wie nachmittags fänden Sitzungen statt. Auch das Kammergericht habe begonnen.115 Von den Mitgliedern beider Behörden sei zu hören, das ir gnaden alle gern hie sein und ainichs Sterbens halben ganz kain entsetzen tragen, auch von hinnen zu rucken ganz nit willens sein11*3. Immerhin dauerte es dann aber doch noch bis Anfang März 1522, ehe der Rat erleichtert feststellen konnte, daß das Sterben nun ganz aufgehört habe.117 Aus dem Gesagten wird deutlich, welch erhebliches Interesse Nürnberg daran hatte, unter allen Umständen Sitz von Reichsregiment und Reichskam112 StAN, Rst. Nbg., BB 83, fol. 75a u. b. Ähnlich das Schreiben an Dr. Sebastian von Rothenhan ebd., fol. 76a u. b sowie den kaiserlichen Rat Dr. Gregor Lamparter ebd., fol. 76b—77b. 113 StAN, Rst. Nbg., BB 83, fol. lb-3a. 114 Adolph Grabner: Zur Geschichte des zweiten Nürnberger Reichsregiments 1521 — 1523 (Historische Studien XLI), Berlin 1903, S. 21. 115 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 3, bearb. v. Adolf Wrede, Göttingen 21963 [zit.: RTA JR 3], S. 2 Anm. 3. 116 So der Rat an seinen Gesandten beim Kaiser, Hans Lochinger. StAN, Rst. Nbg., BB 83, fol. 9a u. b. 117 Schubert (wie Anm. 109), S. 315 Anm. 3.

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mergericht zu werden, und wie es diese Funktion gegen alle Anfechtungen zäh verteidigte. Offenkundig fühlte man sich mit dem Reich nach wie vor eng ver­ bunden, betrachtete auch die Entscheidung des Wormser Reichstags als ehren­ vollen Vertrauensbeweis, der Nürnbergs besondere Stellung unter den deut­ schen Städten ein weiteres Mal deutlich herausstellte. Gerade zu Beginn der Herrschaft des neuen, im Reich noch wenig bekannten Kaisers Karl V. wollte der Rat an diese bewährte Tradition bewußt und unübersehbar anknüpfen. Daß jedoch besagte Reichsverbundenheit längst keine uneingeschränkte und bedingungslose mehr war, sondern durch andere, noch gewichtigere Interes­ senfaktoren klar begrenzt wurde, zeigte sich gleichfalls frühzeitig. Einer dieser Faktoren war monetärer Natur und ergab sich aus dem Problem der Finan­ zierung der beiden Nürnberger Reichsbehörden, der andere resultierte aus den neuartigen religiösen Umwälzungen im Zuge der beginnenden Reformation, die besonders auch für die Reichsstadt Nürnberg eine wesentliche politische Neuorientierung mit sich brachten. Eines der schwierigsten Probleme, vor das sich der Wormser Reichstag von 1521 gestellt sah, war die Finanzierung des neugegründeten Reichsregiments und des wiederbelebten Reichskammergerichts. Zu den hierzu ins Auge gefaßten Lösungsmöglichkeiten gehörte der Plan eines allgemeinen Reichszolls auf alle importierten und exportierten Waren, den ausgerechnet der schärfste territorialpolitische Widersacher Nürnbergs, Markgraf Kasimir von AnsbachKulmbach, unterbreitete und der auf den Reichstagen der folgenden Jahre ebenso intensiv wie kontrovers diskutiert wurde.118 Entschiedenste Gegner des Projekts waren von Anfang an die Städte und hier wiederum vor allem die Reichsstadt Nürnberg, die sich zum Wortführer und Organisator des städtischen Protests machte. Sie war als internationale Handelsstadt auf möglichst freien Gütertransport angewiesen und befürchtete, der geplante Reichszoll könne die weitgespannten Handelsaktivitäten der orts­ ansässigen Kaufleute und damit deren Wohlstand beeinträchtigen. Der Zwie­ spalt, der sich zwangsläufig aus dem existenziell notwendigen Widerstand gegen den Reichszoll einerseits und der Genugtuung darüber, Sitz zweier wichtiger Reichsbehörden zu sein, ergab, spiegelt sich bereits in jenem Schreiben wider, mit dem der Nürnberger Rat seinen Gesandten in Worms den Empfang der Nachricht von der Aufrichtung der Regiments bestätigte.119 Man habe zwar gern gehört, das zwischen k[aiserliche]r M[ajestä]t und den stenden des Reichs die Ordnung des regiments und camergerichts gefunden und 118 Hierzu und zum folgenden vgl. Reinhard Seyboth: Die Reichspolitik Markgraf Kasimirs von Ansbach-Kulmbach von 1498 bis 1527, in: ZBLG 50 (1987), S. 63-108, hier S. 87-93. Alfred Teicke. Reichssteuerbestrebungen unter Karl V. (bis zum Sturze des zweiten Nürn­ berger Reichsregiments), phil. Diss. Leipzig 1910, bes. S. 17—30, 90—120. 119 StAN, Rst. Nbg., BB 82, fol. 149b-150a.

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beslossen sey, sicht uns doch das angezaigt furnemen zu underhaltung derselben mit einem gemeinen tatz oder zol etc. für hoch beswerlich an, und wo es die­ selben weg erreichen solt, wurden die stet und ire burger, reich und arm, des­ selben vor der fürsten landen und underthanen am maisten damit beswert und denen zu untreglichem nachtail und schaden raichen. Angesichts der zu er­ wartenden enormen finanziellen Belastungen der Städte plädiere Nürnberg dafür, das in aller stet namen in gehaim bey etlichen k[aiserliche]r M[ajestä]t verordneten rethen handlung beschech, damit der churfürsten und fürsten Vor­ haben mit dem angezaigten beswerlichen zoll abgewent und verhindert wurd, und wo solhs ein zimlichen costen oder vererung auf im tragen solt, wollten wir gern damit anlegen. Den Reichszollplan durch konsequenten Widerstand zu Fall zu bringen, am besten durch großzügige Zuwendungen an die hierfür als empfänglich bekannten kaiserlichen Räte, darin bestand also die von Nürnberg entwickelte Strategie für den weiteren Kampf der Städte. Dabei war man sich in Nürnberg des Widerspruchs, daß man auf diese Weise ganz unmittelbar den materiellen Existenzgrundlagen jener beiden Reichsbehörden entgegenarbeitete, um die man sich zuvor so engagiert bemüht hatte, offenkundig in gewisser Weise durchaus bewußt und versuchte, dem Eindruck entgegenzuwirken, als gehöre man zu den grundsätzlichen Geg­ nern von Regiment und Kammergericht. So war denn Nürnberg auch eher bereit, anderen Formen der Finanzierung beider Reichsbehörden zuzu­ stimmen, wenn sie nur nicht einseitig allein die Städte belasteten, sammelte schließlich auch zusammen mit Frankfurt die zum genannten Zweck für ein Jahr beschlossene Matrikelumlage ein.120 Städten, die zur Zahlung ihres Bei­ trags nicht bereit oder in der Lage waren, streckte es das Geld bereitwillig vor.121 Da der Eingang der Matrikelbeiträge aber insgesamt schleppend verlief, die Schulden des Regiments wuchsen und die Mitglieder von Regiment und Kammergericht oft monatelang auf ihren Sold warten mußten, sprang der Nürnberger Rat mehrfach mit stattlichen Darlehenssummen ein122 und trug so nicht unwesentlich dazu bei, den Fortbestand beider Institutionen zu sichern. Auf Dauer blieb jedoch die Finanzierungsfrage ein ungelöstes Problem, so daß die Stände auf dem zweiten Nürnberger Reichstag den allein erfolgver-

120 Festgelegt in Art. 17 des Abschieds des ersten Nürnberger Reichstags vom 30. April 1522. RTA JR 3 (wie Anm. 115), S. 177 f. Über Zahlungseingänge in Nürnberg im Sommer 1522 ebd., S. 278-280. 121 Teicke (wie Anm. 118.), S. 72. 122 So schrieb z. B. Hans von der Planitz am 5. Apri 1522 an den Kurfürsten von Sachsen: Auf

disses vorgangen quartall ist iederman seins soldes am regement und camergericht vorgnuget, darzu die von Nurnbergk eezlich summa geldes und ein redliche dargeligen. Berichte (wie Anm. 111), S. 134. Weitere Beispiele mit konkreten Summen sind genannt bei Schubert (wie Anm. 109), S. 366 mit Anm. 2.

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sprechenden Plan eines Reichszolls nochmals energisch aufgriffen, eine detail­ lierte Zollordnung entwarfen und sie Kaiser Karl V. zur Billigung über­ sandten.123 In dieser für die Städte so kritischen Situation stellte sich Nürnberg ent­ schlossen an deren Spitze und begann den Widerstand zu organisieren. Ein Rundschreiben an alle Städte stellte diesen die zahlreichen Nachteile des Reichszollplans vor Augen. Er sei das höchstbeschwerlichst stückh, so dem hei­ ligen Reich, zuvor aber den erbern frey- und reichsstetten bey menschengedechtnus ye het zusteen und begegnen möcht. Um ihn zu Fall zu bringen, müßten entsprechende Überlegungen angestellt werden.124 Ihr Ergebnis war der Beschluß des Speyerer Städtetages von Ende März 1523, eine städtische Gesandtschaft zum Kaiser nach Spanien zu entsenden. Ihrem Sprecher, Dr. Christoph Scheurl aus Nürnberg, war es in erster Linie zu verdanken, daß Karl V., nicht zuletzt aufgrund der Zusage einer erheblichen Geldsumme, den ständischen Zollplan ablehnte.125 Dieser war damit endgültig gescheitert und wurde nicht mehr weiter erörtert. Der konsequenten Nürnberger Vereite­ lungsstrategie war also ein voller Erfolg beschieden. Einmal mehr hatte die fränkische Metropole durch politisches Geschick und klugen Weitblick ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, bei Bedarf die Führungsrolle unter den deut­ schen Städten zu übernehmen. Zu den auffälligsten Parallelen zwischen dem ersten Reichsregiment vom Jahre 1500 und dem zweiten von 1521 gehörte des weiteren die Tatsache, daß einerseits beide Institutionen ihre Existenz dem Verlangen der Stände nach Mitbeteiligung an der Reichsregierung verdankten, daß aber eben diese Stände frühzeitig jegliches Interesse an ihrer Schöpfung verloren, erhebliche Vorbe­ halte gegen sie entwickelten und sie schließlich gänzlich fallen ließen. So hatte das zweite Reichsregiment schon bald nach seiner Gründung mehr Gegner als Fürsprecher in den Reihen der Kurfürsten und Fürsten, die aus den unter­ schiedlichsten Gründen auf seine gänzliche Beseitigung hinarbeiteten. Noch prinzipieller war die Gegnerschaft der Städte, denen nicht nur der geplante Reichszoll, sondern jegliche zum Unterhalt beider Reichsbehörden notwendige Abgabe ein Dorn im Auge war. Schließlich war auch der in Vertretung seines kaiserlichen Bruders Karl V. als Statthalter am Regiment fungierende Erzherzog Ferdinand von Österreich naturgemäß durchaus kein erklärter Freund des ständischen Reichsrats, wollte ihn aber immerhin grundsätzlich erhalten, um ihn für seine eigenen Ziele einsetzen zu können. 123 Teicke (wie Anm. 118), S. 102, 108. 124 So im Straßburger Exemplar des Rundschreibens vom 2. März 1523. StAN, Rst. Nbg., BB 83, fol. 192b-193b. Dazu Teicke (wie Anm. 118), S. 112 mit Anm. 5. 125 Teicke (wie Anm. 118), S. 115—119.

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Dies waren im wesentlichen die Grundpositionen der verschiedenen Par­ teien, die auf dem dritten Nürnberger Reichstag im Februar und März 1524 die Frage nach dem weiteren Schicksal des Regiments und damit auch des Reichs­ kammergerichts heftig diskutierten. Die Rolle Nürnbergs als Sitz des umstrittenen Regiments stand dabei ganz wesentlich mit im Zentrum der Debatte. Schon seit einigen Jahren betrachtete Erzherzog Ferdinand die immer offenkundigere Hinwendung der bislang so überaus verläßlichen und habsburgtreuen Reichsstadt zur Reformation mit großem Argwohn.126 So hatte er während des zweiten Nürnberger Reichstags im Dezember 1522 Vertreter des Rats zu sich rufen und ihnen darlegen lassen, daß ihm der von Nürnberg regiment und policei für alle andere stett wolgefiel, bette auch ain sonder naigung alhie zu verharren etc.; allain were gemainliche jederman mit der Lutherische factien vergift, sie geduldent auch seine buecher wider kaiserliche mandat alhie offenliche zu verkaufen etc., begeret solichs abzustelln127. Ende Februar 1524 erging eine weitere Vorladung mit der erneuten Aufforderung, alle lutherischen Umtriebe in der Stadt zu verbieten.128 Indirekt weigerte sich jedoch der Rat und legte selbst ein mehr oder weniger direktes Bekenntnis zur neuen Glaubenslehre ab.129 Darüber hinaus gab aber auch die überwiegende Mehrheit des Regiments ihre Neigung zum Luthertum öffentlich zu erkennen, unübersehbar vor allem bei den Feiern zum Osterfest 1524, über die der Wormser Dompropst Dr. Ribisen berichtete, daß das ganz regiment und [. . .] me dann tausent menschen das sacrament sub utraque entpfangen: item 20 mit einander gebeicht und absolutz genummen allein mit anzeug, das si ir sund gott geclagt [. . .]. Sie haben auch kein palmen oder feuer gesegnet, das creuz weder in das grab gelegt noch erhaben, kein letanei dis fast gesungen und sich allweg Lutterisch beweist13°. Auch anderen Beobachtern galt das Reichsregiment größtenteils als 126 Die gerade auch für die Geschichte des zweiten Reichsregiments bedeutsame reformatorische Entwicklung in Nürnberg bis 1524 ist mehrfach eingehend untersucht und dargestellt worden. Zu nennen ist hier vor allem die überaus quellengesättigte Studie von Hans von Schubert über Lazarus Spengler (wie Anm. 109). Wichtig außerdem Günther Vogler: Nürnberg 1524/25. Stu­ dien zur Geschichte der reformatorischen und sozialen Bewegung in der Reichsstadt, Berlin (Ost) 1982. — Gottfried Seebaß: Die Reformation in Nürnberg, in: MVGN 55 (1967/68), S. 252—269. — Franz (wie Anm. 61), S. 75—88. — Heinrich Richard Schmidt: Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521 — 1529/30 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 22, Abt. Religionsgeschichte), Stuttgart 1986, bes. S. 45—48, 101 — 105, 139—141. — Aus der älteren Literatur: Friedrich Roth: Die Einführung der Reformation in Nürnberg 1517—1528, Würzburg 1885. — Adolf Engelhardt: Die Refor­ mation in Nürnberg, 1. Bd., in: MVGN 33 (1936), S. 1—258. 127 RTA JR 3 (wie Anm. 115), S. 875. 128 Vogler (wie Anm. 126), S. 54. 129 RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 478-483. 130 RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 739.

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lutherfreundlich, so daß die These Hans von Schuberts, Reichsstadt und Regi­ ment hätten sich in den Jahren von 1522 bis 1524 in ihrer überzeugten reformatorischen Gesinnung wechselseitig beeinflußt und bestärkt,131 durchaus den Kern der Sache trifft. Je deutlicher dieser Zusammenhang Erzherzog Ferdinand vor Augen trat, um so mehr reifte sein Entschluß, das Regiment in seiner bestehenden Form aufzulösen, um es anschließend mit altgläubiger Ausrichtung und in einer katholischen Stadt in Abhängigkeit von ihm selbst neu zu begründen. Wäh­ rend vornehmlich die einflußreichen rheinischen Kurfürsten und Fürsten gerne eine Verlegung des Regiments in eine Stadt am Rhein gesehen hätten und unter Betonung der großen Vorteile, die beide Städte boten, für Speyer oder Frankfurt plädierten132 — auch dies eine deutliche Parallele zum ersten Regi­ ment —, setzte sich Ferdinand für Augsburg, Ulm oder Esslingen ein. Sein Argument, Speyer und Frankfurt seien von den habsburgischen Erblanden zu weit entfernt, lägen auch bei einer zu erwartenden Auseinandersetzung mit den Türken nicht günstig, war nur vorgeschoben.133 Tatsächlich ging es Ferdi­ nand bei der angestrebten Verlegung des Regiments in erster Linie darum, es 131 Schubert (wie Anm. 109), S. 317. — Die reformationsfreundlichen Tendenzen innerhalb des Reichsregiments als mitentscheidende Ursache für dessen Sturz nennt auch Julius Volk: Die Kirchenpolitik des zweiten Nürnberger Reichsregiments von seinen ersten Anfängen an bis zu seiner Verlegung nach Esslingen 1521 — 1524, phil. Diss. Weida i. Th. 1910. 132 So erklärten die Stände am 13. März 1524: Des platz halber achten die verordenten, dieweil regiment und chamergericht numehr auf drithalb jare alhie zu Nürnberg und also der obern Teutschen nacion im Reich gewesen, das es nunmehr an Reinstram, alda von churfursten, für­ sten und stenden auch ein zimlich anzale, auch der merer teil der chamergerichtshendel daselbsther körnen, zu verrücken, und gedenken, das Spyer am bequembsten si, dan es auch kei[serliche]r M[ajestä]t erblanden nit ungelegen, zudem das die behausung, auch zerung daselbst etwas bequemlich und leidlich, das es auch dahin, von- und abzukommen vast bequemlich und nit alsofarlich si. RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 82. — Ähnlich hatte zuvor schon der zur Verbesserung der Regimentsordnung eingesetzte Ausschuß in seinem Vorschlag vom 8. März erklärt, es sei bedocht, das aus treffenlichen Ursachen und grosser notdurft dero, so an dem regi­ ment und camergericht zu thun haben, das regiment und camergericht alwegen [. . .] ufjetz nachvolgendanderhalp jargein N. undN. [in der ersten Fassung hieß es ursprünglich: ge« Speir oder Frankfurt] verrückt werde, damit sich churfursten und andere fürsten an dem Rhein und Niderlanden der ungelegenheit, so die hieroben gehalten wurden, nit zu beschweren haben. Ebd., S. 368 f. Vgl. auch S. 386, 390. 133 Ferdinand in seiner Antwort auf die ständischen Vorschläge vom 21. März: Es were f[ürst~] l[icher] D[urchlauch]t kaiserliche]m stathalter nit zuwider, die malstat [. . .] gen Augspurg, Ulm oder Esslingen aus den Ursachen zu verrücken, das irer f[ürst]l[ichen] D[urchlauch]t in ansehung des sorglichen uberfals vom Türken, auch der kaiserliche]n M[ajestä]t kriegsleuf in Italien und auch irer D[urchlauch]t erbland merklich obligen halben ganz beswerlich und ent­ legen, die diser zeit gen Speyr am Rhein zu legen. RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 393. — Ähnlich Ferdinand an den Kaiser: Er habe sich gegen Speyer ausgesprochen, nam Spira, quam Status optaverant et elegerant ac aliquamdiu mordicus veile tenere videbantur, mihi nequaquam placebat. Suspectus omnino locus videbatur propter multas causas, quarum aliquot vel saltem potissimam M[aies]tas V[estra] fadle coniectare poterit. Ebd., S. 787.

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aus dem reformationsfreundlichen Klima in Nürnberg herauszulösen.134 Auch andere Städte, namentlich Nördlingen, bemühten sich darum, neuer Sitz der beiden Reichsbehörden zu werden,135 doch einigten sich Erzherzog Ferdinand und die Stände schließlich auf Esslingen.136 Die alten Regimentsräte wurden am 8. April von Ferdinand offiziell entlassen, während die Mitglieder des neuen Reichsrats sowie des Kammergerichts am Dienstag nach Pfingsten (17. Mai) 1524 zu ihren ersten Sitzungen zusammentreten sollten.137 Für Esslingen hatte sich Ferdinand deshalb entschieden, weil es zum einen zu den altgläubig gesinnten Reichsstädten zählte und zum anderen vom württembergischen Stuttgart aus, wo der Erzherzog künftig seine Hofhaltung haben wollte, schnell zu erreichen und mithin auch leicht zu kontrollieren war. Beide Vor­ teile erkannte der scharfsichtige Hans von der Planitz genau, als er an Kurfürst Friedrich von Sachsen schrieb, das die von Eßlyngh nicht gutt Lutherisch sein, und ob sie es werden wolten, konde er [sc. Ferdinand] innen das bas dan andern mechtigen stetten weren, nochdem sie im in seinem lande legen™. Mit diesen „anderen mächtigen Städten“ meinte Planitz zweifellos vor allem Nürnberg. Während jener Wochen, in denen so heftig um das Schicksal des Reichsregiments gerungen wurde, legte der Nürnberger Rat keine sehr stand­ feste und überzeugende Haltung an den Tag, lavierte vielmehr zwischen den Parteien hin und her, um es mit niemandem zu verderben und gleichzeitig doch den eigenen Vorteil im Auge zu behalten. So trug Nürnberg zunächst 134 So schrieb etwa der Nördlinger Gesandte Dr. Johann Rehlinger am 31. März an Nördlingen: Darzn verstee ich, das der stathalter und orator die ort scheuchen, da das Lutherisch wesen sein und jetzt auf die neu form gepredigt werden soll. RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 744. 135 So berichtete der Esslinger Gesandte Holdermann am 2. April, hinsichtlich der Verlegung des Regiments hätten vil stett mit hohen fleiß darumb angestrengt, aber es ist uf Eßlingen kumen, die zwai jar da zu bliben; darab nit jeder gefalen hat. RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 747. — Ähnlich der Nördlinger Gesandte Anton Forner: Item es halten schon jetzt etlich stett an das reigementz halben, zu ine zu legen. Ebd., S. 734. — Über die Bemühungen Nördlingens vgl. das Schreiben Dr. Johann Rehlingers an Nördlingen vom 3. April. Ebd., S. 748. 136 Zustimmung der Stände: RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 395 Anm. 2, S. 403,415. — Beschluß der Stände über die Vorbereitung der neuen Malstatt: Als die malstat regiments und camergerichts gen Eslingen geordent, das dan den von Eslingen oder den geschikten hie, deshalben anzeig und befell geschee, alle notturftt zu versehen, damit die person bequemlich underkomen und feilen kauf haben mögen. Ebd., S. 420 f. — Am 2. April riet der Esslinger Gesandte Holdermann Ess­ lingen, sich um die Wohnungen der Regimentsherren sowie der Beisitzer und Prokuratoren am Kammergericht zu kümmern um zimlich zins, damit nit ain geschrai über uch werde. Ebd., S. 747. 137 RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 427 sowie Art. 2 des Reichsabschieds vom 18. April. Ebd., S. 593 f. 138 Berichte (wie Anm. 111), S. 615. — Über die genannten Gründe für die Wahl Esslingens vgl. auch das Schreiben des Orators Johann Hannart an die Regentin Margarete vom 10. April. RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 758. — Zur Verlegung des Regiments nach Esslingen und zur dortigen religiösen Lage vgl. Louis Reimer: Reichsregierung und Reformation in Esslingen, in: Jahrbuch für Geschichte der oberdeutschen Reichsstädte 11 (1965), S. 226—240.

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voll und ganz die Supplikation vom 8. Februar mit, in der die Städte das Reichsregiment erneut als allen erbarn frei- und reichstetten [. . .] mer dann in ainen weg hoch beschwerlich, verderblich und unfürtreglich bezeichneten und vehement für dessen Auflösung plädierten.139 Da jedoch Erzherzog Ferdinand das Regiment zwar nicht in der bestehenden Form, aber doch grundsätzlich erhalten wollte, bemühte er sich, partien under den stenden und sunderlich under den Stetten zu machen, [. . f die sich bisher gegen dem heiligen reich und dem hus Osterrich alweg wol gehalten, um so die Front der Regimentsgegner aufzubrechen.140 Dieser geschickte Hinweis auf die traditionelle Verbundenheit mit dem Reich und der regierenden Habsburgerdynastie verfehlte seine Wir­ kung auf die Nürnberger Führung nicht. Offensichtlich befürchtete man den Verlust der Gunst des Erzherzogs, wenn man sich in der Frage des Reichsregi­ ments seinen Wünschen allzu dezidiert entgegenstellte. Hinzu kam, daß man die erwogene Verlegung der beiden Reichsbehörden allmählich doch als einen gewissen Prestigeverlust zu begreifen begann und nun bestrebt war, wenig­ stens das Reichskammergericht in der Stadt zu behalten. Nürnberg scherte daher, ebenso wie Ulm, aus der festgefügten Front der städtischen Regiments­ gegner aus, spielte seine bisherige führende Rolle beim Widerstand der Städte gegen das Regiment herunter und stellte sich auf die Seite Ferdinands.141 In den Reihen der Städte löste dieses Vorgehen große Verärgerung aus, sie schalten es als eigennütziges Verhalten und Buhlen um die Gunst des Habsburgers, das den gemeinschaftlichen Interessen der Städte schade.142 An der beschlossenen Verlegung von Regiment und Kammergericht nach Esslingen vermochte das plötzliche Umschwenken Nürnbergs nichts mehr zu

139 RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 314. 140 RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 362 f. 141 Der Kölner Gesandte Dr. Johann Schmocke am 23. Februar an Köln: Die Masse der Städte halte, ebenso wie die Fürsten, an den Klagen gegen das Regiment fest; aber die von Nurenberg halten hart mit Ferdinando. RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 700. — Do wollen Nürnberg und Ulm swanken und von irer meinong abfallen, das regiment nit zu bedulden. Ebd., S. 220. 142 Am schärfsten erfaßte der Frankfurter Gesandte Ffamann von Holzhausen in seinem Bericht vom 5. März das Verhalten Nürnbergs: Die von Nürnberg haben sich widder aller andern gemein frei- und reichstet vor dem regement vorantwort, das sie nitz ungeborlichs von den regementzpersonen und von der supplicacion was wissens haben; aber, günstige herren, die von Nürnberg haben alles, was zu Spier gehandelt, darin sie auch in die ubergeben supplicacion, die in der warheit niemantz beleidiget, die in ire schriberi geschriben, auch woil wissens gehabt, mit andern Stetten gütlich vorwilliget, in vorgeß gesteh. Darab die gemein stet nit groissen gefallen dragen. In somma die von Nürnberg gehen in arweit, das sie das cammergericht bie innen mögen behalten umb irer burger notz willen. RTA JR 4 (wie Anm. 104), S. 714 f. — Ähnlich der Esslinger Gesandte Hans Holdermann: Es erfordert der stett grosse notturft [. . .], das nit beschee mit der vererung, wie Nürnberg bescheen ist, die sind auch beschuldigt worden, sich gegen f[ürst]l[iche] D[urchlauch]t wider ander stett in gnaden zu machen. Ebd., S. 715.

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ändern. In den Ratsverlässen wird das Regiment letztmalig unter dem 6. April 1524 erwähnt,143 danach verliert sich seine Spur in der Nürnberger Überliefe­ rung ebenso wie die des Reichskammergerichts. IV. Schluß

Als allzu großen Verlust scheint man in Nürnberg den Weggang beider Reichsbehörden trotz allem nicht empfunden zu haben, und dies kann als durchaus symptomatisch gelten für den gravierenden Wandel in der politi­ schen Orientierung der Reichsstadt zu Beginn der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts. War ihr anfänglich so engagiertes Bemühen um das Regi­ ment und das Kammergericht noch Ausdruck ihrer seit Jahrhunderten unge­ brochenen und durch kein anderes Interessenmoment entscheidend zu beein­ trächtigenden Reichsverbundenheit, so deutete schon die massive Polemik gegen den Reichszoll an, daß man auf Nürnberger Seite den konkreten finan­ ziellen Interessen einen höheren Stellenwert einräumte als der eher imaginären Bindung ans Reich und nicht bereit war, um der beiden Reichsbehörden willen einseitige Opfer zu bringen. Noch tiefgreifendere Folgewirkungen für die Ausrichtung Nürnbergs hatten die religiösen Umwälzungen der beginnenden zwanziger Jahre. So vollzog sich die allmähliche Hinwendung der Stadt zur Reformation größten­ teils fast genau zeitgleich mit der Anwesenheit von Reichsregiment und Reichskammergericht und der Dauer der drei Nürnberger Reichstage. In den Jahren von 1521 — 1524 schritt die Nürnberger Führung auf ihrem eingeschla­ genen religionspolitischen Weg konsequent voran, ohne sich von der Präsenz der obersten Reichsgewalt und vor allem von dem Druck, den Erzherzog Fer­ dinand, die päpstlichen Abgesandten sowie die katholischen Stände fortwäh­ rend ausübten, ernsthaft beeindrucken zu lassen, auch wenn sich gegen Ende doch Anzeichen einer gewissen Wankelmütigkeit erkennen ließen. Daß aber jene Jahre nicht nur in religiöser, sondern auch in reichspolitischer Hinsicht eine tiefe Zäsur hinterließen, war wohl den Zeitgenossen noch nicht bewußt, sondern offenbart sich erst in der Rückschau des Historikers. Späte­ stens seit seinem offenen und endgültigen Bekenntnis zur Reformation im Jahre 1525 hatte sich Nürnbergs Stellung im Reich wesentlich gewandelt. Die habsburgischen Kaiser und Könige, denen die Stadt früher ein so enger und verläßlicher Partner gewesen war, begegneten ihr nun reserviert, ja teilweise sogar mit Mißtrauen. Wichtige Aufgaben und Dienste für das Reich, die sie früher — wie gezeigt — so oft übernommen hatte, erhielt sie künftig nicht mehr übertragen. Auch als Versammlungsort von Reichstagen wurde das evangeli­ sche Nürnberg von den katholischen Reichsoberhäuptern kaum noch berück143 StAN, Rst. Nbg., RV 702, fol. 7a.

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sichtigt. Nur einige weniger bedeutsame Tagungen wie die vom Herbst 1542 und Frühjahr 1543 fanden hier noch statt.144 Insgesamt betrachtet ergab sich daraus für die große fränkische Reichsstadt zweifellos ein nicht unerheblicher Verlust an politischem Prestige. Selten nur noch stand sie im Brennpunkt des reichspolitischen Geschehens, der Glanz, der einst aufgrund ihrer engen Ver­ bindung mit der Monarchie immer wieder auf sie gefallen war, verblaßte. Andere Städte, allen voran Augsburg, übernahmen im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts jenen Führungsrang, den zuvor Nürnberg so lange innege­ habt hatte, und markierten damit in dessen so glanzvoller Geschichte einen epochalen Einschnitt.

144 Paul Heidrich: Karl V. und die deutschen Protestanten am Vorabend des Schmalkaldischen Krieges, 1. Teil: Die Reichstage der Jahre 1541-1543, Frankfurt 1911.

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MEISTER KONRAD SCHERE, REGIOMONTANS EXPERTE

für Feinmechanik in der Nürnberger Officina Febrilis und für den wissenschaftlichen Buchdruck Von Wolfgang von Stromer Angelika Wingen-Trennhaus hat über „Regiomontanus als Frühdrucker in Nürnberg“ 1991 eine wesentliche, sehr detailreiche und bibliographisch äußerst gründliche Abhandlung veröffentlicht.1 Dankenswerterweise hat sie zur Datierung von Regiomontans Drucken und Handschriften sich auch um die Papiermarken anhand der Findbücher der Wasserzeichen von Gerhard Piccard sehr bemüht.2 Eigentümlich berührt jedoch, daß Frau Wingen-Trennhaus bei ihren Vermutungen über das Verhältnis Regiomontans zu Bernhard Wal­ ther die wenige Jahre zuvor im selben Organ erschienene, eingehende Abhand­ lung des durch sozial- und kulturhistorische Forschungen, insbesondere zu Memmingen, ausgezeichneten Raimund Eirich, „Bernhard Walther (1430—1504) und seine Familie“, nicht kannte und benutzte. Eirich geht immerhin auf acht Seiten mit kritischen Überlegungen auf diese Frage ein, wobei er auch mehrfach die Rolle von Meister Konrad Scherp in diesem Ver­ hältnis erwähnt.3 Auch Frau Wingen-Trennhaus erwähnt Scherps Rolle insoweit, daß „die Aussage“, Walther habe den gesamten Nachlaß (Bibliothek und Geräte) Regiomontans zu gleichen Teilen von dessen Erben und von Conradus Scherpp gekauft, noch einer gründlichen Untersuchung damaliger Rechtsver­ hältnisse bedürfe.4 Wieso dies? Merkwürdigerweise kommt sie auf diesen Vor­ gang in dem kurzen Abschnitt nicht zurück, in dem sie sich fragt, wer „als Setzer oder anderweitiger handwerklicher Mitarbeiter“ Regiomontan zur Seite stand. Zwar seien in der älteren Literatur Erhard Ratdolt, Hans Sporer d. J., Konrad Scherp und Michael Wolgemut in solcher Rolle genannt und der Aufenthalt dieser „Kunsthandwerker“ in Nürnberg in der fraglichen Zeit nachgewiesen worden. Daraus jedoch könne nicht notwendigerweise eine Zusammenarbeit mit Regiomontan hergeleitet werden. Für Ratdolt wurde eine solche sogar ausdrücklich von Robert Diehl (Autor eines Buches über Ratdolt, Wien 1933) verneint. Für die übrigen drei erwähnten „Kunsthandwerker“ aber

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MVGN 78 (1991), S. 17-87. Ebda. S. 54-57, 71-84. MVGN 74 (1987), S. 77-128, hier S. 103-112, zu Scherp S. 106, 108, 110. Wingen-Trennhaus (wie Anm. 1), S. 61.

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bringt sie kein Argument vor, obwohl für Sporer immerhin einige Indizien (z. B. ausdrücklich von Zinner) vorgelegt wurden.5 Ob man den berühmten Maler Michael Wolgemut, Dürers Lehrer, den groß­ artigen Frühdrucker Ratdolt und den bescheidenen Kalenderdrucker Sporer in einen Topf als Kunsthandwerker werfen kann, lasse ich dahingestellt. Das von Ratdolt 1481 nachgedruckte Hauptwerk Regiomontans der Ephemeriden wurde immerhin von Columbus, Vasco da Gama und Vespucci auf ihren Ent­ deckungsreisen benutzt, und das Exemplar mit handschriftlichen Notizen des Columbus blieb erhalten. Eine Seite mit Columbus Notizen wurde von Zinner und danach von mir als Faksimile abgedruckt.6 Immerhin haben andere Experten die Leistungen und Persönlichkeiten von Wolgemut, Sporer und Ratdolt schon behandelt und gewürdigt. Meister Konrad Scherp jedoch wurde bislang noch nicht unter die „Berühmten Nürnberger“, wie Christoph von Imhoff sie vorstellte, eingereiht, wiewohl er es durchaus verdiente und Imhoff selbst wie auch seine Rezen­ senten beklagten, daß so wenige aus der wegen ihrer Künste einst berühmten Handwerkerschaft Nürnbergs als Personen faßbar sind.7 Nur gelegentlich meiner kleinen Abhandlung über Regiomontan und Nürnberg 1471 — 1475 „Hec opera fient in oppido Nuremberga Germanie ductu Ioannis de Monteregio“ habe ich Scherp (Scherb, Scheb, Scherpf, Scherpp) mehrfach erwähnt und einiges zu ihm, seiner Lebensbahn und -leistung und zu seinem Verwand­ tenkreis von Fachleuten, Meistern der Drahtgewerbe, quellenmäßig nachge­ wiesen. Ich glaubte dabei auch plausibel gemacht zu haben, daß gerade Scherp der maßgebliche Mann Regiomontans für seine feinmechanische Werkstatt gewesen sei und sehr wahrscheinlich auch sein Experte für die Nürnberger Druckerei Regiomontans und speziell für den Druck wissenschaftlich-techni­ scher Fachbücher. Diese unterschieden sich nämlich ganz wesentlich von 5 Wingen-Trennhaus (wie Anm. 1), S. 67 Abschn. 5.2.4. Zu Ratdolt kam ich in meiner Abhandlung zu Regiomontan, vgl. u. Anm. 6, S. 274 zum gleichen Schluß wie Diehl, S. 11, wenn auch mit anderen Argumenten. Zu Sporer vgl. Zinner (wie Anm. 6) I S. 353 f. nr. 167. 6 W. v. Stromer: Hec opera fient in oppido Nuremberga Germanie ductu Ioannis de Monteregio. Regiomontan und Nürnberg 1471 —1475, in: Regiomontanus-Studien, hg. v. Günther Hamann, Österr. Ak. d. Wiss., phil-hist. Kl., SB 364. Bd., Wien 1980, S. 267—289, Tafel XXIII, nach Ernst Zinner: Leben und Wirken des Johannes Müller von Königsberg, genannt Regiomontanus, Osnabrück 21968, S. 189, 300, Tafel 34, Abb. 59. Die Gründe, die Frau Win­ gen-Trennhaus für den Weggang Regiomontans nach Ungarn für maßgeblich hält (S. 21, Anm. 23), erklären nicht, warum er statt z. B. nach Erfurt gerade nach Nürnberg ging. Er nennt sie in den (a. a. O. S. 22) zitierten Briefzeilen, weil nämlich dieser Ort wegen der Fernhandels­ beziehungen seiner Kaufleute (propter excursum mercatorum) gewissermaßen das Zentrum Europas sei, und wegen der Qualität seiner Instrumente. 7 Eckard Pohl: Johannes Regiomontanus, Astronom und Mathematiker 1436—1476, in: Chri­ stoph von Imhoff: Berühmte Nürnberger aus neun Jahrhunderten, Nürnberg '1984, S. 50—52, 21989) erwähnt Scherp nicht. — Irene Stahl: Nürnbergs Handwerker, ebda. S. 392—394.

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allem, was bisher mit Gutenbergs typographischer Technik seit 1453 gedruckt worden war. In Georg Peuerbachs Theoricae novae planetarum nämlich waren — Regiomontans Verlagsprospekt von 1473 entsprechend „cum figurationibus opportunis“ — zur Darstellung der Epizykeltheorie des großen österreichi­ schen Astronomen den 20 Blatt Textseiten 29 verschiedene, meist kolorierte Holzschnitte der Planetenbewegungen beigefügt, die zum Teil beweglich montiert waren. Sie waren so vorzüglich gestaltet, daß sie geradezu als Bauan­ leitung für eine mechanische Planetenuhr dienen konnten, wie sie Regiomontan in seinem Prospekt als „Astrarium, opus plane pro miraculo spectandum“ ankündigte.8 In seinem Hauptwerk, den Ephemeriden von 1474, aber brachte Regiomontan auf 728 Textseiten in meist tabellarischer Anordnung im Stil einer modernen Logarithmentafel rund 300000 Zahlen und Symbolzeichen systema­ tisiert unter, um nach dem Stand der Gestirne mit den damaligen schlichten Instrumenten jeder Zeit auf hoher See den Schiffsort bestimmen zu können.9 Weder die Planetentafeln Peuerbachs noch gar die Ephemeriden hätte Regiomontan drucktechnisch fertigen oder ihren Druck sachkundig leiten können, aber schon gar nicht ein „Setzer“. Die Vorstellungen der Gutenbergund Frühdruckforscher zu den technischen Vorgängen der Herstellung und Bedienung der für jeden Druck erforderlichen Geräte und über die einstigen Druckvorgänge sind oft erstaunlich naiv und selten ausreichend und zutref­ fend. Erst recht gilt das für Druckwerke wie jene beiden. Der Berufsschreiber mochte leicht als „Setzer“ anzulernen gewesen sein, falls er in den Fingern ein gutes Muskelgedächtnis hatte und er bereit und in der Lage war, die Spiegel­ schrift der Lettern schnell und irrtumsfrei zu lesen. Die Einrichtung und Lei­ tung einer Druckerei, die Werke wie jene liefern konnte, aber bedurfte hoher organisatorischer und ungewöhnlicher technischer Fähigkeiten. Meister Konrad Scherp war dafür genau der richtige Mann. Daß gerade er Regiomon­ tans Mann war, ergibt sich fast zwingend aus der Tatsache, daß er zur Hälfte die Instrumente und die Bücher Regiomontans nach dessen Tod besaß, gemeinsam mit dessen Erben, d. h. nahen Verwandten als gesetzlichen oder testarischen Erben zur anderen Hälfte. Da eine Verwandtschaft Scherps mit Johannes Müller nicht nachzuweisen und auch ziemlich unwahrscheinlich ist, dürfte er von diesem aus persönlichen und triftigen Gründen testarisch für den halben Nachlaß zum Erben eingesetzt worden sein. Die beiden Nachlaßhälften 8 Stromer (wie Anm. 6), S. 275 Anm. 21, S. 283—285 zu Scherp, S. 281 f. zur Planetenuhr „Astrarium“ und den Tafeln in Peuerbach Theoricae Planetarum als deren Vorlage. Frau Wingen-Trennhaus geht bei ihren Ausführungen zu Regiomontans Druck dieses Werks auf Besonderheiten, S. 37, 42 f., 54, 74 ff., nicht ein, wie ohnehin kaum auf die vermutlichen Zusammenhänge zwischen den in der Verlagsanzeige angekündigten Druckwerken und Instru­ menten. 9 Wingen-Trennhaus, S. 39, 44 f., 80.

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waren ersichtlich noch ungeteilte ideelle Halbteile in Gesamthandseigentum, als Bernhard Walter 1478/79 von Meister Scherp und von „den Erben“ die gesamten Instrumente und Bücher erwarb. Eine besondere Beziehung zwi­ schen Regiomontan und Scherp ergibt sich aus Walters Jahrtagstiftung von 1504, dank der neben Walters Angehörigen ausdrücklich dieser beiden für alle Zeiten gedacht werden sollte, während Walter zugleich Verfügungen zur Inventarisierung und zum Erhalt seiner und Regiomontans Bibliothek traf. Zu den an Scherp hälftig gefallenen sämtlichen (!) Instrumenten gehörten rechtlich eindeutig auch alle Instrumente und Geräte der Druckerei, was sich begrifflich durch die ihm zugleich hälftig vermachten gesamten Bücher bestätigt.10 Worin der triftige sachliche und persönliche Grund für diese Erbeinsetzung bestand, ergibt sich eindeutig und in kaum zu bezweifelnder Weise zum einen aus dem Verlagsprogramm, was alles Johannes Müller in Nürnberg an Druck­ werken und feinmechanischen Objekten zu fertigen unternahm, zum anderen aus der beruflichen Mehrfachqualifikation Scherps. In der erwähnten Abhand­ lung wies ich nach, daß dieses Programm in Nürnberg die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für seine Realisation fand, daß es bei den Druckwerken ja bekanntlich in den knapp zwei Jahren zum Teil schon ver­ wirklicht wurde und bei den feinmechanisch-astronomischen Instrumenten zumindest in Angriff genommen war, in Nürnberg z. T. auch schon Vorläufer hatte und große Nachfrage fand. Seltsamerweise hat Frau Wingen-Trennhaus diese Abhandlung — zu einer ganz randständigen Frage — zwar zitiert, jedoch anscheinend nicht gelesen. Dort hätte sie nämlich auch andere für ihr Thema nicht ganz unwesentliche Nachrichten gefunden: die Datierung der Verlags­ anzeige anhand ihrer — unterschiedlichen — Wasserzeichen und zwar durch Piccard selbst. (München: Ochsenkopf XIII, 525, London: Ochsenkopf XII, 755), sowie, daß beide Exemplare auf Papiere unterschiedlicher Formate und mit unterschiedlichem Satzspiegel gedruckt sind, also in zwei verschiedenen Ausgaben wenn nicht Auflagen erschienen. Dort führte ich den Nachweis nicht nur für sämtliche Geräte und Instrumente, sondern auch für die mobile Konstruktion der Planetentafeln Peuerbachs. Ich deutete die Ankündigung eines Programmpunkts „de ponderibus“ als geplantes Druckwerk eines Kauf­ mannshandbüchleins im Stile der „Tariffe, pexe e misure“, wie sie Pegolotti, Ulman Stromeir, Paxi erstellten und wie sich 1464 eines im Nachlaß des Rats­ herrn und Montanunternehmers Hans Tetzel befand. Auch in den angekün­ digten „radii visorii“ vermutete ich ein Druckwerk entsprechend Ulman Stromeirs Ausführungen über die von ihm erfundene Visierrute, vielleicht aber auch ein solches Gerät selbst. Darüber mag man verschiedener Meinung sein, sollte es aber als Buchkundler nicht übergehen. Denn da diese Objekte „cum figurationibus instrumentorum ad eas res necessiarorum“ angepriesen waren, 10 Eirich (wie Anm. 3), S. 110; Wingen-Trennhaus, S. 61.

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handelt es sich viel eher um entsprechend illustrierte Drucke, die den Themen nach damals einzigartig waren. Ebenso waren die „Radii visorii multorum generum“, gleich ob die Geräte selbst oder deren Beschreibung, angesichts des Zusatzes „cum usibus suis“ zumindest mit einer — gedruckten — Gebrauchs­ anweisung versehen.11 Um diese sehr vielfältigen unterschiedlichen Geräte und Instrumente zu konstruieren und gewerblich herzustellen, bedurfte es eines ungewöhnlich vielseitigen und begabten Feinmechanikers. Regiomontan war dies sicherlich nicht, wohl aber kommt Scherp dafür vorzüglich in Betracht. Zwischen der handwerklichen Herstellung eines Instruments und einer sachgemäßen Beschreibung und verständlichen, vollziehbaren Gebrauchsanweisung und der bildlichen Wiedergabe bestand und besteht doch ein wesentlicher Unterschied. Weder die Handwerkerbilder des berühmten Hausbuchs I der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung von 1425 ff. bieten brauchbare Vorlagen zu einem Gebrauch der dargestellten Geräte, noch auch die Serie der Libri ... de ingeniis und de machinis des Archimedes von Siena, Mariano di Jacopo detto il Taccola, von ca. 1420—50. Solche bieten erst gegen Ende des Jahrhunderts ein­ zelne Zeichnungen des Hausbuchmeisters und einige Leonardos, mit der ein­ zigen, noch kaum erkannten Ausnahme der Konstruktionen Heinrich Arnolds von Zwolle von 1435—40.12 Konrad Scherp jedoch hatte selbst dafür die erfor­ derliche intellektuelle Vorbildung, wenn er — wie ich annahm und annehme — mit dem ersten mir bekanntgewordenen Nürnberger dieses Namens gleich­ zusetzen ist. An der Universität Wien nämlich wurde zum Sommersemester 1442 ein Conrad Scheb (sic!) de Nurmberga immatrikuliert — als Erstsemester im damaligen Grundstudium der artes liberales. Wie die Zusammenstellung Richard Pergers über Nürnberger im mittelalterlichen Wien ausweislich der Universitäts-Matrikel ergibt, war es damals und dort keineswegs ungewöhn­ lich, daß Söhne aus den Familien der Nürnberger Fachhandwerker und 11 Wingen-Trennhaus, S. 19 Anm. 12, S. 27, Anm. 40; Stromer (wie Anm. 6), S. 276 zu Regio­ montan, De ponderibus, S. 278 zu dessen Radii visorii. Dies bedarf doch besonderer Erwäh­ nung, da Hans Sporers „Visierbüchlein auf allerhand Eich“, Bamberg 1487, vermutlich nach Regiomontans Vorlage gefertigt und gedruckt ist, und erst Joh. Kepler mit seiner „Meßkunst Archimedi — Sterometria doliorum“ 1616 die Probleme löste, die sich schon Ulman Stromeir gestellt hatte. Zur Verlagsanzeige vgl. Wingen-Trennhaus S. 27—31; Stromer S. 272 f. und Tafeln XXIX, XXX. 12 Auflistung und Kritik der illuminierten technischen Handschriften des Mittelalters bei Stromer: Apparate und Maschinen von Metallgewerben in Mittelalter und Frühneuzeit, in: Handwerk und Sachkultur im Spätmittelalter, hg. v. Harry Kühnel, Osterr. Ak. d, Wiss. phil.-hist. Kl., SB 513. Bd., Wien 1988, S. 127—140; ders.: High.-Tech anno 1439. The Dia­ mond polishing Machine of Arnold von Zwolle and Johannes Gutenberg, erscheint in: XI. In­ ternational Scientific Instrument Symposium (Bologna 1991), Proceedings, ed. Giorgio Dragoni, Bologna 1992.

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Gewerbetreibenden studierten. Ständische Gründe standen ihrem Studium keineswegs entgegen. Ganz im Gegenteil stammten viele der Nürnberger Stu­ denten Wiens aus diesen Kreisen, denen ständisch ja auch solche Unternehmer zugerechnet wurden, die ein — anderwärts — als zünftig eingestuftes Gewerbe mit ihren Protofabriken betrieben, und sie kehrten nach Abschluß oder auch Abbruch des Studiums in solche Berufe zurück. Trotz der abweichenden Schreibung des Familiennamens war Scheb ein Angehöriger der Familie Scherp, da sich in Nürnberg sonst keine irgend ähnlichen Namens fassen ließ.13 Wenn Conrad Scheb/Scherp sein Studium in Wien lang genug ausdehnte, dort gar einen Titel erwarb, oder aus beruflichen Gründen lange genug in Wien verweilte, konnte er vielleicht gerade noch die Ankunft seines jugendlichen fränkischen Landsmanns Johannes Müller aus Königsberg erleben, der nach drei Studienjahren an der Leipziger Universität 1450/51 an die Universität Wien überwechselte — wo seit dem Sommersemester 1451 in der Artisten­ fakultät Magister Sebaldus de Nurmberga „perspectivam“ und „Metheororum“ lehrte. Fern ihrer Heimat mochten die paar Franken sich womöglich in einem Stammlokal gerne getroffen haben. Eben im Frühjahr 1451 jedoch wurde in Nürnberg am 28. Mai ein Konrad Scherp als Meister im Gewerbe der Messingschläger zugelassen, wie schon 1431 und nochmals 1438 ein Fritz Scherb und 1463 ein Endres und 1493 ein Sebolt Scherb. Am 2. Februar 1463 — also ganz kurz vor Regiomontans Über­ siedlung nach Nürnberg — wird ein Cuncz Scherb als Meister der „tratzieher“ zum Bürgerrecht zugelassen, wie auch schon 1443 ein Eberhart Scherb in diesem Gewerbezweig vorausgegangen war.14 1481 und 1492 ist wiederum ein Cuncz Scherb als Drahtzieher und „scheybenzieher“ im Meisterverzeichnis geführt,15 die vermutlich, wie 1493 Sebolt, schon einer neuen Generation ange­ hörten. Die Identität der einzelnen Konrade und Kunze und die Verwandt­ schaftsverhältnisse der Träger der Namen Scherb/Scherp/Scherpf oder Scheb lassen sich aus den verfügbaren Angaben nicht klären. Jedoch ist — auch ange­ sichts der genannten Berufsbezeichnungen — kein Zweifel, daß sie eng zusam­ mengehören. Messingschläger, Drahtzieher und Scheibenzieher nämlich waren nur Zweige des Gewerbes der Draht- und Drahtwaren-Hersteller. Wer zwischen 13 Matrikel der Universität Wien, Publikationen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung 6. Reihe I, Graz-Köln 1956, zu 1442 I; Stromer: Hec opera (wie Anm. 6), S. 275 Anm. 11. 14 Stromer: Haec opera (wie Anm. 6), S. 273 Anm. 10, Zinner (wie Anm. 6), I S. 47; Richard Perger: Nürnberger im mittelalterlichen Wien, in: MVGN 63 (1976), S. 1—98, hier S. 91. 15 Stromer: Haec opera (wie Anm. 6), S. 284 f.; ders.: Innovation und Wachstum im Spätmittel­ alter. Die Erfindung der Drahtmühle als Stimulator, in: Technikgeschichte 44 (1977), S. 89—120; Nachweise der verschiedenen Scherb/Scherpf in den Nürnberger Neubürger- und Meisterbüchern: Staatsarchiv Nürnberg, Amts- und Standbücher (AStB) nr. 110 fol. 22v, nr. 111 fol. 20r, nr. 304 fol. 96r/v, 97r, 124v, 166r, nr. 305 pag. 140 und 203 und fol. 99r.

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1431 und 1491 in diesem Beruf als Meister zugelassen oder gar als Meister — mit abgeschlossener auswärtiger Ausbildung — eingebürgert wurde, hatte sozial und wirtschaftlich nichts mehr gemein mit dem Drahtzieher Dietrich Schockenzieher, der im Zwölfbrüderhaus der Mendel-Stiftung gemäß deren Satzung als ehrlicher, arbeitsamer und verarmter Handwerker Aufnahme gefunden, dort mit seinem Arbeitsgerät von einem geschickten Mitbruder im Hausbuch abkonterfeit wurde und in diesem Armenspital um 1425 starb. Die Meister dieser Gewerbe nämlich waren nicht mehr Fachhandwerker, sondern fachkundige und wirtschaftlich erfolgreich etablierte Unternehmer und Betriebsleiter einer der Nürnberger Drahtziehmühlen oder — als Messing­ schläger — eines Messinghammers, d. h. von Protofabriken. Ein faßbares Bei­ spiel bildet z. B. in diesem Status ein Albrecht Pernolt, der 1431 in Nürnberg als Betriebsleiter einer der Drahtmühlen des Stromer-Konzerns bezeugt ist, während Vorfahren von ihm dort schon 1344 und ab 1363 im hochqualifi­ zierten Beruf des (Geld-)Wechslers nachgewiesen sind und einer von ihnen das Handelshaus Stromer jahrelang als dessen Faktor in Mailand vertrat. Albrechts Söhne Heinrich und Georg jedoch studierten zunächst — Heinrich gleichzeitig mit dem jungen Johannes Müller — in Leipzig, wo es Heinrich zum Magister und 1460 sogar zum Rektor brachte, wie Georg sogar dreimal zwischen 1468 und 1501 zum Rektor an der Basler Universität.16 In den Nürnberger Meisterbüchern werden als Drahtzieh-Meister ohne ständische Unterscheidung seit 1417, eben nach dem Gelingen der Erfindung der Drahtziehmühle, generationenlang die aus dem Fachhandwerk aufgestie­ genen, erfindungsreichen Gewichtmacher ebenso geführt wie die aus Ratsge­ schlechtern stammenden Marx Schefflein und Rudolf Steiner, auch er Sohn eines Mailänder Stromeirfaktors, oder der Chef einer länderüberspannenden Fernhandelsfirma, wie Ludwig Gruber. Auffallend oft begegnen wir unter den Frühdruckern Abkömmlingen von Drahtunternehmersippen, so etwa Johannes Sensenschmidt, der mit Gutenbergs einstigem Gesellen Heinrich Kef(f)er Nürnbergs erste Druckerei betrieb, während Angehörige seiner Nürnberger Familie als die Verleger der Drahtzieher in den Ehehaft-Gerichts­ büchern der fränkischen Gewerbestadt Roth seit den dreißiger Jahren laufend bezeugt sind.17 In der Erfindungs- und Innovationsphase des typographischen 16 Stromer: Drahtmühle (wie Anm. 15), S. 96 Abb. 5 nach Hausbuch der Mendelstiftung I fol. 40v; Das Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung zu Nürnberg. Deutsche Hand­ werkerbilder des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. v. Wilhelm Treue, Friedrich Klemm, W. v. Stromer u. a., München 1965, Abb. 71. — Stromer: Oberdeutsche Hochfinanz 1350—1450, Beihefte 55—57 zur VSWG (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte), Wies­ baden 1970, S. 382—384 zu den Pernold. 17 Stromer: Die Nürnberger Handelsgesellschaft Gruber-Podmer-Stromer im 15. Jahrhundert, Nürnberger Forschungen 7, Nürnberg 1963, Regesten nr. 23a, 25, 27, 37b, c, Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 64, Nürnberger Ämterbüchlein nr. 2 sine pagina „Drotzieher“ 1418—24, nr. 3,

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Buchdrucks und des mechanisch-halbautomatischen Drahtzugs (der Draht­ mühle) gab es gemeinsame Anforderungen für Schlüsselfiguren beider Berufe an besonderen feinmechanischen Begabungen, so etwa beim Justieren der ko­ nischen Hohls (Ziehlöcher) der Zieheisen und beim Gravieren und Justieren der Lettern-Stempel. Ich habe dies eben anderwärts eingehender begründet.18 Unter diesen Umständen möchte ich den 1469 als Drahtziehmeister in Nürnberg eingebürgerten Cuncz Scherb für Regiomontans Experten in der feinmechanischen Werkstatt und bei der Einrichtung und dem Betrieb der wis­ senschaftlich-technischen Fachdruckerei und als deren 1477/78 bezeugten (Mit-)Erben ansehen. Daß er auch schon der an der Wiener Alma mater erstimmatrikulierte Nürnberger Conrad Scheb war, erscheint mir nicht ganz unwahrscheinlich, da vor dem Einbruch der Lues dank der Entdeckung der Neuen Welt die Lebenserwartung insbesondere von Wohlhabenderen in Nürnberg erstaunlich hoch war. Wenn Bernhard Walter in seiner Jahrtagsstif­ tung mit Regiomontan auch des Meister Conrad Scherb gedenken läßt, meinte er damit nach damaligem Sprachgebrauch keinen biederen Handwerksmeister — über welchen Status Regiomontans Mitarbeiter und Erbe ja längst hinaus war —, sondern einen Mann mit Magistertitel. Also war nicht Regiomontan in Nürnberg „Frühdrucker“, sondern Conrad Scherp, während jener überhaupt nicht „Drucker“, sondern Gründer, Ver­ leger, genialer Inspirator und auch Autor des Druckunternehmens war. Damit ist Frau Wingen-Trennhaus’ Einschätzung der Auflagenhöhe von je ca. 100 Exemplaren der Boden entzogen, die sie Regiomontan anhand seiner Aufent­ halte in Nürnberg und der dort pro gesetzter und ausgedruckter Seite der von ihr nachgewiesenen 123 700 Druckseiten — nur des überlieferten Gesamt­ werks! — in den angenommenen Druck-Arbeitstagen zugesteht. Auch Scherp hätte für diese Seitenzahl weder die Lettern, insbesondere die Symbole für die Ephemeriden, „schneiden“ (gravieren), noch gießen und setzen und dann allein drucken können, sondern er fand dazu unter den vielseitigen Fachhand­ werkern Nürnbergs die notwendigen, jedoch anonym bleibenden Helfer. Mag man für solch anspruchsvolle Druckwerke wie die Ephemeriden oder Peuerbachs astronomische Tafeln die Auflagenhöhe beliebig niedrig und die der beiden humanistischen Drucke nicht allzu hoch einschätzen — wobei der fol. 14v, 39v, 58r, 78r, 98r, 137r, Meister- und Neubürgerbücher AStB 303 pp. 76—79, nr. 304 pp. 118—121; zu Sensenschmidt vgl. Stromer: Hec opera (wie Anm. 6), S. 285 Anm. 25. 18 Stromer: Vom Stempeldruck zum Hochdruck. Förster und Gutenberg, 1433 — 1462, erscheint in: Johann Gutenberg — Regionale Aspekte des frühen Buchdrucks, Beiträge aus der deutschen Staatsbibliothek Berlin, hg. v. Holger Nickel, Berlin 1992 (Text zu Anm. 42—43 erläutert die technischen Gemeinsamkeiten bei Herstellung von Drahtzieh- und Druckgerät). Dazu auch Stromer: Fränkische Buchkultur zur Gutenberg-Zeit. Conrad Förster aus Ansbach und Hans Vorster, in: Festschrift Alfred Wendehorst, hg. v. Jürgen Schneider (Jb. f. Fränk. Landesfor­ schung 52), Neustadt/Aisch 1992, S. 349—366.

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nachgewiesene, bis heute erhaltene Restbestand bemerkenswert groß wäre —, so gilt dies aber keinesfalls für „Brotdrucke“ und gar die sicher in ganz großer Zahl gedruckte Werbeschrift der Verlagsanzeige, von der nun gerade nur 3 Exemplare überkommen sind. Zu den Brotdrucken gehörten solche Schriften wie jene über die Gewichte und über die Eichrute (De Ponderibus, Radii visorii), wovon heute kein Stück (mehr) vorliegt, sei es, daß Regiomontans früher Tod sie nicht mehr zum Druck kommen ließ, oder eher wahrscheinlich, daß ähnlich der Verlagsanzeige der Verschleiß durch praktischen Gebrauch und die Geringschätzung solcher zerflederter Schriften die Exemplare untergehen ließen. Die tatsächlich große, oft enorme einstige Auflagenhöhe und dagegen die minimale Überlieferung der „Brotdruck“-Inkunabeln zeigen die nur in Schnipseln erhaltenen Donate, der einzige Fetzen des Sybillenbuchs, die astrologischen Kalender und die Ablaßbriefe. Von 187 500 Ablaßbriefen, die 1499 in Barcelona gedruckt und bezahlt wurden, hat sich kein einziger im Original wiederfinden lassen.19 Zwar ist Frau Wingen-Trennhaus’ Nachweis der Übereinstimmung der Weißlinien-Initialen P und M bei Regiomontan und Sweynheim 8c Pannartz sehr eindrucksvoll und überzeugend, wenn auch leider ohne Angabe, ob diese sie schon 1465 in Subiaco, 1467 — oder wann? — in Rom verwandten. Gleich­ wohl erscheint es ausgeschlossen, daß Regiomontan für seine beiden AntiquaLetternsätze „sogar Typen aus italienischen Beständen verwendet“ haben könnte, wie sie vermutet. In Italien hatte der Buchdruck — und zwar durch deutsche Drucker — doch erst 1465—67 in Subiaco und Rom und 1469 in Venedig eingesetzt und wurde z. T. mit den ursprünglichen Letternsätzen (und deren Guß-Patrizen) dort über Regiomontans Nürnberger Zeit fortge­ führt, also wurden dort diese selbst laufend benötigt. Für geistliche und huma­ nistische Schriften war Italien Deutschland mit Druckwerken keineswegs vor­ ausgegangen und für sie bestand daher hier nicht die von Frau Wingen-Trennhaus vermutete „Marktlücke“, die Regiomontan mit den 10 Blatt des Basilius und 72 des Manilius zu schließen Vorhaben konnte. Sweynheim 8c Pannartz druckten bis 1470, als in Nürnberg Sensenschmidt und Koberger, dann Regio­ montan einsetzten, zwar Lactantius, Augustinus und Cicero, Han 1467 die Meditationes des Turrecremata, Johann und Wendelin von Speyer ab 1469 in Venedig Cicero, Plinius und wiederum Augustinus. Dagegen hatten in Mainz Fust 8c Schöffer schon 1465 u. 1466 den gleichen Text Ciceros, in Straßburg Mentellin um 1466 einen Augustinus-Text und 1468 auch sein „De civitate Dei“ herausgebracht, neben vielen ähnlichen Textbereichen geistlicher, antiker, humanistischer Schriften seit 1454 in Mainz, 1461 in Straßburg, 1464 in Eltville, 1465/66 in Köln, 1468 in Augsburg und Basel, die vor Italien und 19 Wingen-Trennhaus S. 57 ff.; W. v. Stromer, Eine reziproke Klassifikation von Wiegen­ drucken; im Druck für Gutenberg-Jahrbuch 1993.

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vor Regiomontan auf den Markt strömten. Naturwissenschaftliche Druck­ werke aber gab es vor Regiomontan weder in Deutschland, noch in Italien, wo also auch darin die Situation nicht „ganz anders“ war.20 Keines der unter Regiomontans gedruckten oder angekündigten naturwissenschaftlichen, tech­ nischen oder alltagspraktischen Werke hätte ohne sein Zusammenwirken mit Conrad Scherb entstehen können, wie auch keines ihrer Instrumente ohne ihrer beider Zusammenspiel als Erfinderteam.

20 GW (Gesamtkatalog der Wiegendrucke) 6742, 2874, 6799, 2875, 6744, 6802, 2876 zu Sweynheim & Pannartz, 6800, 6801, 2877 zu J. u. W. von Speyer, Hain Repertorium 15722 zu Han; GW 6921, 6922 zu Fust & Schöffer, GW 2871, 2883 zu Mentellin; Wingen-Trennhaus Tafel V Abb. 8 — 10 und S. 23, 47, 61—65. Die von ihr vermutete Tätigkeit Sweynheims in Regiomontans Nürnberger Druckerei wäre angesichts der übereinstimmenden Weißlinien­ initialen denkbar und eine kulturgeschichtlich wichtige Frage, die sich jedoch ohne weitere zuverlässige Daten und Titel nicht entscheiden läßt.

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DÜRER DER MALER Zur Neuausgabe des Kataloges der Gemälde durch Fedja Anzelewsky Von Matthias Mende Die Geschichte der Dürer-Forschung ist ein ungeschriebenes Buch. Man könnte in ihm nachlesen, daß es zuerst die Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte des Meisters waren, die in die Ordnung eines (Euvrekataloges gebracht werden konnten. Dieser Vorgang war in der Goethezeit im wesent­ lichen abgeschlossen. Noch heute wird das druckgraphische Werk Dürers nach dem vielbändigen, ab 1803 in Wien erschienenen „Le Peintre-Graveur“ von Adam Bartsch (1757-1821) zitiert. Nach dieser weltweit eingeführten Numerierung bezeichnet etwa das Kürzel Stich B. 74 die Melancholie oder Holzschnitt B. 13 die Flucht nach Ägypten aus dem Marienleben. Die Wissen­ schaft brauchte dann mehr als hundert Jahre, um die zerstreuten Zeichnungen Dürers aufzuspüren, chronologisch zu ordnen und durchzuzählen. Das Ergebnis waren vier Bände „Die Zeichnungen Albrecht Dürers“, erschienen in Berlin zwischen 1936 und 1939, bearbeitet von Friedrich Winkler (1888 — 1965), nach dessen Numerierung seitdem zitiert wird. Das Blatt W. 1 wäre bei­ spielsweise das Selbstbildnis des dreizehnjährigen Dürer von 1484 in Wien, die Zeichnung W. 248 der berühmte sitzende Feldhase, die sog. Betenden Hände nennen die Fachleute nach Winkler W. 461. Erst ein solches, zugegeben wenig prosaisches Koordinatengitter von Werknummern ermöglicht der hochspezia­ lisierten, inzwischen in vielen Ländern der Welt etablierten Dürer-Forschung eine problemlose Verständigung und einen raschen Austausch ihrer Ergeb­ nisse. Müßte man die Bildtitel immer voll (und in vielen Sprachen) aus­ schreiben — die Bücher und Aufsätze über Dürer erstickten in Fußnoten. Und selbst dann wären Mißverständnisse nicht auszuschließen, da Dürer beispiels­ weise 1520 zweimal eine Maria mit Kind {Stiche B. 37—38) oder im Jahr darauf zwei Stiche mit dem heiligen Christophorus (B. 51—32) herausbrachte. An einen umfassenden Werkkatalog der Gemälde, im künstlerischen Werk Dürers die auffälligste Gruppe, weil in den Museen ständig vor Augen, wagte sich erstmals Mitte der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts Fedja Anzelewsky, damals Vertreter der mittleren Gelehrtengeneration. Anzelewsky, 1919 in Nordhausen am Harz geboren, wuchs in Berlin auf, besuchte seit 1925 ver­ schiedene Schulen und schloß 1937 mit der Reifeprüfung ab. Sein Studium der Kunstgeschichte, 1938 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin bei Wilhelm Pinder und Friedrich Gerke begonnen, unterbrach der Zweite Welt­ krieg. Von 1940 bis 1945 war Anzelewsky Soldat, überlebte schwer ver­ wundet. 1947 konnte er sein Studium wieder aufnehmen, anfangs in Mainz, dann, nach erneuter Unterbrechung, ab 1951 an der Freien Universität Berlin. 133

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Die Begegnung mit Friedrich Winkler, dem Direktor des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin, lenkte seine fach­ lichen Neigungen in die entscheidende Bahn. Bei Winkler promovierte er 1954 mit einer Arbeit „Motiv und Exemplum im frühen Holzschnittwerk Dürers“. Die Dissertation, entstanden in der nach heutigen Maßstäben unglaublich kurzen Zeit von anderthalb Jahren, blieb ungedruckt, verschaffte dem jungen Forscher dennoch Ansehen, zumal er rasch zu publizieren begann. Sein beruf­ licher Werdegang führte ihn folgerichtig zu Friedrich Winkler ins Kupferstich­ kabinett der Berliner Museen, als dessen Schüler er sich noch immer fühlt, dessen wissenschaftlichen Nachlaß ihm die Erben anvertrauten, dessen Amts­ nachfolger er schließlich wurde. Anzelewsky blieb dreißig Jahre in dieser gra­ phischen Sammlung, die in Deutschland konkurrenzlos ist, zuletzt, von 1977 bis 1984, als ihr Direktor. Er wurde zum Professor ernannt und lehrte, über die Ruhestandsgrenze hinaus, an der Freien Universität Berlin Kunstge­ schichte. Zum Abschied aus dem Museumsamt erschien der Bestandskatalog der Dürer-Zeichnungen, den er zusammen mit dem jüngeren Hans Mielke in mehr als zehnjähriger kollegialer Zusammenarbeit erstellte.1 Natürlich hatte Anzelewsky in seinem Bemühen, einen verläßlichen Werk­ katalog der Gemälde Dürers zu erarbeiten, bedeutende Vorläufer. Den Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Albrecht Dürer läßt man, je nach Beurteilungsmaßstab, mit dem Bamberger Joseph Heller (1758 — 1849) oder dem Wiener Moriz Thausing (1838—1884) beginnen. In unserem Jahrhundert haben sich vor allem Hans Tietze (1880—1954) mit seiner Frau Erika TietzeConrat und Erwin Panofsky (1892—1968) um einen Katalog der DürerGemälde bemüht. Das Werkverzeichnis von Anzelewsky lag pünktlich zum 500. Geburtstag Albrecht Dürers vor.2 Selbstbewußt schreibt er im Vorwort: Das vorliegende Buch stellt den ersten Versuch dar, das malerische Schaffen Albrecht Dürers, ein allzulange von der deutschen Kunstgeschichte vernachläs­ sigtes Thema, auf wissenschaftlicher Grundlage darzustellen und soweit mög­ lich zu rekonstruieren. Während die Zeichnungen, die Graphik und selbst Dürers Manuskripte in wissenschaftlich einwandfreier Form, teilweise bereits seit längerer Zeit, publiziert sind, gab es bislang keine entsprechenden, neuzeit­ lichen Anforderungen gerecht werdenden Veröffentlichungen über die Gemälde. Diese Lücke auszufüllen, war das Bestreben des Verfassers. Sein Ziel wurde erreicht. Die Durchnumerierung der Bilder Dürers von 1 bis 189 setzte sich international durch (abgekürzt A. oder Anz.). Wie leider oft bei großen 1

F. Anzelewsky/H. Mielke: Albrecht Dürer. Kritischer Katalog der Zeichnungen, hg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz (Zeichnungen alter Meister im Berliner Kupfer­ stichkabinett), Berlin 1984. 2 F. Anzelewsky: Albrecht Dürer. Das malerische Werk, Berlin: Deutscher Verlag für Kunst­ wissenschaft, 1971. 303 S. m. 124 Abb., 8 Farbtaf. u. 192 Taf.

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Abb. 1:

Kreuzaufrichtung. Mittelbild eines Flügelaltärchens der Nürnberger Familie Stark. Nürnbergisch, um 1485. New York, Kunsthandel (1991). Foto French & Co. Inc., New York.

Abb. 2:

Bildnis der Barbara Schedel, 1524. Von F. Anzelewsky als spätere Kopie nach A. Dürer be­ zeichnet; hier Hans Plattner zugeschrieben. Französischer Privatbesitz (1983). Foto GNM.

Abb. 3:

Bildnis eines Mannes vor grünem Grund. Von F. Anzelewsky A. Dürer zugeschrieben. Privatbesitz (1993). Foto Fotothek GNM.

Abb. 4:

Kreuztragung Christi. Tempera auf Leinwand. Hier erneut A. Dürer zugeschrieben. Niedersächsische Landesgalerie Hannover. Foto des Museums.

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wissenschaftlichen Neuerscheinungen hielt sich die Zahl der fachkundigen Rezensenten in Grenzen. Die wichtigsten Besprechungen schrieben Gisela Goldberg, Dieter Kuhrmann, Michael Levey, John Rowlands, Hans Chri­ stoph von Tavel und Wolfgang Stechow.3 Nachdem die Auflage von 1971 verkauft war, entschloß sich der Verlag Ende der achtziger Jahre, eine überarbeitete Neuausgabe herauszubringen. Für den Autor ein anspornender Glücksfall, konnte er doch in textlichen Neufor­ mulierungen und mit Nachträgen sein in zwanzig weiteren Arbeitsjahren gewachsenes Dürer-Wissen in ein Buch einbringen, das sein wissenschaftliches Hauptwerk bleiben wird. Trug die Erstausgabe eine persönliche Widmung an Frau und Tochter, lautet das Motto 1991 Friedrich Winkler zum Gedenken. Vernünftigerweise hat man die zweite Ausgabe in einen Textband und in einen Tafelband aufgeteilt, was die Benutzung sehr erleichtert.4 Gliederung und Struktur der Ausgabe von 1971 behielt man bei. Die einführenden Texte sind weitgehend identisch. Vor allen Dingen wurde die Numerierung der Bilder nicht verändert. Nachträge sind an den entsprechenden Stellen mit einer zusätzlichen Ziffer eingefügt. Die hohe Zahl von 189 Nummern erklärt sich dadurch, daß der Autor bei mehrteiligen Werken, etwa Altären, Vorder- und Rückseite jeder Tafel einzeln zählt. Zudem nahm er verschollene oder zer­ störte Bilder auf, die in gemalten Kopien, Nachzeichnungen, Beschreibungen oder verläßlichen Inventarangaben überliefert sind. Anzelewsky steht damit für eine Position der Forschung, die in der Wissenschaftsdebatte vor und nach 1930 als Norddeutscher oder Berliner Dürer charakterisiert worden ist, deren Hauptvertreter sein Lehrer Friedrich Winkler war. Auf der Gegenseite eines Süddeutschen oder Wiener Dürer stand vor allem das Forscherehepaar Hans Tietze und Erika Tietze-Conrat. Tietzes schrieben Dürer unter anderem die Dresdener Marientafeln (Anz. 20—27), das Bildnis in Bergamo (Anz. 59) und das Marienbild in New York von 1516 (Anz. 127) ab. Ferner schieden sie mei­ sterliche Aquarelle wie die Bremer Iris (W. 347), den Baum im Steinbruch in Mailand (W. 112) oder den Hirschkopf in der Nationalbibliothek in Paris (W. 362) aus Dürers Werk aus. Winkler, der Dürers künstlerisches Werk erheblich ausweiten konnte, setzte sich mit seiner Auffassung nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Zweifellos in der Regel mit besseren Argumenten, doch haftet seinem Sieg im Wissenschaftsstreit ein schaler Beigeschmack an. Seine Hauptkontrahenten, das jüdische Ehepaar Tietze, hatten die National­ sozialisten aus Wien vertrieben und entwurzelt. Beide Gelehrte litten unter der erzwungenen Emigration in die Vereinigten Staaten von Amerika sehr. Anze­ lewsky folgt mit der Hereinnahme von Kopien einer Methode, die Wilhelm 3 Nachweise bei M. Mende in: MVGN 61 (1974), S. 251—253. 4 F. Anzelewsky: Albrecht Dürer. Das malerische Werk. Neuausgabe, 2 Bde., Berlin 1991. 312 S. m. 158 Abb.; 192 meist farbige Abb. auf 175 Taf.

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Suida (1877—1959) in seinem Buch „Leonardo und sein Kreis“ (München 1929) erfolgreich angewandt hatte, um den kompositorischen Erfindungs­ reichtum dieses Genies umfassend würdigen zu können. In der Neuausgabe des Dürer-Gemäldekataloges konnte das Material der Vergleichsabbildungen wesentlich vermehrt werden. Die Werke keines anderen abendländischen Malers sind so oft kopiert und nachgeahmt worden. Die Dürer-Rezeption, die bereits vor Dürers dreißigstem Geburtstag einsetzte und noch in der Gegen­ wart blüht, ist in der Kunstgeschichte ein beispielloses Phänomen. Ein wich­ tiges Anliegen von Fedja Anzelewsky ist, Dürer als Maler zu rehabilitieren. Sein Anfangskapitel Dürer als Maler: Urteil und Verurteilung unterschlägt die Argumente schon zeitgenössischer Gegner nicht, die meinten, er könne mit Farben nicht umgehen. Sein persönliches Urteil hat der Verfasser im Vorwort der ersten Auflage vorweggenommen, in dem er ihn den größten deutschen Maler nennt. Hier erntete er Widerspruch, zuletzt vom temperamentvollen Colin Eisler.5 Aus der Fülle der neuen Forschungsergebnisse und Fragestellungen mußte für diesen Beitrag eine allgemein interessierende Auswahl getroffen werden. Die folgenden knappen Ausführungen beschränken sich im wesentlichen auf Kommentare zu einigen Gemälden Dürers vor 1500, die Problematik der „Dürer-Werkstatt“ und Anmerkungen zu Bildnissen des ersten bis dritten Jahrzehnts. Verzichtet wurde auf die Behandlung einiger Werke, von denen ich meine, daß sie in einen Dürer-Katalog gehören. So wäre zu fragen, ob der gewöhnlich Hans Hoffmann zugeschriebene Kopf des Apostels Paulus in der Staatsbibliothek Bamberg (Inv.Nr. Gm. 43) nicht ein verlorenes Dürer-Werk wiedergibt. Das aus dem Besitz des Dürer-Forschers Joseph Heller stammende Stück ist schlecht erhalten und vielleicht deshalb von der Forschung in diesem Jahrhundert übersehen worden. Schwerer wiegt, daß die Kreuztragung Christi in Hannover unbesprochen blieb (Abb. 4). Wie fast alle Tüchleinmalereien der Dürerzeit ist das Temperagemälde stark ruinös. Seine Herkunft aus dem Nürnberger Klarenkloster scheint gesichert. Die kompositorische Nähe zum thematisch gleichen Holzschnitt der Großen Passion (B. 10) sollte nicht vor­ eilig als Beweis für Schüler- oder Kopistenhand gewertet werden. Für Anze­ lewsky könnte ausschlaggebend gewesen sein, daß Friedrich Winkler die Kreuztragung in Hannover ablehnte (während im Gegensatz sein alter Kontra­ hent Hans Tietze die Eigenhändigkeit noch 1953 verteidigte). Klarheit bringt möglicherweise der neue wissenschaftliche Bestandskatalog der altdeutschen Bilder in Hannover, an dem Michael Wolfson arbeitet.6 5 Renaissance Quarterly 45 (1992) H. 1, S. 165: Dürer may be Germany’s most all around „brilliant“ artist but certainly not the most brilliant painter. 6 Gert von der Osten: Katalog der Gemälde alter Meister in der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover, Hannover 1954, Nr. 85. — Leider fehlt für den deutschen Raum ein Bestandskatalog

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Gemälde vor 1500 Die Silberstiftzeichnung, die der dreizehnjährige Dürer 1484 von sich anfer­ tigte, verrät das künftige Genie. Naheliegend, aber falsch, schloß man daraus, daß auch die Anfänge Dürers als Maler außerordentlich gewesen sein müssen. Das Zeichentalent war sicher bei Dürer angelegt, vielleicht vom Vater ererbt, jedenfalls von diesem früh erkannt und während der Goldschmiedeausbildung gefördert. Malen hingegen war um 1480 ein mühsames, über Jahre hinweg zu erlernendes Handwerk. In der Werkstatt seines Lehrherrn Michael Wolgemut ging es rauh zu. Das Goldschmiedesöhnchen Albrecht, von den Eltern wohl verwöhnt und vorgezogen, hatte es in der Malerausbildung schwer. Rückblikkend beschreibt Dürer, wie er als Lehrling zu leiden hatte. Damals erlittene Kränkungen gruben sich dem Gedächtnis ein. Einen persönlichen Malstil unter Wolgemut ausbilden zu wollen, wäre undenkbar gewesen, ein zum Scheitern verurteilter Wunsch. Beigebracht, notfalls eingebläut, wurde ihm, so zu malen, wie das Werkstattoberhaupt oder die Altgesellen. Dürers malerische Anfänge sind aus der Produktion der Wolgemut-Werkstatt nicht herausfil­ terbar. Das gilt leider bisher auch für einen möglichen Anteil des jungen Dürer an den Holzschnittillustrationen der Schedelschen Weltchronik. Ein selbstän­ diger Beginn als Maler wird am ehesten im privaten Bereich faßbar werden — bei Bildnissen enger Familienangehöriger oder von sich selbst. Mit der Identi­ fizierung des lange gesuchten Porträts der Barbara Dürer, der Mutter des Künstlers, unter den anonymen Bildern des Germanischen Nationalmuseums gelang der deutsch-amerikanischen Forscherin Lotte Brand Philip 1978 ein Durchbruch. Das von ihr erforschte, um 1489 entstanden zu denkende Halb­ figurenbild ist einerseits konventionell, zeigt kopierende Anleihen bei Wol­ gemut, aber es verrät zugleich in Format und Durchführung künftige Größe. Fedja Anzelewsky war von der Richtigkeit der Zuweisung sofort überzeugt. Die Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung und die Stadtgeschichtlichen Museen Nürnberg ermöglichten der am Queens College der City University of New York lehrenden Professorin die Publikation ihrer Ergebnisse in deutscher Sprache.7 Die Forscherin plante vor ihrem Tod die Veröffentlichung eines Triptychons mit einer Kreuzaufrichtung, gemalt um 1485 vermutlich für den Nürnberger Kartäusermönch Georg Stark. Das Wappen der Familie findet der erhaltenen frühen Tüchleinmalereien, wie er für den altniederländischen Bereich vorliegt; Diane Wolfthal: The beginnings of Netherlandish canvas painting: 1400—1530, Cambridge 1989. 7 L. Brand Philip: Das neu entdeckte Bildnis von Dürers Mutter (Renaissance Vorträge 7), Nürn­ berg: Stadtgeschichtl. Museen 1981. — Bettina Heel: Die Bildnisse von Dürers Eltern. Magister­ arbeit Bonn 1989, Masch.-Schr. — Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 4. — Abgelehnt wird die Zuschreibung weiter von Peter Strieder und Kurt Löcher, doch scheinen mir beide isoliert. Jutta Zander-Seidel schreibt „Dürer (?)“; Textiler Hausrat. Kleidung und Haustextilien in Nürnberg von 1500—1650, München 1990, Abb. 96.

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sich unten auf der Mitteltafel (Abb. 1). Das ungewöhnlich gut erhaltene Ori­ ginal tauchte im amerikanischen Handel auf. Bekannt war vorher nur eine alte Kopie im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main. Lotte Brand Philip hielt das Altärchen brieflich und gesprächsweise für ein Werk des ganz jungen Albrecht Dürer, eine Meinung, der auch Anzelewsky 1977 noch zuneigte. In seinem Dürer-Katalog von 1991 scheidet er jedoch die Stark’sche Kreuzauf­ richtung samt den Flügelbildern mit den Heiligen Barbara und Katharina kom­ promißlos aus dem Frühwerk aus.8 Verstärkt beachtete Anzelewsky die Bild­ rückseiten früher Gemälde. Schon das Bildnis der Mutter in Nürnberg zeigt auf der Kehrseite eine nachgedunkelte, schwer deutbare Szenerie mit einem in eine Felsspalte fliehenden Teufelchen (?). Ungleich eindrucksvoller, da besser erhalten, wirkt die Rückseite des sog. Karlsruher Schmerzensmanns, die an eine kostbare Achatscheibe gemahnt.9 Von den beiden Marienbildern, die Anzelewsky in die Zeit der ersten Reise Dürers nach Venedig setzt, gilt die Tafel aus dem Kapuzinerkloster von Bagnacavallo bei Ravenna, trotz fehlenden Datums und fehlender Signatur, heute als unumstrittenes eigenhändiges Meisterwerk. Mit seiner 1991 wiederholten Frühdatierung „um 1495“ setzt sich Anzelewsky von Autoren wie Roberto Longhi, Heinrich Theodor Musper und Peter Strieder ab, die alle für eine Ent­ stehung in Italien erst um 1506 eintraten. Daß die Diskussion darüber auch in der italienischen Forschung weitergeht, belegen die Ausführungen von Vittorio Sgarbi, die Anzelewsky entgangen sind.10 Sehr viel problematischer muß das Marienbild der Sammlung Georg Schäfer beurteilt werden, das Anze­ lewsky nach der Madonna di Bagnacavallo einordnet. Das für den frühen Dürer erstaunlich große Bild war 1983 im Dürer-Saal des Germanischen Nationalmuseums einige Monate ausgestellt (und nahm sich dort fremd genug aus). Seit 1985 gehört es zu den ständig auf der Veste Coburg gezeigten alt­ deutschen Gemälden aus der Sammlung Schäfer. Liest man in diesen Jahren von Kurt Löcher und Isolde Lübbeke geschriebene Texte zu dem problemati8 Kunst & Tradition. Meisterwerke bedeutender Provenienzen. Bernheimer, München-London, 1864—1989, München 1989, S. 70, Farbtaf. 2: Die Zuschreibung „Werkstatt des M. Wolgemut“ von Dr. Fedja Anzelewsky, Berlin. Er plant eine Publikation, in der er zeigen wird, daß dieses Triptychon eng mit Albrecht Dürer zusammenhängt. — Anzelewsky (wie Anm. 4), S. 17. — Das Altärchen wurde 1990 im New Yorker Kunsthandel für 3,5 Millionen DM angeboten. 9 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 9.1, Farbtaf. 9. Zum Gemälde zuletzt: Ausst. Kat. Christus und Maria. Auslegungen christlicher Gemälde der Spätgotik und Frührenaissance aus der Karls­ ruher Kunsthalle, Karlsruhe 1992, Nr. 2. — Zu Rückseiten von Bildnissen der Dürerzeit allge­ mein vgl. die Druckfassung der Kölner Diss. 1985 von Angelica Dülberg: Privatporträts. Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990. 10 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 16. — V. Sgarbi: Fondazione Magnani-Rocca. Capolavori della pittura antica, Milano 1984, S. 71 — 75. — Longhis grundlegender Aufsatz nachgedruckt in R. Longhi: Arte italiana e arte tedesca, con altre congiunture fra Italia ed Europa, Firenze 1979, S. 45-50.

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sehen Bild, meint man Unsicherheit, ja Unbehagen zu spüren. Frau Lübbeke, eine herausragende Kennerin der altdeutschen Malerei, druckt eine ausführ­ liche Expertise von Fedja Anzelewsky ab, als wolle sie sich dahinter ver­ schanzen. Dieser verrät auch in der Neuauflage seines Gemäldekataloges kein Schwanken.11 Zu den sog. Dresdener Marientafeln meint Anzelewsky, daß sie das schwie­ rigste Problem unter den Gemälden Dürers bilden. Eine 1958 durchgeführte Restaurierung hat ihr Erscheinungsbild verbessert, doch bedarf der damals geschaffene ärmliche Rahmen wohl gelegentlich einer Korrektur. Zum For­ schungsstand macht sich bemerkbar, daß die umfangreiche, von Erna Brand in den sechziger Jahren begonnene Untersuchung bei ihrem Tode 1988 nicht abgeschlossen und druckfertig war. Das Manuskript im Archiv der General­ direktion der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden müßte daraufhin über­ prüft werden, ob es neue Ergebnisse bringt. Die ungewöhnliche Anordnung — ein großes Marienbild in der Mitte, gerahmt von kleinteiligen Szenen — könnte Dürer in den Niederlanden gesehen haben. Eine Tafel in Moskau, auf die Michael Liebmann hinwies, ist zwar jünger als Dürers Dresdener Sieben Freuden Mariae, scheint aber aus ähnlichen ikonographischen Quellen gespeist zu sein.12 Neben den Dresdener Marientafeln hängt zur Zeit im Provisorium Albertinum Dürers Dresdener Altar — beide von Nichtfachleuten gelegentlich verwechselt. Letzterer ist eine Tüchleinmalerei in Form eines Triptychons. Der gegenwärtige Zustand ist vor allem Ergebnis einer umfassenden, glät­ tenden, schönenden Restaurierung der Jahre 1958 bis 1960. Anzelewsky hält allein die Flügel mit den Heiligen Antonius Eremita und Sebastian für Werke Dürers. Das Hauptbild in der Mitte schreibt er einem niederländischen Maler am Hof Kurfürst Friedrichs des Weisen von Sachsen zu. Den Eindruck zweier verschiedener Hände, auf dem Anzelewskys Argumentation aufbaut, hatte ich vor dem Original nie. Ich stimme ihm zu, daß das Hauptbild des Dresdener Altars im bekannten Malwerk Dürers vor 1500 nicht unterzubringen ist, glaube aber abweichend, daß die Flügelbilder von der gleichen niederländi­ schen Hand sind, die das Mittelbild verantwortet. Die Dresdener Kollegen

11 K. Löcher in: Monats Anzeiger. Museen u. Ausst. in Nürnberg 24 (1983), S. 189-190. I. Lüb­ beke in: Altdeutsche Bilder der Sammlung Georg Schäfer Schweinfurt. Kunstsammlungen der Veste Coburg, Schweinfurt 1985, S. 80-83. - Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 17. 12 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 20—38 V. — Restaurierte Kunstschätze aus Dresdener Museen. Ausst. Albertinum, 8. Juli — 23. Sept. 1990, Dresden 1990, Nr. 12. — M. Liebmann: „Die Sieben Schmerzen Mariae“ — ein wenig bekanntes Bild im Puschkin-Museum, Moskau, in: Acta Historiae Artium 34 (1990), S. 95—98. Dazu O. V. Sugrobova in: Soobscenija Gosudarstvennogo Muzeja Izobrazitel’nich Iskusstv imeni A. S. Puskina 9 (1991), S. 112—121.

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halten, soweit Museumsbeschriftungen eine aktuelle Aussage geben, am gesamten Triptychon als Werk Dürers fest.13 Kaum weniger Probleme als die erwähnten Werke in Dresden bereiten der Forschung die Bildnisse zweier Mädchen, die nach später aufgemalten Wappen als „Bildnis der Fürlegerin mit offenem Haar“ und „Bildnis der Fürlegerin mit aufgestecktem Haar“ firmieren. Ihre Katalogtexte hat Fedja Anzelewsky in der Neuauflage völlig neu fassen müssen. Alle Argumentationskünste können nicht darüber hinwegtäuschen, daß in zwei in Nürnberg erhaltenen Chroniken der Familie Fürleger keine Frauen Vorkommen, auf die die Geburtsjahre passen, die aus den Daten 1497 der Bilder zu errechnen sind.14 Daher ist uner­ heblich, ob man in dem Paar Schwestern sieht oder ein und dieselbe, nur jeweils unterschiedlich frisierte und gewandete Person. Daß sie Gegenstücke waren, scheint wahrscheinlich. Die „Fürlegerin mit offenem Haar“ im Frank­ furter Städel (Inv.Nr. 937) hatte Anzelewsky 1971 als Kopie eines verlorenen Originals von Dürer bestimmt; 1991 erklärt er dieses Bild für das Original. Bei der „Fürlegerin mit aufgestecktem Haar“ ist die Neubeurteilung ähnlich abweichend. Das 1971 als Original angesehene Exemplar im Museum der bil­ denden Künste in Leipzig (Inv.Nr. 1708) firmiert nun (wie ich meine: korrekt) als Kopie. Anzelewsky konnte diesem Irrtum vor zwanzig Jahren nur aufsitzen, weil er das Original nie gesehen hatte, allein nach einer Fotografie urteilte, die den Kopiencharakter verschleierte.15 Die 1971 von ihm als Kopie abgebildete Leinwandversion der Collection Heugel in Paris konnte einige Jahre später für über eine Million Mark für die Gemäldegalerie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem erworben werden. Die feine Tüchleinmalerei hat durch eine mißglückte Restaurierung (über die die Fachliteratur schweigt) gelitten. Mancher, der das Stück vor und nach diesem Eingriff stu­ dierte, meint, verschiedene Bilder gesehen zu haben.16 Die leblose Starre der nunmehrigen Berliner Fassung wertet erneut die Leipziger Kopie auf. Sie gibt 13 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 39—40. — Restaurierte Kunstschätze (wie Anm. 12), Nr. 11. — Unsicher hingegen D. Wolfthal (wie Anm. 6), S. 91: „German or Flemish“. 14 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 45—46. — Geschlechterbuch der Fürleger, 1527. Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, Hs. Merkel 159. — Chronik der Familie Fürleger, 1532. Staatsarchiv Nürnberg, Hs. 271. Zur Klärung des Sachverhalts trug ein Gespräch mit Herrn Karl Kohn, Nürnberg, bei. 15 Susanne Heiland: Museum der bildenden Künste Leipzig. Katalog der Gemälde, Leipzig 1979, S. 52. 16 Herrn Wilhelm H. Köhler, Berlin, danke ich für die Möglichkeit, das Tüchlein vor der Restau­ rierung sehen zu können. Unvergeßlich der Eindruck der gegen das Licht gehaltenen Leinwand, die durchsichtig schien. — W. H. Köhler: Catalogue of Paintings 13th— 18th Century. Picture Gallery Berlin. 2nd rev. ed. Berlin 1978, S. 142—143. — Gerhard Pieh: Aspekte einer Dürer-Re­ staurierung. Albrecht Dürer: Bildnis einer jungen Frau (Katharina) aus der Nürnberger Kauf­ mannsfamilie Fürleger (gemalt 1497), in: Maltechnik Restauro 91 (1985) H. 2, S. 22-23; Emil D. Bosshard ebda. H.3, S. 2.

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scharfzeichnende Details wie den ganz dürerisch empfundenen Landschafts­ ausblick und die in Grisailletechnik gegebene plastische Prophenfigur in der Fensterwandung wieder, die auf dem Berliner Bild bis zur Unkenntlichkeit abgerieben sind. Die „Fürlegerin mit aufgestecktem Haar“ trägt in Leipzig ein grünes Gewand, in Berlin ein rotes. Da nichts bei dem Schöpfer der Leipziger Kopie willkürlich anmutet, wäre zu überdenken, ob er nicht allein das verlo­ rene Urbild Dürers wiedergibt. Die für die Berliner Galerie vor fünfzehn Jahren erworbene Fassung wäre dann doch nur Kopie.17 Auch die Frankfurter „Fürlegerin mit offenem Haar“, von Anzelewsky 1971 als Kopie, 1991 als Ori­ ginal geführt, scheint mir nicht über Zweifel erhaben. Auch hier, wie bei dem Berliner Tüchlein, ist der Erhaltungszustand so, daß jeder das ihm Passende heraussehen kann. Farblich würde die Kopie der „Fürlegerin mit offenem Haar“ im Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München mit dem kräftig-roten Gewand des Mädchens als Gegenstück zum Leipziger Bild besser passen. Mir scheint, daß trotz der ausführlichen Texte von Anzelewsky der ganze Komplex der sog. Fürlegerinnen nochmals durchgearbeitet werden muß. Ihnen fügt Anzelewsky ein Männerbildnis vor grünem Grund in der Sammlung des verstorbenen Heinz Kisters in Kreuzlingen an, das er vermu­ tungsweise in die Jahre 1497/98 datiert. Ich halte das Stück nicht einmal für nürnbergisch.18 Das zweite Bildnis, das Dürer 1497 von seinem Vater malte, verrät klar eine andere Bildauffassung. Daß es als Gegenstück zu Dürers berühmtem Selbstbildnis von 1498 im Prado zu Madrid entstand, wie Anze­ lewsky meint, scheint mir unwahrscheinlich. Die Nachricht, daß beide ein Diptychon bildeten, stammt erst aus dem Jahre 1625. Wir befinden uns hier in der Endzeit der sog. Dürer-Renaissance um 1600, in der mehr Kopien und gemalte Nachahmungen Dürer’scher Kompositionen auf den Markt geworfen wurden, als in den folgenden dreieinhalb Jahrhunderten zusammen. Der barocke Gewährsmann gibt, fast hundert Jahre nach Dürers Tod, für das Selbstbildnis überdies ein Datum 1503 an — die Jahreszahl auf dem Madrider Bild, das sich 1625 noch im Nürnberger Rathaus befand, kann man so falsch nicht lesen.19 Das Bildnis des Vaters in London wird weiter kontrovers beurteilt. Seit Juli 1991 hängt es im neuerrichteten Sainsbury Wing der National Gallery isoliert und durch die Nachbarschaft zweier skurril-prunkender Werke des Kölner Bartholomäusmeisters in seiner Wirkung gestört und gemindert. Michael Levey, seit 1951 für die altdeutschen Bilder in der National Gallery zuständig, 17 Eine gute farbige Abb. der Leipziger Fürlegerin bei M. Mende: Der junge Dürer, Herrsching 1976, Taf. 25. 18 Muß allerdings einräumen, das Original nicht gesehen zu haben. Der Farbtafel und der Beschreibung bei Anzelewsky nach scheint es weitgehend ein Produkt neuzeitlicher Restaura­ torenkunst zu sein. — Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 47. 19 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 48—49.

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hatte immer Vorbehalte, wenn die Frage der Eigenhändigkeit angesprochen wurde. Auch jetzt, nach seinem Ausscheiden als Direktor 1986, folgen jüngere englische Kollegen eher ihm, teilen also Anzelewskys positive Beurteilung nur eingeschränkt. Laut Beschriftung in der Museumsaufstellung von 1992 wird das Londoner Vaterbildnis Dürer lediglich zugeschrieben. Zwar sei das Gesicht seinen Werken sehr ähnlich, heißt es, doch andere Teile, wie Gewand und Hintergrund, „may have been completed by another artist.“20 Die Datierung des Paumgartner-Altars in München schwankt in der DürerLiteratur. Anzelewsky hält eine Entstehung vor 1500 für möglich, nennt als Spätestmöglichen Zeitraum die Jahrhundertwende. Das Ergebnis deckt sich mit der ausführlichen Untersuchung von Susanne Koller, die auf 1498 kommt.21 Der Altar, der bis dahin größte Auftrag aus dem Nürnberger Patri­ ziat, stünde damit am Schluß der Malwerke des „jungen“ Dürer. Die Wende zur reifen Zeit bringt das Münchner Selbstbildnis von 1500, das in jüngster Zeit auffallend häufig behandelt worden ist. Hingewiesen sei auf Beiträge des Bamberger Ordinarius für Deutsche Philologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Dieter Wuttke, die Anzelewsky anführt, die ausgreifenden Studien des Amerikaners Joseph Leo Koerner und den Aufsatz von Daniel Hess in dieser Zeitschrift, den Anzelewsky im Vorwort zur zweiten Auflage als leider nicht mehr von ihm ausgewertet nennt.22 Daß dieses scheinbar sym­ metrische, perfekt „aus der Maß“ gemachte, christomorphe Münchner Selbst­ bildnis doch in zwei verblüffend unterschiedliche Hälften zerfällt, das „Links­ gesicht“ dem „Rechtsgesicht“ nicht gleicht (leicht nachzuprüfen, wenn man zwei Fotos des Werkes in der Mitte senkrecht teilt und die linken und rechten Hälften jeweils gekontert aneinderfügt), haben Friedrich Cramer und die Nürnberger Malerin Mara Loytved-Hardegg unabhängig voneinader experi­ mentell untersucht.23 In den Bereich der Dürer’schen Selbstzeugnisse gehört 20 Jill Dunkerton, Susan Foister, and others: Giotto to Dürer. Early Renaissance Painting in The National Gallery, New Haven and London 1991, S. 352—353. 21 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 50—54 K. - S. Koller: Die Datierung von Albrecht Dürers Paumgartner-Altar. Magisterarbeit Techn. Univ. Braunschweig 1987, Masch.-Schr. 22 J. L. Koerner: Seif portraiture and the crisis of Interpretation in German renaissance art: Albrecht Dürer, Hans Baidung Grien, and Lucas Cranach the Eider. PhD diss., Univ. of Cali­ fornia, Berkeley, 1988. Ann Arbor, MI 1990. - ders.: Albrecht Dürer and the moment of selfportraiture, in: Daphnis 15 (1986) H. 2/3, S. 409—439. — D. Hess: Dürers Selbstbildnis von 1500. „Alter Deus“ oder Neuer Apelles? In: MVGN 77 (1990), S. 63-90. — Ergänzend dazu Gerhard Wolf: „Velaverunt faciem eius“. Überlegungen zum Christusbild des Quattrocento, in: Kritische Berichte 19 (1991) H. 4, S. 10—11. 23 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 66. — F. Cramer: Gratwanderungen. Das Chaos der Künste und die Ordnung der Zeit, in: Jahrbuch Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. 1990, S. 89. — „Vom Kreis aus freier Hand“. Mara Loytved-Hardegg. Zeichnungen und Collagen. Ausst. im Stadtmus. Fembohaus, Nürnberg, März bis Mai 1992, Nürnberg 1992. Faltbl.; dazu M. Mende in: Monats Anzeiger. Museen u. Ausst. in Nürnberg 134 (1992), S. 1069—1070.

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auch das Leinwandbild „Herkules, die Stymphalischen Vögel erlegend“ im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Trotz seines schlechten Erhal­ tungszustandes zählt es zu den herausragenden Schöpfungen des „italieni­ schen“ Dürer. Die vermutlich von fremder Hand aufgesetzte Jahreszahl 1500 halte ich mit Anzelewsky für zutreffend. Seine Rekonstruktionszeichnung und die Hinweise auf eine Dekoration im Schloß zu Wittenberg muten hingegen weit hergeholt und spekulativ an. Der Nennung einer in Willibald Pirckheimers Besitz befindlichen Tafel mit dem Bildnis des Herkules wird zu Recht wenig Bedeutung beigemessen. Der fehlende Name Dürers im Inventar von 1531 spricht ebenso gegen die Identität mit dem in Nürnberg erhaltenen Stück, wie die Bezeichnung „tafel“, die für ein Leinwandbild aus dem Sprach­ gebrauch der Zeit völlig ungewöhnlich wäre. Obwohl die Arbeit von Jens Carstensen zitiert wird, findet sich in Anze­ lewsky s Text kein Hinweis auf die von ihm herangezogene Bildbeschreibung des jüngeren Philostratos. Ich halte Carstensens Ausführungen, Dürer habe neben italienischen bildlichen Vorbildern (Antonio Pollaiuolo) zusätzlich einen antiken Text herangezogen, für erheblich.24 Werkstattfragen Der verbreiteten Annahme, Dürer habe ab 1495 Malergesellen beschäftigt, steht Anzelewsky skeptisch gegenüber. Er argumentiert, daß dieser bis 1502 im Hause seines Vaters lebte, dessen eingeführte Goldschmiedewerkstatt bei der Raumnutzung Priorität gehabt habe. Bei größeren Aufträgen, etwa dem Paumgartner-Altar, hätte sich Dürer für untergeordnete Arbeiten einen Gesellen ausleihen können, etwa bei seinem Lehrer Wolgemut.25 Wir müssen davon ausgehen, daß selbst scheinbar „schwächere“ Werke, wie Teile der Dresdener Marientafeln oder die Holzschuhersche Beweinung (Anz. 55), allein von Dürer gemalt worden sind. Das gilt vor allem für Aufträge wichtiger Gönner wie Friedrich den Weisen von Sachsen, den mit Qualität zufriedenzu­ stellen Dürer sich bemüht haben wird. Daß Hans von Kulmbach als erster Geselle um 1500 in die Dürer-Werkstatt eingetreten sei, widerlegt Barbara Butts. Sie macht glaubhaft, daß Kulmbach 1503/04 erst bei Jacopo de’Barbari und Lucas Cranach d. Ä. in Wittenberg lernte. Nach Nürnberg kam er anschließend, vermutlich erst 1507, als Dürer nach der Rückkehr aus Italien seine Werkstatt neu organisierte. Kulmbach erhielt 1511 das Nürnberger Bür­ gerrecht — befremdlich spät für einen Maler, der seit 1500 in Nürnberg tätig gewesen sein soll. Sein Geburtsjahr, meist mit „um 1480“ angegeben, ist nach 24 Anzelewsky (wie Kunstliteratur in Breisgau 1982, S. 25 Anzelewsky (wie

Anm. 45), Nr. 67. — J. Carstensen: Uber das Nachleben antiker Kunst und der Neuzeit, insbesondere bei Albrecht Dürer, Phil. Diss. Freiburg im 103-108. Anm. 4), S. 23—24.

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dem stilistischen Befund früher Werke eher um 1484/85 zu denken.26 Er wäre damit gleichaltrig mit Hans Baidung Grien. Durch datierte Zeichnungen ge­ sichert ist dessen Eintreffen in Nürnberg 1503. Ihn und Hans Schäufeiein stellte Dürer in diesem Jahr als fertig ausgebildete, voll belastbare Mitarbeiter ein. Grund war eine für Dürer hervorragende Auftragslage. Vor allem umfang­ reiche Illustrationsaufträge und Risse für Glasmalereien ließen sich allein nicht mehr bewältigen. Arbeit mußte an Fähige delegiert werden. Dazu kam, daß Dürer für seine kunsttheoretischen Studien immer mehr Zeit benötigte. Nörd­ lich der Alpen genoß er seit 1500, nicht zuletzt durch Humanistenlob einfluß­ reicher Autoren wie Conrad Celtis, einen solchen Ruf, daß er sich 1503 mit Baidung und Schäufelein zwei der besten am deutschen Markt verfügbaren Gesellen sichern konnte. Beide machten nach dem Ausscheiden aus der DürerWerkstatt 1507 und dem Weggang von Nürnberg rasch Karriere. Hans von Kulmbach ersetzte sie, ehe er sich einige Jahre später von Dürer löste, aber in Nürnberg blieb. Zu Hans von Kulmbach schickte Dürer Auftraggeber, die er selbst aus Zeitgründen nicht bedienen wollte oder konnte. Die sog. TucherTafel in der Nürnberger Sebalduskirche, die Dürer riß und Kulmbach malte, ist das eindrucksvollste Zeugnis ihrer Zusammenarbeit. Baidung, Schäufelein und Kulmbach entwickelten unter Dürers Augen ausgeprägte Individualstile. Dürer scheint diese Entwicklung gefördert zu haben, vielleicht in Erinnerung an seine eigenen, wenig erfreulichen Jahre in der Werkstatt Wolgemuts. So gibt es strittige Gemälde zwischen Dürer und diesen drei Gesellen im Moment nicht.27 Von Anzelewsky nicht kommentiert wird die versuchte „Neuaufteilung des Dürerbestandes“ durch Claus Grimm, den Leiter des Hauses der Bayerischen Geschichte in München. Er untersucht vor allem Augenbildungen und kommt durch Vergleiche zu einer Scheidung des Dürer-Werkes in eigenhändige Gemälde und Werkstattbilder. Vor allem glaubt er beweisen zu können, daß Dürer 1505/06 in Venedig mindestens einen ihm zuarbeitenden Werkstatt­ mitarbeiter hatte. Dürers erhaltene Briefe an Willibald Pirckheimer stützen eine solche These nicht. Das Bildnis der jungen Venezianerin in Wien aus dem Jahre 1505 als Werkstattprodukt zu erklären, eine fremde Hand in dem „Zwölfjährigen Jesus unter den Schriftgelehrten“ der Sammlung Thyssen-Bornemisza zu orten, provoziert. Ich bin überzeugt, daß Claus Grimms Ausfüh26 B. Rosalyn Butts: „Dürerschüler“ Hans Süss von Kulmbach. PhD diss., Harvard Univ., Cam­ bridge/Mass., 1985. Ann Arbor, MI 1985. 27 Sieht man von dem Jünglingsbildnis im Museum der bildenden Künste in Budapest (Inv.Nr. 142) ab, das ungarische Kollegen für eine Schöpfung Dürers, die meisten deutschen Forscher für ein qualitätvolles Werk eines seiner Gesellen halten. Vgl. Susanne Urbach: Ein Burgkmairbildnis von Albrecht Dürer? Probleme des Budapester Bildes, in: Anzeiger des Ger­ manischen Nationalmuseums 1985, S. 73—90. — Capolavori da musei ungheresi. Collezione Thyssen-Bornemisza, Villa Favorita, Lugano, 15 giugno — 15 ottobre 1985, Milano 1985, Nr. 7.

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rungen, in denen er die Hälfte bis zwei Drittel aller erhaltenen Dürer-Gemälde als „Problemfälle“ einstuft, nur eine kuriose Fußnote in der Dürer-Forschung bleiben werden.28 Die Grenzen von Anzelewskys Werkkatalog, dessen Grundkonzeption ein Vierteljahrhundert alt ist (was das Erscheinungsjahr 1991 der Neuausgabe ver­ deckt), erkennt man, vergleicht man seinen Text zum „Zwölfjährigen Jesus unter den Schriftgelehrten“ mit der Katalogisierung durch eine jüngere Wis­ senschaftlerin.29 Es sollte ihn trösten, daß sie und wir auf seinen Schultern stehen. Alle ernten, wo er säte. Der Streit, ob ein Zettel auf dem Bild in Lugano ursprünglich einen Hinweis enthielt, daß Dürer das Werk in Rom geschaffen habe, kann immer noch nicht nicht als entschieden gelten. Eine kürzlich im Handel aufgetauchte zweite alte Nachzeichnung der Komposition löst das Problem nicht, verdeutlicht aber den hohen Rang, den man der Komposition im 17. Jahrhundert beimaß.30 2h einigen Bildnissen

Als Fedja Anzelewskys Gemäldekatalog 1971 erschien, lösten weniger seine Neuzuschreibungen als vereinzelte spektakuläre Abschreibungen einen hef­ tigen wissenschaftlichen Disput aus, der bis heute anhält. Vor allem die Aus­ gliederung des Bildnisses eines jungen Mannes von 1500 in der alten Pina­ kothek München (Inv.Nr. 694), eigentlich als Werk Dürers nicht strittig, bewegte die Gemüter. In seiner Neuausgabe hat Anzelewsky seine ablehnende Haltung nicht aufgegeben (aber auf zwischenzeitlich vorgebrachte Gegenargu­ mente auch nicht zu replizieren versucht).31 Zum Bildnis eines jungen Mannes vor grünem Grund in Genua wäre nach­ zutragen, daß es sich im 16. Jahrhundert in der berühmten Sammlung Ven28 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 92 u. 98. — C. Grimm: Echtheit oder Schönheit? Die Heraus­ forderung der Ästhetik durch die Zuschreibungskritik an den Alten Meistern, in: Jahrbuch Bayerische Akademie der Schönen Künste 3 (1989), S. 98—107. Dürer abgeschrieben werden von Grimm unter anderem auch die Maria mit Kind von 1512 in Wien (Anz. 120), die Anna Selbdritt in New York (Anz. 147) und das Bildnis des Johannes Kleberger in Wien (Anz. 182). 29 Anzelewsky (wie Anm. 4) Nr. 98. — Isolde Lübbeke: Early German painting, 1350—1550. The Thyssen-Bornemisza Collection, London/Stuttgart 1991, S. 218—241. — Von Anzelewsky nicht mehr berücksichtigt Albert Boesten-Stengel: Albrecht Dürers „Zwölfjähriger Jesus unter den Schriftgelehrten“ der Sammlung Thyssen-Bornemisza, Lugano. Bilderfindung und „prestezza“, in: Idea 9 (1990), S. 43—66. — ders. in: Meisterwerke der Sammlung Thyssen-Borne­ misza. Gemälde des 14. —18. Jahrhunderts. Staatsgalerie Stuttgart, 10. Dez. 1988 — 5. März 1989, Stuttgart 1988, Nr. 19. 30 Joseph Fach, Frankfurt am Main. Zeichnungen. Katalog 50, Frankfurt 1991. S. 2—3 m. Farbtaf. 31 Anzelewsky (wie Anm. 2), S, 35—26; ders. (wie Anm. 4), S. 33 — 34. Dagegen Gisela Goldberg; vgl. Axel Janeck in: Kunstchronik 25 (1972) H. 7, S. 196—197. — G. Goldberg in: Alte Pina­ kothek München. Erläuterungen zu den ausgestellten Gemälden. Bayerische Staatsgemälde­ sammlungen, München 1983, S. 167—168. — Ich glaube, daß Anzelewsky in diesem Falle irrt.

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dramin in Venedig befand. Die Inschrift über dem Dargestellten verführte später dazu, in ihm ein Selbstbildnis Dürers zu sehen.32 Drei auf Leinwand gemalte Studienköpfe aus der Bibliotheque Nationale in Paris waren kürzlich auf einer bedeutenden Ausstellung im Louvre zu sehen. Die sorgfältigen Katalogtexte von Francois Fossier ergänzen die Angaben bei Anzelewsky. Da die Farbtafel zum Kopf der Maria in Anzelewskys Tafelband völlig mißlungen ist, sei auf den Pariser Katalog ausdrücklich verwiesen.33 Von den Neuentdeckungen, die Anzelewsky 1991 aus dem Bildnisbereich publizieren konnte, ist die Pergamentmalerei eines frontal gesehenen Männer­ kopfes in Privatbesitz sicher die wichtigste. An der Zuschreibung an Dürer gibt es nicht den geringsten Zweifel.34 Schwieriger zu beurteilen ist das Bildnis eines Mannes in mittleren Jahren, ebenfalls in Privatbesitz, das Anzelewsky in seine Neuausgabe aufgenommen hat. Er konnte das Original vor Abfassung seines Katalogtextes nicht sehen, stützte sich allein auf ihm zugänglich gemachte kurze Expertisen auf der Rück­ seite von Fotos von Ludwig Baldass, Gustav Glück und Max J. Friedländer aus dem Jahr 1937. Die Bildvorlage, die ihm für die Reproduktion zur Verfügung stand, war unscharf, zeigt das Gemälde zudem beschnitten. Eine in der Foto­ thek des Germanischen Nationalmuseums vorhandene Schwarzweißaufnahme von 1966, die mir Kurt Löcher überließ, zeigt es ganz (Abb. 3). Auf einer Aus­ stellung ist es bisher nicht zu sehen gewesen. Durch das Entgegenkommen der Besitzer hatte ich im Sommer 1992 Gelegenheit, das Gemälde flüchtig mit bloßem Auge untersuchen zu können. Der Verdacht einer neuzeitlichen DürerFälschung, den man vor einem Foto haben kann, scheint mir ausgeräumt. Es ist sicher ein dürerzeitliches Original, mit deutlichen Pentimenti um die Nasen­ flügel. Gesichtspartien und Haare sind stark abgerieben. Die Handschrift des Malers wird kaum noch deutlich. Für ein Bildnis Dürers mutet es etwas leblos, besonders um die Augen, an. Das schwarze Gewand, das schwarze Barett und der grüne Grund scheinen weitgehend vom Restaurator übergangen. Die merk­ würdige Craquele-Bildung unten, die scharf zeichnende Rechtecke ausgrenzt, wäre damit erklärlich. Eine maltechnische Untersuchung des interessanten, im jetzigen Zustand undatierten und unsignierten Porträts wird demnächst erfolgen. Die Antwort auf die Frage, ob von Dürer oder von wem sonst, sollte man vernünftigerweise zurückstellen, bis ein Ergebnis vorliegt.35 32 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 96. — Jaynie Anderson: A further Inventory of Gabriel Vendramin’s Collection, in: The Burlington Magazine 121 (1979) H. 919, S. 644. 33 Dessins de Dürer et de la Renaissance germanique dans les collections publiques parisiennes. 98e exposition du Cabinet des dessins, Musee du Louvre, 22 Oct. 1991-20 Jan. 1992, Paris 1991, Nr. 39, 48-49. 34 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 130.1. 35 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 135.1. — Liest man das Gutachten von Glück, meint man, der Erhaltungszustand des Bildes sei 1937 in Wien besser gewesen: (Für Dürer) „sprechen der hohe

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Anzelewsky sortiert das neugefundene Männerbildnis (Abb. 3) nach dem nur in Kopie überlieferten Porträt des Kaspar Nützel ein, das in dieser Zeit­ schrift erstmals korrekt bestimmt werden konnte. Die Benennung Nützel wird gestützt durch eine lesbar gewordene Beschriftung auf einer damals zum Ver­ gleich herangezogenen Dürer-Zeichnung in Paris.36 Das Bildnis des Sixtus Oelhafen in Würzburg, das Anzelewsky für die Kopie eines verlorenen Dürer-Originals hält, ist nach meiner Meinung ein Original. Ich erkenne in ihm eine der reifsten Porträtleistungen Hans Schäufeleins, imponierend nicht zuletzt deshalb, weil er das Bildnisniveau Dürers erreicht, ohne ihn nachzuahmen.37 Als Kopie eines verschollenen Frauenbild­ nisses von 1524 fügte Anzelewsky 1991 ein durch Beschriftung auf Barbara Schedel, geb. Pfinzing (1492—1528), verweisendes Porträt ein (Abb. 2). Der Kollegialität von Kurt Löcher verdanke ich, daß ich das Bild 1983 im Germani­ schen Nationalmuseum sehen konnte. Der französische Eigentümer legte eine Expertise von Anzelewsky aus dem Vorjahr vor, in der das Stück nach Augs­ burg lokalisiert wurde; an der Entstehungszeit 1524 hatte er keinen Zweifel; an eine Kopie glaubte er nicht. Mit Dürer hat das Werk, nach meiner Meinung, selbst entfernt nichts zu tun. Es könnte das Original eines Nürnberger Malers von 1524 sein, wie Jutta Zander-Seidel vorschlug. Eine Zuschreibung an Hans Plattner hielte ich im Moment am plausibelsten.38 Zuzustimmen ist Fedja Anzelewsky, daß er die Kaiser-Brustbilder nach den Dürerschen Tafeln mit Karl dem Großen und Kaiser Sigismund aus der Heiltumskammer verwirft. Vor allem Franz Winzinger (1910—1983), Thomas BraStil des Bildnisses und die großartige Auffassung der Persönlichkeit ebenso sehr, wie manche Einzelheiten der malerischen Behandlung: die weiche Modellierung der Gesichtszüge, wobei der Maler sich nicht nur des Pinsels, sondern auch seiner Finger bedient zu haben scheint, die Form der Augen mit den runden Pupillen und dem sich spiegelnden Fensterkreuz, der gewellte Umriß der Wange, die auffallende Betonung des Adamsapfels, die schwungvoll leichte Andeu­ tung der fein gemalten, fast einzeln zählbaren Haare und die zart trockene Durchführung des grünen Hintergrundes.“ — Für ihre Kollegialität (und weiterführenden Fragen) danke ich im Zusammenhang dieses Bildes Frau Angela Lohrey. 36 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 135 K. — M. Mende in MVGN 69 (1982), S. 130—141. — Pier­ rette Jean-Richard in: Dessins de Dürer (wie Anm. 33), Nr. 60. 37 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 69.1 K. — Volker Hoffmann/Konrad Koppe: Gemäldekatalog. Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg, Würzburg 1986, Nr. 437. — Sonja Weih-Krüger: Hans Schäufeiein. Ein Beitrag zur künstlerischen Entwicklung des jungen Hans Schäufelein bis zu seiner Niederlassung in Nördlingen 1515, unter bes. Berücksichtigung des malerischen Werkes, Nürnberg 1986, S. 190—193. — Kurt Löcher: Zu den frühen Nürnberger Bildnissen Hans Schäufeleins, in: Hans Schäufelein. Vorträge, gehalten anläßlich des Nördlinger Symposiums im Rahmen der 7. Rieser Kulturtage in der Zeit vom 14. bis 15. Mai 1988, Nördlingen 1990, S. 103-106. 38 Anzelewsky (wie Anm. 4), Nr. 172.1 K. — J. Zander-Seidel (wie Anm. 7), Abb. 107. — Zu Plattner K. Löcher: Nürnberger Bildnisse nach 1520, in: Kunstgeschichtliche Studien für Kurt Bauch zum 70. Geburtstag von seinen Schülern, München/Berlin 1967, Abb. 4.

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chert und Claus Grimm haben in den letzten beiden Jahrzehnten mit propa­ gandistischem Aufwand versucht, die Brustbilder als Originale Dürers zu retten. Die in Schweizer Privatbesitz befindlichen Tafeln waren 1987 erstmals auf einer Ausstellung zu sehen. Ihre manieristische Härte wie ihr Kopien­ charakter waren, gerade für Kenner Dürer’scher Gemälde, unübersehbar. So mutete es wie ein letzter Rettungsversuch der Befürworter an, mittels einer kriminaltechnischen Untersuchung mögliche Fingerabdrücke Dürers auf den Brustbildern feststellen zu lassen. Wie zu erwarten, konnte in diesem Falle die Kriminalpolizei nicht helfen.39 Es ist kein ermutigendes Zeichen, daß die umstrittenen Kaiser-Brustbilder inzwischen maltechnisch besser untersucht sind als die meisten unstrittigen Originale. Bereits vor zwanzig Jahren hat Gisela Goldberg, als Landeskonser­ vatorin bei den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München für die alt­ deutschen Bestände zuständig, zur Teamarbeit zwischen Restauratoren und Kunsthistorikern aufgerufen, um ein verläßliches Corpuswerk der DürerBilder zu erstellen. Der heute für ein solches Unternehmen erforderliche finan­ zielle und technische Aufwand ist von einem Einzelforscher, wie es Fedja Anzelewsky bei Abfassung seines Dürer-Kataloges war, nicht mehr bezahlbar. Die naturwissenschaftlichen Gemäldeuntersuchungsmethoden haben sich so verselbständigt, daß der „normale“ Kunsthistoriker, der allenfalls eine Quarz­ lampe kennt, mit seinem Erlernten und seinem Wissenschaftsverständnis fast immer überfordert ist. Für die niederländischen Gemälde des 15. und 16. Jahr­ hunderts und für Rembrandt sind inzwischen solche Corpuswerke in Arbeit. Die mitunter verblüffenden Ergebnisse werden selbst in der Tagespresse refe­ riert. Frau Dr. Goldbergs Werben für ein „Dürer-Research-Programm“, das sich vor allem an die Stadt Nürnberg (und das Germanische Nationalmuseum) richtete, blieb unerhört.40 Wie wichtig genaue Unterlagen über Dürers Mal­ technik und den konservatorischen Zustand jedes einzelnen Dürer-Bildes sind, zeigte sich nach dem Säureattentat auf drei Dürer-Bilder der Alten Pinakothek München. Wer die nach dem Anschlag veröffentlichen Fotos nicht vergessen hat, weiß, daß selbst subtilste Restauratorenkunst die erlittenen Schäden nicht beseitigen, sondern nur kosmetisch überschminken kann.41 So bleibt den 39 Anzelewsky (wie Anm. 4), S. 48—49, 239, Abb. 113 — 115. — T. Brachert/C. Grimm in: Reichs­ städte in Franken. Katalog zur Ausstellung, hrsg. von Rainer A. Müller u. Brigitte Buberl, München: Haus der Bayerischen Geschichte, 1987, Nr. 309-310. - T. u. Adelheid Brachert: Neues zu Dürers Kaiserbildern, in: Restauro 95 (1989) H. 1, S. 22-39. - Gerhard Holzheu: Die Daktyloskopie als Mittel zur Identifizierung von Kunstwerken, ebda. S. 40—42. — T. Bra­ chert: Neues zu Dürers Madrider Selbstbildnis, in: Restauro 96 (1990) H. 3, S. 175. 40 Kunstchronik 25 (1972) H. 7, S. 197. - Pantheon 30 (1972), S. 520. 41 Hubertus von Sonnenburg/Bruno Heimberg: Säureanschlag auf drei Dürer-Werke in der Alten Pinakothek, in: Jahresbericht Bayerische Staatsgemäldesammlungen 1987/88, S. 7—24. — Säure als Hilferuf, in: Der Spiegel 42 (1988) H. 17, S. 257-259.

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Dürer-Freunden nur die Hoffnung, daß Experten in den Vereinigten Staaten von Amerika in Sachen Corpuswerk der Dürer-Gemälde aktiv bleiben. Katherine Crawford Luber, Research Associate im Department of Paintings Conser­ vation im Metropolitan Museum of Art in New York, hat eine Dissertation über Dürers Gemälde begonnen, die sich diesen Fragen widmen wird. Vorab veröffentlichte Beobachtungen zu den Bildnissen Kaiser Maximilians I. zeigen, daß sie auf dem richtigen Weg ist.42 Während der Drucklegung dieses Beitrages konnte ich die Pergament-Ver­ sion des Bildnisses des Michael Wolgemut (Anz. 131) in der Sammlung Georg Schäfer in Euerbach/Schloß Obbach bei Schweinfurt sehen. Von den Erben des Sammlers danke ich besonders Fritz Schäfer für diese Möglichkeit. In den Dank einbeschlossen werden muß Prof. Dr. Jens Christian Jensen, der wissen­ schaftliche Betreuer dieser bedeutendsten Privatsammlung zur deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Auskunft ergab eine mal technische Untersuchung, daß das Bild im 16. Jahrhundert entstanden ist. Mehr kam nicht heraus — sichere auf Dürer verweisende Spuren fanden sich nicht. Ich halte diese Pergament-Fassung des Wolgemut-Porträts, entgegen den positiven Mei­ nungen von Friedrich Winkler und Fedja Anzelewsky, nicht für ein Original Dürers, sondern für eine Kopie aus der Zeit der sog. Dürer-Renaissance um 1600. Anzelewskys Schwarzweißtafel gibt leider den Zustand des Bildes vor der letzten Restaurierung wieder. Das bei ihm deutlich erkennbare DürerMonogramm ist heute bis auf geringe Reste wieder verschwunden (wahr wohl spätere Zutat). Gemessen an dem unstrittigen, auf Holz gemalten WolgemutOriginal im Germanischen Nationalmuseum (Anz. 132), einem der qualitätvollsten Bildnisse der Dürerzeit überhaupt, mutet die im Inkarnat wesentlich dunklere Pergament-Version flau und unpräzise an. Vor allem Bildungen von Ohr und Nase und der Kontur der rechten Wange halten keinen Vergleich mit der berühmten, in Nürnberg verwahrten Fassung aus. Für das Werk eines — nicht einmal besonders guten — Dürer-Nachahmers, der seine Vorlage ver­ einfacht und mitunter interpretiert, spricht bei dem Exemplar der Sammlung Schäfer vor allem die Bildung des rechten Auges, das pathetisch nach oben weist, während auf dem Nürnberger Original Wolgemut gesammelt nach vorn blickt (Beobachtung meiner Kollegin Angela Lohrey, der ich für diesen Hin­ weis und andere Hilfen dankbar bin). Der Hemdenansatz ist auf der Perga­ ment-Version anfängerhaft korrigiert. Für Dürer, der gerade Bildnisse präzise vorbereitete, wäre ein so krasser Reuezug völlig ungewöhnlich. Anzelewskys These, Dürer habe erst die Pergament-Fassung für Wolgemut gemacht und die jüngere, auf Holz gemalte für sich behalten, unterschlägt, daß dann der Maler seinem verehrten Lehrherrn die ersichtlich schwächere 42 K. C. Luber: Albrecht Dürer’s Maximilian Portraits: An Investigation of Versions, in: Master Drawings 29 (1991) H. 1, S. 30-47.

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Bildnisformulierung überlassen hätte. In Wirklichkeit war es wohl so, daß nach dem Tod Wolgemuts 1519 die Holztafel in Dürers Hände zurückkam und er die Inschrift von 1516 um den bekannten Zusatz von 1519 erweiterte (Anz. 132). Die Pergament-Version zeigt keinerlei auf den Dargestellten ver­ weisende Beschriftung. Sie entstand am ehesten in der Zeit der Dürer-Renais­ sance um 1600, als Interessierte wußten, daß hier Michael Wolgemut von Dürer verewigt worden war.

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„UNGERLEIN 1678.“ Die Verbannung des ungarischen Denars aus dem Geldumlauf der Reichsstadt Nürnberg Von Jänos Buza* Untersucht man die mittelalterlichen Geldwertverhältnisse Ungarns, so über­ rascht selbst dann der Reichtum der Überlieferung des Stadtarchivs Nürnberg, wenn man die in der Mitte des 18. Jahrhunderts veröffentlichten monumen­ talen Quellenverzeichnisse kennt.1 Das Blättern in dieser oft und zu recht erwähnten Quellensammlung ersetzt nicht nur deshalb das Durchforsten der die Originaldokumente enthaltenen Archive, weil sie auch bei noch so großer Sorgfalt nicht alle Dokumente zum Inhalt haben; sondern auch deshalb, weil in ihnen nicht die Schnitte der ehemaligen Münzen dargestellt sind, deren Publikation die damals Zuständigen bei der Herausgabe für notwendig hielten. Es sei erlaubt, als ungarisches Beispiel auf das Düttchen des siebenbürgischen Fürsten Gabor Bäthori zu verweisen, das zwar im Text der im Jahre 1611 ver­ abschiedeten Nürnberger Geldordnung nicht erwähnt wurde — obwohl es in Originalgröße auf dem illustrierten Einblattdruck zu sehen ist —, sondern auf den man die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auch dadurch lenkte, daß man das Maß des sich aus seiner Akzeptanz ergebenden Verlustes aufgrund von Feinheitsproben bekanntgab.2 Gerade letztere Angaben waren Ausgangspunkt dafür, daß nun unter Einbeziehung anderer Quellen der Edelmetallgehalt der Prägung bestimmt werden kann.3 Infolge der Eroberungen des Königreichs Ungarn und des Osmanischen Reiches haben die Scheidemünzen des sich von ihnen isolierenden Siebenbür­ gischen Fürstentums4 im europäischen Geldumlauf natürlich keine so große Rolle gespielt, als daß sie das Interesse des süddeutschen Handelskapitals

* Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Stadtarchivs Nürnberg, des Germanischen Nationalmuseums und der Stadtbibliothek Nürnberg, die mir während meines Studienaufenthaltes immer sehr hilfreich zur Seite standen. 1 Johan Christoph Hirsch: Des Teutschen Reichs-Münzarchiv, Bd. 1—9, Nürnberg 1756—1768, (Im weiteren: Hirsch: DRMA). 2 StadtAN A 6 Mandate, 1611 Juni 6, bzw. ohne Abbildungen in: Hirsch: DRMA (wie Anm. 1), Bd. 4, Nürnberg 1758, S. 4-5. 3 Jänos Buza: Bäthori Gäbor dutkäja a delnemet penzforgalomban (Die Dreigröscher [Düttchen] des siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bäthori [1608—1613] im süddeutschen Geldumlauf"), in: NK 88 — 89 (1990), S. 89—97; bzw. Beitrag zu Gewichtsverhältnissen der Dreigröscher des Gabriel Bäthori (ungarische Abhandlung im Druck). Die mit * versehenen Bücher bzw. Abhandlungen haben fremdsprachige oder sogar deutschsprachige Zusammenfassungen. 4 Gäbor Barta: Das Fürstentum Siebenbürgen, in: Kurze Geschichte Siebenbürgens (Hrsg. v. Bela Köpeczi/Zoltän Szäsz), Budapest 1990, S. 243—268.

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hätten wecken können. Auch in früheren Jahrhunderten war der ungarische Dukat diejenige Prägung, die sich in weitem Raum eines guten Rufes erfreute5 und aufgrund seiner Beliebtheit eine große Anziehungskraft auf die italienische und „oberdeutsche Hochfinanz“6 ausübte. Einzelne Vertreter der zuletzt erwähnten Gruppe waren in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aktive Teil­ nehmer an der Lenkung der ungarischen Finanzgeschäfte.7 Zwar zeigten die ungarischen Dukaten in der Zukunft keine besondere Häufigkeit in fränki­ schen Münzfunden,8 im Geldumlauf waren sie doch mit Sicherheit nicht unbe­ kannt. Darauf kann aus der Tatsache geschlossen werden, daß der Rat der Stadt Nürnberg im Jahre 1619 auch den Kurs des ungarischen Dukaten bekanntmachte.9 Erwähnenswert ist weiterhin, daß der ungarische Dukat als das im Reich umlaufende „beste Gold“ auch auf der aus der Kipperzeit stam­ menden süddeutschen Flugschrift10 zu finden ist, die die Bewohner Nürnbergs im Jahre 1621 lesen konnten.11 Die einstigen, in der hier betrachteten Epoche verabschiedeten Münzord­ nungen deuten jedoch mit keiner Silbe darauf hin, daß die am weitesten ver­ breitete ungarische Scheidemünze — der Denar — im Geldumlauf Süddeutsch-

5 Lajos Huszär: Der ungarische Goldgulden im mittelalterlichen Münzverkehr, in: HBN 24-26 (1970-72), S. 71-88. 6 Wolfgang von Stromer: Oberdeutsche Hochfinanz 1350-1450, VSWG Beihefte 55-57, Wies­ baden 1970, S. 113-126, 132 f. 7 Tibor Antal Horväth/Lajos Huszär: Kamaragröfok a közepkorban (Comtes cameraux au moyen age*), in: NK 54—55 (1956), S. 21 — 33, 80. — Lajos Huszär: Kiegeszites (Ergänzung), in: NK 64—65 (1966), S. 55—59. — Wolfgang von Stromer: Die ausländischen Kammergrafen der Stephanskrone unter den Königen aus den Häusern Anjou, Luxemburg und Habsburg. Exponenten des Großkapitals, in: HBN 27-29 (1973-75), S. 85-106. 8 Hansheiner Eichhorn: Der Strukturwandel im Geldumlauf Frankens zwischen 1437 und 1610. Ein Beitrag zur Methodologie der Geldgeschichte, VSWG Beiheft 58, Wiesbaden 1973, S. 42, 45, 142, 181-182, 184-185, 242-243, 269, 279. 9 Den Ungarischen Dukaten für 3 Gulden und 6 Kreutzer; StadtAN A 6 Mandate, 1619 Dez. 23. 10 Archiv des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, HB. 24850, Kapsel 2178. Ein Exemplar dieses Flugblattes befindet sich auch in der Familiensammlung von Prof. Dr. W. von Stromer. Es ist mir eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle Herrn Professor von Stromer zu danken, daß er mir diese Sammlung zur Verfügung gestellt hat und daß ich im Jahre 1986 als Stipendiant der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an seinem Lehrstuhl arbeiten durfte. — Wolfgang Harms (Hrsg.): Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Sammlung der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel, erster Teil: Ethica, Physica, hg. v. Wolfgang Harms und Michael Schilling zusammen mit Barbara Bauer und Cornelia Kemp, Bd. 1, Tübingen 1985, S. 338-339. 11 Fritz Redlich: Die deutsche Inflation des frühen siebzehnten Jahrhunderts in der zeitgenössi­ schen Literatur: Die Kipper und Wipper (Forschungen zur Internationalen Sozial- und Wirt­ schaftsgeschichte, Bd. 6, hg. v. Hermann Kellenbenz), Köln/Wien 1972, S. 28. — Jänos Buza: Der ungarische Dukaten auf einem Flugblatt der Kipperzeit (Beitrag zum europäischen Geld­ umlauf), in: Etudes historiques hongroises 1990, hg. v. Ferenc Glatz, Bd. 3, Budapest 1990, S. 103-112.

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lands eine bemerkenswerte Rolle gespielt hätte. Somit muß die Entscheidung des Rates der Stadt Nürnberg vom Frühjahr des Jahres 1678, diese Scheide­ münze mit einem eigens dafür formulierten — also nur den ungarischen Denar beinhaltenden — Mandat wegen seines allzugeringen Valors aus dem Geldum­ lauf der Stadt zu verbannen,12 für einige Überraschungen sorgen. Zieht man in Betracht, daß der Höhepunkt der Denarprägung in Ungarn während der Türkenherrschaft auf das letzte Drittel des 16. Jahrhunderts fiel,13 daß in der Kipper- und Wipperzeit auch diese beliebte Scheidemünze für einige Jahre Opfer der Geldentwertung wurde14 und sie ihr altes Ansehen in der Folgezeit eigentlich nie mehr wiederherstellen konnte, so mutet es beinahe als unverständlich an, wieso die Obrigkeit der — unter den damaligen Ver­ kehrsbedingungen sehr weit entfernten — Reichsstadt Nürnberg gegen diese ungarische Prägung vorgehen mußte. Die Zweifel eines Kenners der ungari­ schen numismatischen Literatur werden durch das Wissen bestärkt, daß der ungarische Denar in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts seinen Weg nach Süden, Osten und Norden ohne Schwierigkeiten nehmen konnte, während sich in westlicher Richtung beachtliche Beschränkungen zeigten.

12 Im folgenden soll — vielleicht in ungewohnter Weise — der ganze Text der erwähnten Verord­ nung zitiert werden. Einerseits wird auch später noch mehrmals auf verschiedene Stellen Bezug genommen, zum anderen charakterisiert er in seiner Vollständigkeit noch besser die Stimmung der Epoche, in der die hier untersuchte ungarische Scheidemünze aus Nürnberg verbannt wurde. Nachdem ein Wol-Edler, Gestrenger und Hochweiser Rath dieser Stadt, mißfällig ver­ nehmen müssen, welcher Gestalten, ein und andere Gewinnsüchtige Personen von kurtzer Zeit hero, eine Ungarische Scheid-Müntz, unterschiedlicher Jahreszahl, und wie hey bezeichneten Abdruck zuerkennen, in hiesiger Stadt hauffenweiß eingeschoben, vor Kreutzer ausgegeben, derselben Werth jedoch, Besag der geschwornen Wardeinen Bericht, nicht einmal die Hälft eines Kreutzers, dem innerlichen Halt nach, betragen sollen, welches dann, wegen deren allzuge­ ringen Valors, dem gemeinen Wesen höchstschädlich, auch sonsten des Heiligen Reichs Sat­ zungen, und Müntz-Ordnungen allerdings zuentgegen und unpassirlich ist; Da auch solchem Unheil länger nachgesehen werden solte, bei dem ohne das leidigen Müntz-Unwesen noch meh­ rere schädliche Nachfolge daraus entstehen würde; Als können Ihre Herzlichkeiten solchem je mehr und mehr einreissenden Unfug und Betrug länger nicht zu sehen, sondern wollen hiermit alle und jede Dero Bürgere, Schutzverwandte, auch Angehörige und Unterthanen treulich gewarnet haben, sich, in Empfahnung der Bezahlungen, darnach zu richten, und dergleichen fremde allzuringhältige Scheid-Müntz, und so genannte Ungerlein, welche auch bey derselben Müntz-stätten und Königlichen Ungarischen Lande, bey weiten dergleichen Wert selbst nicht haben, weiters nicht anzunehmen, noch solche vor passirliche Sorten zu achten; Massen dann solche allerdings, als ungültig, verbotten, und hiemit verrufen werden. Wornach sich männiglich zu richten, und vor Schaden zu hüten. Decretum in Senatu, 28. Maii, An. 1678. StadtAN A 6 Mandate, 1678 Mai 28. 13 Lajos Huszär: Corpus Nummorum Hungariae 111/1. Habsburg-häzi kirälyok penzei 1526—1657 (Die Münzen der Habsburger Könige 1526—1657). Budapest 1975, S. 29—30. 14 Huszär (wie Anm. 13), S. 30—36.

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Die Verbreitung des Denars in Ungarn wird wohl kaum besser bewiesen als dadurch, daß die unter der türkischen Besetzung lebende Bevölkerung das Geld weder mit dem sehr wertvollen Dukaten, noch mit dem immer mehr an Bedeutung gewinnenden Taler, sondern mit dem Denar identifizierte. Wenn die Menschen von Geld sprachen, wenn sie das — Tag für Tag benutzte Zah­ lungsmittel — Geld erwähnten, so verstanden sie den Denar darunter.15 Oft­ mals wurde er auch als Kremnitzer Geld bezeichnet, da die überwiegende Mehrheit der ungarischen Denare in Kremnitz geprägt wurde.16 Die Türkenherrschaft warf den Verkehr des ungarischen Denars im okku­ pierten südlichen Landesteil nicht zurück; dies beweisen die — aus Platz­ mangel hier nicht eingehender dargelegten — Münzfunde aus den türkisch besetzten Gebieten in überzeugendem Maße. Die Würdenträger der Besat­ zungsmacht erkannten den Denar bei Steuerzahlungen ohne weiteres an, in ihren Steuerlisten ist sogar der ungarische Name des Denars — penz> bzw. etwas verzerrt penez — zu finden, womit sie sich in gewisser Weise an die in den besetzten Gebieten herrschenden alten Gewohnheiten anpaßten.17 Dar­ über hinaus ergaben sich für die türkischen Behörden Probleme daraus, daß die Scheidemünze des Osmanischen Reiches, die Aqce, in Ungarn und auch weiter südlich — auf dem Balkan — ungenügend verbreitet war, weil die dor­ tige Bevölkerung lieber über Denare und „gurus“ — türkischer Name des Talers — verfügte.18 Diesen Schwierigkeiten konnte man natürlich mit einer Einfuhr der ungarischen Münze begegnen. Obwohl es für einzelne Jahre kaum dokumentierbar19 ist, kann so mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit ver­ mutet werden, daß im Laufe der langen Zeit Denare in Höhe von mehreren Millionen in das Osmanische Reich eingeführt wurden.

15 Loränd Benko (Hrsg.): A magyar nyelv törteneti-etimolögiai szötära (Historisch-etimologisches Wörterbuch der ungarischen Sprache) Bd. 1, Budapest 1967, S. 614, Bd. 3, Budapest 1982, S. 156. 16 Huszär (wie Anm. 13), S. 53 — 57. 17 Josef Blaskovic: Rimavskä Sobota v case osmanskotureckeho paristva (Rimavskä Sobota in der Zeit der osmanisch-türkischen Oberherrschaft"). Bratislava 1974, S. 311, 318. — Klara Hegyi: Török közigazgatäs es jogszolgältatäs — magyar värosi autonömia (Turkish Administration and Jurisdiction — Hungarian Municipal Autonomy"), in: TSz 28 (1985), S. 230. 18 „In the Balkans, particularly in provinces near the border, tax collectors encountered difficulties in finding akse. They complained that the people did not have any money but the penz and the gurus.u Halil Sahillioglu: The role of international monetary and metal movements in Ottoman monetary history 1300-1750, in: J. F. Richards (Hrsg.): Precious Metals in the Late Medieval and Early Modern Worlds, Carolina Academic Press 1983, S. 283. — Hermann Kellenbenz (Hrsg.): Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Handbuch der europäischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1986, S. 315. 19 Sahillioglu (wie Anm. 18), S. 299.

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Die weite Verbreitung des ungarischen Denars fiel auch einem scharf beob­ achtenden französischen Reisenden auf, den sein Weg im Jahre 1574 von Istanbul nach Siebenbürgen führte. Nachdem er die bulgarische Stadt Russe verlassen und die Donau überquert hatte, stellte er fest: Von hier an ist die Aqce nicht mehr im Umlauf\ statt ihrer wird in Ungarn Geld verwendet, auf dem das Bild der Jungfrau Maria zu sehen ist und welches sie Pfennig nen­ nen .... Für einen Taler bekommt man hundert davon, wie auch für fünfzig Aqce.20 Lescalopier hat sich genauestens über die Geldwertverhältnisse infor­ miert, was natürlich seine Glaubwürdigkeit erhöht, trotzdem ist es aber mehr als wahrscheinlich, daß die Bezeichnung „Pfennig“ für den Denar nicht aus dem Bulgarischen, noch weniger aus dem Türkischen stammte, sondern von den Siebenbürger Sachsen übernommen wurde. In dieser Zeit sind in Siebenbürgen sowohl die ungarischen Denare wie auch die nach ihrem Vorbild geprägten fürstlichen Denare in beachtlicher Zahl im Umlauf gewesen, daneben stieg auch die Bedeutung der verschiedenen polni­ schen Wechselgelder.21 Gerade die weite Verbreitung und der Abfluß der ungarischen, bzw. ihrem Muster folgenden Prägungen fürstlicher Scheide­ münzen erklärt, warum die Herrscher in Moldau — einem rumänischem Für­ stentum — in den Jahren 1552—1564 „Madonna-Denare“ prägen ließen. Auf der Rückseite der im Volumen bescheidenen und zweifellos von epigonalem Charakter gekennzeichneten Prägungen war — genau wie auf ihrem Vorbild — eine Rundschrift zu lesen, nur statt PATRONA HUNGARIAE hier PATRONA MOLDAWI.22 Während im 16. bis 17. Jahrhundert im Königreich Ungarn eine Klagewelle zum einen über die Einfuhr polnischer Münzen, zum anderen über die Aus-

20 Dela en avant les aspres ne sont plus en usage. Mais des niquets merques dune n(ot)re Dame . . . c’est monoie de hongrie et la nomment Phenis. Ily en baillent cent pour ung talar, ou 50 aspres. Die Handschrift von Pierre Lescalopier wird in Montpellier verwahrt, Biblotheque de la faculte de Medecine, H. 385. Eine Kopie ist in der Bibliothek der Reformätus Räday Gyüjtemeny (Räday-Sammlung der reformierten Kirche) Budapest unter der Nummer K.O.617 zu finden, vgl.: Pierre Lescalopier utazäsa Erdelyben (1574), (Die Reise von Pierre Lescalopier in Sieben­ bürgen) hg. v. Kalman Benda/Lajos Tardy/Gyula Benda, Budapest 1982, S. 59, 117. Das Mit­ glied der Akademie der Wissenschaften, Herr Dr. Kalman Benda, war so freundlich, mir die Kopie zur Verfügung zu stellen; für die Kontrolle des Textes bin ich Herrn Doz. Dr. Gyula Benda zu Dank verpflichtet. 21 Adolf Resch: Siebenbürgische Münzen und Medaillen von 1538 bis zur Gegenwart, Hermann­ stadt 1901, S. 5-7, 9-10, 17, 21, 28, 30. - Huszär (wie Anm. 13), S. 51-52. 22 Demetrius Alexander Sturdza: Uebersicht der Münzen und Medaillen des Fürstentums Romanien (Moldau und Walachei), Wien 1874, S. 38—39. — George Buzdugan/Octavian Luchian/ Constantin C. Oprescu: Monede si bancnote romänesti, Bucuresti 1977, S. 87—90.

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Jänos Buza

fuhr der Dukaten und Taler23 zu vernehmen war, blieb nahezu unbeachtet, daß zur gleichen Zeit ein Teil der ungarischen Denare nach Polen gelangte. Daß der ungarische Denar auf dem Krakauer Ständetag von 1588 zum gesetzlichen Zahlungsmittel erhoben wurde,24 beweist, daß es sich hiermit um einen länger dauernden Prozeß und eine Ausfuhr von bemerkenswertem Ausmaße gehan­ delt haben mußte. Einerseits bereicherte die ungarische Scheidemünze den pol­ nischen Geldverkehr, andererseits jedoch ereilte ihn das gleiche Schicksal wie die übrigen ausländischen Prägungen (unter ihnen auch deutsche Taler25): sie gerieten in die Schmelztiegel, um Grundstoff für die Prägung einheimischer Münzen zu werden. Unter den Gründen für das Einschmelzen bzw. das Prägen neuer polnischer Scheidemünzen von jedoch schwächerer Qualität muß zum Teil die auch von den Zeitgenossen oft verdammte Spekulation genannt werden, zum anderen war ein gewichtigerer Anlaß, daß der Silberpreis in Polen höher war als in Ländern, die über genügend oder zumindest bedeut­ samere Silbermengen verfügten26. Die Beliebtheit des ungarischen Denars in Polen wurde durch die Geldentwertung im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhun­ derts erschüttert27, doch die nach 1625 geprägten — nun wertbeständigen — Denare konnten offensichtlich ohne Schwierigkeiten am Geldumlauf in den Grenzregionen des uns seit Jahrhunderten benachbarten Landes teilnehmen. Dasselbe kann bei weitem nicht über Österreich, genauer formuliert über die an das Königreich Ungarn grenzenden österreichischen Länder gesagt werden. In der zweiten Hälfte des 16. bzw. in der ersten Hälfte des 17. Jahr­ hunderts wiesen mehrere ungarische Ständetage auf den Schaden hin, der ihrem Land daraus erwuchs, daß die am weitesten verbreitete ungarische Scheidemünze in Österreich nicht oder nur begrenzt akzeptiert wurde.28 Unter Berufung auf Fälschungen sowie die als übermäßig angesehene Ausfuhr des Talers setzte z. B. die niederösterreichische Regierung im Jahre 1584 dem als

23 Lajos Huszär: A lengyel penzek forgalma Magyarorszägon a XVI.-XVII. szäzadban (Verkehr der polnischen Münzen in Ungarn im XVI.-XVII. Jahrhundert"), in: NK 68-69 (1970), S. 57-62. 24 Andrzej Mikotajczyk: Hungarian Coins in the Polish Medieval and Modern Finds, in: NK 88-89 (1990), S. 81. 25 Max Bahrfeldt: Niedersächsisches Münzarchiv. Verhandlungen auf den Kreis- und Münzpro­ bationstagen des Niedersächsischen Kreises 1551 — 1625. Bd. 3, Halle 1929, S. 401—402. 26 Andrzej Mikoajczyk: Wegierskie srebro w Polsce — zabespieczenie kruszcowe gwaltownego rozwoju polskiej menniczej w koncu XVI i na poczatku XVII wieku (The Hungarian Silver in Poland — The Buillon Indemnity of the Rapid Development of the Polish Mint output in Late 16* and Early 17* Century*), in: Prace i Materialy Muzeum Archeologicznego i Entograficznego w lodzi. Seria Numizmatyczna i Konservatorska Nr. 5, 1985, S. 122-123. 27 Franz Joseph Jekel: Polens Handelsgeschichte, Wien/Triest 1809, S. 175. 28 Günther Probszt: Innerösterreichs Münzpolitik von 1564 bis 1619, in: NZ 57 (1924), S. 69—72. Huszär (wie Anm. 13), S. 30.

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„ungarischen dreyer“ bezeichneten Denar („Dreier“, da ein Denar 3 Wiener Pfennige wert war) eine dreimonatige Frist, um dessen Kurs auf zweieinhalb Wiener Pfennige zu drücken29. Außer dem Bestreben, die gute Reichsmünze — den Taler — zu schützen, verschlechterte sich die Position des ungarischen Denars auch dadurch, daß er sich nicht dem Wert des Kreuzers anpaßte und somit die Umrechnung Schwierigkeiten bereitete. Im Jahre 1617 wurde der Taler gegen 100 Denar bzw. 70 Kreuzer getauscht; demzufolge war ein Kreuzer 1,428 Denar wert. Verbot, Valvationszwang und Schwierigkeiten beim Eintauschen konnten jedoch nicht verhindern, daß die ungarischen Denare beim Handel in grenznahen Gebieten weiter eine Rolle spielten. Ein weiteres Mittel ihrer Verdrängung bestand darin, daß ein Teil des Preises für die hauptsächlich aus der Tiefebene stammenden Rinder30 in Denar bezahlt werden sollte. In einer Verordnung aus dem Jahre 1617 heißt es, daß ein Drittel der Kaufsumme mit Dukaten, das ander mit ganzen tallern, der Rest mit hungarischen gelt zu zahlen isty wie 1603. Juni 21, angeordnet worden ist.31 Die zweifache Zielstellung der Verordnung ist klar: zum einen sollte die Ausfuhr des im Großhandel wertvollen Zahlungsmittels eingedämmt werden, zum anderen sollten die Denare nach Ungarn zurückgeführt werden. Nachdem die monetären Wirren ihr Ende gefunden hatten und 1625 auch in Ungarn und Siebenbürgen Schritte unternommen wurden, um gute Scheide­ münzen von gleichbleibender Qualität zu prägen32, baten die Stände Ungarns erneut, die ungarischen Denare in Österreich unbehindert umlaufen zu lassen33. Ferdinand II., Kaiser von Österreich und König von Ungarn, gab allerdings erst 1628 seine Zustimmung dazu, daß der zu Crembnitz geschla­ gene hungarische Pfennig ... in diesem Landt (Österreich unter der Ennß) in Kauffen und Verkauffen gangbar und gäbig seinM solle. Die Bevölkerung Niederösterreichs war jedoch nur dazu verpflichtet, ungarische Denare bis zu einem Drittel der Preissumme zu akzeptieren, die damit auch weiterhin ein

29 Albert Starzer (Hrsg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Wien, Abt. 1, Bd. 5, Wien 1906, S. 145. — Probszt (wie Anm. 28), S. 74. 30 Istvän N. Kiss: Die Bedeutung der ungarischen Viehzucht für Ungarn und Mitteleuropa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Internationaler Ochsenhandel (1350—1750), Akten des 7th Interna­ tional Economic History Congress Edinburgh 1978, hg. v. Ekkehard Westermann. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Hermann Kellenbenz/Jürgen Schneider, Bd. 9, Stuttgart 1979, S. 83-123. — Jänos Buza: Die großbäuerliche Viehzucht auf der ungarischen Tiefebene, in: ZAA 32 (1984), S. 165-209. 31 Quellen . . . Wien (wie Anm. 29), S. 200-201. 32 Huszär (wie Anm. 13), S. 37—38. 33 Dezsö Markus (Hrsg.): Magyar Törvenytär — Corpus Juris Hungarici. 1608—1657 közötti törvenyczikkek (Die Artikel zwischen 1608 und 1657), Budapest 1900, S. 261. (Im weiteren: CJH.) 34 Lajos Kemeny: A magyar Valuta törteneteböl (Aus der Geschichte der ungarischen Valuten), in: Sz. 44 (1910), S. 233—234. — Huszär (wie Anm. 13), S. 159.

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Zahlungsmittel mit begrenztem Umlauf blieben. Einzig und allein sein Kurs veränderte sich: zwei Kreuzer waren soviel wert wie drei Denare, also ein Kreuzer entsprach eineinhalb Denaren, was die Umrechnung zweifellos erleichterte. Ein weiteres größeres Problem als die im Zusammenhang mit dem österrei­ chischen Denarverkehr aufgetretenen Schwierigkeiten stellte im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts die Tatsache dar, daß im Land immer weniger Scheidemünzen — und vor allem ungarische Denare — umliefen.35 Gerade des­ wegen drängten die Stände im Jahre 1635 auf die Steigerung der Denarprä­ gung,36 was jedoch keine große Wirkung hatte, denn schon 1649 mußte erneut festgestellt werden, daß ein großer Mangel an Kremnitzer Kleingeld besteht.37 Die geschätzten Daten über der Emission lassen keinen Zweifel daran, daß die Stände die finanzielle Lage, genauer gesagt die Situation im Geldumlauf, real beurteilt hatten. Quantität der in Kremnitz geprägten Denare (Mill. Stck.)38

Epoche

1571—

Zahl

Jahres-

der

durch-

Jahre

schnitt

Maximum

Jahr

Minimum

Jahr

10

16,83

21,73

1575

3,49

1573

7

11,28

16,16

1631

8,06

1640

6

2,97

6,73

1641

0,65

1648

7

0,41

1,22

1651

0,06

1657

Extremwerte

1580 1631— 1640 1641— 1650 1651— 1659

Aus der Tabelle ist eindeutig ersichtlich, daß die Denarprägung bereits in den Jahren 1640—1650 sichtbar zurückfiel, im darauffolgenden Jahrzehnt dann

35 36 37 38

Huszär (wie Anm. 13), S. 38. CJH. (wie Anm. 33), S. 340-341. Cum magna sit minutae Cremnicensis monetae penuria, CJH. (wie Anm. 33), S. 548—551. Stefan Kazimir/Josef Hlinka: Kremnicka mincovna 1328—1978 (Die Münze von Kremnica 1328-1978*'), Kremnica 1978, S. 348-349.

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sogar auf einen Bruchteil der in der Blütezeit des 16. Jahrhunderts geprägten Münzen sank. Im dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts nahm der Mangel an Scheidemünzen noch keine dramatischen Ausmaße an, ein Jahrzehnt später jedoch traten nicht nur wegen der verringerten Denarprägung, sondern auch durch das immer größere Ausmaße annehmende Ausströmen der sich im Umlauf befindlichen Münzen in andere Länder beträchtliche Schwierigkeiten auf. Ein verstärkter Sog machte sich seitens des Osmanischen Reiches bemerkbar, wo die Prägung von Scheidemünzen zeitweilig eingestellt wurde39 und somit das Tor für die ausländischen Scheidemünzen weit geöffnet wurde. Die Hofkammer erwog, ob nicht eventuell mehr Hungerlein geprägt werden sollten, denn in den türkisch besetzten Gebieten hätte man diese mit Gewinn gegen Dukaten und Taler eintauschen können.40 Die Gelegenheit blieb aber ungenutzt, und in das so entstandene Vakuum strömten andere — hauptsäch­ lich polnische bzw. nach polnischem Muster geprägte — Scheidemünzen, denen nach 1650, noch mehr jedoch im darauffolgenden Jahrzehnt, andere, zum Teil französische Prägungen folgten.41 Zur — nicht gerade erfolgreichen — westeuropäischen Position des ungari­ schen Denars zurückkommend, sollte nicht unerwähnt bleiben, daß diese Scheidemünze in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert aus mehreren Gründen nicht über die Grenzen Österreichs gelangen konnte. Zum einen deswegen nicht, weil — wie bereits betont wurde — der Umlauf durch administrative Maßnahmen erschwert wurde, zum Teil aber auch deshalb nicht, weil im Fernhandel meistens nicht mit Scheidemünzen, sondern mit Dukaten und Talern, ja nicht selten mit deren Vielfachem bezahlt wurde. Eine anerkannte und „erfolgreiche“ Scheidemünze war der ungarische Denar im wesentlichen im Bezugsraum des historischen Ungarn, in der Subregion Europas, in der das Niveau der Prägungstechnik hinter der ungarischen zurückblieb, beziehungsweise dort, wo er nicht nur als Zahlungsmittel fungierte, sondern — ähnlich anderen ausländischen Prägungen — eingeschmolzen, Rohstoff der einheimischen Münzprägungen wurde.

39 Vuk Vinaver: Monetarna krisa u Turskoj (1575-1650) (Die türkische Währungskrise"' 1575 — 1650), in: Istoriski glasnik (Beograd) 1958, S. 131 — 137. — Huszär (wie Anm. 13), S. 38. 40 Günther Probszt: Österreichische Münz- und Geldgeschichte. Von den Anfängen bis 1918. Wien/Köln/Graz 1973, S. 456. Tiefgehendere Analyse dieses Problems: Helmut Jungwirth: Beiträge zur Münzgeschichte Ferdinands III., phil. Diss. Universität Wien 1962 (Maschinen­ schrift, ÖNB. 947.112-C). 41 Huszär (wie Anm. 23), S. 60—62. — Jänos Buza: Les monnaies fran$ais ou du Systeme frangais dans la circulation monetaire en Hongrie au XVII siede, in: Revue numismatique 18 (1976), S. 119—135. — Lutz Ilisch: Levantinische Gegenstempel auf französischen Münzen des 17. Jahrhunderts. Der Timminhandel in zeitgenössischen französischen Berichten. — „Lagom“. Festschrift für Peter Berghaus zum 60. Geburtstag, hg. v. Thomas Fischer/Peter Ilisch, Münster 1981, S. 316-320.

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Über die Existenz des Denars, und darüber, daß er in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts — in seiner Kategorie — als ziemlich stabiles Geld galt, wußte man in dem von einem bunten Münzverkehr gekennzeichneten süddeutschen Raum,42 obwohl einzelne Exemplare nur selten und sehr verstreut in diese Region gelangten.43 Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Information im Zusammenhang mit dem Fernhandel nach Deutschland kam, wie dem auch sei, der Überblick und die Kenntnis der Münzwardeine ist lobenswert. Es ist eine Groteske in der Geldgeschichte, daß der Denar aus Nürnberg erst dann verbannt wurde, als er auch schon im ungarischen Geldverkehr an Bedeutung verlor und hinter den österreichischen und nach östereichischem Muster geprägten ungarischen Scheidemünzen von kreuzerähnlichem Wert, sowie den ebenfalls nach Niederösterreich strömenden polnischen Groschen — hauptsächlich dem Dreipölker (Anderthalbgröscher), dem Düttchen (Dreigröscher) und dem doppelten Düttchen (Sechsgröscher)44 — nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Seine Bedeutung sank weiter mit Beginn der Herrschaft von Leopold I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn, dessen absolutistische Bestre­ bungen auf den Geldumlauf und auf das Gebiet der Geldwertverhältnisse ebenfalls ihre Auswirkungen hatten. Im Jahre 1659 begann die massenhafte Emission der in ihrem Wert gesenkten Kreuzerprägungen — besonders der 15- und 6-Kreuzer.45 Die Prägung von Kreuzermünzen nahm 1661 auch in Ungarn ihren Anfang, und so paßte sich die ungarische Münzprägung der österreichischen an.46 Auf dem Ständetag von 1659 wurde zwar der Wunsch nach verstärkter Denarprägung erneut formuliert, von geldgeschichtlichem Standpunkt aus jedoch wichtigere — ja man kann ohne Übertreibung sagen: zukunftsträchtigere — Folgen hatte der Beschluß der Stände, den Wert und die Feinheit der ungarischen Scheidemünzen den Wiener „Groschen“ anzupassen, obwohl sie erneut die Forderung artikulierten, daß die ungarischen Scheide­ münzen „. . . in genügender Menge geprägt und gedruckt sowie überall, auch auf den benachbarten Territorien, akzeptiert werden sollen“.47 Diese Forde42 Nun aber Innerhalb Funffzick Jahren in Ungarn gar viel Ungerischer Pfennig, deren hundert einen Taler,. . . gelten,. . . den 31. Martii 1600. Hirsch: DRMA (wie Anm. 1), Bd. 3, Nürnberg 1756, S. 151. 43 Niklot Klüßendorf: Münzfundbericht des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landes­ kunde, Marburg Nr. 6: 1984 bis 1986 (Sonderdruck aus: Fundberichte aus Hessen), 26 (1986), (1991), S. 69, 79. 44 Probszt (wie Anm. 40), S. 467. 45 Probszt (wie Anm. 40), S. 463 f. 46 Imre Bodor: Magyarorszäg apröpenzei a XVII. szäzad mäsodik feleben (Ungarns Kleingelder in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts51*), in: NK 72-73 (1974), S. 62. 47 De cusione minutae Cremniciensis monetae> ... ad ligam, et valorem grossorum Viennensium redacta; ... in sufficienti copia, tarn cudatur, quam imprimatur: et ubique, in vicinis etiam provinciis acceptetur. CJH. 1657—1740 (wie Anm. 33), S. 176—179.

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rung wurde auf dem Ständetag von 1662 wiederholt.48 Die Schranken, die bisher verhinderten, daß den Wünschen der Stände Genüge getan werden konnte, verschwanden auch in der Realität, allerdings ist es ohne die drohende türkische Gefahr und ohne den Untergang Siebenbürgens49 nur schwer vor­ stellbar, daß die ungarischen Stände als Gegenleistung für die bloße Akzeptanz der ungarischen Scheidemünzen in Österreich in die Vereinheitlichung der Scheidemünzen eingewilligt hätten. Die erhoffte — von Hilfstruppen aus dem Reich unterstützte — Vertreibung der Türken mag ebenfalls zur Veränderung ihrer Haltung beigetragen haben.50 Außer den noch weitere Untersuchungen erfordernden politischen und geldgeschichtlichen Faktoren sollte keinesfalls vergessen werden, daß die im wesentlichen Teil des Königreichs Ungarn lebende Bevölkerung, darunter der an der Warenproduktion und am Warenhandel interessierte Adel, ein ent­ schieden wirtschaftlich motiviertes Interesse daran hatte, daß die ungarischen Prägungen, damit selbstverständlich auch der Denar, in den benachbarten österreichischen Gebieten gesetzlich anerkannte Zahlungsmittel würden. Auch hinsichtlich der Versorgung Wiens mit Lebensmitteln war dies keinesfalls gleichgültig. Infolge eines solchen Zusammentreffens von politischen und wirtschaftlichen Interessen ließ der Kaiser 1669 den ungarischen Ständen Genugtuung widerfahren, als er befahl, daß die ins gemain die Hungarische genannt(en) ungarischen Denare ohne Vorbehalte zu akzeptieren sind. Der sich auf den Denar beziehende Abschnitt des in erster Linie die Devalvation der polnischen Scheidemünzen dienenden Münzpatents lautet folgender­ maßen: Nach deme auch vom mehrerwehnten Innwohnern Unsers Königrei­ ches HUngarn dise Beschwerde vorkombt, daß die daselbst under Unserm und Unser Vorfahrer im Königreich Gebräg außgangene, und noch außgehende kleine Schitt-Müntz ins gemain die Hungarische genannt, deren vornhin in diser Unsern Oesterrichischen Landen, hundert umb ein Gulden oderfünff vor ein Groschen, gang- und gebig gewesen, von etlichen Jahren her nicht mehr angenommen werden wollen, welches denen hin wider trafficirenden sonder­ lich armen Leuthen Schaden verursachet, und vornemblich der Zuefuhr der Victualien zu Unserer Statt Wienn verhinderlich ist; Als befehlen Wir hiemit Gnädigst ernstlich, besagte Hungarische, in vorermelten Werth unwaigerlich anzunehmen: ... .51

48 CJH. 1657-1740 (wie Anm. 33), S. 252-253. 49 Katalin Peter: Das Scheitern großer Hoffnungen . . in: Köpeczi/Szäsz (wie Anm. 4), S. 353-358. 50 Agnes R. Värkonyi (Hrsg.): Magyarorszäg törtenete 1526—1686 (Geschichte Ungarns 1526-1686), Bd. 3, Budapest 1985, S. 1078-1080. 51 Niederösterreichisches Landesarchiv. Niederösterreichische Regierung, Patenten und Zirkulä­ ren N. 62, Wien 1669 Nov. 8, bzw. Codex Austriacus, Pars secunda, Wien 1704, S. 28.

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Mit der Verordnung von Kaiser Leopold I. wurde der ungarische Denar also in Niederösterreich gesetzlich anerkanntes Zahlungsmittel, und da die ungari­ schen Stände „seinen Wert und seine Reinheit“ zuvor bereits den Wiener Münzen angepaßt hatten, ging seine Akzeptanz auch praktisch mit keinerlei Schwierigkeiten einher. In der zitierten Verordnung ist allerdings nichts davon zu lesen, daß man den Denar eigentlich in die Prägungen von Kreuzerwert integriert hatte. Für die sich noch im Umlauf befindenden alten Denare, genauer formuliert für die mit diesen Bezahlenden war die Verordnung nicht von Vorteil. Die neuen Denare wurden noch nicht in größerer Menge geprägt, ja man muß sogar sagen, daß die Denarprägung in den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts — verglichen mit der im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts — eher bedeutungslos war. Ein Erstarken der Emission ist erst seit 1673 zu bemerken. Da die konkreten Ursachen jedoch ungenügend bekannt sind, kann nur vermutet werden, daß die oben erwähnte Verordnung und die Anerken­ nung des Denars in Niederösterreich als gesetzliches Zahlungsmittel diese Pro­ zesse begünstigt haben. Die Prägung der Kremnitzer Denare 1666—168052 Geprägte Denare Epoche

Zahl der Jahre Gesamtzahl

J ahresdurchschnitt

1666-1672

6

702 202

177 033 1/3

1673-1680

6

8 768 531

1 461 421 4/5

Mehr als diese Hypothese ist allerdings von Bedeutung, daß die Denarprä­ gung im Jahre 1673 die Millionengrenze überschritten hatte, was an der Emis­ sion der beiden letzten Jahrzehnte beispiellos war. Daten, die mit indirekten Methoden geschätzt wurden, deuten darauf hin, daß in Kremnitz zwischen 1659 und 1680 mehr als 11 Millionen Denare geprägt wurden.53 Bis zur Ver­ abschiedung des Verbots des Nürnberger Senats sind also mehrere Millionen Denare in Umlauf gekommen. Obwohl diese Menge nur einen Bruchteil des im Jahrhundert zuvor geprägten Quantums darstellte, erwies sie sich dennoch als ausreichend, um Quelle von Spekulationen zu werden. Die ein und andere Gewinnsüchtige Personen — wie die Stadtväter Nürnbergs formulierten — 52 Kazirmr/Hlinka (wie Anm. 38), S. 348-349. 53 Eduard Holzmair: Der Umfang der österreichischen Münzprägung in den Jahren 1659—1680, in: NZ 89 (1974), S. 55.

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brauchten nicht das Risiko einer Reise nach Ungarn54 auf sich zu nehmen, um Denare in ihren Besitz zu bringen, denn diese im süddeutschen Raum unbe­ kannte Scheidemünzen konnten sie bereits in Wien erwerben, wohin sie häuffenweiß eingeschoben, vor Kreutzer ausgegeben wurden. In Ungarn und sicher auch in Wien — doch darüber schweigt die Verordnung Leopolds I. — war der Denar einem halben Kreuzer gleichgesetzt,55 so konnte man bei dessen Ver­ kauf in Nürnberg für einen Kreuzer einen Gewinn von 100% erzielen. Einer derartigen Verlockung konnten die nach Bereicherung Strebenden wohl kaum widerstehen! Nicht nur der äußerst geringe Bekanntheitsgrad des Denars erleichterte die Spekulation, sondern auch das Fehlen von Wertzeichen auf dieser Prägung56 — im Gegensatz zu den in Nürnberg ebenfalls auftauchenden „ungarischen“ Kreuzern57. Es gab also keine sichtbaren Anzeichen dafür, daß diese Scheide­ münze nur die Hälfte, ja nach — ihre Aufgabe ernst nehmenden — geschworen Wardeinen Bericht, nicht einmal die hälfft eines Kreutzers wert war. Entgegen dieser fachmännisch begründeten Meinung war der Verbannung des Ungerlein aus dem Geldverkehr der Stadt Nürnberg kein Erfolg beschieden. Es ist leicht möglich, daß die Nachricht vom Verbot nicht zu jederman gelangte bzw. daß ein Teil der Bevölkerung die — eigentlich unbe­ kannte — Scheidemünze mit dem Bild der Madonna nicht als wertlose Prägung ansah. Auch die Möglichkeit, daß die Münzen gegebenenfalls versteckt wurden, ist nicht auszuschließen. Auf diese Art können aus Münzfunden einige Exemplare in die Sammlung des Germanischen Nationalmuseums gelangt sein, unter denen eine Kremnitzer Prägung aus dem Jahre 167658 dem Zeitpunkt der Nürnberger Senatsverordnung am nächsten steht. Die Erfolglo­ sigkeit des Verbots läßt sich bereits im Herbst 1676 ahnen, als die Stadt Nürn­ berg unter Androhung des Vermögensentzuges — neben zwei anderen Schei­ demünzen — erneut auch gegen den als Creutzer bezeichneten ungarischen

54 Es ist nachweisbar, daß Nürnberger Kaufleute um 1660 bis an die ungarische Grenze gelangten. Leider ist der „norimbergische Kaufmann“ namentlich unbekannt geblieben, der mit seinem Diener dem gegen die Türken kämpfenden Feldherrn von europäischem Rang, Graf Miklös Zrinyi, Waffen verkaufen wollte. Brief von Istvän Vitnyedi an Miklös Zrinyi, Ödenburg am 12. Febr. 1663; ediert bei Andräs Fabö: Vitnyedi Istvän levelei 1652—1664 (Die Briefe Istvän Vitnyedis 1652-1664), TT 16 (1871), S. 34. 55 Jänos Buza: Polnische und ungarische Münzen im Geldumlauf Niederösterreichs (Zum Umlauf der sog. „Dreipölkergroschen“ in Ungarn während der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts — Abhandlung im Druck). 56 Lajos Huszär: Münzkatalog Ungarn von 1000 bis heute, Budapest/München 1979, S. 228—229. 57 StadtAN A 6 Mandate, 1665 Mai 18, 1667 Juni 7, 1679 Dez. 12. 58 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Münzkabinett N. 18159.

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Jänos Buza

Denar vorgeht.59 Es kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß es den Gesandten Nürnbergs zu verdanken war, wenn im 1679 verabschiedeten Beschluß der für Finanzfragen zuständigen fränkischen, schwäbischen und bayerischen korrespondierenden Kreise auch der ungari­ sche Denar unter den zu verbannenden Geldern erwähnt wurde.60 Im Text des späteren Nürnberger Verbots ist der ungarische Denar nicht immer zu finden, allerdings taucht seine Abbildung unter den Namen Unger­ lein auf zahlreichen Einblattdrucken auf: im August 1682 nimmt er unter den Bildern von 27 — zum Teil auch den Zeitgenossen unbekannten — Münzen den 13., auf einem Druck aus dem September des Jahres 1684 unter 40 Münzen den 24., im Juli 1685 auf einer Zeichnung von 51 Prägungen den 39. und schließlich — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — in einem 72 Prägungen umfassenden Beschluß den 56. Platz ein.61 Der oben erwähnte Beschluß der drei korrespondierenden Kreise läßt darauf schließen, daß Nürnberg nicht die einzige Stadt war, in der „gewinnsüchtige Personen“ versuchten, den ungari­ schen Denar in Umlauf zu bringen; die Stadt Augsburg trat im Frühjahr des Jahres 1691 nachweislich gegen ihn auf.62 Der ungarische Denar hatte zum Ende des 17. Jahrhunderts im süddeut­ schen Geldverkehr eine unrühmliche Rolle gespielt, obwohl er eigentlich kein schlechtes Geld darstellte. Die Gegebenheiten entwickelten sich so, daß man mit seinem geringen Bekanntsheitsgrad und aufgrund des Fehlens eines Wert­ zeichens Mißbrauch treiben konnte. Der sich im Wirrwarr der Scheidemünzen nur schwer zurechtfindende einfache Bürger erlitt Schaden, wenn er ihn als Kreuzer akzeptierte, die gut informierten Kaufleute, ihre Beauftragten sowie die Spekulanten dagegen konnten mit ihm erfolgreich im Trüben der zweiten

59 StadtAN A 6 Mandate, 1679 Sept. 6. Den Denar hatte Will auch als Kreuzer betrachtet: 1678 d. 28. Maii. Verbottene Ungarische Kreuzer btr. Fol. pat. Bibliotheca Norica Williana, oder kriti­ sches Verzeichniß aller Schriften, welche die Stadt Nürnberg angehen . . ., bearbeitet Georg Andreas Will, Bd. 1/1, Altdorf 1772, S. 193. 60 Im übrigen last man es auch wegen der doppelt- und dreifachen Polnischen Groschen und anderen ausländischen halben Batzen, Albus, Kreutzern, Dreyern und so genannten Ungerlein, bey denen mehrmals ausgegangen so General- und als Special-Müntz-Mandaten, und darin begriffenen Verbott, noch allerdings bewerden. Datum inn deß Heyl. Reichs Stadt Nürnberg, bey nach fürwährenden Müntz-Probationsconvent, den 22. 12. Decembr. 1679. Einblattdruck in der Familiensammlung von Prof, von Stromer. Am selben Tag wurden auch noch drei andere Verordnungen erlassen. Vgl. Hirsch: DRMA (wie Anm. 1), Bd. 5, Nürnberg 1759, S. 99—106. StadtAN A 6 Mandate, 1682 Aug. 27, 1684 Sept. 27, 1685 Juli 23, 1685 Dez. 23, 1688 Mai 2. 62 27. März 1691, Augsburg, in: „Verschiedene Müntz-Ordnungen und Reichs-Constitutiones, so von Römischer-Cayserlicher Majestät, Churfürsten, Fürsten und Ständen, de Anno 1676 bis 1691 publiziert worden.“ Für diese Angaben bin ich Herrn Direktor Dr. Paul Arnold (Münz­ kabinett Dresden) zu Dank verpflichtet.

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oder kleineren „Kipperzeit“ fischen.63 Dazu waren gegen Ende des 17. Jahr­ hunderts in Nürnberg die Bedingungen gegeben. Dies wird sowohl durch die Verbote über wertlosere Münzen und den auf ihnen oft abgebildeten ungari­ schen Denar untermauert, es wird aber auch dadurch bewiesen, daß das Ungerlein zwischen 1680 und 1690 unter den nicht erwünschten Münzen immer mehr in den Hintergrund geriet. Die zeitgenössischen Geldwardeine wurden in dieser Zeit an die ersten Jahre des zweiten Jahrzehnts in besagtem Jahrhundert erinnert, als die Prophezeiung des namhaften Geldexperten, des „Reichspfennigmeisters“ Zacharias Geizkofler,64 eintraf, daß das Geld immer weniger nur Zahlungsmittel war, sondern immer mehr selbst zur Ware wurde: Was etzliche Jahr vorhero, erwehnte Geizkofler profezeyet, das ist nochmals Anno 1622. mit grossem, unschätzbaren ja unaussprechlichen Schaden, daß ganzen Heil-Röm-Reiches, nur allzuwahr worden, und erfolget. Weil nun auch bey dieser Zeit, eben wiederumo mit dem Geld mehr Kauffmannschafft, als mit dem Wahren getrieben wird ... .65 Das Zitat bestätigt das Erscheinen des Ungerlein in Nürnberg und seine dortige Rolle im Geldumlauf zumindest zum Teil. Er wurde zum Handelsartikel, als man ihn in Wien, in der Nähe der ungarischen Grenze bzw. nach der Beendigung der türkischen Belagerung Wiens im Jahre 1683 auch auf dem Gebiet Ungarns aufkaufte, eventuell gegen Guldiner66 — Sechstel-, Drittel- bzw. Zweidritteltaler — gewinnbringend ein­ wechselte und dann in den süddeutschen Raum brachte, wo man versuchte, ihn als Kreuzer mit erneutem, erheblichen Gewinn zu verkaufen, damit aus der Ware wiederum Zahlungsmittel werde. Allerdings könnte es nicht im Interesse der die Bereicherung auf keinen Fall zurückweisenden Händler gestanden haben, den ungarischen Denar zu erwerben und dann in den süddeutschen Raum zu bringen; eher wahrscheinlich ist, daß sie die Ausfuhr des Ungerlein als eine Art Begleiterscheinung der eigentlichen Handelstätigkeit unterstütz­ ten. Uber die geldverkehrstechnischen und numismatischen Gesichtspunkte hinaus ist das Verbot des ungarischen Denars in Nürnberg aber auch ein wirt­ schaftsgeschichtliches Phänomen. Es läßt ahnen, daß gegen Ende der Türken-

63 Friedrich Schrötter: Das deutsche Heckenmünzwesen im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts, in: Deutsches Jahrbuch für Numismatik 1 (1938), S. 41 f. 64 Johannes Müller: Zacharias Geizkofler 1560—1617, des Heiligen Römischen Reiches Pfennig­ meister und oberster Proviantmeister im Königreich Ungarn, Wien 1938, S. 64—80. 65 Leonhard-Wilibald Hofman: Alter und Neuer Müntz-Schlüßel oder Beantwort und Eröffnung CCXXII Curioser Fragen Das Müntz-Wesen betreffend, Nürnberg 1783, S. 314-315. (StB Nürnberg, Solg. 1765 4°). 66 Lajos Huszär: Deutsche Guldiner in Ungarn im 17. Jahrhundert. Actes du 9eme Congres Inter­ national de Numismatique, Berne, septembre 1979, hg. v. Tony Hackens/Raymond Weiler, Louvain-la-Neuve/Luxembourg 1982, S. 975—980.

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herrschaft in Ungarn die Existenz von — eher indirekten als direkten — deutsch-ungarischen Handelsbeziehungen nicht geleugnet werden kann. Darauf deutet eine Verordnung Nürnbergs aus dem Jahre 1691 hin,67 die die Einfuhr ungarischer bzw. aus dieser Richtung kommender Waren nur unter Berufung auf die Seuchengefahr unterband. Letzteres betraf nicht unbedingt nur die Kaufleute oder Ungarn, sondern betroffen waren auch rück- bzw. heimkehrende Soldaten, die mit anderen christlichen Kriegsleuten Europas Teilnehmer an dem bis 1699 andauernden Krieg68 gewesen waren, als dessen Folge ein entscheidender Teil der ungarischen Gebiete nach nahezu 150jähriger türkischer Besetzung ihre Freiheit wiedererlangten. Es ist nicht auszu­ schließen, daß auch sie um 1680 vereinzelt Geld — darunter den ungarischen Denar — nach Deutschland brachten; jedoch sollte nicht vergessen werden, daß diese Ausfuhr unabhängig von ihnen, bereits vor Beginn des Befreiungs­ krieges, seinen Anfang genommen hatte. Zum Nürnberger Ratsbeschluß aus dem Jahre 1678 zurückkehrend bietet es sich an, vom numismatischen Standpunkt aus einige Bemerkungen zu machen. Das auf dem Stich dargestellte Bild des Denars erlaubte selbst dem im Lesen und Schreiben Unkundigen, die aus der Stadt verbannte Scheidemünze zu erkennen. Allerdings hatte der Kupferstecher die Vorder- und Rückseite des Denars miteinander vertauscht. Die kreisförmig angeordnete Schrift auf der Vorderseite lautet: LEOPDGRIS AHBREX (= LEOPOLDUS, DEI GRATIA ROMANORUM IMPERATOR, SEMPER AUGUSTUS HUNGARIAE, BOHEMIAE REX); neben dem Wappen ist das Münzzeichen K-B (Körmöcbänya, d. h. Kremnitz, Kremnica — Tschechoslowakei) gut zu erkennen. Auf der Rückseite des Denars sind die Madonna mit dem Kind auf ihrer Linken sowie die Schrift und Jahreszahl PATRONA HUNGAT677 (= PATRONA HUNGARIAE 1677) eindeutig zu erkennen. Aller Wahr­ scheinlichkeit nach hat der Kupferstecher auf Grundlage eines Denars vom Typ Huszdr No. 1508 gearbeitet.69 Dasselbe Denarbild ist auch auf dem Rats­ beschluß vom September 1679 zu sehen. Auf den früher erwähnten Ratsent­ scheidungen sind aber andere Denarstiche dargestellt. Hierbei handelt es sich ebenfalls um Kremnitzer Prägungen, die Jahreszahl ist jedoch eine frühere — 1673; diese Stiche sind mit dem Denar vom Typ Huszdr No. 1507 identifi­ zierbar.70 Ist es ein reiner Zufall, daß dieser Typ wiederholt auftrat? Auf diese Frage kann weder mit einem eindeutigen „Ja“ noch mit einem eindeutigen

67 StadtAN A 6 Mandate, 1691 Dez. 11. 68 Albert Bartelmeß: Die Patrizierfamilie Tücher im 17. und 18. Jahrhundert, in: MVGN 77 (1990), S. 233-234. 69 Huszär: Münzkatalog (wie Anm. 56), S. 228—229. 70 Huszär: Münzkatalog (wie Anm. 56), S. 228.

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„Nein“ geantwortet werden. Es ist allerdings zu beobachten, daß die Denar­ prägung infolge der bereits erwähnten millionenfachen Emission nach 1673 wieder zunahm. Das Münzzeichen K-B der illustrierten Denare ist aber keinesfalls zufällig, denn diese niederungarische Münze war eine der bedeutsamsten Münzen von Leopold I. Rechnet man die Produktion der Jahre 1659—1680 von acht Münzen des Hauses Habsburg auf den dem Kreuzer gleichwertigen Gulden um, so wird man feststellen, daß beinahe 38% der geprägten Münzen aus Kremnitz stammen, unter denen sich der ungarische Denar nur infolge seiner Menge — in der betrachteten Epoche mehr als 11 Millionen — hervorhob, da dieser Geldwert nicht einmal 0,1% des Wertes des dort insgesamt geprägten Geldes ausmachte.71 Schließlich lohnt es auch, auf den Nürnberger Namen Ungerlein für den ungarischen Denar einzugehen. Die Nürnberger Bezeichnung aus dem Jahre 1678 ist zwei Jahre älter als die bis jetzt früheste Angabe — Üngerlein (1680) fremde Scheidemünze von etwa 2 kr.72 —, deren Identifikation und Wertbe­ stimmung dem Obigen entsprechend nun mehr präzisiert werden kann. In den ungarischen Abrechnungslisten und anderen Quellen — die deutschsprachigen eingeschlossen — wurde der ungarische Denar im allgemeinen in verkürzter Form „den.“ (= denarius) erwähnt. In der Chronik von Letschau findet sich jedoch auch in dieser Hinsicht eine der sehr seltenen Ausnahmen: Auch hat man angefangen 5 Vngrische vor einen Kayserlichen groschen zunehmenP Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Zipser Sachsen die ungarischen Denare unter­ einander als „Ungarische“ bezeichneten. Als Kuriosität bleibt in diesem Zusammenhang noch zu bemerken, daß der Vater des — sehr aufschlußreiche Aufzeichnungen hinterlassenden — Chroni­ sten aus Nürnberg74 in das damals oberungarische Kassa (Kaschau, Kosice — Tschechoslowakei) übersiedelte und von dort nach Löcse (Leutschau, Levoca — Tschechoslowakei), wo er 1638 die Bürgerrechte erwarb und später auch seine letzte Ruhe fand. Seine Übersiedlung nach Ungarn, wo eine Ausein­ andersetzung mit den Türken keineswegs auszuschließen war, ist genauso überraschend, wie das Auftauchen des „Ungerleins“ in Nürnberg.

71 Holzmair (wie Anm. 53), S. 54. 72 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 24 (Bd. 11/11), Nachdruck Mün­ chen 1984, Sp. 612. 73 Gäspär Hain: Löcsei krönikäja. Zipserische oder Leütschaverische Chronica vndt Zeit­ beschreibung. Zusammen getragen der Lieben Posterität zur nachricht von Caspar Hain. Be­ arbeitet von Jeromos Bal/Jenö Förster/Aurel Kauffmann. Löcse 1910—1913, S. 309. 74 Die 24. Septembris (1638) Gewann Herr Nicolaus Hain Noribergensis, Mein lieber seeliger Herr Vater, . . . das burgerrecht. Hain (wie Anm. 73), S. 195.

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Abkürzungen HBN = Hamburger Beiträge zur Numismatik NK = Numizmatikai Közlöny (Veröffentlichung der Ungarischen Numis­ matischen Gesellschaft) NZ = Numismatische Zeitschrift (Wien) Sz = Szäzadok (Zeitschrift der Ungarischen Historischen Gesellschaft) TSz = Törtenelmi Szemle (Zeitschrift des Instituts für Geschichtswissen­ schaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften) TT = Törtenelmi Tär (Historische Quellensammlung)

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EIN NÜRNBERGER FREISCHÜTZSPIEL In Erinnerung an Dr. Werner Schultheiß (1906—1972) Von Werner Schultheiß Aus dem Besitz meines Großvaters, des Oberpostrats Oskar Schultheiß (1870—1950), Mitglied des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg und dessen Schatzmeister 1922 — 1926, hat sich ein Spiel mit folgendem Titel er­ halten: Der Freischütze. Ein ganz neues Gesellschaftsspiel mit 12 Karten, 7 Kugeln und 2 Würfeln. Le franc tireur. De Vryschütter. No 74 (wobei die Würfel und die Kugeln nicht mehr vorhanden sind). Diese Spielbezeichnung befindet sich auf einem ovalen orangefarbenen Auf­ kleber, der auf einem grünen Schuber oder Etui (20 X 10 cm) angebracht ist. Mit dem gleichen Text beginnt die vierseitige Spielbeschreibung, die auch noch in französisch vorhanden ist; offensichtlich fehlt der entsprechende hol­ ländische Text. Die Spielanleitung beschreibt zwei Spielarten, jeweils als Wür­ felspiel, auf die jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. In einem kleinen blauen Umschlag befinden sich die zwölf Spielkarten. Sie entsprechen in Größe und Beschriftung den Feldern 1 — 12 der Spieltafel und sind ebenfalls dreisprachig. Ihr Text ist aus dem Opernlibretto entnommen und paßt zur jeweiligen Person. Hauptstück des Spieles ist die farbfrisch erhaltene Spieltafel (siehe Abbil­ dung), die leider durch die Faltung auf die Größe des Schubers (V8 der Spielta­ felgröße) Knickfalten und Durchbrechungen erlitten hat. Der kolorierte Kupferstich zeigt als Mittelstück die Wolfsschluchtszene, rechts flankiert von Caspar, dem Freischützen, und links von Samiel. Im oberen Drittel rangieren die übrigen Hauptpersonen der Oper in den Spielfel­ dern 1—6 (Max, Agathe, Eremit, Graf Ottokar, Ännchen und Cuno), während das untere Drittel den Nebenrollen mit den Spielfeldern 7—12 Vorbehalten bleibt (Kilian, eine Brautjungfer und je zwei Bauern und Jäger). Im Mittelstück befindet sich der Hinweis auf den Künstler: Wunder inv[enit] et f[e]c[it]. Über Georg Benedikt Wunder (1786—1858) ist nur bekannt, daß er dauernd für den Campeschen Bilderbogenverlag arbeitete, und zwar ohne feste Ver­ tragsbeziehungen.1

1 Elisabeth Reynst: Friedrich Campe und sein Bilderbogen-Verlag zu Nürnberg, Nürnberg 1962, S. 37, 38; das Künstlerlexikon Thieme-Becker, (Leipzig 1907 ff.) erwähnt den Künstler nur mit dem Geburtsdatum (Bd. 36, S. 305).

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Werner Schultheiß

Was das Spiel meines Erachtens besonders interessant macht, geht aus dem letzten Absatz der Spielregeln hervor: Die Figuren der Bilder der Spieltafel sind genau in dem Costüme abgebildet, in welchem die Personen des Frei­ schützes bei der Aufführung dieser Oper zu Nürnberg auftraten (S. 4). Dies erscheint neben dem Künstlernamen als deutlicher Hinweis auf Nürn­ berg als Entstehungsort, und zwar kurze Zeit nach der Nürnberger Erstauf­ führung des Freischütz (26. 8. 1822). Leider befinden sich weder auf dem Spiel noch auf der Spielbeschreibung oder dem Etui ein Hinweis auf Verlag, Erscheinungsort oder -zeit. Aus der Bezeichnung No 74 auf dem Umschlag­ titel ergibt sich, daß das vorliegende Spiel einer umfangreichen Reihe wohl gleichartiger Spiele entstammt. In ganz ähnlicher Gestaltung, was Etui und Spieltafel betrifft, hat sich ebenfalls im Familienbesitz erhalten: Der Triumph der Giraffe oder Menagerie. Eine neuerfundenes Gesellschaftsspiel mit einer SpieltafeL Der Titel ist auch in französisch gedruckt und trägt die Nr. 88. Auch hier fehlt ein Hinweis auf den Künstler, ebenso auf Verlag, Ort und Erschei­ nungsdatum. Himmelheber2 beschreibt in seinem Katalog der Spiele des Bayerischen Nationalmuseums München vier Spiele aus dem Verlag Campe,3 wovon die letzten beiden mit den Titeln „Die Spaßvögel“ und „Der deutsche Hanswurst“ jeweils von Wunder stammen. Aber auch andere Nürnberger Verlage haben zur gleichen Zeit ähnliche Spiele hergestellt, wie die Belege bei Himmelheber zeigen, so C. Trümmer, Gebrüder Schmitt und J. G. Klinger,4 so daß auch bei ihnen das hier besprochene Spiel entstanden sein kann. In den Stadtgeschichtlichen Museen Nürnberg hat sich eine Lithographien­ folge aus acht Blättern von G. P. Büchner erhalten, die die Hauptszenen und damit alle Bühnenbilder der Erstaufführung des „Freischütz“ in Nürnberg am 26. 8. 1822 zeigen. Zugleich geben sie die Namen sämtlicher Solisten wieder.5 Die Kostüme beider Darstellungen entsprechen einander bis auf einige Farbnuancen und Kleinigkeiten, so daß durch die wechselseitige Bestätigung die Ausstattung der Nürnberger Freischützaufführung von 1822 als authentisch überliefert angesehen werden kann. Dagegen sind die Darstellungen der Wolfsschluchtszene völlig verschieden. Da das hier besprochene Spiel hierfür keine Authentizität beansprucht, entsprang diese Darstellung offensichtlich der freien Künstlerfantasie. An weiterer Nürnberger Freischützgraphik wurde noch gefunden ein Frei­ schützspiel aus dem J. E. Endterschen Verlag, von dem sich nur die Spieltafel 2 Spiele, Gesellschaftsspiele aus einem Jahrtausend, bearbeitet von Georg Himmelheber (Kata­ loge des Bayerischen Nationalmuseums München, Bd. XIV), o. O. 1972. 3 Himmelheber (wie Anm. 2), Nr. 379, 380, 381, 359. 4 Himmelheber (wie Anm. 2), Nr. 357, 360, 385. 5 Vier dieser Blätter sind in Farbabbildungen wiedergegeben bei Gisela und Ernst-Friedrich Schultheiß: Vom Stadttheater zum Opernhaus, Nürnberg 1990, Farbtafeln V, VI.

170

Abb. 1:

Spieltafel (verkleinert). Originalgröße: 36,7 cm

X

30,5 cm.

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© et 3reif(H$e.

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@i« ganj neues ©efeUfcf)aftSfpi^t. SERit einer ©pteltafel, 12 harten, 7Kugel imb 2 SBürfelit. -------------

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braudjt ju tiefer Spielart nur bie Spieltafel unb 2 Würfel, ©pteluegeln. 1.) 3«ber Witfpieler fegt 2 Warfen inö Witfelfetb ber aufgelegten Spieltafel unb 1 Warfe, auf jebeö ber mit 9tum* ntern bejeiebneten Silber. — 3Die beiben Silber redjtö «nb liufö beb Wittelfelbei ble,^?' ^fegt. , *

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2.) gefcfjel)ener Sefefeung wirb «ät.^.^Jtrfeln ber £fteif>e nacb berumgcroürfelt, unb burd) ben fjocbfteit Wurf ber Spieler beftimmt, bet bem baö Spiel beginnt. 3.) 23er erfte Spieler wirft, unb bie Slnjaljl ber Slugen beö Wurfö beflimmeit bie Stummer beö Silbeö ber £afcl, wooon er bie barauf gefegten Warfen alö ©e* winnft bejiefjti, hierauf wirft ber Stadibar jur Steckten «nb fo gel)t baö Spiel ber Steilje nad)‘ fferum.

»

Slnmerfung. 2)a ein« nicht bureb 2Würfel geworfen werben fann, fo wirb beftimmt ba« wer brei wirft unb babuccb bie Wotfen beS Silbe« 9?ro. 3. bejiebi, auef) biebe« Silbe« 9tro. 1. gewinnt. 2)iefe beeben Silber feilen ©ewinnft unb Setluft bei btefer Spiel* art mit einanber.

/

4.) Wenn ein Spieler ein Silb trifft, beffen Wat* len febon »on einem attberit bezogen finb unb baö folglich leer ift, fo mufi er fo »iel Warfen barauf fegen, alö bie Siummet beö Silbeö befagf.

Ui... . . Abb. 2:

Spielanleitung.

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5Ba$ gleid)! tvofol auf Arbeit bettt ^örtoergmigeti/ 5Bcm Tprubelt bei* %ed)et b*$ & ben^ fo reid>?

T i r e u r, II n’y a rien qui rcssemble au plai sir de la chassc, Nous sommes hcureux ä ce qu’U me semble Y partons nous en mass