Migration, Religion, Gender und Bildung: Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität 9783839444511

This volume focuses on national and international cross-cutting perspectives on gender, flight and migration in connecti

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German Pages 328 Year 2020

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Migration, Religion, Gender und Bildung: Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität
 9783839444511

Table of contents :
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Inhalt
Geleitwort
Vorwort
Islam und Intersektionalität
Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen
Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren
A »Small, Local Difficulty« is going Global? The Fight for Academic Freedom in Hungary
Angst und Wut. Zur affektiven Konstruktion migrationsgesellschaftlicher Ordnung
Fluchtmigration in den Medien. Stereotypisierungen, Medienanalyse und Effekte der rassifizierten Medienberichterstattung
Rassismuskritische Perspektiven auf Gender und Migration. Eine intersektionelle Analyse
Gender- und asylpolitische Aushandlungen rund um »Schutz« und »Integration« in der aktuellen Aufnahmesituation
Jews, Muslims and Religious Challenges to the European Institutions: The Headscarf and Ritual Male Circumcision Debates
Imamin, Migrantin, Wanderin. Weibliche Repräsentanz und Religionim transnationalen Raum Deutschland – Türkei
Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration
Gender und Religion. Annäherung an religiöse Positionierungenim Kontext muslimischer Lebenswelten

Citation preview

Meltem Kulaçatan, Harry Harun Behr (Hg.) Migration, Religion, Gender und Bildung

Kultur und soziale Praxis

Meltem Kulaçatan (Dr.), geb. 1976, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Fachbereich Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam. 2014 erhielt sie den Gleichstellungspreis der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg für besondere Verdienste um die Gleichstellung und die Förderung der Vielfalt an der FAU. Sie ist Mitglied im Rat für Migration und Sprecherin der Sektion Gender. Harry Harun Behr (Prof. Dr.), geb. 1962, ist Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Islamisch-Theologische Studien und Mitglied im Rat für Migration.

Meltem Kulaçatan, Harry Harun Behr (Hg.)

Migration, Religion, Gender und Bildung Beiträge zu einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität

Dieser Band erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts »Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten« an der Goethe-Universität Frankfurt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4451-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4451-1 https://doi.org/10.14361/9783839444511 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Geleitwort Werner Schiffauer................................................................................................... 7

Vorwort Meltem Kulaçatan und Harry Harun Behr ..................................................................... 11

Islam und Intersektionalität Religion als Orientierungsfaktor im Kontext von Migration, Bildung und Gender mit besonderem Bezug zum Islam in Deutschland Harry Harun Behr................................................................................................... 17

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen Anforderungen an die religious literacy von schulischen Akteur*innen im Spannungsfeld von Geschlecht, Religion und Bildung Yasemin Karakaşoğlu ............................................................................................ 83

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren Universitäre Angebote für Geflüchtete und Migrierte Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht ....................................................................... 107

A »Small, Local Difficulty« is going Global?  The Fight for Academic Freedom in Hungary Andrea Pető ........................................................................................................149

Angst und Wut. Zur affektiven Konstruktion migrationsgesellschaftlicher Ordnung Paul Mecheril und Monica van der Haagen-Wulff ......................................................... 157

Fluchtmigration in den Medien. Stereotypisierungen, Medienanalyse und Effekte der rassifizierten Medienberichterstattung Christine Horz...................................................................................................... 175

Rassismuskritische Perspektiven auf Gender  und Migration. Eine intersektionelle Analyse Helma Lutz.......................................................................................................... 211

Gender- und asylpolitische Aushandlungen rund um »Schutz« und »Integration« in der aktuellen Aufnahmesituation Sabine Hess und Johanna Elle.................................................................................231

Jews, Muslims and Religious Challenges to the European Institutions: The Headscarf and Ritual Male Circumcision Debates Gökce Yurdakul .................................................................................................... 241

Imamin, Migrantin, Wanderin. Weibliche Repräsentanz und Religion im transnationalen Raum Deutschland – Türkei Betül Karakoç ..................................................................................................... 253

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration Frank van der Velden............................................................................................ 285

Gender und Religion. Annäherung an religiöse Positionierungen im Kontext muslimischer Lebenswelten Meltem Kulaçatan ................................................................................................ 307

Geleitwort Werner Schiffauer Als Vorstand des Rates für Migration1 freue ich mich über die Publikation des Bandes Migration, Religion, Gender und Bildung, der aus der Jahrestagung des Rates 2017 zum Thema Gender und Religion als Bildungsfaktoren hervorgegangen ist. Die Publikation steht beispielhaft für das Anliegen und das Engagement des Rates. Der Rat für Migration ist ein Netzwerk von inzwischen 160 Migrationswissenschaftler*innen, dessen Anliegen es ist, politische Entscheidungen und öffentliche Debatten zu Migration, Integration und Asyl kritisch zu begleiten. Die internen Diskussionen finden in sechs Arbeitsgruppen – den Sektionen – statt. Eine Schlüsselrolle für die Meinungsbildung im Rat spielen die Jahrestagungen, die reihum von den einzelnen Sektionen ausgerichtet werden. Dabei greifen wir wichtige Entwicklungen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft auf und diskutieren sie unter dem Standpunkt einer engagierten Migrationswissenschaft. Die Ergebnisse werden, wie in dem vorliegenden Fall, in einem Band veröffentlicht. Der Rat vertritt den Standpunkt einer kritischen Migrationsforschung. Was bedeutet das? Zunächst ist dies eine Abgrenzung: Der Rat ist keine wissenschaftliche Fachgesellschaft. Uns geht es nicht ausschließlich um das Ringen um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern darum, sich auf der Grundlage der existierenden Erkenntnisse einzumischen. Wir wollen aus dem Elfenbeinturm heraustreten und unserer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Dies erfordert aber zwingend eine gesellschaftspolitische Positionierung. Ich sehe sie in vier Punkten. 1. Der Rat geht davon aus, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass Einwanderung eine prinzipielle Chance für die Gesellschaft darstellt. 2. Die im Rat zusammenarbeitenden Wissenschaftler*innen sind der Meinung, dass die Realisierung dieser Chance kein Selbstläufer ist. Die Gestaltung der Migrationsgesellschaft verlangt Sensibilität und Aufmerksamkeit. Besonderes Augenmerk gilt der Identifikation von Mechanismen, die sich zerstörerisch auf die Her-

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Werner Schiffauer hatte, als er das Geleitwort schrieb, noch das Amt als Vorsitzender des Rats für Migration inne, das nach ihm Yasemin Karakaşoğlu und Paul Mecheril übernommen haben.

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Werner Schiffauer

vorbringung und Ausgestaltung einer pluralistischen und egalitären Einwanderungsgesellschaft auswirken. 3. Die Wissenschaftler*innen im Rat kritisieren die Perspektive des normativen Nationalismus, aus der Migration primär oder ausschließlich unter dem Aspekt des Einpassens in eine existierende nationalstaatliche Struktur thematisiert wird. Wir sind der Meinung, dass der Begriff der Integration dadurch auf problematische Weise verkürzt wird – nämlich auf eine Leistung, die Einwanderinnen und Einwanderer zu erbringen haben. Der Rat steht vielmehr für einen allgemeinen Integrationsbegriff, der Integration als gesellschaftlichen Zusammenhalt definiert und damit Entsolidarisierung und Ausgrenzung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene problematisiert. Integration in dieser Hinsicht kann nur gelingen, wenn alle Gesellschaftsmitglieder gleiche Teilhabechancen haben. 4. Zu einer engagierten Migrationsforschung gehört eine geschärfte wissenschaftskritische Position, die auch eigene Positionen immer wieder hinterfragt und zur Diskussion stellt. Wir sind uns auch der dunklen Seiten der Wissenschaftsgeschichte bewusst, also der Tatsache, dass im Namen der Wissenschaft immer wieder rassistische, kulturalistische und sexistische Festschreibungen legitimiert wurden. Als Wissenschaftler*innen müssen wir kategorisieren – aber wir müssen uns der damit einhergehenden Machtverhältnisse bewusst sein. Die Markierung eines forschungsethischen Standpunkts wird inzwischen wieder gerne als unwissenschaftlich dargestellt. Das Gegenteil ist wahr: Wissenschaft hat immer einen forschungsethischen Bezug. Es ist allerdings wichtig, diesen Standpunkt transparent und damit verhandelbar zu machen. Unwissenschaftlich erscheint vor allem der Versuch, diesen Bezug zu verschleiern – was nichts anderes bedeutet als den Versuch, sich durch einen übergeordneten Standpunkt unangreifbar zu machen. Die Benennung eines forschungsethischen Bezugs ist nicht identisch mit der Festlegung eines politischen Standpunktes. Es handelt sich vielmehr um die Festlegung eines Minimalkonsenses, jenseits dessen eine Vielzahl von disziplinären Standpunkten und politischen Verortungen möglich sind. Es werden Unvereinbarkeiten markiert – nicht aber positive Vorgaben gemacht. Die Markierung des Standpunktes des Rates bedeutet nicht, dass seine Mitglieder mit einer Stimme sprechen würden oder dass Unliebsames unterdrückt würde, wie von seinen Gegner*innen unterstellt wird. Im Rat wird kontrovers etwa über die Frage offener Grenzen oder über problematische Entwicklungen in den Herkunftsländern sowie darüber, wie diese hierzulande thematisiert werden, diskutiert. Ein Beleg für die fruchtbare Verbindung eines allgemeinen gesellschaftskritischen Ansatzes mit einer Vielfalt von wissenschaftlichen Zugängen liefert nicht zuletzt der hier vorliegende Band. Aus unterschiedlicher Sicht werden Konsequenzen aus der Einsicht in intersektionale Querverbindungen für Schule und Hochschule eingefordert. Und gerade die kritische Auseinandersetzung mit der existierenden

Geleitwort

Realität bringt die Forderung nach einem erweiterten Verständnis von Intersektionalität mit sich. Es bleibt mir nur, dem Band viel Erfolg zu wünschen. Werner Schiffauer

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Vorwort Meltem Kulaçatan und Harry Harun Behr

Immer wieder ist zu vernehmen, und zwar nicht mehr nur im Nebenstrom radikaler Foren, sondern aus der Mitte von Wissenschaft heraus: Zentrale Entwicklungslinien intersektionaler Perspektiven seien »linke Wissenschaft«. Und noch eines oben drauf: Sie seien in ihrer Verbindung mit Migration als verschärftem Prüffall und mit Fragen der sogenannten Islamophobie-Agenda des politischen Islams auf deutschem Boden. Es ist nicht das erste Mal, dass Intersektionalität ins Visier eines hegemonialen Abwehrdiskurses gerät, bei dem die Imagination eines identitären Propriums Regie führt. Selbst vernünftige Menschen mit erfahrungsgesättigtem Weltbild reagieren reflexhaft ablehnend, gleichsam als fühlten sie sich unsittlich berührt, wenn Diskriminierung und Rassismus, Migration und Bildung oder Gender und Nationalismus in einfacher Nebensatzkonstruktion aufeinander bezogen werden. Das Signé der Intersektionalität bedient sich der Metapher der Straßenkreuzung, auf die verschiedene Straßen zulaufen. Gemeint sind Bewegungsrichtungen von Kraftpfeilen, die sich auf die soziale, kulturelle, psychische, körperliche, ökonomische und spirituelle Situierung des Subjekts auswirken, das mitten auf dieser Kreuzung steht. Die Vorstellung macht nervös; dort sollte keiner stehen. Und das ist das erste Kennzeichen: Intersektionale Perspektiven nehmen das menschliche Subjekt in seiner Beunruhigung in den Blick, und dies in einer Zeit, in der Menschen vermehrt in Merkmalskollektive verpackt werden und in der deren Erfahrungen und Befürchtungen einfach in Abrede gestellt werden. Das zweite Kennzeichen: Die intersektionale Forschung hört und sieht hin; sie nimmt sich der Perspektive der Betroffenen an. Dies vor allem dort, wo es um die Empfindung oder um die Erfahrung geht, herabgewürdigt, marginalisiert und ungerecht behandelt worden zu sein. Oder wo es um subtilere Formen von Gewalt geht, an die man sich gewöhnt hat und die man hinnimmt, jedenfalls so lange, bis die Impulskontrolle versagt. Damit begibt sich dieses Segment wissenschaftlicher Interdependenz und Interdisziplinarität grundsätzlich in den Beteiligungsmodus; viele seiner Vertreter*innen sind zivilgesellschaftlich engagiert. Andere Kolleg*innen auf dem Campus finden das verdächtig: Wo bleibt die Wissenschaftlichkeit, wenn Befindlichkeit generalisiert wird? Aber definiere die Aufgabe von Wissen-

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Meltem Kulaçatan und Harry Harun Behr

schaft in einer Gesellschaft, die den Anschluss an die Normen und Prinzipien ihres eigenen Grundgesetzes zu verlieren droht: Veränderung erfordert Mobilisierung, Mobilisierung erfordert Engagement, Engagement erfordert Erkenntnis. Oder so: Veränderung braucht Lernen, Lernen beruht auf Kommunikation, Kommunikation erfordert Begegnung, Begegnung setzt Bewegung voraus – und Bewegung durch die Welt ist immer auch eine Bewegung durch innere Welten. Es geht also um zweierlei, und das könnte als das didaktische Anliegen von Intersektionalität verstanden werden: Menschen in Bewegung setzen. Und wohin soll die Reise gehen? Der Philosoph und islamische Rechtsgelehrte Badr ad-Dīn Muhammad Ibn Ğamāʿa, der Mitte des 13. Jhs. in Damaskus, Jerusalem und Kairo wirkte, formuliert dazu ein funktionales Ziel: Staatlichkeit, die sich den Prinzipien guten Regierens verpflichtet sieht. Nur um dieses Missverständnis gleich auszuschließen: Nein, Intersektionalität ist keine Teildisziplin islamischer Theologie und Religion gehört bislang nur knapp in den intersektionalen Gegenstandsbereich. Was mit dem vorliegenden Band angesteuert wird, ist eine neue, sinnvolle Verbindung von Sichtweisen, die sich gegenseitig einiges zu sagen hätten. Die Autor*innen der Beiträge sind in jeder nur erdenklichen Sicht divers. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Es handelt sich bei ihnen durchweg um akademisch Forschende, die das, was sie herausfinden, auch gegen Widerstände sagbar machen. Sie machen Wissenschaft gesellschaftlich gangbar. In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Band als ein Debattenbeitrag zu der Frage, wie wir künftig zusammenleben wollen, ohne Differenz zu skandalisieren und ohne ihre ausgemachten Merkmalsträger*innen zu dämonisieren. Es geht um die Frage, wie ein neuer fraternal social contract aussehen könnte, den die Politikwissenschaftlerin Carole Pateman anmahnt. Wir haben uns für eine Reihenfolge der Beiträge entschieden, die uns dramaturgisch sinnvoll erscheint. Aber das ist keine zwingende Diachronisierung; man kann das alles auch kreuz und quer lesen. Harry Harun Behr ist Erziehungswissenschaftler mit Schwerpunkt Islam an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Pädagogik, Schule, Islam, Migration und Jugend. Sein Beitrag beleuchtet aktuelle Zugehörigkeitsdiskurse und religionspolitische Problematiken zwischen Migration, Gender, Bildung, Religion und lebensweltlicher Orientierung. Er entwickelt einen Forderungskatalog zur Revision überkommener schulischer und bildungstheoretischer Ordnungsbezüge. Yasemin Karakașoğlu ist Erziehungswissenschaftlerin und Turkologin an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Interkulturalität und Diversität. Sie bearbeitet in ihrem Beitrag die Notwendigkeit einer allgemeinen religionsbezogenen Mitredefähigkeit (religious literacy) im Kontext von Schule, Geschlecht, Religion und Bildung. Dabei stellt sie einen besonderen Bezug zu Muslim*innen in Deutschland her.

Vorwort

Andrea Hertlein ist Diplompädagogin und Dozentin am Institut für Pädagogik und Mitglied des Center of Migration, Education and Cultural Studies (CMC) an der Universität Oldenburg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migrationsgesellschaft und interkulturelle Bildung. Rudolph Leiprecht, ebenfalls Oldenburg, ist Sozialpädagoge, ebenfalls Mitglied des CMC und Leiter der Arbeitsstelle Rassismus, Fundamentalismus, Gewalt: Analyse, Prävention, Forschung und Beratung für pädagogische Arbeitsfelder (ARFG). Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen auf Fragen von Bildung und Erziehung im Kontext von Diversität und Rassismus. Der Beitrag der beiden Autor*innen Hertlein und Leiprecht ist aus der Erfahrung mit universitären Angeboten für Geflüchtete und Migrierte heraus entstanden. Er bearbeitet die Verbindung von globalen Bildungsbiografien mit nationalen Hochschulstrukturen – und damit mittelbar die Frage nach Anerkennung, Status, beruflicher Perspektive und Lebenssituation der Betroffenen. Andrea Pető ist Historikerin und Genderforscherin an der Central European University (CEU) in Budapest. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gesellschaftswissenschaft, Sozialgeschichte und Politik. Ihr Beitrag setzt an der politischen Situation in Ungarn mit besonderem Blick auf die CEU an; die Autorin diskutiert Prozessmerkmale der illiberalen Demokratie und des tiefen Staates unter besonderer Berücksichtigung gendertheoretischer Bezüge. Paul Mecheril ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Bielefeld. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen auf Fragen von Bildung, Migration und Diversität. Monica van der Haagen-Wulff ist Kultursoziologin an der Universität Köln. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen Bildung, Migration und Gender. Der Beitrag der beiden Autor*innen Mecheril und van der Haagen-Wulff bearbeitet die Frage nach rassismusaffinen Mustern des Denkens, Sprechens und Handelns und die Frage ihrer Wirkung auf gesellschaftliche Konventionen. Der besondere Blick richtet sich dabei auf negative Emotionen wie Angst und Wut im Sinne von Affekten, die gleichsam als Antrieb für die Herstellung von Sozialfiguren und die Konstruktion gesellschaftlicher Ordnungen fungieren. Christine Horz ist Kommunikationswissenschaftlerin an der Universität Bochum. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Medien, Interkulturalität und Migration. Die Autorin befasst sich in ihrem Beitrag mit der Frage, welche Auswirkungen spezifische Dispositive wie etwa das der ›Versicherheitlichung‹ auf die mediale Fluchtberichterstattung haben. Sie stellt die Frage, wie es dazu kommt, dass sich anti-islamische Stereotype mit Stereotypen zu Geflüchteten und Flucht verbinden. Ihre Analyse beleuchtet die generellen Diktionen von Fluchtmigration in den Medien, zum Beispiel im Hinblick auf rassifizierte Medienberichterstattung.

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Meltem Kulaçatan und Harry Harun Behr

Helma Lutz ist Soziologin mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe Universität Frankfurt a. M. und Geschäftsführerin des dortigen Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse (CGC). Sie forscht, lehrt und publiziert vorrangig zu Fragen von Gender im Zusammenhang mit Biografie, Migration und Rassismus. Ihr Beitrag nimmt sich der Frage an, wie sich Dispositive der Andersartigkeit, und zwar über Narrative, Imaginationen und Grenzziehungen zu Geschlecht und Gender, in deutschen Debatten über Migration und Flucht artikulieren. Sabine Hess ist Kulturwissenschaftlerin an der Universität Göttingen. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migration, Transnationalisierung, Gender und Grenzregime. Johanna Elle, ebenfalls Göttingen, ist Kulturanthropologin. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migration, Rassismus, Gender und Grenzregime. Die Autorinnen Hess und Elle widmen sich Aspekten von Asylpolitik, Integrationspolitik und Genderpolitik mit besonderem Blick auf die Verhandlung von Statuskriterien, etwa von Schutz. Sie warnen davor, Gleichstellungspolitik, Ausländerrecht und Migrationspolitik ineinander zu verzahnen und damit Machtverhältnisse gegeneinander auszuspielen. Gökçe Yurdakul ist Soziologin an der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migration, Gender und Staatsbürgerschaftsfragen. Die Autorin widmet sich der Frage nach religiösen Gegenwartskulturen und den damit verbundenen Herausforderungen an Institutionen in Europa. Dabei konzentriert sie sich auf jüdisch und muslimisch geprägte Lebensstile und auf Aspekte jüdisch-muslimischer Wechselbeziehungen. Der Beitrag orientiert sich an Michèle Lamonts theoretischem Konzept des kulturellen Repertoires. Betül Karakoç ist Erziehungswissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildung, Frauen und Islam. Ihr Beitrag fokussiert die Frage weiblicher Repräsentanz im transnationalen Kontext (Schwerpunkte: Türkei und Deutschland). Dabei richtet sie ihren Blick auf das bisher nur wenig wahrgenommene weibliche religiöse Kultuspersonal in türkischen Moscheegemeinden. Frank van der Velden ist katholischer Theologe und Islamwissenschaftler und Islambeauftragter des Bistums Limburg. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehört die religionssensible Arbeit mit Geflüchteten. Sein Beitrag greift die jüngeren Zugriffe religiöser Rhetorik auf völkische Motive beziehungsweise die Frage religiöser Verbrämung rechtspopulistischer Rede auf. Unter Bezugnahme auf zentrale und symbolische Narrative und ihre historische und theologische Dekonstruktion entlarvt der Autor scheinbare Plausibilitäten und mahnt eine formula unionis als neue soziale und pädagogische Verständigungsformel an.

Vorwort

Meltem Kulaçatan ist Politologin und Erziehungswissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Jugend, Migration, Islam, Gender und Feminismus. Ihr Beitrag fußt auf ihrer laufenden Forschung und befasst sich mit Gender und Religion. Er knüpft an religiöse Positionierungen junger Muslim*innen in der postmigrantischen Gesellschaft an. Wir bedanken uns bei Werner Schiffauer für sein wohlgesonnenes Geleitwort. Dieser Band entstand aus einer Tagung in Berlin heraus, die im November 2017 vom Rat für Migration ausgerichtet worden war. Damals war Werner Schiffauer der Ratsvorsitzende. Die beiden neuen Vorsitzenden, die Doppelspitze des Rats, Yasemin Karakașoğlu und Paul Mecheril, sowie andere Mitglieder sind mit ihren Beiträgen in diesem Band vertreten. Literaturangaben ohne Angabe der Seitenzahl verweisen auf Literatur mit relevantem Bezug zum Kontext; auf Angaben wie »vgl.« oder »siehe (auch)« oder »passim« wird verzichtet. Wir wünschen eine anregende Lektüre. Meltem Kulaçatan und Harry Harun Behr

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Islam und Intersektionalität Religion als Orientierungsfaktor im Kontext von Migration, Bildung und Gender mit besonderem Bezug zum Islam in Deutschland Harry Harun Behr

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Erste Einordnungen

Religionen sind wie Rauchmelder. Es ist in ihre Funktionslogik eingeschrieben, sich wahrnehmbar zu machen, bevor es richtig brennt. Dabei kommt es weniger auf Harmonie oder Lautstärke an, sondern auf Dissonanzen. Es geht darum, die gewohnten Muster des Hörens zu durchbrechen. Damit wäre in etwa eine Tiefenstruktur des Islams umrissen, was seine appellative Seite angeht. Diese Seite hat sich im 7. Jh. aus der doppelten Opposition gegen die religiöse Überwältigung der Welt und die weltliche Überprägung von Religion herausgebildet. Ein Blick in den Koran macht dazu ein bestimmtes Spannungsverhältnis klar: Die Zentralschrift des Islams deutet die Welt religiös im Sinne von Glauben und Letztgültigem und zugleich nichtreligiös im Sinne von Pragmatismus und Kritik. Das ist in gewisser Weise eine Vereinfachung, aber angesichts der vielfältigen Zugriffe auf den Koran auch eine notwendige Präzisierung. Die Modi zwischen Affinität und Kritik finden im Islam als Spiritualität und Philosophie, als Kulturgeschichte oder als Lehre, Lebensstil und Habitus ihren Niederschlag. Deutung meint auch, wach zu bleiben, Zeichen zu lesen und auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen. Insbesondere die altprophetische Rede im Koran stellt Zeitgeist und menschliche Verabredung infrage. Dies vor allem dann, wenn zentrale Normen der politischen Lehre des Islams in Gefahr geraten: der Frieden (as-salām), die Mitmenschlichkeit (al-raḥma1 ), die Gerechtigkeit (al-ʼadl) und die Sicherheit (al-’amn).2

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Wörtl. Barmherzigkeit. Solche Umschriften von theologischen Fachbegriffen oder Namen aus dem arabischen oder persischen ins lateinische Alphabet folgen den Standards der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG).

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Harry Harun Behr

Der Koran markiert Einrede und Abrede.3 Mit Einrede ist Einmischung gemeint, mit Abrede die Kritik am Durchsetzungsmonopol derjenigen, die von gegebenen Verhältnissen am meisten profitieren, die auf Kosten anderer scheinbar unverhandelbar Normativität herstellen und die keine Einmischung dulden wollen. Dabei geht es um Streit, der durch Mentalitäten, Konventionen und Interessen geprägt wird und nicht unbedingt durch das gebildete Kontroversargument. Was die gegenwärtigen Islamdebatten in Deutschland angeht, muss deshalb genauer auf Personen und ihr jeweiliges Kalkül geblickt werden. Insbesondere dann, wenn sie versuchen, aus dem Islam die Brandursache zu machen, nur um selbst in Ruhe zündeln zu können. In vielen Debatten inszeniert sich Islamobsession nationalistischer und völkischer Provenienz gegenüber einem als säkular oder liberal plakatierten Islamsegment. Beide buhlen um öffentliche Gunst und teilen das Feld in gute und schlechte Muslim*innen ein. Weil es die so aber nicht gibt, wird im Ungefähren gehalten, was genau die Unterscheidungsmerkmale sein sollen. Der genehme Muslim ist eine Imagination; er erscheint wie ein kolonialisiertes Subjekt, behängt mit Pailletten: Sein Islam bleibt unsichtbar; sein Name ist für manche Menschen schwierig auszusprechen. Er darf den Elfmeter versenken oder sich anderweitig andienen. Er wird vermittels einer Art Islammatrix, einer spezifischen symbolischen Interaktion, in sein Reservat überführt – »like animals, in order that they should consider themselves no better than animals«.4 Damit das muslimische Subjekt in seinem ihm zugedachten Gehege bleibt und nicht ausbricht, muss die kritische Alarmfunktion des Islams ausgeschaltet werden. Das geschieht zum Beispiel über die Dämonisierung des sogenannten politischen Islams, in Anrufung der Verteidigung der freien Gesellschaft (Linnemann/Bausback 2019). Aber just diese Art der Entpolitisierung politisiert (Behr 2019b) – und das geschieht nicht aus Versehen. Über solche Diskurse wird eine Art konfessionelle Vereindeutigung hin auf einen bestimmten Islam vorangetrieben, die nicht seiner ideengeschichtlichen Textur entspricht. Die theologischen, geschichtlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Kenntnisse sind aufseiten derjenigen, die den Islam derart ontologisieren und Muslim*innen mit dem bestimmten Artikel versehen, erschreckend gering. Diese Personen ziehen nicht etwa für die Bekenntnisfreiheit auch des anderen Subjekts zu Felde, sondern munitionieren rechte Parteien und Bewegungen auf. Ihr Anspruch, sie sprächen für eine große, schweigende Mehrheit von Muslim*innen, ist eine ungeprüfte Behauptung; ihr 3

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Der Koran eröffnet seine Rede in Sure zwei (die erste Sure, die al-Fātiḥa, ist so etwas wie eine Präambel zum Koran) nicht mit Kosmogonie und Genesis, sondern mit einem anthropologischen und erkenntnistheoretischen Traktat zu menschlichen Dispositionen der Haltung und des Handelns. Erst ab Vers 30 der zweiten Sure entwickelt sich das bekannte Schöpfungsnarrativ. Im weiteren Verlauf folgen die Texte des Korans nicht einer genealogischen, thematischen oder chronologischen Signatur, sondern einer typologischen. James Baldwin in seinem Brief vom 19. November 1970 an Angela Davis.

Islam und Intersektionalität

Freiheitsbegriff klingt illiberal; ihre Ankündigung, sich hinter diejenigen stellen zu wollen, die sie markieren, klingt wie eine Drohung. Ich würde mir den Rücken freihalten. Der vermeintliche Zuspruch wendet sich genau genommen gegen muslimische Diversität, gegen das Zutrauen des Menschen zu Gott, gegen die Hingabe an religiöse Ideale, gegen die Liebe zu Gottes Geschöpfen, gegen den Glauben in die Weisheit des Korans und gegen die Ästhetik praktizierter Religion. Analysiert man den penetranten Predigtstil jüngerer Publikationen, zeigt sich eine irre Paradoxie: Radikalismus bekämpfen zu wollen, indem man sich wie ein Radikaler verhält, der sich selbst bar jedweder Nachdenklichkeit, jedweder Distanzfähigkeit und jedweden Humors wirklich ernst nimmt. Unter diesen Personen befinden sich auch diejenigen, die anscheinend meinen, die Demokratie retten zu können, indem sie die zentrale Basis rückbauen, die sie trägt: das Vertrauen. Oder es ist noch viel schlimmer und sie haben von Demokratie tatsächlich die Nase voll. Das würde zu ihrem totalitären Habitus passen. Sie meinen offenbar auch, gesellschaftlichen Zusammenhalt dadurch herstellen zu können, dass sie die Menschen gegeneinander aufbringen. Das ist ein so fundamentales, nahezu archetypisches Dispositiv, dass es der Koran gleich eingangs seiner Dramaturgie aufgreift, noch bevor er seinen Schöpfungsmythos entfaltet: »Ruft man ihnen zu, keinen Unfrieden zu stiften, rufen sie zurück: ›Wir sind die Friedensstifter!‹ Aber wenn sie die Unheilstifter sind, ohne es zu merken?«5 Was sich seit geraumer Zeit entlang der Islamfrage in Deutschland inszeniert und gezeitenartig eskaliert, ist in seiner Tragweite noch nicht richtig erkannt worden und wird noch nicht angemessen behandelt: Es geht um Fingerübungen hin auf die Schwächung der parlamentarischen Demokratie und den Aufbau illiberaler Strukturen. Im Raum steht, so will es scheinen, das Bestreben, die in die religiösen Erinnerungs- und Tatbestände eingeschriebene Herrschaftskritik des Islams nachhaltig zu unterdrücken, um die Bahn frei zu kriegen. Oder vielleicht sind das nur Diskurseffekte. Egal wie herum man die Münze dreht: Hier droht die Zerstörung von Religion durch Verblendung, denn »es sind nicht die Blicke, die erblinden, sondern die Herzen.«6 Das geht mit der Skandalisierung öffentlich wahrnehmbarer Artikulationen des Muslimischen los, was zum Beispiel Bekleidungsstile betrifft, die als andersartig wahrgenommen werden. Das bürgerliche Unbehagen gegen öffentlich inszenierte Religion bleibt dabei durchaus nachvollziehbar. Was hier zudem durchschlägt, ist nicht in erster Linie ein Islamproblem, sondern ein notwendiger Bestandteil der Religionskritik. Aber inzwischen werden dabei die 5 6

Koran 2:11-12. Solchen Übersetzungen liegen eigene sinngemäße Übertragungen aus dem Arabischen zugrunde, die pointierter sind als gängige publizierte Koranübersetzungen. Koran 22:46.

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Harry Harun Behr

Grenzen von Sittlichkeit und Anstand überschritten. Eine vergleichbare Form der Etikettierung nach genehmer und geschasster Religion greift beispielsweise unter diversen europäischen Regierungen nach katholischen Geistlichen, die das christliche Ideal von der barmherzigen Aufnahme des Geflüchteten in die Tat umsetzen. Als Brandzeichen dienen die öffentliche Diskreditierung ihrer Person, die Infragestellung ihrer theologischen Zurechnungsfähigkeit, die Kriminalisierung ihres religiösen Handelns, der Bruch des Haus- und Kirchenfriedens und die Spaltung der Kirchengemeinden in gute, rechte und böse, linke Katholiken. Das stellt insgesamt einen ersten Einschlag in Richtung der bereichsübergreifenden Thematik dieses Beitrags dar: Was sich heute gegen Religion aufschwingt7 , greift morgen auch nach Menschen ohne Religion, nach dem, was ihnen heilig ist, nach ihren Überzeugungen, ihrem Denken und ihrem Reden. Was heute noch durchgeht, wird morgen als deviant markiert und übermorgen verfolgt. Der Ungeist ist ein gefräßiges Ungeheuer. Aber die Macht greift, so viel lehrt die Geschichte, am Ende auch nach denen, die sich bis dahin eins mit ihr wähnten. Von der Warte motivierter Schriftauslegung aus und in Reminiszenz an die Nachricht des jungen Rechtsreferendars Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder8 nach seiner Begegnung mit dem damals als »Türkenbibel« bezeichneten Koran auf der Frankfurter Buchmesse von 1771 möchte man ausrufen: »Ihr wollt das Licht Gottes ausblasen, aber Gott bewahrt es, auch wenn es euch zuwider ist!«.9 Der Koran setzt, und das ist der Fokalpunkt dieses Beitrags, unterschiedliche Themen zueinander in Beziehung, die seine grundlegenden religiösen Ideen und humanitären Narrative tragen – zum Beispiel die Gefahr, die von Menschen droht, die aus einer gedachten Mitte heraus ihre Mitmenschen als randständig markieren und sich die Deutungshoheit über Normalität und Überlegenheit aneignen. Oder die Not von Menschen auf der Flucht und von Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen. Oder die Not ökonomisch und anderweitig Benachteiligter und Geschwächter. Der Koran warnt vor dem Missbrauch von Religion durch Machtstrukturen. Er ruft die Verantwortung aller für das Ganze in Erinnerung und setzt Bildung und Erziehung und soziale Kultivierung dagegen. Es ist dieser Kontext, in den der Koran auch die solidarpartnerschaftliche Verhandlung sozialer Rollen zwischen Frauen und Männern stellt, soweit, wie das in der Zeit seiner Entstehung denkbar war. In diesen Dingen ist der Koran überraschend religionsdistanziert, wenn man ihn nicht ständig nur im Sakralmodus lesen würde – was beide Seiten 7

8 9

Vgl. im Koran in 2:34: Der Dämon Iblīs schwingt sich wider besserer Einsicht gegen Gott den Menschen auf; wörtl. abā wa-stakbara. Und in 17:62 sucht er das zu bemessen, was der Koran in 17:70 als unverhandelbar und nicht skalierbar festschreibt: die Würde des Menschen (karāma, wörtlich Unverkäuflichkeit, Ehre). »Ich möchte beten wie Moses im Koran: ›Herr, mache mir Raum in meiner engen Brust!‹ […]«, aus dem Wetzlarer Brief von Mitte Juli 1772. Vgl. die Sure 61 des Korans.

Islam und Intersektionalität

mit Vorliebe tun: seine Protagonisten und seine Antagonisten. Die Argumente des Korans sind weitgehend säkular dekliniert. Der Rekurs auf Gott steht weniger im Kontext des Glaubens als vielmehr im Kontext der Kultivierung des Streits zwischen Betroffenheit und Sachargument und der Verhandlung von Autorität. Die Blaupause, auf welcher er seine Anthropologie anzeichnet, ist die Idee der Freiheit als normative Setzung des Menschseins. Man möchte nach wiederholter Lektüre des Korans meinen, er argumentiere mit seiner gelegentlich sprunghaft anmutenden und doch interdependenten Verknüpfung von Beschreibung, Belehrung, Gleichnis, Erzählung, Erklärung und Gebet intersektional – auch in seinem Wechsel von Prosa und Dichtung, von Nahbarkeit und Abstandswahrung oder von Subjektmodus, Auktorialität und Drittwirkung als sprachlicher Diktion. Das liegt unter anderem auch daran, dass er ethische Normen zwischen referenziellen (dogmatischen) und inferenziellen (pragmatischen) Bezugspunkten und sozialen Sektoren verhandelt, die voneinander mehr wissen und mehr miteinander reden sollten. Es ist natürlich ein Kunstgriff, das thematische Leitmotiv dieses Beitrags so unvermittelt über den Koran zu legen. Aber so abwegig ist die Idee von Intersektionalität und Koran dann auch wieder nicht, handelt es sich doch auch beim semantischen Feld der Intersektionalität um eine Konstruktion, bei der die Perspektive des Subjekts aus der Betroffenheit heraus zum hermeneutischen Kriterium wird. Die Unmittelbarkeit, mit der die Begriffe im Titel aufeinandertreffen und hier zu einem Strang verknüpft werden, mag also auf den ersten Blick ebenso verwirren wie der unvermutete Ausflug in den Islam. Immerhin stehen im Hintergrund ganz eigenständige humanwissenschaftliche oder religionsbezogene akademische Disziplinen Pate, die sich gerade über ihre Verknüpfung beispielsweise mit Fragen von Gender und Migration zu revitalisieren versuchen. Hinter der programmatischen Verbindung disjunkter Thematiken regiert auch die Semantik der aktuellen volatilen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesse in der Migrationsgesellschaft (Kulaçatan 2013). Damit tritt gelebte Religion in ihren facettenreichen Ausprägungen über die gegenwartsbezogene Religiositätsforschung als interdisziplinärer Forschungsgegenstand hinzu. Als erschwerend für die Systematisierung zwischen Monolog und Lehre nehme ich dabei wahr, dass die thematische Metropolregion Religion schon aufgrund ihrer schieren Weite im Grunde genommen unbeherrschbar bleibt. Der bemannte Flug zum Mars scheint irgendwie weniger kompliziert zu sein. Religion als Amalgam aus Symbolbestand, Religiosität, Spiritualität, Identität, Kultur und einigen anderen Dingen entzieht sich der Greifbarkeit – sie muss offenbar auf ihre eigene Art begriffen werden. Nicht nur das: Die Sache mit der Religion birgt besondere Aufladungen durch Gefühle, Stimmungen und Ahnungen; das verkompliziert den Pas de deux von Argument und Überzeugung.

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Das gilt auch für meinen Parabelflug durch den vorliegenden Beitrag. Die Dinge, die ich hier ansteuere, haben ihre Wurzeln in meiner Forschung, aber auch in meinen Erfahrungen und Hoffnungen. Die Membran zwischen empirischer Analyse, wissenschaftlichem Kontroversargument, persönlichem Bezug und politischer Forderung ist durchlässig. Mein Ringen um die gegebenen Themen verweist auf den Impressionismus als Geviert von Momenteindruck und Subjektivität. Demgegenüber gründet es auch im literarischen Expressionismus, was die Kritik am Gegebenen und am bürgerlich Konsenshaften angeht. Vielleicht mit dem Unterschied, dass der wiederkehrende Verweis auf Missstände nicht bloßes Stilmittel ist, sondern Gegenstand konstruktiver Gesellschaftskritik. Das Appellative und die Selbsthermeneutik bilden also eine Grundströmung des vorliegenden Beitrags. Was ich zu sagen habe, ist weniger gekennzeichnet durch Methode, als vielmehr durch das, was Frantz Fanon als »klinische Studie« bezeichnen würde. Ich blicke auf Befindlichkeiten und Befremdlichkeiten, wenn von Muslim*innen als Rasse und Ethnie, von fremden Frauen und Männern und von muslimischen Jugendlichen wie von einer entfremdeten Sozialgattung die Rede ist. Insofern wird der vorliegende Beitrag an einigen Stellen auch zum theologischen Traktat, was in meinem Grundverständnis von islamischer Theologie als kritischer Theologie gründet. Mit dem Religionsbezug, hier: Schwerpunkt Islam, wird der Debatte zugeführt, was der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze der deutschsprachigen Islamischen Theologie, einer vergleichsweise noch jungen akademischen Disziplin, als Signum zuschreibt. Schulze spricht gelegentlich von muslimischer »Selbstauslegung« aus der Situation der Betroffenheit heraus. Eine Rolle spielt auch, dass die Frage nach religiösen Symbolbeständen und Deutungssystemen sowie nach ihrer Wirkung auf die gegenwärtigen Zivilgesellschaften säkularer Prägung in verstärktem Maß zum öffentlichen Interesse wird. Eine Zunahme der medialen und publizistischen Verworrenheit um Religion ist nicht von der Hand zu weisen. Dabei besteht in Deutschland, und das lässt sich in der Bedienung dieses Gebiets durch die theologischen Redaktionen öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten ganz gut nachzeichnen, eine ganz grundlegende Diskrepanz zwischen religiöser Nachfrage und religiösem Angebot. Auf der Nachfrageseite lässt sich ein gesteigertes Interesse an sowohl Religion an sich als auch ein höherer Bedarf an intellektueller Religiosität feststellen. Auf der Angebotsseite ist es aber kaum bestreitbar, dass die gesellschaftliche Relevanz von Theologie abgenommen hat. Die Art, wie religiöse Institutionen als die Türsteher zwischen existenzieller Anfrage und Traditionssystem gemeinhin das forum externum beschallen, ist langweilig und rückwärtsgewandt. Unter dem Strich wendet man sich nach der zehnten Kanzelpredigt oder Morgenandacht im Radio mit Grausen ab. Was an religiösem Kultuspersonal so die Hälse reckt, stimmt wenig zuversichtlich. Eine der klugen Persönlichkeiten des deutschsprachigen Islams der vergangenen Dekaden, der aus Hamburg stammende See-

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mann, Koch und Ringer Abdulkarim Grimm, rief im Januar 1982 dem damals in der Aachener Bilal-Moschee versammelten Treffen deutschsprachiger Muslime (TDM)10 zu: »Brüder und Schwestern, bleibt wachsam. Ich muss euch an dieser Stelle warnen: Religionen – und das gilt nun mal auch für den Islam – ziehen die Psychopathen an wie das Licht die Motten. Und wehe uns, wenn die Bekloppten das Ruder in die Hand bekommen. Für den Fall rufe ich euch schon jetzt vorsorglich zu: Crew, abandon ship!«11

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Kölner Nächte und Islam

Die Sache mit dem drögen Mittelmaß veröffentlichter Religion hat aber eine andere Seite. Wenn es um den Islam geht, kommt Spannung auf. Ob sich seit Abdulkarim Grimms Elija-gleichem Zuruf Entscheidendes geändert hat, wäre eine längere Diskussion wert. Dazumal befassten sich die Kirchen mit Muslim*innen bevorzugt aus missionswissenschaftlichem Interesse. Sie strengten den interreligiösen Dialog aus der Imagination der geistigen und moralischen Überlegenheit heraus an.12 Heute gibt es demgegenüber kaum noch ein theologisches Gespräch etwa in der DLF-Sendung Tag für Tag und ähnlichen öffentlich-rechtlichen Religionsformaten, in dem nicht ständig auf den Islam Bezug genommen würde. Auch der Einsatz der beiden großen Kirchen für die Einführung des islamischen Religionsunterrichts oszilliert zwischen dem Anliegen, religionspolitische Parität herzustellen, und dem

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Das TDM startete Mitte der 1970er Jahre mit drei jährlichen bundesweiten Treffen in München, Aachen und Hamburg. Die Treffen behandelten Fragen des muslimischen Lebens in Deutschland mit gelegentlichen Bezügen zur internationalen Situation von Muslim*innen. Nach rund 30 Jahren wurden diese Treffen regionalisiert, um sie stärker mit islamischen Gemeinschaften und Initiativen zu verbinden. Das TDM ist nicht zu verwechseln mit der später entstandenen Islamischen Tagung deutschsprachiger Muslime (IT) wie auf der Homepage von eslam.de nachzulesen ist (www.eslam.de/begriffe/i/islamische_tagung_deutschsprachiger_muslime.htm; zuletzt geöffnet am 03.01.2019). Quelle: eigene nicht veröffentlichte Gehefte und Tondokumente. Vor nicht allzu langer Zeit wurde ich in meiner Eigenschaft als Professor für islamische Religionslehre als Referent zu einem evangelischen Kirchentag eingeladen, dann aber wieder ausgeladen. Der zuständige Islamreferent der entsprechenden Landeskirche teilte mir mit, seinen Kirchenoberen sei die von mir vertretene islamische Theologie zu liberal; die sei doch wohl eher eine Einzelstimme innerhalb des Islams, meinte der damalige Landesbischof dann auf einer späteren Podiumsbegegnung. Man wolle lieber einen konservativen Vertreter auf dem Kirchentag. Den bekamen sie dann auch: Sie holten sich einen türkischen Kollegen, also ein kostümiertes koloniales Subjekt. Das ist in meiner bisherigen Laufbahn das einzige Mal, dass ich eingeladen und dann wieder ausgeladen wurde. Dass es sich ausgerechnet um einen Kirchentag handelte, ist symptomatisch für einige Erwartungseffekte des sogenannten interreligiösen Dialogs.

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durchaus berechtigten Wunsch, das Eigene über den Umweg des Islams zu bekräftigen. Manchmal aber lässt die Art und Weise, in der das geschieht, an den Kenntnissen und guten Absichten der Sprecher*innen zweifeln. Es muss wohl mildernd in Erwägung gezogen werden, dass die Konnotationen der Vokabel Islam für den, der nicht vom Fach ist, nur schwer beherrschbar sind. Das arabische Wort islām kann als ein abgeleitetes Nomen des Verbs salama in seiner IV. Stammform ’aslama für sinken lassen gelesen werden und hätte dann je nach Syntax einen aktiven, passiven, transitiven oder intransitiven Modus. Das erschwert eine disjunkte Definition der Vokabel Islam schon im Arabischen und ruft die Vielfalt ihrer möglichen Übersetzung im Deutschen zwischen Bezeichnung und Benennung hervor, sei es Befriedung, Befreiung, Ergebung, Hingabe oder einfach nur Religion derjenigen, die sich Muslim*innen nennen. Einer der jüngeren Ereignishorizonte mit einer intersektionalen Überlagerung von Männlichkeit, Migration und Religion sowie der entsprechenden öffentlichen Veraufregung war jener Vorfall mit der Bezeichnung Kölner Silvesternacht. Das ist eine Namensgebung, die über die Assoziationen von Karneval und geräuschvoller Nacht eine seltsame Rotverschiebung zwischen Party und Apokalypse erzeugt und damit – und das wäre dann expressionistisch – zum Vorboten des Hässlichen und Endzeitlichen aufwächst, das links- und rechtsrheinisch noch auf der Lauer liegt. Das Verstörende an dem, was sich in den Wochen danach in den Feuilletons und auf dem geneigten TV-Sofa zur Sprache brachte, war die kaskadenartige Verunsachlichung. Die reflexhafte Islamisierung der Debatten verschleierte den Blick hinter die Dinge – und letztlich darauf, worüber eigentlich geredet wurde. Vordergründig wurden mit sich wandelnden Schwerpunktsetzungen Vokabeln wie Integration, Migration, Islam, Jugend, Männlichkeit, Asylrecht und Sexualstrafrecht verhandelt. Hinter der wortreichen Kulisse aber ging es um adverbiale Kategorisierungen der Rede über die anderen zum Zwecke ihrer Umzäunung, so als handele es sich um eine Ethnie. Es war kaum möglich, genau zu ermitteln, über wen genau da eigentlich wie geredet wurde. Die Verwirrung hatte Methode mit Beharrlichkeit. Es wurde im Vagen und Nebulösen gehalten, wer eigentlich was meint, wenn er sagt, er habe das eigentlich so gar nicht gemeint. Dieses Theater erfüllte den Zweck, die so Besprochenen als unbildsame, arabische, asylbetrügende, migrantische, kriminelle, nordafrikanische, sexualisierte, extreme, religiöse, männliche, muslimische und patriarchale Kreaturen zu fesseln – zusammengefasst: Nafri, gemäß damaligem Kodierbuch des internen Sprechs der nordrhein-westfälischen Polizei der nordafrikanische Intensivtäter. Der war übrigens bereits vor der Kölner Silvesternacht geboren worden und ist inzwischen zur Sozialfigur herangewachsen. Das polizeiliche Kürzel steht für die Wahrnehmung von Mitmenschen als Zombies, Mutanten, Bastarde (in französischen Berichterstattungen: les salauds) und Zeloten, die durch »a projection of antinomy to the world« und durch »nonbeing« (Fanon 2008, xii) charakterisiert sind,

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also durch die Nicht-Existenz des Menschen hinter einer Maske. Diese Form der Entmenschlichung ist im Übrigen auch die tiefe Grammatik des racial profiling. Mit ihr gerät eine der wichtigsten Säulen des Rechtsstaats ins Wanken: Ein Täter, auch wenn er Intensiv- oder Wiederholungstäter ist, bleibt Mensch. Es gibt, und darauf wies bereits c Ā’iša bint Abī Bakr, Muhammads junge und quirlige Ehefrau, hin, einen Unterschied zwischen Täter und Tat. Auch der Historiograf und Sammler prophetischer Weisheitssprüche Muhammads, al-Buḫārī, macht das zum Thema der Einleitung seiner berühmten Hadith-Sammlung:13 Die Tat ist Signum seines Verhaltens, nicht seiner Person. Es will scheinen, als ob diese fundamentale Unterscheidung der islamischen Normen- und Methodenlehre14 noch deutlicher ins allgemeine Bewusstsein vordringen müsste.15 Etliche Elemente dieser sozialen Verdunkelung haben sich als Figuration verselbstständigt. Das schäumte bereits im Jahr 2012 im Zuge der Debatte um die Beschneidung auf: das Sich-Ergötzen an der Rede über den anderen mit dem Einschlag des Lustvollen. Dieser Modus birgt allerdings erhebliche Gefahren (Bar-On 2001), was schon Hegel angezeichnet hat und was aus Schillers Abhandlungen zur Ästhetik und zu den Zuständen der Person spricht. Die Konstruktion eines vom Wesen her anderen wurde auch von Judith Butler auf die Idee des regulierten und intelligiblen Geschlechts übertragen und hinsichtlich Ideologie, Körperlichkeit, Politik, Geschichte, Macht und Identität zielführend in Anschlag gebracht (Butler 1991). Geredet wurde nach der Kölner Narretei viel, gesagt indes wenig – das aber in aller Deutlichkeit für den, der ein Ohr für die Zwischentöne hatte: Alles drehte sich um Sexualität, Gewalt und Orient als mentale Dreifaltigkeit des imaginierten Fremden. Über das eigentliche Problem, nämlich sexualisierte Gewalt, extrinsische Moralkontrolle und die Referenz des Archaischen in allen Gesellschaften, nicht zuletzt auch in der bundesdeutschen, wurde nur wenig gesprochen. Hier zeichnet

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Abū c Abd Allāh Muḥammad ibn Ismāʼīl ibn Ibrāhīm ibn al-Muġīrah ibn Bardizbah al-Ğuʼfī al-Buḫārī (810 bis 870 AD), kurz Buḫārī (wörtlich der aus Bukhara kommt), war ein Gelehrter am Ende der Frühzeit des Islams. Seine Sammlung prophetischer Weisheitssprüche Muhammads, das al-Ğāmiʼ al-Musnad aṣ-Ṣaḥīḥ al-Muḫtaṣar min Umūr Rasūlil-lāh wa Sunnatihi wa Ayyāmihi (wörtlich Die Kurzausgabe gesicherter Berichte vom Gesandten Gottes, seinen Gewohnheiten und seinen Zeiten), kurz: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, gilt als eines der sechs Standardwerke des sogenannten Hadith im sunnitischen Islam. Arab. šarīʼa. Als ʼĀ'iša zur Last gelegt wurde, ihrem Mann durch Zweisamkeit mit einem anderen untreu geworden zu sein (die berühmte Halskettenaffäre), weigerte sie sich, sich zu verteidigen: Ob sie sich verteidige oder nicht, gab sie zu Protokoll – beides führe bei den Leuten nur dazu, die Vorverurteilungen zu bekräftigen, die sie schon getroffen hätten. Ihr Mann hielt sich ungeachtet seiner eigenen Verunsicherung in der Sache zurück. Letztlich entlastet wurde sie dann durch koranische Rede, die die Haltung von Menschen zu Gerüchten als Grundproblem bearbeitet (Koran 24:11-20).

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sich die übliche Diskrepanz zwischen Sagbarem und Unsagbarem ab, was im Kapitel zu Gender und im Zusammenhang mit der arabischen Welt noch einmal zur Sprache kommt. An Köln schloss sich, denn das alles blieb nicht ohne kritische Reflexion, auch ein Nachdenken über die Verschiebungen in der Debattenlage an. Gefragt wurde, wie die Verhandlung der gesellschaftlichen Leitmotive geführt werden sollte, nicht zuletzt mit Blick auf die Belastung der Markierten (Kosnick 2016) als alltäglichem Hintergrundgeräusch, einem sozialen Tinnitus gleich. Religion – und es gibt wohl keinen Bereich, zu dem gegenwärtig mehr Unberufene meinen, das Ihre sagen zu müssen – bietet sich als Trägermedium für Themen an, die eigentlich über die Religion hinausweisen, zum Beispiel die Aushandlung des Rechts auf öffentlich sichtbare Differenz. Dass Religion sich in dieser Hinsicht missbräuchlich verwenden lässt, ist bereits Gegenstand der altprophetischen säkularen Religionskritik in Thora, Talmud und Koran16 , mithin Bestandteil der jüdischen und islamischen exegetischen Traditionslinien. Der Islam als Beflaggung von Muslim*innen in Deutschland verstärkt allerdings die Diskurstendenz des Uferlosen und Übergriffigen. Dabei kommt es gar nicht mehr auf die sachliche Auseinandersetzung an, sondern auf die Instrumentalisierung der Islamfrage zum Zwecke der identitätspolitischen Einhegung und Ausgrenzung, der Versicherheitlichung des öffentlichen Lebens und der Intervention in die Privatsphäre. Man fragt sich: Was läuft da eigentlich gerade? Eines der Kernprobleme in Deutschland ist meiner Ansicht nach das Fehlen einer religionspolitischen Vision, die vonseiten der Zivilgesellschaft offen verhandelt und aktiv gestaltet werden müsste. Mit Zivilgesellschaft ist, nur um dieses Missverständnis von vornherein auszuschließen, nicht etwa die DIK gemeint. Das Kürzel steht für die Deutsche Islamkonferenz in der Obhut des Bundesinnenministeriums. Es handelt sich um ein Forum mit wechselnden Akteur*innen, das den Kampfplatz um die Deutungshoheit über den Islam mit Sprechgesängen versorgt, zum Beispiel »Islamkonferenz soll deutschen Islam definieren« (FAZ 2018a). Das klingt so, als solle hier eine Gruppe, die der DIK über die Jahre ihres Bestehens hinweg Nahrung geliefert hat, die es aber so gar nicht gibt, durch ein Homogenisierungsdiktat ideologisch und sozial handhabbar gemacht werden. Der nächste Schritt könnte dann so aussehen: Fachvertreter*innen aus der islamischen Theologie gründen mit Vertreter*innen der politischen Exekutive, sagen wir mal: Mitarbeiter*innen eines Landeskriminalamts, und Vertreter*innen der legislativen Gewalt, etwa den Integrationsbeauftragten eines Bundeslandes, eine neue islamische Glaubensgemeinschaft. Oder sie gründen ersatzweise ein Dialogforum. Gleichzeitig erhält die entsprechende akademische 16

Besonders die sechste Sure des Korans problematisiert den Zusammenhang von Machtstrukturen (Wirtschaft, politische Macht) und Missbrauch von Religion zum Zwecke der sozialen Kontrolle.

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Fachvertretung zur Belohnung ihren Fakultätsstatus. Das käme dann dem avisierten Staatsislam insoweit entgegen, als das Dilemma aufgelöst worden wäre, dass der Staat zwar an einer bestimmten Theologie interessiert ist, sich an ihrem Zustandekommen aber nicht beteiligen darf. Die Politik könnte so die wissenschaftlichen Standards islamischer Theologie setzen und das korrektive Mandat von Wissenschaft für die eigenen Zwecke missbrauchen. Aber das ist natürlich nur ein Hirngespinst. Die unselige Verschmelzung von Migrations- und Islamfragen einmal beiseitegelassen, bringt die Verdinglichung von Muslim*innen zu einer erkennbaren sozialen Teilgesellschaft ja auch ein paar Vorteile mit sich. Sie ist mitunter die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen über religiöse Zugehörigkeitsbekundung zu Verbänden, Körperschaften und sonstigen juristischen Modellierungen diejenigen religionsbezogenen Rechte erstreiten können, die ihnen das Grundgesetz anbietet. Ob man das so bestellen soll, ist am Ende eine Preisfrage. Der Preis dafür ist hoch. Die Erfahrungen mit dem Ringen um die gesellschaftliche Nobilitierung des Islams in den vergangenen Jahren sind ernüchternd. Es reicht inzwischen wieder, wie das in den 1980er-Jahren gangbar war, dass staatliche Akteur*innen muslimischen Organisationen generell die Anschlussfähigkeit an Moderne, Pluralität und Demokratie absprechen. Damit diskreditieren sie auch solche Organisationsformen, die versuchen, genau dieses oben genannte Ziel zu erreichen: eine Religionsgemeinschaft aus Muslim*innen, die sich als Deutsche verstehen, die ihre migrantischen Kulturalisierungen neu bewerten wollen, die einem theologischen Entwicklungsmotiv folgen und die dazu bevorzugt die islambezogenen Bildungsangebote deutscher Universitäten wahrnehmen – das alles längst auf Deutsch. Ich komme beinahe täglich mit meinen vielen von dieser Frage betroffenen Student*innen ins Gespräch. Sie fühlen sich als junge Muslim*innen mehr denn je kriminalisiert. Sie sehen sich in ihren Lebensentwürfen zurückgeworfen und nicht wertgeschätzt. Sie gewinnen den Eindruck, dass in Deutschland gerade ihre Einhausung als Muslim*innen zu einer Art Nation in der Nation im Gange ist, nur um sie dann der inneren Staatenlosigkeit zu überantworten. Sie nehmen das nicht als ein Verwaltungsproblem wahr, sondern als eine fundamentale Schieflage in der gegenseitigen Wahrnehmung und Kommunikationskultur. Die Verdinglichung von Muslim*innen zur sozialen Entität verläuft über reziproke Prozesse der Zuschreibung und Aneignung. Das sind Prozesse, die sich auch als Ethnisierung, Exotisierung und Orientalisierung beschreiben lassen. Çakır spricht von »antimuslimischem Ethnizismus« (Çakır 2019), Shooman von »aktiven Konstruktionen sozialen Wissens« (Shooman 2011). Sie sind dafür verantwortlich, dass das muslimisch und migrantisch markierte Segment der Gesellschaft hinsichtlich der Bildungs- und Aufstiegschancen, der politischen Partizipation, der öffentlichen Reputation, der religiösen Progression und der kulturellen Emanzipation seiner Randständigkeit und Entmündigung zugeführt wird. Der nächste

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logische Schritt wäre, blickt man auf die globalen und geschichtlichen Narrative, die Entrechtlichung. In einer von mir durchgeführten Untersuchung zu zivilgesellschaftlichen Mentalitäten einer exemplarischen hessischen Mittelstadt war sich immerhin rund ein Drittel der befragten Lehrkräfte an den Grund- und weiterführenden Schulen zumindest unsicher, ob man nicht die grundgesetzlichen religionsbezogenen Freiheits- und Gestaltungsrechte gemäß Grundgesetz Artikel 5 und 7 speziell für Muslim*innen doch besser einschränken solle (rund ein Fünftel plädierte entschieden dafür).17 Das wird befeuert von allseitigen Bekundungen der nationalen Befindlichkeit, der Totalisierung des Deutschen als Beheimatungsmerkmal, der Skandalisierung abweichender Gesinnung und der Dämonisierung von Menschen, die hinsichtlich ethnischer, nationaler, religiöser, migrationsbezogener, geschlechtsbezogener, ökonomischer und anderer Fremdheitszuschreibungen als nicht zugehörig markiert werden (Castro Varela/Mecheril 2017; Pollack 2014). Diese Zuschreibungen fahren im Kielwasser problematischer Gefährdungsdiskurse, die Migration vor allem als Bedrohung der Nationalgesellschaft, der inneren Sicherheit, des sozialen Zusammenhalts, der sozialen Sicherungssysteme und der kulturellen Identität behandeln. Der so bezeichnete Masterplan Integration 2018 des Bundesinnenministeriums merkt dazu an: »Die große Aufgabe der Integration kann nur gelingen, wenn von vorneherein feststeht, auf wen und auf was sie sich bezieht […]. Wir wollen, dass sich Menschen, die mit einem Schutzstatus länger in Deutschland bleiben, in unsere Gesellschaft und Werteordnung integrieren. Erfolgreiche Integration ist die Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Von allen Zuwanderern erwarten wir eine Identifikation mit unserem Land und die Anerkennung unserer Werte und Lebensweise« (BMI 2018, S. 2, 19). Das ist verfänglich, weil man es dreimal nachlesen muss, bis es dämmert. Ich frage mich die ganze Zeit, wen der Text meint, wenn er »unser« sagt. Hier wird ein Verständnis von Integration zugrunde gelegt, das sich auf die Annahme stützt, es gebe eine homogene Gesellschaft der Ansässigen, der von außen her die Fremden hinzutreten. Nicht nur das: Implizit formuliert dieser Text eine Schuldzuweisung; wer sich nicht integriert, gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Oder kürzer: Wegen der Ausländer*innen gibt es wieder Nazis. Logischerweise wird die Integrationsleistung zur Bringschuld der Zugewanderten. Es ist immer so, dass sich Menschen, die in eine neue Umgebung ziehen, mit neuen Gepflogenheiten und kulturellen Kodierungen, mit der Sprache und den Vorschriften vertraut machen. Das geschieht automatisch und hat nur wenig mit Integration als einem Prozess der gesellschaftlichen Konsolidierung zu tun. Darum geht es hier also nicht, sondern um die Imagination einer Mehrheit der Anständigen. Und darin liegt das 17

Unveröffentlichte Studie für Demokratie Leben, interner Bericht April 2019.

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eigentliche Verhängnis – mehr für sie als für die ungehörigen Unzugehörigen. Was sich gegenwärtig als Desintegration im Sinne einer fortschreitenden mentalen, sozialen und ökonomischen Polarisierung der Gesellschaft abzeichnet, hat nämlich nur wenig mit Migration zu tun, sondern mit der feindlichen Übernahme des sozialen Kapitals durch deregulierte Märkte, mit der Absage an mitmenschliche Solidarität und Empathie und mit dem Verlust einer gemeinsamen Vision für das Land und dem Verlust an gesellschaftlicher Verständigung über einen gemeinsamen Fokalpunkt – im Grunde genommen also dessen, was Habermas als »sinnstiftenden Endpunkt« beschrieben hat. Vor diesem Hintergrund mag auch der Hinweis von Bedeutung sein, dass im Jahr 2016 rund 280.000 Deutsche ihren Wohnsitz aus Deutschland ins Ausland verlegt haben (Welt 2018). Es geht mir dabei nicht um Zahlenspiele und nicht um den Saldo von Zu- und Abgang, sondern um eine Erweiterung der Wahrnehmung und den Wechsel der Perspektive: Migration ist nicht irgendein Verschulden von Migrierenden, sondern ihr liegen komplexe Dynamiken zugrunde, die jede monochrome Vereinfachung in Schwarz und Weiß Lügen strafen. Das Gegenteil vom gängigen Populärnarrativ von Migration und Obergrenze ist nämlich der Fall: Migration muss man erstmal schaffen – sie ist Teil der Lebensleistung von Individuen mit Namen und Gesichtern. Neue Menschen mit neuen Perspektiven beleben die Gesellschaft; religiöse Vielfalt stärkt die eigene Religion; neue Talente stärken die Wirtschaft. Migration ist in der Biografie des Einzelnen stets die Ausnahme, in der Geschichte der Menschheit aber die Regel. Sie hilft, die gesellschaftlichen Brüche zu heilen, indem sie die Gesellschaft insgesamt in Bewegung setzt: Geflüchtete bleiben nicht Geflüchtete, Migrant*innen bleiben keine Migrant*innen; Migration ist kein abstraktes Personenmerkmal, sondern ein situativ bedingter und zeitlich befristeter Zustand konkreter Personen. Migration kann deshalb als eine Situation der Gesellschaft insgesamt verstanden werden. Jede abwehrnationalistische Abschottung als Gegen-Narrativ zu dieser Bewegung schneidet die Gesellschaft von dringend benötigten Entwicklungen, Veränderungen und Ressourcen ab und beschleunigt die soziale Degradation und Desintegration. Das ist ein soziogenetisches Grundgesetz. In diesem Zusammenhang ist gelegentlich auch die Rede von Parallelgesellschaft im Sinne einer erwarteten Schadwirkung für das gesellschaftliche Ganze (Schiffauer 2008). Dieser Anwurf kann der sogenannten Mehrheitsgesellschaft aber auf die Füße fallen. Mir ist keine Gesellschaft bekannt, die auf der Grundlage eines Homogenitätsparadigmas funktioniert. Gesellschaften funktionieren vielmehr auf der Grundlage funktionsfähiger arbeitsteiliger Subsysteme. Milieus, denen eine gewisse migrantische, muslimische oder sonst wie andersartig wirkende Signatur zu eigen sein mag, können genau diese Funktion des Kontaktpuffers, der gelenkten Kommunikation und der alternativen sozialen Stützungsfunktion erfüllen, die der Staat vor allem dann braucht, wenn er sich im sozialen Sektor zunehmend schlank

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macht. Das von dem Frankfurter Rechtswissenschaftler Ernst-Wolfgang Böckenförde vor Jahren in ganz anderen Zusammenhängen eingeworfene, im Grunde aber zeitlose Diktum zum sozialen Kapital gilt heute ganz besonders für die Gesellschaft in der migrantischen Situation: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« (Böckenförde 1977, S. 70). Migration bedeutet, ähnlich wie die adoleszente Entwicklung, auch einen gewissen Spielraum für Unentschlossenheit und Moratorien. Gemeint ist die Notwendigkeit, innezuhalten und sich zu orientieren – und in dieser Phase auch einmal in Ruhe gelassen zu werden. Die islamische Philosophie kennt dafür einen Begriff aus dem geistigen Repertoire des großen Denkers al-Ġazālī. Der osmanische beziehungsweise türkische Ausdruck dehliz (auch dihliz) beschreibt eine Schwelle zwischen Tür und Haus, die zwar nicht auf den dauerhaften Aufenthalt ausgelegt ist, die aber einen Zustand der Entlastung und der Chance des Dazwischen-Seins ermöglicht – ein Ort des Grenzgängertums, nach beiden Seiten hin offen. Er ermöglicht Integration als bewussten Akt der subjektiven Entschiedenheit anstatt einfach nur als Einverleibung (Becker 2018). Damit ist auch die Steuerung von Integration als Moderation zwischen Verharren und Bewegung gemeint. Es geht letztlich um Prozesse der Beruhigung in Zeiten der Beunruhigung, um Orientierung in der Bewegung und aus der Bewegung heraus. Das bedeutet nicht, dass Zuwanderung, Abwanderung und zirkuläre oder temporäre Migration keine Herausforderungen mit sich brächten, vor allem, wenn sie schlagartig, also gleichsam in Zyklen erfolgen (die gängigen Semantiken von Welle, Flut, Krise und Masse verbieten sich von der Sache her und aus Gründen des Anstands). Aber auch wenn ein zuständiger Minister noch so oft die Runde ruft, er wolle (eigentlich schreibt er ja, »wir wollen«, was mich vor die Frage stellt, wen er eigentlich damit meint – mich jedenfalls nicht) »keine Zuwanderung in die Sozialsysteme« (BMI 2018, S. 2), gilt unangefochten die Erkenntnis aus der Migrationsforschung: Was heute kurzfristig eine Belastung der Sozialsysteme darstellen kann, ist morgen das soziale Kapital, das sie nachhaltig sichert. Integration will heute alternativ verstanden werden. Wenn sich zwei Menschen begegnen, die sich nicht kennen, entsteht eine Situation doppelter Kontingenz – das heißt, es gibt ebenso viele Gründe dafür, dass die Begegnung gelingt, wie es Gründe dafür gibt, dass sie misslingt, und beide Seiten sind sich der Situation bewusst. Wenn sie es schaffen, mit empathischer Grundhaltung aufeinander zuzugehen, erhöht sich die Chance auf eine gelingende Begegnung signifikant. Vor diesem Hintergrund kann Integration als das Bemühen verstanden werden, die Kontingenz in der Begegnungssituation zu überwinden und größtmögliche Normalität herzustellen. Empathie hat eine Menge mit Identität zu tun. Ich möchte in Anlehnung an Heraklit von Ephesos Identität als die Kunst bezeichnen, möglichst nah beim anderen zu sein, ohne sich selbst zu verlieren. Das gilt für beide Seiten in der Begegnung. Integration ist folglich eine gesamtgesellschaftliche Leistung. Ein Integrationsplan, der

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diese allseitige Leistungsbereitschaft nicht fördert, sondern einseitige Assimilation predigt und gleichzeitig die guten Dispositionen auf beiden Seiten torpediert, ist ein Desintegrationsplan. Das alles hat auch eine religiöse Konnotation, die vielleicht nicht auf Anhieb bewusst ist. Die hier beschriebenen Konstellationen gehören zu den elementaren Narrativen in Schrifttum und Tradition von Religion. Religionsgemeinschaften sind Gemeinschaften kultivierter Erinnerung und symbolischer Interaktion. Eigentlich müssten sich wenigstens die in Deutschland befindlichen Schriftreligionen mit abrahamitischem Einschlag in dieser Sache verständigen und zu einem gemeinsamen Aktionsplan kommen. Das geschieht auch in vielen Foren und Gemeinden auf lokaler Ebene. Aber es gibt Rückschläge, die auf ein systemisches Problem verweisen. Denn immer wieder tragen kirchliche Stimmen zur Vergiftung der Herzen und Köpfe bei. Der Regensburger Bischof Voderholzer wusste sich am 8. Juli 2018 im Rahmen der 59. Gelöbniswallfahrt der Donauschwaben in der Basilika St. Anna in Altötting zu Fragen der Integration und des Islams zu positionieren: Der Islam sei »von seinem theologischen Wesen her der Widerspruch zum Christentum« und von daher sei kulturell »allenfalls ein Nebeneinander möglich«. Die Gefahr der drohenden Islamisierung Mitteleuropas drohe »durch Asylgewährung und Fruchtbarkeit« – er halte »diese Befürchtungen nicht für ganz unberechtigt oder gar für krankhafte Hirngespinste«. Der Westen müsse »[…] nicht in erster Linie Angst haben vor der Bedrohung von außen, liebe Schwestern und Brüder, sondern von innen, vor der eigenen Glaubensschwäche und vor der eigenen Unlust an der Zukunft, die sich auch ausdrückt in einer Unlust an Nachkommenschaft, was von vielen Menschen in den anderen Kontinenten ja nur als eine Einladung verstanden werden kann, zu uns zu kommen und die Lücken zu schließen.« Diese Art von Rede bedient unverhohlen das völkisch-nationalistische Motiv der Umvolkung und bewegt sich im Vorgarten des Rechtsterrorismus, so wie er sich in Oslo, München und Christchurch entladen hat. Der Pressesprecher des Bistums Regensburg meinte dazu, der Herr Bischof äußere sich »grundsätzlich als Theologe, nicht als Politiker«, seine Äußerungen seien also »in keiner Weise politische Stellungnahmen«. Nach dem Applaus vonseiten der AfD gefragt, meinte er, »mit den Inhalten seiner Botschaft an die Donauschwaben könnten sicher viele Parteien werben«; das sei ein »Weckruf, die Grundlagen unserer Kultur nicht sang- und klanglos preiszugeben« (Idowa 2018). Nun könnte man annehmen, das sei ein Ausreißer, aber dem ist nicht so; hier regiert ein mentaler Algorithmus (Bürger 2019). Zum religiös begründeten Rassis-

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mus als institutionellem Strukturproblem erreichte mich kurz danach der Kommentar eines Bistumsmitarbeiters18 zu Voderholzer: »Es macht uns zurzeit echte Sorgen, dass wir nach außen hin den Diskurs mehrheitlich noch bestimmen können, aber intern nur eine Minderheit der eigenen Leute überzeugt hinter uns [gemeint sind diejenigen, die für ein Miteinander im Dialog offen sind; Anm. d. Verf.] steht. Der größere Teil ist verhalten, oder er stellt sich gleich contra und kann dafür solche Predigten wie die von Voderholzer als Munition benutzen.« So ist wohl auch zu erklären, warum die in Rede stehende Positionierung zunächst ohne kritische Kommentierung auch auf dem Portal Katholisch.de erschien, das gemäß Impressum und Selbstbild als offizielle katholische Stimme gelten darf.19 Nicht lange danach aber wurde der gesamte Vorgang dann doch kritisch aufgegriffen: »[…] Wir haben es hier also auch mit einer kirchenkritischen Abwerbekampagne zu tun, islam- und kirchenfeindliche Positionen werden systemisch verschränkt. […] Wo lediglich AfD-nahe Protagonisten […] ihre persönliche Abkehr von der Religion ihrer Väter als Wissensstand vermitteln dürfen, aber zum Beispiel die an den deutschen Universitäten beheimatete islamische Theologie und Wissenschaft ausgeblendet oder nicht ernst genommen wird, ja sogar abgeschafft werden soll, geht es offensichtlich nur um die Bestätigung der eigenen vorgefassten Meinung. […] Die in diesen Wochen [gemeint ist der Landtagswahlkampf 2018; Anm. d. Verf.] in Bayern zu beobachtenden Plakatslogans wie ›Der Islam gehört nicht zu Bayern‹ und ›Islamfreie Schulen‹ erinnern fatal an ›Judenfreie Städte‹ im ›Dritten Reich‹. Sie ist […] Teil einer kirchenkritischen Abwerbekampagne, welche die Mobilisierung des katholischen Milieus gegen die eigenen kirchlichen Strukturen beabsichtigt […]« (van der Velden 2018). Die hier diskutierte Art begrifflicher Einrede stellt einen besonders krassen Fall des völkischen Zugriffs auf das religiöse System dar, das damit zum Fluchtpunkt eines moralisch korrumpierten Koordinatensystems gemacht wird. Das ist nicht neu, sondern erinnert an gut Bekanntes, denkt man dabei an die dahinterstehenden Mentalitäten als eine gleichsam kulturgeschichtliche Tiefenströmung: 18 19

Der Name soll hier bewusst unerwähnt bleiben. »Katholisch.de ist das Internetportal der katholischen Kirche in Deutschland und ein Aufgabenbereich der Allgemeinen gemeinnützigen Programmgesellschaft mbH (APG) mit Sitz in Bonn, gemäß der satzungsmäßigen Bestimmung. […] Katholisch.de versteht sich als Nachrichten- und Erklärportal mit der Aufgabe, wichtige Debatten in Kirche und Gesellschaft zu spiegeln. Betreiber des Portals ist die Allgemeine gemeinnützige Programmgesellschaft mbH (APG). Die Redaktion kooperiert mit den 27 deutschen Diözesen und weiteren kirchlichen Institutionen« (Katholisch.de 2018).

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»So sind diese kirchlichen Herren. Sie merken gar nicht, daß sie im eigenen Wald jagen. […] Das ist eine Ironie der Religion. […] Und die Kirche braucht sich nicht zu wundern, wenn ihr Glanz aus Wasserfarbe immer mehr verblasst. Uebrig bleibt ein ödes Gestammel und Gemurmel« (Kellner 2011, S. 36). Ähnliche Ansprache an die Brüder und Schwestern findet sich in vergleichbarer, aber auch weit schlimmerer Diktion in der islamistischen Rhetorik muslimischer Despoten ebenso wie in faschistischen Predigten in manchen Moscheen. Auf der Charta der Religionsverblödung stehen dabei die Absage an den freiheitlichen Rechtsstaat und der Aufbau eines alternativen Referenzsystems wissenschaftlicher und religiöser Deutung jenseits von Katheder und Kanzel (das lässt sich gerade nicht nur in sogenannten islamischen Ländern, sondern auch in Polen und Ungarn beobachten). Dazu gesellt sich die Absage an die Menschenrechte, gegen die einfach zu viele fundamentaltheologische Vorbehalte kursieren. Diese Art der Predigt, egal aus welcher Ecke sie kommt, ist zutiefst antidemokratisch. Sie steht für fehlendes Rückgrat, schwachen Glauben, theologische Infantilität und den gefährlichen Wunsch schwacher Geister, auch mal Macht ausüben und zutreten zu dürfen. Sie steht für gekränkte Männlichkeit und Hass auf die Welt im Kontext religiös-dogmatischer Neurotisierung. Sie steht für archaische Denkfiguren als ein antizivilisatorisches Basisproblem, das sich weder islamisieren noch exotisieren lässt, sondern das manifest in die Gesellschaft hinein und aus ihr heraus seine Wirkung entfaltet. Der Vorgang verweist zudem auf die schwierige Handhabung dessen, was ich als Erfordernis der »spirituellen Gewaltenteilung« bezeichnen möchte. Die Sakralisierung des mit machtvollen Befugnissen ausgestatteten Amts führt, vor allem in der Verschmelzung von Amtsprofil und Persönlichkeitsmerkmal der (meist männlichen) Inhaber, leicht zu Fehlschlüssen, weil personale (professionalisierende) und inhaltliche (ethisch und theologisch normative) Korrektive institutionell nicht verankert sind. Das macht auch ein grundsätzliches Problem höherer Ordnung sichtbar, nämlich die Verschränkung von Staat, Religion, Recht, Neutralität und Säkularität in der pluralen Zivilgesellschaft. Damit ist die Ausweitung hin auf eine intersektional relevante Problemstellung gegeben: »Die Kirchen stehen in der Versuchung, auf diese Gefahr [des Drucks auf Religion im öffentlichen Raum im Kontext von Islamophobie; Anm. d. Verf.] mit einer Strategie der Hierarchisierung der Religionen zu antworten. Das liefe darauf hinaus, sich vom Islam absetzen zu wollen, indem man auf die geschichtliche Bedeutung des Christentums verweist und die bis heute fortreichenden Beiträge zur demokratischen Entwicklung als singulär herausstreicht. Nüchtern betrachtet erscheint ein solches Unterfangen auf Dauer wenig erfolgversprechend. Es ist nicht nur demokratietheoretisch unplausibel, sondern stößt sich an einer deutschen Gesellschaft, die am Ende von starken Gleichheitsidealen geprägt ist. So würden die Kirchen Ge-

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fahr laufen, sich von (oft selbst areligiösen) Islamkritikern instrumentalisieren zu lassen und dabei auch wesentliche theologische Einsichten des Christentums zur Unterscheidung von Religion und Politik zu verraten« (Heinig 2018, S. 36). Es verwundert also weder, dass die AfD der katholischen Kirche Beifall klatschte, noch, dass die so Befallenen sich anfangs öffentlich nicht wahrnehmbar genug davon distanzierten. Hier zeigt sich noch einmal, und das ließe sich für viele Religionen und Regionen der Welt durchdeklinieren, wie dringlich es ist, hinsichtlich der aktuellen Verdüsterungen der politischen Kultur auch historische, systematische und soziale Aspekte von Religion mit in den Blick zu nehmen. Gemeint ist damit die Analyse im Geiste der Intersektionalität, um ein diagnostisches Werkzeug herstellen zu können. Das muss zudem im umfassenden Zusammenhang der Demokratiebildung verstanden werden. Das folgende Zitat ist nur knapp zehn Jahre jünger, als ich es bin, und sollte zwischen NSU, Pegida und AfD heute aufhorchen lassen: »Ich möchte nicht auf die Frage neonazistischer Organisationen eingehen. Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Unterwanderung bezeichnet ein Objektives; nur darum machen zwielichtige Figuren ihr come back in Machtpositionen, weil die Verhältnisse sie begünstigen« (Adorno 1971, S. 10 f.).

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Intersektionalität, Herkunft und Bildung

Mit Bezug zu den Vorgängen um erwähnte Silvesternacht spricht die Frankfurter Soziologin Kira Kosnick von der »Last der Repräsentanz« (Kosnick 2016). Die Betroffenen spürten es alltäglich und konkret in Kopf, Herz und Bauch, wie sie »ob ihres Aussehens, ihrer Herkunft oder Religion als ›fremd‹ wahrgenommen werden« und »als Spezieswesen von Kultur herhalten müssen« (ebd., S. 2). Diese Empfindung führt zu spirituellen und lebensweltlichen Neuorientierungen und damit zu ganz konkreten und existenziellen Anfragen an die Religion. Ihr wohnt auch ein gerüttelt Maß an Wut inne, das sich in Interviews zeigt, die ich mit jungen muslimischen Männern führe. Diese Ebene ist kognitiv reflektiert, was belegt, in welchem Ausmaß die Dinge längst Gegenstand der Diskurse in der eigenen Bezugsgruppe zwischen Moschee, Shisha-Café, Quartier und Campus geworden sind: »Integration? Wovon redest du, Mann? Ich begegne in der Schule nur Exklusion. Hier geht’s darum, uns von den Futtertrögen der Mittelklasse zu verdrängen. Gemeint ist etwas, was nie gelingt, weil du immer der Fremde bleibst. Ich meine Assimilation. Selbst wenn ich mich komplett anpasse, bleibe ich immer der dritt-

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klassige andere. Je mehr ich mich anpasse, desto entfremdeter werde ich – nicht nur von euch, sondern von mir selbst. Meine Eltern haben nie von Integration geredet; sie haben sie praktiziert. Aber jetzt ist es so, dass man uns nicht will. Und dazu holt man den Islam hervor und stülpt ihn uns über. Man macht uns nachträglich zu Fremden im eigenen Land. Das ist Rassismus.«20 Was hier an sozialer Erfahrung im Lamento gerinnt, ist aus wissenschaftlicher Sicht ein exemplarischer Befund der Analyse. Er ruft eigentlich nach Intervention. Das ist es, worum es bei Intersektionalität geht, die diesem Beitrag als Tiefenstruktur zugrunde liegt. Der Begriff der Intersektionalität, der in der US-amerikanischen Entwicklungsgeschichte von Bürger- und Frauenrechten wurzelt, knüpft an das Bild einer Straßenkreuzung (intersection) an, auf die bestimmte Fahrbahnen zulaufen (Crenshaw 2019). Gemeint sind verschiedene Formen der Diskriminierung, etwa taste based discrimination (WAZ 2019), die in ihrer Verknüpfung und wechselseitigen Verstärkung zu lebensweltlichen Bestimmungsfaktoren im Alltag einer Person werden können. Ursprünglich bezieht sich diese auf die Kategorien gender, class und race, also die kategoriale Verhandlung der Geschlechtsrolle, die soziale und ökonomische Quartierung sowie die Markierung über Hautfarbe und ethnische Herkunft. In jüngerer Zeit wurde das ergänzt um Aspekte wie age, migration, education und religion als weitere Facetten mit Bezug zu Ausprägungen hinsichtlich Ideologie, Spiritualität und Lebensstil. Die begrifflichen Transformationen dieser Bereiche aus dem Englischen ins Deutsche fallen in der Literatur ebenso unterschiedlich und kontrovers aus wie die Kritik am Begriff der Intersektionalität selbst: Das Individuum sei die ultimative Minderheit; intersektionale Kategorien bewirkten neue prekäre Sozialfiguren (Peterson 2018).21 Die Kritik betrifft auch die Übertragbarkeit der Vokabel race: Die Frage, inwieweit race generell auf Rassismuserfahrung, auf Rassismusforschung oder auf Antirassismus als Positionierung bezogen ist, bleibt vorerst in der Verhandlung. Offen muss auch noch bleiben, ob die rasche Ausweitung solcher Begrifflichkeiten nicht auch eine Unschärfe mit sich bringt, die es schwer macht, sich zwischen Betroffenheit und Befangenheit zu orientieren. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Begriff wie Herkunft kann recht unterschiedliche Ausprägungen annehmen, je nach-

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Eigener Interviewmitschnitt. »Postmodernism’s essentials are the opposite of modernism’s. Instead of natural reality – anti-realism. Instead of experience and reason – linguistic social subjectivism. Instead of individual identity and autonomy – various race, sex, and class groupisms. Instead of human interests as fundamentally harmonious and tending toward mutually-beneficial interaction – conflict and oppression. Instead of valuing individualism in values, markets, and politics – calls for communalism, solidarity, and egalitarian restraints. Instead of prizing the achievements of science and technology – suspicion tending toward outright hostility« (Hicks 2013, S. 14).

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dem, ob er – einmal vereinfacht skizziert – von der Warte der Zugehörigkeitsgewissheit zum Globalen Norden aus adressiert wird oder von der Ungewissheit des Adressaten aus, der als fremd und nativ markiert und der dem Globalen Süden zugewiesen wird. Alles, was an seinem Habitus mutmaßlich anders ist, wird seiner essenziellen Andersartigkeit als Stigma der Person zugeschrieben. Insofern können sich unterschiedliche Schwerpunkte eines intersektionalen Problemverständnisses um Konzeptualisierungen von Identität, sozialer Erfahrung oder ökonomischer Verortung herum gruppieren. Auf dem Tisch liegt auch der Vorschlag, statt von Intersektionalität von der mehrfachen Verschränkung von Problemursachen und von der Interdependenz sozialer Kategorien zu sprechen (Walgenbach 2017). Hier aber wäre Vorsicht angebracht. Der Blick auf die Geschichte eines Begriffs wie Feminismus zeigt, wie leicht über deskriptive Paraphrasierungen die präzise Bezeichnung eines bereichsübergreifenden Forschungsfelds zur Disposition gestellt wird. Aber nicht nur das: Auch das Anliegen, ein auf Emanzipation, Partizipation und gesellschaftliche Veränderung hin angelegtes Segment zu etablieren und zu verteidigen, das Identität nicht über Zugehörigkeitsdiskurse ansteuert, sondern über die Frage der kulturellen Ressource (Jullien 2018), gerät dabei in Gefahr. Ich möchte noch bei der Vokabel Herkunft bleiben, damit aber Licht auf gegenwärtige implizite erziehungs- und bildungswissenschaftliche Paradigmen werfen. Dem Begriff Herkunft wird auch in jüngsten Bildungsberichten eine für Fragen des Bildungserfolgs tragende Rolle zugewiesen. Als Erziehungswissenschaftler stelle ich mir die Frage, ob der Begriff von der Warte betroffener Schüler*innen, der ihrer Lehrer*innen oder der einer auktorialen Forschungsperspektive aus entwickelt wird. Der Unterschied besteht in der Platzanweisung zum jeweils kürzeren oder längeren Hebel innerhalb einer autoritativen Institution wie der Schule und natürlich in der bürgerlich-identitären Intention, mit der der Begriff ins Feld geführt wird. Diese Konstellation wird, was sich aus der laufenden Forschung zu Rekonstruktionen von Islam und Muslimsein (sogenannte Islamizitäten22 ) Jugendlicher heraus ergibt, sehr unterschiedlich wahrgenommen. Muslim*in zu sein, wird zunächst der familiären, nationalen oder kulturellen Herkunft zugewiesen und nicht unbedingt der Selbstpositionierung. Den Betroffenen wird die Deutungshoheit über das eigene Selbst weitgehend abgesprochen. Das religiöse Signum bewegt sich zwischen Erlebnissen, die zunächst während der Kindheit unbewusst zur Farbgebung der Lebenswelt beitragen, und Erinnerungen, die erst nach und

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Forschung zu religiösen Positionierungen muslimischer Jugendlicher im Rahmen des vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten LOEWE-Programms, Forschungsschwerpunkt »Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten« an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. (Kulaçatan/Behr 2016).

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nach ins Bewusstsein treten. Es bewegt sich zwischen Zuschreibung und Aneignung, zwischen sichtbaren und nichtsichtbaren Markierungen, zwischen absichtlichen und versehentlichen Markierungen und zwischen unterschiedlichen Tonalitäten der Adressierung. Diese können inkludierend oder exkludierend, neugierig, distanziert oder indifferent, aufwertend oder abwertend, ermutigend oder viktimisierend, stärkend oder verletzend sein. Jedenfalls werden sie von meinen Interviewpartner*innen so stark wahrgenommen, dass sie während der Interviewsituation ihre spezifische Wirksamkeit in der jeweiligen biografischen Rekonstruktion entfalten. Die zahlreichen Beschreibungen der Jugendlichen, was herabsetzendes Verhalten ihrer Lehrkräfte angeht und das an Häufigkeit und Intensität zunimmt, werfen die Frage auf, warum eigentlich immer nur die als migrantisch markierte Herkunft der Schüler*innen problematisiert wird und nicht auch die nichtmigrantisch markierte Herkunft ihrer Lehrer*innen. Hinter der Schieflage, andere aus der Deckung heraus anzuleuchten, steht eine pädagogische Führungsdoktrin. Sie fußt im Machtanspruch der pädagogischen Institution, des Erwachsenseins und der weißen Hautfarbe. Der pädagogische Konsens von Definitionsmacht und Normalitätsparadigma ist durch ungeprüfte Richtigkeitsüberzeugungen überprägt und weder kritisch genug reflektiert noch gesellschaftlich ausgehandelt. Dieses mentale Makro regiert seit geraumer Zeit auch in das hinein, was kurz nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung als Rechtsruck im bürgerlichen Konsens, genauer: als Verschiebung zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit beschrieben wurde (Kreuder 1992). Eine Verhandlung im Sinne des Habermasʼschen Diskursbegriffs scheitert bereits daran, dass die Betroffenen ihre Zugänge zu solchen Verhandlungsforen nicht richtig nutzen. Ihnen ist die Sprechfertigkeit abhandengekommen – und das hat nichts mit dem Erlernen der deutschen Sprache zu tun, so wie das, einem Mantra gleich, durch die politische Rede wabert. Es wird einfach nicht erwartet, dass die fremde Frau und der fremde Mann sprechen. Tun sie es doch, dann wird das, was sie zu sagen haben, nach Kriterien taxiert, die sich wiederum der Verhandlung entziehen. So ist vermutlich auch die wenig souveräne Reaktion von Horst Seehofer auf die Journalistin Ferda Ataman zu verstehen (Ataman 2018b, 2018c, 2018d; TAZ 2018; Seehofer 2018): Möglicherweise hatte der Bayer daran zu kauen, dass eine Frau mit türkischem Namen in die Mitte des Raums trat und das Wort ergriff. Könnte aber auch sein, dass er vor einem viel größeren Problem stand als dem anatolischen Echo, nämlich vor dem der Stämme des Freistaats Bayern. Dieses Bundesland verdankt sich wie kein zweites in Deutschland einer über die Zeiten hinweg andauernden tribalen Clanbildung: Ferda Ataman, gebürtige Nürnbergerin, gehört zum Stamm der Franken, Horst Seehofer, gebürtiger Ingolstädter, zum Stamm der Oberbayern. Auch wenn das jetzt pessimistisch klingt – es ist keine neue Erkenntnis, sondern in der Migrations- und Spracherwerbsforschung eigentlich eine bekannte

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Sache: Selbst eine signifikant messbare Steigerung der deutschen Sprech- und Schreibfertigkeit bei Menschen mit Migrationserfahrung wird nicht maßgeblich zu einer Steigerung ihrer gesellschaftlichen Partizipation führen. Sprache ist eben nicht gleich Mitsprache. Diese scheitert dann doch eher an den gesteigerten Abwehrreflexen seitens der Gesellschaft – und zwar gerade dann, wenn der vermeintliche Ausländer auf einmal sprachgewandt daherkommt. Dieses scheinbare Paradoxon wurzelt im Regelkreis der Dominanz. Die immer wieder aufflammenden Zugehörigkeitsdiskurse haben Durchgriff auf die Selbst- und Fremdbilder, auf den subjektiv empfundenen Verlust an Normalität und an Zukunftssicherheit. Diese Verkantung in der gesellschaftlichen Kommunikation ist im negativen Sinne bildungswirksamer als die mangelnde Sprachkenntnis selbst. Nicht nur das: Ich höre in meinen Interviews, wie die Zurückhaltung in der Verwendung der deutschen Sprache über die Alltagsbewältigung hinaus vor Verletzungen schützt. Das hat nichts mit Grammatik zu tun, sondern mit den Herzen der Menschen. Verständigung auf ein Miteinander geht auch ohne Worte. Diese Atonalität wird, wenn überhaupt, nur mittelbar und sekundär bildungswissenschaftlich in Erwägung gezogen. Deshalb muss unter Intersektionalität auch eine Art der veränderten Wahrnehmung und des neuen Denkens verstanden werden: »It matters who I am!« (Angela Davies zu Intersectionality in Olsson 2013, S. 130). Das Verständnis muss bereichsübergreifend angelegt sein, es muss die Narrative und Zusammenhänge in den Blick wollen, die sich disziplinär und interdisziplinär in die Wissenschaft hinein und aus der Wissenschaft heraus artikulieren, und es muss auf die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen hin angelegt sein. Gemeint ist Intersektionalität nicht nur als Thema oder Label etwa der sozialwissenschaftlichen und historischen Analyse, sondern als Idee und Programmatik und als Haltung der dem Mitmenschen zugewandten Forscher*in. Intersektionalität verändert die wissenschaftsethische Matrix und verlangt Veränderung in Modus und Habitus. Genau das ist vermutlich der Hauptgrund dafür, dass sie sich in einer von Eitelkeit getriebenen wissenschaftlichen Kommunität so schwertut. Damit steht Intersektionalität als Merkmal akademischer Betätigung in Beziehung zur Aktionsforschung (action research) als problemlösendem Forschungsansatz – ein Begriff, der in den 1940er-Jahren von Kurt Lewin (Lewin 1948) eingeführt, in Paolo Freires Ansatz (Freire 2017) einer auf Emanzipation und Partizipation angelegten Forschung konzeptionell und methodisch vertieft wurde und von den 1970er-Jahren an neuen Aufschwung erfuhr. Auch ein Begriff wie Intersektionalität beherbergt den Anspruch, dass Wissenschaft und Forschung nicht das Privileg von Universitäten und der akademischen Klasse sind, sondern über den Campus hinaus in die Gesellschaft wirken sollen – und aus der Gesellschaft heraus. Forschung kann schließlich auch aus anderen Bereichen heraus erfolgen, denen eine Epistemologie zugrunde liegt, etwa aus der gestaltenden Kunst, der Musik, dem Theater, dem Film oder der Literatur. Sie kann aus anderen gesellschaftlichen

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Gruppen heraus erfolgen, aus der der Geflüchteten zum Beispiel – mit interessanten neueren methodischen Verschmelzungen wie der soziologischen Reportage.23 Damit ist die Pädagogik möglicherweise eine der zentralen Wissenschaften, die sehr gut in der Lage wäre, intersektionale Impulse aufzugreifen oder zu setzen, da sie es gewohnt ist, wissenschaftlich bereichsübergreifend und auf Menschen jeden Alters als reale Personen in konkreten Situationen hin zu denken. Genau diese integrative, sozial- und herrschaftskritische Perspektive stellt Intersektionalität auch in die Traditionslinie liberaler Systemkritik, so wie sie beispielsweise von Noam Chomsky oder Benjamin Barber immer wieder angemahnt wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik am Konzept der Intersektionalität aufrufbar. Mit der Fokussierung auf den konkreten Fall in der realen Situation als mögliches komplementäres Motiv intersektional strukturierter Forschung ließen sich über Viktimisierungsnarrative neue Opferbilder zeichnen. Das Anliegen der Ermächtigung von Minderheiten im Portfolio einer engagierten Wissenschaft birgt das Risiko, dass sich ein implizites weißes Täterprofil der Renitenz gegen kulturelle Pluralität skizziert oder dass sich, gleichsam in Umkehrung von Frantz Fanon, Weiße einer schwarzen Maske bedienen (Fanon 2008). Auf nicht wenigen Publikationen mit dem Signum der Intersektionalität liegt das wie Plaque – insgesamt so ähnlich wie sich ein differenztheoretisches Verständnis von Kultur durch sonstige humanwissenschaftliche Publikationen zieht und so lange unentdeckt bleibt, bis jemand die Feedbackschleife endlich abdreht. An diesen Spalt setzen natürlich diejenigen den Hebel an, die intersektionalem Denken zutiefst antipathisch gegenüberstehen und die sich dazu immer wieder politischer Stereotypisierungen bedienen. Erst neulich wurden wieder Stimmen als »Kritik von linken Wissenschaftlern« beziehungsweise in Totalität als »Kritik von links« denunziert (NZZ 2018 und FAZ 2018b)24 , die sich aus einem engagierten und auf Partizipation ausgerichteten Ansatz von Wissenschaft heraus differenziert zu Migration im Zusammenhang mit Gender und Religion positioniert und die sich kritisch zu einem »kulturell argumentierenden Rassismus« (Kosnick 2016) gestellt hatten. Auslöser dieser Kontroverse waren die Frankfurter Debatten um »Männlichkeitskonstruktionen« (Lutz/Kulaçatan 2016). Als These wurde in den Raum gestellt, dass hinter den weiter oben erwähnten Ereignissen der Kölner Silvesternacht

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Die Tradition der soziologischen Erzählung zielt darauf ab, »das lebenspraktische acquaintance with in ein soziologisches knowledge about zu verwandeln« (Bude 1993, S. 409). Stephen Hicks leuchtet den Vorwurf der Linkslatenz intersektionaler Debatten an: »See Kate Weigand’s Red Feminism: American Communism and the Making of Women’s Liberation (Johns Hopkins University Press): ›this book provides evidence that at least some Communists regarded the subversion of the gender system as an integral part of the larger fight to overturn capitalism‹ (Weigand 2001, S. 6)« (Hicks 2013, S. 152).

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ein »Roll-Back des konservativen Islams« Regie führe (Schröter25 2016, S. 2). Die pejorativen Behauptungen lassen sich verdichten: Deutschland werde von einer Welle sexualisierter Gewalt heimgesucht. Diese gehe von muslimischen, männlichen Migranten aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika aus. Ursache dafür sei Frauenhass. Dieser Hass gründe in der islamischen Kultur. Aber in Deutschland herrsche ein Regime, das Kritik an diesen Zusammenhängen unterdrücke. Angesichts einer derartigen Infantilisierung komplexer Zusammenhänge muss das dahinterliegende wissenschaftsethische Verständnis angefragt werden. Das betrifft nicht zuletzt die Nut zwischen kulturrelativistischer und universalethischer Positionierung sowie die emischen (mit den Augen des Insiders beziehungsweise der Insiderin) und etischen (von der Warte einer von außen angelegten Referenz) Zugänge einer dezidiert europäischen Ethnologie zu den muslimisch markierten sozialen Handlungsfeldern. Mich beschleicht der Eindruck, dass sich hier eine retrograde Wende des ethnologischen Blicks von unten und von innen hin auf die Typisierung des sauvage in die Diskurse einfärbt, einer scharfen Beize gleich. Insbesondere in der Grammatik, über ein universal und transkulturell referenzielles Modell des Betrachtenden das Eigentliche und Innere des Betrachteten im Sinne des sogenannten Propriums verstehen zu können, entfaltet sich ein kolonialer Habitus.26 Dass sich die Fachkollegien anfangs mit einer Replik auf diese Stimmen zurückhielten, hatte neben dem notwendigen Distanzeffekt auch seine Anstandsgründe: Die derart veröffentlichten Bekundungen sattelten auf die Ermordung Susanna Feldmanns auf und wurden zu einem Zeitpunkt vorgenommen (im Juni 2018), da das Mädchen noch nicht beerdigt war. Nach einer gewissen Abkühlphase gab es dann wohlüberlegte Reaktionen: »Rassismus und Stigmatisierung funktionieren dadurch, dass tatsächliche oder angebliche Taten oder Charakterzüge von Mitgliedern einer Minderheit zur Grundlage und zum Vorwand für Vorurteile, Diskriminierung und Hass gegen sie werden. Das Thema Sexualität ist eine besonders fruchtbare Grundlage für die Ausgestaltung solcher Vorurteile. […] Anthropologen, die mit ihrem Fachwissen verantwortlich umgehen, reden heute ungern über ›Kultur‹. Denn in öffentlichen Debatten spricht man heute von ›Kulturen‹, als wären sie Computerprogramme, die das Verhalten von Menschen determinieren: kollektivistisch oder individuell, frei oder autoritär. Anthropologen halten solche ›Kulturen‹ schon lange für eine Fiktion – mitunter eine gefährliche Fiktion, die eine Grundlage für Rassismen und Vorurteile bietet. [Schröters Thesen] gelten in Fachkreisen als übertrieben zugespitzt, analytisch schwach, und zum Teil als sachlich falsch [und laufen am 25

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Die Ethnologin Susanne Schröter leitet derzeit das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam (FFGI) an der Goethe Universität Frankfurt a. M. (www.ffgi.net/zentrum.html; zuletzt geöffnet am 11.01.2019). Der inszeniert sich auch über die Bildsprache (DIE ZEIT vom 11. August 2019, S. 44).

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Ende] auf eine aggressive Assimilationspolitik hinaus, die nach ihrer Ansicht muslimische Migranten aus ihrer kulturellen Isolation bringen soll. […] Stigmatisierung hilft nicht. Im Gegenteil: Sie hält Hierarchien aufrecht und zerstört Potenziale zur Verbesserung. Sie legitimiert institutionellen Rassismus, also eine Situation, in der Menschen trotz erfolgreicher Assimilation von Erfolgschancen ausgeschlossen werden. Das ist ein guter Nährboden für identitär-konservative Abschottungsideologien – und ebenso wie Rassismus wird auch identitäre Abschottung oft sexuell artikuliert« (Schielke 2018). Samuli Schielke, Sozial- und Kulturanthropologe am Leibnitz-Zentrum Moderner Orient in Berlin, lenkt den Blick endlich auf die eigentliche Problematik sexueller Gewalt als weltweites transkulturelles Phänomen. Sie kann spezifische Formen annehmen, die gesellschaftlich determiniert sind – auch kulturell, aber nicht im Sinne einer spezifischen Region oder Religion, sondern im Sinne eines psychosozialen Regelkreises (zum Beispiel die Rolle der Empfindsamkeit) – hier demjenigen der hierarchischen Kontrolle der Versuchung: Fällt sie aus und überwiegt die Versuchung, versagt die moralische Erziehung. Die zentrale Frage ist also, wie sexuelle Gewalt entsteht – etwa durch die absehbare Sanktions- und Straffreiheit, wie Schielke ausführt. Das zeigt auch, dass es an der Zeit ist, Themen wie die Frage nach gewaltlegitimierenden Gendernormen auch im Zusammenhang mit Religion der kritischen intersektionalen Bearbeitung zuzuführen und sie nicht der Demagogie oder dem Kalkül von Wissenschaft als Machtausübung zu überlassen. Jedenfalls lassen sich gewaltlegitimierende Gendernormen nicht über genderdiskriminierende Gewaltnormen in Gewahrsam nehmen; die Dämonisierung des schwarzen Mannes rettet die weiße Frau am Ende nicht.

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Muslimische Schüler*innen

Eine so bezeichnete Gruppe von Schüler*innen existiert als soziales Kollektiv zunächst wohl nur in den Köpfen von Lehrkräften, von Bildungstheoretiker*innen, von Erziehungswissenschaftler*innen und in der Präventionslogik von Geldgebern für die Forschung. Ich würde das als »Zielgruppeninfektion« bezeichnen. Gerade das, was früher einmal Pädagogik genannt wurde (und es endlich wieder werden müsste), versteht sich immer mehr als empirische Wissenschaft, die sich auf Begriffsfelder wie Diagnostik und Innovation, Kompetenz und Bildungsstandard verlegt, die Unterricht als Management versteht und die Lernerfolg ebenso wie die Bedingungsfaktoren dieses Erfolgs zu qualifizieren und zu quantifizieren versucht. Was auf der einen Seite eine entscheidende Wende weg von der ideologischen Einengung von Pädagogik als Systematisierung von Erziehungsromantik bedeutet, birgt auf der anderen Seite das übliche Risiko der Orientierungslosigkeit und Fehl-

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leitung der Technokratisierung – dies insbesondere dann, wenn die ideologischen Führungstheorien (und die sind immer vorhanden) unentdeckt und dethematisiert bleiben und den Blick auf die Handlungsmotive gegenüber identifizierten Zielgruppen verschleiern. Die pädagogische Situation bleibt per se eine Situation der kontingenten Begegnung, die stets der subjektiven Theorie unterliegt. Das hat schon die frühmittelalterliche islamische Philosophie beschäftigt. Die kontingente, das heißt in ihrem Ausgang offene, mithin gestaltungsnotwendige Begegnung zwischen Menschen geschieht, nimmt man beispielsweise den Denker Badr ad-Dīn Ibn Ğamāʼa aus dem 13. Jh. beim Wort, nicht von Kopf zu Kopf, sondern von Herz zu Herz. Das klingt nach einem Bonmot, aber dahinter steckt mehr. Die Begegnung setzt Bewegung voraus. Bewegung führt zu Kommunikation als Voraussetzung für das Lernen. Lernen geschieht aber erst dann, wenn sich die reale Begegnung von Menschen auf der Ebene der physikalischen Topografie mental abbildet und zur Begegnung in der Domäne der psychischen und der spirituellen Topografie wird, in der subjektiven Matrix von Welt, einer Art Bühne, auf der sich imaginierte Personen begegnen (Tolman 1966). Damit ist auch ein Licht auf die psychologische Seite der Gesellschaft in der Migrationssituation geworfen. Die islamische Philosophie kennt für diesen geistigen Versammlungsort aber nicht nur die Metapher des Herzens, sondern auch die persische Vokabel diwān, die später von Goethe für seinen West-Östlichen Diwan aufgenommen wurde. Gemeint ist mit der Metapher des Herzens das Innere,27 der Hortus der Person, ihres Fühlens, ihrer Imagination und ihres begrifflichen Denkens. Das lässt sich gut an die Ideenwelt des berühmten Gelehrten al-Farābī anschließen, manchen besser bekannt als Avenassar, der Anfang des 10. Jhs. in seinem Werk Kitāb al-Alfāẓ al-Mustaʼmala fil-Manṭiq, einer Abhandlung über Sprache und Logik, anmerkt: Die Klarheit im Ausdruck fördere die Klarheit in den Ideen. Und die Klarheit in den Ideen fördere die Klarheit im Lernen. Lernen beruht auf zweierlei: Was gelehrt wird, müsse so begreifbar sein, dass sich im Innern ein Bild davon aufbaut. Und was sich im Innern abbildet, solle so wie eine geistige Handlung sein, die sich wiederum in der realen Handlung zeigt, so dass das Gelernte sichtbar wird.

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»Gott kennt das Verborgene der Himmel und der Erde. Er kennt das Innerste der Herzen« (Koran 35:38). In den beiden Sammlungen prophetischer Weisheitssprüche Muhammads von Aḥmad bin Ḥanbal und Dārimī findet sich der berühmte Bericht eines gewissen Wābisa ibn Maʼbad, eines Zeitgenossen Muhammads: »Ich kam zum Gesandten Gottes, und er fragte mich: ›Du bist gekommen, nach der Rechtschaffenheit (al-birr; der Begriff meint soviel wie festen Boden unter den Füßen; vgl. im Koran auch 2:177; Anm. d. Verf.) zu fragen?‹ Ich bejahte. Er sagte: ›Befrage dein Herz (al-qalb). Rechtschaffenheit ist das, worüber die Seele (an-nafs) besänftigt und das Herz beruhigt ist. Sünde (al-'itm; wörtl. der Fehler) ist, was in der Seele webt und in der Brust (aṣ-ṣadr) wiederhallt, auch wenn dir die Menschen wieder und wieder einen guten Bescheid darüber gegeben haben.‹«

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Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, sich emotional und gedanklich auf den Lerngegenstand oder den Mitmenschen einzulassen, führt Ibn Sīnā in seinem Werk Kitāb al-Siyāsa, seiner Abhandlung zur politischen Theorie, wenig später aus. Diese Bereitschaft wiederum – er spricht auch von »Motivation« – setzt materiale Daseins- und Bildungsvoraussetzungen wie gute Ernährung, bequeme Kleidung, einen trockenen Schlafplatz, intakte soziale Beziehungen und Angstfreiheit beim Aufwachen voraus. Dieser bildungsphilosophische Humanismus gründet in einer Naturrechtsvorstellung des Islams, die einige Jahrhunderte später wesentliche Impulse für die europäische Aufklärung bereithält: Jeder Mensch hat qua seines geschöpflichen Daseins ein Anrecht darauf, das ihm innewohnende Potenzial zu nutzen (iktimāl) und zu Freiheit und Wohlergehen zu gelangen (istiṣlāḥ; Behr 2014c). Das kommt in den heutigen Debatten um den Islam allerdings genau so wenig zur Geltung wie seine lebensbejahende und bildungsoptimistische Anthropologie (Behr 2014b). Im Gegenteil: Die grundlegende Zukunftsverunsicherung und die Empfindung des Normalitätsverlusts durch Markierungen, die die jugendlichen Interviewpartner*innen in unseren Forschungen zu Protokoll geben, vertiefen den Graben zwischen muslimischen Gegenwartskulturen und islamischer Tradition und bedingen dadurch eine Art doppelt gelagerten Separatismus: auf der einen Seite die Entfremdung von den eigenen Traditionen und die Flucht in postmoderne und postsäkulare Ideologien, die religiös überprägt sein können, auf der anderen Seite die Entfremdung von der Gesellschaft und die Flucht in alternative soziale Netzwerke mit ähnlich rigider Prägung. Eines zieht sich dabei wie ein roter Faden durch alle Gespräche: Die Schule trägt durch herabwürdigendes und diskriminierendes Verhalten der Lehrkräfte maßgeblich zu dieser Entwicklung bei. Strukturelle Islamfeindlichkeit im gesamten Schulsektor wird zunehmend zum Problem, wie laufende empirische Erhebungen zeigen: Wenn die Sprache auf Menschen kommt, die die Merkmale muslimisch, männlich und arabisch auf sich vereinen, fallen auch solche Schulleiter*innen, Lehrkräfte und Erzieher*innen aus der Rolle, die ihren Zielgruppen gegenüber wohlgesonnen und von humanistischen Erziehungsidealen durchdrungen sind. Dies zeigt sich etwa, wenn Interviewpartner*innen unumwunden zu Protokoll geben, mit Blick auf Muslim*innen an ihrer Schule gehe ihnen »das Grundgesetz am Arsch vorbei«. Mithin fallen diese Akteur*innen als das entscheidende Korrektiv gegen gesellschaftliche Diskursverhärtungen offenbar aus. Diese moralische Diskrepanzerfahrung Jugendlicher hinsichtlich ihrer Lehrer*innen, die ihnen als diejenigen, die sich vor sie stellen müssten, auf einmal in den Rücken fallen, verstört sie nachhaltig. Es ist derzeit kaum möglich, die verantwortlichen Ministerien und ihre nachgeordneten Behörden der Schulverwaltung und Qualitätssicherung davon zu überzeugen, dass hier ein eigener, durch Monopolstrukturen verfestigter Bereich einer rasant aufwachsenden und verbeamteten ideologischen Rigidisierung existiert. Das Problem an der Sache ist, dass das im Binnenraum von Schule als Teil

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der politischen Exekutive geschieht, die damit genau solche Mentalitäten beherbergt, duldet und letztlich auch selbst hervorbringt, welche die Transformation des Rechtsstaats in die Unfreiheitlichkeit begünstigen: »Was soll man auch schon sagen, wenn selbst Menschen, die Kraft ihres Lebensganges [schon auf Grund ihres Bildungsganges; S. 30] sich eine eigene Meinung bilden müßten, jedes dumme Geschwätz u. saudumme, absichtliche in Umlauf gebrachte, Gerücht mit wahrem Heißhunger verschlingen und ihre wankende Heldengestalt daran aufrichten. […] Ueberhaupt ist das Rechtsgefühl bestimmt die schwächste Seite unseres Volkes [und] die Nichtachtung der religiösen Überzeugung eines Menschen« (Kellner 2011, S. 18, 22, 30). In einschlägiger Literatur und Forschung zu Migrationshintergrund als Einflussgröße auf den Bildungserfolg ist kaum eine Bezugnahme auf den Islam festzustellen – folglich gibt es auch keine Ahnung von seiner möglicherweise positiven Bildungswirksamkeit (oder der von Religion an sich). Und genau dadurch maskiert sich ein Bezug zu einem kulturalisierenden Islamverständnis. Bildungsberichte der jüngeren Zeit (DIPF 2018) veranschlagen die soziale Herkunft von Schüler*innen unter anderem auch als kulturelle und familiale Herkunft. Was dabei nicht verstanden wird: Die Verbindung von Kultivierung (als kulturelle Kodierungen und eben nicht als Kultur im ontologischen Sinne) und Familie (Lebensstil, Loyalität und soziales Beziehungsgefüge) bildet einen Faktor eines funktionalen Religionsverständnisses ab, der einen zentralen Fluchtpunkt religiöser Sozialisation darstellt, indes nicht zwangsläufig kirchlich gerahmt oder kultisch sichtbar ist. In solchen breit angelegten Überblickspublikationen der empirischen Erziehungswissenschaft werden Assoziativketten aufgebaut, denen Begriffe in unterschiedlichen Komposita und in gewisser dramaturgischer Steigerung zugrunde liegen, zum Beispiel Wanderungsverhalten, Risikolage, migrationsbezogene Problemlage, Herkunftsstaat, Herkunftsregion, niedrigerer Bildungsstand und Herkunftsunterschied. Diese Marker gerinnen dann zu herkunftsspezifischer Bildungsentscheidung. Problematisiert wird dabei vorrangig türkische und andere nahöstliche Herkunft, aber – wenig überraschend – nicht nennenswert südeuropäische oder russisch-deutsche Herkunft und auch keine ostdeutsche. Herkunft und Migration unterliegen in diesem Verständnis einer einverleibten Binarität nach Inland und Ausland. Was komplett fehlt ist ein methodologisch entwickeltes Verständnis von Migration als sozialer, mentaler und spiritueller Zustand der Person. Die begriffliche Assoziationskette kulminiert am Ende in einer herkunftsbedingten Merkmalszuweisung mit orientalischer Konnotation, nämlich Bildungsherkunft. Das ist eine bemerkenswerte Wortschöpfung: Ähnlich einer Gleichung mit zwei Unbekannten, aber untermalt mit Zahlen, Statistiken und bunten Diagrammen, lässt sie offen, wie die damit gesetzten Schlüsselbegriffe Kultur, Herkunft und Bildung eigentlich jenseits ihrer Verschmelzung besetzt sind – was also gleichsam

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ihre rohstofflichen Eigenschaften sind. Die differenztheoretische Matrix ist so manifest defizitorientiert, dass jeder Gedanke an eine Umkodierung der Herkunftssemantik oder des Bildungsverständnisses abwegig erscheint. Das Defizitäre wird seit ungefähr einem halben Jahrhundert unverändert der offenbar herkunftsbeeinträchtigten Person als Signum ihrer Existenz zugewiesen und nicht als Defizit der pädagogischen Situation oder als Effekt von pädagogischer Haltung und beruflichem Handeln in der Institution verstanden. Das würde die pädagogischen Akteur*innen und ihr berufliches Handeln ja selbst ins Licht der Kritik stellen. Die herkunftsdeutschen Lehrkräfte haben offenbar kein Problem mit ihrer Bildungsherkunft. Es geht dabei um ein Koordinatensystem von Bildung, dessen Achsen aus einem substantivierten Grundverständnis von Ausbildung und bürgerlicher Kodierung bestehen, auch wenn sich das Bildungsverständnis von der thematischen und inhaltlichen Ebene hin auf diejenige des Prozeduralen und der quasi freiheitlichen Selbstpflicht verschoben hat. In gewisser Weise erinnert die Art, in der die gegenwärtige erziehungswissenschaftliche Literatur auf den Phänomenkomplex Migration Bezug nimmt, an das Weltbild hinter den Residential Schools der First Nations in den nordamerikanischen Reservaten oder in Australien. Das Leid der Zerstörung der kulturellen Identität, das den Menschen dort zugefügt wurde, soll nun nicht mit den Vorgängen verglichen werden, die hier in Rede stehen. Aber es geht darum, rechtzeitig Fehlentwicklungen zu erkennen, die in die Richtung des Destruktiven weisen. Die Geschichte zeigt, wie schleichend diese Entwicklungen einerseits sind und wie nachhaltig sie ihre Wirkung entfalten, weil sie sich über Gewöhnungseffekte etablieren – und wie schnell andererseits, quasi über Nacht, Umbrüche geschehen. Ein deutliches Zeichen, da mit vielen historischen Vorbildern gut belegbar, ist dabei die Arbeit mit Sprachverboten und Sprachrestriktionen. Dazu ein Beispiel aus einem anderen modernen Rechtsstaat: Am 19. Juli 2018 wurde im israelischen Parlament (mit 62 zu 55 Stimmen relativ knapp) das Nationalitätengesetz beschlossen. Das Gesetz wurde von Benjamin Netanjahu als »Meilenstein in der Geschichte des Zionismus« gelobt. Es schafft Arabisch, immerhin die Verkehrssprache von über 20 Prozent der israelischen Bevölkerung, als Zweitsprache der Verwaltung ab. Es empfiehlt zudem die ethnische Homogenisierung der Siedlungen im Lande. Das beeindruckende Projekt des israelischen Staates und seiner Gründerwerte, das gleichzeitig jüdisch und demokratisch sein will, gerät just durch den Rassismus eines rechtsnationalen Regimes in Gefahr, das wie kaum je zuvor in der israelischen Geschichte die religiöse Karte spielt. Die neuerliche Verhältnisbestimmung von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit ist Teil der Verhältnisbestimmung von Migration, Islam und Jugendlichkeit (Benz 2015, 2016). Allein ein Totalisator wie muslimischer Antisemitismus zeigt für sich genommen die verkehrte Zeit an. Dazu ein biografisches Ereignis: Kaum hatte ich im Jahr 2014 meinen Ruf nach Frankfurt a. M. angenommen, erreichte mich

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über entsetzte Student*innen eine seltsame Nachricht: Ausgerechnet aus den Reihen muslimischer Verbandsakteur*innen in Hessen, und das Ganze auch noch im Rahmen einer kleinen Festansprache anlässlich des Monats Ramadan, sei zu hören gewesen, es ginge ja nicht an, dass nun ein Jude muslimische Lehrkräfte ausbilde. Wo käme man denn da hin? Dieser Anwurf galt meiner jüdischen Herkunft. Das sei ein bedauerlicher Ausreißer, wurde vonseiten des zuständigen Verbands als Antwort auf meinen schriftlichen Protest beteuert, der sich von den Aussagen seines Mitarbeiters distanzierte, diesen aber weiterhin in ihrem Namen gewähren ließ. Unlängst tagte ein wissenschaftliches Kolloquium der Frankfurter GoetheUniversität zum Thema religiöser Positionierungen islamischer und westlicher Prägung. Als es um muslimische Orientierungen im Kontext rechtspopulistischer Verschiebungen im bürgerlichen Konsens ging, warf eine Kollegin ein, man müsse jetzt erstmal über den muslimischen Antisemitismus sprechen, bevor man von Islamophobie rede. Bei dieser Art von Ansage handelt es sich um jene Art kategorialer Moralisierung, die das wissenschaftliche Kontroversargument nicht beflügeln, sondern verhindern will. Inwieweit von einem muslimischen Antisemitismus in Sonderheit gesprochen werden kann, ist schließlich nicht feststehend, sondern Gegenstand einer komplexen Debatte, in der sich gegenwärtig schon die »Potenz von soundbites« (Ranan 2018, S. 89; Wien 2018) als die große Herausforderung erweist. Mit dem Begriff des Kontroversarguments meine ich die Notwendigkeit, Statistiken und Fakten, Meinungen und Haltungen, Stimmungen und Erfahrungen, Anekdoten und Tendenzen oder Interessen und Erkenntnisse auseinanderzuhalten. Die Gleichsetzung birgt spezifische Gefahren, etwa diejenige der Kronzeugenschaft als »Übersetzung von subjektiven Erfahrungen in ein politisches Argument«, das heißt in ein religiös anmutendes, letztlich religionspolitisches Instrument, das unter dem Sicherheitsdispositiv und anderen Dispositiven der Fremdheitsmarkierung dienen kann (Shooman 2015, S. 52). Und: »Man muss nicht unbedingt Authentizität durch Selbsterleben herstellen« (Tagesspiegel 2018). Arabisch als eine im Rhein-Main-Gebiet weit verbreitete Herkunftssprache ist damit zum vermeintlichen Soziolekt religiös konnotierter Israel- und Judenfeindlichkeit geworden. Zu derartig rassifizierenden Zuschreibungen gehören auch die Interventionen gegen Mehrsprachigkeit auf deutschen Schulhöfen, was Türkisch, Arabisch oder andere Sprachen angeht, die in der Islamwissenschaft als »Islamsprachen« bezeichnet werden. Schüler*innen an Gymnasien beklagen zudem, dass diese Sprachen aus den Wahlpflichtangeboten der weiteren Fremdsprachen verschwinden. An der Nachfrage liegt das offenbar nicht, sondern daran, dass sich damit die prekarisierte Herkunft der niederen Stände gemäß der eigenen schulischen Systemlogik auf einmal als deren Bildungsvorteil erweisen könnte. Ein Bildungsexperte in einer sehr kontrovers geführten Radiodebatte des Deutschland-

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funks witterte da schon Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Meder und Perser, da sie ja diese Sprachen bereits erworben hätten und nicht erst erlernen müssten. Offenbar lautet das Führungsnarrativ der integrierten Gesamtschule in Schilda: Keine guten Noten für das, was man schon kann. Dass Russisch übrigens am Gymnasium inzwischen ein ähnliches Schicksal beschieden ist, hatte aber keiner auf dem Schirm; und das empfanden die betroffenen Schüler*innen im Studio auch nicht als Trost. Dogmatische Zentralbegriffe der heutigen Bildungsplanung wie Kompetenz und Bildungsstandard unterstreichen die bürgerliche Kostümierung eines Anliegens, das sich aus dem Funktionssystem Schule als gesellschaftlicher Allokationsagentur heraus erklären lässt: Provokativ formuliert geht es um Erziehung zu Angepasstheit bei gleichzeitiger Anhebung der Schwelle zur Teilhabe an der Mittelschicht. »Die Ressourcen sind begrenzt; also kenne den dir zugewiesenen Platz!«, müsste als Motto über dem Schuleingang stehen.28 Aber genau darin manifestiert sich die feindliche Übernahme der Deutungshoheit über das jugendliche Selbst, was die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie in ihren Ausführungen zu simplifizierten Narrativen (single stories) des Fremden erläutert: »What this demonstrates, I think, is how impressionable and vulnerable we are in the face of a story, particularly as children. […] [This] default position […] is a kind of patronizing, well-meaning pity […] no possibility of a connection as human equals […] different versions of this single story (turning us into) half devil, half child (out of a position of power that is) the ability not just to tell the story of another person, but to make it the definitive story of that person. […] So that is how we create a single story, show a people as one thing, as only one thing, over and over again, and that is what they become« (Adichie 2009). Damit wird keineswegs in Abrede gestellt, dass Ausprägungen religiöser Kultur und Tradition dort kritisch in den Blick genommen werden müssen, wo sie sich hemmend auf die Bildungsaspiration auswirken. Das müsste dann aber erst einmal durch aussagekräftige Studien belegt werden. Die weiter oben kritisch kommentierten Thesen zur kulturell und religiös determinierten sexuellen Gewaltlatenz muslimischer Männer stellen solch eine single story dar. Nicht auf dem Schirm ist der Befund, dass sich zum Beispiel in arabischen Stadtgesellschaften seit beinahe zwei Dekaden ein anderes und nahezu heteronormatives Ideal von Männlich-

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Es reicht aber auch, ins Kino zu gehen. Dort manifestiert sich das in einer weiteren kolonialen Konstruktion, nämlich Hegel in afrikanischer Kostümierung. Mit der Neuverfilmung von »König der Löwen« 2019 wird alt-europäischer Ungeist wie eine Hyäne auf die jungen Zuschauer losgelassen, während sie durch eine exotische Bilderflut betäubt werden: Simba hat den Platz zu kennen, den das Rad des Schicksals für ihn vorgesehen hat. Nichts steht mehr für sich selbst, wenn der Weltgeist anklopft.

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keit herausbildet, nämlich das des einfühlsamen und kommunikativen Partners der Frau. Dieses Bild der idealen Partnerschaft gemahnt ein wenig an das Ideal von Frau und Mann als Kamerad*innen im nachkolonialen Wiederaufbau eines Landes in der neuen Unabhängigkeit. In dieser Hinsicht wäre es verfrüht, in den Abgesang auf den Arabischen Frühling einzustimmen, vor allem da diese Bewegung seit 2011 in anderen Ländern ein Umdenken (und beispielsweise in Brasilien dann politischen Despotismus mit pentekostaler Radikalisierung als verheerende Gegenbewegung) angestoßen hat, das zwar nicht primär mit dem Islam identifiziert wird, das aber von der Gleichzeitigkeit schneller politischer, ökonomischer und sozialer Umbrüche gekennzeichnet ist. Die Wachsamkeit gilt hier gegenüber allen religiösen und anderweitig spirituellen Deutungssystemen. Es ist empirisch gut abgesichert, dass beispielweise Eltern, die ihre Kinder zum islamischen Religionsunterricht anmelden, das nicht unbedingt aus Gründen des Glaubens oder der religiösen Praxis tun, sondern weil sie sich einen größeren Bildungserfolg in versetzungsrelevanten und mit Blick auf die Mittlere Reife berufsvorbereitenden Fächern erhoffen, und zwar durch eine religiös unterfütterte Erfolgsmotivation und eine höhere Ambiguitäts- und Unwägbarkeitstoleranz (Behr 2008b). Auch systemische Diskriminierungen muslimischer Mädchen gehören in den Datensatz zu muslimischen Jugendlichen. Diskriminierungswahrnehmungen verstärken das Ohnmachtsgefühl gegenüber Fremdbestimmung. Sie wirken sich negativ auf lernorientierte Selbststeuerung aus. Systemisch sind sie deshalb, weil die Zurücksetzung als Mädchen gegenüber den Jungen innerhalb der eigenen Sozialgruppe und die Zurücksetzung als Muslimin innerhalb der Schulgemeinschaft nicht einfach nur zu einer Erhöhung der Frustration führen, sondern zu einer Verschiebung auf andere Sektoren der Identität und damit zu einer Intensivierung. Solche Sektoren sind Faktoren der Identitätsbildung, denen sich in unserer Forschung sogenannte Zentralität beimessen lässt: Geschlecht, Körper, Alter, Sprache und Hautfarbe; dann Bereiche wie Partnerschaft, sozialer Status (citizenship), Lebensstil, soziale Bezugsgruppe; dann Bereiche wie Arbeitsplatz, Wohnsituation, Gesundheit und Bildungsbiografie; dann Bereiche wie Spiritualität, ästhetisches Empfinden und biografische Rekonstruktion des Selbst (Selbstnarration; Keupp et al. 1999; Lucius-Hoene/Deppermann 2004). Aber auch die Jungen können unter genau dieser Konstellation leiden, was hier ohne Berücksichtigung der Zwischentöne angezeichnet wird. Die Verkettung mag stereotyp klingen; sie taucht aber in meinen Interviews mit Betroffenen als Rekonstruktionsmerkmal der eigenen Biografie auf: Bei Mädchen findet im Rahmen patriarchaler Hierarchien der schulische Leistungserfolg im Sinne eines zweckfreien höheren Bildungsguts Anerkennung. Aber das Mädchen soll heiraten und versorgt werden; gute Bildung macht sie dann zu einer besseren Ehefrau und Mutter. Möglicherweise erkennt sie, dass sie sich nur durch den größeren Bildungserfolg sowie durch schrittweisen Abbau angepassten Verhaltens und durch zunehmende

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räumliche Distanz aus dieser Verkettung befreien kann. Derselbe schulische Erfolg fällt bei den Jungen aber unter das Regime des späteren Versorgers, mithin in das Regime des für die berufliche Karriere zwingenden Ausbildungserfolgs. Das schränkt die Wahl der Berufsfelder mit gutem Verdienst und Prestige ein. Paradoxerweise kann der zunehmende schulische Erfolg den Stress erhöhen. Eine der denkbaren ganz natürlichen Reaktionen ist dann so etwas wie eine gesunde Leistungsabstinenz. Das kann im Übrigen zu einem Signum islamistischer Radikalisierung beitragen, etwa indem der diesseitigen Welt das Mandat über das eigene Ich abgesprochen wird (»Das hier ist alles nur dunya!« im Sinne von vergänglicher Welt) und indem der Leistungsaspekt in einen religiös imaginierten Leistungskanon des Jenseitsbezugs umdefiniert wird. Das islamische Schulbuch Saphir greift diesen für junge Biografien gefährlichen Wendepunkt auf (Saphir 2011, S. 50-51). Wer also sind diese muslimischen jungen Menschen? Wie ticken sie? Die Schüler*innen mit dem Merkmal muslimisch, die im Klassenzimmer einer durchschnittlichen Sekundarstufe sitzen, können auf so unterschiedliche Weisen mit dem Islam verbunden sein, dass sich die Bezeichnung Islam im Sinne eines ontologischen Ganzen ebenso verbietet wie die Globalzuschreibung muslimisch. Im Vordergrund stehen eigentlich sehr heterogene Segmente islamisierter Gegenwartskulturen, die allerdings untereinander verknüpft sein können. Dann bilden sie tatsächlich möglicherweise die Matrix für das, was weiter oben als Islamizität bezeichnet wurde: bewusste, subjektive Konstruktionen eines Islams mit einer (trotz seiner eventuell radikalen Ausprägung) relativ niedrigen Halbwertszeit. So kann die eigene Befindlichkeit als Muslim*in auf verschiedenen Ankerplätzen liegen: der kulturräumlichen Zugehörigkeit, der nationalen beziehungsweise republikanischen Loyalität, dem sichtbaren Lebensstil, dem nicht sichtbaren numinosen Erleben, der gesinnungsorientierten Solidargemeinschaft, dem verantwortungsethischen Geltungsanspruch, der Reaktion auf mediale Dämonisierung, der theologischen Neugier oder dem aktiven religiösen Selbstentwurf. Ich habe dabei eine meiner Studentinnen vor Augen. Sie berichtet mir, wie sie sich im Alter von 15 Jahren unter den skeptischen Blicken ihrer säkular eingestellten Eltern dazu entschließt, kein Fleisch mehr zu essen. Die heutige Tierhaltung laufe ihren ethischen Überzeugungen einfach zuwider. Beeinflusst durch eine Freundin mit ausgeprägter islamischer Glaubenspraxis geht sie lieber gleich aufs Ganze und greift zum Veganismus – und sie unterstreicht ihren Entschluss durch eine weitere Symbolhandlung: Sie trägt fortan das Kopftuch. Verhandelt wird ihr sichtbarer Wandel von ihrem sozialen Umfeld allerdings allein auf der islamkritischen Ebene, was bei ihr zu weiteren Verwicklungen in Richtung der Religion, zu Distanz zu den Eltern, zu Entfremdung von ihren Lehrer*innen und zu Neusortierung des Freundeskreises führt. Am Ende ist der Leidensdruck durch die verklemmte Kommunikation um ihr Recht auf Differenz so groß, dass sie sich dazu entschließt, Lehramt zu studieren, um Schülerinnen in ähnlichen Lebenslagen helfen zu können. Um in

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Hessen erfolgreich ins Referendariat gehen zu können, hat sie ihr Kopftuch wieder abgezogen. Rechtlich wäre es ihr zwar möglich, ihre Ausbildung mit Kopftuch abzuschließen. Aber der Umgang mit diesen jungen, engagierten Frauen seitens der zuständigen hessischen Behörden und der Schulleitungen ist restriktiv, entwürdigend und einschüchternd. Er führt in letzter Konsequenz zur Vertreibung von jungen Frauen aus dem monopolisierten Segment der höheren Bildung. Der Zugang zum Referendariat mit Kopftuch erfordert ungeachtet des Karlsruher Entscheids von 2015 die Beantragung einer Ausnahmegenehmigung, in der begründet werden muss, warum das Kopftuch getragen wird.29 Das anfängliche Ethos meiner Gesprächspartnerin ist nach wie vor vorhanden, aber es hat eine Brechung erfahren: Das verantwortungsethische Anliegen hat sich abgeschwächt, das Loyalitätsempfinden gegenüber der eigenen herkunftsnationalen Gruppe hat sich verstärkt und auf eine breitere migrantische Bezugsmatrix erweitert und der sichtbare religiöse Lebensstil hat sich reduziert. Aber radikale Einstellungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Polarisierung haben zugenommen und die Skepsis gegenüber dem System hat sich erhöht – ein verstörendes Fallbeispiel staatlich geförderter Radikalisierung und leider kein Einzelfall. Was muslimische Studentinnen hier zu berichten haben, hat die Grenze vom Einzelereignis hin zu einer allgemeinen Signatur der systematischen und verabredeten Ausgrenzung überschritten (hr-info 2018). Mit Blick beispielsweise auf den Frankfurter Raum fällt auf, dass sich vornehmlich Gymnasien in der Verweisung des Kopftuchs überbieten, vor allem wenn sie an einem identitären Gebräu aus wertkonservativer, etatistischer, wirtschaftsliberaler, wettbewerbsorientierter

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In einem Schreiben, das mir vorliegt, verweist die Hessische Lehrkräfteakademie Kassel, Arbeitsbereich Zulassung zum pädagogischen Vorbereitungsdienst, in ihrer Antwort auf die Anfrage einer muslimischen Lehramtsanwärterin auf § 86 Abs. 3 Hessisches Schulgesetz (HSchG). Es geht um politische, religiöse und weltanschauliche Neutralität und um die Zulassung von Kleidungsstücken, Symbolen oder anderen Merkmalen als Ausnahmetatbestand auf »begründeten« und »zeitnahen« Antrag. Im weiteren Verlauf des Schreibens wird das konkretisiert: »So kann das muslimische Kopftuch als politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus verstanden werden, das die Abgrenzung zu Werten der westlichen Gesellschaft, wie der individuellen Selbstbestimmung und die Gleichberechtigung der Frau, ausdrückt« – und zwar ausdrücklich »unabhängig von den individuellen Beweggründen der Trägerin« (der letzte Teilsatz, der im Wesenskern Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes berühren würde, ist im Original tatsächlich durch Unterstreichung hervorgehoben). Das mehrseitige Schreiben der Antragstellerin setzt schließlich an ihrer religiösen Situierung als Individuum und als Frau an. Seine nüchterne analytische und doch streitbare und intelligente Diktion strotzt vor Rechtsverweisen. Das war im Sommer 2016. Im Sommer 2017, also erst ein Jahr später und unmittelbar vor dem Antritt ihrer Stelle, erhält die Frau schließlich die Ausnahmegenehmigung, nicht ohne mahnenden Hinweis auf die mögliche nachträgliche Versagung bei Störung des Schulfriedens. Den betroffenen Studentinnen wäre zu empfehlen, künftig Jura als Zweitfach zu belegen.

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und christlicher Ideologie saugen, ohne die gesellschaftliche Realität von sich vielfach pluralisierenden Lebensentwürfen zur Kenntnis zu nehmen. Die vermeintlich aus dem »christlichen Menschenbild« kondensierte Anthropologie klingt weniger christlich als vielmehr autoritativ: In Umkehrung von Hesse, Montessori oder kulturprotestantischer Diktion wird die Dichotomie von Bildung und Erziehung zwischen Freiheit und Bindung in ein Bildungsparadigma umformuliert, bei dem »Bildung sowohl Erziehung als auch Bindung [beinhaltet]« (ACDL 2011); das theologische Paradigma der Freiheit wurde eliminiert. Besonders in der Schule brechen sich Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeiten auf ihre ganz eigene Art Bahn. In letzter Zeit meinen Lehrkräfte von sich intensivierenden religiösen Selbstverortungen ihrer Schüler*innen berichten zu können, ohne genau zu verstehen, wo da die Grenze zwischen dem Religiösen und dem Weltlichen verläuft. Es wird dabei immer noch unterschätzt, wie sehr sich jugendliche Anfragen an das Leben spirituell oder religiös aufladen können. Das wird aber nicht erkannt, blickt man immer nur auf Religion als geschlossenes System, dem eine Lehre zu eigen ist, dem Menschen angehören wie Fans ihrem Fußballverein, das eine konfessionelle Rechtsfigur darstellt und dem im Grunde genommen dadurch eine territoriale Signatur zu eigen ist. Das ist mehr als nur eine jugendsoziologische Frage; es ist eine für die islamische Theologie ganz wesentliche Thematik. Als Themenbereiche der jugendlichen Anfrage an die Gegenwart und an die eigene Zukunft haben sich in unserer laufenden Forschung zentrale Items herauskristallisiert. Sie werden in den Narrationen und Explikationen mit religiösen Indikatoren wie Prüfung durch Gott, Vertrauen in Gott, Rechenschaft vor Gott, als Muslim*in ein normales Leben führen oder dem Islam gerecht werden verbunden und als Orientierungsthemen bezeichnet: Freundschaft, Liebe und Familienplanung, einen Ausbildungsund Arbeitsplatz finden, gesellschaftliche Anerkennung erlangen, konkurrierende Loyalitätsbeziehungen moderieren, Selbstwirksamkeit gegenüber Fremdbestimmung erfahren, natürliche Ressourcen schonen und ökologische Nachhaltigkeit praktizieren, bei der Verhandlung von Wirklichkeit und Wahrheit mitreden, den Zusammenhang von Migration, Rassismus, Geschlecht und Bildung verstehen, das System verändern, Gewalt verhindern und Frieden stiften, zu sozialer Gerechtigkeit beitragen oder antikapitalistische Strukturen stärken – all dies in einer seltsamen Oszillation zwischen Misstrauen in das religiöse Subsystem und in das gesellschaftliche Gesamtsystem. Unsere jungen Gesprächspartner*innen sind durch die Sorge belastet, von der eigenen Zukunft abgeschnitten zu sein und sich nicht in ein sinnstiftendes System eingliedern zu können. Es entfaltet sich auch hier, was weiter oben als doppelt gelagertes Separatismuspotenzial bereits angedacht wurde: die Distanzierung vom Islam und die Hinwendung zum Islam, die Distanzierung von der Gesellschaft und die Hinwendung zu ihr, die religiöse Dystopie und die religiöse Utopie, die Enttäuschung von den ge-

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predigten Werten und ihre Verteidigung, das Misstrauen in Gott und das Zutrauen in eine numinose Kraft sowie das Misstrauen in das System und das Urvertrauen, dass alles gut werden wird. Das ist ein für die akademische Lehre der Religion sehr relevanter Befund, spiegelt er doch die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen religionsgelehrter und religionsintellektueller Befassung mit dem Islam wider. Viele muslimische Schüler*innen befinden sich auf den verschiedenen Ebenen ihrer Islamizitäten in einem labilen Gleichgewicht mit dem ruhenden energetischen Potenzial, auf die eine oder andere Seite abzukippen. Sie fordern immer stärker die religiös intelligente Bearbeitung ihrer existenziellen oder einfach nur neugierigen Anfragen und sie rufen der Lehrkraft zu, sie möge sie bitte nicht mit Imam-Antworten abspeisen. Hier läge einmal eine Baustelle für die Islamische Theologie, wenn sich das zuständige Personal dieser endlich annehmen würde. Aber das ist momentan mit sich selbst beschäftigt und noch überfordert mit der Bearbeitung der disziplinären Grundlagen, der Verhandlung des Fachprofils, der Verteidigung der akademischen Institutionalisierung und dem Ringen um öffentliche Etablierung. Eine relevante Theologie des Islams hätte heute die Aufgabe, den Islam vor der feindlichen Übernahme seiner eigenen Anhängerschaften zu bewahren. Und sie hätte damit auch die Aufgabe, Muslim*innen aus ihren religiösen Befangenheiten und Obsessionen zu befreien und die Schrittrichtung aus dem Krebsgang heraus in die Laufrichtung nach vorne zu wenden. Eine gewisse Rolle für die gegenwärtige Funktionsstörung der Islamischen Theologie spielt die Diskursexplosion um den Islam, wie Shirin Amir-Moazami das nennt. Noch können die islamischen Theolog*innen nicht die Intellektualität liefern, die von den Schüler*innen ebenso wie von einer interessierten Öffentlichkeit eingefordert wird. Gerade was diese Intellektualität angeht, werden die Kronzeug*innen zum Problem, die sich als Vertreter*innen eines vermeintlich modernen, liberalen und antipatriarchalen Islams inszenieren. Sie vertreten eigentlich das Gegenteil, nämlich einen bürgerlichen, konsensorientierten Gegenwartskonservatismus. Solche Stimmen der verschärften Inkompetenz reiten auf der Welle der maximal unerträglichen Meinungsbekundung zum Islam bei minimaler Islamkenntnis. Sie, die behaupten Fachleute und inside people zu sein und in Wahrheit weder das eine noch das andere sind, sind wie die Einäugigen, die den Blinden etwas vom dreidimensionalen Sehen erzählen wollen. Die Forderung nach wacher Auseinandersetzung mit Religion gründet in fundamentalen und umfassenden spirituellen jugendlichen Orientierungsmustern, so wie sie sich aus einer Verdichtung der weiter oben aufgezählten Orientierungsthemen ergeben. Vorläufig lassen sich vier voneinander unterscheidbare Muster (patterns) beschreiben; unsere Forschung dazu hält noch an: Erstens spreche ich von physischer Integrität mit Bezug zu allen Bereichen, die das körperliche Empfinden, die Heilung seelischer Brüche, die Verarbeitung von Traumata, die Fragmentierung von Identitäten in physische und andere Empfin-

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dungssphären betreffen. Auf dieser Ebene geben meine Gesprächspartner*innen zu Protokoll, wie und warum sie etwa Diskriminierungserfahrung zunächst als körperliche Beeinträchtigung empfinden. Zweitens lassen sich subkulturelle Affinitäten beschreiben, welche die religiöse Artikulation auf die Ebene des sichtbaren, oft auch provokanten Lebensstils heben. Das erschöpft sich aber nicht im jugendlich Gegenständigen, sondern führt zur Suche nach Anschluss an alternative soziale Netzwerke und zum Ringen um ein Verständnis des Islams, das mehr auf der konzeptuellen und kulturellen Progression als auf dem Anliegen der kulturellen Transmission gründet: »Culture does not make people. People make culture« (Adichie 2014, S. 46). Drittens zeichnet sich ab, dass die Verhandlung und Infragestellung von sozialen Umfeldautoritäten eine wichtige Rolle bei religiösen Orientierungen spielt; das lässt sich als kritisches Bewusstsein bezeichnen. Viertens unterstützen unsere empirischen Befunde einen Aspekt, den die US-amerikanische Forschung zur Psychologie der Radikalisierung als quest for appreciation (Kruglanski 2014) angedacht hat, bislang aber noch nicht an die religiöse Systematik anschließen kann. Gemeint ist das, was ich als kosmische Beheimatung bezeichnen möchte und das Elemente der ludischen, experimentellen, kognitiven, kosmogonischen, spirituellen und ästhetischen Selbstverortung vereint. In diesem Segment können religiöse Narrationen und Narrative ihre je eigenen Wirkungen entfalten. Es ist wichtig, dass Jugendliche über solche Narrative verfügen und mit narrativen Zugängen zur Welt und zum Dasein umgehen können, was die Bedeutung eines klugen schulischen Religionsunterrichts für diese Muster unterstreicht (Behr 2018).

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Was Lehrkräfte beunruhigt, und sie berichten sehr fundiert und differenziert darüber, wenn man ihnen dafür den geschützten Raum gibt und ein Klima des vertrauensvollen Zuhörens schafft, sind die ideologischen Migrationsbewegungen ihrer Schützlinge. Das betrifft ja, aber darüber wird seltsamerweise immer noch zu wenig gesprochen, weniger die Religion im Allgemeinen oder den Islam im Besonderen, sondern zunehmend rechtspopulistische, rassistische, völkische, abwehrnationalistische und protektionistische Selbstverortungen. Diese können sich gegen den Islam richten, ebenso aber auch im Islam verorten. Selbst hinter dezidiert als religiös markierbaren Bekundungen regieren oft solche Kategorien, die den Rückzug in identitäre Binnenräume und die Sehnsucht nach der Reduktion komplexer Zusammenhänge auf einfache Kausalformeln widerspiegeln. Insofern scheinen auch die religionsbezogenen Denkwelten ganz ungeachtet der formalen Religionszugehörigkeiten nach und nach retrodoxer zu werden. Mit diesem ungewöhnlichen Begriff zwischen Orthodoxie und Heterodoxie bezeichne ich bestimmte Merkmale der jugendlichen Islamizitäten, die sich zu einem gedachten Islam verdichten

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können. Darunter fallen mitunter erfundene Traditionen und moralisierte Verhaltensstandards. Dazu gehören auch die anhaltende religiöse Überfrachtung muslimisch-orientalischer Bekleidungsstile, die zunehmende Halalisierung und Haramisierung30 nichtreligiöser Lebensbereiche oder das penetrante soziale Kontrollverhalten gegenüber muslimischen Mitschüler*innen während des Ramadans und ähnliche Fehlentwicklungen mehr (Saphir 2017, 187 ff.). Hier führt eine religionsbezogene Obsession auf beiden Seiten Regie – auf derjenigen, die Religion für sich in Anspruch nimmt, und auf derjenigen, die sich gegen die religiöse Überprägung der Zivilgesellschaft zur Wehr setzt. Der Soziologe Hubert Knoblauch (Knoblauch 2009) sprach in diesem Zusammenhang unlängst in einem Deutschlandfunkgespräch (DLF 2017) von einer »neuen Verzauberung« durch Religion. Diese verlaufe quer zu den konfessionellen Symbolbeständen und Deutungssystemen, ja sogar quer zu den Dogmatiken innerhalb solcher Systeme. Das kann als Grund dafür angesehen werden, dass auch die religionsgelehrte Schariatisierung bestimmter Bereiche des Schullebens wie etwa Schwimmunterricht und Burkini (Behr 2014a), das Beten im leeren Klassenraum oder warum es gerade unislamisch sei, der Lehrerin nicht die Hand zu geben und andere Possen aus der halachischen Trickkiste am eigentlichen Problem vorbei. Gemeint ist eine tief greifende Veränderung des religionsbezogenen Diskurses und der Kulturalität im Umgang mit der Religion selbst. Einer der Gründe dafür ist, dass religiöse Argumente immer stärker in eine lebensweltlich säkulare Begründungslogik gestellt werden (Behr 2017a, 2017b, 2019a). Im Übrigen liegt auch genau hier der Grund dafür, warum die gelehrte Gegenrede muslimischer Theolog*innen gegen islamistische Radikalisierung ziemlich ins Leere geht (Mohagheghi 2015): Viele meiner Student*innen lehnten die Herrschaftskritik der Ḫansā’-Frauenbrigade des IS, die ohne große Berufung auf Koran oder Hadith auskommt, zwar ab, fanden die (indes erratisch anmutende) Analyse der sogenannten »Verfehlungen des Westens« aber überzeugender als den artigen und farblosen counter-speech islamisch-theologischer Konvention. Mit Retrodoxie sind vor allem Ausprägungen wie die Zuspitzung religiöser Differenzkriterien hinsichtlich inter-religiöser (die Lehren unterschiedlicher Religionen), trans-religiöser (die kulturellen Kodierungen von Religion) und intrareligiöser (die konkurrierenden Strömungen innerhalb einer Religion) Kriterien gemeint. Mit von der Partie ist auch die Kaprizierung auf den religiösen Traditionalismus. Unter Muslim*innen kontrovers diskutiert ist die heute weit verbreitete Anrufung der so genannten ahlus-sunna wal-ğamāʼa – einer gegenwartstheologischen Bezeichnung für islamicity (Islamkonformität; engl. Begriff nach Esposito 30

Das arabische Wort ḥalāl bedeutet so viel wie rituell erlaubt (jiddisch: koscher); das Wort ḥarām bedeutet rituell verboten, zum Beispiel der Genuss von Schweinefleisch (jiddisch: treife).

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2017; The Gallup Poll 2002; PEW 2002). Sie wird im positiven Fall als relativ offene Bezeichnung für eine bestimmte konfessionelle Orientierung innerhalb des Islams geführt, im negativen Fall aber als eine hyperkonformistische Lesart der Tradition, die weitgehend ohne belastbare Befunde in der tatsächlichen Tradition bleibt und die der Ausgrenzung Andersdenkender dient. Damit einher gehen die religionsgemeinschaftliche Tribalisierung zu einer Ethnie oder einem Stamm sowie die Totalisierung und Viktimisierung des religiösen Selbst (»Es geht um mich und es geht ums Ganze!«). Zum Verhängnis wird, dass sich nicht nur xenophobe und islamophobe Rhetorik genau dieser Typisierungen bedient, sondern auch Schulverwaltung, Rechtsprechung oder Medien. Völlig aus dem Blick gerät bei solcher allseitigen Agitation der Islamfrage die Mehrheit derjenigen Muslim*innen, die sich im Islam verorten, ohne dass sie als konservativ oder liberal, religiös oder säkular, fromm oder indifferent, integriert oder assimiliert, fremd oder naturalisiert oder sonst wie etikettiert werden wollen. Spannend an dieser Dynamik ist nun aber paradoxerweise das heterodoxe und systemkritische Potenzial, und zwar dezidiert dasjenige der religiösen Reform. Selbst eine durchaus kritisch zu sehende internationale gegenwartstheologische Strömung wie die al-Wasaṭiya (die Mitte), die rechts- und links-muslimische Flügel über pragmatische Problemlösungsdiskurse zusammenführt und der eine seltsame Oszillation zwischen konservativen und progressiven Positionen zu eigen ist, birgt grundsätzliche Potenziale für theologische Innovation und für ideologische Deradikalisierung. Eine Bewegung übrigens, die bereits in den 1970er-Jahren durch Autoren wie Muhammad Qutub oder Ali Schariati prominente Stimmen aus der bürgerlichen Mitte fand. Der Zwischenruf der Wissenssoziologen Thomas Luckmann und Peter L. Berger (Berger/Luckmann 2003), dass religiöse Institutionen im Zuge ihrer Institutionalisierung im säkularen Staat ihre religiöse Integrität zu verlieren drohten, greift hier auf verschiedenen Ebenen jugendlicher muslimischer Selbstpositionierung. Am Ende sehen sich auch etablierte religiöse Institutionen des Islams von spirituellen Dynamiken mit einer attraktiveren subkulturellen Prägung gleichzeitig von rechts und links überholt. Hans G. Kippenberg (Kippenberg 2008) schlug später in dieselbe Kerbe, unterfüttert mit mehr empirischen Daten. Allerdings sprachen Peter L. Berger, der 2017 leider verstorben ist, und José Casanova in letzter Zeit nicht mehr von der Säkularisierung religiöser Lebensbereiche, sondern von sich differenzierenden Pluralisierungsformen, die in Diskurs zueinander treten würden (Berger 2012; Berger 2014; Casanova 2006). Diese wurzeln, um mit Alfred Schütz zu sprechen, in unterschiedlichen Formen der Relevanz (strukturelle Relevanz, thematische Relevanz und Auslegungsrelevanz), die einer beschleunigten Wandlung unterliegen (Schütz 1982). Eine der ganz grundlegenden Veränderungen vor allem mit Blick auf Fragen der Selbstermächtigung ist hier die zunehmend muslimisch-feministische Einrede in die etablierten Strukturen des Religionsdiskurses. Dazu aber weiter unten im Kapitel zu Gender mehr.

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Eine generelle Relevanzverschiebung, die auch die oben erwähnte Diskrepanz in der Öffentlichkeitswirkung zwischen Intellektualität und Theologizität betrifft, gründet in der politischen Rahmung von Religion. Hier gibt es eine Korrespondenz zwischen religiöser Retrodoxie und politischem Dekretismus. Das ist dort der Fall, wo sich despotische Regime auf den Islam berufen, aber zugleich auch dort, wo sich der Widerstand gegen diese Regime seinerseits auf den Islam beruft (Behr 2017b) und die Dekretisierung von Politik anprangert. Einmal abgesehen vom Islam, betrifft das momentan auch europäische Länder. In einem Fachgespräch in der Villa La Collina am Comer See mit Fachleuten aus dem Bereich des Religionsverfassungsrechts und der Theologien, im Herbst 2018 organisiert von der KonradAdenauer-Stiftung, kam zur Sprache, wie sehr sich die Neue Rechte in Europa den Moscheeimamen andiene, um sie auf das Terrain eines nationalisierten Islamverständnisses zu locken – und zwar mit Geld, mit Anerkennung und mit dem Versprechen künftiger Unversehrtheit. Ich rufe dazu nun doch mein jüdisches Erbe in den Zeugenstand und empfehle die Predigt des Kommandanten der Festung Masada zur nächtlichen Lektüre, zu finden weiter hinten im Josippon.31 Und ich rufe der intersektionalen Gemeinschaft zu, dass ohne die profunde Kenntnis des in den diversen religiösen Narrativen geronnenen Wissens eine der Zukunft zugewandte Gesellschaftsanalyse und eine Programmatik ihrer Veränderung hin zum Besseren nicht möglich sind. Intersektionalität ohne Religion ist, wie mit einem Auto auf drei Rädern zu fahren. Unter der Flagge des Sicherheitsdispositivs, unter der Berufung auf eine Art globalen Ausnahmezustand und unter Zuhilfenahme der ontologischen Fehlkonstruktion wie einer sogenannten Flüchtlingskrise werden zentrale Kriterien der Demokratie nicht nur aus dem Bewusstsein verdrängt. Es findet vielmehr ein regelrechter Abbau politischer Kultur statt, dem gegenüber die journalistische Recherche erblindet zu sein scheint: der Rückbau sozialer Gerechtigkeit und des sozialmarktwirtschaftlichen Anliegens, die Gefährdung des politischen Friedens, die Absage an Kinder- und Menschenrechte, die Umfunktionierung der parlamentarischen Demokratie hin auf den tiefen Staat, die Negierung ökologischer Nachhaltigkeit, die Instrumentalisierung der Geschichte zum Zwecke identitärer und identitätspolitischer Verortung und die Absage an die Orientierungsfunktion von Wissenschaft. In einer Zeit, in der sich offenbar wieder einmal eine Handvoll weißer Männer aufmacht, die Welt in Brand zu setzen, geraten ganz besonders die Genderstudien und die Geschlechterforschung ins Visier retrograder Weltbilder. Aber

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Das Josippon ist eine Nacherzählung des »Jüdischen Krieges« vom Fall Babylons bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem. Es wurde auf Hebräisch im 10. Jh. von einem jüdischen Autor aus der griechisch-sprachigen jüdischen Gemeinde Süditaliens zusammengestellt, das zu jener Zeit Teil des Byzantinischen Reiches war.

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wie lässt sich in dieser Komplexität Religion als Gegenstand der intersektionalen Analyse operationalisieren? »Religion ist – ebenso wie Gender – eine kulturelle Differenzkategorie und dient der Herstellung und Absicherung sozialer Ordnungen. […] Religiöse Traditionen sind in spezifischer Weise mit der Kategorie Geschlecht, mit Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie Codierungen von Sexualität […] verbunden« (Benthaus-Apel et al. 2017, S. 19 f.). Diese Definition trifft die Sache gut. Auch aus islamisch-theologischer Sicht ist Religion nicht einfach nur Religion. Schon im 7. Jh. unterscheidet der Koran dabei nach unterschiedlichen Aspekten. Dort wird Religion als Lebensweise (dīn), als Traditionslinie (milla), als existenzielle Vision (ṣirāt), als Lebensweg (sabīl), als persönliche Gangart (saʼī)32 , als Narration (qaṣaṣ), als Normen- und Methodenlehre (širʼa) und als spiritueller Weg (minhāğ) entwickelt. Entsprechend vielfältig verortet die islamische Tradition Aspekte wie zum Beispiel Glaube und Vernunft in den Naturen, Situationen und Zuständen der Personen. Die islamischen Quellen diskutieren neben substanziellen religiösen Normen- und Verfahrensfragen auch ein Religionsverständnis, das vom Grundsatz her funktional angelegt ist. Eine schrifthermeneutische Vertiefung etwa anhand der vierten Sure verweist auf religionshistorische Zusammenhänge und auf ein Verständnis des Islams nicht als Religion im systematischen Sinne, sondern als Diskurs (Asad 2003; Asad et al. 2013; Behr 2017a). Die religiöse Systematik des Korans entfaltet sich entlang zweier Dimensionen von Religiosität, die vergleichsweise undogmatisch angelegt sind. Das ist auf der einen Seite die Frage, was Menschen mit Religion machen, und auf der anderen die Frage, was Religion mit Menschen macht. Mit Verweis auf Talal Asads Ausführungen zur Verhältnisbestimmung religiöser und säkularer Referenzsysteme wäre anzufügen: Es geht heute um die säkular gedachte Kritik religiöser Gegenwartskulturen an den religionsähnlichen Gegenwartsideologien der Säkularität. Diese Form der Kritik findet ihren Niederschlag übrigens auch dort, wo sich junge Muslim*innen, zum Beispiel in Rechtfertigungsdiskursen um Gewalt, weniger auf religiöse oder theologienahe Schemata, sondern, wie oben bereits kurz angesprochen, bevorzugt auf eine säkular begründete, system- und kapitalismuskritische, ja nach32

Für die Übersetzung von saʼī passt am besten das englische Wort trail: Waldpfade, die von Tieren ausgetreten wurden, die den Menschen zur Verfügung stehen, die Geschichten von Durchbruch und Scheitern speichern und die behutsam und mit der passenden Ausrüstung nachgespurt sein wollen – nicht obwohl, sondern gerade weil sie für eine naturgegebene Matrix der Welt stehen (vgl. den Roman Al Ḥayy ibn Yaqzan des Naturphilosophen Ibn Tufail aus dem 13. Jh., die Vorlage für alle späteren Robinsonaden zwischen Daniel Defoe und John Steinbeck). Für den fortgeschrittenen Wanderer ist ein trail die Krönung aller Wege, für den Grenzgänger zwischen den Religionen und Kulturen sind trails die lichten Schmuggelpfade durch dunkle Wälder und schwieriges Terrain.

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gerade antiimperialistische Begründungslogik verlegen, die alles andere als links im herkömmlichen Sinne ist. Theologische und ethische Positionierungen, seien sie angesichts gängiger Lehre als deviant einzustufen oder nicht, entstehen da aus der Wechselwirkung zwischen religiösen und nichtreligiösen Bezügen. Bei diesen Vergitterungen von Säkularität und Religion handelt es sich um ein Koordinatensystem, in dem sich gegenwärtig eine Art mehrfach gelagerte Irrationalität manifestiert. Viele der Islamdebatten rotieren eigentlich um eine innere Achse genereller Religionsdiskurse, zum Beispiel den der grundsätzlichen Verhandlung von sichtbarer und unsichtbarer Religion zwischen forum internum und forum externum, oder den um Gottesbezüge in der Europäischen Verfassung, oder den um die Bedeutung der körperschaftlichen Kirchen für die nationale Identitätsbildung nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Bezüge zum Islam rücken dabei aus unterschiedlichen Gründen nach vorne. Zum einen wäre da eine noch in den älteren Ausgaben des Kommentars von Maunz und Dürig zu Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes nachzulesende Charakterisierung des Islams als Fremdreligion, die in der kollektiven Wahrnehmung oder aber auch in der Darstellung des Islams in Schulbüchern nach wie vor mitschwingt. Damit schließen sich die Zugehörigkeitsdiskurse kurz, so wie sie seit 2014 stärker als je zuvor Fahrt aufgenommen haben, vor allem im Kielwasser der Pegida-Bewegung, mit den entsprechenden Vorboten bereits nach Erscheinen von Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab im Jahr 2010. Inzwischen finden sich selbst in höherer politischer Rede Elemente einer abwehrnationalistischen Rhetorik wie zum Beispiel die penetrante Entkoppelung von Islam und Muslimen. Dabei handelt es sich um eine Sprache, die sich – einem Genre gleich – an Versatzstücken aus Hitlers Mein Kampf und aus Ansprachen von Josef Göbbels schadlos hält. Es geht um ein gesellschaftliches Segment, das mit gewisser Prototypik schon Muhammad in Mekka und später in Medina zu schaffen machte, als er sich für Frauen, Kinder und Unfreie stark machte und seinen Leuten zurief, Geflüchtete nicht am Rande der Stadt, sondern in ihrer Mitte zu beherbergen, damit sie sich sicher fühlten. Der Koran warnt in Sure 68 mit Blick auf genau dieses Konfliktszenario vor Radikalisierung und vor der Instrumentalisierung von Religion: »Folge nicht dem verächtlichen Schwörer, nicht dem Hetzer und Schwätzer, nicht dem Süppchenkocher und Ohrenbläser, nicht dem, der vom Guten abhält, nicht dem, der das Gesetz bricht!« Bei all der gegenwärtigen Rede von Islam und Muslim*innen geht es um den exemplarisch kalkulierten Tabubruch; es geht darum, »die Grenze des Sagbaren zu schleifen« (Tagesspiegel 2018). Was mit Sarrazin seinen Anfang nahm, bedeutete nur vordergründig die Skandalisierung des Islams, die Dämonisierung von Muslim*innen und die Kriminalisierung von Migrant*innen. Man möchte den Eindruck gewinnen, es gehe vielmehr darum, wie weit man mit der Absage an den

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Anstand gehen kann, was der Öffentlichkeit zumutbar ist, mit welchen Kaskadeneffekten zu rechnen ist und ab welchem Gradienten des Unaussprechlichen der mögliche Widerstand aus der bürgerlichen Mitte wahlgefährlich wird. Positiv gewendet könnte man sagen, dass man die Wirkung unterschätzt hat. Negativ indes könnte man auch sagen, dass die Rechnung aufgegangen ist. Fast alles ist denkbar, vor allem die Übertragung dieses Islamexperiments auf andere gesellschaftliche Gruppen, die solch einem Verdrängungsdruck nichts entgegensetzen können – es sei denn, sie haben Fürsprecher*innen oder Organisationsformen im gesellschaftlichen Mittelbau entwickelt (und das haben die Muslim*innen in Deutschland noch nicht geschafft). Es wird künftig härter gegen Alleinerziehende gehen, gegen dauerhaft Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger*innen, Behinderte, dauerhaft Erkrankte, Pflegebedürftige, Minderjährige, Alte – und gegen all diejenigen, die es versäumt haben, sich für ihre Altersversorgung rechtzeitig mit Aktienpapieren einzudecken. Das ist weder weit hergeholt noch verschwörungstheoretisch, sondern gehört mitten in eine intersektionale Aufarbeitung des Themas Religion: In der altprophetischen Botschaft, mit der die Gottgesandten des Korans in der Mitte ihrer Völker die Stimme erheben (Behr 2014d), ging es schließlich nicht um den Glauben oder um Gott, sondern um den Menschen und um die für den Islam zentralen sittlichen Führungsnarrative der Menschlichkeit (Koran 6:136-140). Zum Problem auch noch so klug revidierter Konzeptionen religiöser Dynamiken wird aber immer wieder, dass sie im Wesenskern einer weitgehend verdinglichenden Auffassung von Religion verhaftet bleiben. Religion wird auf Begriffe von Emotionalität, Kulturalität, Spiritualität oder Traditionalität hin zugespitzt. Solche Ontologisierungen sehen sich dann Gegenhorizonten gegenübergestellt, denen einladende Signaturen wie Rationalität, Säkularität, Globalität und Liberalität zugewiesen werden. Das beschäftigt auch die bezugswissenschaftlichen Sektoren in greifbarer Nähe zu Religion als ihrem akademischen Gegenstand. Gemeint sind Disziplinen wie die Pädagogik, die Psychologie, die Soziologie oder die Wirtschaftswissenschaften. Bei denen fällt ein gewisses religionsbezogenes Unbehagen ins Gewicht – wenn nicht gar die Irritierung durch genau solche religiösen Substantivierungen, mit denen die etablierten religiösen Institutionen gegen das aus ihrer Sicht dissidente religiöse Reformdenken in den eigenen Reihen ankämpfen. Hier muss nicht darauf hingewiesen werden, dass mit diesem Reformdenken nicht diejenigen gemeint sind, die in den vergangenen Jahren von Medien und Politik in Deutschland als liberale Reformdenker*innen des Islams gepriesen wurden.33 33

Unlängst bei Stiftungen beantragte und abgelehnte Forschungsprojekte wollen unterschiedliche Stimmen zu der vermeintlichen Diskursfrequenz eines liberalen und modernen Islams ontologisieren (die islamischen Verbände seien konservativ und ob der Islam zu Deutschland gehöre, sei immerhin eine drängende Frage). Die Anträge nennen als Gewährsleute eines liberalen Islams medial einschlägig bekannte Namen. Dahinter steht der Versuch, über die Islamfrage Wissenschaft zum Instrument der politischen Einrede in die Religion umzufunk-

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An bereichsübergreifenden Ansätzen zu Religion und Religiosität als für die Pädagogik empirisch bedeutsamen Phänomenen mangelt es bisher aber noch, einmal abgesehen vom Zwischenruf des Bonner Erziehungswissenschaftlers Volker Ladenthin zu Religion, Rebellion und Freiheit (Ladenthin 2016). Ähnlich stellt sich die Lage dar, blickt man auf die intersektional arrondierten Bezugswissenschaften. Allerdings hat sich diesbezüglich in den Denkfeldern feministischer Theologie schon seit Längerem eine forschungsbezogene Expertise aufgebaut, die zwischen religiöser Affinität und Distanz zu moderieren versteht. Von Religionswissenschaft im engeren Sinne kann aber erst dann gesprochen werden, wenn sich Spezialisierungen hinsichtlich des Themas Religion herausbilden. Diese müssen dazu eindeutig als religionsbezogen ausgewiesen werden, auf das religiöse Selbstverständnis untersuchter Individuen oder Gruppen hinweisen und die religionsbezogenen Aspekte auf einer Meta-Ebene theoriebildend rekonstruieren. Dieser Mangel an religionsbezogener Reflexion in der Pädagogik schlägt auch in einer ungenügenden Sensibilisierung gegenüber jugendlichen religiösen Positionierungen in der Lehramtsausbildung zu Buche. Das empfinden zumindest viele Lehramtsstudent*innen so. Sie haben ein Gespür für die hohe jugendliche Vulnerabilität und Fragmentierung hinsichtlich der weiter oben erwähnten identitätsrelevanten Orientierungsbezüge – sie sind jung genug, um noch den Atem ihrer Schule im Nacken zu spüren. Auch mit Blick auf die sozialen Geschlechtsrollen in Loyalitätsbeziehungen und die Geschlechtsidentität als Selbstwahrnehmung und Selbstverortung, die quer zu diesen lebensweltlichen Situierungen liegen, fungieren Verwundbarkeiten als Andockpunkte für rassistische Zuschreibungen wie auch als Anlass für religiöse Aufladungen mit Schadwirkung. Was die Rolle religiöser Deklinationen angeht, ließen sich einige religionswissenschaftliche Modelle ins intersektionale Gespräch einführen, die helfen könnten, solche religionsbezogenen Bezüge zu systematisieren. Es ist für denjenigen, der sich nicht mit Religion befasst, sich nicht für sie interessiert oder sie für das Problem anderer Leute hält, nicht immer leicht, Zugang zu etablierten Thesen und Modellen oder aktuellen Diskussionsthemen religionsbezogener Forschung zu finden. Manchmal stehen, vor allem, wenn man sich ansonsten wissenschaftlich betätigt, persönliche Abwehrreflexe im Weg. Bestenfalls existieren rudimentäre und mehr oder weniger implizit über die eigene Sozialisation erworbene Behauptungen bezüglich Religion, die sich aus den Medien, sehr häufig aber aus früheren

tionieren. Sollte so ein Schmetterball tatsächlich drüben landen, besteht die Gefahr, dass er pariert wird: Religion könnte zum Instrument der politischen Einrede in (und letztlich gegen) die Wissenschaftsfreiheit umfunktioniert werden – etwa dann, wenn nur noch muslimische Bewerber*innen über das sogenannte Habitusargument auf akademische Stellen berufen werden, denen eine zeitgeistgenehme Gesinnung attestiert wird und die auf einer ministerialen Vorschlagsliste stehen (das ist bereits Usus in einigen europäischen Staaten).

Islam und Intersektionalität

Erfahrungen mit schulischem Religionsunterricht speisen. Das ist natürlich eine unzureichende Wissensbasis. Für den Einstieg in religionswissenschaftliches Denken, das nicht auf Anhieb so komplex ist wie etwa Faktorenmodelle zu Religion und Religiosität34 , kann das folgende Schaubild dienlich sein:

Abbildung 1: Religionswissenschaftliches Dreieck, nach Bochinger/Frank (2015, S. 350 ) Religion und Religiosität in der Gesellschaft Vektorenmodell dynamischer Verhältnisbestimmungen Bochinger/Frank: ZfR 2015, 23(2), 343-370

Symbolbestand Systematisierung Produktion Aneignung

Institutionalisierung

Partizipation

Individuum

Gemeinschaft Sozialisation

Zur Erläuterung dieses Schemas: Individuen, die sich religiös verorten, nehmen an religiöser Gemeinschaft teil und erfahren durch sie sozialisatorische, also erzieherische und bildungswirksame Einflüsse. Religiöse Gemeinschaften sind ihrerseits darum bemüht, die Symbolbestände zu definieren und zu arrangieren und sich darüber zu verstetigen. Diese Verstetigung hat zunächst eine religionsbezogene Seite, nämlich die Sicherung nicht nur der Lehre, sondern der eigenen Deutungshoheit über die Lehre. Daneben gibt es eine rechtliche Seite spätestens dann, wenn die öffentliche und religionsverfassungsrechtliche Anerkennung eine körperschaftliche Organisationsform vorsieht, die sich vor allem aus dieser religiösen Deutungshoheit heraus definiert. Wissenschaftlich spannend ist dabei die Frage, inwieweit zum Beispiel die Konsolidierung des Islams in Deutschland zu einer juristischen Figur eine Rückwirkung darauf hat, wie die Akteur*innen dieses Prozesses ihr religiöses Selbstverständnis formatieren. Wie erfolgreich die Gemeinschaften darin sind, hängt von der Plausibilität ihrer Systematisierung im Sinne

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Zur Vertiefung: HrwG, Hock (2002), Pye (1972), Smart (2009), Stark (1968); und mit religionspädagogischem Bezug Rothgangel (2012).

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der Deutungskompetenz ab, was sie ja dann wieder über die religiösen Kompetenzen ihrer Individuen verhandeln müssen. Die Grafik veranschaulicht ein Beziehungsgefüge, das sich in einen größeren gesamtgesellschaftlichen Rahmen gestellt sieht. Es gibt von den drei Ecken ausgehend also nicht nur die hier dargestellten bilateralen Beziehungen, sondern jeweils auch komplexe Interaktionen von Individuum, Gemeinschaft und Lehre mit der Gesellschaft, die sich wiederum auf die innere Verhältnisbestimmung der drei Schenkel auswirken. Zudem gibt es Bereiche, die in diesem Schema gleichsam frei schweben und die einen eigenen Bezugspunkt darstellen können, etwa Theologie als Wissenschaft. Religiöse Orientierungsdynamiken mit Bezug zu den drei prominenten Ankerpunkten des vorliegenden Beitrags, nämlich Migration, Gender und Bildung, sind eingebettet in auf die Gesamtgesellschaft bezogene Situierungen des Subjekts und seiner diversen Zugehörigkeitskollektive. Ein gutes Beispiel für eine um die drei Raumachsen rotierende Dynamik ist der Islamische Religionsunterricht, der von der Ministerpräsidentenkonferenz im Dezember 2001 als ein Angebot an junge Muslim*innen angedacht wurde, das sowohl staatsbürgerliche als auch religiöse Identität stärken soll. Man könnte also sagen, dass der Staat mit Blick auf die Formatierung des Islams als in Deutschland vertretener Lehre an Ergebnissen interessiert ist, an deren Zustandekommen er sich aber gemäß Grundgesetz nicht aktiv beteiligen darf. Das hat zu seltsamen Szenen der Verhandlung um die Naturalisierung von Muslim*innen zwischen Staat und Religionsgemeinschaft geführt. Als ich vor rund 20 Jahren die ersten Tischvorlagen für die in Bayern geltenden Islamlehrpläne für die Primarstufe entwickelte und sie in der dafür zuständigen Kommission des Münchner Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) zur Diskussion stellte, überbrachte der Vertreter des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus eine Bitte der damals amtierenden Ministerin Monika Hohlmeier: Man möge doch bitte in den Lehrplan einfügen, dass der Islam die Gesetze des Landes achtet, in dem er lebt. Dass der Islam irgendwo lebt, war mir bis dato nicht bewusst gewesen. Eventuell hätte sich derjenige Minister, der Jahre später meinte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, einmal mit seiner freistaatlichen Landsmännin austauschen sollen. Aber ich vermutete damals schon, dass etwas anderes gemeint war, nämlich das Land, in dem Muslim*innen lebten. Die Rückfrage nach entsprechenden Parallelen in den Lehrplänen der katholischen und evangelischen Religionslehre und nach der fachlichen Passung in Anlehnung an die Weimarer Grundschuldefinition, ob wir nun von der ersten allgemeinen und gemeinsamen Schule der minderjährigen Gesetzesbrecher reden, wurde mit Augenrollen quittiert – und zwar nicht vonseiten der Fachleute aus den Sektoren Schule, Religionswissenschaft und Recht, sondern von den damaligen muslimischen Kooperationspartner*innen: Das Anliegen der Ministerin ginge so in Ordnung; man sei doch gesetzestreu und wenn das im Lehrplan stünde, würde das die Funda-

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mentalkritik an dem ganzen Unterfangen mindern. Das Argument hatte damals tatsächlich seine Berechtigung und die Sache zeigt, wie sehr fachliche Diskurse etwa in der Politikberatung durch die Antizipation veröffentlichter Stimmung majorisiert und damit letztlich verunsachlicht werden. Und das hat sich seit damals merklich verschlimmert. Ich präzisierte daraufhin meine Frage an die Kommission, auf welchem theologischen Lehrsatz das dann beruhe, und fragte nach, ob das als ethisch-moralische Grundthese des Islams auch für die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gegolten hätte. Das führte zu einer lebhaften Debatte um Religion und Staat zwischen allen Nicht-Muslim*innen und Herkunftsdeutschen in der Kommission. Die muslimischen Teilnehmer*innen, und zwar die Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften wie auch die ziemlich säkularen türkischen Lehrer*innen, verstanden nicht mehr, worum es ging – sie waren in ihrer politischen Naivität regelrecht abgehängt, und zwar gleich mehrfach: mit Blick auf Grundzüge der deutschen Geschichte, mit Blick auf die Disparität der Kirchen im Faschismus, mit Blick auf ähnliche Konfliktlagen in der islamischen Welt und mit Blick auf zentrale theologische Positionierungen zu dieser Frage in den islamischen Denkschulen und Traditionen. Am Ende landete als Kompromissformel im Lehrplankapitel 4.1.2 Muslime leben in Deutschland: »Muslime achten die Rechtsordnung der Gemeinschaft, in der sie leben« (KMS 2004, S. 37). Dieses Beispiel ist nur eines von vielen aus meinen Ordnern und seit damals haben sich die Zugriffsversuche der politischen Exekutive auf die Mitgestaltung des Islams intensiviert. Das seitdem sorgsam aufgebaute gegenseitige Vertrauen ist in den vergangenen Jahren stark beeinträchtigt worden, und zwar maßgeblich durch außenpolitisch bedingte Diskurse, in denen auswärtige und nationale Kulturpolitik miteinander konvergieren. Die Pfeilbeziehungen in obigem Diagramm beschreiben also auch rassifizierende Dynamiken der willkürlichen und autoritativen Zuweisung identitärer Markierungen zum Zwecke der Ausgrenzung. Sie zeigen aber auch, welches Potenzial in der Religion als sozialem Interaktionsprozess liegt, sich dagegen zur Wehr zu setzen und Identitäten zu behaupten. Eine der sehr bildungswirksamen Verknüpfungen ist die mentale Korrespondenz von auf Religion und Geschlecht bezogenen Selbstwahrnehmungen junger Muslim*innen. Die Verhandlung eines Islamischen Religionsunterrichts unter intersektionalen Gesichtspunkten ist dazu ein durchaus probates Mittel: »Religious education, in particular, is the intersection between the interests of the State and those of religious communities« (Rota 2013, S. 106).

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Gender

Eine meiner muslimischen Studentinnen merkte unlängst in ihrem Referat zu Islam und Gendernormen an, Gender sei erst dann gender, wenn es nicht mehr um das Kopftuch gehe, sondern um die Person dahinter, also um das soziale Geschlecht, gleichgültig welcher Hautfarbe, Herkunft oder sexuellen Selbstverortung – und um die Person in ihrer gesamten Existenz, um ihre Erkenntnisse und Interessen, ihre Erfahrungen und Hoffnungen, ihre Talente, Kenntnisse und Qualifikationen. Und wenn das Bereiche seien, in denen zuungunsten der Frau nach geschlechtlichen Kriterien segregiert werde, dann gehe es um Feminismus – als Kampfbereitschaft, als persönlicher Bezugspunkt, als Kriterium wissenschaftlicher Analyse und Theorie, als politische Forderung. Es will scheinen, als gebe es in diesem Segment keine funktionierenden Automatismen – bis auf offenbar einen: »[…] either women become like men or they go back to the kitchen« (Pateman 2007, S. 235). Mithin birgt die Begrifflichkeit von Gender auch das Risiko der Verundeutlichung in einem europäischen Kontext, in dem sich nunmehr fast jeder, auch die rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien zwischen der schwedischen Sverigedemokraterna oder dem französischen Rassemblement Nationale bis hin zu den Synergies Européennes35 , die gesellschaftliche Gleichstellung und Befreiung der Frau auf die Fahne schreibt, dies übrigens mit Bezug zur Gewalt gegen Frauen in mittelbarem Bezug zu Migration. Dieses Phänomen wurde als Femonationalismus beschrieben und unter anderem im Lichte von Migrations- und Islamfeindlichkeit belegt und diskutiert (Farris 2017). Das Phänomen ist indes gar nicht so verwunderlich, sondern »[…] typisch für patriarchale Gesellschaften«, in denen »Frauen sich umso mehr zur Symbolisierung des Allgemeinen einer Gesellschaft eignen, je weniger sie selbst für etwas Bestimmtes stehen, das heißt je weniger sie selbst zu sagen haben« (Rommelspacher 2002, S. 113). Gender im Kontext von Migrationsforschung und Migration im Kontext von Genderforschung erscheinen gewissermaßen als disparate Zugänge zu einem gemeinsamen Fokalpunkt, der aber offenbar noch nicht richtig verhandelt ist: »Zum komplizierten Verhältnis zwischen Migrations- und Genderforschung gehört auch die Dominanz eines bipolaren differenztheoretischen Paradigmas in beiden Bereichen, die vor allem die weibliche Migrantin als die jeweils Andere,

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Am 24. September 2018 war Stephen Bannon bei Miloš Zeman in der Tschechischen Republik. Es ging dabei auch um den als The Movement bezeichneten Zusammenschluss rechter Abgeordneter im EU-Parlament. Es handelt sich um eine Organisation mit dem Ziel, rechte Positionen in die europäische Politik einzuspeisen.

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Abweichende, in der Hierarchie Untergeordnete betrachtet« (Lutz/Amelina 2017, S. 29). Das Axiom der Unterordnung ist über das Problem der differenztheoretischen Wahrnehmung hinaus seit geraumer Zeit auch ein Schlüsselthema im Streit um die gemeinsame Zukunft von Frau und Mann in vielen islamischen Ländern. Das bleibt oft in der bipolaren Rekonstruktion der Geschlechterverhältnisse verhaftet, öffnet ungeachtet dessen aber den Blick auf grundsätzliche Fragen, die auch eine islamisch-theologische Seite haben (Behr 2008a). Mit der folgenden Episode soll Grundsätzliches veranschaulicht werden: Ich befand mich vor einigen Jahren im Büro der Da’wa Academy der Internationalen Islamischen Universität in Islamabad. Neben mir stand Anis Ahmad, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Islam, damals Rektor der Akademie. Wir beide blickten aus dem Fenster in den Garten und auf das Grab Zia-ul-Haqs, das sich dort in einer Einfriedung befindet. Anlass des Gesprächs war ein Streit im angrenzenden Seminarraum gewesen. Wegen Überfüllung war den Studentinnen von ihren männlichen Kommilitonen nahegelegt worden, lieber den Raum zu verlassen und Platz für die Männer zu machen. Zu den Teilnehmer*innen dieses Kurses gehörten Student*innen der Scharia-Fakultät, Moscheeimame, Militärseelsorger und Offiziersanwärter – eine ziemlich bunte und beeindruckende Truppe. Die Studentinnen legten lautstark Protest ein, besetzten den Raum und ließen niemanden mehr herein, außer den überforderten Referenten von der Kaschmirischen Befreiungsfront aus Muzaffarabad, der nicht wusste, wie ihm geschah und der am liebsten auch den Saal verlassen hätte. Unser Zwiegespräch kreiste inzwischen um Grundsätzlicheres. »Die Frauen haben Recht mit ihrem Protest, wir lassen es jetzt so, wie es ist«, meinte Anis Ahmad und er fügte etwas resigniert hinzu, dass das, was gerade passiere, für die männliche Funktionslogik der postmodernen Gesellschaft stehe – und die mache eben auch nicht vor der islamischen Welt Halt. Den Protest fand er eigentlich gut, betrachtete ihn aber auch mit Sorge: »Allgemeiner Auffassung nach ist der Islam das Problem und nicht die Lösung des Problems, und das, mein Freund, ist nicht etwa ein westliches Gegennarrativ zum Islam, sondern ich höre das viel öfter von meinen pakistanischen als von meinen amerikanischen Kollegen. Die Unterdrückung der Frau als vermeintliches Strukturmerkmal des Islams ist ein globales Narrativ. Es provoziert heftige muslimische Gegennarrative, die genau so verkehrt sein können. Dann wird es laut und ruppig.«36 Was Anis Ahmad damals ansprach, waren drei miteinander verwobene Problemlagen: hegemoniale Männlichkeit, die Tendenz, den Islam zu obsessieren, und der

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Quelle: eigene Protokolle.

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Kampf von Frauen um Repräsentanz. Diese drei Themen bestimmten auch seine lakonische Einlassung bezüglich der Frage, warum fast ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit der Islamischen Republik Pakistan immer noch dem Großteil der Mädchen der Zugang zu höherer Bildung versperrt werde, wo doch die Verfassung des Landes Gleichberechtigung fordere. »Bildung ohne Diskriminierung« ist als Verbindung von menschlicher Achtung und staatlicher Ordnung ursprünglich ein konfuzianisches Motiv aus dem von Islamabad nur ein paar Autostunden entfernten, benachbarten Reich der Mitte. Konfuzius bezog sich im 6. Jh. vermutlich noch nicht auf die Verhältnisbestimmung von Frauen und Männern in der Gesellschaft. Mit Anis Ahmad und einigen Student*innen entbrannte später noch eine lebhafte Diskussion, ob hier der Islam als tradierte Religion, Kultur und Lebensweise am Ende eher Ursache des Problems sei, oder aber ob reformierte Lesarten des Islams zwischen falscher und wahrer Lehre womöglich eine Lösung bereithielten. Und es war eine insgesamt noch unbefriedigende Antwort auf die generelle Anfrage, inwieweit sich hier Konvergenzen zwischen allgemeinen Aspekten von Gender, Religion, Bildung, Binnenmigration sowie vertikaler und horizontaler Mobilität in der Stadtgesellschaft zeigen, die noch mehr staatliche Regelung erfordern. Einige Jahre vor diesen Ereignissen hatte Pakistan erstmals staatlichen Islamischen Religionsunterricht eingerichtet, um dem religionspolitischen Staatsversagen angesichts der Morgendämmerung der Taliban-Bewegung durch einen Unterricht entgegenzuwirken, der versuchte, ein emanzipatorisches Anliegen mit religiöser Tradition und der Lesart eines aufgeklärten Islams zu verbinden. Nicht nur die Lage religiöser und ethnischer Minderheiten, und dort insbesondere die von Frauen, hatte sich seit der dezidiert islamisch beflaggten Regentschaft Zia-ulHaqs verschlechtert, sondern auch die Lage von als deviant markierten muslimischen Denkschulen, die in theologischer und sozialer Hinsicht aber als progressiv eingestuft werden müssten. Was nun nachfolgend mit besonderem Blick auf die islamische Welt (das ist ein unzulässiger, aber leider doch sehr praktischer Begriff), wenngleich nicht mit Verlegung auf die pakistanische Situation, angesprochen wird, hat womöglich seine Relevanz über die islamische Welt hinaus. Denn was Anis Ahmad als »männlichhegemoniale Funktionslogik« beschrieb (vgl. zum Begriff der hegemonialen Männlichkeit Meuser/Scholz 2012, 25 ff.), ist keine Frage von Kulturen und Religionen, sondern von dem, was (wie weiter oben schon erwähnt) Samuli Schielke (Schielke 2018) als »Kultivierung« bezeichnet. Zudem soll das, was hier nur grob skizziert wird (das alles kann anhand der ausführlichen Literaturangaben vertieft werden), abschließend in bildungs- und kulturpolitische Forderungen übersetzt werden. Zu einem unmittelbaren Problem der besagten islamischen Welt zwischen Jakarta und Rabat wird, dass einerseits – und das ist die juristische Seite – immer offener und selbstverständlicher die Gleichstellung der Frau diskutiert und gefordert wird. Hier herrscht oft eine brutale Diskrepanz zwischen Verfassungsnormen

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und Strafrecht oder Familienrecht. Andererseits aber, und das ist die psychologische Seite, regiert eine sozial kodierte und kaum verhandelbare Tiefenstruktur zwischen Verfassungsanspruch und Rechtsverwirklichung, die tiefer reicht und die Lösung der Probleme vom Grundsatz her erschwert, vor allem durch NichtKommunikation und durch Rückversicherung in autoritativen Systemen sozialer Kontrolle. Dabei geht es um Geschlechterverhältnisse, um Geschlechteridentitäten und um Fragen der Sexualität, aber auch um jugendliche Identitäten. Es herrscht eine unsichtbare und doch spürbare Kluft zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, die einen kultur- und ordnungspolitischen Gestaltungsdiskurs verunmöglicht. Natürlich haben die politischen Verhältnisse damit zu tun, was sich hinsichtlich seiner Dramaturgie sehr komprimiert an den Prozessen rund um den Midān Taḥrīr in Kairo seit 2011 ablesen lässt, beinahe so wie an Baumringen: Es fehlen die etablierten Institutionen des zivilgesellschaftlichen Mittelbaus, die in der Lage wären, solche geschützten Diskursräume zu schaffen, zwischen Straße und Palast zu vermitteln und die unsagbaren Dinge sagbar zu machen. Was die Presse in ihrer Funktion als vierte Gewalt in diesen Situationen und Regionen angeht, ist Totalausfall zu vermelden. Was hier zum Tragen kommt, ist die strukturell gewollte, gewaltsam umgesetzte und politisch sanktionierte Praxis der De-Thematisierung. Die hier in Rede stehenden Diskurse setzen »[…] freilich kulturelle und gesellschaftliche Ressourcen voraus. Nicht jeder kann es sich leisten. Es ist gewissermaßen ein Distinktionsmerkmal der mittleren und bürgerlichen Klassen« (Schielke 2018, S. 4). Aber was genau wird de-thematisiert? Da ist zunächst die globale Existenz von Migrationsgesellschaften, blickt man auf die Nationalstaaten, wenn nicht gar auf die Weltgesellschaft (Begriff nicht nach Luhmann) als eine mitmenschliche Gemeinschaft in der Migrationssituation beziehungsweise in der postmigrantischen Situierung (Foroutan et al. 2018). Es wäre im Übrigen verfehlt, sich unter Migrant*innen nur erschöpfte Gestalten mit dem Koffer in der Hand vorzustellen, die am Schlagbaum stehen und um Einlass bitten. Was im Kontext der Anerkennung der migrationsgesellschaftlichen Situation thematisiert werden muss, ist ihr Zusammenhang mit den Motivhorizonten und Auslösern von Migration; dies sind zum Beispiel Themen wie Umwelt, Frieden, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gender, soziale Schicht, Rassismus, Religion und Bildung. Diese müssen unter folgenden Aspekten thematisiert werden: ihre Zusammenhangsstruktur im Leben von Menschen (Intersektionalität), die geschichtliche Gewordenheit dieser Zusammenhänge und die wissenschaftliche Relevanz dieser Strukturen. Gerade der letztgenannte Punkt erfordert eine Entmischung und Sortierung der gegenwärtig diskutierten Topoi wie beispielsweise Religion, Migration, Asyl, Sexualität, Männlichkeit, Orient, Kultur,

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Integration oder Kriminalität, um zu verhindern, dass sie zu scheinbaren Plausibilitäten verschweißt werden. Ferner muss bei der Thematisierung von Gender im Kontext dieser Semantiken entschiedener auf ein revidiertes und entmaterialisiertes Geschichtsbild hingearbeitet werden, das dem Verlust an Erinnerung und Narrativen entgegenwirkt und das Gender als Kategorie der historischen Analyse integriert und als unverhandelbar etabliert. Dazu gehört es, die als »widersprüchliche Moderne« beschriebene Globalsituation mit besonderem Blick auf rechtlich verfestigte Diskriminierungsstrukturen hinsichtlich von Gendernormen zu erkennen und zu beschreiben (Fraser 1994; Scott 1999; Gerhard 1990) und mit besonderem Blick auf schulische Szenarien der sozialen Interaktion zu bearbeiten und zu verändern (Fereidooni 2016). Es gibt weitere Bereiche der notwendigen Thematisierung auch gegen Widerstände, die mehr auf die psychologische Situation des Lernens an Genderfragen verweisen und anders als das bisher Erwähnte mehr bildungstheoretischer Natur sind. Damit wird der Übergang zu den konkreten Forderungen im nächsten und abschließenden Kapitel angelegt. Da wären die Rolle von Sprache und Diskursmacht in ihrem Wirkungsgefüge von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit oder der Gegensatz zwischen subalternen und elitären Diskursen (Fraser 1994). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich rechtspopulistische Verführungsrede unter anderem darauf beruft, die Stimme gegen die Eliten und das Establishment zu erheben – also Rassismus und Islamophobie als die scheinbar legitime Stimme des Widerstands von unten darstellen. Das ist gefährlich, denn es entspricht ungefähr den rhetorischen Figuren des IS und führt dazu, dass sich die Protagonist*innen dieser Verfahrenslogik über das Recht erheben und zu gegebenem Anlass die Messer schwingen. Die Engel halten Gott im Koran (2:30) vor: »Willst du dort wirklich einen einsetzen, der Unheil stiftet und Blut vergießt?« In diesem Zusammenhang gewinnt die genderbezogene Sensibilisierung für die wirklichen und komplexeren Ursachenzusammenhänge eindeutig eine präventive Signatur gegen jede Form der ideologischen Radikalisierung und religiösen Rigidisierung. In die didaktische Programmatik der Sensibilisierung gehören weitere Aspekte des Zusammenhangs von persönlicher, sozialer und physischer Situierung (das jugendliche Orientierungsmuster der physischen Integrität wurde weiter oben bereits erwähnt) und Sprache – zum Beispiel kybernetische Aspekte. Gemeint sind die körperlich eingeschriebene Informations- und Wissenslogik, das weibliche Wissensmanagement (Begriff nach Amina Wadud aus einem Vortrag, den sie an der Universität Erlangen-Nürnberg im Herbst 2012 hielt; Wadud 2008), die Kapitalismuskritik im Kontext von Gender (zum Beispiel die Kommerzialisierung der Gefühlswelt) und die Logik des Krieges (Haraway 1995; Hochschild 2006). Einen besonderen Bereich im Sinne einer gegenwärtig sehr produktiven Kategorie stellen muslimische Feminist*innen dar, also Frauen und Männer, die sich in irgendeiner Weise muslimischer Herkunft zuordnen lassen, ohne dass sie in

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ihren Theorien dezidiert auf den Islam Bezug nehmen – dies in gewisser Komplementarität zu islamischen Feminist*innen, die aus einer bewusst und erkennbar religiös markierten Position heraus argumentieren. In beiden Segmenten spielen Selbstermächtigungsaspekte religionsbezogener kritischer Positionierungen eine wichtige Rolle, auch was die Profilbildung feministischer Theologie angeht, etwa bei Autorinnen wie Asma Barlas, Amina Wadud, Eva Eisen, Ulrike Auga oder Ulrike Bechmann. Ein weiterer Aspekt ist die Bedeutung von Partizipation, insbesondere das Aufzeigen von Wegen zur Partizipation, zur Emanzipation und zum Empowerment, als pädagogische Aufgabe. Die oben erwähnte überfällige Anerkennung von Gesellschaft in der umfassenden Migrationssituation erfordert die allseitige Neuverhandlung der gesellschaftlichen Leitmotive, mithin so etwas wie einen neuen partnerschaftlichen oder kameradschaftlichen Gesellschaftsvertrag (»fraternal social contract«; Pateman 2007). Dazu gehört auch ganz besonders die Verhandlung von Mutterschaft als politischem Status, des sozialen Kapitals des Alterns, der Folgen der Altersdiskriminierung und der Mutterschafts- und Teilzeitfalle. Auch im Kontext von islamischen radikalen Positionierungen junger Frauen spielt die Imagination von Frausein und Mutterschaft eine wichtige Rolle, was noch einmal den präventiven Aspekt der Thematisierung unterstreicht: »[…] Stereotyped expectations linked to maternity and marriage are conceived as emancipated, concealing the structural violence this brings about. Radical Islamist and Neo-Salafist groups […] construct stereotyped narratives and notions. The topics of daily racism, discrimination and attacks, recently increasingly against Muslim girls and women, are one of the underestimated agents of their radicalization. […] spirituality as a central trait of the forum internum and visible religion as part of the forum externum remain vague or unwritten and unspoken, sometimes even demonized as a symptom of the process of radicalization itself […]« (Kulaçatan/Behr 2016, S. 113).

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Intersektionale Schulreform

Aus den bis hier beschriebenen Erkenntnissen und Erörterungen heraus wären konkrete Forderungen abzuleiten und an die Kultur- und Bildungspolitik zu adressieren. Es geht um Bildung und Erziehung hin zu Sensibilität für und Widerstand gegen die gesellschaftliche Desintegration – nicht durch noch mehr Homogenisierungs- und Assimilationsdruck, sondern durch intelligente Differenzierung, durch eine klare fachliche und didaktische Programmatik des Rechts auf Differenz und nicht einfach nur aus der differenztheoretischen Begründung vorfindlicher Heterogenität heraus – und durch eine bereichsübergreifende und verbindende Vision des Zusammenlebens in pluraler Zivilgesellschaft. Gefor-

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dert sind politische Stimmen, die sich dieser Syntax der Desintegration mutig, lautstark und effektiv entgegenstellen. Gefordert ist eine pädagogische Dramaturgie zwischen Kita, Schulhof und Campus, die für die Aushandlung vielfältiger Wirklichkeiten sensibilisiert und gegen die Gleichschaltung von Identitäten immunisiert. Was nun als Forderung nach intersektionaler Schulreform angedacht und anformuliert wird, bezieht sich auf den politischen und öffentlichen, auf den konzeptionellen und fachwissenschaftlichen und auf den didaktisch-methodischen Sektor, etwa in der Lehrer*innenbildung, in den Lehrplänen oder in den Schulbüchern. Es geht um Forderungen hinsichtlich der curricularen Implementation in den Schulen, der Revision der Modulordnungen in der Lehrerbildung und der Revision der Schulbücher (vgl. dazu die Arbeit des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig). Besondere Gefahr hinsichtlich der De-Thematisierung droht durch einen sich verselbstständigenden Kompetenzbegriff als pädagogisches Konsensparadigma und die mit ihm einhergehende Abwicklung der inhaltlichen Dimension. In diesem Zusammenhang möchte ich auf der Ebene von Unterrichtsinhalten, von Schulbuchthemen und sogenannten schulischen Stoffverteilungsplänen fordern: • • • • • • • •

auf kulturelle Verdinglichungen verzichten, identitäre Verortungen ent-territorialisieren, Fremdheitsmarkierungen abbauen, Differenzhypothesen und Fragen des Rechts auf Differenz und der Gleichheit in der Differenz bearbeiten, kulturell, religiös und ethnisch adressierte Defizithypothesen erkennen und benennen, deren Narrative und Geschichten erhellen und sie dekonstruieren, die Majorisierung und Überwältigung des pädagogischen Handelns durch Identitätspolitik und Homogenisierungsdiktate abwehren und eine Kommunikationskultur und eine Streitkultur einüben, die auf der Wertschätzung von Differenz beruht.

Das möchte ich um Forderungen mit konkretem Bezug zur Migrationsfrage ergänzen: • • • •

die Bedeutung und den positiven Beitrag parallelgesellschaftlicher Strukturen für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt erkennen und bearbeiten, Migration und Diversität als den Normalfall verstehen, die Zusammenhänge von Bewegung durch die physikalischen und die mentalen Topografien verstehen und die entsprechenden Narrative deuten sowie insgesamt die Widerstandskraft gegen die Verrohung aus der Mitte der Bürgerlichkeit stärken, die über verschiedene Wege immer stärker in die Schule

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eingreift, zum Beispiel über die autonomen Personalentscheidungen der Schule oder über die Elternbeiräte – alle Akteur*innen des Sektors Schule brauchen geregelte Ansprache beziehungsweise Fortbildung zu den hier in Rede stehenden Fragen. Hier spielt ferner die Sache mit der Pluralisierung zwischen Religion und Säkularität hinein, also gleichsam ein Problem höherer Ordnung. Deshalb möchte ich fordern, die Prozesse der religionsbezogenen Bildungsanteile auf fünf Ebenen der Pluralisierung ins Gespräch zu bringen, die hier als Anfragen an eine zukünftige religionspolitische Vision angezeichnet werden sollen: • • • • •

Wie kann ein religiöser Mensch gleichzeitig ein moderner Mensch sein (die existenzielle Ebene)? Wie verfahren wir mit den zunehmend differenten Auffassungen und Denkschulen innerhalb einer Religion (die intra-religiöse Ebene)? Wie gehen wir mit verschiedenen Religionen innerhalb eines gemeinsamen staatlichen Territoriums um (die inter-religiöse Ebene)? Wie verhalten wir uns zu religiöser Indifferenz, zu religionskritischen Verortungen und zum Toleranzbegriff37 (die rechtsstaatliche Ebene)? Wie verfährt der Staat mit Religionen und verschiedenen Auffassungen von Säkularität an sich; welche religionspolitischen Visionen entwickelt die Zivilgesellschaft (die politische Ebene)?

Zu fordern ist weiterhin, dass der Konflikt rund um Religionen nicht einfach auf das säkulare Erfordernis verschoben wird, sondern dass eine intelligentere Befassung mit Religion in den wissenschaftlichen Klärungsprozessen Raum greift. Ich meine damit auch die Lehrer*innenbildung, und zwar die Notwendigkeit einer allgemeinen religionsbezogenen Grundbildung im Sinne religiöser Belesenheit (»religious literacy«; Moore 2007). Lehrkräfte etwa müssen über grundlegende religionswissenschaftliche Grundlagen zu Struktur und Funktion religiöser Systeme informiert sein. Sie neigen ohnehin dazu, sich religionsbezogene Thesen im Sinne impliziter Führungstheorien zurechtzulegen. Zum einen, weil solche Simplifizierungen Entlastungen in der Alltagssituation mit sich bringen, und zwar um so intensiver, je konfliktbeladener diese Situationen empfunden werden. Zum anderen, weil das berufliche Alltagsgeschäft des didaktischen Reduktionismus ohnehin schon dazu verlockt, die scheinbare Evidenz der persönlichen Plausibilitätsempfindung zu generalisieren und sie unterrichtlich an die Schüler*innen weiterzugeben. Das meint auch esoterisch anmutende Kulturtheorien, gegen die auch eigentlich

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Zu Toleranz in der Kritik siehe Forst (2013).

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intelligente Menschen nicht gefeit sind: Als Aleida Assmann von Nina Mavis Brunner zu Francis Fukuyamas These von der »gescheiterten Idee Europa« interviewt wird, kommt die Rede auf Identitäten und inklusive Gesellschaften in ihrer nationalstaatlichen Rahmung. Assmann schlägt vor, die Würde des Menschen nicht nur auf den einzelnen Menschen zu beziehen, sondern auf die Gesellschaft, die Nation; Demokratie brauche eine Nation, die sich ihrer selbst bewusst sei. Derartige Verdinglichungen auf ein kollektiv und geistgleich Wesenhaftes erinnern an dunkle Redefiguren und zeigen auf, wie tief die Rhetorik Hegelʼscher Anmutung auch wissenschaftlich geschulten Mentalitäten innewohnt – und wie wenig geschult die Journaille offenbar ist, das zu erkennen und kritisch zu hinterfragen.38 Für das Segment der Islamischen Theologie wird zu einer kritischen Theologie aufgerufen, die im Sinne einer anthropologischen Wende vom Menschen aus und auf den Menschen hin denkt. Gefordert ist dazu mit besonderem Blick auf die Schnittstelle von Migration, Bildung, Gender und Rassismus ein funktionales Verständnis von Religion, das weniger von religiösen oder kulturellen Substantivierungen von Religion ausgeht, sondern von Religion als Diskurs. Gerade dadurch kann obsessiven religiösen Essenzialismen entgegengetreten werden. Das betrifft auch neo-religiöse Positionierungen von jungen Menschen, die sich aus existenziellen Fragestellungen heraus an die Deutung der Welt und des Selbst machen. Dabei hilft aber weder die Skandalisierung von Religion noch die Dämonisierung ihrer Anhängerschaften, wohl aber eine Islamische Theologie, die sich traut, die normative Kraft der lebensweltlichen Situation der Tradition gegenüberzustellen. Ähnlich den oben erwähnten allgemeinen Forderungen, den Umgang mit Kultur und Kultivierung wie etwa den Verzicht auf Essenzialisierung betreffend, lassen sich einige spezifisch religionsbezogene Forderungen aufstellen, die auch für eine intelligentere Theologie noch Baustellen sind: •



• • •

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der Verzicht auf religiöse Ontologisierungen, beispielsweise auch, was die EntSchariatisierung von Debatten, Erlassen und Rechtsprechungen hinsichtlich Muslim*innen in den Schulen angeht (Burkini, Ramadan, Beten), die Absage an theologische Infantilisierungen in Gestalt wenig überzeugender und wenig authentischer Zeitgeistparadigmen gesellschaftlicher Angepasstheit, ein insgesamt intelligenterer Umgang mit religionsbezogenen Fragen, mehr Sensibilisierung gegenüber jugendlicher spiritueller beziehungsweise religiöser Lebensweltorientierung, eine grundsätzliche Wertschätzung von Ausdrucksformen spiritueller beziehungsweise religiöser Lebensstile und – In der Sendung Kulturzeit auf 3sat vom 6. Februar 2019; www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=78718; zuletzt geöffnet am 10.03.2019.

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das gilt für religionsbezogene Themen in allen Fächern im Allgemeinen und für den Islamischen Religionsunterricht im Besonderen – die generelle und grundlegende Unterscheidung von Text und Geist, von Tradition und Situation sowie von Kollektiv und Subjekt (Behr 2017c).

Was zentrale genderbezogene Forderungen im Sinne einer intersektionalen Revision des Sektors Schule angeht, wäre es nötig, geschlechtsbezogene Zuschreibungen stärker ins Bewusstsein der Schüler*innen zu heben und kritisch zu bearbeiten. In diesem Zusammenhang wäre zu fordern, •

• • • •



• • •

für Fragen der Geschlechteridentität mit besonderem Bezug zu den Queer Studies und kritischer Männlichkeitsforschung empfänglich zu machen (Warner 1993a, 1993b; Sedgwick 1985; Connell 2006), sich den schon mehrfach angesprochenen Aspekt der körperlichen Einschreibungen bewusst zu machen und ihn kritisch zu bearbeiten, Narrative der fremden Frau und des fremden Mannes zu dekonstruieren, die Dichotomisierung und Fragmentierung mentaler und physischer Identitäten zu überwinden (Collins 1998; Davis 1982), die binären Konstruktionen und Zuschreibungen von Geschlechteridentitäten mit besonderem Bezug zu Heteronormativität kritisch zu bearbeiten, und zwar unter Berücksichtigung der Frage von Geschlecht als performativem Dispositiv (Butler 1991), die Möglichkeit von geschlechtergetrennten Begegnungsräumen zu schaffen, was natürlich eine Neubewertung der Kontroversen um homosoziale Räume mit sich bringen wird, mehr diverses Lehrpersonal einzustellen, mehr assistierendes sozialpädagogisches Personal einzustellen und neue Kooperationsformate mit außerschulischen Einrichtungen zu entwickeln, um das hoheitliche Mandat der öffentlichen Schule aus seiner Verstrickung in das vermeintliche Kulturwächteramt zu lösen.

Als ich diesen Beitrag unter meinen Student*innen in einem Seminar zu intersektionaler Schulreform zur Diskussion stellte, kamen von ihrer Seite weitere sehr konkrete Forderungen ins Spiel: Rassismus und Diskriminierung zu Gegenständen der pädagogischen Forschung machen, die Modulordnung der akademischen Lehramtsausbildung diesbezüglich forschungsnah revidieren (»Der Schrott, den wir hier an der Uni lernen, geht völlig an unseren Interessen und an den Bedarfen der Schüler vorbei!«), die zweite Ausbildungsphase komplett entrümpeln und Referendar*innen und Praktikant*innen nur noch an Schulen schicken, die sich dieser Revision des beruflichen Handelns verpflichtet sehen, landesweit unabhängige Beschwerdestellen für Schüler*innen und Lehrkräfte mit Diskriminierungserfah-

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rung einrichten, Strategien vermitteln, wie Schüler*innenpersönlichkeiten in ihrer Mitverantwortung für das schulische Ganze gestärkt werden können, geschützte (auch homosoziale) Diskursräume einrichten, deutlicher aufzeigen, dass skandalisierte und dämonisierte Kulturen und Nationen mit Blick auf Literatur, Kunst, Film, Architektur und Technologie genauso kulturschaffend sind wie der Westen, ganze Schulkollegien zur kritischen Weiterbildung in Fragen von kultureller Differenzwahrnehmung verpflichten, Schulleitungen mehr in die Pflicht nehmen und Engagement für Diversität an der Schule über leistungsabhängige Elemente der Besoldung belohnen. All diese Dinge können dazu beitragen, die humanistische Grammatik des Schulsystems, die heute mehr denn je in Gefahr ist, zu retten. Es muss darum gehen, wieder die Personen der Schüler*innen in die Mitte des Klassenraums treten zu lassen und sie in Geschichten zu verwickeln: »Stories matter. Many stories matter. Stories have been used to dispossess and to malign, but stories can also be used to empower and to humanize. Stories can break the dignity of a people, but stories can also repair that broken dignity« (Adichie 2009).

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Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen Anforderungen an die religious literacy von schulischen Akteur*innen im Spannungsfeld von Geschlecht, Religion und Bildung Yasemin Karakaşoğlu

1.

Einleitung: Schule als durch den Islam und die Muslim*innen irritierbarer Ort1

Der Islam und die Muslime werden im Kontext von Schule vielfach als Verursacher*innen von mit pädagogischen Maßnahmen allein nicht mehr zu bewältigenden gesamtgesellschaftlichen Problemanzeigen verstanden. Dies findet seinen Niederschlag in zahlreichen Verwaltungsgerichtsverfahren, in denen schulorganisatorische und pädagogische Argumente den religiös begründeten Interessen von muslimischen Schüler*innen und ihren Eltern gegenübergestellt werden. Dies geschieht etwa dann, wenn es um den koedukativen Schwimm- und Sportunterricht, um Sexualkunde, um gängige Ausformungen der Evolutionstheorie, um Speisevorschriften, um das Kopftuch von Schüler*innen und Lehrer*innen, um die Geschlechterverhältnisse oder um Feiertagsregelungen geht (Karakaşoğlu 2010; Behr 2014). Viele dieser Konfliktbereiche berühren die »Frauenfrage als Prüfstein gesellschaftlichen Fortschritts« in den Religionen (Winkel 2018, S. 893). Es sind – so die Kernthese der folgenden Ausführungen – etablierte öffentliche und medial repräsentierte Diskussionen zum (fehlenden) Integrationspotenzial des Islams und seiner als Frauen unterdrückend wahrgenommenen Geschlechterordnung (von Braun/Mathes 2007; Rommelspacher 2010; Schooman 2014), die einen prägenden Rahmen für Umgangsformen darstellen, die relevante schulische Akteur*innen mit dem Islam und den Muslim*innen suchen und finden.

1

Dieser Artikel greift Argumentationen früherer Publikationen (Karakaşoğlu/Klinkhammer 2016; Karakaşoğlu/Kul 2014) auf und entwickelt diese weiter.

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Dabei ist zu beachten, dass Schule einen besonderen Ort sowohl gesellschaftlicher Reproduktion wie auch Innovation darstellt. Schule als für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlich zu besuchende, staatliche Bildungsinstanz mit zentralen (teilweise in Spannung zueinander befindlichen) Funktionen der Integration, der Enkulturation, der Allokation und der Qualifikation (Fend 2006, S. 51) kommt aufgrund dieser Funktionen für die Suche nach einem adäquaten Umgang mit religiöser Pluralität eine hervorgehobene, ja nahezu symbolische Rolle (Nagel 2018, S. 75) als Abbild sowie Zukunftsvision gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu. Diese Funktionsbeschreibung von Schule bildet den Rahmen für die Aufgaben von Lehrer*innen und anderen pädagogischen Fachkräften, die Bildungsprozesse anleiten und begleiten, während sie sich zu den Antinomien zwischen den gesellschaftlichen Ansprüchen und den individuellen Bildungsbedürfnissen in ihrer täglichen pädagogischen Praxis kritisch reflektierend verhalten müssen (Helsper 2004). Was das im Hinblick auf die professionelle Auseinandersetzung mit dem Islam und den Muslim*innen bedeutet, soll im Folgenden in vier Schritten diskutiert werden. Der Beitrag setzt sich mit empirischen Befunden zu gesellschaftlich verbreiteten Einstellungen zum Islam und zu Muslim*innen auseinander – insbesondere unter Bezug auf geschlechtsspezifische Stereotype und ihre Spiegelung in den Einstellungen und Handlungen von Lehrer*innen; er stellt solche Einstellungen den empirischen Befunden zur Bedeutung von Religiosität und Bildung bei jungen Muslim*innen gegenüber und fragt, was dies für pädagogisches Handeln bedeutet; er gibt mit einem Exkurs zum Konzept der religious literacy (Harvard Devinity School) Anregungen für die Professionalisierung von Lehrer*innen im Umgang mit religiös pluralen Verhältnissen in Schule und Gesellschaft.

2.

Diskurse zu dem Islam und den Muslim*innen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und ihre Spiegelung in Einstellungen und Handlungen von Lehrer*innen

In ihrer Untersuchung zur medialen Wahrnehmung von Muslim*innen in Deutschland hat die Historikerin Yasemin Shooman nachgezeichnet, wie im öffentlichen Diskurs Muslimsein zu einer homogen gedachten ethnischen Kategorie verdichtet wird: »Aus einer dominanten gesellschaftlichen Position heraus werden sie unabhängig von einem individuellen Glaubensbekenntnis als eine homogene und quasi-natürliche Gruppe in binärer Anordnung zu weißen christlichen/atheistischen Deutschen bzw. Europäern konstruiert und mit kollektiven Zuschreibungen versehen. Es wird ein Wissen über sie und ihr Wesen als Gruppe erzeugt, und sie gelten anhand verschiedener Merkmale als identifizierbar« (Shooman 2014, S. 65).

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

Indem diese Zuschreibungen öffentlichkeitswirksam wiederholt aufgegriffen und erneuert werden, erhalten gesellschaftlich machtvolle Akteur*innen die Deutungsmacht über die Zuordnung der Einzelnen zu dem verbindenden Wir oder dem auszugrenzenden anderen. Die Zuordnung zu den anderen ist verbunden mit der Zuweisung, weniger zivilisiert zu sein und somit weniger legitimiert, die Gesellschaftsordnung mitzubestimmen. Gleichzeitig bleibt das in diesem Sinne Exotisierte in beinahe vertrauter Fremdheit anziehend, da es dem Rationalen nicht vollständig zugänglich und damit mysteriös, undurchdringlich und potentiell gefährlich erscheint (Mecheril/Castro Varela 2010, S. 42). Wenn von einzelnen, religiös orthodoxen muslimischen Eltern die Evolutionstheorie abgelehnt wird, so wie sie im Fach Biologie als Lehrstoff verankert ist, wenn Befreiung vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht gewünscht wird oder wenn Schülerinnen ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern und in der Schule ein Kopftuch tragen wollen (und das auch seit 1998 vereinzelt der Wunsch muslimischer Lehrerinnen oder Lehramtsanwärterinnen ist), dann wird das nicht in einem allgemeinen Verhältnis von säkularer Schule und religiösen Individuen verhandelt, sondern als illegitimer religiöser Anspruch von Integration verweigernden Muslim*innen (Yurdakul/Hassoun/Taymoorzadeh 2018). Dabei werden Phänomene im Islam, die in ihrer Quantität wie auch in ihrer Aussagekraft für das Ganze, aber auch für die Pluralität religiöser Ausdrucksformen im Islam eigentlich marginal sind, zu allgemeingültigen Merkmalen einer Religion und ihrer Angehörigen erklärt.2 Ein besonderes Augenmerk liegt auf der als unvermeidbar vermuteten Verschränkung von muslimischer Identität und traditionellen Geschlechterrollenvorstellungen. Mediale Stereotype und defizitorientierte Darstellungen tragen maßgeblich zur diskursiven Verschränkung simplifizierender Stereotype und heteronormativ strukturierter Wahrnehmungsperspektiven bei (Hafez/Schmidt 2015; Yurdakul, G./Hassoun, S./Taymoorzadeh 2018). Über die vorherrschende Inszenierung der Muslima, insbesondere ihre Reduktion auf das Bild einer sich männlicher Hegemonie unterwerfenden beziehungsweise von ihr unterworfenen Frau, werden plurale, weibliche Lebensentwürfe und Subjektpositionen von muslimischen Mädchen und Frauen, die, sofern sie ein Kopftuch tragen, als Verkörperung der Migrantin inszeniert werden, unsichtbar gemacht. Über diese Inszenierung der Muslimin als der maximal denkbar anderen Frau werden die Bilder des vermeintlich normalen Eigenen und der Deutschen, die selbst gegen Markierung gefeit sind, hergestellt und aufrechterhalten (Rommelspacher 1995; Lutz/Kulaçatan

2

Während faktisch der Anteil muslimischer Eltern, die ihre Töchter oder Söhne von entsprechenden Unterrichtseinheiten haben befreien lassen, laut der Studie Muslimisches Leben in Deutschland der deutschen Islam-Konferenz 2009 bei 0,1 Prozent lag, betrug der Anteil der Schülerinnen zwischen 11 und 15, die ein Kopftuch trugen, 7Prozent (DIK 2009, S. 183, 196).

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2016). Medien und öffentliche Diskurse entwerfen somit Bilder des Deutschseins durch die Abgrenzung gegenüber Repräsentationen des Fremden. Im Ergebnis verwundert kaum, was eine repräsentative Befragung aus dem Jahr 2014 (Foroutan et al. 2014, S. 26) zutage gefördert hat, nämlich dass 38 Prozent der Befragten angeben, Deutschsein bedeute, auf das Kopftuch zu verzichten. Die Darstellung der muslimischen Frau als der wesenhaft anderen stellt eine Form der sozialen Regulierung über die Akzentuierung des Merkmals Geschlecht dar, wie Winkel in Anlehnung an Rommelspacher (1995) feststellt (Winkel 2018, S. 897): »Ankerpunkt ist die diskursive Problematisierung der islamischen Geschlechterordnung als Gewalt- und Unterdrückungsverhältnis; sie wird als mit der politischen Ordnung säkularer Gesellschaften unvereinbar zurückgewiesen und die gesellschaftliche Stellung von Frauen so zum Prüfstein politischer Intervention gemacht. Religion wird zum Zweck der Stärkung politischer Herrschaft über den Verweis auf die Geschlechterordnung delegitimiert; dass hierbei eine spezifische Symbolisierung von Geschlecht erst produziert wird, bleibt unbeobachtet.« In der Darstellung der unterdrückten Muslima als Repräsentation des fremden Mädchens beziehungsweise der fremden Frau wird diese implizit dem männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und zugleich der nichtmigrantischen, qua ethnokultureller Zugehörigkeit westlich emanzipierten Frau gegenübergestellt. Über die Bezugnahme auf den Islam wird so die Verfestigung ethnisierter Männlichkeiten und Weiblichkeiten möglich. Islam wird zum dominanten kulturellen Deutungsmuster für den Sinn des Handelns von muslimischen Migrant*innen erklärt. Die Geschlechterbeziehung der anderen als Ausdruck von zivilisatorischer Zurückgebliebenheit gegenüber dem eigenen Wir, auch gegenüber dem emanzipierten, aufgeklärten Mann, wird im Anschluss an Spivak zur Absicherung der hegemonialen Ordnung genutzt (Spivak 1985). Im diskursiv verschränkten Dreiklang von Islam, Geschlecht, Integration findet so eine Islamisierung des Migrationsdiskurses (Spielhaus 2013) und eine Feminisierung des Integrationsdiskurses statt.3 Im vermeintlichen Wissen um die anderen kommt es zu einer Verknüpfung von zwei Zugehörigkeitsdimensionen: die Zugehörigkeit zu einer als ethnisch und national gedachten Gruppe mit der Zugehörigkeit zu einer dazu ins Verhältnis gesetzten Geschlechtszugehörigkeit. Beides wird quasi unverrückbar als destruktive Interpretation von Intersektionalität miteinander verknüpft. Die gelegentlich unterschlagenen Befunde, dass insbesondere

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Solche Verschränkungen offenbaren sich zum Beispiel im Rahmen der migrationspolitischen Ziele der CDU/CSU im entsprechenden Regierungsprogramm zur Bundestagswahl 2017: »Integration ist maßgeblich von Frauen abhängig.« Daher werde »ein Schwerpunkt auf die Förderung von Frauen mit Migrationshintergrund gelegt«.

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

Mädchen und jungen Frauen – im Vergleich zu ihren männlichen Pendants aus muslimischen Migrantenfamilien – besonders bildungs- und berufsorientiert seien, kaum einen Gegensatz zwischen Autonomiebestreben und Familienorientierung sähen, sich von ihren Eltern (auch in ihren Bildungsbestrebungen) mental unterstützt fühlten und insgesamt ein eher egalitäres Geschlechterrollenbild hätten, stießen bereits 2004 bei der Veröffentlichung der auf bundesweiten quantitativen Daten beruhenden Studie Viele Welten leben (Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2006) auf Erstaunen seitens der Presse: »Junge Migrantinnen. Karriere statt Kinder, Kopftuch, Koran. Ausländische Mädchen und junge Frauen in Deutschland sind weit karrierebewusster, als die gängigen Klischees behaupten. Eine neue Sozialstudie über das Leben von Migrantentöchtern ist gespickt mit Überraschungen – viele haben ehrgeizige und sehr konkrete Berufspläne und zählen zu den ›Bildungsaufsteigerinnen‹« (Der Spiegel 2004). Die Studie, die hier als »gespickt mit Überraschungen« charakterisiert wird, konnte offenbar mit ihren quantifizierbaren Befunden, die bis dahin in dieser Dichte und Klarheit nicht vorlagen, nur vor dem Hintergrund eines im kollektiven Gedächtnis verankerten Stereotyps über Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund irritieren. Zugleich verweisen diese und ähnliche Reaktionen auf den etablierten Deutungsrahmen im gesellschaftlichen Migrationsdiskurs: Die in dem Zitat als »ausländisch« adressierten Mädchen und jungen Frauen (es waren ausnahmslos Angehörige der in Deutschland aufgewachsenen, zweiten Migrant*innengeneration) wurden ausschließlich in einem muslimischen Kontext verortet, der sowohl die komplexen Lebenswelten der Interviewpartnerinnen als auch ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft ausblendete (Karakaşoğlu/Kul 2014). Gleichzeitig wird dieser muslimische Kontext reduktionistisch in der Alliteration »Kinder, Kopftuch, Koran« als rigider Rahmen konstruiert, der weibliche Subjektpositionen eindeutig vorstrukturiert. Überraschend wirken vor diesem Hintergrund in der logischen Konsequenz Konzepte wie Karrierebewusstsein und konkrete Berufspläne, die der emanzipierten, westlichen Frau vorbehalten zu sein scheinen. Das autonome Subjekt der westlichen Moderne wird in diesem Diskurs dem determinierten (weiblichen) Objekt der antimodernen Migrationsgesellschaft gegenübergestellt. Bildungserfolgreiche und in ihrem Selbstverständnis emanzipierte Migrantinnen erscheinen somit als Irritation des Gewohnten; ihre Existenz hat keine nachhaltige Dekonstruktion des Bildes von der unterdrückten Muslima zur Folge. Die Hinwendung zu Karriere, Berufsplänen und Bildungsaufstieg wird – um mit Birgit Rommelspacher zu sprechen – als Konversion in das westliche Emanzipationsmodell gefeiert. Eine solche mediale Berichterstattung trifft auf Vorbehalte gegenüber dem Islam und den Muslim*innen, die in der Bevölkerung insgesamt weit verbreitet sind.

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Aus früheren Befragungen des Bertelsmann Religionsmonitors geht hervor, dass dreiviertel der Befragten in Ost- und in Westdeutschland der Aussage zustimmen, der Islam passe nicht in die westliche Welt (Bertelsmann 2013). 57 Prozent der Befragten im Osten und 49 Prozent im Westen Deutschlands nehmen den Islam gar als Bedrohung wahr (a.a.O.). Aus der sich so ausdrückenden Bedrohungswahrnehmung werden seit zwei Jahrzehnten weitreichende politische Forderungen abgeleitet, wie etwa Kopftuchverbote an Schulen oder der Ruf nach Verboten von Moscheeoder Minarettbauten. Gegenwärtig führen das aktuelle Parteiprogramm der AfD und die Bewegung Pegida einer ›Islamisierung des Abendlandes‹ das Wort und leiten aus dem Überfremdungdispositiv heraus gleichsam ein völkisches Widerstandsrecht ab. Symbolische Kämpfe um die Wiederherstellung von Heimatgefühl und Normalität umfassen inzwischen auch Essenskonventionen. Der Rückgang des Verzehrs von Schweinefleisch in westdeutschen Schulen und Kitas wird politisiert und unter der Perspektive des Heimatverlustes zum Medienthema gemacht. Dabei wird ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen verzehrter Fleischsorte und heimatlicher Identität hergestellt, etwa wenn wie im 2017 veröffentlichten 10-PunktePlan der CSU4 gefordert wird: »Die Werte und Prägung unserer Heimat sorgen für Identität und Zusammenhalt. Nur wer der eigenen Sache sicher ist, kann anderen offen und tolerant begegnen. Dagegen müssen wir klarmachen: Wer Kreuze abnehmen will, Schweinefleisch verbannen und Martinsumzüge in Lichterfest umbenennen will, ist nicht tolerant, sondern betreibt gefährliche Selbstverleugnung« (Welt Online 2017). Ungeachtet der Tatsache, dass in vielen Bundesländern bereits seit Längerem Feiertagsregelungen für die Befreiung von Muslim*innen an hohen islamischen Feiertagen vom Dienst oder vom Unterricht die Regel sind, wurde ein entsprechender Vorschlag des damaligen Bundesinnenministers de Maizière medial als Ausverkauf des christlichen Erbes hochstilisiert: »Mit seinen Überlegungen zur Einführung eines muslimischen Feiertags in Teilen Deutschlands stößt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) auf Kritik in den eigenen Reihen. ›Unser christliches Erbe ist nicht verhandelbar‹, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt der Bild-Zeitung. ›Islam-Feiertage in Deutschland einzuführen, kommt für uns nicht in Frage.‹« (Spiegel Online 2017). Etwas differenzierter stellt sich das Einstellungsprofil schulischer Akteur*innen dar. Eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen zu Integration und

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Welt online: Hintergründe: Der 10-Punkte-Plan der CSU. https://www.welt.de/newsticker/ dpa_nt/afxline/topthemen/hintergruende/article169419016/Der-Zehn-Punkte-Plan-derCSU.html;zuletzt geöffnet am 03.11.2019.

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

Migration SVR zu Vielfalt im Lehrerzimmer stellt fest, dass negative Einstellungen zu Muslim*innen bei Lehrkräften insgesamt in geringerem Maß auftreten als bei der Allgemeinbevölkerung (SVR 2017).5 Verglichen mit dieser, gibt es bei Lehrer*innen, so die Studie, eher eine Tendenz, religiöse Vielfalt zu akzeptieren. Bei genauerer Betrachtung der Daten wird deutlich, dass diese Einstellung zum einen von der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Lehrer*innengenerationen abhängig zu sein scheint, zum anderen von dem konkret benannten Aspekt des Ausdrucks muslimischer Religiosität. Als besonders ablehnend gegenüber Muslim*innen erweisen sich pensionierte Lehrer*innen, am aufgeschlossensten (bei den meisten, nicht bei allen Einstellungsmustern) die noch in Ausbildung befindlichen Lehrkräfte. Bei letzteren darf vermutet werden, dass sich ihre moderateren Einstellungen aus unmittelbaren gemeinsamen schulischen Sozialisationserfahrungen mit muslimischen Kindern und Jugendlichen herleiten. Die Tatsache, dass von den befragten Lehrer*innen 80 Prozent der Einführung eines Islamischen Religionsunterrichts zustimmen, verweist auf die Überzeugung, dass ein in der staatlichen Schule vermitteltes Wissen über die eigene Religion demokratisierende, integrative Kraft entfalten kann. Was die Kenntnisse die eigene Religion, hier: über den Islam und die Muslim*innen anbelangt, so meinen 54 Prozent der befragten Lehrkräfte, eher viel bis sehr viel über Muslim*innen zu wissen (im Vergleich: Dies gilt nur für 31 Prozent der allgemeinen Bevölkerung). Woher dieses Wissen herrührt, bleibt offen. Folgt man dem Bertelsmann Religionsmonitor, kann vermutet werden, dass es vor allem die Medien sind, die als Informationsquelle über den Islam dienen. Zudem wäre zu beachten, dass ein nicht unerheblicher Teil der Lehrer*innen – immerhin fast die Hälfte der Befragten – angibt, eher wenig bis gar nichts über Muslim*innen zu wissen. Viele der in der Studie abgefragten Haltungen und Einstellungen der Lehrkräfte offenbaren auch Vorbehalte bis abwehrende Positionen gegenüber Muslim*innen, in denen der Islam als Gegensatz zu Bildungsorientierung und zum Bekenntnis der Zugehörigkeit zu Deutschland gesehen wird. So stellt die Studie fest, dass deutlich über ein Drittel aller Lehrkräfte Muslim*innen pauschal für weniger bildungsorientiert halten; dies trifft weniger auf Lehrkräfte in Westdeutschland (37,3 Prozent) als in Ostdeutschland (43,8 Prozent) zu. Das steht in deutlichem Gegensatz zu Befragungen von Eltern etwa mit türkischem Migrationshintergrund und mit überwiegender Zugehörigkeit zum Islam, die sich im Hinblick auf ihre Kinder – so ein durchgehender Befund quantitativer Studien – im Vergleich mit Angehörigen der gleichen sozialen Schicht unter den Nichtzugewanderten als bildungsorientierter erweisen (Baumert/Maaz 2012). Die Autor*innen der Studie des SVR

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Die Studie des SVR 2017 beruht auf Daten aus dem Jahr 2014; 8270 allgemein Befragte, davon 540 Lehrer*innen.

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(2017) schlussfolgern, dass sich diese Einstellung der Lehrer*innen negativ auf ihre Leistungserwartungen im Hinblick auf Kinder aus muslimischen Elternhäusern auswirken kann. Ein nicht unerheblicher Teil der befragten Lehrkräfte äußert sich gegenüber dem Kopftuchtragen junger Muslim*innen skeptisch bis ablehnend und setzt diese Praxis in einen Gegensatz zur Zugehörigkeit zu Deutschland. So stimmen 38 Prozent der befragten Lehrkräfte der Aussage zu, dass, wer ein Kopftuch trägt, nicht Deutsche sein könne. Hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Lehrer*innengenerationen. So sehen 35 Prozent der aktiven und 46 Prozent der ehemaligen Lehrkräfte das Kopftuchtragen in einem Gegensatz zum Deutschsein; das gilt lediglich für 13 Prozent der in Ausbildung befindlichen Lehrkräfte. Deutlicher noch, nämlich zu 50 Prozent, wird das Tragen eines Kopftuchs bei einer Lehrkraft abgelehnt – eine Haltung, in der sich Lehrkräfte nicht von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. Wenn weitere 27 Prozent der Befragten davon überzeugt sind, Muslim*innen seien aggressiver als ihre eigene Gruppe, dann verweist auch dies auf eine nicht unerhebliche Minderheit unter den befragten Lehrkräften, die gegenüber ihren muslimischen Schüler*innen grundlegend vorurteilsbehaftet zu sein scheinen, wobei dies seltener für aktive Lehrer*innen (15 Prozent) als für solche in Ausbildung (25 Prozent) beziehungsweise im Ruhestand (27 Prozent) gilt. Diese Differenzen könnten als Hinweis auf das Auseinanderklaffen von im Schulalltag erlebter Realität und Antizipation gelesen werden. In der Annahme, dass Menschen aus muslimischen Kontexten in ihrer Lebensführung vor allem durch eine wörtliche Auslegung des Korans geleitet seien, begründet sich die Nachfrage der pädagogischen Praxis nach interkulturellen Trainings oder auch konfliktpädagogischen Fortbildungen zum Islam, spezifischer noch zu muslimischen Ehrenkulturen, dem Geschlechterverhältnis im Islam oder ganz grundsätzlich zum Phänomen des so enannten Salafismus6 und der diesbezüglichen Präventionsmöglichkeiten(El-Gayar/Strunk 2014). Das ist dem Erkenntnisinteresse geschuldet, verstehen zu wollen, wie die vermeintlich muslimischen anderen denken und handeln, um daran anknüpfend pädagogische Handlungskompetenz wiederzuerlangen, die angesichts der religions- und migrationsbedingt als belastend empfundenen Herausforderungen mit herkömmlichen professionellen Methoden nicht herstellbar erscheint. Darin äußert sich der in seiner Grundintention durchaus nachvollziehbare pädagogische Wunsch, die als fremd empfundene Religion beziehungsweise die Hinwendung zu ihr bei Jugendlichen als Bestandteil ihrer scheinbar kulturellen Andersartigkeit zu verstehen und darauf basierend Vorschläge für den praktischen Umgang im schulischen Alltag zu erhalten. Materialiensammlungen des bundesweiten Programms »Schule ohne 6

Salafismus hier verstanden als Signum totalitärer, religiös begründeter Ideologie mit Bezug zu Islam.

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

Rassismus – Schule mit Courage« wie Islam und Schule beziehungsweise das Themenheft Islam und ich wollen dem unter anderem auf der Ebene der Identitätsangebote für muslimische Jugendliche begegnen.7 Auch sie aber laufen Gefahr, ihrerseits durch die Auswahl der Themen und die Art der Präsentation neue Bilder bei Lehrer*innen und den Schüler*innen ebenso wie bei den muslimischen Adressat*innen über den Islam zu produzieren und damit die Wir-Sie-Dichotomien, die in der Gesellschaft bereits etabliert sind, auch im Raum Schule zu perpetuieren. Generell stellen Studien zu Unterrichtsmaterialien (GEI 2011) wie auch zu den Ausbildungsgrundlagen für die Lehrer*innenbildung in Deutschland (Doğmuş et al. 2018) fest, dass diese kaum eine Basis bieten für die Ausbildung einer differenzierten, intersektionalen Perspektive auf die Lebensverhältnisse, die Sozialisationserfahrungen und die Bildungsinteressen von Kindern und Jugendlichen aus muslimischen Familien und mit sogenanntem Migrationshintergrund: »Durch die Verabsolutierung des Islam als unzeitgemäß und kulturell nicht passfähig und die Kollektivierung der Muslime allein über ihre religiöse Zugehörigkeit tragen gegenwärtige Bildungsmedien noch immer mit dazu bei, dass Menschen muslimischer Religionszugehörigkeit in Europa Außenseiter bleiben, die in Zeiten einer »gefühlten« Krise zur Zielscheibe emotional aufgeladener Ablehnung und Diskriminierung werden können« (GEI 2011, S. 22). Konflikte mit als muslimisch adressierten Kindern und Jugendlichen werden, und das erscheint aus dieser Perspektive als folgerichtig, häufig pauschal auf deren religiös-kulturelle Herkunft zurückgeführt. Andere Differenzkategorien sowie eine Kontextualisierung des Konflikts im gesamtgesellschaftlichen Rahmen (oder aber im allgemeinen schulischen Gefüge von Pflichten, Rechten und Machtverhältnissen) bleiben dabei unberücksichtigt. Anhand von qualitativ-empirisch analysierten praktischen Beispielen aus Unterrichtssituationen kann gezeigt werden, wie schnell und unhinterfragt der Rückgriff auf kulturalistische Erklärungsmuster zur Analyse einer Konfliktsituation von Lehrer*innen der so genannten Mehrheitsgesellschaft mit Schüler*innen der als muslimisch wahrgenommenen Minderheitsgruppe erfolgt (Freitag et al. 2013; Karakaşoğlu 2010). Im schulischen Kontext8 finden so teilweise essenzialistische Deutungsmuster mit homogenisierenden Zuschreibungen von Eigenschaften und Einstellungen zur religiösen und kulturellen Herkunft statt, auf die sich die betreffende Person in ihrem identitätsbezogenen Selbstverständnis gar nicht bezieht, ja dies unter

7 8

Das Programm Schule ohne Rassismus. https://www.schule-ohne-rassismus.org/materialien/publikationen/;zuletzt geöffnet am 29.10.2019. Entsprechende, von pädagogischen Professionellen vermittelte Deutungsmuster sind nicht auf den schulischen Kontext beschränkt, wie Riegel (2011) in ihrer Studie zum sozialpädagogischen Kontext nachweist.

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Umständen sogar explizit ablehnt. Das macht das Beispiel einer Referendarin mit sogenanntem türkischem Migrationshintergrund und einem allgemein verbreiteten türkischen Vornamen in der Studie von Kul eindrucksvoll deutlich. Sie wird beim erstmaligen Betreten des Lehrer*innenzimmers mit der Bemerkung konfrontiert: »Jetzt kommen die Ayşes auch ins Lehrerzimmer und bringen den Islam mit.« Damit sieht sie sich auf demütigende Weise als »stigmatisiert und mit einer missionarischen Tätigkeit im Namen des Islam verknüpft« (Kul 2013, S. 165). Der Islam als Religion wird als Fremdkörper im staatlichen Raum Schule markiert. Weit verbreitet in der pädagogischen Praxis ist auch das Topos des Pascha, des kleinen muslimischen Macho und analog dazu des unterdrückten Kopftuchmädchens als zugeschriebenes geschlechts- und religionsspezifisches Gruppenmerkmal (Munsch et al. 2007). Die so Adressierten verhielten sich einer weitverbreiteten Annahme zufolge so, weil ihre Kultur so sei (Shooman 2014). Im Effekt kommt es zur »Muslimisierung der Muslime« (Begriff nach Amirpur 2011) und zur »Muslimisierung der Migranten« (Begriff nach Spielhaus 2013). Der recht unmittelbare Rückgriff auf den Islam als Erklärungsfolie für ein Verhalten von Schüler*innen, das Befremden auslöst, erweist sich angesichts einer empfundenen Unübersichtlichkeit von ethnischen Zugehörigkeiten, religiösen Lebensstilen, sittlichen Kodierungen und dergleichen mehr als eine Strategie der Reduktion von Komplexität, die pädagogisches Handeln von individuellen Maßstäben der Normalität abhängig macht. Diese Strategie wird an folgendem Beispiel einer von der Schulpraktikantin und Lehramtsstudentin Daniela Schneider geschilderten Situation (die von Karakaşoğlu/Wojciechowicz 2017 an anderer Stelle differenzierter analysiert wurde) deutlich: »Jetzt die Schule wo ich war, die hat sechzig Prozent Schüler mit Migrationshintergrund. Also ’ne sehr hohe Zahl (.) die besteht hauptsächlich aus äh Russen, Türken und Arabern, was weiß ich was. Ähm äh was mich ganz erstaunt hat, letzte Woche Donnerstag ähm kam ’ne Lehrerin an: ›Ja, die haben Zuckertag.‹9 Und ich dachte: ›Hä, was ist Zuckertag?‹ Und hab wirklich, weiß nicht, also ich wusste es einfach nicht und die Lehrerin guckt mich an: ›Wie, du weißt das nicht?‹ Und ich so: ›Hm, tut mir Leid, ich weiß das nicht.‹ ›Ja, Ramadan ist zu Ende. Und äh die Schüler dürften offiziell an dem Tag fehlen.‹ Und so was find ich geht gar nicht, also ähm dass da die quasi eine Extrabehandlung bekommen ähm und da zu Hause bleiben dürfen und da ist auch Unmut bei den Schülern aufgekommen, also bei den deutschen Schülern. Also ich hab mit denen geredet und die meinten auch, sie finden’s absolut Scheiße, dass da die anderen zu Hause bleiben dürfen, nur weil sie ihren Extrafeiertag da haben« (Karakaşoğlu/Wojciechowicz 2017, S. 521). 9

Das Wort Zuckerfest ist die Übersetzung des türkischen Şeker Bayramı, eine säkulare Brechung des arabischen Begriffs ’Id al Fiṭr (Fest der guten Gabe) als Bezeichnung für die Feiertage zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan.

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

Ein anderer Lehrer erzählt in einer Fortbildung von einem fünfzehnjährigen türkischen, muslimischen Schüler, der sich mit Hinweis, dass das Frauenarbeit sei, weigert, den Klassenraum zu fegen; der Lehrer führt dessen Verhalten auf die übliche häusliche, kulturell bedingte, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zurück, in deren Logik nur Frauen derartige Tätigkeiten ausübten. Für den Lehrer manifestiert sich in diesem Erlebnis der Kulturkampf im Klassenzimmer (Karakaşoğlu 2010). Der Mechanismus, der dazu beiträgt, dass das Verhalten von Kindern aus muslimischen Migrantenfamilien häufig einseitig auf ihre vorgeblich religiöse und kulturelle Prägung zurückgeführt und ihre Individualität ausgeblendet wird, verweist auf ein institutionelles Handeln auf der Basis medial vermittelter Bilder über die Muslim*innen, das sich als institutionelle Diskriminierung niederschlägt. Der Rückgriff auf kulturalistische Erklärungen für abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Muttersprache oder Herkunft, beziehungsweise nichtchristlicher Religion, hat eine die Organisation Schule und ihre Akteur*innen entlastende Funktion. Wenn die fremde Religion als nicht kompatibel mit den als konsensual deklarierten Grundwerten oder gar den Verfassungsnormen betrachtet wird, muss die Ursache für ihr Verhalten nicht mehr in marginalisierenden und diskriminierenden Strukturen und Handlungsweisen der Institution und verantwortlicher Personen gesehen werden. Auf diese Weise wird den Zugewanderten und ihren Kindern Modernisierungsbedarf zugewiesen. Die Institution selbst bleibt unbeeindruckt von Anforderungen der Selbstreflexion und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für den Umgang mit Schüler*innen und Eltern. In diesem Kontext stellt der Ethnologe Werner Schiffauer in einer Studie zum Verhältnis und den Kooperationsmöglichkeiten von Schule, Elternhaus und Moscheegemeinden fest, dass es nicht die vermeintlichen Parallelgesellschaften der islamischen Gemeinden seien, die sich gegenüber Schule abschotten, sondern vor allem massive Vorbehalte von Schulen gegenüber islamisch verfassten Vergemeinschaftungsformen, etwa in Form von Moscheegemeinden. Ihnen werde pauschal Fundamentalismus unterstellt. Das verhindere eine von Seiten der in derartigen Gemeinden organisierten Eltern gewünschte Kontaktaufnahme und den vielbeschworenen Dialog durch Verwehrung des Kontakts seitens der Schulverantwortlichen (Schiffauer et al. 2015).

3.

Empirische Befunde zur Bedeutung und Transformation von muslimischer Religiosität unter Jugendlichen in Deutschland

Anders als der öffentliche, aber in Schulen maßgeblich geführte Diskurs um die monolithisch als Gegenregel zur säkularen Verfassung der Bundesrepublik wahrgenommene Religion des Islams, die – wie im vorherigen Abschnitt deutlich wurde – die schulischen Normalitätserwartungen und etablierten Routinen in besonde-

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rer Weise herausfordert, legt die wissenschaftliche Befassung mit (jugendlicher) Religion in der Migrationsgesellschaft das Augenmerk vor allem auf die Diversität der gelebten Praktiken und auf die Transformationsfähigkeit religiöser Orientierungen und Artikulationen im Migrationskontext, »vorrangig unter Bezug auf den Islam« (Nagel 2018, S. 72). Ein Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Haltungen und Einstellungen von Lehrkräften als zentralen Akteur*innen des schulischen Feldes, erweist sich – das wird ersichtlich an den wiederkehrenden öffentlichen Diskussionen um die vorgeblich integrationsbehindernde Funktion des islamischen Kopftuches10 – als schwer. Dies gilt umso mehr, als nach wie vor überwiegend stereotype Darstellungen des Islams, seiner Geschichte und seiner Angehörigen in der Ausbildung des pädagogischen Personals (Doğmuş et al. 2018) sowie in den dazugehörigen Arbeitsgrundlagen zu finden sind. Für einen großen Anteil der Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund und über alle Religionsgruppen hinweg stellt Religion eine höhere Identifikationskraft dar als für die Peers ohne Migrationshintergrund – mit der Konsequenz, dass diese auch stärker im Alltag praktiziert wird (Bertelsmann 2017). Eine ganze Reihe von bereits zu Beginn der Jahrtausendwende veröffentlichten qualitativ angelegten Untersuchungen konnte zugleich nachzeichnen, wie sich traditionelle religiöse Symbole und Werthaltungen – etwa das Kopftuch oder die Geschlechterrollenverteilung – auch und insbesondere im Migrationskontext nicht zuletzt durch Selbstermächtigungsprozesse, in denen formale wie religiöse Bildung eine wichtige Rolle spielen, und durch die Bedeutungszuweisung seitens der Protagonist*innen verändern (eine Zusammenschau findet sich bei Karakaşoğlu/Klinkhammer 2016, S. 300 f.). Festgestellt wurde etwa, dass dadurch »auch Freiheitsgrade für die religiöse Innovation« entstehen (Nagel 2018, S. 73). Die kann sich in der in Deutschland aufgewachsenen Generation der Nachfahren von muslimischen Einwanderer*innen darin zeigen, dass diese jeweils ihre »religiöse Lebensführung im Benehmen mit den (jugend-)kulturellen Normen der Aufnahmegesellschaft gestalten und hierzu teilweise verschüttete Stränge der religiösen Überlieferung aktivieren« (ebenda). Solche Befunde wiederlegen die These der Relevanz von in sich abgeschotteten Parallelgesellschaften für in Deutschland lebende Muslim*innen. Auch der Bertelsmann Religionsmonitor bestätigt – was die oben erwähnte Studie zu jungen Frauen mit Migrationshintergrund bereits 2005 ermittelt hat –, dass junge Muslim*innen überwiegend offen sind für pragmatisch-inklusive Tendenzen, etwa beim Feiern christlicher Feste wie Weihnachten oder Ostern, und sehr interessiert daran, mehr über andere Religionen zu erfahren. Sie pflegen eine selbstverständliche, alltägliche Praxis von Freizeitkontakten mit Menschen anderer Weltanschauungen (dies

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Zum Thema Kopftuch siehe Karakaşoğlu 2017.

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

gilt für dreiviertel der befragten Muslim*innen), und sie fühlen sich zu 96 Prozent mit Deutschland eng verbunden (Bertelsmann 2017). Bedeutsam für den Identitätsbildungsprozess junger Muslim*innen mit Migrationshintergrund scheint dabei vor allem der Aspekt der Bildung zu sein, dessen Bedeutung im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs kontrovers bewertet wird. Untersuchungen zum Identitätsbildungsprozess muslimischer Jugendlicher in der Migrationsgesellschaft konnten herausarbeiten, dass Bildung, und damit – bezogen auf muslimische Jugendliche in der Migrationsgesellschaft – auch religiöse Bildung von ihnen als Strategie der Identitätstransformation und Selbstpositionierung sowie als Mittel zur »sanften Emanzipation von der Elterngeneration« eingesetzt wird (Karakaşoğlu 2010, S. 416; Geier 2016). Religion beziehungsweise Religiosität wird dabei häufig aus ihrer (familiären) traditionellen Verankerung herausgelöst, transformiert und entkulturiert. Zugleich werden jugendkulturelle globale Anschlüsse hergestellt (Geier 2016). Zugewanderte Jugendliche sind damit aktiv und entscheidend an religiösen und kulturellen Neupositionierungen in der Gesellschaft sowie an kulturellen Transformationen der gesamten Gesellschaft beteiligt (Karakaşoğlu/Klinkhammer 2016). Empirische Studien tragen mit dazu bei, dass die Einsicht darin wächst, »dass religiöse Zugehörigkeiten in Wechselwirkung mit ethnischen und/oder nationalen Zugehörigkeiten eine wichtige Ressource für notwendige Prozesse der Identitätsbildung im Kontext der Migration darstellen« (Lauser/Weißköppel 2008, S. 10), und zwar nicht nur bei muslimischen Jugendlichen. Außerschulische Foren, teilweise in selbst organisierten, religiösen Bildungsräumen (nicht nur, aber zunehmend auch im Internet) gewinnen an Bedeutung; das ist prägnant nachzuvollziehen bei entsprechenden Aktivitäten von Jugendlichen im Rahmen der türkisch-islamischen, global orientierten Gülen- oder Hizmet-Bewegung (Geier 2016). Die erwähnte monolithische Wahrnehmung des Islams als grundlegend different und mit Säkularität und Demokratie unvereinbar, verhindert eine differenzierte Auseinandersetzung sowohl mit den individuellen und hybriden Formen von Religiosität als Teil des Identitätsbildungsprozesses bei jungen Muslim*innen, als auch mit den gesellschaftlichen Bedingungen von religionsdynamisierenden wie auch extremistischen beziehungsweise gewaltorientierten Entwicklungen unter Jugendlichen (Holtmann 2014; Clement/Dickmann 2015; Kiefer et al. 2018). Analog zu den Dynamiken rechtsradikaler Jugendgruppen kann so die Entscheidung für Radikalität im Sinne des so bezeichneten Salafismus als Befreiung von Ambivalenz als überfordernder Begleiterscheinung der (Post-)Moderne verstanden werden, also als eine Ausprägung jugendtypischen Protestverhaltens im Identitätsbildungsprozess unter spezifischen sozialen Bedingungen. Über die mediale Vermittlung und den öffentlichen Diskurs kann sie auch – im Sinne eines Identitätsangebots von staatlicher und gesellschaftlicher Seite – von den Jugendlichen

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als Angebot verstanden werden, sich als heldenhafter Krieger zu inszenieren.11 In den letzten 15 Jahren sind zunehmend auch die Wechselwirkungen zwischen Männlichkeitskonstruktionen und Fremd-Ethnisierungen, zwischen provokativ zur Schau gestellter Männlichkeit und Ausgrenzungserfahrungen untersucht worden (Weber 2003; Mertol 2008). Es finden sich zunehmend Untersuchungen, die herausarbeiten, dass unter den Bedingungen von Marginalisierung und Benachteiligung eine religiös legitimierte, hegemoniale Männlichkeit (Conolly 1998) als Ressource an Wert gewinnt – bei jungen Männern mit und ohne Migrationsgeschichte der gleichen, sozial benachteiligten Schicht (Lutz/Kulaçatan 2016; Melter/Schäfferling 2016).

4.

Religious literacy als Kernkompetenz von Lehrer*innen in der Schule der religiös pluralen Migrationsgesellschaft?

Lehrer*innenhaltungen und -handeln (Karakaşoğlu et al. 2019) sind immer als eingebettet zu betrachten in gesellschaftliche Diskurse und schulische Strukturen. Dies entbindet die professionellen Pädagog*innen nicht von ihrer Verantwortung, sich zu diesen reflektiert und kritisch zu verhalten. Im Gegenteil, sie sind nachdrücklich dazu aufgefordert, sich dem häufig angesichts der omnipräsenten medialen Verdinglichung von Islam und Muslim*innen angeeigneten reflexhafteten Rückgriff auf den Islam als Erklärungsansatz für das Verhalten von Schüler*innen oder ihren Eltern mit muslimischem Migrationshintergrund zu entziehen. Unterstützend könnte dabei die Kenntnis des Konzepts der religious literacy als Element von Lehrer*innenprofessionalität sein. Es bezieht sich sowohl allgemein bezogen auf Religion als gesellschaftlichem Funktionssystem wie auch auf Religion und Religiosität als individuellem Deutungshorizont von Selbst- und Weltverhältnissen. Das von der Harvard Divinity School formulierte Verständnis von religious literacy soll deshalb hier in seinen Leitsätzen als konzeptioneller Ansatz zur differenzierten Auseinandersetzung mit eben jenen pluralen Selbst- und Weltverhältnissen von Religion und Religiosität vorgestellt werden, die pädagogische Kontexte heute prägen. Demnach wäre unter einer mit religious literacy benannten Kompetenz zu verstehen: »The ability to discern and analyze the fundamental intersections of religion and social/political/cultural life through multiple lenses.«12

11

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Dabei wäre darauf hinzuweisen, dass Jugendliche aus ähnlichen prekären sozioökonomischen Verhältnissen ohne Migrationshintergrund ebenfalls eher dazu neigen, demokratieablehnende Haltungen zu entwickeln und zu äußern. Sie für dieses und die nachfolgenden englischen Einschübe: https://rlp.hds.harvard.edu/definition-religious-literacy;zuletzt geöffnet am 11.03.2019.

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

Damit würde deutlich, dass Religion in einem sozialen, politischen und kulturellen Kontext steht und erst im Verhältnis zu diesen Elementen ihre gesellschaftliche und individuelle Wirksamkeit und Bedeutung erschließbar wird. Eine religiös literate, also im engeren Sinne belesene, im weiteren Sinne grundsätzlich gebildete Person wäre folglich im Besitz eines »basic understanding of the history, central texts, beliefs, practices and contemporary manifestations of several of the world’s religious traditions as they arose out of and continue to be shaped by particular social, historical and cultural contexts.« Womit nicht eine ausgewiesene Expertise zu einzelnen Religionen angesprochen ist, sondern ein grundlegendes Verständnis für historische und gegenwärtige Bedingungen und Ausdrucksformen religiösen Denkens und Handelns, mindestens im Rahmen der sogenannten Weltreligionen. Eine religiös literate Person verfügte darüber hinaus über »the ability to discern and explore the religious dimensions of political, social and cultural expressions across time and place.« Sie würde damit die Dimensionen von Zeit und Raum im Hinblick auf ihre Einschätzung religiöser Ausdrucksformen berücksichtigen. Eine dermaßen gebildete Person hätte zudem Einsicht in die allumfassende »importance of understanding religions and religious influences in context and as inextricably woven into all dimensions of human experience.« Die Harvard Divinity School warnt dabei davor, die Bedeutsamkeit von Religionen für menschliches Denken und Handeln alleine über ihre rituellen Praktiken oder sakralen Schriften erschließen zu wollen, denn sie verweist darauf, dass eine religiös literale Persönlichkeit die »inadequacy of understanding religions through common means such as learning about ritual practices or exploring ›what scriptures say‹ about topics or questions« erkennt. Eine in oben bezeichnetem Sinne fundierte religious literacy von unterschiedlichen Fach-Lehrkräften zu erwarten, erscheint angesichts der geringen Anteile, die nicht-fachbezogene Inhalte in der Lehramtsausbildung einnehmen, aktuell illusorisch.13 Sicher kann aber im Rahmen der Ausbildungsinhalte zum Umgang mit Heterogenität, die inzwischen vielerorts etabliert wurden, und angesichts der religiösen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der wahrgenommenen Relevanz

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Zur Frage der Lehramtsausbildung in der Migrationsgesellschaft siehe Karakaşoğlu/Mecheril (2019).

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von Religion und religiösen Riten in der Migrationsgesellschaft zumindest kursorisch eine Sensibilität gegenüber (vorschnellen) religiösen Deutungen ausgebildet werden. Dieser Sensibilität steht, so scheint es mir, gegenwärtig eine dezidierte Distanz gegenüber einer Befassung mit religiösen Grundlagen des Zusammenlebens in der Gesellschaft entgegen, was insbesondere den Islam betrifft. So stellt Dommel (Dommel 2018, S. 467) mit Bezug auf eine qualitative Studie von LischkeEisinger in Baden-Württemberg fest: »Während die christliche Religion auch in den nichtkirchlichen Einrichtungen große Beachtung findet – als kulturelles Wissen, das für alle Kinder als bedeutsam gilt –, werden interreligiöse Themen eher mit Problemen in Verbindung gebracht und nur dann als notwendig betrachtet, wenn es Streit gibt: zum Beispiel um die Gleichstellung der Geschlechter, um Essensregeln oder Kirchenbesuch (LischkeEisinger 2012: 179).« Auffällig sei, dass man dabei die »christliche Kultur« (im Gegensatz zum Islam; Anm. d. Verf.) »als Garanten für säkulare Werte wie Gleichberechtigung oder Glaubensfreiheit« betrachte (Dommel 2018, S. 467). Als eine Lösung von Konflikten in der Migrationsgesellschaft, die wie oben angedeutet häufig als Konflikte der unterschiedlichen Religionsangehörigen miteinander identifiziert werden, wird allerdings, und zwar meist fast ausschließlich mit Blick auf die Schüler*innen, eine theologisch fundierte, religiöse und religionswissenschaftlich beziehungsweise religionskundlich basierte Bildung in der Schule betrachtet (Kenngott 2013; Kenngott et al. 2015). Dies steht durchaus im Widerspruch zu der oben mit religious literacy erfassten Kompetenz. Zusammengefasst unter der Bezeichnung des interreligiösen Dialogs in der Schule wird erwartet, dass dieser Unterricht die Schüler*innen darauf vorbereite, sich miteinander friedlich über ihre religiösen Differenzen austauschen zu können und Integrationsprobleme, die auf vermuteten Unterschieden in Werte- und Normensystemen beruhten, dadurch bereits im Vorfeld auszuschalten (ebenda). Kinder sollten zu ihrer Religion religiös sprechfähig und diskursfähig werden und damit auch abwehrbereit gegenüber religiös-fundamentalistischen Zugriffsversuchen – das zuletzt Genannte bislang eher bezogen auf islamische Bewegungen. Kritik an dieser Annahme, dass der auch als Religionsgespräch bezeichnete Dialog zwischen den Konfessionen einen substantiellen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden leisten könne, kommt unter anderem aus einer machtkritischen Perspektive (Radtke 2011). Ihr zufolge stellt er eine asymmetrische Hierarchiebeziehung zwischen den Akteur*innen mit unterschiedlich gesellschaftlich etablierten religiösen Affiliationen dar, die nun gerade nicht über einen sogenannten interreligiösen Dialog aufgehoben werden könne.

Der Islam und die Muslim*innen als Provokation schulischer Normalitätsvorstellungen

5.

Fazit

Unter Bezug auf quantitative und qualitative Studien aus den letzten zwei Jahrzehnten konnte verdeutlicht werden, inwiefern und in welchem Ausmaß sich nicht nur bezüglich der Allgemeinbevölkerung, sondern auch der Lehrer*innen stereotypisierende, ablehnende und feindselige Haltungen und Einstellungen zum Islam und zu Muslim*innen nachweisen lassen. Sie beruhen nicht auf einer fundierten Auseinandersetzung mit der Religion und ihren Angehörigen, sondern größtenteils auf Einflüssen medialer Repräsentationen, und sie haben Einfluss auf den Umgang mit muslimischen Schüler*innen im Schulalltag. Im Gefüge von Schule kommen Muslim*innen bislang vornehmlich als das Fremde und die anderen vor (Dommel 2018, S. 467; GEI 2011, S. 22), auch wenn sie in manchen Vierteln westdeutscher Großstädte eine Mehrheit der Schüler*innen darstellen. Wenn Religionen, darunter besonders präsent der Islam, für einen zunehmenden Teil von Kindern und Jugendlichen zu einer alltäglich erfahrbaren Dimension werden, dann wäre es wichtig, Wissen über den religiösen Ursprung von Weltdeutungen, von Traditionen und Normen als Bestandteil einer fächerübergreifenden Allgemeinbildung für die Lehrer*innenbildung und für den schulischen Diskurs zu definieren. Ein Vorbild sieht Dommel hier in Großbritannien verwirklicht, das religious education for all postuliert, was so viel bedeutet wie Vertrautheit mit religiösen Traditionen und Deutungsangeboten, die in den Alltag hineinspielen. Dieser Ansatz weist Verbindungen zu dem oben genannten Konzept der religious literacy auf (Dommel 2018, S. 467 f.). Es geht um eine »Anerkennung der Perspektivität religiösen Denkens«, die selbiges nicht per se einer Geisteshaltung des Ewiggestrigen zuteilt (ebenda). Konflikte mit als muslimisch adressierten Kindern und Jugendlichen werden (ohne Berücksichtigung anderer Differenzkategorien oder der situativen Einbettung des Konfliktes in das allgemeine schulische Gefüge von Pflichten, Rechten und Machtverhältnissen) häufig pauschal auf einen Islam zurückgeführt, der als (antizipierte) religiös-kulturelle Herkunft konstruiert wird. Bilder von Muslim*innen bei Lehrer*innen, die sich auf deren Umgang mit den Schüler*innen auswirken, verweisen auf Phänomene des antimuslimischen Rassismus (Attia 2013), der latent seine Wirksamkeit entfaltet, ohne dass er sich zwangsläufig als intendierte Haltung oder Einstellung im Bewusstsein von Lehrer*innen abbilden muss. Vor dem Hintergrund, dass der Islam gesellschaftlich überwiegend mit negativen Attributen belegt ist, können sich auch Lehrkräfte in ihren Haltungen und in ihrem pädagogischen Handeln diesen Stereotypen kaum entziehen (Karakaşoğlu/Doğmuş 2016). Die produktive, Resilienz fördernde Bedeutung von muslimischer Religiosität für Jugendliche kann sich ihnen ebenso wenig erschließen wie eine notwendige Differenzierung sehr unterschiedlicher Bezüge, die Kinder und Jugendliche aus muslimischen Familien zu Religion haben. Der Islam wird damit zu einem Störfaktor, ja zu einer Bedrohungsfigur für die Schule, und der Umgang mit Muslim*innen zu ei-

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ner kaum zu bewältigenden Aufgabe (Karakaşoğlu 2010). Vielfach wird die Lösung in einer besseren religiösen Bildung derjenigen gesehen, die als Verursacher*innen dieser Störungen identifiziert werden. So sollen die Muslim*innen über einen aufgeklärten Zugang zu ihrer Religion besser anschlussfähig an gesellschaftliche und damit auch schulische Normalitätserwartungen gemacht werden. Ausgeblendet wird dabei die notwendige Selbstreflexion der Pädagog*innen zu ihren eigenen Bildern von und zum Umgang mit Muslim*innen im schulischen Alltag. Im Sinne der hier skizzierten Idee einer religious literacy wären sie aufgefordert, sich mit eben diesen Bildern, ihren historischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, Hintergründen und Funktionen aktiv auseinanderzusetzen und eine informierte und reflektierte persönliche Umgangsweise mit Praktiken und Ausdrucksformen, die sie als muslimisch identifizieren, im Kontext von Schule zu entwickeln.

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Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren Universitäre Angebote für Geflüchtete und Migrierte Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht

1.

Einleitung1

Es gibt viele Geflüchtete und Migrierte, die auf eine akademische Bildung, die sie in ihren Herkunftsländern begonnen oder abgeschlossen haben, zurückblicken und in den jeweiligen Aufnahmeländern – also zum Beispiel in Deutschland – nach geeigneten Angeboten suchen, um sie gegebenenfalls fortzusetzen.2 Häufig sind sie allerdings damit konfrontiert, dass ihre erworbenen Hochschulabschlüsse nicht oder nicht ohne Zusatzbedingungen oder Zusatzqualifikationen anerkannt werden. Neben dieser eher formalen Nicht-Anerkennung wirken familiäre Belastungen, finanzielle Hürden, sprachliche Barrieren und unüberschaubare Lebenssituationen als Gründe, die eine Fortsetzung der akademischen Bildungsbiografie erschweren (Stifterverband 2017, S. 22 f.). Zudem ist es in vielen Disziplinen und Professionen oft keine leichte Aufgabe, die bereits erworbenen Wissensbestände und Kompetenzen in den neuen Handlungsfeldern nutzbar zu machen und zu erweitern, zumal komparative Möglichkeiten und Kompetenzen, die sich durch Herkunftssprachen und internationale Netzwerke ergeben, eher selten als Ressourcen 1

2

Der vorliegende Text erscheint in einer sehr ähnlichen Fassung ebenfalls in einem anderen Sammelband (Darowska 2019). Zudem haben wir an einigen wenigen Stellen Passagen aus eigenen Arbeiten, die teilweise bereits publiziert wurden, ohne besondere Kennzeichnung eingefügt und überarbeitet (Leiprecht 2019a, 2019b; Hertlein 2019). Dies ist vor allem bei den Abschnitten Einleitung, 1. Zur Genese der Angebote und 7. Rassismus/Besonderung der Fall. Nach Ergebnissen der sogenannten IAB-BAMF-SOEP-Untersuchung, die 2016 startete und in deren Rahmen mit repräsentativem Anspruch ein breiter Querschnitt von Geflüchteten im Alter ab 18 Jahren regelmäßig befragt wird, gaben in den ersten Befragungsrunden 18 Prozent an, bereits im Herkunftsland eine Hochschule besucht zu haben, wobei 12 Prozent einen Abschluss erworben hatten (Brückner 2017, S. 27 ff.; für eine ausführliche Zusammenfassung der aktuellen Daten Drewes 2018: https://www.hawk.de/sites/default/files/2018-07/ der_lange_weg_ins_studium_forschungsbericht_hawk-open_web-1_0.pdf; zuletzt geöffnet am 04.11.2019).

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Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht

gesehen werden. Insgesamt stehen einem direkten Übergang allzu oft formale und informelle Nicht-Anerkennungsverhältnisse entgegen. Naheliegenderweise möchten viele trotzdem ihre akademische Bildungsbiografie fortsetzen,3 benötigen dazu aber Angebote, die mehr oder weniger passgenaue Anschlüsse ermöglichen. Nun ist es leider in Deutschland, aber auch (nach unserem Wissensstand) in der gesamten EU immer noch ungewöhnlich, dass sich Fachdisziplinen an Hochschulen in der Verantwortung sehen, Bildungs- und Studienangebote zu entwickeln, die hier ansetzen. In den verschiedenen Fachdisziplinen wird zwar häufig die Förderung des akademischen Nachwuchses thematisiert und mit Maßnahmen unterlegt; Geflüchtete und Migrierte mit (begonnener) akademischer Bildungsbiografie geraten jedoch kaum als Teil der jeweils eigenen scientific community in den Blick. Verbreitet sind Programme, die hochschulweit eine Art Studium generale oder – seit 2015 – ein allgemeines Orientierungsjahr anbieten. Es fehlen jedoch spezifische Angebote, die direkt mit fachlichen Themen und Inhalten verbunden sind, einen Abschluss in dem entsprechenden Studienfach ermöglichen und von dieser Fachdisziplin ausgehen. Auch an einzelne Fächer gekoppelte akademische Weiterbildungsangebote für Geflüchtete, die von Vertreter*innen einer Fachdisziplin initiiert und verantwortet werden, sind sehr selten. Am Institut für Pädagogik und am Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC)4 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg haben wir hier im fachlichen Bereich der Erziehungswissenschaften/Pädagogik ein zweistufiges Programm entwickelt.5 In einer ersten Stufe geht es dabei um eine universitäre Weiterbildung, die neun bis zehn Monate umfasst. Sie existiert seit 2004. Heute lautet ihr Titel Pädagogische Kompetenz in der Migrationsgesellschaft.6 Teilnehmer*innen sind Geflüchtete und Migrierte, die in ihren Herkunftsländern bereits eine Ausbildung abgeschlossen oder ein akademisches Studium absolviert oder begonnen haben und teilweise bereits in sozialen beziehungsweise pädagogischen Arbeitsfeldern tätig waren (Walther 2019, S. 16). In einer zweiten Stufe wurde im Wintersemester 2006/2007 darauf aufbauend ein Bachelorstudiengang eingerichtet, der heute den Namen Pädagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft (PHM) trägt und nicht (wie meist üblich) drei Jahre umfasst; da unter anderem die Leistungen aus

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Die Schätzungen zu den Geflüchteten, die in den nächsten Jahren ein Hochschulstudium aufnehmen werden, gehen von bis zu 100.000 Personen aus (Stifterverband 2017, S. 22 f.). Beziehungsweise bis 2012 ihre Vorgängerorganisation Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM). Wir als die Verfasser*innen dieses Textes sind an den hier vorgestellten Programmen aktiv beteiligt. Die Weiterbildung wird in der laufenden Förderperiode bis Ende Juni 2020 unter anderem aus Mitteln der EU, des Landes Niedersachsen (Sozialministerium) und der Stadt Frankfurt a. M. finanziert.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

der Weiterbildung anerkannt werden,7 sind für den Studienverlauf zwei Jahre vorgesehen (Hertlein 2019, S. 60). Zunächst noch als Projekt gestaltet und finanziert, ist der Studiengang seit dem Wintersemester 2017/2018 ein fester und auf Langfristigkeit und Regelmäßigkeit angelegter Bestandteil des Studienangebots an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Als solcher hat er auch ein Akkreditierungsverfahren erfolgreich durchlaufen. Fachlich-inhaltlich sind Weiterbildung und Studiengang auf (sozial)pädagogische Fachdiskurse ausgerichtet und an entsprechenden Handlungsfeldern orientiert. Ziel der Angebote ist unter anderem eine migrationsgesellschaftliche Öffnung der Universität. Geflüchtete und Migrierte mit entsprechender Vorbildung sollen stärker als bisher Anschluss an und Zugang zu akademischer Bildung in Deutschland haben und es sollen weniger Ausschlüsse produziert werden. Zudem sollen internationale Erfahrungen, Migrationserfahrungen, komparative Perspektiven und Fremdsprachenkenntnisse in besonderer Weise als wertvolle Ressourcen gesehen werden. Insgesamt soll ein Mehr an gesellschaftlicher Diversität Eingang finden in die Lehrveranstaltungen, Sprechstunden, Gremiensitzungen, Einrichtungen, Praxisund Forschungsprojekte der Universität. Es gibt also viele, viele Solls, und wir haben den Eindruck, dass wir auf dem Weg bereits ein gutes Stück weit gekommen sind, das Ziel jedoch noch lange nicht erreicht haben. Wir haben zweifellos Erfolge und arbeiten kontinuierlich an Verbesserungen. Gleichzeitig kämpfen wir8 aber auf verschiedenen Ebenen mit immer neuen Hindernissen. Es ist leider so, wie der Titel des Films (Leiprecht/Willhems 2017), den wir zum zweistufigen Angebot produziert haben, ankündigt: »Aber kämpfen musst Du schon!« Dies gilt zwar insbesondere für diejenigen, die sich als Bewerber*innen für unsere Angebote interessieren oder diese besuchen, aber eben auch für uns als Verantwortliche in Wissenschaft, Lehre und Entwicklung. Im Folgenden wollen wir über diese Auseinandersetzungen und ihre Geschichte und Gründe berichten und die Entwicklungen analysieren, zugleich aber das Erreichte und seine Vorzüge darstellen. Dabei ist unser Beitrag so aufgebaut, dass zunächst die Bildungsangebote, und dabei vor allem der BA PHM, beschrieben und eher die aus unserer Perspektive innovativen und bedeutsamen Gesichtspunkte hervorgehoben werden (mit den Abschnitten 1. Zur Genese der Angebote an der Universität Oldenburg, 2. Struktur und Aufbau des Bachelorstudiengangs PHM, 3. Zu den Studierenden und 4. Zugang und Zulassung). Erst danach werden problematische Prozesse dargestellt und untersucht (mit den Abschnitten 5. Servicestelle uni-assist e. V., 6. Die

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Zu den Zugangsvoraussetzungen siehe unten, 4. Zugang und Zulassung. Andrea Hertlein ist seit 2009 Dozentin und Rudolf Leiprecht seit 2001 Hochschullehrer am Institut für Pädagogik. Beide sind mit Koordinierungs-, Entwicklungs-, Beratungs- und Lehraufgaben im Kontext der hier beschriebenen Angebote befasst.

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deutsche Sprache und 7. Rassismus/Besonderung), wobei auch deutlich werden wird, wodurch die Fortführung der Angebote gefährdet ist.

2.

Zur Genese der Angebote an der Universität Oldenburg

Die deutsche Green Card9 wurde im August 2000 eingeführt. Sie sollte eine Option sein, ausländische Expert*innen aus sogenannten Drittstaaten – das heißt Nicht-EU-Bürger*innen10 – nach Deutschland zu holen, um den Mangel an ITFachkräften auszugleichen (Hertlein 2019, S. 56). Allerdings berücksichtigte diese Perspektive auf ausländische Spezialist*innen nicht die bereits in Deutschland lebenden Migrant*innen und deren akademische Qualifikationen. Die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung unseres Oldenburger Kollegen Anwar Hadeed in den Jahren 2002/2003 zur beruflichen Situation hochqualifizierter Migrant*innen in Niedersachsen verdeutlichte die paradoxe Situation: Trotz akademischer Vorbildung und teilweise langjähriger akademischer Berufspraxis, beides in Deutschland nicht anerkannt, übte ein Großteil der Befragten Tätigkeiten in angelernten, schlecht bezahlten und nicht abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen aus.11 Zudem wurden die Personen von den arbeitsmarktpolitischen und arbeitsmarktrechtlichen Akteur*innen der relevanten Institutionen nicht wahrgenommen (Hadeed 2004). Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Studie wurde zunächst die universitäre Weiterbildung Kontaktstudium konzipiert und eingeführt. Die anschließende, erste Evaluation dieser Weiterbildung und Gespräche innerhalb der Universität führten dann zu der Idee, zusätzlich einen Studiengang zu entwickeln, um unter anderem den Absolvent*innen durch ein Studium die Möglichkeit zu eröffnen, an ihre unterbrochenen Bildungs- und Arbeitsbiografien wieder anzuknüpfen und einen akademischen Abschluss zu realisieren, der eine professionell-qualifizierte Berufstätigkeit ermöglichen würde. Angeknüpft werden sollte dabei auch an den Erfahrungen, die die Absolvent*innen der Weiterbildung Kontaktstudium in Deutschland gemacht hatten. Nicht wenige waren im Verlauf ihrer Migration mit sozialpädagogischen Handlungsfeldern in Kontakt gekommen und hatten bereits in diesem Feld gearbeitet, allerdings – ähnlich wie in der erwähnten Studie von Hadeed (2004) – im Rahmen 9

10 11

Verordnung über Aufenthaltserlaubnisse für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie (IT-ArGV). Vom 1. August 2000 bis zum 31. Dezember 2004 wurden 13.041 Arbeitsgenehmigungen erteilt (BAMF 2005, S. 82). Nicht-EU-Länder wie die Schweiz, Norwegen, Lichtenstein oder Kanada und die USA (Europarat 2019) werden allerdings nicht dieser Drittstaaten-Kategorie zugeordnet. Auffällig waren die vorwiegend prekären Vertragsverhältnisse, nicht selten in Teilzeit und meist ohne Aussicht auf berufliche Aufstiege oder eine Verfestigung der Arbeitsverhältnisse.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

einer ehrenamtlichen Tätigkeit beziehungsweise in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Mit dem Erfolg der Weiterbildung Kontaktstudium, den Erkenntnissen der erwähnten Studie, der anhaltenden Nachfrage von Studieninteressierten und dem Wissen um die beruflichen Situationen der potenziellen Bewerber*innen startete vor 13 Jahren an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg erstmals ein verkürzter pädagogischer Bachelorstudiengang mit 24 Student*innen. Bis heute haben von ihnen ca. 100 den Bachelorstudiengang abgeschlossen. Im Moment sind weitere 30 Student*innen im Studiengang eingeschrieben. Die Abbruchquote beträgt lediglich elf Prozent.12 Nur ein (allerdings größer werdender13 ) Teil der Absolvent*innen der Weiterbildung Kontaktstudium beginnt anschließend ein Studium, die allermeisten davon im BA PHM. Seit Einführung des Studiengangs beziehungsweise seines auf Projektbasis angebotenen Vorläufermodells haben 21 Prozent der Absolvent*innen der Weiterbildung ein Studium im BA PHM aufgenommen. Ziel des Studiengangs war und ist zum einen die Qualifizierung der adressierten Student*innengruppe; zum anderen sollte und soll jedoch »über die Reflexion und Analyse des Studiengangs auch ein allgemeiner Beitrag zur Frage geleistet werden, wie Universität sich vermehrt gegenüber bisher institutionell eher vernachlässigten Bildungsaspirationen und Bildungswünschen öffnen kann« (Hertlein 2019, S. 58).

3.

Struktur und Aufbau des Bachelorstudiengangs PHM

Das Lehrangebot ist als Vollzeitstudium konzipiert, wobei auch ein Teilzeitstudium möglich ist. Der Gesamtumfang beträgt 180 Kreditpunkte (KP14 ). Da der Studiengang Personen adressiert, die im Ausland eine Hochschulzugangsberechtigung erworben haben und zudem eine akademische Bildungsbiografie in Bereichen aufweisen, die mit der Pädagogik und Sozialpädagogik verwandt sind, wurde eine besondere Anerkennungspraxis als Regelvorgang im Studiengang verankert. Dadurch bekommt der Studiengang eine spezifische ›äußere‹ Form: Das Basiscurriculum (60 KP) wird im Zulassungsverfahren durch den Nachweis entsprechender 12

13

14

Dies ist ein sehr günstiger Wert. Im Vergleich dazu lag 2016 in Deutschland die Abbruchquote im Durchschnitt der Bachelorstudiengänge aller Fächer bei 28 Prozent, wobei in der Gruppe der sogenannten ›Bildungsausländer*innen‹ sogar 45 Prozent ihr Bachelorstudium abgebrochen haben (Bildungsbericht 2018, S. 163 und Tab F4-4). Der Anteil der Student*innen im BA PHM mit der Vorqualifikation Weiterbildung Kontaktstudium stieg in den letzten Durchgängen von 14 Prozent auf 44 Prozent und lag im Wintersemester 2018/2019 bei 62 Prozent. Entspricht der üblichen Angabe »CP« gemäß ECTS.

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Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht

Vorleistungen der Bewerber*innen anerkannt und angerechnet. Diese Vorleistungen, die im Herkunftsland oder aber auch durch den erfolgreichen Besuch der Weiterbildung Kontaktstudium erworben wurden, setzen sich zusammen aus dem Bereich des pädagogischen Fachstudiums (36 KP)15 und weiteren Leistungspunkten (24 KP), die vergleichbar mit den Inhalten und Themen des allgemeinen Professionalisierungsbereichs an der Carl von Ossietzky Universität sein müssen.16 Durch diese Anerkennungspraxis beginnt das Studium mit dem dritten Fachsemester, wodurch faktisch ein zweijähriger Bachelorstudiengang entsteht.

Abbildung 1: Studienverlaufsplan

Inhaltlich und thematisch orientiert sich das Modulangebot des Studiengangs unter anderem an den Vorgaben der Sektion Interkulturelle und international vergleichende Erziehungswissenschaft in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Vermittelt werden in den Modulen »Grundlagen über historische, politische, rechtliche und administrative Rahmenbedingungen der Bundesrepublik Deutschland, die im Migrationskontext 15

16

Bei der Entwicklung der Module der Weiterbildung Kontaktstudium wurde deshalb darauf geachtet, dass sie auch den Modulen des Basiscurriculums des Bachelorstudiengangs Pädagogik an der Carl von Ossietzky Universität entsprechen. Dieser universitätsweite Professionalisierungsbereich umfasst zum Beispiel Angebote aus Anglistik, Biologie, BWL, Chemie, Germanistik, Informatik, Journalistik, Jura, Kunst, Mathematik, Musik, Philosophie, Religion, aber auch Angebote zu Projektmanagement, Forschungsmethoden, Statistik und zum Erlernen von Fremdsprachen, um nur einige Beispiele von über 500 Angeboten zu nennen.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

und zum Aufbau migrationsgesellschaftlicher Handlungskompetenz in pädagogischen Berufsfeldern von besonderer Relevanz sind. Zentrale Elemente aus den erziehungs-, sozial- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen werden im Hinblick auf migrationsgesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse aufgegriffen und vertieft.« (Hertlein et al. 2017, S. 13) Dabei geht es auch um eine Auseinandersetzung mit Differenzdimensionen (und ihren Verschränkungen und Überlagerungen) wie Geschlecht, Sexualität, Ethnie, Nation, Kultur, ›Rasse‹, soziale Klasse, Schicht, besondere Befähigung/special needs sowie Alter und Generation, wobei jeweils die Frage nach der Bedeutung in pädagogischen Handlungsfeldern und für eine professionell-pädagogische Praxis im Vordergrund steht. Die Studienschwerpunkte Sozialpädagogik und Migrationspädagogik werden zudem so kombiniert, dass eine handlungswissenschaftliche, auf berufliche Praxisfelder sozialer Arbeit bezogene Ausrichtung möglich wird. Begleitet werden die Angebote von einem Modulstrang, der sich über alle vier Semester zieht und sich mit der Wissenschaftssprache Deutsch und ihrer Aneignung befasst. Insgesamt sind die Module so aufgeteilt, dass die eine Hälfte für die Student*innenkohorte des Bachelorstudiengangs Pädagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft reserviert ist (in der Abbildung 1 weiß unterlegt), während die andere Hälfte im Bachelorstudiengang Pädagogik angeboten und für alle BAStudent*innen des Faches geöffnet ist (in der Abbildung 1 grau und dunkelgrau unterlegt). Es war uns wichtig, zum einen spezifische Veranstaltungsformate anzubieten, in denen die Student*innenkohorte in einer Art ›geschütztem Raum‹ reflektiert, diskutiert und lernt, zum anderen sollten aber Veranstaltungen gemeinsam mit den Student*innen des Bachelorstudiengangs Pädagogik besucht werden, um Isolation und Abschottung entgegenzuwirken sowie selbstverständliche Kommunikations- und Interaktionsanlässe und Reflexionsmöglichkeiten nahezulegen. Es ist ein großer Vorteil, wenn nicht so sehr übereinander, sondern miteinander gesprochen wird, und zwar als Gleichwertige innerhalb eines gemeinsamen Fachs (Leiprecht 2019, S. 235 f.).

4.

Zu den Student*innen

4.1

›Non-traditional-students‹

In den Unterlagen zur Akkreditierung des BA PHM haben wir die Gruppe der zu adressierenden Student*innen als ›non-traditional-students‹ bezeichnet: »Sie sind auf Grund von transnationalen Migrations- und Fluchterfahrungen sowie Familiengründungen, Erfordernissen des Geldverdienstes etc. in der Regel älter als durchschnittliche Studierende an Universitäten in Deutschland und

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Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht

verfügen auf Grund ihrer beruflichen (und teilweise familiären) Eingebundenheit über spezifische Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen. Darüber hinaus haben sie als transnationale Migrant*innen linguale Dispositionen und akademische sowie lebensweltliche Wissensressourcen, die nicht immer ohne weiteres in den Lehr-Lern- und sozialen Verhältnissen deutscher Universitäten anerkannt werden« (Hertlein et al. 2017, S. 1). Damit haben wir nicht nur auf einige besondere Merkmale dieser Student*innengruppe aufmerksam gemacht, sondern zugleich – wenn auch in einer eher ›sanften‹ Form – auf die Praxis der Nicht-Anerkennung hingewiesen. Es ist deutlich, dass es hier um eine Student*innengruppe geht, die von den Hochschulen bislang nicht oder kaum wahrgenommen wurde. Die Student*innen im BA PHM können also insofern als ›nicht traditionell‹ bezeichnet werden, als Hochschulen sie bislang eher ignorieren und in ihren traditionellen Angeboten, Zugangsordnungen und Strukturen von einem Student*innen-Typus ausgehen, deren Biografie, Lebenslage, Lebensalter etc. sich in aller Regel deutlich von den Voraussetzungen und Umständen ›nicht traditioneller‹ Student*innen unterscheiden. Allerdings wird die Bezeichnung ›nicht traditionelle‹ Studierende aus nachvollziehbaren Gründen auch kritisiert. So machen beispielsweise Fanny Isensee und Andrä Wolter in ihrer international vergleichenden Untersuchung darauf aufmerksam, dass »gelegentlich […] jede Abweichung vom ›Normalstudierenden‹ oder der studentischen ›Normalbiografie‹ zum Merkmal von ›nicht traditionell‹ wird – in der Spannweite von First-Generation-Students, internationalen Studierenden, Student*innen mit Migrationshintergrund, Student*innen mit Behinderung/gesundheitlicher Beeinträchtigung, Teilzeit- und Fernstudierenden oder Student*innen mit beruflicher Qualifikation« (Isensee/Wolter 2017, S. 14). Zudem führt diese weite Begriffsfassung nach Isensee und Wolter »zu einer statistischen Überschätzung des Grades an struktureller Offenheit im deutschen Hochschulsystem, weil kumuliert mehr als die Hälfte aller Student*innen in eine dieser Kategorien fällt, aber fast jede einzelne dieser Gruppen (mit Ausnahme der international Studierenden) stark unterrepräsentiert ist. Auch die Förderinstrumente – finanziell oder studienorganisatorisch – unterscheiden sich zwischen den Gruppen erheblich« (ebd.). Es ist deutlich, dass die Bezeichnung ›nicht traditionell‹ für geflüchtete und migrierte Student*innen mit einer akademischen Biografie und mit beruflicher Ausbildung nicht umfassend greift. Trotzdem handelt es sich um eine Student*innengruppe, deren Bedarfe sich aufgrund ihrer Migrationsgeschichte und ihres Aufenthaltsstatus, ihrer beruflichen Aspirationen und Bildungsbiografien, ihrer Lebens-

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

lagen sowie ihrer Erfahrungen von Nicht-Anerkennung in Deutschland signifikant von den Bedarfen sowohl eines traditionellen Student*innen-Typus als auch des definierten ›nicht traditionellen‹ Student*innentypus unterscheiden.

4.2

›International Studierende‹

In den administrativen Bereichen von Hochschulen werden Bewerber*innen und Student*innen, deren Profile denen des BA PHM ähneln, in aller Regel der Kategorie der sogenannten ›international Studierenden‹ zugeordnet. Dies ist auch an unserer Universität der Fall. Der Hinweis auf ›international‹ passt zu den Internationalisierungsbemühungen an vielen Hochschulen und suggeriert Modernität, Vernetzung, Weltgewandtheit und vor allem Mobilität, obwohl diese positiven Konnotationen eine negative Rückseite haben, wenn es um die mit Internationalität meist nichtgemeinte und oft eher zurückgewiesene Mobilität von Menschen aus Armuts- und Krisenregionen geht (Lutz 2009, S. 8 ff.). Die Zuordnung selbst folgt der Logik des Erwerbs der Hochschulzulassung (HZB) aus dem jeweiligen Herkunftsland. Dieses Kriterium beeinflusst viele Aspekte des weiteren Verfahrens, von der Bewerbung über die Immatrikulation bis hin zu den universitären Angeboten während des Studiums. So werden Studienbewerber*innen zum Beispiel wichtige Informationen, vor allem Entscheidungen wie die Zulassung, ausschließlich online zugestellt, da die (irrtümliche) Annahme vorliegt, dass sie sich noch im Ausland aufhalten und über keine bundesdeutsche Postadresse verfügen. Auch bekommen sie mit der Immatrikulation oft Einladungen sowie Informationen, die explizit auf Student*innen ausgelegt sind, die tatsächlich erst zum Studienbeginn nach Deutschland einreisen und sich orientieren wollen. Student*innen im BA PHM unterscheiden sich von den herkömmlichen ›international Studierenden‹ im Durchschnitt aber deutlich in Bezug auf Aufenthaltsstatus, Sprachkenntnisse, Studienmotivation, Studienerwartungen und Studienwirklichkeit, Lebensalter, Familienstatus (nicht selten mit Kindern), Lebensverhältnisse und Berufserfahrungen.

4.3

Statistische Daten zu Studierenden im Vergleich

Allerdings handelt es sich weder bei den ›international Studierenden‹ noch bei den Student*innen im BA PHM um eine homogene Gruppe und beide Begriffe – ›nicht traditionelle‹ Student*innen und ›international‹ Studierende – haben deutliche Schwächen. Trotzdem lohnt es sich, die durchschnittlichen Unterschiede einiger ›Teilgruppen‹ aus dem BA PHM (von 2006 bis heute) mit ›international Studieren-

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Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht

den‹ zu vergleichen; stets wird eine spezifische Unterschiedlichkeit deutlich, wobei dies jeweils dann umso stärker auch für den Durchschnitt der Student*innen gilt, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben haben. 34 Prozent der Student*innen im BA PHM haben Fluchterfahrungen. Dabei ist der Anteil von elf Prozent im Jahr 2006 auf 67 Prozent im Jahr 2017/2018 gestiegen. Aktuell liegt der Anteil bei 62 Prozent. Die Entscheidung von Geflüchteten, das eigene Land zu verlassen, erfolgt auf anderer, meist besonders dringlicher und bedrohlicher Grundlage, wobei das ›Zielland‹ mit der entsprechenden Sprache oft noch nicht bekannt ist. Und wenn in Bezug auf ein ganz bestimmtes ›Zielland‹ konkrete Hoffnungen und Erwartungen bereits vorliegen, haben die Migrant*innen nur selten eine Möglichkeit, die geforderte Studiensprache schon im Herkunftsland zu erlernen, auch deshalb, weil die jeweiligen Herkunftsländer von Krieg, Bürgerkrieg, politischer und religiöser Verfolgung und Zerstörung von Infrastruktur gezeichnet sind. Häufig handelt es sich bei den Student*innen im BA PHM aber auch um Migrierte, die nicht im Kontext von Flucht und Verfolgung nach Deutschland gekommen sind. Einige leben seit mehr als 20 Jahren in Deutschland und haben die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten. Andere, weil sie als Aussiedler*innen anerkannt worden sind, bekamen diese sehr schnell zugesprochen. Alle Student*innen im BA PHM seit 2006 insgesamt betrachtet, sind deutlich älter (83 Prozent sind zwischen 31 und 50 Jahre alt) als der Durchschnitt17 sowohl der ›international Studierenden‹ als auch der Student*innen (ohne und mit sogenanntem ›Migrationshintergrund‹), die in Deutschland ihre Hochschulzugangsberechtigung erworben haben, haben nicht selten bereits eine eigene Familie gegründet und sind Mütter und Väter geworden, die sich um ihre Kinder sorgen. Es handelt sich also oft um Personen, die in einem anderen ›Abschnitt‹ ihres Lebens stehen (Hertlein 2019, S. 61). Vergleichen wir einige statistische Merkmale der Student*innen im BA PHM mit Statistiken zu sogenannten ›Bildungsausländer*innen”18 , die zum großen Teil in Deutschland auch ›international Studierende‹ sind (Bildungsbericht 2018,

17

18

Gemäß den Ergebnissen der Studieneingangsbefragung BA 2018/2019 an der Universität Oldenburg geben 92 Prozent der Student*innen ihr Alter zwischen unter 18 bis 26 Jahren an und am Institut für Pädagogik sind 79 Prozent zwischen 18 und 26 Jahren alt. Sogenannte ›Bildungsausländer*innen‹ sind ausländische Studierende, die zum Zwecke des Studiums nach Deutschland gekommen sind; sogenannte ›Bildungsinländer*innen‹ sind Studierende »mit einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland oder an einer deutschen Schule im Ausland erworben haben« (Meinhardt/Zittlau 2009, S. 45 f). Zu dieser letzten Gruppe können ebenfalls Studierende gehören, die Ausländer*innen sind, eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzen oder eingebürgert worden sind.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

S. 342), zeigen sich weitere interessante Unterschiede: Im Gegensatz zu zwei Dritteln der ›Bildungsausländer*innen‹, die aus Ländern mit hohem beziehungsweise gehobenem Pro-Kopf-Einkommen zum Studium nach Deutschland kommen, ist etwas mehr als die Hälfte der Student*innen im BA PHM aus Drittstaaten migriert, die ein mittleres beziehungsweise geringes Pro-Kopf-Einkommen aufweisen (Middendorf et al. 2018, S. 6). Zudem korreliert die anerkannte Hochschulzugangsberechtigung je nach Herkunftsregion und Pro-Kopf-Einkommen. So weisen ›Bildungsausländer*innen‹ aus Osteuropa mit 66 Prozent (im BA PHM 27,5 Prozent) und aus Ostasien mit 63 Prozent die geringste Zufriedenheit mit der Anerkennung der universitären Vorbildung auf, während ›Bildungsausländer*innen‹ aus Westeuropa (74 Prozent) den höchsten Zufriedenheitsgrad zeigen (ebd., S. 20). Lediglich zweieinhalb Prozent der Bewerber*innen für den BA PHM kommen aus Westeuropa. Im Vergleich zu Studienbewerber*innen aus Europa müssen Studienbewerber*innen aus Afrika (im BA PHM 25 Prozent), Lateinamerika (im BA PHM 10 Prozent) und Asien (im BA PHM 35 Prozent) deutlich häufiger eine Feststellungsprüfung19 absolvieren. Mehr als zwei Drittel der ›Bildungsausländer*innen‹ kommen aus Ländern, für die die Lissabon-Konvention20 zur gegenseitigen Anerkennung von Studienabschlüssen und -leistungen keine Geltung hat (ebd., S. 18). Von den 40 Herkunftsstaaten, aus denen die Studierenden des BA PHM kommen, zählen ebenfalls 62,5 Prozent zu diesen Ländern. Alle Studierenden im BA PHM eint, dass sie in (sozial-)pädagogischen Arbeitsbereichen bereits tätig waren oder eine solche Tätigkeit anstreben und sich mit dem Studium in diesem Bereich weiterqualifizieren wollen. Ihr Interesse zur Aufnahme eines Pädagogikstudiums unterscheidet sie von ›international Studierenden‹, da »vor allem Studierende aus einkommensschwachen Ländern anteilig häufiger ingenieurwissenschaftliche (42 Prozent) sowie mathematische beziehungsweise naturwissenschaftliche Fächer (26 Prozent)« belegen (ebd., S. 25).

19

20

Das Bestehen der Feststellungsprüfung berechtigt ausländische Studienbewerber*innen, deren Schulabschlusszeugnisse nicht als dem deutschen Abitur gleichwertig angesehen werden, zu einem Studium an einer deutschen Universität oder Hochschule. Meist wird, um die Feststellungsprüfung erfolgreich zu bestehen, zuvor ein einjähriges Studienkolleg besucht (Leibniz Universität Hannover, Niedersächsisches Studienkolleg). Dazu ausführlicher unten, 4.3 Numerus Clausus. Die Lissabon-Erklärung basiert auf dem Gesetz zum Übereinkommen vom 11. April 1997 zur wechselseitigen Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich. Zusätzlich zu den Mitgliedsländern der EU haben aktuell 54 Länder die Erklärung ratifiziert, unter anderem die Länder des Europarats, aber auch Australien, Kanada, Israel und die USA. Länder wie zum Beispiel Afghanistan, Irak, Iran, Kolumbien, Kongo, Nigeria, Marokko, Syrien oder Venezuela haben dies nicht getan.

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Andrea Hertlein und Rudolf Leiprecht

Von den Student*innen, die an ihre akademischen Studienleistungen und -abschlüsse aus den Herkunftsländern anschließen, aber ihre bisherige Fachdisziplin wechseln, beginnt ein Teil das Pädagogikstudium aus den folgenden Gründen: •





• •







5.

Sie weisen Studienleistungen und -abschlüsse vor, die nicht Pädagogik oder Erziehungswissenschaften umfassen, sind aber in Deutschland (teilweise jahrelang) Tätigkeiten in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern nachgegangen. Sie haben für das Fach des bereits begonnenen Studiums im Herkunftsland ein Student*innenvisum oder einen Studienplatz in einem Studienfach ohne Numerus Clausus erhalten, jedoch Interesse für das Fach Pädagogik. Sie haben im Herkunftsland Pädagogik, Erziehungswissenschaften, Soziale Arbeit oder Ähnliches studieren wollen, konnten diesen Studienwunsch aber aufgrund fehlender Angebote nicht realisieren und haben ein fachfremdes Studium aufgenommen. Sie können mit dem von der KMK anerkannten akademischen Abschluss in Deutschland keine Berufstätigkeit ausüben. Sie erhalten keine Anerkennung ihrer akademischen Abschlüsse aus dem Herkunftsland für den Zugang zu reglementierten Berufen (zum Beispiel Lehrer*innen, Erzieher*innen). Sie haben ein Bildungssystem durchlaufen, welches es zum Beispiel nach einem naturwissenschaftlichen Abitur nicht ermöglicht, die Fachrichtung zu wechseln und ein erziehungswissenschaftliches Studium aufzunehmen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass das Studium der Pädagogik, der Erziehungswissenschaften oder der Sozialen Arbeit gesellschaftlich nicht hoch angesehen ist und/oder kaum angemessene Positionen auf dem Arbeitsmarkt des Herkunftslandes verspricht. Sie haben dem Studienwunsch der Eltern entsprochen und deshalb im Herkunftsland nicht Pädagogik, Erziehungswissenschaften oder Soziale Arbeit gewählt.

Zugang und Zulassung

Wir haben versucht, im Kontext der rechtlichen Möglichkeiten eine Zugangs- und Zulassungsordnung zu schaffen, die es den adressierten Studienbewerber*innen ermöglicht, ihre Bildungs- und Berufsbiografien weiterzuentwickeln und dabei einen in Deutschland anerkannten Universitätsabschluss zu erwerben, der ihnen auch eine günstige Positionierung auf dem Arbeitsmarkt bietet. Unsere Perspektive bei der Entwicklung der Zugangs- und Zulassungsordnung wurde von dem Bestreben getragen, einerseits ressourcenorientierte Anerkennungsmarker zu installieren und andererseits eine angemessene und realisierbare Studienqualität zu

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

gewährleisten. Gleichzeitig mussten wir mit der Zugangs- und Zulassungsordnung sicherstellen, dass diejenigen Bewerber*innen Zugang zum Studiengang bekommen, für die er konstruiert und eingerichtet wurde. Letzteres haben wir unter anderem dadurch erreicht, dass die Zugangs- und Zulassungsordnung von den Bewerber*innen fremdsprachliche Kenntnisse in einer Sprache verlangt, die hinsichtlich aktueller Migrationsprozesse relevant ist (also zum Beispiel Arabisch, Kurdisch, Persisch, Albanisch, Russisch, Türkisch). Diese Kenntnisse müssen mindestens auf dem Niveau C2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens liegen, das einem sogenannten ›muttersprachlichen‹ Niveau recht nahe kommt. Damit werden multilinguale Sprachkompetenzen anerkannt. Als Nachweis genügt eine Hochschulzugangsberechtigung oder ein abgeschlossenes Studium im Herkunftsland in der jeweiligen Landessprache. In zwei Modulen des BA PHM wird auf diese (aus deutscher Perspektive) fremdsprachlichen Kenntnisse in besonderer Weise zurückgegriffen: Sie sind notwendig, um dort internationale Vergleiche (von Bildungs- und Sozialsystemen und von Bildungs- und Sozialpolitik) durchführen zu können. Zudem sind diese fremdsprachlichen Kenntnisse auch für das berufliche Handlungsfeld in einer Migrationsgesellschaft, die zumindest im Alltag vieler Menschen auch ›multilingual‹ ist, überaus wertvoll und wichtig. Im Folgenden werden wir einige weitere Merkmale zentraler Zugangsregelungen vorstellen und diskutieren, die den Studiengang für die adressierten Bewerber*innen in besonderer Weise attraktiv machen: 1

2 3

4

5.1

die erleichterte Möglichkeit des fachlichen Umstiegs von einem nicht erziehungswissenschaftlichen beziehungsweise nicht bildungswissenschaftlichen Studium (also zum Beispiel Soziologie, Germanistik, Jura, Journalistik) auf ein Pädagogikstudium; die Aufwertung einer fachgebundenen zu einer allgemeinen Hochschulreife; die Überwindung der Zugangshürde Numerus clausus, die bei den üblichen BAStudiengängen in Pädagogik/Erziehungswissenschaften meist vorhanden ist, sowie der Versuch, eine relativ überschaubare Zeitperspektive für weitere Schritte in der eigenen Bildungs- und Berufsbiografie anzubieten.

Fachlicher Umstieg

Dadurch dass in der Zugangs- und Zulassungsordnung für den BA PHM neben den nachzuweisenden Studienleistungen, die im engeren Sinne der Pädagogik beziehungsweise den Erziehungswissenschaften oder der Sozialen Arbeit zuzurechnen sind, auch zu 40 Prozent Studienleistungen anerkannt werden, die zu recht verschiedenen Studiengängen, ist in Kombination mit der Weiterbildung Kontaktstudi-

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um oder einem Gasthörstudium, das sich auf (sozial)pädagogische Themen/Inhalte konzentriert, ein fachlicher Umstieg möglich. Die Leistungen aus der Weiterbildung beziehungsweise dem Gasthörstudium stellen dann die fehlenden 60 Prozent dar, die aus dem Bereich der Pädagogik beziehungsweise den Erziehungswissenschaften oder der Sozialen Arbeit nachgewiesen werden müssen. Wie wir feststellen können, wird ein solcher fachlicher Umstieg immer wichtiger.21 Student*innen, die beispielsweise im Herkunftsland Jura oder Journalistik studiert haben, können nicht in ihren Beruf zurückkehren. Jedoch können sie ihre juristischen oder journalistischen Fähigkeiten mit den Inhalten und Themen des Pädagogikstudiums kombinieren und innerhalb von drei Jahren (ein Jahr Weiterbildung Kontaktstudium und zwei Jahre BA-Studium) einen Bachelorabschluss erreichen.

5.2

Zugang mit fachgebundener Hochschulreife

In Niedersachsen ist es in aller Regel nur möglich, sich mit einer allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung für das Studium an einer Universität zu bewerben. Mit der Zugangs- und Zulassungsordnung zum BA PHM ist es für Studienbewerber*innen, die über eine fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung verfügen, aber die Weiterbildung Kontaktstudium (oder ein vergleichbares Format) erfolgreich absolviert haben, möglich, den Nachweis über die erforderlichen Vorkenntnisse zu führen und sich die Module der Weiterbildung bei der Bewerbung zum Studiengang anrechnen zu lassen. Damit erfolgt gleichzeitig die Aufwertung von einer fachbezogenen zu einer allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung.

5.3

Numerus clausus

Für die Feststellung einer gültigen Hochschulzugangsberechtigung sind – wie bereits erwähnt – das Abitur oder ein vergleichbarer Schulabschluss relevant, teilweise in Verbindung mit einer universitären Vorprüfung oder einem begonnenen oder erfolgreich absolvierten Studium, je nach Herkunftsland. Diese Feststellung ist ein komplexer Vorgang. Umrechnungen werden notwendig, da es sich in den jeweiligen Ländern um recht unterschiedliche Bildungssysteme mit unterschiedlichen Notensystemen handelt. Selbst wenn Bewerber*innen ein Bachelorstudium oder gar ein Masterstudium bereits abgeschlossen haben, erfolgt (durch uni-assist 21

Sukzessive hat sich der Anteil der Student*innen im BA PHM, der im Herkunftsland ein Studium in den Bereichen Lehramt und Erziehungswissenschaften/Pädagogik/Sozialer Arbeit absolviert hatte, im Zeitraum von 2006 bis 2018 von 77 Prozent auf 47 Prozent reduziert. Dementsprechend hat sich die Anzahl der Bewerber*innen erhöht, die einen fachlich-disziplinären ›Umstieg‹ wagten und über universitäre Qualifikationen aus Disziplinen wie der Psychologie oder den Sozial-, Sprach-, Politik-, Literatur-, Rechts-, Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften, in Einzelfällen auch der Pharmazie und der Journalistik, verfügten.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

e. V. oder die jeweilige Hochschule) die Berechnung der Note zur Zulassung in einen BA-Studiengang in Deutschland auf der Grundlage des Abiturs (oder einer vergleichbaren Grundlage). Dies führt bei den Bewerber*innen – gelinde gesagt – zu Irritationen und kann tatsächlich dazu führen, dass eine Hochschulzugangsberechtigung – trotz BA- oder MA-Abschluss – nicht bestätigt wird. Dies ist dann der Fall, wenn die Abiturnote nach der Umrechnung (wie beispielsweise bei Zeugnissen aus Syrien22 ) unter 60 oder, je nach Studienwunsch, unter 70 Prozent23 liegt. Auch in Verbindung mit einem oder zwei Studienjahren im Herkunftsland wird dann keine Hochschulzugangsberechtigung bestätigt und somit der Abschluss einem deutschen Realschulabschluss gleichgestellt. Um zu einem Pädagogikstudium zugelassen zu werden, ist in aller Regel ein sehr guter bis guter Notendurchschnitt Voraussetzung. Auffällig ist jedoch, dass der größte Teil der Notenumrechnungen der Bewerber*innen selten eine Note im Bereich 1,0 bis 1,9 ausweist. Mit einer Note der Hochschulzugangsberechtigung schlechter als in diesem Bereich ist eine Bewerbung für einen Studienplatz im Fach Pädagogik gegenwärtig meist aussichtslos. In den Fällen, in denen Bewerber*innen beispielsweise eine zwölfjährige Schulbildung vorweisen, keine Dokumente haben oder die vorhandenen nicht in das Kategoriensystem von uni-assist e. V. passen, wird die Note der Hochschulzugangsberechtigung mit 9,9 angegeben, mit dem Ergebnis, dass damit eine erfolgreiche Bewerbung für ein Studium in zulassungsbeschränkten Fächern ausgeschlossen ist. In unseren bisherigen Zulassungsverfahren für den BA PHM erhalten Bewerber*innen mit diesem ›Umrechnungsergebnis‹ bei Vorliegen der weiteren Zugangsvoraussetzungen eine Zulassung. Dies liegt zum einen daran, dass (bislang) noch keine Zulassungsbeschränkung festgestellt werden musste; zum anderen gibt es in der Zugangs- und Zulassungsordnung selbst im Falle einer Zulassungsbeschränkung24 neben der Note ein Bonierungssystem, mit dessen Hilfe Punkte für besondere Eignung (etwa Berufserfahrungen

22

23

24

Auch bei Sekundarabschlusszeugnissen beispielweise aus Ägypten, Afghanistan, Ghana, dem Iran oder Ruanda muss eine bestimmte Punkt- beziehungsweise Prozentzahl, Fächerkombination, teilweise in Verbindung mit einem ein- oder zweijährigem begonnenen Studium, vorliegen, um als ›Abitur‹ in Deutschland anerkannt zu werden, auch wenn dieser Sekundarabschluss im Herkunftsland zum Studium berechtigt. 100 Prozent entspricht der Note sehr gut (1,0), 60 Prozent der Note 3,3 und 55 Prozent der Note 3,7. Gemäß Modifizierter Bayerischer Formel (Formel zur Umrechnung von im Ausland erworbenen Noten in das deutsche Notensystem) entspricht ein Abitur mit 59 Prozent einer Note von 3,46 (https://uol.de/anrechnung/umrechnung-auslaendischer-noten/; zuletzt geöffnet am 04.11.2019. Also wenn es mehr Bewerber*innen gibt, die, da sie die formalen Voraussetzungen erfüllen, einen Zugang bekommen würden, als Studienplätze vorhanden sind.

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oder studiengangsrelevante Auslandserfahrungen) vergeben werden können (§4 Auswahlverfahren/Auswahlkriterien der Zugangs-/Zulassungsordnung).

5.4

Zeitperspektive

Die Zulassung zum Studium begegnet wenigstens zum Teil der rechtlichen und symbolischen Diskreditierung der bereits erbrachten Studien- und Berufsleistungen mit einer Form von Anerkennung, indem in der Zugangs- und Zulassungsordnung zum BA PHM insgesamt zwei Semester als bereits erbrachte ›Vorleistungen‹ gewürdigt werden. Dies ermöglicht den Studienbeginn ab dem dritten Fachsemester und somit ein verkürztes Studium. Es ist wichtig, dass Akademiker*innen mit Flucht- und Migrationserfahrungen bei der Fortsetzung ihrer Bildungsbiografie keine Zeit verlieren und unter den Bedingungen der beschriebenen spezifischen Lebenssituationen (siehe oben, 3. Zu den Studierenden) erweist sich jede ›Beschleunigung‹ als günstig. Die Bildungswissenschaftler*innen um Arnd-Michael Nohl konstatieren, dass gerade geflüchtete Hochqualifizierte »ihr im Herkunftsland ursprünglich erworbenes Wissen und Können aufgrund der langfristigen deprivativen Transition zunächst kaum auf dem deutschen Arbeitsmarkt verwerten dürfen und später auch nicht mehr können« (Nohl et al. 2010, S. 76). All diese beschriebenen Merkmale der Zugangs- und Zulassungsordnung bieten den adressierten Bewerber*innen, je nach vorliegenden Bedarfen und Voraussetzungen, unterschiedliche Vorteile und zeichnen den Studiengang in je besonderer Weise aus.

6. Servicestelle uni-assist e. V. Wie in der Einleitung angekündigt, folgen jetzt drei Textabschnitte, in denen wir vor allem solche Voraussetzungen und Entwicklungen beschreiben, die überaus problematisch sind und die die Zukunft unseres zweistufigen Angebots gefährden. Wir beginnen mit der Servicestelle uni-assist e. V. Als Reaktion auf das steigende Interesse von Studienbewerber*innen aus dem Ausland für den Studienort Deutschland und die damit verbundene Begutachtung ausländischer Dokumente sowie im Zuge von personellen Ressourceneinsparungen wurde die Servicestelle uni-assist e. V. 2003 in Berlin gegründet. Im Jahr 2018 hat uni-assist e. V. ca. 300.000 Bewerbungen bearbeitet. Für das Bewerbungsverfahren und die Überprüfung der Gleichwertigkeit der Hochschulzugangsberechtigungen internationaler Bewerber*innen beauftragt mittlerweile fast jede zweite Hochschule in Deutschland uni-assist e. V., so auch die Carl von Ossietzky Universi-

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

tät Oldenburg.25 Hauptziel soll eine administrative Prüfung internationaler Studienbewerbungen sein, die effizient und einfach ist. Allerdings ist der Versuch, mit einem standardisierten Verfahren auf die Komplexität internationaler Dokumente und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Studiengänge in Deutschland zu reagieren, ein Widerspruch in sich.

6.1

Zur Praxis des Verfahrens

Als eine Serviceeinrichtung hat uni-assist e. V. eigentlich nur eine vorbereitende und beratende Funktion. Die Entscheidung über die Vergabe des Studienplatzes liegt bei der jeweiligen Hochschule selbst: »Es handelt sich um eine formale Prüfung der Unterlagen, die inhaltliche Bewertung und Zulassung zum Studium erfolgt durch die Hochschulen« (DAAD/DZH 2017, S. 8). In der Praxis der Bewerbungsverfahren kommt es jedoch vor, dass von diesem Grundsatz kein Gebrauch gemacht wird und im Fall von Nachfragen zur jeweiligen Entscheidung auf die Beurteilung von uniassist e. V. verwiesen wird, da dort die Expertise vorhanden sei. Das Bewerbungsverfahren verläuft über ein Online-Portal im Internet und setzt neben einer guten Internetverbindung eine umfangreiche technische Ausstattung (Laptop, Scanner, Drucker) voraus, um die erforderlichen Dokumente versenden zu können. Beim Ausfüllen der Datenmaske entstehen unvermeidbar auch Fehler, die im weiteren Verfahren teilweise kaum mehr zu beheben sind. Wenn zum Beispiel eine Universität nicht als solche bezeichnet wurde beziehungsweise das Pendant im deutschen Bildungssystem so nicht vorkommt, kann gegebenenfalls die falsche Benennung oder Übersetzung über die Studienplatzvergabe entscheiden. Sobald das Verfahren begonnen hat, folgt in Teilen ein Verschieben von Verantwortlichkeiten. Es entsteht sozusagen ein System von organisierter institutioneller Nicht-Zuständigkeit: Bei Nachfragen der Bewerber*innen beispielsweise hinsichtlich der Bewertung betreffender Dokumente verweist uni-assist e. V. auf die Entscheidungshoheit der Hochschule und die Hochschule verweist an uniassist e. V. zurück. Die geteilte Zuständigkeit zwischen uni-assist e. V. und der einzelnen Hochschule (und dort dem Immatrikulationsamt, dem fachlich zuständigen Zulassungsausschuss für den jeweiligen Studiengang, dem internationale Studierenden-Büro und der Studienfachberatung) führt zu umständlichen, extrem zeitintensiven Mehrfachberatungen. Die Immatrikulationsämter selbst verfügen in der Regel weder über das Personal noch über die Expertise für fachgerechte Entscheidungen. Diese wurde sozusagen an uni-assist e. V. ›outgesourct‹, aber viele Anfragen von Studieninteressierten werden gleichwohl an das überlastete Personal an den Hochschulen gerichtet.

25

Der Verein uni-assist e. V. arbeitet für über 180 Hochschulen und Universitäten in Deutschland.

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Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass Nachfragen bei uni-assist e. V. entweder gar nicht (wenn zum Beispiel E-Mails durch uni-assist e. V. nicht beantwortet werden) oder nur unter zeitlichem Höchstaufwand für die Nachzufragenden zu realisieren sind. Dadurch entsteht erneut hoher Beratungsbedarf für alle Beteiligten. Festzustellen ist ebenfalls, dass es schon bei Registrierungen durch Namensgleichheiten zu Fehlern kommt beziehungsweise die Bewerbung in dem Onlineportal gar nicht erst angelegt werden kann. Wenn die Bewerbung erfolgreich in das System gespeist und bezahlt wurde,26 folgen nicht selten Standardbriefe, versehen mit Textbausteinen im perfekten Beamtendeutsch oder in Englisch, welches aber meist nicht die Sprache der sich Bewerbenden ist. Die Bewerber*innen lesen Informationen von uni-assist e. V. wie: »If you pass this exam, you may apply to a bachelor course (or a comparable undergraduate course of study) in your subject area (›Fachrichtung‹). In some Studienkollegs, you may take the ›Feststellungsprüfung‹ without having attended the Studienkolleg (›externe Feststellungsprüfung‹). In that scenario, you prepare for the exam yourself« (Uni-assist e. V. 2019). Diese Informationspraxis erfordert erneut Beratung und Dekodierung des Geschriebenen. Widersprüchliche Beurteilungen und Informationen begleiten das Verfahren für Bewerber*innen desselben Studiengangs und eine strukturelle Hürde ist in der langen Bearbeitungszeit zu sehen, die uni-assist e. V. mit vier bis sechs Wochen angibt, tatsächlich aber immer wieder über zwei Monate betragen kann. Haben Bewerber*innen ihre Unterlagen in das Portal geladen und es stellt sich heraus, dass beispielsweise eine einzelne Beglaubigung bei teilweise fünfzigseitigen Dokumenten fehlt, erhalten die Bewerber*innen die Information, dass das betreffende Papier nachzureichen sei. Diese Schreiben werden leider auch nach dem Bewerbungstermin versandt, mit dem Effekt, dass die Bewerber*innen das fehlende Dokument im Vertrauen auf Bearbeitung schnellstmöglich nachzureichen versuchen, um anschließend von der Universität mitgeteilt zu bekommen, dass die Papiere nicht termingerecht eingegangen seien und deshalb weder Zugang noch Zulassung möglich sei. In Gesprächen mit Kolleg*innen aller Statusgruppen an der Universität wurde ausnahmslos von großen Schwierigkeiten, Überforderung bis hin zur Unmöglichkeit der Überwindung dieser Hürden beim Anlegen der Bewerbung gesprochen.

26

Das Bewerbungsverfahren ist für die allermeisten nicht unentgeltlich: Für die erstmalige Bewerbung wird ein Bearbeitungsentgelt in Höhe von 75 Euro fällig, für jede weitere 30 Euro. Für Studienbewerber*innen, die zum Beispiel eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25, Abs. 1 oder 2 AufenthaltG. (subsidiärer Schutz) haben, übernehmen zur Zeit die Hochschulen die Kosten.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

Unterstützer*innen aus der Zivilgesellschaft sowie Vertreter*innen institutioneller Einrichtungen (Jobcenter) berichten gleichermaßen von einem unverhältnismäßig hohen Bewerbungsaufwand und fordern von der Universität Unterstützung ein, die diese aus zeitlichen und personellen Gründen nicht oder nur unter größten Anstrengungen und zu Lasten anderer Aufgaben anbietet.27

6.2

Nochmal: Feststellungsprüfung und Studienkolleg

Wie soeben dargestellt, wird in vielen Entscheidungen von uni-assist e. V. auch auf Feststellungsprüfungen und Studienkollegs verwiesen. Überproportional viele Bewerber*innen aus Drittstaaten erhalten eine solche Auflage der Feststellungsprüfung. Diese findet in Niedersachsen am Studienkolleg in Hannover statt. Es gibt nur begrenzt Plätze und da sich die Bewerber*innen auf ein Studium der Pädagogik bewerben, passen die naturwissenschaftlich orientierten Aufnahmeprüfungen und Lehrinhalte nicht zum angestrebten Studium und sind demnach völlig ungeeignet. Zu der Situation, dass die Bewerber*innen sich den Besuch zeitlich wie finanziell leisten können müssen, kommt hinzu, dass Bewerber*innen mit Sozialleistungen gemäß ALG II wenig bis keine Unterstützung für die Fortsetzung ihrer Bildungs- und Berufsbiografien erfahren. Es erfolgt keine Freistellung durch das Jobcenter für den Besuch des Studienkollegs und zur Sicherung ihres Aufenthalts unterliegen sie der Pflicht, einer Berufstätigkeit nachzugehen, oder müssen dafür zur Verfügung stehen.28

6.3

Irritationen: Ablehnungsentscheidungen und ihre Begründungen

Immer wieder empfinden die Bewerber*innen (und auch ihre Unterstützer*innen), aber auch wir als Studiengangsverantwortliche, Ablehnungsentscheidungen von uni-assist e. V., die bedauerlicherweise von der Universität übernommen werden, nicht nur als nicht nachvollziehbar, sondern auch als überaus irritierend. Wir wollen hier nur einige wenige ›Falltypen‹ nennen: •

Es geht zum Beispiel um eine Bewerbung »aus Syrien«, in der zwar ein in Bürgerkriegszeiten nach 2011 erworbenes Abitur mit der Note 59 Prozent (entspricht nach Umrechnung einer deutschen Note 3,46) und Aufnahme

27

In Bezug auf unsere Weiterbildung Kontaktstudium bieten wir eine entsprechende Unterstützung bei der Vorbereitung der Bewerbung und der Eingabe der Daten in das Portal von uniassist e. V. an. Auch das Konzept des Studienkollegs orientiert sich an den Bedarfen sogenannter ›international Studierender‹ (siehe oben).

28

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oder gar Abschluss eines Studiums nachgewiesen wurde, all dies zusammen jedoch nicht als Hochschulzulassung galt und infolgedessen keine weitere Bearbeitung erfolgte. Es geht zum Beispiel um eine Bewerbung, in der – trotz der Vorlage einer fachgebundenen Hochschulzugangsberechtigung und des Nachweises eines erfolgreichen Abschlusses eines Bachelorstudiengangs im Herkunftsland – die Nicht-Akkreditierung des dortigen Studiengangs zu einer Ablehnungsentscheidung führte, obwohl zu der Zeit, in der studiert worden war, Akkreditierungen von Studiengängen in dem betreffenden Land gar nicht vorgenommen wurden. Die betreffende Person studiert mittlerweile an einer anderen Universität. Es geht zum Beispiel um eine Bewerbung, bei der zunächst (bei der ersten Bewerbung) durch uni-asssist e. V. eine zweifelsfreie Hochschulzulassung attestiert wurde, aufgrund persönlicher Umstände allerdings noch keine Immatrikulation erfolgte und bei der (zweiten) Bewerbung dann im Folgejahr mit denselben Bewerbungsunterlagen das Ergebnis des Prüfverfahrens zur Hochschulzulassung durch uni-assist e. V. plötzlich negativ ausfiel und keine Zulassung möglich war. Es geht zum Beispiel um eine Bewerbung, bei der durch uni-assist e. V. mitgeteilt wurde, dass das »angegebene Studienfach […] an der gewünschten Hochschule gar nicht oder nicht mit dem angegebenen Abschluss oder nicht zum gewünschten Fachsemester studiert werden« könne. Die Bewerber*innen sollten sich »bei der Hochschule über das aktuelle Studienangebot« informieren und uni-assist e. V. »bis zum Ende der Bewerbungsfrist einen zulässigen Studienwunsch mit(teilen)«. Dies war mehr als verwirrend, war doch das gewünschte Studienfach bei der Bewerbung richtig angegeben worden und kann es an unserer Universität auch studiert werden. Im nächsten Absatz wurde dann jedoch – und die Verwirrung steigerte sich nochmal – zusätzlich darauf hingewiesen, dass »das gewünschte Studienfach […] mit dem 3. Fachsemester« beginne und »eine Weiterleitung für das Studienkolleg […] hier nicht möglich [ist].« Nach Intervention der Studiengangsverantwortlichen wurde die Bewerbung noch einmal überprüft. Als Begründung für die erneute Ablehnung wurde nun angeführt, dass für die Erteilung der Hochschulzulassungsberechtigung das Studienkolleg (Feststellungsprüfung) besucht werden müsste. Die Möglichkeit ist jedoch für den Studiengang nicht vorgesehen, weil sich dieser grundsätzlich an Bewerber*innen richtet, die bereits studiert haben und denen zwei Semester angerechnet werden. Der Besuch des Studienkollegs wiederum muss vor Aufnahme eines Studiums in Deutschland erfolgen. Somit kann die Person nicht im dritten Fachsemester zugelassen werden, welches aber das erste mögliche Fachsemester für den BA PHM ist. Mittlerweile studiert die betreffende Person an einer anderen Universität, ohne vorab das Studienkolleg besucht zu haben.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren



Es geht zum Beispiel um eine Bewerbung, bei der der Anspruch auf das sogenannte Plausibilitätsverfahren (bei fehlenden Dokumenten29 ) verweigert wurde. Dabei handelte es sich um eine Person, der nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein Asylstatus zuerkannt worden war und die nach Ablauf der gesetzlichen Frist dann die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten hatte. Die Bewerbung wurde von uni-assist e. V. aus dem Anwendungsbereich des KMK-Beschlusses von 2015 herausgenommen, da die betreffende Person – so die Begründung – jetzt deutsch und kein Flüchtling mehr ist.

Auch wenn uni-assist e. V. konstatiert, dass es sich bei den ›besonders schwierigen‹ oder ›fehlerhaft‹ bearbeiteten Fällen nur um Einzelfälle handelt und es wenige Beschwerden gibt, muss bedacht werden, dass die Bewerber*innen – sozialisiert in anderen Schul-, Universitäts- und Verwaltungs- und Rechtssystemen – oft wenig bis gar keinen Gebrauch von offiziellen Beschwerden machen. Was hätten sie auch davon? Bis das Verfahren anläuft, ist das Bewerbungsverfahren beendet und das Semester hat bereits begonnen.

7.

Die deutsche Sprache

7.1

Sprachprüfungsniveaus und Zugangsvoraussetzungen

Für den Zugang zum Studium im BA PHM müssen die Bewerber*innen ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vorweisen. Dazu beziehen wir uns zunächst auf den sogenannten Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER), der unter anderem die Sprachprüfungsniveaus in Europa vergleichbar machen soll. Diese Sprachprüfungsniveaus werden mit Niveaustufen markiert, und zwar in aufsteigender Buchstaben- und Zahlenfolge, nämlich A1, A2, B1, B2, C1 und C2. Das ›elementarste‹ Niveau wird in dieser Reihe durch A1 angezeigt, das ›höchste‹ durch C2. Im Rahmen unserer Weiterbildung Kontaktstudium wird ein Sprachkurs angeboten, der auf das Sprachprüfungsniveau B2 vorbereitet. Um einen Eindruck davon 29

Wenn aufgrund von Flucht, als Folge politischer Benachteiligung oder durch Zerstörungen infolge von (Bürger-)Kriegen Dokumente nicht vorgelegt werden können und so unverschuldet eine Beweisschwierigkeit oder Beweisnot entsteht, dann ist nach einem KMK-Beschluss vom 03.12.2015 ein sogenanntes Plausibilitätsverfahren vorgesehen. In drei Schritten geht es dabei a) um die Feststellung der persönlichen Voraussetzungen, b) um die Plausibilisierung der Bildungsbiografie bezogen auf den Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung im Heimatland und c) um ein geeignetes Verfahren zur Validierung der Studierfähigkeit als Nachweis der bestehenden Hochschulzugangsberechtigung.

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zu bekommen, was dies bedeutet, ist es hilfreich, sich die erläuternden Beschreibungen zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen anzuschauen. Diese gehen bei denjenigen, die die Sprachprüfung B2 erfolgreich absolvieren, von einer selbstständigen Sprachverwendung aus, die folgendermaßen beschrieben wird: »Kann die Hauptinhalte komplexer Texte zu konkreten und abstrakten Themen verstehen; versteht im eigenen Spezialgebiet auch Fachdiskussionen. Kann sich so spontan und fließend verständigen, dass ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne größere Anstrengung auf beiden Seiten gut möglich ist. Kann sich zu einem breiten Themenspektrum klar und detailliert ausdrücken, einen Standpunkt zu einer aktuellen Frage erläutern und die Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten angeben« (Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen des Europarates; hier zitiert nach Goethe-Institut 2017, S. 35).30 Basierend auf jahrelanger Erfahrung mit unseren Weiterbildungs- und Studienangeboten verlangen wir zum einen für den Zugang zum BA PHM Sprachkenntnisse vergleichbar mit dem Sprachprüfungsniveau C1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens, also der nächsten Stufe nach B2. Zum anderen gibt es aber für Bewerber*innen, die das Absolvieren dieses Sprachprüfungsniveaus bei der Einschreibung noch nicht vorweisen können, die Möglichkeit, zunächst mit einem B2-Sprachprüfungsniveau immatrikuliert zu werden, um dann bis zum Ende des ersten Studienjahres den Nachweis einer erfolgreichen Sprachprüfung auf dem Niveau C1 zu erbringen.31 Die sprachlichen Kompetenzen, die die Geprüften dieser Sprachprüfung nachweisen, werden von den Autor*innen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens als fachkundige Sprachkenntnisse bezeichnet. Es handelt sich um ein Sprachniveau, das »die Bewältigung komplexerer kommunikativer Aufgaben in Beruf und Studium ermöglicht« (ebd., S. 34): »Kann ein breites Spektrum anspruchsvoller, längerer Texte verstehen und auch implizite Bedeutungen erfassen. Kann sich spontan und fließend ausdrücken, ohne öfter deutlich erkennbar nach Worten suchen zu müssen. Kann die Sprache im gesellschaftlichen und beruflichen Leben oder in Ausbildung und Studium wirksam und flexibel gebrauchen. Kann sich klar, strukturiert und ausführlich zu komplexen Sachverhalten äußern und dabei verschiedene Mittel zur Textverknüpfung angemessen verwenden« (ebd., S. 33). Nun orientieren wir uns mit den Sprachprüfungsniveaus B2 und C1 an den Zertifikaten, die von den Goethe-Instituten sowohl in Deutschland als auch in vielen

30 31

Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen (GER): www.europaeischer-referenzrahmen.de; zuletzt geöffnet am 23.03.2019. In begründeten Einzelfällen wurde eine Verlängerung von einem weiteren Semester zur Erbringung des Nachweises gewährt.

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

anderen Ländern der Welt angeboten werden und auf allgemeinsprachliche Kenntnisse ausgerichtet sind. Die Goethe-Institute beschreiben dieses Goethe-Zertifikat C1 als eine Deutschprüfung, die bei erfolgreichem Absolvieren »ein weit fortgeschrittenes Sprachniveau [nachweist] und […] der fünften Stufe (C1) auf der sechsstufigen Kompetenzskala des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) [entspricht].«32 Eine jüngere Befragung (Stand 2018) von Universitäten und Hochschulen zeigt, dass in Deutschland »insgesamt 168 Universitäten und (Fach-)Hochschulen« das Goethe-Zertifikat C1 als Zugangsvoraussetzung anerkennen; »das sind knapp 40 Prozent aller deutschen Hochschulen.«33 Darunter sind für unsere Weiterbildungsstandorte Bremen, Hannover und Frankfurt a. M. so wichtige Universitäten wie Bremen, Hamburg, Lüneburg oder Mannheim und (Fach-)Hochschulen wie Dortmund, Freiburg, Mainz, München oder Köln. Auch für den Zugang zum BA PHM sind wir mit der Implementierung des Studiengangs ab dem Wintersemester 2017/2018 in das regelmäßige Studienangebot der Universität (also nach dem Projektstatus, den der Studiengang zwischen 2006 und 2017 innehatte) und der damit verbundenen Akkreditierung davon ausgegangen, spätestens nach einem Studienjahr34 den Nachweis eines Goethe-C1-Zertifikates (oder vergleichbar)35 von den Studierenden zu verlangen. Allerdings hatte unser Immatrikulationsamt hier andere Vorstellungen (dazu später mehr). Hochschulen und Universitäten halten auch eigene Sprachkurse vor und führen eigene Sprachprüfungen durch. Diese richten sich an ›international Studierende‹ (siehe oben). Die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber (DSH) wurde anknüpfend an frühere Verfahren36 als ein eigenes System der Sprachprüfungsniveaus eingeführt, dessen ›niveaubezogene Abstufungen‹ sich jedoch durch Noten in Prozentform ausdrücken. So verweist ein DSH-2-Zeugnis in diesem System darauf, dass die Note 67 bis 81 Prozent erreicht wurde; dieses Zeugnis ist an vielen Hochschulen und Universitäten eine Voraussetzung zum Studium.37 Leider gibt es – anders als bei den Goethe-Zertifikaten – keine genaue Zuordnung der Stufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens zu den Stufen der DSH. Zudem sind die verbreiteten Informationen verwirrend und widersprüchlich und die Diskussion der Expert*innen zur Vergleichbarkeit

32 33 34 35 36 37

https://www.goethe.de/de/spr/kup/prf/prf/gb2.html (Homepage ist mit dem Vermerk © 2019 Goethe-Institut ausgestattet); zuletzt geöffnet am 26.09.2019. https://www.goethe.de/resources/files/pdf133/goethe-zertifikate-anerkennung_gesamt1.pdf; zuletzt geöffnet am 26.09.2019. Gekoppelt mit der Möglichkeit, das Studium zunächst auch mit B2 beginnen zu können. Vergleichbare Sprachprüfungen: TestDaF: mind. 15 Punkte insgesamt und in allen vier Prüfungsteilen mindestens 3 Punkte; telc Deutsch C1. Davor hieß das System Prüfung zum Nachweis deutscher Sprachkenntnisse (PNDS). http://dsh.de/externe-dsh-pruefungen; zuletzt geöffnet am 26.03.2019.

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der Anforderungen und zur Sinnhaftigkeit eines bestimmten Sprachprüfungsniveaus kommt zu sehr unterschiedlichen, ja teilweise sogar gegensätzlichen Ergebnissen (Althaus 2018).

7.2

Zu den Realitäten des Erlernens der Sprache Deutsch vor dem Studium

Das Erlernen einer Fremdsprache ist ein komplexer und von vielen Faktoren beeinflusster Prozess. Individuelle Lernvoraussetzungen, also Bildungserfahrungen und Bildungsstatus im Herkunftsland und auch vorheriger Fremdspracherwerb sowie die bei allen Bewerber*innen zum BA PHM vorhandene Mehrsprachigkeit, können die je eigene sprachliche Entwicklung in der deutschen Sprache beeinflussen. Zudem bestimmen Motivation, Lerngelegenheiten und Lerneffizienz das Erlernen einer neuen Sprache mit. Neben individuellen und biographischen Faktoren sind Elemente von Bedeutung, die mit Sprachstrukturen und ihren Unterschieden zwischen den Sprachen und mit der Qualität von Lernräumen zu tun haben. Darüber hinaus spielen im Möglichkeitsraum des Fremdsprachenlernens auch soziale, strukturelle, institutionelle und politische Zusammenhänge eine bedeutsame Rolle. Dieser Komplexität können wir hier nicht gerecht werden. Allerdings wollen wir zumindest einige Faktoren skizzieren, die für die Bewerber*innen zum BA PHM wichtig sein können. So haben Geflüchtete – wir haben dies bereits angedeutet (siehe oben, 3.3 Statistische Daten zu Studierenden im Vergleich) – oft andere Zugänge zum Erlernen der deutschen Sprache als sogenannte ›international Studierende‹. Einige, je nachdem, wann sie nach Deutschland eingereist sind, durften bis zur Klärung des Aufenthaltsstatus keine Sprachkurse besuchen; dies konnte Jahre dauern. In dieser Zeit, so berichten Student*innen, hätten sie sich mithilfe von Onlineprogrammen, Apps, Fernsehen, Zeitschriften und der Kommunikation mit Muttersprachler*innen oft eigenständig Deutsch beigebracht. Andere, je nach Aufenthaltsstatus, wurden vom Jobcenter dazu aufgefordert, im Zuge der verpflichtenden Integrationskurse seit 2005 an Sprachkursen teilzunehmen; diese waren jedoch auf das Erreichen der Sprachprüfungsniveaustufe B1 beschränkt. Erst seit 2016 wurden auch Sprachkurse möglich, mit deren Hilfe das Sprachprüfungsniveau B2 erreicht werden kann. Allerdings ist die Praxis des Spracherwerbs durch weitere Erschwernisse gekennzeichnet: Wenn Sprachlernende beispielsweise im ALG-II-Bezug sind, entfällt der gesetzliche Anspruch ab dem B2-Niveau. Das Jobcenter entscheidet über die Teilnahme am jeweiligen Sprachkurs, und bei Personen, die älter als 30 Jahre sind, wird die Teilnahme an einem solchen Sprachkurs erfahrungsgemäß nicht genehmigt. Bundesweit fehlten 2016 zudem laut Frank-Jürgen Weise (BAMF) Sprachkursangebote im Bereich von mehr als 200.000 Plätzen. Genaue Zahlen sind nicht zu verifizieren (Zeit-Online 2016). Darüber hinaus gibt es auch zu wenig ausgebildete DaF-/DaZ-Lehrer*innen. Geflüchtete aus bestimmten Ländern – Syrien, Eri-

Der Versuch, globale Bildungsbiografien in nationale Hochschulstrukturen zu implementieren

trea, Iran und Irak – werden seit 2015 bei der Vergabe von Plätzen in Integrationsund Sprachkursen auf Veranlassung des BAMF eher bevorzugt (Anlage 1 zum Trägerrundschreiben 06/15), andere – etwa Geflüchtete aus Afghanistan – eher behindert. Weiterhin werden C1-Sprachkurse im ländlichen Raum in Deutschland kaum oder gar nicht angeboten; der Zugang zu den DSH-Sprachkursen ist Bewerber*innen, die nicht schon eine Studienplatzzusage haben oder Teilnehmer*in an einem Orientierungsjahr oder Ähnlichem sind, in der Regel nicht möglich, und zwar unter anderem deshalb, weil die Kursplatzkapazitäten begrenzt sind und exklusiv für ›international Studierende‹ vorgehalten werden. In der Fachliteratur wird darauf hingewiesen, dass Sprachtests auch einen hochgradig sozialen Charakter haben (Abel 2010, S. 203) und die »Konsequenzen von Tests […] mitunter schwerwiegend sein [können], wenn es um Selektion und zum Beispiel um den Zugang zu Jobs, zu Ausbildungsmöglichkeiten, um die Einwanderung in Staaten, den Erhalt der Staatsbürgerschaft etc. geht, das heißt also um den Zugang zu wertvollen, bisweilen raren und umkämpften Ressourcen und Gütern« (ebd., S. 204).

7.3

Ausgangsüberlegungen bei der Gestaltung von Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf die Sprache Deutsch

Im Wissen um solche sozialen, strukturellen, institutionellen und politischen Faktoren, die die Möglichkeitsräume beim Erlernen der deutschen Sprache mit beeinflussen, haben wir versucht, unsere Konzeption des BA PHM mitsamt den notwendigen sprachlichen Zugangsvoraussetzungen zu gestalten. Zunächst bewerten wir die Bedeutung der jeweiligen Herkunftssprachen hoch und schätzen sie als wichtige Ressourcen ein. Wie bereits deutlich wurde (siehe oben, 4. Zugang und Zulassung), verlangen wir Kenntnisse in einer Herkunftssprache auf dem Niveau C2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens. Grundsätzlich gehen wird davon aus, dass Akademiker*innen mit Flucht- und Migrationserfahrungen – wie bereits deutlich wurde – bei der Fortsetzung ihrer Bildungsbiografie keine Zeit ›verlieren‹ sollten. Forschungen zeigen, dass es in Deutschland (unter anderem durch bürokratische Hürden, lange Bearbeitungszeiten in Behörden, zu wenig Sprachkurse, fehlende passgenaue Anschlüsse etc.) hohe kumulierte Zeitverluste gibt (Nohl et al. 2010). Ein spezieller Sprachkurs in der Fremdsprache Deutsch ›kostet‹ Zeit; meist wird für die Vorbereitung auf die Sprachprüfung C1 – ausgehend von B2 – von einem Jahr ausgegangen. Wir haben uns deshalb für ein integriertes System entschieden, auch deshalb, weil wir davon ausgehen, dass es günstig ist, wenn es alltägliche, unmittelbar notwendige Sprachanlässe gibt. Außerdem liegt nach unserer Erfahrung bei den fachlich vorgebildeten und erwachsenen Sprachlernenden ein besonderes Lerninteresse vor, das auf spezifische akademische Inhalte und Themen zielt. Im Studiengang BA PHM ist Sprachlernen eng mit fachlichem Lernen verbunden. Beide Prozesse ver-

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weisen aufeinander. Die Student*innen im BA PHM befinden sich von Beginn an in einer Lernumgebung, in der sie in wissenschaftlichen Kontexten mit Deutsch als Fachsprache umgehen und diese anwenden. Mit Blick auf die Heterogenität der Studierendenkohorten ist es erforderlich, in der deutschen Sprache zu kommunizieren, dies sowohl in den spezifisch für die Studierendenkohorte des BA PHM reservierten Modulen als auch in den Modulen, die für alle BA-Studierenden des Faches geöffnet sind (siehe oben, 2. Struktur und Aufbau des Studiums). Zudem bezieht sich sowohl Sprachlernen als auch fachliches Lernen auf die je eigene berufliche Zukunft, kann auf anderen vielfältigen Lernerfahrungen in unterschiedlichen Ländern aufbauen und hat auch motivational bei Geflüchteten und Migrierten mit akademischer Bildungsbiografie eine besondere Bedeutung. Die Student*innen im BA PHM können zudem von einer vielschichtigen Kommunikation und Interaktion mit den Lehrenden profitieren, von studiumsbezogenen, aber auch von berufsbezogenen Netzwerken (unter anderem soziale Medien), die sich in den vergangenen Jahren gebildet haben, von Kontakten zu Absolvent*innen und von zusätzlichen Angeboten innerhalb und außerhalb der Universität. Wenn wir für zwei Semester die reine Präsenzzeit in den Lehrveranstaltungen des BA PHM mit denen in den DSH-Sprachkursen des Sprachenzentrums an unserer Universität vergleichen, dann kommen wir auf ein Verhältnis von 357 zu 240 Unterrichtsstunden (zu je 45 Minuten). Insgesamt ist im BA PHM in diesem Zeitraum (ohne das Praktikum einzurechnen) ein Arbeitsvolumen (workload) von 1.530 Zeitstunden (zu je 60 Minuten) veranschlagt, vorgesehen für die Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur, die Produktion eigener deutschsprachiger Texte oder die Vorbereitung auf eigene deutschsprachige Präsentationen. Im Gesamt der Unterrichtsstunden (für zwei Semester) sind 42 Stunden für einen Sprachunterricht im engeren Sinne festgelegt. In diesem spezifischen Modul Wissenschaftssprache Deutsch (siehe oben, 2. Struktur und Aufbau des Studiums) nehmen die Studierenden unter anderem Bezug auf die parallel stattfindenden Module und befassen sich zum Beispiel mit sprachlichen Aspekten ausgewählter Texte, die in den Lehrveranstaltungen von besonderer Bedeutung sind. Die Orientierung an den oben genannten Goethe-Zertifikaten erwies sich als Anspruch in Bezug auf die erforderlichen Deutschkenntnisse (Goethe-Zertifikat C1 oder vergleichbare Zertifikate) zum erfolgreichen Abschluss im BA PHM jedenfalls nach all unseren Erfahrungen als ›passgenau‹ und in Bezug auf die Hürde, unter Umständen von B2 auf C1 auch noch nach der Immatrikulation zu kommen, als noch einigermaßen bewältig- und zumutbar. Jedenfalls konnten in den vergangenen fünf Studiendurchgängen seit 2006 bis auf eine Person alle Studierenden diese Auflage erfüllen.

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7.4

Auseinandersetzungen im Kontext von ›Sprache‹

Sprachnachweise für ›international Studierende‹ waren bis in die 1990er-Jahre kaum ein Thema in Deutschland. Es gab Kursanschlussprüfungen mit Ergebnissen »bestanden« oder »nicht bestanden«. Implizierte Zusammenhänge zwischen Sprachwissen und studienrelevanten Sprachkompetenzen wurden als selbstverständlich angenommen. Mittlerweile sind Sprachnachweise jedoch zum Gegenstand (hochschul)öffentlicher Diskussionen (Althaus 2018, S. 80 f.) geworden. Seit 2015 wurden Deutsch-Sprachzertifikate sukzessive ausdifferenziert (zum Beispiel C1-Hochschule, B2-für den Beruf, B2-für die Schule) und werden vielfach deutlich höhere Anforderungen an die sprachlichen Zugangsvoraussetzungen gestellt. Auch die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg orientiert sich bei den jeweils hochschulüblichen Bestimmungen für den Zugang zu den Studiengängen an Sprachprüfungen wie der DSH oder dem TestDaf, verlangt dort beim TestDaF ein Ergebnis von 4 x TDN 438 – und unterscheidet sich damit von den ›Nachbarstandorten‹ Bremen, wo insgesamt auch 16 Punkte verlangt, jedoch in allen vier Prüfungsteilen mindestens drei Punkte vorausgesetzt werden (Universität Bremen 2019), und Hamburg, wo mindestens 15 Punkte verlangt werden, drei Teilprüfungen aber mindestens mit Niveau 4 und eine Teilprüfung mindestens mit Niveau 3 bestanden sein müssen (Universität Hamburg 2019). Die Anforderungen zum Zugang in den BA PHM haben wir mit dem GoetheZertifikat C1 (oder vergleichbar) ›niedriger‹ konzipiert.Wir folgen hier der KMKRahmenordnung39 , die vorsieht, dass die »sprachliche Studierfähigkeit bei Aufnahme des Studiums je nach Studienzweck« (KMK 2015, S. 3) spezifisch festgelegt werden kann. Die in der KMK-Rahmenordnung beschriebene Möglichkeit, »geringere sprachliche Eingangsvoraussetzungen« (ebd.) vorzusehen, können mit der Auflage verbunden werden, »studienbegleitend weiterführende Sprachkurse zu absolvieren und nachzuweisen« (ebd.). Dies haben wir getan, in dem wir das Modul Wissenschaftssprache Deutsch in der Studienstruktur des BA PHM verankert haben (siehe

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Die Carl von Ossietzky Universität verlangt von ›international Studierenden‹ in ihren allgemeinen Bestimmungen Deutschkenntnisse für die Aufnahme des Fachstudiums, die durch das erfolgreiche Absolvieren einer der folgenden Sprachprüfungen nachzuweisen ist: • DSH: Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (Stufe 2), • TestDaF: Test – Deutsch als Fremdsprache (mit Niveau 4 in allen vier Bereichen), • Feststellungsprüfung am Studienkolleg (Prüfungsteil Deutsch), • DSD II: Deutsches Sprachdiplom der Kultusministerkonferenz II, • Goethe-Zertifikat C2: Großes Deutsches Sprachdiplom [ehemals: Zentrale Oberstufenprüfung (ZOP), Kleines Deutsches Sprachdiplom (KDS) und Großes Deutsches Sprachdiplom (GDS)], • telc Deutsch C1 Hochschule: Zeugnis über die bestandene Prüfung. Rahmenordnung über Deutsche Sprachprüfungen für das Studium an deutschen Hochschulen (RO-DT) (Beschluss der HRK vom 08.06.2004 und der KMK vom 25.06.2004 i. d. F. der HRK vom 10.11.2015 und der KMK vom 12.11.2015).

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oben, 2. Struktur und Aufbau des Studiums). Seit der BA-Studiengang nicht mehr in Projektform durchgeführt wird, sondern als strukturell verankertes Angebot der Universität gilt, gibt es allerdings eine lebhafte Diskussion sowohl innerhalb der Fakultät als auch zwischen Fakultät, Zulassungsausschuss, Sprachenzentrum, Immatrikulationsamt und Präsidium zur Frage nach den Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf die Fremdsprache Deutsch. Aktuell haben wir die Situation, dass die C1-Sprachnachweise, die die Studierenden einreichen und die noch vor wenigen Jahren für das Studium ausreichend waren, nicht mehr anerkannt werden. In der Folge müssen Student*innen dann Nachweise zu DSH-2, C2- oder C1-Hochschule erbringen.40 Dies erscheint uns nicht angemessen und erhöht den Aufwand für die Studierenden immens, da sie, um das Sprachprüfungsniveau zu erreichen, in vielen Fällen die kostenintensiven, außeruniversitären Prüfungen mehrfach ablegen, sich entsprechend ›passend‹ zur jeweiligen Prüfung auf diese vorbereiten, parallel aber weiterhin versuchen, sich auf das Studium zu konzentrieren.41 Es erscheint uns selbstverständlich, dass die Universität und die Wissenschaften zur Erfassung, Beschreibung, Analyse und Erklärung überaus komplexer Phänomene und Prozesse auf sprachliche Fähigkeiten und Strukturen angewiesen sind, die es ermöglichen, genau dies zu tun und hohe Komplexität in einer differenzierenden und präzisen Weise nicht nur zu ›durchdringen‹ und ›aufzuschlüsseln‹, sondern dabei auch die jeweiligen Kontexte, Begriffe, Methodologien und Methoden sowie Erkenntnisse in einer Wissenschaftssprache zu reflektieren, zu begründen und zu argumentieren. Gleichzeitig gilt es jedoch, die Spezifik sowohl der Fachdisziplin als auch des jeweiligen professionell-beruflichen Handelns zu berücksichtigen. Pädagogik und Soziale Arbeit werden aus gutem Grund oft als Handlungswissenschaften bezeichnet, da das Verhältnis von Theorieentwicklung, empirischer Forschung und professioneller Praxis hier in besonderer Weise gefasst ist. So gibt es von der Wissenschaftsseite aus einen engen Bezug zu einer Profession und Berufspraxis, die aber nicht in

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»Die Zahl internationaler Studierender, die ein Ergebnis auf dem Niveau C1.2 und höher mitbringen, ist wesentlich geringer als gemeinhin angenommen. Seit seinem Beginn, im Jahr 2001, wurde der TestDaF bis Ende 2016 mehr als 300.000 Mal abgelegt, ein repräsentatives Sample also. Lediglich 2,7 Prozent von allen erreichten das höchste Niveau mit 4 x TDN 5, also C1.2 […]. 26,4 Prozent von allen Teilnehmenden erreichten die Stufenkombination von TDN 4 […]« (Althaus 2018, S. 93). Unserer Beobachtung nach bedeutet das erfolgreiche Absolvieren dieser Sprachprüfungen mit ›höheren‹ Anforderungen oft nicht, dass die jeweiligen Student*innen tatsächlich auf einem ›höheren‹ Niveau Deutsch verstehen, sprechen und schreiben. Leider sind sie nicht selten lediglich besser in der Lage, mit der Spezifik der jeweiligen Prüfungsanforderung umzugehen.

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eine bloße Anwendung, Umsetzung oder Handlungsanleitung einer wissenschaftlichen Theorie mündet, sondern einerseits durch das Bemühen um wechselseitige ›Befragung‹ von Theorie, Forschung und Praxis und andererseits durch eine reflexive Handlungskompetenz gekennzeichnet ist, bei der Theorien oft eher als (selbst-) kritische Fragen verstanden werden. Wissenschaftliche Sprache benötigt hier in besonderer Weise Übersetzungsleistungen, da die Professionellen in Pädagogik und Sozialer Arbeit darauf angewiesen sind, von den jeweiligen Adressat*innen in ihren Lebenslagen und Lebenswelten verstanden zu werden. Und umgekehrt müssen Professionelle in Pädagogik und Sozialer Arbeit in der Lage sein, Adressat*innen zu verstehen, also auch zum Beispiel deren Jugend-, Familien- und Umgebungssprachen. Dabei geht es bei solchen Übersetzungen noch in keiner Weise um ›Fremdsprachen‹, so wie sie im Allgemeinen vorgestellt werden. Dies kommt in multilingualen Kontexten gewissermaßen noch hinzu und stellt – von der Verstehensseite her – eine besondere Kompetenz dar, wobei es auch hier dann jeweils eine Art Intersektionalität zwischen Herkunftssprachen und den jeweiligen Jugend-, Familien- und Umgebungssprachen gibt. Es ist also günstig, wenn Professionelle in Pädagogik und Sozialer Arbeit – pointiert gesagt – Erfahrungen in und Kenntnisse zum Beispiel von ›Arbeiter*innen‹und ›Milieu‹-Sprachen‹ haben; und es ist besonders günstig, wenn sich dies mit Erfahrungen in und Kenntnissen von verschiedenen Herkunftssprachen einer Migrationsgesellschaft verbindet. Ein nur dreijähriges Bildungsangebot, das sowohl eine praxisbezogene beruflich-professionelle Ausbildung als auch wissenschaftliche Reflexionsfähigkeit zum Ziel hat, wie das Bachelorstudium PHM mit den ›Vorleistungen‹, die die Student*innen durch ihre Schulbildung und ihr Studium im Herkunftsland und das Absolvieren der Weiterbildung Kontaktstudium (oder vergleichbar) nachweisen, wird hier stets Kompromisse hinsichtlich des zu erreichenden Niveaus der einzelnen Kompetenzbereiche machen müssen. Gleiches gilt auch für andere Bachelorstudiengänge, die auf Handlungsfelder in den Bereichen von Pädagogik und Sozialer Arbeit vorbereiten. Leider wird dies in der Debatte zur Frage nach den Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf die Fremdsprache Deutsch viel zu wenig berücksichtigt. Und die Argumente, die zur ›Verteidigung‹ von geforderten sprachlichen Niveaus benutzt werden, sind nicht immer sachlich angemessen. Wir wurden auf professoraler Ebene auch schon mit der Bemerkung zurechtgewiesen, dass in einem Studiengang an der Universität schließlich keine Soziale Arbeit betrieben werden könne; hier würde es um Wissenschaft gehen. Mitunter haben wir zudem den Eindruck, dass die Wissenschaftssprache Deutsch und ihr behauptetes ›Niveau‹ auch ein Distinktionsmerkmal ist und die Öffnung der Universität als eine symbolische Bedrohung von Bildungsbiografien deutscher akademisch-bürgerlicher Schichten wahrgenommen wird.

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7.5

Wie weiter?

Wir sind uns nicht sicher, wie es in Bezug auf die sprachlichen Anforderungen für den Zugang zum BA PHM weitergehen wird. Das Modell, welches von nicht wenigen an unserer Universität bevorzugt wird, scheint eher ein einjähriger Sprachkurs als ›Vorleistung‹ und die Orientierung an Sprachprüfungsnachweisen wie DSH-2, C2- oder C1-Hochschule zu sein. Wir halten dies für überaus kontraproduktiv und sehen den Studiengang, so wie er sich bisher im Großen und Ganzen bewährt hat, gefährdet. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass kein perfektes Modell möglich ist, um allen Faktoren auf den individuellen, motivationalen, sprachlichen, sozialen, institutionellen und zeitlichen Ebenen gerecht zu werden. Grundsätzlich müssen wir – und alle in die Angebote involvierten Personen und Abteilungen – mit relativierenden Zielen und Kompromissen umgehen können, nach den Devisen ›so gut es geht‹ und ›so weit wie möglich‹. Dies erscheint uns jedenfalls besser, als nichts zu tun und in der Unverantwortlichkeit zu verharren oder die Zugangsvoraussetzungen so zu erhöhen, dass weder die Intention des Studiengangs erhalten werden kann, noch die bislang Adressierten erreicht werden können. Dennoch gibt es zweifellos Verbesserungsmöglichkeiten, auch bei unserem zweistufigen Modell. So kann es durchaus sinnvoll sein, mehr in explizites Sprachlernen zu investieren. Wir könnten uns zum Beispiel vorstellen: •



• •

eine Erhöhung des Workloads im Modul Wissenschaftssprache Deutsch (von bislang 12 KP auf 24 KP), mit einer Konzentration in den ersten beiden Studiensemestern; die zusätzliche Einrichtung eines sechswöchigen (gebührenfreien) Intensivsprachkurses vor Studienbeginn als ›Vorleistung‹, verschränkt mit und anknüpfend an die Weiterbildung Kontaktstudium; die Einrichtung von Schreibwerkstätten für alle BA-Student*innen, die freiwillig und auf Empfehlung besucht werden können; bei Studienbeginn mit einem B2-Sprachnachweis die Empfehlung, bis zum Erlangen des C1-Sprachnachweises das Studium in Teilzeit (mit 50 Prozent) zu beginnen und dies mit zusätzlichen (gebührenfreien) Sprachmodulen zu flankieren.

All dies wird zusätzliches Geld, zusätzliches Personal und zusätzliche Ressourcen erfordern und birgt je nach Modell und Ausgangssituation Vorteile wie Nachteile (zum Beispiel kein BAföG im Teilzeitstudium), wobei Vorteile wie die Verbindung von fachlichem und sprachlichem Lernen, der Zugang zum niedersächsischen Semesterticket und der Studierendenstatus überwiegen dürften.

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8.

Rassismus und ›Besonderung‹

Bei rassistischem Othering42 geht es um gesellschaftliche Prozesse, die meist eine Vorgeschichte haben. Durch die Wirkung dominierender Strukturen, Diskurse und Praktiken werden Menschen zu anderen gemacht. Diese spezifische Besonderung ist mit der sozialen Konstruktion von ›Großgruppen‹, ungleich verteilter Macht und in aller Regel mit einer Problematisierung verbunden. Das ›Problematische‹ wird aus der Perspektive der Dominanz mit Eigenheiten ›vernäht‹, die auf ›Rasse‹ oder ›Kultur‹ verweisen, wobei die Eigenheiten im Modus scheinbarer Erklärung behauptet werden. Es entsteht eine Asymmetrie zwischen den so konstruierten anderen und der Position, von der aus Othering-Prozesse initiiert, vorangetrieben oder reproduziert werden. Dabei geht es nicht nur darum, dass die anderen vorgestellt und markiert und damit auf einer ›Vorderbühne‹ platziert werden, während die konstruierende Position auf der ›Hinterbühne‹ gewissermaßen unsichtbar und unthematisiert bleibt.43 Es wird auch eine Kommunikation auf ›Augenhöhe‹ – von Gleich zu Gleich – verweigert und ausgeschlossen; schließlich – so die kommunikationsregulierende Vorstellung – sind die anderen doch aus biologischen oder kulturellen Gründen anders und letztlich ›Marionetten‹ ihrer Biologie und Kultur. Nun ergeben sich allerdings auch Prozesse von Besonderung, wenn auf rassistisches Othering und Verhältnisse sozialer Ungleichheit oder Benachteiligung reagiert und versucht wird, Gegenwirkungen zu entfalten. Als prominente Beispiele können kompensatorische Maßnahmen, sogenannte positive Diskriminierungen und Quotenregelungen genannt werden. Stets werden hier die jeweils Adressierten beschrieben und Gründe benannt, die die jeweiligen Aktivitäten rechtfertigen. Wichtig wäre hierbei stets, auf Gruppenkonstruktionen bezogene Vereigenschaftungen und Defizitzuschreibungen zu überwinden und deutlich zu machen, dass die Mängel auf der Seite der dominierenden Strukturen, Diskurse und Praktiken liegen, die in ihren Wirkungen nicht nur unzureichend und ungerecht sind, sondern auch stigmatisierend und ausgrenzend wirken, und deshalb Veränderungen im Allgemeinen notwendig sind. Dennoch ist es, selbst wenn dies vehement versucht wird, kaum vermeidbar, dass sich (auch) bestimmte Vorstellungen über Adressierte herausbilden, die in einem Verhältnis zum rassistischen Othering stehen. Dies reicht von ›Gegenbildern‹, die vielleicht Bewunderung hervorrufen, über Opferfiguren, die bemitleidet werden, bis hin zu collageähnlichen Fiktionen, mit denen geglaubt wird, noch in der

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Zum Begriff Rassismus Leiprecht (2016). Wir benutzen diese Begriffe in vorsichtiger Analogie zu Ervin Goffman (2003, S. 217 ff.), ohne dass wir dessen Theoriekonzept vollständig übernehmen. Unser Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf Fremdzuschreibungen und hier verorten wir uns eher bei den Theoriekonzepten von Stuart Hall (1997).

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rassistischsten Zuschreibung ein ›Körnchen Wahrheit‹ zu entdecken. In all diesen Fällen sieht eine allgemeine Augenhöhe, Gleichwertigkeit und Symmetrie jedenfalls anders aus. Die Auseinandersetzung ist also nicht zu Ende, wenn Maßnahmen oder Regelungen installiert sind, die Gegenwirkungen zu Verhältnissen sozialer Ungleichheit und Benachteiligung entfalten sollen, sondern eigentlich beginnt die verändernde Arbeit erst jetzt so richtig und hoffentlich gemeinsam mit den jeweils direkt Betroffenen, die sich nun in einer stärkeren Position befinden sollten. Auch unser eigener Versuch, die Universität zu ›öffnen‹ und Zugangsbarrieren abzubauen, bekommt es mit solchen Widersprüchlichkeiten zu tun. Ein besonderer Studiengang ist nun einmal darauf angewiesen, zu benennen, für welche Student*innen er weshalb konzipiert ist; und dafür ist auf verschiedenen Ebenen bei den Verantwortlichen in Politik (Parteien, Parlament, Ministerien) und Universität (Präsidium, Dekanat, Fakultät, Institut, Fachschaft) Überzeugungsarbeit zu leisten. Es müssen Studienstrukturen entwickelt, Personal bereitgestellt und (Prüfungs-/Zugangs-)Ordnungen erstellt werden – und schließlich müssen potenzielle Student*innen informiert und muss für den Studiengang geworben werden. Obwohl wir stets mit Nachdruck auf die Defizite des Allgemeinen hingewiesen haben – also zum Beispiel auf Arbeitsämter oder Jobcenter, die bei Migrierten und Geflüchteten deren akademische Bildungsbiografie ignorieren, auf Hochschulen, die Zugänge verhindern, auf Fachdisziplinen, die bestimmte ›Gruppen‹ nicht als Teil der scientific community sehen, ließ es sich nicht vermeiden, immer wieder auch diejenigen in zusammenfassender Weise zu benennen und zu beschreiben, deren Nachteile bei der Fortsetzung ihrer Bildungsbiografie durch unsere Angebote zumindest zum Teil ausgeglichen werden sollten. Dabei haben wir versucht, stets so zu formulieren, dass individualisierende Defizitzuschreibungen und Vereigenschaftungen vermieden und die strukturellen Zusammenhänge und Zumutungen, mit denen Menschen konfrontiert sind, deutlich werden. Ob uns dies gelungen ist? Ob dies erfolgreich war? Die Reaktionen allein an unserer Universität lassen uns immer wieder daran zweifeln. Auf der einen Seite bekommen wir sehr viel Zuspruch und erfahren sehr viel Unterstützung, die mit hohem persönlichen Einsatz und Engagement verbunden ist. Auf der anderen Seite erleben wir nicht selten eine Praxis, die scheinbar unverrückbare Negativzuschreibungen reproduziert und verallgemeinert, gepaart mit einem hohen Maß an Unbeholfenheit. Offenbar sind die dominierenden Diskurse und Praktiken so stark und so weit verbreitet und ist das dabei transportierte soziale ›Wissen‹ so selbstverständlich, dass wir nicht sicher sein können, wie unsere eigenen Texte und Informationen und, schon gar nicht, wie unsere Projekte der migrationsgesellschaftlichen Öffnung gelesen und interpretiert werden. Nun ist Rassismus und Nicht-Anerkennung für die Teilnehmer*innen an unseren universitären Angeboten leider eine Erfahrung, die gewissermaßen allgemeiner und nicht nur auf den universitären Kontext beschränkt ist; eher das Gegenteil

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ist der Fall. Berichtet wird hierüber meist aber eher zögerlich und mit großer Zurückhaltung. In den Interviews zu unserem bereits erwähnten Dokumentarfilm (Leiprecht/Willems 2017) finden sich Schilderungen in einem Spektrum, die von der Konfrontation mit verbreiteten Stereotypen über Erlebnisse, die mit deutlicher Abwertung und Zugehörigkeitsverweigerung einhergehen, bis hin zur Erfahrung gewaltvoller Übergriffe reichen. So erzählt Marina Baumbach, eine ehemalige Teilnehmerin an der Weiterbildung Kontaktstudium und dann Student*innen an der Universität: »Ja, zum Beispiel, okay, die russischen Frauen, die haben nicht so viel im Kopf, sondern sie möchten mit Männern die Zeit verbringen und fertig. Also, die Kleidung auch: ›Ja, komisch, kommst du aus Russland, aber du trägst also nicht so Minirock‹. Und es ist sehr selten, dass zum Beispiel auf einer Party mich jemand fragt: ›Was trinkst Du?‹ Ja, sofort kommt: ›Wodka. Du kommst doch aus Russland? Wie? Du trinkst keinen Wodka? Also, das geht gar nicht, also dann bist du doch keine Russin.‹« Blaise Pokos, ein ehemaliger Teilnehmer am und – nach erfolgreichem Studium – späterer Dozent im Kontaktstudium und zugleich Leiter einer Jugendhilfeeinrichtung, beschreibt seine Erfahrungen folgendermaßen: »Also, man geht immer davon aus, dass jemand, der eine dunkle Hautfarbe hat, ne schwarze Hautfarbe hat, nicht unbedingt so eine angesehene Position besetzen kann. Teilweise gehe ich mit meinen Mitarbeitern zu einem Termin und die Leute, die uns empfangen, gehen davon aus, dass ich nicht der Chef bin, ja, sondern meine Mitarbeiter sind es.« Oder: »Mein Sohn kam nach Hause und war wirklich verzweifelt und redete mit mir und sagte: ›Papa, sag mal, du kommst aus dem Kongo und ich nicht.‹ Ich sagte ›Ja.‹ ›Aber warum meinte meine Lehrerin, dass ich aus dem Kongo komme? Wir sollten so ein Projekt machen, so eine Weltmappe und jeder sollte anpinnen, woher er kommt, und ich habe Deutschland angepinnt und die Lehrerin meinte: Nein, du kommst aus den Kongo.‹« Thomas Safari, ein anderer Teilnehmer am Kontaktstudium und späterer Absolvent im BA PHM, berichtet von seiner ersten Zeit als Geflüchteter in Deutschland: »Dann sollte ich zum Arzt gehen und das war in der Stadt und ich wollte einen Weg dahin finden, aber ich musste jemanden fragen. Erstmal habe ich die Kinder, die zur Schule gingen, gefragt, und die haben auf meinen Zettel gesehen, aber die wussten nicht, wo das war. Danach habe ich ein paar ältere Leute getroffen. Ich

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habe auf meinen Zettel gezeigt und auf Englisch gefragt, und dann … haben die meinen Zettel zerrissen.« Solche Erfahrungen, die eher auf interaktiver Ebene stattfinden, werden als irritierend, ignorant, niederschmetternd, erniedrigend und verletzend erlebt; in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich allerdings kaum von Erfahrungen, die auf Effekte eher strukturell-institutioneller Ebene hinweisen und mit (formaler) NichtAnerkennung verbunden sind. Nochmal Blaise Pokos: »Als ich meine Aufenthaltserlaubnis bekommen habe und dann erzählt habe, ich habe einen Bachelorabschluss in Philosophie und Theologie aus dem Kongo, da wurde gesagt, das ist hier nichts, das ist wie ein Hobby. Das war meine erste Erfahrung mit einer Nicht-Anerkennung, fast wie eine Erniedrigung und du bist gar nichts.« Und nochmal Marina Baumbach: »Mein Diplom, ja habe ich also mehrere Male gehört. Ja, okay, das ist schön, das hast du in Russland gemacht, aber jetzt sind wir in Deutschland, also kannst du vergessen. Das fühlt sich nicht so schön an. Also, ich glaube, genau das macht die Menschen kaputt […]. Seitdem ich in Deutschland bin, also die erste Zeit habe ich wirklich eine Krise gekriegt, dass ich gar nichts mit meinem Diplom anfangen kann, und ich dachte, wie, mein Leben ist zu Ende.« Hier findet nicht nur Verletzung, Entwertung und Verkennung statt, sondern es wird zugleich auch die Zukunft bedroht, indem der Eindruck erzeugt wird, als könne die jeweilige akademische Bildungsbiografie nicht fortgeführt werden, was leider für viele Migrierte und Geflüchtete, die im Herkunftsland ein Studium begonnen und abgeschlossen haben, allerdings tatsächlich auch so ist. Die Erfahrung, diese Biografie – gegen alle Widerstände – dann doch fortsetzen zu können, wirkt oft erleichternd, macht Hoffnung, gibt Perspektive, vermittelt Anerkennung. In den Worten von Thomas Safari: »Ja, und dann plötzlich an Uni zu sitzen und das […] das kann ich nicht gut beschreiben, aber es war für mich […] wie eine Hoffnung, also zu sagen, okay, man kann jetzt noch weiter studieren. Ja, und man wird als gebildeter Mensch in Deutschland behandelt.« Leider ist aber auch die Universität kein ganz anderer Ort. Manchmal sind Student*innen, bei denen deutlich ist, dass sie sehr gut Deutsch sprechen, irritiert darüber, im Seminar des Öfteren und mit Nachdruck von Dozent*innen gefragt zu werden: »Haben Sie das auch verstanden?« Vermutlich ist eine solche Frage fürsorglich und gut gemeint. Deutlicher ist es, wenn an anderen Instituten unserer Universität durch Kolleg*innen von einem umfänglichen Scheitern der Studieren-

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den des BA PHM aufgrund unzureichender Sprachkompetenzen gesprochen wird, wobei doch faktisch genau das Gegenteil der Fall ist: Bislang hat nur eine einzige Studentin in all den Jahren eine erforderliche Sprachprüfung nicht bestanden. Allerdings wird die ›Phantasie des Scheiterns‹ als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung durchaus auch Realität werden können: Wenn sich im Kontext einer restriktiven Umsetzung der Anforderungen an die Deutschkenntnisse für den Studienzugang die Anzahl derer erhöht, die an dieser Praxis dann tatsächlich scheitern. Als Konsequenz wird auch die Studienabbruchquote steigen. Für die Student*innen, aber auch für die Lehrenden im Studiengang äußerst unangenehm sind Verdächtigungen, die uns über den ›kollegialen Flurfunk‹ erreichen: Kommt es hier zu Bevorzugungen bei Prüfungen, werden Qualifikationsarbeiten zu nachlässig und mit zu großer Milde begutachtet? Doch auch unter den Studierenden sind die Erfahrungen mitunter betrüblich: »Schon wieder so viele Ausländer!«, war von Kommiliton*innen in Lehrveranstaltungen zu hören; und einer der Student*innen im BA PHM berichtet: »Die Plätze neben mir bleiben immer frei.« Yasemin Karakaşoğlu, Erziehungswissenschaftlerin und mehrere Jahre auch Prodekanin und Konrektorin an unserer Nachbaruniversität Bremen, machte bei einer Tagung in Oldenburg vor Kurzem deutlich, wie wichtig Kritik und Sensibilität gegenüber Diskriminierung auch an der Universität ist, gerade in Zeiten, in denen rassistische Äußerungen zunehmend salonfähig werden und das Autoritäre und Nationale immer mehr Gehör findet. Dabei mache es gerade aber der Habitus an der Universität schwierig, Diskriminierungserfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Beobachten lasse sich oft eine reflexhafte Abwehr und Verleugnung, die mit einem zu geringen Wissen über die Formen und Effekte von vermutlich oft auch unbeabsichtigter, nicht selten auch subtiler Einteilung, Zuschreibung und Wertung einhergingen. Auf den verschiedensten Ebenen – bei der Beratung beim Zugang zur Hochschule, bei den Mitarbeiter*innen untereinander, im Umgang der Lehrenden mit den Student*innen, in den Gremien und den Leitungsstrukturen – fehle es in der Regel an einer Reflexion der eigenen Involviertheit und des Umgangs damit: »Wir haben viel Unbeholfenheit.« Wir können dieser Einschätzung zweifellos zustimmen. Günstig scheint es uns hier zu sein, dass es ein kennzeichnendes Element der Angebotsstruktur beider Studiengänge – des BA PHM und des BA Pädagogik – ist, dass Systeme und Differenzordnungen wie Rassismus, Sexismus, Klassismus, Altersdiskriminierung und Ableism/Bodyism als explizite Themen in den Modulen einen wichtigen Platz einnehmen. Auf diese Weise lässt sich ein kritisches und auf Wissenschaft bezogenes Reflexionspotenzial aufbauen, das alle angeht. Zentral ist dabei, zu vermitteln, dass eine besondere Aufmerksamkeit für solche Systeme und Differenzordnungen, für ihre Funktionen und Mechanismen ein Kernelement professionellen Reflektierens und Handelns in der Sozialen Arbeit beziehungsweise Pädagogik ist: Professionel-

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le in Ausbildung sind auf die Entwicklung eines entsprechenden Sets an Wissen, Reflexionspotenzialen, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie Haltungen angewiesen. Solche Themen und Inhalte sollten jedoch nicht nur in speziell dafür vorgesehenen Lehrveranstaltungen vorkommen und dort in einer vertieften Weise diskutiert werden. Aus und mit diesen Themen und Inhalten ergeben sich auch Querschnittsaufgaben, die im Prinzip für alle Lehrveranstaltungen gelten. Eine solche professionelle Ausbildung dürfte vor allem dann gute Gelingenschancen haben, wenn in den Lehrveranstaltungen insgesamt respektvolle, wertschätzende und Vertrauen fördernde Umgangsweisen ›gelebt‹ werden, gepaart mit der Unterstützung von Empathie, einem Zuhören-Können bei Beiträgen von Student*innen und einer Sensibilität für Vulnerability. Dabei müssen wir uns als Lehrende verdeutlichen, dass wir oft nicht nur über einen ›Gegenstand‹ sprechen, sondern die direkt Betroffenen des ›Gegenstandes‹ im selben Raum sitzen und an biographische und aktuelle Erfahrungen erinnert werden. Man spricht hier also auch ›über Menschen‹, wobei diese mit den Thematisierungen möglicherweise schmerzhafte Erlebnisse verbinden, die mit Angst, Trauer und Scham besetzt sind. Erfahrungen, über die sich wiederum nicht so leicht reden lässt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit einer Lehrveranstaltung, aber auch – ohne ein vertieftes Vertrauensverhältnis – kaum in einer Sprechstunde.44 Hochschullehrende wissen oft nicht, mit wem sie sprechen, wenn sie über etwas sprechen. Es ist deshalb sinnvoll, zu versuchen, Lehrgegenstände stets so zu präsentieren, zu untersuchen, zu erörtern und zu diskutieren, als ob direkt davon Betroffene anwesend sind.

9.

Nachmachen und Probleme überwinden

Es dürfte deutlich geworden sein, dass wir als die Autor*innen nahe an dem Thema sind, zu dem wir schreiben. Wir formulieren aus einer ›Innensicht‹ heraus, die eine genaue und detaillierte Beschreibung möglich macht. Dies ist vorteilhaft, wird aber vor allem dort schwierig, wo es um die Beschreibungen problematischer Prozesse geht. So wissen wir, dass das zweistufige Modell in Oldenburg nicht realisiert worden wäre, wenn nicht viele Akteur*innen ein erhebliches Maß an Zeit und Arbeitskraft investiert hätten. Dies ist zu würdigen. Trotzdem kommen wir um Kritik nicht herum. Nicht allen der Akteur*innen werden wir damit gerecht. Eine

44

Geschützte Räume außerhalb der Lehrveranstaltungen, in denen Aussprache und Erfahrungsaustausch unter Betroffenen mit ähnlichen Erfahrungen einfacher möglich werden und auf deren Grundlage eine unterstützte Rückmeldung leichter gelingen kann, sind hier wichtig. Auch ist es hilfreich, unter den Lehrenden geeignete Vertrauenspersonen kenntlich zu machen, die besondere Sprechstunden einrichten.

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Absicherung und eine Weiterentwicklung der Angebote sind jedoch nur mithilfe einer kritischen Perspektive möglich. Seit der Transformation von einem projektförmig finanzierten Studiengang in ein regelhaftes Angebot ist die Aufmerksamkeit innerhalb der Universität signifikant gestiegen. Dies ist zweifellos positiv. Die Position im ›Scheinwerferlicht‹ zeigt aber auch die ›Baustellen‹, zum Beispiel, • • • • •

dass Diversität an der Universität nicht mit Harmonie verwechselt werden sollte, dass neue Konflikte entstehen, dass sich ein berechtigter Anspruch auf Partizipation innerhalb des Systems deutlich macht, dass das sich neu Entwickelnde mit strukturellen Veränderungen und personellen Erweiterungen unterstützt werden muss sowie dass auf heterogene Bedarfe sinnvollerweise nicht mit einem besonders stringenten und gleichförmigen Verwaltungshandeln reagiert werden sollte, sondern im Gegenteil Flexibilität und Augenmaß im Einzelfall erforderlich sind.

Insgesamt gehen wir davon aus, dass die Probleme bewältigbar sind, und dass sich dies nicht nur lohnt, sondern angesichts der Geflüchteten und Migrierten, die ihre akademische Bildungsbiografie fortsetzen und erweitern wollen, eine Notwendigkeit ist. Wir plädieren jedenfalls an all unsere Leser*innen, die an Hochschulen und Universitäten arbeiten, in ihren jeweiligen Fächern und Fachbereichen beziehungsweise Fakultäten zu prüfen, ob und in welcher Weise ›vor Ort‹ ähnliche Angebote eingerichtet werden könnten. Dafür stellen wir unsere eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse zur Verfügung. Wichtige Unterlagen (unter anderem auch die Zulassungs- und Zugangsordnung, die Prüfungsordnung, der Studienverlaufsplan) sind ja ohnehin öffentlich zugänglich. In diesem besonderen Ausnahmefall sagen wir als Wissenschaftler*innen sogar: Plagiate, aber sehr gerne.

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A »Small, Local Difficulty« is going Global?  The Fight for Academic Freedom in Hungary Andrea Pető

On June 22, 2017, in the fully packed, newly built auditorium of the Central European University in Budapest, the Nobel Prize-winning author, Mario Vargas Llosa, spoke about CEU’s »small, local difficulty«.1 The audience laughed lightheartedly at this ironic description, given that most of them had spent the last three months sharing information with the academic world about how the amendment of the Higher Educational Bill, commonly known as Lex CEU, was targeting CEU, and threatening its existence as well as its everyday operation. This attack is not about CEU, but about academic freedom, and it is not only happening in Hungary, but also in different other countries. In the talk Rector and President Michael Ignatieff recently gave in Berlin at the Hertie School of Governance, he pointed out that academic freedom was something that you always had to fight for, because it was a key site where illiberal regimes were trying to take over.2 Comparing the developments in Russia with what’s happening in Turkey, in Poland, in Hungary, one can see that there is a vicious fight to eliminate sites of academic freedom and critical thinking.

1.

The »small, local difficulty«

In spring 2017 the amendment of the Hungarian Higher Educational Law was passed by the Parliament with exceptional swiftness. It targets the CEU on two levels. First, it requires the CEU to have an US campus, something it has never had in its twenty-six-year history. The rule includes that this campus should be

1

2

I previously commented the developments here: »Defending a CEU that matters« in V4Revue. 31.03.2017. http://visegradrevue.eu/defending-a-ceu-that-matters/, »CEU in Budapest is under attack« in Austrian Studies Newsmagazin 02.12.2017; »The Blue and White pin that matters« in Baltic Worlds 2017 (1) S. 30. https://www.ceu.edu/article/2017-06-02/ceu-president-and-rector-ignatieff-gives-keynoteaddress-hertie-school-graduation;last call o 31.10.2019.

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operational by January 1, 2018. Second, the bill requires the government of Hungary to sing a written agreement with the government of the home country of any foreign university in Hungary. If CEU needs to establish a US campus, this requirement becomes particularly problematic, if not impossible to fulfil, since the U.S. Constitution stipulates that the states – not the federal government – assume the responsibility for education. The example of McDaniel College, which is based in Maryland, but also has a campus in Budapest, illustrates the impossibility of meeting these conditions. While the college facilitated an agreement between the state of Maryland and the Hungarian government in July 2017, the agreement still does not satisfy the requirements of the amendment to the Hungarian Educational Law, since it is not an agreement with the federal government. It is unclear whether an extra agreement with the federal government would still be needed, or whether the Hungarian government would accept this agreement (contra legem) and thus ignore the regulations of the amendment to the Higher Educational Law. Despite these concerted efforts, there was no presidential veto, what in turn prompted a series of actions against Lex CEU. As I write this chapter, the fight against Lex CEU is proceeding on five levels. First, after an unproductive exchange of letters between the Hungarian government and the European Commission, the European Commission has taken first steps towards launching an infringement procedure against Hungary. Second, the European Parliament has passed a resolution calling for the repeal of Lex CEU. Members of the European People’s Party, which the governing political party of FIDESZ belongs to, also supported this decision. Nevertheless, the Hungarian government has refused to comply with this request, repeating the argument that a democratically elected Parliament passed the law. Third, the Venice Commission, an advisory body of the Council of Europe, plans to send a fact-finding group to Budapest to meet the parties involved and assess Lex CEU’s legality in fall. Fourth, the Hungarian Constitutional Court has set up an ad-hoc group to review the law. Lastly, the Governor of the state of New York, Andrew M. Cuomo, who had earlier issued a statement of support for CEU, had held ongoing talks with Hungary’s government with the goal of keeping CEU open. However, the negotiations are not public and CEU is not part of it. In September 2017, before the election campaign started, the deadline for meeting the requirements of the Hungarian Higher Education Law was extended till October 2018. The whole election campaign was centered on anti-Soros and anti-migrant rhetoric, and the election was won by FIDESZ with a two-third majority. Meanwhile, CEU has opened two campuses: one in New York with Bard College to meet the requirements of the amendments of Hungarian Higher Educational Law and a second one in Vienna to launch undergraduate programs.

A »Small, Local Difficulty« is going Global? The Fight for Academic Freedom in Hungary

2.

The protests

A series of protests against Lex CEU occurred in Budapest, in other Hungarian cities and also abroad. The largest demonstration for years brought 80,000 people to the streets of Budapest hoping that President János Áder would veto the controversial bill. Tens of thousands of academics from all over the world signed petitions, sent e-mails, and posted letters and statements supporting CEU. The Hungarian Academy of Sciences, together with Eötvös Lórand University (ELTE) and other universities, protested against this attempt to closue of the best university of the region. CEU graduates and academics organized protests in front of Hungarian Embassies and Cultural Institutes in Berlin, Vienna, Paris, Prague and New York, to list just a few. Those who listened to Vargas Llosa naming it a »small, local difficulty« had high hopes that the protest would be successful and bring results, namely that students and professors would be able to go back to work and do what they know best: study, research, and teach. In the 1980s when I was in my early twenties living and studying in communist Hungary, there was a blue/white pin which was cool to wear. That was the pin of the Danube Circle (Duna Kör), the independent, oppositional circle founded in 1984 to fight against the planned dam on the Danube. Wearing this pin was not without political risks in the 1980s, but it was definitely ›cool‹. When I saw a colleague wearing it in the coffee shop of the university I immediately asked him where he had got it. While posing this question I was trying not to look very suspicious, as I was sure, secret police also wanted to get that piece of information, too. History repeats itself in a strange way. The resistance against Lex CEU also included producing a blue pin, as blue is the official CEU color, with the slogan written in white color in two languages: »I stand with CEU«. The story of this pin very much resembles the story of the pin of my political socialization in the 1980s. First, it was cool again to wear that pin. While walking in the streets people were shouting at you with a wide smile at the other side of the street repeating the slogans »Free Country, Free University« or »I stand with CEU«. Or they were just asking you openly, even in the streets, where they could also get a pin. Luckily this is not a classified information at the moment as at the reception of the newly renovated campus of CEU in Budapest each person is eligible for two pins. (Do not ask me why two and not one or three, but that is the instruction from the administration.) Till the end of April more than 10.000 pins were handed out there. Second, in spite of the overwhelming support it was not necessarily safe to wear that pin publicly. One of our graduates was recently hit in a bar, and the pin he was wearing was being torn off from his sweater. Another student, while standing in the subway, had to recognize with astonishment that an elderly men took a pencil out and started to rewrite the pin he was wearing on his chest. These stories prove that the fight for freedom is a continuous fight. Freedom was the most important

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guiding principle of CEU’s founders in 1991. These founders were Péter Hanák, Miklós Vásárhelyi, György Litván, to name only those who are no longer with us. These founders personally experienced direct political control and the policing of their ideas. The same freedom of thought is at stake now with the new Higher Education Law which threatens the very existence of CEU. As in the case of the Danube Circle international support and contacts proved to be crucial to stop the construction of the dam, international support and contacts were crucial in the case of CEU. It is enough to look at all our alumni in the 117 countries where CEU students came from to study in Budapest, or at the hundreds of international letters of support we have received, to see that the whole world were watching, helping and supporting the resistance. From Pécs to Szeged, from Cambridge to Cluj or Singapore, our graduates were sending CEU letters and organize protests. Several important Hungarian conservative intellectuals and state institutions expressed their solidarity with CEU like the Hungarian Academy of Sciences.

3.

Explanations

Why CEU and why now? If we look at Turkey and Russia, two so-called illiberal democracies, we can see that their systems are different from those that we see inside the EU. The normative and normalizing potential of the EU works quite well through its soft power approach. The question is rather, what this normalizing is about: procedures or values? And if it is about the latter, what kinds of values do we mean? The fact that the current governments of Hungary and Poland are in the process of building a different kind of state inside the EU points to the failure of norm building. The term polypore state describes illiberal trends in the EU: this newly created polypore-like formation lives at places where the structure of the tree – or in our case the state – is injured; and at that point it starts building up its own, parallel structure (Grzebalska/Pető 2017). This parallel state structure functions in three ways: by mirroring the functioning of the state, by feeding a discourse (through the use of other’s resources and ideas) and by changing the values that govern society with using the discourse of security and familialism. As an example for mirroring, we can mention women’s organizations whose number has significantly grown in the last few years. This growth was in part due to the creation of a parallel NGO-system made up of conservative women’s organizations and GONGOs (government-organized non-governmental organizations) that are following all kinds of small agendas, such as the labour rights of women or young mothers’ reintegration into the labour force; but there are even organizations that are fighting against domestic violence. This latter is important to mention as the ratification of the Istanbul Convention will bring in

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new funds to Hungary, and the government plans to channel this money into the GONGO-system, where loyalty to the state is the most important value. The second function of the polypore state is most visible in the current security discourse: all the talk about ›George Soros‹, the »migrants« and »gender« is about increasing the feeling of insecurity, so that the state can step in and position itself as the savior of the people. The third function is the so called »familiarity« – in this system the woman doesn’t exist anymore: she becomes part of the family, and even the state is seen as a family; it functions exactly like a big family. These are the factors that create a different, a polypore state. All states can be seen, to some extent, as parasites, but the polypore state is the most perfect form of a parasite state.

4.

Rise of the polypore academia

The polypore state is basically using the energy and the resources of the tree to create another form of state, which has nothing to do with original ideas or ideologies, but simply uses the resources from the tree to keep this polypore alive. And the reason why I mention this metaphor is because the polypore state is also creating a polypore academia. These academics are paid very well, but they are outside accreditation or quality assurance structures. In the Hungarian context the polypore state is a new form of protest against neoliberal academia. Because neoliberal academia is about the marketization of education where students are becoming clients, about impact factors, about pushing all these values in academia, while polypore academia is basically mirroring these kinds of structures without this pressure or the quality assurance of neoliberal academia. Let me give you two examples. The first is that the favorite music producer PM Orban likes best, László Mándoki, received three times more funding than was the support of the whole Hungarian book publishing. No institutions or evaluations had been involved when the decision was made. The second is that the Hungarian National Bank runs an educational foundation which supports students, from secondary school to doctoral levels. The foundation receives funding from the state. In other words: it is taxpayers’ money, but its activity is out of the control of either the old or the new academia. And the budget of the foundation of the Hungarian National Bank is basically twice as high as the budget of the whole of Hungarian education. This institution has doubled or mirrored the whole educational system without the democratic quality control to create something where knowledge is not important, publications are not important: what is important, is political loyalty. And this foundation is not only supporting teaching so called unorthodox economics, it also has programs in social sciences and humanities. It is a question for the future how the Hungarian Accreditation Committee can stop the mushrooming of these programs, which have nothing to do with what we call academia or science

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today. Will they be compliant? Will they be bought out? Will they be threatened? These are important questions for the future. Using again the figure of the polypore state, it is working strongly with the concept of security and of securitizing all possible aspects of life. It is working with the concept of creating and mirroring existing institutions in the polypore academia while labelling the so called »other« institutions as threat. And it is working also with the ideology of familialism. This means that policy is targeting not individuals, but families. So if you look at the CEDAW reports of Hungary or Poland, you see that they are basically replacing the concept of women with the concept of family. So women as independent agents are slowly disappearing from policy documents, and what remains is the concept of family as women are disappearing from leading positions and academia. The current Hungarian polypore state is operating through again monopolizing resources and social welfare provisions, while defining who counts as important or worthy citizen. In case of family politics, the Hungarian government is supporting the upper middle class through a flat tax, a white, urban and rural strata, and is basically ignoring the poor. Inequalities are becoming epistemic and structural inequalities, which is very important for a scholar of gender studies to change or at least to address. And this opens up political and intellectual possibilities for gender studies and feminism to combine these issues of class and gender, and address them in an intersectional way. In 1989, we shared a common dream – the founders of CEU and politicians, including PM Orban. This dream was that would will build a free and successful country where not party apparatchiks, but academics would decide who could study at a university, and which institution could call itself a university. A country where you could not need to wear a pin to show your political position, but if you would choose to do so, you would not meet violence and anger in the streets. This Lex CEU is the betrayal of our common dream, and the hopes of 1989 are being betrayed by FIDESZ. They forget, but those who are wearing the I-stand-with-CEU blue pin, they do not. And they are definitely more numerous as we were back in 1984. At least that can give us hope for the future. The general elections of 2018 was won by FIDESZ with two thirds of the votes. If CEU was forced to move from Budapest to Vienna, it would signal a failure of open society, democracy, and academic freedom. Then it would not be only a »small, local difficulty,« but rather the beginning of a new and ugly era.

A »Small, Local Difficulty« is going Global? The Fight for Academic Freedom in Hungary

References

Grzebalska W./Pető, A.: (2017): The gendered modus operandi of the illiberal transformation in Hungary and Poland. In: Women’s Studies International Forum. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0277539517300882 (November 3rd , 2019).

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Angst und Wut. Zur affektiven Konstruktion migrationsgesellschaftlicher Ordnung1 Paul Mecheril und Monica van der Haagen-Wulff

1.

Einleitung

Anschläge auf Unterbringungen für Geflüchtete, rassistische Übergriffe körperlicher und sprachlicher Art, politische Maßnahmen, die das Sterben in Lagern und im Mittelmeer in Kauf nehmen, die kulturelle Legitimierung dieser Maßnahmen, pauschale Urteile über die kollektive Rückständigkeit anderer, die Darstellung, Wahrnehmung und das Erleben der Gefahr, die von ihren Körpern ausgeht … Die mediale, politische und alltagsweltliche Behandlung von Flucht und Migration nicht zuletzt seit 2015 hat deutlich gemacht, wie sehr in Europa die Bereitschaft zu Denk- und Handlungsweisen besteht, die an rassistische Deutungs- und Urteilsmuster anschließen, von diesen vermittelt sind und diese stärken (Castro Varela/Mecheril 2016). Rassismusaffines und rassistisches Sprechen, Empfinden und Handeln finden sich nicht nur in den sich statistisch ausbreitenden sogenannten rechten, rechtsnationalen oder rechtsextremen Milieus. Vielmehr handelt es sich bei diesen Praktiken um ein verbreitet und gängig zur Verfügung stehendes und in Anspruch genommenes Muster der Selbst-, Welt- und Fremddeutung (Leiprecht 2001). In diesem Zusammenhang spielen Affekte, etwa im Rahmen der Praxis der Dämonisierung der imaginierten anderen, eine bedeutsame Rolle. Immer dann, wenn gesellschaftliche Ordnungen in Krisen der Funktionalität und der Legitimität geraten, ist die Mobilisierung der affektiven Zuschreibung ein bewährtes Mittel, die Ordnung zu stärken. Dabei geht es um ein Setting, in dem materielle und symbolische Privilegien bestimmten Mustern folgen und unterschiedlich verteilt sind. Abstrakt wird die Bedrohung der Ordnung auf ein zivilisatorisch als niedrigstehender markiertes Niveau rückbezogen; konkret trifft das Menschen, die in der jeweiligen Ordnung als Andere, mithin als bedrohlich gelten. 1

Der vorliegende Aufsatz geht zurück auf einen Abschnitt eines bereits veröffentlichten Textes (Mecheril/van der Hagen Wulff 2016), der für diese Publikation leicht überarbeitet und ergänzt wurde.

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Paul Mecheril und Monica van der Haagen-Wulff

Affekte und Sprechen in der deutschen Öffentlichkeit, die an rassistische Unterscheidungen zwischen einem natio-ethno-kulturell kodierten Wir und einem (in seinem Sex oder in seinem Terror) gefährlichen, unterbemittelten Nicht-Wir anschließen und diese Unterscheidungen bekräftigen, können hierbei als Praxis des Otherings verstanden werden, das immer auch mit der Selbsterkenntnis durch Selbstaufwertung, mithin einem Selfing, korrespondiert. Othering hat sich als Schlüsselbegriff postkolonialer Theorienbildung etabliert. In Anlehnung an psychoanalytisch-theoretische Konzepte von Jacques Lacan wurde der Begriff im postkolonial-theoretischen Kontext von Gayatri Chakravorty Spivak neu geprägt und seit den 1970er-Jahren vor allem in anthropologischen Ansätzen breit rezipiert. Lacans Begriffe ›autre‹ (das ›andere‹ mit kleinem ›a‹) und ›Autre‹ (das ›Andere‹) bilden den theoretischen Rahmen, in dem Subjektwerdung und Identitätsbildung nicht mehr als autarke Prozesse des Selbst, sondern als stete »Spiegelungsdynamik« verstanden werden können.2 Nach Spivak erkennen kolonialisierte Subjekte sich erst durch dominante diskursive Praxen des kolonialen Zentrums (Spivak 1996). Kolonialisierende Praxen bringen Subjekte hervor. Eine andere Perspektive fokussiert die diskursiven Praktiken, die andere zu anderen machen und dadurch ein kollektives Selbstbild erzeugen. Diese Perspektive wurde vor allem durch die Arbeiten von Edward Said zur Konstruktion des »Orients« als antagonistisches Gegenbild zum »Okzident« bekannt und einflussreich. In seinem Werk »Orientalism« (Said 1978, 2003) erläutert Said jene diskursiven Praktiken, die »den Orient« und »die Orientalen« erst hervorbringen und in eine konstitutive Relation zum Selbstbild des »Westens« stellen. Die Mechanismen und die Wirkmächtigkeit dieser textuellen und visuellen Praktiken lassen sich hierbei nur im Kontext des europäischen Imperialismus und dadurch als Legitimierungs- und Stabilisierungspraxis von Herrschaftsansprüchen gegenüber den konstruierten »anderen« verstehen. In dieser Perspektive lässt sich Othering als doppelter Prozess verstehen: Die »anderen« werden durch bestimmte Wissensproduktionspraxen konstruiert, die koloniale Herrschaftsbildung legitimeren. Es ist diese (politische, wirtschaftliche und kulturelle) Intention, die diese epistemischen Praxen als »plausibel« und »nützlich« erscheinen lässt.3 Said analysiert jene Praktiken der Wissensproduktion, die den »Orient« orientalisieren. Die Etablierung der Orientalistik als akademisch anerkannte Disziplin korreliert historisch mit der europäischen expansionistischen Politik in den sogenannten Orient. Auf den Verwaltungsstrukturen des Kolonialismus aufbauend, gedeiht in Europa ein 2

3

So im berühmten Spiegel-Beispiel von Lacan, in dem ein Kind durch die Betrachtung seines Spiegelbilds, das heißt erst durch die Entdeckung des »anderen«, zur »Selbstbewusstwerdung« kommt (Lacan 1968; zit. n. Eden 1991, S. 309-314). Said verwendete den Begriff Othering selbst nicht. Seine Beschreibung des »Orientalismus« wurde aber in der postkolonialen Rezeption seiner Thesen als Analyse einer paradigmatischen Othering-Praxis aufgefasst und theoretisch weitergeführt.

Angst und Wut. Zur affektiven Konstruktion migrationsgesellschaftlicher Ordnung

»obsessives Studium des Orients« (Castro Varela/Dhawan 2005, S. 33), das vorgibt, die »anderen« verstehen zu wollen. In diesem Gestus werden Informationen über die anderen gesammelt und zu einem Wissenskorpus formiert, der das Wesen der anderen zu erklären sucht. Diese Erklärungen setzen freilich voraus, dass in einem Prozess der Essenzialisierung die anderen als weitgehend homogene Gruppe konstruiert worden sind. Kollektivierung und Essenzialisierung sind zwei Momente ein und derselben epistemologischen Operation. Durch Essenzialisierungspraktiken werden heterogene Wissensbestände zu einem kompakten Wissensensemble angeordnet, das es ermöglicht, Informationen zu wirkmächtigen Aussagen über die Wesenhaftigkeit der anderen zu machen. Diese Konstruktion von Wesenhaftigkeit ist nach Said immer durch die Ambivalenz gekennzeichnet, die anderen als das ahistorische, quasi-metaphysische Subjekt zu repräsentieren, wobei zugleich mit der Historizität des eigenen Wissens argumentiert wird.4 Werden Essenzialisierungen zu hegemonialen, das heißt zu alternativlos und plausibel erscheinenden Phänomenen des Wissens und Erlebens, ermöglichen sie jene epistemische Praxis, die eine absolute Abstraktion von Subjekten unhinterfragt vorzunehmen in der Lage ist. Das Spezifische, das Lebensweltliche, das Subjektive, das Biografische wird als solches ausgestrichen und allein als das Allgemeine zugelassen. Um die Wirkmächtigkeit dieses Prozesses zu verstehen, ist es sinnvoll, sich die Bedeutung von Affekten zu vergegenwärtigen. Angst und Wut verstehen wir hierbei insgesamt als affektive Erregung und eine als unmittelbar erlebte, darin auch selbstbezügliche Weise der leiblichen Resonanz und Bezogenheit auf vorgestellte oder wahrgenommene Umstände. Doch dieses Erleben der Unvermitteltheit bedeutet nun nicht, dass Affekte wie Angst und Wut nicht vermittelt seien. Affekte als Phänomen der möglichen, naheliegenden, sinnvollen und legitimen Resonanz sind von kulturellen Ermöglichungs- und Erwartungsstrukturen vermittelt, in denen bestimmte Formen von Affekten in ihrer Erlebensqualität wie ihrer Ausdrucksform nahegelegt werden. Auf bestimmte Umstände ist es möglich, naheliegend, sinnvoll und legitim mit Angst oder Wut zu reagieren und dies entsprechend zum Ausdruck zu bringen. Damit sind kulturell und kontextspezifische affektive Selbstverhältnisse wie Fremdverhältnisse verbunden. Wenn bestimmte Situationen als solche gedeutet werden, ist es für das einzelne Subjekt möglich, naheliegend, sinnvoll und legitim etwa mit Angst oder Wut zu reagieren. Es ist für das Subjekt aber auch verständlich, dass andere ängstlich oder wütend sind 4

»According to the traditional orientalists, an essence should exist – sometimes even clearly described in metaphysical terms – which constitutes the inalienable and common basis of all the beings considered; this essence is both ›historical‹ since it goes back to the dawn of history, and fundamentally a-historical, since it transfixes the being, ›the object of study, within its alienable and non-evolutive specificity, instead of defining its all other beings, states, nations, peoples, and cultures – as a product, a resultant of the vection of the forces operating in the field of historical evolution« (Said 2003, S. 97).

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Paul Mecheril und Monica van der Haagen-Wulff

und dies auch zum Ausdruck bringen. Im Zuge bestimmter Vorannahmen interpretiert Ego den Ausdruck eines Affekts, sagen wir Angst, die Ego bei einem oder einer anderen wahrnimmt, als einen affektiven Zustand, den es erwartet. Diese sozio-kulturellen Deutungen von Affekt, die von Sozialisation und internalisierten Stereotypen geprägt sind (Ciompi 2003), werden von einer bestimmten Affektlogik vermittelt. Nach unserem Verständnis von Affekt gilt es jedoch, die Gestalt der Affektlogik einen Schritt weiterzudenken, da affektiv grundierte Performanzen, Entscheidungen oder Interpretationen nicht allein sozio-kulturell und historisch spezifisch sind, sondern auch innerhalb einer kontextspezifischen Affektlogik Unterschiede derart gelten, dass bestimmte Affektformen auf ihrer Erlebens- wie Ausdrucksseite mit bestimmten gesellschaftlichen Positionen verknüpft sind und folglich mit sozialen Asymmetrien. Affektnarrative und affektbezogene, kulturelle Deutungsschemata bauen also nicht nur auf gesellschaftlichen Hierarchien und unterschiedlichen Macht- und Privilegienverhältnissen auf; sie wiederholen, bestätigen und bekräftigen diese auch in einem Modus, der deshalb wirksam ist, weil er unvermittelt erscheint. Diese kulturell unterscheidende Bedeutung von Affekten zeigt sich etwa bei der Assoziation und Artikulation von Affekt, Gefahr und Körper, welche sich durch Historisierung erschließt; sie ist für den thematischen Zusammenhang dieses Beitrags wichtig: Es geht um den Bezug auf rassistische, kolonial gebahnte Muster der Wahrnehmung und der Angst, die mit der Gefahr der anderen Körper assoziiert sind. Sarah Ahmeds theoretische These aus ihrem Buch »The Cultural Politics of Emotions«, dass Affekte immer kulturell und politisch konstruiert und kodiert seien (Ahmed 2014), ist hier von besonderer Bedeutung. Affekte sind mehr als nur Ausdruck einer individuellen Biografie; sie sind von unterschiedlichen Kontexten vermittelt, etwa von interaktional-situativen Kontexten, in denen Affekte performativ vollzogen werden (doing affectivity), aber auch von übergeordneten, historisch gebahnten gesellschaftlichen Diskursen. Wir gehen davon aus, dass erst die Kontextualisierung empirischer Affekte ihr Verständnis und die Analyse ihres gesellschaftlichen Sinns ermöglicht. Um die reproduktiven Mechanismen historisch vermittelter Affekte zu verdeutlichen, verwendet Ahmed die Metapher der »sticky signs« (Ahmed 2014, S. 92). Bestimmte Wörter oder Zeichen werden ihr zufolge mit einer affektiven Valenz wiederholt und mit jeder Wiederholung bleiben diese Zeichen am derart angerufenen Subjekt oder Objekt kleben: »I am tracking how words for feeling, and objects of feeling, circulate and generate effects: how they move, stick and slide. We move, stick and slide with them« (Ahmed 2004, S. 14).

Angst und Wut. Zur affektiven Konstruktion migrationsgesellschaftlicher Ordnung

Am Beispiel des negativ konnotierten Ausdrucks Paki (Menschen mit zugeschriebener pakistanischer, bangladeschischer beziehungsweise indischer Biographie in Großbritannien), eines Labels, das auch Ahmed in ihrer Kindheit am eigenen Leib zu spüren bekommen hat, verdeutlicht sie die Wirkweise der ›anhaftenden Zeichen‹. Affekt hat für Ahmed sowohl eine stabilisierende Funktion in Bezug auf symbolische Machtkonstellationen als auch eine Funktion bei der Zementierung von sozialer Ungleichheit.

2.

Drei funktionale Momente

In den letzten Jahren sind bestimmte Formen des Otherings und Selfings prominent geworden. Sie greifen nicht zuletzt auf Bedrohungsinszenierungen und -szenen zurück. Man kann die Affektinszenierungen begreifen, die wir gegenwärtig beobachten, auch die Intensität, mit der auf der einen Seite Bedrohung empfunden wird.5 Es ist auch nachvollziehbar, dass auf der anderen Seite die seit Jahren kontinuierlich steigende Gefahr, Opfer rassistischer Vorkommnisse zu werden6 , in der Öffentlichkeit weitgehend ohne Echo bleibt – gemeint ist hier die Dethematisierung der Betroffenheit. All das ist verstehbar, wenn wir uns klarmachen, dass es um den Kampf um Herrschaft und Privilegien geht, und dass in diesem Kampf Bilder und Imaginationen der Anderen überaus funktional sind. Hierbei können drei idealtypisch voneinander abgrenzbare funktionale Momente des Affekts unterschieden werden.

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Die Anzahl und das Ausmaß terroristischer Akte in Europa haben in den vergangenen 30 Jahren eher abgenommen; ganz zu schweigen davon, dass »die Wahrscheinlichkeit, beim Spazierengehen von einem herabfallenden Ziegel getroffen zu werden, weit höher [ist] als die, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden« (Wolfgang Bonß 2015 in einem Interview in Zeit Online; www.zeit.de/wissen/2015-02/terrorismus-sicherheit-forschung-deutschland; zuletzt geöffnet am 23.10.2019). So heißt es in einer Pressemitteilung des VBGR (Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V.) vom 09.03.2016: »In den ostdeutschen Bundesländern und Berlin haben sich die Angriffe von 782 auf 1.468 nahezu verdoppelt. Mit Nordrhein-Westfalen legt erstmalig auch ein westdeutsches Bundesland unabhängige Zahlen zur Angriffssituation vor. 279 rechtsmotivierte Angriffe wurden in dem bevölkerungsreichsten Bundesland gezählt, 1.747 sind es damit in der Summe. Mindestens 2.237 Personen wurden 2015 in den sieben Bundesländern verletzt und massiv bedroht.« (http://verband-brg.de/index.php/presse/48-09-03-2016-pressemitteilung-1747-faellepolitisch-rechts-motivierter-gewalt-in-ostdeutschland-berlin-und-nrw-unabhaengigeopferberatungsprojekte-veroeffentlichen-gemeinsame-statistik-fuer-2015; zuletzt geöffnet am 10.08.2016). Weitere Informationen hierzu auch auf Amadeu Antonio Stiftung: Initiative für Zivilgesellschaft und Demokratische Kultur; www.amadeu-antonio-stiftung.de/; zuletzt geöffnet am 23.10.2019.

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2.1

Abwehr

Mit der Angst vor und der Wut auf die anderen wird es möglich, berechtigte, zumindest unbequeme, nicht notwendig explizit formulierte, aber »im Raum stehende« Ansprüche anderer zurückzuweisen. Eine paradoxe Wut über das Leid der anderen ist gegenwärtig vielen Menschen in Stimme, Mailgebaren und Gesicht geschrieben. Die Logik dieses Affekts kann mit Bezug auf den Typus von Antisemitismus vergegenwärtigt werden, der für Deutschland insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. bedeutsam gewesen ist und der »Sekundärer Antisemitismus« genannt wird. Es ist ein Judenhass nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex hat dies sarkastisch so auf den Punkt gebracht: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen« (Gessler 2006). In Anlehnung daran: Wir, die wir geopolitisch privilegiert sind, verzeihen den Geflüchteten, dem Abfall der Weltordnung (Bauman 2005), den »disposable populations« (Balibar 2004), eine Ordnung nicht, die nicht unwesentlich von westlichen Akteur*innen und Instanzen errichtet wurde und von der der Westen unermesslich profitiert. Wir verzeihen den Geflüchteten nicht, dass sie leiden und uns mit ihrem Leid in den gut eingerichteten Vierteln unseres Wohlstands im wahrsten Sinne des Wortes zu Leibe rücken. Deshalb müssen sie dämonisiert, herabgewürdigt und letztlich entmenschlicht werden. Die Dämonisierung der anderen dient der Erhaltung einer globalen Ordnung. In dieser wurde der Wohlstand der privilegierten statistischen Minderheit auf Kosten der globalen anderen errichtet und wird er auf deren Kosten bewahrt. Das europäische Fischereiwesen, die globale Müllentsorgungsindustrie, Mobiltelefone, die ohne Coltan aus dem Kongo nicht funktionstüchtig wären – die Menschen in den an Bodenschätzen reichen Ländern in Afrika leben in bitterer Armut nicht zuletzt auch aufgrund nationaler Lohnarbeitspolitik, auf die transnationale Unternehmen massiv, legal wie illegal, Einfluss nehmen. Die ökologische und soziale Verwüstung zwingt die Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen, obwohl sie das nicht wollen.7 Die Bewahrung der »imperialen Lebensweise« (Brand/Wissen 2011) des Westens bedarf notwendig der Dämonisierung jener, deren leibliche Anwesenheit und 7

» ›Es sind auch eure Waffen, vor denen wir fliehen.‹ Ein Satz voller Wucht. Ein Mann in Malta spricht ihn aus, er sitzt vor einem doppelstöckigen Container in einem Flüchtlingslager. Der Mann kommt aus Syrien, er ist in einem Schlauchboot übers Mittelmeer geflohen – und wie viele andere Flüchtlinge weiß er, dass deutsche Waffen in Syrien töten. Es ist so offensichtlich: Sämtliche Kriegsparteien kämpfen, schießen, morden mit ihrer Hilfe. Die libanesische Hisbollah, kurdische Kämpfer, die Terroristen des ›Islamischen Staates‹: Sie alle nutzen Gewehre und Raketen, die in der Bundesrepublik entwickelt wurden. Vor allem das G3-Gewehr der Firma Heckler & Koch ist in zahlreichen Filmaufnahmen und auf vielen Fotos aus dem syrischen Bürgerkrieg zu sehen« (Friedrichs 2015).

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deren narratives Vermögen (sie haben Geschichten über die Weltordnung zu erzählen) für die globale Minderheit wenig erträglich ist, weil es die Unerträglichkeit der Verhältnisse anzeigt, von denen diese Minderheit profitiert. Dem Kapitalismus geht somit (womöglich) nicht nur das für seine beständige Reproduktion notwendige Außen durch die ihm eigene zerstörerische Expansion und Totalisierung verloren (Dörre 2013); der Kapitalismus schafft paradoxerweise auch die Voraussetzungen dafür, dass die als Schattenwesen des Außen Erscheinenden ins Innere gelangen und die Innen-außen-Trennung bewusst werden lassen. Einigermaßen erfolgreich verhindert werden kann die Formierung dieses individuellen wie öffentlichen Bewusstseins durch die Dämonisierung und durch symbolische wie faktische Rückführung der anderen in das Außen, und zwar dahin, wohin sie – am besten von ihrem eigenen Willen geführt – auch gehören.8

2.2

Leugnung

Mit der Angst vor den und mit der Wut auf die anderen wird es möglich, die historische, politische und ökonomische Verantwortung Europas für die globalen Verhältnisse, von denen Europäer*innen relativ profitieren und die zu Flucht und Wanderungsbewegungen beitragen, nicht zu thematisieren und sie stattdessen zu verschweigen. Das wird unter anderem durch die Vergemeinschaftung von Bedrohungen bewerkstelligt. Die grundlegende Krisenhaftigkeit und die konkreten Krisen eines natio-ethno-kulturell kodierten Wirs werden durch die In-Szene-Setzung der Bedrohung durch ein von außen kommendes Sie gemindert. Die Konstruktion eines »gefährdenden anderen« geht Hand in Hand mit der des »gefährdeten Wirs«. Die Generierung von Bedrohung ermöglicht hierbei, »to align bodies with and against others« (Ahmed 2014, S. 72). Der Abfall der Weltordnung ruft in Erinnerung, dass Europas Wohlstand und seine in globaler Perspektive geltenden Privilegien weniger faktisch,9 als vielmehr auf einer moralischen Ebene infrage stehen. In der Dämonisierung der anderen geht es darum, die 8

9

Auf die Frage in einem Interview in der SZ am 28. Juli 2016 danach, wo das vereinbarte größere humanitäre Aufnahmeprogramm der EU bleibe, antwortet Johannes Hahn (Hahn ist seit 2014 EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlunge n): »Die Frage ist, wie viele der syrischen Flüchtlinge überhaupt noch nach Europa wollen. Ich war ein paar Mal in Ostanatolien. Was wir dort gesehen und gehört haben: 50 Prozent der Syrer wollen in der Türkei bleiben, und 50 Prozent wollen wieder zurück in ihre Heimat, nach Beendigung des Krieges. Deshalb soll nun ein Teil der zugesagten drei Milliarden Euro für Sprachschulen für Erwachsene verwendet werden. Gleichzeitig wollen wir Mikrokredite bereitstellen, um das Gründen von Klein-Unternehmen zu erleichtern. Syrer und Türken haben den gleichen kulturellen und religiösen Hintergrund, sie unterscheiden sich nur in der Sprache. Wir haben bei unseren Besuchen eine einzige Person angetroffen, die nach Europa wollte, aus gesundheitlichen Gründen.« Dazu besteht kein Anlass: Es ist gegenwärtig weder mit einem Krieg gegen Europa zu rechnen, der etwa von Afrika aus oder aus dem Nahen Osten geführt wird, noch damit, dass Eu-

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eigenen Privilegien und die globale Ordnung, die diese ermöglicht, zu wahren und das heißt auch, alle direkten und indirekten Infragestellungen dieser Ordnung zu verhindern, etwa, indem die Boten der Botschaft von der Ungleichheit in der Welt, von der Europa und auch Deutschland sich recht gut nährt, in Diskredit gebracht werden. In seinen Texten und auch in Artikeln und Aufsätzen wie »Insécurité sous la plume d’un barbare« setzt sich der französische Rapper und Filmemacher Mohamed Bourokba alias Hamé mit Zusammenhängen von »colonial oppression, exploitation of migrant labour, police violence, and the scapegoating of impoverished urban communities of color in the name of ›zero tolerance‹ and the ›war on terror‹, painting a bleak picture of life in the cités« (El-Tayeb 2011, S. 39) auseinander. Nicht allein der Verweis und die Problematisierung der Polizeigewalt, die zu der Tragödie des in Frankreich lange öffentlich-medial und politisch nicht thematisierten Massakers von Paris 1961 führte, bei dem rund 200 antikoloniale Demonstrant*innen, hauptsächlich Algerier, von der Polizei ermordet wurden und das den größten Massenmord im Nachkriegsfrankreich darstellt,10 durch Hamé, sondern insbesondere der Zusammenhang, den er mit Blick auf gegenwärtige alltägliche Polizeigewalt gegen ›people of color‹ in den cités herstellt, brachten den damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy dazu, eine Klage gegen Hamé wegen Verleumdung der Polizeikräfte auf den Weg zu bringen. Diese erste Klage wurde abgewiesen; weitere folgten, zuletzt von Sarkozy als Präsident Frankreichs eingereicht. Jedes Mal wurde Hamé mangels Beweisen freigesprochen. Wie ist Sarkozys Hartnäckigkeit, Energie und durchaus aggressiv vorgetragene Verunglimpfung Hamés und einer nichtweißen Kultur des Protestes zu erklären? »Actions like Sarkozy’s exemplify the last attempt to expel them and the past they represent from the clean image of (post)national identity that their very presence is perceived to taint. Hip-Hop is a logical culprit because it expresses challenges

10

ropas Grenzregime in der Abschottung gegen Menschen und der Zurückweisung ihres Anspruchs auf Leben grundlegend versagt. »Täglich wurden Dutzende gefesselter Leichen aus dem Fluß gefischt. In den Wäldern am Stadtrand entdeckten Spaziergänger aufgeknüpfte Menschen. Und im Sportpalast waren 6.600 Männer, von der Außenwelt völlig abgeschirmt, der entfesselten Wut einer Polizei ausgesetzt, die mit Gewehrkolben, Knüppeln und Ochsenziemern auf ihre wehrlosen Opfer eindrosch. All dies ereignete sich […] in der Hauptstadt einer westeuropäischen Demokratie, 16 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, genauer: in Paris am 17. Oktober 1961. Das Massaker, dem über 200 Algerier zum Opfer fielen, war in Frankreich bislang mit einem Tabu belegt, das nun gebrochen wurde dank dem Prozeß in Bordeaux, bei dem Maurice Papon, 1942 bis 1944 Generalsekretär des Departements Gironde, die Deportation von 1.690 Juden zur Last gelegt wird. Derselbe Maurice Papon war 1961 Polizeipräfekt von Paris. Allein im Innenhof seiner Präfektur wurden am 17. Oktober 1961 mindestens 50 Algerier totgeschlagen« (Schmid 1997).

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from the margins to the sanitized self-image of the center more forcefully than any other medium, at the same time its violent rhetoric and macho imagery feeds (and is fed off) mainstream fears of violent men of color« (El-Tayeb 2011, S. 40).

2.3

Stabilisierung

Mit der Angst vor den und mit der Wut auf die anderen wird es möglich, heteronormativrassistische Macht- und Begehrensordnungen affektlogisch zu stabilisieren, indem der Andere als Bedrohung wieder und wieder angerufen wird. Die Sexualisierung der anderen und die Zuschreibung der Bedrohung, die von ihrer Sexualität ausgeht und zwar insbesondere für unsere Frauen, ist eine Praxis, die nicht exklusiver, aber charakteristischer Bestandteil solcher gesellschaftlichen Kontexte ist. Sie sind unverhohlen rassistisch, vergleichbar mit der Lage in den USA vor etwa 100 Jahren.11 Die sexualisierte Bedrohungsinszenierung ist aber auch kennzeichnend für solche Kontexte, die in einer rassistischen Tradition stehen, von der sie sich zwar formell entschieden abgesetzt haben, die aber gleichwohl wirksam ist, wie für das Deutschland der Gegenwart. Am Beispiel der Kölner Silvesternacht 2015 (Dietze 2019) lässt sich dies illustrieren. Die kulturelle Bereitschaft, den anderen erstens zu sexualisieren, zweitens den Sex des anderen als mächtig und gewaltvoll zu phantasieren und als Bedrohung zu erleben sowie drittens diesen phantasierten Sex des anderen nicht nur als Grund und Rechtfertigung für den eigenen Affekt, die eigene Wut auszugeben, sondern vielmehr auch als Beweisgrund für die Notwendigkeit des disziplinierenden, sanktionierenden Zugriffs auf andere und ihrer Kontrolle, sind die drei Momente der Affektlogik12 , die gegenwärtig nicht nur im AfD-Milieu, sondern auch in Anti-AfD-Milieus, im besorgten Sprechen von Eltern und Beziehungspartnern, anzutreffen sind (vgl. die Ergebnisse der sogenannten Mitte-Studie; Decker et al. 11

12

Wie sich herausstellte, waren Lynchmorde als Bestrafung von Vergewaltigungen eine sehr effektive Methode der sozialen Kontrolle, nicht nur über afroamerikanische Männer, sondern auch über weiße Frauen (Ketelsen 2000). Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. waren öffentliche Lynchveranstaltungen weitläufig bekannt gemachte, massenhaft besuchte, voyeuristische Zuschauerspektakel, die die hegemonialen, rassistischen Herrschaftsstrukturen stabilisierten. Obwohl die Vergewaltigung weißer Frauen und die Ermordung weißer Frauen als offiziell dokumentierte Begründung für die Lynchmorde an afroamerikanischen Männern diente, lag diesen Morden doch ein klares politisches und ökonomisches Motiv zugrunde (Nagel 2003; Ketelsen 2000). Der Ausdruck Affektlogik wurde 1982 vom Psychiater Luc Ciompi in seinem gleichnamigen Buch eingeführt, das psychologische und biologische Zugänge zu Empfinden und Affekt in ihrer jeweiligen Auswirkung auf das Verhalten Einzelner wie auf das von Kollektiven zu integrieren sucht. Die Auseinandersetzung damit, in welcher Weise das Erleben und die Performanz von Affekten von der jeweiligen Position im auch durch Herrschaftsverhältnisse strukturierten gesellschaftlichen Raum vermittelt wird, taucht in dem Buch allerdings nicht systematisch auf.

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2016). Unsere These an dieser Stelle ist, dass erst die historische Kontextualisierung dieser Affektlogik, ihre Aufklärung sozusagen, es möglich macht, sich zu der Herkunft und zum dominanzkulturellen Sinn der eigenen Affekte in ein auf diese Einfluss nehmendes, kultivierendes Verhältnis zu setzen. Damit wäre dafür die Grundlage geschaffen, die Welt etwas klarer zu sehen – auch die sexuelle Gewalt in ökonomisch deklassierten Milieus (in denen sich statistisch häufiger Nicht-Weiße finden) und auch die sexuelle Gewalt in ökonomisch besser gestellten Milieus (in denen sich statistisch häufiger rassistisch nicht Diskreditierbare finden).13 Heteronormativ-rassistische Macht- und Begehrensordnungen werden affektlogisch stabilisiert, indem der andere als Bedrohung wieder und wieder angerufen wird. Gegenwärtige Bedrohungsszenarien und -inszenierungen knüpfen an historische Vorläufer an, führen diese fort, variieren und bekräftigen sie. Wie genau dies im Spannungsfeld von Kontinuität, Transformation und Diskontinuität geschieht, wäre genauer an ausgesuchten empirischen Ereignissen zu untersuchen. Unsere Annahme ist hierbei, dass die gegenwärtigen Bedrohungsinszenierungen ihre Kraft und Energie letztlich über ihre geschichtliche Bewegungsbahn gewinnen, und dass ein guter Teil des dunkel-diffus drängenden Bedrohungserlebens auch damit zu tun hat, dass diese Verbindung nicht thematisiert wird und damit kollektiv unbewusst bleibt. Der öffentliche Aufschrei und die aus der diskursiven Silvesternacht resultierende Proklamation der gesellschaftlichen Bedrohung sind in mehrfacher Weise produktiv. Sie schreiben die Bedrohung in die Körper der nordafrikanischen, arabischen, muslimischen anderen ein und ziehen eine Grenze, die deutlich macht, wer zu den bedrohten und wer zu den bedrohenden Körpern gehört. Der als bedrohlich markierte Körper verwirkt das Recht auf Artikulation. Wer unsere Frauen gefährdet, existiert nicht mehr, nicht weiter als in der Körperlichkeit der Bedrohung. Judith Butler verweist darauf, dass es Anreden gibt, die »the social possibility of a liveable existence« (Butler 2015, S. 177) unmöglich machen.

13

58 Prozent aller Frauen in Deutschland geben nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums von 2004 an, seit ihrem 16. Lebensjahr sexuell belästigt worden zu sein (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2014). Vergleichbare Ergebnisse für Deutschland, das Jahr 2014 betreffend, liefert auch die Untersuchung der Europäischen Grundrechteagentur zum Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Europa (ebd.). Der erste und häufigste Ort sexueller Belästigungen und Übergriffe sind dabei die eigenen vier Wände, die Täter die eigenen (zumeist männlichen) Familienmitglieder. Sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen in Deutschland finden also vor allem zu Hause statt, seltener auf der Straße und seltener von Fremden. Das rassistische Bild des »Sex der anderen« lenkt hiervon ab; auch das ist eine der (kulturellen) Funktionen. In 2018 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 188 Frauen von ihren Ehemännern oder Partnern ermordet. Über diese Morde, wenn überhaupt, wird nur dann überregional berichtet, wenn die Tat von einem ›nicht deutschen‹ Partner begangen wurde; https://www.zeit.de/2019/51/frauenmorde-gewalt-partnerschaft-bundeskriminalamt; zuletzt geöffnet am 02.03.2020.

Angst und Wut. Zur affektiven Konstruktion migrationsgesellschaftlicher Ordnung

2.4

Erneuerung

Mit der Angst vor den und mit der Wut auf die anderen wird es möglich, das sakral-positive Selbstimago Europas zu bewahren und zu erneuern. Das Ausmaß, in dem in Deutschland und in Europa abfällig über geflüchtete Menschen, nordafrikanische Männer und über Muslime gesprochen wird, und die Intensität, in der sexuelle und gefährliche andere inszeniert werden, erklären sich, wenn wir uns klarmachen, dass es etwas zu verlieren gibt, nämlich den Status materieller Privilegiertheit und ihrer Selbstverständlichkeit, aber auch die Vorstellung einer inhaltlichen Vorrangstellung eines natio-ethno-kulturell kodierten Wirs. Es ist – psychoanalytisch gesprochen – nicht allein so, dass an den nicht zuletzt über Medienbilder vielfach imaginierten anderen (»arabisch«, »nordafrikanisch«, »muslimisch«), dass an diesen phantasierten anderen auch das bekämpft wird, was ich an mir selbst nicht zulassen darf (ich als Mann schimpfe so maßlos über den Chauvinismus des vermeintlich muslimischen Mannes, weil ich das, was ich an mir selbst nicht zulassen kann und darf, projektiv an ihm bekämpfe). Vielmehr ist der Affekt gegenwärtig so intensiv, weil es in ihm darum geht, das Eigene, vor allem in der Figur Europa, in Überhöhung zu konservieren, es zu sakralisieren. Europa ist widersprüchlich, Europa ist ein Ort und Projekt der Barbarei, des Sklavenhandels, der Shoa, der ökologisch-ökonomischen Ausbeutung der Welt, des Kolonialismus und Europa ist Ort und Projekt der Aufklärung, der Menschenrechte und des Strebens nach einem guten Leben für alle. Europa ist widersprüchlich. Freilich wird dieser Widerspruch im Sprechen über die anderen aufgelöst und unterschlagen. Die Selbstüberhöhung Europas ist Kennzeichen und Bestandteil des Projekts Europa und zeigt darin (wie für »Großimagination«, insbesondere solche mit ausgeprägtem Überlegenheitsanspruch, üblich) Europas konstitutive Vulnerabilität und Krisenhaftigkeit an. Diese grundlegende Krisenhaftigkeit wird in spezifischen historischen Konstellationen besonders virulent und thematisch und darin zu einer konkreten Krise. Europa befindet sich aus mehreren Gründen in einer grundlegenden Bedrängnis und inszeniert sich unter Ausblendung oder sagen wir lieber im Spiegel der über 30.000 Toten im Mittelmeer, die dort ihr Leben als direkte Folge Europäischer Grenzpolitik verloren haben, als Ort des auserwählt Guten, der Werte, als Hort der Geschlechteregalität, der Menschenrechte und im Lichte und Spiegel einer ausgeprägten und zunehmenden sozialen Ungleichheit, und damit in Doppelzüngigkeit, als Raum der Gerechtigkeit. Für diese Inszenierung brauchen wir die anderen, ihre Hässlichkeit, ihre Gefährlichkeit, ihre Unzivilisiertheit. An dem phantasmatischen Bild des natio-ethno-kulturell kodierten, muslimischen Anderen, seines Sexes und seiner Kraft, das in Europa und im Westen überhaupt nicht erst seit dem 11. September 2001 errichtet wurde und fortlaufend aufgerufen wird, bestätigt sich Europa seines Vorzugs. Europas Zivilisiertheit bedarf der

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Unzivilisiertheit der anderen; Europas heilige Unschuld bedarf der Schuld der anderen. Möglich ist das alles, weil natio-ethno-kulturell kodierte Unterscheidungen ein religiöses Moment in sich tragen. Es ist die sakrale Dimension natio-ethnokulturell kodierter Zugehörigkeitskontexte, die durch den Bezug auf das Religiöse besonders eindringlich mobilisiert werden können. Émile Durkheim (1981) hat Religion auf soziale Gemeinschaft rückgeführt, indem er als Grunddifferenz aller Religionen die Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Profanen eingeführt und das Sakrale letztlich als Symbolisierung der Gemeinschaft selbst verstanden hat. Ob dies dem Charakter des Sakralen im Allgemeinen gerecht wird, sei dahingestellt; Durkheims Religionsexplikation führt aber auf eine Spur, auf der wir Sakralität als Symbolisierungsmodus von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit verstehen können. Natio-ethno-kulturell kodierte Kontexte sind imaginierte Räume mit territorialer Referenz. Der Nationalstaat etwa ist ein politisch-imaginärer Zusammenhang, dessen Ziel es ist, »den Willen« einer in einem bestimmten Gebiet lebenden Nation auszudrücken und deren Interessen zu vertreten (Brubaker 1994, S. 53). Um dieser Zielsetzung zu entsprechen, ist es erforderlich, erstens einen allgemeinen Willen zu schaffen und zweitens an ihn zu glauben. Folgen wir dem israelischen Historiker und Politikwissenschaftler Shmuel Eisenstadt (2000), so findet im modernen Nationalstaat der Versuch seinen Ausdruck, die Spannung zwischen profaner und sakraler Welt zu überwinden. Der Nationalstaat ist »keineswegs nur ein säkulares Gebilde, sondern nimmt vielmehr die spirituellen Ansprüche der Religion auf, samt den Verpflichtungen, die das Individuum nun gegenüber dem Staat als dem Gesamten hat« (Knoblauch 2009, S. 35). Natio-ethno-kulturell kodierte Zugehörigkeitspraktiken lassen mithin in einem beachtlichen Maße sakrale Verfahren der Sinnstiftung zu und benötigen diese. Auch aus diesem Grund findet gelegentlich ein Rückgriff auf das Religiöse statt, um das Natio-ethno-kulturelle und Derivate dieser diffusen, aber wirksamen Vorstellungswelt, etwa »Kulturkreis«, »Abendland«, »Europa«, zu bestärken, oder um mittels des Religiösen das Natio-ethno-kulturelle zu bestätigen: »Es ist bezeichnend, dass die unmittelbare ›Reaktion‹ auf die Sichtbarkeit des Islam in Europa weniger die Verstärkung der christlichen Kultur ist als die des kulturellen und politischen Nationalismus« (ebd., S. 37). Offensichtlich besteht ein wirksamer Modus der Bindung von Individuen an nicht vom Einzelnen überschaubare, anonyme Zusammenhänge einer imaginierten Großkollektivität aus zwei Operationen. Zunächst werden diese Zusammenhänge als nichtkontingente und darin ihre Besonderheit gewinnende Zusammenhänge ausgegeben, an denen, zweitens, zu partizipieren mit einer individuellen Auf-

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wertung im Sinne der Partizipation an einer außerprofanen Realität verknüpft ist. Die Bindung an und die Verbundenheit mit einem natio-ethno-kulturell kodierten Kontext lebt von Unterstellungen auf der Ebene sozialer Vertrautheit und Nähe, die zurückliegende Erfahrungen, eigene, aber auch vermittelte, so in eine Zukunft verlängern, dass diese verlässlich und vertrauenswürdig erscheint. Das imaginäre, natio-ethno-kulturell kodierte Wir ist somit auch ein phantasmatisches Wir, das in der Phantasie nicht allein, aber doch überwiegend positive Eigenschaften besitzt. Den als gemeinsam betrachteten und erfahrenen Besitztümern wie auch ihre Pflege und Entwicklung ist der Status zueigen, wertvoll zu sein. Die vorgestellte und alltagsweltlich bestätigte Verbundenheit imaginiert das »gute Wir«. Diese regressive Einbildung stellt die natio-ethno-kulturell kodierte Eingebundenheit in den Verweisungsrahmen früherer, grundlegend asymmetrischer Beziehungen der Bedürfnisbefriedigung und Sicherheit. Wenn dieses regressiv-phantasmatische Moment fokussiert wird und Wir-Verständnisse durch Steigerung des Regressiven mobilisiert werden, dann ist der psychologische Boden dafür geschaffen, dass »Millionen von Menschen für so begrenzte Vorstellungen [wie es Nationen oder das Abendland oder Europa sind] weniger getötet haben als vielmehr bereitwillig gestorben sind« (Anderson 1998, S. 16).

3.

Schluss

Sarah Ahmed erläutert die rassistische Struktur des sozialen Raums, indem sie die bekannte Szene aus Franz Fanons Buch »Schwarze Masken, weiße Haut« zitiert, in der ein kleiner, weißer Junge, in seiner Angst, von dem schwarzen Mann gegessen zu werden, in den Armen seiner Mutter Schutz sucht und gerettet wird. Freilich ist es Fanon, der »fears the white child’s fear, who is crushed by that fear, by being sealed into a body that tightens up, and takes up less space« (Ahmed 2014, S. 69). Das Vermögen, der eigenen Angst Ausdruck zu verleihen und für diese Artikulation Gehör zu finden, sind ungleichmäßig verteilt. Die privilegierte Affekt-, Wutund Angstartikulation beschränkt den Raum der anderen: »[F]ear works to restrict some bodies through the movement and expansion of others« (ebd.). Um die Affekte der Wut und der Angst in hoher Intensität und wiederholt öffentlich zum Ausdruck zu bringen, bedarf es einer doppelten Operation: Man muss den eigenen Affekt absolut setzen und darin die Verletztlichkeit und Empfindsamkeit der anderen tilgen. Angst und Wut verstehen wir damit einerseits als affektive Erregungen und andererseits als das kulturelle Privileg, diesen Affekt zum Ausdruck zu bringen, der sich von in dem Affekt zu Objekten oder Körpern reduzierten Subjekten abwendet, weil sie mit Gefährlichkeit assoziiert werden und somit bedrohlich sind. Die kulturelle Bedeutung dieser Assoziation und Artikulation von

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Affekt, Gefahr und Körper erschließt sich durch Historisierung, und das heißt für unseren Zusammenhang: durch Bezug auf rassistische, kolonial gebahnte Muster der Wahrnehmung und der Angst, die mit der Gefahr der anderen Körper assoziiert sind. Aufgrund welcher Bedingungen gilt wer als physisch und moralisch gefährlich (diese »Wer«-Subjekte sind nicht einfach da, sondern werden mittels solcher Assoziationen hergestellt)? Wem kommt aufgrund welcher Bedingungen das Privileg zu, die eigene Angst (im öffentlichen Raum) als absolute Angst zum Ausdruck zu bringen? Der gesellschaftliche und historische Kontext, der bei der Bearbeitung dieser Fragen zu reflektieren wäre, ist ein Kontext, für den die Schwierigkeit, über Rassismus zu sprechen, besonders virulent ist – und damit die Schwierigkeit für rassistisch diskreditierbare Menschen, über ihre Wut, ihre Schamgefühle, aber eben auch über Angst (etwa, dass den eigenen Kindern etwas zustoßen könne) zu sprechen. Insbesondere in Deutschland ist es nach wie vor nicht einfach, Rassismus als gegenwärtiges Phänomen zu thematisieren; der deutschsprachige Diskurs zu dieser Thematik wird durch eine Engführung von Rassismus auf den Nationalsozialismus und eine hegemoniale Weigerung bestimmt, Formen des gegenwärtigen Rassismus als Rassismus wahrzunehmen (Rommelspacher 2009, Messerschmidt 2010). Aktuell zeigt sich dies beispielsweise in den massiv zurückweisenden Reaktionen auf Hinweise über strukturellen und institutionalisierten Rassismus, wie dieser im Laufe der Ermittlungen zu den Morden durch den NSU deutlich geworden ist (Schmincke/Siri 2013). In diesen Debatten zeigt sich, dass Hinweise, es handele sich bei Vorkommnissen – an denen auch öffentliche Institutionen und Akteur*innen beteiligt sind – möglicherweise um rassistische Vorkommnisse, sehr schnell beziehungsweise zuweilen automatisiert auf Zurückweisung stoßen. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Geschichte hat sich ein abwehrender Umgang mit der Bezeichnung und Analyse rassistischer Gewalt als rassistische Gewalt etabliert, der zugespitzt dem Muster folgt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Wo die Analysemöglichkeit der Kontinuität rassistischer Bilder und sprachlicher Unterscheidungen per se ausgeschlossen ist, entstehen Kontexte, in denen nicht nur schlicht Rassismuserfahrungen gemacht werden. Vielmehr handelt es sich zugleich um Kontexte, in denen solche Erfahrungen nicht zum Thema werden, nicht artikuliert werden können. Dadurch werden diese Erfahrungen nicht nur den Betroffenen abgesprochen, sie womöglich als individuell überempfindlich adressiert. Vielmehr wird, weil Rassismus nicht zum Thema wird, seine Wirkmächtigkeit konserviert. Diese Verhinderung der Artikulation von Diskriminierungsund Rassismuserfahrungen stellt eine Missachtungserfahrung dar, die als sekundäre Rassismuserfahrung bezeichnet werden kann (Çiçek et al. 2015).

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Paul Mecheril und Monica van der Haagen-Wulff

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Fluchtmigration in den Medien. Stereotypisierungen, Medienanalyse und Effekte der rassifizierten Medienberichterstattung Christine Horz

1.

Einleitung: Fluchtmigration in den Medien

Seit dem Herbst 2015 beherrscht das Thema der erzwungenen Migration (erneut) den politischen, gesellschaftlichen und medialen Diskurs in Deutschland. Insbesondere die Flucht und die Zuwanderung aus Ländern des Nahen Ostens, Nordafrikas und Subsahara-Afrikas stehen im Fokus polarisierter Debatten. Rassistisch motivierte Gewalttaten, die Wahlerfolge rechtsnationaler Parteien sowie restriktive Migrationsregimes in Deutschland und Europa rücken die Frage nach der Rolle der Medien im öffentlichen Fluchtdiskurs deutlich in den Vordergrund. Nach einer kurzen Phase der neutralen bis eher wohlwollenden Berichterstattung über Geflüchtete im Spätsommer 2015 sind die deutschen Medien wieder auf die restriktive Migrationspolitik eingeschwenkt – so die Kurzfassung aktueller Studien zum Thema Fluchtberichterstattung (Hafez 2016; Horz 2017). Dieser »Reflex«, den die Forschung auch den systemischen Bedingungen des Journalismus und der Medien zuschreibt, sorgt dafür, dass die Medienberichterstattung über Migration seit jeher von Krisen und Konjunkturen geprägt ist. Haben Migrationsthemen Hochkonjunktur, wie gegenwärtig, so kann eine kontinuierliche Ausdifferenzierung stereotyper und negativer Medienbilder von Migrant*innen und eine Verschärfung der politischen Rhetorik beobachtet werden (Ogan et al.2018). Mit jeder neuen Konjunktur der Betonung negativer Effekte von Migration rekonstruieren Medien diesen Migrationsdiskurs, der dadurch zum langfristigen Narrativ wird (Yengar/Gilliam 2000; Ceyhan/Tsoukala 2002; Castañeda/Holmes 2016; Boulila/Carri 2017). Narrative sind eingelassen in gesellschaftliche Diskurse. Sie sind kein »Stilmittel des Journalismus, sondern sie sind Teil der Prozesse öffentlicher Kommunikation, sie formen Diskurse, ohne dass sie immer explizit als Geschichten erzählt werden müssen. Die Medien gestalten diese Narrative in der Regel nicht, aber sie transportieren sie, oft ohne es zu wollen« (Herrmann 2016, S. 11).

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Dabei kann von Wechselwirkungen zwischen etablierten Medien wie Presse und Rundfunk und digitalen Medien ausgegangen werden. Bozdağ und Smets (2017) gehen davon aus, dass sich Repräsentationen von Migrant*innen und Geflüchteten in Debatten auf sozialen Netzwerken kaum von jenen in den klassischen Massenmedien unterscheiden. Dabei sind überwiegend Migrant*innen aus mit dem Islam assoziierten Gesellschaften impliziter und expliziter Bestandteil dieser Debatten (Spielhaus 2006). In der medialen Fluchtberichterstattung, so die These, verbinden sich antiislamische Stereotype mit Stereotypen zu Geflüchteten und Flucht. Die Diskursgrenzen verschwimmen zunehmend und die Themenarmut der Migrationsberichterstattung sowie deren selektive Fokussierung auf Negativaspekte werden letztlich unter anderen Vorzeichen fortgeschrieben (Hafez 2002). Fluchtmigration wird dann quasi natürlich mit so unterschiedlichen Themen wie innerer Sicherheit, islamistischem Terror oder sexueller Gewalt zu einem Deutungsrahmen (Frame) konstruiert, der Interpretationsangebote gleich mitliefert (Frindte/Haußecker 2010; Dietze 2016). Medien sind folglich nicht nur Beobachter der gesellschaftlichen und politischen Realität, sondern auch Akteure, die ein vermeintlich soziales »Problem« wie Migration mitgestalten (Edelman 1988). In der medialen Berichterstattung über (Flucht-)Migration konnten vielfach negative Deutungsmuster des Handlungsfeldes Migration bis hin zur moral panic – also der medialen Verbreitung von Angst in der Mehrheitsbevölkerung, dass eine Minderheit den sozialen Wohlstand und Frieden gefährde – nachgewiesen werden (Herrmann 2017; Chouliaraki et al. 2017; Cohen 2003, 2004). Eindeutige Effekte dieser Medienberichterstattung auf die Einstellung der Bevölkerung bezüglich Migration und Migrant*innen lassen sich aufgrund der Vielzahl der Variablen kaum feststellen. Es wird jedoch von Wirkungspotenzialen beziehungsweise indirekten Effekten der Medien ausgegangen, wie weiter unten näher beleuchtet wird. Die öffentliche Debatte um die Fluchtmigration, die seit dem Jahr 2015 unvermindert anhält, hat in Deutschland auch zu einer Konjunktur ihrer Erforschung geführt. Das ist zunächst erfreulich. Um auch international anschlussfähig zu werden, ist jedoch kritisch anzumerken, dass in Deutschland das Forschungsfeld Flucht in der Kommunikationswissenschaft erst langsam erschlossen wird. Es kann konstatiert werden, dass das System der Wissenschaft bislang kaum anders reagiert hat als das der Medien. Es schmiegt sich meist eng an politisch erwünschte Themen und Fragestellungen an. Die Integration (häufig verstanden als Assimilation) der Einwander*innen wird dabei als wünschenswert und der Rassismus der Mehrheitsbevölkerung als Abweichung von einer gesellschaftlichen Norm behandelt. Recht gut erforscht sind Feindbilder und Stereotype zu Muslim*innen sowie Migrant*innen (Hafez 2002, 2015). Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die punktuelle kommunikationswissenschaftliche Erforschung im Spannungsfeld von Migration, Rassismus

Fluchtmigration in den Medien

und Medien den Blick auf die Leerstellen lenkt. Flüchtlingsforschung war ein lange untererforschter Teilbereich der kommunikationswissenschaftlichen Migrationsforschung. Insofern stellt sich die Frage, was beide Bereiche unterscheidet beziehungsweise inwiefern Medienbilder von (länger ansässigen) Migrant*innen und Einwander*innen auch für Geflüchtete verallgemeinerbar sind, sowie die Frage nach den Chancen und Bedingungen eines Wandels dieser Medienbilder. Der vorliegende Beitrag zielt folglich darauf ab, einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu bieten und Inhalte und Strukturen rassifizierter Berichterstattungen zu Geflüchteten offenzulegen, indem relevante Befunde diskutiert werden. Zunächst soll anhand kommunikationswissenschaftlicher Studien geklärt werden, welche Berichterstattungsmuster und Deutungsrahmen (Frames) zu Fluchtmigration derzeit vorherrschen. Nach einleitenden Anmerkungen zum Nexus Rassismus und Medien geht es also zunächst um die Repräsentation von Geflüchteten in der Medienberichterstattung, also um die Relation zwischen der symbolischen Vermittlung (Zeichen im weiteren Sinne, also Berichte, Bilder, auch audiovisuelle) und der zugrunde liegenden Bedeutung. Aktuelle Studien zeigen, dass Medienimages von Geflüchteten nicht nur überwiegend negativ oder gar rassistisch konnotiert sind; vielmehr handelt es sich auch vorwiegend um »Fremdbilder« – Medien sprechen über Geflüchtete, aber selten mit ihnen. Anschließend wird zu klären sein, welche Wirkungspotenziale vor allem mediale Repräsentation entfalten kann. Dabei wird auch auf Befunde der inter- und transkulturellen Kommunikationswissenschaft mit Migrationsbezug rekurriert, die vor 2015 vorlagen, weil ein umfassender Forschungskorpus zum Handlungsfeld Flucht im deutschsprachigen Raum wie erwähnt nach wie vor nicht vorhanden ist. Im Ausblick sollen Möglichkeiten benannt werden, wie rassifizierte Medienberichterstattung über Flucht überwunden werden könnte.

2.

Rassismus und Medienberichterstattung

Im Juli 2018 sorgte ein Twitter-Hashtag für Aufsehen, in dem Betroffene ihre Rassismuserfahrungen teilten. Der Sozialaktivist Ali Can griff den Rücktritt des Fußball-Nationalspielers Mesut Özil aufgrund von Rassismuserfahrung auf. Sein Twitter-Hashtag #MeTwo bündelt Rassismuserfahrungen von Betroffenen, um auf den allgegenwärtigen Alltagsrassismus aufmerksam zu machen und Menschen, die sich mehr als einer Identität zugehörig fühlen, eine Stimme zu geben.1 Seit vielen Jahren gibt es punktuelle Ansätze, Rassismuserfahrungen öffentlich zu machen, etwa von People of Colour in Deutschland, die den Rassismus in Kinderbüchern anprangerten (Dede Ayivi, 18.01.2013; Wollrad 2009). #MeTwo verbreitete 1

Spiegel online, 26.07.2018.

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sich jedoch viral über das soziale Netzwerk Twitter und führte der Mehrheitsgesellschaft die Facetten und die Subtilität des Rassismus aus der Perspektive der Betroffenen in konkreter Form »vor Augen« (sic!). Der tief verwurzelte Hass und die rassistischen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft gegenüber allem (vermeintlich) Fremden, die Längsschnittstudien seit Jahren belegen, wurden somit erfahrbar. Demnach neigen konstant etwa 25 Prozent der Deutschen einem rechtsextremen Weltbild zu; die auf Feindbildern beruhende, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit steigt, vor allem gegenüber Muslim*innen, Sinti und Roma sowie gegenüber Asylsuchenden (Zick et al. 2011, 2016; Decker 2016, 2018). Insbesondere die rassistischen Einstellungen gegenüber Muslim*innen (beziehungsweise jenen Menschen, die dem Islam zugeordnet werden) bewegen sich mit steigender Tendenz auf hohem Niveau. In einer repräsentativen Studie nahmen »53 Prozent der Deutschen den Islam als Bedrohung wahr« (Hafez/Schmidt 2015, S. 15). Rassismus gehört zu Deutschland, wie der Publizist und Migrationsforscher Mark Terkessidis 2012 in einem YouTube Video treffend formulierte. Besonders besorgniserregend sind ausgeprägte islamfeindliche Haltungen unter Jugendlichen (Kaddor et al. 2018). Doch wie lässt sich Rassismus als analytische Kategorie verstehen? Die Rassismustheorie und -forschung wurden bereits an anderer Stelle intensiv diskutiert (Melter/Mecheril 2009; Demirovic/Bojadzijev 2002). Deshalb sollen hier nur jene Aspekte herausgegriffen werden, die für die weiteren Überlegungen notwendig erscheinen. Rassismus bedeutet grundsätzlich die Schaffung einer Antinomie, die Trennung in »Wir« und »die anderen«, wie beispielsweise im antiislamischen Rassismus deutlich wird (Rommelspacher 2009). Er manifestiert sich nicht nur in der Ausgrenzung, Diskriminierung, Beschränkung und Bevorzugung aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Religion, ethnischer und nationaler Zugehörigkeit (UNESCO 1978, Art. 3). Vielmehr kann Rassismus bereits vorliegen, wenn eine Unterscheidung von Menschen anhand dieser und weiterer Merkmale getroffen wird (ebd.). Für Terkessidis (2004, S. 92) stellt Rassismus deshalb eine Verbindung von sozialer Praxis mit Wissensbildung (»rassistisches Wissen«) dar. Beide stützen sich beständig, wobei vermeintlichen Gruppen von Menschen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, aufgrund derer sie dann diskriminiert werden. Auf diese Weise reproduzieren sich gesellschaftliche Machtverhältnisse immer wieder aufs Neue. Der »Apparat« Rassismus – oder die »soziale Repräsentation«, bei der Medien und Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle spielen (Sponholz 2018) – setzt sich nach Terkessidis (2004) aus drei Komponenten zusammen: Erstens greift die oben beschriebene Rassifizierung, also die »Schaffung« einer Gruppe als Gruppe, mit der gleichzeitigen Festlegung der »Natur« dieser Gruppe. Ein Beispiel sind die Feindbilder bezüglich Muslim*innen und des Islams in der Medienberichterstattung.

Fluchtmigration in den Medien

Das führt zu der Frage nach Einstellungspotenzialen hinsichtlich Muslim*innen (Hafez 2002, 2015; Schiffer 2005). Zweitens geht Rassismus mit einer Ausgrenzungspraxis einher. Damit ist die Ungleichverteilung von Ressourcen und Dienstleistungen gemeint, sowie die systematische Über- beziehungsweise Unterrepräsentation zuvor konstruierter Gruppen in hierarchischen Verhältnissen. So haben beispielsweise Asylbewerber*innen nur eingeschränkt Zugang zum Arbeitsmarkt und verfügen über keine eigene politische Repräsentanz. Und drittens wirkt die »differenzierende Macht«. Hier manifestiert sich ein Gewaltverhältnis, etwa die Macht einer Gruppe, bestimmte Personen zu beherrschen, sie Sondergesetzgebungen zu unterstellen oder ihnen Rechte abzuerkennen. Nur wenn diese drei Elemente zusammenkommen, könne sinnvoll von Rassismus gesprochen werden, so Terkessidis (ebd., S. 98-100). Paradox mutet an, dass Rassismus und die zugehörigen sozialen Praxen auch nichtintentional ausgeübt werden können. Schließlich spaltet Rassismus aktiv die Gesellschaft und verweigert Menschen und Gruppen das gemeinschaftliche »Wir«. Erklärt werden kann dies mit den rassistischen Wissensbeständen, die sich über Jahrhunderte seit der Kolonialzeit, über die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland bis hin zur aktuellen Fluchtmigration tief in Kultur, Politik, Institutionen und Gesellschaft eingegraben haben und sich teils in (unbewusst) rassistischen Einstellungen oder einer rassistischen Praxis manifestieren können (Decker et al. 2016; Hafez 2017). Für das Thema der Medienberichterstattung über Fluchtmigration ist besonders bedeutsam, dass diese Gruppen »kognitiv oder diskursiv konstruiert werden, und dass diese Konstruktion nichts mit realen Merkmalen der betroffenen Gruppen zu tun haben muss« (Terkessidis 2004, S. 96). Medien, online und offline, diskursivieren Flucht auf symbolische Weise (im zeichentheoretischen Verständnis) und sind an der Konstruktion von Migration als gesellschaftlichem Problem beteiligt. Die Intention dieser Medienstrategie ist die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, so dass die Bevölkerung entsprechende Rationalisierungen, etwa eine restriktive Migrationspolitik, mehrheitlich akzeptiert (Edelman 1988). Rassismus wird folglich als »System von Diskursen und Praxen« definiert, »die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren« (Rommelspacher 2019, S. 29). Rassismus kann nach dem Friedensforscher Johann Galtung (1998) auch als Form von Gewalt gelten. Sein Gewaltdreieck unterscheidet »kulturelle Gewalt« von personaler (direkter) und struktureller Gewalt. Mithilfe der Kulturhierarchiethese lassen sich beispielsweise Ungleichheitstheoreme legitimieren. Die rassifizierte Medienberichterstattung, auf die hier entsprechend hingewiesen werden soll, zielt weniger auf einen völkischen Rassismus. Vielmehr wird er als »Rassismus ohne Rassen« (Balibar 1989) verstanden – als kultureller Rassismus beziehungsweise Kulturalismus, der im Falle der Geflüchteten, die mehrheitlich

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aus dem Nahen Osten kommen, auf seit Jahrhunderten tradierte Stereotype über Muslim*innen und auf Orientbilder aufsetzt (Schiffer 2005; Hafez 2002). Bei struktureller Gewalt nach Galtung tritt keine Einzelperson als Akteur*in auf. Vielmehr ist Gewalt in das System eingebaut und sorgt für ungleiche Lebensverhältnisse und Chancen. Strukturelle Gewalt kann auch in institutionalisierten Medien wirksam werden, etwa als Ausgrenzung von Minderheiten aus Entscheidungsebenen und aus Rundfunkgremien (Horz 2016).

3.

Grundlegende Annahmen und Befunde zur Medienberichterstattung im Migrationskontext – ein Überblick

Die selektiven Medienbilder von Geflüchteten reihen sich in eine Historie negativer Migrant*innenbilder2 ein (Ruhrmann et a. 2006; Darkow et al. 1985). Dennoch ist es sinnvoll, Flucht und Geflüchtete gesondert zu untersuchen, weil sich dabei spezifische Praxen und Diskurse herausarbeiten lassen. Um dies zu tun, soll zunächst der Forschungsstand zur Migration im Allgemeinen (meist mit Bezug zur Arbeitsmigration) knapp zusammengefasst werden, wobei bereits Bezüge zur Fluchtforschung hergestellt werden. Anschließend wird dann explizit auf die Frames, also die Deutungsmuster in der Fluchtberichterstattung, eingegangen. Rassifizierte Medienberichterstattung muss mehrdimensional betrachtet werden, um auch die strukturellen Ursachen analysieren zu können, und zwar auf der Mikro-, Meso-, und Makro-Ebene (Hafez 2009, S. 107-115). Auf der Ebene der Medienberichterstattung (Mikro-Ebene) über Migrant*innen im weiteren Sinne3 lassen sich Kontinuitäten feststellen, die auch in der Berichterstattung über Flucht eine Rolle spielen, so die These dieses Beitrags. Seit Jahrzehnten berichten Journalist*innen überwiegend negativ über Migrant*innen, vor allem über Muslim*innen und Nicht-Europäer*innen (Ruhrmann/Demren 2000; Schiffer 2005; Hafez 2009). Ein Fokus auf Krisen und Konflikte, gepaart mit einer starken Tendenz zum Negativismus und zur selektiven Thematisierung aktueller Ereignisse, auch in öffentlichrechtlichen Medien, ist deutlich erkennbar, was unter anderem mit Nachrichten-

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3

Der Begriff Migrant*innen bezeichnet eine sehr heterogene Gruppe von Menschen. In der kommunikationswissenschaftlichen Forschung wird vorwiegend auf länger ansässige Einwander*innen fokussiert, auf Arbeitsmigrant*innen und ihre Nachkommen. Geflüchtete stellen in diesem Kontext vor allem Neuzuwander*innen unter anderen migrationspolitischen Vorzeichen dar. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung zu Migration ist stark verengt, unter anderem auf Integrationsforschung. Auch wird auf Migrant*innen aus vorwiegend islamischen Ländern sowie Pressestudien fokussiert (Müller 2005).

Fluchtmigration in den Medien

werttheorien begründet wird (Hafez/Richter 2007).4 Dies betrifft die Inlands- und Auslandsberichterstattung auf je unterschiedliche Weise (Hafez 2002). Diesen »Fremdbildern« liegt eine Rassifizierung zugrunde, die in symbolische Diskriminierung mündet, wie noch zu zeigen sein wird. Es wäre jedoch zu einfach, nun im Umkehrschluss anzunehmen, dass Journalist*innen per se rassistisch seien. Die Ursachen für Rassismus liegen in der Systemumwelt der Medien und werden auf der Mikroebene unter anderem in der individuellen Sozialisation der meist durch Mittelschichtsbiografien gegangenen (mehrheitlich weißen, deutschstämmigen, männlichen) Journalist*innen gesehen, durch die spezifische Werthaltungen geprägt wurden. Auch fehlt häufig das Wissen über Migration, weil die Sozialisation damit wenig Berührungspunkte bietet (Oulios 2010). Die Ausbildung kann diese Faktoren kaum nivellieren (Hafez 2002, S. 73 ff.). Der ZEIT-Journalist Mohamed Amjahid hebt die mangelnde Sensibilität für die eigenen Privilegien der meist weißen, männlichen Journalisten hervor, die im Berufsalltag einen Perspektivwechsel in der Migrationsberichterstattung zusätzlich erschweren (Amjahid 2017). Die postmigrantische Gesellschaft, in der Menschen sich selbstverständlich zu mehreren Identitäten bekennen, ist noch kaum im Journalismus angekommen (Foroutan 2015). Eng damit verwoben ist der strukturelle Rassismus in den Medien, der die Ausgrenzungspraxen repräsentiert. Auch hier sind systemische Bedingungen des Journalismus mitverantwortlich zu machen wie Betriebsnormen und Blattlinien, aber auch Marktlogiken, Ressourcenknappheit sowie starker Anpassungsdruck durch die Digitalisierung. Dies führt letztlich zur Einschränkung individueller Freiheiten der einzelnen Journalist*innen (Meso-Ebene). Innerhalb des Mediensystems wirken sich die Selbstbezüglichkeit des Journalismus sowie die Orientierung an journalistischen Arbeitsroutinen in den Redaktionen und an Nachrichtenwerten, die zugespitzt als die »drei Ks« (Krisen, Kriege und Konflikte) bezeichnet werden, auf die produzierten Inhalte aus (Hafez 2009). Die Themenarmut in der internationalen und transkulturellen Berichterstattung trifft auf eine äußerst geringe Zahl von Journalist*innen mit Migrationsgeschichte. Sie sind in deutschen Massenmedien kaum vorhanden; seit etwa drei Jahrzehnten verharrt ihr Anteil bei etwa 2 bis 3 Prozent (Pöttker 2013; Ouaj 1999). Die Medienberichterstattung kategorisiert Migrant*innen insgesamt nach ihrer Herkunft, konstruiert sie als Opfer oder Eindringlinge und als Objekte staatlicher Maßnahmen, aber kaum als aktiv handelnde Subjekte (EUMC 2002, S. 4349; Müller 2005, S. 90). In der aktuellen Fluchtberichterstattung fällt die NichtBerichterstattung und Themenarmut auf spezifische Weise auf:

4

Selbstverpflichtungen der Fernsehsender sowie die im Nationalen Integrationsplan beschriebenen Leitlinien haben punktuell zwar zu einem gestiegenen Bewusstsein geführt. Dies schlägt sich jedoch nicht in einer ausgewogeneren Berichterstattung in der Breite nieder (Hafez 2009).

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»Das Flüchtlingsthema fand in der medialen Öffentlichkeit der Leitmedien (weitgehend) ohne Flüchtlinge statt – nur einer von 25 Beiträgen lässt sie selbst zu Wort kommen« (Haller 2017, S. 35, 133). Dies ist ein bedeutender Befund (der jedoch in der umstrittenen Studie zu wenig gewürdigt wird; Horz 2017). Er ist aus normativer Sicht bedeutend, weil Deliberation und Pluralismus im öffentlichen Diskurs die ›Beteiligung aller‹ erfordert (Habermas 1998, S. 349-467). Eine Framing-Analyse griechischer, deutscher und britischer Presseartikel zeigt auf, dass die Geflüchteten vor allem in Form von Zahlen repräsentiert sind, nämlich als Anzahl der geretteten, einreisenden, ertrunkenen, zurückgewiesenen oder anderweitig verschobenen Mengen in Griechenland, Italien und der Türkei (Foutopoulos/Kaimaklioti 2017, S. 270). Wie auch in der Migrationsberichterstattung vor 2015 werden die eigentlichen Subjekte der Berichterstattung – die Geflüchteten – zu Objekten degradiert; ihre eigene Perspektive fehlt somit im Diskurs. Stattdessen kommen Politiker dominant zu Wort (Haller 2017). Das »Sprechen mit eigener Stimme« (Spivak 1988), das Artikulieren der eigenen Sichtweise in der Öffentlichkeit käme einer eigenen sozialen Repräsentation der Geflüchteten gleich. Es ist noch nicht hinreichend erforscht, inwieweit alternative Mediendiskurse hier Gegengewichte schaffen. Eine vergleichende Presseanalyse in Frankreich, Norwegen und den USA kommt jedenfalls zu dem Ergebnis, dass in 47 Prozent der analysierten Beiträge ein human interest frame feststellbar war, in dem über Geflüchtete personalisiert und nicht als anonyme Masse berichtet wurde (Figenschou/Thorbjörnsrud 2017). Neben der skizzierten symbolischen Ausgrenzung kann auf der Redaktionsebene auch »differenzierende Macht« wirksam werden, weil Journalist*innen mit »Migrationshintergrund«5 – wenn es sie denn gibt – zumeist als »Quotenmigrant*innen« behandelt werden, deren Qualifikation, vor allem bei nichtmigrationsbezogenen Themen, angezweifelt wird (Graf 2011). Des Weiteren äußern Chefredakteur*innen noch wenig Interesse, Journalist*innen »mit Migrationshintergrund« bevorzugt einzustellen. Noch ist unklar, ob und inwieweit die neuen Zielgruppenangebote für Geflüchtete in der Internetpräsenz öffentlich-rechtlicher Medien (unter anderem WDRforyou; SWR News for refugees) zu einem nachhaltigen Wandel in den Medienhäusern führen können. Zumindest nehmen diese Sender ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag ernst, versorgen auch Geflüchtete mit Angeboten und beziehen diese als Gesprächspartner ein. Inwieweit die Angebote auch von der Zielgruppe rezipiert werden, ist unklar.6 Es stellt sich auch die Frage, inwiefern diese 5

6

Wird hier in Anführungszeichen gesetzt, weil auch dieses Grouping zu einem Othering führt, das die Realität nur selektiv und unzureichend abbildet. Eine Alternative zu dieser analytischen Ungleichheitskategorie ist aber noch nicht gefunden. Die Sender veröffentlichen ihre Daten nicht und geben diese auch auf Anfrage nicht preis. Auf der Facebook-Seite von WDRforyou gibt es immerhin über 530.000 Follower.

Fluchtmigration in den Medien

Angebote Geflüchteten in den breit rezipierten Hauptprogrammen eine Stimme und insgesamt deren Sichtweisen in den Sendern mehr Gewicht verleihen. Neben der geringen Zahl an Journalist*innen »mit Migrationshintergrund« wird hier vor allem ihre mangelnde Repräsentanz in den Entscheidungs- und Selbstkontrollorganen wie den Rundfunkräten als wichtiger Faktor dafür betrachtet, dass andere, differenziertere Perspektiven in der Migrationsberichterstattung derzeit schwer zu etablieren sind (Horz 2016). Migrant*innen befinden sich bereits seit den 1980er-Jahren im »medienpolitischen Abseits« (Oepen 1984). Mit dem Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 2014, das auch Migrant*innen und Muslim*innen einen Sitz in den Rundfunkgremien gewährt, ändert sich das erst langsam. Geflüchteten wird dieser Status weiterhin verwehrt, auch weil die Länder lediglich die Minimalanforderungen des Urteils umgesetzt haben. Kritisch wird hier gesehen, dass die Länder die Forderung nach Dynamisierung mit wenigen zaghaften Ausnahmen nicht umsetzen. Stattdessen tritt eine am Multikulturalismus der 1990er Jahre orientierte Gewährung von Gruppenrechten in den Vordergrund, die allerdings die dynamische Entwicklung der Gesellschaft und diejenige innerhalb dieser »Gruppen« kaum widerspiegelt. Repräsentationskritik ist folglich auch hinsichtlich der Fluchtberichterstattung wichtig; allein greift sie jedoch zu kurz. Auf der Makro-Ebene der Gesellschaft kann rassifizierte Berichterstattung ihre eigenen Wirkungspotenziale entfalten. Auf sie wird im übernächsten Kapitel eingegangen. Zuvor wird der Stand der Medienanalyse zur Fluchtmigration näher beleuchtet.

4.

Medienanalyse: Berichterstattungsmuster zur Fluchtmigration

Der Teilbereich der internationalen und inter- beziehungsweise transkulturellen Kommunikationswissenschaft untersucht seit den 1970er-Jahren unter anderem, wie Medien in Deutschland über Minderheiten berichten (Delgado 1972; Merten 1986). Die Analysen zur Medienberichterstattung über die aktuelle Fluchtmigration reihen sich zwar in eine mittlerweile recht gut etablierte Forschungstradition im Bereich (Arbeits-)Migration und Medien mit differenzierten Befunden ein, wie oben dargelegt wurde. Allerdings sind beide Bereiche nicht kongruent aufeinander bezogen. Die Einstellungsforschung liefert, wie bereits deutlich wurde, verlässliche und repräsentative Daten zu den »Grundkonstanten« der Stereotypen und Feindbilder der Deutschen und Europäer hinsichtlich Minderheiten wie Muslim*innen, Sinti und Roma sowie Geflüchteten. Stereotype sind festgelegte, »einfache und einprägsame Beschreibungen einer Person oder Gruppe« (Hafez 2015, S. 14 f.). Die Einstellungsforschung kann jedoch nur ein Teil der Analyse der rassifizierten Berichterstattung sein, weil sie ausschließlich bei den Rezipient*innen ansetzt, ohne die bereits im medialen Produktionsprozess angelegten Interpretationsrah-

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Christine Horz

men zu berücksichtigen. Hier bietet der Framing-Ansatz eine Möglichkeit, komplexe Deutungsmuster zu untersuchen. Die Framing-Forschung hat die traditionelle Inhaltsforschung um den Deutungsmusteransatz erweitert. Im Verbund mit Rezeptionsstudien sowie den Ergebnissen der Einstellungsforschung kann dann auf Wirkungspotenziale rassifizierter Berichterstattung geschlossen werden. Zunächst sollen im Folgenden die grundlegenden Annahmen der Framing-Forschung betrachtet werden, um anschließend die zentralen Frames im aktuellen Fluchtdiskurs herauszuarbeiten.

4.1

Framing in der Kommunikationswissenschaft

Empirische kommunikationswissenschaftliche Studien analysieren seit einigen Jahren vermehrt Frames. Robert Entman (1993) hat diesen Ansatz für die Kommunikationswissenschaft nutzbar gemacht. Was wird unter einem Frame verstanden? Framing wird dem Second-Level-Agenda-Setting zugeordnet. Framing bezeichnet demnach die Praxis der Strukturierung und Hervorhebung eines thematischen Rahmens in der Berichterstattung durch die Kommunikator*innen, die Journalist*innen. »Sie bieten eine Definition und Bewertung des Problems sowie möglicherweise eine Ursachenzuschreibung und damit verbundene Handlungsempfehlungen« (Unz 2008, S. 145). Rezipient*innen verarbeiten diese Zeichen und Reize kognitiv im Rahmen ihrer Vorkenntnisse, ihrer Einstellungen und anderer Vorbedingungen. So erlangt bereits der Selektionsprozess als Bestandteil der professionellen Routine im Journalismus große Bedeutung (Salienz): »To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation and/or treatment recommendation« (Entman 1993, S. 52). Mit Verweis auf unter anderem Entman und Gitlin schreiben Scheufele und Engelmann (2016, S. 443): »Menschen ziehen solche Bezugs- oder Interpretationsrahmen heran, um Sachverhalte, Ereignisse oder Akteure einordnen, interpretieren und beurteilen zu können.« Nach Entman (1993) enthält ein Medienframe für gewöhnlich die folgenden Aspekte: Diagnose, Problemdefinition, Ursachenbeschreibung, moralische Beurteilung und einen Vorschlag zur Problemlösung. Framing-Effekte sind daraus resultierende Wirkungen, die wiederum vielfältig sein können (Scheufele 2003). Anhand dieser kurzen Skizze wird bereits deutlich, dass sich die Untersuchung von Frames stark von der Stereotypenforschung unterscheidet, weil diese teils zu unterkomplexen Fragestellungen in Untersuchungen zur Darstellung von Migrant*innen führte (Hafez 2009). Während ein Stereotyp durch fixe, quasi unveränderliche Zuschreibungen charakterisiert ist, reagiert ein Frame flexibel

Fluchtmigration in den Medien

auf gesellschaftliche Interpretationen und Ereignisse. Wenn nach Stereotypen geforscht wird, kann man diese in der medialen Berichterstattung über Geflüchtete sicher auch finden, doch andere Themenattribute der (rassifizierten) Berichterstattung bleiben unentdeckt. Framing findet im Wechselspiel mit der Wahrnehmung und mit vorhandenen Wissensvorräten der Rezipient*innen statt. Studien konnten zeigen, dass Rezipient*innen eine Botschaft anders gewichten, je nach betontem Teilaspekt, auch wenn es sich um ein und denselben Sachverhalt handelt (Scheufele 2003).7 Diese Studien konnten die Kritik am Framing-Ansatz nicht vollständig entkräften, wird ihm doch vorgeworfen, keine objektiven Kriterien vorlegen zu können. Die Frage nach den Wirkungspotenzialen von Frames ist im Ansatz eingelassen, doch werden diese häufig überschätzt und verallgemeinert, worauf im nächsten Kapitel eingegangen werden wird. Frames sind folglich Interpretationsrahmen, kognitive Strukturen, Bündel von Schemata – die Brücke vom Medium und seinem Inhalt zum beziehungsweise zur individuellen Rezipient*in.

4.2

Framing in der Medienberichterstattung über Flucht/Geflüchtete

Medien gestalten bestimmte Deutungsmuster beziehungsweise Frames8 von Geflüchteten mit. Diese themenzentrierten Rahmungen im Fluchtdiskurs lenken und begrenzen die Wahrnehmung der Rezipient*innen und erzeugen Bedeutung (Gaál 2018; Sponholz 2018; Herrmann 2016; Ceyhan/Tsoukala 2002). Dies zeigt sich auch in der Bezeichnung Flüchtlingskrise in Politik, Medien und Gesellschaft. Welche Frames über Migrant*innen und Geflüchtete im Besonderen sind nun vorherrschend? Hier wird zunächst davon ausgegangen, dass Framing als Prozess analysiert werden sollten, weil sich daraus Erkenntnisse über das »Funktionieren« und die systemischen Bedingungen des Journalismus ableiten lassen. Dazu gehört auch zu fragen, wie Themen in den Medien ineinandergreifen, beispielsweise durch die redaktionelle Programmierung von Nachrichtensendungen. Herrmann (2016, S. 7) beschreibt den flow an Beiträgen als »performativen Charakter der Berichterstattung« zur Fluchtmigration – so werden zum Beispiel Beiträge zu Terroranschlägen direkt vor Beiträgen zur Migrationsentwicklung ausgestrahlt, was dann eine thematische Nähe suggeriert. Im medialen Fluchtdiskurs wurde dieser Prozesscharakter auch deutlich, als sich die Medien im Sommer 2015 zunächst der

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Der Framing-Ansatz in der Kommunikationswissenschaft kann in seiner Tiefe und Breite hier nicht erklärt werden. Ausführlich dazu unter andere Scheufele (2003). Die Begriffe entstammen jeweils unterschiedlichen Forschungstraditionen, beziehen sich jedoch auf vergleichbare Sachverhalte, weswegen sie hier synonym und mit interdisziplinärem Anspruch verwendet werden.

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Euphorie der Bevölkerung anschlossen, um wenig später wieder in altbekannte Berichterstattungsmuster zu verfallen. Vier markante Medienframes aktueller kommunikationswissenschaftlicher Forschung zur Fluchtmigration lassen sich exemplarisch darstellen und entsprechende Forschungsdefizite herausarbeiten: 1) vom humanitären Frame zum Überforderungs- beziehungsweise Belastungsframe; 2) der sogenannte ›Securitization-Frame‹; dabei wird Fluchtmigration unter Sicherheitsaspekten betrachtet; 3) eine diskursive Unterscheidung von ›deserving‹ und ›undeserving‹, wobei zwischen jenen unterschieden wird, die ›tatsächlich‹ Hilfe verdienen, und anderen, welchen diese Hilfsbedürftigkeit abgesprochen wird (»Wirtschaftsflüchtlinge«); 4) die Genderdimension im Fluchtdiskurs, in der überwiegend männliche Migranten als Problemgruppe konstruiert werden.

4.2.1

Vom humanitären zum Überforderungs- und Belastungsframe

Die Berichterstattung zum Thema Fluchtmigration erweckte im Sommer 2015 zunächst den Eindruck, dass Journalist*innen aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hätten und keinesfalls nochmals als Mitverursacher*innen eines fremdenfeindlichen Klimas in der Bevölkerung auftreten wollten wie vor den Brandanschlägen in Solingen und Mölln (Esser et al. 2002). Die Berichterstattung war auch in Deutschland zunächst durchaus advokatorisch einer »Willkommenskultur« zugeneigt (Haller 2016). Dabei wurden die humanitären Aspekte der diskursiven Konstruktion von Geflüchteten als unschuldigen Opfern hervorgehoben, denn der Journalismus nahm die Fluchtmigration zunächst als humanitäre Katastrophe wahr. Emblematisch hierfür ist das Pressefoto des bei der Flucht ertrunkenen Jungen Alan Kurdi. Bozdaǧ und Smets (2017) kamen in einer Online-Studie zu dem Ergebnis, dass das Bild, anders als erwartet, nicht zu einem Umschwung im öffentlichen Diskurs führte, sondern in bestehende Viktimisierungslogiken eingespeist wurde. Greussing und Boomgarden (2017) entdeckten in ihrer automatisierten Frameanalyse ausgewählter Presseartikel in Qualitäts- und Boulevardtiteln in Österreich, dass sich in der Hochphase der Fluchtmigration 2015 die Anzahl der Frames reduzierte und dass sich diese in der Tabloid- und Qualitätspresse stark anglichen und somit beide Medienformate gleichermaßen zur Stereotypisierung der Geflüchteten beitrugen. Der Viktimisierungsframe, der weit weniger dominant ist als die Hervorhebung der Sicherheits- und Bedrohungsaspekte, übernimmt bei der Stereotypisierung gleichwohl bestimmte Funktionen. Zunächst betont er die individuelle Not der Geflüchteten sowie die Umstände, die zu ihrer Flucht geführt haben und die jenseits ihrer Verantwortlichkeit liegen (Greussing/Boomgarden 2017, S. 1751). Dadurch kann er Hintergrundinformationen liefern und durch die humanitären, einwanderungsfreundlichen Aspekte rechtliche und moralische Aspekte in der Fluchtberichterstattung hervorheben. Er kann aber auch paternalistisch wir-

Fluchtmigration in den Medien

ken, wenn Asylsuchende als Leidende dargestellt werden, die völlig abhängig von Transferleistungen sind (Chouliaraki 2012). Kai Hafez (2016) schließt daraus, dass Journalismus offenbar dazu neigt, seine eigenen Narrationen wieder zu zerstören, um sich die Aufmerksamkeit des Publikums zu sichern. Die humanitäre Katastrophe im Sommer 2015 führte zur compassion fatigue: Die Aufmerksamkeit der Medien ließ nach; die Wende zum »Flüchtlingsherbst« war also bereits im »Flüchtlingssommer« angelegt gewesen. Diese systemischen Bedingungen des Journalismus gaben den Ausschlag für eine Berichterstattung, die vor der Folie eines ansonsten »verkaufsträchtigen Populismus« (Hafez 2016, S. 2) einer negativen Migrationsberichterstattung als »positiv« wahrgenommen wurde. Das politische Vakuum, das im Sommer 2015 in Deutschland durch die lange uneindeutige Haltung zur Migrationssituation an den europäischen Außengrenzen herrschte, wird als weitere Ursache für die Diskursverschiebung des Fluchtdiskurses in dieser Zeit betrachtet. Es untermauert den Prozesscharakter der Fluchtberichterstattung (Hafez 2016, S. 7). Nachdem Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) ihren Streit beigelegt hatten, schwenkte die Regierung wieder in den gewohnt restriktiven Kurs ein und erließ die Asylpakete I und II – und dann folgten die Medien wieder dieser Politik. Das Wechselspiel von Medien, Politik und Bürgern verleiht dem medialen Diskurs über die Fluchtmigration seine Dynamik (Horz 2017). Es wird deutlich, dass Medien eben nicht nur Beobachter der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, sondern diese auf unterschiedliche Weise auch selbst aktiv mitgestalten. Des Weiteren kreieren sie ein langfristiges Narrativ der Migration mit, das als Verquickung von Kontinuitäten und aktuellen Entwicklungen im Mediendiskurs über transnationale Migrant*innen erscheint (Moore 2016). Der Befund, dass der aktuelle politische Diskurs mit lange bestehenden antiislamischen Stereotypen die Berichterstattung dominiert, dass die Medienberichterstattung Migrant*innen insgesamt nach ihrer Herkunft kategorisiert, sie als Opfer oder Eindringlinge und als Objekte staatlicher Maßnahmen konstruiert und kaum als aktiv handelnde Subjekte darstellt (EUMC 2002, S. 43-49; Müller 2005, S. 90), deutet auch darauf hin, »dass die professionelle Selbstkontrolle« des Journalismus »versagt hat« (Hafez 2004, S. 72). Der Überforderungs- und Belastungsframe, der auf die compassion fatique folgte, betont, dass die Bevölkerung durch das Chaos der Massen an Geflüchteten heillos überlastet sei und sich letztlich durch die (zu hohe) Zahl der Geflüchteten das Gefühl der Ohnmacht breitmache. Herrmann (2016) schildert eindrücklich, dass sich im Gegensatz zur medialen Informationsflut das Leben ihrer Student*innen auf Nachfrage kaum oder gar nicht verändert habe. Die Berichterstattung zeichnete dennoch das Bild eines »nicht enden wollenden Stroms an Flüchtlingen, die in dieser Metapher wie eine Naturgewalt über Europa hereinbrechen« (ebd., S. 9). Pa-

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radigmatisch hierfür stehen einschlägige Metaphern der 1990er-Jahre (»Das Boot ist voll!«). Sie können seither nicht nur in journalistischen Texten, sondern auch in der Bebilderung der Berichterstattung als langfristiges Narrativ beobachtet werden (Wintzer 2016). Als die Geflüchteten im Herbst 2015 im Land waren, gewann der Belastungsframe an Bedeutung. In dieser Interpretation stehen vor allem die Sozialsysteme und Gemeinden in unzumutbarer Weise vor einer Belastungsprobe. Diese Erzählung stellt eine kausale Verbindung zwischen Migration und Ökonomie dergestalt her, dass Geflüchteten tendenziell unterstellt wird, es ginge ihnen nicht um die »Rettung ihres Lebens […], sondern um die Verbesserung ihres Lebensstandards« – Göbel spricht hier von dem Push-Pull-Modell, in dem der Wohlstand des Westens als Pull-Faktor auf die Migrationsentscheidung wirke (Göbel 2017, S. 350). Tatsächlich sind es wohl auch andere Faktoren, die Menschen in Richtung Europa treiben: Eine entsprechende Analyse konnte zeigen, dass das soziale Umfeld einen erheblichen Anteil an der Migrationsentscheidung trägt (Emmer/Kunst/Richter 2016). Begriffe wie »Sozialschmarotzer«, »Wirtschaftsflüchtlinge« oder auch »Asyltourismus« (geäußert vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, CSU) prägen den Eindruck von Geflüchteten als finanzielle Belastung. Stichwortgeber ist dabei nicht nur die rassifizierte Medienberichterstattung, sondern auch die Politik, was die sich wechselseitig verstärkenden Faktoren Medien – Politik – Gesellschaft im Fluchtdiskurs unterstreicht. Der im Frame genannte Lösungsansatz zielt auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse vor Ort ab, was jedoch aufgrund der gegebenen Komplexität weitgehend folgenlos geblieben ist (Göbel 2017, S. 367 ff.). Der Überforderungs- und Belastungsframe ist sehr eng mit Sicherheitsdebatten verwoben.

4.2.2

Der Securitization-Frame

Der Ansatz der Securitization (»Versicherheitlichung«) soll veranschaulichen, dass das Begriffsfeld Migration im Verlauf der Diskursivierung eine Verschiebung erfährt, hin zur Konstruktion einer existenziellen Bedrohung der Einheit und Sicherheit souveräner Staaten und ihrer Gesellschaften und Werte (Ceyhan/Tsoukala 2002; Humphrey 2006). Mit Verweis auf Tromble (2014) fasst Norden zusammen, dass ein Akteur beziehungsweise eine Akteur*in durch die Migration zunächst ein Referenzobjekt (zum Beispiel eine Landesgrenze, das friedliche Zusammenleben) als »existenziell gefährdet« markieren muss, zweitens die Quelle der Gefahr benennt (zum Beispiel Flüchtende) und drittens außergewöhnliche Maßnahmen vorschlägt, um die Gefahr zu beseitigen (zum Beispiel restriktive Migrationsregimes). Eine Securitization gilt dann als erfolgreich, wenn die Mehrheitsgesellschaft alle drei Aspekte als gegeben akzeptiert und diese weiter diskursiviert (Norden 2016, S. 5).

Fluchtmigration in den Medien

Nicht nur Grenzschutz, nationale Souveränität und öffentliche Sicherheit werden als bedroht wahrgenommen. Die gefühlte Bedrohung der nationalen und kulturellen Identität sowie das Argument des sogenannten »demografischen Gleichgewichts« führen dazu, dass Geflüchtete, aber auch Politiken wie der Multikulturalismus als Verursacher eines vermeintlichen Sicherheitsdefizits ausgemacht werden (Ceyhan/Tsoukala 2002, S. 28-29). »In securitarian discourses, culture, migration, and identity are linked one to another by the perception of the migrant as a ›cultural other‹, who comes into Western countries and disturbs their cultural identity« (ebd., S. 28). Natürlich ignorieren diese Diskurse, dass alle modernen Staaten erst durch historische Prozesse wie Wanderungen, Kriege und Eroberungen entstanden sind (ebd., S. 29). Der Securitization-Frame lässt fast in Vergessenheit geraten, dass Migration bis in die 1990er-Jahre hinein nicht unter Sicherheitsaspekten untersucht wurde. Vielmehr waren Anthropologie, Ethnologie, Soziologie und Geschichtswissenschaften akademische Felder ihrer Erforschung, wie Norden (2016, S. 7 ff.) ausführlich beschreibt. Huysmans (2000) zeichnet nach, wie Securitization in europäischen Migrationsdebatten Fuß fasste und Migrant*innen mit Fragen der Destabilisierung der inneren Sicherheit verknüpft und als kulturelle Gefahr markiert wurden. Zentral waren demnach die Entwicklung einer europäischen Migrationspolitik sowie die Herausforderungen, die die aufkommende Globalisierung für europäische Wohlfahrtsstaaten darstellte. Das Schengen-Abkommen II von 1990, das EU-Bürger*innen völlige Freizügigkeit sicherte, markiert den Ausgangspunkt der semantischen und symbolischen Verknüpfung so unterschiedlicher Sachverhalte wie Migration, Terrorabwehr und Kriminalität (ebd., S. 756). Spätestens seit 9/11 prägt diese »Sinn-Induktion« die gesellschaftlichen und politischen Debatten über Fluchtmigration (Wagner 2010, S. 18). Schon Vorläufer des Framing-Ansatzes bieten erste Anhaltspunkte hinsichtlich der Natur dieses Diskurses. Unter dem Eindruck der Asyldebatten und rassistischen Übergriffe der 1990er-Jahre zeichneten Ceyhan und Tsoukala (2002) vier Achsen an, entlang derer die »Versicherheitlichung« des Fluchtdiskurses in der Öffentlichkeit diskutiert wird (ebd., S. 24). Sie merkten an, dass die rhetorischen Argumente in so gut wie allen Antimigrationsdebatten ähnlich lägen. Je nach Kontext und politischen Maßnahmen würden jedoch die Strategien variieren, welche Argumente jeweils im Vordergrund stünden (Norden 2016). Das Achsenmodell wird hier anhand aktueller Beispiele skizziert: •

Die sozioökonomische Achse: Mit Bezug zur aktuellen Fluchtberichterstattung wären dies Beiträge über die Ausbeutung der Sozialsysteme, den Wohndruck in den Städten oder auch den Verfall des Lohnniveaus durch Geflüchtete.

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Die Sicherheitsachse: Migration wird in den Medien mit Kontrollverlust assoziiert, etwa an den EU-Außengrenzen; ferner damit, die interne und externe Sicherheitsarchitektur herauszufordern, etwa indem Terroristen auf den Fluchtrouten einreisten. Die Identitätsachse: Sie setzt Geflüchtete mit einer kulturellen Bedrohung gleich, die demografische Verschiebungen verursacht, etwa indem sie Genderaspekte im Diskurs verankert, die vermeintlich »kulturbedingt« sind. Die politische Achse, in der rassistische und fremdenfeindliche Diskurse die Grundlage für politische Geländegewinne restriktiver Asylpolitiken vorbereiten.

In der aktuellen Fluchtberichterstattung machen Chouliaraki, Georgiou und Zaborowski (2017, S. 5) die islamistischen Terroranschläge in Paris vom 13. November 2015 als Wendepunkt aus, der die Sicherheitsdebatten im aktuellen Fluchtdiskurs fest verankerte. Drei Perioden prägten demnach die Medienbilder zwischen Sommer und Herbst 2015: • • •

zurückhaltende Toleranz (cautious tolerance), ekstatische Humanität (ecstatic humanitarianism) und Angst und Versicherheitlichung (fear and securitization) (ebd., S. 15).

Neben der Politik wird den Medien »bei der Vermittlung beziehungsweise Konstruktion der Wahrnehmung« dieser Perioden eine wichtige Rolle zugewiesen (Wendekamm 2016, S. 34; Norden 2016). Chouliaraki, Georgiou und Zaborowski (2017, S. 2) konnten in einer Analyse der Presseberichterstattung in acht europäischen Ländern nachweisen, dass syrische Flüchtlinge in der europäischen Presse entweder als »verwundbare« oder als »gefährliche Outsider« gerahmt wurden – also in beiden Fällen als paradigmatische »andere«. Securitization ist demnach ein komplexer – und ambivalenter – Korpus an rhetorischen Figurationen im Migrationsdiskurs (ebd., S.23 f.). Es handelt sich um Symbolpolitik, die von Politiker*innen, Sicherheitsinstitutionen sowie den Medien produziert (und reproduziert) wird – auch damit auch die damit verbundenen Referenzobjekte. So wiesen Chouliaraki und Georgiou (2017, S. 2) in ihrer ethnografischen Studie der europäischen Grenzen nach, dass diese keine physischen Grenzen sind, sondern durch Massenmedien, soziale Netzwerke, »Sicherheitspartnerschaften« sowie Flüchtlingshelfer*innen vor Ort und ineinander verwobene Diskurse immer wieder (re-)konstruiert werden. Genutzt werden Sprache, Bilder und andere bedeutungsvermittelnde Codes, um die »Krise« zu kommunizieren. Zahlen spielen dabei eine große Rolle, womit ein regelrechtes numbers game zu beobachten ist (Vollmer 2011). Die in Politik und Medien viel debattierte Frage, wie viele Ge-

Fluchtmigration in den Medien

flüchtete Deutschland aufnehmen soll, fasst der Begriff »Flüchtlingsobergrenze« metaphorisch zusammen. Die Prozesshaftigkeit und Janusköpfigkeit dieses Frames zeichnen sich laut Norden (2016, S. 12) dadurch aus, dass Antinomien konstruiert werden: »Wir« und »die anderen«. Dies geschieht in drei Stufen, die wiederum scheinbar widerstreitende Elemente enthalten, sich jedoch wechselseitig stützen: das Verbreiten von Angst und Vertrauen, die Praxis von Inklusion und Exklusion sowie die Entfremdung als Vorläufer der Gewalt gegenüber Geflüchteten. Im Falle der Migration kann das Verbreiten von Angst und Vertrauen bedeuten, dass jenen mit Vertrauen begegnet wird, die eine kulturelle Nähe zum gedachten »Wir« aufweisen, und dass Angst jenen entgegengebracht wird, die (vermeintlich) in kultureller Distanz zu diesem »Wir« stehen (Norden 2016, S. 12). Dies lässt sich gut an der Islamdarstellung in den Medien belegen. Exemplarisch sei auf Hafez und Richter (2007) verwiesen, die 37 verschiedene Magazin- und Talksendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf die Darstellung des Islams hin untersuchten, etwa Monitor und Beckmann (ARD), 37 Grad oder Frontal 21 (ZDF). Themen wie Terrorismus und Extremismus (23 Prozent), internationale Konflikte (17 Prozent) und Integrationsprobleme (16 Prozent) dominierten dabei die Agenda. Politische Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zum Thema Flucht sind auch gegenwärtig ein lohnendes Analysethema, gerade weil die öffentlich-rechtlichen Medien eine besondere Verantwortung hinsichtlich einer ethisch tragfähigen Berichterstattung haben, ihr aber offenbar nicht gerecht werden. Simon Göbel (2017, S. 268-282) beschreibt eine ganze »Gefühlskategorie«. Er rekurriert auf die Idiomatisierung von ›Sorgen und Ängsten‹ in Polittalksendungen, die letztlich dazu beitrage, dass »Fremdenangst als normale menschliche Eigenschaft« verharmlost würde und der Angstdiskurs noch mehr Angst in der Bevölkerung schüre. Gerade in Wahlkampfzeiten scheinen sich hier Konjunkturen des Frames abzuzeichnen. Gale (2004) analysierte die Presseberichterstattung im australischen Wahlkampf 2001 hinsichtlich der Repräsentation von Flüchtlingen und kam zu dem Ergebnis, dass damals eine »Politik der Angst« betrieben wurde, welche durch Flüchtende die nationale Sicherheit und den Wohlstand gefährdet sah. Ähnlich wie Chouliaraki, Georgiou und Zaborowski (2017) stellt auch er fest, dass über die Flüchtenden zunächst unter humanitären Gesichtspunkten berichtet worden sei, aber anschließend sei der Securitization-Frame aktiviert worden, der schließlich in die Politik der Angst gemündet habe, so dass hier die Prozesshaftigkeit der FrameEntwicklung beobachtet werden könne. Die Verantwortung des Journalismus im Migrationsdiskurs spielt demnach eine enorme Rolle. Journalist*innen sitzen häufig dem Trugschluss auf, sie würden »die Realität« abbilden, obwohl sich in der akademischen Betrachtung längst das Konzept des Konstruktivismus durchgesetzt hat (Pörksen 2016). Sie negieren also, überhaupt bestimmte Deutungsmuster anzubieten. Umso bedeutender wäre es,

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wenn sich Journalist*innen endlich selbstkritischer mit journalistischen Selektionsmechanismen und ihrer Berufsethik auseinandersetzen würden, um dadurch ihrer Verantwortung im Fluchtdiskurs künftig besser gerecht zu werden. Auch die Gesellschaft ist als Ganzes gefordert, eine ernsthafte Debatte über die »Ethik des Teilens« in der digitalen Kommunikation zu führen, denn Diskurse im Internet neigen zu Nationalismus und Rassismus (Pörksen 2019; Hafez 2017). Dass die Frames im Fluchtdiskurs durch Interrelationen geprägt sind, sich also aufeinander beziehen und sich wechselseitig stärken, kann durch einen dritten Frame verdeutlicht werden.

4.2.3

›Deserving‹ und ›undeserving migrants‹

Die diskursive Unterscheidung von ›deserving‹ und ›undeserving migrants‹ unterteilt Geflüchtete in jene, die ›tatsächlich‹ Hilfe verdienen, und jene, welchen diese Hilfsbedürftigkeit abgesprochen wird (Castañeda/Holmes 2016). So werden hilfsbedürftige Flüchtende beispielsweise den sogenannten (Wirtschafts-)Migrant*innen gegenübergestellt. Die Themen »kriminelle Geflüchtete« sowie »Integrationswilligkeit«, die auch Bestandteil des Securitization-Frames sind, dienen zur Legitimierung, warum einige Geflüchtete die Aufnahme in einem europäischen Land »verdienen« und andere nicht (Ceyhan/Tsoukala 2002). Holzberg, Kolbe und Zaborowski (2018) untersuchten diesen Frame in der Süddeutschen Zeitung (SZ), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Tageszeitung (taz), der Welt sowie in den wöchentlichen Titeln im Spiegel, im Focus und in der Zeit. Sie konnten unter anderem bestätigen, dass die vermeintlichen Gegensatzpaare Securitization (angstauslösend) und Humanität (empathieerzeugend) im Fluchtdiskurs sich wechselseitig verstärkende Faktoren der Gouvernmentalität sind (ebd., S. 536), hier der politischen Rationalisierung von Migration und ihrer Vor- und Nachteile. Dabei wird aus dem Recht auf Asyl im Diskurs die Frage, welche Geflüchteten es wert sind, zu bleiben, und welche abgeschoben werden dürfen. Entsprechend verfolgten 76 Prozent der Artikel eher restriktive Frames (Grenzschließungen, Zurückweisungen von Flüchtenden etc.), 85 Prozent der Beiträge folgten einem humanitären Ansatz (Grenzöffnung, Aufnahme von Flüchtenden, Spenden etc.). Die beiden Deutungsrahmen der hilfsbedürftigen Asylsuchenden und der abzuschiebenden Migrierten gruppieren sich ferner um drei zentrale Semantiken: Ökonomie, Sicherheit und Geschlechterverhältnisse9 . Bei der ökonomischen Semantik werden jeweils positive und negative Aspekte in den Zeitungsartikeln genannt, wobei positive Aspekte meist utilitaristisch formuliert sind: Geflüchtete, die über ein gute Ausbildung verfügen und potenziell die demografische Entwicklung einer alternden Gesellschaft in Deutschland verzögern können, werden als 9

Auf die Geschlechterverhältnisse wird weiter unten gesondert eingegangen, da sie hier als eigenständiger Frame definiert werden.

Fluchtmigration in den Medien

willkommene Flüchtlinge in das Framing eingeordnet. Geflüchtete werden mit einem Zuwachs an Jobs und der Sicherung der Sozialsysteme assoziiert, was einmal mehr zur ambivalenten Figur des Geflüchteten beiträgt (Göbel 2017, S. 349-385). Teil dieser Argumentation ist auch eine rassifizierte Antinomie zwischen dem fortgeschrittenen Norden/Westen und dem rückständigen Süden/Osten, die wenig ausgebildete Flüchtlinge als »teuer« für die Sozialsysteme und unterqualifiziert für den Arbeitsmarkt rahmt (ebd., S. 542). Aber auch euphorische Berichte über die neuen Hochqualifizierten tauchen in diesem Frame auf. Bezüglich der Semantik Sicherheit bestätigen Holzberg, Kolbe und Zaborowski (2018) den Prozesscharakter und die Ambivalenz der Frameentwicklung, wobei zunächst die Verknüpfung der islamistischen Terrorattacken mit Flucht in den untersuchten Artikeln abgelehnt, später jedoch wieder aufgegriffen wird. Das Thema Sicherheit erreichte seine höchste Salienz im November 2015, sodass die Autor*innen ebenfalls die Attacken von Paris als turning point in Richtung Securitization im Fluchtdiskurs bestätigen, wobei Securitization wiederum zur Legitimierung des »Undeserving«-Frames dient. Benert und Baier (2016) kommen in ihrer Frameanalyse im Guardian und in der Süddeutschen Zeitung über die Lampedusa-Berichterstattung ebenfalls zu ambivalenten Ergebnissen. Sie untersuchten auch die Konnotationen der Frames und stellten fest, dass zwar zwei Drittel der untersuchten Beiträge die Geflüchteten willkommen heißen; allerdings sind die Schlüsselbegriffe, die Flüchtlinge beschreiben, anhand bestimmter Metaphern negativ konnotiert, beispielsweise »Flüchtlingswelle«. Die Autoren ziehen daraus den Schluss, dass die Framing-Forschung nicht nur Textelemente untersuchen sollte, sondern verstärkt auch deren Konnotationen. Die gleichzeitige Darstellung von Geflüchteten als bedrohlich und hilfsbedürftig, als Belastung und Bereicherung führt zur diskursiven Konstruktion des »refugee as a fundamentally ambivalent figure« (Chouliaraki 2012, S. 14) – einer Figur also, in der sich die medial beschworene Verunsicherung personalisiert manifestiert.

4.2.4

Thematisierung der Geschlechterverhältnisse

Nachdem dominante positive und negative Elemente der ambivalenten Figur des Geflüchteten in der Medienberichterstattung dargelegt wurden, hebt nun ein weiterer Frame die Thematisierung der Geschlechterverhältnisse hervor. Die Genderdimension bezog sich in der aktuellen Medienberichterstattung vor allem auf die männlichen Geflüchteten, wobei die Kölner Silvesternacht 2015/2016 das zentrale Ereignis darstellt, um den Frame des sexualisierten arabischen Mannes zu rekonstruieren (Dietze 2016). Dieses Medienimage gehört zum Repertoire rassifizierter Berichterstattung, weil hier punktuell auf die Korrelation Migrant = (Sexual-)Straf-

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täter abgehoben wird. Das Bild des Straftäters »mit Migrationshintergrund« wird seit Jahrzehnten im Vergleich zum deutschen Straftäter explizit männlich konstruiert, negativ oder brutal dargestellt und bislang eher mit organisiertem Verbrechen in Zusammenhang gebracht (Ruhrmann/Demren 2000).10 Da insgesamt von einer »Islamisierung« der Migrationsberichterstattung gesprochen werden kann, ist nachvollziehbar, dass auch die aktuelle Berichterstattung über Flucht davon betroffen ist (Spielhaus 2006). Mit dem Silvesterereignis in Köln 2015/2016 sowie den aktuellen Beziehungstaten mit tatverdächtigen Asylbewerbern tritt der Genderaspekt in der rassifizierten und antiislamischen Berichterstattung immer deutlicher zutage. Er hat, so Gabriele Dietze (2016), den »Ethnosexismus« stärker hervortreten lassen und seither fest in der Fluchtberichterstattung verankert. Dietze versteht darunter eine »spezifische Form von sexualpolitisch argumentierender Migrationsfeindlichkeit […] und deren komplexer Intersektionalität von Geschlecht, Ethnie, Sexualität, Religion, Klasse/Milieu und geopolitischer Positionierung« (Dietze 2017, S. 4). Damit ist auch mit dem Missverständnis aufgeräumt, dass die Taten von Köln wegargumentiert und damit verharmlost werden sollen. Allerdings wäre es laut polizeilicher Kriminalstatistik aufgrund der Häufigkeit weitaus lohnenswerter (und böte Ansätze für intensive Berichterstattung und politische Maßnahmen), die generelle Korrelation von männlicher Geschlechtszugehörigkeit und Sexualstraftat zu beleuchten. Dietze (2016) resümiert mit Verweis auf Meyer und Purtschert (2008, S. 150), dass »Migration eines der relevantesten Sicherheitsfelder spätmoderner Nationen« sei, weil sich die Bevölkerung ständig die Frage neu stellen könne, welche deren »nicht-integrierbare gefährliche Eindringlinge« seien (Dietze 2016, S. 100). Dieser Frame steht exemplarisch für die intersektionale Praxis des Rassismus und Antifeminismus (Boulila/Carri 2017, S. 286). In seiner Spielart werden folglich syrische Männer als Betrüger und Terroristen geframt (Rettberg/Gajjala 2016). Schiffer (2005, S. 34-40) benennt das oben bereits angesprochene Zeigen und Ausblenden sowie die Stellvertreterfunktion als wiedererkennbare Berichterstattungsmuster in der Islamberichterstattung, das auch für diesen Fall gilt. Die Stellvertreterfunktion im Sinne des Pars pro Toto schält aus Einzelfällen zunächst ein zentrales Problem einer zuvor konstruierten Gruppe heraus – denn genauso wenig wie es den arabischen Mann gibt, gibt es den europäischen Mann –; dann wird 10

Eindringlichstes Beispiel aus jüngster Zeit ist die rassistische Mordserie der rechtsextremistischen Terrororganisation »Nationalsozialistischer Untergrund«, die 2011 öffentlich wurde. In diesem Zusammenhang wird nicht nur von einem Versagen der Ermittlungsbehörden, sondern auch von einem Versagen der Medien gesprochen, welche weitgehend unhinterfragt die Behauptung übernommen hätten, die Opfer, bis auf eine Polizistin allesamt Migrant*innen, seien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu kriminellen Banden ermordet worden (Quack 2011, S. 33).

Fluchtmigration in den Medien

plausibilisiert, dass dieses Problem dadurch verschärft wird, dass mehr männliche als weibliche Geflüchtete in Deutschland ankommen. Die Beschreibung verortet sodann die Ursache für das delinquente Verhalten in der Kultur, der Erziehung, der Religion und Ähnlichem des Geflüchteten, die dann als unvereinbar mit westlichen Emanzipationsgedanken dargestellt werden. Schließlich wird vorgeschlagen, die Männer verstärkt zurückzuweisen oder abzuschieben. In diesem Frame des sexuell überaktiven und unkultivierten Arabers begegnet uns neben der Rassifizierung wieder die Ausgrenzungspraxis sowie die differenzierende Macht, die Terkessidis als Bestandteil von Rassismen ausmacht. Die gegenwärtigen Migrationsdebatten werden dadurch befeuert, dass sich die Partei Alternative für Deutschland (AfD) quasi monothematisch dieses Sujéts bemächtigt und durch zahlreiche Talkshowauftritte das Thema in der öffentlichen Kommunikation verankert hat. Aktuelle nichtwissenschaftliche Datenerhebungen liefern zwar keine verlässlichen Daten, veranschaulichen aber das Problem, das die Kommunikationsforschung noch intensiver erforschen sollte: Der Microblogger Alex- #wirsindmehr veröffentlichte im Juni 2018 via Twitter eine Statistik, in welcher er die Titel der Polittalksendungen zwischen Juni 2015 bis Juni 2018 Themenagenden zuordnete. Das Thema Flüchtlinge und Integration steht demnach an erster Stelle mit 73 Prozent der Sendungen.11 Der SPD-Abgeordnete Marco Bülow führte eine ähnliche Untersuchung durch, kategorisierte über 200 Polittalksendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und kam zu dem Schluss, dass über 90 Prozent der Sendungen »Flüchtlinge, Terror, Populismus und Extremismus« behandelten, während Themen wie die NSU-Morde so gut wie nicht vorkämen.12 Sendetitel wie »Flüchtlinge und Kriminalität – die Diskussion!« stehen für kompexitätsreduzierte Topoi: junge Männer, geflohen aus Krieg und archaischen Gesellschaften – für viele hierzulande Grund zu Sorge und Angst – können solche Flüchtlinge überhaupt integriert werden? – Wie unsicher wird Deutschland dadurch? Sie stehen mittlerweile aufgrund ihres Framings auch in der öffentlichen Kritik.13 Goebel (2017, S. 315) identifiziert die Partei Alternative für Deutschland (AfD) als Treiberin der Frames, die Angst schüren – hier die Angst vor dem »arabischen Mann«. Dies findet etwa in deutschen Polittalksendungen statt, die vor allem durch kulturrassistische Ansagen ein deutliches Othering vornehmen. Sie bedienen damit auch den Integrationsdiskurs in der Mitte der Gesellschaft, welchem die Vorstellung von kulturell Eigenem und kulturell Fremdem inhärent ist. Die AfD muss dabei nicht in den Sendungen präsent sein; ihre Themen werden vielfach aufgegriffen 11 12 13

https://twitter.com/Papaleaks/status/1004352206139686912;zuletzt geöffnet am 22.03.2019. https://www.marco-buelow.de/talkshows-einseitig-und-verzerrend/; zuletzt geöffnet am 20.03.2019. https://www.sueddeutsche.de/medien/talkshows-und-populismus-selbst-wenn-die-afdnicht-in-talkshows-sitzt-sind-ihre-inhalte-omnipraesent-1.4002428; zuletzt geöffnet am 20.03.2019.

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und bestimmen den öffentlichen Diskurs maßgeblich mit. Fluchtberichterstattung wird dadurch zur Erzählung und Wiedererzählung dessen, was die Politik (und damit auch die AfD) zum Thema Flucht meint. Diese rassistischen Argumentationsmuster bereiten letztendlich restriktiven Asylpolitiken den Boden. »The long overdue rape legislation was tightened and linked to immigration law with a conviction of sexual assault leading to deportation in addition to criminal sanctions« (Boulila/Carri 2017, S. 286). Doch nicht nur das: Damit verbunden sind einmal mehr essenzialistische Vorstellungen eines »kulturell zurückgebliebenen« Orients und eines durchweg aufgeklärten Deutschlands, das Sexismus lange hinter sich gelassen habe, was auch von Feministinnen wie Alice Schwarzer geäußert wurde (Focus 2016). Es kann also durchaus von einem »liberalen Rassismus« gesprochen werden, der zumindest implizit auf Muslim*innen fokussiert. Er operiert mit kritischen Diskurselementen, »um mit diesem ›progressiven‹ Arsenal die Ablehnung von ›Anderen‹ mit deren Unaufgeklärtheit und ›falschem‹ Verhalten zu begründen« (Dietze 2017, S. 5). Umso besorgniserregender ist, dass bereits Jugendliche ihre rassistischen und islamfeindlichen Haltungen auch mit der Medienberichterstattung begründen. So äußern Jugendliche in der ersten Studie zu islamfeindlichen Einstellungen im Jugendalter »Ängste vor männlichen Geflüchteten vor dem Hintergrund von Medienberichten« (Kaddor et al. 2018, S. 13). Gegenöffentlichkeiten gegen den Ethnosexismus »nach Köln« formierten sich in digitalen Medien wie im Falle der Social-media-Kampagne #ausnahmslos. Die antirassistischen Feministinnen, die den Hashtag initiiert hatten, distanzierten sich ausdrücklich von antifeministischen Versuchen, Sexismus zu ethnisieren und so zu tun, als hätte es diese Form der Gewalt bisher in Deutschland nicht gegeben. Geflüchtete Frauen werden in den diversen Debatten und gleichsam als Gegenbild nach den Kölner Ereignissen als Opfer und Täterinnen dargestellt, die zum einen von islamistischen Normen unterdrückt würden und zum anderen selbst schuld daran seien; schließlich würden sie diese Normen auch ihren Söhnen durch die Erziehung vermitteln (Holzberg et al. 2018, S. 546).

5.

Effekte und Forschungsdefizite

Neben dem Framing-Ansatz spielt die Rezeptionsforschung folglich eine wichtige Rolle, vor allem, wenn es um die Analyse von Wirkungspotenzialen rassifizierter Berichterstattung geht. Die Frage nach den Wirkungspotenzialen dieser und weiterer Frames im Fluchtdiskurs berührt ein zentrales Dilemma der kommunikationswissenschaftlichen Wirkungsforschung. Diese geht davon aus, dass zwar keine Kausalität zwischen Medienberichterstattung und Radikalisierung in der Bevölkerung

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festgestellt werden kann, einfach deshalb, weil es zu viele Variablen gibt. Eine Korrelation aber ist beobachtbar; Wirkungspotenziale rassifizierter Berichterstattung können benannt werden (van Dijk 2000). In der Fluchtberichterstattung spielt es offenbar eine Rolle, welche Aspekte in welcher Weise betont und wie häufig diese in den Fokus gerückt werden, wie Arlt und Wolling (2016) in ihrer Studie zu Einstellungsmustern und dem hostile media effect darlegen. Dabei gehen Befragte davon aus, Medien würden nicht wahrheitsgemäß berichten, woraufhin sie ihnen bewusste Zensur in genau jenen Aspekten unterstellen, welche diesen Probanden wichtig ist. Arlt und Wolling untersuchten, welche Rolle individuelle Einstellungen gegenüber Geflüchteten für die Einschätzung der aktuellen Berichterstattung zum Thema spielen. Sie konnten zeigen, dass ein Medienbias vermutet wird, je negativer die Einstellung der Befragten zu Geflüchteten war und je häufiger berichtet wurde. Dadurch erhöhen sich Wirkungspotenziale für rassistische Interpretationsmuster. Mediennutzer*innen mit hoher Social-media-Affinität tendieren deutlicher dazu, die Medienberichterstattung über Flucht als »geschönt« wahrzunehmen, als jene Mediennutzer*innen, die etablierte Medien nutzen. Auch spielt die Voreinstellung der Befragten eine Rolle: Besteht bereits eine negative Einstellung gegenüber Geflüchteten, tritt dieser hostile media effect, der Nutzer*innen annehmen lässt, bestimmte Aspekte eines Themas würden heruntergespielt, weitaus deutlicher zutage. Dieses Themenfeld sollte noch eingehender und differenzierter untersucht werden, denn schließlich bedeutet es eine ernste Gefahr für die Demokratie, wenn konfliktfähige Gruppen in der Gesellschaft den journalistischen Medien nicht mehr vertrauen. Wir wissen des Weiteren aus der Agenda-Setting-Theorie und der FramingForschung, dass Medien Themen und Deutungsrahmen mitgestalten und mitbestimmen, worüber wir sprechen und nachdenken. Wenn also mehr als die Hälfte der Befragten in repräsentativen Studien den Islam als bedrohlich wahrnimmt (Religionsmonitor 2015, S. 7-8), aber gleichzeitig so gut wie keinen Kontakt zu Muslim*innen hat, drängt sich die Frage auf, welche Rolle Politik und Medien spielen. Wenn also die Medienbilder über Geflüchtete tendenziell negativ sind, kann man den Medien einen Anteil am gesellschaftlichen Hass auf Geflüchtete und Migrant*innen zusprechen. Durch die Schaffung der externen Bedrohung »Migration« in der Medienberichterstattung kann die Einheit nach innen reproduziert werden, ohne sich auf konkrete gemeinsame Werte berufen zu müssen. Somit wird eine »unsichere Gemeinschaft« geschaffen, in welcher die Negativaspekte jeweils den Migrierten angelastet werden; die Positivaspekte fallen der ansässigen Mehrheitsgesellschaft zu. Diese Strukturierung gilt als Voraussetzung für Gewalt gegen Geflüchtete und Migrant*innen (Huysmans 2006, S. 45-62). Die stark gestiegene Anzahl rassistischer Übergriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte im Jahr 2015 mit über 927 rechts-

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motivierten Straftaten ist ein datengestützter Beleg dafür, dass rassistische Einstellungen in gewalttätige Handlungen umgesetzt werden können.14 Laut Kriminalstatistik 2018 sind diese Delikte zwar zuletzt rückläufig; in den vergangenen drei Quartalen wurden 127 rechtsmotivierte Straftaten aufgenommen.15 Gewaltakte gegen Leib und Leben der Geflüchteten sind jedoch die Spitze der rassistischen Praxis. Subtiler sind Diskursverschiebungen, wie sie Ruth Wodak (2017) im österreichischen Wahlkampf von 2017 beobachtete. Sie wertet sie als eine Ursache für den offensichtlichen Rechtsruck der österreichischen Parteienlandschaft und des am 15. Oktober 2017 gewählten rechts-konservativen Nationalrats. Rechtsorientierte Regierungen neigen wiederum dazu, Einwander*innen auszugrenzen, was in strukturelle Gewalt mündet. Umso wichtiger ist es, diese Diskursverschiebungen möglichst in Längsschnittstudien auch für Deutschland zu zeigen. Dass Diskursverschiebungen sowie die Häufigkeit der Berichterstattung über Geflüchtete Wirkungspotenziale entfalten können, liegt nahe. Alesina, Miano und Stantcheva (2018, S. 19-21) fanden in ihrer internationalen Studie heraus, dass die Zahl der Migrant*innen bei dem Durchschnitt der Befragten, mit Ausnahme der Schwed*innen, in allen beforschten Ländern wesentlich höher eingeschätzt wird, als sie realiter ist. Diejenigen, die hoch gebildet sind und mit Migrant*innen zusammenarbeiten, schätzen die Zahlen am realistischsten ein (dennoch besteht auch hier eine Abweichung zwischen Wahrnehmung und Realität). Die Zahl der Muslim*innen wird ebenfalls viel höher eingeschätzt, vor allem von Bildungsfernen und Rechtsorientierten. Da Letztgenannte die wenigsten Kontakte zu Muslim*innen haben, dürfen die Wirkungspotenziale politischer und medialer Diskurse auf Einstellungen und Vorurteile gegenüber der Minderheitsgesellschaft nicht unterschätzt werden (Frindte et al. 2013; Gilliam/Iyengar 2000).

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»Angriffe auf Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte sind von 199 im Jahr 2014 auf 1.031 Straftaten im Jahr 2015 angestiegen, davon waren neun von zehn rechtsmotiviert. Im Vergleich zu den politisch motivierten Straftaten insgesamt ist bei Straftaten gegen Asylunterkünfte ein höherer Anteil schwerer Straftaten zu beobachten: Der Meldedienst verzeichnet für 2015 vier versuchte Tötungsdelikte, 60 Körperverletzungsdelikte, 94 Brandstiftungsdelikte und 8 Sprengstoffdelikte« (BMI Polizeiliche Kriminalstatistik 2015). Wenn neun von zehn Straftaten rechtsmotiviert sind, ergibt das in Summe 927,9 rechtsmotivierte Straftaten gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte, Pressemitteilung des BMI vom 23.05.2016, basierend auf den Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik; www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/05/pks-und-pmk-2015.html; https://www.bka.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/KriminalitaetImKontextVonZuwanderung/kernaussagenZuKriminalitaetImKontextVonZuwanderungIuIIQuartal2018. html;jsessionid=8D5854AA219D4C16EC519FA167788555.live0602?nn=62336;jeweils zuletzt geöffnet am 14.08.2019. Laut Amadeo Antonio Stiftung wurden im Jahr 2018 1.055 Angriffe auf Asylsuchende und ihre Unterkünfte verübt (mut-gegen-rechte-gewalt.de; zuletzt geöffnet am 12.03.2019).

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Die Framing-Forschung sagt aus, dass Mediennutzer*innen grundsätzlich genau einen Themenrahmen verarbeiten, den sie angeboten bekommen, beispielsweise »Kriminelle Flüchtlinge«, und nicht etwas völlig anderes, (sagen wir »neue Freundschaften zwischen syrischen und deutschen Kindern«) – egal ob sie dem Gesagten zustimmen, ihm ambivalent gegenüberstehen oder es ablehnen. Die Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Frindte und Nicole Hausecker (2013) bestätigen in ihrer Framing- und Rezeptionsstudie Wirkungspotenziale der Terrorberichterstattung auf individuelle Interpretationen über Terrorismus. Eine Forschergruppe um Michael Bechtel (Bechtel et al. 2015) am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) konnte zeigen, dass Rezipient*innen auf politisches Framing damit reagierten, ihre bestehende politische Position nur noch vehementer zu verteidigen. Auf den Fluchtdiskurs gewendet wäre zu untersuchen, ob und unter welchen Umständen sich negative und positive Einstellungen gegenüber Geflüchteten als Reaktion auf Framing im Fluchtdiskurs verstärken. Das Zusammenspiel von Politik, traditionellen Medien und Onlinemedien formt immer stärker die Wahrnehmung von Geflüchteten im Alltag, wobei die Medien zwar unterschiedliche Publika bedienen, die Migrant*innen jedoch sowohl in Tageszeitungen, dem Rundfunk als auch in sogenannten sozialen Medien deindividualisiert und als kollektive Entität dargestellt und folglich de-humanisiert werden (Georgiou/Zabarowski 2017). Paradigmatisch steht hierfür der sogenannte Hate Speech in den sozialen Netzwerken, der eine spezifische Kommunikationsform gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit darstellt (Sponholz 2018, S. 61). Hate Speech meint nicht den sprachlichen Ausdruck von Hass. Erst indem Hassrede durch Medien veröffentlicht wird, entfaltet sie ihren Sinn, nämlich, dass Hass diskursiviert wird. Und sie entfaltet ihre Wirkung, nämlich, die Gesellschaft zu spalten, wie Sponholz darlegt (ebd., S. 37). Auch wenn traditionelle Massenmedien und »soziale Netzwerke« sich inhaltlich aufeinander beziehen, so stehen im Web 2.0 nutzergenerierte Inhalte im Vordergrund. Journalistische Medienberichterstattung muss besonderen ethischen und qualitativen Ansprüchen genügen. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien müssen endlich ihrer Verantwortung gerecht werden und ihre Berichterstattungsmuster kritisch überdenken. Das friedliche Zusammenleben, die vielfältige Gesellschaft und ethische Leitlinien sollten im Programm deutlicher erfahrbar sein. Bei den Terrorattacken in Christchurch (Neuseeland) durch einen rechtsextremen Islamhasser starben 50 Menschen. Es war eine furchtbare Erfahrung, nicht nur für die neuseeländische vielfältige Gesellschaft. Der Täter hatte seine Tat per Helmkamera gefilmt und live im Internet verbreitet. In Deutschland berichteten die Medien über den Terror und verwendeten dabei auch Bilder, die vom Attentäter selbst stammten. BILD hatte Ausschnitte des Terrorvideos online ausgestrahlt.

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Dies blieb nicht unwidersprochen – den Presserat erreichten laut Branchendienst meedia 35 Beschwerden allein gegen BILD16 . Dieses Beispiel verdeutlicht die medienethische Dimension der Medienberichterstattung zum Thema Migration und Flucht: Durch die lange eingeübten, rassifizierten Berichterstattungsmuster haben Journalist*innen offenbar eine große Distanz zu Einwander*innen, sodass diese auch als Opfer von Attentaten kaum Gehör finden. Die Täter*innenperspektive entspricht zudem den stereotypen Nachrichtenwerten. Wenige Journalist*innen mahnen folglich selbstkritisch an, die Medien dürften sich nicht weiter zu Mittätern machen und das vollenden, was Attentäter*innen kalkuliert hätten: die größtmögliche Öffentlichkeit mit ihren Taten zu erreichen.17 Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht im Interview mit dem Deutschlandfunk von der »Attentatspornografie« der etablierten und digitalen Medien.18 Die Medien in Neuseeland haben eine selbstkritische Debatte darüber angestoßen, wie im Vorfeld des Attentats über Minderheiten und Muslim*innen berichtet worden war; einige Journalist*innen fordern dies auch hierzulande.19 Doch auch jeder Einzelne sei gefragt, eine »Ethik des Teilens« in sozialen Netzwerken zu entwickeln. Eine »kommunikative Ethik« muss jedoch erst erlernt werden. Hafez (2017) plädiert dafür, Medienkompetenz bereits in der Schule zu vermitteln, aber auch, dass Hass im Netz effektiver geahndet und bestraft wird. Inwieweit hier der sogenannte konstruktive Journalismus einen Ausweg aus den aktuellen Versäumnissen der Berichterstattung über Flucht darstellt, bedarf weiterer Analysen (Schmidt 2017).

6.

Fazit

Im Fluchtdiskurs herrschen spezifische Narrative vor, die von Kulturalismus, Ethnosexismus, Sicherheitsdebatten und Ausgrenzungspraxen geprägt sind. Vor allem der Securitization-Frame gilt als symbolische Politik, die politisch erwünschte Wirkungen hat und im Sinne eines manufacturing consent die gesellschaftliche Akzeptanz zur Durchsetzung restriktiver Grenzregimes herstellt.

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https://meedia.de/2019/03/18/medien-debatte-um-massakervideo-von-christchurchpresserat-erreichen-35-beschwerden-gegen-bild-berichterstattung/; zuletzt geöffnet am 14.08.2019. https://www.deutschlandfunk.de/anschlaege-von-christchurch-medien-machen-sich-zumittaetern.2907.de.html?dram:article_id=443923;zuletzt geöffnet am 14.08.2019. https://www.deutschlandfunkkultur.de/anschlaege-in-christchurch-wider-die-attentatspornografie.2156.de.html?dram:article_id=443775; zuletzt geöffnet am 14.08.2019. Julia Ley und Nabila Abdel Aziz haben nach den Attentaten in Christchurch eine selbstkritische Debatte der Journalist*innen angeregt. www.taz.de/!5581619/; zuletzt geöffnet am 29.03.2019.

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Des Weiteren werden Defizite auf mehreren Ebenen wirksam, die in Verbindung mit den Frames näher untersucht werden sollten. Auf der Mikro-Ebene der Inhalte werden Geflüchtete negativ geframt oder »verschwinden« als Personen und Gruppen aus der öffentlichen Debatte. Auf der Meso-Ebene der Medienproduktion erscheinen sie ebenfalls kaum als Akteur*innen, sodass herrschende Medienbilder häufig »Fremdbilder« sind. Auf der Makro-Ebene sind Geflüchtete zu heterogen, um als Gruppe wahrgenommen zu werden, die politisch repräsentiert sein müsste. Gerade der letzte Aspekt erlangt besondere Bedeutung, denn neben den Images von Migrant*innen im Allgemeinen sind auch die Medienbilder von Geflüchteten und Asylsuchenden häufig negativ geframt. Vor diesem Hintergrund können deutlich diversere Perspektiven in den Redaktionen sowie vor allem die medienpolitische Beteiligung von Migrant*innen und Geflüchteten in Entscheidungsgremien der etablierten Medien einerseits und die Co-Regulierung digitaler Medien andererseits wichtige Faktoren für eine differenzierte Berichterstattung sein, wie an anderer Stelle ausführlich dargestellt wurde (Horz 2016). Als Desiderat kann festgehalten werden, dass Inhalte und Akteur*innen in der Medienberichterstattung über Flucht verstärkt untersucht werden sollten. Reine Repräsentationskritik in den Inhaltsanalysen digitaler und traditioneller Medien greift zu kurz – auch die Wechselbeziehung der unterschiedlichen Publika mit diesen Stereotypen und Frames muss Teil künftiger Analysen sein (Bozdağ/Smets 2018, S. 293). Die Forschung sollte zudem dazu übergehen, die eigenständige Medienbeteiligung von Geflüchteten und Einwander*innen insgesamt als Teil der Kultur Deutschlands zu akzeptieren. Das bedeutet, dass nicht mehr Fragen der Integration und Segregation im Fokus der Forschung stehen sollten, sondern die Fragen, welche Leistungen die Medien für ihr Zielpublikum erbringen und welche Dysfunktionen sie gegebenenfalls haben. Zwei Medienumgebungen sollten dabei im Fokus stehen: erstens die öffentlichrechtlichen Medien (mit ihren On- und Offlinepräsenzen), weil ihnen eine besondere Verantwortung bei der Darstellung der pluralistischen Gesellschaft zukommt, und zweitens die digitale Medienumgebung im Internet mit den unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten bezüglich Geflüchteter in den sogenannten sozialen Netzwerken. In digitalen Medienumgebungen sind öffentlich-rechtliche Medien vor allem von der kommerziellen Konkurrenz herausgefordert. McGonagle (2014, S. 79) gibt zu bedenken: »Central to the challenge of consolidation [of pluralistic perspectives in the media, CH] is the need for PSM [Public Service Media, CH] to continue to promote cultural diversity in ways that are appropriate and effective in the altered technological environment.«

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Eine breite »Debatte um die Grundlagen journalistischer Ethik im Bereich des Rassismus ist nicht in Sicht« (Hafez 2017, S. 329). Die Verankerung einer »kommunikativen Ethik als moralisches Handeln in den Lebenswelten« der Mediennutzer*innen steht ebenfalls aus (ebd., S. 328). Hier können inhalts- und akteurzentrierte Studien zur Medienberichterstattung über Flucht Befunde liefern, die anwendungsorientiert Impulse für den Journalismus setzen können. Die Anreicherung der rassistischen Deutungsmuster durch ihre fortwährende Aktualisierung provoziert jedoch auch Gegendiskurse, die von der Forschung nicht unbeachtet bleiben dürfen. Das öffentliche Sprechen über Rassismus in den Medien als Coping-Strategie von Journalist*innen mit Migrationsgeschichte, unter anderem durch regelmäßige öffentliche Lesungen (Hatepoetry), dient beispielsweise dazu, die Absender*innen von Hassmails durch ihre eigenen Inhalte öffentlich zu entlarven. Schließlich kann das öffentliche Sprechen über einen Missstand als Ausdruck einer offenen Gesellschaft gewertet werden (El-Mafaalani 2018).

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Rassismuskritische Perspektiven auf Gender  und Migration. Eine intersektionelle Analyse Helma Lutz

1.

Einleitung

Anno 2019 scheint es fast banal, festzustellen, dass die Genderperspektive in keinem gesellschaftlichen Feld irrelevant ist. Daher muss auch die Analyse von Debatten über Flucht und Migration notwendigerweise mit Einsichten der Gender Studies verbunden werden, denn im Zuge von Einwanderung sind Frauen, Männer sowie Transgender-/Intersex-/Queer-Personen Akteur*innen des Wanderungsgeschehens. Nun hat sich allerdings das Forschungsfeld ›Geschlecht und Migration‹, das in den 1980er-Jahren in Deutschland aus der Frauenforschung heraus entwickelt wurde, in den vergangenen 40 Jahren stark verändert. Ging es vor vier Jahrzehnten vor allem darum, die Situation von Migrant*innen in der Migrationsforschung und in der Frauenforschung sichtbar zu machen (Lutz 2019; Lutz/HuthHildebrandt 1998), so stellen sich im 21. Jh. in einer mittlerweile als ›postmigrantisch‹ bezeichneten Gesellschaft (Huxel et al. 2019) neue Herausforderungen für die Forschung. Grundsätzlich lässt sich heute feststellen, dass die beiden Personenmerkmale Geschlecht und Staatsbürgerschaft beziehungsweise Zugehörigkeit nach wie vor zu den wichtigsten sozialen Klassifikations- und Erfassungskriterien von Personen in modernen Gesellschaften zählen, denn bei ihrer Geburt müssen Neugeborene einem Geschlecht sowie einer Staatsbürgerschaft zugeordnet werden. Nun zeigt sich allerdings nicht selten, dass solcherlei kategoriale Einordnungen im Verlauf des Lebens auf Unordnungen stoßen, die die Eindeutigkeit dieser Designation infrage stellen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich, wie bei Gender, zeigt, dass Zweigeschlechtlichkeit eine Zwangsjacke sein kann, in die ein Teil der Bevölkerung nicht hineinpasst und zum Teil auch nicht passen möchte. Oder es zeigt sich bei Staatsangehörigkeit, wo die Kennzeichnung eines Menschen als nichtangehörig – und damit verbunden oft als ›anders‹ – ein relativ willkürlicher Akt ist, der mit der jeweiligen Selbstwahrnehmung nicht deckungsgleich sein muss und dem soziale Marginalisierung und die Verweigerung von Anerkennung folgen können. Dadurch, dass Geschlecht und Zugehörigkeit am Beginn eines Lebens als ›verifizier-

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Helma Lutz

bare‹ Konstanten etabliert werden, unterliegen sie institutionellen Zwängen und sozialen Erwartungen und werden an normativen Mustern der Geschlechter- und Zugehörigkeitsordnung gemessen. Widerständige Subjektivierung, die sich diesen Zwängen entgegenstellt und die Anerkennung von Diversität einfordert, muss in der Regel vielfache (rechtliche und soziale) Hürden überwinden. Diese Einsicht in die soziale Konstruktion von Geschlechter- und Zugehörigkeitsbeziehungen zu berücksichtigen, bleibt eine Herausforderung für alle, die sich in diesen Forschungsfeldern bewegen. Dies gilt auch für mich, die diese Debatten über mehr als drei Jahrzehnte geführt und biografisch begleitet hat. Ein Rückblick auf die 1980er-Jahre zeigt, dass Migrantinnen, schwarze Deutsche, People of Colour und Jüdinnen bereits in den 1980er-Jahren sowohl auf die fehlende Wahrnehmung der Diversifikation in der deutschen Gesellschaft hinwiesen (Walgenbach 2007) als auch die deutsche Frauenbewegung kritisierten, weil sie diese Diversität bei der Verwendung der Kollektivkategorie ›Frauen‹ nicht berücksichtigte. Eine Signalwirkung hatte zum Beispiel der sogenannte »Erste gemeinsame Kongress ausländischer und deutscher Frauen« im März 1984 in Frankfurt, der als politischer Wendepunkt in der bundesdeutschen Frauenbewegung gilt. Erstmals wurde hier ein größeres öffentliches Forum geschaffen, in dem Differenzen der Lebenswelt, der Arbeitswelt, der Anerkennung und Statusfragen im Sinne von citizenship artikuliert wurden. In den Worten einer autochthonen, deutschen Teilnehmerin: »Einige der ausländischen Frauen [...] attackierten uns sehr scharf. Ihren ganzen Frust und ihre ganze Wut über den langjährigen Rassismus schleuderten sie uns entgegen« (Arbeitsgruppe Frauenkongress 1984, S. 162).1 Das damalige Anliegen, endlich über institutionellen und interaktiven, intendierten und nichtintendierten, direkten und indirekten Rassismus sprechen zu dürfen, wurde im Jahr 1985 auch von afrodeutschen Frauen in ihrem Band Farbe Bekennen artikuliert (Oguntoye et al. 1986) und später von der Gruppe FeMigra (Wir, die Seiltänzerinnen. Politische Strategien von Migrantinnen gegen Ethnisierung und Assimilation) aufgegriffen. Allerdings bleibt die Diskussion über Rassismen in feministischen Debatten bis heute kontrovers. Festzuhalten ist jedoch, dass wichtige Anstöße zur Analyse deutscher Variationen von Rassismus aus der Geschlechterforschung kommen (Hark/Villa 2017). Dieser Artikel beginnt deshalb mit einer Retrospektive auf den Verlauf der Debatten über Geschlechterverhältnisse in der Migrationsgesellschaft, um auf die historische Kontextualisierung und Verzeitlichung von heute brandneu erscheinenden Themen hinzuweisen. Dieser Rückblick soll dabei helfen, soziale Einordnungen im Sinne der ›langen Wellen‹ (Gerhard 1995) von Narrativen und Diskursbewegungen vorzunehmen. Danach werde ich auf die Bedeutung von Sexualität in der 1

Auch für mich selbst war die Teilnahme an dieser Konferenz ein eye opener.

Rassismuskritische Perspektiven auf Gender und Migration. Eine intersektionelle Analyse

Debatte über sexuelle Belästigung und ›gefährliche Männlichkeit‹ eingehen und mich im Ausblick mit Leerstellen in der Forschung zu diesem Themenfeld beschäftigen.

2.

Migration und Gender – die soziale Konstruktion von Differenzverhältnissen

Die Verhältnisbestimmung zwischen Geschlecht und den als Ethnizität, race oder Nation gekennzeichneten Zugehörigkeiten, die sowohl als sozialer Platzanweiser als auch als ›Identität‹ fungieren, steht im Fokus (soziologischer) Analysen spätmoderner Migrationsgesellschaften. Internationale Forschungen haben bereits in den 1980er-Jahren gezeigt (Anthias/Yuval-Davis 1989), dass die Kategorie Gender immer in Ko-Konstruktion mit Ethnizität, Kultur, Nation und Sexualität betrachtet werden muss und vice versa. Diese Betrachtungsweise ist mittlerweile als intersektionelle (oder: intersektionale) Perspektive (Crenshaw 1991) auch in Deutschland weit verbreitet. Im Rückblick auf die Theoretisierung von Migration in unterschiedlichen Forschungsparadigmen fällt immer wieder die fehlende beziehungsweise marginale Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen und -ordnungen auf. Umgekehrt hat es lange gedauert, bis Ethnizität, Migration, Nationalität und die damit verbundenen Wissensregime in der hiesigen Geschlechterforschung aufgenommen und diskutiert wurden. Das von Castles, de Haas und Miller (2014) als »Zeitalter der Migration« gekennzeichnete Wanderungsgeschehen des 21. Jhs. stellt sich heute stärker denn je als feminisiertes Phänomen dar (ebd., S. 257); lange Zeit jedoch galt in Forschung und Politik der männliche Migrant als Prototyp des wandernden Subjekts.2 Der Unsichtbarkeit von Frauen als Akteurinnen der Migration stellten sich Geschlechterforscherinnen seit Mitte der 1980er-Jahre entgegen (Morokvasic 1984; Lutz 1991). Allerdings zeigten sich auch sehr rasch die Fallstricke der ›Sichtbarmachung‹, denn diese war und ist noch heute geprägt von einem spezifischen Narrativ, in dem Migrantinnen ethnisiert und als Opfer patriarchalischer Herrschaftsverhältnisse ihrer Herkunftskulturen markiert werden. Zunächst bezog sich dieses Narrativ auf alle Frauen, die über die Arbeitskräfterekrutierung oder als Familienangehörige nach Deutschland kamen. Im Laufe der vergangenen vier Dekaden konzentrierte sich

2

Frauen waren stets Teil von Bevölkerungswanderungen: Heute sind fast die Hälfte der statistisch erfassten Migrant*innen Frauen; unter den Geflüchteten sind sie weltweit sogar in der Mehrheit (Castles/de Haas/Miller 2014). Es gibt auch heute noch Migrationsstatistiken, die ihr Sampling auf Männer beschränken, und nur wenige weisen Homosexuelle oder transgender beziehungsweise intersexuelle Personen unter Geflüchteten und Migrierten aus.

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die ethnisierte Fokussierung jedoch zunehmend auf die aus ›muslimischen Ländern‹, insbesondere aus der Türkei, Herkünftigen sowie auf Geflüchtete aus arabischen Ländern (Huth-Hildebrandt 2002). Dabei wird oft faktische Heterogenität in Bezug auf religiöse sowie ethnische Zugehörigkeiten und in Bezug auf Sexualität ebenso vernachlässigt wie die Unterschiede bezüglich der sozialen Klassen, der Herkunftsregionen (Stadt/Land) und des Bildungshintergrunds. In vielen alltagstheoretischen Diskursen wird Zugewanderten zunächst ein signifikanter Modernitätsrückstand im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft zugeschrieben, der dann gruppenbezogen generalisiert oder, um mit Hark und Villa (2017, S. 50) zu sprechen, »versämtlicht« wird.3 Auch wissenschaftliche Debatten generieren und reproduzieren implizit und explizit einen Gegensatz zwischen einer emanzipierten Egalität der Mehrheitsgesellschaft (das »Wir«) und einem traditionellen Patriarchalismus bei Zugewanderten sowie den Angehörigen ihrer Folgegenerationen (das »Sie«). Ein solcher Diskurs ermöglicht Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft eine positive Selbstaufwertung (Gümen 1998; Lutz/Huth-Hildebrandt 1998) und liefert die Grundlage für die Hierarchisierung weiblicher Lebensformen. Castro-Varela und Dhawan (2004, S. 297) stellen pointiert fest, dass die Argumentationsfigur der ›emanzipierten westlichen Frau‹ ein Alter-Ego benötigt, eine »unterdrückte Andere, um Befreiung überhaupt denken und leben zu können« (ebd.). Analog zur Repräsentation von Migrantinnen als Opfer patriarchaler Unterdrückung hat sich die Charakterisierung von als patriarchal und hypermaskulin sozialisierten männlichen Migranten etabliert. In jüngerer Zeit konzentriert sich der dominante Diskurs auf junge Männer, die durch deviantes Verhalten auffallen, als gewaltaffin und potenziell gefährlich gelten (Spindler 2006; Scheibelhofer 2018; Spies 2010; Huxel 2014). Die Anwendung von Gewalt wird als ›ethnische‹ Ressource (ihrer ›fremden‹ Kultur) markiert und erst sekundär als vergeschlechtlichtes Phänomen. Diese Präsentation von männlichen, (post-)migrantischen Jugendlichen als ›ethnisch-kulturell gesteuert‹ charakterisiert Margarete Jäger (2001) als »Ethnisierung von Sexismus« und Gabriele Dietze (2016a) als »Ethnosexismus«. Beide Begriffe verdeutlichen, dass analog zur hierarchisierten ›anderen‹ im Weiblichkeitsbild nunmehr in Bezug auf Männlichkeit eine asymmetrische Differenzierung entstanden ist: die zwischen ›hypermaskulinen Fremden‹ und einer als egalitäts- und emanzipationsorientierten beziehungsweise toleranten Männlichkeit der Mehrheitsgesellschaft.

3

Dabei beziehen sich Hark und Villa (2017, S. 49) auf die radikalste Feministin der Frauenbewegung des 19. Jhs., Hedwig Dohm, die mit dem Begriff Versämtlichung die kollektive ›Verstümmelung‹ von Frauen und Weiblichkeit verbindet – eine Bezeichnung, die Hark und Villa auf andere Kollektive übertragen.

Rassismuskritische Perspektiven auf Gender und Migration. Eine intersektionelle Analyse

Folgen wir den Ausführungen im Werk von Stuart Hall über den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten, dann wird deutlich, dass die ›markierte‹ Verbildlichung von Weiblichkeit und Männlichkeit als ›anders‹, wenn nicht gar als ›feindlich anders‹ oder ›fremd anders‹ eine Kernfunktion bei der Legitimation hierarchisierter Sozialordnungen erfüllt. Ihre Wirksamkeit verdankt sie der Tatsache, dass die (privilegierte) Selbstpositionierung von Angehörigen der Dominanzgesellschaft ›unmarkiert‹ (Hall 1994a) und deshalb unsichtbar bleibt.4 Insbesondere in als krisenhaft wahrgenommenen Zeiten dient die Dramatisierung von ›Fremdheit‹ als Mittel zu Selbstversicherung und Wiederherstellung von Ordnung. »Die Dämonisierung5 der Anderen direkt und indirekt über mediale, politische, alltagsweltliche und nicht zuletzt wissenschaftliche Diskurse vermittelt, dient dazu, Vorrechte zu schützen« (Castro-Varela/Mecheril 2016, S. 8). Zudem stellt Dämonisierung »einen effizienten Legitimierungsdiskurs für Sicherheit durch ein Mehr an gewaltvoller Ausgrenzung und Marginalisierung dar« (ebd., S. 10). In einem solchen Prozess der sozialen Hierarchiebildung werden Angehörige dämonisierter Gruppen unter Generalverdacht gestellt und müssen sich – diese Dämonisierung antizipierend – dazu verhalten. Castro Varela und Mecheril (2016) stellen fest, dass in einem solchen Diskurs die Opfer von rassistischen Übergriffen, Beleidigungen und Herabsetzungen kaum thematisiert werden (können), da die mediale Aufmerksamkeit dafür wenig Raum lässt. Eine Illustration davon findet sich bei Paul Mecheril (2016, S. 3): Der vierjährige bosnische Flüchtlingsjunge Mohamed wurde am 1. Oktober 2015 vom Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales entführt, mehrfach sexuell missbraucht und dann erdrosselt. Diese Tat löste ein relativ geringes mediales Interesse aus. Der Täter hätte gemäß der Logik der Dramatisierung von Ethnizität und Herkunft als »ein nordländisch aussehender, mutmaßlich dem christlichen Kulturkreis zuzurechnender 32jähriger Brandenburger« bezeichnet werden müssen. Diese Kategorisierung blieb ihm aber erspart. Sie wäre wohl auf öffentliches Unverständnis gestoßen. Die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin bell hooks (hooks 1989) hat die Ausblendung der zerstörerischen Wirkung von white supremacy auf schwarze Amerikaner*innen seit gut 30 Jahren in ihren Schriften beschrieben. Übertragbar auf die bundesdeutsche Situation sind ihre Ausführungen insofern, als auch hierzulande die ›Dämonisierten‹ unter Dauerverdacht und unter dem Druck stehen, die von ihnen angeblich ausgehende Gefahr entkräften zu müssen oder sich von der als ›anders‹ markierten Gruppe zu distanzieren. In einem Essay mit der Überschrift »Türkisiert« beschreibt etwa die SpiegelJournalistin Özlem Gezer (2013), dass und wie sich die gesellschaftliche Markierung 4 5

Siehe hierzu auch die Arbeiten der Forschung zu Critical Whiteness (Eggers et al. 2005). Unter Dämonisierung verstehen Castro Varela und Mecheril negative Vorstellungen, Metaphern und Bilder, in denen Dämonen teufelsgleich Vernichtung und Unheil bringen.

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als Türkin durch ihre gesamte Biografie zieht, ungeachtet der Tatsache, dass sie als Enkelkind eines aus der Türkei angeworbenen Arbeitsmigranten in Deutschland geboren wurde, in Deutschland aufwuchs und in Deutschland die Schule sowie die Universität besuchte. Ihre Lehrerin, ihre Dozentin, ihre Mitschüler*innen wissen bereits alles »über die Frau im Islam, meine Mutter. Über das Patriarchat, meinen Vater, über Unterdrückung, Ehrenmord, Aufgabenteilung und Redeanteile von Mann und Frau in einer türkischen Familie« (ebd.). Dabei unterstellt die Journalistin ihrer Lehrerin keineswegs, sie wolle sich mittels rassistischer Argumente von ihren Schüler*innen beziehungsweise deren Vätern absetzen; sie unterstreicht vielmehr, dass sich ihre Lehrerin dieses Wissen über Medien und mithilfe einer Fachliteratur angeeignet habe, deren Kernthemen der Islam, Geschlechterbeziehungen, Sexualität und Gewalt seien. Ein in dieser Verkettung entstandenes Wahrheitsregime fußt auf konstanten, manchmal leicht veränderten Diskursfiguren, die bis ins 19. Jhs. zurückzuverfolgen sind (Lutz 1991, 1992), und wird über kontinuierliche Wiederholungen und Dramatisierungen im Laufe der Zeit als Wahrheit wahrgenommen. Sozial- und Erziehungswissenschaften fungier(t)en hier oft als ›Bestätigungswissenschaften‹ (Foucault 1966). In Bestätigungsregimen werden signifikante sogenannte (Kultur-)Unterschiede zwischen ›Autochthonen‹ und Eingewanderten und deren Kindern und Kindeskindern im Geschlechterverhältnis verortet. Vermutlich ist es auch kein Zufall, dass diese Themen in einem Moment an Heftigkeit gewinnen, in dem die demografischen Veränderungen den Kern von Familien und Partnerschaften erreichen. In großen und mittleren deutschen Städten hat mittlerweile die Hälfte aller Kinder einen migrationsbiografischen Familienhintergrund. Kann in solch einer Situation noch das ›Wir‹ vom ›Sie‹ getrennt werden? Wie lässt sich ›Deutschsein‹ als Selbstbezeichnung bekräftigen, wenn in der öffentlichen Debatte der Pass und der Geburtsort dafür allein nicht ausreichen? Diese und viele weitere Fragen sind noch völlig ungeklärt. Um der Erosion der Externalisierung von sogenannten ›anderen‹ entgegenzuwirken, bieten sich heute allerdings soziale Netzwerke als kompensierende, identitätsschaffende Kommunikationsmittel an. Dort kann sich die performative Wirkung allerdings auch in die entgegengesetzte, rassialisierende Richtung entfalten.

3.

Sexualität im Migrationsdiskurs: Das ›Ereignis Köln‹ und seine Vorläufer

Mittlerweile ist das ›Ereignis Köln‹ (Dietze 2016b), auf das in der Debatte über Migration immer wieder verwiesen wird, zu einer Diskursfigur im Wahrheitsregime

Rassismuskritische Perspektiven auf Gender und Migration. Eine intersektionelle Analyse

über (Flucht-)Migration avanciert. Die transnationale Berichterstattung über die Silvesternacht von Köln 2015/2016 kann in ihrer Reichweite als einzigartig bezeichnet werden. Zwar gelten für Medien mit Sexualität verbundene Ereignisse oft als Aufmerksamkeitsgeneratoren; dass allerdings die Übergriffe auf Frauen auf der Domplatte auf ein weltweites Echo stießen, war neu.6 Sobald die Täter kollektiv als Sexualtäter ausgemacht und ihre Übergriffe als ›Ausländerkriminalität‹ markiert wurden, waren die Schleusen für neue ›Sagbarkeitsfelder‹ (Kaya 2010) geöffnet, etwa für Vergleiche mit Massenvergewaltigungen in Kairo während des ›Arabischen Frühlings‹. Mit dem Hinweis auf die sexuellen Übergriffe von Kairo, gelegentlich und nicht immer zutreffend mit dem arabischen Terminus taharrusch7 verbunden, wurde die Assoziationskette Islam = ungezügelte, hypersexualisierte Männlichkeit = Gewalt gegen Frauen = muslimischer Sexismus angestoßen und immer wieder bedient. Diese Gleichsetzung folgte dem bereits beschriebenen Schema der ›Externalisierung‹: Der Sexismus kommt von außen; die unmittelbare Ausweisung der Täter gilt als Lösung, sich von diesem Übel zu befreien. Die Unangemessenheit der Vergleiche mit dem Tahrir-Platz in Kairo beschreibt Tanja Scheiterbauer (2016). Sie weist darauf hin, dass im Rahmen des Arabischen Frühlings vom Staat finanzierte, paramilitärische Kräfte strategisch gegen die Protestierenden und oppositionellen Kräfte eingesetzt wurden, die mittels gewaltsamer Eskalationen und Massenvergewaltigungen die Regimegegner einzuschüchtern versuchten (Scheiterbauer 2016, S. 142; Al-Ali 2014). Die Rolle der Schläger als Werkzeuge eines Staates, der Gewalttätigkeiten zum Machterhalt einsetzt, verschwand jedoch im Laufe der Zeit aus dem Blickfeld. Die Berichterstattung über die Ereignisse reduzierte sich darauf, so Scheiterbauer, die Täter als ›junge, sexuell frustrierte Männer der Arbeiterklasse aus den Armenvierteln‹ zu markieren. Bei der Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Situationen in Kairo und Köln fallen allerdings die Differenzen in der Markierung auf: Während es im ägyptischen Sexismus um soziale Klasse und Männlichkeit ging, wurde der Sexismus in Köln islamisiert und ethnisiert und so im antimuslimischen Bestätigungsregime verortet. Die Gleichsetzung von Köln und Kairo fungierte als wichtiges Diskurselement der Berichterstattung. Die moralische Panik, die sich daraus entwickelte, folgte dem Muster der Generierung von »übertriebener Aufmerksamkeit, Überzeichnung der Ereignisse, Verzerrung und Stereotypisierung« (Cohen 2002, S. 31-38) sowie starker Reaktion unter den Rezipient*innen der Nachrichten, die als Aufmerksamkeitsgeneratoren wirkten. Cohen weist darauf hin, dass Letztere an oft weit zurückliegende Vorgeschichten anknüpfen. Im

6 7

In der New York Times, im Figaro, der BBC, in Sydney und Buenos Aires wurde über die ‚Migrant Sex Attacks on New Years Eve‘ berichtet. Lautähnliche Umschrift aus dem arabischen ins lateinische Alphabet; folgt nicht den Standards der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft DMG.

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Zuge der Berichterstattung über Köln wurde ein ›kulturelles Archiv‹ (Wekker 2016) aktiviert, das bis in die Kolonial- beziehungsweise Nachkriegszeit zurückreicht. Die Diskursfigur des fremden, schwarzen Mannes, der weiße Frauen vergewaltigt, bediente sich der Bilder und der Rhetorik, die bereits im deutschen Kolonialismus und Faschismus das Problem sexistischer Gewalt externalisierte. So wandte sich etwa die Kampagne ›schwarze Schmach‹ gegen schwarze Kolonialsoldaten, die nach dem Ersten Weltkrieg an der Besetzung des Rheinlandes teilnahmen, und gegen die von ihnen gezeugten Kinder, die als ›Rheinlandbastarde‹ bezeichnet wurden (Koller 2004). Die Erinnerung an diese ›Schmach‹ wurde auch im Januar 2016 medial in Pose gesetzt: Pornografisch inszenierte Körper von weißen, blonden, jungen Frauen, auf die schwarze Hände zugreifen, fanden sich auf dem Cover des Focus und der Süddeutschen Zeitung; die Bildsprache bediente und schürte gleichzeitig die bekannten Angstszenarien. Der Historiker George Mosse (1997, 1985) demonstriert, wie vordem und im deutschen Faschismus über die Repräsentation jüdischer Männer eine abweichende und gefährliche Männlichkeit konstruiert wurde. Der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall weist in seinen Arbeiten auf die Gleichzeitigkeit der Entwicklung eines sozialen Repräsentationssystems hin, in dem »der Westen, genauso wie er nichteuropäische Kulturen als verschieden und minderwertig behandelt, seine eigenen internen ›Anderen‹ hatte« (Hall 1994b, S. 139). Während in der faschistischen Ideologie jüdischen Staatsbüger*innen die Funktion der internen anderen zugeteilt wurde, ist diese Vorstellung zum Teil auch heute noch zu finden. Allerdings haben sich im Zuge von neuen Einwanderungsprozessen die Gruppen, die dieser Kategorie zugerechnet werden, vervielfältigt. Diese Kritik wird im Folgenden mit einer Reihe von Beispielen belegt werden. Die Kennzeichnung der muslimischen als der anderen Kultur, die, von ›außen‹ kommend, sich im ›Inneren‹ ansiedelt und die angeblich keinerlei Gemeinsamkeiten mit der aufgeklärt christlichen oder säkularen Kultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufweist und feindliche Absichten hegt (Shooman 2012), findet sich in vielen Werken der Journalistin Alice Schwarzer8 . In ihrem 2016 herausgegebenen Buch ›Der Schock – die Silvesternacht von Köln‹ schreibt sie: »In den Herkunftsländern der Beschuldigten von Köln agitieren die Islamisten seit Jahren erfolgreich. Doch auch ohne den politischen Missbrauch des Islam waren und sind Frauen in diesen extrem patriarchalen Kulturen traditionell weitgehend rechtlos. Das islamische Familienrecht macht sie zu Unmündigen« (Schwarzer 2016, S. 21).

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Auf Schwarzers Schriften wird hier nachdrücklich eingegangen, da sie eine herausragende Rolle in den Medien spielt, für sich in Anspruch nimmt, den Feminismus zu repräsentieren und vielerorts auch als wichtigste feministische Stimme Deutschlands gesehen wird.

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Zum Erscheinungspunkt dieses Buches war noch völlig unklar, aus welchen Ländern die Täter stammen (siehe unten). Warnungen vor dem muslimischen Patriarchat kennen Schwarzers Leser*innen bereits aus früheren Büchern, etwa »Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz« (2002), oder »Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus« (2010), in dem sie schreibt, das Kopftuch habe als Flagge der Islamisten in den 1980er-Jahren einen Kreuzzug bis in das Herz von Europa angetreten. Unhinterfragt wird hier ein Ereignis des Mittelalters, das historisch von Europa ausgehend zu den ›heiligen Stätten‹ des Orients, also in die Gegenrichtung, führte, als Bedrohungsszenario instrumentalisiert. Alice Schwarzers Kampf gegen den Islam reicht allerdings sehr viel weiter zurück. Bereits im Jahr 1991 gab sie einen Sonderband ihrer Zeitschrift Emma zum Thema ›Krieg‹ heraus. Es ging damals um den zweiten Golfkrieg (1990/1991), in dem der Irak unter Saddam Hussein Kuwait und die Golfkriegskoalition militärisch angriff. Schwarzer schreibt dort: »Denn im Golfkrieg fließen die beiden großen Ströme der Menschenverachtung zusammen: Rassismus und Sexismus. Beide haben dieselbe Quelle und beide funktionieren nach dem gleichen Muster« (Schwarzer 1991, S. 5). Nun wurde dieser Krieg, wie auch der erste Golfkrieg, in dem Saddam Hussein 1980 und 1988 den Iran bombardierte, zwischen und in sogenannten islamischen Ländern geführt. In der Rezeption der Emma diffundierte allerdings diese Gemeinsamkeit und nur marginal wurde auf diese Auseinandersetzung als Folge von kolonialen Grenzziehungen hingewiesen. Abgedruckt wurde ein Artikel der marokkanischen Feministin Fatima Mernissi, in dem die Aufforderung von Schwarzer, sich an dem Heft mit einem Beitrag zu beteiligen, folgendermaßen zitiert wird: »Wissen Sie, wir Deutschen hatten kaum Kolonien. Es fällt uns schwer, die Verletztheit und Erniedrigung der Ex-Kolonialvölker zu begreifen« (Emma 1990, S. 10). Ohne diese Aussage näher zu analysieren,9 illustriert das die fehlende Auseinandersetzung des von Schwarzer vertretenen Feminismus mit dem Kolonialismus. Schwarze Deutsche Frauen hatten eine solche Geschichtsvergessenheit beziehungsweise Geschichtsklitterung bereits in den 1980er-Jahren kritisiert (Oguntoye et al. 1986); mittlerweile – also dreißig Jahre später – werden diese Fragen im Kontext von Postund Dekolonialisierungsdebatten eingehender diskutiert (Castro Varela/Dhawan 2015; Kosnick 2016). Die in den Texten von Alice Schwarzer zu findenden Beschreibungen des muslimischen Patriarchats als grausam, gewaltaffin und sexistisch finden ihre Anknüpfungspunkte bereits im 19. Jh., als sich anthropologische Abhandlungen von Orientreisenden, Dichtern und Diplomaten mit der ›unbeschränkten Gewalt orienta9

Von welchem ‚Wir‘ wird hier gesprochen? Gab es im Deutschen Reich, das angeblich ‚kaum Kolonien‘ hatte, kein koloniales Weltbild?

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lischer Despoten‹ (Kohl 1989) befassten und die ›unterdrückten türkischen Frauen‹ bereits an der Wende vom 19. ins 20. Jh. zu den, wie Akkent und Franger (1987) schrieben, Lieblingsthemen deutscher Boulevardzeitungen und Frauenzeitschriften zählten.10 Seit der Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei und Marokko häuften sich im Gleichschritt mit dem Boulevard (Der Spiegel 1990: »Knüppel im Kreuz, Kind im Bauch«) auch wissenschaftliche Arbeiten, die das Bild des grausamen, muslimischen Patriarchen, der heute mitten in Deutschland lebt, belegen wollen (König 1990). In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ebenfalls die Übernahme dieser Kontrastierung zwischen ›unseren‹ modernen, emanzipierten und ›den anderen‹, muslimisch-patriarchalischen Geschlechterverhältnissen durch die Neue Rechte vollzogen. Sara R. Farris (2017) beschreibt dieses Phänomen als Feminismus von rechts als ›Femonationalismus‹. Wenig Raum gab es in der medialen Debatte über ›Köln‹ für die Einbeziehung der immer wieder aufflammenden Diskussionen zum Thema Sexismus, so etwa der Diskussionen im Zuge des von der Feministin und Journalistin Anne Wizorek initiierten Hashtag #aufschrei (2013), der sich mit Sexismus im Berufsalltag befasste und damit ebenfalls ein jahrzehntelanges feministisches Thema reanimierte. Sexismus naturalisiert die Dominanz sowie die strukturelle Herrschaft von Männern über Frauen und legitimiert auf diese Weise Geschlechterhierarchien. Der Neosexismus, der sich heute vornehmlich in westlichen Ländern findet, bestreitet die Fortexistenz der Diskriminierung von Frauen mit dem Hinweis auf die erfolgreiche Umsetzung der Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen. Im deutschen Kontext etwa wurde die Ächtung verbaler Formen von Sexismus in der Debatte um ›aufschrei‹11 als harmlos abgetan, womit gleichzeitig der Zusammenhang zwischen subtilen Formen des Sexismus (verbale Belästigungen), manifesten Handgreiflichkeiten und sexueller Nötigung bagatellisiert und ignoriert wurde. Der Hashtag ›aufschrei‹ hat jedoch ins Gedächtnis gerufen, dass Sexismus und sexuelle Gewalt auch in Deutschland keine Ausnahme, sondern Normalität sind, und dass Aktivistinnen seit Jahrzehnten vergeblich eine Verschärfung des Sexualstrafrechts gefordert hatten. Das ›Szenario Köln‹ hat dagegen bewirkt, dass diese Strafrechtsreform plötzlich in einem solchen Eilverfahren durchgeführt werden konnte. Der Anfang Januar 2016 von Jasna Strick, Keshia Fredua-Mensah und Anne Wizorek ins Leben gerufene Hashtag #ausnahmslos versuchte zwar in einer sehr frühen Phase darauf aufmerksam zu machen, dass auf diese Weise eine spezifische Tätergruppe in besonderer Weise markiert und damit verdeckt werde und

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Zur Bedeutung des islamischen Kopftuchs für kopftuchtragende Musliminnen siehe Şahin (2013) und zur Auseinandersetzung über aktuelle Kopftuchdebatten im europäischen Vergleich siehe Korteweg/Yurdakul (2016). Anlass für den Hashtag waren die Entgleisungen und die Übergriffigkeit des FDP-Politikers Brüderle gegenüber einer Journalistin.

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dass andere im Schatten blieben. Dem wurde allerdings wenig Aufmerksamkeit zuteil. Diese Reform kann nun paradoxerweise nicht als Erfolg jahrzehntelanger feministischer Bemühungen verbucht werden, sondern wird als Folge der Ereignisse von Köln an die damit angezeichnete Tätergruppe erinnern.12

4.

Die Normalisierung rassistischer Imaginationen

Die Aufarbeitung dessen, was in der Silvesternacht in Köln geschah, ist bis heute nicht abgeschlossen. Die Erhebung der Fakten ist nach wie vor lückenhaft und deren Interpretationen gehen weit auseinander. Fest steht, dass auf dem Platz zwischen Bahnhof und Kölner Dom überwiegend jüngere Frauen von unterschiedlich großen Gruppen von Männern umringt und dabei massiv beleidigt, sexuell genötigt, belästigt oder ausgeraubt wurden. Mehr als 1.000 Anzeigen gingen bei der Polizei ein; von den daraufhin eingeleiteten 290 Verfahren gegen 354 Beschuldigte wurden 159 eingestellt. 122 Beschuldigte haben den Status als Asylbewerber; bei vielen Beschuldigten ist der Aufenthaltsstatus jedoch unbekannt. Bis Jahresende 2017 gab es zwei Freisprüche, 36 Verurteilungen und acht nicht abgeschlossene Verfahren (Lauter 2017).13 Über die Täter und ihre Motive ist wenig bekannt. Es gab die Vermutung, dass es sich um organisierte Kriminalität gehandelt habe und dass mittels mobiler Telefone Absprachen über diese Aktivitäten getroffen worden seien. Diese Übergriffe wurden auch als ›Inszenierung‹ charakterisiert (Fassin 2016). Auffällig ist, dass zu den Tätern bislang kaum Zugang besteht oder gesucht wurde. Aus den Opferberichten, die in den Abschlussbericht des Kriminologen Rudolf Egg eingegangen sind, geht hervor, dass sich die Betroffenen von der Polizei im Stich gelassen gefühlt hatten, da eine »Art rechtsfreier Raum« entstanden sei (zitiert in Lauter 2017). In den Tagen unmittelbar nach Bekanntwerden der Übergriffe häuften sich die Reaktionen. So verteilten am 16. Januar 2016 junge Männer in verschiedenen deutschen Städten unter dem Motto ›Syrer gegen Sexismus‹ Rosen und distanzierten sich von den Taten.14 Am 21. Januar 2016 veröffentlichte der Kölner Stadt-Anzeiger unter dem Titel »Keine Toleranz gegenüber sexueller Gewalt« einen Aufruf lokaler Persönlichkei-

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In diesem Zusammenhang siehe auch Kulaçatan (2016). Diese Zahlen entstammen dem Artikel der Zeit-Journalistin Rita Lauter, 31.12.2017. Neuere Belege waren nicht zu finden. Allerdings scheint es auch außerordentlich schwierig zu sein, die Täter juristisch dingfest zu machen. Unter den 354 Beschuldigten befanden sich laut Lauter (2017) 29 syrische, 25 deutsche, 37 irakische, 91 marokkanische und 101 algerische Staatsbürger. Allerdings sind diese Angaben fragwürdig, da sie insgesamt nicht die Summe von 354 Beschuldigten ergeben.

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ten15 , die die Bekämpfung bandenmäßiger Kriminalität und fremdenfeindlicher Hetze forderten, ebenso wie eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Behördenversagen. Aus den Reihen deutscher Politiker*innen geißelten vor allem Julia Klöckner und Kristina Schröder (beide CDU) die, wie sie es nannten, ›Gewalt legitimierenden‹ Männlichkeitsnormen der muslimischen Kultur, die diskutiert und nicht totgeschwiegen werden dürften. Unter den zahlreichen Reaktionen aus dem Ausland befand sich die Erklärung des slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico, der erklärte, dass sein Land nunmehr keine muslimischen Flüchtlinge mehr aufnehmen werde, damit sich Vorfälle dieser Art nicht wiederholen könnten. Der damalige Staatssekretär für Asyl und Migration der belgischen Regierung, Theo Francken, auch sonst nicht um verbale Ausfälle verlegen, gab bekannt, Belgien werde männlichen Asylbewerbern in Kursen den respektvollen Umgang mit Frauen vermitteln. Laut Aussagen der Staatsanwaltschaft Köln war nur jeder dritte Beschuldigte Asylbewerber (Lauter 2017); dennoch hat sich diese Charakterisierung im Täterprofil gefestigt.16 Franziska Vaessen (2017, S. 85) konkludiert in ihrer Untersuchung zum medialen Umgang mit Köln, dass dieses Ereignis einen Wendepunkt in der öffentlichen Sagbarkeit rassistischer Zuschreibungen darstelle, indem rassistische Imaginationen diskursiv normalisiert würden. Aus meinen Ausführungen geht nun zwar hervor, dass die öffentliche Sagbarkeit rassistischer Zuschreibungen keineswegs neu, sondern mit der (kolonialen)Vergangenheit verbunden ist; aber Vaessens Fazit ist wichtig in Bezug auf die Beobachtung der nunmehr normalisierten Narration von der ›gefährlichen Männlichkeit der anderen Männer‹.

5.

Eine männlichkeitstheoretische Annäherung

In allen Gesellschaften der Welt gibt es Idealvorstellungen von erfolgreicher und vorbildlicher Männlichkeit, von sogenannter ›hegemonialer Männlichkeit‹ (Connell 1999), was Verhalten, das als männlich markiert wird, zum Bezugshorizont im Sinne der Verhaltensorientierung erhebt. Das ist indes ein zweischneidiges Schwert. Hegemoniale Männlichkeit wird von Connell als doppelte Relationalität, als Hegemonie gegenüber Frauen und als Hegemonie gegenüber untergeordneten und marginalisierten Männern, angezeichnet. Untergeordnete Männlichkeit verbindet

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Verfasser*innen und Erstunterzeichner*innen waren Frank Schätzing, Christiane Woopen, Wolfgang Niedecken, Navid Kermani, Rosemarie Trockel, Werner Spinner, Rainer Maria Woelki, Mariele Millowitsch, Bettina Böttinger und Fatih Çevikkollu. Siehe auch den YouTube-Film von Armin Sippel, FPÖ, Sehr geehrte Herren Asylanten unter https://www.youtube.com/watch?v=smwsVwplyDc; zuletzt geöffnet am 15. Oktober 2019.

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Connell mit einem ›verweiblichten Männlichkeitskonzept‹, das in der homosexuellen Männlichkeit zum Ausdruck komme und als Gegenbild zur heteronormativen Orientierung abgewehrt wird. Marginalisierte Männlichkeiten wiederum verkörpern diejenigen, die aus den sozialen Systemen herausfallen. Dazu gehören etwa ›Bildungsverlierer‹, deren Ausgrenzung und Unterordnung mithilfe der Markierung ihrer sozialen Klasse, Ethnizität beziehungsweise race legitimiert wird, und mit sozialen Platzanweisern, die über die Sexualitätsordnung hinausgehen und Ungleichheitsverhältnisse unter Männern markieren (Connell 1999, S. 101 ff.). Hegemoniale Männlichkeiten verändern sich zwar im Zeitverlauf; jedoch bleibt das zugrunde liegende Muster bestehen, in dem jeweils unterschiedliche Ausdrucksweisen von Männlichkeit zu diesem Ideal in Beziehung gesetzt werden. Connell assoziiert hegemoniale Männlichkeit mit erfolgreicher, weißer Männlichkeitsperformanz im Showbusiness, im Sport oder im Management der Geschäftswelt. Während in diesem Modell Gewalt und kriminelles Verhalten eher der marginalisierten Männlichkeit zugerechnet werden, ist unbestritten, dass diese auch für die hegemoniale Männlichkeit eine funktionale Bedeutung besitzen. Aktuelle Beispiele dafür sind etwa in der Wirtschafts- und Industriekriminalität zu finden, in der Nutzung von Firmenkapital für Bordellbesuche und in der sexuellen Einschüchterung von Untergebenen. Namen wie Peter Hartz, das ehemalige Mitglied des VW-Vorstandes, oder Dominique Strauss-Khan, der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds, verbinden sich mit der inzidentellen Skandalisierung solcher Handlungsoptionen. Bei der Auseinandersetzung zwischen Männlichkeiten geht es um Macht, Einfluss und Respektabilität in dem jeweiligen gesellschaftlichen Feld. Die Dominanz über Frauen ist dabei Voraussetzung für die Kämpfe um männliche Vorherrschaft; Frauen fungierten hier primär nicht als satisfaktionsfähige Konkurrentinnen, sondern als ›schmeichelnde Spiegel‹, so der Soziologe Pierre Bourdieu (2005). Gleichzeitig orientiert sich auch das Männlichkeitsideal von marginalisierten Männern an den Standards starker, machtvoller Männlichkeit und bereitet, etwa mithilfe von Eigentumsdelikten, dem Konstruktionsmodus von hegemonialer Männlichkeit eine Annäherung an dieses Ideal. Die Performanz von Männlichkeit wird somit zur Ressource für die fehlende Option der Teilhabe an der Konsumgesellschaft und an der Verteilung von Reichtum, Ehre und Anerkennung, die allerdings meist kontraindizierend zum Ausschluss aus derselben führt. Die extremste Form der Rekonstitution von Männlichkeit sind Tötungsdelikte und öffentlichkeitswirksame Gewalt, die in verschiedenen Radikalisierungsformen zu finden sind. Betrachten wir das Ereignis ›Köln‹ und vergleichbare Ereignisse aus dieser Perspektive, dann handelt es sich soziologisch gesehen um einen missglückten Versuch marginalisierter Männer, mit körperlicher Gewalt einen Zugang zu einer begehrten Ressource zu erhalten, die hegemoniale Männer oft ohne den Einsatz von körperlicher Gewalt gratis erhalten. Der unhinterfragte Anspruch auf die Einlösung

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der patriarchalischen Dividende (Connell 2005) liegt somit sowohl der hegemonialen als auch der marginalisierten Männlichkeit zugrunde. Aus dieser Perspektive betrachtet, können Sexismus und sexuelle Übergriffigkeit nicht als Kennzeichen marginalisierter beziehungsweise ›fremder‹ Männlichkeit gelten; sie stellen eher ein generelles Spektrum der Männlichkeitsperformanz dar. Nun hat sich seit dem ›Ereignis Köln‹ in den vergangenen Jahren (seit Oktober 2017) im Rahmen der Berichterstattung über den Hastag #MeToo die Weltpresse mit sexuellen Übergriffen mächtiger Männer auf (professionell untergeordnete) Frauen – in Einzelfällen auch auf junge Männer – beschäftigt. Der mediale Umgang mit dieser Debatte ist neu. Denn der sexuelle Übergriff von Dominique Strauss-Kahn auf die Hotelangestellte Nafissatou Diallo im Mai 2011 in einem New Yorker Hotel diskreditierte ihn zwar als Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei Frankreichs und er verlor sein Amt beim Internationalen Währungsfonds, aber es gab keine feministischen Protestreaktionen. Strauss-Kahn wurde von allen Vorwürfen auch in Bezug auf andere Fälle sexueller Übergriffe, Vergewaltigung und Zuhälterei freigesprochen, und zwar zum Teil deshalb, weil die Ereignisse verjährt waren. Die Debatte über Sexualität und hegemoniale Männlichkeit verlief nach kurzer Zeit im Sande. Es ist keineswegs sicher, dass #MeToo nicht das gleiche Schicksal ereilt. Zwar sind die Ankläger*innen diesmal keine migrantischen ›Zimmermädchen‹ oder ›Prostituierten‹, denen Glaubwürdigkeit abgesprochen wird, sondern weibliche – auch einige männliche – bekannte Vertreter*innen des gleichen Feldes, der Filmindustrie. Als Folge davon haben sich auch Parlamentarierinnen und Angehörige anderer Berufsfelder zu Wort gemeldet und Rücktritte sowie Anklagen weisen darauf hin, dass sie ›gehört‹ werden. Allerdings ist fraglich, ob diesmal die lange eingeforderte breite Debatte zu Männlichkeiten und Gewalt geführt werden wird. Erstmals haben sich vor allem über die sozialen Medien Männer zu Wort gemeldet, die sich nicht nur ausdrücklich von diesen Taten distanzieren, sondern auch das Zuschauen und Schweigen als Mitschuld verurteilen. Ob dies langfristig zu einer kritischen Revision etablierter Männlichkeitsbilder führen wird, bleibt offen. Dagegen spricht die Tatsache, dass in den USA zum selben Zeitpunkt ein Mann zum Präsidenten gewählt wurde, der davon ausgeht, dass er ein Anrecht darauf habe, Frauen zu belästigen (›to grab their pussy‹) und mittlerweile als ›Groper-in-Chief‹ (›Chefgrabscher der Nation‹) für diese Aussagen keineswegs sanktioniert wird, sondern ihm dafür im Gegenteil Ansehen und Bewunderung (im Bourdieu’schen Sinne also ›Ehre‹) zuteil werden. Dazu kommt die Verunsicherung von jungen Frauen in einer postfeministischen Gesellschaft (Gill 2007), in der Pornografie allgegenwärtig ist und weibliche Autonomie als ständige Bereitschaft ausgelegt wird, sexuell aktiv zu sein (›being up for it‹). Dadurch, so Dubravka Zarkov und Kathy Davis (2018, S. 7), werde auch bei der Beurteilung sexueller Belästigung die klare Unterscheidung zwischen Unterdrückern (Männer) und Opfern (Frauen)

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verkompliziert. Gleichzeitig scheint mir diese klare Täter-Opfer-Differenzierung für die ›orientalistische Externalisierung‹ sexueller Gewalt funktional zu sein, da sie die Reduktion von Ambivalenzen ermöglicht – womit wiederum der Gebrauchswert einer solchen Differenzierung für antimuslimische Alltagsdiskurse evident wird. Bislang sieht es nicht danach aus, dass die Diskursüberschneidungen der #MeToo-Debatte mit der Debatte über ›Köln‹ verknüpft würden, das heißt ›Weinstein‹ und ›Köln‹ werden nicht zusammengedacht und Diskursveränderungen sind in absehbarer Zeit kaum zu erwarten.

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Gender- und asylpolitische Aushandlungen rund um »Schutz« und »Integration« in der aktuellen Aufnahmesituation Sabine Hess und Johanna Elle

1.

Einleitung

Seit dem Sommer und Herbst 2015 gab es mit Blick auf Gendersensibilität im Kontext von Flucht und Migration so manche Verschiebung: So gab es 2015 recht plötzlich aus Presse und Politik eine hohe Aufmerksamkeit für geschlechtsspezifische Fragestellungen. Land auf, Land ab fragten die großen Tageszeitungen: »Wo sind all die Mütter und Töchter aus den Krisengebieten?«1 oder: »Warum sind auf den Fotos nur junge Männer zu sehen?«2 Sie versuchten eine Antwort darauf zu finden, »warum vor allem Männer Asyl suchen«, wie eine andere Überschrift bereits im Juli 2015 lautete. Als dann die Frauen ›gefunden‹ waren, waren sich die meisten Berichte einig, dass Frauen und Kinder sowohl im Herkunftskontext als auch auf der Fluchtroute und im Ankunftskontext in besonderer Weise und überdurchschnittlich von Gewalt, insbesondere sexualisierter, geschlechterbasierter Gewalt, betroffen seien. Von da an bestimmte der Topos der »Schutzlücke«3 den Diskurs über die besonderen Herausforderungen, mit denen geflüchtete Frauen auch im Aufnahmezusammenhang konfrontiert sind. Manche der seit dem Sommer 2015 geführten Diskussionen und veröffentlichten Berichte versuchten, die Komplexität von geschlechtsspezifischen Fluchtursachen und spezifischen Ankunftsherausforderungen abzubilden. Viele verblieben jedoch auf der Oberflächenebene und produzierten nicht nur eine höchst binäre geschlechterpolitische Lesart, sondern führten auch zu einer folgenreichen Engführung der Problemstellung: Die Berichterstattung machte zum einen geflüchtete Frauen vor allem als schutzbedürftige, verletzliche und eher passive Akteurinnen sichtbar und engte die Problematik des systematischen Ausgesetztseins gegenüber Gewaltverhältnissen vor allem auf sexualisierte und interpersonale Ge1 2 3

Spiegel Online, 09.09.2015. Stuttgarter Zeitung, 10.09.2015. Süddeutsche Zeitung, 14.01.2016.

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Sabine Hess und Johanna Elle

walterfahrungen ein; so wurden bald Schmuggler und mitflüchtende Männer zur größten Bedrohung flüchtender Frauen und nicht etwa die militarisierten Grenzanlagen und die Gewalt der Grenzpatrouillen. Zum anderen brachten die Artikel im gleichen Atemzug die Figur des »gefährlichen, alleinreisenden männlichen Flüchtlings« hervor, von dem auch eine Gefahr für »die deutsche Gesellschaft« ausgehe. Bereits Monate vor den Ereignissen der sogenannten Kölner Silvesternacht 2015/2016 warnte der Soziologe Armin Nassehi vor einer »Maskulinisierung öffentlicher Räume« durch die Ankunft vor allem junger, männlicher Geflüchteter4 und trug somit mit zur Konstituierung dieses vergeschlechtlichten rassistischen Bildes bei. Die Ereignisse der Silvesternacht von Köln haben die neue Drohkulisse endgültig plausibilisiert und zu einem gesellschaftlichen Stimmungsumschwung bezüglich der Fluchtbewegungen beigetragen. Köln und seine nachträgliche erhitzte diskursive Bearbeitung offenbart ein bisher unbekanntes Potenzial an Rassismus im Gewand der Sexismusanklage (Dietze 2016). Auch die rechten Ausschreitungen in Chemnitz 2018 bauten auf dem Topos des notwendigen »Schutzes« »unserer Frauen« vor den Gewalttaten »der anderen« auf. Das Mobilisierungspotenzial dieses Narrativs war in der Lage, einen wütenden rechten Mob, in erklärter Selbstverteidigung, auf die Straße zu bringen, unterstützt von Parolen wie »der Messermigration« oder »Merkels Killermigranten«. In die aufgeheizte Stimmung nach den Übergriffen in Köln hinein veröffentlichte der Berliner CDU-Abgeordnete Kai Wegner im Februar 2017 seinen Vorschlag zu einer Frauenquotenregelung für Geflüchtete: Geflüchtete Männer sollten an den Grenzen zurückgewiesen werden, wenn eine bestimmte Quote erfüllt sei – so könne »das Gleichgewicht« und das »friedliche Zusammenleben« aufrechterhalten werden und Frauen und Kinder »als schutzbedürftige Personen« trotzdem Zuflucht finden.5 Damit griff Wegner, wie viele in den vergangenen Jahren, das Genderargument auf, um den Zuzug von Geflüchteten zu begrenzen. Die politischen Konsequenzen der rechten Hetze in Chemnitz sind noch nicht absehbar. Deutlich geworden ist aber die Wirkmächtigkeit, die rassistische Vereinnahmung von sexualisierter Gewalt, in diesem Fall ein schlicht herbeifabuliertes Narrativ, im öffentlichen Diskurs inzwischen entfalten kann. Die zunehmende Thematisierung der besonderen Herausforderungen und Schutzbedarfe von »geflüchteten Frauen und Kindern« – so wie das meist in einem Atemzug genannt wird – traf auf politischer Seite insbesondere bei gleichstellungspolitischen Akteur*innen auf offene Ohren und führte auch dort zu einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber den spezifischen Belangen und Bedarfen 4 5

Die Welt, 05.10.2015. Der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Kai Wegner; dazu Felix Hackenbruch im Tagesspiegel vom 23.02.2017.

Gender- und asylpolitische Aushandlungen rund um »Schutz« und »Integration«

dieser Gruppe. Bezugnehmend auf internationale Abkommen entstanden Gewaltschutzkonzepte auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie unzählige Integrationsprojekte, die auf geflüchtete Frauen in Not zugeschnitten sind, wie wir im zweiten Teil näher ausführen werden. Seit 2017 lässt sich jedoch eine weitere diskursive Entwicklung beobachten: Während die Fluchtwege mit der Schließung der Balkanroute und dem sogenannten EU-Türkei- sowie dem Italien-Libyen-Deal mehr oder weniger abgeschnitten sind und die internationale mediale Aufmerksamkeit längst anderen Weltregionen gilt, wird in Deutschland die Fluchtdebatte zunehmend als Integrations- und Abschiebedebatte geführt. Hierbei kommt dem Thema der Geschlechterverhältnisse, insbesondere unter dem Topos der Geschlechtergleichheit, wieder ein prominenter Platz zu, um vermeintliche Integrationsfortschritte und -blockaden zu vermessen. Integrationsarbeit gerät so zunehmend auch zur Sache gleichstellungspolitischer Akteur*innen. Vor dem Hintergrund der Drohkulisse forcierter Abschiebungen erlangt der Integrationsimperativ nun auch im asyl- und fluchtpolitischen Kontext eine zentrale gouvernementale Bedeutung im Hinblick auf die Regulierung der Fluchtmigration, wobei geflüchtete Frauen nicht nur als das schützenswerte Geschlecht adressiert werden, sondern jetzt auch eine besondere Rolle im Kontext der Integrationsarbeit zugesprochen bekommen. Im Folgenden soll daher genauer beleuchtet werden, wie »Schutz« und »Integration« – als die zwei aus dem medialen und politischen Diskurs rund um vergeschlechtlichte Aufnahmepolitiken identifizierbaren, handlungsleitenden Diskursstränge – mit dem Thema Gender operieren: Welche (kulturalisierten) Geschlechterbilder werden mit welchem Effekt angerufen beziehungsweise reproduziert? Wie wirkt sich dies auf lokale Praktiken aus?

2.

Ambivalente Schutzmaßnahmen

Beobachten lässt sich insbesondere hinsichtlich der Schutzbedarfe von geflüchteten Frauen in Unterkünften nicht nur eine »feministische Konjunktur« in medialen Diskursen, sondern auch auf der Policyebene (Neuhauser et al. 2016). Noch 2015 warnte das Institut für Menschenrechte: »Insbesondere der Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Belästigung in Unterkünften wird derzeit kaum thematisiert. Dies trifft insbesondere vulnerable Flüchtlingsgruppen wie Frauen, die circa ein Drittel der Antragsteller*innen ausmachen, sowie Schwule, Bisexuelle, Trans*- und Inter*-Menschen (LSBTI)« (Rabe 2015, S. 3). International spielt das Thema (Gewalt-)Schutz in der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten seit mehr als 20 Jahren eine Rolle: Neben zahlreichen Handreichungen des UNHCR und anderen NGO, lässt sich auch auf Abkommen wie die sogenannte Istanbul–Konvention, die Anfang 2015 ratifiziert wurde, oder die EU–Aufnahmericht-

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Sabine Hess und Johanna Elle

linie6 , welche bis 2015 in nationales Recht übernommen werden sollte, hinweisen. Allerdings lassen sich in Deutschland in den vergangenen Jahren diesbezüglich nahezu keine Bewegungen erkennen. Neben der Aufnahme von geschlechterbasierten Fluchtgründen als asylrechtliches Anerkennungskriterium in die Novelle des Zuwanderungsgesetzes von 2004 ist hierzulande hinsichtlich dieses Problemfelds lange Zeit weder staatlicherseits noch von den großen Wohlfahrtsverbänden und -organisationen Nennenswertes unternommen worden. Seit 2016 jedoch sind unzählige Forderungen, Konzepte und Handreichungen auf allen Ebenen und von verschiedensten Akteur*innen entstanden und markieren das Feld der Geflüchtetenaufnahme und -unterbringung auch genderpolitisch als hochdynamisches Feld. Besonders differenziert ist das Bundeskonzept, welches 2017 mit dem Titel »Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften« bereits in zweiter, überarbeiteter Auflage veröffentlicht wurde.7 Dabei fokussieren die Autor*innen – das BMFSFJ, UNICEF und zahlreiche weitere Wohlfahrtsverbände und feministische NGOs – in ihrem Konzept nicht nur den Aspekt interpersoneller Gewalt, sondern konzentrieren sich mit dem von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmenbündel vor allem auf strukturelle Schwierigkeiten in den Unterkünften und im Versorgungssystem. Säulen sind hierbei ein einrichtungsinternes Schutzkonzept, Personalmanagement sowie unter anderem architektonische, aber auch sozialarbeiterische und rechtliche menschenwürdige, schützende und fördernde Rahmenbedingungen. Leider verbleibt das sehr umfassende Papier mit deutschlandweiten Pilotprojekten auf einer empfehlenden Ebene. Zwar wurde 2019 der Schutz in Unterbringungen ins Aufenthaltsgesetz mitaufgenommen; hierbei handelt es sich allerdings weiterhin um eine Soll-Bestimmung, die keine Direktive bedeutet und bislang weder in Landesgesetzgebungen noch in die kommunale Unterbringungspraxis übersetzt wird. Dies markiert die fundamentale Problematik der als »Mindeststandards« formulierten Schutzkonzepte im Hinblick auf menschenwürdige und sichere Unterbringung in Deutschland. So weisen unzählige Analysen der bundes-, landes- sowie kommunalpolitischen Regelungen von Aufnahme und Unterbringung grundsätzlich auf eine erhebliche rechtliche und strukturelle Unterdefinition und mangelnde verbindliche Regelung hin, welche primär zu der vorliegenden ungenügenden Sicherheitssituation in den Unterkünften führt. Auch unsere Erhebung »Leben jenseits von Mindeststandards. Dokumentation zur Situation in Gemeinschaftsunterkünften in Niedersachsen« (Elle/Hess 2018) zeigt, dass trotz internationaler

6 7

https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:180:0096:0116:DE:PDF; zuletzt geöffnet am 25.08.2019. https://www.bmfsfj.de/blob/117472/bc24218511eaa3327fda2f2e8890bb79/mindeststandards-zum-schutz-von-gefluechteten-menschen-in-fluechtlingsunterkuenften-data.pdf; zuletzt geöffnet am 25.08.2019.

Gender- und asylpolitische Aushandlungen rund um »Schutz« und »Integration«

Abkommen eine immense Diskrepanz zwischen Konzept, Verwaltung und Praxis besteht beziehungsweise bestehen kann, da es bis heute keinerlei verbindliche politische, rechtliche und finanzielle Rahmungen gibt. So geht es, wie unsere Studie zutage fördert, vor allem um ganz basale Bedingungen wie saubere Sanitärräume, ausreichenden Wohnraum, eine konfliktvermeidende und flexible Belegungspraxis, die sich an den Bedürfnissen der Flüchtlinge orientiert, sowie Zugang zu Informationen, um ein menschenwürdiges Ankommen und einen Neuanfang im Exil zu ermöglichen. Die zahlreichen neu erschienenen Programme hingegen, die ihren Schwerpunkt oft verengend auf »besonders schutzbedürftige« Menschen wie alleinreisende Frauen (mit Kindern) und deren spezifische Problemlagen legen, ändern dementsprechend oft wenig an den allgemeinen, staatlich produzierten Lebensrealitäten (Rabe 2015). Vielmehr geraten derartige Sonderprogramme und ihre Umsetzung nicht nur zu einem »Pflästerchen«. In ihrer Ausrichtung auf den »Schutz« und mit ihrem Fokus auf Vulnerabilität statt auf der Handlungsstärke der geflüchteten Frauen, laden sie zudem zu einer viktimisierenden, paternalistischen Argumentation ein, die darin ihren konsensualen Ausdruck findet, geflüchtete Frauen »retten« zu wollen. Die Anthropologin und Humanitarismusforscherin Miriam Ticktin (2011) fragt in ihrer Analyse der »Politics of Care« im Feld der Flüchtlingspolitik: »What does ›doing good‹ actually end up doing?« Dies ist auch die Frage, die man sich angesichts des sehr basalen Problemkomplexes aus Enge, unzureichender Hygiene, fehlender Privatsphäre, mangelnden Rückzugsräumen und genderunsensiblen Architekturen beziehungsweise nicht nach Geschlechtern getrennten Einrichtungen aktuell fragen kann. Bereits seit Jahren bestehen Forderungen von Flüchtlingsräten und Wohlfahrtsverbänden nach bundesweiten verbindlichen und nachhaltigen Regelungen und Aufnahmekonzepten; diese finden aber nicht ausreichend Gehör. Hier zeigt sich auch mit erschreckender Deutlichkeit die Ambivalenz zwischen einem sehr notwendigen (Gewalt-)Schutz einerseits (NGOs in Serbien schaffen fortschrittlichere gendersensible Unterbringungs- und Versorgungsrealitäten als zahlreiche deutsche Kommunen) und andererseits der symbolischen Pflasterfunktion. (Gewalt-)Schutzkonzepte können nämlich angesichts der hochproblematischen Grundstruktur der Aufnahme- und Unterbringungspolitik verkommen – und zwar, wenn sie den Massenunterkünften einschließlich ihrer strukturellen Produktion von Entmündigung, Abhängigkeit und damit Unsicherheit und Gewaltoffenheit ein Unbedenklichkeitszertifikat verschaffen. Zudem zeigen unsere Forschungen, dass der Zugang zu Schutz, Versorgungsleistungen und besserem Wohnraum kein allgemeingültiges Recht für Frauen als »schutzbedürftige Personen« darstellt. Vielmehr werden derartige Sonderprogramme und Schutzmaßnahmen oft nur geflüchteten Frauen mit einer guten »Bleibeperspektive« zuteil und entpuppen sich so als ein weiteres Werkzeug, mithilfe dessen eine abgestufte Teilhabe – entlang der sogenannten Bleibeperspektive –

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Sabine Hess und Johanna Elle

praktiziert wird. Oder anders gesagt: Der bewusste Entzug von Schutz soll die Rückkehrbereitschaft von Geflüchteten erhöhen (Elle/Fröhlich 2019). Dieser Punkt führt uns zu unserem zweiten handlungsleitenden Strang. Denn menschenwürdiges, sicheres Wohnen und damit Leben kann als eine wesentliche Grundlage für ein Ankommen, für die Integration in eine Gesellschaft angesehen werden. ›Integration‹ verstehen wir nicht als regulatives Werkzeug, sondern im Sinne von Teilhabechancen und -rechten und als konträr zu einem repressiven Integrations-Abschiebekomplex (Hess/Moser 2009).

3.

»Feminisierung« des Integrationsimperativs

Nach einer Phase des »Notstands«, der »Krise« und des »Rettens« besann sich Deutschland 2017 angesichts der Bundestagswahlen wieder verstärkt auf das Einhegen und Kontrollieren der »Folgen der Flüchtlingskrise«. So war auf Bundes-, Landes-, und kommunaler Ebene eine Art ›hektischer Integrationismus‹ zu beobachten, der dieses Mal in besonderer Weise auch geflüchtete Frauen adressierte. Dabei richteten sich nicht nur Integrations- und Sprachkursprogramme an sie, sondern ihnen sollten auch »Genderkompetenzen« nahegebracht werden, als sei dies ein ›traditionelles Grundelement der deutschen Kultur‹. So wird im Namen der Integration von geflüchteten Frauen nun gefordert, Deutschkurse zu besuchen, Kinder fremd betreuen zu lassen und sich möglichst umgehend in den Arbeitsmarkt zu integrieren und zeitgleich dafür Sorge zu tragen, dass sich die gesamte Familie ›integriert‹. So werden die geflüchteten Frauen nicht nur um ihrer selbst willen zur Integration aufgefordert, sondern immer auch als zentrale Erziehungsverantwortliche und als Weiterträgerinnen der Herkunftskultur. In diesem Sinne werden sie als zentrale Verantwortliche für das Integrationsgelingen der ganzen Familie angerufen und gefordert, was ganz im Widerspruch zum sonst vorherrschenden Opferbild steht. Folglich wird die Bescheinigung, gut integriert zu sein, angesichts des zunehmenden Abschiebedrucks für sie überlebenswichtig. Dabei finden vermehrt Begriffe wie »unsere Gesellschaft«, »unsere Werte« oder »unsere Leitkultur«8 Eingang in die politische Debatte. Angesichts dieses Integrationseifers und der affektbeladenen Dringlichkeit, vor allem die geflüchteten Frauen integrieren zu wollen, taucht die kritische Frage auf, inwiefern der »Schutz« der geflüchteten Frauen im Vordergrund steht – oder ob es nicht auch um den Schutz »unserer Werte, unserer Rechte, unserer Gleichberechtigung« als ein exklusives Projekt geht, wobei der Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe aufgrund intransparenter Differenzierungslogiken auf der Ebene des Gewährens und Nichtgewährens verbleibt. Hierbei wird das Narrativ der Geschlechtergleichheit zur do8

Thomas de Maizière, 30.04.2017 in Zeit Online.

Gender- und asylpolitische Aushandlungen rund um »Schutz« und »Integration«

minanten Messlatte, mit der über die Integrationsfähigkeit von Migrierten und letztlich über ihre Erwünschtheit geurteilt wird. Die beiden Genderforscher*innen Sabine Hark und Paul Villa zeigen in ihrem Buch Unterscheiden und Herrschen, dass die Betonung »unseres« liberalen, egalitären, westlichen »Konsenses« zurzeit stark quer durch alle politischen Lager in der Flüchtlingspolitik Verwendung findet (Hark/Villa 2017, S. 10). Gerade im integrationspolitischen Kontext erfährt das Thema »Gleichstellung« eine Hochkonjunktur. Dem Thema kommt innerhalb des beobachtbaren repressiven Integrations- und Abschiebekomplexes eine zentrale Rolle zu, Differenzlinien zu markieren und Integrationsdefizite zu vermessen. Gleichstellung und Homo-Freundlichkeit scheinen von nun an konsensual als elementare Bestandteile des westlichen Kulturguts zu gelten, und zwar vor allem dann, wenn sich hierüber eine kulturelle Differenz zu den als zugleich migrantisch und anders Markierten und ihren vermeintlich homophoben und patriarchalen Herkunftskulturen herstellen lässt. Diese Art und Weise der Verschiebung und Auslagerung der Problematik von sexistischer und homophober Gewalt auf die anderen (und damit ihre Rassifizierung) hat – wie eingangs gezeigt wurde – schon eine lange Geschichte: Im Zuge von antimuslimischem Rassismus und einer breiten Verankerung antiislamistischer Diskurse sowie der jüngeren Flüchtlingsdebatte in Deutschland ist diese Diskursfigur sehr dominant geworden – so eine These der kritischen Migrationsforschung, weil sich mit dem Argument des Schutzes von Frauen und Homosexuellen Sicherheits- und Verschärfungsdiskurse der Migrationspolitiken moralisch wasserdicht rechtfertigen lassen. Angela McRobbie (2010) begründet diese Allianzmöglichkeit unter anderem mit der »postfeministischen gesellschaftlichen Konstellation«, in der Feminismus als erfolgreich und damit abgearbeitet zu einem »Fundament europäischer Kultur« erklärt wird, wobei der bestehende Sexismus elegant auf die »Migrationsanderen« projiziert werde. Mendel und Neuhold (2015) folgern: »Feminismus wird so verlagert und zu einem Problem zwischen der Mehrheitsgesellschaft und MigrantInnen gemacht, d.h. zu einer Frage von Race« (ebd., S. 51). Feststellen lässt sich, dass die Artikulation von Genderfragen somit zu einer wesentlichen Positionierungsstrategie der »Mehrheitsgesellschaft« in der Gemengelage von Einwanderung, Globalisierung und zunehmender Heterogenität wird. Dabei handelt es sich bei Weitem nicht um ein neues Phänomen. Verschiedene Wissenschaftler*innen beleuchten und problematisieren immer wieder das schwierige Verhältnis von Feminismus und Antirassismus beziehungsweise Gleichstellungsprojekten im Zusammenhang von Flucht und Migration (Kalpaka 1994; Kofman/Sales 1998; Marx 2009). Denn die Bezugnahme auf frauenpolitische Forderungen und Gleichstellung zieht sich wie eine lange Tradition bereits durch koloniale Kontexte. So legitimierte sich das koloniale Projekt damals damit, auszu-

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Sabine Hess und Johanna Elle

ziehen, um die »Frauen des Südens« aus ihrer Rückständigkeit und patriarchalen Kultur zu erretten. Dies hatte nicht nur den angenehmen Effekt, dass sich die westlichen Gesellschaften als emanzipiert dünken konnten, sondern führte auch dazu, dass sich westliche Feministinnen dem kolonialen Projekt begeistert anschlossen (Mohanty 1991; Spivak 1989). Dieses koloniale Erbe schwingt auch heute mit. Auch heute folgt das Beziehungsverhältnis zwischen denen, die helfen und sprechen, und denen, denen geholfen wird, dieser internationalen Asymmetrie. Und auch heute bedarf es des gleichstellungspolitischen Feingefühls, sich nicht einspannen zu lassen für eine »feministische Disziplinierung des migrantischen Subjekts« (Erdem 2009, S. 194). Jene feministischen Diskurspositionen, die sich in die restriktive Integrationsdebatte einschrieben, bezeichnet Esra Erdem als »rassifizierte Gleichstellungspolitik« (ebd., S. 191). Sie warnt davor, Gleichstellungspolitik mithilfe des Ausländer*innenrechts zu machen und Machtverhältnisse gegeneinander auszuspielen.

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Jews, Muslims and Religious Challenges to the European Institutions: The Headscarf and Ritual Male Circumcision Debates1 Gökce Yurdakul

1.

Introduction

Mr. Mohammed Taha Sabri is a well-known Imam, and the board director of the Dar Assalam mosque in Neukölln, a part of Berlin, known for immigrant communities from Muslim countries. He is a public figure within the Muslim Arab communities and in the German and International media. He started preaching as an Imam in 1990. He arrived in Germany in 1988 to seek refuge after being tortured in prison in his home country Tunisia. His mosque, Dar Assalam mosque in Neukölln is followed by the German civil intelligence agency (Bundesverfassungsschutz) with the indications that there are Muslim extremist activities (Jansen 2018). Although his mosque is under surveillance, Mr. Sabri was honored with the Order of Merit of the Land of Berlin (Verdienstorden des Landes Berlin) in 2015, due to his efforts for Muslim integration in Germany. This is the highest form of honor, which a person may receive for his/her services to Berlin state. We2 interviewed Mr. Sabri in the Dar Assalam Islamic Center on the relations between Jews and Muslims in Germany: »Our relationship with the Jewish minority is very vital because we share the same destiny here in Europe. We both are a minority here, and normally minorities need one another, especially when they share common interests and when they are affected equally by legal and political measurements introduced by the state. For instance, we need to cooperate in struggle for our religious freedoms as we did in circumcision and religious slaughter issues.« 1

2

I presented this article as a keynote Lecture in the conference »Religious Minorities’ SelfRepresentations: Claims of Difference and Sameness in the Politics of Belonging« at Utrecht University, 11-13 October 2017. I am grateful to Birgit Meyer, Margreet van Es and Evelin Gans for their comments. This interview is conducted by research assistant Ahmed Sukker, then a student at the Humboldt-Universität zu Berlin on 3 October 2015. The interview took place in Arabic.

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Gökce Yurdakul

Can Jews and Muslims cooperate in challenging European social institutions? One of the pressing questions that European political authorities struggle to answer today is how to deal with the challenges of religious diversity in European social institutions. Religious, ethnic and cultural diversity in Europe is a highly contested subject in socio-political and legal areas (Yurdakul 2016). Some scholars argue that diversity policies may have negative impacts on sociocultural integration, specifically for Muslims (Koopmans 2015). Others argue that »reasonable accommodation« can be reached in a combination of universalistic and particularistic adjustments (Bouchard/Taylor 2008). How to accommodate minorities, especially for religious matters, is challenging, which is embedded in the past but provides a discourse for the future (Bender/Klassen 2010). Despite the fact that the policies aim to regulate religious, ethnic and cultural diversity in a top-down manner, minority groups challenge these in their everyday lives, mostly by bringing their claims for accommodation to social and political attention. Traditional top-down studies focus on linear state-minority relations and mostly fail to look at how interrelations between minority religious groups develop. By focusing on interrelations between minorities, we can observe simultaneously how diversity is practiced and regulated, and how socio-historical contexts are contested or reaffirmed. In this article, I will focus on interrelations, in other words, how practices of Muslim and Jewish minorities find common grounds in order to challenge secular and Christian European regulations. My question is: How do minorities collaborate with each other in order to claim religious minority rights from the state authorities? Basically, which topics bring them together while collaborating; what kind of framings do they use? By answering these questions, I would like to know if there are any common collaboration strategies that bring minorities together. Why did I choose Jews and Muslims in Germany as minority examples in my study? Jews are the most established historical minority group in Germany. Jewish groups have been making religious claims to the European and German governments for centuries (Judd 2007). Over 1.4 million Jews live in Europe, forming 0.2 per cent of the general population (Lipka 2015 based on Pew Research Center 2010 data). In Germany, there is a slight increase in the Jewish population due to a previous immigration of Jews from the former Soviet Union (Bodemann 2008) and a recent influx of Israelis (Rebhun/Sünker/Kranz, 2015). In fact, while for some Jews, Germany became an attractive country in which to live (Bodemann 2008), although there is a reported backlash against Jewish life in Germany by putting their religious practices under scrutiny (the legal scrutiny of the male circumcision in 2012) or by outright violent attacks towards kippah wearing men on the street or by attacking Jewish businesses (Zeit Online 2018a, 2018b). Minority groups also look toward each other for solutions to challenges about religious recognition. In my previous work in the German context, I have explored

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how the Turks, as the numerically largest and most recent immigrant group in Germany, have approached the small Jewish minority in Germany for strengthening their claim for a religious recognition (Yurdakul/Bodemann 2006; Yurdakul 2010). I am trying to find ways to test the reliability of my claim by comparing the discussions around the headscarf ban and the male circumcision ban. My theoretical framework is based on Michelle Lamont’s concept of cultural repertoires. Minority groups engage with the cultural and historical meanings of the social environment that shapes their actions (Lamont/Molnar 2002). They draw on »sets of ideas, stories, discourses, frames, and beliefs in order to create a line of action«, which is defined as cultural repertoires (Hall/Lamont 2013, S. 56). This framework draws on the classic symbolic boundaries, referring to the conceptual distinctions that people draw in order to belong to groups within social contexts (Barth 1969). I choose to work with the analytical concept of cultural repertoires. The advantage of using this concept is twofold: 1. By using cultural repertoires, I focus on the minority agency and not on the fixed identity category as Jewish or Muslim. It is a conceptual tool to analyse the temporal and spatial situatedness of minority experiences and practices (Amelina 2017). I argue that minority groups pick up on culture repertoire, which is continuously regenerated, learned, and adopted by the members of the group (Even-Zohar 2003; Lamont/Fleming 2005, Lamont/Thévenot 2000). 2. By using cultural repertoires, I can see how minority experiences are formed in a process of fluid and complex relationships. It has the advantage to approach to the concept of minority agency with nuance and to look underlying multiplicities of group identifications and not take them as essentialist categories. While Jews and Muslims in Europe are heterogeneous and complex groups, they actively organize in local, national and transnational levels in order to make claims of religious accommodation, discuss social conflicts and establish inter-religious dialogues (Peck 2006; Yurdakul/Bodemann 2006; Laurence 2001; Kastoryano 2002; Legge 2003). In this sense, I look at Jews and Muslims not as religious categories of people (Jew or Muslim), but as performing agents in a dynamic process that occurs in interaction with the other minority. In my previous work3 , I found that Jews and Turks in Germany are motivated to collaborate in order to counter discrimination, advance common legal objectives and promote tolerance in society in the German context (Yurdakul/Bodemann 2006). In that work on Turkish-Jewish interrelations in Germany, I argued that Turkish immigrant political leaders refer to the Jewish history in Germany in order to be able to make political and legal claims (Yurdakul 2010). This research has 3

My previous work was only focusing on how leading representatives of Turkish communities attempt to draw on the German-Jewish trope to establish their community as a minority in Germany (Yurdakul/Bodemann 2006; Yurdakul 2010).

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convincingly established that socio-historical contexts, within which Turkish minority politics in Germany are embedded in, cannot be fully understood without examining its interrelations with other minorities. Cultural repertoires helped me to understand how Jewish history in Germany affects the contemporary Turkish immigrant experiences. In this Chapter, I aim to build on this previous work in order to show how Jews and Muslims are motivated to reach their political and legal goals by establishing collaborations in specific cases of legal claim making for practicing freedom of religion. My aim is to analyse such collaborations in two cases: The Muslim headscarf debate and ritual circumcision of Jewish and Muslim boys. In both cases, I aim to look at the discourses they produce by appropriating the cultural repertoires of Germany and I try to understand the minority agencies they produce in the process. This analysis shows how minority relations are formed, developed and enacted in the specific cultural repertoire of Germany in the two historical cases. Why do I choose these two cases, namely headscarf and circumcision of boys? I argue that European identity is beyond strict civic or cultural identities, but they are performative. They are inscribed on male and female bodies through everyday practices, as if these are naturally occurring. While social expectations of what a European man or woman is not defined by strict legal regulations, through their legal discussions and decisions, European institutions, such as national and European-level courts, act as an authority for legitimate body politics. Most recently, in my previous work with Anna Korteweg, we focused on the headscarf debates, and we discussed national narratives in France, the Netherlands, Germany and Turkey in the axis of secularism and religion. As we have discussed in our book The Headscarf Conflict, Muslim women’s headscarves in Europe is beyond a dress, but it is a political symbol of who belongs or does not belong to Europe (Korteweg/Yurdakul 2014). We found out how headscarf-wearing Muslim women embrace European national identities and their religious identities simultaneously, while being confronted by the challenges of social institutions, such as schools, workplaces or government offices. I argue that the most important axis of this discussion is on secularism and religion, which we can exemplify on the cases of body politics. But this body politics is not just any body politics. It is how minorities frame body politics by framing their claims within European cultural repertoires. In European institutions body politics is selective, who is in and who is out is determined by legal regulations and policies. For example, Ruth Mandel (2008) calls this ›selective cosmopolitanism, ‹ which refers to the fact that some cultural, religious practices and lifestyles, such as wearing headscarves, are not considered as ›cosmopolitan‹. In that vein, cosmopolitan attributions in Europe are selective, and many Muslims and Jewish bodily presence are not considered as a part of the cosmopolitan trends in Europe.

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2.

Challenge to the Berlin State Neutrality Law: The Case of Headscarf

This brings us to the questions of who belongs and who does not belong according to the European body politics. In order to »belong«, I argue that minorities use cultural repertoires to make their voices heard. Otherwise, their voices are not heard in the mainstream media (Kulaçatan 2015). There are two main controversies in Germany, where body politics become extraordinarily important in deciding who belongs to Europe, and what will shape European future in terms of dealing with religious diversity: The case of Muslim women’s headscarves and the ritual circumcision of Jewish and Muslim boys. In both cases we see Jewish and Muslim minorities collaborated in different intensities and ways. In 2015, Betül Ulusoy applied for a three-month law internship (Referendariat) as a part of her studies at the Neukölln municipality in Berlin. She was interviewed on the phone and accepted for the advertised job. When she showed up to the municipality in order to sign the necessary documents to begin her job, the state officer said that she could not be accepted to this job while she is wearing her headscarf. In Berlin, as a principle of state neutrality employers cannot provide public service while wearing religious symbols4 . Betül Ulusoy carried her case to the media and gained support from the public who are sympathetic to her case. When she was asked in a newspaper interview why she is wearing the headscarf, she answered not because she is a true-believer or because her family is pressuring her to wear it. She framed her argument in a way that fits perfectly to the »liberal European values«, that is the European liberal feminist argument on woman’s self-determination over her own body: »This means that a woman must decide for herself, whether she wears a mini skirt or a scarf. This decision is then neither negotiable nor evaluated by outsiders. It is her freedom alone« (Betül Ulusoy’s blog at https://betuelulusoy.com). Contrary to the common media hype in Germany that Muslim women are wearing headscarves because they are pressured by their families to do so, Betül Ulusoy strikes back and shows us that wearing headscarf is her self-determination over her body as a woman. This is the European feminist argument but framed in a different context. This controversy does not only appear from the outset as a controversy between religion and secularity, 4

In the coming years, state neutrality law has escalated to other cases. For a critical account, please see Law scholar Anna Katharina Mangold, who argues that there is a problem with interpreting »neutrality« with »normality« in the law: What is considered »neutral« is what […] appears »normal« from a majority perspective. The headscarf does not appear »normal«, so it is not read as »neutral« […] We observe the mechanism that what has the potential to disrupt and ultimately change »normality« is for forbidden in order to be on the safe side. This stabilizes an confirms prejudices. (Justitias Dresscode: Wie das BVerfG Neutralität mit »Normalität« verwechselt, 6 July 2017, https://verfassungsblog.de/justitias-dresscode-wiedas-bverfg-neutralitaet-mit-normalitaet-verwechselt/;accessed on 13.Aug.2018).

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but also whether women have self-determination over their bodies in Europe. This is the unusual part of the debate: Are regulations of state institutions infringing women’s rights to bodily determination? I believe that such cases will take the debates further away from whether European institutions should permit headscarves in public services or not. The tensions will take very different forms and lead to different public debates and legal resolutions as more young Muslim women enter into important decision-making positions in European institutions and frame their claims by using the arguments of the majority society. During the conflictual media debate between Betül Ulusoy and Neukölln municipality, a group of activists called Salaam-Shalom formed a human chain in front of the municipality building in order to support Ulusoy’s claim to be able to start her job while wearing her headscarf. In his media interview, a then rabbinical student at the Geiger College, Armin Langer, one of the organizers of the SalaamSchalom rally, said the demonstration aimed to promote equal rights for all people who wear head coverings. Langer said: »With our protest we made a public [statement], but we emphasize that we didn’t demonstrate for Betül only, but for all women with head coverings who are discriminated [against] based on their religious practices« (Langer interview in the The Huffington Post, 21 July 2015). In our face to face interview with Langer5 , he emphasized his groups work for interfaith engagement in Berlin, which receives considerable attention from the German media and politicians. He also emphasized that he receives a lot of criticism, specifically from the Jewish organizations for his engagement with Muslim communities.

3.

Challenge to the »Right to Bodily Integrity«: The Case of Ritual Male Circumcision

A controversial socio-legal case in Germany is the male circumcision debate in 2012: This is exemplary of about how Muslim minorities draw on Jewish history in Germany in order to make claims. Similar to Betül’s headscarf debate, in the ritual male circumcision debate, Muslim organizations solidarized with Jews in Germany in order to gain parental rights to practice ritual male circumcision. In terms of representing male bodies, ritual male circumcision can come to epitomize a stark difference between the values and practices of Muslim and Jewish minority groups

5

Ahmed Sukker in interview with Langer on 24 November 2015 in Berlin, the interview was conducted in English.

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and those of Europeans in ways that place Muslims and Jews as non-European (Yurdakul 2010). The fascinating point in this case is how two religious’ groups, Muslims and Jews, who are not always in the same wavelength, are supporting each other to make religious claims in the German context. In addition, Muslim groups refer to the Jewish minority and create a common ground of struggle for religious practices. The specific incidence is as follows: As you may know ritual male circumcision of Jewish and Muslim children is a highly controversial matter in Germany as in many other European countries (Yurdakul 2013; Lavi 2009; Öktem 2013). In fact, male circumcision has long been coming as a public controversy, even before it was discussed in the court case in 2012. Islam-critic Necla Kelek has brought up the issue in German Islam Conference and also wrote about the possible harms of ritual male circumcision in her book Lost Sons (Die verlorenen Söhne; Kelek 2006), she says that circumcision is an inseparable part of being Muslim and being a man. According to Kelek, the removal of foreskin is a way of belonging to the Muslim community, a way that men recognize each other with respect due to the intense pain that they had to endure during circumcision. Pointing out that young men are also victims of their Muslim communities, just like women who are forced to wear headscarves or pushed into forced marriages or sanctioned by their families. The circumcision case but has been long debated by criminal lawyers and by Necla Kelek in her book (2006) and in the German Islam Conference. I have discussed the details of this court case, and its aftermath elsewhere in detail (Yurdakul 2016). On 7 May 2012, the Cologne regional court ruled that circumcising young boys represents grievous bodily harm (Körperverletzung). Although both Muslims and Jews circumcise infant boys as a religious practice, the Cologne court found that the child’s »fundamental right to bodily integrity« was more important than the parents‹ rights, leaving Muslim and Jewish parents under suspicion of doing bodily harm to their children. After heated public discussions and an expedited legal process, German legal authorities permitted the ritual circumcision of male children under a new German law. However, the German debates on religious diversity are not yet over. On the anniversaries of the court decision in every year, some civil society organizations organize a rally in Cologne for »genital autonomy«, calling for a ban on ritual male circumcision. Following a national and international outcry, most notably from Jewish and Israeli political and religious authorities, the Bundestag adopted a proposed law explicitly permitting non-therapeutic circumcision to be performed under certain limited conditions. The debate was heavily shaped by contrasting religious and secular discourses and norms of bodily integrity and parental rights. However, rather than being treated as a religious practice in Muslim and Jewish communities, ritual male circumcision becomes a sign of cultural backwardness and in some cases

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as violence against children. The Cologne court decision left Muslim and Jewish parents under suspect to bodily harm their male children. The circumcision debate clearly showed that so-called »Judeo-Christian values« is a contradiction in itself, where Jews in Germany and Germans are in conflict with each other on whether such religious practices can further be carried on in Germany or not. In 2012, German Ethics Council drafted a new law, which was then accepted by the Bundestag. Only one member of the Ethics Council was against the law, Reinhard Merkel argued against the practice of circumcision. Merkel has been pointing out to the ethic, legal and historical problems of this decision earlier, by stating that: »No right to freedom permitted an interference with the body of a human. This is also true for male circumcision. And yet the case is difficult« (Süddeutsche Zeitung 30. August 2012), in the sense that there are multiple conflicting dimensions in this case. He especially pointed to the fact that Jewish history in Germany has played an important role in passing this decision. This brings us to the discussions on circumcision law in Ethics Council Meetings in 2012. Although it seemed like Ethics Council wanted to pass the circumcision law as a sign of benevolence to Jewish existence in Germany, the Jewish member of the Council, Leo Latasch argued against such an exemption. When formulated as a benevolence towards Jews, the regulation can be interpreted as a sign of Christian objectification of Judaism, rather than a statement of empowerment. Such a sign of benevolence is problematic in the eyes of Latasch because it does not respect Jews as equal citizens under the freedom of religion, but as an exception. While accepting the legal battle that Jews fought against the German state authorities, Muslim organizations were holding a political background, albeit at the political rather than the legal ground: »We were not directly involved in the legal battle, but we took good advantage of democracy to raise our voice and to reject the decision. Also Jews were very active in this. I heard the rabbi by myself saying that we (Muslims and Jews) will fight the decision till we annul it. As IZDB, our argument was that this is a personal freedom. We expressed this opinion when we participated in dialogues and conferences that were held to discuss how to deal with the decision and to confront it.«6 In fact, as I have shown in my previous work on the relationships between Jews and Turks in Germany (2006), throughout 1980s and 1990s Turkish immigrant political leaders refer to the Jewish history in Germany in order to be able to make political and legal claims to the German state authorities. Specifically, in the German context, Turks, as the numerically largest and most recent immigrant group

6

Interview with Hassan Rizk Atallah; Chair, Interkulturelles Zentrum Für Dialog und Bildung e.V. (IZDB) 3 Nov. 2015. The interviewer was Ahmed Sukker.

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in Germany, have approached the small Jewish minority in Germany for strengthening their claim for religious recognition of their practices.

4.

Conclusion: »Turning the Gaze Back on Itself«

Both Jewish and Muslim groups use Jewish history in Germany in their own ways to frame their claims for religious practice. What binds the headscarf case and the circumcision case together is how minorities frame issues in such ways to use the discourses of the majority society to reach their goals. In the first case, Betül Ulusoy uses the liberal feminist rhetoric, in the second case, Jews and Muslims make use of the Jewish history in Germany. This brings us to the famous phrase »turning the gaze back on itself« (Cossmann 1997): How minorities frame debates make a difference on how body politics in Europe are performed. They are not the Jews and Muslims of the Middle East, but they belong to Europe through their political framings and legal performativities. In my previous work on gender, immigrant integration and boundary-making, I showed that drawing borders between »us« and »them« lead to problems not only for religious minorities, but also for the whole society (Korteweg/Yurdakul 2009). As both the headscarf case of Betül Ulusoy and the male circumcision debate show these are the debates of not foreign cultures, but these are debates of Europe. Drawing on Talal Asad’s work (2003), the tension between secular and religious is not just binaries, but it is a battle on complex discursive formations and power dynamics in order to determine what is permissible with the body. In order to understand how European authorities will accommodate religious diversity in the coming decades, we need to look at how social actors of minority groups through their bodily performances and their claims challenge the existing socio-legal discursive authorities of European institutions by using European discourses. This bottom-up approach will enable us to see who belongs to Europe and what will shape European futures.

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Imamin, Migrantin, Wanderin. Weibliche Repräsentanz und Religion im transnationalen Raum Deutschland – Türkei Betül Karakoç »In der islamischen Gesellschaft gibt es ein problematisches Frauenbild. Damit sich das ändert, brauchen wir an den Universitäten und Moscheen unbedingt mehr weibliche und pädagogisch ausgebildete Theologinnen.« (Hasan Onat)1

1.

Einleitung

Die Auseinandersetzungen um DITIB-Gemeinden2 in Deutschland und um ihre Religionsbediensteten sind das Spiegelbild der männlichen Dominanz im religiösen Setting, die sich sowohl durch die männlich dominierte Diskursführung als auch durch die alleinige Berücksichtigung männlicher Imame als Autoritätsbeziehungsweise Orientierungspersonen3 im Setting Moschee kennzeichnen lässt. Seit rund zwei Dekaden werden pädagogisch und politisch relevante Fragen um

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Original: »İslam toplumunda çok problemli bir kadın algısı var. Bunun değişmesi için kesinlikle üniversitelerde ve camilerde daha fazla formasyon dersi almış kadın ilahiyatçılara ihtiyaç var«; Interview am 08.03.2018 mit Prof. Dr. Hasan Onat, Universität Ankara; übersetzt von B. K.). Prof. Dr. Hasan Onat lehrt an der theologischen Fakultät in Ankara. Die DITIB (Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) wurde 1984 als bundesweiter Dachverband mit Hauptsitz in Köln gegründet. Dem Verband gehören mittlerweile mehr als 900 Vereine an. Imam*innen in Moscheegemeinden können nicht allgemein als Autoritätspersonen beschrieben werden, da sie nicht immer und für jede Gemeindebesucher*in gleichermaßen als zu religiösen Fragen urteilsfähig gelten. Vielmehr werden sie aus der Sicht der Gemeindebesucher*innen als authentische und professionelle Lehrpersonen wahrgenommen, die einen Orientierungsrahmen für religiös relevante Fragen schaffen können. In diesem Fall sind sie als Orientierungspersonen und Ansprechpartner*innen in der Gemeinde präsent.

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Imame in Moscheegemeinden gestellt. Der gegenwärtige Status quo wird von den Verbands- und Gemeindeakteur*innen selbst, aber auch von externen Beobachter*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen kritisch hinterfragt. Der Ruf nach neuen Konzepten wird hörbarer.4 Während männliche Imame als Autoritätspersonen, als Brückenbauer bei der Integration der Gemeindebesucher*innen und als Lehrer in der Erziehung muslimischer Kinder und Jugendlicher beschrieben oder ihre Rollenzuschreibungen in diesen Handlungsfeldern hinterfragt werden, bleiben die Präsenz und das religiöse und pädagogische Handlungsfeld der Imaminnen unsichtbar. Diese Unsichtbarkeit scheint auf den ersten Blick mit dem quantitativen Ungleichgewicht und der Dominanz männlicher Imame in DITIB-Gemeinden begründet zu sein. Genau von dieser Ungleichheit ausgehend, beschreibt Onat im Interview den Bedarf an weiblichen und pädagogisch ausgebildeten Theologinnen. Über diese quantitative Ungleichheit hinaus widmet sich die Autorin in der qualitativen Feldforschung den Imaminnen in DITIB-Gemeinden und ihren Erfahrungen und Erwartungen im Kontext ihrer pädagogischen Handlungsfelder. Einerseits handelt es sich um türkische Imaminnen, die bereits in DITIB- Gemeinden in Hessen tätig sind und aus der Türkei zum Dienst entsandt wurden; andererseits werden Studentinnen des internationalen Theologiestudiums (Uluslararası İlahiyat Programı, Abk.: UİP) in der Türkei berücksichtigt, die aus Deutschland in die Türkei reisen, um dort Theologie zu studieren. Sie sind anschließend berechtigt, in DITIB-Gemeinden als Imaminnen tätig zu sein. Dahingehend wird zwischen bereits tätigen (türkischen) und angehenden (deutsch-türkischen) Imam*innen unterschieden; im Rahmen der Untersuchung werden lediglich theologisch ausgebildete Imaminnen berücksichtigt, ehrenamtlich tätige Lehrende fallen aus der Betrachtung heraus. Aufgrund der Arbeitsmigration (für die Berufstätigkeit der Imaminnen) oder Bildungsmigration (die Reise für das Theologiestudium in die Türkei) bedarf es in der qualitativen Untersuchung einer Ausweitung der Forschungsperspektive auf den transnationalen Raum Deutschland-Türkei. Anhand von themenzentrierten Interviews mit bereits tätigen Imaminnen (in Hessen) und angehenden Imaminnen (an den theologischen Fakultäten Ankara und Konya in der Türkei) sowie durch teilnehmende Beobachtungen der Bildungs- beziehungsweise Tätigkeitsorte werden diese Erfahrungen und Erwartungen rekonstruiert.

4

Dabei geht es um vielschichtige Auseinandersetzungen. Sie betreffen beispielsweise baurechtliche, die Architektur betreffende, gemeindepädagogische (didaktische und methodische Vorüberlegungen und Projekte hinsichtlich des Unterrichts in den Gemeinden), religiös-gesellschaftliche (die Finanzierung, die Deutungshoheit und der Vertretungsanspruch der Gemeinden) oder eben politische Aspekte (sicherheitspolitische, beispielsweise zur Rolle der Moscheegemeinden in der Deradikalisierungs- oder Präventionsarbeit in der islamistischen Radikalisierung muslimischer Kinder und Jugendlicher).

Imamin, Migrantin, Wanderin

Im gesamten Forschungskontext werden relevante Aspekte mit Blick auf Migration, Religion, Gender und Bildung deutlich, die in den Interviews angesprochen wurden oder in teilnehmenden Beobachtungen zur Geltung kamen:

Abbildung 1: Thematische Überlappungen

Gender

Religion

Bildung

Migration

Imaminnen beschreiben, wie sich ihre Migrationserfahrungen auf ihr pädagogisches Handlungsfeld auswirken und inwiefern diese Prozesse zu einer inneren Wanderung (im Sinne einer Veränderung im religiösen Selbstverständnis) führen. Innerhalb dieser Prozesse finden gendersensible Aspekte ihren Platz. Dabei geht es beispielsweise um die Beurteilung der Geschlechterverhältnisse innerhalb ihrer pädagogischen und religiösen Handlungsfelder im Setting der DITIB-Gemeinden oder in ihren Ausbildungsorten. Der Versuch, die Ergebnisse mit Blick auf die Aspekte Migration, Gender, Religion und Bildung getrennt festzuhalten, zeigt umso stärker die Notwendigkeit einer Betrachtung dieser Aspekte in ihren Wechselwirkungen und Verflechtungen, was sich durch den intersektionalen Ansatz verwirklichen lässt. Denn die Intersektionalitätstheorie (Lutz/Amelina 2017) geht von einer Verwobenheit (intersections) sozialer Kategorien (beispielsweise Bildung, Geschlecht, Subjektivierungsprozesse oder Ethnizität) aus und betrachtet diese in ihren Wechselwirkungen (Walgenbach 2014, S. 54 f.). Ausgehend davon wird in diesem Werkstattbericht zunächst ein kurzer Überblick dazu gegeben, wie viele Frauen in der Ausbildungsphase der Imaminnen und in den Gemeinden vorhanden und wie sie repräsentiert sind (Abschnitt 2). Anschließend werden anhand ausgewählter Interviewsequenzen und teilnehmender

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Beobachtungen Einblicke in die Migrationserfahrungen der Imaminnen im transnationalen Raum Deutschland–Türkei und zu den Auswirkungen dieser Erfahrungen auf das religiöse Selbstverständnis im Sinne einer inneren Wanderung gegeben (Abschnitt 3). Im weiteren Verlauf wird anhand von Beispielen aufgezeigt, wie gendersensible Aspekte mit Blick auf die Tätigkeitsfelder der Imaminnen beurteilt werden (Abschnitt 4). Zuletzt folgen ein zusammenfassender Rückblick und ein Zwischenfazit zu den ersten Ergebnissen (Abschnitt 5). Da die Verwendung des Begriffs Imamin innerhalb der muslimischen Gesellschaft Irritationen hervorruft, wird zunächst eine kurze begriffliche Einordnung vorgenommen.

2.

Imamin – zur begrifflichen Problematik

Das Wort Imām ist ein arabischer Begriff und kann als Führungsperson, Verwalter, aber auch Staatspräsident übersetzt werden (Aslan 2012, S. 5). Ebenso wird es als Vorbild (Behr 2014, S. 79) oder als Gebieter in religiösen Angelegenheiten (Ceylan 2011, S. 32) übersetzt. Mit Gebieter sind hier Dinge wie die gemeindepädagogische Begleitung und Beratung, die Seelsorge oder die Pflege des religiösen Kultes gemeint (zum Beispiel die Leitung des Gebets). Die Bezeichnung Imamin – in der weiblichen Form – löst innerhalb der muslimischen Gesellschaft immer wieder Irritationen und sogar Ablehnung aus, da mit dem Begriff Imam primär das Amt der Leitung des gemeinschaftlichen Gebets (Vorbeter) verstanden wird. Nach traditionell islamischer Auffassung kann dieses Amt nur von einem Mann bekleidet werden. In einer Gruppe betender Frauen kann auch eine Frau das Gebet leiten, mit der Ausnahme, dass sie in der hanafitischen5 Tradition mit den anderen Frauen zusammen und nicht, wie bei den Männern üblich, als Einzige vorne steht. Auch wenn diese Grundauffassung durch eine Mehrheit von Muslim*innen und Gelehrt*innen vertreten wird (Mohagheghi 2011), gehen die Meinungen diesbezüglich auseinander. Imamin meint zunächst die religionsbeauftragte Frau, die Lehrerin, die Predigerin und die theologisch ausgebildete und fachlich virtuose Frau, die unter anderem in Gemeinden tätig ist und den Gemeindebesucherinnen die religiöse Unterweisung in Form von Koran- und Religionsunterricht, Predigten oder Gesprächsrunden gibt. Im türkischen Raum gibt es auch die Bezeichnung hoca; sie gilt ebenfalls für männliche Religionsbeauftragte und Experten. In Moscheegemeinden sind die Begriffe Imām (die türkische Sprache unterscheidet in ihrer

5

Die hanafitische, hanbalitische, malikitische und schafiitische Schule zählen zu den anerkannten vier großen sunnitischen Rechtsschulen des Islams.

Imamin, Migrantin, Wanderin

Sprachgrammatik nicht die Weiblichkeits- und Männlichkeitsform) oder Imāma (die weibliche Entsprechung in der arabischen Sprache) für weibliche Religionsgelehrte nicht üblich. Bei etymologischer Untersuchung des Begriffs wird deutlich, dass die ursprüngliche Bedeutung des Wortes über die bloße Vorbeterfunktion hinausgeht. Der Begriff wird etwa in Anlehnung an einschlägige Koransuren ebenfalls mit Vorbild oder Vorsteher übersetzt, zum Beispiel: »Und wir machten welche von ihnen zu Vorbildern, die (ihre Gefolgschaft) nach unserem Befehl leiteten, nachdem sie sich geduldig erwiesen hatten und von unseren Zeichen überzeugt waren« (32:24).6 »Und (damals) als Abraham von seinem Herrn mit Worten auf die Probe gestellt wurde! Und er erfüllte sie. Er sagte: Ich will dich zu einem Vorbild für die Menschen machen« (2:124).7 Hier wird nicht auf eine Ausklammerung der Vorbeterfunktion des Imams abgezielt. Vielmehr soll die Begriffsbedeutung, die sich etymologisch abgeleitet auch als Vorbild fassen lässt, in den Vordergrund gerückt werden; sie kommt in den Diskursen nicht ausreichend zum Tragen. Anders als in Ländern, in denen Muslim*innen nicht in der Minderheit leben, ist für Imame in Deutschland die Vorbeterfunktion nicht die ausschlaggebende Tätigkeit. Insbesondere in der Diaspora, in der sich Muslim*innen mit Fragen zu Wertekollisionen zwischen ihrer Religion und der Gesellschaft, in der sie leben, auseinandersetzen oder wo sie Halt und Zugehörigkeitsgefühl in den Moscheen suchen, spielen Imam*innen im Sinne von Vorbildern und Vorsteher*innen eine umso wichtigere Rolle. In diesem Kontext nehmen sie – bewusst oder unbewusst – eine Vorbildrolle ein, die sie sich selbst zuschreiben (Selbstzuschreibung) oder die ihnen innerhalb oder außerhalb der Gemeinde zugeschrieben wird (Fremdzuschreibung). Aus dieser Perspektive wird zunächst der Begriff Imamin für diese theologisch ausgebildeten Frauen und Lehrenden in Moscheegemeinden genutzt.

3.

Kurze quantitative Skizzierung der Präsenz von Theologinnen an Fakultäten, im Religionspräsidium und in DITIB-Gemeinden

In der Regel erhalten Imam*innen in DITIB-Gemeinden ihre theologische Qualifikation an theologischen Fakultäten in der Türkei oder an sogenannten Imam-

6 7

Übersetzung nach Paret (2001). Bobzin (2010) übersetzt »Imam« in diesem Vers mit Leitbild, Henning (1999) mit Vorsteher und Vorbeter, Khoury (2007) mit Vorbild.

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Hatip-Gymnasien (oder Imam- und Prediger-Schulen, İmam Hatip Lisesi)8 . Dabei spielt das Präsidium für religiöse Angelegenheiten Diyanet (Diyanet İşler Başkanlığı, im weiteren Verlauf kurz Diyanet oder auch DİB) eine wichtige Rolle. Die Diyanet stellt in der Türkei die staatlich kontrollierte religiöse Autorität dar und ist für die Entsendung der Imame und Theologinnen aus der Türkei in die DITIBGemeinden in Deutschland zuständig.9 Somit werden für die Betrachtung der Geschlechterrepräsentanz in den Gemeinden außerdem die Bereiche der Universität als Qualifikationsort und die Diyanet als Religionspräsidium und letztlich als Arbeitgeber eröffnet.

3.1

Theologische Fakultäten

Die theologischen Fakultäten in der Türkei zeigen seit den 1990er-Jahren eine Veränderung hinsichtlich der Repräsentanz von Studentinnen, die sich heute an manchen Fakultäten in einem Anteil von ca. 70 Prozent unter der Studentenschaft niederschlägt.10 Der Wandel von einer früheren Absenz der heutigen hohen Anzahl von Frauen in den theologischen Fakultäten der Türkei geht auf unterschiedliche historische und politische Ereignisse zurück. Als ausschlaggebender Grund für diese starke Veränderung in der Geschlechterrepräsentanz wird unter anderem die aus dem Militärputsch vom 28. Februar 1997 (28 Şubat süreci) resultierende Bildungsreform genannt (Kaya 2016).Mit der Bildungsreform wurden die Imam- und Prediger-Schulen zu vierjährigen Berufsschulen umgewandelt, sodass die Mittelstufen dieser Schulen geschlossen wurden. Schüler*innen erhielten die Möglichkeit, nach der Mittelstufe auf die Imam-Hatip-Oberstufen beziehungsweise Berufsschulen zu wechseln. Aufgrund der später eingeführten, neuen Bemessungsgrundlage (katsayı uygulaması) für Berufsschulabsolvent*innen – zu denen eben auch Absolvent*innen der Imam- und Prediger-Schulen gehörten – wurde die Wahl anderer Studienfächer erschwert. Die Studienwahl jenseits des Theologiestudiums wurde für sie weitestgehend unmöglich. Forscher*innen vermuten, dass diese Reform und die jahre-

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Imam-Hatip-Gymnasien sind religiöse Schulen, die ursprünglich zur Ausbildung zum Imam oder Prediger gedacht waren. Die Diyanet unterscheidet in seiner Entsendung der Imame und religionsbeauftragten Frauen eine Amtszeit von drei Monaten, einem Jahr, zwei Jahren und vier Jahren. Je nach Amtsdauer im Ausland werden sie als Religionsbeauftragte für kurze (kısa süreli) und lange Zeit (tuzun süreli) eingeordnet. Für die Entsendung gelten bestimmte Voraussetzungen, die durch unterschiedliche Tests erhoben werden. Original: »Bunlardan bir tanesi, 1990'li yıllardan itibaren ilahiyat fakültesi öğrencilerinin cinsiyet oranlarında meydana gelen değişimdir. Günümüzde bazı ilahiyat fakültelerinde %70'lere yükselen kız öğrenci oranları, uzun vadede ilahiyat mezunlarının istihdam alanlarını da etkileyeceğe benzemektedir«; übersetzt von B. K. (Furat 2012, S. 176).

Imamin, Migrantin, Wanderin

langen politischen Auseinandersetzungen um die religiösen Schulen die Skepsis der Eltern mit Blick auf die Zukunftsperspektiven ihrer Kinder befördert und folglich zu einer rasanten Abnahme der Zahlen geführt haben. Auf die statistischen Entwicklungen von der Zeit dieser Reformen bis in die erste Dekade des 21. Jhs. blickend, ist ein stärkerer Zerfall der Schülerzahlen (im Gegensatz zur Schülerinnenzahl) zu beobachten (Furat 2012, S. 182). Die Begründungen beruhen hier nicht auf konkreten empirischen Befunden, lassen sich aber aus den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten heraus ableiten (etwa aus der Skepsis gegenüber der damals vorherrschenden Politik) und auf religiöse Selbstverständnisse (wie beispielsweise auf den nach Geschlechtern getrennten Unterricht als bevorzugtes Modell konservativer Eltern) zurückführen (Kaya 2016, S. 279). Die junge Islamische Theologie in Deutschland11 ermöglicht noch keinen historischen Langzeitvergleich in dieser Form, doch die überwiegend weibliche Präsenz innerhalb der Islamischen Theologie, der Islamischen Studien oder der Islamwissenschaften spiegelt sich auch in Deutschland wider (Uçar 2014). Das Statistische Bundesamt registrierte für das Wintersemester 2017/2018 eine prozentuale Aufteilung von ca. 65 Prozent Studentinnen und ca. 35 Prozent Studenten in den Fachbereichen Islamische Studien und Islamwissenschaften (Statistisches Bundesamt 2019). Während unter der Studentenschaft sowohl in der Türkei als auch in Deutschland eine breite Repräsentanz von Studentinnen festgehalten werden kann, sind Theologinnen auf der Ebene der Forschung und Lehre an den Universitäten im transnationalen Raum unterrepräsentiert. Denn einer Studie zufolge bewegte sich die Anzahl der Frauen an den theologischen Fakultäten der Türkei in den Jahren zwischen 2000 bis 2011 zwischen 3,4 und 5,7 Prozent (Furat 2012, S. 188). Auch in Deutschland sind 25 Prozent der Lehrstühle in der Islamischen Theologie und jeweils 35 Prozent der Postdoc-Stellen und der Promovierendenstellen von Frauen besetzt (Engelhardt 2017a, S. 102). Mit Blick auf die hohe Anzahl der Theologiestudentinnen ist also die niedrige Zahl der Theologinnen an den Fakultäten auffällig. Dieser Zustand bestätigt erneut die antiproportional verlaufende Geschlechterrepräsentation: Je höher die Karrierestufe beziehungsweise die Führungsebene, umso weniger Frauen sind dort vorhanden (von Wurmb 2002; Kaup 2015).Mit Blick auf Religion und ihre institutionelle Rahmung spiegelt sich dieses Grundphänomen auch im Religionspräsidium (DİB) der Türkei wieder.

11

Das 2002 gegründete Interdisziplinäre Zentrum für Islamische Religionslehre (IZIR) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gilt als eine der Vorläuferinstitutionen für die späteren Standorte Islamischer Theologie; derzeit ist Islamische Theologie an fünf Universitäten vertreten (Engelhardt 2017b).

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3.2

Religionspräsidium

Das DİB gibt in seiner selbst veröffentlichten Statistik 109.332 Beschäftigte für das Jahr 2017 an (Diyanet İşleri Başkanlığı 2017). Da hierbei nicht nach der Verteilung der Geschlechter differenziert wird, kann keine eindeutige Anzahl weiblicher Bediensteter genannt werden. Forschungen aus dem Jahre 2007 zeigen aber, dass unter 84.195 Bediensteten 3.710 weibliche Bedienstete beschäftigt waren (Gözaydın 2016, S. 107). Die Anzahl weiblicher Bediensteter entspricht ca. 4,4 Prozent der Gesamtzahl. Weitere Studien zeigen, dass in den Jahren von 2005 bis 2010 der Anteil weiblicher Angestellter im Religionspräsidium zwischen 3,7 und 4,4 Prozent lag (Furat 2012, S. 185). Zwar wird eine leichte positive Entwicklung der Repräsentanz innerhalb des DİB beobachtet; dennoch sind geschlechtsspezifische Hürden innerislamischer oder gesellschaftspolitischer Natur vorhanden (Yaşar 2013, S. 84), die eine breitere Präsenz der Frauen in diesem Bereich erschweren. Das DİB verfolgt laut seines Präsidenten Ali Erbaş (Presseerklärung; Diyanet TV 2018) das Interesse, zukünftig in allen Bezirken Mufti-Vertreterinnen12 einzustellen und weitere Posten13 an Frauen zu vergeben. Dieses Interesse scheint auf den ersten Blick eine positive Entwicklung bezogen auf die weibliche Repräsentanz zu sein. Doch bei genauerem Hinsehen wird eine Grundproblematik deutlich: Theologinnen als Vertreterinnen und nicht als Stelleninhaberinnen auf die Mufti-Stellen abzuordnen, ist ein Beispiel für den oben beschriebenen, innerislamischen und gesellschaftspolitischen Dissens. Die Barrieren und Hürden in Bezug auf Frauen in pädagogischen und insbesondere religiösen Führungspositionen spiegeln sich auch hier wider. Jedoch zeigt sich mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse im Präsidium mit der ersten weiblichen Vizechefin Huriye Marti14 eine leichte Verschiebung der Diskurse.15 Das Präsidium hat dadurch erstmals seit seiner Entstehung eine Theologin als Vizepräsidentin und damit eine Frau in den Vorstand berufen. Offen bleibt, ob es sich dabei um eine längerfristige strukturelle Entwicklung handelt, die auf ein paritätisches Verhältnis zwischen den Geschlechtern abzielt. Die Entwicklungen

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Muftis (islamische Rechtsgelehrte) werden in der Türkei über das Präsidium in Bezirke und Städte abgeordnet. Sie sind für die religiösen Angelegenheiten ihrer Bezirke und der dort lebenden Muslim*innen zuständig und haben somit das Recht, islamische Rechtsgutachten (fetva) zu verfassen. Das DİB unterscheidet in den Berufungen zwischen den Tätigkeitsbereichen des Vorbeters (imam), des Muftis (müftü), der Prediger*in (vaiz/vaize), der Redner*in (hatip) und der KoranLehrer*in (Kuran-Kursu Öğreticisi). Sie war zuvor Professorin an der theologischen Fakultät der Necmettin Erbakan Universität in Konya. Deutlich wird insbesondere seit ihrem Amtsantritt das öffentliche Plädoyer für die Präsenz und das Engagement türkisch-muslimischer Frauen in Moscheen. Sie unterstreicht, dass Moscheen keine reinen Männerhäuser seien.

Imamin, Migrantin, Wanderin

der Zahlen der entsendeten Imaminnen in DITIB-Gemeinden scheinen davon zunächst noch weit entfernt.

3.3

Imaminnen in DITIB-Gemeinden

Der Wunsch muslimischer Frauen in Deutschland, von weiblichen Religionsbediensteten unterrichtet zu werden, löste bereits 1999 die Entsendung weiblicher Religionsbediensteter aus (Demir 2011, S. 36).Während die Anzahl der weiblichen Religionsbediensteten im Jahre 2006 nur 13 betrug, stieg ihre Anzahl im Jahre 2012 auf 50 (Gorzewski 2015, S. 305 f.). Bis heute wurden 715 religionsbeauftragte Frauen (für kurze oder längere Amtszeit) in Deutschland beschäftigt. Auf Anfrage gab das DİB zudem an, dass aktuell die Anzahl der in Deutschland tätigen weiblichen Religionsbediensteten 126 betrage.16 Die Anzahl theologisch ausgebildeter Frauen bleibt somit in DITIB-Gemeinden in Deutschland noch unterhalb der Signifikanzschwelle. Die meisten Moscheegemeinden in Deutschland sind Migrant*innenselbstorganisationen. Anders als Moscheen in Ländern, in denen Muslim*innen in der Mehrheit leben, sind Moscheegemeinden in Deutschland kulturelle und soziale Treffpunkte. Für die erste und zweite Einwanderer*innengeneration (mit Blick auf die Gastarbeiter*innenmigration) bieten diese Orte kulturelle Rückbindung und emotionalen Halt. Für die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Muslim*innen können aufgrund der Erfahrungen, der Sozialisation und des möglicherweise unterschiedlichen Maßes an gesellschaftlicher Verbundenheit (im Gegensatz zur Einwanderer*innengeneration) Verschiebungen in der Wahrnehmung und in den Erwartungen an Moscheen entstehen. Doch eines bleibt unverändert: Bis heute sind Imam*innen Führungspersonen im Spannungsfeld der Moschee als pädagogischem, kulturellem und religiösem Lernort in der Diaspora. In einer Gesellschaft, in der Muslim*innen emotionalen Halt suchen und das Bedürfnis nach spiritueller Verortung und religiöser Beheimatung haben, fungieren Imam*innen als Seelsorger*innen, Pädagog*innen, Wegweiser*innen und Psycholog*innen. In diesem Kontext scheint ein Defizit in Bezug auf die Handlungsfelder der Imam*innen aus der Türkei zu bestehen, das auf die Unkenntnis und die mangelnde Erfahrung mit der hiesigen Kultur und Gesellschaft zurückgeführt wird. Die lange Eingewöhnungsphase nach der Einreise erschwert dabei die Aufbereitung.17 Mit Blick auf dieses Desiderat bilden angehende Imam*innen aus dem internationalen Theologieprogramm ein neues Potenzial für DITIB-Gemeinden in

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Stand: März 2018. Die durch das DİB in die DITIB-Gemeinden entsandten Imam*innen werden entweder für eine kürzere Dienstzeit (mindestens einige Monate bis maximal zwei Jahre) oder eine längere Dienstzeit von vier Jahren entsandt.

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Deutschland. Durch die Etablierung des Internationalen Theologieprogramms (Uluslararası İlahiyat Programı, kurz: UİP) versuchte die DİTİB in Kooperation mit dem türkischen Religionspräsidium Diyanet der an sie gerichteten Kritik entgegenzuwirken und gemeindeinterne Defizite18 abzubauen. Das Programm ermöglicht seit 2006 Abiturabsolvent*innen aus unterschiedlichen Ländern das fünfjährige Theologiestudium (ein Vorbereitungsjahr und vier Jahre Grundstudium) an den Theologischen Fakultäten Ankara, Istanbul, Konya und Bursa in der Türkei. Bislang haben 477 Frauen und Männer das Studium absolviert (Diyanet İsleri Başkanlığı 2018). Der Abschluss befähigt sie dazu, in ihren ursprünglichen Ländern, in denen sie sozialisiert und aufgewachsen sind (in unserem Kontext Deutschland), in DITIB-Gemeinden als Imam*innen tätig zu sein. Diese neue Alternative kann aufgrund des Potenzials, das deutsch-türkische Imaminnen mitbringen, positive Wirkungen auf das Handlungsfeld der DITIB innerhalb und außerhalb ihrer Moscheegemeinden zeitigen. In Anbetracht der Erziehung muslimischer Kinder gewinnt die im ersten Teil des Beitrags angeführte Begriffsdefinition Imam als Vorbild eine besondere Bedeutung, da Imam*innen aufgrund ihrer Sozialisation in Deutschland mit diesem Konzept und mit den von Muslim*innen empfundenen Wertekollisionen vertraut sind. Sie können dadurch Vorbilder im wahrsten Sinne des Wortes sein – insbesondere für junge Muslim*innen. Aus diesem Grund werden Studierende des internationalen Theologiestudiums als angehende Imam*innen in der qualitativen Untersuchung mitberücksichtigt. In der Defizitbeschreibung, die in der bisherigen Forschungsliteratur stattgefunden hat (Ceylan 2008; Aslan 2012; Asil Tunca 2012; Beinhauer-Köhler 2009), wird – der Verdeutlichung halber systemtheoretisch ausgedrückt – die Makro- und Mesoebene des Gegenstandes berücksichtigt. DITIB-Gemeinden und ihre von außen beobachtbaren Strukturen zeigen nur eine Seite der Medaille hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse und -strukturen. Diese Ebenen geben jedoch keine Auskunft über die Erfahrungen der Akteur*innen selbst oder über die Bewertungen ihrer Handlungsfelder und ermöglichen keine Einblicke in die Spannungsfelder in diesem Setting. Aus dieser Perspektive beabsichtigt die Betrachtung der Interviewsequenzen mit tätigen und angehenden Imaminnen im weiteren Verlauf, eine mikroperspektivische Sichtweise auf das Themenfeld und eine Erweiterung des Fokus mit Blick auf Gender und Migration zu liefern.

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Hier geht es unter anderem um sprachliche Barrieren der Imam*innen, ihre lange Orientierungsphase nach der Einreise und die mangelnde Kenntnis hinsichtlich der gesellschaftlichen und sozialen Probleme der muslimischen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland.

Imamin, Migrantin, Wanderin

4.

Innere Wanderung und äußere Migration

Migration im wortwörtlichen Sinne (lat. migrare für wandern) verbindet als Gemeinsamkeit alle theologisch ausgebildeten Imam*innen in den deutschen DITIBGemeinden. Sie bewegen sich im transnationalen Raum Deutschland–Türkei für ihre Berufstätigkeit in Deutschland oder ihre theologische Ausbildung an den Fakultäten in der Türkei. Die folgende Abbildung verdeutlicht den Migrationsverlauf der angehenden und bereits tätigen Imam*innen im Sample:

Abbildung 2: Transnationale Migrationsverläufe türkischer Imaminnen

Deutschland

Deutschland

Türkei

Türkei

Bereits tätige Imam*innen werden üblicherweise vonseiten des Religionspräsidiums aus der Türkei in die DITIB-Gemeinden nach Deutschland entsandt. Daher verläuft ihre Migration von der Türkei aus für die Tätigkeit als Imam*in in die Gemeinde nach Deutschland und anschließend (nach Ablauf des vorgesehenen Zeitvertrags) wieder zurück in ihr Herkunftsland Türkei. Die Migration angehender deutsch-türkischer Imam*innen des internationalen Theologiestudiums verläuft in diesem Forschungssample von ihrem Geburts- und Sozialisationsland Deutschland aus für das Theologiestudium in Richtung der Türkei. Nach dem Aufenthalt dort kehren sie in der Regel nach Deutschland zurück und sind (theoretisch) zum Dienst in DITIB-Gemeinden berechtigt und qualifiziert. Migrationsforscher*innen klassifizieren diese Art von Wanderungen als Arbeits- (bei bereits tätigen Imam*innen) beziehungsweise Bildungsmigration (im Falle angehender Imam*innen). Während diese ›äußere Migration‹ das primär physische Wanderungsereignis – im Sinne einer körperlichen Bewegung im transnationalen Raum Deutschland–Türkei – beschreibt, meint ›innere Wanderung‹ einen spirituellen und religiösen Veränderungsprozess. Diese inneren mentalen und emotionalen Bewegungen können sich in den religiösen Selbstverständnissen oder in den religiösen Praxen widerspiegeln. Die Interviewpartner*innen beschreiben innere Wanderungsprozesse, die durch ihre jeweilige Migrationserfahrung im

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transnationalen Raum Deutschland–Türkei entstanden sind. Inwiefern innerhalb dieser Prozesse das Geschlecht der Interviewpartner*innen eine Rolle spielt, wird im Laufe des Beitrags anhand bestimmter Interviewsequenzen dargestellt. Letzteres gewinnt insofern an Bedeutung, da Bildungs- und Arbeitsmigration lange Zeit als männliche Phänomene galten (Hahn 2012, S. 90). Mit Blick auf die angehenden Imam*innen kann festgehalten werden, dass sie für ihren Bildungsaufenthalt in kein für sie fremdes Land migrieren, da durch die türkische Migrationserfahrung beziehungsweise den Migrationshintergrund ihrer Eltern oder Großeltern eine Verbindung zur Türkei auf unterschiedliche Art und Weise besteht. Im Vergleich dazu migrieren türkische Imam*innen nach Deutschland – in eine für sie bislang fremde Gesellschaft. Doch angehende Imam*innen bringen alle bestimmte Vorerfahrungen hinsichtlich der türkischen Kultur und Gesellschaft durch ihr türkisches Umfeld in Deutschland, die türkische Moscheegemeinde, die sie besuchen, oder ihre Verwandtschaft in der Türkei mit. Die sprachliche und kulturelle Vertrautheit wurde insbesondere in den Interviews deutlich, in denen einige Theologiestudent*innen zu Beginn den Wunsch äußerten, das Interview vorzugsweise auf Türkisch zu führen – dies, obwohl alle Interviewpartner*innen im Sample angehender Imam*innen in Deutschland geboren sind und bis zum Studium in Deutschland gelebt haben. Dennoch wechselten einige im Laufe des Interviewgesprächs die Sprache und bevorzugten an bestimmten Stellen die jeweils andere Sprache. Sprachwissenschaftler*innen beschreiben Sprachalternationen (das Mischen von Sprachen) als Merkmal der Mehrsprachigkeit (Hacısalihoğlu 2009, S. 91). Über die sprachlichen Präferenzen (während der Interviews) hinaus konnte im Rahmen der Feldforschung an den Theologischen Fakultäten in Ankara und Konya beobachtet werden, dass die deutsch-türkischen Theologiestudent*innen vorzugsweise unter sich blieben, obwohl sie die universitären Veranstaltungen gemeinsam mit den türkischen Student*innen besuchten. Sie sprachen über »Yerlis« (gemeint ist das türkische Wort yerli – in der Pluralform yerliler, das ins Deutsche übersetzt Einheimische bedeutet), wenn sie über ihre heimischen türkischen Kommiliton*innen sprachen. Sie grenzten sich im universitären Kontext durch ihre Eigenzuschreibung von ihnen ab, indem sie sich »UİPs«19 nannten. Interessant ist bei beiden ursprünglich türkischen Begriffen die Verwendung des s-Plurals, die in der deutschen Sprachgrammatik üblich ist. Die Mischung des türkischen Begriffs mit dem deutschem s-Plural zeigt bei näherem Hinsehen eine Identitätskonstruktion, die auf keine bestimmte Ethnie beschränkt zu sein scheint. In Gesprächen außerhalb der Fakultät wurde jeweils kontextabhängig die Selbstpositionierung beziehungsweise -zuschreibung als »deutsch« oder »tür19

UİPs als Abkürzung für Uluslararasi İlahiyat Programi (für das internationale Theologiestudium) meint hier die Student*innen dieses Studiums.

Imamin, Migrantin, Wanderin

kisch« deutlich. Formuliert wurden Narrative wie »das ist typisch türkisch« (abwertend, negativ) oder »das verstehen die Deutschen nicht« (ebenfalls negativ), die diese Positionierungen kennzeichnen. Das bedeutet, dass je nach Kontext eine Distanz zu einer bestimmten Zugehörigkeit aufgebaut wird, die in anderen Situationen sofort wieder eingenommen werden kann. Interessanterweise kristallisierte sich heraus, dass solche Positionierungen und Selbstverortungen der Interviewpartner*innen an Situationen der Unzufriedenheit gekoppelt sind: Die Handhabung bürokratischer Angelegenheiten vonseiten bestimmter türkischer Behörden, das Nichtbeachten von Verkehrsregeln durch andere Autofahrer*innen oder die universitären Organisationsstrukturen wurden kritisch bewertet – zugleich dienten für diese Bewertung die von ihnen beschriebenen »deutschen Standards« als Vergleichsebene. So schilderte beispielsweise ein Student des internationalen Theologiestudiums in Bezug auf das Autofahren in der Stadt Ankara: »Ich hasse es, wenn die Türken Auto fahren. Um hier Auto fahren zu können, darfst du die Verkehrsregeln nicht beachten. Sonst baust du einen Unfall. Ich bin in der Türkei wegen diesem Verkehr zu einem Flucher geworden. Wir haben in Deutschland zumindest ein Verständnis von Regeln. Allein deswegen will ich zurück.« Die Bezeichnungen »die Türken« oder »wir in Deutschland« verstärken die situationsbedingte Selbstpositionierung. Sie wird als Differenzkategorie konzipiert und eröffnet. Während dieser Student solche Alltagsabläufe oder andere strukturelle Verläufe kritisiert und sich dabei seiner deutschen Zugehörigkeit und den Erfahrungen in Deutschland bedient, kommentiert er wenige Minuten später die politischen Auseinandersetzungen und die Berichterstattungen zu Muslim*innen in Deutschland folgendermaßen: »[…] und dann kommt die deutsche Presse und schreibt über Muslime so. […] Das verstehen die Deutschen nicht.« Während innerhalb des Gesprächs im türkischen Kontext die Differenzkategorie türkisch- deutsch angelegt wurde, opponierte der Student im deutschen Kontext die Kategorien muslimisch und deutsch. Im türkischen Kontext ordnete er sich der Kategorie deutsch zu – im deutschen Kontext schien er sich davon zu distanzieren. Sowohl die oben angeführten sprachlichen Mischungen (»Yerlis« und »UİPs«) als auch die Möglichkeit, in kürzester Zeit und in unterschiedlichen Kontexten zwischen verschiedenen Kategorien zu wechseln, exemplifizieren die möglichen vielfältigen Verortungen der Akteur*innen. Diese »multiplen kontextspezifischen Selbstverortungen« werden als Merkmal hybrider Identitäten bezeichnet (Fürstenau/Niedrig 2007, S. 248). Denn überall

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»[…] entstehen kulturelle Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben, die zur gleichen Zeit auf verschiedene kulturelle Traditionen zurückgreifen und die das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen sind, die in wachsendem Maße in einer globalisierten Welt üblich werden […]« (Hall 1994, S. 218). Nicht zuletzt werden diese komplizierten Kreuzungen und kulturellen Verbindungen, wie sie Stuart Hall nennt, durch die Wechselwirkung des Geschlechts und der Migrationserfahrungen der Imaminnen beeinflusst. Tätige Imaminnen deuten in den Gesprächen darauf hin, dass ihre Migration nach Deutschland nur dadurch möglich geworden sei, weil sie ledig beziehungsweise alleinlebend seien. Im Sample der Imaminnen ist der Anteil der ledigen und alleinlebenden Frauen hoch (ca. 80 Prozent). Jedoch wird aus der Forschungsliteratur (Beilschmidt 2015, S. 258) erkennbar, dass in bestimmten Fällen Ehefrauen von Imamen den Koran-Kurs in Moscheegemeinden leiten. Es wird daher vermutet, dass die Anzahl der ledigen Imame in Deutschland im Gegensatz zu der Anzahl der ledigen Imaminnen niedrig ist. Im Rahmen der Feldforschung und der Gespräche im Religionspräsidium wurde deutlich, dass es für das Präsidium der strukturellen, finanziellen und organisatorischen Einfachheit halber naheliegend ist, verheiratete Imame mit ihren Ehefrauen gemeinsam in die Moscheegemeinden im Ausland zu entsenden, da die Gemeinden dadurch ihren Bedarf an weiblichen und männlichen Religionsbediensteten gleichzeitig decken können. Nach wie vor sind theologisch ausgebildete Imaminnen in DITIB-Gemeinden stark unterrepräsentiert. Das ist ein Hinweis auf die geschlechterspezifische Ungleichheit innerhalb des Entsendungsverfahrens, für das das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten verantwortlich zeichnet. Dem könnte mit dem Verweis auf die Tatsache entgegengehalten werden, dass Imam*innen in der Türkei zur Entsendung als Religionsbedienstete in die Gemeinden eigenständig am Bewerbungsverfahren teilnehmen müssen, wodurch eine Bereitschaft der Frauen für den Dienst vorausgesetzt wird. Doch bei genauerem Hinsehen wird auch an dieser Stelle sichtbar, dass das Präsidium in diesem Setting die männliche Dominanz beibehalten möchte: In der Broschüre des internationalen Theologiestudiums wird erwähnt, dass das Präsidium männliche Bewerber bevorzugt berücksichtigen wird. Begründet wird dies mit dem Bedarf (gemeint sind die Handlungsfelder der Imame wie die Leitung der Moschee oder des Gebets als primär für den Imam und nicht für die Imamin bestimmte Aufgabe) der Gemeinden. Das bedeutet, dass in dem Prozess der Entsendung unterschiedliche Aspekte wie Geschlecht und religiöses Selbstverständnis die Arbeitsmigration der Imaminnen direkt oder indirekt beeinflussen. So kann festgehalten werden, dass das Präsidium a priori, und zwar anhand geschlechterspezifischer Auswahlkriterien (mit religiösen Begründungsmustern), eine Entsendung verhindert, die auf eine Gleichheit der Geschlechterrepräsentanz

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zielt. Während das Präsidium in diesem Kontext für Imaminnen zum Teil als Türschließer agiert, fungiert es unbewusst als Türöffner im Falle der Bildungsmigration angehender Imaminnen. Denn interessanterweise lässt sich im Sample angehender Imaminnen das Vertrauen der Studentinnen und ihrer Eltern in das Religionspräsidium als einer der Push-Faktoren für die Bildungsreise in die Türkei feststellen, sodass die Bildungsreise überhaupt erst zustande kommt.20 Das Vertrauen wird unter anderem durch die Empfehlung des internationalen Theologiestudiums durch die Imam*innen in den Gemeinden verstärkt, denn ein Großteil der befragten Student*innen innerhalb des Samples in der Türkei nennt diese Aspekte als (für sie) geltende ausschlaggebende Push-Faktoren für die Bildungsreise. Der bislang beschriebene ›äußere‹ Migrationsprozess löst bei näherem Blick innere Veränderungsprozesse aus. Die angehenden deutsch-türkischen Imaminnen als auch die bereits tätigen türkischen Imaminnen21 durchleben im transnationalen Raum sowohl eine physische Migration als auch eine innere Wanderung im Sinne einer religiösen Veränderung. Der folgende Interviewabschnitt22 zeigt diese Wanderung bedingt durch die Migrationserfahrung einer Studentin, die für das Theologiestudium aus Deutschland in die Türkei an die Theologische Fakultät der Universität in Ankara reiste: »Am Anfang das war ein Schrecken, weil man auf bittere und wirklich ich sag mal (lacht) sehr unangenehme Weise einfach akzeptieren muss, dass das, was in den Moscheen beigebracht wurde, nicht der Islam ist. Das musste ich mal verdauen. Das war nicht einfach. Das, was in der Moschee gesagt wurde, oder das, was mir meine Eltern beigebracht haben. Und dann komme ich hierher und erfahre oh das ist ja alles Interpretation mit vielleicht politischem als auch kulturellem Hintergrund nicht explizit der Islam die Religion. Das muss man mal verdauen, das ist nicht so einfach mit 18.« Das Studium als eine Fortsetzung beziehungsweise Vertiefung des bereits im Elternhaus oder in der Gemeinde erworbenen religiösen Wissens zu sehen und mit dieser Hoffnung aufzunehmen, wird als Grundphänomen unter Theologiestudent*innen gesehen, welches sich letztendlich in einer Enttäuschung oder in einem Schock zu Beginn des Studiums widerspiegeln kann (Gleißner 1998, S. 47). 20 21 22

Dies ist für sie insofern relevant, als die Student*innen in Wohngemeinschaften des Präsidiums untergebracht werden. Der Einfachheit halber werden die Absolvent*innen des internationalen Theologiestudiums als deutsch-türkische Imam*innen beschrieben. Der Einfachheit halber werden die Interviewabschnitte vereinfacht und mit Satzzeichen wiedergegeben. Starke Betonungen im Redefluss der Interviewpartner*innen werden durch Unterstreichungen der Wörter hervorgehoben. Türkische Interviewabschnitte werden sinngemäß übersetzt wiedergegeben. Im Falle von türkischsprachigen Sequenzen befindet sich der originale Ausschnitt in der Fußnote.

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Dieses Phänomen wurde in einer Umfrage an einer Theologischen Fakultät in der Türkei ebenfalls bestätigt.23 Die kritische Herangehensweise an religiöse Quellen oder die Infragestellung von voraussetzungslos hingenommenen Wahrheiten von Seiten der Lehrenden einer theologischen Fakultät kann diese Enttäuschung vergrößern (ebd., S. 48). Mit Blick auf die Theologische Fakultät in Ankara24 wird dieses Phänomen besonders verstärkt, denn bekannt ist die sogenannte Ankaraner Schule für ihren kritischen Umgang mit religiösen Quellen (Özdil 2001, S. 95). Obgleich die Student*innen der Fakultäten Ankara und Konya die Ausrichtungen ihrer Fakultäten unterschiedlich bewerten, scheint es einen Konsens in der Beschreibung beziehungsweise Kategorisierung der Theologien zu geben: Die Ankaraner Theologie wird unter den Student*innen als kritische Theologie beschrieben und im Vergleich zu anderen theologischen Ausrichtungen der Fakultäten als solche eingestuft, während die Fakultät in Konya als Fakultät mit traditionell-konservativer Ausrichtung benannt und wahrgenommen wird. Letzteres kann auch im Zusammenhang mit der Historie und dem spirituellen Einfluss des Mystikers Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī (auch Mevlânâ genannt) auf die Stadt stehen.25 Konya ist in der Türkei als Stadt mit »konservativen« und »religiösen« Prägungen bekannt.26 Mit Blick auf Ankara als Metropole entstehen an dieser Stelle Fragen bezüglich des Zusammenhangs zwischen urbanen oder ländlich-kleinstädtischen Räumen und der jeweiligen Religiosität und religiösen Praxis. Ferner beschreibt eine deutsche Studentin an der Theologischen Fakultät Konya die Ausrichtungen der Fakultäten wie folgt: »[…] In der Regel sagt man, also in Ankara ((lachend)) die Lehrer beispielsweise oder generell in der Türkei sagen einiges über die Theologie in Konya, dass sie eine Weiterführung der religiösen Imam-Hatip-Schulen ist. Hier gibt es die Methodik, der Schwerpunkt in der Lehre wurde (in Konya) auf die Methodik gelegt,

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An der Dicle Universität (Türkei) gaben 60 Prozent der Student*innen an, enttäuscht zu sein oder nicht das vorgefunden zu haben, was sie erwartet hatten (Okumuş 2007, S. 67). Die seit 1949 bestehende Theologische Fakultät in der türkischen Hauptstadt Ankara mit aktuell ca. 60 Professor*innen und einer großen Anzahl weiterer Dozent*innen und Mitarbeiter*innen kann als erste islamisch-theologische Fakultät in der Türkei gelten. In der türkischen Geschichte wird die Fakultät Darulfünun als erste Theologische Fakultät festgehalten. Da sie aus historisch-politischen Gründen 1933 geschlossen wurde, wird die Ankara-Schule als erste Theologische Fakultät unter den heute bestehenden Fakultäten betrachtet. In einer Befragung in der Türkei geben ca. 30 Prozent der Befragten außerhalb der Stadt Konya das Grabmal Mevlânâs beziehungsweise das Mevlânâ-Kloster als wesentliches Merkmal der Stadt an. Im Rahmen derselben Studie geben 14,5 Prozent der Befragten außerhalb dieser Stadt an, dass sie Konya als Wohnort nicht bevorzugen würden, weil die Menschen in Konya religiös seien (Original: »insanları dindar olduğu için«) (Meriç et al. 2005). Zur Stadt Konya und den konservativ-religiösen Ausprägungen und Wahrnehmungen siehe Akın (2013).

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also Koranauslegung. Was gibt es beispielsweise in Ankara (an der theologischen Fakultät)? Philosophie Logik das sind Fächer die (in Ankara) sehr in den Vordergrund gerückt sind. Dort kannst du offene (gemeint ohne Kopftuch) Lehrerinnen sehen, hier gibt es keine einzige offene Frau […].«27 Die Kategorien werden durch den Vergleich beider Fakultäten – zum einen mit Blick auf die Ausrichtung der Lehre und zum anderen mit einer Beschreibung der Unterschiede in der Präsenz religiöser Kleidungsstile – konstruiert. Letzteres konnte im Rahmen der Feldforschung in teilnehmenden Beobachtungen an beiden Fakultäten festgestellt werden. An der Fakultät in Konya tragen sichtbar viele Frauen, die während der Feldforschung zu beobachten waren, die Abaya28 oder den Nikab29 , während diese Bedeckungsformen an der Fakultät in Ankara nicht häufig getragen wurden. Stattdessen waren verschiedene Varianten der Bedeckung und diverse Kleidungs- und Bedeckungsstile präsent (wie beispielsweise Kombinationen von Tunika, Hose und Rock bis hin zur Abaya). Vielmehr lehren an der Fakultät Ankara – und eigene Beobachtungen bestätigen diese Aussage – auch Dozentinnen ohne sogenanntes Kopftuch. Für die Interviewpartnerin scheint das äußere Erscheinungsbild der Frauen als Vergleichsebene für die Ausrichtungen der Fakultäten relevant zu sein. Verstärkt wird dies durch die Negierung und Betonung, dass keine einzige »offene« Frau an der Fakultät Konya lehre. An der Wortwahl »offen« (açık) und der Differenzierung zwischen den Fakultäten nach der Präsenz bestimmter Kleidungsstile spiegeln sich die Diskurse in der Türkei um das Kopftuch als Symbol wider, die vermehrt dazu neigen, den Kategorien offen und bedeckt (kapalı) weitere vermeintliche Merkmale zuzuschreiben. Insbesondere taucht das in laizistischen Diskursen auf, die »offenen« Frauen die Markierung als fortgeschritten und modern und »bedeckten« Frauen die Markierung als rückschrittlich und rückwärtsgewandt zuschreiben. Im Gegenzug dazu neigen die Diskurse in streng konservativ-traditionellen Kreisen dazu, der konstruierten Kategorie »bedeckt« Merkmale wie fromm, vorbildlich und religiös und der konstruierten Kategorie »offen« das Gegenteil – also nicht fromme, nicht vorbildliche und nicht religiöse Frauen – zuzuschreiben (Akman 2008; Bora 2005).

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Original: «[…] Genel olarak şöyle deniliyor (.) hani Ankaradaki ((lachend)) hocalar mesela (.) veya genel olarak Türkiyedeki bazı kesimler diyorki Konya İlahiyat (.) İmam Hatip devam diyorlar İmam Hatip Lisesi devam diyorlar (.) hani bi usul var ağırlık usule verilmiş bi ders vardır hani (.) Ehm bu Kuran tevsir (.) hani daha çok (.)mesela Ankarada ne vardır Felsefe mantık bunlar çok öne çıkmış derslerdir (.) orda açık hocaları görürsün bayan hocaları (.) burda bi tane açık bi bayan yoktur Konya İlahiyatta[…].« Eine Abaya ist ein weites Überkleid und wird mit einem Kopftuch getragen. Der Nikab ist eine andere Form der Bedeckung muslimischer Frauen. Dabei werden zusammen mit einer Abaya das Gesicht (mit der Ausnahme der Augen) und die Haare bedeckt.

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Neben diesen beobachtbaren Unterschieden der Fakultäten mit Blick auf das äußere Erscheinungsbild weiblicher Studierender wird die Beziehung der Student*innen untereinander in den Interviews angesprochen und als weiterer wesentlicher Unterschied beider Fakultäten gesehen. Die Fakultät Konya habe in den vergangenen Jahren vermehrt geschlechtergetrennte Seminare eingerichtet; auf eine Kommunikation zwischen den Student*innen würde – laut Interviewpartnerinnen – weitestgehend verzichtet. Dieses von den Interviewpartnerinnen beschriebene Geschlechterverhältnis wurde während des eigenen Forschungsaufenthaltes – und zwar insbesondere bei dem gescheiterten Versuch, an der Theologischen Fakultät in Konya männliche Interviewpartner zu finden – bestätigt. Andererseits lässt sich an der Theologischen Fakultät in Ankara eine sichtbare Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Student*innen beobachten (beispielsweise in den Mensen, in der Bibliothek oder in den Seminarräumen). Die Interviewpartnerinnen sprechen über die Fakultäten und ziehen für eine Vergleichsebene die (von ihnen wahrgenommenen und beschriebenen) Ausrichtungen und Schwerpunkte in der Lehre heran. Die Schwerpunkte der Unterrichtsfächer wie Philosophie und Logik scheinen im Gegensatz zur methodischen Lehre klassischer Koranexegese als grundsätzlicher Ausrichtung ein Unterscheidungsmerkmal der Fakultäten für die befragten Studenti*innen zu sein. In Gesprächen mit Student*innen aus Ankara wurden die philosophischen Fachanteile als Charakteristika und Besonderheit der Ankara-Fakultät erwähnt. Vor diesem Hintergrund sprechen Interviewpartner*innen an den Theologischen Fakultäten über die Veränderungen ihrer religiösen Praxis oder ihres religiösen Selbstverständnisses. Sie beschäftigen sich mit der Frage, ob die vermeintlich (wie sie beschreiben) traditionell-konservative Theologie der Fakultät Konya sie in ihrer Religiosität stärkt oder eine Abnahme beziehungsweise Schwächung durch die historisch-kritische Theologie der Ankara-Schule entsteht. Der folgende Abschnitt aus dem Interview mit einer Theologiestudentin aus Ankara verdeutlicht das: »Während die Außenwelt denkt, dass man sich von der Religion distanziert, habe ich immer das Gefühl gehabt, dass mein Glaube sich verstärkt durch das, was ich hier lerne. Aber die Außenwelt denkt oder vielleicht meine Eltern, meine Geschwister, dass ich vielleicht, dass ich zu wissenschaftlich denke, dass ich so dieses Spirituelle verloren habe. Aber ich, jetzt in meinem letzten Jahr (des Studiums), es ist so, ja also das ist keine Lüge ich kann – es ist so einfach in meinem Herzen. Das Wissen, dieses Wissenschaftliche, dieses Kritische, das hat sich in meinem Glauben verst-, also das hat- das ist eigentlich nochmal so der Grund, wieso ich Muslimin sein möchte.« Aus dieser Schilderung wird erneut der oben beschriebene Konsens bezüglich der Ausrichtungen der Fakultäten deutlich. Die Studentin beschreibt den Zusammen-

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hang zwischen kritischer Theologie und ihrem Glauben, der im Widerspruch zu den Ansichten der Menschen in ihrem nahen Umfeld zu stehen scheint. Diese mögliche Grundeinstellung unter Theologiestudent*innen beobachtet der Theologe und Religionspädagoge Zimmer am Beispiel evangelischer Theologiestudent*innen. Dabei stelle für einige die kritisch-moderne Theologie an den Universitäten eine Gefahr für den Glauben dar (Zimmer 2008, S. 213). Die Beschreibung der Ankaraner Studentin gewinnt insofern an Dynamik, als die Studentin diese Auffassung aus ihrer eigenen Erfahrung heraus wiederlegt und Theologie als Wissenschaft nicht im Widerspruch zur religiösen Spiritualität stehend sieht. Genau durch diese Herangehensweise sei in ihrem Fall eine religiöse Überzeugung entstanden (»das ist eigentlich nochmal so der Grund, wieso ich Muslimin sein möchte«). Vielmehr stellen die Ankaraner Studentinnen des Samples in Gesprächsrunden die Frage, ob eine Notwendigkeit bestehe, einer bestimmten (religiösen) Ausrichtung zu folgen. Bei unterschiedlicher Beurteilung dieser Aspekte wird dennoch dieselbe Ausgangs- und Diskussionsgrundlage – und zwar die Relevanz, jeglicher religiöser Dogmatik und jeglichen institutionell festgelegten Eindeutigkeiten fernzubleiben – deutlich. Das Gespräch zielte auf die »richtige Art und Weise« der individuellen und vernunftorientierten Entscheidung der Gläubigen selbst. Die teilnehmende Beobachtung im Kontext dieses Gesprächs erinnerte an die Theorie der Selbstermächtigung des religiösen Subjekts nach Gebhart, der von religiösen Wander*innen und ihrer Verweigerung spricht, sich den »normativen Vorgaben der institutionalisierten Religion und dem Machtanspruch ihrer Führer« zu unterwerfen. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts »stellt die ›eigene religiöse Kompetenz‹ […] in den Mittelpunkt. Es ist der Einzelne, der seinen eigenen Weg hin zu ›Gott‹ (oder einer ›göttlichen Kraft‹) zu finden hat – und der Weg, der dahin führt, ist ein individueller und autonomer Weg […]« (Gebhart 2013, S. 94). Während im vorliegenden Beitrag die innere Wanderung der Imaminnen im Sinne von Veränderungsprozessen bezüglich ihrer Spiritualität und der religiösen Praxis verstanden wurde, deutet die Beschreibung des religiösen Wanderers beziehungsweise der religiösen Wanderin nach Gebhart auf einen andauernden Wanderzustand der religiösen Subjekte hin, die sich durch ihre eigene religiöse Führungskompetenz selbst ermächtigen und religiösen Institutionen misstrauen. Denn für sie gibt es keine Wahrheit mehr, sondern Wahrheiten (ebd., S. 94). Wird nun diese Folie auf die angehenden Imaminnen der Fakultät Ankara gelegt, die im Sinne Gebharts als sich selbst ermächtigende Frauen und religiöse Subjekte die religiöse Deutungshoheit in die Hand nehmen und ihrer religiösen Kompetenz vertrauen, kann unter Berücksichtigung ihres zukünftigen Arbeitsfeldes DITIB eine komplexe Problematik entstehen: Das Religionspräsidium Diyanet als Arbeitgeber der DITIB-Imam*innen pflegt nämlich ein ethnisch orientiertes und auf die

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hanafitische Deutung beschränktes Religionsverständnis (Öztürk 2018, S. 4). Um nach der theologischen Ausbildung an den Universitäten als Beamt*innen über das Präsidium eingestellt zu werden, werden die Bewerber*innen verschiedenen Eignungsprüfungen unterzogen. Solche Aussortiermechanismen und Kontrollverfahren des Präsidiums stellen die Möglichkeit der mentalen Mobilität und der religiösen Deutungshoheit der Religionsbediensteten infrage. Darin spiegelt sich die Frage nach der gemeindeinternen Rolle und Funktion eines Imams beziehungsweise einer Imamin. Genauer formuliert, geht es um die Differenzierung der begrifflichen Zuschreibungen als Autoritäten oder Orientierungspersonen und um das Potenzial der Imam*innen, als solche zu agieren. Denn genau in dieser semantischen Feinheit liegt das pädagogisch Relevante mit Blick auf das Handlungsfeld der Imam*innen verborgen. Es geht nicht allein um die Selbstwahrnehmung der Imam*innen oder um die Erwartungshaltung der Gemeindemitglieder, sondern um das Spannungsverhältnis zwischen Selbstwahrnehmung, Fremderwartung von der Gemeinde und Erwartungshaltung des Präsidiums. Wird ein eindimensionales und dem Verständnis des Präsidiums entsprechendes Religionsverständnis autoritativ zu vermitteln versucht oder wird eine Erwartungshaltung konstruiert, welche auf den Imam und die Imamin als Vermittler und Vorbilder blickt, die den Gemeindemitgliedern zur Orientierung die Werkzeuge für ihre religiöse Sinnsuche in die Hand geben? Durch Letzteres können zusätzliche Problemfelder entstehen, die auf möglicherweise entstehende Normen- und Wertekollisionen zwischen dem bereits bekannten religiösen Wissen der Gemeindemitglieder oder dem religiösen Selbstverständnis der Gemeinde, des Vorstandes und den Imam*innen zurückgeführt werden können. Diese Eventualität lässt sich an einem konkreten Beispiel verdeutlichen: Theologiestudentinnen in Ankara unterhielten sich über die Möglichkeit, während der Periode der Frau das rituelle Pflichtgebet zu verrichten oder zu fasten (denn nach mehrheitlicher Meinung innerhalb der muslimischen Glaubenslehre gelten Frauen während der Regelblutung von diesen gottesdienstlichen Handlungen als ausgeschlossen beziehungsweise befreit). Sie gingen bereits beim Ausformulieren ihrer Sichtweisen von den möglichen Normenkollisionen in ihrer zukünftigen Gemeinde aus. Denn die Antwort auf die Frage, wie sie in der Zukunft als Imamin mit diesem Thema in ihrer Gemeinde umgehen würden, bestätigte diese Vermutung: »Wenn ich so etwas sagen würde, würden sie mich rausschmeißen.« Diese Skizzierungen anhand ausgewählter Interviewsequenzen und teilnehmender Beobachtungen verdeutlichen die bestehenden Diskurse um Imam*innen, die Ausrichtungen der Theologischen Fakultäten und das Religionspräsidium Diyanet als Arbeitgeber der Imam*innen. Die bisher geschilderten Einblicke zeigen die Veränderungsprozesse der Imaminnen, die sie im transnationalen Raum und in

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ihren Bildungskontexten durchleben. Aus den beschriebenen Erfahrungen bilden sich teilweise Erwartungen und Hoffnungen heraus, die weitere Tiefenbohrungen im gesamten Interview- und Forschungskontext erfordern. Es wurde jedoch bereits deutlich, dass sich in diesen Erfahrungs- und Erwartungshorizonten nicht nur religions-, migrations- und bildungsbezogene Aspekte in ihren Wechselwirkungen festhalten und beschreiben lassen, sondern dass gendersensible Aspekte mit Blick auf die pädagogischen Handlungsfelder in DITIB-Gemeinden und ihren Ausbildungsorten eine wichtige Rolle spielen.

5.

Genderrelevante Aspekte

Sofern in den Interviews die konkreten Handlungsfelder der Imaminnen in DITIBGemeinden thematisiert wurden, erfolgten sehr unterschiedliche Bewertungen und Sichtweisen. Dabei geht es beispielsweise um das Predigen als Tätigkeitsfeld der Religionsbediensteten und die Geschlechtertrennung in Gemeinden, die aus unterschiedlichen Sichtweisen heraus eingeordnet werden. Diese unterschiedlichen Perspektiven werden im Folgenden anhand kurzer Interviewabschnitte dargestellt. Eine türkische Imamin, die sich in einer DITIB-Gemeinde in Hessen im Dienst befindet, spricht über die Veränderung ihrer religiösen Praxis, die sich erst durch den Ortswechsel und die damit verbundenen gesellschaftlichen und strukturellen Veränderungen in Deutschland entwickelt habe: »Wir als religionsbeauftragte Frauen sind in der Türkei nicht oft in einem Umfeld mit Männern. Wir haben zum Beispiel Essen für Muftis30 oder Versammlungen für Muftis. Selbst da achtet man sehr auf die Geschlechtertrennung. […] Hier [in Deutschland; Anm. d. Verf.] können sie so etwas nicht machen. In der Türkei bereiten sie beispielsweise die Veranstaltungen nur für weibliches Publikum vor, aber hier müssen sie sie für alle [Männer und Frauen; Anm. d. Verf.] vorbereiten. Hier habe ich als weibliche Religionsbeauftragte meine Sensibilitäten für die Geschlechtertrennung [haremlik selâmlık; Anm. d. Verf.] verloren. Also ich war gezwungen, meine Sensibilitäten für die Geschlechtertrennung zu verlieren. Denn die Moschee ist hier nicht nur eine Moschee, sondern ein Kulturzentrum, zugleich ein Ort, in dem du deine Kultur lebendig hältst. […] Die kulturellen Dinge sind hier,

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In der Türkei werden vonseiten des Präsidiums Theologen als Muftis (müftü, sinngemäß: islamische Rechtsgelehrte) in Ortsbezirke entsandt. In diesem Dienst ist der Mufti für die religiösen Angelegenheiten und die Beantwortung islamisch-praktischer Fragen der Ortsbewohner*innen zuständig.

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die religiösen Dinge sind hier. Daher waren wir gezwungen, diesen Rahmen, unsere Grenzen irgendwie zu durchbrechen.«31 Die Verwendung des Begriffs »Sensibilität« (hassasiyet) – verstärkt durch die Zuschreibung auf die eigene Person (hassasiyetlerimi; »meine Sensibilitäten«) – deutet auf die eigentlich emotionale Verbundenheit mit und die Vorsicht und Empfindlichkeit gegenüber dieser (bewusst oder unbewusst) angenommenen religiösen Überzeugung der Geschlechtertrennung. Die Bezeichnung »haremlik selâmlık« wurde hier im übergeordneten Sinne als Geschlechtertrennung übersetzt. Der Ausdruck geht auf die bauliche Trennung in den Wohnungen zur Zeit des Osmanischen Reiches zurück, wo Frauen ihren getrennten Bereich (haremlik) und Männer den öffentlichen Bereich (selâmlık) hatten (Somel 2001, S. 248). Bis heute wird dieser Ausdruck im Sinne der Geschlechtertrennung verwendet. Folglich deutet die Verwendung des Begriffs »Sensibilitäten« (in der Pluralform) mit Blick auf die Geschlechtertrennung (haremlik selâmlık) darauf hin, dass es hierbei nicht nur um die Überzeugung in Hinblick auf Geschlechtertrennung in bestimmten Kontexten – in diesem Fall in der Moschee – geht, sondern dass das auf ein Verständnis von der Geschlechtertrennung im weiteren Sinne abzielt. Doch die Veränderung und der Aufbruch ihrer zuvor vorhandenen Grenzen in ihrer religiösen Praxis führt die Imamin auf die hiesigen Strukturen und Funktionen der Moschee in der Diaspora zurück. Denn im Unterschied zur Moschee in der Türkei, die von den Muslim*innen lediglich für das Verrichten des Gebets und zu besonderen religiösen Anlässen aufgesucht wird, dienen Moscheevereine in Deutschland als Kulturvereine und soziale Treffpunkte. Die unterschiedlichen Funktionen der Moscheen wirken sich ebenfalls auf das Handlungsfeld einer in der Türkei sozialisierten Imamin aus. Die geschlechtergetrennt organisierten Veranstaltungen in der Türkei, die für die Imamin die übliche Struktur zu sein scheinen, werden hier durch die geschlechtergemischten Veranstaltungen konstrastiert. Hier wird eine kontextabhängige Veränderungs- und Anpassungsoffenheit in der üblichen religiösen Praxis der Imamin deutlich. Die eigentlich ungewollte Anpassung und Veränderung der eigenen religiösen Praxis findet durch eine Bewusstwerdung

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Original: »Biz eh bayan din görevlisi olarak Türkiye’de çok fazla erkekli bi ortamda değiliz. Bizim mesela müftülük yemeklerimiz olur müftülük toplantılarımız olur. […] Onda bile çok dikkat edilir haremlik selamlığa. […] Burda şimdi eh böyle bi ortam yapamazsınız. Türkiye’de mesela programları sadece bayan seyirciye hazırlarsınız ama burda herkese hazırlamak zorundasınız. Burda bir bayan görevli olarak eh bu hassasiyetlerimi kaybettim. Yani haremlik selamlık hassasiyetlerimi kayıp etmek zorunda kaldım. Çünkü burda cami sadece cami değil bir kültür merkezi Eh aynı zamanda kendi kültürünü canlı tuttuğun diri tuttuğun bi yer […] kültürel şeylerde burda. eh dini şeylerde burda o yüzden eh bi şekilde o çerçevelerimizi yıkmak zorunda kaldık.« Übersetzt von B. K.

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der hiesigen Struktur und der damit verbundenen Notwendigkeiten statt. Während dieser Ausschnitt aus dem Interview mit der Imamin die situationsbedingte Anpassung ihrer religiösen Praxis und die Modifizierung ihrer Überzeugung zeigt, wird aus dem folgenden Interviewausschnitt mit einer anderen bereits tätigen türkischen Imamin eine andere Sichtweise zur Geschlechterpräsenz in Moscheegemeinden sichtbar: »Als unser Prophet Friede und Segen auf ihm die Masdschid an-Nabawi [die Moschee in Medina; Anm. d. Verf.] gründete, gab es natürlich auch Frauen und so vor Ort, aber wer ist der Imam? Der Imam ist ein Mann. Die hinter dem Imam stehen, die nächsten Reihen gehören wem? Den Männern. Wem gehört die zweite Reihe? Den jungen Männern. Wem gehört die dritte Reihe? Den Frauen. Das ist eigentlich zugleich die Reihenfolge der Bedeutung. Sie zeigt uns eigentlich auch die Bedeutung der Präsenz. Erst werden die Männer diese Plätze füllen, sie sollten diese Plätze füllen. Also das ist nichts Primäres für die Frau.«32 Die Beschreibung der Imamin enthält die Narrative und Begründungsmuster, die in den Diskursen um die Teilhabe der Frauen in Moscheegemeinden und ihre Teilnahme am Gemeinschaftsgebet enthalten sind. Die von der Imamin aufgezählte Reihenfolge der Gebetsreihen wird insbesondere auf bestimmte Überlieferungen in den Sammlungen prophetischer Weisheitssprüche (sogenannter Hadith) zurückgeführt, über deren Authentizität und Relevanz besonders mit Blick auf den historischen Kontext innerhalb der islamischen Theologie gestritten wird. Dabei geht es um die Positionierungen der Geschlechter innerhalb der Gebetsreihen oder um die privaten Wohnungen als geeignetere Gebetsorte für Frauen. Innerhalb dieser Meinungsvielfalt kann dennoch festgehalten werden, dass sich die tradierte Form der horizontalen Aufteilung der Geschlechter während des Gebets innerhalb der großen Mehrheit unter den Muslim*innen und der Moscheegemeinden etabliert hat. Darüber hinaus gibt es weitere Ausprägungen der Aufteilung, etwa die weit verbreitete räumliche Trennung innerhalb der Moscheegemeinden oder die vertikale Aufteilung der Geschlechter in demselben Gebetsraum (Näheres zu möglichen Formen des Gebets mit Blick auf die Geschlechterverteilung unter Karakoç 2017). So paradox es klingt: Die Imamin, die keine Notwendigkeit und Relevanz der Teilnahme der Frauen am Gemeinschaftsgebet sieht und dies aufgrund der Posi-

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Original: »Efendimiz aleyhissalatu vesselam mescidi nebeviyi kurduğunda tabiki kadınlarda vardi falan ama mescid İmam kimdir? İmam erkektir. İmamın arkasında duran iki saf kimindir? Erkeğindir. İkinci saf kimindir? Erkek çocuğunundur. Üçüncü saf kimindir? Kadındır. Bu aslında önem sırasınıda yani bulunması gereken sırayıda bize gösterir aslında,önce o erkekler orayi doldurcaktır doldurmalıdır. Yani bu kadın için birinci birşey değildir yani.« Übersetzt von B. K.

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tionierung der Frau in der letzten Reihe begründet, zeigt ähnliche Interpretationsmuster wie die Imaminnen der liberalen und emanzipatorischen Bewegungen, die sich für geschlechtergemischte Gebete aussprechen und sie in solcher Form praktizieren. In beiden Argumentationssträngen werden die Positionen der Frauen beim Gebet (ob sie zusammen mit den Männern in der gleichen Reihe oder in den hinteren Reihen beziehungsweise getrennten Räumen beten) als Maßstab für ihre Argumentationen bezüglich gesellschaftlicher Präsenz und Teilhabe herangezogen. Neben diesen Sachverhalten wie der allgemeinen Präsenz von Musliminnen und ihrer Teilhabe beurteilen angehende und bereits tätige Imaminnen gendersensible Aspekte bezüglich ihrer konkreten Handlungsfelder. In den Interviews wird das Predigen als konkretes Beispiel innerhalb ihrer Tätigkeitsfelder angesprochen. Der Istzustand in DITIB-Gemeinden ist, dass Imaminnen in Moscheegemeinden lediglich Gemeindebesucherinnen die religiöse Unterweisung in Form von Predigten, Unterricht oder Seminaren erteilen (Beinhauer-Köhler 2008; Gorzewski 2015), Imame jedoch durch ihre Predigt für sowohl männliche als auch weibliche Gemeindebesucher erreichbar sind. Ausgehend davon wird die Frage gestellt, ob die Imaminnen die Predigt vor geschlechtergemischten Gruppen halten wollen würden. Zwei Interviewsequenzen sollen einen Einblick in die Meinungsvielfalt geben. »Diese Predigt zu halten, führt immer mit sich, dass man auch mit Reaktionen rechnen muss. Zum Beispiel die Frau steht da und redet über (ein) sensibles Thema wie keine Ahnung die Rechte der Frau in der Ehe zum Beispiel, der Imam redet ja über solche Themen dort. Und wenn eine Frau da steht und darüber redet, könnte sie von den Männern vielleicht Reaktionen kriegen, die sie nicht verträgt. […] Eine Frau ist manch(mal), es gibt natürlich Frauen die sind fähig mit sowas umzugehen, aber generell so von der, von der Grund Art und Weise, wie eine Frau funktioniert, sind wir eigentlich meiner Meinung nach in den meisten Fällen zu emotional, um dann mit negativen Reaktionen umzugehen. Und ich hab auch das Gefühl einfach damit ein Mann eine Frau in dieser Position ernst nimmt, muss diese Frau sehr männlich wirken […]« (Studentin aus Konya). Die angehende Imamin an der Theologischen Fakultät in Konya reagiert auf die Option, dass Imaminnen als Predigerinnen vor geschlechtergemischten Gruppen predigen könnten, mit einer stereotypen Vorstellung der Geschlechter. Die stereotype Vorstellung von Emotionalität kommt zur Geltung, denn so sei die »Art und Weise, wie eine Frau funktioniert«. Das weibliche Geschlecht wird als emotional, sensibel und schwach konstruiert (Abdul-Hussain2012, S. 85) und diese vermeintlich weiblichen Eigenschaften stellten ein Hindernis für das Predigen vor geschlechtergemischten Gruppen dar. Aus emotionspsychologischer Sicht gibt es zwar Unterschiede beim Umgang der Geschlechter mit Emotionen, jedoch nicht zwangsläufig im Erleben der Emotionen selbst (Lozo 2010, S. 48). Connell bezeich-

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net diese Vorstellung als »vertrautes Klischee der patriarchalen Ideologie« (Connell 2015, S. 225). Während Frauen »schon bei Platon als schwächeres Geschlecht bezeichnet« (Fries 2000, S. 29) wurden und ihnen mangelndes Durchsetzungsvermögen und fehlende Führungsinitiative zugeschrieben wurden, wird Männlichkeit mit Rationalität und Stärke identifiziert (Benthaus-Apel et al. 2017, S. 17).Dadurch wird eine Differenzkategorie gebildet, die Mannsein und Frausein in dem jeweiligen Geschlechtshabitus voneinander abgrenzt (Bereswill 2010, S. 94). Diese Geschlechterkonstruktionen und Zuschreibungen gehen ebenfalls aus dem letzten Satz des Interviewabschnitts hervor und werden erneut bestätigt, indem die Notwendigkeit deklariert wird, dass Frauen den Männerhabitus verinnerlicht haben müssten, um ernst genommen zu werden (»damit ein Mann eine Frau in dieser Position ernst nimmt, muss diese Frau sehr männlich wirken«). Anstatt einer Hinwendung zur weiblichen Hegemonie skizziert die Studentin als einzige Möglichkeit die Aneignung des männlichen Habitus beziehungsweise die Verkörperung der hegemonialen Männlichkeit durch Frauen (Stückler 2013, S. 199). Folglich wird im Sinne Connells eine Unterordnung durch betonte Weiblichkeit (emphazised femininity) deutlich, die letztendlich zu einem Einverständnis mit dem Status quo führt (Gruhlich 2013, S. 70). Die Grundannahme, dass im Falle einer Predigt die Predigende mit (negativen) Reaktionen rechnen müsse, deutet auf den bereits erwähnten innerislamischen Dissens hin. Denn aus dieser Aussage geht die Nicht-Akzeptanz der Predigten für männliche Gemeindemitglieder durch Predigerinnen in Gemeinden hervor. Während hier also die konstruierte Geschlechterdifferenz als Grundlage aufgerufen wird, liefert folgende türkische Imamin (die sich in Deutschland im Dienst befindet) aus ihrer Erkenntnis einer Geschlechterungleichheit in diesem Sektor eine andere Sichtweise: »Ich würde das wirklich wollen. Warum? […] Bislang haben Männer alle religiösen Bücher geschrieben, Propheten waren Männer, Imame sind Männer, in der Moschee erzählt der Imam über die Pflichten der Frauen gegenüber ihren Männern, nicht der Männer gegenüber ihren Frauen. Der Mann kommt nach Hause [und sagt zur Ehefrau; Anm. d. Verf.] du machst dies und jenes eigentlich gar nicht, aber wie müsste es eigentlich sein? Die Aufgaben des Mannes der Frau gegenüber müssten gepredigt werden. Wir religionsbeauftragte Frauen erziehen unsere Frauen so. Wir haben unseren Männern gegenüber diese und diese Verantwortungen, aber auch diese und diese Rechte. […] Aber unsere Männer predigen zur Bedeckung der Frau, zur Verhaltensweise der Frau. Haben diese Männer kein Bedürfnis, sich zu bedecken? Haben diese Männer nicht das Bedürfnis, ihren Charakter zu schützen? Sie sagen die ganze Zeit schützt eure Mädchen, macht dies mit den Mädchen. […] Also ihr könnt nicht die Männer beschützen, indem ihr die Frauen versteckt. Ihr müsst für die Bedeckung der Augen [göz tesettürü, gemeint ist das Senken der Blicke; Anm. d. Verf.] der Männer sorgen […]. Wenn ich mich [mit der Predigt; Anm. d.

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Verf.] an Männer richten würde, so würde ich sie in dieser Hinsicht viel mehr bereichern wollen. […] Ich glaube wirklich, dass die Frauen in dieser Hinsicht respektlos behandelt werden. Ich bin der Meinung, dass ihnen Unrecht getan wird.«33 Die männliche Dominanz unter religiösen Autoritäten und der geschilderte disparate Umgang der Imam*innen mit ihren Predigten, in denen sie über die Rechte und Pflichten der Ehepartner*innen informieren, können als Hauptmotive der Interviewpartnerin für den Wunsch, ebenfalls männliche Gemeindebesucher durch die Predigt erreichen zu wollen, rekonstruiert werden. Die Ungleichheit bestehe insbesondere im Umgang mit religiös-normativen Vorstellungen, die in Form einer einseitigen Erwartungshaltung (»du machst dies und jenes eigentlich gar nicht«) negative Auswirkungen auf die Ehefrauen der Gemeindebesucher hätten. Ihre Wahrnehmung begründet die Imamin mit einem Vergleich: Während die Imaminnen nach einer – nach ihrem Verständnis – geschlechtergerechten Herangehensweise streben würden (»Wir religionsbeauftragte Frauen erziehen unsere Frauen so. Wir haben unseren Männern gegenüber diese und diese Verantwortungen aber auch diese und diese Rechte«), wird implizit ein Sollzustand skizziert, den die Imame nach Ansicht der Imamin nicht erfüllen. Wenn auch beiden Fällen, wie sie die Imamin schildert, ein gewisses Rollenverständnis zugrunde liegt, kommt dennoch in der Aussage der Imamin eine Kritik zur Sprache, die sich insbesondere an die von den Männern ausgehende Fremdzuschreibung richtet. Die Ungleichheit wird mit einer ebenfalls persönlich-religiös-normativen Sicht beschrieben (»haben diese Männer kein Bedürfnis, sich zu bedecken, haben diese Männer nicht das Bedürfnis ihren Charakter zu schützen?«), die in Form einer einseitigen Erwartungshaltung (»sie sagen die ganze Zeit schützt eure Mädchen, macht dies mit den Mädchen«) deutlich werde. Der Versuch, dieser Fremdzuschreibung und Erwartungshaltung entgegenzuwirken, die als »unfair« und »respektlos« empfunden wird, kann als Selbstermächtigungsstrategie beschrieben werden, die insbesondere auf die Aufhebung der nach ihr

33

Original: »Gerçekten isterdim. Niye. […] Şimdiye kadar bütün din kitaplarını erkekler yazmış, peygamberler erkeklerden, hocalar erkekler, camide hoca kadının kocasına karşı görevlilerini anlatıyor, kocanın karıya karşı değil. Kadının kocasına karşı görevlerini anlatıyor. Adam […] eve geliyor sen aslında şöyle yapmıyorsun böyle yapmıyorsun, oysaki olması gerek ney. Erkegin karısına olan görevini. Biz bayan din görevlileri bayanlarımızı böyle yetiştiriyoruz. Erkeklerimize karşı şöyle şöyle sorumluluklarımız var ama şu şu haklarımızda var […] Ama erkeklerimiz […] bayanların tesettürüyle vaaz veriyorlar bayanların hareketleriyle vaaz veriyorlar. Ya bu erkeklerin hiçmi tesettüre ihtiyacı yok hiçmi bu() erkeklerin ahlakını korumaya ihtiyacı yok durmadan kızlarınızı koruyun kızlarınızı şapın […] Yani illa kadını koruyarak kadını saklayarak siz erkekleri koruyamazsınız, erklerin göz tesettürünü kazandırmak zorundasınız, ahlak tesettürünü kazandırmak zorundasınız yani erkeklere hitap etsem bu yönde onları çok fazla eh onarmak isterdim […] bu konuda kadınlara gerçekten çok saygısıylık edildiğini düşünüyorum Çok böyle mh haksızlık edildiğini düşünüyorum.« Übersetzt von B. K..

Imamin, Migrantin, Wanderin

festgestellten Ungleichheit (»also ihr könnt nicht die Männer beschützen, indem ihr die Frauen versteckt«) zurückgeht. Die Diskrepanzen um die Teilhabe von Frauen in Moscheegemeinden und um die pädagogischen Handlungsfelder von Imaminnen in der Moscheegemeinde zeichnen sich in den disjunkten Aussagen der Imaminnen mit Blick auf das Geschlecht und ihre Rollenzuschreibung, und zwar auf der Grundlage unterschiedlicher religiöser Deutungsmuster, ab.

6.

Zusammenfassende Betrachtung

Die weibliche Repräsentanz im transnationalen Raum Deutschland–Türkei konnte unter besonderer Berücksichtigung der DITIB-Gemeinden in eine qualitative und quantitative Perspektive gestellt werden. Daraus lassen sich bestehende Entwicklungen sowie Chancen und Hindernisse für die Zukunft beschreiben. Die quantitative Darstellung der weiblichen Repräsentanz im transnationalen Raum zeigt den Status quo, der sich einerseits durch die Unterrepräsentanz von Theologinnen in pädagogischen und religiösen Führungspositionen (aufgrund bestimmter Hindernisse religiöser oder gesellschaftspolitischer Natur) und andererseits durch die Dominanz von Theologiestudentinnen an den Fakultäten auszeichnet. Die antiproportional verlaufende Entwicklung weiblicher Präsenz an den Theologischen Fakultäten (nach vertikaler Statusebene) und die Geschlechterstrukturen innerhalb des Präsidiums und des Entsendungsverfahrens spiegeln die Problematik und die (größtenteils fehlenden) Diskurse um weibliche Repräsentation und Religion – um Frauen als pädagogische und religiöse Führungspersonen – wider. Innerhalb der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu Imam*innen als pädagogische und religiöse Führungspersonen und zur Frage ihrer Eignung und ihrer Kompetenzen im Setting der Moschee bleiben in der Betrachtung (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinden) Imaminnen und ihre Handlungsfelder unsichtbar. Im Unterschied zu den bisherigen Untersuchungen zu Imam*innen in DITIBGemeinden wird die Berücksichtigung der Student*innen des internationalen Theologiestudiums (als angehende Imam*innen) erforderlich. Sie weisen aufgrund ihrer hybriden Identitäten und ihrer Erfahrungen ein erhöhtes Potenzial für eine Entwicklung innerhalb der DITIB-Gemeinden auf – und zwar insbesondere in ihren Handlungsfeldern als pädagogische und religiöse Führungspersonen in Moscheegemeinden. Vor dem Hintergrund der an die Moscheegemeinden gerichteten Kritik, dass religionsbeauftragte Männer und Frauen, die aus der Türkei entsandt würden, über keine Vorkenntnisse der gesellschaftlichen Probleme verfügten und dass ihnen die Lebenswelten der deutschen Muslim*innen unbekannt seien, eröffnen die Absolvent*innen des Internationalen Theologiestudiums als

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280

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Transmigrant*innen mit deutscher Sozialisation und türkischer Bildungsmigration neue Möglichkeiten für die türkischen Migrant*innenselbstorganisationen in Deutschland. Unter Berücksichtigung der Student*innen wird in den nächsten Schritten der Auswertung und im gesamten Forschungskontext möglicherweise eine Kontrastfolie sichtbar, die eine vergleichende Betrachtung und Auswertung ermöglicht. Die ersten Einblicke und die zusammenfassende Darstellung des Forschungskontextes – unter Hinzunahme der teilnehmenden Beobachtungen und der exemplarisch ausgewählten Interviewsequenzen mit bereits tätigen und angehenden Imam*innen – verdeutlichen die Wechselwirkungen der Aspekte Gender, Religion, Bildung und Migration. Es wird deutlich, dass die Bewertung gendersensibler Aspekte mit Blick auf die pädagogischen Handlungsfelder der Imam*innen an religiöse Selbstverständnisse gekoppelt ist. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass die Migrationsverläufe und die konkreten Arbeitsfelder für Imaminnen sowohl religiöse Veränderungsprozesse hervorrufen, als auch weitere genderrelevante Kontexte sichtbar machen. Hinsichtlich der pädagogischen Handlungsfelder als Imaminnen werden gendersensible Aspekte unterschiedlich bewertet. Die erste Darstellung der Ergebnisse zeigt bereits unter Berücksichtigung der Fakultäten, der Erfahrungen und Beurteilungen der Tätigkeitsfelder die Meinungsvielfalt und Heterogenität des Forschungssamples und das Spannungsfeld innerhalb des Forschungsgegenstandes. Für den weiteren Verlauf und die methodische Auswertung steht bereits fest, dass sich die für die Imaminnen relevanten Aspekte nicht additiv bestimmen lassen, sondern in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden müssen. Diese und weitere Ergebnisse befinden sich in der Werkstatt, sodass zunächst keine Rückschlüsse für den gesamten Kontext gezogen werden können. Doch neben ihren Rollenzuschreibungen, die sich aus ihren Tätigkeitsfeldern ableiten lassen (Imamin als Schwester, Beraterin, Predigerin, Ansprechpartnerin, Lehrerin etc.), wird im übergeordneten Sinne und angelehnt an die ersten Ergebnisse der Feldforschung deutlich, dass sich Imaminnen als Migrantinnen und religiös-spirituelle Wanderinnen im transnationalen Raum Deutschland–Türkei bewegen. Diese Einblicke, Erfahrungen, Erwartungen und Hoffnungen verschieben die Frage nach den Geschlechterstrukturen in den DITIB-Gemeinden und nach institutionellen und theologischen Veränderungen hin auf eine empirisch abgesicherte, tragfähige Perspektive.

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Imamin, Migrantin, Wanderin

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Betül Karakoç

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Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration Frank van der Velden

1.

Einleitung

Die politischen Krisen und die durch sie verursachte Zuwanderung Geflüchteter nach Europa seit dem Jahr 2014 haben dort in der deutschen Bildungspolitik, wo der Faktor Religion im Kontext der Begriffe Migration und Integration oder im Kontext der kulturellen Identität(en) Europas verhandelt wird, zu einer Zäsur geführt. Einerseits gehen langjährige, verlässliche Orientierungspunkte verloren, ohne dass sich sinnvolle Alternativen zeigen. So scheinen Kooperationspartner wie die DITIB in den aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei und in Deutschland langfristig soweit beschädigt zu sein, dass etwa die Trägerschaft des Islamischen Religionsunterrichts in Hessen auf der Kippe steht.1 An vielen Orten macht sich Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten des Religionsdialoges breit und das Thema wird zunehmend auch von religionspolitischen Lobbyist*innen anstelle von theologisch fundierten Expert*innen ihrer eigenen Religion oder der Religion des anderen bearbeitet. Jedoch wird in AfD-nahen und darüber hinaus in extremen rechten Kreisen die Ablehnung der Migrationsgesellschaft mit einer offenen Islamfeindschaft bis hin zu Verschwörungstheorien verbunden: Die Zuwanderungspolitik der Regierung Merkel beabsichtige einen »Bevölkerungsaustausch«2 und nehme billigend rechtsfreie Räume hin, in denen religiöse und kulturelle Parallelgesellschaften von Geflüchteten und Migrierten – zu denen neben Muslim*innen auch viele orientalische Christ*innen gehören – angeblich den gesellschaftlichen Konsens zerstören.

1

2

Mehrere Bundesländer – Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz – favorisieren mittlerweile Konstruktionen für eine islamische Unterweisung an ihren Schulen, die eine formale Trägerkooperation mit einer muslimischen Religionsgemeinschaft im Sinne von Grundgesetz Art. 7 Abs. 3 auf spätere Zeiten vertagen. So zum Beispiel Alexander Gauland in einer Erklärung am 15.07.2017 in Berlin (https://www. afd.de/alexander-gauland-erschreckende-zahlen-der-bevoelkerungsaustausch-laeuft/; zuletzt geöffnet am 01.10.2018).

286

Frank van der Velden

Das Problem solcher Fake News ist nicht die falsche Nachricht allein, sondern, dass sie sich in den Echokammern sozialer Netzwerke und ihrer zunehmend internationalen Vernetzungen als einzige wissenswerte Nachricht präsentiert, ohne dass um ihren Wahrheitsgehalt in einem offenen Diskursraum gestritten werden kann. Beides, der Verlust von sicher geglaubten Orientierungspunkten beziehungsweise Kooperationspartnern einerseits und die Verinselung von Wissensbildung, Meinungen und Diskursen andererseits, hat eine direkte Verbindung zum Thema Intersektionalität. Begegnung und der respektvolle Streit miteinander werden zunehmend durch Lagerbildung, Ausgrenzung und Diskreditierung des Gegners ersetzt.3 In den jeweiligen Echokammern wird häufig ein essenzialistischer Blick auf Personen und Gruppen gerichtet, der Identitäten anhand von Stereotypen zuordnet, die sich in ihrer Überschneidung intersektional auswirken, etwa auch in Eskalationsstufen hin auf Sozialfiguren: die Frau, die orientalische Frau, die orientalische Muslimin oder Christin, die geflüchtete orientalische Muslimin oder Christin. Solche Stereotypen sind nicht ausschließlich Ergebnis einer Zuschreibung von außen, sondern sie haben auch eine Bedeutung für das Selbstverständnis innerhalb identitärer rechter und identitärer islamistischer4 Gruppen. Eine wesentliche Funktion kommt dabei identitätsstiftenden Narrativen zu: »Den Extremismus studieren, ohne Geschichten zu studieren, ist, als würde man das Gehirn studieren, ohne die Neuronen zu studieren […]. Es ist das Narrativ, das alles miteinander verknüpft: Es fungiert als Bindeglied zwischen gewaltlosem und gewalttätigem Extremismus ebenso wie zwischen Rechtsextremismus und islamistischem Extremismus« (Ebner 2018, S. 44). Beide Gruppierungen versuchen zudem, gezielt Einfluss auf ihre Adressaten auszuüben (Beuth 2018) und verfolgen dabei die gleiche Strategie. Sie legen es darauf an, vorhandene Ängste aufzugreifen, ihre Adressaten zu verunsichern (zum Beispiel die Wahrheit sagen, die andere angeblich verschweigen), das Aussagbare in Richtung auf Extreme hin zu verschieben, Opfer zu stilisieren und Opferrollen zu besetzen sowie klare Feindbilder zu schaffen. Im Zuge des vorliegenden Beitrags wird diese Strategie anhand von zwei Narrativen analysiert, die jeweils im Bereich der identitären rechten und der identitären islamistischen Szene eine Rolle spielen. In beiden Fällen handelt es sich um die Verfälschung traditioneller religiöser Narrative, welche ursprünglich eine 3

4

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dies in seiner Weihnachtsansprache 2018 beklagt (www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2018/12/181225Weihnachtsansprache-2018.pdf?__blob=publicationFile; zuletzt geöffnet am 5.1.2019). Der Begriff »islamistisch« stellt eine nicht unproblematische Simplifizierung dar; gemeint sind hier Gruppen, die sich im Zuge identitärer Profile von Zugehörigkeit und Ausgrenzung dezidiert auf den Islam beziehen.

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

Diversifikations- und Relationierungskompetenz5 beförderten (Schambeck 2014, S. 174), nun aber absichtsvoll in ihr Gegenteil verkehrt und exklusivistisch interpretiert werden. Diese Narrative sollen gleichsam gerettet werden, um durch sie eine Gegenerzählung zur Intersektionalität zu etablieren, die im religiösen Bildungsbereich zur Selbstermächtigung von Geflüchteten und Migrierten genutzt werden kann. Dazu wird jeweils eine kurze pädagogische Umsetzung des ursprünglichen Narrativs vorgeschlagen.

2.

Narrativ 1: Für was steht der Limburger Dom?

Im Landtagswahlkampf 2018 zeigten Plakate der hessischen AfD den Limburger Dom mit dem Slogan »Deutsche Leitkultur! Islamunterricht! Nicht an unseren Schulen!« Ebenso prangte der Limburger Dom auf dem Deckblatt des Kapitels »Kunst, Kultur und Medien« im Landtagswahlprogramm 2018. Hinter dem Deckblatt folgten die in dieser Partei üblichen islamfeindlichen Einlassungen und die Ablehnung einer offenen Gesellschaft mit ihren pluralen kulturellen und religiösen Identitäten.6 Durch diese Bildersprache wird ein besonderes Narrativ aufgerufen. Einerseits wird eine Gruppe von Menschen um den Dom versammelt, die etwas Positives mit ihm verbindet: heimatliebende, kulturell und geschichtlich Interessierte und besonders eben auch Christ*innen. Andererseits wird der Dom als kulturelles Bollwerk gegen jede Form der nichteuropäischen Zuwanderung inszeniert. Dabei wird unterstellt, dass Muslim*innen, selbst wenn diese in Limburg geboren und aufgewachsen sind, mit dem Limburger Dom kein Heimatgefühl verbinden. Aber auch die Lebenswirklichkeit der kulturell vielfältigen katholischen Kirche in Hessen und ihrer zahlreichen muttersprachlichen Gemeinden, wie sie zum Beispiel der Limburger Bischof Georg Bätzing in seiner Rede beim Martinsempfang am 23. November 2017 in Mainz beschrieben hat, wird dadurch abgelehnt. Schließlich hat zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet jede dritte Katholik*in einen Migrationsbezug.

2.1

Die Wahrheit sagen, die andere verschweigen?

Nach Ansicht der AfD ist Deutschland also nicht von rechts gefährdet, sondern durch Einwanderung, und sie wendet sich mit dieser Kampagne auch an »die Kir5

6

»Jemand, der mit dem Religionsplural angemessen gut umgehen kann, [hat] die Fähigkeit, Eigenes und Fremdes zu unterscheiden [Diversifikationskompetenz; Anm. d. Autors] und zugleich Eigenes und Fremdes miteinander in Beziehung zu setzen [Relationierungskompetenz; Anm. d. Autors]« (Schambeck 2013. S. 174). https://www.afd-hessen.org/wp-content/uploads/2018/09/2018-08-23_LTW-HESSEN_ FINAL_WEB.pdf; zuletzt geöffnet am 01.10.2018. S. 85-87.

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Frank van der Velden

chenmitglieder an der Basis, [die] gleichzeitig über die wachsende Distanz der Kirche zu ihren Anhängern klagen« (AfD Bayern Wahlprogramm 2018, S. 13).7 Um solche Katholik*innen in ihrer Kritik gegenüber der eher dialogbereiten Amtskirche zu stärken, stilisiert sich die AfD als die angeblich einzige Partei hoch, welche die Wahrheit sage, die die anderen verschwiegen. Wir haben es hier also auch mit einer kirchenkritischen Abwerbekampagne zu tun; islam- und kirchenfeindliche Positionen werden ineinander verschränkt und dadurch zu einem systemischen Problem.

2.2

Die Verschiebung des Aussagbaren hin auf Extreme

Das Christentum ist der AfD willkommen, solange es die Verteidigung des kulturellen Erbes einer deutschen Dominanzgesellschaft repräsentiert und sich zum Beispiel gegen die Zuwanderung von Muslim*innen instrumentalisieren lässt. So wurde eine Predigt des Regensburger Bischofs Voderholzer mit kritischem Bezug auf den Islam am 8. Juli 2018 sofort von Alice Weidel auf einer Facebook-Seite für die AfD-eigene Position vereinnahmt.8 Dort aber, wo die christlichen Kirchen an einer Willkommenskultur für Geflüchtete arbeiten und gegenüber Muslim*innen und ihren Organisationen in Deutschland dialogbereit sind, geraten auch sie ins Fadenkreuz extremer Aussagen. So meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 22. September 2018 anlässlich einer AfD-Demo in Rostock: »Steffen Reinicke aus dem Rostocker Kreisvorstand der AfD kritisierte […] die Kirchen wegen ihres Engagements für Flüchtlinge: ›Es ist nicht das Blut von Jesus, sondern das Blut der Messeropfer, das ihr täglich sauft.‹ Integration bezeichnete er als ›Völkermord an Deutschland‹«.9 Solche verbalen Grenzüberschreitungen gehören zu einer Strategie, die sich beispielsweise auch bei der Identitären Bewegung findet, gefolgt von routinemäßigem Zurückrudern, Relativierungen und vorgeblichem Distanzieren. Durch die wiederholte Anwendung dieser Strategie geschieht eine Rechtsverschiebung im Sinne einer Verschiebung vom Unsagbaren hin zum Sagbaren. Überdies wird mittlerweile offen gefordert, dass Grundrechte wie die Religionsfreiheit für Muslim*innen in Deutschland nur noch eingeschränkt gelten sollten, da es sich beim organisierten Islam nicht um eine Religion(sgemeinschaft), sondern um eine politische Ideologie handle, die unter dem Deckmantel von Religion agiere und dabei durch ausländische nationale Interessen gesteuert werde. So ist das bereits in den »Leitlinien für 7 8 9

https://www.afdbayern.de/wahlen-2018/wahlprogramm-landtagswahl-2018/; zuletzt geöffnet am 01.10.2018: Zitate a. a. O. https://www.idowa.de/inhalt.regensburg-altoetting-bischof-voderholzer-predigt-die-afduebernimmt.088115d9-972b-4bb3-bbd6-85fa6462f2c8.html; zuletzt geöffnet am 01.10.2018. www.faz.net/aktuell/politik/inland/4000-menschen-protestieren-in-rostock-gegen-dieafd-15801753.html; zuletzt geöffnet am 01.10.2018.

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

den Umgang mit dem Islam in Deutschland« der Landtagsfraktion der AfD Thüringen vom 23. März 2016 nachzulesen.10 Ähnlich heißt es im bayerischen Landtagswahlprogramm 2018 der AfD: »In der Ausbreitung des Islam auch in Bayern sieht die AfD eine Gefährdung des inneren Friedens, unserer Rechts- und Werteordnung sowie unserer kulturellen Identität« (ebd., S. 19). In der Konsequenz ergibt sich daraus die weitergehende, von Alexander Gauland bereits im Zeit-Interview vom 14. April 2016 gestellte Forderung, nicht die Muslim*innen, aber die Institutionen des organisierten Islams mögen das Land, wenn nicht gar Europa verlassen.11

2.3

Opfer stilisieren, Opferrollen besetzen

Im Sinne dieser Denke wird das vermeintlich eigene Volk mit der eigenen politischen Weltanschauung (›Rechts‹) identifiziert und beide werden zum Opfer einer gegen sie gerichteten Kampagne stilisiert: »Entschieden lehnen wir Aufrufe zu einseitigem ›Kampf gegen Rechts‹ an Schulen oder bei schulnahen Veranstaltungen ab […]. Das Wirken der Initiative ›Schule mit Courage – Schule ohne Rassismus‹ an bayerischen Schulen als bundesweites Indoktrinationsnetzwerk ist umgehend und ersatzlos zu beenden« (AfD Bayern Wahlprogramm 2018, S. 48).

2.4

Klare Feindbilder schaffen

Den klaren Feindbildern liegt eine verzerrende Darstellung des Islams zugrunde, die der Mehrheit der migrierten oder geflüchteten Muslim*innen ein archaisches und nicht reformfähiges Weltbild unterstellt, das den gesellschaftlichen Konsens in Deutschland zu zerstören drohe. Der Stilisierung der eigenen Opferrolle entspricht ein dauerndes Reden aus dem Status Confessionis heraus, das einen Pluralismus bei der Meinungsbildung, eine faire Geschäftsordnung des Diskurses und die kritische Frage nach angemessenen Handlungsformen unmöglich macht.

10 11

https://afd-thl.de/2016/03/23/leitlinien-zum-umgang-mit-dem-islam-in-deutschland/; zuletzt geöffnet am 27.01.2019; Henkel 2016, S. 115-118. »Ich will ja nicht, dass der Islam in Europa ist. Deshalb muss ich mich auch nicht mit der Frauenproblematik des Islams auseinandersetzen« (https://www.zeit.de/2016/17/alexandergauland-afd-cdu-konservatismus/seite-2; zuletzt geöffnet am 01.10.2018).

289

290

Frank van der Velden

2.5

Narrativ 1 und Intersektionalität

Das Narrativ des Limburger Doms wird somit auf drei Achsen exklusivistisch gedeutet: Kultur, Religion und Migration. Europäische Kultur wird so definiert, dass der Balkan mit seinen Millionen Muslim*innen und die längst in anderen europäischen Ländern ansässigen Muslim*innen daran angeblich keinen Anteil haben. Christliches Abendland wird so definiert, als ob es ohne den christlichen Orient denkbar sei. Migration wird als »Volksverdrängung« qualifiziert; eine gemeinsame kulturelle Teilhabe von als randständig markierten Menschen schließt sich damit aus. Alle drei Achsenabschnitte überschneiden sich und verstärken einander, bis eine neue Qualität der Ausgrenzung entsteht: Menschen, die diesem Überschneidungsbereich zugeschrieben werden, werden durch eine Verschwörungstheorie dämonisiert.

2.6

Das erste Gegennarrativ: Die ersten Christen in Deutschland waren Kopten

Das Gegennarrativ setzt an der exklusivistischen Kulturalisierung eines deutschen oder europäischen Christentums an. In der Regel wird ausgeblendet, dass in der römischen Zeit die ersten Christen hierzulande ägyptische Kopten waren. Ende des 3. Jhs. befahl der römische Kaiser Diokletian (von 284 bis 305) die Versetzung einer der drei ägyptischen Legionen, nämlich derjenigen unter dem Oberbefehl des »Mauritius« (der Name bedeutet im Koptischen12 so viel wie »der Offizier aus dem Süden«), nach Westeuropa. In dieser thebäischen Legion dienten 6.600 überwiegend christliche Offiziere und Soldaten aus Ägypten. In den Christenverfolgungen von Diokletian und Decius wurden zahlreiche dieser christlichen Ägypter als Märtyrer hingerichtet, zum Beispiel die besonders in der Schweiz verehrten Heiligen Mauritius und Verena.13 Viele der großen Dome und einige der ältesten christlichen Kirchen an Rhein und Donau stehen auf den Gräbern solcher koptischer Offiziere, unter anderem die große romanische Kirche St. Gereon in Köln. Im Dom St. Viktor zu Xanten am Niederrhein zeigt die Pforte koptische Märtyrer – der namensgebende Viktor, dazu Mauritius und Gereon. Das ursprüngliche Narrativ solcher Patrozinien verweist also auf eine kulturelle und religiöse Teilhabe am Christentum, welche die heute zu Deutschland, zur Schweiz oder zu Österreich gehörenden Gebiete durch Migration erworben haben. 12

13

Etwa zehn Prozent aller Ägypter*innen sind Christ*innen und gehören überwiegend der koptisch-orthodoxen Kirche an; das sind zwischen acht und zehn Millionen Menschen. Ihre Sprache ist das Arabische, der Gottesdienst aber wird in der alten koptischen Kirchensprache gefeiert. Sehr instruktiv und pädagogisch gut aufbereitet sind dazu die Beiträge auf http://kopten.ch/ deutschschweiz.html; zuletzt geöffnet am 10.10.2019.

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

Auch das Patrozinium des Limburger Doms St. Georg weist in die Zeit der diokletianischen Verfolgung. Der berühmte Drachentöter St. Georg, in der katholischen Tradition einer der 14 Nothelfer, stammte wohl aus dem kleinasiatischen Kappadokien in der heutigen Türkei und erlitt als Offizier das Martyrium in der römischen Provinz Syrien. Sein Grab wird heute in Israel, in der Nähe von Tel Aviv verehrt. Als Mar Ǧirǧis ist er einer der bedeutendsten Heiligen auch in allen orientalisch-orthodoxen Kirchen. An der Marina von Beirut wird bis heute der Golfe de St. Georges gezeigt, wo der berühmte Drachenkampf stattgefunden haben soll. Allerdings ist die Rezeption der gemeinsamen Erzähltraditionen zum Heiligen Georg in einigen Punkten recht unterschiedlich. Während die westkirchliche Rezeption ihn im Mittelalter zum Patron der Kreuzfahrer erhebt – schließlich soll die Eroberung Jerusalems im ersten Kreuzzug durch eine Erscheinung des Heiligen Georg unterstützt worden sein –, fehlt diese militaristische Deutung in der arabischen Tradition gänzlich. Im Orient gilt Mar Ǧirǧis auch Muslim*innen als vorbildlicher Streiter für den Monotheismus und gegen das altrömische Heidentum. Teilweise wird er mit dem namenlosen Nothelfer und Lehrer »Chidr« (arab. al-Ḫiḍr; der Grüne) aus Sure al-Kahf (Koran 18:60-82) identifiziert.14 »In Syrien, Libanon, Palästina und Jordanien wird Chidr von Christen und vielen Muslimen mit dem Heiligen Georg identifiziert. Beide Figuren sind im volkstümlichen Brauchtum so weit verschmolzen, dass ihre Namen als Synonyme aufgefasst werden.«15 An der St.-Georgs-Legende lässt sich daher gut ablesen, wie militante, exklusivistische Fortschreibungen neben offenen und dialogorientierten Erzählungen stehen. Christliche Ökumene bedeutet, dass man sich eine solche Komplexität nicht ersparen darf, indem man das Narrativ des Heiligen Georg – und des ihm geweihten Domes – einseitig verkürzt. Jedoch spricht nichts dagegen, wenn man im Guten voneinander lernt und dabei das Eigene in den Narrativen der anderen neu entdeckt.

2.7

Das zweite Gegennarrativ: Schirin und das Heilige Kreuz

Die kostbarste Reliquie des Limburger Doms St. Georg stammt aus einem nach Konstantinopel verbrachten Teil des sogenannten Heiligen Kreuzes, das in Stücken zur Befüllung kostbarer Staurotheken16 diente, von denen eine der wohl schönsten 14

15 16

Diese 18. Sure des Korans nimmt auf eine Reihe von spätantiken und christlichen Texten Bezug, so auf die Siebenschläferlegende (Koran 18:9-26), auf biblische Weinberg- und Ackergleichnisse (Koran 18:32-45) und auf den syrischen Alexander-Roman (Koran 18:83-97). https://www.wikizero.com/de/Al-Chidr; zuletzt geöffnet am 10.10.2019 mit Verweis auf Kriss 1960, S. 48. Staurotheken hatten im byzantinischen Reich weitgehende repräsentative Funktionen, zum Beispiel. indem sie ausrückenden Armeen als sogenanntes Siegeszeichen vorangetragen wurden.

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nach der Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 aus dem Tresor des kaiserlichen Palastes verschwand und über Umwege schließlich 1835 in den Dom von Limburg gelangte. Um diesem Narrativ nachzuspüren, ist allerdings ein Ausflug in die Kirchengeschichte unerlässlich. Nachdem Kaiser Konstantin das Christentum erst erlaubte und später zur vorherrschenden Religion im Staate machte, wuchs im Römischen Reich das öffentliche Interesse an den Zeugnissen und historischen Stätten der biblischen und speziell der neutestamentlichen Überlieferung. Was lag also näher, als dass Kaiserinmutter Helena im Jahr 325 gleichsam zu einer »Promotiontour« ins Heilige Land aufbrach, um Orte und Gegenstände aus dem Umfeld Jesu aufzufinden und für das kulturelle Reichserbe zu sichern? Da durch die Christenverfolgungen in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung aber vieles verlegt, versteckt und verborgen werden musste, manche Lokalisierung zudem auch nie überliefert worden war, war diese Reise auch gleichzeitig der Beginn der christlichen Archäologie im Heiligen Land. Der später angefertigte Reisebericht ist gespickt mit wundersamen und mutigen Neu-Lokalisierungen heiliger Orte; vor allem findet sich dort auch die ›Auffindung‹ des Kreuzes Jesu. Historisch sicherer ist dagegen der weitere Verbleib des Heiligen Kreuzes. Teile des Kreuzes kamen nach Rom und Konstantinopel. Der Jerusalemer Anteil des Heiligen Kreuzes blieb im Besitz des dortigen Patriarchats – bis zu der für uns interessanten Episode, der persischen Eroberung von Jerusalem durch den Sassanidenherrscher König Chosrou II. (gebräuchliche Schreibweisen sind auch Kosrau oder Chosroes) im Jahre 614. Die Erinnerung an die folgende Zerstörung vieler Kirchen der Stadt durch die Perser hat sich tief in das Gedächtnis des römischen Christentums eingegraben. Weniger bekannt ist, dass der Zoroastrier Chosrou II. nicht aus einer generell antichristlichen Haltung heraus die Stadt und ihre Kirchen verwüstete – das hätte er sich bei einem Christ*innenanteil von fast 50 Prozent im eigenen Reich (Baumer 2005, S. 96), das sich über den heutigen Iran und Irak erstreckte, auch kaum leisten können. Vielmehr bekämpfte er die Staatskirche seines militärischen Gegners. Die römische Reichskircheneinheit bedeutete ja, dass der byzantinische Patriarch von Jerusalem als ideologischer Statthalter des oströmischen Kaisers fungierte, und die im Sassanidenreich vertretenen syrisch-orthodoxen und assyrischen Christen lagen seit dem 4. Jh. mit diesem ökumenischen (weltweiten) Geltungsanspruch der byzantinischen Kirche kräftig über Kreuz, waren sogar teilweise vor den Byzantinern ins Sassanidenreich geflohen. Daher zerstörte Chosrou II. auch die Reliquie des Heiligen Kreuzes nicht, sondern überführte sie mit allen Ehren wohl in den Palast von Ganzak (Takht-e Suleiman) zu seiner kaiserlichen Gemahlin Schirin, welche selbst Christin und Schutzherrin der christlichen Kirchen im Sassanidenreich war (Baum 2003, S. 57-65). Ein Jahrzehnt später wendete sich das politische Glück und bis zum Jahr 630 mussten die östlichen Provinzen des byzantinischen Reiches und die eroberte Kreuzre-

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

liquie an Byzanz zurückgeben werden. Die Reliquie wurde anschließend im Triumph nach Jerusalem zurückgeführt (Kreuzerhöhung). Die Regierungszeit Chosrou II. wird in der Überlieferung der assyrischen Kirche als eine Blütezeit betrachtet. Der assyrische Patriarch nahm im Reich traditionell die Vertretung aller Christ*innen bei Hofe wahr und durch das Engagement von Schirin prosperierten ihre Kirche und das Christentum allgemein. Das Zusammenleben der Religionen erschien unproblematischer als im 3. oder 4. Jh., die beide auch im Perserreich zeitweise von üblen Christenverfolgungen durch die Zoroastrier geprägt waren. Die Beziehung zwischen Chosrou II. und Schirin wird später, im 12. Jh., vom persischen Dichter Nizami zum Idealtypus einer höfischen Ehe überhöht. In seinem Epos Chosrou und Schirin muss sich der König erst in zwei Vorbeziehungen, die er mit einem gesellschaftlichen Trophy Woman und dann mit dem Sexiest Woman Alive verbringt, über die Begrenztheiten seiner männlichen Phantasie klar werden, bevor er der reinen Liebe zu Schirin würdig wird. Dabei bleibt allerdings auch die romantische Liebe von Schirin zu dem aus einfachen Verhältnissen stammenden Baumeister Ferhad auf der Strecke, der vom eifersüchtigen Chosrou erst in eine Herkules-Aufgabe und später in den Tod geschickt wird. Diese Episode erwähnt bereits Firdausi im persischen Nationalepos Schahname (10./11. Jh.). Die Religionsverschiedenheit der Ehe und das interreligiöse Zusammenleben spielen dagegen bei Firdausi und Nizami keine Rolle mehr. In diesem Sinne hat Schirin bis heute einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis des ganzen Orients. Ihre Gestalt ist häufig in Historienfilmen präsent und changiert dann irgendwo zwischen Sissi und der Heiligen Elisabeth.17 Dazu tritt über die Figur des Ferhad das Motiv der romantischen, verbotenen Liebe. Christ*innen wie Muslim*innen im Orient nennen bis heute ihre Töchter gerne Schirin, Sherine oder Shirin. Und natürlich hat Schirin durch die häufige Rezeption des Epos von Nizami ihren weiteren Weg durch die Literatur gemacht. Sie erscheint im Westöstlichen Diwan bei Goethe und im Roman Benim adım kırmızı (»Mein Name sei Rot«) des türkischen Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk begleitet Nizamis Epos Teile der Handlung leitmotivisch. Neben den literarischen Verweisen wird die Romanze auch in einer Vielzahl klassischer persischer und osmanischer Miniaturen verarbeitet.18

17

18

In manchen syro-aramäischen Synhexarien wird Schirin als Heilige geführt, weswegen sie auch im Ökumenischen Heiligenlexikon erscheint (https://www.heiligenlexikon.de/BiographienS/Shirin_von_Persien.html; zuletzt geöffnet am 05.01.2019). Die schönsten davon finden sich im illustrierten Mittelteil von Baum (2003).

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2.8

Gegennarrative und Intersektionalität

Das Narrativ des Limburger Doms wird in beiden Gegennarrativen auf drei Achsen entgrenzend gedeutet: Religion, Migration und Kultur. Religion wird dabei so betrachtet, dass das Christliche am Abendland erst durch eine Teilhabe am christlichen Orient entstanden ist, auch wenn sehr bald eine eigenständige Rezeption und Entwicklung begann. Migration wird als Begegnungsgeschichte qualifiziert, die ein gemeinsames kulturelles Wachsen als Ressource, aber auch das Risiko einer gegenseitigen Verweigerung mit sich bringt. Europäische Kultur schließt den Kompetenzerwerb zum Umgang mit dem Religionsplural verpflichtend ein. Sie definiert sich über die Freiheiten und Verpflichtungen einer Wertegemeinschaft, zu der Millionen von Muslim*innen in Bosnien und auf dem Balkan genauso gehören wie Muslim*innen im Rest Europas. Wo sich alle drei Achsenabschnitte überschneiden und einander verstärken, wird eine besondere Qualität dieser intertwined worlds sichtbar: Über die Narrative des anderen – zum Beispiel Schirin und das Heilige Kreuz oder auch Mar Ǧirǧis – zeigt sich am eigenen Heiligen eine spirituelle Dimension, die den anderen entdämonisiert und geschwisterlich aufnimmt.

2.9

Pädagogischer Ansatz für die Gegennarrative

An vielen Orten, wo Gemeinden anderer Muttersprache in katholischen oder evangelischen Kirchen zu Gast sind und ihre Gottesdienste feiern, ist die Begegnung miteinander von organisatorischen oder sozialen Aufgaben geprägt. Für das Empowerment von Geflüchteten ist aber auch wichtig, dass man ihnen als Glaubenden begegnet und dass sie dafür aus den eigenen kulturellen und religiösen Traditionen positive Selbst- und Rollenvorbilder entwickeln können. Das Heilige Kreuz war im 7. Jh. für 14 Jahre bei den Menschen und den Religionen in Groß-Iran willkommen. Teile von ihm sind im Mittelalter über die gleichen Routen nach Europa gekommen wie heute die Geflüchteten zu uns. Daher bietet die Katholische Erwachsenenbildung Hessen e. V. seit dem Jahr 2018 zweisprachige Vorträge (arabisch und deutsch oder eritreisch und deutsch) mit Geflüchteten und Migrierten als Referent*innen an, welche diese Geschichte und die Spiritualität orientalischer Christ*innen vor gemischtem Publikum erzählen. Die dort behandelten Narrative dienen dabei nicht zur bloßen Nabelschau der Herkunftskulturen, sondern sie werden in ihrer kulturellen Relevanz für das Ankunftsland vermittelt.19

19

Dort wo die Sprachbarriere nicht (mehr) besteht, ergeben sich zusätzliche Möglichkeiten für den Einsatz der Narrative, zum Beispiel im szenischen Spiel. So können weibliche Geflüchtete oder Migrierte aus Syrien, dem Irak oder dem Iran ihre eigenen kulturellen und religiösen Biografien – und das Zusammenleben der Religionen in ihren Herkunftsländern – an der Figur der Schirin narrativ spiegeln.

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

3.

Narrativ 2: die erste Hidschra der Muslim*innen ins christliche Äthiopien

Auf die Bedeutung von Narrativen für die Identität der muslimischen Erinnerungsgemeinschaft hat erneut Harry H. Behr hingewiesen (Behr 2018).20 Dazu gehören auch mehrere Fluchtnarrative, in denen bereits die frühe muslimische Gemeinschaft ihr Selbstverständnis und ihre Verhaltensmuster gegenüber Menschen mit anderen kulturellen und religiösen Identitäten beschreibt (Omerika 2018). Zu den zentralen Narrativen dieser Art gehören die Hidschra (von arab. hağara für aufgeben, sich trennen, sich lossagen) von Mekka nach Medina, die den Beginn der islamischen Zeitrechnung markiert (622), und die frühere, erste Hidschra nach Äthiopien (Abessinien), die traditionell im fünften Jahr der Offenbarung (615) verortet wird (Omerika 2018, S. 84). Ich habe dieses Narrativ und seine historische Bedeutung bereits an anderer Stelle beschrieben (van der Velden 2013, S. 123-127) und gebe im Folgenden nur die wichtigsten Punkte der von Gernot Rotter rekonstruierten Grunderzählung aus der Sīra des Ibn Isḥāq (Mitte des 8. Jhs.) wieder (Rotter 1999, S. 65-71). Während einer religiösen Verfolgung der ersten Muslim*innen durch die ungläubigen Quraisch in Mekka beschließt Muhammad, eine Gruppe von 83 Männern mit ihren Familien ins Exil nach Äthiopien zu schicken, weil dort ein gerechter (christlicher) König herrsche. Im Exil wird die Gemeinde durch nachgereiste Spione der Quraisch denunziert, worauf es zu einem Religionsgespräch am Hofe des christlichen Königs (des Negus, arab. an-nağāšī) kommt. Dja’far, der Anführer der Muslime, rezitiert dabei einen Abschnitt aus Sura Maryam (wohl Sure 19:1-30).21 Dieser Text ist selbst ein Narrativ und eine paraphrasierende Bearbeitung der ersten beiden Kapitel des Lukas-Evangeliums. Hier findet sich eine Schnittmengenbestimmung dessen, was Christ*innen und Muslim*innen gemeinsam über Jesus aussagen können. Den guten Ausgang des ersten Gesprächs bestätigt die durch

20

21

»Maßgebliche Prozesse [der Koranentstehung] […] müssen aus dem Wechselspiel zwischen Genese und Exegese verstanden werden […]. Damit verbunden ist ein erstarkendes Bewusstsein, dass mit der Vertextung ein wachsender Erinnerungsbestand und eine sich etablierende Erinnerungskultur entstehen […]. Das betrifft vor allem die zunehmend inszenierte religiöse Differenz zwischen den jüdischen, christlichen und nun auch islamischen Strömungen und Stämmen jener Zeit […]. Fragen der religiösen Selbstwahrnehmung des Subjekts und seiner konfliktären Verhältnisbestimmungen zur Tradition und zum Kollektiv gehen Hand in Hand mit der Sicherung dieses Erinnerungs- und Erzählbestands« (ebd.). Auch für die klassische islamische Auslegung sind die Verse 1 bis 33 und der hintere Teil von Sure 19 in zwei getrennten Offenbarungen entstanden (Bazargan 2006, S. 40 f.). Ob die metrisch abgesetzten Verse 31 bis 34, die nicht narrativ sind, sondern abschließend eine kritische Bewertung des christlichen Dogmas geben, bereits zum ältesten Textbestand der Sure gehören, ist umstritten.

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den Negus und seine Bischöfe geäußerte Wertschätzung: Diese Offenbarung und die Offenbarung Jesu stammten aus der gleichen Nische. Ein zweites Religionsgespräch bei Hofe soll die Glaubensaussagen beider Seiten zu Jesus inhaltlich weiter klären. Die Muslim*innen geraten in Angst, weil sie um das abweichende christliche Bekenntnis wissen und ihre Ausweisung befürchten. Sie beschließen aber, Ihr Bekenntnis nicht zu verleugnen und bieten dem Negus und seinen Bischöfen eine Glaubensformel an, die aus koranischen Jesus-Titeln zusammengesetzt ist: »Wir sagen über ihn, was unser Prophet uns geoffenbart hat, nämlich dass er der Diener Gottes, sein Prophet, sein Geist und sein Wort ist, das Er der Jungfrau Maria eingegeben hatte.«22 Der Negus urteilt daraufhin, dass er sein christliches Bekenntnis in diesen Titeln vollständig wiederfinden könne, und gewährt den Geflüchteten dauerhaft ein ungefährdetes Asyl. Spätere Fortschreibungen des Grundbestandes fügen populäre Sequenzen ein, wie den Bruch der Hofetikette durch die Muslime: Sie wollen sich nur vor Gott verneigen und verweigern dem Negus die Proskynese. Hierbei handelt es sich um ein typisches Wandermotiv vieler Legenden. Bereits Mordechai verweigert im biblischen Esther-Buch (Est 3,2) dem Perser Haman aus religiösen Gründen die ihm zustehende Proskynese und bringt sich und sein Volk damit in Schwierigkeiten. Ein weiteres Wandermotiv ist die spätere heimliche Konversion des Negus zum Islam. Dieses Motiv findet sich anders gewendet etwa auch in koptischen Legenden des 10. Jhs., welche nach einer christlichen Wundertat die heimliche Konversion des fatimidischen Kalifen al-Mu’izz li-Dīn Allah (953 bis 975) zum Christentum beschreiben (Sawīris Ibn al-Muqaffa, Nachdruck 1943, S. 91-100).

3.1

Kontextualisierung der Erzählung

Die erste Hidschra lässt sich mangels äthiopischer oder außerislamischer Quellen historisch nicht belegen. Meines Erachtens nimmt Ibn Isḥāq eine ältere Erzählung auf, über die er einen idealen Dialog für das Religionsgespräch zwischen Christ*innen und Muslim*innen seiner Zeit (des 8. Jhs.) legt. Er projiziert diesen episodisch auf die früheste Gründungszeit des Islams zurück (van der Velden 2011, S. 238 ff). So gelesen, lassen sich das Setting und die für christliche Ohren eigenartig positive Reaktion des Negus auf die islamische Glaubensformel zu Jesus gut erklären.

22

Auf den Anachronismus, dass die aus Sure 4:171 stammenden Jesus-Titel nach der klassischen Offenbarungsfolge zur Zeit der Auswanderung nach Äthiopien noch nicht bekannt sein konnten, soll hier nicht weiter eingegangen werden (van der Velden 2011, S. 238 ff.).

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

3.2

Religiöse Repräsentanten bei Hofe

Die Repräsentation unterschiedlicher Religionsgemeinschaften bei Hofe ist eine seit der Spätantike im Orient gut belegte höfische Sozialform sowie Teil der Herrschaftsbestellung und des Mandats, für den Reichbekenntnisfrieden zu sorgen. Im persischen Sassanidenreich gehörten ab Mitte des 5. Jhs. – allerdings erst nach Jahrhunderten erbitterter Christenverfolgungen – neben der altiranischen Staatsreligion auch die jüdische Glaubensgemeinschaft und verschiedene nichtbyzantinische christliche Kirchen zu den anerkannten Religionsgemeinschaften (Baumer 2005, S. 90-98, 102). Bei Hofe repräsentierten die religiösen Oberhäupter der großen Glaubensgemeinschaften die Vertreter ihrer jeweiligen Religion. Für Christ*innen aller Konfessionen wurde dies durch den Katholikos der assyrischen Kirche des Ostens wahrgenommen. In der Entstehungszeit des Islams ist der christliche Einfluss im Iran nicht zu unterschätzen. Immerhin war Schirin, die Lieblingsfrau des Großkönigs Chosrou II., eine Christin (siehe oben); Medizin und Wissenschaft wurden von Christen teilweise dominiert. Diese Repräsentation bei Hofe wurde im arabischen Herrschaftsraum fortgeführt und wirkte auch im späteren Osmanischen Reich auf der Basis des Millet-Systems nach. Bis heute finden sich in den modernen Staaten des Orients oder auch in Bosnien religionspolitische Institutionen, welche diese 1.500 Jahre alte kulturelle Tradition weitertragen. Im Rahmen dieser Repräsentation bei Hofe sind auch Religionsgespräche überliefert. Historisch nachweisbar und dokumentiert sind die Gespräche des assyrischen Katholikos Timotheus (der Große) am abbasidischen Kalifenhof in Bagdad (8./9. Jh.). Legendenhaft und mit Wundererzählungen garniert sind die Gespräche des koptischen Patriarchen Abram Syrus am fatimidischen Kalifenhof in Kairo (10. Jh.). Dabei spielen akademische Dispute zwar eine gewisse Rolle für die Wissensbildung übereinander, aber da sich Religionen bezüglich ihrer Unterschiede kaum dauerhaft gegenseitig überzeugen können, kann der Streit um die Wahrheit nicht die Raison d’Être des Religionsgesprächs sein.23 Vielmehr bilden sich am Verhalten der obersten religiösen Autoritäten zueinander und in den Gesprächen bei Hofe ideale Diskurse ab, die im Sinne einer inneren Agenda des gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen sind. In ihnen werden das gesellschaftliche Selbstverständnis der religiösen Gemeinschaften und ihr Verhältnis zueinander illustriert. Je nach Autorschaft der Erzählung kann dies aus der Binnenperspektive oder aus der Außensicht geschehen. In unserer Erzählung wird aus muslimischer Sichtweise ein im Sinne der Staatsraison des Umayyadenreichs sozial erwünschtes Verhalten der Religionsgemeinschaften reflektiert. 23

Zur Zielsetzung idealer Dialoge des Religionsgesprächs im europäischen Mittelalter und bis zur Aufklärung siehe Hafner (2001).

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3.3

Die Bedeutung einer Formula Unionis

Auch im spätantiken byzantinischen Reich, das allerdings kaum eine öffentliche Repräsentation einer anderen Religion neben dem Staatschristentum duldete, lag die Verantwortung für die christliche Reichsbekenntniseinheit letztlich beim Kaiser. Nun war die christliche Spätantike geprägt von andauernden und heftigen Streitigkeiten um das richtige Verständnis der menschlichen und göttlichen Natur Jesu. Auch der Koran nimmt diese Parteiungen (aḥzāb) als etwas typisch Christliches und ein wenig kopfschüttelnd wahr (Koran 19:37 und andere ähnliche Textstellen). Wenn der Kaiser solche Konflikte deeskalieren wollte, berief er Kirchenversammlungen ein, von denen die großen ökumenischen Konzile nur die bekanntesten sind. Zum kaiserlichen Krisenmanagement gehörte es, die streitenden Parteien auf seine Einladung hin erst einmal um einen Tisch zu versammeln und klärende Gespräche zu führen. Im Erfolgsfall wurde als Abschlussdokument eine Formula Unionis, also eine Kompromissformel, verabschiedet. Wer dem Wortlaut nicht zustimmen konnte oder wollte, wurde ausgeschlossen (anathematisiert), und damit galt der aktuelle Konflikt als befriedet. Es liegt allerdings im Wesen von Kompromissformeln, dass sie den Sachgrund einer Auseinandersetzung nicht lösen, sondern von jeder Partei in ihrem Sinne und als Sieg der eigenen Sache verstanden werden. Daher folgten nach jedem Konzil ein zähes Ringen um die Interpretation und Umsetzungsmodalitäten der Formula Unionis – und häufig Widerrufe und eine Verstärkung der Auseinandersetzung. So erklärt sich die Reihe von fünf ökumenischen Konzilen und zahlreichen regionalen Kirchenversammlungen zwischen dem 5. und dem 9. Jh., die letztlich um vergleichbare theologische Punkte kreisten, die Bekenntniseinheit aber immer nur temporär garantieren konnten. Die Formel im Ausgang des zweiten Gesprächs vor dem Negus weist darauf hin, dass die Umayyaden mit den von den Byzantinern eroberten Provinzen auch Kulturtechniken aus deren religionspolitischem Krisenmanagement übernommen haben. Allerdings sollte die Kompromissformel hier keine Vereinigung der Religionsgemeinschaften, sondern ihr friedliches Zusammenleben ermöglichen. Dies funktioniert solange, wie beide Parteien die Freiheit haben, die Aussagen in ihrem Sinne zu verstehen. Die christliche Lesart wäre: Diener Gottes (Jesus als Gottesknecht, wie in Jes Kap. 42-53), sein Prophet (Christus als Siegel der Prophetie, wie bei Tertullian [adv. Jud.] mit Verweis auf die Daniel-Visionen), sein Geist (»Der Geist des Herrn ruht auf mir …« sagt Jesus programmatisch von sich selbst in Lk 4 und mit Bezug auf Jes 61,6) und sein Wort (wie im Prolog des Johannes-Evangeliums, wo mit diesem Titel die Präexistenz des Logos und die Erlösungswirkung der Inkarnation ausgedrückt wird), das Gott der Jungfrau Maria eingegeben hatte (die unbefleckte Empfängnis, wie in Mt 1 und Lk). Hiermit wird der Kern des christlichen Dogmas

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

über zentrale Titel Jesu in der orientalischen Christologie24 äquivok benannt, wenn auch auf beiden Seiten unterschiedlich gedeutet. Auf die Benennung dieser Unterschiede wird vorerst aber verzichtet, obwohl sie bekannt sind. Für die frühe Zeit der Begegnung von Christ*innen und Muslim*innen im Umayyadenreich des 1. Jhs. der Hidschra wird Einheit somit einerseits als die Bestimmung von Schnittmengen (Koran 19:1-30) verstanden. Andererseits wird über die Kompromissformel ein Freiraum eröffnet, in dem eine Sprache für das Trennende entwickelt werden kann (und muss). Wie in der byzantinischen Religionspolitik ist auch hier entscheidend, was nach der Formel geschieht. Es wird also eine Aufgabe für die Zukunft gestellt. Wem das wenig oder gar theologisch bedenklich erscheint, möge Roman Siebenrocks Anmerkungen zum dritten Kapitel der Konstitution Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils überdenken, die das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Muslim*innen in den 1960er-Jahren neu bestimmte: »Getreu der […] Grundorientierung, das Gemeinsame zu betonen, darf das Ungesagte nicht als vergessen oder verdrängt eingestuft werden. Vielmehr bedarf es in diesen Fragen noch einer in gemeinsamer Suche zu erringenden Sprache […]. In solchem Schweigen [über das Trennende; Anm. d. Verf.] zeigen sich eine Verlegenheit und eine Grundhaltung des Textes. Weil noch keine angemessenen Kategorien zur Verfügung stehen und die überkommenen nicht mehr hinreichen, verzichtet der Text auf ungeprüfte Experimente und überlässt diese Fragen der kommenden Entwicklung« (Siebenrock 2005, S. 660).

4.

Zwischenergebnis

Die Erzählung lässt sich also von zwei Seiten anschauen. Einerseits wird die Standhaftigkeit der Muslim*innen in ihrem Glauben erzählt, die vor den mekkanischen Verleumdungen und vor der eigenen Unsicherheit bezüglich der Reaktion des Negus bestehen müssen. Andererseits wird von der Fairness des christlichen Negus erzählt, der den Muslim*innen die Möglichkeit gibt, ihre Überzeugungen im repräsentativen Rahmen eines Religionsgesprächs bei Hofe darzustellen. Im Gespräch wird von den Muslim*innen ein Teil der Sure Maryam rezitiert, die in ihren Versen 1 bis 30 möglicherweise ein an Christ*innen gerichteter Text war. All dies weist auf große gegenseitige Wertschätzung hin. Das weitere Krisenmanagement wird auf der obersten Ebene des damals politisch Möglichen betrieben. Die obersten 24

Anders als die spätere westkirchliche Theologie, kennen die byzantinischen und orientalischen Christologien keine Zuspitzung des göttlichen Erlösungshandelns in einer Theologia Crucis. Vielmehr wird die Theosis (Gottwerdung) als Prozess verstanden, der zwischen der Präexistenz des Logos, der Inkarnation, der Passion und der Auferstehung verläuft.

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religiösen Repräsentanten im Land nehmen so ihre Aufgabe wahr, aus ihren eigenen theologischen Traditionen heraus emotionale und soziale Verhaltensmuster gegenüber Menschen mit anderen kulturellen und religiösen Identitäten im Sinne eines dauerhaften friedlichen Zusammenlebens zu diskutieren. In diesem Sinne hat die Erzählung in den modernen Staaten Äthiopien und Eritrea, die etwa gleich große christliche und muslimische Bevölkerungsanteile haben, bis heute den Rang eines staatstragenden Narrativs. Auch in der arabischen Welt wird sie durchgängig als eine Ermunterung zur freundlichen und friedlichen Teilhabe von Christ*innen und Muslim*innen am gleichen Gemeinwesen verstanden. Bis in die islamische Volksfrömmigkeit hinein ist der Nagāšī eine positiv besetzte Erzählfigur und die Episode wurde in zahlreichen Historienfilmen verarbeitet, von denen »The Messenger« (Mohammed – der Gesandte Gottes) des syrischen Regisseurs Moustapha Akka aus dem Jahr 1977 – mit Anthony Quinn in der Rolle des Hamza – auch hierzulande bekannt wurde.

5.

Die Umdeutung und Verfälschung des Narrativs

Im Bereich des politischen Islamismus ist die Plattform Realität Islam eine Art identitäre Bewegung auf der anderen Seite. Auf der Homepage von Realität Islam finden sich vier kurze Filme, die unter der Zwischenüberschrift »Die Lehren aus Abessinien« ein Programm des Verhaltens von Muslim*innen in einer nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft entwickeln wollen.25 Dabei wird jeweils eine Verhaltensregel durch eine Sprecherstimme aus dem Hintergrund heraus vorgestellt und diese mit kurzen Sequenzen eines Historienfilms bebildert, der das Religionsgespräch bei Hofe in Äthiopien zum Gegenstand hat. Im ersten Film »Die Kraft der redlichen Gemeinschaft« wird die aktuelle Situation der Muslim*innen in Deutschland zur Schicksalsfrage einer bedrohten Gemeinschaft erklärt und darin die Entsprechung zur Exilgemeinde in Abessinien gesehen. Dies habe bereits damals notwendig einen kollektiven Geist und eine starke Führung seitens erfordert, die sich durch volles Vertrauen, Aufrichtigkeit, Opferbereitschaft, Wissen, Kompromisslosigkeit und Empathie gegenüber dem Kollektiv auszeichnete. Heute befänden sich Muslim*innen in Europa in einer ähnlichen Lage; nur seien sie leider ohne eine starke Führung. Sie sollten ihre »Schicksalsfrage« in Europa nun selbst in die Hand nehmen und diese Führung aufbauen, um als Kollektiv wahrgenommen zu werden, denn: »Ohne den Islam besitzen wir weder eine

25

Die Filme wurden zwischen dem 12. Juni 2016 und dem 1. Juli 2016 ins Netz gestellt (www.realitaet-islam.de; zuletzt geöffnet am 05.01.2019).

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

Identität noch eine Zukunft.« Sichtbar wird dabei ein essenzialistischer und pluralitätsfeindlicher Begriff von dem, was Islam sei. Individualität wird nur negativ (als Angst vor individuellem Fehlverhalten) thematisiert. Dazu herrscht ein dauerndes Reden aus dem Status Confessionis heraus vor, was wirklichen Diskurs, nämlich Verständigung unter dem Vorzeichen gemeinsamer Handlungsbereitschaft, so gut wie unmöglich macht. Der zweite Film »Die unnachgiebige Haltung der islamischen Gemeinschaft« beginnt wiederum mit einem Appell an Geschlossenheit, Klarheit und Kompromisslosigkeit. Es sei absehbar, dass die Einhaltung islamischer Regeln von außen als gravierender Bruch mit geltenden Regeln der Mehrheitsgesellschaft verstanden würde. Illustriert wird dies am Bruch mit der herrschenden Hofetikette in Äthiopien durch die Verweigerung der Verneigung vor dem Negus: Andere mögen sich vor menschlichen Herrschern verneigen; Muslim*innen verneigen sich nur vor Gott. Für die Beurteilung des Verhaltens der Muslim*innen ist ihr eigenes Verständnis relevant, nicht das Verständnis der anderen. Die Botschaft: Wird dies nur geschickt und konsequent genug durchgeführt, so werden die anderen es respektieren, wie der Negus die verweigerte Proskynese akzeptierte. Dies gelte auch für die heutigen Konfliktthemen: Muhammad-Karikaturen, Kopftuch-Debatte, koedukativer Schwimmunterricht etc. All dies sei nicht verhandelbar wie die Verneigung vor dem Negus. So wie nur die geschlossene Einheit die Lage vor dem Negus gelöst habe, so gebe es auch heute Identität nur in Uniformität. So könne es auch weder einen Euro-Islam noch einen Reform-Islam geben. Komme, was kommen mag. Im dritten Film »Das vortreffliche Verhalten der islamischen Gemeinschaft« werden die Muslim*innen in Europa (zweimal) als Gäste bezeichnet, die den Gastgebern das Hausrecht nicht streitig machen oder die öffentliche Ordnung nicht herausfordern dürfen. Sie sollen sich also nicht als Teil der europäischen Gemeinschaft begreifen, sondern exodusfähig werden. Der vierte Film »Das furchtlose Aussprechen der Wahrheit« pointiert die Schicksalsfrage: entweder die Wahrheit aussprechen und in Gefahr geraten oder die Wahrheit vermeiden und den Islam aufgeben. Dazwischen gebe es keinen Spielraum und keinerlei Kompromisse. Die Einsicht des Negus wird als Konversion des Herzens gedeutet; er sei also durch die Standhaftigkeit der Muslim*innen im Glauben bekehrt worden. Ins Heute gewendet bedeute dies: kein Verdrehen oder westliche Anpassung des Islams, um Anerkennung zu gewinnen. Die Muslim*innen müssten sich zwischen der Gunst Allahs und der Gunst der Mehrheitsgesellschaft entscheiden.

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6.

Zusammenfassung

Das wahrscheinlich sekundäre Motiv der Verweigerung der Proskynese vor dem Negus wird zum Leitmotiv, neben dem wenig anderes Platz hat. Dadurch wird die theologische Komplexität des Narrativs soweit reduziert, dass es keine positiven Bilder eines dauerhaften friedlichen Zusammenlebens mehr generieren kann, obwohl nach der ursprünglichen Erzählung wohl längst nicht alle Ausgewanderten nach Mekka beziehungsweise Medina zurückkehrten (Rotter 1999, S. 76) – und obwohl sich in der klassischen islamischen Rechtsauslegung durchaus Stimmen finden, die Muslim*innen mit Hinweis auf die erste Hidschra den Verbleib in nichtmuslimisch dominierten Gesellschaftssystemen empfehlen, solange dort die Religionsfreiheit gewährleistet ist (Omerika 2018, S. 91). Die Konstellation Negus versus Exilgemeinde wird durch solche Mittel in die Nähe der koranischen Konstellation Pharao versus Mūsā (Moses) gerückt, in der sich wiederum der Konflikt der erklärtermaßen als ungläubig markierten mekkanischen Autoritäten mit Muhammad spiegelt.26 Das ursprüngliche religiöse Narrativ, das Diversifikations- und Relationierungskompetenzen befördert, wird gegen den Strich der eigenen klassischen Schule gelesen und absichtsvoll in sein Gegenteil verkehrt. Bisher sicher geglaubte Orientierungspunkte werden diskreditiert und es wird die Verinselung von Wissen betrieben. Die Erzählung wird so zu einem identitären religiösen Narrativ uminterpretiert mit der Zielsetzung, eine in die Mehrheitsgesellschaft integrierte Gemeinschaft als Fremdkörper zu konstruieren und sie exodusfähig zu machen. Wieder wird durch die Aufnahme vorhandener Ängste, die Verunsicherung der Adressaten, die Beförderung von Opferrollen und Feindbildern Intersektionalität bewusst hergestellt. Über die Achsen Religion, Kultur und Migration treffen sich beide Narrative – der identitäre rechtspopulistische und der identitäre islamistische – in der gleichlautenden Aussage, dass Europa nicht dauerhafte Heimat von Muslim*innen sein könne. Auf beiden Seiten herrscht ein essenzialistischer und pluralitätsfeindlicher Begriff von dem, was Islam sei. Dadurch werden Konflikte zwischen Scharia und Grundgesetz erst hergestellt, um eine fiktive Aporie zu suggerieren, in der die Entscheidung für die Scharia nur unter Ablehnung der grundgesetzlichen Ordnung möglich erscheint.

26

Pharao (arab. fir’aun) gilt auch außerhalb des Korans als Nickname für einen ›Ungläubigen‹ schlechthin. Legendär ist die Predigt von Yusuf el-Qaradawi auf dem befreiten Tahrir-Platz im Februar 2011, in der er den politischen Aufstand der ägyptischen Revolution gegen Mubarak mit dem Widerstand des Mūsā (Moses) vor dem bösen Fir’aun verglich.

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

7.

Pädagogische Aktualisierungen des ursprünglichen Narrativs

7.1

Bosnien

Am 22. April 2017 berichtete die Saravejo Times von der Initiative Places of Suffering des Interreligiösen Rats, in dem sich die obersten religiösen Autoritäten des Landes zusammenfinden: der Res ul-Ulema Husein Kavazović, der katholische Kardinal Vinko Puljić und der serbisch-orthodoxe Metropolit Hrisostom gemeinsam mit dem Leiter der jüdischen Gemeinschaft in Sarajevo:27 »The Inter-religious Council in Bosnia and Herzegovina (MRV) will organize a tour to visit the places of the suffering of the Bosniaks, Serbs, Croats and Jewish Sites on Monday, 24th April. The aim of the visit will be necessity of respecting all victims regardless of their religious or national affiliation.« Die Republik Bosnien und Herzegowina ist nach wie vor durch die Traumata aus dem Krieg der 1990er-Jahre geprägt. Wichtige politische Entscheidungen können laut Verfassung nur einmütig zwischen den drei großen Bevölkerungsgruppen – muslimische Bosniaken, orthodoxe serbische und katholische kroatische Bosnier – vereinbart werden. Empfindliche Themen der nationalen Identität, wie die Erinnerungskultur oder die Trauerarbeit für das im Krieg begangene Unrecht, sind auf der Basis der politischen Fraktionen im Parlament aber kaum vereinbar und verbleiben häufig unbearbeitet. Bosnien leidet bis heute unter zu vielen alten Männern, die noch alte Rechnungen begleichen wollen und der jungen Generation damit ihre Zukunft verbauen. Die Mitglieder des Interreligiösen Rats wurden daher auch in den eigenen Religionsgemeinschaften ob des Projekts Places of Suffering sehr kritisch angefragt. Der Punkt, der diese Aktivitäten letztlich legitimierte, war die allgemein akzeptierte, in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches lang erprobte Kulturtechnik, dass die obersten Repräsentant*innen der Religionsgemeinschaften um der Staatsraison willen die Verpflichtung haben, solchen idealen Diskursen gerade auch in schwierigen Situation vorzustehen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu repräsentieren. Hier zahlen sich die beschriebenen Kulturtechniken aus, die im Orient der Spätantike entwickelt und späterhin weiter ausgebaut wurden.

27

www.sarajevotimes.com/119127/; zuletzt geöffnet am 05.01.2019. Meine folgende Einschätzung geht auf ein Treffen mit Mitgliedern des Interreligiösen Rats während einer Delegationsreise im Juni 2018 zurück.

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Frank van der Velden

7.2

Deutschland

Das Projekt Places of Suffering ist nicht einfach für die deutsche Situation zu übernehmen. Es kann aber eine ermutigende Anregung sein, eigene Formate zu entwickeln, die eine selbstverortende Reflexion ermöglichen: Woher und aus wie vielen unterschiedlichen kulturellen und individuellen Setzungen stammen europäische religiöse Diskurse? Und warum sollten neben dem Augsburger Religionsfrieden, der Toleranzpolitik Friedrich des Großen in Preußen und Josef II. in Österreich, der Religionsfreiheit als Teil des deutschen Grundgesetzes von 1949, aber auch neben Lessings Ringparabel oder Goethes West-östlichem Diwan nicht auch aktuelle europäische Konfliktlösungsstrategien und ihre Narrative, wie an Bosnien aufzeigbar, auf dem Lehrplan stehen? Das hier behandelte religiöse Narrativ sollte zum einen im Sinne der Selbstermächtigung unserer muslimischen Schüler*innen gerettet werden, da sich dadurch im Unterricht aus der klassischen islamischen Tradition ermutigende Selbstund Rollenbilder gewinnen lassen (Ritter/Yavuz 2001). Zum anderen haben solche Narrative eine Bedeutung als kultureller Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, nicht nur als Nabelschau der muslimischen Religionsgemeinschaft. Sie sollten daher auch im Interesse der nichtmuslimischen Schüler*innen gerettet werden. In diesen Formen des interreligiösen Lernens kommt den jüdischen, christlichen und islamischen Theologien in Deutschland als Bezugswissenschaften für Pädagogik und Soziale Arbeit sowie als Kooperationspartnerinnen für gesellschaftliche Teilhabeprozesse eine weitere wichtige Aufgabe zu.

Literatur Beuth, P. (2018): Extremismus entlarven und brandmarken. www.peterbeuth.de/aktuelles/innenminister-peter-beuth-extremismus-entlarvenund-brandmarken/; zuletzt geöffnet am 05.01.2019. Baum, W. (2003): Schirin. Christin – Königin – Liebesmythos. Klagenfurt und Wien: kitab-Verlag. Baumer, Chr. (2005): Frühes Christentum zwischen Euphrat und Jangtse. Stuttgart: Urachhaus. Bazargan, M. (2006): Und Jesus ist sein Prophet. Der Koran und die Christen. München: C.H. Beck. Behr, H. H. (2018): Vom Koran und der Kunst des Erzählens. Muslimische Erinnerungsgemeinschaft und narrative Identität. In: Behr, H. H./van der Velden, F. (Hg.): Religion, Flucht und Erzählung. Interkulturelle Kompetenzen in Schule und sozialer Arbeit mit Geflüchteten. Göttingen: v&r unipress. S. 103–141.

Zwei intersektionale Narrative zu Religion und Migration

Cakir, Naime (2014): Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland. Bielefeld: transcript. Ebner, J. (2018): Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen. Darmstadt: WBG. Hafner, J. E. (2001): Welche Geschäftsordnung braucht das Religionsgespräch? Zur Konstruktion idealer Dialoge bei Lessing, Lullus und Cusanus. In: Kienzler, K./Riedl, G./Schiefer Ferrari, M. (Hg.): Islam und Christentum: Religion im Gespräch. Münster: LIT. S. 171–188. Henkel, M. (2016): Der Islam. Fakten und Argumente (Veröffentlichung der Fraktion der AfD im Thüringer Landtag). https://afd-thl.de/buch-der-islam-faktenund-argumente/; zuletzt geöffnet am 06.09.2019. Kriss, R. (1960): St. Georg, al-Ḫaḍr (Ḫaḍir, Ḫiḍr). In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1960. S. 48–56. Meurer, H. (1985): Zu den Staurotheken der Kreuzfahrer. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. 48(1). S. 65–76. Omerika, A. (2018): Migration und Flucht als existenzielle Erfahrungen des Islams. In: Ströbele, Chr./Gharaibeh, M./Middelbeck-Varwick, A./Dziri, A. (Hg.): Migration, Flucht, Vertreibung. Orte islamischer und christlicher Theologie. Regensburg: Fr. Pustet. S. 77–95. Ritter, Chr./Yavuz, M. S. (2013): Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb in einem islamisch-christlichen Gespräch über die asbāb an-nuzūl von Sure 19 (Maryam). In: van der Velden, F./Behr, H. H./Haußmann, W. (Hg.): Gemeinsam das Licht aus der Nische holen. Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe. Göttingen: v&r-unipress. S. 133–149. Rotter, G. (1999): Ibn Ishaq – Das Leben des Propheten. Kandern: Spohr-Verlag. Sawīris Ibn al-Muqaffa, Bischof vom Ashmonit (10. Jh.): Tarīḥ batārika al-kanīsa almaṣrīya (arabisch) [Geschichte der Patriarchen der ägyptischen Kirche]. MS tarīḥ 18 (alte Zählung) = 44 (neue Zählung) der Bibliothek des Antoniusklosters (Ägypten) vom 19. Amshir des Jahres 1414 AM (= 1698 AD), 307 Seiten. Nachdruck Kairo 1943. Schambeck, M. (2013): Interreligiöse Kompetenz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Siebenrock, R. A. (2005): Kommentar zur Konstitution Nostra Aetate. In: Hünermann, P. (Hg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 3 (HthK Vat.II). Freiburg i. Br.: Herder. Velden, F. v. d. (2011): Die Felsendominschrift als Ende einer christologischen Konvergenztextökumene im Koran. In: Oriens Christianus. Hefte für die Kunde des christlichen Orients. 2011 (95). S. 213–246. Velden, F. v. d. (2013): Erzählen schafft Gemeinsamkeit – Argumentieren schafft Klarheit. Hermeneutische Vorüberlegungen für eine narrative Korandidaktik im Unterricht zwischen Christen und Muslimen. In: van der Velden, F./Behr, H.

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H./Haußmann, W. (Hg.): Gemeinsam das Licht aus der Nische holen. Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe. Göttingen: v&r unipress. S. 107–131.

Gender und Religion. Annäherung an religiöse Positionierungen im Kontext muslimischer Lebenswelten Meltem Kulaçatan

1.

Einleitung

Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen junge Muslim*innen und sein Leitmotiv ist der Blick auf den möglichen Zusammenhang von Islam, Lebenswelt und Gender. Die Bezeichnung junge Muslim*innen weist bereits auf eine Zuschreibung hin, die von außen vorgenommen wird, auch wenn es natürlich junge Menschen gibt, die sich selbst als muslimisch bezeichnen. Dennoch kann sich die Verfasserin als Forscherin1 von solchen Etikettierungen nicht gänzlich freimachen und setzt hier mit einer ersten forschungsethischen Kritik an: Die gegenwärtige Forschungslandschaft zum Islam und zu Muslim*innen in Europa ist von Markierungen und Fremdzuschreibungen im Sinne des Otherings durchsetzt, die nicht bewusst sind, geschweige denn, dass sie angemessen reflektiert würden. Die Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami spricht in diesem Zusammenhang von Muslim*innen als Gegenstand der Inspizierung, ohne dass faktisch das Wissen über die Lebenswelten von Muslim*innen erhöht, sichtbar und zugänglich gemacht würde: »[…] Die Forschung zum Islam in Europa arbeitet mit Prämissen, die nicht allein dem konkreten Forschungsgegenstand geschuldet sind. Stattdessen bringen sie eingeschliffene Strukturen und eingeübte Epistemologien der Beforschung als abweichend markierten Minderheiten innerhalb nationalstaatlicher Kontexte, aber auch der Beforschung von ›Religion‹ als gesonderte Wissenskategorie auf neue Weise zur Geltung« (Amir-Moazami 2018, S. 92).

1

Dieser Beitrag ist ein bisheriges Teilergebnis des laufenden Forschungsprojekts »Religiöse Selbstentwürfe von Muslim*innen in pädagogischen Handlungsfeldern« an der GoetheUniversität Frankfurt: https://relpos.de/forschungsschwerpunkte/teilprojekt-islami sche-studien-ii/; zuletzt geöffnet am 13.06.2019.

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Meltem Kulaçatan

Demzufolge kreist das Primäranliegen vorfindlicher Forschung vielfach um Sicherheitsdispositive, was mit segregierenden Effekten einhergehen kann: Können denn die Beforschten überhaupt – zugespitzt formuliert – an der hiesigen demokratischen, liberalen Gesellschaft aktiv teilhaben und sie mitgestalten, oder können sie gar deutsche Muslim*innen sein, deren Alltag aus ähnlichen Belangen und Belanglosigkeiten, aus vergleichbarer Normalität besteht, wie es bei anderen sich in dominanter Mehrheit wähnenden Teilen der Bevölkerung der Fall ist? Häufig wird die Redlichkeit der Einrede von Muslim*innen in die gesellschaftspolitischen Diskurse bezweifelt und zuweilen fragwürdig imaginiert. Dazu ein Beispiel: Der CDU-Politiker Philipp Amthor gab in einem Video aus dem Jahr 2018 während einer Veranstaltung in seinem Wahlkreis Strasburg in MecklenburgVorpommern zum Besten, dass nun jeder die deutsche Nationalhymne singen könne, da hier kein »Moslem« zugegen sei.2 Amthor zog das im Nachgang zurück und verwies in dem inzwischen üblichen Wechselschritt zwischen Provokation und Dementi auf den »eigentlich« gemeinten Anlass: Adressiert war Amthors Kalauer an den Fußballspieler Mesut Özil, der, anstatt vor Spielbeginn die deutsche Nationalhymne zu singen, offenbar ein Gebet sprach. Darauf angesprochen, erklärte sich das ehemalige Mitglied der Fußballnationalmannschaft: Er sei sich sicher, dass seine Form der Einkehr der Mannschaft zum Sieg verhelfen würde und bitte dabei Gott um Kraft und Zuversicht. Das persönliche Gebet, die Zwiesprache mit Gott, wird hier offenbar auf einer symbolischen Ebene als Gegensatz zur deutschen Nationalhymne gedeutet. Es handelte sich indes um eine performative Umwidmung des besinnlichen Entrées in das Spiel. Das Ganze war dann wieder ein Punkt in den Debatten um seine Person, nachdem er sich mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan getroffen hatte. Nun soll hier keine vertiefte Debatte über Mesut Özil und seine persönlichen Entscheidungen3 geführt werden. Aber an seinem Fall entzünden sich grundsätzliche Debatten, die auch dann noch Fahrt aufnehmen werden, wenn Özil längst vergessen sein wird. Deshalb lohnt es sich, hier noch einmal nachzuhaken, auch wenn das wie ein Diskurs anmutet, dessen Zwanghaftigkeit außerhalb Deutschlands eher Verwunderung auslöst. Also bleiben wir noch kurz dabei, müssen dabei 2

3

Rassismus-Ärger im Netz: Amthor und der »Moslem«-Spruch: https://www.morgenpost.de/ politik/article225886193/Rassismus-Aerger-im-Netz-Amroth-und-der-Moslem-Spruch.html, 30.05.2019; zuletzt geöffnet am 13.06.2019. Der Vollständigkeit halber muss hier erwähnt werden, dass das ursprüngliche Foto auf Twitter gemeinsam mit seinem Kollegen Ilkay Gündoğan und der darunter stehenden Grußformel »Mein sehr verehrter Präsident« scharf kritisiert worden ist (https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-44188165;zuletzt geöffnet am 20.05.2018; https://twitter.com/trtworld/ status/997562923382968320, 18.05.2018; zuletzt geöffnet am 13.06.2019). Dabei handelt es sich hier nicht um Ehrerbietung, sondern um eine gängige Grußformel in der türkischen Sprache, die in der deutschen Sprache nicht vorkommt.

Gender und Religion

aber auf die Gesamtbetrachtung der nationalen und internationalen Fußballlandschaft mit ihren Institutionen vorerst verzichten.4 Nehmen wir als weiteren Stein des Anstoßes die Sache mit der Gästeliste seiner Hochzeit. Die Anwesenheit des türkischen Staatspräsidenten auf der Hochzeitsfeier von Mesut Özil wurde heftig kritisiert.5 Die WELT-Journalistin Silke Mühlherr meint, dass Mesut Özil nicht wirklich integriert sein könne, wenn er sich mit einem autokratischen Politiker ablichten lasse; er stünde gegen liberale und freiheitliche Werte. Dabei wurde in keiner Weise das Verhalten des Ex-Nationalspielers mit dem System, in dem er sozialisiert wurde und beruflich erfolgreich ist, in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht; die Wahrnehmung richtete sich auf seine ethnische Zuordnung und seine Religionszugehörigkeit. Die Markierung der Fremdheit verschob die Matrix der Skandalisierung. An dieser Sache ist ein weiteres Detail aufschlussreich, das allerdings in den deutschsprachigen Medien keine Aufmerksamkeit erhielt, jedoch die Ambivalenz des Diskurses mit Blick auf Religion und ähnliche Zuschreibungen wiedergibt: Mesut Özil ermöglichte durch eine Spende notwendige Operationen von 1.000 Kindern. Islamisch orientierte Feminist*innen und religiöse Gelehrt*innen wie Amina Wadud, die ihre Stimmen ansonsten gegen korrumpierte Politiker*innen erheben, honorierten Özils Geste als die eines gläubigen Menschen und sahen keinen Widerspruch in seiner Haltung gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten. Wadud postete die Meldung über Özils Spende am 13. Juni 2019 auf ihrer Facebook-Seite.6 Bis auf einen kritischen Kommentar einer Userin sind die Reaktionen auf Özils Geste positiv. Seine Einladungen und seine Kontakte würden ihn schließlich nicht davon abhalten, Kindern zu helfen und ihnen für einen kurzen Moment das Leben zu erleichtern.7 Das mag zugegebenermaßen ein plakativ anmutendes sowie problematisches Beispiel sein, da Vertreter*innen einer politischen Elite, die die Türkei von einer defizitären Demokratie in eine defekte und illiberale Demokratie geführt haben, aufgrund einer Promi-Hochzeit weitere Aufmerksamkeit zukommt. Der Anlass stellt jedoch im medialen Diskurs und in den Kommentaren quasi eine Blaupause dar,

4

5

6 7

Kistner, Thomas: DFB und FIFA – der verkaufte Fußball. https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2016/januar/dfb-und-fifa-der-verkaufte-fussball, Januar 2016; zuletzt geöffnet am 13.06.2019. Mühlherr, Silke: Der tiefe Sturz des Mesut Özil. https://www.welt.de/debatte/kommentare/ plus194979601/Erdogan-als-Trauzeuge-Der-tiefe-Sturz-des-Mesut-Oezil.html, 08.06.2019; zuletzt geöffnet am 17.06.2019. https://www.facebook.com/dr.aminawadud2/, 13.06.2019, zuletzt geöffnet am 20.06.19. Mesut Özil Celebrates Marriage by Funding Surgery for 1000 Children. https:// mvslim.com/mesut-ozil-celebrates-marriage-by-funding-surgery-for-1000-children/? fbclid=IwAR0RjuM0d0VWS3D1TuUXSwQ0M_SLMFBs9IWpV37u6aco623PRiHDdTu8S2c, 13.06.2019; zuletzt geöffnet am 19.06.2019.

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auf der sich das Spannungsverhältnis zwischen der Türkei und Deutschland anzeichnen lässt – ein Spannungsverhältnis, welches derzeit von Verhaftungen deutscher Staatsbürger*innen in der Türkei sowie vom sogenannten Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei geprägt ist. Die Auseinandersetzungen und konfliktären Situationen mit als muslimisch oder islamisch bezeichneten habituellen Praktiken und ihren Träger*innen erfolgen jedoch fast ausschließlich nach dem Muster einer defizitorientierten Inblicknahme, das gleichzeitig ethnisch besetzt wird. Den so Bezeichneten wird eine nicht weiter definierte Integrationsfähigkeit abgesprochen. Diese Perspektive geht vielfach mit einer symbol-fixierten Perspektive einher, die keine neuen Erkenntnisse zutage fördert, sondern sich über sprachliche Kodizes reproduziert. Hierbei werden Stereotype bedient, die zwar mehr über diejenigen aussagen, die sie verwenden, letztlich aber doch die Betroffenen anfassen, also diejenigen, über die gesprochen und geurteilt wird und die der stetigen Inspizierung ausgesetzt sind (Doughan/Tzuberi 2018). Das hat insgesamt forschungsrelevante Konsequenzen, beispielweise eine zunehmende Müdigkeit und Skepsis hinsichtlich der Bereitschaft von Muslim*innen, sich im Rahmen qualitativer Studien auf offene Gespräche einzulassen. Wurden Kritik und Abwehrreflexe der Betroffenen früher eher indirekt und ausweichend artikuliert, geschieht das nun offen und unverhohlen. Es wäre aber falsch, anzunehmen, dass sie sich in die Schmollecke zurückziehen. Was sich mit dem Begriff Desintegration beschreiben lässt, verweist auf komplexere Zusammenhänge: »Das Konzept der Desintegration fragt nicht, wie einzelne Gruppen mehr oder weniger gut in die Gesellschaft integriert werden können, sondern wie die Gesellschaft selbst als Ort der radikalen Vielfalt anerkannt werden kann« (Czollek 2018, S. 73f.). In Anlehnung an das, was Czollek mit Blick auf Jüd*innen in Deutschland als Absage an das »Gedächtnistheater« beschreibt, geht es – und das ist das Ergebnis der diesem Beitrag zugrunde liegenden Forschung – hier um einen Akt der Emanzipation, mithin um eine Position der Entschiedenheit, sich dem sogenannten Integrationstheater bewusst zu entziehen. Dabei wird Wissenschaftler*innen und Journalist*innen vorgehalten, sich kein objektives Bild von tatsächlichen Lebenswelten machen wollen, sondern sich nur Bestätigungen ihrer a priori gesetzten Thesen und Stereotypen abholen zu wollen. Diese Vorbehalte begegnen der Verfasserin dieses Beitrags auch in ihren eigenen Forschungsfeldern. Solche Stimmen berufen sich in vielen Fällen auch auf den öffentlichen Umgang mit der Causa Özil, auf die nach wie vor unaufgeklärten Verstrickungen staatlicher Institutionen in den NSU oder auf die gegenwärtigen medialen, politischen und universitären Diskussionen um das Tragen des Kopftuchs. Diese Rückzugstendenzen bedeuten nicht nur die Schließung eines Forschungsfeldes, sondern betreffen weitere Segmente des gesellschaftlichen Zusam-

Gender und Religion

menlebens. Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Betroffenen sehr genau beobachten, wie und in welcher Weise über sie und mit ihnen gesprochen wird. Das betrifft nicht bloß die Berichterstattung in den Medien, sondern die Betroffenen blicken zunehmend auch auf die Forschung und Lehre an den Hochschulen. Zusätzlich werden Befürchtungen geäußert, die mit einem Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen einhergehen: Wie werden die Informationen über die Befragten gespeichert und zu welchem Zweck werden sie erhoben? Was genau sind die Zielrichtung und der Auftrag von Forschungsfragen, wie gestaltet sich deren ideologische Rahmung, und haben die Forschenden ein genuines Interesse an der Vielfalt der muslimischen Lebenswelten in Deutschland und Europa? Von welcher Anthropologie, von welchem Weltbild und von welchem Ethos ist der wissenschaftliche Zugriff getragen? Mit Blick auf die strukturelle Situation in der Wissenschaft spielen der Druck und der Wettbewerb bei der Drittmittelakquise eine ambivalente Rolle, da insbesondere islambezogene Themen bevorzugt aus der Wahrnehmung zugeschriebener Defizite heraus gefördert werden. Forschungsmittel sind immer erfreulich; andererseits ist die forschungsethische Frage, inwiefern der defizitorientierte Fokus zu einem tatsächlichen Erkenntniswert mit Blick auf religiöse und soziale Fragestellungen führt und wie sich Wissenschaftler*innen hier selbstkritisch positionieren und reflektieren, bisher kaum beantwortet.8

2.

Ressourcenorientierte Ansätze9

Eine Möglichkeit für einen ressourcenorientierten Ansatz besteht dort, wo über die Rahmung und Benennung der zu erforschenden Signifikanzen und Personen reflektiert wird. Der Religionswissenschaftler Christoph Bochinger nimmt eine kritische Reflexion zum Framing in seiner eigenen Studie aus dem Jahr 2014 vor und thematisiert die prekäre Situation, die mit Zuschreibungen bezüglich der »muslimischen Jugendlichen« einhergeht:

8

9

Eine neuere Entwicklung in diesem Kontext betrifft das Auslagern von Auftragsforschungen weg von Wissenschaftler*innen an den Hochschulen hin zu neu gegründeten Instituten. Auf den ersten Blick und finanziell betrachtet mag das zunächst günstiger für die Mittelgeber sein. In der Bearbeitung der zu eruierenden Forschungsfragen können sich jedoch Schwierigkeiten auftun, was die Qualität der Studien betrifft. Dieser Beitrag fußt auf dem eingangs genannten Forschungsprojekt der Verfasserin, das sich mit jungen Muslim*innen in Deutschland beschäftigt. Das zunächst auf Mädchen und junge Frauen fokussierte Projekt wurde geöffnet und richtet sich nun auch auf männliche Interviewpartner. Die Beispielbezüge für diesen Beitrag umfassen die Altersgruppe von 20 bis 26 Jahren. Dem laufenden Projekt ist eine Preteststudie vorausgegangen, deren Ergebnisse in diesen Beitrag eingeflossen sind (Kulaçatan/Behr 2018).

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»[…] Beteiligt man sich nicht schon durch die Betonung ihres Muslimseins [der Jugendlichen; Anm. d. Verf.] gewollt oder ungewollt an der Verfestigung der Stereotypen, die in der deutschen Öffentlichkeit über den Islam und die Muslime verbreitet sind? Viele der muslimischen Jugendlichen leben ein säkulares, von der Religion kaum berührtes Leben, ebenso wie andere Jugendliche auch. Man sollte sie daher nicht auf ihre Religion festnageln, die ihnen vielleicht nur wenig bedeutet. Diese Kritik […] betrifft auch die meisten untersuchten Projekte. Diese gehen ja ebenfalls von der Annahme aus, dass die Religion wichtig für die betreffenden Jugendlichen sei und man ihnen helfen müsse, ihr Muslimsein und ihr Leben in der deutschen Gesellschaft konstruktiv übereinzubringen« (Bochinger 2014, S. 1). Gleichzeitig räumt Bochinger ein, dass die Fragestellungen mit Blick auf muslimische Jugendliche und muslimische Lebenswelten trotz der Kritik deshalb wichtig seien, da diese aus einem spezifischen räumlichen und institutionellen Kontext heraus entstünden. Denn nach wie vor spielten in der säkularisierten Gesellschaft in Deutschland religiöse Institutionen eine »wichtige Rolle« (ebd.). Religiöse Verbände, die sich beispielsweise auf die Jugendarbeit konzentrieren, nähmen demzufolge gesellschaftliche Funktionen wahr und würden dabei sowohl von Stiftungen als auch vom Staat finanziell unterstützt. Dabei resultiere das alltägliche Spannungsverhältnis der Jugendlichen zum einen daraus, dass sie sich in einem überwiegend säkularisierten Raum bewegten, andererseits einer religiösen Minderheit in Deutschland angehörten (ebd.). Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Fragestellungen mit Blick auf Lebenswelten, Gender und Religion (mit besonderem Schwerpunkt auf dem Islam) können jedoch nicht einseitig auf das besondere institutionelle SäkularismusVerständnis in Deutschland bezogen werden. Das Säkularismus-Konzept des Anthropologen Talal Asad versteht das Säkulare als eine epistemische Kategorie. Dabei wird das Weltliche prioritär gewertet, da es unmittelbar mit einem zeitlich kategorisierten und messbaren Fortschritt gleichgesetzt wird. Asad stellt sich damit in gewisser Weise in die Tradition des andalusischen Gelehrten und großen Aristoteles-Kommentators Ibn Ruschd (12. Jh.), für den die Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen, an denen Émile Durkheim noch festhielt, bereits durchlässig waren.10 Asads Ansicht nach ist das hiesige Verständnis von Säkularität demzufolge kein wirkliches Konzept, das zu einer klaren Trennung zwischen Politik und Religion führen, sondern ein neues Verhältnis zwischen 10

Ibn Ruschd erteilte der Trennung zwischen religiösen Taten ( c ibādāt) und weltlichen Taten (muc alamāt) eine Absage und riet zu einer umfassenden Reform des Rechts unter anderem mit dem Hinweis darauf, damit versteckte Diskriminierungen überwinden zu können. Beispielsweise hielt er die Bezeichnung christlicher und jüdischer Minderheiten innerhalb des Gültigkeitsterritoriums des damaligen Islams als »Schutzbefohlene« (dhimmis) für juristisch anachronistisch, sozial unverhältnismäßig und ethisch falsch.

Gender und Religion

einerseits dem Staat und andererseits dem Religiösen bewirken würde (Asad 2003). Mit Blick auf den diesem Beitrag zugrundeliegenden Forschungskontext handelt es sich bei jungen Muslim*innen entweder um Gesprächspartner*innen, die in Deutschland geboren wurden, oder um Gesprächspartner*innen, deren Sozialisation zum Großteil in Deutschland stattgefunden hat. Die nach wie vor zu eruierende Kernfrage lautet deshalb, ob es sich bei den Phänomenbeschreibungen muslimischer Lebenswelten primär um religiöse Aspekte handelt oder vielmehr um säkulare Kodierungen im Bedeutungsfeld von Religion für das Individuum (Behr 2017). Unabhängig von den konfessionellen, institutionellen und stiftungsrelevanten Verortungen sowie der Anzahl der in Deutschland lebenden Muslim*innen11 stellt Bochinger die für Forschungszusammenhänge mit jungen Muslim*innen ausschlaggebende Frage: »Was meint ein Jugendlicher damit, wenn er ankreuzt, dass der Islam in seinem Leben eine wichtige Rolle spiele? Heißt das, dass er oder sie gerne zur Moschee geht, sich in seiner oder ihrer Religion zuhause fühlt, mit Begeisterung religiöses Wissen erwirbt und in seinem Leben anwendet? Oder bedeutet es, dass er oder sie von den anderen ohnehin unausweichlich in die Islam-Ecke gerückt wird, ob er es will oder nicht, so dass er mit der Aussage, der Islam sei wichtig, nur Anderssein zum Ausdruck bringt?« (ebd.) Die Erziehungswissenschaftlerin Julia Franz erläutert zu diesem Kontext, dass die Problematik des Otherings durch »einen Wechsel« des zu erforschenden »Bezugsrahmens nicht hinfällig« werde: »Ebenso wie in der Konstruktion eines Fragebogens ist bei ethnografischen Verfahren und biografisch-narrativen Interviews zu reflektieren, wie gesellschaftliche Diskurse mit ihren machtförmigen Unterscheidungen in die Forschung hineinwirken« (Franz 2018, S. 318). Eine in diesem Forschungszusammenhang häufig vorausgesetzte Annahme ist, dass jeweils »klar« sei, wer die jungen Muslim*innen überhaupt sind. Dabei ist die Frage danach, wer (und wenn man so möchte: wie viele »Wers«) jemand ist, 11

Die Zahl des Bundesamts für Migration aus dem Jahr 2015 (Stichtag: 31.12.2015) gibt an, dass zwischen 4,4 Millionen und 4,7 Millionen Muslim*innen in Deutschland leben. Das entspricht einem Anteil von 5,4 und 5,7 Prozent bei einer gesamten Bevölkerungszahl von 82,2 Millionen Menschen (www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp71-zahl-muslime-deutschland.pdf?__blob=publicationFile; zuletzt geöffnet am 13.06.2019). Im Vergleich dazu wird die Zahl der Muslim*innen in Deutschland in der Bevölkerung deutlich höher geschätzt (auf 21 Prozent), wenn nicht gar überschätzt (https://www.ipsos.com/de-de/studie-zur-kluft-zwischen-wahrnehmung-und-wirklichkeit-deutsche-schatzen-soziale-realitaten-haufig;zuletzt geöffnet am 13.06.2019).

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mit Blick auf pädagogische Fragestellungen zielführender: Inwiefern spielt auf der einen Seite die Religion im Leben eines als muslimisch definierten oder markierten Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen eine Rolle? Und auf der anderen Seite: Wenn überhaupt, in welchen Kontexten ist dies der Fall? Welche Antworten halten islamische Quellen für die Kontingenzbewältigung, also den Umgang mit lebensweltlichen Unwägbarkeiten, bereit? Wie positionieren sich junge Muslim*innen in ihrer Religion und zu ihr? Wo lassen sich fluide Prozesse beobachten? Wie fällt der Blick auf die eigene Adoleszenz mit Bezug auf die religiöse Orientierung und Sinnfindung, den eigenen Körper, die sozialen Beziehungen, die Vertrauensbereitschaft, die Zukunftszuversicht aus? Das bedeutet eigentlich: Es muss gezielt danach gefragt werden, welchen Stellenwert Religion im Leben des Einzelnen besitzt und ob daraus resultierende »Wichtigkeiten zu anderen Lebensbereichen« feststellbar sind (von Sinner 2016; Behr 2019). Im Gegensatz zum eingangs skizzierten institutionellen Setting von Religion in Deutschland korrespondieren die Lebenswirklichkeiten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer »antiinstitutionellen« Artikulation von Religion und verweisen auf »individualisierte Formen, die von Vergemeinschaftung und der Aufrechterhaltung eines religiösen Gedächtnisses abhängig ist« (Pollack, zitiert nach von Sinner 2016). Zur Erforschung des Stellenwerts von Religion im Leben von muslimischen Jugendlichen eignet sich für einen ersten Zugang das religionswissenschaftliche Dreieck (Bochinger/Frank 2015). Bochinger und Frank bezeichnen das von ihnen entworfene religionswissenschaftliche Dreieck als integratives Religionskonzept. Das Modell knüpft an bestehende Religionstheorien an, die bestimmte Zusammenhänge mit Blick auf Religion untersuchen: 1. den Symbolbestand, 2. das Individuum und 3. die Gemeinschaft. Diese Matrix wird in den Kontext der jeweiligen Gesellschaft gestellt, in der diese Aspekte untersucht und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Das Modell beantwortet keine theologischen Fragen. Es lässt sich durchaus kritisieren, weil es letztlich doch auf Begriffen fußt, denen jeweils ihre eigene gegebene Normsetzung zugrunde liegt. Deshalb ist es zum Beispiel schwierig, ein diversifiziertes Begriffsfeld wie Theologie eindeutig in das Modell zu integrieren – etwa mit Verweis auf öffentliche Theologie oder auf wissenschaftliche Theolog*innen als Mandatsträger*innen der Wissenschaftsfreiheit im Sinne von Grundgesetz Art. 5 Abs. 3. Aber es schafft eine Art Scharnier zwischen religionsbezogener Expertise und solchen Wissenschaften, die bis dato zum Phänomenkomplex Religion eher auf Abstand geblieben sind.

3.

Gesellschaftliche Verortung

Für den vorliegenden Beitrag wird die gesellschaftliche Rahmung im Sinne der postmigrantischen Gesellschaft zugrunde gelegt. Sie zeichnet sich durch Aushandlungs-

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und Verhandlungsprozesse aus, die nach der Migration stattfinden, insbesondere nach der Anwerbung der ehemaligen Gastarbeiter*innen in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei rückt vor allem die postmigrantische Gegenwartsbeschreibung in den Mittelpunkt dieser Rahmung. Die Gegenwartsbeschreibung der postmigrantischen Gesellschaft fokussiert verschiedene Dynamiken. Diese Dynamiken befinden sich einerseits in einem ambivalenten und andererseits in einem affirmativen Verhältnis. Die zunächst grundlegende Feststellung ist, dass Migration weltweit als Normalität und nicht als Ausnahmeerscheinung zu verstehen ist, die zwangsläufig in eine sogenannte »Krisenlage« in den Aufnahmeländern führt.12 Aus der problematisierenden und defizitorientierten Haltung zum eigentlichen »Normalfall Migration« (Bade 1992; Bade/Oltmer 2004; Treibel 2015; El-Mafaalani 2018) resultieren obsessive Betrachtungsweisen und Beschäftigungsformen (Spielhaus 2012) mit dem Migrantischen. Die im Anschluss daran entwickelten Strategien sind einerseits reaktiv, aggressiv und assimilatorisch (Foroutan 2014), andererseits durchaus emanzipatorisch und produktiv. Es sind vor allem hybride Narrative und Identitäten, ausgehend besonders von der zweiten und dritten Generation der Nachkommen der ehemaligen Gastarbeiter*innen, die ein produktives und gesamtgesellschaftlich innovatives Potenzial ausbilden.

4.

Kritische Einordnung

Der Historiker Kijan Malte Espahangizi verweist mit Blick auf diese Dynamiken auf die Notwendigkeit, die postmigrantische Betrachtung, und zwar ausgehend von postmigrantisch als semantischem Feld, klar zu definieren, zumal Migration wesentliche Eigenschaft des Menschseins im Sinne eines globalen Narrativs sei (Espahangizi 2018). Für die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan ist das Bekenntnis zur Migration im Sinne der Anerkennung ausschlaggebend. Sie wirft dabei die Frage auf, warum sich ein Land als Einwanderungsland bezeichnet und folglich die »Migrationsrealität politisch anerkennt« (Foroutan 2016, S. 3 f.) oder warum nicht. Eine gewisse Zäsur, die für diese Rahmung ausschlaggebend ist, liegt in der 1998 gebildeten rot-grünen Regierung. Seinerzeit bezeichneten Vertreter*innen der politischen Klasse die Bundesrepublik Deutschland erstmals in ihrer Geschichte als Einwanderungsland, wenngleich hier die Begriffe Zuwanderung und Einwanderung als konkurrierende Semantiken gleichsam gegeneinander ausgespielt wurden. Foroutan bezieht sich dabei auf die Bildung der Zuwanderungskommission unter 12

In diese Betrachtung gehört auch die Fluchtmigration, die nicht gesondert aufgeführt wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind 70 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Der Großteil der Aufnahmeländer befindet sich nicht in Europa.

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der CDU-Politikerin und ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, mit der ein wesentlicher Paradigmenwechsel eingeläutet worden sei. Die Gegenwartsbetrachtung der postmigrantischen Gesellschaft zeigt auch eine Veränderung mit Blick auf religiöse Sichtbarkeiten und Dynamiken in den drei Analyseaspekten des skizzierten religionswissenschaftlichen Dreiecks nach Bochinger und Frank auf. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani weist in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Bedeutung des Religiösen hin. Im Kontext von Migration gewinne Religion und infolgedessen auch der mit ihr verbundene Pluralisierungsprozess (religiöse Vielfalt) eine zunehmend größere Bedeutung (El-Mafaalani 2018, S. 59). El-Mafaalani hält mit Blick auf die religiöse Sichtbarkeit zudem fest, dass Migrant*innen in der Regel konservativer seien und stärker an ihren Traditionen festhielten. Dabei handelt es sich im Übrigen nicht nur um manifeste, sondern auch um erfundene Traditionen. In beiden Fällen unterstützt die aktive Konstruktion einer Tradition das Motiv der Transmission kultureller Marker, worüber die Rückversicherung in der Zugehörigkeit zu etwas Eigenem hergestellt wird. Nicht je authentischer solche Marker sind, sondern je tragfähiger diese Art der Konstruktion ist, desto stärker ist auch die Vereindeutigung religiöser Zugehörigkeit. Diese Erklärung mag für Teile der zugewanderten Generation und der von ihr abstammenden Generation durchaus stimmig sein, zumal in der Diaspora-Situation religiöse Traditionen einen wesentlichen Halt bieten und eine Brückenfunktion in so genannte Herkunftsländer ausüben. Dabei können die dortigen, teils dramatisch beschleunigten gesellschaftlichen Transformationen meist nicht bis in die Diaspora durchgreifen und zu einer Art doppelter Entfremdung führen – was wiederum zu einem bewussteren Zugriff auf Religion als einer Grammatik führen kann, weil sie sich ins Überzeitliche stellen lässt. Damit lassen sich Tendenzen der gleichzeitigen Gegenläufigkeit beschreiben – etwa kulturelle Transmission versus Progression oder religiöse »Retrodoxie« (Behr 2018) versus theologische Reform. Allerdings wird der selbstermächtigende Charakter von Religion, der beispielsweis von den Jüngeren in Anspruch genommen wird, damit nicht hinreichend erklärt.

5.

Religiöse Orientierung und Gender

Das Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft auf der Basis der postmigrantischen Gegenwartsbeschreibung wird von den Gesprächspartner*innen als durchwegs positiv beschrieben. Demzufolge wird die religiöse, islamische Diversität im eigenen Umfeld besonders hervorgehoben. Die Fastenzeit bietet beispielsweise die Möglichkeit, sich über die diversen habituellen Praktiken gemeinsam auszutauschen und während des Fastenbrechens zu zelebrieren. Einer der Gesprächspartner erklärte, dass er quasi im Sprung von der Türkei aus nach Pakistan

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reisen könnte, da seine muslimischen Freund*innen aus unterschiedlichen Herkunftskontexten stammten, Deutschland als ihre Heimat verstünden und in ihrem Umfeld die Heterogenität ihrer religiösen Zugehörigkeiten und Selbstverortungen (religious affiliation; Pye 1972) zum Ausdruck brächten. Eine andere Gesprächspartnerin berichtete mit Blick auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2018, wie sie sich in ihr Auto setzte, um den Sieg Kroatiens gegen Argentinien mitzufeiern: »Da ist es egal, ob ich ein Kopftuch trage oder nicht. Die sehen das gar nicht, die Kroaten. Denen ist das egal. Die checken, dass wir uns freuen. Wir springen ins Auto, hupen und feiern gemeinsam und wir verstehen uns, ohne dass wir sprechen müssen. Wir tanzen und freuen uns und sind laut. Und alles in Deutschland! Das ist doch toll, dass wir hier so viele sind!« Mit Blick auf die Theologie und die Stadien religiöser Erfahrungen (James 1997) stellt das religionswissenschaftliche Dreieck jedoch kein ausreichendes Analysetool dar. Eine Erweiterung um den theologischen Aspekt könnte hierbei helfen, die theologisch relevanten Aspekte anzudenken und zu erforschen. Diese Perspektive ist deshalb wichtig, da sich junge Muslim*innen einerseits durchaus auf die Suche nach einer vertrauenswürdigen und damit religiösen Orientierung begeben. Andererseits wird in der Auseinandersetzung mit islamischen Quellen vonseiten der jungen Muslim*innen das aufklärerische, herrschaftskritische, humanistische und spirituelle Potenzial ihrer Religion entdeckt, sodass sich die jungen Muslim*innen beispielsweise aus traditionell praktizierten religiösen Formen im Kontext ihrer Familien lösen und diese hinterfragen oder das Lesen, Besprechen, Diskutieren religiöser Quellen sowohl im Selbststudium als auch in Lesekreisen weiterentwickeln. Religion wird hier nicht als etwas (ausschließlich) von Menschen Gemachtes verstanden, sondern als etwas, das sowohl gegeben ist als auch von Menschen gestaltet wird und das es überdies kritisch zu hinterfragen gilt. Dabei rücken Orientierungsfragen, was Religion ihrem Wesen nach ist und was sie auf einer funktionalen Ebene anbietet, in den Vordergrund: »Religion ist das Zusammenspiel einer bestimmten Form von Denken und Handeln, die den Menschen helfen kann, die Welt zu erklären und ihr Leben zu führen. Dazu gehört das Bemühen, Dinge wie Leben und Sterben, Glück und Leid oder Mensch und Welt in einen sinnvollen Bezug zueinander zu stellen« (Kaddor et al. 2008). Der Sozialwissenschaftler Pradeep Chakkarath hält mit Blick auf seine Ausführungen zu Identität und Religion im Jugendalter fest, dass sich Religiosität als eine »stark emotionale und motivational geprägte Hoffnung« verstehen lasse (Chakkarath 2017, S. 12). Das gelte natürlich über das Jugendalter hinaus. Demzufolge biete Religiosität:

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»[…] Sinndeutungen und Lösungen an […], Schwierigkeiten im Leben erträglicher [zu] machen und spirituelle Bedürfnisse eher zu befriedigen, als andere Überzeugungssysteme das tun« (ebd.). Die Wichtigkeit des Religiösen für das Individuum hängt laut Chakkarath von verschiedenen Faktoren wie den Lernumwelten, den Angeboten sowie den damit verbundenen positiven wie negativen Erfahrungen ab. Unter Berufung auf religiöse Sinndeutungen und Lösungsangebote werden beispielsweise Selbstermächtigungsstrategien entwickelt. Unter Selbstermächtigungsstrategien werden die Entwicklung des Willens und die gelebte Erfahrung verstanden, mit denen die eigene Rolle sowohl im unmittelbaren sozialen Umfeld als auch in der Gesellschaft verändert werden kann. Die positive Erfahrung durch Selbstermächtigungsstrategien hat mit Blick auf die viel zitierte Selbstwirksamkeitserfahrung unmittelbare Auswirkungen auf die Motive des eigenen Handelns im Rahmen religiöser Rechtfertigung: Junge Muslim*innen setzen sich hier Ziele, die sie erreichen können, da sie sich als handlungsfähig erleben. Oder sie teilen unmittelbar diese Erfahrung mit der Gesellschaft, indem sie häufig ehrenamtlich tätig werden. Das Ehrenamt wird sowohl von männlichen als auch von weiblichen Interviewpartner*innen gern bekleidet.

6.

Gender und religionsrelevante Bezüge

Die Gesprächspartner*innen in den laufenden Untersuchungen der Verfasserin verstehen sich selbst als weiblich und männlich. Das schließt jedoch ein erweitertes Konzept eines Geschlechterverständnisses nicht aus, ohne dass jedoch im Interviewgespräch vonseiten der Gesprächspartner*innen explizit auf Transsexualität, Homosexualität oder andere Verortungen eingegangen worden ist. Das liegt sicherlich einerseits daran, dass die Interviewten selbst ihre Geschlechterrolle nicht unmittelbar außerhalb der binären und heteronormativen Geschlechterkodierung suchen, verteidigen und finden müssen oder mussten. Andererseits rekurrieren sie in der Interviewsituation selbst häufig auf das Menschenbild im Islam: Das islamische Menschenbild sei demzufolge nicht durch eine binäre Geschlechterkodierung determiniert, da der Mensch im koranischen Text zunächst geschlechtlos entworfen sei. Einige in diesem Zusammenhang oft angeführte Zitate sollen diesen Aspekt beispielhaft verdeutlichen: »O Ihr Menschen! Achtet euren Erhalter, der euch aus einer einzigen lebenden Wesenheit erschaffen hat und aus ihr Partnerwesen erschuf und aus den beiden eine Vielzahl von Männern und Frauen hervorgehen ließ« (Sure 4:1; ähnlich 39:6).13 13

Eigene, sinnorientierte Übertragung aus dem Arabischen.

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»Und unter seinen Wundern ist, dass er aus euch Partnerwesen aus eurer eigenen Art erschuf, auf dass ihr einander zuneigen möget, und er legt Liebe und Zärtlichkeit zwischen euch. Hierin liegt ein Zeichen für die, die nachdenken!« (Sure 30:21). Der arabische Begriff nafs (das Selbst, das Wesenhafte) hat unterschiedliche Bedeutungen. Er kann als Seele, Geist, Sinn, belebtes Wesen, lebende Wesenheit, Mensch, Person oder Menschheit übersetzt werden (Asad 2015). Ein Großteil der Kommentatoren übersetzt nafs mit »Mensch«. Kritiker*innen widersprechen an dieser Stelle und erklären, dass sich der Begriff nafs auf die gesamte Menschheit beziehe und nicht auf die biblische Verbindung hinsichtlich der Erschaffungsgeschichte von Adam und Eva. Beide Geschlechter hätten demzufolge den Ursprung in »einer einzigen Wesenheit« (Koran Sure 4, Vers 1), was wiederum den Moment der Befruchtung und die Entwicklung des Embryos andeuten soll. Zwar sei es nicht möglich, den zusätzlich bestehenden Aspekt des Dualismus im Geschlechterentwurf vollständig zu übergehen oder gar zu negieren. Gleichzeitig lasse sich daraus aber keine Wertigkeit oder Hierarchisierung im Entwurf des Menschenbildes ableiten. Festzuhalten ist aber, dass ein religiös derart unterfüttertes Geschlechterverständnis der Interviewpartner*innen auf dem Polaritätsmodell fußt, das die Differenz zwischen Frauen und Männern aufrechterhält (Pemsel-Maier 2017). Das Polaritätsmodell ist ein Feminismuskonzept, das auch in die feministische Theologie Eingang gefunden hat. Das gilt für feministisch-theologische Interpretationen im Judentum, im Christentum sowie im Islam. Die Befürworter*innen des Polaritätsmodells, das Teil des Differenzfeminismus14 ist, leiten keine Hierarchisierung von dieser Differenz ab. Sie kritisieren zudem die Abwertung des Weiblichen. Das Männliche und das Weibliche würden als »[…] zwei verschiedene, aber gleichberechtigte und einander ergänzende Pole verstanden. Ihr Ziel [das der Befürworter*innen; Anm. d. Verf.] ist es, dass Frauen als Frauen – und gerade nicht in der Angleichung an Männer – jenseits von männlichen Zuschreibungen ihre eigene Identität entwickeln können« (ebd.).

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Der Differenzfeminismus ist zum Teil in Verruf geraten, da er vor allem von rechtsnationalen Protagonist*innen und Politiker*innen verwendet wird und er von der biologischen Unterscheidung normative Geltungsbereiche ableitet. Derzeit lässt sich zudem eine Erweiterung der Synthese mit religiös-fundamentalistischen Argumentationen beobachten (Hecht 2019; Mann 2019). Das genuine Anliegen feministischer Theorien und Aktivitäten ist es, das Ungerechtigkeitsverhältnis einer Gesellschaft infrage zu stellen und für eine gerechtere Gesellschaft, die alle Menschen mit einschließt, einzutreten. Das ist jedoch eher nicht das Ziel von rechtsnational gesinnten Personen.

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Die folgenden Erklärungen sollen deshalb in diesem Zusammenhang zum Zwecke eines besseren Verständnisses aufgegriffen werden. Das in Rede stehende Forschungsprojekt der Verfasserin nimmt zunächst Bezug auf die Zuschreibung weiblich, da es sich zu Beginn auf Mädchen und junge Frauen konzentrierte. In der bisherigen Projektlaufzeit zeigte sich jedoch, wie sehr Diskriminierungserfahrungen die Diskurse und die Narrative in den Interviews beherrschen. Dabei geht es um Verletzungen aufgrund rassialisierender, auf das Geschlecht bezogener Markierungen insbesondere nach der sogenannten »Kölner Silvesternacht« 2015/2016. Hier stechen vor allem auch die Berichte von Studentinnen in den Praktika an Schulen und von Referendarinnen hervor – dies trotz der Neujustierung des so bezeichneten »Kopftuch-Urteils« des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2015, was das Kopftuchverbot für Lehrerinnen angeht. Die derart identifizierbaren Interviewaussagen müssen als besonders wirkmächtig charakterisiert werden. Derart zu Protokoll gegebene Erfahrungen führen zu großer Verunsicherung bis hin zu Krisensituationen und stehen Pate für weichenstellende Entscheidungen im Zuge der jeweiligen Bildungs- und Arbeitsbiografie. Ein weiteres Ergebnis, das die Öffnung des Samples bezüglich des Geschlechts und der Alterskohorte veranlasste, waren die Aussagen der weiblichen Interviewten mit Blick auf homosoziale Räume als geschützte Räume. Der Wunsch nach homosozialen Räumen wurde bisher vor allem dann geäußert, wenn Fragen zu Geschlechterrollen und zur körperlichen Entwicklung während der Adoleszenz auftraten. Mit Blick auf die Selbstermächtigungsstrategien können bisher deshalb zwei signifikante Lebensbereiche ausgemacht werden: zum einen die Bildungsbiografie, hier vor allem die Erfahrungen im schulischen Umfeld, und zum anderen die eigene Geschlechterrolle. Ausgehend von spirituellen Orientierungsmustern und der verdichteten Auseinandersetzung mit Religion seitens der Gesprächspartner*innen, ergeben sich auf Grundlage des genannten Forschungsprojekts zu Positionierung von jungen Muslim*innen folgende voneinander unterscheidbare Muster der spirituellen, religiösen oder existenziellen Lebensweltorientierung (patterns) (Behr 2019). 1. Physische Integrität Sie bezieht sich auf alle Segmente, »die das körperliche Empfinden, die Heilung seelischer Brüche, die Verarbeitung von Traumata, die Fragmentierung von Identitäten15 in physische und andere Empfindungssphären betreffen« (ebd.). Diese Ebene wird vor allem dann thematisiert, wenn die Gesprächspartner*innen erklären, weshalb sie Diskriminierungserfahrungen zunächst als körperliche Beeinträchtigung erleben. Der Soziologie James Carr, der in Irland zu Rassismuserfahrungen von jungen Musliminnen forscht, erklärt, dass eine stetige Steuerung, Disziplinierung und 15

Zur Frage der Identitäten muslimischer Schüler*innen siehe auch vertiefend Behr 2011.

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Einschätzung der verschiedenen Räumlichkeiten sowie der eigenen Haltung bei den von ihm befragten jungen Musliminnen vorausgehe. Carr bezeichnet das als »managing mind, body and space« (Carr 2018). Das habe zur Folge, dass die betroffenen Musliminnen eine hohe Grundanspannung hätten und sich nicht gelassen im öffentlichen Raum bewegen könnten. In den Interviews der Verfasserin mit jungen Muslim*innen beschreiben die Gesprächspartner*innen Situationen, in denen sie verbal oder körperlich angegriffen wurden. Solche Situationen schildern sowohl weibliche als auch männliche Gesprächspartner*innen. Das Taxieren durch Blicke im öffentlichen Raum wird vor allem vonseiten der jungen Frauen hervorgehoben. In diesen Situationen bewirke der Rückgriff auf religiöse, spirituelle Ressourcen eine innere Beruhigung, die sich körperlich positiv auswirken könne. Einige der Gesprächspartner*innen erklärten, dass sie diesen Prozess selbst hätten erlernen müssen, um nicht ähnlich wie die Aggressor*innen zu reagieren. Das verweist auf erhebliche innere Spannungszustände. Eine nicht unerhebliche Anzahl der Gesprächspartner*innen hat aufgrund ihrer Rassismuserfahrungen psychische Beeinträchtigungen entwickelt (vor allem Depressionen). Es bestätigt sich bisher durchgehend, dass die öffentliche Schule zu einem der maßgeblichen Orte solcher Erfahrungen geworden ist, da sich immer mehr Lehrkräfte durch die gegenwärtige Diskursverrohung offenbar darin geschützt sehen, ihrerseits den verbalen Übergriff zu wagen. Die psychische Beeinträchtigung und die mit ihr einhergehende physische Vulnerabilität werden von den Interviewten auf die Erfahrung zurückgeführt, dass egal wie sehr man sich für die eigenen Ziele einsetze, sich weder Anerkennung noch Erfolg einstellten. Das Gefühl, von der eigenen Zukunft abgeschnitten zu sein, setzt indes auch Kräfte frei. So wird durchgehend von der Erfahrung berichtet, dass man es am Ende doch schaffe – und zwar nicht wegen des Systems, sondern trotz des Systems und seiner diskriminierenden Strukturen und Praxen. 2. Subkulturelle Affinität Beschrieben wird dadurch, wie die religiöse Artikulation auf die »Ebene des sichtbaren, oft auch provokanten Lebensstils« (ebd.) gehoben wird. Das mündet und endet jedoch nicht bloß in einer juvenilen gezielten Herausforderung und Provokation. Gesucht wird nach alternativen Netzwerken, seien sie in den sozialen Medien oder in der alltäglichen, nichtvirtuellen Situation zu finden. Vielfach ergeben sich aus den virtuellen alternativen Netzwerken neue Zusammenschlüsse mit Gleichgesinnten. Im Vordergrund stehen die Suche nach einem und das Ringen um ein Verständnis des Islams, das einerseits von einer konzeptuellen und andererseits von einer kulturellen Progression gekennzeichnet ist – gleichsam in Spannung zwischen dem Originalen und dem Eigenen, was zu hybriden Opalisierungen der Reformulierung religiöser Lehre führen kann. Hierbei werden herrschafts- und systemkritische Aspekte ins Feld geführt, die mittels des Islams hinterfragt und modifiziert werden. Dabei bildet die Gerechtigkeit – und zwar spe-

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zifisch über das Wortfeld von al-c adl im Sinne der Gerechtigkeit Gottes – sowohl den säkularen als auch den religiösen Ankerpunkt für das gerechte Handeln im Sinne sozialer Gerechtigkeit. Demzufolge will Gott für niemanden Unrecht oder Unterdrückung und hält die Menschen dazu an, sich ebenso zu verhalten.16 Auch islamische Feministinnen beziehen sich in ihrer theologischen Interpretation auf diesen Gerechtigkeitsaspekt und lösen damit die patriarchalische Interpretation auf, der zufolge Frauen eine niedrigere Stellung als Männern zukommt.17 3. Verhandlung und Infragestellung von sozialen Umfeldautoritäten Beides spielt bei der Ausprägung der religiösen Orientierung eine wichtige Rolle. Damit gehen Herrschaftskritik und Systemkritik einher, die sich auf unmittelbare soziale und mittelbare globale Fragen konzentrieren. Dazu gehört auch die Kritik an intramuslimischem Rassismus, aus dem heraus beispielsweise Muslim*innen mit Herkunftsbiografien in afrikanischen Ländern diskriminiert und rassialisiert werden und in Teilen der muslimischen Gemeinden von weißen Muslim*innen ausgeschlossen werden. Dazu gehört auch der Umgang mit bettelnden Menschen nach Freitagsgebeten vor Moscheegemeinden, die vonseiten der männlichen Gemeindemitglieder weggescheucht werden. 4. Kosmische Beheimatung Die bisherigen empirischen Befunde unterstützen die durch die US-amerikanische Forschung zur Psychologie der Radikalisierung als quest for appreciation (Kruglanski 2014) angedachte Erklärung für Radikalisierung. Bislang ist dieses Denkmodell jedoch noch nicht an die religiöse Systematik angeschlossen worden. Mit kosmischer Beheimatung sind Elemente der ludischen, experimentellen, kognitiven, kosmogonischen, spirituellen und ästhetischen Selbstverortung gemeint, die vereint werden. In diesem Segment können religiöse Narrationen und Narrative ihre je eigenen Wirkungen entfalten.

16 17

Das Prinzip wird durch einen tradierten Weisheitsspruch Muhammads unterstrichen: »Kein Unterdrücken und sich nicht unterdrücken lassen!« (lā yac lā wa la yuc lā). Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Aspekt im Rahmen dieses Beitrags nur angerissen werden kann. Der Begriff qiwāma, der aus einer rechtlichen Perspektive in diesen Diskurs mit einfließt, besitzt mehrere Bedeutungen. Zum einen bezeichnet qiwāma die Fürsorgepflicht des Mannes in der Ehe; zum anderen ist dieser Aspekt ein Streitpunkt bei Scheidungen, da die Alltagsrealität der Paare nicht der eines stereotypen Einverdiener-Modells entspricht und (trotzdem) aufgrund des Begriffs die graduell niedrigere Stellung einer Frau – patriarchalisch gelesen – abgeleitet wird (Sharfeldin, Marwa (2015): https://www.un.org/esa/socdev/ family/docs/egm15/MarwaSharafeldinPaperGenderandEqualityinMuslimFamilyLaw.pdf; zuletzt geöffnet am 11.11.2019). Ein wesentlicher Bestandteil des politischen Kampfes von islamischen Feministinnen ist jedoch die Forderung nach einer Neujustierung und gerechten Anwendung des Familienrechts, sei es in säkular geprägten oder in islamisch-säkular geprägten gemischten Kontexten.

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Eine der maßgeblichen Wirkungen ist der Versuch, im Zusammenhang mit Erfahrungen des Scheiterns sinnstiftende Plausibilitäten herzustellen, die auf einschlägige religiöse Narrative aufsatteln können, etwa auf dasjenige von der Prüfung durch Gott. Das birgt eine gewisse Ambivalenz. Einerseits können solche Narrative in der Situation der Betroffenheit unmittelbar tonisierend wirken. Andererseits birgt das auch die Gefahr, Situationen des Scheiterns mit Blick auf ihre Genese nicht richtig zu dechiffrieren und am Ende möglicherweise die Chance zu verpassen, solche Situationen zu verändern. Dass beide Sichtweisen vielen der Interviewten aber in ihrem seelsorgerlichen Potenzial bewusst sind, zeigt, dass der reflektierte Zugriff auf religiöse Dimensionen Wege zu Resilienz und Kontingenzbewältigung aufzeigen kann.

7.

Schlussbemerkungen

Die Beschäftigung mit theologischen Grundlagen ist ein Bestandteil der religiösen Orientierung und Sinnsuche junger Muslim*innen. Vielfach geht diese Form der Auseinandersetzung mit der Infragestellung von Autoritäten im mittelbaren und unmittelbaren Umfeld einher. Religion wird dabei als Wissenskategorie verstanden, die um kritische Reflexionen vonseiten der jungen Menschen erweitert wird. Säkular bedingte Einflüsse wie die feministische Kritik oder die Kritik an neoliberalen Verhältnissen werden mit spirituellen Aspekten und islamisch-theologischen Gerechtigkeitsprinzipien verwoben. Das Gerechtigkeitsprinzip dient sowohl einem inneren als auch einem äußeren Schutz: einem inneren Schutz, um Missstände in der eigenen Gemeinschaft benennen und modifizieren zu können, und einem äußeren Schutz, um einen Orientierung gebenden Halt in Konflikt- und Krisensituationen zu ermöglichen. Die Kritik an der eigenen Gemeinschaft führt nicht selten zum Wechsel in andere Gemeinschaften oder zur Herausbildung nichtinstitutionalisierter Orte wie Lesekreisen und homosozial entworfenen Begegnungsräumen. In Situationen der Krisenbewältigung und kritischen Hinterfragung können sich junge Muslim*innen als selbstwirksam erfahren. Ausgehend von den bisherigen Feststellungen und theologischen Beschäftigungen der Gesprächspartner*innen stellt sich eine konkrete Anforderung an die islamische Theologie im deutschsprachigen Raum: Wie kann und muss eine Theologie gestaltet werden, die in die Gesellschaft hinein spricht und die Antworten auf soziale Fragen bietet, die im Kontext von Migration, Geschlecht und Religion gestellt werden? Das Ungleichgewicht zwischen der Wissensproduktion über Muslim*innen und dem fehlenden Wissen über ihre Lebensrealitäten ist ein Aspekt, der insbesondere in den wissenschaftlichen Disziplinen deutlich stärker reflektiert und infrage gestellt werden muss. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Diskurse auf die

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Gesprächspartner*innen sind empirisch feststellbar. Hier gilt es, Rückzugstendenzen ernst zu nehmen, indem die Kommunikation und die Kontroversen auf Augenhöhe stattfinden und nicht die Form von Ein- und Gegenrede annehmen.

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Soziologie Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Maria Björkman (Hg.)

Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3

Franz Schultheis

Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Ingrid Jungwirth | Andrea Wolffram (Hrsg.)

Hochqualifizierte Migrantinnen Teilhabe an Arbeit und Gesellschaft ISBN 978-3-86649-456-5 | eISBN 978-3-86649-523-4 2017 | 249 S. | Kart. | 28,00 € (D), 28,80 € (A)

Olaf Kapella | Norbert F. Schneider | Harald Rost (Hrsg.)

Familie – Bildung – Migration Familienforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis. Tagungsband zum 5. Europäischen Fachkongress Familienforschung ISBN 978-3-8474-2228-0 | eISBN 978-3-8474-1261-8 2018 | 328 S. | Hc. | 49,90 € (D), 51,30 € (A)

Eva Breitenbach | Thomas Viola Rieske | Sabine Toppe (Hrsg.)

Migration, Geschlecht und Religion Praktiken der Differenzierung ISBN 978-3-8474-2159-7 | eISBN 978-3-8474-1180-2 2018 | 157 S. | Kart. | 24,00 € (D), 24,70 € (A) | Schriftenreihe der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der DGfE, Band 6

Ilse Lenz

Einwanderung, Geschlecht, Zukunft? Wie Deutschland sich verändert ISBN 978-3-8474-0511-5 | eISBN 978-3-8474-0932-8 2019 | ca. 120 S. | Kart. | ca. 12,90 € (D), 13,30 € (A)

Verlag Barbara Budrich | www.shop.budrich.de