Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion 316159455X, 9783161594557, 9783161597923

Autorität und Autoritäten spielen für Bildung und Religion eine wichtige Rolle - besonders wenn zwischen beiden eine Spa

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Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion
 316159455X, 9783161594557, 9783161597923

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer — Einleitung
Tanja S. Scheer — Religiöse Autorität im Klassischen Athen: Formen und Funktionen
Peter Kuhlmann — Philosophen – Priester – Bürger: auctoritas und humanitas bei Cicero
Reinhard G. Kratz — Vom Text zum Kanon: Die Autorität der Hebräischen Bibel im antiken Judentum
Florian Wilk — Strategien der Selbstautorisierung im Neuen Testament
Heinz-Günther Nesselrath — Von falscher und von wahrer Autorität: Die charismatischen religiösen Figuren Alexander von Abonuteichos, Peregrinos Proteus und Apollonios von Tyana im Diskurs der Zweiten Sophistik
Ulrike Egelhaaf-Gaiser — Freiheitshelden, Wahrsager und das Gedächtnis der (W)orte: Konkurrierende Autoritäten in Gellius’ Attischen Nächten (N.A. 4,5)
Peter Gemeinhardt — Tradition, Kompetenz und Charisma: Streiflichter auf das Spannungsfeld von Autorität und Bildung in spätantiken Religionskulturen
Steffen Patzold — Autoritäten in Priesterbüchern der Karolingerzeit
Die Autorinnen und Autoren
Register

Citation preview

I

SERAPHIM Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs Editors Peter Gemeinhardt · Sebastian Günther Ilinca Tanaseanu-Döbler · Florian Wilk Editorial Board Wolfram Drews · Alfons Fürst · Therese Fuhrer Susanne Gödde · Marietta Horster · Angelika Neuwirth Karl Pinggéra · Claudia Rapp · Günter Stemberger George Van Kooten · Markus Witte

9

II

III

Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion Herausgegeben von

Peter Gemeinhardt und Tanja S. Scheer

Mohr Siebeck

IV Peter Gemeinhardt, geboren 1970; 1990–1996 Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Marburg und Göttingen; 2001 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Marburg; 2003 Ordination zum Pfarrer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck; 2006 Habilitation an der Universität Jena; seit 2007 Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen; 2015–2020 ebendort Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Bildung und Religion“. Tanja S. Scheer, geboren 1964; 1983–1989 Studium der Alten Geschichte, Klassischen Archäo­logie und Mittelalterlichen Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Promotion in Alter Geschichte 1992, Habilitation 1998 ebd.; 2004–2011 Professorin für Alte Geschichte an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg; seit 2011 Lehrstuhlinha­ berin für Alte Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.

ISBN 978-3-16-159455-7 / eISBN 978-3-16-159792-3 DOI 10.1628/978-3-16-159792-3 ISSN 2568-9584 / eISSN 2568-9606 (SERAPHIM) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildung: © Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18206090. Aufnahme durch Reinhard Saczewski. Printed in Germany.

V

Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert eine Tagung, die unter dem Titel „Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion“ am 20. und 21. Juni 2018 an der Georg-­August-Universität Göttingen stattfand. Den Rahmen bot die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Philosophischen und der Theologischen Fakultät im DFG-Sonderforschungsbereich 1136 „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“ (2015–2020). Die Frage, welche Rolle Autoritäten, Autorisierungsstrategien und Debatten über Autorität in vormodernen Religionskulturen spielen, wurde dabei auf den Aspekt der Bildung zugespitzt: Wie wirkt Bildung bei Autorisierungen von Personen, Texten und Institutionen mit, wie unterstützt – oder unterminiert – Autorität die Vermittlung und den Erwerb von Bildung, und wie sehen solche Konstellationen aus, wenn es um religiöse Autorität und Bildung geht? Diese und weitere Fragen wurden auf der Tagung unter den Mitgliedern und Angehörigen des Sonderforschungsbereichs und mit auswärtigen Gästen diskutiert. Bis auf ein Referat, das für die Veröffentlichung leider nicht zur Verfügung stand, enthält dieser Band die ausgearbeiteten Beiträge. Über den konzeptionellen Rahmen und die einzelnen Beiträge informiert die Einleitung; sie zieht einige Schlüsse, die auch Perspektiven für die Weiterarbeit eröffnen. Wir sind der Ansicht: Es könnte sich lohnen. Als für die Tagung und deren Dokumentation Verantwortliche danken wir sehr herzlich: den Kolleginnen und Kollegen, die mit Referaten zu der Tagung beigetragen und ihre Texte für den Druck bereitgestellt haben; der Geschäftsstelle des SFB, namentlich Karin Gottschalk, Ulrike Schwartau und Levke Bittlinger, für die tatkräftige Mitarbeit bei der Organisation der Tagung, letzterer auch für die Begleitung des Drucks; der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung; dem SERAPHIM-Herausgebergremium für die Aufnahme des Bandes in die Buchreihe; den studentischen Hilfskräften Johanna Jürgens und ­Louisa Meyer für die akribische Redaktion der Manuskripte; der Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Balbina Bäbler für die Erstellung des Registers; schließlich den auf Verlagsseite Beteiligten an der Drucklegung, Tobias Stäbler und Susanne Mang. Göttingen, im Mai 2020

Peter Gemeinhardt und Tanja S. Scheer

VI

VII

Inhaltsverzeichnis Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1 Tanja S. Scheer Religiöse Autorität im Klassischen Athen: Formen und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   17 Peter Kuhlmann Philosophen – Priester – Bürger: auctoritas und humanitas bei Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59 Reinhard G. Kratz Vom Text zum Kanon: Die Autorität der Hebräischen Bibel im antiken Judentum . . . . . . . . . . . . . . . .  77 Florian Wilk Strategien der Selbstautorisierung im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  93 Heinz-Günther Nesselrath Von falscher und von wahrer Autorität: Die charismatischen religiösen Figuren Alexander von Abonuteichos, Peregrinos Proteus und Apollonios von Tyana im Diskurs der Zweiten Sophistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  115 Ulrike Egelhaaf-Gaiser Freiheitshelden, Wahrsager und das Gedächtnis der (W)orte: Konkurrierende Autoritäten in Gellius’ Attischen Nächten (N.A. 4,5) . . . . . .  135 Peter Gemeinhardt Tradition, Kompetenz und Charisma: Streiflichter auf das Spannungsfeld von Autorität und Bildung in spätantiken Religionskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161

VIII

Inhaltsverzeichnis

Steffen Patzold Autoritäten in Priesterbüchern der Karolingerzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  203 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  223 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  227

IX

Abkürzungsverzeichnis ADipl Archiv für Diplomatik AJP T he American Journal of Philology ANRW Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt ARID.S Analecta Romana Instituti Danici. Supplementa AuA Antike und Abendland AugL Augustinus-Lexikon BaW BedrO BETL BJRL BS BT hSt BZ BzA BZAW

Bibliothek der Alten Welt Bedrohte Ordnungen Bibliotheca Ephemeridum T heologicarum Lovaniensium Bulletin of the John Rylands Library Bibliotheca Sacra Biblisch-theologische Studien Biblische Zeitschrift Beiträge zur Altertumskunde Beiträge zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft

CBET CB.NT CBQ CChr.CM CChr.SL CIC CIL CollLat COMES CP CSCP CSEL

Contributions to Biblical Exegesis and T heology Coniectanea Biblica. New Testament Series T he Catholic Biblical Quarterly Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis Corpus Christianorum. Series Latina Corpus Iuris Civilis Corpus Inscriptionum Latinarum Collection Latomus Civitatum Orbis Mediterranei Studia Classical Philology Cornell Studies in Classical Philology Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum

DA DÖAW

Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse

EKK EKL

Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Evangelisches Kirchenlexikon

FAT FBMAG FC

Forschungen zum Alten Testament Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte Fontes Christiani

X

Abkürzungsverzeichnis

FGrHist FKDG FMSt

Die Fragmente der griechischen Historiker Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Frühmittelalterliche Studien

GCS

Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte Grundriß der T heologischen Wissenschaften

GT hW

HABES Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien Hereditas Hereditas. Studien zur Alten Kirchengeschichte Hermes Hermes. Zeitschrift für Klassische Philologie Hist. Historia Hist.E Historia. Einzelschriften HNT Handbuch zum Neuen Testament HSCP Harvard Studies in Classical Philology HT hK Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament HWP Historisches Wörterbuch der Philosophie Hyp. Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben HZ Historische Zeitschrift IG IPM

Inscriptiones Graecae Instrumenta patristica et mediaevalia

JAC JES JSHRZ JSNT JT hS n.s.

Journal of Ancient Civilizations Journal of Ecumenical Studies Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Journal for the Study of the New Testament T he Journal of T heological Studies. New series

KEK KVRG

Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte

LCL Lectio LSAM LSS

Loeb Classical Library Lectio. Studies in the Transmission of Texts & Ideas Lois sacrées de l’Asie Mineure Lois sacrées des cités grecques. Supplément

MBT h Münsterische Beiträge zur T heologie MGH.Capit.episc. Monumenta Germaniae Historica. Capitularia episcoporum MGH.Conc. Monumenta Germaniae Historica. Concilia MGH.Epp. Monumenta Germaniae Historica. Epistulae MGH.F Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris Germanici antiqui MGMA Monographien zur Geschichte des Mittelalters Mn.S Mnemosyne. Supplementa MS Mediaeval Studies MSt Millennium-Studien MTK Materiale Textkulturen MythoS Mythological Studies

Abkürzungsverzeichnis

NEB.AT.E NEB.NT NHMS NTD NTOA NTS

Neue Echter Bibel. Ergänzungsbände zum Alten Testament Neue Echter Bibel. Kommentar zum Neuen Testament mit der Einheitsübersetzung Nag Hammadi and Manichaean Studies Das Neue Testament Deutsch Novum Testamentum et Orbis Antiquus New Testament Studies

ÖTBK

Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament

XI

Par. Paradosis PawB Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge PBA Proceedings of the British Academy PG Patrologiae cursus completus. Series graeca PhAnt Philosophia Antiqua PL Patrologiae cursus completus. Series latina PMAAR Papers and Monographs of the American Academy in Rome RAC RGA.E RGRW RGVV RHE

Reallexikon für Antike und Christentum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände Religions in the Graeco-Roman World Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten Revue d’histoire ecclésiastique

SAPERE

Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam Religionemque Pertinentia Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs Sources chrétiennes Supplementum Epigraphicum Graecum Studia Judaica Schriften der Kirchenväter Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo Studien und Texte zu Antike und Christentum Studien zur Alten Geschichte Studies on the Texts of the Desert of Judah Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Supplements to Vigiliae Christianae

SERAPHIM SC SEG SJ SKV SPA SPAW.PH SSAM STAC StAG STDJ stw SVigChr TANZ TAPhA TBAW TBN T hHK T hKNT

Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Transactions and Proceedings of the American Philological Association Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft T hemes in Biblical Narrative T heologischer Handkommentar zum Neuen Testament T heologischer Kommentar zum Neuen Testament

XII T hWNT TK TMLT TRE TSAJ TU

Abkürzungsverzeichnis

T heologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Texte und Kommentare Toronto Medieval Latin Texts T heologische Realenzyklopädie Texte und Studien zum antiken Judentum Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur

UaLG Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte UCPCS University of California Publications. Classical Studies UTB Uni-Taschenbücher VHKH VuF

Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte

WBC WJT h WMANT WUNT

Word Biblical Commentary Wiener Jahrbuch für T heologie Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament

ZAC Zet. ZNW

Zeitschrift für Antikes Christentum Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (und die Kunde der älteren Kirche) Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik Zwischen den Zeiten

ZPE ZZ

1

Einleitung Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion

Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer 1. Zum T hema Ist Autorität unvermeidlich? Oder lassen sich auch Gesellschaften ohne Autoritätsverhältnisse vorstellen? Und wenn ja, wie würden die Beteiligten dazu befähigt, autoritätsfrei miteinander zu interagieren? Nötigen moderne Experimente mit antiautoritärer Erziehung nicht vielmehr zu dem Schluss, dass es mit der Negierung von Autorität nicht getan ist und dass nur durch bewusste Gestaltung innovative Autoritätsstrukturen etabliert werden können? Und sind Autorität und Freiheit überhaupt notwendige Gegensätze? Ist Autorität dasselbe wie Machtausübung? Und wie kommt sie überhaupt zustande? Die Frage nach nicht- oder gar antiautoritären Strukturen ist spezifisch für die Moderne.1 In Antike und Mittelalter stand nicht infrage, dass es Autorität und Autoritäten in Familie, Gemeinwesen oder Territorium gab und geben musste, und zwar in allen Lebensbereichen, einschließlich des Erziehungswesens und der religiösen Alltags- und Festtagsvollzüge. Die Ausübung von Autorität als ungerecht zu empfinden kam vor; die gegebenen Verhältnisse grundsätzlich anzu­ zweifeln war schon viel seltener, und menschliche Autorität rundheraus abzulehnen, war die Haltung weniger apokalyptisch gestimmter Gruppen, die dabei aber keineswegs antiautoritär argumentierten, sondern vielmehr irdische Strukturen mit der Berufung auf andere, nämlich göttliche Autorität relativierten. Dabei war aber gerade die Frage, welcher Gott oder welche Götter als autoritativ anerkannt wurden, durchaus nicht von vorneherein klar, sobald man den Blick über die Religion der eigenen Polis oder civitas hinaus richtete und im näheren oder weiteren Umfeld andere Kulte entdeckte. Wo dies mit der Vorstellung monotheistischer, auf Exklusivität pochender Götter einherging, wurde religiöse Autorität zu einem Konfliktfeld – und zum Gegenstand philosophischer und theologischer Reflexion. Kurz gesagt, in Religionskulturen der Vormoderne waren Autoritätsdiskurse keine Mangelware.

1 

Vgl. Sofsky / Paris 1991, 19–109.

2

Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer

Solche diskursiven Konstruktionen von Autorität werden im vorliegenden Band vergleichend behandelt. Dies setzt hinreichende Klarheit darüber voraus, was mit „Autorität“ überhaupt gemeint ist. Das lateinische Wort auctoritas bezeichnete in seinem klassischen (spätrepublikanischen) Gebrauch „das Ansehen von Personen, und zwar als die Fähigkeit, durch persönliche Kompetenz und Überzeugungskraft Eindruck zu machen und Einfluß auf Denken und Entscheidungen anderer auszuüben“2. Diese „Ansehensmacht“ beruhte auf Zuschreibung und Akzeptanz: „one does not become – let alone remain – an authority without the help of others who are assenting and, even more important, actively contributing to such a construction.“3 Autorität musste dabei im Prozess der Ausübung gar nicht thematisiert werden, sondern kam einer Person unmittelbar zu und definierte ihre Möglichkeit, im öffentlichen oder privaten Leben das Denken und Handeln anderer zu lenken. Exemplarisch machte dies Cicero mit Bezug auf die Gerichtsverhandlung deutlich: „Es hat nicht jede Person, wie auch immer sie beschaffen sein mag, das Gewicht einer gültigen Zeugenschaft; denn zur Möglichkeit des Beglaubigens gehört Ansehen (auctoritas). Ansehen verschaffen aber entweder die Natur oder die Zeit. Die erstere beruht vorzüglich auf Tugend; in der Zeit liegt vieles, was Ansehen verschafft: Begabung, Vermögen, Glück, Alter, Kunst, Notwendigkeit […]. Man nimmt aber nicht nur diejenigen als solche (sc. mit Ansehen) an, welche als Staatsdiener öffentlich geehrt werden, sondern auch Redner, Philosophen, Dichter und Geschichtsschreiber, aus deren Aussprüchen und Schriften man oft eine Gewähr (auctoritas) für das schöpft, was man geglaubt wissen will.“4

Autorität ist demnach einer Person inhärent, sei es als natürliche Gabe oder durch Erwerb, der auf sehr unterschiedliche Weise vonstatten gehen kann. Sie kann allerdings auch vermittelt geltend gemacht werden, nämlich auf schriftlichem Wege: Für Quintilian war der mehr als ein Jahrhundert zuvor verstorbene, als Schulautor aber weiterhin präsente Cicero immer noch der denkbar beste Lehrer, „denn in allem, was er sagt, ist eine solche auctoritas, dass man sich schämt, dazu eine andere Meinung zu haben!“5 Auctoritas konnte also nicht nur lebenden Personen, sondern auch Gestalten der Tradition und den von ihnen kündenden Schriften attestiert werden. Sie war aber stets individuell zurechenbar und nicht ohne Weiteres übertragbar wie die mit einem Amt verbundene „Gewalt“ (potestas). Augustus unterschied beide Konzepte in seinem Selbstzeugnis (Monumentum Ancyranum) dahingehend, dass er nur auctoritas exklusiv besessen habe, während ihm in Bezug auf die potestas alle, „die mir im Amt (in magistratu) Kollegen waren“, gleichrangig gewesen seien.6

2 

Lütcke 1986–1994, 498; zum Folgenden vgl. ausführlich Lütcke 1968, 13–63. / Meijns 2016, 9; ähnlich (für die Moderne) Sofsky / Paris 1991, 20–25 und Bocheński 1974, 17–27. 4 Cicero, Topica 19 f.; Übers. Veit 1971, 724 f. 5 Quintilian, Institutio oratoria X 1,111. 6  Res gestae divi Augusti 34. Hierzu vgl. Nippel 2007, 28–31. 3 Leemans

Einleitung

3

Der klassische lateinische Gebrauch von auctoritas erschließt das hier interessierende Phänomen allerdings nicht zureichend, da es im Griechischen kein Äquivalent gab. Das Moment des „Ansehens“ bildete vielleicht am besten ἀξίωμα ab7, die in der griechischen Übersetzung der Augustus-Inschrift verwendete Kombination dieses Begriffs mit ἐξουσία für potestas hat aber keinen Anhalt in der klassischen Gräzität, sondern ist der durchaus kreative Versuch, das lateinische Begriffspaar im Griechischen nachzubilden.8 Erst in der Kirchenväterliteratur begegnete mit αὐθεντία ein Übersetzungsbegriff, der aber schon die Überblendung von auctoritas und potestas in der Spätantike spiegelt, wie sie auch in der kaiserlichen Gesetzgebung zu finden ist.9 Insofern muss über den lateinischen Begriff und seine Entwicklung hinaus nach Praktiken der Autorisierung und deren Reflexion gefragt werden, wo zwar kein terminus technicus, wohl aber eine vergleichbare Strategie der Produktion von Autorität vorliegt. Hierfür erproben die Beiträge in diesem Band unterschiedliche kategoriale Raster: Tanja Scheer differenziert zwischen traditionaler, formaler (unmittelbarer und delegierter) und personaler Autorität, Peter Gemeinhardt zwischen den Bezugsgrößen der Tradition, der Kompetenz und des Charismas. Noch einmal anders gewichtet an anderem Ort Hartmut Leppin mit Bezug auf das frühe Christentum zwischen Autorität durch Herkunft sowie Autorität im Sinne einer besonderen spirituellen, geistigen – näherhin intellektuellen – oder asketischen Begabung und schließlich sozialer Autorität.10 Zur Autorität von Personen tritt der bereits bei Cicero anklingende Aspekt einer durch Texte vermittelten Autorität. Dieses Moment gewann in den biblisch-jüdischen und christlichen Religionskulturen, aber auch im spätantiken, religionsförmigen Neuplatonismus eine gegenüber der Leitdifferenz von auctoritas und potestas erweiterte Bedeutung. Lateinisch schreibende christliche T heologen attestierten auctoritas auch Gott und Christus, der Bibel, der Tradition der Apostel oder der Kirche als diese bewahrender Institution.11 Exemplarisch wird dies bei Augustin deutlich, der die Notwendigkeit von auctoritas „für den Erkenntnisweg und für die Vermittlung der Wahrheit an die Ungebildeten“ für die christliche Tradition etablierte.12 Wo Schriften oder Traditionen als autoritative Instanzen auftraten, bedurfte es aber dennoch – mindestens faktisch – menschlicher Akteure als Sachwalter unpersönlicher Autoritäten. Die frühjüdischen Schriften sind ein besonders sprechendes Beispiel für den Fall, dass diese Akteure historisch nicht mehr dingfest gemacht werden können (und die Entstehung des Kanons der Schriften des Neuen Testaments im frühen Christentum schließt daran nahtlos an, insofern auch hier keine Entscheidungsinstanzen namhaft gemacht werden  7 

Lütcke 1968, 50 f. Vgl. zum Fehlen äquivalenter Begriffe im klassischen Griechisch die Hinweise im Beitrag von Tanja Scheer (S. 19–20).  9  Lütcke 1968, 59–62. 10  Leppin 2019, 306. 11  Miethke 1980, 20. 12  Lütcke 1986–1994, 498.  8 

4

Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer

können). Es ist reizvoll zu fragen, ob solche Autorisierungsprozesse erfolgreich waren, weil oder obwohl sie nicht personalen Akteuren zugerechnet werden konnten – man könnte von Selbstautorisierungen von Texten sprechen.13 Wo Autorität auf Texten gründete, war Bildung vonnöten, sowohl zur Begründung der eigenen als auch zur Negierung anderer Zuschreibungen von Autorität. Nicht erst im Fall offener Konflikte, sondern schon im unmittelbaren Umfeld, in der religiösen Praxis und gegebenenfalls auch ihrer Reflexion, spielte Bildung eine wichtige Rolle. Nicht notwendigerweise musste dies explizit thematisiert werden: Kompetentes religiöses Agieren erforderte und produzierte zugleich Autorität, ob man nun durch Ausbildung, „learning by doing“ oder außergewöhnliches Charisma dazu instand gesetzt worden war. Je komplexer religiöse Vollzüge waren und je anspruchsvoller die dabei eingesetzten Medien wurden, umso dringender bedurfte es für die Durchführung von Praktiken entsprechenden Personals; zugleich wurden aber auch die Mechanismen der Zuschreibung von Autorität sukzessive formalisiert, teils kodifiziert und auf ihre Funktionalität hin überprüft. Autorisierung konnte – kurz gesagt – Expertise erfordern, und diese musste Bildung in Anspruch nehmen. Institutionen der Reflexion von traditionellen und gegenwärtigen Ansichten von Gott, Göttern, Welt und Selbst (Philosophie, später auch T heologie genannt) mussten die Autorität, die sie beanspruchten, etablieren, erhalten und gegeneinander verteidigen. Dabei wurden ganz unterschiedliche Arten von Bildung als Mittel der Autorisierung genutzt und Autoritäten zugeschrieben.14 Das Verhältnis von Bildung und Religion wurde unter variierenden gesellschaftlichen Umständen in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt kontinuierlich diskursiv konstruiert und praktisch implementiert, dabei auch – ausgesprochen oder unter der Hand – modifiziert.15 „Bildung“ umfasst im hier gebrauchten Sinne ein Ensemble von denk- und handlungsleitenden Prozessen, die intentional Wirkung ausüben (Erziehung), sich beiläufig ereignen (Sozialisation) oder von Individuen selbst gesteuert werden konnten (Selbst-Bildung). In Bezug auf Autorität wurden solche Konstellationen unter unterschiedlichen Hinsichten zum T hema: Einerseits trug Autorität und trugen Autoritäten zur Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen und zur Speicherung, Tradierung und Vermittlung von religiösem und Bildungswissen bei. Dabei kamen durchaus unterschiedliche Medien ins Spiel; religiös und bildungsmäßig begründete Autorität konnten einander ergänzen, aber auch ausschließen. Andererseits konnten Autorität und Autoritäten am Entstehen von einschlägigen Leitdiskursen maßgeblich 13  Vgl. zuletzt die Beiträge in Heil u.a. 2019. Berkovitz / Letteney 2018 warnen davor, die antike Kultur- und Religionsgeschichte en bloc einem „authority-driven paradigm“ zu unterwerfen; dass auch andere Faktoren beim Abfassen und Überliefern religiöser Texte wirksam waren, ist aber selbstverständlich. 14 Leemans / Meijns 2016, 18 nennen als Beispiele „extensive learning, exemplary literary skills, mystical experience, didactic or rhetoric qualities or practical accomplishments“. 15  Differenzierte Einblicke ermöglicht jetzt der Sammelband Gemeinhardt 2019.

Einleitung

5

beteiligt sein. Diesen hier nur sehr kurz skizzierten sowie weiteren Konstruktionen von Autorität gilt im vorliegenden Band das Augenmerk. Der Aspekt der Bildung dient dabei der Fokussierung des weiten Feldes von Autoritäten und Autorisierungen. Die übergreifende Leitfrage lautet entsprechend: Wie verhalten sich Prozesse der Zuschreibung, Fixierung und Usurpation von Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion in Religionskulturen von der Antike über die Spätantike bis zum Mittelalter? Diese Leitfrage lässt sich zu einem Koordinatensystem ausdifferenzieren, anhand dessen die Frage nach Autorität und Bildung in griechischen und römischen polytheistischen Kontexten, in der biblisch-jüdischen Tradition und im Christentum von dessen Anfängen im Neuen Testament über die Spätantike bis zum Frühmittelalter in den Blick genommen wird. Im Fokus stehen dabei Interaktionen zwischen sowohl personalen als auch textuellen Autoritäten; dabei können die personalen Akteure Träger und Adressaten von gebildeter Autorität und der darauf hinführenden Prozesse sein, während Texte Bildung transportieren können, der Umgang mit ihnen aber wiederum Bildung erfordert. Berücksichtigt werden dabei auch Institutionen als Träger nichtpersonaler Autorität; nicht behandelt werden dagegen Gott oder Götter als Träger von überpersonaler Autorität. Das heißt nicht, dass nicht auch (ein) Gott oder (viele) Götter als Interaktionspartner von Menschen galten und ihnen entsprechende Autorität zugeschrieben wurde; jedoch wird hiermit der Bereich menschlichen Bildungshandelns verlassen. Gerade auf die Plausibilisierungsmechanismen von Autorität richtet sich aber der Fokus des vorliegenden Bandes. Man kann sechs Perspektiven auf das hier behandelte Spannungsfeld identifizieren, die in den Beiträgen zu diesem Band in unterschiedlichen Konfigurationen aufgegriffen werden: 1. Welche Autoritätsterminologie ist in den hier behandelten Kulturen zu finden? 2. Welche Funktionen und Ziele von Autorität sind kontextspezifisch erkennbar? 3. Wer sind die Träger von gebildeter religiöser Autorität in den behandelten Kulturen? 4. Wie wird gebildete religiöse Autorität erzeugt? 5. Welches sind die Orte, an denen Autorität, Bildung und Religion ineinandergreifen? 6. In welchen Spannungsfeldern sind Autorisierungsstrategien wirksam?

6

Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer

2. Die Beiträge in diesem Band Das Klassische Griechenland und die späte römische Republik, zwei polytheistisch geprägte Kulturen ohne religiöse ‚Zentralautorität‘, stehen im Zentrum der beiden ersten Beiträge. ‚Religiöse Autorität‘ lässt sich im antiken Griechenland nicht anhand spezifischer Begrifflichkeiten identifizieren. Sie muss vielmehr in ihren sozialen Kontexten aufgesucht werden. Entsprechend analysiert die Althistorikerin Tanja S. Scheer Formen und Funktionen religiöser Autorität am Beispiel Athens in klassischer Zeit. Asymmetrische Beziehungsmuster prägen auch in der attischen Demokratie das Verhältnis von Göttern und Menschen. Religiöser Autorität unter Menschen bedarf es vor allem, um die geregelte Verehrung der Götter sicherzustellen. Die Akzeptanz religiöser Autorität, so die T hese Scheers, kann hierbei auf traditionaler, formaler und personaler Ebene erfolgen. Traditionale religiöse Autorität wird Überlieferungen zugestanden, die in Wort, Objekt und Schrift die angesammelten Wissensbestände der Bürgerschaft sicherstellen. Formale religiöse Autorität wird zugestanden und begrenzt delegiert, um die Forderungen der Tradition auszuführen und gelegentlich als notwendig empfundene Veränderungen umzusetzen. Grundsätzlicher Träger religiöser Autorität auf allen Ebenen ist die Bürgergemeinschaft, die aus Praktikabilitätsgründen einzelne Mitbürger als Beamte oder Priesterinnen religiös autorisiert, sich aber stets die Kontrolle über diese vorbehält. Personale religiöse Autorität hat im klassischen Athen nur geringes Gewicht. Für die Mehrheit der religiösen Aufgaben ist keine spezifische Bildung verlangt. Religiöse Spezialisten wie z.B. Seher können gelegentlich beratend herangezogen werden. Ungebetene charismatische Auftritte Einzelner laufen hingegen Gefahr, als Versuche illegitimer sakraler Selbstautorisierung verstanden zu werden. Sie scheitern angesichts einer Bürgerschaft, die sich auch vor den Göttern als Gemeinschaft von Gleichen versteht. Auch in Rom wird religiöse Autorität nicht in Form von Lehrautoritäten oder heiligen Schriften sichtbar. Der Klassische Philologe Peter Kuhlmann fragt nach den Funktionen und Trägern religiöser Autorität in der späten römischen Republik. Die Verehrung der Götter ist geprägt durch Orthopraxie, durch die Autorität des überkommenen Rituals; eines der begehrten Priesterämter ausüben zu dürfen, ist für die römischen Bürger der Oberschicht attraktiv, da mit sozialem Prestige verbunden. Zum anderen sind aber gebildete Römer mit dem Gedankengut griechischer Philosophenschulen konfrontiert, welche ihre Schulhäupter – von Epikur bis Chrysipp – als Autoritäten akzeptieren, und deren Anspruch, die Wahrheit über die Götter zu kennen, dogmatische Züge annehmen kann. Skizziert wird damit ein Spannungsfeld, das sich zwischen gebildeten philosophischen Konzepten und den der römischen religio zugrundeliegenden Göttervorstellungen eröffnet. Für den römischen Autor, Politiker, Priester und Philosophen Cicero stellte aber sein Wirken als Augur und die Hinwendung zur philosophisch geprägten griechischen paideia keinen Widerspruch dar. Kuhlmann kann aufzeigen, wie es Cicero

Einleitung

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gelang, durch die Einführung des lateinischsprachigen philosophischen Dialogs die Autoritätsgläubigkeit hellenistischer Philosophie zu hinterfragen und einer gebildeten, spezifisch römischen Streitkultur über religiös-philosophische ‚Wahrheiten‘ Vorschub zu leisten. Die nächsten beiden Beiträge widmen sich nicht personalen, sondern literarischen Autoritäten, genauer gesagt: den Schriftencorpora, die für das Judentum und das Christentum normativ wurden. Der Alttestamentler Reinhard G. Kratz beschreibt unter dem Titel „Die Autorität der Hebräischen Bibel im antiken Judentum“ zunächst die Herausbildung des biblischen Kanons hebräischer Schriften einschließlich späterer Deutungen dieses Prozesses und hebt hervor, dass sich der faktische Gebrauch bestimmter Schriften und ihre normative Stellung wechselseitig autorisierten, so dass nicht von einer einlinigen Entwicklung – erst Festlegung von Autorität, dann deren Ingebrauchnahme – auszugehen ist. Neuere Erkenntnisse zur Geschichte des Bibeltextes, genauer: Einsichten in die Vielfalt von Texttraditionen derselben Schriften lassen allerdings fragen, was denn „die Schrift“ sei, der Autorität zugeschrieben wurde. Kratz weist anhand eines Abschnitts aus dem ersten Samuelbuch nach, dass es schon während der Entstehung eines normativen Kanons von Schriften zu Fortschreibungen ein und desselben Textes kam, ohne dass dies die Zeitgenossen an der Autorität „der“ Schrift hätte irrewerden lassen. Nicht der Abschluss solcher innerbiblischen Auslegungsvorgänge, sondern die an ihnen erkennbare Pluralität von Deutungsmöglichkeiten macht nach Kratz die Autorität der Hebräischen Bibel als eines „offenen Referenzrahmens“ aus, innerhalb dessen immer neue Potenziale der Tradition erschlossen und diskutiert werden konnten. In den Rahmen von Kanonisierungsdebatten stellt auch der Neutestamentler Florian Wilk seinen Beitrag, in dem er jedoch nicht nach der Autorität des Neuen Testaments als solchem fragt, sondern nach den (Selbst-)Autorisierungsstrategien einzelner Schriften, konkret des Johannesevangeliums und des Zweiten Petrusbriefes. Jenes – das vermutlich jüngste der vier kanonischen Evangelien – präsentiert sich ausdrücklich als „Buch“, dem unbedingte Autorität beizumessen ist, da es nicht nur die Jesusüberlieferung erschließt, sondern neben dem Alten Testament, auf das es sich vielfach bezieht, als neue „Heilige Schrift“ zu stehen kommt. Die in dem inkarnierten, gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus erfolgte Offenbarung wird, in Analogie zur Gabe des Gesetzes durch Mose, zur Wegweisung für die jetzt Lebenden. In ähnlicher Weise erklärt sich der Zweite Petrusbrief, eine der spätesten Schriften des Neuen Testaments, zur autoritativen Instanz der Interpretation des apostolischen Zeugnisses durch Bezugnahmen auf beachtliche Teile der vorhergehenden Überlieferung und auf die Figur des Petrus. Beide Schriften beanspruchen also, die Grundlage des Christusglaubens autoritativ zu präsentieren; sie legen dabei Bildungskompetenz an den Tag, insofern sie komplexe textliche Bezüge herstellen, setzen aber ebenso auch bei den Lesenden Bildung voraus, die ja diese Bezüge entschlüsseln und die Autorität der Schreibenden anerkennen sollen. Autorität wird also als Schriftautorität konstruiert – teils er-

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folgreich (beide Texte gehören bis heute zum Kanon des Neuen Testaments), teils auch nicht, denn die Wirkungsgeschichte des Zweiten Petrusbriefes löste den von Wilk beschriebenen Anspruch nicht wirklich ein. Kaiserzeitliche Autoritätsdiskurse und Autoritätskonkurrenzen im Kontext der traditionellen griechisch-römischen Kulte, jeweils getragen von hochgebildeten paganen Autoren, stehen im Zentrum der zwei folgenden Beiträge. Der Gräzist Heinz-Günther Nesselrath nimmt die Konstruktion personaler religiöser Autorität im literarischen Kontext der Zweiten Sophistik in den Blick. In den Mittelpunkt gerückt werden mit dem Orakelbegründer Alexander von Abonuteichos, dem kynischen Philosophen und angeblichen Ex-Christen Peregrinos Proteus und dem Charismatiker Apollonios von Tyana drei historische Gestalten, deren offenbar erfolgreicher Anspruch auf religiöse Autorität das Interesse kaiserzeitlicher Autoren wie Lukian und Philostrat erweckte. Diese Autoren kommen im Einzelfall zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen ihrer Figuren – im Fall von Alexander und Peregrinos liefert Lukian nach Einschätzung Nesselraths „Schurkenbiographien“, während Philostrats Apollonios-Vita panegyrische Züge trägt. Aus den eindringlichen Lebensbeschreibungen wird sehr deutlich, welche Elemente in der Kaiserzeit religiöse Autorität konstruieren und konstituieren helfen: welches Wissen um die lokalen Verhältnisse nötig ist, welche Bildung bezüglich der allgemeinen religiösen und mythologischen Tradition sich als hilfreich erweist, und welche Kompetenzen jemand schließlich besitzen sollte, um von potentiellen Anhängerschaften als Autorität anerkannt zu werden. Während Lukian mit dem scharfen Blick des Satirikers die Autorisierungsstrategien analysiert, die einem Scharlatan zur Verfügung stehen, erscheinen eben diese Strategien gebildeter Selbstinszenierung und religiöser Selbstautorisierung bei Philostrats Apollonios ins Positive gewendet. Die Wechselwirkung unterschiedlicher Autoritäten und Autoritätsdiskurse im Kontext von Bildung, Religion und Vergangenheitskonstruktion entfaltet die Latinistin Ulrike Egelhaaf-Gaiser an einem Beispiel aus dem Werk des Buntschriftstellers Aulus Gellius. Dessen Erzählung über das Denkmal des frührömischen Freiheitshelden Horatius Cocles auf dem Forum Romanum zeigt die grundsätzliche Bedeutung des Kriteriums ‚Alter‘ für die Konstruktion von Autorität in der römischen Kultur. Dieses Kriterium ist an Objekten und Erinnerungsorten aktivierbar, erweist sich aber nicht als immanent, sondern als abhängig von jeweils zeitgenössischen Zuschreibungen. Die Statue des Cocles ist sowohl durch ihren Standort auf dem Forum als auch durch das Götterzeichen eines Blitzschlages sakral markiert; sie wird zum Objekt, an dem sich – vermutlich in augusteischer Zeit – politisch aufgeladene Autoritätskonkurrenzen um die religiöse Deutungshoheit entzünden. Die Statue verkörpert nicht nur die Autorität der Tradition im Sinne des mos m ­ aiorum, sondern gewinnt darüber hinaus autoritativen Eigenwert, indem sie von Gellius zu den Unterpfändern für Roms Wohlergehen gerechnet wird. Außerdem, so kann Egelhaaf-Gaiser zeigen, lagern sich literarische Autoritätsdiskurse an die Tradition von Horatius Cocles’ Statue an. Sie gibt dem Autor Gellius Gelegenheit,

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zum einen durch demonstratives Zitieren seiner Quellen als gelehrte Autorität aufzutreten und zum anderen seine Präferenzen als literarischer Autor deutlich zu machen: nicht um die Statue geht es letzterdings, sondern um die Autorität eines mit dieser verbundenen Sprichworts: „Der schlechte Rat ist für den Ratgeber am schlechtesten“. Orte und Objekte können Träger von (religiöser) Autorität sein, doch bei der Gewichtung von Wort, Ort und Bild trägt – nach Meinung eines gelehrten kaiserzeitlichen Autors – das Wort den Sieg davon. Mit den beiden letzten Beiträgen kommt die spätantike und frühmittelalterliche christliche T heorie und Praxis von Autoritätskonstruktionen in den Blick. Der Kirchengeschichtler Peter Gemeinhardt beginnt seine Beobachtungen zu Autoritätskonstellationen in spätantiken Religionskulturen mit dem „Rhetorenedikt“ Kaiser Julians aus dem Jahr 362, das christliche Lehrer vom Unterrichten anhand paganer literarischer Autoritäten abhalten sollte. Für die Christen stellte dies den Kulminationspunkt in einer lange währenden Debatte dar, wie mit antiker Bildung als einer normativen Quelle von Kompetenzen und Kenntnissen umzugehen sei. Der Beitrag beleuchtet drei Strategien: Augustin weist in De utilitate credendi die Notwendigkeit auf, Glauben auf Autoritäten zu gründen, und zieht als Beispiel den Grammatikunterricht heran, in dem das Vertrauen auf literarische und personale Autoritäten die Grundlage des Lernprozesses sei. Johannes Chrysostomus argumentiert in De sacerdotio, rhetorische Kompetenz sei für einen Prediger unabdingbar, jedoch müsse rednerische durch ethische Autorität untermauert werden. Autorität entsteht danach durch Freiheit des Rhetors oder Predigers gegenüber seinem Publikum. Im Mönchtum findet sich schließlich die Figur der Gottgelehrtheit als Begründung für – gewissermaßen „charismatische“ – Lehrautorität, die aber in der Unterscheidung von anderen Autorisierungsstrategien mindestens via negationis auf die antike Tradition bezogen bleibt. Gemeinhardt folgert, dass die spätantiken christlichen Quellen ein komplexes Bild der Rezeption nichtchristlicher Autoritäten bieten – die Frage ist nicht, ob, sondern welche Bildung Autorität generiert und in welchem Kontext dies jeweils plausibel ist. Der Tübinger Mediävist Steffen Patzold stellt schließlich eine in der Forschung erst in jüngerer Zeit beachtete Gattung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: karolingerzeitliche Priesterbücher (mit Susan Keefe: „instruction readers“). Diese Handschriften spiegeln das Interesse der Obrigkeiten an einer correctio aller Menschen im Blick auf Glauben und Handeln, wobei bei den Priestern als Multiplikatoren angesetzt wird. Sie werden – meist als einzige religiöse Experten in ihrer Gemeinde – zu personalen Autoritäten, die basale Bildung vermitteln und sich dafür auch selbst aneignen sollen; sie hantieren zu diesem Zweck mit literarischen Autoritäten, insbesondere mit Kirchenvätertexten, denen gegenüber eine beachtliche Freiheit waltete, indem Texte, die zu kompliziert erschienen, umgeschrieben und gekürzt wurden – sozusagen ein weiterer Vorgang der correctio. Die Autorität des göttlichen Willens auf dem Weg der Vermittlung durch anerkannte literarische Autoritäten in den Händen nachgeordneter – in ihrem Tun aber unverzichtbarer – lokaler Autoritäten an den Mann und an die Frau zu bringen erweist

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sich als hochkomplexer Vorgang, in dem noch einmal verschiedene Muster von Autorisierungen aus anderen Beiträgen in Erscheinung treten.

3. Auswertung Der vergleichende Blick auf unterschiedliche Kulturen und Religionskulturen von der Antike bis in die karolingische Zeit macht deutlich, dass rein terminologische Analysen das Phänomen „Autorität“ im Spannungsfeld von Religion und Bildung bestenfalls intern für die jeweilige Sprachgemeinschaft erschließen können. Das im Deutschen geläufige Fremdwort ‚Autorität‘ ist zwar abgeleitet vom lateinischen auctoritas, im modernen Sprachgebrauch jedoch nicht deckungsgleich mit den in den römischen Quellen bezeugten auctoritas-Konzepten. Inwieweit dieser lateinische Begriff auctoritas und verwandt scheinende Begrifflichkeiten in der hebräisch- oder griechischsprachigen Welt möglicherweise unter bestimmten Umständen spezifisch religiös konnotiert waren, bedürfte entsprechend vertiefter Einzeluntersuchungen. Ein kulturübergreifender antiker Leitbegriff für (religiöse) Autorität, der analytisch hilfreich wäre, hat sich im Rahmen der hier vorgelegten Einzeluntersuchungen noch nicht auffinden lassen. Sucht man jedoch „Autorität“ in ihren unterschiedlichen sozialen und religiösen Kontexten auf und fragt nach ihren Trägern und Trägerinnen, nach ihren Orten, Medien und den kulturspezifisch angewandten Autorisierungsstrategien, die jeweils asymmetrische (d.h. autoritäre) Beziehungsmuster konstituieren, so lassen sich im kulturellen Vergleich weiterführende Schlüsse ziehen und Forschungshypothesen aufstellen. Dies betrifft nicht zuletzt die heute mehr denn je aktuelle Frage, in welcher Form Bildung auf das Verhältnis von Autorität und Religion Einfluss genommen hat und grundsätzlich Einfluss nehmen kann. Wem also wird bei Griechen und Römern, in jüdischen und christlichen Kulturen von der klassischen Zeit bis zu den Karolingern religiöse Autorität zugestanden bzw. wer beansprucht sie mehr oder weniger erfolgreich? Dies können Personengruppen unterschiedlichen Umfangs sein, ganze Bürgergemeinschaften wie in Athen und Rom, oder aber von Gemeinschaften und Obrigkeiten in unterschiedlichem Grad als Handelnde, Lehrende oder gar mit correctio beauftragte, formal autorisierte Repräsentanten (Priester und Priesterinnen), deren Standesbewusstsein, Organisationsgrad und Bildungsstand in den unterschiedlichen Religionskulturen stark differieren kann. Hinzu treten Schreib- oder Auslegungsgemeinschaften wie im antiken Judentum oder auch in christlichen Klöstern der Karolingerzeit, die durch gemeinsames Rekurrieren auf bestimmte Texte und schriftliche Kanonisierung und Kommentierung von religiös konnotierten Texten verbunden sind. Als spezialisierte „Schriftgelehrte“ beanspruchen sie Autorität nicht nur gegenüber den des Lesens und Schreibens Unkundigen, sondern gegenüber allen Mitgliedern ihrer Religi-

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onsgemeinschaft sowie auch gegenüber den Texten selbst, welche sie fortschreiben und sich auf diese Weise unterwerfen. Charismatische Einzelpersonen, die als Träger von religiösem Sonderwissen auftreten und daraus abgeleitet asymmetrische Beziehungen zu ihren Zeitgenossen herstellen wollen, indem sie etablierte Autoritätsstrukturen oder soziale Normen herausfordern, finden sich in der Mehrheit der hier behandelten Kulturen. Derartige Versuche der Selbstautorisierung von Propheten, Orakelsammlern und asketischen Eremiten sind allerdings, je nach kulturellem Kontext, unterschiedlich erfolgreich. Schließlich wird Autorität auch überpersonal gefasst: Sowohl in den polytheistisch geprägten Bürgergemeinschaften Griechenlands und Roms als auch in den religiösen Gruppen des Judentums und Christentums spielt die Tradition in Form von mündlicher Überlieferung, in Gestalt aus der Vergangenheit ererbter Objekte und schließlich als überlieferter Text („die Schrift“) eine bedeutende Rolle. Das Gewicht, welches traditionaler autoritärer Mündlichkeit, sakralen Objekten und Schriftzeugnissen bei der Erzeugung von religiöser Autorität jeweils zugestanden wird und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, differiert je nach kultureller Umgebung und wäre ein weiteres Forschungsfeld, welches der vertieften Untersuchung bedürfte. Darüber hinaus lagert sich Autorität in religiösen Kontexten auch an Orte an. Bei diesen kann es sich um topographisch fassbare und konkret betretbare Orte handeln, deren besondere Lage in der Natur, altertümliche Erscheinungsform oder architektonische Gestaltung auf Betrachter und Besucher einwirken und diese – etwa im Fall monumental ausgeführter sakraler Gebäude – in eine asymme­ trische Beziehung zwingen, indem sie ihnen die eigene ‚Bedeutungsgröße‘ vor Augen führen. Orte religiös konnotierter Autorität konstituieren sich aber außerdem auch durch ihre spezifisch bildende Funktion, als Orte des Schreibens (Klöster), Orte des Lernens und der religiösen Unterweisung (Schule, jü­dische und christliche Versammlungsorte) oder als Orte des Rechts (Heiligtümer als Aufbewahrungsorte verschriftlichter Normen, Gerichtshöfe). Schließlich können auch gelehrte Texte als Orte der Autorität verstanden werden, bei denen gebildete sprachliche Form und traditionaler Anspruch ineinandergreifen. Auch wenn ihre Träger dies mitunter so erscheinen lassen wollen, ist (religiöse) Autorität keine ‚gottgegebene‘ immanente Qualität, sondern auch in den hier behandelten Kulturen als Resultat von Autorisierungsstrategien und Zuschreibungsprozessen zu analysieren. Auf welche Weise kann sie erzeugt werden? Formale religiöse Autorität – etwa als Repräsentant oder Repräsentantin einer Gemeinschaft gegenüber dem Göttlichen – lässt sich durch Autorisierung durch eben diese Gemeinschaft herstellen – sei es institutionell (durch Los, Wahl, Kooptierung) oder durch rituelle Verfahren (z.B. in Form der Handauflegung). Traditionale religiöse Autorität von mündlicher Überlieferung, Objekten oder Texten wird erzeugt durch Zuschreibung hohen Alters, welches als legitimierendes Element etwa in

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Griechenland und Rom eine zentrale Rolle spielt, oder durch die Zuweisung von Texten an besondere Urheber (Sibyllinische Bücher, alttestamentliche Prophetenbücher, Schriften der Apostel, Spruchweisheiten berühmter Wüstenväter). Auch die textintern durch literarische Mittel erzeugte Autorität eines Verfassers, der etwa seine antiquarische Bildung und religiöse Gelehrsamkeit durch Zitate ehrwürdiger Quellen demonstrativ zu untermauern sucht oder sich selbst als prominenter Augenzeuge des Berichteten präsentiert, kann auf das autoritäre Gewicht der berichteten Inhalte rückwirken (so etwa Gellius als Autorität für römische Kultbräuche und Spruchweisheit oder der Verfasser des 2. Petrusbriefs). Ansprüche auf Nähe zum Göttlichen oder gar unmittelbaren Kontakt mit den Göttern oder Gott erweisen sich als besonders wirkungsmächtige Strategien religiöser Selbstautorisierung. Die Behauptung, Offenbarungswissen zu besitzen, welches unmittelbar von einer Gottheit stammt, wird sowohl in polytheistischen als auch monotheistischen Kontexten vorgetragen. Propheten, die beanspruchen Weisungen und Gebote Jahwes zu verkünden, griechische Seher und Seherinnen, die ihren Mitbürgern den Götterwillen erläutern, Wundertäter und christliche ‚Zungenrednerinnen‘, die vom Geist ihres Gottes erfüllt, ihren Auftritt in der Gemeinschaft haben, versuchen mit derartigem Verhalten die Anerkennung als „religiöse Autorität“ durch ihr soziales Umfeld zu erreichen. Im Bereich charismatischer Selbstautorisierung bieten sich offenbar Handlungsspielräume für Individuen, die ansonsten aufgrund etablierter Geschlechterbilder, Standesgrenzen oder Bildungsschranken potentiell unterprivilegiert sind. Ihr Erfolg, so zeigt sich, ist allerdings von verschiedenen Faktoren abhängig. Zu diesen zählen persönliches Charisma und Überzeugungskraft der Protagonisten sowie die Wahl des richtigen Ortes, Zeitpunkts und Publikums für die Demonstration oder Veröffentlichung eines personalen autoritären Anspruchs – das zeigen (negativ) der Misserfolg Euthyphrons in der athenischen Volksversammlung und (positiv) der Erfolg des Alexander von Abonuteichos bei den leichtgläubigen Paphlagoniern. Ansprüche auf religiöse Autorität durch die Präsentation von Offenbarungswissen oder Wundertätigkeit beschränken sich nicht auf die unmittelbare Umgebung und die Zeitgenossen charismatischer Einzelpersonen. Indem derartiges Wissen schriftlich fixiert oder die Nachricht vom Propheten, Wundertäter oder Religionsstifter literarisch weitergegeben wird, kann sich die mit diesen Phänomenen verbundene religiöse Autorität auch an die so entstandenen Texte anlagern, die dann traditionale religiöse Autorität erlangen und ihrerseits Beschäftigungsgegenstand für Auslegungsgemeinschaften werden können (jüdische Schriftgelehrte, Sibyllinische Bücher, bestimmte Texte des Neuen Testaments). Für die Akzeptanz religiöser Autorität sind allerdings nicht immer „übernatürliche Qualitäten“ der Protagonisten notwendig – diese bilden im religiösen Alltag der hier betrachteten Kulturen insgesamt betrachtet die Ausnahme. Religiöse Autorität lässt sich aber auch mithilfe bestimmter lern- und lehrbarer Kompetenzen erzeugen. Redefähigkeit im Sinne rhetorisch geschulter Überzeugungskraft kann hierbei von Bedeutung sein, wenn es etwa einen Antrag sakralen Inhalts

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in der athenischen Volksversammlung zu diskutieren gilt, wenn die zuständige Priesterschaft dem Senat einen Spruch der Sibyllinischen Bücher interpretiert oder der Augur Cicero seinen Standesgenossen ein Vogelzeichen erläutert. Auch die Vertreter philosophischer Lehren, die seit hellenistischer Zeit in den Philosophenschulen Anhängerschaften zu gewinnen suchen oder als Wanderphilosophen unterwegs sind, bedienen sich rhetorischer Mittel, rhetorischer Bildung, um ihr philosophisches Programm jeweils als Wahrheit über Gott und die Welt zu präsentieren. Die religiöse Autorität christlicher Prediger, die ihre Gemeinde belehren und den Katecheten religiöses Wissen vermitteln sollen, speist sich ebenfalls aus den traditionellen Bildungskontexten rhetorischer Kompetenz. Dass deren Erwerb überwiegend am Beispiel „heidnischer“ Inhalte erfolgt, kann in der Spätantike zum Problem werden. Zur rein formalen rhetorischen Kompetenz, so Johannes Chrysostomos, muss sich ethische Autorität des Predigers gesellen. Im Gegensatz zum Vorgehen des rhetorisch geschulten christlichen Lehrers kann bewusst rhetorisch „unverbildetes“ Sprechen, welches sich lediglich auf „Gottgelehrtheit“ und die Kenntnis „der Schrift“ stützen will, etwa im Fall der christlichen Wüstenväter, zu einer alternativen Methode autoritären religiösen Sprechens werden. Welche Funktionen und Ziele von Autorität lassen sich nun in den hier behandelten Religionskulturen nachweisen, und inwiefern ist ihr „Funktionieren“ von Bildung abhängig? Grundsätzlich scheint die Hypothese erlaubt, dass es in jeder Religionsgemeinschaft von größter Bedeutung ist, das richtige Verhältnis zur Gottheit herzustellen und stabil zu halten. Um dies zu gewährleisten, akzeptieren Gruppen und Individuen asymmetrische Beziehungsmuster, indem sie einzelnen Personen, Objekten oder Texten Autorität zugestehen. Aufgabe derartig ermächtigter Personen kann es sein, durch repräsentative rituelle Handlungen die formal korrekte Verehrung der Gottheit zu garantieren (z.B. in Griechenland und Rom), die Weitergabe der Tradition zu sichern (antikes Judentum; mittelalterliche Klöster) oder die Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft im Angesicht alternativer Konzepte zu belehren (frühes Christentum). Um Akzeptanz zu finden, müssen „Autoritätspersonen“ im Normalfall innerhalb ihrer Gruppe erfolgreich sozialisiert sein, d.h. sie müssen z.B. potentielle Ritualkompetenz besitzen und den jeweils gültigen Verhaltenskodex sakralen Handelns und Sprechens internalisiert haben. Daneben kann aber auch besonderes Bildungswissen erforderlich sein, z.B. Literalität, Kenntnis der Tradition („der Schrift“) und rhetorische Schulung, um gegenüber potentiellen Konkurrenten zu bestehen. An ihre Seite treten Personen, die kulturspezifische Spielräume zur Selbstauto­ risierung nutzen, indem sie eine besondere Beziehung zur Gottheit postulieren und auf göttlich offenbartes und ihnen vorbehaltenes Spezialwissen Anspruch erheben, mittels dessen sie die Tradition zu ergänzen, zu korrigieren oder neu zu interpretieren streben. Nicht immer aber liegt dem Hantieren mit religionsbezogenem Wissen das Ziel eines Individuums zugrunde, als ‚religiöse Autorität‘ zur konkreten Verehrung des Göttlichen beitragen zu wollen. Der Besitz, das Sammeln und die Verarbeitung religiösen Wissens können – etwa in der späten

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Republik oder römischen Kaiserzeit – auch in anderen Diskursen von Bedeutung sein: wenn etwa philosophische Bildung oder antiquarische Gelehrsamkeit de­ mon­striert wird und ein Autor auf diese Weise nach Anerkennung als literarische Autorität in Bildungszirkeln strebt. Geht es vordergründig im Verhältnis von Religion, Bildung und Autorität zunächst um die richtige Verehrung der Götter, um Erhalt und differenzierende Auslegung der Tradition sowie um die Selbst-Verpflichtung einer kulturellen oder sozialen Gemeinschaft, im Einklang mit dem göttlichen Willen zu handeln, so ist dies auch in der Welt der Antike und des frühen Mittelalters nicht die vollständige Erzählung. Die Erzeugung von Autorität generiert synchron spezifische Machtmittel und kann entsprechend auf Machtverhältnisse einwirken. Dies betrifft zum einen die Ermächtigung von Individuen, denen repräsentatives Handeln oder autoritatives Wissen in Beziehung zur Gottheit zugestanden wird, und die sich als autoritäre Mittlerfiguren zwischen den Einzelnen und die Gottheit schieben können. Versteht man Religion in antiken Kulturen als ‚embedded religion‘, als Phänomen, welches nicht nur den Festtag, sondern die gesamte Lebenswelt der Menschen durchdringt, so hat das Zugeständnis religiöser Autorität an Einzelne oder bestimmte Gruppen in keinem Fall ausschließlich ‚religiöse Bedeutung‘. Ansprüche auf religiöse Deutungsmacht, die durch Bildungstechniken oder die Einübung von Bildungsinhalten unterstützt werden, können sich massiv auf die Lebenswelt der Menschen auswirken. Auf welche Weise das Verhältnis von Religion und Autorität in den hier behandelten Kulturen dazu beigetragen hat – oder instrumentalisiert worden ist –, die Körper der Menschen zu formen, ihre Lebensführung zu gestalten, moralische Imperative und rechtliche Normen zu formulieren und durchzusetzen, Inklusion und Exklusion in sozialen Gruppen zu veranlassen, in welchem Rahmen Bildung hierbei verstärkend oder abschwächend gewirkt hat: Dies wären T hemen, die – ausgehend von den hier vorliegenden Beiträgen – vergleichend zu untersuchen nicht nur Erkenntnisse über die Vergangenheit zutage fördern, sondern auch zu aktuellen Fragen der Gegenwart einen konstruktiven Beitrag leisten könnten.

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Religiöse Autorität im Klassischen Athen Formen und Funktionen

Tanja S. Scheer* 1. Einleitung Im Jahr 399 v. Chr. treffen sich auf der Agora von Athen vor der Halle des Archon Basileus zufällig zwei Männer. Beide, so stellt sich heraus, haben Probleme mit Religion und Autorität. Der eine der zwei Männer ist Sokrates. Er ist soeben in einer „Staatsklage“ (graphe) angeklagt worden, die Jugend zu verderben, weil er nämlich Götter erdichtet und an die alten Götter nicht glaubt.1 Der Archon Basileus wird seinem Prozess vorsitzen. Auch der andere Athener – ein gewisser Euthyphron – ist nicht zufällig vor Ort. Er will einen Kapitalprozess beim Archon Basileus anstrengen. Aber Euthyphrons grundsätzliches Problem, so stellt sich im Gespräch mit Sokrates heraus, ist ein anderes. Er sieht sich selbst als religiösen Spezialisten. Und er beklagt sich bitter bei Sokrates über die athenischen Mitbürger, weil diese Euthyphrons religiöse Autorität nicht anerkennen wollen: „Wenn ich in der Volksversammlung etwas von den göttlichen Dingen rede, und ihnen die Zukunft prophezeie, dann lachen sie mich nur aus, als ob ich verrückt wäre.“ 2

Die beschriebene Szene zwischen Euthyphron und Sokrates ist höchstwahrscheinlich fiktiv.3 Mit ihr lässt Sokrates’ Schüler Platon Jahre nach dem Tod des Sokrates *  Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen des von der DFG geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ (Universität Göttingen), Teilprojekt C 01: „Aufgeklärte Männer – abergläubische Frauen? Religion, Bildung und Geschlechterstereotypen im klassischen Athen“. 1 Platon, Euthyphron 3b: Sokrates: „Unsinnig genug, mein Guter, wenn man es so hört. Er sagt nämlich, ich erdichtete Götter, und als einen Erdichter neuer Götter, der an die alten nicht glaubt, verklagt er mich eben deshalb, wie er sagt (Σωκράτης: ἄτοπα, ὦ θαυμάσιε, ὡς οὕτω γ᾽ ἀκοῦσαι. φησὶ γάρ με ποιητὴν εἶναι θεῶν, καὶ ὡς καινοὺς ποιοῦντα θεοὺς τοὺς δ᾽ ἀρχαίους οὐ νομίζοντα ἐγράψατο τούτων αὐτῶν ἕνεκα, ὥς φησιν).“ 2 Platon, Euthyphron 3bc: ὅταν τι λέγω ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ περὶ τῶν θείων, προλέγων αὐτοῖς τὰ μέλλοντα, καταγελῶσιν ὡς μαινομένου: καίτοι οὐδὲν ὅτι οὐκ ἀληθὲς εἴρηκα ὧν προεῖπον. 3  Eine Person namens Euthyphron ist noch in einem weiteren platonischen Dialog erwähnt: In Platons Cratylus (396d–e) begegnet er als jemand, der begeistert religiöse Weisheiten mitteilt. Ob diesen Erwähnungen eine reale Person zugrunde liegt, ist umstritten. Euthyphron als – wenn historisch – „surely atypical person“: Flower 2008a, 142.

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seinen Dialog Euthyphron beginnen, in dem es dann grundsätzlich um Frömmigkeit geht. Aber ganz unabhängig von ihrer Historizität ist diese Szene hochinteressant – nicht zuletzt durch ihren Schauplatz. Was assoziierten die Zeitgenossen der beteiligten Protagonisten (und auch noch die zeitgenössischen Rezipienten des platonischen Dialogs), wenn sich Sokrates und Euthyphron vor der Stoa Basileios treffen? Die beiden befinden sich neben einem besonders wichtigen Zeugnis religiöser Autorität in Athen, denn an der Stoa Basileios war in inschriftlicher Form der athenische Festkalender angebracht. Diesen Festkalender hatte ein gewisser Nikomachos im späten 5. Jh. v. Chr. in jahrelanger Mühe im Auftrag der städtischen Gremien überarbeitet. Und dafür fand er sich – ebenfalls im Jahr 399 – vor einem athenischen Bürgergericht wieder. Seine religiöse Expertise hatte ihm eine Anklage eingebracht.4 ‚Religion‘ erweist sich auch im demokratischen Athen als ein konfliktträchtiges Feld, und es ist zu fragen: Warum muss Sokrates am Ende den Giftbecher trinken? Warum erntet der religiöse Charismatiker Euthyphron mit seinem Spezialwissen als Seher in der athenischen Volksversammlung nur schallendes Gelächter? Warum schließlich klagt man Nikomachos, den gebildeten Spezialisten für die städtische Götterverehrung an, statt ihn mit einem goldenen Kranz zu ehren? Die Religion der antiken griechischen Polisstaaten war eine Religion ohne Zentralautorität. Diese Aussage zählt zum Handbuchwissen. Die über das griechische Mutterland hinaus in weiten Teilen des Mittelmeerraums verstreuten griechischen Siedlungen erkannten jedoch grundsätzliche religiöse Gemeinsamkeiten, die sie als kulturell prägend wahrnahmen. Der Geschichtsschreiber Herodot zählt im 5. Jh. v. Chr. die gleichen Götter, Opfer und Bräuche zu haben zu den konstituierenden Elementen des Griechentums schlechthin.5 Mit welchen Mitteln diese Gemeinsamkeiten in der ‚longue durée‘ aufrechterhalten wurden, ist hier nicht T hema. Auf der Basis einer ‚Heiligen Schrift‘, die man als Berufungsinstanz für theologische Fragen, Kultregeln und Anweisungen zur Lebensführung hätte heranziehen können, geschah dies jedenfalls nicht.6 Nicht zufällig ist gelegentlich bei Betonung lokaler Unterschiede von „greek religions“ im Plural gesprochen w ­ orden.7 Aber nicht nur das „world-of-the-polis-system“ besaß keine religiöse Zentralautorität.8 Diese fehlte auch in den einzelnen Stadtstaaten. War ‚religiöse Autorität‘ möglicherweise nicht notwendig in einer Gesellschaft, die vielen Göttern Die Anklagerede ist erhalten: Lysias, Orationes 30 (gegen Nikomachos). Herodot 8.144.2: „Dazu haben wir gleiches Blut und gleiche Sprache mit den Griechen, die gemeinsamen Heiligtümer und Opfer, die gleichgearteten Sitten (αὖτις δὲ τὸ Ἑλληνικὸν ἐὸν ὅμαιμόν τε καὶ ὁμόγλωσσον καὶ θεῶν ἱδρύματά τε κοινὰ καὶ θυσίαι ἤθεά τε ὁμότροπα)“. Diese Aussage legt Herodot einem Athener in den Perserkriegen in den Mund. 6  Henrichs 2003, 40. 7  Vgl. etwa den Titel der Monografie von Price 1999 („Religions of the Ancient Greeks“). 8  Sourvinou-Inwood 1990, 295, sieht jede einzelne Polis als religiöses System, welches seinerseits zum übergreifenden „world-of-the-polis-system“ gehöre. 4 

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Religiöse Autorität im Klassischen Athen

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Verehrung zollte? Um Generalisierungen über ‚die Griechen‘ zu vermeiden, richtet sich der Fokus des vorliegenden Beitrags auf das als Demokratie organisierte Athen klassischer Zeit, für welches sich die Quellenlage deutlich besser darstellt als für alle anderen Staaten des griechischen Kulturraums. Der Schwerpunkt auf einem bestimmten und begrenzten Zeitabschnitt, nämlich dem Diskurs des 5./4. Jh. v. Chr., schwächt darüber hinaus das methodische Problem ab, bei synchroner Betrachtung der griechischen Quellen, die vom 7. Jh. v. Chr. bis in die römische Kaiserzeit reichen, religiöse Vorstellungen und Bräuche implizit als statisch vorauszusetzen.9

2. Terminologie: Autorität als Beziehungsmuster Nach Wolfgang Sofsky und Rainer Paris lässt sich Autorität als Bestandteil sozialer Ordnungen beschreiben.10 Sie erscheint als Beziehungsmuster in Herrschaftsverhältnissen und beruht auf der „Wahrnehmung und Anerkennung von Unterschieden im asymmetrischen Sinn“.11 De facto bedarf Autorität eines Gegenübers, auf das eingewirkt wird. Es gibt stets Personen oder soziale Gruppen, die Autorität zuschreiben, sie als solche anerkennen, und daraus folgend durch Autorität gedecktes oder veranlasstes Handeln akzeptieren, es gutheißen oder entsprechend Gehorsam leisten. Stellt man sich die Frage, welchen Begriff die Griechen selbst für ‚Autorität‘, gar für ‚religiöse Autorität‘ verwendet haben, so lässt sich keine eindeutige Antwort finden. Im zweisprachig überlieferten Tatenbericht des Augustus, wohl der berühmteste antike Text, in dem das lateinische auctoritas verwendet wird, scheidet die lateinische Version zwischen auctoritas (Ansehen) und potestas (formaler Macht).12 In der griechischen Version werden analog die Begriffe axioma und exousia verwendet. Die typisch römische Scheidung zwischen auctoritas und potestas in die klassische Zeit Athens zu übertragen, wäre nicht nur aufgrund des zeitlichen Abstands von fast einem halben Jahrtausend methodisch problematisch. Der Begriff to axioma findet sich allerdings auch in den athenischen Quellen des 5. Jh., wo er etwa im Werk des Dramatikers Euripides die Bedeutung „persönliche Reputation, Ansehen“ annehmen kann.13 Auch der Geschichtsschreiber T hukydides benutzt den Begriff, wenn er das Ansehen des Alkibiades unter den Bürgern charakterisiert oder die Stellung des Perikles in Gegensatz zu den ein­

 9 S. auch

Flower 2015, 294. / Paris 1991. 11  Roth 2013, 18. 12  Res Gestae Divi Augusti 34. 13  Vgl. Euripides, Supplices 424, wo axioma für etwas steht, das man die Wertlosen besser nicht erreichen lassen sollte und das diese dennoch manchmal durch Redekunst bei der Menge (also durch erfolgreiche Einwirkung auf das Gegenüber) erreichen. 10 Sofsky

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fachen Bürgern bringt.14 Im vierten Jahrhundert v. Chr. charakterisiert Aristoteles in seiner Politik mit to axioma etwas, was jemanden unter anderen Bürgern he­ raus­hebt, ihn im positiven Sinne von den anderen unterscheidet.15 Axioma kann sich im 4. Jh. aber auch auf den Bereich der Tradition beziehen: Demosthenes weist in einer seiner Reden die athenischen Richter an, die (wie auch immer überlieferten) axiomata der nicht namentlich genannten Vorväter als Grundlage zu berücksichtigen, wenn Entscheidungen über das Öffentliche zu treffen sind.16 Insgesamt führt der Begriff im Rahmen der überlieferten Quellen allerdings nicht in dezidiert religiöse Kontexte. Als Terminus technicus für ‚religiöse Autorität‘ ist er jedenfalls nicht verwendet worden. Diese lässt sich in der griechischen Kultur also nicht anhand einer einschlägigen oder gar einheitlichen Terminologie auffinden, die als ‚Marker‘ dienen könnte. Die Abwesenheit einer einschlägigen Begrifflichkeit ist aber – wie so häufig – kein Beleg für das Fehlen eines bestimmten Phänomens. Die Erscheinungsformen religiöser Autorität lassen sich nur durch die Überprüfung einschlägiger Kontexte analysieren.

3. Traditional, formal und personal: Formen und Funktionen religiöser Autorität im klassischen Athen Wie die zu Beginn genannten Beispiele deutlich machen, war auch die Religion im klassischen Athen kein herrschaftsfreier Bereich, geschweige denn geprägt durch die Formel ‚anything goes‘. Das Fehlen einer institutionalisierten Zentralautorität darf nicht mit religiöser Toleranz gleichgesetzt werden. Robert Garland stellte schon 1984 die Frage, wer in Athen das Recht hatte, in religiösen Belangen autoritativ zu handeln.17 Robert Parker wandte sich gegen anachronistische Vorstellungen von Meinungs- und Redefreiheit, gar von einem Ideal der Freiheit des Denkens im klassischen Athen. Redefreiheit bedeute dort nicht, dass jeder alles sagen dürfe, sondern zunächst nur, dass jeder, auch der arme Bürger, grundsätzlich das Recht habe, das Wort zu ergreifen.18 Jon Mikalson hat schließlich kürzlich in einer detaillierten Analyse vor allem des inschriftlichen Materials versucht, das Funktionieren griechischer Religion auf das Zusammenwirken von „vier Autoritäten“ zurückzuführen: „ancestral customs (ta patria) […], laws (nomoi) and decrees (psefismata), together and separately […], and oracles“.19 14 

Alkibiades: T hukydides 6.15.3; Perikles: T hukydides 2.37. Politica 1281b25. Für eine ausführliche Begriffsanalyse ist hier nicht der Ort: eine solche müsste selbstverständlich auch die Verwendung des Begriffs im griechischen wissenschaftlich-philosophischen Schrifttum berücksichtigen, so z.B. in Aristoteles’ Metaphysica 997a7 als „Grundsatz der nicht mehr bewiesen werden muss.“ 16 Demosthenes, Orationes. 18.210: τὰ τῶν προγόνων ἀξιώματα. 17  Garland 1984, 75; Garland 1990, 75. 18  Parker 2005b, 67. 19  Mikalson 2016, 3. 15 Aristoteles,

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Im Kontrast hierzu wird im vorliegenden Beitrag ein breiter angelegter Ansatz gewählt: Religiöse Autorität – so soll für das klassische Athen postuliert werden – wird dort in unterschiedlichen Formen wirksam. Ihre Zuschreibung und Akzeptanz können auf traditionaler, formaler und personaler Ebene erfolgen. Der hier eingeführte Begriff der ‚traditionalen Autorität‘ wird als nicht zwangsläufig an Personen gebundene Autorität verstanden. Auch sakrale Gegenstände, schriftliche Überlieferung oder mündliche Tradition können als Akteure in asymmetrischen Beziehungsmustern wahrgenommen werden und Anerkennung, Gehorsam oder gar Unterwerfung einfordern. ‚Formale Autorität‘ begegnet vor allem im Bereich institutioneller Einrichtungen wie etwa Ämtern. ‚Personale Autorität‘ schließlich ist keine Eigenschaft von charismatischen Personen, sondern konstituiert sich erst durch die Zuschreibung besonderen Könnens oder Wissens an Einzelne durch ein Gegenüber. Selbstzuschreibungen personaler Autorität können versucht werden, ihr Erfolg hängt jedoch von der Akzeptanz durch andere ab. Welche Funktionen konnten religiöse Autorität und religiöse Autoritäten im klassischen Athen aber überhaupt haben? ‚Die Religion‘ stellte in der griechischen Kultur kein streng abgegrenztes gesellschaftliches Sub-System dar – im Sinne eines Gegensatzes zwischen dem Sakralen und dem Säkularen. Sie war vielmehr als ‚eingebettete Religion‘ (embedded religion) in die Gesellschaft integriert und prägte diese.20 Die Griechen konnten selbstverständlich religiöse Angelegenheiten als solche erkennen. Aber das Religiöse wurde nicht in einen gesonderten Bereich abgeschoben, für den etwa Spezialisten zuständig gewesen wären, sondern Individuum und Gemeinschaft lebten in dem Bewusstsein, in Alltag und Festtag mit den Göttern rechnen zu müssen.21 Dieses Bewusstsein durchdrang alle Lebensbereiche der Gesellschaft und machte sich auch bei der Herausbildung und Legitimierung von Autoritäten bemerkbar. Aus moderner Perspektive säkular oder ‚politisch‘ erscheinendes autoritatives Handeln konnte religiös konnotiert sein und umgekehrt.22 In der attischen Demokratie galt es also nicht nur das Verhältnis der Menschen untereinander zu regeln, sondern die Götter waren als unsichtbar Handelnde stets mit im Spiel.23 Im 5. und 4. Jh. v. Chr. waren die Griechen wohl mehrheitlich da20 S. Parker 2005a, 452, der die „very embeddedness of religion in Greek society“ überzeugend charakterisiert: „Myth and religion are pervasive, inescapable, all-shaping: even when imperceptible to a casual view they are active below the surface.“ S. ebs. Parker 1996, 7: „But, if the danger of impiety penetrated the innermost recesses of the household, so too did the religion of the city.“ Vgl. auch Rhodes 2009, 13. 21  Die Beziehung der Athener zu ihren Göttern als asymmetrische Autoritätsbeziehung wird deutlich gemacht in einer Formulierung von Martin 2016, 297: die Götter als „a power with which they (sc. die Athener) do not deal on equal footing“. Parker 2005a, 67. 22  Parker 2011, 47. S. Martin 2016, 297: „T he gods must be considered even in matters of politics in which the state seems to be autonomous.“ 23  Vgl. etwa Isokrates, Orationes 5.150 f.: „Ich meine, euch ist bekannt, auf welche Weise die Götter die Angelegenheiten der Menschen ordnen: denn sie verteilen nicht mit ihren eigenen Händen die guten und die schlechten Dinge, die uns widerfahren. Vielmehr erregen sie in jedem von uns einen solchen Geisteszustand, dass das Gute oder das Schlechte

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von überzeugt, dass man mit dem Eingreifen der Götter in menschliche Belange rechnen konnte, dass der Einzelne aber aufgerufen war, als Handelnder das Beste aus den Gelegenheiten zu machen, die die Götter sandten.24 Grundsätzlich sahen die Götter gnädig auf die Stadt Athen nieder, und am Wohlergehen der Polis in der jeweiligen Gegenwart konnte man ebendies erkennen. Das versicherten die Redner des 4. Jh. den Athener Bürgern bei diversen Gelegenheiten.25 Für diese Erkenntnis bedurfte es keines Spezialwissens, sie dürfte jedem Bürger unmittelbar eingeleuchtet haben. Göttliches Wohlwollen war allerdings keine Selbstverständlichkeit, sondern im Kontext angemessener Reziprozität zwischen Menschen und Göttern zu verstehen.26 Der Stadt ging es gut, weil die Götter mit den Formen der Verehrung zufrieden waren, die man ihnen entgegenbrachte.27 Anzeichen für göttlichen Zorn waren im Umkehrschluss ebenfalls leicht erkennbar: Missernte, Dürre, Fehlgeburten und Seuche, aber auch Bürgerkrieg und kriegerische Niederlagen waren im traditionell geprägten Erfahrungswissen der Bürger Signale für ein gestörtes Verhältnis von Bürgerschaft und Göttern.28 Derartige Zeichen signalisierten Handlungsbedarf. Zu regeln galt es also das richtige Verhältnis von Menschen und Göttern.29 Die Gemeinschaft sollte im Einklang mit dem Willen der Götter agieren, und uns je nachdem voneinander entsteht (οἶμαι δέ σ᾽ οὐκ ἀγνοεῖν ὃν τρόπον οἱ θεοὶ τὰ τῶν ἀνθρώπων διοικοῦσιν. οὐ γὰρ αὐτόχειρες οὔτε τῶν ἀγαθῶν οὔτε τῶν κακῶν γίγνονται τῶν συμβαινόντων αὐτοῖς, ἀλλ᾽ ἑκάστοις τοιαύτην ἔννοιαν ἐμποιοῦσιν, ὥστε δι᾽ ἀλλήλων ἡμῖν ἑκάτερα παραγίγνεσθαι τούτων).“ S. Mack 2018, 382: „a conventional understanding that divine intervention in human affairs was real […] but that the identity of the divine actor in question was usually beyond human knowledge.“ 24  Vgl. Demosthenes, Orationes 2.23: „Ein Mann, der selbst untätig ist, kann nicht von seinen Freunden, und noch viel weniger von den Göttern verlangen, etwas für ihn zu tun (οὐκ ἔνι δ᾽ αὐτὸν ἀργοῦντ᾽ οὐδὲ τοῖς φίλοις ἐπιτάττειν ὑπὲρ αὑτοῦ τι ποιεῖν, μή τί γε δὴ τοῖς θεοῖς)“. Vgl. Mikalson 1983, 16. 25  S. Demosthenes, Orationes 1.10 f., die Götter als Geber von Wohltaten, die der Mensch erkennen muss. Die Götter als die Stadt Athen favorisierend bei Aischines, Orationes 3.130: „Ich habe niemals eine Stadt gesehen, die von den Göttern mehr beschützt worden wäre (οὐδεμίαν τοι πώποτε ἔγωγε μᾶλλον πόλιν ἑώρακα ὑπὸ μὲν τῶν θεῶν σῳζομένην).“ Ähnlich auch Demosthenes, Orationes 2.1 f.; 19.256. S. Mikalson 1983, 18 f.; Price 1999, 73; Martin 2016, 293 f.; Mack 2018, 391. 26  Reziprozität gilt als fundamentale Basis der kultischen Praxis, wobei die Athener ihrerseits als besonders um Frömmigkeit bemüht beschrieben werden. Dies betont bei Lykurgos, Contra Leocratem 1.15: „die Tugenden, die euch hauptsächlich vom Rest der Menschheit unterscheiden, Frömmigkeit gegenüber den Göttern, Verehrung gegenüber den Vorfahren […]“. S. auch Lysias, Orationes 2.39, der an dargebrachte Opfer erinnert. Parker 1998, 105 f. 27  Parker 2011, 3. 28  Vgl. die zahlreichen einschlägigen Beispiele, die der Geschichtsschreiber Herodot im 5. Jh. seinem Publikum präsentiert: Harrison 2000, 109–115. Die Götter, die durch Zeichen vorwarnen: Aischines, Orationes 3.130; göttliche Strafe für Frevler: Lysias, Orationes 6.1 f.; s. auch Andokides, Orationes 1.137–139, wo der Frevler damit rechnen muss, bei einer Seefahrt sein Ziel nicht zu erreichen. Vgl. Parker 1983, 146 zu den Folgen von Sakrilegen. 29  Vgl. allgemein Aristoteles, Politica 7.1328b, der „vor allem die Verehrung der Götter, die man Kult nennt (πέμπτον δὲ καὶ πρῶτον τὴν περὶ τὸ θεῖον ἐπιμέλειαν, ἣν καλοῦσιν ἱερατείαν)“ zu den notwendigen Dingen zählt, ohne die ein Staat nicht bestehen kann.

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das Individuum sollte diesen Einklang nicht eigenmächtig stören.30 Der Wille der Götter musste erkannt werden, Verstöße gegen diesen waren festzustellen und gegebenenfalls Mitglieder der Gemeinschaft in die Schranken zu weisen oder zur Rechenschaft zu ziehen. Zur Aufstellung, Durchsetzung und Aufrechterhaltung einschlägiger Regeln bedurfte es der Akzeptanz von religiöser Autorität. Hieraus lassen sich die zwei hauptsächlichen Funktionen religiöser Autorität im klassischen Athen ableiten. Zum einen war dies die Stabilisierung eines positiven Status quo durch Sicherstellung der regelgerechten Durchführung der Götterverehrung. Zum anderen war religiöse Autorität unverzichtbar für Konfliktregulierung bzw. Krisenmanagement, wenn sich das Verhältnis von Göttern und Menschen als gestört erwies.

4. Traditionale religiöse Autorität im klassischen Athen 4.1. Die Autorität der Tradition: Heimat und Vorfahren Ermahnte Demosthenes seine zu Richtern bestellten Mitbürger, sich bei ihrer Entscheidungsfindung an den axiomata der Vorfahren zu orientieren, so wurde dieser Forderung noch größeres Gewicht zugemessen, wenn es um die richtige Verehrung der Götter ging. Im Zentrum stand hier die Autorität der Tradition. An den überlieferten religiösen Ritualen – das schleuderte der Ankläger im Jahr 399 dem Bürger Nikomachos entgegen, welcher mit der Aufzeichnung athenischer Gesetze beauftragt worden war, was ihm einen Prozess eingebracht hatte –, sollte nichts geändert werden: „Unsere Vorfahren, die in Übereinstimmung mit den alten Satzungen opferten, hinterließen uns unsere Stadt als die größte und wohlhabendste aller griechischen Stadtstaaten, und so sollten wir die Opferriten wie bei ihnen beibehalten, wenn auch aus keinem anderen Grund als dem des Erfolgs, mit dem ihre Opfer gesegnet waren.“31

Lysias, der diese Rede verfasst hatte, stand mit dieser Meinung nicht allein – in zahlreichen Kontexten wird sichtbar, dass Ritualen Autorität zugesprochen wurde, die sich auf die Zuschreibung hohen Alters und langer lokaler Tradition gründete. Als ein Schlüsselbegriff diente hierbei (in literarischen und inschriftlichen Quellen nachweisbar) die Bezeichnung von Gottheiten als patrooi (väterlich) und die Beschreibung von Ritualen als ta patria oder als auf „überkommene Weise“ durch30 S. etwa Antiphon, Orationes 5.82 zur Vorstellung, der Frevel eines Einzelnen schade seinen Mitbürgern; vgl. hierzu auch Platon, Leges 910b. S. Bowden 2015, 336. 31 Lysias, Orationes 30.18: οἱ τοίνυν πρόγονοι τὰ ἐκ τῶν κύρβεων θύοντες μεγίστην καὶ εὐδαιμονεστάτην τῶν Ἑλληνίδων τὴν πόλιν παρέδοσαν, ὥστε ἄξιον ἡμῖν τὰς αὐτὰς ἐκείνοις θυσίας ποιεῖσθαι, καὶ εἰ μηδὲν δι᾽ ἄλλο, τῆς τύχης ἕνεκα τῆς ἐξ ἐκείνων τῶν ἱερῶν γεγενημένης. Zu den ideologischen Auseinandersetzungen um die „väterliche Tradition“: Todd 1996, 107; Stavrianopoulou 2011, 90. Zum Quellenwert der Redner, die vor Gericht an „socially acceptable beliefs“ apellierten, s. Mikalson 1983, 9.

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geführt.32 Die Benennung als patrooi theoi konnte die Gesamtheit der traditionell verehrten Götter einer Stadt meinen oder aber einzelnen Göttern beigelegt werden, in deren lokale Kultgemeinschaft man durch Geburtsrecht aufgenommen wurde.33 Derartige göttliche Beinamen signalisierten, diese Götter hätten die Bürger schon seit jeher beschützt. Rituale kata ta patria zu vollziehen34 bedeutete, dass sie auf eine Weise durchgeführt wurden, die sich bereits seit langer Zeit als gottgefällig erwiesen hatte. Hiervon abzuweichen – so implizierte der Redner Lysias – gefährdete das Wohlergehen der Stadt.35 Die Zuschreibung traditionaler Autorität an Rituale wird – allgemeiner formuliert – auch in der oft bezeugten Formulierung deutlich, den Göttern sei kata to nomimon (gemäß dem Brauch) zu opfern oder geopfert worden.36 Dem Nikomachos konnte offenbar nicht konkret nachgesagt werden37, er habe traditionelle Opfervorschriften der Athener eigenmächtig aus dem Kalender gestrichen. Trotzdem betont sein Ankläger, sein Handeln habe sich negativ auf die „väterlichen“ Opfer ausgewirkt. Er habe so viele neuere Opfer mitaufgenommen, dass nun für die ältesten der Opfer kein Geld mehr vorhanden sei und diese nicht mehr durchgeführt worden seien.38 Hohes Alter galt entsprechend als konstitutives Element religiöser Autorität. Behauptungen, bestimmte Rituale stammten aus Urzeiten, mussten im Einzelfall nicht immer der historischen Wahrheit im modernen Sinne entsprechen.39 Um die Funktion der Tradition als religiöse Autorität zu gewährleisten, war allerdings zentral, dass derartige Zuschreibungen der Bürgerschaft glaubwürdig erschienen. Welche Elemente, Inszenierungen und Performanzen trugen nun im klassischen Athen zur Befestigung der Behauptung hohen Alters für religiöse Regeln bei, und stärkten auf diese Weise deren traditionale Autorität? 32 Nikomachos’ Aufgabe sei nach Aussage des Anklägers (Lysias, Orationes 30.29) gewesen, ta patria aufzuzeichnen: „Und, als allerschlimmstes, habt ihr Nikomachos gewählt, eure väterlichen Rituale aufzuschreiben (καὶ τὸ τελευταῖον Νικόμαχον εἵλεσθε ἀναγράφειν τὰ πάτρια)“. S. Mikalson 2016, 110–113. 33  Der Begriff patroia konnte auch die Hausgötter eines Haushalts charakterisieren: Lykurgos, Contra Leocratem 1.25. Auf der Agora verehrten die Athener Apollon Patroos: Parker 2008, 204. S. auch Parker 2017, 119 und allg. zum Phänomen Parker 2008. 34  Zur Verwendung des Begriffs in den Inschriften ausführlich das Material bei Mikalson 2016, 110–120.165–174. Vgl. auch Chaniotis 2009, 91.102. 35 S. [Demosthenes], Orationes 59.116 mit einem Beispiel für die Verurteilung eines religiösen Amtsträgers wegen asebeia, weil er im Widerspruch zu ta patria geopfert hatte. S. auch Garland 1990, 86. Veränderung als Gefahr, von ta patria abzuweichen: Martin 2016, 297; Mikalson 2016, 35. 36  [Demosthenes], Orationes 59.78; Lykurgos, Contra Leocratem 129. S. auch Chaniotis 2009, 102. 37  Dies möchte der Ankläger aber insinuieren, vgl. Lysias, Orationes 30.25 f. und 30.3: Nikomachos habe manche Gesetze ausgetilgt und andere aufgeschrieben. 38 Lysias, Orationes 30.19 f. Todd 1996, 108 ist der Meinung, die Vorwürfe gegen Nikomachos blieben insgesamt recht unkonkret. 39  Bezeugt sei – etwa im Fall der vom Archon Basileus durchgeführten Rituale – nicht deren Alter an sich, sondern lediglich die Zuschreibung von Alter durch die Athener klassischer Zeit: so etwa Parker 1996, 8.

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4.2 Die Erzeugung von traditionaler Autorität: Mythos und mythische Vergangenheit Mythische Überlieferungen (d.h. in der Vergangenheit spielende traditionelle Erzählungen von Göttern, Heroen und Menschen) begleiteten die Bewohner Athens seit ihrer Kindheit. Sie begegneten ihnen in mündlicher Überlieferung innerhalb der Familie und in ihrer Performanz durch Rhapsoden, Chöre und Dramatiker, durch bildliche Darstellungen an öffentlichen Gebäuden, in Heiligtümern und im häuslichen Bereich, sowie – dem Lesekundigen – in diversen schriftlichen Ausprägungen.40 Derartige Erzählungen erschlossen dem Publikum die Vergangenheit der eigenen Stadt, die besondere und uralte Verbindung zu bestimmten Gottheiten und nicht zuletzt die Geschichte der städtischen Kulte. Die Rolle Athenas als Schutzgöttin der Athener war beispielhaft für jeden Besucher im Westgiebel des Par­ thenon sichtbar, wo der Streit zwischen Athena und Poseidon um Attika dargestellt war.41 Das Interesse der Athener an derartigen Traditionen war auch im 4. Jh. v. Chr. ungebrochen bzw. sogar besonders ausgeprägt. Eine Reihe von Lokalschriftstellern, die sogenannten Atthidographen, befasste sich mit der Aufzeichnung der athenischen Frühgeschichte mythischer Zeit, was die Aufzeichnung von Opferbräuchen, deren Geschichte und Verankerung im lokalen Mythos miteinschloss.42 4.3 Traditionale Autorität und Schriftlichkeit Bestimmte Elemente der Tradition mussten in der griechischen Kultur nicht explizit schriftlich niedergelegt werden: Zu den „ungeschriebenen Gesetzen“, die nach Xenophon ursprünglich von den Göttern kommen und in jedem Lande gelten, gehörte es, die Götter und die Eltern zu ehren.43 Doch auch wenn die griechische Religion keine ‚Heilige Schrift‘ kannte, so fungierten Schriftlichkeit und schriftliche Überlieferung im klassischen Athen dennoch als wichtiges Mittel zur Erzeugung von Autorität. Auch in diesem Fall war Alter ein besonders bedeutsames Kriterium. Die Gesetze, die man auf den archaischen athenischen Gesetzgeber Solon zurückführte, sollte er aufgeschrieben und somit für alle Bürger sichtbar gemacht haben.44 Die Details der Solonischen Ge40 

Scheer 2015, 166. Parthenon: Pausanias 1.24.5. Vgl. Parker 2011, 27: „What mattered was the rooting of the whole system in heroic time.“ S. auch Parker 2012, 19 zur Rückführung der Panathenäen auf die mythische Gestalt des Erichthonios. 42 Atthidographen: Kleidemos, FGrHist 232; Androtion, FGrHist 324; Phanodemos, FGrHist 325; Demon, FGrHist 32; Philochoros, FGrHist 328. 43 Xenophon, Memorabilia 4.4.19. Vgl. auch Aristoteles, Politica 6.5.1319b. Die Autorität der (mündlich überlieferten) Norm gegenüber schriftlich niedergelegten Gesetzen wird ebenfalls herausgestellt bei Aristoteles, Politica 3.16.1287b1. S. Chaniotis 2009, 102. 44  Zur Aufzeichnung der Solonischen Gesetze auf axones (drehbaren Holzbalken) oder 41 

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setzgebung lassen sich nicht vollständig rekonstruieren, im späten 5. Jh. war man in Athen aber jedenfalls der Meinung, Solon habe auch Regeln für das religiöse Leben der Athener in seine Gesetze aufgenommen.45 Als im späten 5. Jh. v. Chr. Nikomachos mit der Aufzeichnung des athenischen Opferkalenders beauftragt war, sollte er sich auf das in den kyrbeis und das auf den stelai aufgezeichnete Material stützen.46 Dieses gliederte sich vermutlich in die alten, Solon zugeschriebenen Vorschriften und in die Beschlüsse der athenischen Volksversammlung, die seitdem ergänzend verabschiedet worden waren und offizielle Gültigkeit besaßen.47 Schriftlichkeit erzeugte Autorität zum einen durch demonstrativ herausgestelltes Alter, dieses konnte bereits an der altertümlichen Form bestimmter Schriftzeugnisse sichtbar werden.48 Das dauerhafte Material inschriftlicher Aufzeichnungen wies grundsätzlich auf die Bedeutung ihres Inhalts hin – entweder waren Inschriften in ihrer Gegenständlichkeit bereits Zeugnisse für die Traditionen der Vorfahren oder aber sie signalisierten, das neu oder erneut auf Stein Aufgezeichnete solle von nun an Gültigkeit besitzen.49 Die den Bürgern allgemein zugängliche Präsentation derartiger Schriftzeugnisse trug ebenfalls zu ihrer Autorität bei: wenn jeder sie sehen und – abhängig von persönlicher Bildung – sie lesen oder vorlesen konnte, so ergab sich daraus die Stabilisierung eines „Gemeinschaftswissens“ in der Bürgerschaft. Gleichzeitig konnte Verschriftlichung aber auch ambivalente Wirkung entfalten, wenn etwa der Akt der Verschriftlichung Veränderungen erst deutlich machte, was gelegentlich zu Spannungen führte.50 kyrbeis (Tafeln oder spitz zulaufenden Stelen) vgl. Aristoteles, Res publica Atheniensium (= Athenaion Politeia) 7.1: „Sie schrieben die Gesetze auf die kyrbeis, stellten sie in der Königshalle auf und schworen alle, sie anzuwenden (ἀναγράψαντες δὲ τοὺς νόμους εἰς τοὺς κύρβεις ἔστησαν ἐν τῇ στοᾷ τῇ βασιλείῳ καὶ ὤμοσαν χρήσεσθαι πάντες).“ Die Vorstellung vom Standort auf der Akropolis, von der sie erst von Ephialtes auf die Agora verbracht worden seien: Anaximenes, FGrHist 72 F 13. Zur Zeit Plutarchs sollen Reste der Axones im Pry­ taneion sichtbar gewesen sein: Plutarch, Solon 25.2 = Kratinos, Fragmente 300 Kassel / Austin. Vgl. hierzu Stroud 1979, sowie Robertson 1986, 148–151. Zur Bedeutung ihrer Schriftlichkeit: Hölkeskamp 1999, 275; Sichtbarkeit: T homas 2005, 47. 45 Lysias, Orationes 30.17–20; Plutarch, Solon 25.2; Parker 1996, 43–55.218–220; Rhodes 2006, 256 f. S. Mikalson 2016, 15: In diesem Fall läge vor „more […] what was believed than what was, if it can be determined, factual“. 46 Lysias Orationes 30.17.29. Zur Diskussion um die Begrifflichkeit Todd 1996, 111. Zum nur fragmentarisch erhaltenen Opferkalender: Supplementum Epigraphicum Graecum 52.48; Dow 1961, 106; Robertson 1986, 151; Parker 1996, 43-55.218-220; Todd 1996, 106 f. Zu Nikomachos als Mitglied einer Kommission für die schriftliche Niederlegung athenischer Gesetze s. Todd 1996, 106; Henrichs 2003, 54; Stavrianopoulou 2011, 86. 47 Die kyrbeis als Zeugnisse für Solonische Gesetze, stelai als Träger von späteren, ergänzenden Gesetzen und Volksbeschlüssen vgl. Mikalson 2016, 167 f. 48 Vgl. [Demosthenes], Orationes 59.75, wo ausdrücklich auf eine altertümliche Stele mit sakraler Regel im Heiligtum des Dionysos in den Sümpfen verwiesen wird. S. Mikalson 2016, 122. 49  Taylor 2015, 106; zur Autorität von Inschriften s. Ma 2012, 155 f. 50 S. Henrichs 2003, 56 und Stavrianopoulou 2011, 89, die auch auf die potenzielle Veränderbarkeit des Aufgeschriebenen hinweist (92). Die Notwendigkeit v.a. Neuerungen schriftlich festzuhalten betont Parker 2012, 21.

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Die autoritative Wirkung von Inschriften konnte schließlich noch durch den Ort ihrer Präsentation verstärkt werden: Inschriften religiösen Inhalts befanden sich oft im Bereich wichtiger städtischer Heiligtümer und erhielten im Lauf der Zeit die Gesellschaft weiterer autoritativer Texte, z.B. internationaler Verträge.51 Ein derartiger Standort ließ sie an der Unverletzlichkeit göttlichen Eigentums, nämlich der dort aufgestellten Weihgeschenke teilhaben – und implizierte darüber hinaus das Einverständnis der Götter mit dem Aufgezeichneten.52 Der von Nikomachos neu aufgezeichnete athenische Kultkalender, welcher Solon zugeschriebene und spätere religiöse Vorschriften verband, fand in inschriftlicher Form seinen Platz auf der Agora, am oder in unmittelbarer Nähe des Amtslokals des Archon Basileus, zu dessen Aufgaben die Aufsicht über die traditionellen städtischen Kulte gehörte.53 Die unmittelbaren Verfasser oder Schreiber derartiger Texte hatten in klassischer Zeit an der Autorität der Texte nicht teil.54 Solon, als schattenhafter Repräsentant einer weit zurückliegenden Vergangenheit, war hierbei die Ausnahme, die vor allem die Regel bestätigte, dem Beispiel der Vorfahren besondere Autorität zuzugestehen.55 Wenn auf Inschriften religiösen Inhalts, die etwa Beschlüsse der Volksversammlung aufzeichneten, die Namen des Schreibers und des Antragstellers erschienen, so war dies kein Zugeständnis personaler Autorität an diese56, sondern diente vielmehr der Kontrolle. Erwies sich ein Antrag nachträglich als regelwidrig oder falsch aufgezeichnet, so waren die Verantwortlichkeiten transparent und die Bürgerschaft wusste, wen man zur Rechenschaft ziehen musste.

51  Zur Bedeutung sakraler Standorte im Fall von Inschriften: T homas 2005, 55; Taylor 2015, 103; Mack 2018, 377–379; vgl. auch Hölkeskamp 1999, 278. 52  Schutz der Texte (und Beschlüsse der Volksversammlung) durch vorangestellte Anrufung der Götter: Martin 2016, 283; die Götter als Leser: Taylor 2015, 104. Unverletzlichkeit der Texte: Hölkeskamp 1999, 279. 53  Vgl. Aristoteles, Athenaion Politeia 7. Zur Form und Anbringung des Kultkalenders: Lambert 2002; s. auch Price 1999, 28. Interessanterweise wird in den Gerichtsreden später nicht auf diese Inschriften verwiesen: T homas 2005, 59. 54  Der Ankläger des Nikomachos ist bezeichnenderweise bestrebt, dessen Amt herabzusetzen, indem er ihn als hypogrammateus (Hilfsschreiber, Hilfssekretär) bezeichnet: Lysias, Orationes 30.28. 55 Solon, so zumindest Herodot (1.29), ließ die Athener einen Eid schwören, nichts an den von ihm gegebenen Gesetzen zu ändern, und verließ dann Athen. Die Erzählung spiegelt zumindest die Meinung Herodots, selbst Solon habe sich nicht auf seine personale Autorität verlassen, sondern diese durch die Autorität der Eidgötter stützen lassen. S. auch Aristoteles, Athenaion Politeia 7. 56  Dem Verfasser der Athenaion Politeia (54.3) ist das Prestige-Potential namentlicher Nennung bewusst. Er stellt fest, früher seien nur die Angesehensten und Vertrauenswürdigsten für das Amt des grammateus, des Schreibers der Prytanie, gewählt worden, da dessen Name auf den Urkundenstelen erscheine.

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4.4. Inhalte traditionaler religiöser Autorität Welche religiösen Inhalte waren nun im klassischen Athen wichtig genug, um durch Schriftlichkeit verstetigt und eingeprägt zu werden? Die spezifischen Regelungen der Solonischen Gesetze im religiösen Bereich sind nur unzureichend überliefert; spätere Autoren schreiben ihnen z.B. zu, Ehebrecherinnen den Zugang zu den Heiligtümern und die Teilnahme an städtischen Opfern verboten zu haben.57 Ansonsten finden sich Inschriften mit vielfältigen religionsbezogenen Inhalten.58 Eine Form davon waren etwa Opferkalender, in denen detailliert geregelt wurde, welche Gottheiten in welchem Monat welche Opfer(-tiere) zu erhalten hatten.59 Daneben sind zahlreiche epigraphische Texte erhalten, die sich mit lokalen Kultvorschriften oder mit der Aufsicht über Heiligtümer und mit ihrer Verwaltung befassten.60 Derartige Inschriften konnten die „Hausordnung“ eines Heiligtums festschreiben. Sie benannten formale Autoritäten im Heiligtum, regelten Privilegien zuständiger Funktionäre im Verhältnis zu privaten Opferwilligen und wiesen auf Verbote hin. Daneben gab es z.B. Regeln, die den Zugang zum Heiligtum für die Besucher besonderen Konditionen unterwarfen; es konnte bestimmtes Material von Kleidung oder Schmuck verlangt sein oder spezifische Reinheitsvorschriften regelten die Teilnahme am Opfer.61 Inventare sollten sicherstellen, dass vom Eigentum der Götter nichts abhandenkam,62 Pachtverträge, die zu einzelnen Heiligtümern gehöriges Land betrafen, regelten schließlich deren Einkünfte.63 Insgesamt besaßen derartige Vorschriften nur lokale Gültigkeit, d.h. sie bezogen sich auf ein einzelnes Heiligtum oder einen einzelnen Kult in einer spezifischen Polis. Inhaltlich befassten sie sich nicht mit „Glaubenswahrheiten“ oder theologischen Aussagen, auf die die Kultteilnehmer etwa verpflichtet worden wären. Ihre Autorität bezogen diese Dokumente aus unterschiedlichen Quellen. Entweder es handelte sich in Athen um reguläre Beschlüsse von Volk und Rat, hinter denen entsprechend die formale Autorität der gesamten städtischen Bürgergemeinschaft [Demosthenes], Orationes 59.85 f. Henrichs 2003, 42 f. Diese Texte wurden in der älteren Forschung gern unter dem Begriff „Heilige Gesetze“ subsumiert: Vgl. LSS; LSAM, der Begriff auch noch bei Lupu 2009. Diese Bezeichnung ist in jüngerer Zeit zu Recht kritisiert worden und soll hier nicht verwendet werden, s. zum Problem Parker 2005a, 62 f.; Carbon / Pirenne-Delforge 2012; Petrovic 2015, 339. 59  Opferkalender: Lambert 2002; Rhodes 2009, 2 f.; Parker 2012, 20; Mikalson 2016, 100. 60 Carbon / Pirenne-Delforge 2012, 164 benennen „Heiligtum“, „Kultpersonal“ und „Rituale“ als Leitkategorien der Texte. Ähnlich Petrovic 2015, 342; s. auch Lupu 2009, 9 mit Beispielen. Die Texte gesammelt v.a. in LSS und LSAM; sowie Lupu 2009. 61  Zum T hema Reinheit und Befleckung auf Inschriften s. auch Parker 2012, 28. 62  So etwa die Inventare über die Schätze im Erechtheion und Parthenon auf der Akropolis: Harris 1995, 16–122. Tempelraub als besonders gravierender Verstoß: Mikalson 2016, 34 f. 63  Zu inschriftlichen Pachtverträgen im Interesse von Heiligtümern s. Horster 2004; Papazarkadas 2011; Rhodes 2009, 7. Vgl. auch Aristoteles, Politica 7.1330a: zur Abteilung von gemeinsamem Land, dessen Ertrag für die Kosten des Kultes bestimmt sein soll; zum Eintreiben der Pacht Aristoteles, Athenaion Politeia 47.4. 57 

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stand.64 Oder aber ihre traditionale Autorität konnte sich aus einer Anonymität ergeben, die suggerierte, das Aufgeschriebene erläutere bestimmte Aspekte kultischer Rituale, die sei seit jeher Regel und damit von hohem Alter seien.65 Entsprechend waren derartige Texte im Normalfall auch nicht in demonstrativ ‚gebildeter‘ oder in spezifisch ‚religiös‘ erkennbarer sprachlicher Form gestaltet.

5. Formale religiöse Autorität im klassischen Athen 5.1. Unmittelbare religiöse Autorität: die Bürgergemeinschaft als Träger formaler Autorität Im Rahmen der bürgerlichen Hauskulte konnten auch Einzelpersonen in Athen formale religiöse Autorität besitzen. Diese leitete sich aus ihrer Stellung innerhalb der Familie ab. Als ranghöchstes Familienmitglied repräsentierte der Familienvater die Gruppe vor den Göttern.66 Ihm fiel es zu, die Opfer für Zeus Herkeios und andere Gottheiten im Bereich des Oikos zu leiten. Auch bei privaten religiösen Begehungen der Familie in Heiligtümern stand er im Vordergrund, so die Haus­ ord­nung des Heiligtums das Recht ein Opfer zu leiten nicht nur einer priester­ lichen Amtsperson zugestand.67 Das religiöse Bildungswissen des Familienvaters war hierbei von der Familien-Tradition geprägt. Insgesamt gesehen lag die formale religiöse Autorität im klassischen Athen jedoch bei der Gemeinschaft der Bürger.68 Entscheidungen, die das Verhältnis von Stadt und Göttern betrafen, wurden entsprechend von der Bürgerschaft als Ganzes, oder aber – um Praktikabilität zu gewährleisten – von repräsentativen Gruppen der Bürgerschaft getroffen. Die wichtigste Institution hierbei war die Volksversammlung (ekklesia), verbunden mit dem Rat der 500 (boule).69 Außerdem besaßen die Bürgergerichte sowie das altertümliche Ratsgremium des Areopags Entscheidungsbefugnisse bei der Beurteilung religiöser Verstöße. 64  Parker 2011, 43. Zu den unterschiedlichen Urhebern derartiger Inschriften, die von der Polis über private Kultvereine bis hin zu einzelnen Privatpersonen veranlasst werden konnten, s. auch Stavrianopoulou 2020 (im Druck). 65  Parker 2005b, 80 stellt fest, „unenforced local tradition“ habe oft ausgereicht, derartige Regeln von „ritual best practice“ zu befestigen. Einschlägige Texte privater Herkunft: Petrovic 2015, 343. Zur „stratigraphy“ ritueller Normen s. Chaniotis 2009. 66  Dillon 2015, 242, 246; zu deren potenzieller Kontrolle durch die Polis: Parker 1996, 7. 67  Private Opfer in Heiligtümern: Dillon 2015, 241 f. 68  Parker 2005b, 61 f.; Garland 1984, 78 f. 69  Zu Volksbeschlüssen, die Opferrituale betreffen, s. Lysias, Orationes 30.19: „Ich halte es für richtig, kata ta patria zu opfern, und in einer Weise die zu uns passt, in einer Weise, für die das Volk abgestimmt hat (ἀξιῶ πρῶτον μὲν κατὰ τὰ πάτρια θύειν, ἔπειτα ἃ μᾶλλον συμφέρει τῇ πόλει, ἔτι δὲ ἃ ὁ δῆμος ἐψηφίσατο).“ Zu Volksbeschlüssen religiösen Inhalts: Rhodes 2009, 1; Beispiele erhaltener Volksbeschlüsse, die Verehrung der Götter betreffend: s. Mikalson 2016, 124–129. Es sind über 60 athenische Volksbeschlüsse zu religiösen Angelegenheiten erhalten: Mikalson 2016, 140. S. auch das Vorgehen bei Fällen von Asebie: Mikalson 2016, 300.

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Dass die Sorge um das richtige Verhältnis von Bürgern und Göttern die Athener beim Wirken ihrer politischen Institutionen stets begleitete, zeigt sich bereits in deren formaler Inszenierung. Bevor die männlichen erwachsenen Bürger Attikas in den Sitzungen der Volksversammlung zusammentraten,70 wurde der Versammlungsplatz durch ein Opfer gereinigt.71 Mit den hiera begann die Volksversammlung, bevor zur weiteren Tagesordnung übergegangen wurde.72 Die Belange der Götter hatten auch auf dieser Tagesordnung ihren festen Platz. Die Aristoteles zugeschriebene Athenaion Politeia überliefert als Vorschrift, dass in zwei von vier Volksversammlungen „drei Probleme religiöser Art, drei, die mit Herolden und Gesandten zu tun haben, und drei des heiligen Brauchtums verhandelt werden sollen.“73 Während jeder einzelne Bürger die Möglichkeit hatte, religiöse Dinge betreffende Anträge in die Volksversammlung einzubringen,74 oblag es dem Rat der 500, auch in diesen Fällen Vorberatungen vorzunehmen und sie zur Abstimmung in der nächsten Volksversammlung vorzubereiten. Die Vorberatungen im Rat ersparten der Volksversammlung die zeitraubende Diskussion von Details, die Ratsmitglieder waren aber – bedingt durch die Methode ihrer Auswahl – keine ausgewiesenen Spezialisten für Sakral­recht. Die kurze Amtszeit im Rat und dessen geschäftsführendem Ausschuss, dem Prytanenkollegium, ließ die Ratsmitglieder auch nicht zu solchen werden; die Beschränkungen für wiederholte Mitgliedschaft im Rat standen dem Erwerb von Spezialwissen ebenfalls entgegen.75 Bei der Wiedervorlage der vom Rat vorberateAthenaion Politeia 43.3. Ecclesiazusae 128 mit Scholion; Aischines, Orationes 1.22 f. mit Schol; Demosthenes, Orationes 54.39. S. Martin 2016, 282 und Mack 2018, 388 f. 72  Vgl. die bei Aristophanes, T hesmophoriazusae 315–319 in einer Parodie der Volksversammlung gesprochenen Formeln, in denen die Götter aufgefordert werden, zur Versammlung (in diesem Fall der athenischen Frauen) herbeizukommen, und die Anrufung von Gottheiten durch den (hier weiblichen Herold), die in der Debatte derjenigen Rednerin den Sieg schenken sollen, die durch Worte und Taten dem Demos der Athenerinnen am meisten nützt (T hesmophoriazusae 301–309). Vgl. zum Ablauf in der regulären ekklesia der männlichen Bürger Aischines, Orationes 1.23. Auch die Sitzungen des Rats wurden durch Eingangsopfer eröffnet: Demosthenes, Orationes 21.114; Aristoteles, Athenaion Politeia 45.4. Die „priority of the divine“ schon betont bei Mikalson 1983,13; Mack 2018, 329 sieht die Volksversammlung als Ritual unter „the guidance of the gods“, sie könne allerdings durch böswillige Teilnehmer korrumpiert werden. 73 Aristoteles, Athenaion Politeia 43.6: αἱ δὲ δύο περὶ τῶν ἄλλων εἰσίν, ἐν αἷς κελεύουσιν οἱ νόμοι τρία μὲν ἱερῶν χρηματίζειν, τρία δὲ κήρυξιν καὶ πρεσβείαις, τρία δὲ ὁσίων. Vgl. hierzu auch Aristoteles, Athenaion Politeia 30.5. 74 Ratschläge, auf welche Weise man Anträge religiösen Inhalts in der Volksversammlung formuliert, finden sich in dem Anaximenes von Lampsakos zugeschriebenen Rhetorischen Handbuch für Alexander 3.1423a20–1424a8; ca 340 v. Chr.: vgl. Chiron 2007; Mikalson 2016, 185. 75  Auslosung der Ratsmitglieder und der Prytanen: Aristoteles, Athenaion Politeia 43.2. Dem Vorsitzenden des Prytanenkollegiums wurde formal hohe sakrale Autorität zugestanden, ihm wurden die Schlüssel zu den Heiligtümern anvertraut, in denen der Staatsschatz, Urkunden und das „Staatssiegel“ aufbewahrt wurden (Aristoteles, Athenaion Politeia 44.1). 70 Aristoteles,

71 Aristophanes,

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nen Anträge – und dies galt in gleicher Weise für Anträge religiösen Inhalts – entschied die versammelte Bürgerschaft entweder sofort oder aber nach nochmaliger Diskussion.76 Formale religiöse Autorität im klassischen Athen lag neben Volksversammlung und Rat der 500 noch bei einem weiteren Ratsgremium, dem Areopag. Die Mitgliedschaft in diesem Gremium, in dem sich in vordemokratischen Zeiten die Häupter der Adelsgeschlechter zusammengefunden hatten, war im 5. und 4. Jh. auf die ehemaligen Archonten beschränkt – und lebenslang.77 Die lebenslange Mitgliedschaft, verbunden mit Amtserfahrung als Voraussetzung des Eintritts in das Gremium, hatte zur Folge, dass sich im Unterschied zum Rat der 500 im Areopag potentiell Spezial- und Erfahrungswissen ansammeln konnte. Die religiösen Befugnisse des Areopags bleiben allerdings in den Quellen relativ unkonkret.78 Formale Autorität besaßen im klassischen Athen besonders auch die Bürgergerichte (dikasteria). Diese Geschworenengerichte rekrutierten sich aus den Teilnehmern der Volksversammlung und repräsentierten die Gesamtheit der Bürger, wobei die Anzahl der Geschworenen je nach Bedeutung des Falls zwischen 201 und einem Mehrfachen von 500 schwanken konnte. Sowohl der Privatmann Sokrates als auch der Experte Nikomachos mussten sich vor einem derartigen Gericht verantworten. Die Autorität der bürgerlichen Gerichtshöfe erwies sich dann als formale religiöse Autorität, wenn Prozesse religiösen Inhalts verhandelt wurden. Störung des Festfriedens oder Fehlverhalten bei religiösen Festen, Verstöße im Umgang mit den Geldern der Götter, Tempelraub und Asebie (Unfrömmigkeit, Frevel) konnten Anklagepunkte sein.79 Auch in diesen Fällen besaßen die bestellten Geschworenen kein spezielles Vorwissen im ‚sakralrechtlichen Bereich‘. Dieses war auch nicht erwünscht. Vielmehr sollte ein kompliziertes Losverfahren sicherstellen, dass die kurzfristige Zuteilung der Einzelnen zu den anstehenden Prozessen dem Zufall unterlag.80 Die Aufgabe eines Athener Gerichtshofes bei einem Prozess wegen religiösen Verstößen sei es, so betonten die Ankläger, stellvertretend für die Götter zu agieren, auch wenn die Götter selbstverständlich fähig Da das Amt aber täglich wechselte, war auch die damit verbundene Autorität ephemer. Modalitäten der Mitgliedschaft im Rat: Aristoteles, Athenaion Politeia 62.3. Rhodes 2019, 51 f. 76  Zur implizierten Rolle der Götter als Agenten im Kontext der Beschlüsse der Volks­ versammlung kürzlich ausführlich Mack 2018, 385, der die Beziehung zwischen „public ­authority and the gods“ auf der Basis der sog. Urkundenreliefs analysiert. 77 Demosthenes, Orationes 26.5; Aristoteles, Athenaion Politeia 60.3; Athenaion Politeia 3.6 (lebenslanges Amt); Plutarch, Solon 19; Plutarch, Pericles 9.3. 78  Zum Areopag als Aufsichtsgremium über die Heiligen Ölbäume der Athena s. Aristoteles, Athenaion Politeia 60.2; Lysias, Orationes 7.22.25.29. Garland 1990, 80; Parker 2005a, 91. 79  Garland 1984, 79; Parker 2005b, 62–65. Asebie war als Straftatbestand nicht präzise definiert, sondern umfasste alles, was als Fehlverhalten im Hinblick auf die Götter angesehen werden konnte. 80  Das Verfahren ausführlich in der Athenaion Politeia: Aristoteles, Athenaion Politeia 63–66.

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seien, Gottesfrevel höchstselbst zu bestrafen. In derartigen Fällen konnte es für den Angeklagten um Leben und Tod gehen.81 5.2. Delegierte formale religiöse Autorität: Beamte, Priester, Beauftragte Ebenso wie die Volksversammlung etwa den Rat mit der Vorbereitung von Anträgen beauftragte, delegierte sie auch Elemente religiöser Autorität in Form von Ämtern: Amtsinhaber konnten mit der regelgerechten Ausführung und Sicherstellung religiöser Tradition oder der Umsetzung von Beschlossenem beauftragt werden. Manche Ämter umfassten ausschließlich religiöse Pflichten, die Aufgabenbereiche anderer enthielten unter anderem auch religiöse Funktionen.82 Dass es sich um religiöses Handeln im Auftrag der Bürgergemeinschaft handelte, zeigte sich an der Art der Bestellung der Amtsträger, die unter Bürgern gewählt oder ausgelost wurden. Das Losverfahren war hierbei keineswegs Ausdruck von Gleichgültigkeit oder Folge der Vorstellung, hier handle es sich um wenig wichtige Ämter. Vielmehr galt das Losverfahren hier wie auch etwa bei der Bestellung von Richtern als Möglichkeit, den unsichtbaren Göttern Mitsprache zu gewähren.83 5.2.1 Religiöse Beamte im klassischen Athen Als wichtigster religiöser Beamter im klassischen Athen galt der Archon Basileus.84 Diesem war die Schirmherrschaft über die heiligsten und ältesten Opfer übertragen.85 Die Dauer seines Amtes betrug wie die seiner 8 Archonten-Kollegen ein Jahr, seit 487/6 wurden alle Archonten ausgelost statt, wie bisher, gewählt.86 Die religiöse Autorität des Archon Basileus wird in der aristotelischen Athenaion Politeia detailliert beschrieben.87 Er sorgte etwa dafür, dass Priesterämter nicht über längere Zeit unbesetzt blieben, weil man sich nicht über ihre Besetzung einigen Todesstrafe angemessen bei Gottesfrevel: Andokides, Orationes 1.30. Allgemein zu den für religiöse Dinge zuständigen Beamten und den Priestern: Aristoteles, Politica 6.1322b18.29; Mikalson 2016, 83. 83  Der Zusammenhang von Auslosung und himmlischer Gunst: Platon, Leges 3.690c; die Göttlichkeit des Loses s. Platon, Leges 5.741b; Wahl- und Losverfahren für Priester: Platon, Leges 6.759. S. Blok / Lambert 2009, 99; Horster 2012, 172 f. 84  Garland 1984, 111 f.; Mikalson 2016, 59 f. 85  Vgl. Platon, Politicus 290e6–8; Aristoteles, Athenaion Politeia 57.1; Aristoteles, Athenaion Politeia 3.3: „zuständig für ta patria“. 86  Zu den religiösen Aufgaben der Behörde, die in griechischen Poleis „teils Archonten, teils Könige, teils Prytanen“ genannt wird, und die „sämtliche allgemeinen Opfer zu besorgen hat, soweit diese nicht durch Gesetz den Priestern überlassen bleiben“: Aristoteles, Politica 1322b. 87 Aristoteles, Athenaion Politeia 57.2: „An ihn gehen durch das Los die Anzeigen wegen Gottesfrevels und wenn ein Streit um ein Priesteramt entsteht. Er entscheidet alle Streitigkeiten zwischen den Geschlechtern und Priestern um sakrale Angelegenheiten. Auch alle Mordprozesse gehen durch Los an ihn, und er ist es, der den Ausschluß von den religiösen Bräuchen verkündet (γραφαὶ δὲ λαγχάνονται πρὸς αὐτὸν ἀσεβείας, κἄν τις ἰερωσύνης ἀμφισβητῇ πρός τινα. διαδικάζει δὲ καὶ τοῖς γένεσι καὶ τοῖς ἱερεῦσι τὰς ἀμφισβητήσεις τὰς 81 

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konnte. Wenn sich andere sakrale Autoritäten wie Priester oder Gene (Geschlech­ tergruppen) in Streitigkeiten über ta hiera, die Belange der Götter verstrickten, war er die entscheidende Institution. Seine Aufgabe, den Ausschluss von den sakralen Bräuchen zu verkünden, hatte weitreichende soziale Folgen. Der Ausgeschlossene war damit aus der Kultgemeinschaft der Bürger und aus der Kommunikation der Bürgerschaft mit den Stadtgöttern verbannt.88 Dieser Ausschluss galt vor allem für des Mordes Angeklagte, deren Verfahren beim Archon Basileus und beim Areopag als für die Blutsgerichtsbarkeit zuständigem Gremium angängig war.89 Mordprozesse und Ausschluss von den Heiligtümern hingen insofern zusammen, als sichergestellt werden musste, dass die durch Mord hervorgerufene Befleckung des Täters nicht die Reinheit der Heiligtümer gefährdete. Im Bereich der athenischen Gerichtsbarkeit war der Archon Basileus erste Adresse bei Anklagen wegen Asebie (Gottesfrevel). Was seine unmittelbare sakralrechtliche Autorität anlangt, so ist festzuhalten, dass er zwar mit der Vorbereitung von einschlägigen Prozessen betraut war90 und bei der Sitzung des Gerichtshofes als Vorsitzender für die formalen Abläufe diente, aber in die Verhandlung selbst nicht privilegiert eingriff .91 Er hatte keine Funktion inne, die ihm erlaubt hätte, seine formale religiöse Autorität in die unmittelbare Entscheidungsfindung einzubringen. Das Urteil oblag den Areopagiten oder dem ausgelosten Gremium der bürgerlichen Laienrichter. Daneben fielen dem Archon Basileus aber auch noch diverse Verantwortlichkeiten bei der Organisation besonders wichtiger Feste und bei der Sicherung göttlicher Finanzen zu.92 Die Frage stellt sich, woher dieser für ein Jahr ausgeloste Beamte das notwendige Vor-Wissen für seine Zuständigkeitsbereiche nahm – Wiederwahl war nicht möglich.93 Für Entscheidungen über richtige Abläufe im Kultwesen stützte er sich vermutlich vor allem – wie jeder andere Bürger auch – auf ein Erfahrungswissen, welches auf langjähriger Mitwirkung an den religiösen Traditionen der Polis basierte. Eine besondere kultische Verpflichtung bildete ein ὑπὲρ τῶν ἱερῶν ἁπάσας οὗτος. λαγχάνονται δὲ καὶ αἱ τοῦ φόνου δίκαι πᾶσαι πρὸς τοῦτον, καὶ ὁ προαγορεύων εἴργεσθαι τῶν νομίμων οὗτός ἐστιν).“ 88 S. etwa den Ausschluss des Andokides von der Athener Agora und den Heiligtümern im Jahr 415 infolge des Hermenfrevels: Andokides, Orationes 1.12,29,31; der Vorwurf, er habe trotz Ausschluss an sakralen Ritualen der Stadt teilgenommen, bildete einen Hauptpunkt der Anklage. Vgl. auch Price 1999, 84. 89 Aristoteles, Athenaion Politeia 57.4. Parker 1983, 111. 90  Vgl. oben, Anm. 1, Platons Euthyphron zu den Prozessen des Sokrates und des Euthyphron. 91  Zu Annahme der Klage, Voruntersuchung und Vorsitz im Gericht: Aristoteles, Athenaion Politeia 3.4; Suidas s.v. archon. 92  Gemeinsam mit vier „Besorgern“, die vom Volk gewählt wurden und von denen zwei aus den seit alters zuständigen Familien der Eumolpiden und Keryken stammen mussten, war er für die Organisation der Mysterien von Eleusis zuständig: Mikalson 2016, 299 f. Das Lenäenfest für Dionysos sowie Fackelläufe in verschiedenen Kontexten fielen ebenfalls in sein Ressort: Aristoteles, Athenaion Politeia 57.1. Die Eintreibung der Pachten, durch die Heiligtümer finanziert wurden, als Aufgabe des Basileus: Aristoteles, Athenaion Politeia 47.4. 93  Die Vorschrift, Ämter nur einmal im Leben auszuüben: Aristoteles, Athenaion Politeia 62.2.

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Ritual für Dionysos, welches vor allem die Ehefrau des Archon Basileus betraf, und welches im sogenannten Bukoleion stattfand.94 Die Frau des Basileus verbrachte eine Nacht dort eingeschlossen um eine ‚heilige Hochzeit‘ mit Dionysos zu begehen. Ob ihr Ehemann bei dieser Zeremonie eine Rolle spielte, ist bezeichnenderweise nicht bekannt.95 Die Hauptaufgabe des Basileus lag aber in der Sorge für die regelgerechte Durchführung der Götterverehrung. Diese Pflicht teilte er sich im Kollegium der Archonten mit dem Archon Eponymos. Neben einer Reihe anderer Aufgaben war dieser für den Bereich der „hinzugefügten Kulte“ zuständig, also für religiöse Begehungen, die ihren Ursprung nicht in grauer Vorzeit haben sollten, sondern angeblich aus vergleichsweise jüngerer Vergangenheit stammten.96 Hierzu zählten bestimmte Prozessionen, aber auch die Leitung und Organisation von Wettkämpfen anlässlich von Götterfesten.97 Schließlich hatte er zur angemessenen religiösen Repräsentation der Stadt Athen in externen Kontexten beizutragen, ihm oblag etwa die Ernennung des Architheoros, des Anführers der feierlichen Gesandtschaft zum Apollon von Delos.98 Neben diesen organisatorischen Pflichten waren unmittelbare ‚priesterliche‘ Funktionen des Archon Basileus und des Archon Eponymos bei staatlichen Opfern nur eine Aufgabe neben vielen anderen Zuständigkeiten. 5.2.2 Abgeleitete formale religiöse Autorität: Priester und Priesterinnen Priester und Priesterinnen waren im klassischen Athen vor allem verantwortlich für die richtige Durchführung der Opfer, die die Polis den Göttern traditionell darbrachte. Ihre Autorität erstreckte sich hierbei auf den richtigen Vollzug;99 sie repräsentierten die Polis, indem sie im Namen der Bürger das Gebet sprachen, die üblichen Voropfer vollzogen und abhängig von den spezifischen Anforderungen des Kults den unblutigen und blutigen Opfern vorstanden.100 Gelegentlich berichteten sie dem Rat der 500 über den Verlauf der von ihnen durchgeführten Opfer.101  94 

Deubner 1956, 100 f. Athenaion Politeia 3.5 zum Bukolion nahe dem Prytaneion, wo noch in der Gegenwart Vereinigung und Hochzeit der Gattin des Königs mit Dionysos stattfänden. Vgl. auch [Demosthenes], Orationes 59.73-78.  96  Religiöse Autorität des Archon Eponymos über die epitheta: Aristoteles, Athenaion Politeia 3.3. Mikalson 2016, 58 f.  97  Zu seinen Aufgaben, z.B. bei der Organisation der Choregie und der Wettkämpfe im Rahmen des Dionysos-Kultes Aristoteles, Athenaion Politeia 56.3–5; Demosthenes, Orationes 21.9; Pickard-Cambridge 1988, 58. Auch für die Bereitstellung des Öls von den heiligen Ölbäumen für die Panathenäenwettkämpfe war er zuständig: Athenaion Politeia 60.2 f.  98 Aristoteles, Athenaion Politeia 56.3.  99 S. Aristoteles, Politica 6.1322ab, wo Fürsorge in Bezug auf die göttlichen Angelegenheiten als Hauptaufgabe der Priester erscheint. S. auch Garland 1990, 77; Chaniotis 2008, 17. 100 Priester, die die Polis repräsentieren: Parker 2005a, 98; Lambert 2010, 143; Horster 2012, 170; Mikalson 2016, 56. 101  Vgl. etwa in Supplementum Epigraphicum Graecum 33.115 (250/49 v. Chr) die guten  95 Aristoteles,

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Ihr Wirkungsbereich – und damit ihre religiöse Autorität – war hierbei auf den Kult einer einzelnen Gottheit in einem bestimmten Heiligtum beschränkt.102 Die Göttin Athena wurde etwa auf der Akropolis in unterschiedlichen Tempeln als Athena Polias und als Athena Nike verehrt, die Verantwortung für die Kulthandlungen lag selbst bei derartiger örtlicher Nähe der Heiligtümer bei zwei verschiedenen Priesterinnen.103 Die Inhaber und Inhaberinnen von Priesterämtern bezogen ihre formale Autorität entweder aus dem Bereich der Tradition – wenn es sich nämlich um erbliche Priesterämter handelte, oder aber als abgeleitete Autorität aus ihrer Beauftragung durch die Volksversammlung, die durch Wahl oder Los erfolgen konnte. Die Vorstellung einer Priesterweihe, mittels derer sich religiöse Autorität an bestimmte Personen angelagert hätte, wird in den Quellen der klassischen Zeit für Athen nicht formuliert. Bestimmte Geschlechtergruppen (gene) waren traditionell für einzelne Kulte verantwortlich, wie z.B. die Eteobutadai für den Kult der Athena Polias und des Poseidon Erechtheus oder die Kerykes und Eumolpidai für die Mysterien von Eleusis.104 Entsprechend stammten die Inhaber der zugehörigen Priesterämter aus diesen Verbänden, jeweils auf Lebenszeit berufene Amtsinhaberinnen und Amts­ inhaber folgten hierbei aufeinander.105 Die Übernahme eines derartigen Priestertums konnte sich als ehrenvolle Verpflichtung erweisen, die andere bürgerliche Pflichten zurückzustellen hieß: Ein junger Mann war sogar vom Militärdienst an den Grenzen befreit „wenn ihm ein in seiner Familie tradiertes Priesteramt zufiel“.106 Den Inhabern von erblichen Priesterämtern schrieb man im Vergleich zu ihren Kollegen kein qualitativ andersartiges religiöses Wissen zu.107 Sie verkörperten aber gewissermaßen vor aller Augen ein durch die Tradition besonders Vorzeichen, welche die Aglauros-Priesterin Timokrite durch ihren Sohn dem Rat mitteilen lässt. Hierzu ausführlich Mikalson 2016, 4-6.51. 102  Garland 1984, 75 f.; Flower 2015, 295. 103  Athena Polias: Garland 1984, 91–94; Connelly 2007, 59–64; Blok / Lambert 2009, 105– 109. Athena Nike: Dekret zur Erlosung der Priesterin: Inscriptiones Graecae I3 35 (ca. 448 v. Chr); Garland 1984, 90 f.; Lambert 2010, 153 f.; Mikalson 2016, 125. 104 S. etwa Aristoteles, Athenaion Politeia 24.6 zu Kleisthenes, welcher bei seiner Neuordnung Attikas die Priesterschaften in altüberkommener Weise bestehen habe lassen. Eteobutadai: Blok / Lambert 2009, 102 f.; Garland 1984, 77 f.106; Kerykai und Eumolpidai: Blok / Lambert 2009, 114–119; Lambert 2010, 148; Flower 2015, 295. 105  Allgemein zu sakralen Aufgaben auf Lebenszeit als Überbleibsel aus alter Zeit: Aristoteles, Politica 5.1310b20. Ämter auf Lebenszeit: Horster 2012, 175; Lambert 2012, 69. Zu den Gene ausführlich: Parker 1996, 56–66; zum Vorgehen bei der Bestimmung der Amtsträger im Fall der erblichen Priestertümer s. Blok / Lambert 2009, 96, die ein internes Losverfahren ohne Vorauswahl postulieren. 106  Vgl. Aristoteles, Athenaion Politeia 42.5. Diese Regel lässt nicht auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Priesteramt und Militärdienst schließen. Vor allem sollte wohl die Präsenz des Priesters für seine sakralen Pflichten sichergestellt werden. 107  Auch die Priesterschaft von Eleusis verfügte nicht über exklusives Geheimwissen (das sie mit niemandem geteilt hätte), die Amtsträger hatten vielmehr die Aufgabe, die neu Einzuweihenden in den Kult einzuführen.

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abgesichertes Wissen über das richtige kultische Handeln.108 Ihre religiöse Autorität leitete sich aus der religiösen Tradition ab und stabilisierte diese Tradition gleichermaßen.109 Die Mehrheit der Priesterämter im Athen der klassischen Zeit wurde allerdings durch Wahl oder Los (oder eine Kombination von beidem) besetzt – und war meist auf ein Jahr befristet.110 Da nicht nur die Kulte im unmittelbaren Stadtgebiet Athens zu betreuen waren, sondern auch die der Demen, der lokalen Siedlungen in Attika, betrug die Anzahl der zu vergebenden Posten mehrere Hundert.111 Auch im Fall der Jahrespriestertümer war die mit ihnen verbundene formale Autorität eine abgeleitete, von der Bürgergemeinschaft delegierte Autorität. Voraussetzung für derartige Ämter waren weder spezifische religiöse Ausbildung noch personale ‚spirituelle‘ Autorität.112 Voraussetzung zur Übernahme eines Priesteramts waren vielmehr bürgerliche Geburt und angesehene Abstammung, körperliche Unversehrtheit sowie respektable Lebensführung.113 Sowohl den hohen Beamten, die sakrale Funktionen ausübten, als auch den Priestern standen zahlreiche Helfer zur Seite. Dies konnten Sekretäre sein, die sich etwa der Archon Eponymos und der Archon Basileus nach eigenem Ermessen auswählen durften.114 Daneben delegierten die Volksversammlung und der Rat aber zahllose religiöse Einzelpflichten an weitere Personen und Kollegien, deren Aufgaben von der Ausbesserung der Tempel über die Finanzen einzelner Heiligtümer bis zur Durchführung von Einzelritualen reichen konnten.115 108  Chaniotis 2008, 33. Lambert 2010, 143: die Tradition der gene bis in mythische Zeit zurückgeführt. Vgl. Parker 2011, 44: „the collective expertise of gene-like groups.“ 109  Die T hese von der Demokratisierung priesterlicher Eliten-Autorität in Athen im 5. und 4. Jh. bei Garland 1990, 91. 110  Vgl. zu Wahl oder Erlosung der Priester s. allg. Aristoteles, Politica 4.1299a. Vorwahl und Los: Demosthenes, Orationes 57.46; Garland 1984, 108 f.; Horster 2012, 172 f. Die Erlosung des Priesterinnenamts für Athena Nike: Inscriptiones Graecae I3 35. Jahrespriestertümer seit dem 5. Jh. in Athen üblich: Parker 2011, 49 Anm. 29; zur einjährigen Amtsdauer Horster 2012, 175 f.; Lambert 2012, 70. 111  Parker 2011, 50 schätzt 545 Demenpriester in Attika. Zu den Demenpriestertümern Lambert 2010, 164–169. 112  Vgl. Isokrates, Orationes 2.6 mit der Aussage, Priesterämter seien die wichtigsten Funktionen, die ein Mensch ausüben könne, aber jedermann könne sie ausfüllen. 113 Aristoteles, Politica 7.1329a möchte in der idealen Polis sowohl Händler als auch Handwerker und Bauern vom Priesteramt ausschließen und dieses auf die in Muße nach Tugend strebenden älteren Bürger beschränken. Spezielle religiöse Bildung verlangt er von diesen aber nicht. Bürgerliche Geburt: Connelly 2007, 44; Lambert 2010, 171 f. Zur Respektabilität als Voraussetzung: Aischines, Orationes 1.188; Chaniotis 2008, 22; Parker 2011, 49. In Platons fiktivem Gesetzeswerk soll die entsprechende Überprüfung der Eignung nach der Auswahl der Kandidaten erfolgen: Platon, Leges 759c. Dass dies der realen Methode im klassischen Athen entsprach, ist wahrscheinlich: Garland 1984, 85. 114  Offenbar bestand aber auch ein Verbot für mehrfaches Innehaben eines derartigen untergeordneten Amtes, um Spezialistentum auch auf dieser Ebene zu vermeiden: Lysias, Orationes 30.29. 115 So nennt etwa Aristoteles, Politica 1322b vom unmittelbaren Kult abgesonderte Gruppen, „wie die Hieropoioi, die Naophylakes und die Verwalter des Tempelvermögens“.

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Formale religiöse Autorität im klassischen Athen zeichnet sich nicht nur durch ihre Fragmentierung aus.116 Deutlich erkennbar ist das Bestreben der Bürgerschaft, auch in diesem Bereich die Kontrolle nicht aus der Hand zu geben und die Träger dieser formalen religiösen Autorität als rechenschaftspflichtige Delegierte der Bürgergemeinschaft zu verstehen.117 Über den Verlauf bestimmter Opfer berichteten die mit der Durchführung Beauftragten dem Rat.118 Nach Amtsablauf mussten auch sie sich über ihre Amtsführung rechtfertigen. Im Fall der Beamten, deren Aufgaben nur teilweise die richtige Verehrung der Götter betrafen, war diese Prüfung von vornherein in die magistratische Rechenschaftsablage (euthyne) integriert. Dass der grammateus (Schreiber)119 Nikomachos offenbar jahrelang mit der Redaktion und Aufzeichnung des Festkalenders beschäftigt gewesen war, konnte entsprechend zur Basis von Vorwürfen gemacht werden. Sein Ankläger möchte bei den Richtern den Eindruck erwecken, Nikomachos habe sich der für alle anderen nach einem Jahr üblichen Rechenschaftspflicht entziehen wollen.120 Aber für Priesterinnen und Priester waren ebenfalls Kontrollmechanismen vorgesehen.121 Bei Streitfällen unterlagen auch die Inhaber erblicher Priesterämter der Autorität des von der Gemeinschaft bestellten Archon Basileus.122 Wenn etwa nach den Mysterien regelmäßig eine Ratsversammlung einberufen wurde, um zu klären, ob die Feier regelgerecht durchgeführt worden war, so betraf dies auch und ganz besonders die von den Gene gestellten Amtsinhaber.123 Grundsätzlich wurde S. ebenso Aristoteles, Athenaion Politeia 47.1: Mit dem Rat als Zeugen nehmen die 10 Tamiai der Athena das Götterbild der Athena und die anderen Schätze in Obhut. Aristoteles, Athe­ naion Politeia 50.1 nennt die 10 „Ausrüster der Heiligtümer“; ebd. 54.6 werden „10 Opfer­ bereiter (hieropoioi) für die Sühnopfer erlost“; Aristoteles, Athenaion Politeia 60.1: zehn „Kampfordner“ (athlothetai) zur verwaltungsmäßigen Organisation der Panathenäenprozession inklusive der Bereitstellung des Zubehörs. Zu den einzelnen Beauftragten: Garland 1984, 79, 116–118. Mikalson 2016, 69–74. Die Hieropoioi als Prüfer in Fällen von ordnungswidrigem Benehmen bei Festen: Mikalson 2016, 211. 116  Mikalson 2016, 240 sieht zu Recht das Bestreben „to fragment, not to unify authority“. 117  Die Pflicht zur Rechenschaftsablage für die Archonten ebenso wie für ihre Sekretäre: Aristoteles, Athenaion Politeia 56.1. 118  Kontrolle durchgeführter Opfer: Lambert 2012, 94; Naiden 2015, 467; Mikalson 2016, 84–90; s. oben Anm. 101. 119 Lysias, Orationes 30.2.4.17 etc.: anagrapheus. 120 Lysias, Orationes 30.29: man dürfe nicht einmal das Amt eines „untergeordneten Schreibers“ (προγραμματεῦσαι) zweimal innehaben. Vgl. Lysias, Orationes 30.2–3 die Feststellung, Nikomachos sei 6 Jahre im Amt gewesen und Lysias, Orationes 30.5 dann der Vorwurf, er habe vier Jahre lang keine Rechenschaft abgelegt. Zu den Amtszeiten des Nikomachos (411–404 sowie 403–400/399): Todd 1996, 102–104. 121  Parker 2005a, 98 Anm. 32; Parker 2011, 52 Anm. 37; Lambert 2012, 74. 122  Kontrolle der erblichen Priestertümer: Aristoteles, Athenaion Politeia 57.2. 123  Die Kontrolle der richtigen Durchführung der Mysterien durch Report des Basileus an die Prytanen und besondere Ratssitzung im athenischen Eleusinion: Andokides, Orationes 1.111; hierzu Clinton 1974, 90; Mikalson 2016, 298. Die normgerechte Durchführung der Städtischen Dionysien (die unter der Verantwortung des Archon Eponymos stattfanden) als T hema in der Volksversammlung: Demosthenes, Orationes 21.8 f. mit Pickard-Cambridge 1988, 67.

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spätestens am Ende einer Amtszeit überprüft, ob die Finanzen eines Heiligtums in Ordnung sowie kostbare Weihegaben noch vorhanden waren und ob wertvolles Opfergerät dem Nachfolger oder der Nachfolgerin im Amt ordnungsgemäß übergeben worden war.124 War dies nicht der Fall, waren auch sakrale Amtsträger nicht exempt, sondern der bürgerlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Ihre formale religiöse Autorität stammte nicht „von Gott oder den Göttern“, sondern von den Bürgern und fiel nach Ablauf der Amtszeit an diese zurück. 5.3. Inhalte formaler religiöser Autorität in Athen Als Träger unmittelbarer religiöser Autorität diskutierten Volksversammlung und Athener Bürgergerichte keine theologischen Aussagen mit dem Ziel, diese für die Bürgergemeinschaft als verbindlich zu erklären. In gewissen grundsätzlichen Fragen setzte man allerdings Übereinkunft voraus. In der Volksversammlung stimmte man entsprechend nicht über die Frage ab, ob die Götter existierten, sondern über die richtigen Formen, sie zu verehren.125 Von Mitbürgern, die sich zu Beamten der Stadt wählen ließen, wurde erwartet, dass sie auch mit dem Amt verbundene religiöse Pflichten, etwa bestimmte Opfer darzubringen, wahrnahmen. Vor einem Athener Bürgergericht wurden ebenfalls nicht vordringlich theologische Inhalte verhandelt. Das religiöse Verhalten des Einzelnen konnte aber in die Gestaltung von Anklagereden zu diversen Vergehen einfließen und die Haltung der Laienrichter beeinflussen. Über das richtige religiöse Verhalten – und das konnte gelegentlich auch religiöse Inhalte betreffen, wenn der Angeklagte diese offensiv nach außen getragen hatte – entschieden die Bürgergerichte als Repräsentanten der Bürgergemeinschaft, wenn sie etwa in Asebieprozessen über religiöse Verstöße urteilten. Auch delegierte religiöse Autorität lässt sich im Klassischen Athen inhaltlich zunächst charakterisieren durch das, was man von ihren Vertretern nicht erwartete: Mit der Übernahme der jeweiligen amtlichen Aufgabe ging keine Zuschreibung besonderer spiritueller Autorität einher.126 Entsprechend war formale religiöse Autorität nicht verbunden mit der Pflicht, den Mitbürgern theologische 124  Im Falle von Verstößen bei erblichen Priestertümern war das ganze Genos verantwortlich. S. Aischines, Orationes 3.18: „Zum Beispiel befiehlt das Gesetz, dass Priester und Priesterinnen der Kontrolle unterworfen sind, alle miteinander und jeder einzelne für sich – Personen, die nur Vergünstigungen erhalten, und deren Aufgabe es ist für euch zu den Göttern zu beten. Und sie werden nicht nur als einzelne verantwortlich gemacht, sondern ganze priesterliche Gene gemeinsam, die Eumolpiden, die Keryken und alle anderen (οἷον τοὺς ἱερέας καὶ τὰς ἱερείας ὑπευθύνους εἶναι κελεύει ὁ νόμος, καὶ συλλήβδην ἅπαντας καὶ χωρὶς ἑκάστους κατὰ σῶμα, τοὺς τὰ γέρα μόνον λαμβάνοντας καὶ τὰς εὐχὰς ὑπὲρ ὑμῶν πρὸς τοὺς θεοὺς εὐχομένους, καὶ οὐ μόνον ἰδίᾳ, ἀλλὰ καὶ κοινῇ τὰ γένη, Εὐμολπίδας καὶ Κήρυκας καὶ τοὺς ἄλλους ἅπαντας).“ Überprüfung der Finanzen am Ende der Amtszeit bei allen Priestern: Garland 1984, 79; Naiden 2013, 210 f.; Mikalson 2016, 123. 125 S. Martin 2016, 285: „T heological debate about the gods seems unlikely“. 126  Garland 1990, 81.

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Fragen oder gar in göttlichem Auftrag moralische Forderungen zu erläutern: Der Archon Basileus ‚predigte‘ nicht in der Volksversammlung, und die Priesterin der Athena trat nicht als religiöse Spezialistin bei Asebieprozessen vor Gericht auf. Auf religiöse Verstöße von Mitbürgern konnten die Inhaber religiöser Ämter die Bürgerschaft hinweisen oder auch einschlägige Prozesse anstrengen. Dies taten sie aber – mit Ausnahme der Archonten – nicht qua Amt, sondern als rechtsfähige Bürger.127 Spezialwissen brachte den Delegierten nicht automatisch Prestige ein, das Gegenteil konnte der Fall sein. Stephen Todd hat herausgestellt, es sei wohl kein Zufall, dass der Ankläger des Nikomachos dessen Expertentum negativ vermerkt und gleichzeitig Nikomachos’ Bürgerrecht in Zweifel zieht, indem er ihn sklavischer Herkunft zeiht. Jahrelange Beschäftigung mit einem Gegenstand schürte nicht nur den Verdacht, jemand habe sich der jährlichen Rechenschaftspflicht unter Bürgern entziehen wollen.128 Spezialwissen habe die demokratische Polis Athen außerdem als potentielle Grundlage für den Erwerb einer unzulässigen Machtposition eingeschätzt und deshalb an Sklaven ausgelagert, die politisch keine Rolle spielten.129 Die formale Autorität der religiösen Beauftragten war auf andere Inhalte bezogen. Die Inhaber von Priesterämtern waren für die Aufrechterhaltung der Ordnung in dem (und nur in dem) Heiligtum zuständig, für das sie ernannt worden waren. Sie konnten etwa – mithilfe von weiterem Tempelpersonal, das ihnen zugewiesen war – unrechtmäßig Eintretenden den Zugang verwehren, nicht berechtigte Personen am Opfer hindern, verunreinigendes Verhalten verhindern oder die private Aufstellung von Weihgeschenken regulieren.130 Analog oblag es der formalen Autorität der zuständigen Beamten ebenfalls mit Hilfspersonal den angemessen ruhigen und würdigen Ablauf der städtischen Prozessionen und der Wettkämpfe für die Götter zu gewährleisten. Die Inhalte formaler religiöser Autorität beschränkten sich im klassischen Athen also überwiegend auf den repräsentativen Vollzug der traditionellen Rituale oder aber auf die Sicherstellung dieses Vollzugs.

6. Personale religiöse Autorität im klassischen Athen Gab es aber nun neben traditionaler und formaler religiöser Autorität auch Handlungsräume für personale religiöse Autorität? Zog man für die Regelung des Verhältnisses zwischen Göttern und Menschen auch ‚Autoritäten‘ mit besonderem Wissen und Können oder religiöse Charismatiker heran, mit denen die Bürger127 

Garland 1990, 78. Orationes 30.27 f. 129  Todd 1996, 115. 130  Vgl. den Fall der Athenapriesterin, die dem Spartanerkönig Kleomenes die Durchführung eines Opfers auf der Akropolis verweigert: Herodot 5.723 f. Hilfspersonal für Priester und Priesterinnen: Flower 2015, 296. 128 Lysias,

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schaft eine asymmetrische Beziehung einging und deren Autorität sie sich unterwarf? Wie reagierte die Bürgergemeinschaft auf Individuen, die – unabhängig von einem von der Polis zugewiesenen Amt, also ohne von der Polis formal „autorisiert“ zu sein – personale religiöse Autorität beanspruchten oder sich selbst zuschrieben? 6.1. Personale religiöse Autorität und religiöse Lehren Grundsätzlich ließ sich ein Bedürfnis nach personaler religiöser Autorität im Bereich privater Kulte und Kultvereine ausleben. Auch im klassischen Athen war es grundsätzlich möglich, einen Privatkult oder Kultverein zu gründen und diesen nach intern gültigen Regeln zu organisieren, solange dies weder unberechtigte Ansprüche auf Grund und Boden, Kosten für die Allgemeinheit oder normwidriges Handeln nach sich zog.131 ‚Religiöse Lehrer‘, die personale Autorität aus der Vermittlung religiöser Lehren bezogen hätten, hatten hingegen keinen festen Platz in der Religion der griechischen Polis. Dies gilt auch für das klassische Athen. Zeitgenössische Dichter oder philosophische Denker, die sich in Vortrag oder geschriebenem Wort mit dem Kosmos inklusive der Götter befassten, strebten nach Erfolg bei der Bürgerschaft, ihre primäre Absicht war aber nicht die Erringung personaler religiöser Autorität.132 Die Wettkämpfe von Rhapsoden, die Teile der Homerischen Epen vortrugen, oder die dramatischen Wettkämpfe fanden in Athen anlässlich religiöser Feste statt – um die Götter zu ehren und das Publikum zu erfreuen –, die hierfür gestalteten und vorgetragenen Dichtungen dienten aber nicht zielgerichtet der religiösen Unterweisung der Bürger.133 Träger formaler religiöser Autorität konnten an der Organisation der Veranstaltungen beteiligt sein, wie etwa der Archon Eponymos, welcher die Zusammenarbeit von Dichtern, Choregen, Musikern und Chören bei den dramatischen Wettkämpfen für Dionysos zu organisieren hatte.134 Es war aber nicht vordringlich Aufgabe des Archons, die vorgelegten ­Stücke inhaltlich auf religiöse Zulässigkeit zu prüfen.135 Letztlich zeigte das Urteil 131  Beispiele für erhaltene, private Regelwerke zur Organisation privater Kultgruppen: Mikalson 2016, 151–153. Platons Skepsis gegen Privatkulte, die er verbieten lassen möchte: Platon, Leges 909d–e. Zur Möglichkeit privater Kulte, die aber unter potenzieller Kontrolle der Volksversammlung und der Bürgergerichte stehen: Price 1999, 78; ebenso Parker 1996, 7: „no act, howsoever private, was exempt, it seems, from the possibility of being arraigned as ‚impious‘.“ 132  Sie konnten aber bei der Präsentation ihrer Erklärungsmodelle mit Vertretern personaler Autorität in Konkurrenzsituationen geraten: s. Plutarch, Pericles 6 zum Streit zwischen Anaxagoras und dem Seher Lampon. 133  Die Bedeutung Hesiods und Homers (als Vertreter früherer Generationen und nicht aus Athen stammend) für die religiöse Tradition war anerkannt (Herodot 2.53), ihre dichterische Autorität konnte aber jederzeit herausgefordert werden. Zum Verhältnis von Dichtung und Religion s. Gagné 2015. 134 S. oben Anm. 97. 135  Die Auswahl der jeweils drei am tragischen Agon beteiligten Dichter oblag dem Ar-

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der Wettkampf-Jury, ob ein Dichter den Nerv des bürgerlichen Publikums getroffen hatte und ob – neben aufwendiger Ausstattung und dramatischer Gestaltung des mythologischen Plots – auch das Bild, das der Dichter von den Göttern zeichnete, überzeugend schien und Beifall fand.136 Zu den Personen, deren ‚Lehren‘ in Athen sichtbar wurden, gehörten die Vertreter philosophischer Konzepte. Auch diese strebten wohl nicht dezidiert nach personaler religiöser Autorität, sondern nach Anhängern. Wer aber, wie z.B. die Naturphilosophen, individuelle Vorstellungen über den Kosmos entwickelte, der konnte sich mit der Frage konfrontiert sehen, welchen Platz im jeweiligen Konzept die Götter einnahmen. Lautete die Antwort auf diese Frage im Einzelfall allzu skeptisch – etwa dass man nicht wissen könne ob es Götter gäbe (Protagoras) oder dass Sonne und Mond keine Götter seien (Anaxagoras) –, so konnte das öffentliche Kundtun dieser Meinung ihren Vertreter in Konflikt nicht in erster Linie mit den formalen religiösen Autoritäten, sondern mit der Bürgerschaft bringen und gelegentlich gar einen Prozess auslösen.137 Platon legt Sokrates im Dialog Euthyphron die Aussage in den Mund, die Athener kümmerten sich nicht um Personen, auch wenn sie diese für furchtbar (deinos) hielten, solange diese nur nicht „lehrlustig“ seien mit ihrer Weisheit.138 Auftritte von Individuen, die sich selbst personale religiöse Autorität zuschrieben, indem sie zum einen vom ‚Mainstream‘ abweichende ‚religiöse Vorstellungen vertraten und zum anderen diese an den Nachwuchs der Polis weitergaben oder weiterzugeben schienen, konnten den Polisbürgern als nicht wünschenswert oder gar gefährlich erscheinen. Der kaiserzeitliche Autor Plutarch überliefert in seiner Vita des Perikles die Anekdote von einem Chresmologen namens Diopeithes.139 chon Eponymos: Zimmermann 1986, 16. Über die Auswahlkriterien liegen keine Nachrichten vor: Pickard-Cambridge 1988, 84. Möglicherweise lasen die Dichter dem Archon einen Teil des Stückes vor (ebd.). Platon möchte in seinem fiktiven Gesetzesentwurf die Texte der Dichter kontrolliert sehen: Platon, Leges 7.817d: „In Wahrheit, sowohl wir selbst als auch der ganze Staat wären völlig verrückt, würden wir euch erlauben, das zu tun, wovon die Rede ist, bevor die Beamten entschieden haben, ob oder ob nicht eure Werke es verdienen aufgeführt zu werden und passend dafür sind, sie in der Öffentlichkeit vorzutragen (τελέως ἡμεῖς τε καὶ ἅπασα ἡ πόλις, ἡτισοῦν ὑμῖν ἐπιτρέποι δρᾶν τὰ νῦν λεγόμενα, πρὶν κρῖναι τὰς ἀρχὰς εἴτε ῥητὰ καὶ ἐπιτήδεια πεποιήκατε λέγειν εἰς τὸ μέσον εἴτε μή).“ 136 Der Rat als Gremium, welches die Auswahlliste für Richter bei den musischen und dramatischen Agonen vorbereitet: Isokrates, Orationes 17.33 f.; zu den Richtern auch Pickard-Cambridge 1988, 95–98. Dass die Jury in ihrem Urteil auch von der Reaktion des Publikums („uproar of the crowd“) beeinflusst wurde, deutet Platon, Leges 2.659a an. 137  Vgl. zu einschlägigen Vertretern der Naturphilosophie, etwa Anaxagoras und Protagoras: Plutarch, Nikias 23; Plutarch, Pericles 31.1; Diogenes Laertios 2.3.8 f.; zum Prozess des Anaxagoras Diogenes Laertios 2.3.12 f. Zur Diskussion um die Historizität der für das 5. Jh. bezeugten Prozesse, deren Quellenbasis überwiegend nicht zeitgenössisch ist, und die von späteren Quellenautoren nach dem Sokratesprozess modelliert worden sein könnten: Price 1999, 127; Bowden 2015, 326. Vorsichtig auch Parker 2005b, 66, der (im Fall ihrer Historizität) die politischen Aspekte derartiger Prozesse z.B. gegen Anaxagoras betont. 138 Platon, Euthyphron 3cd. 139 Plutarch, Pericles 32.1: καὶ ψήφισμα Διοπείθης ἔγραψεν εἰσαγγέλλεσθαι τοὺς τὰ θεῖα

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Dieser brachte angeblich kurz vor dem Peloponnesischen Krieg einen Antrag in die Volksversammlung ein, dass „diejenigen, die das Göttliche nicht anerkennen […] oder die über die Dinge in der Luft lehren“ angeklagt werden sollten. Ob und, wenn überhaupt, wie lange ein derartiges Dekret Gültigkeit besaß, ist unklar; im Prozess gegen Sokrates bezogen sich die Ankläger jedenfalls nicht darauf, sondern brachten eine graphe wegen asebeia ein.140 Trotzdem haben die Vorwürfe gegen Sokrates ihren Platz in diesem Kontext. Sokrates soll behauptet haben, in Kontakt mit einem persönlichen daimonion zu stehen und einer besonderen göttlichen Stimme zu gehorchen.141 In Folge hielt man ihm nach Aussage der erhaltenen Quellen vor, neue Götter einzuführen und vor allem nicht die gleichen Götter zu verehren, die die Polis verehrte, d.h. also bestimmten traditionellen Göttern der Polis die Verehrung zu verweigern.142 Dass sich aus dieser angemaßten personalen religiösen Autorität – verbunden auch noch mit der Ansage an seine Schüler, es sei besser, ihm zu gehorchen als den eigenen Vätern143 – der Vorwurf ergab, er verderbe die Jugend, war nur logisch. Personale religiöse Autorität, im Sinne persönlicher Überzeugungskraft oder der Selbstzuschreibung besonderen Wissens, spielte zwangsläufig dann eine Rolle, wenn Individuen versuchten, ein Gegenüber von der Bedeutung eines religiösen Angebots zu überzeugen. Dies konnte der Fall sein, wenn etwa für private Mysterien-T hiasoi geworben wurde oder wenn Privatleuten bestimmte religiöse Dienstleistungen angeboten wurden.144 Zu diesen zählten auch ‚magische‘ Prakμὴ νομίζοντας ἢ λόγους περὶ τῶν μεταρσίων διδάσκοντας, ἀπερειδόμενος εἰς Περικλέα δι᾽ Ἀναξαγόρου τὴν ὑπόνοιαν. S. auch Platon, Apologia Socratis 23d. Die Echtheit dieses ­Dekrets ist in der Forschung umstritten: Bowden 2003, 268 f.; Flower 2008a, 124; Parker 2011, 37; Mikalson 2016, 129. 140  Bowden 2015, 325. Auf die Gesamtproblematik der historischen Umstände des Sokrates-Prozesses einzugehen ist hier nicht der Platz, dass der Vorwurf der Anmaßung personaler religiöser Autorität aber eine Rolle spielte, sei an dieser Stelle vertreten. Zur Diskussion um den Sokrates-Prozess s. Bowden 2015, 334–336, s. auch Trampedach 2015, 277–281. 141 Zum daimonion: Platon, Apologia Socratis 24cd; Platon, Euthyphron 3b; Xenophon, Apologia 12. Zur Anstößigkeit des Konzepts überzeugend Trampedach 2015, 277 f. 142  Zu den Vorwürfen gegen Sokrates s. oben Platon, Euthyphron 3b und auch Platon, Apologia Socratis 24bc; Xenophon, Apologia 10; Xenophon, Memorabilia 1.1.1; Diogenes Laertius 2.38; 2.40. In Athen existierte kein Gesetz, das es ausdrücklich verboten hätte, „neue Götter einzuführen“, aber, wie Parker 2005b, 55 richtig feststellt, „to have introduced the wrong ones in the wrong circumstances might form an item in an indictment of impiety.“ 143 Xenophon, Memorabilia 1.2.49. 144  Die Breite des Angebots zeigt sich am Beispiel des ‚Abergläubischen‘ in T heophrasts Charakteren (T heophrastos, Characteres 16.11A–11): „Um sich einweihen zu lassen, geht er jeden Monat zu den Orpheuspriestern mit seiner Frau, und hat die Frau keine Zeit, mit der Amme und den Kindern. Hat er geträumt, geht er zu den Traumdeutern, den Wahrsagern, den Vogelschauern, um sie zu fragen, zu welchem Gott oder welcher Göttin zu beten sei (καὶ τελεσθησόμενος πρὸς τοὺς Ὀρφεοτελεστὰς κατὰ μῆνα πορεύεσθαι μετὰ τῆς γυναικὸς, ἐὰν δὲ μὴ σχολάζῃ η γυνή, μετὰ τῆς τίτθης,καὶ τῶν παίδων καὶ ὅταν ἐνύπνιον ἴδῃ, πορεύεσθαι πρὸς τοὺς ὀνειροκρίτας, πρὸς τοὺς μάντεις, πρὸς τοὺς ὀρνιθοσκόπους, ἐρωτήσων, τίνι θεῶν ἢ θεᾷ εὔχεσθαι).“ Vgl. Dickie 2001, 60–74; Flower 2015, 299 f.

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tiken.145 Ohne persönliche Ausstrahlung dürften auch die auswärtigen Vertreter bestimmter Kulte, die offenbar an den Haustüren für ihre Gottheit Spenden sammelten, nicht erfolgreich gewesen sein.146 Dass derartige Träger personaler religiöser Autorität sich organisierter staatlicher Kontrolle weitgehend entzogen, rief ein latentes Misstrauen der Bürgerschaft hervor, und führte gelegentlich zu negativer Reaktion auf sie. 6.2. Legitimierte personale religiöse Autorität Unter bestimmten Umständen war aber auch im klassischen Athen personale religiöse Autorität gefragt. Für die Kommunikation mit den Göttern konnten entweder besondere persönliche Fähigkeiten oder besonderes Spezialwissen erforderlich sein. Im Gegensatz zu den mit formaler Autorität ausgestatteten religiösen Ämtern, ließen sich Kompetenzen nicht „erlosen“.147 Die Träger solcher potentieller personaler Autorität begegnen in den Quellen unter verschiedenen Bezeichnungen, die sich nicht immer scharf voneinander abgrenzen lassen,148 z.B. als Exegeten (Ausleger), Chresmologen (Orakelsprecher) und Manteis (Seher). 6.2.1. Religiöse Ausleger? Exegeten in Athen Angesichts der Bedeutung des Begriffs Exegese als gelehrte Auslegung von Texten in Buchreligionen wie Judentum und Christentum hat die gelegentliche Nennung von exegetai in den griechischen Quellen das besondere Interesse der modernen Forschung hervorgerufen.149 Waren Exegeten also in Athen Personen, denen man womöglich aufgrund ihrer textbezogenen Gelehrsamkeit und Bildung personale religiöse Autorität zugestand? Die Bezeichnung ‚Exegeten‘ (übersetzbar als Führer, Ratgeber, Regelschreiber150) ist nicht vor dem frühen 4. Jh. v. Chr. in Athen bezeugt und wird erstmalig in Platons Dialog Euthyphron sichtbar, dessen Handlung von ihm im Jahr 399

145  Vgl. Graf 1996, 36: Beschwörungen für sich genommen waren in Athen nicht von vornherein strafbar, rechtlich vorgegangen wurde aber in Athen gegen schädliche Folgen von ‚Zauberei‘. Zur rechtlichen Reaktion der Athener auf ‚magische‘ Spezialisten, Dickie 2001, 49–54; Parker 2005b, 67. Siehe z.B. die Prozesse gegen mehrere Frauen (T heoris, Ninon und Phryne) in der Mitte des 4. Jh.: hierzu ausführlich Eidinow 2016. 146  Zu diesen zählten etwa die Priester der Meter, die Metragyrtai: Dickie 2001, 65–67. 147  Technisches Können der Seher: Flower 2015, 297. 148  Es besteht das Problem der Abgrenzung der Begrifflichkeit: In den Quellen tauchen gelegentlich die gleichen Personen unter verschiedenen Funktionsbezeichnungen auf. So wird etwa der Seher Lampon auch Exeget genannt: Eupolis, Fragmente 319; Scholion zu Aristo­phanes Nubes 332b. Entweder war es also möglich, sakrale ‚Autorität‘ in mehrfacher Hinsicht zu sein (vgl. Parker 2005a, 111 Anm. 77: „which is quite possible“), oder aber die Bezeichnungen waren nicht trennscharf (s. auch unten Anm. 195 und 196). 149  Jacoby 1949, 8–51; Oliver 1950, 24–52; Garland 1984, 82 f.114; Price 1999, 70. 150  Breite Bedeutung des Begriffs: Nilsson 1950, 422 f.; Oliver 1950; Clinton 1974, 90 f.

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angesetzt wird.151 Die exegetai erscheinen dort wie auch in den anderen Textbelegen als Spezialisten für den Umgang mit Verunreinigung, die man mit Todesfällen oder den Toten verknüpft. Privatleute konnten offenbar nach einem Totschlag oder Mord im Bekannten- oder Verwandtenkreis die Meinung des oder der Exegeten einholen, „was zu tun wäre“.152 Auch in seinen fiktionalen Gesetzesentwurf für den idealen Staat bringt Platon die Exegeten als Autoritäten (kyrioi) ein, die über den unmittelbaren Umgang mit den Leichen der Verstorbenen entscheiden sollen, aber bereits beim Aufwand für das Begräbnis nicht mitzureden haben.153 Bezeichnenderweise handeln die bekannten Fälle, in denen Exegeten zu Rate gezogen wurden, stets in privaten Kontexten; auf die Verhandlung eines Tötungsfalls vor Gericht hatten die Exegeten keinen Einfluss.154 Die Rolle der Exegeten als eines bestenfalls beratenden, aber nicht entscheidungsbefugten Spezialistengremiums wird in der Reaktion der Klienten deutlich. Im platonischen Euthyphron kommt der ausgesandte Bote zu spät zurück, als dass die von den Exegeten eingeholte Antwort noch eine Rolle spielen könnte. Der Kläger bei Demosthenes befragt zwar zunächst die Exegeten, holt aber dann noch weitere Meinungen ein und richtet sich schließlich nach diesen letzteren.155 Platon möchte ihnen in den Nomoi zwar Autorität zugestehen, wenn es um Reinheit bei Todesfällen geht, beschränkt ihre Autorität aber strikt auf diesen Punkt.156 Ob die Exegeten sich bei ihren Auskünften auf ein schriftlich niedergelegtes Regelwerk beriefen, wie sie sich rekrutierten und wo man sie bei Bedarf finden konnte, bleibt für Athen weitgehend unklar. Neben diesen möglicherweise von der Bürgerschaft bestätigten Exegeten157 begegnen zwei weitere Kontexte, in denen von Auslegern und Auslegung die Rede ist: In Athen scheint es seit dem späten 5. Jh. ‚pythische Exegeten‘ gegeben zu haben, die vielleicht aus einer Vorschlagliste direkt vom Delphischen Orakel ausgewählt und eventuell nach der Einholung delphischer Orakel befragt Vgl. die T hese bei Oliver 1950, 37–42, das Amt der staatlichen exegetai sei erst im Kontext der Kalenderaufzeichnungen des Nikomachos geschaffen worden. 152  Ratschlag der Exegeten bei Totschlag: Platon, Euthyphron 2.4b. Vgl. auch den Tötungsfall bei Demosthenes, Orationes 47.68–71. Der Rat des Exegeten beim Begräbnisritual: Isaios, Orationes 8.39. 153 Platon, Leges 12.958d: „Wie männliche oder weibliche Tote zu behandeln sind, welche göttlichen Riten für die Götter der Unterwelt oder dieser Welt zu vollziehen sind, das soll von den Exegeten als zuständigen Autoritäten gesagt werden (περὶ τελευτήσαντας δή, εἴτε τις ἄρρην εἴτε τις θῆλυς ᾖ, τὰ μὲν περὶ τὰ θεῖα νόμιμα τῶν τε ὑπὸ γῆς θεῶν καὶ τῶν τῇδε, ὅσα προσήκει τελεῖσθαι, τοὺς ἐξηγητὰς γίγνεσθαι κυρίους φράζοντας)“. S. auch Platon, Leges 8.828b, wo die Exegeten in einem Atemzug mit den Priestern und Priesterinnen sowie den Sehern (manteis) genannt – und von ihnen unterschieden werden. 154  Garland 1990, 81. 155 Demosthenes, Orationes 47.68–71. 156  Zu Exegeten, die in Kos den Antrag stellen, Reinheitsregeln zu kodifizieren: Parker 2011, 45. Zur begrenzten faktischen Autorität der exegetai: Garland 1984, 82. S. auch Parker 2005a, 90: „unenforcable advice“ der Exegeten. 157  Oliver 1950, 37–42 geht von vom Demos ernannten Exegeten aus; s. auch Price 1999, 70: „officially appointed“. 151 

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wurden.158 Daneben gestand man offenbar dem Genos der Eumolpiden zu, „ungeschriebene Gesetze“ bezüglich der Mysterien von Eleusis auszulegen.159 Clintons T hese, angesichts zahlreicher Fremder, die sich in die Mysterien einweihen lassen wollten und denen man die Regeln erklären musste, habe sich hier eine Institution in Gestalt vom Genos benannter Ansprechpartner entwickelt, erscheint einleuchtend.160 Insgesamt bewegten sich die als exegetai bezeichneten Personen offenbar im Rahmen dessen, was der Bürgerschaft als zulässig und legitim erschien: Sie berieten im Rahmen ihres begrenzten Spezialwissens, und man konnte ihrem Rat folgen. Dass die Rolle der Exegeten als allgemeine Spezialisten für Zeichendeutung (miss-)verstanden werden konnte, macht im 4. Jh. T heophrast in seiner Beschreibung des Abergläubischen deutlich.161 Der Abergläubische sucht die Exegeten auf, um die göttliche Botschaft zu verstehen, die in einem von Mäusen angefressenen Mehlsack liegt.162 Aber selbst dieser Übereifrige glaubt es letztlich selbst besser zu wissen, als die zunächst von ihm befragten Spezialisten. 6.2.2. Orakel, Chresmologen und Seher Gründeten religiöse Spezialisten wie die Exegeten ihre personale religiöse Autorität beim anfragenden Publikum auf besonderes rituelles Wissen, so schrieben sich Orakel, Chresmologen (Orakelsammler) sowie einzelne Seher besondere Fähigkeiten zu, den Willen der Götter zu erkunden und entsprechend Entscheidungshilfe erteilen zu können. Im Unterschied zu anderen griechischen Poleis besaßen die Athener kein eigenes Orakelheiligtum. Entsprechend gab es dort keine Personen, die etwa in Verbindung mit einem derartigen Heiligtum personale religiöse Autorität hätten 158 S. die jeweils stark ergänzten Inschriften Inscriptiones Graecae I3131.9–11 und I3 137.3–5. Die genauen Aufgaben dieser Exegeten sind unbekannt: Bowden 2005, 130. Vgl. Garland 1984, 81, 116; Garland 1990, 89; Parker 2005a, 106. Vgl. auch den Vorschlag Platons in id., Leges 6.759c: „Aus Delphi aber soll man Gesetze über das ganze Religionswesen holen und für sie Ausleger bestellen und sie befolgen (ἐκ Δελφῶν δὲ χρὴ νόμους περὶ τὰ θεῖα πάντα κομισαμένους καὶ καταστήσαντας ἐπ᾽ αὐτοῖς ἐξηγητάς, τούτοις χρῆσθαι).“ Ob Platons Idee von den Aufgaben zeitgenössischer Exegeten im klassischen Athen inspiriert war oder ob er selbsttätig eine passende Aufgabe für ein so benanntes Gremium entwickelte, ist unklar. Platons Vorschlag, man möge die religiösen Regeln für eine Polis aus Delphi holen, und sie dann jeweils durch (pythische?) Exegeten auslegen lassen, passt vortrefflich in die Tendenz dieses Autors, private personale Autorität möglichst einschränken zu wollen. 159 Lysias, Orationes 6.10; Andokides, Orationes 1.115. Beschränkung dieser Exegeten auf den Kult im Eleusinischen Heiligtum: Parker 2005a, 90; Mikalson 2016, 133. 160  Clinton 1974, 90 f.; 1980, 285. 161  Dillery 2005, 171. 162  T heophrastos, Characteres 16.6: „Wenn eine Maus einen Mehlsack angefressen hat, geht er zum Zeichendeuter (Exegeten) und fragt was zu tun sei, und antwortet dieser, er solle ihn beim Sattler flicken lasen, so achtet er nicht darauf, sondern kehrt heim und bringt ein Opfer dar (καὶ ἐὰν μῦς θύλακον ἀλφίτων διαφάγῃ, πρὸς τὸν ἐξηγητὴν ἐλθῶν ἐρωτᾶν, τί χρὴ ποιεῖν, καὶ ἐὰν ἀποκρίνηται αὐτῷ ἐκδοῦναι τῷ σκυτοδέψῃ ἐπιρράψαι, μὴ προσέχειν τούτοις, ἀλλ´ ἀποτραπὲις ἐκθύσασθαι).“

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aufbauen und nutzen können, um auf die Bürgerschaft Einfluss zu nehmen. Orakelautorität wurde in Athen von auswärts importiert: Wenn die Polis Athen eines Orakelspruchs zu bedürfen glaubte, wandte man sich vor allem an Delphi.163 Die Entscheidung ob ein Orakel angefragt werden sollte, die Benennung der Gesandten und nach deren Rückkehr die Verlesung des Spruches sowie die Beratung darüber, ob man dem Spruch Folge zu leisten gewillt war, fand allerdings in der Volksversammlung statt.164 Entsprechend war die Einholung eines Orakelspruchs weder für die jeweilige delphische Pythia (die im Auftrag des Gottes, nicht aus eigener Macht und nur auf Anfrage sprach) noch für die beteiligten Gesandten eine Möglichkeit, eigenständige personale Autorität aufzubauen oder vor den anderen Bürgern zu demonstrieren. Einzelnen Athener Bürgern war es unbenommen, private Fragen an auswärtige Orakel zu richten. Auf diese Weise erhaltene Orakelsprüche steigerten aber weder die personale religiöse Autorität des Empfängers, noch beeindruckte ihre Präsentation die Volksversammlung oder gar ein Athener Bürgergericht.165 An den Orakelheiligtümern tätiges Personal war – wie städtische Priester – an einen bestimmten Kult und ein bestimmtes Heiligtum gebunden. Daneben gab es aber in griechischen Städten noch andere, örtlich ungebundene Spezialisten (und gelegentlich auch Spezialistinnen), die den Anspruch auf besonderes Wissen um die Kommunikation mit den Göttern erhoben. Diese werden in den Quellen als Chresmologen und als Seher (Manteis) bezeichnet. Trennt man diese zwei Formen des Spezialistentums voneinander, so waren Chresmologen idealiter Sammler und Besitzer von schriftlichen Orakelsammlungen.166 Seher hingegen deuteten Zeichen, von denen man annahm, dass sie eine Botschaft der Götter enthielten oder dass sich in ihnen die Haltung der Götter zu einem bestimmten Vorhaben abzeichnete.167 Dies geschah technisch vor allem im Rahmen von Schlachtopfern, 163  Vgl. bereits die Auswahl der Phylenheroen durch die delphische Pythia: Aristoteles, Athenaion Politeia 21.6. Die Vorstellung, die Anleitung für bestimmte kultische Bräuche in Athen habe man sich seinerzeit vom delphischen Apollon oder vom Orakel von Dodona zumindest bestätigen lassen, bei Demosthenes, Orationes 21.51. S. auch in Platons Staat (De re publica 4.427c) die Rolle, die der Philosoph dem delphischen Orakel und Apollon als traditionellem exegetes zuschreiben möchte. S. auch oben Anm. 158. Zur legitimierenden Funktion von Orakeln, die im Normalfall rieten, „kata ta patria“ vorzugehen: Demosthenes, Orationes 21.51–56, [Anaximenes], Rhetoric to Alexander 4 und Martin 2016, 289 Anm. 18. Zum Verschwinden ‚politischer‘ Anfragen der Athener in Delphi nach den Perserkriegen s. Price 1999, 74; Trampedach 2015, 258 f.; zur bleibenden Bedeutung für rituelle Fragen, etwa bei der Einholung des Orakels über das heilige Land der eleusinischen Göttinnen: Bowden 2005, 88–95; Mikalson 2016, 138. 164  Garland 1990, 90; Parker 2005b, 62. 165  Parker 2011, 42; vgl. auch Scheer 2018, 46 f. und Martin 2016, 291, der betont, es seien keine Orakel zur internen Jurisdiktion eingeholt worden. 166  Parker 2011, 46. S. aber auch die Analyse von Bowden 2003, 261, der aus den Quellen drei Betätigungsfelder für Chresmologen herausarbeitet: Sie könnten als spontane Propheten eigener Orakel, Sammler und Editoren von fremden Orakeln sowie schließlich als Interpreten von Orakelsprüchen auftreten. 167  Zu den Sehern s. unten S. 47–48.

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traditionell konnten Seher aber auch für die Deutung anderer Auffälligkeiten wie z.B. Vogelzeichen herangezogen werden. Schriftliche Orakelsammlungen sind schon für das archaische Athen bezeugt. Von den Tyrannen des 6. Jh. hieß es, sie hätten auf der Akropolis Orakelsprüche gehortet, die auf personale religiöse Autoritäten alter Zeit wie z.B. Musaios oder Bakis zurückgehen sollten.168 Die traditionale Autorität derartiger schriftlicher Orakelsammlungen war in Athen aber schon seit vordemokratischen Zeiten angeschlagen. Onomakritos, der Chresmologe der Peisistratiden war in flagranti beim Einfügen von Orakelsprüchen in die Sammlung des Musaios ertappt worden.169 Mit Orakelsammlungen zu hantieren und das eigene Spezialwissen Privatleuten anzubieten, stand in Athen offenbar jedermann offen:170 Aristophanes nahm in seinen Komödien den Versuch von Chresmologen aufs Korn, sich durch Besitz, Kenntnis und Verwendung von alten Orakelspruchsammlungen personale und religiös verbrämte Autorität anzumaßen.171 Aristophanes´ Scherze über die Gefräßigkeit von Sehern und Chresmologen machen darüber hinaus deutlich, dass derartigen Spezialisten stets ein ausgeprägtes Eigeninteresse unterstellt wurde.172 Auch für Seher gab es keine spezifische Ausbildung. Häufig gründeten diese Spezialisten ihre Reputation auf eine Verbindung von traditionaler und personaler religiöser Autorität. Sie wollten etwa aus einer alten Seherfamilie stammen – die sich am besten auf einen bekannten Seher aus mythischer Zeit zurückführte. Damit hatte man besondere Begabung und personale Autorität gewissermaßen durch Blutsbande ererbt.173 Das Spezialwissen der Seher im Bereich der Zeichendeutung konnte gelegentlich auch durch Schriftlichkeit unterstützt sein, wenn jemand etwa die Aufzeichnungen eines anderen Sehers geerbt oder erhalten hatte.174 Derartige Schriften wurden allerdings nicht demonstrativ zugänglich gemacht, geschweige denn anderen zur ‚Auslegung‘ anvertraut. Es konnte nicht im Interesse von Spe168  Herodot 5.90.2. Vgl. Henrichs 2003, 53. Zu Musaios und Bakis s. Dillery 2005, 178– 180; zur Sammlung der Peisistratiden ebd. 188. Keine offizielle Orakelsammlung in der Stadt Athen: Trampedach 2015, 258. 169  Onomakritos: Herodot 7.6.3 f. S. Harrison 2000, 141. Bowden 2003, 264. 170  Flower 2015, 299. 171 S. Aristophanes, Equites 116, wo dem Paphlagonier (gemeint ist Kleon) sein ‚Orakelheft‘ gestohlen worden ist. Zitate von Orakelbeispielen aus diesem Buch, das angeblich auf Bakis zurückgeht, z.B. bei Aristophanes, Equites 1015–1020. Auch in Aristophanes’ Stück „Die Vögel“ (Aves 959–991) wird der Chresmologe negativ charakterisiert, nämlich als aufdringliche und gierige Person, die das Opfer eines Privatmanns mit dem Deklamieren von Sprüchen stört, die ihm selbst Nutzen bringen. 172 Aristophanes, Pax 1084–1125 (Hierokles). Verspottung des mantis Lampon als ge­ fräßig: Kratinos, In Athenaios 8.344e = Fragmente 62 Kassel / Austin, Eupolis, Fragmente 319 Kassel / Austin. Dillery 2005, 184. 173  Seherfamilien schon bei Homer, Odyssee 15.222–255; zur Familie der Iamiden in Elis: Dickie 2001, 71 und Flower 2008b. S. auch Flower 2015, 298. 174 S. das Beispiel des T hrasyllos, der die für sein Sehertum wichtigen Bücher geerbt hat: Isokrates, Orationes 19.6. Hierzu auch Dickie 2001, 68 und Eidinow 2011, 10. Die Seher erinnern an die Gruppe der Ärzte, bei denen ebenfalls eine Mischung aus Abstammungsanspruch und nutzbringender Aufzeichnung von Erfahrungswissen eine Rolle spielte.

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zialisten liegen, die ihre Kunst im Gegensatz zu den meisten Priestern offenbar hauptberuflich ausübten, andere an ihrem Spezialwissen teilhaben zu lassen oder dieses auf potenziell jedem Lesefähigen zugängliches Buchwissen zu reduzieren. Im Unterschied zu den städtischen Priestern, für deren Amtsautorität das lokale Bürgerrecht Voraussetzung war, waren Seher in ihrer Funktion räumlich nicht gebunden, d.h. ihr potentieller Wirkungsort beschränkte sich nicht auf ein bestimmtes Heiligtum oder den Kult eines bestimmten Gottes in einer bestimmten Polis.175 Diese räumliche Ungebundenheit erweiterte und beschränkte die Autorität eines Sehers gleichermaßen. Sie erweiterte sein Wirkungsfeld, führte aber dazu, dass Seher des Öfteren von außen kamen, also als wandernde Fremde ohne Bürgerrecht wahrgenommen werden konnten. Diese Eigenschaft rückte sie potentiell in die Nähe anderer, manchmal als dubios angesehener Vertreter religiöser Autorität wie z.B. den Anbietern ritueller ‚magischer‘ Praktiken zu Entsühnung oder Schadenzauber.176 Gelegentlich werden Konkurrenzsituationen sichtbar, in denen Seher gegenüber anderen Trägern von Wissen Deutungshoheit beanspruchten.177 6.2.3. Offizielle Kontexte für personale Autorität? Inwieweit Chresmologen in Athen auch in den Institutionen der Polis des 5. und 4. Jh. eine Rolle spielen konnten, ist fraglich. In einem frühen und besonderen Einzelfall, nämlich bei der Interpretation des berühmten Orakelspruchs über die hölzernen Mauern, den die Athener in den Perserkriegen 481 v. Chr. in Delphi eingeholt hatten und der nach Herodot von den Gesandten (theopropoi) dem Volk vorgelegt wurde, ist davon die Rede, die Chresmologen (und nicht etwa als pythische Exegeten benannte Personen) hätten eine Meinung geäußert.178 In welchem formalen Rahmen dies jedoch geschah (auf Anfrage durch den Demos oder spontan in der Volksversammlung), wird von unserer Quelle Herodot nicht weiter erläutert.179 Die Autorität der Chresmologoi hatte jedenfalls in diesem Fall – und zum Glück der Athener, die ihnen nicht folgten und deshalb die Schlacht von Salamis gewannen – nicht ausgereicht, ihre Interpretation durchzusetzen. Inwieweit 175 

Flower 2008b, 189 f.; Parker 2011, 46. Eidinow 2011, 20. 177 S. etwa die bei Plutarch, Pericles 6 berichtete Anekdote von konkurrierenden Interpretationen eines missgebildeten Tieres durch einerseits den Seher Lampon, andererseits den Naturphilosophen Anaxagoras. Auch der oben erwähnte und gegen Naturphilosophen gerichtete Antrag des Sehers Diopeithes in der Volksversammlung, der das Verbreiten von Lehren über die Dinge im Himmel unter Strafe stellen sollte (Plutarch, Pericles 32.1), kann im Kontext von Spezialistenkonkurrenzen gesehen werden. Erlangten naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle zu viel Zustimmung, minderte dies den Einfluss der Seher, welche ihrerseits in der Natur erscheinende Zeichen deuteten. 178  Herodot 7.140–144. Hieraus wohl die T hese Olivers 1950, 8, die Chresmologen seien als „quasioffizielles Kollegium“ die Vorläufer der Exegeten in Athen gewesen. Diese T hese hat keine Zustimmung gefunden: s. etwa Dillery 2005, 213. 179 Parker 2005a, 112 geht offenbar von einer Debatte in der Volksversammlung aus. 176 

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der Beauftragung des Chresmologen Hierokles, der im Jahr 446 von den Orakeln geforderte Opfer für und in Euboia zu vollziehen hatte, seine Funktion als Kenner alter Orakelsprüche zugrunde lag, und ob diese Beauftragung von ihm selbst initiiert wurde, ist unbekannt.180 Bezeichnend ist hierbei allerdings, dass man ihn nicht selbstständig mit dieser Aufgabe betraute, sondern dass ihm drei Ratsmitglieder zur Seite gestellt wurden. Vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs, also in einer politischen Krisensituation, erwähnt T hukydides die Konjunktur von Orakelsprüchen und von denen, die sie vortrugen, in ganz Griechenland. Aber auch speziell für die Stadt Athen notiert er die Präsenz von orakelsingenden Chresmologen sowie die Geneigtheit der einzelnen Bürger, ihnen zuzuhören.181 Auftritte der Chresmologen in der Volksversammlung oder Fälle, in denen man sie in religiösen Fragen offiziell konsultiert hätte, sind hingegen nicht bezeugt.182 Den Sehern und ihrem Anspruch Vorzeichen deuten zu können, gestanden die Athener hingegen auch in bestimmten offiziellen Kontexten eine gewisse Autorität zu. Bürgerlichen und fremden Sehern war gemeinsam, dass sie auf ihr persönliches Charisma angewiesen waren, um in privaten oder öffentlichen Kontexten engagiert zu werden.183 Wenn etwa in der Athenaion Politeia über den richtigen Zeitpunkt für die Wahl militärischer Ämter gesprochen wird, so scheint dieser von günstigen Vorzeichen abhängig zu sein. Darüber müsse aber auch ein Ratsgutachten vorliegen.184 Möglicherweise waren an der Einholung dieser Vorzeichen Seher 180  Inscriptiones Graecae I3 40; verschiedene Hypothesen z.B. bei Parker 2005a, 112; vgl. auch Mikalson 2016, 156, der den Vorfall für eine einmalige Sache hält, die außerdem auswärts (in Euböa) stattgefunden habe. Zum Kontext s. Aristophanes, Pax 1125 f.; Eupolis, Fragmente 231 Kassel / Austin sowie T hukydides 1.114.3 und 8.95.7. 181  T hukydides 2.8.2: „Viele Orakel wurden gesprochen und Chresmologen sangen sowohl in den Städten, die sich zum Krieg vorbereiteten, als auch in allen anderen (καὶ πολλὰ μὲν λόγια ἐλέγετο, πολλὰ δὲ χρησμολόγοι ᾖδον ἔν τε τοῖς μέλλουσι πολεμήσειν καὶ ἐν ταῖς ἄλλαις πόλεσιν).“ Speziell auf Athen bezogen vgl. T hukydides 2.21.3: „Chresmologen sangen Orakel vielfältiger Art, als jedermann geneigt war, ihnen zuzuhören (χρησμολόγοι τε ᾖδον χρησμοὺς παντοίους, ὧν ἀκροᾶσθαι ὡς ἕκαστος ὥρμητο).“ Zum Versuch des Alkibiades, aus den zweifelhaften und als alt ausgegebenen Orakelsammlungen seiner privat engagierten Chresmologen zu zitieren und so die Stimmung für den Sizilienfeldzug zu beeinflussen: Plutarch, Nikias 13. S. auch Parker 2005a, 113 und Trampedach 2015, 265 f. zu derartigen Versuchen. Daraus allerdings, wie Bowden 2003, 271, zu schließen, frei flottierende Orakel unklarer Herkunft (die man nicht offiziell aus Delphi eingeholt hatte) seien zweifellos („no reason to doubt“) in der Volksversammlung diskutiert worden, erscheint nicht überzeugend. S. auch Dillery 2005, 214: T hukydides greife hier kein offizielles Kollegium an, sondern lediglich eine von einer Anzahl von Wahrsagern vorgebrachte Meinung. 182  Bowdens T hese (2003, 266 f.), Orakelsammlungen seien im 4. Jh. v. Chr. in Athen von Staats wegen eingesehen worden und hätten die Basis für gewisse staatliche Opfer gebildet, lässt sich anhand der Quellen nicht erhärten. Mikalson 2016, 177 Anm. 57 schließt aus Parkers (2005, 11–14) Analyse, dass die Chresmologen, „however influential in political and public debates, […] were not consulted on religious questions“. 183  Trampedach 2015, 487. 184  Vgl. Aristoteles, Athenaion Politeia 44.4: „Die Ämterwahlen für die Strategen, Reiterführer und die anderen kriegswichtigen Ämter erfolgen in der Volksversammlung […]

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beteiligt. Ausdrücklich erwähnt werden sie allerdings nicht, die Einholung der Omina kann auch durch die Prytanen erfolgt sein. In jedem Fall aber musste das Wort der zeichendeutenden Spezialisten von den Institutionen der Bürgerschaft bestätigt werden. Vor kriegerischen Unternehmungen wurden Seher befragt,185 den athenischen Strategen standen sie auf Feldzügen zur Seite.186 Ob sie für diese Funktion von den Generälen privatim engagiert oder ihnen von der Stadt zugeteilt wurden, ist unbekannt.187 Die Strategen als Inhaber von der Bürgerschaft übertragener formaler Autorität konnten sich auf diese Weise jedenfalls die personale religiöse Autorität der Seher zunutze machen. In kritischen Situationen – d.h. vor der Schlacht oder auch nur bei der (stets gefährlichen) Überquerung eines Flusses – hatten sie die Möglichkeit, Verantwortung an die Seher auszulagern. Durch deren Interpretation der Schlachtopfer und Zeichen konnte die Zuversicht der Truppen erhöht werden, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Darüber hinaus konnte das Engagement eines Sehers als Selbstaussage eines Feldherrn verstanden werden. Indem er demonstrativ die Götter und ihre Zeichen respektierte, erhöhte er, als im Einklang mit dem Willen der Götter handelnd, seine Autorität gegenüber den Soldaten.188 Allerdings durfte nicht der Eindruck entstehen, der Feldherr mache sich zu sehr von den Sehern abhängig und stelle deren personale religiöse Autorität über die eigene Kompetenz.189 Nach Erfolgen konnten Seher sogar offinach der 6. in der Prytanie, in der es günstige Vorzeichen gibt. Aber auch darüber muss ein Ratsgutachten vorliegen (ποιοῦσι δὲ καὶ ἀρχαιρεσίας στρατηγῶν καὶ ἱππάρχων καὶ τῶν ἄλλων τῶν πρὸς τὸν πόλεμον ἀρχῶν ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ, καθ᾽ ὅ τι ἂν τῷ δήμῳ δοκῇ: ποιοῦσι δ᾽ οἱ μετὰ τὴν [στιγμα] πρυτανεύοντες, ἐφ᾽ ὧν ἂν εὐσημία γένηται. δεῖ δὲ προβούλευμα γενέσθαι καὶ περὶ τούτων.“ S. Parker 2005a, 101 f. zu den fehlenden Informationen über die Verfahrensdetails, und Rhodes 1981, 536 zur engen Verbindung des militärischen Bereichs und der Einholung „guter Omen“. 185  Im 4. Jh. waren die Seher für diese Aufgabe an die formalen religiösen Autoritäten der Polis angebunden. Die (pseudo-) aristotelische Athenaion politeia (Athenaion Politeia 54.6) nennt das Kollegium der 10 Opferbereiter und führt aus: „wenn günstige Vorzeichen für ein Unternehmen gefordert sind, dann bringen sie zu diesem Zweck Opfer zusammen mit den Sehern dar (κληροῖ δὲ καὶ ἱεροποιοὺς δέκα […] κἄν τι καλλιερῆσαι δέῃ, καλλιεροῦσι μετὰ τῶν μάντεων).“ Zur grundsätzlichen Hinzuziehung von Spezialisten, aber deren gleichzeitigem Ausschluss von konkreten Entscheidungen: Parker 2011, 44; vgl. Mikalson 2016, 73. 186  Die Bedeutung der Einholung und Deutung von Zeichen auf Feldzügen: Xenophon, Hipparchus 9.8 f. Omina vor Beginn eines Feldzugs: Parker 2005a, 103; Seher auf Feldzügen: Dillery 2005, 200–209; Flower 2015, 298. 187  Garland 1990, 83. Zu Nikias und Alkibiades als konkurrierenden Strategen, die jeweils Seher beschäftigen: Plutarch, Nikias 13.1; 23.5; Dillery 2005, 206. 188 S. zur positiven Wirkung demonstrativer religiöser Pflichterfüllung eines Anführers auf die Loyalität von Untergebenen: Aristoteles, Politica 5.1315a. S. auch Trampedach 2015, 477. 189 S. Platon, Laches 199a: „Ebenso verordnet das Gesetz, dass nicht der Wahrsager dem Heerführer befehle, sondern der Heerführer dem Wahrsager (καὶ ὁ νόμος οὕτω τάττει, μὴ τὸν μάντιν τοῦ στρατηγοῦ ἄρχειν, ἀλλὰ τὸν στρατηγὸν τοῦ μάντεως.)“ Vgl. das Beispiel des frommen Nikias, der sich in zu große Abhängigkeit von den Sehern begibt: T hukydides 7.50.4; Plutarch, Nikias 23.5.

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zielle Ehrungen erhalten.190 Misserfolge fielen allerdings ebenfalls auf sie zurück. T hukydides beschreibt nach dem katastrophalen Ausgang des Sizilienfeldzugs im Peloponnesischen Krieg den Zorn der Athener auf die Chresmologen und die Seher, die offenbar den Feldzug befürwortet hatten.191 Inwiefern die Athener zwischen Chresmologen und Manteis differenzierten und Vertretern der beiden Gruppen unterschiedliche personale Autorität zugestanden, lässt sich nicht pauschal beantworten. Michael Flower möchte grundsätzlich zwischen dem „prestige of the seer and the marginality of the chresmologos“ unterscheiden.192 Robert Parker grenzt hingegen die Chresmologen positiv von anderen religiösen Spezialisten ab: Die Bezeichnung Chresmologe („Orakel-Sammler“) habe keinen pejorativen Unterton, und der Chresmologe Hierokles sei etwa eine „influential figure“ gewesen.193 Problematisch erweist sich in dieser Diskussion die manchmal verschwimmende Terminologie. In den Quellen werden bestimmte Personen sowohl Chresmologen als auch Manteis genannt.194 Die (Selbst)-Bezeichnung Mantis konnte offenbar als Oberbegriff für nicht vom Staat bestellte Spezialisten und Spezialistinnen mit vielfältigen Angeboten dienen.195 Entsprechend sind in athenischen Quellen auch die Manteis von Pauschalurteilen über Personen betroffen, die sich mittels religiösem Wissen oder Können religiöse Autorität zuschreiben. Bettelpriester und Manteis, die mit unlauteren Angeboten vor den Türen der Reichen antichambrieren und vor190  Ehrungen: Eine Ehrenstatue für den Seher des Generals Tolmides aus dem 5. Jh. v. Chr. auf der Akropolis: Pausanias 1.27.5. Im frühen 4. Jh. erhielt ein Seher namens Sthorys – wohl wegen seines Beitrags zu einer Seeschlacht – die hohe Ehre des athenischen Bürgerrechts nebst Speisung im Prytaneion: Inscriptiones Graecae II2 17 mit Supplementum Epigraphicum Graecum 15.84 und Supplementum Epigraphicum Graecum 16.42: Dillery 2005, 203; Trampedach 2015, 490. 191  T hukydides 8.1.1: „[…] [die Athener] zürnten den Chresmologen und den Sehern und allen, die ihnen mit Weissagungen damals Hoffnungen gemacht hatten auf die Eroberung Siziliens (ὠργίζοντο δὲ καὶ τοῖς χρησμολόγοις τε καὶ μάντεσι καὶ ὁπόσοι τι τότε αὐτοὺς θειάσαντες ἐπήλπισαν ὡς λήψονται Σικελίαν)“. De facto ist in den Quellen nach der gescheiterten Sizilienexpedition von den Chresmologen nicht mehr die Rede. Entweder erschienen sie nach dem Misserfolg als grundsätzlich diskreditiert, oder aber ihr Monopol auf „Schriftlichkeit“ löste sich durch stärkere Verbreitung geschriebener Texte auf: Flower 2015, 305. 192  Flower 2008a, 62. 193  Parker 2005a, 111 f.; Hierokles: Parker 2011, 46. Ein positives Bild der Chresmologen auch skizziert bei Bowden 2003. 194  Garland 1984, 113; Garland 1990, 82. Aristophanes´ Protagonisten im Frieden (Pax 1045–1047) haben Schwierigkeiten, aufgrund von Aufmachung und Verhalten einen Mantis von einem Chresmologen zu unterscheiden. Mögliche Unterschiede verwischen noch mehr, wenn, wie Platon (De re publica 2.364e) behauptet, auch die Manteis Bücher des Musaios und des Orpheus mit sich führen. Inwiefern nochmals zwischen Chresmologen und Chresmoden (Orakelsängern) geschieden werden sollte, sei hier nicht weiter diskutiert: Hierokles als Chres­mode bei Eupolis, Poleis Fr. 231; s. hierzu Parker 2005a, 112 Anm. 78. 195  Die Vielfalt der Begrifflichkeit für derartige Personen bei Eidinow 2007, 27; zur leicht verfügbaren Bezeichnung ‚Mantis‘ auch Flower 2008a, 63 und Flower 2015, 302.

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geben, von den Göttern gesandte Macht zu besitzen, werden etwa bei Platon in einem Atemzug genannt.196 Personale religiöse Autorität hatte im klassischen Athen bestenfalls beratende Funktion. Öffentliche Anerkennung fand sie nur in wenigen Kontexten, wenn Strategen und Bürger Zeichendeutung für nötig hielten und den Rat von Sehern heranzogen. Anerkannt waren offenbar auch die Exegeten, die aufgesucht und um Rat gefragt zu haben ein Bürger sich nicht schämen musste. Auch andere religiöse Spezialisten, Bettelpriester oder die Anbieter bestimmter Einweihungen oder Rituale gründeten ihren Erfolg de facto auf persönliche Ausstrahlung. Sie agierten aber in privaten Kontexten und ihr Ansehen war prekär. Als ‚religiöse Autoritäten‘ waren sie im privaten Bereich geduldet, als häufig Fremde ohne Bürgerrecht hatten sie keinen Platz in den formalen Institutionen der Polis. Diese Institutionen der Polis – Volksversammlung und Bürgergerichte – waren auch für Bürger nicht der Ort zur Demonstration personaler religiöser Autorität oder für charismatische Auftritte.197 Alle berechtigten Teilnehmer der Volksversammlung, und damit auch Priester oder Personen, die sich als Chresmologen oder Seher verstanden, hatten die Möglichkeit, Anträge zu stellen, und diese Anträge konnten sich im Rahmen der Tagesordnung auch auf den religiösen Bereich beziehen.198 Überzeugte ein Antragsteller entsprechend Rat und Mitbürger, so tat er das auf der Basis seines Bürgerrechts und persön­lichen argumentativen Überzeugungskraft, nicht aber als ‚religiöse Autorität‘ oder qua Amt.

De re publica 2.364b–c: „Und Bettelpriester und Wahrsager kommen an die Türen der Reichen und machen sie glauben, dass sie von den Göttern verliehen die Macht haben, durch Opfer und Beschwörungen jegliche Untat eines Mannes oder seines Vorfahren zu sühnen und zu heilen, und dass sie, wenn jemand einem Feind Schaden zufügen will, zu einem geringen Preis ihm ermöglichen können, Gerechte und Ungerechte zu beschädigen, da sie Meister von Zaubersprüchen und Flüchen seien, die die Götter dazu überredeten, ihnen zu dienen (ἀγύρται δὲ καὶ μάντεις ἐπὶ πλουσίων θύρας ἰόντες πείθουσιν ὡς ἔστι παρὰ σφίσι δύναμις ἐκ θεῶν ποριζομένη θυσίαις τε καὶ ἐπῳδαῖς, εἴτε τι ἀδίκημά του γέγονεν αὐτοῦ ἢ προγόνων, ἀκεῖσθαι μεθ᾽ ἡδονῶν τε καὶ ἑορτῶν, ἐάν τέ τινα ἐχθρὸν πημῆναι ἐθέλῃ, μετὰ σμικρῶν δαπανῶν ὁμοίως δίκαιον ἀδίκῳ βλάψει ἐπαγωγαῖς τισιν καὶ καταδέσμοις, τοὺς θεούς, ὥς φασιν, πείθοντές σφισιν ὑπηρετεῖν).“ 197  Vgl. die Feststellung von Martin 2016, 283, es gebe kein Zeugnis für einen offiziellen religiösen Akt während der Debatte. S. ebd. 299, die Feststellung, es sei offenbar nicht als passend erschienen, sich in Debatten über banale Alltagsfragen auf die Götter zu berufen. 198  Vgl. das Beispiel des athenischen Sehers Lampon, der erfolgreich in der Volksversammlung agierte und im Kontext sakraler Beschlüsse genannt wird: Price 1999, 73; Bowden 2003, 269; Dillery 2005, 196 f.; Parker 2011, 46. Überzeugend zum fehlenden institutionellen Gewicht der mantischen Spezialisten in vorhellenistischen griechischen Poleis: Trampedach 2015, 260.496 f. 196 Platon,

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7. Resümee: Traditionale, formale und personale religiöse Autorität im klassischen Athen Im klassisch demokratischen Athen – aber auch grundsätzlich in der griechischen Poliskultur – existiert keine sakrale Institution und sind keine Personen als religiöse Führer anerkannt, denen man aufgrund ihres besonderen Wissens, Könnens oder charismatischen Anspruchs aktive Einmischung und autoritäre Weisungsbefugnis in religiösen Angelegenheiten zugestehen würde. Für derartige religiöse Autorität findet sich auch kein Begriff in der griechischen Sprache. Fragt man allerdings am Beispiel des klassischen Athens nach Strukturen religiöser Autorität, so lassen sich diese in unterschiedlichen Formen sichtbar machen. Traditionale, formale und personale Autorität wirken zusammen, um die als asymmetrisch wahrgenommene Beziehung von Bürgergemeinschaft und Göttern gottgefällig zu gestalten, einen positiven Status quo aufrechtzuerhalten und bei offensichtlichen Störungen Lösungen zu finden. Traditionaler religiöser Autorität fällt hierbei die Aufgabe zu ‚zu überliefern‘. Angesammelte Wissensbestände der Bürgerschaft, legitimiert durch zumindest postuliertes hohes Alter oder durch Zuschreibung an angesehene Gesetzgeber der Vergangenheit (Solon), werden durch Öffentlichkeit und Schriftlichkeit befestigt. Die Autorität des Bewährten, ta patria, welches gemäß dem Brauch durchgeführt wird, ist von der Bürgerschaft anerkannt. Traditionelles Wissen bildet die Basis für den Umgang der Menschen mit den Göttern, entsprechend gilt der Mehrwert von Innovationen als zweifelhaft. Sollen Änderungen der rituellen Überlieferung ein positives Echo finden, so sollten sie als Ergänzung und nicht als Neuerung präsentiert werden. Formaler religiöser Autorität obliegt es, die Forderungen der Tradition umzusetzen und auszuführen. Sie stellt die regelgerechte Organisation und den Vollzug der Götterverehrung sicher und übernimmt die Ahndung von Verstößen. Inhaber dieser Autorität ist die Bürgergemeinschaft als Ganzes. Aus Gründen der Praktikabilität wird formale religiöse Autorität von der Bürgergemeinschaft delegiert, indem diese einzelne Männer und Frauen zu Inhabern religiöser Ämter wählt oder auslost. Die athenische Bürgerschaft ist aber nicht bereit, mit diesen Amtsträgern eine dauerhaft asymmetrische Beziehung einzugehen. Typisch auch für die delegierte religiöse Autorität ist ihre Fragmentierung, die sich in sowohl zeitlicher Einschränkung (Annuitätsprinzip bei Beamten, Jahrespriestertümer) als auch inhaltlicher Beschränkung äußert. Der Erwerb von Spezialwissen bei Amtsträgern wird nicht gefördert, sie bedürfen keiner spezifischen Vor-Bildung, und ihr Aufgabenbereich ist auf bestimmte Kulte oder Einzelaufgaben beschränkt. Bürgern wie Sokrates oder Euthyphron ist offenbar bekannt, an wen sie sich im spezifischen Einzelfall wenden müssen. Als potentieller Störfaktor könnten sich erbliche und meist lebenslang vergebene Priestertümer erweisen, ein Bereich in dem Kollisionen traditionaler und formaler Autorität (sowie der Aufbau personaler Autorität

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und die Ansammlung von Spezialwissen) denkbar sind. Diesem Problem wird im demokratischen Athen durch Kontrollmechanismen entgegengewirkt, indem sowohl von der Volksversammlung delegierte als auch durch die Tradition bestimmte Amtsträger der Bürgergemeinschaft rechenschaftspflichtig sind und in klassischer Zeit bei Streitigkeiten der Entscheidungsbefugnis des Archon Basileus unterliegen. Personaler religiöser Autorität wird im Vergleich hierzu im klassischen Athen nur wenig Gewicht zugestanden. Sie hat bestenfalls beratende Funktion. Ihre Aufgabe kann es sein, etwa Privatleute auf Anfrage in besonderen rituellen Fragen zu beraten (Exegeten) oder nach Aufforderung städtischer Institutionen besondere Kompetenzen zur Zeichendeutung einzusetzen (Seher/Chresmologen). Da im Kontext der Götterverehrung die Vermittlung theologischen Spezialwissens an die Kultteilnehmer keine Rolle spielt, lassen sich personale religiöse Autoritätsbeziehungen weder durch einschlägige Gelehrsamkeit installieren, noch durch die Fähigkeit als religiöser Lehrer aufzutreten.199 In einer Gemeinschaft formal gleichrangiger Bürger, die sich als gleich vor dem Gesetz und vor den Göttern verstehen, haben religiöse Charismatiker wenig Spielraum. Platons Euthyphron unterstellt seinen Mitbürgern ablehnende Eifersucht, gar Hass, wenn jemand eine besondere Beziehung zu den Göttern postuliert.200 Wandernden Spezialisten von auswärts, die den Bürgern (und den Bürgerinnen) informell ihre besonderen religiösen Angebote nahezubringen versuchen, folgt ein zweifelhafter Ruf. Als häufig Fremde ohne Bürgerrecht haben sie keinen Platz in den formalen Institutionen der Polis. Diese politischen Institutionen der Polis – Volksversammlung und Bürgergerichte – sind aber auch für Bürger nicht der Ort zur Demonstration personaler religiöser Autorität oder für charismatische Auftritte. Davon spricht Platons Titelheld, der Seher Euthyphron, der in der Volksversammlung ausgelacht wird.201 Versuche, unautorisiert und durch Betonung personaler religiöser Autorität die Bürgergemeinschaft zu beeinflussen, ließen die Athener Bürger offenbar ins Leere laufen, indem sie mit Spott und Hohn reagierten. Für „Zungenreden“ war in der Volksversammlung nicht der richtige Platz. Platons Euthyphron hat Glück, dass die Mitbürger bei seiner Anmaßung religiöser Autorität nur schallend lachen. Das macht ihm sein Gesprächspartner Sokrates auch deutlich: „Was ist das schon, ausgelacht zu werden…“.202 Viel schlimmer war es, wenn die Bürger Versuche sak199  So

die Attitüde des Lysias gegen Nikomachos (Orationes 30.18), der auf die Abneigung der bürgerlichen Richter, sich in religiösen Dingen belehren zu lassen, setzt: „Aber, ihr Herren Richter, wir müssen uns über Frömmigkeit nicht von Nikomachos belehren lassen, sondern brauchen nur die geschehenen Dinge zu betrachten (καίτοι, ὦ ἄνδρες δικασταί, περὶ εὐσεβείας οὐ παρὰ Νικομάχου χρὴ μανθάνειν, ἀλλ᾽ ἐκ τῶν γεγενημένων σκοπεῖν).“ 200 Platon, Euthyphron 3c: „Aber doch sind wir alle ihnen verhasst. Aber man muss sich nur nicht um sie kümmern, sondern geradezu gehen (ἀλλ᾽ ὅμως φθονοῦσιν ἡμῖν πᾶσι τοῖς τοιούτοις. ἀλλ᾽ οὐδὲν αὐτῶν χρὴ φροντίζειν, ἀλλ᾽ ὁμόσε ἰέναι).“ 201 Platon, Euthyphron 3c (s. oben Anm. 2). 202 Platon, Euthyphron 3c: Sokrates: „Lieber Euthyphron, bespöttelt zu werden, das ist

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raler Selbstautorisierung ernst nahmen, und daraus den Vorwurf ableiteten, ein Einzelner wolle eigenmächtig die traditionale und formale religiöse Autorität der Bürgerschaft herausfordern. Im Fall des Sokrates, so suggerieren die Quellen, war den Athenern das Lachen vergangen.

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Philosophen – Priester – Bürger auctoritas und humanitas bei Cicero

Peter Kuhlmann* 1. Römische religio und auctoritas In der römischen Antike gibt es eigentlich keine wirklichen religiösen Autoritäten im Sinne von Lehrautoritäten oder heiligen Schriften. Die römische religio kennt keine autoritative Lehre, die von Priestern im Sinne von Autoritätspersonen verkündet wurde. Im Bereich der Bildung entwickelten sich in der ausgehenden Republik konkurrierende Konzepte – aber eben nicht im Sinne autoritativer Systeme, denn es gab ohnehin nur private Bildungsinstitutionen, die, häufig als Teil von griechisch geprägten Philosophen- und Rhetorenschulen, kein irgendwie geartetes Bildungsmonopol für sich beanspruchen konnten. Allerdings traten die unterschiedlichen griechischen Philosophenschulen selbst durchaus mit einem absoluten Wahrheitsanspruch auf. Doch wenn wir das Beispiel des römischen Politikers, Redners, Philosophen und Priesters Cicero nehmen, so richtet sich sein Programm eher gegen den Glauben an Autoritäten. So schreibt er in seinem Dialog über das Wesen der Götter:1 „Die Autorität der Lehrenden schadet meist den Lernenden“ (obest plerumque iis, qui discere volunt, auctoritas eorum, qui se docere profitentur). Ähnlich polemisiert Cicero an derselben Stelle seiner Schrift gegen die autoritätsgläubigen Anhänger des Pythagoras: „Die [von Pythagoras] vorgefasste Meinung war so mächtig, dass seine Autorität selbst ohne Vernunft und Grund Geltung hatte“ (tantum opinio praeiudicata poterat, ut etiam sine ratione opinio valeret auctoritas). Doch kommen wir zunächst zur Begrifflichkeit selbst: Der deutsche Begriff ‚Autorität‘ hat im Lateinischen ein Äquivalent in dem Substantiv auctoritas, das ähnlich wie das deutsche Fremdwort so etwas wie „Ansehen, Einfluss, Würde, Macht“ bedeutet. Inwiefern dieses semantische Feld mit dem Bereich der Religion assoziiert werden kann, wird weiter unten thematisiert. Der Begriff der religio ist hingegen in seiner Semantik komplexer: Er bezeichnet ursprünglich nichts pri*  Der Aufsatz entstand im Rahmen des von der DFG geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ (Universität Göttingen), Teilprojekt D 01 „Religiöses Wissen im Diskurs: Ciceros religionsphilosophische Dialoge“. 1 Cicero, De natura deorum 1,10.

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mär Religiöses, sondern „Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Bedenken“ und von da ausgehend die „genaue Befolgung kultisch-religiöser Vorschriften“ bis hin zu „abergläubischer Verehrung/Religionsausübung“. Speziell Cicero definiert religio in seiner Schrift über das Wesen der Götter in einem religiösen Kontext als cultus deorum („Kult für die Götter“).2 Von diesen kultisch verehrten Göttern ging nicht unbedingt so etwas wie moralische Autorität aus, vielmehr waren die Götter einfach mächtiger als die Menschen und unsterblich (lat. immortales). Da sie umfassenden Einfluss auf das Leben der Menschen besaßen, mussten sie auch kultisch verehrt werden. Ob aber ein ehebrecherischer Gott wie Juppiter oder der mit einem riesigen Phallus ausgestaltete Fruchtbarkeitsgott Priapus im modernen Sinne ‚Autorität‘ ausstrahlten, ist eine ganz andere Frage. Zentral für die römische Religiosität ist die in der Religionswissenschaft so genannte Orthopraxie, d.h. die Vorstellung, dass das „richtige (kultische) Handeln“ (griech. orthós + prâxis) das Gelingen der Kommunikation zwischen Göttern und Menschen garantiert.3 Eine besondere Lehre bzw. heilige Schriften im Sinne von Glaubensvorstellungen oder Bekenntnis waren hingegen entweder nicht vorhanden oder spielten zumindest keine solche Rolle wie etwa später im Christentum, das man entsprechend als Beispiel für den ‚ortho-doxen‘ Religionstypos heranzieht (griech. orthós + dóxa), der sich im Wesentlichen durch einen ‚richtigen Glauben‘ definiert.4 In der Forschung hat man die religio Romana vielfach als ‚civil religion‘ bzw. ‚Bürgerreligion‘ bezeichnet, weil sie von der Bürgerschaft selbst und nicht von einem eigenen geistlichen Stand, der aufgrund religiös-dogmatischer Autorität die religiöse Praxis bestimmt, getragen wurde.5 Für die Genehmigung von Kultimporten oder für Einschränkungen und Verbote von Kulten waren nicht Priester, sondern der Senat als Vertretung der Bürgerschaft zuständig.6 Ein weiterer Punkt sind die Priester und ihre Rolle im Rahmen der römischen religio. Sie waren im Wesentlichen für die Ausübung der Kulte verantwortlich, aber nicht unbedingt für alle Kulthandlungen notwendig. Vielmehr konnte z.B. der pater familias als Nicht-Priester in seinem Hause den Kult für die hauseigenen Lares (Hausgötter) vornehmen.7 Auch die Magistraten der Bürgerschaft waren teilweise zu bestimmten Kulthandlungen verpflichtet, auch wenn sie selbst keine Priester waren. So musste der neue Konsul als erste wichtige Amtshandlung im 2  An der entsprechenden Stelle lässt Cicero den Stoiker Balbus ausführen, dass die Römer aufgrund der genauen Befolgung der Vorschriften zur Götterverehrung anderen Völkern überlegen seien (Cicero, De natura deorum 2,8): Et si conferre volumus nostra cum externis, ceteris rebus aut pares aut etiam inferiores reperiemur, religione, id est cultu deorum, multo superiores („Und wenn wir unsere Herrschaft mit der anderer Kulturen vergleichen wollen, werden wir finden, dass wir zwar in den meisten Dingen nur gleich oder sogar unterlegen sind; aber in Sachen religio, d.h. Verehrung der Götter, sind wir weitaus überlegen“). 3  Dazu Scheid 1997, 480–487; Hock 2002, 10 f.; Rosenberger 2012, 55. 4  Dazu Scheid 1997, 485 f.; Hock 2002, 10. 5  Vgl. dazu Bremmer 1996, 3–5; Graf 1997, 457 f.; Scheid 1997, 470 f.; Rüpke 2001, 19–31. 6  Zur Rolle des Senats vgl. Rüpke 2001, 34–39. 7  Rüpke 2001, 208.

Philosophen – Priester – Bürger

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Januar von Rom aus in die Albaner-Berge gehen, um dort an den feriae Latinae für Iupiter Latiaris die vorgeschriebenen Opfer- und Kulthandlungen zu verrichten.8 Wenn man aus moderner Perspektive betrachtet, wie die Priesterämter in Rom vergeben wurden, könnten durchaus Zweifel aufkommen, ob mit ihnen überhaupt so etwas wie Autorität verbunden sein konnte. So wurde etwa gerade das Amt des pontifex maximus durch Volkswahl vergeben, d.h. die auctoritas des höchsten Priesteramtes basierte auf der Entscheidung der Bürgerschaft. Ein bekanntes Beispiel ist das Jahr 63 v. Chr., als der eigentlich noch viel zu junge Gaius Iulius Caesar durch massive Wahlbestechung deutlich würdigere Mitkandidaten ausstach und das lebenslange Amt antreten konnte.9 Auch der spätere pontifex maximus Lepidus zeichnete sich keineswegs durch moralische Autorität, sondern in der Zeit der Bürgerkriege durch Machtgier und Brutalität aus, blieb aber bis zu seinem Tode in diesem höchsten Priesteramt. Andere Priesterämter wurden durch Losverfahren oder Kooptierung vergeben, d.h. das Priesterkollegium entschied intern, wer im Falle einer notwendigen Neubesetzung eines vakanten Amtes die Priesterwürde bekam.10 Dies zeigt, dass mit den Priesterämtern in jedem Fall gesellschaftliches Prestige und damit auch auctoritas im römischen Sinne verbunden war. Das ist nicht zuletzt – wie im Weiteren zu zeigen sein wird – für die Anlage und Interpretation von Ciceros Dialogen wichtig. Ursprünglich waren alle Priestertümer der Stadt Rom an die patrizische, d.h. erbadelige Herkunft ihrer Kandidaten und Amtsinhaber gebunden. Erst um 300 v. Chr. wurde durch die lex Ogulnia festgelegt, dass auch nicht-patrizische Bürger Priester werden konnten.11 Gleichwohl dürfte der aristokratische Nimbus des Priesteramtes im kollektiven Gedächtnis der Römer erhalten geblieben sein und diese Ämter so attraktiv für viele politisch aktive Bürger gemacht haben. Das hohe gesellschaftliche Prestige der Priestertümer zeigt sich in bestimmten Privilegien im Alltag: So wurden etwa die Vesta-Priesterinnen von Liktoren begleitet und besaßen das Recht, tagsüber mit einem Wagen durch die Stadt Rom zu fahren und alle Bürger mussten ihnen Platz machen.12 Das Prestige und damit der gesellschaftliche Einfluss von Priestertümern lebte ungebrochen bis in den Prinzipat fort, wo die Principes immer selbst das Amt des pontifex maximus innehatten und es als besondere Auszeichnung galt, Augur oder etwas Ähnliches zu werden. Cicero selbst hatte das Amt des Augurs inne. Das bedeutete für jemanden wie ihn, der nicht dem stadtrömischen Patriziat entstammte, sondern aus der Provinzstadt Arpinum, mit Sicherheit einen enormen Prestigegewinn innerhalb der römischen Bürgerschaft. Der Augur war für die Vogelschau verantwortlich, die vor allen wichtigen politischen und militärischen Entscheidungen eingeholt wer 8 

Wissowa 1912, 228–231; Latte 1960, 144–146. Dazu Canfora 2001, 36–39.382 mit den antiken Quellen. 10  Rüpke 2001, 209–215. 11  Livius 10,6 f. 12  Latte 1960, 109–111.  9 

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den musste.13 Zwar wurde dieses Verfahren, das für Tricks und Beeinflussung der beteiligten Vögel sehr anfällig war, schon in der Antike immer wieder mit abfälligem Spott bedacht.14 Trotzdem galt es als verbindlich und konnte somit dem jeweiligen Augur einen entsprechenden politischen Einfluss sichern. Eine andere interessante Frage in unserem Zusammenhang ist die nach der Bildung oder auch der speziellen Ausbildung der Priester: Soweit wir wissen, gab es in Rom keine besondere Ausbildung für die Priester wie es ja auch keinen Religionsunterricht gab und überhaupt das T hema Religion in den artes liberales der Antike fehlte.15 Von Plutarch wissen wir immerhin, dass Cicero selbst in seiner Jugend einige Zeit bei dem sehr bekannten und hoch angesehenen Augur Mucius Scaevola verbrachte und dabei sicher auch einen vertieften Einblick in die Aufgaben des Augurats bekam,16 was freilich einen eher informellen Weg darstellte. Die sich aus der Bürgerschaft rekrutierenden Priester waren tatsächlich meist keine Kultexperten im engeren Sinne, sondern benötigten für komplexe Kult- und Opferhandlungen echte Spezialisten, die ihnen als ministri („Helfer“) zur Seite standen.17

2. Hellenistische Philosophie und auctoritas Wenn man in der Antike etwas mit Autorität verband, dann waren es die Philosophie und die Gründer bzw. Häupter der unterschiedlichen griechischen Philosophenschulen. Sie entwickelten tatsächlich autoritative Lehren im Sinne von Dogmen, an die man als Mitglied einer Philosophenschule glauben musste. Besonders trifft dies für zwei wichtige hellenistische Philosophenschulen zu, nämlich die Stoa und deren Konkurrenz: die Epikureer. Beide Philosophenschulen spielen in Ciceros Schriften eine prominente Rolle, wobei Cicero in einigen Schriften wie besonders De officiis durchaus Stoa-affin ist, allerdings den Epikureismus deutlich ablehnt (z.B. De finibus). Sowohl Stoa als auch Epikureismus befassen sich unter anderem mit theologischen T hemen und entwickeln im Rahmen der Physik jeweils eine eigene Götterlehre. In der Stoa haben wir ein mehr oder weniger pantheistisches Gotteskonzept mit einem göttlichen, feurig gedachten Geist, der den gesamten Kosmos durchwirkt und an dem auch die Menschen Anteil haben.18 Für die Epikureer existieren die Götter zwar, allerdings greifen sie nicht in das Geschehen des Kosmos ein (Deismus), so dass sich ein Kult für sie im Grunde erübrigt.19

13 

Rosenberger 2012, 75 f. Rosenberger 1998, 75–78 mit Beispielen. 15  Dazu Cancik 2010. 16 Plutarch, Cicero 3; vgl. auch die Bemerkungen bei Cicero, Laelius de amicitia 1,1. 17  Rüpke 2001, 208 f. 18  Hossenfelder 1995, 82–84. 19  Hossenfelder 1995, 115 f.144. 14 

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Beide Auffassungen sind mit der römischen religio nicht kompatibel, die von eher personalen und aktiv handelnden Gottheiten ausgeht. Der stoische Pan­theis­ mus widerspricht dieser eher personal gedachten römischen Göttervorstellung, allerdings ist die Diskrepanz in der Praxis nicht allzu groß, weil die kultisch verehrten Götter von den Stoikern auch als Allegorien oder als mehr oder weniger hypostasierte Funktionen des göttlichen Geistes interpretiert wurden.20 Auch der Kult hatte in der Stoa seinen Platz: Er galt zwar grundsätzlich als nicht notwendig, weil ohnehin alles Weltgeschehen vom Schicksal determiniert war und insofern eine kultische Handlung nicht prospektiv eine Götterentscheidung beeinflussen konnte. Jedoch integrierten die Stoiker die Ausführung kultischer Handlungen einfach als Teil der Heimarmene bzw. des Schicksals,21 so dass sich auf den ersten Blick kein Widerspruch zur polytheistischen Praxis ergab. Größer war die Diskrepanz naturgemäß bei den Epikureern: Die Römer glaubten fest an ein direktes Eingreifen der Götter in das Weltgeschehen und v.a. an deren Fürsorge für den römischen Staat, was den Kult so wichtig machte. Zudem lehnten die Epikureer anders als die Stoiker gesellschaftliches und politisches Engagement ab, weil dies die eigene Seelenruhe stören könne.22 Dies führte zu starken Vorbehalten der römischen Behörden und des Senats gegen die Epikureer, die z.B. im Jahr 155 anlässlich einer griechischen Philosophengesandtschaft in Rom als einzige Philosophenschule ausgeladen waren. Trotzdem berichtet uns Cicero, dass zu seiner Zeit der Epikureismus eine Art Modephilosophie gewesen sei.23 Immerhin war sein intimster Freund Atticus Epikureer und auch der Diktator Caesar soll dieser Schule angehangen haben.24 Cicero jedoch dürfte insbesondere die Geringschätzung des politischen Engagements bei den Epikureern abgelehnt haben, doch auch gegen die Götterlehre des Meisters Epikur scheint er in seinem Dialog über die Götter (De natura deorum) heftig zu polemisieren. Für Cicero selbst waren die philosophischen Lehren Platons und des Aristoteles zentral, waren sie doch in mancher Hinsicht weniger dogmatisch als Stoa und Epikureismus. Platon entfaltete zumindest seine uns erhaltene Lehre vorzugsweise in Dialogform – ebenso Aristoteles, wenngleich gerade die Dialoge nicht mehr erhalten sind. Es gibt zwar durchaus dogmatische Züge in Platons Lehre, aber zentral war für ihn doch der Diskurs, und es gibt auch Dialoge, die in der Aporie enden, d.h. der Leser der Dialoge muss sich teilweise seine eigene Meinung bilden.25 Dieses Prinzip war für Ciceros Darstellung der 20 

Diogenes Laertius 7,147; Hossenfelder 1995, 85 f. Vgl. dazu etwa ausführlich Seneca, Naturales quaestiones 2,32–38. 22  Hossenfelder 1995, 121 f. 23  Vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum 1,13. 24  Canfora 2001, 36. 25  Zu diesen Aspekten vgl. Graeser 1993, 130–133.154–157. Zur Zeit Ciceros existierten freilich zwei konkurrierende Richtungen der platonischen Akademie: Zum einen die in der Tradition des Karneades stehende skeptisch ausgerichtete Schule mit Philon von Larissa und zum anderen dessen sich dem Dogmatismus annähernder Schüler Antiochos von Askalon, die beide Ciceros philosophische Lehrer waren (vgl. Plutarch, Cicero 1,4). 21 

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Philosophie wegweisend,26 weswegen er sich selbst als ‚Akademiker‘, d.h. als Anhänger der platonischen Akademie bezeichnete.

3. Ciceros humanitas-Konzept Damit kommen wir zu Ciceros Bildungskonzept, das er selbst in seinen Schriften u.a. mit dem Begriff der humanitas umschreibt.27 Die Begriffsbildung ist angelehnt an den griechischen Begriff philanthropía („Menschenliebe, Mitmenschlichkeit“).28 Bei Cicero bezeichnet das Substantiv humanitas alles, was den idealtypischen Menschen ausmacht und von anderen Lebewesen unterscheidet, eben eine umfassende Bildung: Hierfür ist zusätzlich die griechische paideía notwendiger Bestandteil. Dazu gehören zum einen Kenntnisse in der griechischen Philosophie, zum anderen aber auch der richtige Umgang mit ihr. Hierbei ist er besonders von der skeptischen Akademie bzw. dem Platonismus beeinflusst, dessen Prinzip Cicero selbst als in utramque partem disserere/disputare („pro- und contra argumentieren“) bezeichnet.29 Wichtiges Vorbild für diese rhetorisch beeinflusste Art des Philosophierens war der griechische Platoniker und Vorsteher der Akademie, Karneades. Er hielt 155 v. Chr. bei der oben erwähnten Philosophengesandtschaft in Rom zunächst eine Rede für den Nutzen der Gerechtigkeit, die auf allgemeines Wohlgefallen stieß. Am nächsten Tag jedoch sprach sich Karneades in einer flammenden Rede zum Entsetzen des Auditoriums gegen den Nutzen der Gerechtigkeit aus.30 Beide Reden wiesen jeweils so gute Argumente auf, dass für die Zuhörer die Frage in der Aporie enden musste. Hintergrund dieses Relativismus ist aber – modern gesprochen – der absolute Pluralismus: Alle Meinungen haben ihre Berechtigung und werden anerkannt. In seinen Dialogen verfährt Cicero nach einer ähnlichen Technik: Zunächst trägt ein Vertreter einer bestimmten philosophischen Schule seine Auffassungen zu dem entsprechenden T hema vor; anschließend wird er von einem anderen Redner widerlegt. Im Ganzen unterscheidet sich allerdings die literarische Technik und auch die Gesamtintention seiner philosophischen Dialoge deutlich von den griechischen Vorbildern. Anders als die griechischen Philosophen will Cicero seine Leser nicht zu einer bestimmten Philosophenschule bekehren.31 Auch wenn er selbst der Akademie zuneigt, so ist er im Grunde ebenso von Aristoteles bzw. dem Peripatos und in vielem von der Stoa beeinflusst und lehnt lediglich die Epikureer ab. Damit lässt er sich philosophiegeschichtlich auch nur schwer einordnen 26 

Vgl. Gorman 2005. Vgl. dazu Scholz 2011, 217–229. 28  Zur Komplexität des Begriffs humanitas bei Cicero vgl. Hiltbrunner 1994, 726–730; zu den verschiedenen Termini für ‚Bildung‘ bei Cicero siehe Kuhlmann 2020, 13–17. 29 Cicero, Academicorum posteriorum liber 1,12. 30  Belegt bei Cicero, De re publica 3,8. 31  Vgl. auch Brittain 2006; Leonhardt 1999. 27 

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und wirkt als erratischer Block innerhalb der antiken Philosophie. Obwohl er also eigentlich griechische Philosophie als Teil seines humanitas-Konzeptes an seine römischen Mitbürger vermitteln möchte, geht er in einem entscheidenden Punkt, nämlich dem Wahrheitsanspruch, andere Wege. Modern gesprochen könnte man ihn gewissermaßen als den Begründer des ‚herrschaftsfreien Diskurses‘ bezeichnen. Der Leser seiner Dialoge soll also die Lehrmeinungen und damit auch Lehrmeister der Philosophenschulen nicht als unhinterfragbare Autoritäten akzeptieren, sondern sich im Diskurs eine eigene Meinung bilden. Das ist im Rahmen der hellenistischen Philosophie geradezu revolutionär, aber natürlich durch die skeptische Akademie vorgeprägt. Allerdings gibt es doch auch in dieser Hinsicht einen wichtigen Unterschied: Zur Zeit Ciceros (und im Hellenismus) bekannten sich die griechischen Platoniker nur zur Akademie und lehnten die anderen Schulen wie die Stoa ab, was sich bei Cicero deutlich anders verhält. Im Übrigen ging Cicero auch im römischen Kontext einen ganz eigenen Weg, denn z.B. sein Zeitgenosse Lukrez stellte in seinem Lehrgedicht De rerum natura die epikureische Philosophie und Götterlehre durchaus dogmatisch mit absolutem Wahrheitsanspruch dar. Epikur wird bei Lukrez als geradezu göttliche Autorität hymnisch gepriesen und seine Auffassungen wie eine göttliche Offenbarung vermittelt. Dies ist paradox, wenn man bedenkt, dass gerade die Epikureer mit ihrer deistischen Gottesauffassung ein eher säkulares Weltbild gepredigt haben. Doch auch spätere römische Fachphilosophen wie etwa der Stoiker Seneca schließen sich dogmatisch an die Meinungen der Gründungsautoritäten an; so vertritt Seneca wieder die rigorosen Auffassungen der frühen Stoiker Zenon und C ­ hrysipp.32

4. Ciceros Dialogfiguren Ein weiterer wichtiger Aspekt, der Ciceros humanitas-Konzept verdeutlicht, ist die Auswahl der Dialogfiguren in seinen philosophischen Schriften. Es hätte für Cicero nahegelegen, die unterschiedlichen philosophischen Standpunkte von griechischen Philosophen als fiktiven Dialogsprechern vertreten zu lassen. Es hätte im Übrigen nicht zuletzt für das Lesepublikum einen nicht zu unterschätzenden Reiz besessen, wenn etwa Epikur selbst in einem anachronistisch konstruierten Dialog aufgetreten wäre und z.B. mit Aristoteles, Platon und Chrysipp über das Wesen der Götter gestritten hätte. Interessanterweise geht Cicero einen völlig anderen Weg: Er entscheidet sich für Dialogfiguren aus dem historischen römischen Ambiente. Dabei nahm er teilweise schon verstorbene Persönlichkeiten (Scipio und Cato maior) oder vielfach noch lebende Zeitgenossen als Dialogpartner, was für die Ausgestaltung und Wirkung der Dialoge entsprechende Konsequenzen nach sich zieht. Die Leser haben 32 

Wildberger 2006.

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so eine andere und bessere Identifikationsmöglichkeit mit den Sprechern, weil der Dialog trotz allen fiktionalen Elementen doch realistisch wirkt.33 Zudem prallen die Standpunkte nicht so schroff aufeinander, wie die eben genannte Variante mit den griechischen Originalphilosophen es vermutlich mit sich gebracht hätte. Stattdessen plaudern die Dialogpartner, die sich persönlich gut kannten und häufig freundschaftlich und politisch miteinander verbunden waren, höflich miteinander und tauschen ihre Standpunkte zwar lebhaft, aber doch kultiviert miteinander aus. Diese urbanitas im Diskurs kann natürlich gerade als wichtiges Merkmal von Ciceros humanitas („gutes mitmenschliches Miteinander“) gelten, das nicht nur Bildung im Sinne von Gelehrsamkeit, sondern als aristokratischer Habitus auch eine hohe soziale Kompetenz impliziert.34 Wenn man sich die Figuren genauer ansieht, stellt man fest, dass es sich nicht um römische Experten in Sachen Philosophie handelt, sondern um gewissermaßen „ganz normale“ Redner und Politiker oder auch Priester. Zu dieser Gruppe gehören bekannte Persönlichkeiten der Führungselite wie z.B. der ältere Antonius, Crassus, Ciceros Bruder Quintus, der Augur Scaevola, der pontifex maximus Cotta und viele andere mehr. Die historischen Figuren stammen übrigens zumeist aus dem stadtrömischen Patriziat, dem Cicero selbst nicht angehörte. Die römische Figurenauswahl würde vermutlich für einen griechisch-antiken Leser dieser Dialoge die philosophische Zuverlässigkeit der darin vertretenen Standpunkte gehörig in Frage stellen. Allerdings ging es Cicero nicht unbedingt um Schriften für ein philosophisches Expertenpublikum, sondern um interessierte und im Rahmen der oberschichtlichen Erziehung vorgebildete Laien.35 Die philosophischen Standpunkte werden in den Dialogen quasi aus der Perspektive des gesunden Menschenverstandes analysiert und auf die Probe gestellt. Zugleich entsteht durch die Figurenauswahl für den zeitgenössischen römischen Leser implizit eine enge Assoziation zwischen den behandelten philosophischen T hemen und der römischen Politik, auch wenn diese gar nicht explizit T hema der Dialoge ist. Mit griechischen Philosophen als Dialogfiguren wäre diese unterschwellige Verbindung von Politik und Philosophie nicht möglich gewesen. Es kommt hinzu, dass einige prominente Persönlichkeiten wie etwa der ältere Cato und Scipio als echte Exempla für die römische Gesellschaft fungierten und somit die Botschaft vermittelt wurde, die Philosophie müsse ihre Berechtigung haben, wenn sogar diese Persönlichkeiten und politischen Autoritäten sich für Fragen der griechischen Philosophie interessieren und die ihnen in den Mund gelegten Lehren vertreten.

33 

Vgl. Schofield 2008. Ähnlich Scholz 2011, 217–229. 35  Vgl. etwa das Proöm seiner Schrift Tuskulanen (Cicero, Tusculanae disputationes 1,6 f.); Marchetti 2019, 132 f. vermutet sogar ein breiteres Publikum über die eigentliche Oberschicht hinaus. 34 

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Somit lässt sich als Zwischenfazit ziehen: Cicero will die für die hellenistischen Philosophenschulen typische Autoritätsgläubigkeit mit ihrem Wahrheitsanspruch in Frage stellen und setzt sein eigenes „anti-autoritäres“ Programm mithilfe römischer „Autoritäten“ dialogisch um. Als Nebenprodukt ist durchaus die Art der Kommunikation während der Streitgespräche wichtig: Die Dialogpartner führen dem Leser vor, wie Streitkultur im Sinne der respektvollen humanitas funktioniert, und sie helfen ihm bei der Entwicklung eines eigenen Standpunktes. Zwar ist diese Art von philosophisch geprägter Bildungskultur in Rom eigentlich neu und wird von Cicero in seinen Dialogen erst neu inszeniert; gleichwohl dürften die Ausführungen klar gemacht haben, dass Cicero den Erwartungshaltungen seiner römischen Leser didaktisch geschickt entgegenkommt, indem er römische Autoritäten und zumindest die Ideale aristokratischer Umgangsformen und Höflichkeitsrituale in seine Dialoge integriert. Schließlich sollte es sich bei Ciceros Philosophie offenbar um eine ‚römische‘ Philosophie handeln, wie nicht nur das römische Ambiente, sondern auch die bewusste Wahl der Sprache zeigt:36 Wie Cicero ausführlich am Beginn seiner Schrift De finibus darlegt, bevorzugten nämlich die meisten philosophisch interessierten Leser die griechische Sprache als Medium,37 weil so die originale Fachterminologie mit ihrer kulturspezifischen Semantik auch exakter abgebildet ist. Cicero schreibt aber bewusst auf Latein.

5. Das Beispiel De natura deorum Kommen wir nun zu einem praktischen Dialogbeispiel, das die zuvor dargelegten Prinzipien illustriert, nämlich zu Ciceros theologischem Dialog über das Wesen der Götter (De natura deorum). In dieser Schrift geht es vor allem um eine Kontrastierung der unterschiedlichen T heologien der drei hellenistischen Philosophenschulen Epikureismus, Stoa und platonischer (skeptischer) Akademie. Die Schrift hat Cicero wie auch andere zentrale Dialoge erst gegen Ende seines Lebens in den 40er Jahren v. Chr. verfasst; speziell De natura deorum stammt aus der Zeit 45/44 v. Chr., d.h. sie entstand wohl kurz vor der Ermordung des Diktators Caesar.38 Gewidmet ist die Schrift im Übrigen dem Stoiker und Caesar-Gegner Brutus, womit sie einen klaren politischen Subtext für die zeitgenössischen Leser transportierte. Der in drei Bücher gegliederte Dialog weist folgende Binnenstruktur auf:

36 

Vgl. Dench 2013. De finibus bonorum et malorum 1,1–6. 38 Gerlach / Bayer 1987, 556 mit den antiken Zeugnissen für die Datierung. 37 Cicero,

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De natura deorum: Handlung ca. 76 v. Chr. – feriae Latinae – Haus des Cotta Buch I (Epikur)

Buch II (Stoa)

Buch III (Akademie)

•  Velleius stellt die epikureische Götterlehre dar. •  Der pontifex maximus Cotta kritisiert die epikureische Götterlehre.

•  Balbus stellt die stoische Götterlehre dar.

•  Der pontifex maximus Cotta widerlegt die s­ toische Götterlehre. •  Cicero positioniert sich und tendiert zur Stoa.

Der fiktive Dialog soll gut 30 Jahre zuvor während der feriae Latinae – also eines gemeinschaftlichen Kultfestes der Latiner für den latinischen Jupiter – im Hause des Pontifex Maximus Cotta stattgefunden haben. Dieser Rahmen gibt den Gesprächspartnern also das passende religiöse Ambiente für die anstehende Dis­ kussion. Zu den Figuren ist zu bemerken:39 Velleius war 90 v. Chr. Volkstribun und ein enger Vertrauter des Redners Licinius Crassus; er gehörte wohl zu den vielen Epikur-Anhängern der ausgehenden Republik und tritt hier entsprechend als Epikureer auf. Der sonst nicht weiter bekannte Lucilius Balbus vertritt die Lehre der Stoiker und der (ab 82) als pontifex maximus und sogar Konsul (75) gut bekannte Aurelius Cotta vertritt den Standpunkt der skeptischen Akademie. Cicero war zum Zeitpunkt des fiktiven Dialogs mit Ende 20 noch recht jung und saß nur als Zuhörer dabei. Lediglich am Schluss schaltet er sich kurz in das Gespräch ein. Das Setting legt nahe, den pontifex Cotta als eine Art alter ego Ciceros aufzufassen, der selbst Priester und skeptischer Akademiker war. Doch der Schluss des Dialogs mahnt hier zur Vorsicht, wie wir später noch zeigen werden. Buch I (Epikur): Schon formal lässt sich der Übersicht entnehmen, wie wenig Cicero offenbar von der epikureischen T heologie hielt: Er widmet ihr nicht mehr als ein halbes Buch, während die Stoa immerhin ein ganzes Buch für sich beanspruchen darf. Das könnte, wenn man nicht zu viel in diese quantitative Aufteilung hineininterpretiert, als implizites, aber deutliches Steuerungssignal für die Leser interessant gewesen sein, wenn man bedenkt, dass Caesar vermutlich Epikureer, Ciceros Freund und Widmungsadressat Brutus dagegen Stoiker war. Im ersten Buch nun versucht Velleius die von Epikur gar nicht bestrittene Existenz der Götter zu beweisen, indem er auf das Konzept der anticipatio rekurriert.40 Nach diesem besitzen alle Völker eine Art mentaler Vorannahme von den Göttern, die in der Summe keine Fehlvorstellung sein kann. Die Hypothese, etwas, das alle glauben, müsse stimmen, ist v.a. aus moderner Perspektive kein starkes Argument: Denn bei der Frage, ob die Erde flach oder eine Kugel sei, war diese Form der „Beweisführung“ wenig stichhaltig. Weiter führt Velleius aus, die Göt39 

Zu den prosopographischen Daten vgl. Gerlach / Bayer 1987, 556–559. De natura deorum 1,43–45.

40 Cicero,

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ter bestünden aus Atomen, seien demzufolge materiell zu denken und hätten eine den Menschen ähnliche Gestalt mit den entsprechenden Körpergliedern (Kopf, Beine, Arme etc.).41 Zudem seien die Götter glückselig, weil sie fern vom Treiben der Menschen ungestört in ihren Intermundien bzw. Zwischenwelten lebten, um dort ein ewiges otium zu pflegen.42 Schließlich preist Velleius noch am Ende seines Redebeitrages den Schulgründer Epikur als den Erlöser der Menschheit.43 Dies hat seinen Grund darin, dass Epikur mit seiner deistischen Götterlehre die Menschen von ihrer Furcht vor den Göttern befreien wollte. Laut Epikur bestrafen die Götter die Menschen nämlich weder im Diesseits noch im Jenseits bzw. der Unterwelt, noch schicken sie ihnen in Form von negativen Prodigien Katastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Fehlgeburten. Vielmehr sind solche Erscheinungen naturgesetzlich erklärbar, so dass die Menschen laut Epikur auch keine Angst vor den als moralisch vorbildlich gedachten Göttern zu haben brauchen. Der skeptische pontifex Cotta hat nun leichtes Spiel, diese eher schwache epikureische Argumentation genüsslich zu zerpflücken. So fragt er rhetorisch: Die Götter bestehen aus Atomen? Dann sind sie ebenso vergänglich wie alles andere, was aus Atomen besteht und damit materiell gedacht ist.44 Die anthropomorphe Gestalt der Götter hält Cotta ebenso für unsinnig, denn schließlich stellen sich ja keineswegs alle Völker die Götter optisch gleich vor.45 Vielmehr sei die anthropomorphe Vorstellung typisch für den römisch-italischen (und man kann noch hinzufügen: griechischen) Kulturraum; in Ägypten hingegen sähen viele Götter aus wie Tiere (Schakal, Falke, Kuh etc.). Zudem seien die Gliedmaßen der Götter völlig sinnlos, wenn sie sie anders als die Lebewesen auf der Erde gar nicht benutzten. Cotta argumentiert hier also schon fast funktional evolutionsbiologisch. Im Weiteren macht er sich über die angebliche Glückseligkeit der Götter in den Intermundien lustig: Der skeptische Pontifex versucht nämlich, sich das konkret vorzustellen und kommentiert ironisch, die Götter hätten überhaupt nichts zu tun und riefen einfach nur den ganzen Tag aus: mihi pulchre est, ego beatus sum!46 Entsprechend kann sich Cotta nichts Langweiligeres als diese Art von „Glückseligkeit“ vorstellen. Aufgrund ihrer Tatenlosigkeit können die Götter zwangsläufig auch keine virtus aufweisen, was sie den Menschen gegenüber moralisch unterlegen macht. Cotta kommt daher zu dem Schluss, die epikureischen Götter seien ebenso wie der Kult für sie sinnlos, und damit sei Epikur in seinen Augen faktisch ein Atheist.47

De natura deorum 1,46–50. De natura deorum 1,51–53. 43 Cicero, De natura deorum 1,54–56. 44 Cicero, De natura deorum 1,109. 45 Cicero, De natura deorum 1,76–108. 46 Cicero, De natura deorum 1,114. 47 Cicero, De natura deorum 1,115–124. 41 Cicero,

42 Cicero,

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Buch II (Stoa): Im zweiten Buch versucht sich der Stoiker Balbus erneut am Beweis für die Existenz des Göttlichen. Er führt einmal Beispiele aus der Geschichte an wie Auspizien, die ja ein guter Hinweis für die Existenz Gottes seien.48 Im Weiteren führt er den stoischen Pantheismus aus, indem er die Göttlichkeit des Kosmos und der Gestirne beschreibt. Der Kosmos sei so wunderbar geordnet, dass sich dies nur durch die Wirksamkeit eines göttlichen Geistes erklären lasse. An der guten Ordnung des Kosmos und allen Weltgeschehens könne man schließlich die göttliche Fürsorge erkennen, die wiederum die Existenz eines göttlichen Prinzips erweise.49 Buch III (Akademie): Doch auch diese wohlgeordnete, lange Rede widerlegt der skeptische Priester Cotta im dritten Buch des Dialogs ausführlich: Er hält die stoischen Gottes-„Beweise“ für logisch unstimmig. So argumentiert Cotta ganz platonisch, der Kosmos könne nicht göttlich sein, da er ja aus Materie bestehe und somit vergänglich sei.50 Er überspitzt die Vorstellung von einem belebten bzw. lebendigen Kosmos mit der T hese, im Vergleich zum Menschen könne der Kosmos ja nicht lesen oder gar musizieren; insofern sei er sogar dem Menschen intellektuell unterlegen – von Göttlichkeit könne also keine Rede sein.51 Auch das stoische Konzept vom Weltgeist (gr. lógos) als Feuer (gr. pyr) kann Cotta nicht teilen, weil ja auch das materiell zu denkende Feuer erlöschen könne und somit ungöttlich sein müsse.52 Die Versuche der Stoiker, die niederen Gottheiten des Volksglaubens zu retten, seien auch wenig überzeugend, wenn man sich Gottheiten wie die wollüstigen Faune (Satyrn) vorstelle. Ebenso seien die abstrakten, aber in Rom kultisch verehrten Gottheiten wie fides oder concordia nicht recht mit der klassischen Gottesvorstellung kompatibel.53 Zudem sei die typisch stoische Vorstellung von der göttlichen providentia („Vorsehung/Fürsorge“) für Mensch und Kosmos völliger Unsinn, wenn man sich ansehe, wieviel Unrecht auf der Welt geschehe und offensichtlich ungestraft ­bleibe.54 Er stellt auch die Frage, ob die stoischen Götter überhaupt in der Lage seien, aktiv Entscheidungen zu treffen, wenn es doch ein fatum gebe. In diesem Zusammenhang geht Cotta weiter auf die Frage der T heodizee ein, die im stoischen System nicht befriedigend beantwortet werde.55 So entscheiden sich die Menschen oft gegen die Götter für das Schlechte: Wussten die Götter dies nicht im Voraus? Und warum haben sie es dann nicht verhindert? Und warum haben die Götter den Menschen überhaupt als so defizitäres Wesen, das häufig zum Schlechten neigt, konstruiert? De natura deorum 2,4–12. De natura deorum 2,133–154. 50 Cicero, De natura deorum 3,29–34. 51 Cicero, De natura deorum 3,23. 52 Cicero, De natura deorum 3,35–37. 53 Cicero, De natura deorum 3,47. 54 Cicero, De natura deorum 3,65–93. 55 Cicero, De natura deorum 3,80–84.89–92. 48 Cicero, 49 Cicero,

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Nach dieser langen antistoischen Tirade schließt Cotta allerdings keineswegs mit einem Bekenntnis zum Atheismus. Vielmehr weist er darauf hin, dass die Frage nach den Göttern für ihn einfach noch nicht überzeugend beantwortet sei und noch weiterer Erörterung bedürfe.56 Der Stoiker Balbus antwortet anschließend kurz auf die Rede und beklagt sich über Cottas Vehemenz. Er spricht Cotta sogar explizit als römischen Priester an, der doch für den Kult der Götter und überhaupt die Heiligtümer der Stadt zuständig sei.57 Und tatsächlich entgegnet Cotta nun etwas milder, er sei zu weiterer Diskussion bereit und hoffe sogar, von Balbus in seiner skeptischen Kritik widerlegt zu werden. Zum Abschluss der Schrift meldet sich der Autor Cicero und schlüpft teilweise in seine Rolle als junger Hospitant des Disputs; er schreibt:58 „Nach diesen Worten trennten wir uns, und zwar so, dass (der Epikureer) Velleius den Vortrag Cottas für zutreffender hielt, während mir die Worte des (Stoikers) Balbus der Wahrscheinlichkeit näher zu kommen schienen“ ([…] ut […] mihi Balbi ad veritatis similitudinem videretur esse propensior). Für den Leser ergibt sich so ein gewisses Überraschungsmoment, indem sich der skeptische Augur Cicero eben nicht auf die Seite des skeptischen pontifex Cotta schlägt, sondern eher auf die der Stoa. Aber dies tut er mit so vielen sprachlichen Einschränkungen und Vorbehalten, dass keine sichere Erkenntnis hieraus ableitbar ist. Und dass ausgerechnet der Epikureer nach den Tiraden des Skeptikers auf die Meinung des Skeptikers umschwenkt, könnte man durchaus als Produkt von Ciceros philosophisch-literarischem Witz deuten. Was freilich an diesem Dialog gut zu sehen ist: Endgültig wahre Erkenntnis will Cicero seinen Lesern nicht verkünden, sondern er macht lediglich Argumentationsangebote an das Publikum, die als Grundlage für ein eigenes Urteil zu nutzen sind.59 Originell ist das angewandte Verfahren, die unterschiedlichen Standpunkte in Form von Gesprächen direkt aufeinander prallen zu lassen, was es in dieser Weise in den epikureischen und stoischen Schriften nach unserer Kenntnis bisher nicht gab. Cicero scheint somit der erste und auch vielleicht der einzige antike Philosoph gewesen zu sein, der von dieser Form des Diskurses, bei dem eine philosophische Lehre aus der direkten Perspektive der Konkurrenz kritisiert wird, Gebrauch gemacht hat. Als religiöse Autoritäten sind die Philosophenschulen für ihn damit nicht unbedingt erledigt – bis auf die Ausnahme der Epikureer, denen Cicero offensichtlich nichts Positives abgewinnen konnte. De natura deorum 3,95. De natura deorum 3,94: […] est enim mihi tecum pro aris et focis certamen et pro deorum templis atque delubris proque urbis muris, quos vos pontifices sanctos esse dicitis diligentiusque urbem religione quam ipsis moenibus cingitis; quae deseri a me, dum quidem spirare potero, nefas iudico („[…] denn ich kämpfe ja mit dir für die Altäre und die Herde und für die Tempel und Heiligtümer der Götter und für die Stadtmauern, die ihr Priester für heilig erklärt; und ihr beschützt die Stadt noch sorgfältiger durch euren Kult als durch die Mauern selbst; wenn ich das alles aufgebe, solange ich noch atme, ist dies in meinen Augen ein Frevel.“). 58 Cicero, De natura deorum 3,95. 59  Vgl. zu den Deutungen Marchetti 2019, 59–63. 56 Cicero, 57 Cicero,

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6. Historischer Rahmen und Fazit Aus der Perspektive der von der Religionstypologie so genannten „orthodoxen“ Religionen wie Christentum oder Islam mag ein Dialog wie De natura deorum sowohl vom ganzen Setting als auch vom Inhalt her befremdlich anmuten: Ein Oberpriester und späterer Konsul wie die Dialogfigur Aurelius Cotta, der erst die Grundlagen seines eigenen Priesteramtes mithilfe einer importierten Philosophie in Frage stellt, dann aber doch lieber widerlegt werden möchte, mag paradox erscheinen. Das Ganze ist von einem anderen römischen Priester (und gewesenen Konsul) literarisch konstruiert – dem Augur Cicero, was nicht minder paradox anmutet. Die Paradoxien von Ciceros Schrift lassen sich zumindest partiell mit der anfangs angesprochenen orthopraxen Religionsauffassung der Römer erklären. Wichtig war im Wesentlichen, was die römischen Bürger, Magistraten und Priester im Götterkult vollzogen, und dass die Rituale korrekt durchgeführt wurden; was die Bürger dabei glaubten, spielte prinzipiell keine Rolle und war für das Gelingen der Kommunikation mit den Göttern irrelevant. Diese Grundeinstellung eröffnete andere Möglichkeiten für den freien Diskurs über theologische Fragen als später im christianisierten Römischen Reich, wo solche Diskussionen nicht mehr zulässig waren. Ein römischer Bischof, der die Dreifaltigkeit Gottes oder die Göttlichkeit Jesu anzweifelte oder gar leugnete, war (und ist) im Christentum undenkbar. In der griechisch-römischen Religion war dagegen Kritik an und Spott über die Götter immer erlaubt, wie auch viele andere literarische Beispiele bei Homer oder in der Alten Komödie Athens zeigen.60 Entscheidend war lediglich die Garantie, dass der Kult verrichtet und die Existenz der Götter nicht rundweg geleugnet wurde. Daher hat Cotta auch seine Probleme mit der Götterlehre des Epikur, die aus seiner Sicht allzu stark in Richtung Atheismus geht. Vergleicht man nun Ciceros Konzept mit den Zeugnissen anderer Zeitgenossen, kann man gleichwohl Besonderheiten in seinen Auffassungen erkennen.61 Auf der einen Seite steht der Epikureer Lukrez, der in seinem Lehrgedicht De rerum natura eben die von manchen Römern als faktischen Atheismus empfundene deistische Götterlehre verkündete. Unterdrückt wurde dies von den römischen Behörden allerdings offenbar nicht, sonst wäre das Werk nicht erhalten geblieben. Im Gegenteil wurde es von späteren Autoren viel benutzt und diente als literarisches Vorbild.62 Ein anderer Fall wäre der gelehrte Antiquar und Cicero-Zeitgenosse Varro, der ebenso wie Cicero aus der Provinz stammte und dem Ritterstand angehörte. Er hatte teilweise dieselben Lehrer wie Cicero und war wie dieser von Stoa und Platonismus beeinflusst. Doch ganz anders als Cicero war er an der positivistischen Sammlung alter Wissensbestände zum T hema Religion und Kult in60  Zur so genannten ‚Götterburleske‘ im antiken Mittelmeerraum vgl. Burkert 1982; Muth 1992. 61  Zum Rahmen vgl. auch Corbeill 2013. 62  Dazu Gatzemeier 2013.

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teressiert. In seinem nur in Fragmenten und Zitaten greifbaren Werk Antiquitates rerum humanarum et divinarum sammelte er ungeheure Massen an Material zu alten Kulten, Götternamen und Heiligtümern sowie alles an damit verbundenem Wissen.63 Dies erweist bereits die Existenz unterschiedlicher Bildungskonzep­ tionen in der ausgehenden Republik, die sich in der Kaiserzeit fortsetzen werden: Auf der einen Seite eine eher handbuchartig-wissensbasierte Richtung, die sich bei Varro findet; und auf der anderen Seite ein an Kompetenzen ausgerichtetes Bildungskonzept wie bei Cicero, wo es mehr darum geht, auf angemessene Weise über bestimmte Wissensbestände diskutieren und urteilen zu können, als möglichst viel Wissen anzuhäufen.64 Handbuchwissen wollte Cicero jedenfalls nicht vermitteln, vielmehr setzte er dies bei seinen Lesern schon voraus. Varros Werk war später für Augustus eine wichtige Grundlage bei der Restauration der alten römischen Kulte.65 Dies zeugt von dem großen Respekt, den Varro den Kulten entgegenbrachte, und von dem Bestreben, eine eigenständige, von den Griechen unabhängige Identität durch die Erforschung römischer Kulte und Altertümer zu schaffen.66 Doch auch er hatte einen durchaus analytischen Blick auf die religio, wie man an einem bis in die Spätantike sehr wirkmächtigen Konzept erkennen kann, nämlich der von Augustinus zitierten theologia tripertita:67 Darin unterscheidet Varro zwischen einer theologia mythica, die die mythologischen Göttergeschichten in den Bereich der Dichtung verweist. Dann gibt es die theologia civilis im Sinne der römischen Staatsreligion mit ihren Kulten, die man gewissermaßen als die orthopraxe Seite der religio ansehen könnte; davon zu trennen ist die theologia physica als die philosophische Götter-Erklärung, wie wir sie bei Cicero in seinem Dialog finden und die quasi eine „orthodoxe“ Religionsbetrachtung bildet. Unser Begriff ‚Religion‘ wird hier demzufolge ausdifferenziert in die drei Bereiche Mythos-religio-T heologie. Dem Philosophen Cicero oder auch Cotta sind theologische Spekulationen erlaubt, die im Grunde getrennt neben der Staatsreligion als eigenem kultischem Bereich stehen. Dass hiervon wiederum die literarische theologia mythica zu trennen ist, macht Cicero übrigens in seinem Dialog De divinatione deutlich: Dort belehrt Cicero nämlich seinen Bruder ganz im Sinne Varros, dass man die religiös-mythischen Ausführungen aus seinem eigenen autobiographischen Epos De consulatu suo keineswegs für bare Münze halten dürfe, weil es sich eben nur um Dichtung handle.68 Dies bedeutet in unserem Zusammenhang dann auch, dass Literatur eben nicht als echte religiöse Autorität fungiert – ebensowenig wie die Lehren und Schriften griechischer Philosophen. 63 

Vgl. hierzu Kuhlmann 2020, 8–10. Dazu Kuhlmann 2020, 7–13. 65  Dazu Cardauns 1978. 66  Vgl. Jocelyn 1982. 67  Augustinus von Hippo, De civitate dei 4,27. 68  Dazu Kuhlmann 2011, 19–21. 64 

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Vom Text zum Kanon Die Autorität der Hebräischen Bibel im antiken Judentum

Reinhard G. Kratz* Wenn im vor-rabbinischen antiken Judentum (einschließlich des Neuen Testaments und frühen Christentums) eine Autorität angeführt wird, dann sind es „die Schrift“ oder „die Schriften“. Gemeint ist die Hebräische Bibel oder – im Sprachgebrauch des Christentums – das Alte Testament in hebräischer oder griechischer Sprache. Die Autoritäten sind demnach Mose, die Propheten, David oder Salomo, also diejenigen Personen, unter deren Namen die Schriften der Hebräischen Bibel überliefert sind. In dem folgenden Beitrag möchte ich fragen, wie „die Schrift“ bzw. „die Schriften“ ihre Autorität im antiken Judentum erhalten haben und worin diese Autorität besteht. Lange Zeit hat die Forschung angenommen, der Kanon sei nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. auf einer Versammlung, einer Art Synode oder Konzil von Rabbinen in Jabne beschlossen worden, doch hat sich herausgestellt, dass es weder eine Synode in Jabne noch eine dort erfolgte Kanonisierung gegeben hat.1 Und so muss man sich auf indirektem Wege erschließen, wie und zu welchem Zeitpunkt die Hebräische Bibel zu ihrer Autorität gelangt ist.

1. Zeugnisse über den Kanon der Hebräischen Bibel Zeugnisse für die Autorität der Hebräischen Bibel findet man schon in der Bibel selbst. So ist als erstes auf das Buch Deuteronomium zu verweisen, in dem von seiner schriftlichen Fixierung durch Mose und der Verbindlichkeit des darin kodifizierten Gesetzes die Rede ist. Sodann ist der König Joschija zu erwähnen, von dem in 2 Kön 22–23 erzählt wird, dass man in seiner Zeit anlässlich von Arbeiten am Tempel ein lange Zeit verschollenes und in Vergessenheit geratenes „Buch der Tora“ bzw. „Buch des Bundes“ gefunden habe, worunter entweder das Deuteronomium oder der ganze Pentateuch zu verstehen ist. Als man es Joschija vorlas, *  Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt B 01: „Schriftauslegung in den Texten vom Toten Meer (Qumran)“. 1 Vgl. Maier 1990, 13 f.

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zerriss der seine Kleider, verpflichtete das ganze Volk auf dieses Buch und leitete umfangreiche Kultreformen im ganzen Land an, die diesem „Buch der Tora“ entsprachen. Schließlich ist auch an den Schreiber, Priester und Toragelehrten Esra zu denken, der gemäß Esra 7–10 und Neh 8 von dem persischen König Artaxerxes (unklar ist ob Artaxerxes I. oder II.) nach Juda geschickt wird, um dort das „Buch des Gesetzes des Himmelsgottes“, die Tora des Mose, (wieder) einzuführen. Hier ist sicher schon der ganze Pentateuch im Blick. Auch Esra führt wie sein Nachfolger Nehemia umfangreiche Reformmaßnahmen durch, die den Vorschriften dieses Gesetzbuches entsprechen, und veranstaltet wie Joschija eine öffentliche Verlesung und Verpflichtung des Volkes auf die Tora. Ob diese Berichte historisch sind, ist in der Forschung umstritten, meist wird es in Zweifel gezogen.2 Doch darauf kommt es nicht an. Die Texte zeigen, dass es Kreise gab, die die Tora (das Deuteronomium oder den ganzen Pentateuch) für verbindlich hielten und also als eine Autorität betrachteten und narrative Strategien entwickelten, um die Autorität der Tora historisch zu verankern und zu legitimieren. Denn dafür sind die biblischen Narrative gemacht. Wer sich hinter diesen Kreisen verbirgt und wann genau die Texte entstanden sind, wissen wir bedauerlicherweise nicht. Von dem Inhalt her lässt sich nur auf einen terminus a quo schließen: Mose irgendwann in grauer Vorzeit, Joschija im ausgehenden 7. Jahrhundert v. Chr., Esra in der späteren Perserzeit. Vermutlich sind jedoch alle Legenden, d.h. auch das Deuteronomium und der sogenannte Reformbericht des Joschija, erst in spätbabylonischer oder persischer, Esra vielleicht sogar erst in frühhellenistischer Zeit entstanden. Es handelt sich jedenfalls um Zeugnisse einer Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse in den Provinzen Juda und Samaria und in der jüdischen Diaspora, wo die Tora keineswegs eine allseits anerkannte Autorität war und noch nicht allgemein in Geltung stand.3 Wo auch immer wir hinsehen, zeigt der epigraphische Befund, dass das antike Judentum auch in babylonischer (Al Yahudu), persischer (Elephantine) und hellenistischer Zeit (Garizim, Alexandria, Leontopolis) nicht nach der Tora lebte, sondern sich auf die traditionellen Autoritäten wie Statthalter, Priester, Propheten, Rechts- und Schriftgelehrte stützte und die traditionelle Religion Israels und Judas pflegte, die von den Idealen der biblischen Schriften weit entfernt war und von diesen bekämpft wird. Dieses Judentum, das die Autorität einer alten, lange währenden Tradition auf seiner Seite hatte und dem die Schriften der Hebräischen Bibel noch fremd waren, möchte ich in Ermangelung eines besseren Begriffs als „nichtbiblisches Judentum“ bezeichnen. Dagegen opponieren die Stimmen eines anderen Judentums, das sich in der Hebräischen Bibel und davon abhängigen parabiblischen Schriften (Apokryphen 2  Vgl. zur Diskussion Berlejung, 2010, 144 f.166, sowie Gertz 2010, 291 f.; Frevel 2018, 304 ff.354 ff. 3  Zum Folgenden vgl. Kratz 2017a.

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und Pseudepigraphen, Qumran) zu Wort meldet und mit Legenden der Kodifizierung, Wiederauffindung und Wiedereinführung der heiligen Bücher durch Mose, Joschija und Esra, gelegentlich auch durch Henoch (1 Hen) oder Nehemia (2 Makk) ihre neue Auffassung des Judentums als uralt und traditionell ausgibt und das ich als das „biblische Judentum“ bezeichne. Gehen wir in die hellenistischer Zeit, begegnet uns um 200 v. Chr. ein weiterer Zeuge des werdenden Kanons der Hebräischen Bibel: das Buch des Jesus Ben Sira.4 Es wurde in hebräischer Sprache verfasst und im 1. Jh. v. Chr. ins Griechische, danach auch in viele andere Sprachen übersetzt. Ben Sira ist ein bedeutender, wenn nicht der bedeutendste Meilenstein auf dem Weg vom nichtbiblischen zum biblischen Judentum, oder anders gesagt: auf dem Weg zur Popularisierung der Hebräischen Bibel, wodurch diese auch zunehmend an Autorität gewann. In seiner Schrift, eine Art Summa der biblischen Gelehrsamkeit, fließen alle möglichen Stränge der biblischen Tradition zusammen und werden zu einer neuen Einheit verschmolzen: Gesetz, Kult, Weisheit, Prophetie, Psalmen. Was Ben Sira zu dieser Summa nötigt, sind zwei Gründe: Der eine Grund ist der immer stärker werdende Einfluss des Hellenismus im antiken Judentum, der auch in der Lehre des Ben Sira – z.B. bei Werten wie „Freundschaft“, „Gegenseitigkeit von Geschenken“, Tischsitten, Vorstellungen vom Tod und dem „Ruhm“ nach dem Tod, ethisierende Gottesvorstellung u.a.m. – auf Schritt und Tritt spürbar ist und zu einer Verhältnisbestimmung zu den biblischen Vorstellungen und Idealen herausforderte. Etwa zeitgleich oder auch etwas früher als Ben Sira erfolgte die Übersetzung der Tora (des Pentateuchs) ins Griechische, wahrscheinlich in Alexandrien.5 Die übliche Annahme ist, dass die Übersetzung für den liturgischen Gebrauch in der Synagoge angefertigt wurde. Doch dafür haben wir keinen Beleg. Der eigentliche Zweck scheint mir vielmehr ein anderer gewesen zu sein, nämlich der jüdischen Gemeinschaft im hellenisierten Ägypten die Gelegenheit zu geben, an dem gebildeten philosophischen Diskurs des Hellenismus teilnehmen und eine eigene Tradition einbringen zu können. Einen Reflex darauf finden wir auch in dem späteren pseudepigraphen Brief des Aristeas aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., der die Legende zur Entstehung der Septuaginta überliefert: die Übersetzung durch 72 Priester in 72 Tagen.6 Hier wird die Übersetzung auf den Bedarf der berühmten Bibliothek von Alexandria unter Ptolemaios II. Philadelphos zurückführt, und in diesem Zusammenhang werden lange philosophische Konversationen zwischen dem König und den jüdischen Priestern aus Jerusalem referiert. Das könnte die Situation um 200 v. Chr. widerspiegeln, ein gebildeter Diskurs zwischen hellenisierten Ägyptern, Griechen und Juden. Darüber hinaus verfolgt der Aristeasbrief die Absicht, der griechischen Fassung der Tora dieselbe, wenn nicht sogar eine 4 

Sauer 1981. Kratz 2017a, 268 ff. 6  Meisner 1977. 5 

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noch höhere Autorität zu verleihen, wie sie die Hebräische Bibel zu seiner Zeit, um 100 v. Chr., hatte. Doch zurück zu Ben Sira. Neben der Herausforderung durch den Hellenismus, der Ben Sira mit einer Schrift in hebräischer Sprache begegnete, ist ein zweiter Grund für die Abfassung seiner Schrift die mangelnde Kenntnis der biblischen Überlieferung im Judentum selbst, der er entgegenwirken möchte. Zu diesem Zweck schließt er sein Werk mit dem sogenannten „Lob der Väter“ ab, einer Art Katechismus, in dem er die heilige Geschichte von Adam bis Nehemia nach der Ordnung der biblischen Bücher im Pentateuch und den vorderen und hinteren Propheten rekapituliert (Sir 44–49). In dieser Paraphrase der heiligen Geschichte spiegelt sich die Büchersammlung der Hebräischen Bibel in ihren beiden ersten Kanonteilen: Tora und Propheten. Darüber hinaus kennt und zitiert Ben Sira die Psalmen und andere Bücher des späteren dritten Kanonteils „Ketuvim“ ­(Schriften). Wie der Prolog zur griechischen Übersetzung ausdrücklich sagt, hat Ben Sira seine Schrift verfasst, um auch die Unwissenden über die Bestände und Inhalte der Hebräischen Bibel zu unterrichten, woraus man den Schluss ziehen kann, dass zu seiner Zeit viele davon nichts wussten. Auch bringt der Prolog die Bestände der Hebräischen Bibel auf den Begriff und spricht bereits von einem dreigeteilten Kanon: Tora (Pentateuch), Propheten (Josua bis Könige und die prophetischen Bücher) und „die übrigen Schriften“. Weitere Zeugnisse über den Kanon mehren sich in der Folge ab dem ausgehenden 2. Jahrhundert v. Chr. Ich nenne sie hier nur summarisch: Da sind zum einen die ausdrücklichen Zitate in den Texten vom Toten Meer (Qumran), die einzelne Büchern und Personen beim Namen nennen oder auch die summarische Formel „Tora und Propheten“ oder „Mose und die Propheten“ benutzen und einmal vielleicht sogar „das Buch des Mose, die Bücher der Propheten und David“ (d.h. die Psalmen) nennen.7 Der Schriftgebrauch und die Bezeichnungen sind dieselben, die wir auch in den Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments sowie im Neuen Testament antreffen. Zeugnisse über die genaue Anzahl der Bücher der Hebräischen Bibel finden sich sodann bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus8 und in der Apokalypse des 4. Esra (Kap. 14)9, beide um 100 n. Chr. Um diese Zeit steht der Kanon der Hebräischen Bibel mehr oder weniger fest und ist eine weithin bekannte und allseits anerkannte Autorität im Judentum. Anhand der Zeugnisse über den Kanon der Hebräischen Bibel lässt sich in Grundzügen die Entwicklung ablesen, wie und wann die Hebräische Bibel ihre Autorität gewonnen hat. Nach vereinzelten Selbstzeugnissen in der biblischen Überlieferung selbst (Deuteronomium, Joschija, Esra), die von den Trägergrup7 

4QMMT C 10, die Lesung ist allerdings nicht ganz sicher. Vgl. dazu Kratz 2006, 151–176. Contra Apionem I, 38–41. 9  Schreiner 1981, 400–405. 8 

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pen des biblischen Judentums stammen und aus der persischen oder frühhellenistischen Epoche datieren, sehen wir im ausgehenden 3. Jahrhundert v. Chr. mit der griechischen Übersetzung der Tora in Alexandrien und dem hebräischen Buch des Ben Sira in Juda eine Bewegung zur Verbreitung und Popularisierung der biblischen Überlieferung zu Bildungszwecken einsetzen. Wie es scheint, haben die Kreise des biblischen Judentums an Terrain gewonnen und werden auch im übrigen Judentum rezipiert, das sich von der biblischen Überlieferung in den Diskursen der hellenistischen Zeit wie auch im Blick auf die Frage nach der eigenen Identität des verstreuten Judentums eine intellektuell satisfaktionsfähige und verbindliche Grundlage verspricht. Dabei kommt es zu einem wechselseitigen Autoritätszugewinn: Je mehr die biblische Überlieferung, allem voran die Tora, rezipiert und als Autorität zitiert wird, desto mehr gewinnt sie selbst an Autorität. Eine historische Zäsur und einen weiteren Meilenstein auf dem Weg vom Text zum Kanon nach Ben Sira markieren der makkabäische Aufstand um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. und das daraus erwachsene Königtum der Hasmo­ näer.10 Makkabäer und Hasmonäer haben sich – um der eigenen Legitimation willen – die Tora auf die Fahnen geschrieben und damit das biblische Judentum zum alleinigen und verbindlichen Typus des Judeseins erklärt. Von nun an galt die Tora, staatlich verordnet, als Fundament des Judentums. Dies gab den vorher eher marginalen Kreisen des biblischen Judentums – den sogenannten „Frommen“ (Hasidim), zu denen im weiteren Sinne auch die Gemeinschaft von Qumran zählt,11 und den mit ihnen sympathisierenden, gebildeten Schichten, denen die Übersetzer der Septuaginta und Ben Sira angehörten – enormen Auftrieb. Dementsprechend wird der Autoritätszugewinn der Schriften der Hebräischen Bibel vollends deutlich im Schriftgebrauch, den wir in den Texten vom Toten Meer, in den Apokryphen und Pseudepigraphen sowie im Neuen Testament bis hin zu Josephus und 4. Esra beobachten. Hier werden ausschließlich diejenigen Bücher als „Schrift“ zitiert und ausgelegt, die Bestandteil des nachmaligen Kanons der Hebräischen Bibel geworden sind. Das liegt nicht etwa daran, dass der Kanon schon fertig gewesen wäre und vorgelegen hätte. Es verhält sich gerade umgekehrt: Die Zitation lässt die zitierten Bücher der Sammlung von Tora, Propheten und übrigen Schriften (vor allem Psalmen) allererst kanonisch werden. Es ist ein Wechselspiel von vorausgesetzter und zugesprochener Autorität.

10 

11 

Zur Frage vgl. Kratz 2017a, 48 ff.295 f. Vgl. Kratz 2017a, 213 ff.

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2. Die Pluralität der Textüberlieferung Bei näherem Zusehen stellt sich jedoch die Frage, um welche Art von Autorität es sich dabei handelt. Hintergrund dieser Frage ist der merkwürdige Sachverhalt, dass einerseits die Schriften der Hebräischen Bibel immer mehr an Autorität gewinnen, andererseits neben diesen ein Flut neuer, parabiblischer Literatur von nicht minder hoher Autorität entsteht und auch die Schriften der Hebräischen Bibel selbst in zahlreichen unterschiedlichen Fassungen zirkulierten. Machen wir uns zunächst den Sachverhalt klar.12 Wir sind es gewohnt, von der Hebräischen Bibel zu sprechen, und meinen damit die Fassung eines mittelalterlichen Kodex, des Kodex Leningradensis 19B oder des Kodex Aleppo, beide aus dem 10. Jahrhundert. Diese Handschriften stammen von berühmten Schreiberfamilien, den sogenannten Masoreten, die dem ursprünglichen hebräischen Konsonantentext die Vokale, Betonungen zum Vortrag sowie allerlei Randbemerkungen hinzufügten. Darum heißt der Text der Masoretische Text (MT). Doch sobald man auch nur um ein oder zwei Jahrhunderte zurückgeht, sehen wir, dass schon dieser Masoretische Text keineswegs einheitlich ist. Im 19. Jahrhundert wurde in einer jüdischen Synagoge in Alt-Kairo ein Raum gefunden, in dem Tausende von hebräischen, arabischen und griechischen Handschriften aller Art lagerten, unter ihnen auch Fragmente der Hebräischen Bibel. Der Raum wird Geniza genannt, was so viel wie „Lager, Depot“ heißt und einen Ort bezeichnet, in dem man Schriften ablegte, die nicht mehr in Gebrauch waren. Der größte Teil des Materials wurde nach England verkauft und wird heute in der Bibliothek von Cambridge aufbewahrt. Die biblischen Handschriften, die sich in der Kairoer Geniza gefunden haben, stammen aus dem 7.–9. Jahrhundert n. Chr., sind also um rund 300 Jahre älter als die mittelalterlichen Abschriften, aber immer noch recht jung. Hier können wir die Anfänge der masoretischen Tradition studieren. Die Handschriften zeigen, dass das masoretische System lange Zeit im Fluss war und verschiedene Systeme und auch verschiedene Aussprachetraditionen nebeneinander existierten. Doch die Autorität des Masoretischen Textes stand zu dieser Zeit fest. Die Unterschiede in diesen mittelalterlichen Handschriften betreffen vor allem die Vokalisation, nicht den Konsonantentext. Doch wissen wir schon länger, dass es auch unterschiedliche Fassungen des Konsonantentextes gegeben hat. Zeugen dafür sind der Samaritanische Pentateuch, also die Tora der samaritanische Gemeinde auf dem Berg Garizim (nahe dem alten Sichem und heutigen Nablus), und die Septuaginta, die an vielen Stellen einen anderen hebräischen Text als den des masoretischen Kanons voraussetzt. Die Handschriften der Septuaginta reichen in das 4. Jahrhundert n. Chr. zurück und enthalten bekanntlich auch einige Bücher, 12 

Vgl. zum Folgenden Tov 2012.

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die Apokryphen und Pseudepigraphen, die nicht im Kanon der Hebräischen Bibel stehen. Hier haben wir es also mit unterschiedlichen Fassungen desselben Textes zu tun, der in allen drei Gemeinschaften, bei Juden, Samaritanern und Christen, höchste Autorität für sich beansprucht. Doch welcher Fassung gebührt die Autorität? Man konnte die abweichenden Textzeugen lange ignorieren und als Sonderüberlieferungen der sektiererischen Samaritaner und Christen abtun. Doch seit 1947, als die ersten Funde aus den Höhlen von Khirbet Qumran am Toten Meer auftauchten, ist das nicht mehr möglich. Zum ersten Mal haben sich hier größere und kleinere Fragmente biblischer Handschriften aus vorchristlicher Zeit, dem 3.–1. Jahrhundert v. Chr., gefunden. Dieser Fund war eine Sensation und hat unser Bild vom Werden des hebräischen Kanons revolutioniert. Die Handschriften von Qumran zeigen uns, dass die verschiedenen Fassungen des Bibeltextes in den nachchristlichen Handschriften nicht etwa spätere Veränderungen darstellen, sondern sehr alt sind und aus vorchristlicher Zeit datieren. In Qumran haben sich hebräische Fragmente gefunden, die sowohl den masoretischen Text der mittelalterlichen hebräischen Handschriften als auch die davon abweichende Vorlage der griechischen Übersetzung der Septuaginta als auch Vorformen der samaritanischen Textfassung des Pentateuchs bezeugen. Auch Zeugen der griechischen Übersetzung selbst haben sich in Qumran gefunden, namentlich eine sehr gut erhaltene griechische Übersetzung der Zwölf Kleinen Propheten. Sodann zeigen uns die Texte vom Toten Meer, dass viele der apokryphen Schriften, die nicht im hebräischen Kanon stehen, sondern in der Septuaginta und im Kanon der orientalischen Kirchen (also nur auf Griechisch, Syrisch, Äthio­ pisch usw.) überliefert sind, auf ein hebräisches oder aramäisches Original zurückgehen, das bis dahin verloren war. Für das Buch Jesus Sirach wusste man dies schon nach der Entdeckung der Kairoer Geniza. Denn hier hat sich das hebräische Original des Buches gefunden, das bis dahin nur in griechischer und syrischer Übersetzung bekannt war; durch die Funde von Qumran sind weitere Fragmente hinzugekommen. Außerdem hat man in Qumran hebräische und aramäische Fragmente des Buches Tobit gefunden, das ebenfalls bis dahin nur in zwei unterschiedlichen griechischen Fassungen der Septuaginta überliefert war. So zeigt sich einerseits eine gewisse Kontinuität der Überlieferung von Qumran bis hin zur Kairoer Geniza und den mittelalterlichen Handschriften. Überall ist derselbe, später sogenannte masoretische Konsonantentext bezeugt. Andererseits sind auch die anderen Fassungen belegt, und sogar noch viele mehr, die wir bis dahin nicht kannten. Dazu zählen nicht zuletzt die Exemplare der sogenannten „rewritten bible“-Texte.13 Das sind Paraphrasen biblischer Bücher, die zum Teil wörtlich mit dem bekannten Bibeltext übereinstimmen, zum Teil aber auch erheb13 

Vgl. dazu Kratz 2004a, 135–144; Segal 2005; Crawford 2008; Zahn 2011.

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liche Unterschiede zu den biblischen Vorlagen, Über- und Unterschüsse oder Umstellungen aufweisen und sich zwischen Bibelhandschriften und Nachdichtungen (Reformulierungen) bewegen. Darum ist die Forschung in vielen Fällen uneins, ob eine Handschrift biblisch oder nicht-biblisch ist. Der Unterschied ist nicht mehr so klar, die Grenzen sind fließend. Die Handschriften von Qumran beweisen somit, dass es in vorchristlicher Zeit und auch später nach der Zeitenwende noch keinen einheitlichen Standardtext gab, sondern dass Abweichungen die Regel waren und verschiedene Fassungen des Bibeltextes nebeneinander existierten, abgeschrieben und überliefert wurden. Die Pluralität der Fassungen der biblischen Bücher hat unsere Auffassung von der Hebräischen Bibel und dem Kanon des Alten Testaments erheblich verändert und wirft die Frage auf, welche Fassung eigentlich die Autorität „der Schrift“ besitzt und wodurch sich die Autorität auszeichnet.

3. Schriftauslegung und Autorität der Schrift Der Schlüssel zum Verständnis der Autorität der Hebräischen Bibel liegt m.E. in dem Charakter der biblischen und parabiblischen Überlieferung als Auslegungsliteratur.14 Wie wir bereits sahen, ist das biblische Judentum, also der Zweig des Judentums, das sich auf die Tora und die übrigen Schriften der hebräischen oder griechischen Bibel beruft, mit der Auslegung der biblischen Schriften befasst. So kann man etwa das gesamte Schrifttum der Gemeinschaft von Qumran, aber auch die vielen parabiblischen Werke (Reformulierungen und Paraphrasen biblischer Bücher, Apokryphen und Pseudepigraphen einschließlich des Neuen Testaments), in gewisser Weise unter dem Stichwort der Auslegung zusammenfassen: eine Auslegung der später kanonisch gewordenen Bücher der Hebräischen Bibel, denen durch Zitat und Auslegung bereits Autorität unterstellt und zugleich Autorität verliehen wurde. Geht man etwas tiefer in die Materie, kann man dasselbe auch für die später kanonisch gewordenen biblischen Bücher selbst sagen. Auch sie verdanken sich einem kontinuierlichen Prozess der Auslegung, und zwar so, dass diese Bücher permanent fortgeschrieben wurden und dabei literarisch aufeinander Bezug nehmen, sich zitieren und kommentieren und auf diese Weise allmählich ihre vorliegende Gestalt gewonnen haben. In der parabiblischen Literatur wie in den Schriften der Gemeinschaft von Qumran setzt sich folglich ein Auslegungsvorgang fort, der in der Entstehung der biblischen Büchern selbst begonnen hat. So kann man sagen: Sowohl die biblische als auch die parabiblische antike jüdische Literatur ist von Hause aus Auslegungsliteratur. Die Auslegung wird vor allem durch literarische Bezugnahmen kenntlich gemacht, Zitate und Anspielungen 14 

Zum Folgenden vgl. Kratz 2004a und 2004b.

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im selben Werk oder zwischen verschiedenen Büchern, oder anders gesagt, durch intra- oder intertextuelle Bezüge. Die Auslegung folgt dabei von Anfang an einem hermeneutischen Grundsatz, der auch in der späteren jüdischen wie in der christlichen Auslegungstradition noch gilt. Der Grundsatz erinnert von Ferne an das, was sehr viel später Martin Luther auf die berühmte Formel gebracht hat: sacra scriptura sui ipsius interpres, „die heilige Schrift legt sich selbst aus“. Doch welche „heilige Schrift“ ist gemeint? Wie wir sahen, gab es verschiedene Fassungen der heiligen Schrift, die erhebliche Abweichungen aufweisen, und zwar sowohl was den Textbestand als auch was den Bestand an Büchern betrifft. Ja mehr noch, gelegentlich widersprechen die Auslegungen sogar dem Referenztext, auf den sie sich beziehen. Einerseits basiert die Auslegung allein auf der Schrift und schreibt ihr höchste Autorität zu, andererseits ist diese Schrift aber keine fixe und unantastbare Größe. Wie hat man sich dies vorzustellen? Hier ein Beispiel: 1 Sam 11.15 Als Saul gerade von Gott zum König über Israel erwählt worden ist, griff Nachasch, der König der Ammoniter, die Stadt Jabesch-­ Gilead im Ostjordanland an. Die Einwohner von Jabesch-Gilead wollen einen Bund mit Nachasch schließen, doch der teilt ihnen mit, dass der Bund darin besteht, ihnen allen das rechte Auge auszustechen, um Schande über Israel zu bringen (und sie dadurch kampfunfähig zu machen). Daraufhin s­ chicken die Einwohner von Jabesch-Gilead Boten zu Saul und bitten ihn um Hilfe. Der versammelt die Stämme Israels, zieht mit ihnen gegen Nachasch, den König der Ammoniter, schlägt sein Heer in die Flucht und befreit so die Stadt Jabesch-­ Gilead. Anschließend wird Saul in Gilgal auch öffentlich zum König über Israel ausgerufen. Soweit die Geschichte, wie sie im elften Kapitel des ersten Samuelbuches zu lesen ist. Bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus findet sich noch eine zusätzliche Episode, wonach Nachasch, der König der Ammoniter, zuerst die israelitischen Stämme Ruben und Gad im Ostjordanland angegriffen und ihnen das rechte Auge ausgestochen habe und erst danach gegen Jabesch-Gilead gezogen sei.16 In der Forschung hat man diese Episode stets als eine legendarische Ausweitung oder Erfindung des Josephus beurteilt – bis die Texte vom Toten Meer entdeckt wurden. Unter ihnen hat sich eine Vielzahl von Fragmenten erhalten, die in der Höhle 4 von Qumran gefunden wurden und zu einer Samuelrolle gehören, in der Fachsprache 4QSam 51 oder 4QSama. In dieser Handschrift ist die zusätzliche Episode, die uns bis dahin nur aus Josephus in griechischer Sprache bekannt war, in hebräischer Originalsprache erhalten.

15 

Vgl. zum Folgenden Kratz 2017b. Antiquitates Judaicae 6, 67–85.

16 Josephus,

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1 Sam 10,27–11,2 MT (Masoretischer Text, Hebräisch) 10,27 […] Und sie verachteten ihn und brachten ihm kein Geschenk.

Aber er tat, als hörte er’s nicht. 11,1 Es zog aber herauf Nahasch, der Ammoniter, und belagerte Jabesch in Gilead. Und alle Männer von Jabesch sprachen zu Nahasch: Schließ einen Bund mit uns, so wollen wir dir untertan sein. 2 Aber Nahasch, der Ammoniter, antwortete ihnen: Das soll der Bund sein, den ich mit euch schließen will, dass ich euch allen das rechte Auge aussteche und bringe damit Schmach über ganz Israel.

1 Sam 10,27–11,2 LXX (Septuaginta, Griechisch)

10,27 […] Und sie verachteten ihn und brachten ihm kein Geschenk. 11,1 Und es geschah nach einem Monat

da zog herauf Nahasch, der Ammoniter, und belagerte Jabesch in Gilead. Und alle Männer von Jabesch sprachen zu Nahasch: Schließ einen Bund mit uns, so wollen wir dir untertan sein. 2 Aber Nahasch, der Ammoniter, antwortete ihnen: Das soll der Bund sein, den ich mit euch schließen will, dass ich euch allen das rechte Auge aussteche und bringe damit Schmach über ganz Israel.

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4Q51 (4QSama) Frg. 10a,5–10 (Qumranhandschrift, Hebräisch) 5 Und] sie verachtete[n] ihn und brachten ihm kein Geschenk. vacat 6 [Und Na]hasch, der König der Ammoniter, unterdrückte die Gaditer und die Rubeniter, und stach ihnen a[llen] ihr 7 rechtes [A]uge aus und verbreitete Ter[ror und Angst] in [I]srael. Es blieb niemand übrig von den Israeliten in Tr[ans-] 8 [Jordan de]m Naha[sch, der König] der [A]mmoniter [nicht] das rechte Auge aus[stach]; nur sieben tausend Mann 9 [retteten sich aus der Hand] der Ammoniter und gelangten nach [J]abesch- Gilead. 11:1Nach einem Monat zog herauf Nahasch, der Ammoniter, und belagerte Jabesch [in G ­ ilead]. Und alle Männer von Jabesch sprachen zu Nahasch 10 [dem Ammoniter: Schließe einen Bund] mit [uns, so wollen wir dir untertan sein. 2Aber] Nahasch [der Ammoniter sprach z]u [ih]nen: Das soll [der Bund sein, den ich mit euch schließen will, dass ich euch allen das rechte Auge aussteche und bringe damit Schmach über ganz Israel.].

Josephus, Antiquitates Judaicae 6,4.6–6,5.1 (Übers. H. Clementz)

6,6b […] (p. 330) die ihn verachteten, die übrigen verhöhnten, ihm keine Geschenke brachten und in Wort wie Tat kein Hehl daraus machten, dass Saul auf ihren Beifall nicht rechnen könnte 6,7a (p. 331) Ungefähr einen Monat nachher befestigte Saul sein Ansehen durch einen Krieg, den er mit Naases, dem Könige der Ammaniter, führte. Dieser hatte einen Kriegszug gegen die jenseits des Jordan wohnenden Juden unternommen und sie hart bedrängt, da er nicht nur ihre Städte eingenommen, sondern auch den mit Gewalt Unterjochten durch eine schlaue und listige Tat es unmöglich gemacht hatte, sich seiner Botmäßigkeit wieder zu entziehen, falls sie dies je gelüsten sollte. Er ließ nämlich denen, die sich ihm auf Gnade und Ungnade ergeben hatten oder als Kriegsgefangene in seine Gewalt gelangt waren, das rechte Auge ausstechen in der Absicht, sie zum Kriege untauglich zu machen, da das linke Auge ja durch den Schild verdeckt wurde. 6,7b Als der König der Ammaniter so gegen die Juden jenseits des Jordan gewütet hatte, führte er sein Heer auch wider die Galadener. Bei deren Hauptstadt Jabis schlug er sein Lager auf und ließ den Einwohnern durch Gesandte die drohende Verkündigung zugehen, sie sollten sich ihm entweder ergeben und sich das rechte Auge ausstechen lassen, oder sie hätten eine Belagerung und vollständige Zerstörung ihrer Städte zu gewärtigen; sie hätten also die Wahl, ob sie ein Glied ihres Körpers verlieren oder vollends zu Grunde gehen wollten.

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Reinhard G. Kratz

In der Handschrift 4QSam 51 ist die Episode ein integraler Bestandteil des Bibeltextes, der in der masoretischen Fassung und in der Septuaginta fehlt. Der Plot der Episode ist, dass sich 7000 Angehörige der ostjordanischen Stämme Ruben und Gad, die Nachasch, der König der Ammoniter, als erste angegriffen hat, nach Jabesch-Gilead retten konnten. Erst danach greift Nachasch auch Jabesch-Gilead an, um den Bewohnern das rechte Auge auszustechen, und die Geschichte, wie sie in 1 Sam 11 (MT) steht, nimmt ihren Lauf. Was ist hier passiert, wie ist der Textbefund zu erklären? Und vor allem: Welches ist die Schrift, die Autorität besitzt? Das Beispiel der Zusatzepisode von Nachasch, dem König der Ammoniter, ist nämlich nur einer von vielen Fällen, in denen die Handschrift 4QSam51 sowohl vom masoretischen Text als auch von der Septuaginta abweicht.17 In der Forschung ist darum umstritten, ob es sich um eine Bibelhandschrift handelt oder um einen Midrasch, ein reines Auslegungswerk. Die einen meinen, 4QSam 51 repräsentiere den älteren Bibeltext, die zusätzliche Episode gehöre zum ursprünglichen Text und sei später in den anderen Fassungen beim Abschreiben aus technischen Gründen ausgefallen. Andere Forscher sind der Auffassung, dass es sich um einen literarischen Zusatz handele, der später eingefügt wurde, und halten die Handschrift darum für einen Midrasch, keine biblische Handschrift. Des Rätsels Lösung liegt, wie so oft, in der Mitte. 4QSam51 ist ohne Zweifel eine biblische Handschrift, aber sie weist mit der ersten Nachasch-Episode in 4QSam ganz klar einen Zusatz gegenüber dem Text auf, den die masoretische Fassung und die Septuaginta bieten. Der Zusatz verdankt sich einem exegetischen Interesse der Tradenten, die damit eine Lücke in der Erzählung schließen und klarstellen wollten, dass es sich bei Jabesch-Gildead, der Stadt, die Nachasch angriff und König Saul rettete, um eine Stadt handelte, die von Israeliten bewohnt war. Wie kam es zu dem Zusatz? Bei näherem Hinsehen lässt sich erkennen, was die Tradenten veranlasst hat, an dieser Stelle die Zusatzepisode einzufügen. Liest man die biblische Geschichte von vorne, dann ist die Stadt Jabesch-Gilead vor dem Kapitel in 1 Sam 11 zuletzt im Richterbuch (Ri 21) erwähnt. Hier wird erzählt, wie Jabesch-Gilead bestraft wurde, weil es nicht an einem Feldzug Israels teilgenommen hat. Sämtliche Einwohner, Männer, verheiratete Frauen und Kinder, werden getötet, mit Ausnahme von 400 jungen Frauen, die nach Silo verschleppt und den Benjaminiten übergegeben werden. Die Geschichte ist ziemlich abstrus, doch sei darauf hier nicht näher eingangen. Der entscheidende Punkt ist der, dass Jabesch-Gilead nach Ri 21 menschenleer ist. An diese Stelle in Ri 21 muss ein Schreiber gedacht haben, als er nach 1 Sam 11 kam und hier las, wie Nachasch, der König der Amoniter, die Stadt Jabesch-Gilead angegeriffen habe. Nach Ri 21 kann es dort aber keine Einwohner mehr gegeben haben. Woher kommen die Bewohner, die Nachasch angreift und denen er das rechte Auge ausstechen möchte? Es handelt sich also um eine Unstimmigkeit in17 

Vgl. Kratz 2016.

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nerhalb der biblischen Erzählung. Um diese Unstimmigkeit zu beheben, fügt der Schreiber die zusätzliche Episode ein, dass Nachasch zuerst die ostjordanischen Stämme Ruben und Gad angegriffen habe. Erst nachdem sich 7000 Mitglieder dieser israelitischen Stämme nach Jabesch-Gilead retten konnten, greift Nachasch die Stadt an, so, wie es 1 Sam 11 erzählt wird. Der Zusatz leistet damit zweierlei: Erstens füllt er die Stadt mit Menschen, damit sie angegriffen werden kann, zweitens macht er klar, dass diese Menschen in Jabesch-Gilead Angehörige von israelitischen Stämmen sind, so dass Saul als König Israels und ganz Israel für sie verantwortlich waren. Der Ergänzer harmonisiert also die biblische Geschichte, schließt die erzählerische Lücke zwischen Ri 21 und 1 Sam 11 und verfolgt dabei ein nationales Interesse. Die Formulierungen sind größtenteils aus dem Nahkontext von 1 Sam 11 sowie aus ferneren Kontexten des Bibeltextes genommen. Die Zusatzepisode von Nachasch, dem König der Ammoniter, in der Samuelhandschrift von Qumran ist also ein Zusatz, der den überlieferten Bibeltext mit dem Bibeltext auslegt. Aber deswegen ist die Handschrift noch kein Midrasch. Vielmehr zeigt der Zusatz, wie die biblische Literatur entstanden ist, nämlich durch fortlaufende Fortschreibung und Auslegung nach dem Motto: sacra scriptura sui ipsius interpres, „die heilige Schrift legt sich selbst aus“. Ein höheres Maß an Autorität kann man der Schrift nicht zubilligen. Doch ist der Zusatz einmal angebracht, gibt es zwei Versionen desselben Textes der heiligen Schrift: die Fassung ohne und die Fassung mit Zusatz. Beide Fassungen (und andere mehr) sind in Qumran und auch später noch nebeneinander überliefert worden. So stellt sich die Frage: Wie verhalten sich die beiden Fassungen zueinander, welche gilt, welcher Fassung gebührt die Autorität? Das Verblüffende ist, dass sich die Schreiber in Qumran und im übrigen antiken Judentum der vorchristlichen Zeit diese Frage offenbar nicht gestellt haben. Vielmehr haben sie beide und viele andere Fassungen nebeneinander überliefert und sich an den Abweichungen nicht gestört. Sie waren vermutlich der Auffassung, dass alle Fassungen, so unterschiedlich sie auch waren, dasselbe sagen und daher dieselbe Autorität besitzen. Das mag uns merkwürdig und unverständlich, ja paradox erscheinen. Doch ganz so paradox ist es auch wieder nicht. Da die Zusätze und anderen Auslegungen aus dem überlieferten Text gewonnen und immer mit literarischem Bezug auf diesen älteren Text formuliert wurden, können auch die Zusätze und andere Veränderungen als Teil der einen heiligen Schrift gelten, so verschieden die Fassungen auch sind. Das war die Überzeugung der Tradenten. Grund für diese Überzeugung war vermutlich, dass sie in allen Fassungen denselben Autor am Werk sahen. Autor ist nicht dieser oder jener Schreiber, sondern Gott selbst, der die Hand der Schreiber führt. Daher konnten sie überall dasselbe Wort Gottes finden, auch wenn es in den Handschriften unterschiedlich formuliert war oder der Wortlaut von ihnen selbst hier und dort verändert wurde.

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Reinhard G. Kratz

4. Schluss Fragen wir abschließend, was demnach die Autorität des Kanons der Hebräischen Bibel ausmacht. Die Pluralität sowohl der Textüberlieferung als auch des Bücherbestands des Kanons steht jedenfalls einer dogmatischen, buchstäblichen Auffassung von Autorität entgegen. „Die Schrift“ im Sinne eines klar umgrenzten, im Wortlaut festgelegten Kanons der heiligen Schrift hat es weder in der Antike gegeben, noch gibt es sie heute. „Die Schrift“, die „heilige Schrift“ ist gewissermaßen immer im Fluss und existiert immer nur in unterschiedlichen Fassungen. Die Autorität der Hebräischen Bibel besteht demnach nicht im Wortlaut oder einem umgrenzten Bestand an Büchern. Vielmehr basiert sie auf dem Vertrauen, dass in den verschiedenen Büchern wie auch in den unterschiedlichen Fassungen desselben Buches etwas zu finden ist, das jenseits des Wortlautes Autorität beanspruchen kann. Und dieses etwas ist offenbar die Vorstellung des (einen) Wortes Gottes in dem divergierenden Wortlaut der Schrift. Die Pluralität der Textfassungen und biblischen Bücher, wie sie etwa in den Handschriften von Qumran oder in der Septuaginta und dem Samaritanus ersichtlich ist, ist darauf zurückzuführen, dass wir es in den biblischen Schriften selbst ebenso wie in der späteren rabbinischen oder kirchlichen Tradition mit der Auslegungsliteratur gelehrter Schreiber zu tun haben. Doch ist die Auslegung von dem Gedanken beherrscht, dass in den biblischen und parabiblischen Schriften, auch wenn sie von gelehrten Schreibern stammen, Gott selbst zu Wort kommt und der Autor ist, und zwar insbesondere in denjenigen Schriften, die später in den Kanon der Hebräischen Bibel und der Septuaginta gelangt sind. Ihnen kommt somit eine besondere Autorität zu, auch wenn es „die (eine) heilige Schrift“, d.h. die Bibel oder den Kanon, noch gar nicht gab. Bei der Hebräischen Bibel und ebenso bei der Septuaginta handelt es sich somit um einen Bestand an autoritativen Schriften, dessen Wortlaut und Grenzen fließend waren und lange Zeit im Fluss blieben. Sie bilden gewissermaßen einen offenen Referenzrahmen an Schriften und verschiedenen Fassungen derselben Schrift, in denen von denjenigen, die sich dieser Überlieferung verpflichtet fühlten, das (eine) Wort Gottes vermutet, gesucht und gefunden wurde und an denen sich auch die anschließende (jüdische oder christliche) Auslegungstradition orientiert, so dass auch ihr, sofern sie sich auf diese Schriften bezieht, das Wort Gottes präsent ist. Die Autorität der Hebräischen Bibel im antiken Judentum bestand somit in ihrer Pluralität. Dies machte die Stärke der Hebräischen Bibel aus, dass sie selbst aus einem permanenten, nie abgeschlossenen Auslegungsvorgang hervorgegangen ist und in einen ebenso unabgeschlossenen, bis heute andauernden Auslegungsvorgang (sei es im Judentum, sei es im Christentum, oder sei es im Islam) eingemündet ist. Es ist gerade die Pluralität, die die Autorität begründet.

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Strategien der Selbstautorisierung im Neuen Testament Florian Wilk* 1. Einführung Wenn nach „Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion“ gefragt wird, liegt es für einen Neutestamentler nahe, diese Frage auf die kanonische Geltung des Neuen Testaments zu beziehen. Diese Geltung wurde in der Antike natürlich allererst konstruiert: Das antike Christentum hielt diese Schriftensammlung für maßgebend und schrieb ihr kanonische Geltung zu. Genauer müsste man zunächst sagen: Bestimmte Gruppen innerhalb des frühen Christentums taten dies. Dementsprechend richtete sich das moderne Forschungsinteresse lange Zeit fast ausschließlich auf den Prozess, in dem der Kanon seine jetzige Gestalt gewonnen hat. Dazu wurden altkirchliche Nachrichten untersucht und hinsichtlich ihrer Aussagen über die Akzeptanz, Strittigkeit oder Ablehnung bestimmter Schriftengruppen ausgewertet.1 Ähnlich verfuhr man mit Blick auf vermutete Vorstufen des Kanons, etwa eine Sammlung der vier neutestamentlichen Evangelien oder eine Sammlung der Paulusbriefe. Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gewann indes ein weiterer Forschungsansatz an Bedeutung: Man befragte auch die neutestamentliche Schriftensammlung selbst – und gelangte zu beachtlichen, umgehend intensiv diskutierten T hesen. So wurde auf Grund des Befundes in den Handschriften zum Neuen Testament etwa vorgeschlagen, eine programmatisch durchgeführte Endredaktion des Neuen Testaments anzunehmen.2 Auch für die genannten Vorstufen ergaben sich neue Perspektiven: Lässt sich die erste Paulusbrief-Sammlung auf den Apostel selbst zurückführen?3 Ist der Vier-Evangelien-Kanon womöglich bereits in Joh 21 angebahnt?4 War Marcion etwa nicht oder nicht nur ein Im*  Der Beitrag wurde im Rahmen und mit Unterstützung des Göttinger SFB 1136 „Bildung und Religion“ (Teilprojekt B 02: „Schriftauslegung als Bildungsvorgang in den Briefen des Paulus“) erarbeitet. Für Hilfe und Rat bei der Literaturrecherche und -verarbeitung danke ich meiner ehemaligen studentischen Mitarbeiterin Janine Müller. 1  Vgl. etwa Merk 1986, 471–474. 2  Vgl. Trobisch 1996. 3  Einen Überblick über die Diskussion bis Anfang des 21. Jahrhunderts gibt Porter 2004. 4  So Heckel 1999, 205–207.216–218.

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pulsgeber der Kanonbildung, sondern Urheber des ältesten Evangeliums, das den S­ ynoptikern noch vorausliegt?5 Es ist zu begrüßen, dass sich die Kanondebatte inzwischen verstärkt des neutestamentlichen Befundes angenommen hat. Ich nehme dies zum Anlass, der Erforschung des kanonischen Prozesses6 im Folgenden eine weitere Facette hinzuzufügen, indem ich über jene Vorstufen der Kanonbildung noch einmal hinausgehe und einzelne neutestamentliche Schriften in den Blick nehme. Wie, so ist zu fragen, sorgen diese Schriften dafür, dass ihre Rezipienten ihnen Autorität zubilligen? Diese Frage lässt sich nur durch Wahrnehmung der literarischen Strategien beantworten, die in jenen Schriften zur Geltung kommen.7 Ich wähle zu entsprechender Bearbeitung zwei einschlägige Texte verschiedener Gattungen: das Evangelium nach Johannes und den Zweiten Petrusbrief. Sie eignen sich für die beabsichtigte Analyse in besonderer Weise. Diese Texte stellen ja nicht nur den wohl jeweils jüngsten Repräsentanten der jeweiligen Gattung innerhalb des Neuen Testaments dar; sie bringen überdies beide auf eigene Weise das T hema „Autorität“ in der Kommunikation zwischen Verfassern und Rezipienten explizit zur Sprache. Was ihre Untersuchung für das Verständnis des Verhältnisses von Bildung und Religion austrägt, wird sich am Ende zeigen.

2. Zur Selbstautorisierung des Evangeliums nach Johannes Das Johannes-Evangelium ist in seiner kanonisch gewordenen Gestalt aller Wahrscheinlichkeit nach das Ergebnis eines mehrstufigen Redaktionsprozesses.8 Deutlich gibt sich insbesondere Kapitel 21 als Anhang zu erkennen, der die in Joh 20,30 f. explizit zum Abschluss gebrachte Erzählung einerseits fortführt, andererseits mit besonderer Autorität versieht. Aber schon in seinem älteren Umfang, Kapitel 1–20, ist dieses Evangelium (JohEv) für die hier verfolgte Fragestellung von besonderem Interesse. Sucht man die kommunikativ-literarische Eigenart und das T hema dieser Schrift zu ermitteln, so lassen sich dazu aus dem Vergleich der Rahmenstücke (Prolog 1,1–18 und Buchschluss 20,30 f.) wichtige Einsichten gewinnen.9 Denn durch diese Rahmenstücke ist die gebotene Jesus-Erzählung in eine explizit als solche ausgewiesene schriftliche Kommunikation eingebunden. Einerseits zeigt der Prolog Joh 1,1–18, dass im JohEv eine Autoren- bzw. Sprecher-Gruppe das Wort ergreift. In 1,14 stellen deren Mitglieder sich in der 1. Per5 

Vgl. etwa BeDuhn 2013. Vgl. dazu T homassen 2010. 7  Einen umfassenden Versuch in dieser Richtung unternimmt Mack 1996. 8  Vgl. etwa Kügler 2008, 213 f. 9  Zur Methode vgl. Schleiermacher 1977, 175 f.; Wilk 2016a, 10. 6 

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son Plural (1,14a: „uns“, 1,14b: „wir“) als Augenzeugen des Gottessohnes vor10, nämlich des „Einzigen vom Vater“, der als solcher selbst die Bezeichnung „Gott“ verdient (vgl. 1,1c.18b)11. Ihr „Schauen seiner Herrlichkeit“ führte sie zum „Glauben an seinen Namen“ und damit zur „Aufnahme“ dieses Einzigen; und als Glaubende sind diese Augenzeugen Jesu zu „Kindern Gottes“ geworden (1,12).12 Man vergleiche dazu etwa die johanneische Erzählung vom ersten Wunder Jesu, die in Joh 2,11 mit dem Satz schließt: „Dies tat Jesus als Anfang der Zeichen in Kana zu Galiläa, und er machte seine Herrlichkeit sichtbar, und seine Jünger kamen zum Glauben an ihn.“13 Überhaupt entspricht der Zusammenhang zwischen Schauen und Glauben im Prolog des JohEv der johanneischen Rede vom Sehen: Wer nämlich auf rechte Weise schaut, sieht in Jesu Werken „Zeichen“ (6,26), d.h. Anzeichen seiner göttlichen Würde14; er hat gleichsam den ‚Durchblick‘ auf die eigentliche Wirklichkeit – und sieht deshalb in Jesus Gott selbst als den Vater (14,9)15.

Andererseits macht der erste Buchschluss Joh 20,30 f. deutlich: Die Sprechergruppe kommuniziert durch die im JohEv übermittelte Jesuserzählung mit einer Gruppe von diesen Text lesenden bzw. hörenden Personen, die im Schlusssatz des Textes direkt angesprochen werden (20,31a.b: „ihr“). Ziel der Kommunikation ist demnach, dass auch die Adressaten „glauben, dass Jesus der […] Sohn Gottes ist“. In solchem Glauben erhalten sie – wie aus der Korrespondenz zwischen 1,4.12 und 20,31 hervorgeht – ihrerseits „in seinem Namen“ Anteil an dem „Leben“, das der Gottessohn in sich selber trägt, um es an Gottes Geschöpfe weiterzugeben.16 Das entspricht der Sache nach einer Notiz im Prolog, in der sich die Autoren mit den Adressaten zusammenschließen: „Wir alle“, so heißt es in Joh 1,16, „haben Gnade empfangen“17, nämlich Gnade aus der „Fülle“18, die den „Einzigen vom Vater“ auszeichnet (1,14). Doch während der Empfang der Gnade für die Sprechergruppe aus ihrer Schau der Herrlichkeit des Gottessohnes erwächst, ist solches Schauen den Adressaten gerade unmöglich. Dies ergibt sich nicht nur aus der im 10  Vgl. Schnackenburg 1965, 245 f., sowie grundlegend – mit ausführlicher Diskussion anderer Deutungen – Zahn 1912, 78–80 (freilich mit der Nuance, dass der Verfasser, Johannes, hier im Namen der Jünger Jesu rede). 11  Vgl. dazu T hyen 2015, 64 f., der von der „Unterscheidung des Unscheidbaren“ spricht und mit Recht jede Deutung in Richtung auf Subordination oder auf Identität zurückweist. 12  Zum Zusammenhang dieser Vollzüge vgl. Becker 1979, 81. 13  Vgl. dazu Bauer 1933, 45 f. 14  Vgl. Frey 2000, 352; zum biblischen Hintergrund der Rede vom „Zeichen“ vgl. Wengst 2000, 104. 15  Vgl. dazu Joh 8,19 und 14,7, wo entsprechende Aussagen zu Jesus und dem Vater mit den Verben „wissen“ bzw. „erkennen“ gebildet sind. Schnelle 2016, 59, spricht diesbezüglich von „theologischer Augenzeugenschaft“. 16  Vgl. Barrett 1990, 550 f. 17  Zum die Leser inkludierenden „wir alle“ vgl. 1 Kor 12,13; 2 Kor 3,18; Eph 2,3, in anderen Kasus auch Röm 4,16; 8,32; 2 Kor 5,10. Es geht also nicht einfach um die „Gemeinde“ aller Glaubenden (so Bultmann 1964, 53 u.v.a.), aber auch nicht nur um die, aus der Sicht des Täufers beschriebene, Schar der Augenzeugen (so Weiss 1902, 57). 18  Vgl. dazu Schnackenburg 1965, 251.

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JohEv vielfach angekündigten Rückkehr Jesu zum Vater19, sondern wird narrativ explizit angezeigt in der T homas-Episode (20,24–29), mit der die eigentliche Jesus-Erzählung schließt20. Besagter T homas war ja bei der ersten Oster-Erscheinung Jesu vor den Jüngern nicht anwesend (20,24) und sah sich außerstande, allein auf das Zeugnis der anderen Jünger hin zu glauben (20,25). Er wird daraufhin, so erzählt das JohEv, einer eigenen Erscheinung des Auferstandenen gewürdigt (20,26 f.), die ihn veranlasst, Jesus als „mein Herr und mein Gott!“ anzusprechen (20,28) – womit auf literarischer Ebene die Identifikation des Einzigen vom Vater aus dem Prolog aufgegriffen wird. Jesus aber erklärt ihm daraufhin, dass künftig der Glaube an Jesus als den Offenbarer Gottes nicht mehr – wie noch, ein letztes Mal, bei ihm, T homas (20,29b) – auf einem leibhaftigen Sehen Jesu beruhen werde; vielmehr seien gerade die „selig“, die ohne solches Sehen zum Glauben kommen (20,29c).21 Der Buchschluss setzt also ausdrücklich voraus, dass die Adressaten des JohEv keine Augenzeugen Jesu sind. Wie aber sollen sie dann „selig“ werden? Beantwortet wird diese Frage durch die Nennung einer anderen Grundlage für den Gnade und Leben erschließenden Glauben: Solcher Glaube, so hält Joh 20,30 f. fest, gründet auf der Verschriftlichung der „Zeichen“ Jesu „in diesem Buch“, das den Adressaten vorliegt.22 Das JohEv autorisiert sich hier also gleichsam selbst: als ein Glauben stiftendes und damit zum Leben führendes Werk 23. Diese Selbstautorisierung kommt für die Leser- und Hörerschaft allerdings nicht überraschend. Schon zuvor war deutlich geworden, dass die Augenzeugen Jesu in der Gemeinschaft mit Jesus selbst „Zeugnis“ geben von dem, was sie gesehen haben. So stellt etwa in 3,11 Jesus gegenüber Nikodemus fest: „Was wir wissen, sagen wir, und was wir gesehen haben, bezeugen wir!“24 Und insbesondere der so genannte Lieblingsjünger wird als derjenige präsentiert, der auf wahrhaftige Weise bezeugt, was er gesehen hat (19,35).25 Im zweiten Buchschluss am Ende des Nachtragskapitels 21 wird dieses Zeugnis des Lieblingsjüngers dann konsequenterweise explizit mit der Niederschrift des Evangeliums verknüpft (21,24).26 Das JohEv bietet sich damit seinen Rezipienten als „Buch“ dar, das in der schriftlichen Schilderung der Offenbarungstaten Jesu dessen Identität als Offen19 

Vgl. Joh 13,1.3; 14,12.28; 16,5.10.17.28; 17,13; 20,17. Vgl. Zumstein 2016, 763: „Und genau mit diesem zum Nicht-Sehen-Können verurteilten Glauben […] setzen sich die V.24–29 auseinander.“ 21  Vgl. Weiss 1902, 527. 22  Vgl. wiederum Zumstein 2016, 768: „Die Leser, die zu denen gehören, die glauben müssen, ohne sehen zu können, werden aufgerufen, im Evangelium das Zeugnis zu entdecken, das ihrem Glauben Grund und Gestalt gibt.“ 23  Zu diesem Zweck der Evangelienschrift vgl. Bauer 1933, 234. 24  Ähnlich Blank 1964, 58; Frey 1998, 252 f., die die 1. Person Plural in Joh 3,11 auf einen „Zeugenkreis“ beziehen. 25  Vgl. Wendt 1900, 194 (der in diesem Jünger freilich zugleich den Autor einer vom Evangelisten verwerteten Quellenschrift sieht [195]). 26  Vgl. Schulz 1978, 253. 20 

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barer zur Darstellung bringt – und so die Leser- bzw. Hörerschaft zum Leben stiftenden Glauben an ihn führt. Dazu passt die Erzählweise des JohEv: Es aktualisiert die Jesus-Geschichte nicht auf die Zeit der Adressaten hin, wie es die S­ ynoptiker tun, sondern versetzt die Leser- bzw. Hörerschaft umgekehrt in die Zeit Jesu zurück.27 Dies zeigt sich besonders deutlich in dem Phänomen der sog. Horizontverschmelzung28, wie sie z.B. der Satz „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt […]“ (Joh 4,23; 5,25) vollzieht29. Diese Form der „Vergleichzeitigung“ mit dem Heilsgeschehen entspricht strukturell recht genau der Funktion der Pessach-Haggada, heißt es doch in mPes 10,5b: „In jedem einzelnen Geschlecht ist jedermann verpflichtet, sich selbst anzusehen, als ob er aus Ägypten ausgezogen wäre. Denn es wird gesagt: ‚Und du sollst deinem Sohn an jenem Tag Folgendes erzählen: Das geschieht um dessentwillen, was der Herr mir bei meinem Auszug aus Ägypten getan hat (Ex 13,8).‘“ Auch hier ist es die Erzählung vom Heilsgeschehen, die ihre Rezipienten zu Zeugen und Empfängern jenes an sich vergangenen Heilsgeschehens macht.

Das JohEv will demnach seine Leser- und Hörerschaft dazu anleiten, den eigenen Christus-Glauben auf das irdische Auftreten Jesu zu beziehen30 – und gibt ihnen deshalb im Zuge der schriftlichen Kommunikation die Möglichkeit, die Geschichte dieses Auftretens wahrzunehmen, ja, zu erleben. Demnach ist die wiederholte Verknüpfung des Glaubens mit dem rechten Schauen, mit dem ‚Durchblick‘ auf die Wirklichkeit Gottes innerhalb der Erzählung gerade auch für die Rezipienten des „Buches“ von Bedeutung: Dessen Lektüre macht sie indirekt zu Augenzeugen Jesu.31 Es liegt nahe, damit die in den Abschiedsreden von Jesus beschriebene Aufgabe des Parakleten zu verknüpfen: Er soll ja die Jünger alles lehren und an alles erinnern, was Jesus ihnen gesagt hat (Joh 14,26), soll von Jesus Zeugnis ablegen (15,26). Dieses Erinnern und Bezeugen des Heiligen Geistes erfolgt, das macht der Buchschluss klar, nicht in unkontrollierter und unkontrollierbarer Geistigkeit, sondern in strenger Bindung an den Text des JohEv.32

Führt man sich die notierten Bezüge zwischen Prolog und Beschluss des JohEv gebündelt vor Augen, ergibt sich folgendes Bild:

27 

Vgl. Rothgangel / Wilk 2005, 239 f. Vgl. dazu Onuki 1984, 12–14.34–37.96 f.140–143.163–166.195.208. 29  Haenchen 1980, 280, erkennt hier eine „Ineinssetzung von Gegenwart und Zukunft“, d.h. von „Standpunkt des irdischen Jesus“ und „Standpunkt des Evangelisten“. 30  Vgl. Walter 1997, 144 f. 31  Ähnlich Schnelle 2016, 395. 32  Vgl. wiederum Schnelle 2016, 308 f.: „Der Geist bringt keine neuen Offenbarungen über das Wirken Jesu hinaus, sondern er vergegenwärtigt und erschließt die Jesus-Offenbarung. […] Durch den Parakleten legt sich Jesus im Johannesevangelium gewissermaßen selbst aus, er ist dem Anspruch nach der eigentliche Autor des 4. Evangeliums!“ 28 

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          Joh 1,1–18

       Joh 20,24–31

  1 Im Anfang war das Wort, […] „Gott“ war das Wort.   4 In ihm war Leben […] 11 Er kam in das Seine […] 12 Die ihn aufnahmen, berechtigte er, Kinder Gottes zu werden, die, die an seinen N ­ amen glauben. 14 Und das Wort wurde Fleisch und z­ eltete unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, ­Herrlichkeit wie die des Einzigen vom Vater, ­voller Gnade und ­Wahrheit. 16 Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade anstelle von Gnade. 17 Denn das Gesetz wurde durch Mose g­ egeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus ­Christus geworden. 18 Gott hat niemand jemals gesehen; der Einzige, „Gott“, der an der Brust des Vaters ist, jener hat ­ausgelegt / Kunde gebracht.

28 T homas antwortete […]: „Mein Herr und mein Gott!“ 29 Sagt zu ihm Jesus: „Weil du mich ge­sehen hast, bist du gläubig ­geworden; selig sind, die nicht sehen und glauben!“ 30 Viele andere Zeichen hat nun Jesus zwar ­getan vor den Jüngern, die nicht geschrieben sind in d­ iesem Buch; 31 diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und ihr ­glaubend Leben habt in seinem ­Namen.

In diesem Kontext ist nun der explizite Rückbezug in Joh 1,17 auf die Gabe des Gesetzes durch Mose und die damit zusammenhängende Prädikation Jesu als „Christus“ zu interpretieren – eine Prädikation, die auch im Buchschluss 20,30 f. prominent, nämlich als Inhalt des Glaubens herausgestellt wird. Jener Rückbezug wird oft als Antithese zu 1,17b gedeutet.33 Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass er als intertextueller Querverweis fungiert. Er erinnert ja an die Sinai-Erzählung im Pentateuch. Nimmt man 1,17a demgemäß zum Anlass für eine intertextuelle Lektüre des Prologs, so ergeben sich etliche Querverbindungen insbesondere zu Ex 33–34.34 Dieser Passus der Sinai-Erzählung handelt von der Erneuerung und erneuten Übergabe der Gesetzestafeln an Mose; eine solche war nötig geworden, nachdem Mose die ersten Tafeln infolge des Götzendienstes, den das Volk Israel mit der Errichtung und Anbetung des Goldenen Kalbs trieb, ebenso zerstört hatte wie jenes Goldene Kalb (Ex 32). Die Querverbindungen betreffen dabei gerade diejenigen Aussagen in Joh 1,12–18, die innerhalb des Prologs für sich genommen merkwürdig bleiben: die Notizen zur Heilsbedeutung des „Namens“ in 1,12, zum „Zelten“ des göttlichen Wortes und zur Schau seiner „Herrlichkeit“ in 1,14, zu seiner Identifikation durch die Formel „voller Gnade und Wahrheit“ am Ende desselben Verses, zu der irgendwie gedoppelten „Gnade“ in 1,16 – wobei das Stichwort „Gnade“ überhaupt nur hier im JohEv auftaucht! – und zur Unmöglichkeit, „Gott zu sehen“, in 1,18. In der folgenden Übersicht sind die wichtigsten Konvergenzen markiert:

33  Vgl. z.B. Barrett 1990, 195. Kritisch dazu bereits Jeremias o.J., 877: Da hinter dem Passiv („wurde gegeben“) der Gottesname stehe, sei der Parallelismus in Joh 1,17 „nicht als antithetischer, sondern als synthetischer gemeint“. 34  Vgl. dazu ausführlich Käfer 2019, 90–98; grundlegend Hanson 1976/77.

Strategien der Selbstautorisierung im Neuen Testament           Joh 1,1–18   1 Im Anfang war das Wort, […] „Gott“ war das Wort.   4 In ihm war Leben […] 11 Er kam in das Seine […] 12 Die ihn aufnahmen, berechtigte er, Kinder Gottes zu werden, die, die an seinen Namen glauben. 14 Und das Wort wurde Fleisch und zeltete u­ nter uns, und wir schauten seine H ­ errlichkeit, ­Herrlichkeit wie die des Einzigen vom Vater, ­voller Gnade und Wahrheit. 16 Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade anstelle von Gnade. 17 Denn das Gesetz wurde durch Mose g­ egeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus ­Christus geworden. 18 Gott hat niemand jemals gesehen; der ­Einzige, „Gott“, der an der Brust des Vaters ist, jener hat ­ausgelegt / Kunde gebracht.

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     Ex 33–34 (LXX [MT]) 34,5: […] und er (Mose) rief mit dem Namen des Herrn […] 33,7: […] wer den Herrn suchte, ging hinaus in das Z e l t […] 33,18: Er (Mose) sagt: „Zeige mir deine Herrlichkeit!!“ 34,6: [voll Gnade und Wahrheit] 34,9: „Wenn ich Gnade vor dir g­ efunden habe […]“ 33,20: „Du sollst mein Antlitz nicht s­ ehen k­ önnen; auf keinen Fall wird ein Mensch mein Antlitz s­ ehen und l­eben.“

Joh 1,12–18 enthält somit viele evidente, weil im Text semantisch und/oder syntaktisch hervorstechende Anklänge an Ex 33–34.35 Im Licht dieser Bezüge auf die Sinai-Erzählung ergibt sich für den Schlussteil des Prologs folgender Tiefensinn: Jesus Christus erscheint in Analogie zum Wüstenheiligtum als temporärer Ort der Präsenz und Offenbarung Gottes auf Erden.36 In ihm wird der Name Gottes offenbar, dessen Kernbestand „voll Gnade und Wahrheit“ lautet, der also Gottes Wahrheit als Gnade in Fülle identifiziert.37 Zugleich wird in ihm Gottes Herrlichkeit sichtbar: Wie einst Mose die Herrlichkeit Gottes schauen durfte, so dürfen dies jetzt „wir“, die Augenzeugen Jesu. In Jesus wird freilich die damalige Offenbarung überboten38, insofern a) „Gnade und Wahrheit“ als Name Gottes nicht nur ausgerufen, sondern Realität geworden sind39 und daher b) „wir alle“ empfangen haben, was seinerzeit nur Mose empfing. Insofern ist Joh 1,16 in der Tat wörtlich zu nehmen: „Wir alle“ haben „Gnade anstelle von Gnade empfangen“, eben die 35  Zu den Exodus-Bezügen in Joh 1,14–16 vgl. auch (ausgehend vom Motiv des „Zeltens“) T hyen 2015, 91–102 – mit berechtigter Zurückweisung der als Alternative propagierten Verknüpfung mit Sir 24 durch Bauer 1933, 24, u.a. 36  Vgl. Wengst 2000, 62 f. (der hier freilich ausweitend die breit bezeugte Vorstellung der Schechina, des Einwohnens, rezipiert sieht, der zufolge Gottes „Gegenwart in seinem Volk […] nicht an den Tempel gebunden“ sei). 37  Im Anschluss an Joh 1,16 muss die Nennung der Wahrheit in 1,17b als Spezifikation der Rede von der Gnade aufgefasst werden (vgl. Bultmann 1964, 49 f., der 1,14d als „Hendia­dyoin“ auffasst). Dies geschieht von Ex 34,6 her freilich so, dass dabei vor allem Gottes beständige Treue (als Gottes Wahrhaftigkeit) in den Blick kommt; vgl. Wilckens 2000, 34 f. 38  Es geht jedoch nicht um die Überbietung der „Gesetzesordnung“ (so Schnackenburg 1965, 253, vgl. 252: Sie sei für den Evangelisten „in ähnlicher Weise“ überholt wie „der jüdische Kult […], die Reinigungsbräuche […], die Feste ‚der Juden‘“). 39  Vgl. Haenchen 1980, 131.

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Gnade, Gottes Herrlichkeit schauen zu können.40 Und 1,18 knüpft an die auch in Ex 33 f. bezeugte „Selbstverständlichkeit“ an, dass nie jemand Gott selbst gesehen hat, um vor diesem Hintergrund anzuzeigen: Der Einzigartige, der nach Joh 1,1.18 „mit dem Vater in ewiger Einheit und Liebe verbunden“41 ist, in dem 1,14 zufolge Gottes Name „Voller Gnade und Wahrheit“ als Gottes Heilswille offenbart und damit Wirklichkeit geworden ist, der ist es, der „auslegt“ bzw. „Kunde bringt“. Damit erschließt er Gotteserkenntnis, Gottesgemeinschaft. Gegenstand der Auslegung ist freilich nicht das Gesetz – dieses wird ja im weiteren Verlauf des JohEv neu als Zeuge für Jesus als den Stifter des Lebens gedeutet (vgl. 5,37–47)42 –, aber auch nicht einfach und unmittelbar Gott43. Vielmehr legt der Einzigartige, wie die Objektlosigkeit des Verbs in 1,18 andeutet, sich selbst aus: als die Vergegenwärtigung Gottes und göttlicher Herrlichkeit auf Erden.44 Vor diesem Hintergrund ist dann die Selbstbezeichnung des JohEv als „dieses Buch“ im Buchschluss (Joh 20,30) höchst signifikant.45 Die Wendung „geschrieben in diesem Buch“ hat nämlich eine literarische Grundlage in dem durch Mose übermittelten Gesetz: In Dtn 28–30 begegnet die Formel mehrfach und verweist zunächst auf das Deuteronomium selbst – sowie dann, im Zusammenhang mit dem Josuabuch gelesen, auf den ganzen Pentateuch (vgl. Jos 23,6: „geschrieben im Buch des Gesetzes des Mose“). Besonders interessant sind die Entsprechungen einerseits mit Dtn 28,58, andererseits mit 30,9 f.         Dtn 28–30 (LXX)

       Joh 20,28–31 28 T homas antwortete […]: „Mein Herr und mein Gott!“

28,58: „Wenn du nicht gehorchst, alle Worte dieses ­Gesetzes, die in diesem Buch geschrieben 30 Viele andere Zeichen hat nun Jesus zwar ­ sind, zu tun, diesen ehrenvollen und wundergetan vor den Jüngern, baren Namen zu fürchten, den Herrn, deinen die nicht geschrieben sind in diesem Gott, […] Buch; 30,9 f.: Der Herr, dein Gott […] wird dich […] mit 31 diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, großer Fürsorge behandeln […], wenn du auf dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, die Stimme des Herrn, deines Gottes hörst, und ihr glaubend Leben habt in seinem seine Gebote […] zu beachten, die im Buch ­Namen. dieses Gesetzes geschrieben sind […]

40 

Edwards 1988 plädiert mit Recht dafür, die Präposition ἀντί in ihrer „most common meaning, namely ‚instead of‘“ aufzufassen, deutet dann aber Joh 1,16 von 1,17 her mit diversen Kirchenvätern zu allgemein auf die Überbietung der Gnadengabe des alten Bundes durch Jesus Christus. 41  Hirsch-Luipold 2017, 36. 42  Vgl. Kraus 1997, 5–7, und s.u. bei Anm. 47. 43  So T hyen 2015, 104, u.v.a. 44  Vgl. Weiss 1902, 61; Hirsch-Luipold 2017, 34 f. 45  Die Auffälligkeit der Formulierung im Rahmen des neutestamentlichen Sprachgebrauchs notiert Becker 1991, 753.

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Während die erste Stelle in Joh 20,31b anklingt, insofern sie die Niederschrift der Worte des Gesetzes ausdrücklich mit dem Namen Gottes verknüpft, den es zu fürchten gilt, kommt die zweite Stelle durch 20,31a in den Blick, stellt sie doch das Wohlergehen heraus, das denen verheißen ist, die auf die Stimme hören, die im Buch des Gesetzes erklingt, die Stimme dessen, der für Israel Herr und Gott ist. Das JohEv reklamiert insofern für sich die gleiche autoritative Funktion, die im zeitgenössischen Judentum der Tora als Teil der Schrift zugemessen wurde: Es ist Dokument des in der Geschichte offenbar gewordenen Heilswillens Gottes und weist den Weg zum Leben46. Das JohEv überbietet den Autoritätsanspruch der Tora allerdings noch; denn es beansprucht, die Offenbarung Gottes, die in Jesus Gestalt gewonnen hat, für die Leser- und Hörerschaft zu vergegenwärtigen, ihr seine Herrlichkeit „anschaulich“ zu machen und ihr eben auf diese Weise das „Leben“ zu vermitteln, das der göttliche Logos in sich trägt. Nach Joh 5,39 suchen Juden solches Leben in den Heiligen Schriften. Das JohEv indes wertet diese Schriften gerade als Zeugnisse für Jesus – wohl weniger aufgrund konkreter messianischer Verheißungen, sondern infolge der Lebensverheißung, die es im Glauben an Jesus als den Christus erfüllt sieht.47 Dazu passt ein weiterer, typisch johanneischer Zug der Erzählung vom Auftreten Jesu: Johannes zufolge tritt Jesus wiederholt, ja, programmatisch während der großen Wallfahrtsfeste in Jerusalem auf.48 Diese Feste aber vergegenwärtigen den Juden, die sie feiern, die großen Etappen der Heilsgeschichte Gottes mit Israel: die Herausführung aus Ägypten (Passa, vgl. Joh 2,13–3,21; 6,4; 11,55–20,25), die Gabe des Gesetzes (Wochenfest, vgl. 5,1–47)49, die Wüstenwanderung (Laubhütten, vgl. 7,1–10,21), die Erneuerung des Tempels (Chanukka, vgl. 10,22–39)50. Eben diese Geschichte präsentiert nun das JohEv als in Jesus vollendet. Sein Auftreten stellt gleichsam eine neue Gründungsgeschichte dar: die Gründungsgeschichte des eschatologischen Gottesvolkes, in dem Juden und „Heiden“ verbunden werden – allem Widerspruch, der von jüdischer Seite erfolgt, zum Trotz. Daher wertet das JohEv neben der Tora auch den Tempelkult als vorlaufenden Zeugen für Jesus51 – und zeichnet demgemäß in den Kapiteln 2–12 das gesamte öffentliche Wirken Jesu in den chronologischen Rahmen des jüdischen Festkalenders ein.

Schließlich ist noch ein weiteres Textmerkmal zu notieren: Der Buchschluss verweist in Joh 20,30 auf „viele andere Zeichen“, die Jesus vor den Jüngern getan habe. Das entspricht der weit verbreiteten Tradition, „den unerschöpflichen Reichtum des (sc. in einem Werk verhandelten) Gegenstandes“ anzuzeigen52. Hier aber wird zugleich mitgeteilt, dass die Verfasser die Breite der Jesusüberlieferung über46 

Zur entsprechenden Deutung der Tora im rabbinischen Judentum vgl. Avemarie 1996. Ähnlich Wilckens 2000, 123 f. 48  Zu den Festen im JohEv generell vgl. Daise 2007; Felsch 2011. 49  Zur Identifikation des in Joh 5,1 erwähnten „Festes der Juden“ vgl. Wilk 2016a, 77. 50  Zur narrativen Einheit des großen Erzählblocks Joh 7,1–10,39 vgl. Wilk 2016a, 78–101. 51  Vgl. zumal Joh 2,19–22 (und dazu Schneider 1988, 87 f.); 7,37–39 samt 9,7 (und dazu Wilk 2016a, 79; 2016b, 53 f.); 10,30.34–38 (und dazu Wengst 2000, 395–398, der freilich allgemeiner auf die Tradition „vom Einwohnen Gottes inmitten seines Volkes Israel“ [398] verweist). 52  Vgl. Bultmann 1964, 540 f., mit diversen Belegen. 47 

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schauen, wie es für Augenzeugen auch nicht anders zu erwarten ist; dass sie sich aber im vorliegenden „Buch“ auf das Wesentliche konzentriert haben: nämlich auf diejenigen Taten und Reden, die geeignet sind, den ins Leben führenden Glauben zu wecken und zu stärken, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes53. Damit aber macht sich das Evangelium zum hermeneutischen Schlüssel der gesamten Jesusüberlieferung.54 Zusammengefasst kann man feststellen: Die Rahmung durch Prolog und Buchschluss samt T homas-Episode lässt das JohEv als „Buch“ erscheinen, dem seitens der Augenzeugen, die in ihm zu Wort kommen, für die Adressaten unbedingte Autorität zugemessen wird. Es wird sozusagen als neue Heilige Schrift präsentiert.55 Und diese Selbstautorisierung wird durch die höchst besondere Erzählweise des JohEv, die die Adressaten mit dem Heilsgeschehen im Auftreten Jesu vergleichzeitigt, für diese Adressaten plausibel.

3. Zur Selbstautorisierung des Zweiten Petrusbriefs Dieser Brief (2 Petr) ist ein Spätling im NT: In ihm meldet sich fiktional der Apostel Petrus zu Wort56, der hier in hebraisierender Form57 zugleich seinen ursprünglichen Namen „Symeon“ (1,1) trägt – eine Namensform, die für Petrus sonst nur noch im Munde des Jakobus beim lukanischen Bericht über das Jerusalemer Apostelkonzil erscheint (Apg 15,14) und insofern in 2 Petr 1,1 historisierend Authentizität anzeigt58. Dieser „Symeon Petros“ aber schreibt, wie der Gebrauch der Personalpronomina in 1,1–4 anzeigt, im Namen einer „Wir“-Gruppe (1,1init.3) an eine Gruppe nicht näher identifizierter Adressaten (vgl. 1,2.4b: „euch“), die er als Glaubende (1,1) anspricht und insofern als solche, die „Teilhaber der göttlichen Natur“ (1,4b) werden sollen59. Dabei schließt er sich und jene „Wir“-Gruppe mit den Adressaten zugleich in dem umfassenden „Wir“ derer zusammen, die in Jesus ihren Retter und Herrn (1,1fin.2) und durch ihn „die kostbaren und gewaltigen Verheißungen“ empfangen haben (1,4a).60 53 

Vgl. Schnackenburg 1986, 405. Anders Heckel 1999, 150: „Das mit Joh 20,30 f. abgeschlossene Buch beansprucht, für sich allein stehen zu können.“ 55  Ähnlich Zumstein 2016, 771: „So entsteht für Joh neben der alttestamentlich-jüdischen Bibel eine neue Schrift, die dazu bestimmt ist, das Glaubensbuch der Christen zu werden: das Evangelium des Lieblingsjüngers.“ 56  Zur Pseudonymität des Briefes vgl. Gielen 2008a, 525 f. 57  Zur sprachlichen Prägung des Briefes insgesamt vgl. den Überblick bei Bauckham 1983, 137 f. 58  Vgl. Roloff 1995, 221. Der Doppelname „Simon Petrus“ ist noch in Mt 16,16; Lk 5,8; Joh 1,40; 6,8.68; 13,9.24.36; 18,10.15.25; 20,2.6; 21,2 f.7.11.15 belegt. 59  Zum Verständnis der Teilhabe als einem zukünftigen Heilsgut vgl. von Soden 1899, 216. 60  Zum differenzierten Gebrauch des „Wir“ in 2 Petr 1,1–4 vgl. Wohlenberg 1923, 172; Heckel 2019, 144 f. Nach Paulsen 1992, 107, macht er „deutlich, daß und wie sehr aus der 54 

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Um wen es sich bei dieser engeren „Wir“-Gruppe handelt, wird spätestens in 1,16–18 klar: Petrus spricht für alle Apostel, die bei der Verklärung (Mt 17,1–5 par.) „Zeugen“ der „Größe“ Jesu geworden sind.61 Aufgrund ihrer Zeugenschaft verdient die Verkündigung Jesu Christi durch die Apostel unbedingte Glaubwürdigkeit.62 Zugleich verbürgen die Apostel als Zeugen der Größe Jesu dann auch die Zuverlässigkeit „des prophetischen Wortes“ (2 Petr 1,19), also der Heiligen Schrift, die auf die gesamte Erscheinung Jesu vorausverweist63 – und die den Adressaten deshalb als Bezugsgröße ihres Glaubenslebens empfohlen wird. Zentraler Gegenstand der apostolischen Verkündigung und des prophetischen Wortes, soweit sie im Brief zur Darstellung kommen, ist die künftige Parusie Jesu Christi einschließlich der zu ihr gehörenden Ereignisse in der Gegenwart von Absendern und Adressaten.64 Auf diese Parusie zu warten, sich in Glauben, Tugend, Erkenntnis, Selbstbeherrschung, Ausdauer, Frömmigkeit und Geschwisterlichkeit auf sie auszurichten und so der eigenen Berufung und Erwählung Bestand zu geben65 (2 Petr 1,5–11), dazu hält der Brief die Adressaten eindringlich an. Das Wissen darum ist ihnen im Grunde zwar gegeben, es erscheint aber notwendig, sie daran immer wieder zu erinnern (1,12); eben dazu schreibt ihnen der Verfasser.66 Dabei blickt er auf seinen baldigen Tod voraus (1,13–15), sodass der Brief den Charakter eines Abschiedsschreibens erhält. Als solches dient es dazu, die Erinnerung weit über jenen Tod hinaus aufrecht zu erhalten, sie den Adressaten gleichsam als Testament zu hinterlassen.67 Wenn die Adressaten den Weg zu Leben und Frömmigkeit (2 Petr 1,3) beschreiten wollen, sind sie also an die Weisung der von Jesus selbst zu Zeugen gemachten Apostel gewiesen – und somit an die Weisung des für die Apostel sprechenden Briefabsenders „Symeon Petrus“. Seine Autorität entscheidet dann auch darüber, wie die Prophetien der Schrift auszulegen sind; eigenmächtige Interpretationen durch andere Personen und Instanzen sind ausgeschlossen (1,20 f.).68 Was das konkret heißt, führt der Verfasser in der ersten Hälfte des zweiten Kapitels vor Augen. Hier erinnert er an das Gericht, das Gott vorzeiten wiederholt über die verhängt hat, die gegen Gottes Weisungen verstoßen haben: die Engel, die – antik-jüGabe, die geschichtlich zuvor den Aposteln zuteil wurde, zugleich die Heilsmöglichkeit für die Gemeinde […] entsteht“. 61  Vgl. Käsemann 1960, 149 f. (mit Hinweis auf die sachliche Verknüpfung der Verklärung Jesu mit der „christliche[n] Hoffnung“ auf die „Teilhabe an der göttlichen Natur“); gegen Kühl 1897, 378 f., der in 2 Petr 1,1 f. das Gegenüber von Juden- und Heidenchristen angezeigt sieht, das jedoch im weiteren Brief keine Rolle spielt. 62  Vgl. Vouga 1992, 52 f. 63  Vgl. Bauckham 1983, 224 – gegen Neyrey 1980, 514–516: Die Verklärung selbst sei das prophetische Wort. 64  Vgl. Pokorný / Heckel 2007, 706 f. 65  Vgl. dazu Hiebert 1984a, 51. 66  Vgl. Schrage 1973, 129. 67  Vgl. Roloff 1995, 221. 68  Vgl. Paulsen 1992, 123 f.

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discher Schriftauslegung zufolge69 – von Gott abgefallen sind, die Zeitgenossen des Noah und seiner Familie, die Einwohnerschaft Sodoms und Gomorras (2,4– 6). Wichtig für die Kommunikation mit den Adressaten ist, dass nach Darstellung des Verfassers in 2,3.9 das endgültige Gericht über all diese Ungerechten noch aussteht – und dass aus der Schrift zugleich zu lernen ist, wie Gott die Frommen vor dem Gericht bewahrt: indem er sie – wie Noah (2,5) und Lot (2,7 f.)70 – aus der Versuchung zum Abfall errettet. Der Selbstautorisierung des Schreibens dient darüber hinaus der in 2 Petr 3,1 f. folgende explizite Verweis auf den Ersten Petrusbrief, den die Adressaten demnach sowohl kennen als auch in seiner apostolischen Herkunft anerkennen.71 Dabei präsentiert sich der zweite Brief als Sinneinheit mit dem ersten: Hier wie dort gehe es darum, die Adressaten an das einheitliche Zeugnis der Worte der Propheten und der Gebote der Apostel zu erinnern.72 Die Behauptung ist zwar durch die Sprache und den Sachgehalt des Ersten Petrusbriefs nur ansatzweise gedeckt. Damit aber entspricht dieser Befund dem lockeren Verhältnis zwischen der ganz allgemeinen Adressierung in 1,1 und der regionalen Konkretisierung in 1 Petr 1,1, die jenen Brief als Rundschreiben an „die erwählten Fremdlinge in der Diaspora in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asia und Bithynien“ ausweist. Der 2 Petr spiegelt eine Zeit wider, in der der Erste Petrusbrief schon über den ursprünglichen Adressatenkreis und über seine konkrete T hematik hinaus als autoritatives Dokument gilt.73 Als weiteres Mittel der Selbstautorisierung dient sodann im Rahmen des Briefschlusses der Hinweis auf die Briefe des Paulus. Dabei spricht der Verfasser zunächst in 2 Petr 3,15 von mindestens einem Schreiben des Paulus, das sich unmittelbar an die Adressaten des Zweiten Petrusbriefes richtete oder doch jedenfalls von ihnen als auch an sie gerichtet verstanden wird; sodann verweist er in 3,16 auf eine Sammlung „aller“ Paulus-Briefe, die jedenfalls ihm als Verfasser bekannt sind74. Der Verfasser des Zweiten Petrusbriefes versammelt in seinem Schreiben also eine ganze Reihe explizit benannter Autorisierungsinstanzen: die Heilige Schrift, die Apostel, die von ihnen getragene Jesus-Überlieferung, die Paulusbriefe, den ersten Petrusbrief. Schon damit repräsentiert dieser Brief ein fortgeschrittenes Stadium frühchristlicher Textproduktion und Textsammlung.

69 

Vgl. dazu den Überblick bei Billerbeck 1956, 780–783 (mit Bezug auf Jud 6). Zum traditionsgeschichtlichen Kontext vgl. Rappaport 1930. 71  Vgl. Roloff 1995, 221. Dass sich der Zweite Petrusbrief dem Inhalt nach nicht auf den ersten bezieht, wie vielfach mit Recht notiert wird, steht dem Rückbezug in Sachen Autorität nicht entgegen; vgl. Knopf 1912, 308. 72  Zu der hier behaupteten apostolischen Autorität des Briefautors im Rückbezug auf Heilige Schrift und apostolische Tradition vgl. Zmijewski 1979, 165–167. 73  Vgl. Vögtle 1994, 212. 74  Vgl. Frey 2015, 164. 70 

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Implizit tritt eine weitere Autorisierungsinstanz hinzu: der Judasbrief. Dieses Dokument frühchristlicher Polemik gegen abweichende, als häretisch gebrandmarkte Anschauungen wird vom Zweiten Petrusbrief nämlich sukzessive ausund fortgeschrieben.75 Dies lässt sich etwa an dem Abschnitt 2 Petr 2,1–10 beobachten. Wie nachstehende Übersicht zeigt, entspricht er in seinem Aufbau und in seiner Motivik weitgehend Jud 4–8:          2 Petr 2,1–10

       Jud 4–8

  1 Es gab auch falsche Propheten im Volk, wie auch bei euch Falschlehrer sein werden […]; sie ziehen sich selbst r­ asches Verderben zu.

  4 Denn es haben sich […] Leute einge­ schlichen, die […] für dieses Gericht ­aufgezeichnet sind […]   5 Ich will […] erinnern, dass Jesus […]  6 die Engel, die […] das eigene Haus v­ erließen, für das Gericht […] aufbewahrt hält;

  4 Denn wenn Gott die Engel, die gesündigt hatten, nicht verschonte, sondern sie […] aufbewahrt dem ­Gericht übergab   5 und die alte Welt nicht verschonte, sondern […] nur Noah als achten […] bewahrte […]   6 und […] Sodom und Gomorra einäscherte […]   7 und den gerechten Lot errettete […]   9 der Herr weiß die Frommen aus der Versuchung zu retten, die Ungerechten aber für den Tag des ­Gerichts unter Züchtigung aufzubewahren, 10 zumal aber die, die in Gier nach Befleckung dem Fleisch folgen und die Herrschaft verachten, […] die nicht davor zurückschrecken, Herrlichkeiten zu lästern.

  7 wie auch Sodom und Gomorra […] als ­Beispiel daliegen […]   8 Auf gleiche Weise beflecken auch diese Träumer das Fleisch, setzen die Herrschaft außer Kraft und lästern Herrlichkeiten.

Man beachte zumal die Notizen zu den Engeln und zur Bewahrung für das Gericht (2 Petr 2,4 / Jud 6), zu Sodom und Gomorra (2 Petr 2,6 / Jud 7), zur Befleckung des Fleisches sowie zu der – wohl auf „Gestalten in der gottnahen Himmelwelt“ zu beziehenden76 – Verachtung der Herrschaft der Engel und zur Lästerung von Herrlichkeiten (2 Petr 2,10 / Jud 8). Die Entsprechung zwischen beiden Texten betrifft dabei gerade auch die Verknüpfung der aus der Schrift in Erinnerung gerufenen Gestalten und Vorgänge mit den Personen und Ereignissen der Zeit, in die diese frühchristlichen Briefe jeweils hineinsprechen:77 Wie in Jud 4–8, so wird auch in 2 Petr 2,1–10 das Zeugnis der Schrift durch die Rahmenverse als Analogie und Vorausdarstellung des Auftretens und zu erwartenden Untergangs von Irrlehrern präsentiert; in 2,1 heißen diese dann auch explizit „Falschlehrer“.

75 

Vgl. Gielen 2008b, 556 f., sowie 2008a, 523 f. Vgl. Dochhorn 2019, 191 (zu Jud 8). 77  Vgl. Frankemölle 1987, 103.135 f. 76 

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Der in der Verarbeitung von Jud 4–878 sich vollziehende Prozess der Selbstautorisierung des 2 Petr lässt sich näherhin wie folgt beschreiben: – Indem der Verfasser in 2 Petr 2,1–10 seine ‚Gegner‘ als Falschlehrer identifiziert, beansprucht er für sich selbst nicht nur, die rechte Lehre zu vertreten79, sondern auch, die Vorgänge der Gegenwart autoritativ deuten zu können. Dafür macht er erstens eine Art typologischer Auslegung der Heiligen Schrift geltend80 und schreibt zweitens den Judasbrief fort. Daraus lässt sich schließen, dass er Letzteren einerseits formal, sprachlich und motivisch als geeignetes Modell für das eigene Schreiben ansieht und würdigt, andererseits aber inhaltlich für die eigene Situation aktualisiert und neu ausrichtet – und insofern im Grunde ersetzt.81 – Dazu passt, was in 2 Petr 1,16–21 geschieht: Die maßgebliche Verkündigung über die Zukunft der Glaubenden und im Zusammenhang damit die Auslegung der Heiligen Schrift werden hier den Augenzeugen der Hoheit Jesu unterstellt, näherhin der „Wir“-Gruppe, für die der Verfasser spricht – und damit in letzter Instanz dem Verfasser selbst.82 – Ganz entsprechend stärkt der Verfasser auch in 2 Petr 3,1 f. mit dem Verweis auf den Ersten Petrusbrief den apostolischen Wahrheitsanspruch seines eigenen Briefs – und zwar im Zusammenhang mit dem Zeugnis der Heiligen Schrift, das in seinem Sachgehalt mit dem Gebot Jesu, das die Apostel den Adressaten übermittelt haben, konform geht83. Besonders eindrücklich tritt der komplexe Vorgang der Selbstautorisierung am Schlussabschnitt des Briefes, 2 Petr 3,14–18, zutage. Der Sache nach wird hier die zuvor, in 3,5–13, noch einmal breit entfaltete endzeitliche Erwartung „neuer Himmel und einer neuen Erde“ (3,13) – wie es in modifizierender Aufnahme einer Formulierung aus Jes 65,17; 66,22 heißt84 – aufgegriffen und paränetisch ausgewertet: Die Adressaten sollen sich darum bemühen, unbefleckt dem kommenden Gericht entgegen zu gehen (2 Petr 3,14). Dass es noch auf unbestimmte Zeit ausstehe, diene gerade dazu, ihnen Gelegenheit zu geben, die eigene Festigkeit in der Treue zum Herrn zu stärken und in der Erkenntnis zu wachsen (3,15a.17 f.). In diesem Abschnitt schreibt der Verfasser zum einen erneut den Judasbrief fort85, wie folgende Übersicht zeigt: 78  Gegen ihre Bestreitung durch Wohlenberg 1923, XLI–XLIV: Judas benutzte ein he­ bräisches Original des 2 Petr. 79  Vgl. Frey 2015, 268. 80  Vgl. Kühl 1897, 413. 81  Vgl. Paulsen 1992, 98 f. 82  Vgl. Vögtle 1994, 178 f. 83  Vgl. Schrage 1973, 142. 84  Vgl. Knopf 1912, 321. 85  Diese Bezüge fehlen bei Fornberg 1977, 33–59, der sich bei der Analyse auf 2 Petr 2,1–3,3 konzentriert und lediglich gemeinsame Begrifflichkeit für Jud 24 f. und 2 Petr 3,14.18 konstatiert [34].

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        2 Petr 3,13–18

       Jud 17–25

13 Neue Himmel und eine neue Erde erwarten wir. 14 Seid daher, Geliebte, indem ihr dies erwartet, bestrebt, […] unbefleckt vor ihm befunden zu ­werden, 15 und haltet die Langmut unseres Herrn für Rettung, […]

17 […] erinnert euch des von den Aposteln […] zuvor Gesagten. 20 Ihr aber, Geliebte, erbaut euch in eurem […] Glauben, […]

17 Da ihr nun […] dies zuvor wisst, bewahrt euch, damit ihr nicht […] aus der eigenen Festigkeit fallt. 18 Nehmt aber an […] Erkenntnis unseres Herrn und R ­ etters Jesus Christus zu. Ihm gehört die Herrlichkeit, jetzt und am Tag des Äons.

21 bewahrt euch in Gottes Liebe, erwartet das Erbarmen unseres Herrn Jesus C ­ hristus zu ewigem Leben. 24 Dem, der euch […] bewahren und u­ ntadelig vor seine Herrlichkeit stellen kann, 25 dem alleinigen Gott, unserm Retter, ­gehört durch Jesus Christus, unsern Herrn, die Herrlichkeit, jetzt und für alle Äonen, Amen.

Im Einzelnen geht der Autor des 2 Petr mit dem Schlussabschnitt des Judasbriefs wie folgt um: – Er greift aus Jud 20 f. das T hema der erforderlichen Ausrichtung der „geliebten“ Adressaten auf die Parusie auf – und macht den Appell zu solcher Ausrichtung durch die Platzierung am Ende seines Briefs zu dessen zentralem Anliegen. Dabei weitet er den Gegenstand der „Erwartung“ aus: vom „Erbarmen unseres Herrn“ (Jud 21) auf die neue Schöpfung (2 Petr 3,13 f.), die der „Tag des Herrn“ (3,10) bzw. der „Tag Gottes“ (3,12) heraufführen wird86. – Er konkretisiert demgemäß zwei Aussagen seiner Vorlage: Zum einen spricht er bezüglich der Haltung Gottes, an der die Adressaten sich orientieren sollen, statt von der „Liebe Gottes“ (Jud 21) von der „Langmut unseres Herrn“ (2 Petr 3,15); zum anderen nennt er als den Grundvollzug, in den sie sich einzufinden haben, statt der „Erbauung im Glauben“ (Jud 20) die „Erkenntnis Christi“ (2 Petr 3,18). – Im Horizont des bevorstehenden Gerichts (2 Petr 3,7) macht er aus der Zusage der „Bewahrung“ bis zur Parusie (Jud 24) eine Forderung an die Adressaten (2 Petr 3,17)87; sie müssen sich ihre „Festigkeit“ (vgl. 1,12) erhalten88, um vor dem kommenden Herrn bestehen zu können (vgl. 3,14). – Er überträgt das Prädikat „Retter“, das in Jud 25 Gott zugeschrieben ist, auf Christus (2 Petr 3,18). 86 

Zum Rückbezug auf 2 Petr 3,10–13 im „dies“ von 3,14 vgl. Hiebert 1984b, 331. der Anknüpfung an Jud 24 geht es in 2 Petr 3,17b nicht nur darum, sich vor einer Verführung durch die Gegner „zu hüten“ oder „in Acht zu nehmen“ (so Vögtle 1994, 261.264). Der folgende Vers 3,17c ist ja auch „nicht als Objekt-, sondern als Zwecksatz [sc. im Anschluss an 3,17b] zu fassen“ (Kühl 1897, 461). 88  Vgl. Paulsen 1992, 175. 87  Infolge

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– Schließlich ersetzt er den Aufruf zur Erinnerung an „die Worte, die zuvor von den Aposteln unseres Herrn gesagt worden sind“ (Jud 17) – Worte, die dem Judasbrief vorausliegen89 – durch einen Verweis auf das Vorauswissen der Adressaten in Sachen Eschatologie, das der Autor des 2 Petr mit seinem Brief selbst hergestellt hat (2 Petr 3,17)90. Zum anderen nimmt der Verfasser gerade in diesem Schlussabschnitt seines Briefs auf die literarische Hinterlassenschaft des Apostels Paulus Bezug – und zwar mit der auch in kanongeschichtlicher Sicht höchst bemerkenswerten Notiz 2 Petr 3,15 f. Sie verweist ja nicht nur darauf, dass a) die Briefadressaten auch bereits von Paulus angeschrieben worden seien; sie macht zudem geltend, dass b) sowohl der Briefautor selbst als auch andere, ungelernte Leute Kenntnis von „allen Briefen“ des Paulus hätten. In ihrem literarischen Kontext dient diese Notiz auf mehrschichtige Weise dazu, die Position des Verfassers zu untermauern: – Erstens reklamiert er für seine Ausführungen zur Prägung des Daseins der Christusgläubigen durch die Erwartung des Tages des Herrn (2 Petr 3,8–13) in 3,15 ein völliges Einvernehmen mit dem bzw. den Schreiben, das oder die Paulus an die Adressaten gerichtet hat. Er setzt bei Letzteren also a) die Anerkenntnis der Autorität des Paulus, b) die Kenntnis mindestens eines Paulusbriefes und c) dessen Rezeption als eines für sie bestimmten Schreibens voraus. Ist die intendierte Lektüre des 2 Petr im westlichen Kleinasien zu verorten, so könnte man in 2 Petr 3,15 konkret an den Galater- und/oder den Epheserbrief denken91. In diesen Briefen taucht das Motiv der Langmut Gottes indes nicht auf – am nächsten steht vielmehr Röm 2,4 – und steht die Eschatologie insgesamt keineswegs im Zentrum der brieflichen Ausführungen. Es liegt deshalb näher anzunehmen, dass sich der 2 Petr allgemein auf einen Brief oder mehrere Briefe des Paulus bezieht, der oder die für die Adressaten autoritativen Rang gewonnen hat bzw. haben.92 Auch dann fällt eine Konkretion des Sachbezugs allerdings schwer. Die Fiktion des grundlegenden Einverständnisses ist hier offenbar wichtiger als die Markierung einer klar identifizierbaren Referenz.93

Für dieses Einvernehmen nennt der Verfasser in 2 Petr 3,15 Paulus – mit Blick auf sich selbst und die Adressaten – „unseren geliebten Bruder“, dem in besonderer, da erwähnenswerter Weise „Weisheit gegeben worden“ sei. Dieser großen Autorität stellt er sich selbst als „Symeon Petrus“ zunächst einmal gleich.94

89 

Vgl. Schrage 1973b, 229. Vgl. Heckel 2019, 173. 91  Für den Epheserbrief votiert von Soden 1899, 228. 92  Vgl. Hiebert 1984b, 334 (er erwägt den Bezug auf einen konkreten Brief aus dem Corpus Paulinum); Frey 2015, 357 (er denkt an eine den Adressaten vorliegende Sammlung von Paulusbriefen). 93  Vgl. Paulsen 1992, 174 f. 94  Zu dieser „Nebeneinanderordnung des Petrus und Paulus“ vgl. Knopf 1912, 325. 90 

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– Zweitens beruft er sich in 2 Petr 3,16 auf seine Kenntnis „aller Briefe“ des Paulus. Dieser habe überall, wo er „über diese Dinge“, also die Ausrichtung auf die Parusie „spreche“, das Gleiche geschrieben wie an die Adressaten.95 Dass auch die Adressaten alle Briefe des Paulus kennen, ist gerade nicht gesagt. Vielmehr behauptet der Verfasser hier seiner Leserschaft gegenüber einen Kenntnisvorsprung.96

Allerdings sei manches in den Briefen des Paulus so schwer zu verstehen, dass „die Ungelernten und Ungefestigten“ es verdrehen. Der 2 Petr präsentiert sich somit inmitten eines nur vage angedeuteten Feldes von Fehldeutungen als der rechte, zuverlässige Interpret der gesammelten Paulusbriefe.97 – Drittens schließlich weitet der Verfasser die Bezugsgröße für den genannten Auslegungsstreit auf „die übrigen Schriften“ aus; auch sie würden von den Ungelernten verdreht. Die Identifizierung besagter Schriften als „die übrigen“ spricht gegen die Annahme, hier seien – wie in 2 Petr 1,19–21 – die heiligen Schriften Israels gemeint; sie heißen dort ja auch schlicht „die Schrift“.98 Vielmehr dürften weitere frühchristliche Schriften gemeint sein, die demnach inzwischen ebenfalls autoritativen Rang gewonnen haben99 – und für deren rechte Interpretation wiederum der 2 Petr garantiert. Möglicherweise ist dabei auch der Judasbrief (s.o.) im Blick. Der 2 Petr reklamiert mit seinem Schlussabschnitt also für sich eine weitreichende interpretatorische Autorität. Jedenfalls soweit es um die Eschatologie geht, ist aus diesem Schreiben zu lernen, wie sämtliche Paulusbriefe sowie weitere frühchristliche Schriften zu verstehen sind.100 Nimmt man alle Autorisierungsinstanzen in den Blick, auf die der Brief verweist, so wird deutlich: Er präsentiert sich als hermeneutischer Schlüssel zum rechten Verständnis des Zusammenhangs, in dem die Heilige Schrift, das apostolische Zeugnis, die Briefe des Paulus und weitere auto­ritative Schriften des frühen Christentums miteinander verbunden sind – und hat eben deshalb weit über den Tod des Petrus hinaus bleibende Bedeutung für die Adressaten.

 95 

Zur eschatologischen Ausrichtung auch von 2 Petr 3,16 vgl. Wrede 1903, 72. Vgl. Weiss 1902b, 353 f.  97  Dass 2 Petr 3,15 f. eine Sammlung von Paulusbriefen voraussetzt, betont mit Recht Lindemann 2009, 275.  98  Vgl. Spitta 1885, 292–294.  99  Vgl. Kühl 1897, 460. 100  Zu der hier reklamierten „Deutehoheit über die paulinischen Briefe“ vgl. Frey 2015, 361.363.  96 

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4. Schluss Im Voranstehenden habe ich die Strategien der Selbstautorisierung untersucht, die sich am Evangelium nach Johannes und am zweiten Brief des Petrus – als den wohl jüngsten Repräsentanten ihrer jeweiligen Gattung im Neuen Testament – in je eigener Ausformung beobachten lassen. Aus den erhobenen Befunden ergibt sich, dass die Beschreibung jener literarischen Strategien in der Tat einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Zusammenhangs von „Bildung und Religion“ als des Bezugsrahmens der Konstruktion textlicher Autorität im entstehenden Christentum leistet. Zum einen beruhen ja die aufgewiesenen Strategien der Selbstautorisierung jener beiden Texte auf einer umfassenden Bildung der jeweiligen Verfasser. Diese Bildung schließt die Kenntnis der Heiligen Schrift und ihr zugehöriger Auslegungstraditionen ebenso ein wie die Kenntnis derjenigen Überlieferungen und Schriften, die für das frühe Christentum autoritative Bedeutung gewonnen hatten, ferner auch die literarische Kompetenz, entsprechende Querbezüge passend in die eigenen Texte einzuflechten. Nur aufgrund solcher Bildung gelingt es den Verfassern des JohEv und des 2 Petr, ihren Anspruch auf verbindliche Interpretation der das frühchristliche Bekenntnis tragenden Überlieferungszusammenhänge den Adressaten gegenüber zu plausibilisieren. Zum anderen bedürfen aber auch die jeweiligen Adressaten des JohEv und des 2 Petr eines erheblichen Maßes an Bildung – nämlich einer recht umfassenden Quellenkenntnis, um neben den expliziten auch die impliziten intertextuellen Querbezüge wahrnehmen zu können, welche den Autoritätsanspruch jener Texte begründen. Im Übrigen lässt sich deren – doch wohl wiederholt vorgenommene – Aufnahme im Lesen und Hören als Bildungsvorgang auffassen; denn diese Texte erschließen denen, die sie lesen oder hören, eine eigentümliche, dabei hoch reflektierte Rezeption der ihnen jeweils vorausliegenden frühchristlichen Überlieferung – und zwar im interpretatorischen Konnex mit der Heiligen Schrift, die hier wie dort als Zeuge für das Christusgeschehen und seine apostolische Repräsentation gelesen und vorgestellt wird.101 In der Tat gehören die Strategien der Selbstautorisierung, die am Evangelium nach Johannes und am zweiten Brief des Petrus aufgewiesen wurden, mitten hinein in das Spannungsfeld von Bildung und Religion – nämlich insofern, als beide Schriften auf je eigene Weise die Funktion eines hermeneutischen Schlüssels für sich reklamieren: Sie erschließen, so der hier wie dort erhobene Anspruch, ihrer Leser- und Hörerschaft das rechte Verständnis derjenigen Texte, Ereignisse und Traditionen, auf denen der Christusglaube gründet.

101  Zur Unterscheidung und Verknüpfung der drei genannten Aspekte des Bildungsvollzuges vgl. mein Eingangsstatement zur abschließenden Podiumsdiskussion auf der Jahrestagung 2017 des SFB 1136 „Bildung und Religion“, rezipiert in Gemeinhardt 2019, 477 f.

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Von falscher und von wahrer Autorität Die charismatischen religiösen Figuren Alexander von Abonuteichos, Peregrinos Proteus und Apollonios von Tyana im Diskurs der Zweiten Sophistik*

Heinz-Günther Nesselrath In einigen Schriften des Satirikers Lukian von Samosata spielen religiöse Autoritäten keine geringe Rolle. Jedoch ist dies meist eine negative, denn Lukian – das zeigen auch seine philosophischen Präferenzen, soweit sie sich aus seinem Werk erschließen lassen – ist allem Metaphysischem ausgesprochen abhold; so können Leute wie der Orakelbegründer Alexander von Abonuteichos und der frühere Christ und spätere kynische Philosoph („Guru“) Peregrinos Proteus, die den Anspruch erheben (wenn auch auf verschiedene Weise), religiöse Autoritäten zu sein, bei ihm nur den Verdacht erwecken, dass hinter diesem Anspruch ganz andere Interessen stehen: bei Alexander handfestes Profitstreben und bei Peregrinos grenzenlose Ruhmsucht. Freilich wurde Lukians Einstellung zu diesen beiden Gestalten keineswegs von allen seinen Zeitgenossen geteilt, und seine Beobachtungen zu ihnen sind alles andere als frei von Verzerrungen; sie können uns aber auch noch in dieser verzerrten Wahrnehmung Einiges dazu sagen, mit welchen Phänomenen, Charakteristika und Umfeldern man in der sogenannten Zweiten Sophistik – dem dominierenden literarischen Ambiente des römischen Kaiserreichs im zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr. – religiöse Autorität verknüpfte.

1. Wie etabliert man erfolgreich einen neuen Kult? – Die Methoden des Alexander von Abonuteichos laut Lukian Lukians wahrscheinlich nach 180 n. Chr. geschriebener Text „Alexander, oder: Der Lügen-Seher“ lässt sich als „Schurken-Biographie“ bezeichnen, denn für Lukian war dieser Alexander, der in seiner Heimatstadt Abonuteichos in Paphla*  Dieser Beitrag ist im Rahmen der Arbeit des DFG-geförderten SFB 1136 („Bildung und Religion“), Teilprojekt A 02 („Bildung und Religion in christlichen Bibliotheken der Spätantike“), entstanden.

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Heinz-Günther Nesselrath

gonien – an der Südküste des Schwarzen Meeres – ein Orakelheiligtum des „Neos Asklepios Glykon“ begründete, das wahrscheinlich bis in die ersten Jahrzehnte des 4. Jahrhunderts Bestand hatte1, nichts weiter als ein cleverer und skrupelloser Schurke.2 Wenn dies wirklich so war, dann ist die Tatsache, dass dieses Orakel fast zweihundert Jahre lang existierte, umso erstaunlicher. Was waren die Voraussetzungen und Umstände, die Alexander zu seinem religiösen Erfolg verhalfen? Selbst aus Lukians verzerrter Darstellung werden noch einige Faktoren sichtbar, die Alexander offenbar dabei halfen, eine religiöse Autorität zu werden. Als erstes wäre seine recht beeindruckende äußere Erscheinung zu nennen, die auch Lukian anerkennen muss: „Er war, um dir auch eine Vorstellung von seinem Äußeren zu geben, hochgewachsen, schön und wirklich eines Gottes würdig; er hatte eine helle Hautfarbe, der Bart war nicht sehr dicht, sein Haar nur zum einen Teil echt, zum anderen trug er eine Perücke, die so ausgezeichnet angepasst war, dass das große Publikum es nicht merkte; seine Augen zeigten in hohem Maß Lebendigkeit und göttliches Charisma; die Stimme war sowohl sehr angenehm als auch sehr klar.“3 Als nächstes muss ihm Lukian – widerwillig – auch nicht geringe Geisteskräfte attestieren: „An Verstand, an Geistesgegenwart und an Scharfsinn übertraf er die anderen Menschen bei weitem, und wache Neugier, schnelle Auffassung, gutes Gedächtnis, wissenschaftliche Begabung standen ihm überreichlich jeweils zu Gebote.“4 Selbst bei der Charakterisierung seines verschlagen-kriminellen Charakters muss Lukian Alexander manche nicht gewöhnliche Fähigkeit zugestehen: „Stell dir einen äußerst vielseitigen Charakter vor […] jemanden, der leichtfertig ist, wagemutig, verwegen, hartnäckig bei der Durchführung seiner Pläne, überzeugend, glaubwürdig […]; jeder, der ihm zum ersten Mal begegnet war, nahm die feste Überzeugung mit, dass er der beste, anständigste, zudem schlichteste und anspruchsloseste Mensch sei, den es je gab. Zu allem kam sein Sinn für die ganz großen Unternehmungen, denen alles Beschränkte fern lag.“5 1 

Dazu Victor 1997, 171. Es sei hier klar gesagt, dass Alexanders Leben, wie es von Lukian dargestellt ist, ein literarisches Konstrukt ist, das wohl eine Reihe von Jahren, nachdem Alexander (zwischen 170 und 175?) gestorben war, verfasst wurde. Die Begründung und langjährige Bedeutung des Orakels stehen vor allem dank der numismatischen Zeugnisse, die es nicht nur aus dem 2., sondern auch aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. gibt, außer Frage, aber bei allem anderen, was Lukian schreibt, ist mit freier Erfindung zu rechnen. 3  Lukian, Alexander 3: τὸ γὰρ δὴ σῶμα, ἵνα σοι καὶ τοῦτο δείξω, μέγας τε ἦν καὶ καλὸς ἰδεῖν καὶ θεοπρεπὴς ὡς ἀληθῶς, λευκὸς τὴν χρόαν, τὸ γένειον οὐ πάνυ λάσιος, κόμην τὴν μὲν ἰδίαν, τὴν δὲ καὶ πρόσθετον ἐπικείμενος εὖ μάλα εἰκασμένην καὶ τοὺς πολλοὺς ὅτι ἦν ἀλλοτρία λεληθυῖαν· ὀφθαλμοὶ πολὺ τὸ γοργὸν καὶ ἔνθεον διεμφαίνοντες, φώνημα ἥδιστόν τε ἅμα καὶ λαμπρότατον. Übersetzung (hier und an weiteren Stellen) Victor, modifiziert. 4 Lukian, Alexander 4: συνέσει μὲν γὰρ καὶ ἀγχινοίᾳ καὶ δριμύτητι πάμπολυ τῶν ἄλλων διέφερεν, καὶ τό τε περίεργον καὶ εὐμαθὲς καὶ μνημονικὸν καὶ πρὸς τὰ μαθήματα εὐφυές, πάντα ταῦτα εἰς ὑπερβολὴν ἑκασταχοῦ ὑπῆρχεν αὐτῷ. 5 Lukian, Alexander 4: ἐπινόησόν μοι καὶ τῷ λογισμῷ διατύπωσον ποικιλωτάτην τινὰ 2 

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Mit diesen Gaben ausgestattet, trifft der junge Alexander am Beginn seines Karrierewegs auf einen fähigen Lehrmeister, der seinerseits ein Schüler / Anhänger des berühmten Apollonios von Tyana gewesen sein soll.6 Nach dem Tod des erwähnten Lehrmeisters tut sich Alexander mit einem anderen Scharlatan zusammen; beide folgen einer reichen Gönnerin nach Makedonien, wo sie eine große zahme Schlangenart entdecken, von der sie sich ein besonders schönes Exemplar für wenig Geld besorgen.7 Dann beschließen sie, eine Orakelstätte ins Leben zu rufen, um reich zu werden.8 Was jetzt folgt, liest sich nahezu wie eine Gebrauchsanweisung zu der Frage „Wie begründe ich eine lukrative Orakelstätte?“ Dazu ist zunächst die Auswahl eines geeigneten Ortes notwendig, mit Menschen, deren Mentalität für ein solches Unternehmen geeignet ist.9 Alexander setzt sich mit dem Vorschlag durch, Abonuteichos in seiner paphlagonischen Heimat zu wählen, weil die Paphlagonier besonders leichtgläubig seien. Als nächstes braucht es eine möglichst ungewöhnliche, gleichsam „göttlich programmierte“ Designierung dieses Ortes: Dazu vergraben die beiden im Apollon-Tempel von Chalkedon bronzene Tafeln, die dann im passenden Augenblick „gefunden“ werden und auf denen angekündigt wird, „dass in allernächster Zukunft Asklepios mit seinem Vater Apollon seinen Einzug in Pontos halten und Abonuteichos in Besitz nehmen werde“10. Die Kunde von den Tafeln verbreitet sich rasch in der römischen Schwarzmeerprovinz Bithynia et Pontus, an deren mittlerer Küste Abonuteichos liegt. Die Einwohner der Stadt spielen – wie Alexander erwartet hat – mit und beschließen, dem angekündigten Götterpaar Asklepios/Apollon einen Tempel zu errichten. Damit ist der Boden für Alexanders Auftritt vor Ort bereitet; zuvor hat er für diesen aber noch sein Aussehen in signifikanter Weise verändert: „die Haare schon schulterlang und mit Schläfenzöpfen, bekleidet mit einem purpurnen Gewand mit einem weißem Streifen in der Mitte, darüber einen weißen Mantel, in der Hand eine Sichel wie Perseus, von dem er seine Herkunft mütterlicherseits ableitete.“11 Zur Untermauerung dieser Genealogie wird auch rechtzeitig ein Orakelψυχῆς κρᾶσιν […] ῥᾳδίαν, τολμηράν, παράβολον, φιλόπονον ἐξεργάσασθαι τὰ νοηθέντα, καὶ πιθανὴν καὶ ἀξιόπιστον […]· οὐδεὶς γοῦν τὸ πρῶτον ἐντυχὼν οὐκ ἀπῆλθε δόξαν λαβὼν ὑπὲρ αὐτοῦ, ὡς εἴη πάντων ἀνθρώπων χρηστότατος καὶ ἐπιεικέστατος καὶ προσέτι ἁπλοϊκώτατός τε καὶ ἀφελέστατος. ἐπὶ πᾶσι δὲ τούτοις τὸ μεγαλουργὸν προσῆν καὶ τὸ μηδὲν μικρὸν ἐπινοεῖν, ἀλλ‘ ἀεὶ τοῖς μεγίστοις ἐπέχειν τὸν νοῦν. Zu seiner Intelligenz auch Lukian, Alexander 22.  6 Lukian, Alexander 5.  7 Lukian, Alexander 6 f.  8 Lukian, Alexander 8.  9 Lukian, Alexander 9. 10 Lukian, Alexander 10. 11 Lukian, Alexander 11: κομῶν ἤδη καὶ πλοκάμους καθειμένος καὶ μεσόλευκον χιτῶνα πορφυροῦν ἐνδεδυκὼς καὶ ἱμάτιον ὑπὲρ αὐτοῦ λευκὸν ἀναβεβλημένος, ἅρπην ἔχων κατὰ τὸν Περσέα, ἀφ' οὗ ἑαυτὸν ἐγενεαλόγει μητρόθεν.

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spruch im Umlauf gebracht, der Alexander als Nachfahren des Perseus (mütterlicherseits) und als Sohn des (Asklepios-Sohns) Podaleirios ausweist,12 ferner ein anderer, ein angeblicher Sibyllenspruch, der nicht nur mit einem Zahlenrätsel, das die ersten vier Buchstaben von Alexanders Namen angibt, sondern auch mit dem leicht durchschaubaren Wortspiel ἀνδρὸς ἀλεξητῆρος eben Alexander als Propheten „an der Küste des Pontos Euxeinos nahe Sinope […] unter der Herrschaft der Ausonier [= Römer]“13 unmissverständlich ankündigt. Nach seinem Einzug in die Stadt täuscht Alexander dann seinen besonderen ‚Draht‘ zu den Göttern immer wieder durch scheinbare Anfälle göttlich inspirierten Wahns vor.14 Noch aber fehlt der angekündigte Gott, der auf folgende Weise installiert wird: Eines Nachts platziert Alexander ein ausgehöhltes Gänse-Ei mit einer kleinen Schlange darin in der Baugrube des gerade entstehenden Tempels; am Morgen danach tritt er als göttlich Rasender auf den Marktplatz, kündigt eine große Entdeckung an und führt die Leute zum Tempel, wo er in der Baugrube das Ei „findet“, aus dem er dann die kleine Schlange schlüpfen lässt und als „neugeborenen Asklepios“ in sein Haus bringt.15 Für das folgende ist wichtig, dass Alexander zum einen eine Schlangenattrappe, deren Kopf sich wie der einer Marionette bedienen lässt, und zum anderen eine große zahme Schlange aus dem makedonischen Pella mitgebracht hat.16 Diese Requisiten helfen ihm bei der nächsten Phase der Orakeletablierung, die ein paar Tage nach der „Entdeckung“ der kleinen Schlange in den Tempelfundamenten gestartet wird: Nun lässt er sich mit der mitgebrachten großen Schlange und dem Schlangen-Marionettenkopf in einer halbdunklen Kammer seines Hauses sehen und suggeriert, dies sei der vor wenigen Tagen geborene „Asklepios“; und diese „Epiphanie“ wird dann von Zeit zu Zeit wiederholt, um neue (vor allem betuchte) Anhänger zu gewinnen.17 Damit sind nun alle wichtigen Elemente vorhanden – der Gott, sein Prophet, der Ort –, und die wundersamen Ereignisse, die geschehen sind, haben auch bereits für wichtige Publicity in der weiteren Umgebung gesorgt: Es kommen immer mehr Menschen aus Bithynien, Galatien und T hrakien, und es beginnt eine regelrechte Produktion von Devotionalien: „Gemälde und Statuen und Kultbilder, die einen aus Bronze, die anderen aus Silber gefertigt.“18 Die Manifestation des neuen Gottes erhält durch einen Orakelspruch Alexanders auch einen eigenen Namen: Glykon.19 Alexander 11; zu Podaleirios vgl. auch Lukian, Alexander 39. Alexander 11. 14 Lukian, Alexander 12. 15 Lukian, Alexander 13 f. 16 Lukian, Alexander 12. 17 Lukian, Alexander 15–17. 18 Lukian, Alexander 18: γραφαί τε […] καὶ εἰκόνες καὶ ξόανα, τὰ μὲν ἐκ χαλκοῦ, τὰ δὲ ἐξ ἀργύρου εἰκασμένα. 19 Lukian, Alexander 18. 12 Lukian, 13 Lukian,

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Nun kann der Orakelbetrieb in großem Stil beginnen20, und Lukian beschreibt, wie er funktioniert: Interessenten sollen ein versiegeltes Schreiben mit ihrer Frage abgeben, und – so wird ihnen versprochen – sie werden dann in dem immer noch (!) versiegelten Schreiben die Antwort notiert finden.21 Die Art der ausgegebenen Orakelsprüche zeigt übrigens – auch dies ist wohl wieder ein eher widerwilliges Kompliment Lukians – Alexanders Intelligenz und seine medizinischen Kenntnisse.22 Die „Nachfrage“ nach diesen Orakelsprüchen ist schon bald so groß, dass Alexander einen beträchtlichen Personalausbau vornehmen muss: „er hatte bereits viele Mitarbeiter um sich herum, Diener, Informanten, Verfasser von Orakeln, Ordner, Sekretäre, Versiegler und Orakeldeuter.“23 Um aber noch mehr Kundschaft zu gewinnen, entsendet er Mitarbeiter in weiter entfernte Gegenden und lässt sie nicht nur von Orakeln, sondern auch von Krankenheilungen und sogar Totenerweckungen berichten.24 Die gestiegene Sichtbarkeit der neuen Orakelstätte hat freilich nicht nur positive Folgen: Alexander nimmt zunehmend Kritik von Seiten von Epikureern und Christen gegen sein Orakel wahr und verkündet deshalb Orakelsprüche gegen sie;25 zu einem späteren Zeitpunkt lässt Alexander sogar die Kyriai Doxai Epikurs feierlich öffentlich verbrennen.26 Dagegen sind Platoniker, Stoiker und Pythagoreer bei ihm wohlgelitten.27 Erstmals berichtet Lukian hier28 von einem eklatanten Falsch-Orakel beim Bruder eines Senators, und dies wird nicht das einzige bleiben – vielmehr lässt Lukian von nun an immer wieder mit sichtlichem Vergnügen peinliche Fehl-Voraussagen in seinen Bericht einfließen.29 Alexander 19. In Lukian, Alexander 20 f. werden die Tricks erklärt, um das Schreiben „original versiegelt“ aussehen zu lassen. 22 Lukian, Alexander 22. 23 Lukian, Alexander 23: πολλοὺς ἤδη περὶ αὑτὸν ἔχων συνεργοὺς καὶ ὑπηρέτας καὶ πευθῆνας καὶ χρησμοποιοὺς καὶ χρησμοφύλακας καὶ ὑπογραφέας καὶ ἐπισφραγιστὰς καὶ ἐξηγητάς. 24 Lukian, Alexander 24. 25 Lukian, Alexander 25. In Alexander 44 f. ist die Konfrontation Alexanders mit einem anonymen Epikureer geschildert, der Alexander einen nachweislich falschen Orakelspruch vorhält und deswegen beinahe gesteinigt wird. Vgl. auch Alexander 43 a.E. (Warnung an einen Sakerdos, weiterhin mit dem Epikureer Lepidos von Amastris zu verkehren). 26 Lukian, Alexander 47. 27 Lukian, Alexander 25. 28 Lukian, Alexander 25 am Ende. 29 Vgl. Alexander 27: ein falscher und dann post eventum korrigierter Orakelspruch für den römischen General Severianus; Alexander 28: weitere später korrigierte Orakelsprüche (μεταχρόνιοι χρησμοί); Alexander 33 f.: Beispiele für falsche dem Rutilianus gegebene Orakelsprüche; Alexander 36: herber Misserfolg eines Orakelspruchs gegen die im Reich wütende Seuche. Vgl. auch Alexander 44 f. und 48: zu einer besonderen Blamage wird die Orakelanweisung, vor einer großen Schlacht im Markomannenkrieg zwei Löwen lebend in die Donau zu werfen; den vorausgesagten großen Sieg gewinnen dann nämlich die Germanen und nicht die Römer. 20 Lukian, 21 

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Erstaunlicherweise scheinen aber solche Falsch-Prophezeiungen sich nicht negativ auf das Wachstum des Orakelgeschäfts auszuwirken. Um dieses noch weiter zu steigern, erfindet Alexander die Kategorie der „selbstverkündeten Orakelsprüche“ (χρησμοὶ αὐτόφωνοι), die der Schlangen-Glykon angeblich mit eigenem Mund verkündet und die sich offenbar an die Adresse besonders Betuchter richten.30 Die werden ferner auch noch auf andere Weise zur Kasse gebeten – jedenfalls behauptet Lukian, Alexander habe durch Orakelanfragen gewonnenes Wissen über Reiche als Mittel zur Erpressung benutzt.31 Schon bald32 gelangt der Ruhm des Orakels bis nach Rom; Alexander gewinnt hier den Senator Rutilianus als treuen Anhänger und Propagandisten. Mehr noch: Durch einen geschickt lancierten Orakelspruch veranlasst er Rutilianus sogar, seine eigene (Alexanders) Tochter zu heiraten!33 Alexander schickt nunmehr seine Orakelverkünder durch das ganze Reich34 und baut in Rom ein regelrechtes „Informantennetzwerk“ auf 35. Auch in Sachen Kult sorgt er für den weiteren Ausbau der Orakelstätte, indem er dreitägige Mysterienfeiern einrichtet36 und zunehmend seine eigene Verbindung mit Pythagoras betont37. An dieser Stelle lässt Lukian einfließen, dass Alexander seine nunmehr bereits sehr prominente Position ausgenutzt habe, um sich Gelegenheiten zu sexuellen Ausschweifungen mit schönen Knaben38 und Frauen39 zu verschaffen – ein Missbrauch religiöser Autorität, wie er auch immer wieder von Sektenführern der Moderne berichtet wird40. Immer noch aber nimmt der Erfolg der Orakelstätte zu: Inzwischen ist der Punkt erreicht, dass wer vom Orakelempfang ausgeschlossen wird, als öffentlich geächtet gilt.41 Als die Orakelstätte immer noch mehr von Kunden überflutet wird, erfindet Alexander eine weitere neue Orakel-Kategorie: die „nächtlichen Orakel“ (νυκτερινοὶ χρησμοί).42 Zu deren (oftmals nötiger) Erklärung wird zusätzliches Personal angeworben, das für die Erklärung Geld bekommt und seinerseits dem Alexander 26. Alexander 32. 32 Lukian, Alexander 30 f. 33 Lukian, Alexander 35. 34 Lukian, Alexander 36. 35 Lukian, Alexander 37. 36  Sie werden in Lukian, Alexander 38 f. ausführlich beschrieben. 37 Lukian, Alexander 40: Ein Orakel bekräftigt hier – freilich in geheimnisvoll-gewun­ denen Worten – die Pythagoras-Verbindung. Schon in Alexander 4 wird darauf hingewiesen, dass Alexandros gegenüber dem Senator Rutilianus beanspruchte, Pythagoras ähnlich zu sein. 38 Lukian, Alexander 41. 39 Lukian, Alexander 42. 40  Vgl. Bottoms et al. 1996; Schmied-Knittel 2008. 41 Lukian, Alexander 46. 42 Lukian, Alexander 49. 30 Lukian, 31 Lukian,

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Alexander eine „Lizenz-Gebühr“ in Höhe von einem Talent (!) für seine Pfründe entrichten muss43. Orakel in anderen Sprachen – genannt werden „Syrisch“ und „Gallisch“44 – für „Barbaren“ erschließen weitere Kundenkreise. Um die Allwissenheit des Orakels zu suggerieren, veröffentlicht Alexander sogar Orakelsprüche, die niemand in Auftrag gegeben hat.45 Der Höhepunkt des Aufstiegs der Orakelstätte scheint erreicht, als Alexander vom römischen Kaiser46 die Umbenennung von Abonuteichos in Ionopolis erlangt sowie das Recht, Münzen mit dem Bild der Schlange Glykon und seinem eigenen auf der Rückseite mit Attributen des Asklepios und Perseus zu prägen.47 Das Abbild Alexanders hat sich bisher auf solchen Münzen noch nicht gefunden48, wohl aber das Bild Glykons, von dem es auch Statuen gibt; und die Namensänderung der Stadt hat sich sogar bis heute erhalten (sie ist im türkischen „Inebolu“ immer noch gut erkennbar). Im letzten Teil der Schrift stellt der Erzähler schließlich noch seine eigene Auseinandersetzung mit dem Propheten dar: Er habe das Orakel bewusst zu falschen Prophezeiungen provoziert und versucht, den Senator Rutilianus von der Ehe mit Alexanders Tochter abzuhalten.49 Bei einem Besuch des Erzählers in Abonuteichos kommt es zu einer direkten Konfrontation:50 Zur Begrüßung habe er dem Propheten kräftig in die Hand gebissen, wofür ihn die umstehende Menge sogleich empört zu Tode prügeln wollte; dann aber sei es erstaunlicherweise zu einer überraschenden freundschaftlichen Annäherung gekommen. Dass die freilich nur scheinbar war, stellt der Erzähler bei der Weiterreise auf einem ihm von Alexander zur Verfügung gestellten Schiff fest – als nämlich die Besatzung (von Alexander dafür gedungen) ihn ins Meer werfen will, was nur das Eingreifen des rechtschaffenen Steuermanns verhindert.51 Des Erzählers Bemühungen, Alexander wegen dieses versuchten Anschlags vor Gericht zu bringen, scheitern an dem römischen Statthalter von Bithynia et Pontus, weil der sich Alexanders Gönner Rutilianus zu sehr verbunden fühlt.52 Auf Alexanders sehr unschönes Lebensende (das überhaupt nicht dem entspricht, was er selbst in einem Orakel voraussagte53) muss hier nicht weiter einge43 Lukian, Alexander 49 am Ende. Dabei wird nicht genauer spezifiziert, für welchen Zeitraum die „1-Talent-Lizenzgebühr“ zu entrichten ist. 44 Lukian, Alexander 51. 45 Lukian, Alexander 50 und 52. 46  Der Name des Kaisers wird von Lukian nicht genannt; es müsste sich um Antoninus Pius oder Marc Aurel handeln. 47 Lukian, Alexander 58. 48  Vgl. Victor 1997, 170. Laut dem christlichen Apologeten Athenagoras (Legatio 26,3) wurde eine Statue Alexanders auf der Agora von Parion aufgestellt. 49 Lukian, Alexander 53 f. 50 Lukian, Alexander 55. 51 Lukian, Alexander 56 f. 52 Lukian, Alexander 57. 53 Lukian, Alexander 59.

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gangen werden. Über seinen Nachfolger im Prophetenamt soll dann sein großer Gönner Rutilianus entscheiden; der aber weigert sich und behält es dem Toten auch noch post mortem vor.54 Gleichwohl hat – wie bereits angedeutet – die Orakelstätte offenbar noch bis ins 4. Jh. hinein Bestand gehabt, muss also auch eine entsprechende langlebige Sukzession in der Leitung gehabt haben. Als vorläufiges Zwischenfazit sei festgehalten, dass Lukian als wichtige Faktoren für die erfolgreiche Etablierung einer neuen religiösen Autorität vor allem die Fähigkeiten des offensichtlich charismatisch begabten Protagonisten herausstellt: Es sind Alexanders gutes Aussehen, seine Intelligenz, sein Wissen und seine Fähigkeit (gepaart mit bemerkenswerter Skrupellosigkeit), sich herrschende religiöse Vorstellungen zunutze zu machen55 und auch einflussreiche politische Unterstützer zu gewinnen, die selbst bei ungünstigen Entwicklungen, bei gelegent­lichen „Orakel-Patzern“ oder dem Aufkommen anders gesinnter weltanschaulicher Opposition (hier vor allem von Epikureern und Christen verkörpert) dem Leiter der neuen religiösen Stätte genügend Rückhalt bieten und ein Fortbestehen seiner Schöpfung noch weit über seinen Tod hinaus gewährleisten.

2. Wie wird man zuerst eine Autorität unter Christen und dann unter Kynikern? – Der wandlungsreiche Weg des Peregrinos Proteus Lukian hat noch eine weitere „Schurkenbiographie“ verfasst, deren Subjekt – der einstmalige Christ und spätere Kyniker Peregrinos Proteus – sich in den diversen Stadien seines schillernden Lebensweges ebenfalls beträchtliche religiöse (bzw. philosophische) Autorität erwerben musste, um die von ihm gespielten Rollen spielen zu können.56 Leider bleibt in diesem Fall mehr als bei Alexander in Lukians Darstellung im Dunkeln, wie es zum Erwerb dieser Autorität kam; andererseits sind wir hier nicht mehr nur auf die Stimme des einen Lukian angewiesen, um uns von der betreffenden Person ein Bild machen zu können, sondern wir haben hier zumindest eine nicht verächtliche Gegenstimme, die diese Person bemerkenswerterweise erheblich positiver darstellt. Alexander 60. kann hier auch von einer beachtlichen religiösen Bildung im Sinne religionsgeschichtlichen Wissens sprechen (Hinweis von Tanja Scheer, der ich dafür dankbar bin): Lukians Alexander kennt die prominentesten religiösen Traditionen und Rituale, die in der griechischen Welt geläufig waren, und überträgt sie in bemerkenswerter (übertreibender) Kumulierung auf seinen neuen Kultort (während für die Autorität der alten sakralen Orte schon eines dieser Elemente reichte): von der Gottesgeburt vor Ort, göttlichen Epiphanien und der „rasenden Wahrsagung der Pythia“ bis hin zu Nachtfesten und Mysterien. 56  Auch in diesem Fall sei explizit darauf hingewiesen, dass die von Lukian gebotene ‚Biographie‘ des Peregrinos ein literarisches Konstrukt ist, dessen Verhältnis zur historischen Realität zum größten Teil kaum mehr bestimmt werden kann (mit Ausnahme des auch von anderen Quellen bezeugten Verbrennungstodes in Olympia). 54 Lukian, 55  Man

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Eine positive Gegendarstellung findet sich übrigens auch schon gleich am Anfang von Lukians Schrift selbst. Hier hält der Kyniker T heagenes von Patras ein regelrechtes Enkomion auf seinen Lehrer (?) Peregrinos:57 T heagenes zählt die großen Taten seines Meisters auf58 und geht sogar so weit, ihn diversen Göttern (Helios, Zeus, Herakles, Asklepios, Dionysos) gleichzustellen sowie ihn für noch bedeutender als die Philosophen Diogenes (von Sinope), Antisthenes und Sokrates zu erklären. Dieses Enkomion ist gleichsam auch schon eine vorweggenommene Leichenrede, denn bald darauf wird Peregrinos mit seiner angekündigten Selbstverbrennung – am Ende der Olympischen Spiele von 165 n. Chr. – ernstmachen. Festzuhalten bleibt, dass Peregrinos hier als eine philosophische Führerfigur im Kynismus erscheint, zu der andere Kyniker mit großer Ehrfurcht aufblicken. Gleich nach dem Ende dieses Enkomions jedoch stellt Lukian in der – erheblich umfangreicheren59 – Rede eines anonym bleibenden Sprechers eine ganz andere Sicht auf Peregrinos vor, die sein ganzes Leben durchgehend negativ kommentiert, dabei aber auch Einiges von Peregrinos’ offenbar nicht unerheblichen Fähigkeiten erkennen lässt. Nach einer kritischen Beleuchtung früher Untaten des Peregrinos (Ehebruch und Knabenschändung, für die er sich mit 3000 Drachmen loskaufen muss, um keinen Prozess an den Hals zu bekommen; sodann Vatermord und Flucht aus seiner Heimat Parion am Hellespont60) folgt61 ein Bericht über Peregrinos’ erstaunlich schnelle Karriere bei den Christen, nachdem er mit ihren „Priestern und Schriftgelehrten“ in Palästina zusammengetroffen ist62: „Innerhalb kurzer Zeit ließ er sie wie Kinder aussehen, als Prophet und T hiasarch und Synagogeus und überhaupt alles in einer Person; und von den Büchern legte er einige aus und erklärte sie, viele aber schrieb er sogar selbst, und sie ehrten ihn wie einen Gott; er galt ihnen als Gesetzgeber, und sie machten ihn zu ihrem Anführer.“63 In dieser Beschreibung ist eine ganz erstaunliche Karriere skizziert. Leider verrät uns der Sprecher bei Lukian nicht, wie Peregrinos es in so kurzer Zeit geschafft haben soll, so viele wichtige Funktionen bei christlichen Gemeinden im damaligen Palästina zu übernehmen; alle Peregrinos hier zugeschriebenen Funktionen und Tätigkeiten sind aber jedenfalls nur denkbar bei einem Mann, der über erhebliche intellektuelle und kommunikative Fähigkeiten verfügt. Als der Christ Peregrinos De morte Peregrini 4–6. Zu denen er bemerkenswerterweise auch seinen Gefängnisaufenthalt in Syrien rechnet, als Peregrinos noch Christ war. 59 Lukian, De morte Peregrini 7–30. 60 Lukian, De morte Peregrini 9 f. 61 Lukian, De morte Peregrini 11. 62 Lukian, De morte Peregrini 11: τοῖς ἱερεῦσιν καὶ γραμματεῦσιν αὐτῶν ξυγγενόμενος. 63 Lukian, De morte Peregrini 11: ἐν βραχεῖ παῖδας αὐτοὺς ἀπέφηνε, προφήτης καὶ θιασάρχης καὶ ξυναγωγεὺς καὶ πάντα μόνος αὐτὸς ὤν, καὶ τῶν βίβλων τὰς μὲν ἐξηγεῖτο καὶ διεσάφει, πολλὰς δὲ αὐτὸς καὶ συνέγραφεν, καὶ ὡς θεὸν αὐτὸν ἐκεῖνοι ᾐδοῦντο καὶ νομοθέτῃ ἐχρῶντο καὶ προστάτην ἐπεγράφοντο. Übersetzungen hier und im Folgenden nach Hansen 2005 (modifiziert). 57 Lukian, 58 

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dann ins Gefängnis geworfen wird64, bringt ihm das unter „seinen“ Christen noch größere Anerkennung ein (und viele Geldmittel65): Er wird nun sogar „neuer Sokrates“ genannt.66 Nach seiner Freilassung – geht der Bericht weiter – kehrt Peregrinos in seine Heimat zurück67, wo jedoch sein Vatermord noch nicht vergessen ist; um sich von der Anschuldigung dieses Mordes zu befreien, tritt Peregrinos in der Volksversammlung nunmehr in der Kleidung eines Kynikers auf – „er trug sein Haar bereits lang, hatte einen schäbigen Mantel an, einen Ranzen umgebunden und den Holzstecken in der Hand“68 – und schenkt der Stadt seinen ganzen väterlichen Besitz, was alle seine Gegner sofort verstummen lässt69. Gleich danach tritt er – zunächst noch unter christlichen Vorzeichen – eine zweite große Reise an, doch führt eine Regelverletzung – wahrscheinlich der Verzehr von Opferfleisch – zu seinem Ausschluss aus der christlichen Gemeinschaft.70 Die Schnelligkeit, mit der Lukian den Peregrinos hier seine zuvor so prominente Position unter den Christen verlieren lässt, erstaunt – auch hier hätte man gern mehr gehört. Nach seiner Rückkehr nach Parion will Peregrinos den väterlichen Besitz zurück, doch wehrt sich die Stadt erfolgreich gegen dieses Ansinnen.71 Eine dritte Reise führt Peregrinos sodann nach Ägypten zu dem damals prominenten Kyniker Agathobulos72, unter dessen Anleitung er nun zum echten Kyniker wird.73 Lukians Sprecher stellt das, was Peregrinos da lernt, als lächerlich und zum Teil auch ziemlich peinlich dar – „er schor den Kopf zur Hälfte, schmierte das Gesicht mit Dreck ein, befriedigte sich selbst inmitten einer großen Menge von Umstehenden […], ferner schlug er andere mit einer Gerte auf den Hintern und ließ sich schlagen und trieb noch viele andere und kindischere Possen“74 –, doch muss man sich an dieser Stelle daran erinnern, dass Peregrinos’ Lehrer Agathobulos auch der Lehrer des von Lukian sehr geschätzten Philosophen Demonax ist75, was den karikierenden Bericht zumindest etwas relativiert.

De morte Peregrini 12. Lukian, De morte Peregrini 13. 66 Lukian, De morte Peregrini 12 am Ende. 67 Lukian, De morte Peregrini 14. 68 Lukian, De morte Peregrini 15: ἐκόμα δὲ ἤδη καὶ τρίβωνα πιναρὸν ἠμπείχετο καὶ πήραν παρήρτητο καὶ τὸ ξύλον ἐν τῇ χειρὶ ἦν. 69 Lukian, De morte Peregrini 15. 70 Lukian, De morte Peregrini 16. 71 Lukian, De morte Peregrini 16 am Ende. 72  Die Chronik des Hieronymus (Eintrag zum dritten Jahr Hadrians, 119 n. Chr.) nennt Agathobulos neben Plutarch, Sextos von Chaironeia und Oinomaos von Gadara unter den damals wichtigsten Philosophen. 73 Lukian, De morte Peregrini 17. 74 Lukian, De morte Peregrini 17: ξυρόμενος μὲν τῆς κεφαλῆς τὸ ἥμισυ, χριόμενος δὲ πηλῷ τὸ πρόσωπον, ἐν πολλῷ δὲ τῶν περιεστώτων δήμῳ ἀναφλῶν τὸ αἰδοῖον […], εἶτα παίων καὶ παιόμενος νάρθηκι εἰς τὰς πυγὰς καὶ ἄλλα πολλὰ νεανικώτερα θαυματοποιῶν. 75 Lukian, Vita Demonactis 3. 64 Lukian, 65  Vgl.

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Als „ausgebildeter“ Kyniker macht sich Peregrinos nunmehr einen Namen als polemischer Straßenprediger: zuerst in Italien, wo er gegen den Kaiser (Antoninus Pius) wettert, bis er vom Stadtpräfekten aus Rom verwiesen wird, was ihm aber weiteren Ruhm (als verfolgtem Philosophen) einbringt76; sodann in Griechenland (gegen die Römer und gegen den großen Wohltäter Herodes Atticus77), unter anderem an den Olympischen Spielen, wobei er – jedenfalls in Lukians Darstellung – nicht frei von Inkonsistenzen ist: So wettert er gegen die von Herodes gebaute Wasserleitung – und lobt sie vier Jahre später78. Zu Peregrinos’ Auftreten in Griechenland haben wir nun aber auch zwei bemerkenswerte Zeugnisse in den Noctes Atticae des zeitgenössischen römischen Autors Aulus Gellius: An einer Stelle dieses Werks weist Peregrinos in Gellius’ Anwesenheit einen schläfrigen jungen römischen Ritter ziemlich deutlich zurecht79; an einer anderen hat Gellius uns die Zusammenfassung eines moralischen Vortrags des Peregrinos bewahrt80. Hier bezeichnet Gellius den Peregrinos explizit als einen vir gravis et constans, von dem er viele ehrenvolle und nützliche Dinge gehört habe – was sich kaum mit dem Bild vertragen will, das Lukians Sprecher von ihm zeichnet. Andererseits äußert sich wiederum der christliche Apologet Tatian – der Peregrinos offenbar in Rom erlebt hat – recht kritisch zur angeblichen Bedürfnislosigkeit des Kynikers Peregrinos.81 Peregrinos scheint also auf jeden Fall ein Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen zu sein. Um aber zum Bericht von Lukians anonymem Sprecher zurückzukehren: Als Peregrinos im Lauf der Zeit immer weniger Aufmerksamkeit findet, kündigt er De morte Peregrini 18. De morte Peregrini 19. 78 Lukian, De morte Peregrini 20. 79 Gellius, Noctes Atticae VIII 3 (nur der Titel und ein kurzer Auszug sind erhalten): Quem in modum et quam seuere increpuerit audientibus nobis Peregrinus philosophus adu­ lescentem Romanum ex equestri familia stantem segnem apud se et assidue oscitantem. 80 Gellius, Noctes Atticae XII 11,1–3 (moralischer Vortrag): Philosophum nomine Peregrinum, cui postea cognomentum Proteus factum est, uirum grauem atque constantem, uidimus, cum Athenis essemus, deuersantem in quodam tugurio extra urbem. Cumque ad eum frequenter uentitaremus, multa hercle dicere eum utiliter et honeste audiuimus. In quibus id fuit, quod praecipuum auditu meminimus. (2) Virum quidem sapientem non peccaturum esse dicebat, etiamsi peccasse eum dii atque homines ignoraturi forent.(3) Non enim poenae aut infamiae metu non esse peccandum censebat, sed iusti honestique studio et officio („Einen Philosophen namens Peregrinos – dem später der Beiname Proteus gegeben wurde –, einen würdigen und standhaften Mann, habe ich gesehen, als ich in Athen war, während er sich in einer Hütte außerhalb der Stadt aufhielt; und da ich ihn oft besuchte, habe ich gehört, dass er fürwahr Vieles in nützlicher und ehrenhafter Weise zum Ausdruck brachte. Darunter war Folgendes, woran ich mich als besonders hörenswert erinnere. (2) Ein wirklich weiser Mann, pflegte er zu sagen, werde keinen Fehltritt begehen, auch wenn Götter und Menschen nicht mitbekommen würden, dass er einen solchen getan habe. (3) Er war nämlich der Meinung, dass man nicht aus Angst vor Strafe oder schlechter Reputation keinen Fehltritt begehen dürfe, sondern aufgrund eifrigen Strebens nach dem Gerechten und Ehrenvollen und aus Pflichtgefühl.“). 81 Tatian, Oratio ad Graecos 25,1. 76 Lukian,

77 Lukian,

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– wieder in Olympia – an, er werde sich bei den nächsten Olympischen Spielen öffentlich verbrennen82, was der Sprecher dann ausführlich – und sehr sarkastisch – kommentiert83. In unserem Zusammenhang interessanter sind die anschließenden Hinweise84, dass Peregrinos auf postume Ehrungen und sogar Vergöttlichung sowie auf die Etablierung einer Orakelstätte und eines Mysterienkults gehofft habe. Dies geht nun sehr deutlich über die sonstige entschiedene Diesseits-Ausrichtung der Kyniker hinaus, wie übrigens auch das, was sich dann bei und nach der Verbrennung ereignet haben soll (vgl. u.). Nach dem Ende der Rede des anonymen Sprechers übernimmt der Erzähler selbst die Darstellung von Peregrinos’ Ende und schildert zunächst die heftigen Debatten um ihn im Opisthodom des Zeus-Tempels von Olympia, sodann Peregrinos’ eigenen Auftritt dort mit zahlreichem Gefolge und seine Rede, in der er auf sein Leben und seine Leistungen für die Philosophie zurückblickt und seinen baldigen Freitod begründet.85 In der eigentlichen Verbrennungsszene86 ruft Peregrinos zunächst „mütterliche und väterliche Geister [daimones]“ an und springt dann ins Feuer; aber noch am brennenden Scheiterhaufen gerät der Erzähler fast mit den anwesenden Kynikern aneinander87. Beim anschließenden Rückweg trägt der Erzähler selber – nach eigenem Bekunden – kräftig zur Legendenbildung um diesen Tod bei, indem er den ihm Begegnenden frei erfundene eigene Versionen davon zum Besten gibt88; bereits wenig später findet er dann die gerade von ihm in Umlauf gebrachte Version – dass aus dem brennenden Scheiterhaufen ein Geier mit dem lauten Ruf „ich verlasse die Erde und gehe zum Olymp“ aufgeflogen sei – von anderen weiter ausgeschmückt89! Anschließend90 hören wir, dass Peregrinos selbst noch vor seinem Tod für die weitere Verbreitung seines Ansehens sorgte, indem er Anhänger mit Briefen, die „Verfügungen, Richtlinien und Gesetze“91 enthielten, in alle möglichen Städte schickte. Hier sei ein weiteres Zwischenfazit festgehalten: Lukians durchgehend negative Darstellung kann nicht verdecken, dass auch Peregrinos – der, wie sich zeigte, von anderen zum Teil ähnlich negativ, zum Teil aber auch weit weniger negativ wahrgenommen wurde – zu seiner herausgehobenen Autoritätsstellung in nicht nur einer, sondern sogar zwei verschiedenen religiös-weltanschaulichen Richtungen aufgrund von beträchtlichen eigenen Fähigkeiten gelangt zu sein scheint,92 was De morte Peregrini 20. De morte Peregrini 21–26. 84 Lukian, De morte Peregrini 27 f. 85 Lukian, De morte Peregrini 32 f. 86 Lukian, De morte Peregrini 35 f. 87 Lukian, De morte Peregrini 37. 88 Lukian, De morte Peregrini 39. 89 Lukian, De morte Peregrini 40. 90 Lukian, De morte Peregrini 41. 91 Lukian, De morte Peregrini 41: διαθήκας τινὰς καὶ παραινέσεις καὶ νόμους. 92 Wenn man denn Lukians Ausführungen namentlich über die naiv-gutgläubigen Christen, bei denen Peregrinos so beachtlichen Erfolg hatte, als nicht völlig aus der Luft ge82 Lukian, 83 Lukian,

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wiederum auf beträchtliche charismatische Eigenschaften hinweist. Bemerkenswert ist ferner, dass sein Kynikertum zumindest am Ende eine ausgeprägt metaphysische Komponente zeigt – mit Anleihen offenbar bei pythagoreischen Vorstellungen, wie wir sie schon bei Alexander sahen und nun auch bei Apollonios von Tyana entdecken werden.

3. Wie wird man zu einem glaubwürdigen Konkurrenten von Jesus Christus? – Das Leben des Apollonios von Tyana nach Philostrat Dieser Apollonios von Tyana93 wird, wie schon erwähnt, zu Beginn von Lukians Schurkenbiographie des Alexander ebenfalls kurz erwähnt (und zwar als Lehrmeister von dessen Lehrmeister), dort aber nur mit dem Attribut ὁ πάνυ = „der berühmte/sattsam bekannte“94 flüchtig und ziemlich ambivalent charakterisiert. Etwa zwei Generationen nach Lukian (der seinen Alexander wohl nach 180 schrieb, vgl. oben) findet sich eine kurze Charakterisierung des Apollonios auch in Origenes’ 248 n. Chr. entstandener großer apologetischer Schrift Contra Celsum, in der er durchaus ambivalent als „Zauberer und Philosoph“95 (in dieser Reihenfolge) bezeichnet wird. Bereits einige Jahrzehnte vor Origenes’ Schrift entsteht jedoch der Text, dem Apollonios bis heute seine Berühmtheit verdankt: die Vita Apollonii des Philostrat. Im folgenden werden Hinweise auf einige Inhalte dieses ungemein farbigen und vielseitigen Textes hoffentlich zeigen können, wie schon bald nach – wahrscheinlich aber auch gerade durch96 – Philostrat dieser Mann eine religiöse und philosophische Autorität gewann, die ihn manchen gebildeten Nichtchristen als eine so ernsthafte und glaubwürdige Konkurrenz zu Jesus Christus97 erscheinen ließ, dass Eusebius von Caesarea es für unbedingt nötig hielt, dagegen anzugehen. griffen betrachten darf. Peregrinos ist – völlig unabhängig vom historischen Geschehen – auf jeden Fall ein wunderbares Beispiel dafür, welche Elemente bei Autoren der Zweiten Sophistik religiöse Autorität konstruieren. 93  Die Lebenszeit des historischen Apollonios deckt sich wahrscheinlich größtenteils mit dem 1. Jahrhundert n. Chr. 94  Vgl. zu diesem Ausdruck z.B. Xenophon, Memorabilia III 5,1; Lukian, Convivium 9, Icaromenippus 2, Philopseudeis 5, Hermotimus 11; Athenaios, Dipnosophistae XII 537d; Aristides, Orationes 50,97. 95 Origenes, Contra Celsum VI 41: μάγος καὶ φιλόσοφος – womit Origenes offenbar den mutmaßlichen Titel der Monographie des Moiragenes (Ἀπολλωνίου τοῦ Τυανέως μάγου καὶ φιλοσόφου ἀπομνημονεύματα) zitiert, die seine Hauptquelle zu Apollonios war. 96  Vgl. hierzu Nesselrath 2017, 163–168. Dass der im Folgenden geschilderte Apollonios in nahezu allen Details ein Konstrukt des Philostrat sein dürfte (seine angebliche Hauptquelle Damis hat sich bis heute nicht wirklich dingfest machen lassen), sei hier ausdrücklich vermerkt. 97 Laut Historia Augusta, Severus Alexander 29,2 hatte bereits dieser Kaiser in seinem

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Schon die von Philostrat geschilderten wundersamen Ereignisse vor und während der Geburt des Apollonios98 weisen darauf hin, dass hier ein besonderer Mensch das Licht der Welt erblickt. Bereits in seiner Jugend dann ist Apollonios „von auffallender Schönheit“ und zeigt „eine besondere Kraft des Gedächtnisses und einen auffallenden Fleiß“.99 In Tarsos erhält er eine sorgfältige rhetorische Ausbildung (und wird später immer einen maßvollen attischen Stil pflegen100), in Aigai lernt er verschiedene philosophische Lehren kennen, fühlt sich aber vor allem von der des Pythagoras angezogen101; sie wird sein weiteres Leben bestimmen. Im Alter von sechzehn Jahren wird er definitiv zum Pythagoreer, Vegetarier (und Anti-Alkoholiker) und lebt im Asklepios-Heiligtum von Aigai102; von nun an wird er immer eine besondere Affinität zu Heiligtümern haben103. Bereits in diesem jugendlichen Alter führt er ein bemerkenswertes Gespräch mit dem Priester des Tempels über das richtige Beten zu den Göttern104, und er wird im Lauf seines weiteren Werdegangs noch viele ähnliche Gespräche führen105. Noch bevor er (nach angeblich pythagoreischer Tradition) eine fünfjährige Schweigeperiode antritt106, bekehrt er seinen älteren Bruder zu einem besseren Lebenswandel107 und entscheidet sich selber für ein zölibatäres Leben108. Selbst als Schweigendem gelingt es ihm, Aufruhr in Städten zu beenden.109 Dann beginnt die Periode seiner großen Reisen: Nach einem Aufenthalt im syrischen Antiochia beschließt er eine Reise nach Indien, um von den indischen Weisen zu lernen.110 Beim Übertritt ins parthische Reich äußert Apollonios seine erste Weissagung (der noch viele folgen werden): Er findet eine tote Löwin mit acht Föten und sagt daraus einen Aufenthalt von einem Jahr und acht Monaten beim Partherkönig voraus.111 Bei diesem König, der ihm zehn Wünsche freigibt112, erbittet (und erhält) Apollonios nur Eines: eine bessere Behandlung der seit langem aus Griechenland exilierten Eritreer113.

Lararium Statuen (u.a.) von (in dieser Reihenfolge) Apollonios, Christus, Abraham und ­Orpheus.  98 Philostrat, Vita Apollonii I 4 f.  99 Philostrat, Vita Apollonii I 7,1. 100 Philostrat, Vita Apollonii I 17. 101 Philostrat, Vita Apollonii I 7,2 f. 102 Philostrat, Vita Apollonii I 8. 103  Vgl. Philostrat, Vita Apollonii I 16. 104 Philostrat, Vita Apollonii I 11. 105  Vgl. Philostrat, Vita Apollonii I 16. 106 Philostrat, Vita Apollonii I 14. 107 Philostrat, Vita Apollonii I 13,1 f. 108 Philostrat, Vita Apollonii I 13,3. 109 Philostrat, Vita Apollonii I 15. 110 Philostrat, Vita Apollonii I 18. 111 Philostrat, Vita Apollonii I 22. 112 Philostrat, Vita Apollonii I 33,2. 113 Philostrat, Vita Apollonii I 36.

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Die erste Hälfte von Buch 2 schildert die Weiterreise nach Indien (mit vielen kurzweiligen Details). In Kap. 26–40 führt Apollonios viele Gespräche mit dem König von Taxila, der sich als Philosoph und guter Griechisch-Sprecher erweist und ihm einen Geleitbrief an den weisen Brahmanen Iarchas mitgibt114 (II 41). Buch 3 bietet weitere indische Sehenswürdigkeiten, aber auch die Ankunft beim „Turm der Weisen“, wo Apollonios viele Gespräche mit dem schon erwähnten Weisen Iarchas, aber auch dem lokalen König führt115. Philostrat hebt explizit hervor, dass Apollonios von den indischen Weisen viel lernt und während seines Aufenthalts bei ihnen Bücher über Planetenmantik und Opferkunde schreibt. Der letzte Teil des Buches116 schildert seine Rückreise (über den Indus zum Meer) und die anschließende Rückkehr über Babylon, Antiochia und Zypern ins griechische Ionien. Der erste Teil des vierten Buchs zeigt ihn uns als Mahner und Ratgeber der ionischen Städte Ephesos und Smyrna117, während die Mitte des Buchs seinem ersten längeren Aufenthalt in Athen gewidmet ist118: Hier wird Apollonios vom Hierophanten von Eleusis brüskiert (wofür er später119 Wiedergutmachung erhält), erweist sich aber gleichwohl mit einem Vortrag „Über heilige Dinge“ (ὑπὲρ ἱερῶν) als religiöser Experte120, heilt einen von einem Dämon besessenen Jüngling121 und tadelt die Athener energisch wegen ihrer lasziven Dionysien-­Gebräuche122 sowie noch energischer wegen ihrer Gladiatorenspiele123. Anschließend besucht er noch viele weitere traditionsreiche Orte im griechischen Mutterland124 und unternimmt dabei mehrmals Bemühungen, die Traditionen dieser Orte wieder zum Leben zu bringen. Sein nächstes großes Ziel ist das Rom des Kaisers Nero und sein Aufenthalt dort Gegenstand des letzten großen Teils des vierten Buchs.125 Trotz massiver Warnungen vor Nero lässt Apollonios sich nicht beirren; in Rom angekommen, fördert er (auch hier) die Götterverehrung126 und erweckt eine kurz vor ihrer Hochzeit gestorbene Braut wieder zum Leben127, muss sich aber auch der Überwachung und einem geheimen Verhör durch Neros Prätorianerpräfekten Tigellinus stellen128, der freilich erkennt, dass er nichts gegen ihn ausrichten kann. Vita Apollonii II 41. Vita Apollonii I 18–25.28 f.30–32.34 f.37.42–49. 116 Philostrat, Vita Apollonii III 50–58. 117 Philostrat, Vita Apollonii IV 1–10. 118 Philostrat, Vita Apollonii IV 17–22. 119  In Philostrat, Vita Apollonii V 19. 120 Philostrat, Vita Apollonii IV 19. 121 Philostrat, Vita Apollonii IV 20. 122 Philostrat, Vita Apollonii IV 21. 123 Philostrat, Vita Apollonii IV 22. 124 Philostrat, Vita Apollonii IV 23–34. 125 Philostrat, Vita Apollonii IV 35–47. 126 Philostrat, Vita Apollonii IV 41. 127 Philostrat, Vita Apollonii IV 45. 128 Philostrat, Vita Apollonii IV 43 f. 114 Philostrat,

115 Philostrat,

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Am Ende des vierten Buches bricht Apollonios zu seiner nächsten großen Reise auf: zum westlichen Ende der Welt an den Säulen des Herakles (= der heutigen Straße von Gibraltar129). Bei seiner Rückreise nach Sizilien bricht das Vierkaiserjahr (68/69 n. Chr.) an, und Apollonios sagt aus einem Prodigium das Schicksal der kurzlebigen römischen Herrscher Galba, Otho und Vitellius voraus130. Bei der Weiterfahrt nach Griechenland zeigt sich ebenfalls seine weissagende Kraft: Er verlässt rechtzeitig ein Schiff, das wenig später untergeht.131 Nach einem weiteren (diesmal nur kurzen) Aufenthalt in Athen132 und einer Zwischenstation auf Rhodos133 fährt Apollonios ins ägyptische Alexandria, da seine nächste große Reise an die Südgrenze der bewohnten Erde zielt. Sein Aufenthalt in Alexandria (wo er u.a. einen unschuldig Verurteilten vor der Hinrichtung rettet134 und eine Rede gegen den Pferderenn-Fanatismus der Alexandriner hält135) ist vor allem wichtig wegen seiner Begegnung mit dem künftigen römischen Kaiser Vespasian136, in der sich Apollonios – mehr als zwei andere Philosophen, der schillernde Stoiker Euphrates und Dion von Prusa – als aufrichtiger und wertvoller Ratgeber Vespasians erweist (den er deshalb trotzdem später nicht von Kritik verschont137). Am Ende des Buches bricht Apollonios nach Äthiopien auf. Etwa zwei Drittel des sechsten Buches sind dieser letzten großen Reise zu und dem Aufenthalt bei den äthiopischen Γυμνοί („nackten Philosophen“) gewidmet. Die Ankunft bei diesen gestaltet sich nicht ganz so freundlich wie bei den Indern, denn die Γυμνοί wurden durch den mit Apollonios verfeindeten Euphrates vorgewarnt.138 Die ausführlichen Gespräche, die Apollonios gleichwohl mit den Γυμνοί führt139, verlaufen zumindest teilweise auch kontrovers: Apollonios kritisiert scharf die theriomorphen (ägyptischen) Götter.140 Nach diesen Gesprächen fährt Apollonios noch weiter nach Süden, und ihm gelingt, was dann Livingstone und Stanley erst im 19. Jh. schaffen: er kommt bis zu den Nilquellen.141 Nach der Rückreise in den Mittelmeerraum trifft Apollonios in Tarsos Vespasians Sohn Titus142 und erweist sich auch ihm gegenüber als wertvoller Mentor. Der Rest des Buches wird durch diverse gute Taten des Apollonios vor allem im Ägäisraum gefüllt.

Dem Aufenthalt ist der Abschnitt Philostrat, Vita Apollonii V 1–10 gewidmet. Vita Apollonii V 13. 131 Philostrat, Vita Apollonii V 18. 132 Philostrat, Vita Apollonii V 19 f. 133 Philostrat, Vita Apollonii V 21–23. 134 Philostrat, Vita Apollonii V 24. 135 Philostrat, Vita Apollonii V 26. 136 Philostrat, Vita Apollonii V 27–38. 137 Philostrat, Vita Apollonii V 41. 138 Philostrat, Vita Apollonii VI 7 und 9. 139 Philostrat, Vita Apollonii VI 10–22. 140 Philostrat, Vita Apollonii VI 19. 141 Philostrat, Vita Apollonii VI 26. 142 Philostrat, Vita Apollonii VI 30–34. 129 

130 Philostrat,

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Der größte Teil der letzten beiden Bücher steht im Zeichen der großen Konfrontation des Apollonios mit Domitian (die Konfrontation mit Neros Tigellinus im vierten Buch war dazu nur ein Vorspiel). Domitian wird auf Apollonios’ opposi­ tionelle Einstellung aufmerksam und zitiert ihn nach Rom, wohin Apollonios aber bereits von sich aus aufgebrochen ist143. In Italien angekommen, wird Apollonios noch einmal eindringlich von Freunden davor gewarnt, sich Domitian zu stellen, bleibt aber unbeirrt.144 In Rom wird er verhaftet, übt aber auch im Gefängnis eine segensreiche Tätigkeit aus, spricht seinen Mitgefangenen Mut zu145 und lässt sich auch von einem agent-provocateur Domitians nicht aus der Fassung bringen146. Der Kaiser lädt Apollonios zu einer ersten privaten Unterredung vor, in deren Verlauf er ihn zwar misshandeln147, aber nicht einschüchtern kann. Im achten Buch findet dann der eigentliche Prozess statt148, bei dem Philostrat schon bald erkennen lässt, dass Domitian Apollonios nichts anhaben kann149 – nach dem expliziten Freispruch verschwindet Apollonios einfach aus dem Gerichtssaal150 und erscheint noch am gleichen Abend bei seinen Freunden in Dikaiarchia151, denen er freilich beweisen muss, dass er ein lebender (anzufassender) Mensch ist152. Er kehrt nun zurück nach Muttergriechenland, wo er – u.a. – trotz des Widerstandes der Priester ins Orakelheiligtum des Trophonios geht und sieben Tage (!) später in Aulis, also recht weit vom Heiligtum entfernt, wieder auftaucht und nun ein Buch mit den Lehren des Pythagoras bei sich hat, das sich laut Philostrat jetzt in Antium befindet.153 Apollonios hat inzwischen aufgrund seines „missionarischen“ Wirkens viele Anhänger gewonnen.154 Nach zwei Jahren in Griechenland geht er nach Ionien155, erlebt dort die Ermordung Domitians „simultan“ in einer Vision und teilt sie den um ihn versammelten Ephesiern mit156. Damit bricht auch Apollonios’ letzter Lebensabschnitt auf Erden an; von seinem Ende berichtet Philostrat zwei verschiedene Versionen: Tod in Ephesos oder Entrückung in einem Heiligtum auf Kreta.157 Neun Monate später jedenfalls erscheint Apollonios einem ungläubigen Jüngling in Tyana im Traum und stellt damit klar, dass er nicht „einfach so“ gestorben ist.158 Vita Apollonii VII 10. Vita Apollonii VII 12–14. 145 Philostrat, Vita Apollonii VII 22–26. 146 Philostrat, Vita Apollonii VII 27. 147 Philostrat, Vita Apollonii VII 32–34. 148 Philostrat, Vita Apollonii VIII 4–8. 149 Philostrat, Vita Apollonii VIII 5. 150 Philostrat, Vita Apollonii VIII 5. 151 Philostrat, Vita Apollonii VIII 10. 152 Philostrat, Vita Apollonii VIII 12. 153 Philostrat, Vita Apollonii VIII 19 f. 154 Philostrat, Vita Apollonii VIII 21 f. 155 Philostrat, Vita Apollonii VIII 24 156 Philostrat, Vita Apollonii VIII 26. 157 Philostrat, Vita Apollonii VIII 30. 158 Philostrat, Vita Apollonii VIII 31. 143 Philostrat,

144 Philostrat,

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Diese außerordentlich geraffte Zusammenfassung von Philostrats Lebensbeschreibung des Apollonios konnte wenigstens einige von den Elementen zeigen, mittels deren der Autor dieser Gestalt eine solche Autorität verliehen hat, dass sie in der Folgezeit – und zum Teil noch weit darüber hinaus – als ernstzunehmende Konkurrenz zu Jesus Christus erscheinen konnte: Zu Beginn des 4.  Jh.s stellte der kaiserliche Statthalter von Bithynien/Ägypten und prominente Christengegner Sossianus Hierokles von Nikomedia in seiner Schrift „Der Wahrheitsfreund“ (Φιλαλήθης) Apollonios neben bzw. noch über Christus;159 dabei berief er sich ausdrücklich auf die umfangreiche Beschreibung des Lebens des Apollonios durch Philostrat und erklärte dieses Werk zu einem mehr als nur genügenden Ersatz für die Evangelien; etwa zur gleichen Zeit verfasste der epische Dichter Soterichos von Oasis eine dichterische Lebensbeschreibung des Apollonios, die sehr wahrscheinlich ihren Stoff wiederum aus Philostrats Werk bezog.160 Noch im 19. Jh. hat Apollonios als Konkurrenzfigur zu Christus den späteren Kardinal Henry Newman zu engagierten Auseinandersetzungen mit Philostrat veranlasst.161 Vor dreizehn Jahren hat D. K. Sharpes Apollonios in sein Buch „Outcasts and heretics: profiles in independent thought and courage“ (2007) aufgenommen und ihm als „contemporary of Jesus“ eine bemerkenswerte Synkrisis mit diesem gewidmet162: „We know more about Apollonius than we do about Jesus […]. T he similarities of the two lives […] are too thematically numerous to dismiss as coincidence.“ Apollonios „was as well travelled as anyone in that fascinating century […]. By contrast, Jesus […] never left Palestine […]. T hese international excursions brought Apollonius into contact with many of the most learned and mystical men of that fruitful first century […]. He lived longer than Jesus, accomplished more in his lifetime than any philosopher or religious reformer, and was more universally esteemed by more people of notoriety […]. His virtuous life could have served as a model for gospel portraitures of Jesus […] multiple external pieces of evidence for his existence and the respect for his life and accomplishments […] outnumber the amount of external documentation about the life of Jesus apart from the gospels“.

Alle diese beachtlichen Aussagen sind letztlich ein schönes Zeugnis für die nicht geringe Überzeugungskraft, die auch heute noch von Philostrats Lebensbeschreibung des Apollonios ausgeht: Sharpes bezeichnet zwar Philostrats Werk als „unreliable and implausible“163, kann sich seinem Zauber aber offensichtlich nicht entziehen, denn alle Aspekte, nach denen er Apollonios’ Leben als prominenter, Contra Hieroclem 1,2 (p. 156 Jones) sagt ausdrücklich, dass Hierokles der erste war, der diesen Vergleich besonders prononciert anstellte: μόνῳ παρὰ τοὺς πώποτε καθ’ ἡμῶν γεγραφότας ἐξαίρετος νῦν τούτῳ γέγονεν ἡ τοῦδε πρὸς τὸν ἡμέτερον σωτῆρα παράθεσίς τε καὶ σύγκρισις. Doch scheint auch schon Porphyrios wenigstens in Ansätzen mit diesem Vergleich zu operieren: frg. 70F Becker (= Hieronymus, In Psalmum 81, Z. 225–232 = Apollonius, testimonia 33 p. 124 Jones); vgl. Barnes 1976, 241 und Becker 2016, 389 f. 160 Apollonius, testimonia 18 p. 108 Jones = Suda σ 877. 161  Dazu Elsner 2009, 659–669. 162  Sharpes 2007, 128–130. 163  Sharpes 2007, 128. 159 Eusebius,

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bedeutender, farbiger etc. im Vergleich zum Leben Jesu darstellt, sind einzig aus Philostrat gewonnen.

4. Fazit: Was begründet religiöse Autorität im Diskurs der Zweiten Sophistik? Alle drei hier betrachteten Gestalten verdanken ihre Autorität vergleichbaren Eigenschaften: eigener Intelligenz und nicht geringem Fleiß, bemerkenswerter Kommunikationsfähigkeit, aber auch – in nicht geringem Maße – Bildung: Ohne eine solche hätte Alexander nicht seine Orakelstätte begründen und seine Orakel formulieren können, wäre Peregrinos nicht in der Lage gewesen, zunächst seinen christlichen Gemeinden ihre Texte auszulegen und später als kynischer Prediger seine provozierenden Reden gegen römische Unterdrücker und ihre privilegierten griechischen Unterstützer zu halten, und hätte es auch Apollonios nicht vermocht, an den verschiedensten Orten des Mittelmeerraums seine Vorstellungen von richtigen religiösen Praktiken zu vermitteln und in Streitgesprächen gegen z.B. die äthiopischen Gymnosophisten die Oberhand zu behalten. Gepaart mit offenbar beträchtlichem persönlichen Charisma ermöglichte es diese Bildung – jedenfalls in der Darstellung Philostrats, aber auch in der (in mancher Hinsicht sicherlich verzerrten) Lukians – den drei hier vorgestellten Männern, in ihren jeweiligen Umgebungen beachtliche religiöse Autorität zu erlangen.

Bibliographie Quellen Aelii Aristidis quae supersunt omnia, Vol. 2: Orationes 17–53 (hg. von Bruno Keil; Berlin: Weidmann, 1898). Athenaei Naucratitae Dipnosophistarum libri XV, Vol. 3: Libri 11–15 (rec. Georgius Kaibel; Leipzig: Teubner, 1890). Eusebius. Werke. Siebenter Band. Die Chronik des Hieronymus. Hieronymi Chronicon (hg. von Rudolf Helm; GCS 47; Berlin: Akademie-Verlag, 1956). Auli Gellii Noctes Atticae, Vol. 1–2 (rec. Peter K. Marshall; Oxford: Clarendon Press, 1968). Hieronymus, Opera homiletica: Tractatus sive Homiliae in Psalmos, in Marci Evangelium aliaque varia argumenta (hg. von Germain Morin; Turnhout: Brepols, 1958). Luciani Opera, Vol. 1–4 (rec. Matthew D. Macleod; Oxford: Clarendon Press, 1972–1987). Origenes. Contra Celsum / Gegen Celsus, Vol. 1–5 (eingel. und komm. von Michael Fiedrowicz, übers. von Claudia Barthold; FC 50/1–5; Freiburg u.a.: Herder, 2011–2012). Philostratus, Apollonius of Tyana, Vol. 1–2: T he Life of Apollonius of Tyana (hg. und übers. von Christopher P. Jones; Cambridge, MA u.a.: Harvard University Press, 2005). Philostratus, Apollonius of Tyana, Vol. 3: Letters of Apollonius. Ancient Testimonia. Eusebius’s Reply to Hierocles (hg. und übers. von Christopher P. Jones; Cambridge, MA u.a.: Harvard University Press, 2006).

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Heinz-Günther Nesselrath

Suidae Lexicon, Vol. 1–5 (hg. von Ada Adler; Leipzig: Teubner, 1928–1938). Tatian: Gegen falsche Götter und falsche Bildung: Tatian, Rede an die Griechen (hg. von Heinz-Günther Nesselrath; SAPERE 28; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016). Xenophontis Opera Omnia, Vol. 2: Commentarii, Oeconomicus, Convivium, Apologia Socratis (rec. Edgar C. Marchant; Oxford: Clarendon Press, 1901).

Literatur Barnes, Timothy D. (1976), Sossianus Hierocles and the Antecedents of the ‚Great Persecution‘: HSCP 80, 239–252. Becker, Matthias (2016), Porphyrios, Contra Christianos. Neue Sammlung der Fragmente, Testimonien und Dubia mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen (TK 52; Berlin / Boston: de Gruyter). Bottoms, Bette L. u.a. (1996), An Analysis of Ritualistic and Religion-related Child Abuse Allegations: Law and Human Behavior 20, 1–34. Elsner, Jas’ (2009), Beyond Compare: Pagan Saint and Christian God in Late Antiquity: Critical Inquiry 35, 655–683. Hansen, Dirk U. (2005), Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen (übers. und hg. von Peter Pilhofer u.a.; SAPERE 9; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 16–47. Nesselrath, Heinz-Günther (2017), Eine religiös-philosophische Leitfigur zwischen Vergangenheit und Zukunft: Philostrats Apollonios: Das dritte Jahrhundert: Kontinuitäten, Brüche, Übergänge (hg. von Armin Eich u.a.; Palingenesia 108; Stuttgart: Steiner) 155–169. Schmied-Knittel, Ina (2008), Satanismus und ritueller Missbrauch. Eine wissenssoziologische Diskursanalyse (Grenzüberschreitungen. Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung aussergewöhnlicher Erfahrungen und Phänomene 7; Würzburg: Ergon-Verlag). Sharpes, Donald K. (2007), Outcasts and Heretics. Profiles in Independent T hought and Courage (Lanham: Lexington Books). Victor, Ulrich (1997), Lukian von Samosata, Alexander oder Der Lügenprophet. Eingeleitet, herausgegeben, übersetzt und erklärt (RGRW 132; Leiden u.a.: Brill).

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Freiheitshelden, Wahrsager und das Gedächtnis der (W)orte Konkurrierende Autoritäten in Gellius’ Attischen Nächten (N.A. 4,5)

Ulrike Egelhaaf-Gaiser* 1. Einleitung: Die Macht der Vergangenheit „Wohin wir auch gehen, setzen wir unseren Fuß in irgendeine Spur der Ge­ schichte“.1 Mit diesen Worten lässt Cicero den jungen Lucius die tiefen Eindrücke zusammenfassen, die die geschichtsträchtige Bildungsmetropole Athen bei ihm und seinen römischen Mitstudenten hinterlassen hat. Ciceros literarische Konstruktion von Athen als eines idealen Erinnerungsortes2 hat eine enorme Wirkmacht entfaltet: Bis heute gilt die Szene aus De finibus als der Schlüsseltext für alle Konzepte, die sich mit der Verknüpfung von ‚Ort‘ und ‚Gedächtnis‘ beschäftigen.3 So stellt bereits Cicero seinen imaginierten Stadtrundgang unter das Schlagwort der rhetorischen Mnemotechnik.4 *  Dieser Beitrag wurde im Rahmen des von der DFG finanzierten SFB 1136 „Bildung und Religion“, Teilprojekt C 02: „Die Alten vor Augen: Religiöse und antiquarische Wissensvermittlung in den Bildungskompendien des 2. Jahrhunderts n. Chr.“, ausgearbeitet. 1 Cicero, De finibus 5,5: quacumque ingredimur, in aliqua historia vestigium ponimus. 2  Zur Definition des Begriffs eingehend Walter 2004, 155–179, insbesondere 155 und 163: „Die Beliebtheit des Kunstbegriffs ‚Gedächtnisort‘ oder ‚Erinnerungsort‘ in der neueren Kulturwissenschaft speist sich in erster Linie aus seiner Mehrdeutigkeit. Er bezeichnet zum einen den ‚Ort der Erinnerung‘, also einen sicht- und begehbaren, bezeichneten und intentional gestalteten Platz oder Raum, der einen Anstoß für die komplexe rekonstruktive Operation des aktiven Erinnerns bildet oder sogar den Anspruch erhebt, dieses mit einer gewissen Verbindlichkeit in Gang zu setzen. […] Die umgekehrte Kasusbeziehung von ‚Erinnerungsorte‘, nämlich ‚Gedächtnis / Erinnerung der Orte‘, birgt einen doppelten Sinn: als objektiver Genetiv bezeichnet sie die ‚Erinnerung an die Orte‘, an denen sich etwas ereignet hat oder die für die Erinnernden irgendwie bedeutungsvoll konnotiert sind, während der subjektive Genetiv ‚Gedächtnis der Orte‘ als Metapher die suggestive Möglichkeit nahelegt, dass die Orte selbst zu Subjekten, Trägern der Erinnerung werden können und womöglich über ein Gedächtnis verfügen, das weit über das der Menschen hinausgeht.“ 3  Assmann 1999, 312 f.; Walter 2004, 163 f. 4 Cicero, De finibus 5,1,2: „Eine so große Macht der Erinnerung wohnt den Orten inne, dass aus diesen nicht grundlos die Mnemotechnik abgeleitet ist“ (tanta vis admonitionis inest in locis, ut non sine causa ex iis memoriae ducta sit disciplina).

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Wichtiger ist für uns aber die Bestätigung: ‚Vergangenheit‘ bildet einen Brennpunkt antiker Autoritätskonstruktionen und -diskussionen. Dies geht so weit, dass nach dem Verständnis so renommierter Autoren wie Cicero und Quintilian das hohe geschichtliche Alter selbst eine besondere Autorität zu besitzen scheint.5 Diese suggestive Aussage sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter dieser dem Alter scheinbar ‚natürlich inhärenten‘ Autorität eine bewusste, in der Regel durch ein sehr konkretes Interesse geleitete Zuschreibung durch eine bestimmte Person (oder Personengruppe) steht6 und eben diese Autorität jederzeit durch eine konkurrierende Deutung in Zweifel gezogen werden kann: Wie die althistorische Forschung gezeigt hat,7 funktionierten besonders alte, fest etablierte Vorbilder und Denkmäler nicht automatisch besser als neue, die aufgrund ihrer Aktualität mehr Aufmerksamkeit fanden. Wichtiger als der ‚Alterswert‘ einer Person, eines Ortes oder Gegenstands war demnach ihr aktiver ‚Erinnerungswert‘. Denn dieser bemisst sich aus dem Bedürfnis und der Fähigkeit des Betrachters, nicht mehr verstandenen Erinnerungsobjekten eine neue, aus gegenwärtiger Sicht als gewichtig empfundene Bedeutung zu verleihen.8 Im Fall des von Cicero geschilderten Stadtrundgangs geht es daher auch nicht um eine Rekonstruktion von Athens Stellung im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., sondern um den lebendigen Erinnerungswert, den die römischen Besucher eben dieser Stadt zuerkennen. Und noch etwas ist bemerkenswert: Athens auctoritas gründet – wenn wir Ciceros Gesprächsteilnehmern glauben – zuerst und vor allem auf den namhaften Persönlichkeiten, die es in fernen Zeiten hervorgebracht hat. Ciceros Freunde sehen sich demnach durch eine personengebundene Erinnerung geleitet.9 Diese enge Verbindung einer normativen auctoritas mit personellen exempla ist, wie 5 Cicero, De divinatione 1,34: „Freilich ist das Losorakel an sich nicht zu verachten, wenn es auch die Gewähr des Alters besitzt“ (etsi ipsa sors contemnenda non est, si et auctoritatem habet vetustatis); Quintilian, De institutione oratoria 1,6,39: „Wörter aus früherer Zeit, die wieder aufgegriffen worden sind, haben nicht nur bedeutende Befürworter, sondern verleihen auch der Rede eine gewisse Erhabenheit, die nicht ohne Reiz ist; denn sie haben die Autorität des Altertums“ (verba a vetustate repetita non solum magnos adsertores habent, sed etiam adferunt orationi maiestatem aliquam non sine delectatione: nam et auctoritatem antiquitatis habent). 6  Siehe Walter 2004, 154 f.: „Aber obwohl natürlich alle Objekte der Dingwelt einen Zeitindex haben, […] sind nicht alle Gegenstände oder Bauten, die […] durch ihr Aussehen als ‚alt‘, ‚schlicht‘ oder ‚ehrwürdig‘ wahrgenommen werden, damit gleich Erinnerungsorte oder auch nur Zeugnisse von ‚Vergangenheit‘. […] Erinnerungsorte werden durch Kommunikation und Texte mit Sinn gefüllt und durch besondere bauliche und pflegerische Maßnahmen aus ihrer physischen Umgebung herausgehoben und konserviert.“ 7  Walter 2004, 61 und 132 f. 8  Roller 2009, 214 f. beschreibt diese Geschichtssicht, die eine Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart annimmt und daraus die Appellkraft und Aktualisierbarkeit historischer Leitbilder ableitet, als „exemplarischen Modus“; den Gegenpol hierzu bildet der „historische Modus“, d.h. die Haltung des modernen Historikers, der vergangene Ereignisse und Akteure in ihrem jeweiligen Zeitkontext zu bewerten sucht. 9  So bereits Pausch 2004, 326–328.

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Stemmler für die antike Rhetorik gezeigt hat, eine typisch römische Eigenheit, die das exemplum vom griechischen parádeigma scheidet und in einen engen Wirkzusammenhang mit dem verbindlichen Leitprinzip des mos maiorum (dem Brauch und Herkommen der römischen Ahnen) bringt.10 Ciceros von der römischen Erinnerungskultur geprägte Dialogfiguren interessieren sich daher nicht – oder jedenfalls nicht explizit – für die religiös, politisch oder kulturell bedeutsamen Sehenswürdigkeiten der Stadt:11 Traditionelle touristische ‚highlights‘ wie die Akropolis, das T heater des Dionysos, die ehrwürdige Gerichtsstätte am Areopag oder die Bildergalerien auf der Agora bleiben komplett unerwähnt. Stattdessen besuchen die Dialogteilnehmer die Wirkungsorte von Dichtern und Denkern, denen sie sich je nach ihren persönlichen Neigungen und Interessen besonders verbunden fühlen. So aktualisieren sie die Vergangenheit und eignen sich die Bildungsbereiche führender Autoritäten der athenischen (Geistes-)Geschichte – Demosthenes und Perikles, Epikur und Plato – im Abschreiten der Stadtlandschaft an. Ciceros Gedächtnisort ‚Athen‘ kann uns als Folie dienen, wenn wir uns nun der Frage zuwenden, welche Konzepte der Ortserinnerung der Buntschriftsteller Aulus Gellius rund 200 Jahre später aufruft und mit welchen Autoritäten er diese dann belegt. Dass Gellius’ zwanzigbändiges Sammelwerk in vielfacher Weise nicht nur von Autoritäten, sondern auch von kritischen wie subversiven Autoritätsdiskussionen und raffinierten Strategien der (Selbst-)Autorisierung geprägt ist, kann mittlerweile als communis opinio der Forschung gelten.12 Dass dabei personelle, gattungsdiskursive und (inter)mediale mit lokalen und topographischen Autoritäten in eine Wechselwirkung treten, wurde ebenfalls schon mehrfach registriert.13 Basierend auf diesen Vorarbeiten, möchte ich anhand der wechselvollen Geschichte einer Gedenkstatue für den frührepublikanischen Freiheitshelden Horatius Cocles (Noctes Atticae 4,5), der Frage nachgehen, welche Rolle dort die 10  Stemmler 2000, 150–167, besonders 153: „Das Beispiel hat in der griechischen Rhetorik keine normierende Autorität. Stattdessen betonen die Griechen ein anderes konstitutives Merkmal des παράδειγμα, nämlich die Vergleichbarkeit von Beispiel und dem in der Rede besprochenen Sachverhalt.“ Zur personengebundenen auctoritas auch Heusch 2011,28 f. im Verweis auf die Begriffsuntersuchung von Heinze 1925; zur Verbindung von auctoritas, ­exemplum und mos maiorum Hölkeskamp 1996, 316–320; Walter 2004, 55. 11  Zum kontrastiven Vergleich siehe den Katalog an Sehenswürdigkeiten bei Herakleides Kritikos, frg. 1,1; Properz 3,21,23–30. 12  Gunderson 2009, 55–98 fächert ein breites Spektrum von Autoritätsstrategien auf. Pausch 2004, 227–233 zum Vorbildcharakter historischer wie zeitgenössischer Persönlichkeiten; Heusch 2011, 27–29 speziell zu auctoritas und memoria; Holford-Strevens 2003, 178 und Vessey 1994, 1901 zur auctoritas als einem Leitprinzip in Gellius’ Sprachdiskussionen. Für einen oft spielerischen und subversiven Charakter des Autoritätsbegriffs plädiert insbesondere Keulen 2009. 13  Gunderson 2009, 79–84; Keulen 2009, 239–245; Egelhaaf-Gaiser 2013, 176–186; Beer 2020, Kapitel 2.5.3.

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ortsgebundene Erinnerung spielt – und wie sich diese dann mit verschiedenen Formen der auctoritas verknüpft. Der gewählte commentarius ist für eine solch exemplarische Untersuchung besonders geeignet. Denn in dieser kurzen Erzählung lassen sich eine bemerkenswerte Fülle und mediale Vielfalt von Autoritäten identifizieren. Diese treten nicht nur in ein komplexes Wechselspiel, sondern auch in eine explizite und implizite Konkurrenz. Ein Hauptinteresse meiner Analyse wird es daher sein, das Spannungs-, ja Konfliktpotenzial deutlich zu machen, das bei einer solchen Gemengelage geradezu unvermeidlich scheint. Bevor wir uns aber diesem Fallbeispiel zuwenden, möchte ich in einem vorgeschalteten Grundlagenabschnitt zunächst die Besonderheiten herausarbeiten, die Gellius’ kaiserzeitliches Athen- und Rombild gegenüber dem von Cicero p ­ ropagierten Geschichtsort ‚Athen‘ auszeichnen. Denn Gellius’ Erzählung von Horatius Cocles entfaltet erst vor diesem erinnerungskulturellen Hintergrund ihre volle Wirkung: Ziel meines Beitrags ist es zu zeigen, dass Gellius in Berufung auf seine Autorität als philologisch-antiquarischer Gelehrter dem traditionellen, von Cicero aufgerufenen Konzept des ‚Erinnerungsorts‘ eine neue Alternative gegenüberstellt: Aus dem ‚Gedächtnis der Orte‘ wird dabei ein ‚Gedächtnis der Worte‘, mit dem Gellius die zentrale Qualität seines eigenen Werks umschreibt.

2. Athen und Rom im konkurrierenden Vergleich Ein Vergleich zwischen Ciceros und Gellius’ Athenbild liegt umso näher, als bereits der Titel von Gellius’ Sammelwerk – Attische Nächte – programmatisch gemeint ist. Er soll daran erinnern, dass der Verfasser seine langjährig erstellten Exzerpte in ausgedehnter Nachtarbeit auf seiner Villa in Attica zusammengeführt habe.14 Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn Gellius in seinen Kurzerzählungen Athen nicht nur zu dem Bildungs- und Studienort schlechthin, sondern speziell zu einem Brennpunkt eines antiquarischen Geschichtsinteresses stilisiert, wie er es selbst vertritt.15 Eben dieser Ort wird dann – ähnlich wie Cicero dies im Zuge seines Stadtrundgangs tut – mit ruhmreichen Persönlichkeiten bestückt. Anders als Cicero, der ausschließlich Figuren der Vergangenheit wiederbelebt und präsent macht, stellt Gellius freilich historische Größen des 5. und 4. Jahr14  Zu den Konnotationen des literarischen Studiums bei Nacht (lucubratio) eingehend Ker 2004; zur einschlägigen Stelle der praefatio ebenda 236–240. Auf die ansonsten eher seltene Verknüpfung von Werktiteln mit den Entstehungsbedingungen weist Vardi 2004, 300 hin. 15  In diesem Sinn ist laut Vardi 2004, 300 f. auch schon die Wahl des Werktitels gemeint, ähnlich Heusch 2011, 201; weiterführend und vertiefend zu den Signalen des Werktitels an den Leser Beer 2014, 55–57; Beer 2020, Kapitel 2.5.1. arbeitet zudem den engen Konnex Athens speziell mit antiquarischen Forschungsarbeiten als ein Spezifikum des 2. Jahrhunderts n. Chr. heraus.

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hunderts v. Chr. wie Sokrates16, Platon17 und Demosthenes18 in eine Reihe mit gefeierten Vertretern der kaiserzeitlichen, zweiten Sophistik, mit Herodes Atticus, dem Redner, Mäzen und Vertrauten Hadrians,19 oder mit dem Platoniker Calvenus Tauros, dessen Vorlesungen Gellius als Mitglied eines auserlesenen Schülerkreises verfolgt.20 Die bunte Mischung von Personenporträts des klassischen und kaiserzeitlichen Griechenlands lässt keinen Zweifel daran, dass Gellius Athens ‚klassische‘ Blütezeit nicht als ferne, längst abgeschlossene Vergangenheit, sondern als ein nach wie vor relevantes und lebendiges, für die Bedürfnisse der antoninischen Gegenwart jederzeit adaptierbares Bildungsgut begreift.21 Die athenischen Kommentare stellen dem Gelliusleser demnach einen reichen Schatz von unterhaltenden Anekdoten und normativen Leitbildern bereit, an denen er sich in seinem Lernen und Handeln orientieren kann.22 Auch in ihrer topographischen Gestaltung des Schauplatzes ‚Athen‘ unterscheiden sich beide Autoren deutlich: Bei Cicero gewinnt die Bildungslandschaft ‚Athen‘ in einzelnen Gedächtnisorten eine konkrete Gestalt und historische Tiefe. Der platonischen Akademie und Epikurs Gärten werden das Stadtviertel Kolonos als Sophokles’ Herkunftsort sowie die Auftritte der Redner Demosthenes und Aischines auf der Agora, der Pnyx und im Hafen von Phaleron zur Seite gestellt; abgerundet wird die Liste von Gedächtnisorten mit dem Grab des Perikles.23 Gellius beschränkt sich dagegen in seinen attischen Kommentaren auf eine summarische Zuordnung seiner Akteure – seien diese nun dem 5./4. Jahrhunderts v. Chr. oder der Gegenwart zugehörig – zum urbanen Kulturraum ‚Athen‘.24 Noctes Atticae 1,17; 2,1. Noctes Atticae 3,17; 14,3. 18  Noctes Atticae 1,5; 1,8; 3,13; 11,9; zur gellianischen Figur des Demosthenes Pausch 2004, 191–206. 19  Noctes Atticae 1,2; 9,2; 18,10; 19,12; zur Figur siehe Pausch 2004, 206–226; Beer 2020, Kapitel 2.3.3. 20  Noctes Atticae 7,10; 7,13; 10,19; 17,8; 17,20; 18,10 und öfter; zur Figurenzeichnung Lakmann 1995; Heusch 2011, 257–261; Beer 2020, Kapitel 2.3.1. 21  Folgerichtig verkörpern nicht nur Gellius’ zeitgeschichtliche Vorbilder, sondern auch seine historischen Figuren (des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. ebenso wie der Republik) weniger die damaligen Leitwerte als vielmehr die Normen und Bildungsideale der antoninischen Zeit: so Vessey 1994, 1882 f. (anhand der Erzählung zu Praetextatus, Noctes Atticae 1,23) und Pausch 2004, 203–206.227 f. (anhand der anekdotischen Notizen zu Demosthenes und der Euripidesvita, Noctes Atticae 15,24). 22  Zum Nebeneinander von vermitteltem Faktenwissen, der Präsentation exemplarischen Verhaltens und dem Unterhaltungswert leicht memorier- und wiedererzählbarer Anekdoten Pausch 2004, 227–232. 23 Cicero, De finibus bonorum et malorum 5,1–5. 24 Exemplarisch Noctes Atticae 18,2,1: „wir feierten das Saturnalienfest in Athen“ (Saturnalia Athenis agitabamus); 18,13,1: „am Saturnalienfest in Athen […] spielten wir mit Würfeln (Saturnalibus Athenis alea … lusitabamus); 19,12,1: „Ich habe in Athen Herodes Atticus […] gehört, wie er einen Vortrag hielt“ (Herodem Atticum […] Athenis disserentem audivi). Einen Sonderfall bildet das – seinerseits nicht näher lokalisierte – Stadthaus des Tauros als Unterrichtsort, etwa Noctes Atticae 2,2; 7,13. Was aber – mit einziger Ausnahme des einmalig erwähnten Lykeions (Noctes Atticae 7,16) – vollständig fehlt, sind öffentliche Kulissen, wie 16 

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Umso bemerkenswerter ist, dass Gellius bei seinem zweiten Erinnerungsort, der Reichshauptstadt Rom, durchaus anders vorgeht:25 Das räumliche Setting dort stattfindender Gespräche wird deutlich häufiger konkretisiert als in Athen.26 Was aber noch wichtiger ist: Bemerkenswert viele der Kommentare zeigen ein ausgeprägtes Interesse an der Topographie der Reichshauptstadt.27 Und in diesen Raum werden zudem nicht nur – wie bei Cicero – die Wirkungsorte großer Personen der Vergangenheit eingetragen.28 Vielmehr schließt Gellius auch Erläuterungen zu den räumlichen und zeitlichen Prämissen von Senat, Volksversammlung und Gericht29, zu Religion und Militär30, und, nicht zuletzt, zur Etymologie und Sprache31 mit ein: So finden wir einen Kommentar zur Wahl und zu den Sonderrechten der Vestalinnen32, zur etymologischen Herleitung des ager Vaticanus von einer Gottheit33, zu einem Opferbeschluss des Senats anlässlich eines göttlichen sie für Rom vielfach Erwähnung finden, vgl. unten die Fußnoten 26 f. und die Auflistung der griechischen wie römischen Schauplätze bei Heusch 2011, 196–198. 25  Den auffälligen Fokus auf die kaiserzeitliche Kapitale Rom beobachtet bereits Keulen 2009, 237–245. 26  Repräsentativ Noctes Atticae 3,1,1: „als sich der Winter schon dem Ende zuneigte, gingen wir bei den Titusthermen im warmen Sonnenschein mit dem Philosophen Favorinus spazieren“ (hieme im decedente apud balneas Titias in area subcalido sole cum Favorino philosopho ambulabamus); 4,1,1: „im Vorhof des kaiserlichen Palasts hatten sich viele Leute aus fast allen Ständden eingefunden“ (in vestibulo aedium Palatinarum omnium fere ordinum multitudo opperientes salutationem Caesaris constiterant); 18,7,1 f.: „als in Rom […] unser Favorinus zufällig beim Heiligtum der Carmenta Domitius begegnete“ (in urbe Roma […] Domitio Favorinus noster cum forte apud fanum Carmentis obviam venisset); 19,7,1: „auf dem vaticanischen Land besaß der Dichter Iulius Paulus […] ein bescheidenes Erbgütchen. Dorthin lud er uns oft zu sich ein“ (in agro Vaticano Iulius Paulus poeta […] herediolum tenue possidebat. Eo saepe nos ad sese vocabat). Weitere Kommentare finden statt bei den Buchläden des vicus Sandaliarius (18,4) und apud sigillaria (5,4), in der palatinischen Bibliothek (13,20), auf einem Spaziergang über den mons Cispius (15,1), auf dem Feld des Agrippa (14,5), in der Trajansbibliothek (11,17), auf einem Landgut in Tibur (19,5); am Strand von Ostia (18,1). 27  Gegen Heusch 2011, 198, laut der die Stadt Rom nicht plastisch visualisiert werde. Richtig ist zweifellos, dass nirgends eine Stadtkulisse ekphrastisch beschrieben wird; jedoch interessieren durchaus einzelne Stadtregionen mit ihren topographischen Komponenten und Baulichkeiten, z.B. Noctes Atticae 2,10 (zu den unterirdischen Depoträumen des Kapitols) und 10,1 (zur Weihinschrift am Victoriatempel des Pompejustheaters); 13,14 (zur Ausdehnung des sakralen Stadtgebiets, des pomerium); 13,25 (zur Weihinschrift am Trajansforum); 14,7 (zu den für Senatsversammlungen nutzbaren stadtrömischen templa). 28  Etwa die Familie der Porcier (13,20); Scipio der Ältere (4,18); Scipio Africanus (6,1; 6,12); der jüngere Cato und Caesar (4,10). 29  Noctes Atticae 13,15 f. (sanktionierte Tage zur Einberufung von Volksversammlungen); 14,7 (sakralisierte Plätze für Senatssitzungen); 12,13 (kalendarische Anberaumung von Gerichtssitzungen). 30  Noctes Atticae 10,15 (Priesteramt des flamen Dialis), 13,23 (Gebetsformeln) und 16,4 (religiöse Kriegserklärung und Stellung von Soldaten). 31  Passim, etwa Noctes Atticae 2,10 (zu Depoträumen unter dem Kapitol, den sogenannten favisae) und 18,7 (zum Begriff der Volksversammlung, contio). 32  Noctes Atticae 1,12. 33  Noctes Atticae 16,17.

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Vorzeichens im Marstempel34, zu Regelungen von Senatsitzungen35 und zur Einberufung von Volksversammlungen36 oder auch zu unheilbringenden Tagen im römischen Kalender.37 Dank dieses breiten, kulturgeschichtlich ausgerichteten Tableaus38 tritt Rom in Gellius’ Noctes Atticae nicht nur als ein, sondern vielmehr als der Zentralort schlechthin hervor und läuft damit Athen eindeutig den Rang ab.39 Wie in keinem anderen Raum konservieren sich in Rom die Spuren der Geschichte aus unterschiedlichsten Zeitphasen und Kulturbereichen. Aus der Summe aller Befunde lässt sich letztlich auch Roms gegenwärtige Größe, ja seine Alleinstellung als Kapitale eines blühenden Weltreichs erklären, dessen kontinuierliche Erfolgsgeschichte auf einer vorbildlichen Gesetzgebung40, einer ebensolchen Städte- und Provinzverwaltung41 und, nicht zuletzt, auf der Zustimmung der Götter beruht.42 Gellius’ Erinnerungsorte ‚Athen‘ und ‚Rom‘ lassen sich also nicht mehr wie noch bei Cicero auf eine semantische Polarität von ‚Bildung‘ versus ‚Politik‘ reduzieren. Vielmehr wird die Bildungsmetropole Athen nicht nur als temporärer Studienort junger Römer43, sondern auch als integrativer Bestandteil der imperialen Reichsverwaltung vorgeführt.44 Zudem ist das antoninische Rom längst selbst Noctes Atticae 16,4. Noctes Atticae 1,23; 3,18; 4,10. 36  Noctes Atticae 13,16; 15,27. 37  Noctes Atticae 5,17. Vgl. Noctes Atticae 10,24 zu Tagesangaben. 38  Pausch 2004, 229 f. führt diesen Geschichtszugriff auf eine bewusste Entscheidung für ein alternatives Konzept einer ‚not-history‘ zurück, die auf die konventionellen Darstellungsformen der traditionellen, (partei)politisch ausgerichteten Geschichtsschreibung, wie sie speziell in Zeiten der Republik üblich war, verzichte. 39  Auch wenn sich im 2. Jahrhundert n. Chr. zweifellos die griechische und römische Kulturwelt wie nie zuvor einander annähern, scheint mir bei Gellius weniger eine „untrennbare Symbiose“ und „Verschmelzung“ (Heusch 2011, 191 und 203) als vielmehr eine Vereinnahmung der griechischen Kultur durch das antoninische Rom proklamiert – inklusive eines durchaus ‚imperial‘ zu nennenden Gestus. 40  Noctes Atticae 11,18 mit einem Abriss der griechisch-römischen Gesetzgeschichte von Drakon bis zum Rechtsgelehrten Sabinus, mit ausführlicher Würdigung des römischen 12– Tafel-Gesetzes. 41  Vgl. das ausführliche Referat von Hadrians Senatsrede in Noctes Atticae 16,13 zur Scheidung von municipia und coloniae, die Überweisung eines Rechtsentscheids an den athenischen Areopag durch den Provinzstatthalter von Asia in Noctes Atticae 12,7 sowie Catos Verteidigungsrede für die Rhodier im Senat, Noctes Atticae 6,3. 42  Diese Überzeugung lässt sich insbesondere aus Kommentaren ablesen, die das vorbildliche religiöse Handeln der Römer gegenüber anderen Völkern – zumal den Griechen – hervorheben; so etwa Noctes Atticae 2,28 zur Überlegenheit der römischen Gebetsformel si deo, si deae gegenüber griechischen Praktiken. Ein unverkennbar römisch-imperiales Bewusstsein prägt auch die Diskussion um die Erweiterung des sakralen Stadtgebiets im Zuge der stetigen Reichsausdehnung (Noctes Atticae 13,14). 43  So Howley 2014; Howley 2018, 12; Heusch 2011, 201. 44  Der ‚lange Schatten‘ der römischen Provinzverwaltung zeigt sich oft nur beiläufig, etwa in der Amtstitulatur des griechischen Redners Herodes Atticus (Noctes Atticae 1,2,1: Herodes Atticus, vir et Graeca facundia et consulari honore praeditus) oder auch im Hausbesuch eines römischen Provinzstatthalters beim Philosophen Tauros (Noctes Atticae 2,2). 34  35 

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zu einer Bildungsmetropole aufgestiegen, die ohne weiteres mit Athen konkurrieren kann.45 Das kulturelle Profil der imperialen Hauptstadt spiegelt sich bei Gellius in einer entsprechenden Infrastruktur: Neben öffentlichen Plätzen, T hermen und Kaiserpalästen, Heiligtümern und Privathäusern dienen Gellius oft auch die öffentlichen Bibliotheken und Buchläden als Kulisse für seine anschauliche S­ zenen.46 Darüber hinaus können aber auch römische Archive, Schriftdokumente und Bücher zu Trägern von Geschichte werden, denen eine hohe symbolische Bedeutung zukommt.47 Dies deckt sich mit den Überlegungen, die Pierre Nora in seinem monumentalen Werk lieux de memoire formuliert hat: Nach seinem Verständnis kann der Begriff des ‚Gedächtnisortes‘ in einem erweiterten Sinn durchaus auch wirkmächtige Gegenstände, Ideen und Ereignisse umschließen.48 Ein solch metaphorischer Gedächtnisort wird uns später noch in Gestalt der Annales maximi begegnen – d.h. in Geschichtsbüchern, die auf jährlichen Einträgen des pontifex maximus basieren (siehe unten Abschnitt 6). Wie sich Gellius’ Forschungen zur Geschichte Roms konkret gestalten und in welcher Weise verschiedene Autoritäten auf die monumentale Gestaltung und historisch-literarische Deutung eines solch vielschichtigen und facettenreichen Erinnerungsortes Einfluss nehmen, soll nun, wie oben angekündigt, am Fallbeispiel des Horatius Cocles vorgeführt werden. Der einschlägige Kommentar 4,5 ist in der Forschung bisher kaum beachtet49, scheint mir aber für die hier verfolgte Fra45  Auf eine solche Aufwertung Roms weist auch Beer 2020, Kapitel 2.5.1 ausdrücklich hin: „Bei Gellius ist Rom das neue Athen. Kapitel, die in Rom spielen, stehen bunt gemischt neben Kapiteln, die Athen als Schauplatz zeigen. Diese Mischung bezeugt den Anspruch, der in den Noctes Atticae für Rom erhoben wird, als Bildungsstadt neben Athen zu stehen. Als Beispiel dafür kann der erzählte Raum in 13,25 genannt werden [...]. Das Rom, das der Erzähler in 13,25 vorführt, betont damit die Verbindung von römischem Imperialismus mit einer Kultur, die in dieser Inszenierung und Semantik nicht mehr allein vom griechischen Raum beansprucht wird.“ 46  Siehe oben Anm. 26. Zu Recht verweist Heusch 2011, 202 auf die ausgeprägt städtische Kultur des 2. Jahrhunderts n.Chr., die bei Gellius durch eine florierende Villenkultur im Umland ergänzt wird. 47  Dies gilt neben der Sammlung der sibyllinischen Bücher (Noctes Atticae 1,19) insbesondere für das ehrwürdige Gesetzeswerk der 12 Tafeln, das wiederholt diskutiert wird (Noctes Atticae 6,15; 11,18; 16,10; 20,1). Analog ließe sich für Griechenland Solons Gesetzeswerk anführen (Noctes Atticae 2,12); siehe weiterhin Noctes Atticae 7,17 zur Geschichte der ersten, vom Tyrannen Peisistratos gestifteten Bibliothek in Athen. Zur engen Wechselbeziehung von memoria und Büchern bei Gellius siehe Heusch 2011, 66–77. 48  Nora 1998. Walter 2004, 166 f. führt als repräsentatives Beispiel für einen solch literarischen Gedächtnisort das Werk des Livius an, das selbst den Rang eines Monuments erlange und zum Bestandteil der Erinnerungslandschaft werde, die es abschreite. Zur Bedeutung des Livius für die Exempelbildung um Horatius Cocles siehe unten Abschnitt 4. 49  Innerhalb der Gelliusforschung nimmt lediglich Howley 2018, 61 auf den Kommentar Bezug, interessiert sich dabei aber nur für das Verhältnis von Überschrift und Text. Frier 1979, 56–67 zieht den Kommentar für seinen Rekonstruktionsversuch der Annales maximi heran.

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gestellung in hohem Maße einschlägig. Denn zur Sprache kommt dort eine berühmte Person, die im Schnittpunkt von Mythos und Frühgeschichte liegt und im Medium von Bild und Text eine exemplarische Autorität erlangt hat. Der Aufstellungsort der Statue, das comitium und das ortsnahe Volcanal, bildet seinerseits einen erstrangigen Gedächtnisort, in dem sich Religion und Politik eng miteinander verbinden und damit das Prinzip der embedded religion geradezu idealtypisch vor Augen führen. Die Autoritäts- und Deutungskonkurrenzen werden dabei nicht nur im Streit verschiedener Personengruppen, sondern auch zwischen verschiedenen Textzeugnissen ausgetragen, aus denen Gellius seinen Kommentar exzerpiert hat. Daher ist abschließend danach zu fragen, welche auktorialen Eigeninteressen denn der Buntschriftsteller Gellius selbst verfolgt haben mag, wenn er seiner kaiserzeitlichen Leserschaft ein solches Fallbeispiel antiquarischer Gelehrsamkeit präsentiert.

3. „In Rom auf dem comitium“: ein Erinnerungsraum mit historischer Autorität Werfen wir zunächst einen Blick auf den ersten Abschnitt der Erzählung: Statua Romae in comitio posita Horatii Coclitis, fortissimi viri, de caelo tacta est. Ob id f­ ulgur piaculis luendum aruspices ex Etruria acciti inimico atque hostili in populum Romanum animo instituerant eam rem contrariis religionibus procurare atque illam statuam sua­serunt in inferiorem locum perperam transponi, quem sol oppositu circum undique altarum aedium numquam illustraret. Quod cum ita fieri persuasissent, delati ad populum proditique sunt et, cum de perfidia confessi essent, necati sunt, constititque eam statuam, proinde ut verae rationes post compertae monebant, in locum editum subducendam atque ita in area Volcani sublimiore loco statuendam; ex quo res bene et prospere populo Romano cessit. „In Rom auf dem Comitium wurde das Standbild des tapferen Helden Horatius Cocles, das ihm zu Ehren (dort) errichtet war, vom Blitz getroffen. Um den Zorn des Himmels durch Sühnopfer zu besänftigen, ließ man Zeichendeuter aus Etrurien kommen. Diese waren nun aber aufgrund ihrer feindseligen Haltung und ihrer Gegnerschaft gegen das römische Volk unter sich übereingekommen, diese Sache mit ganz zweckwidrigen Kulthandlungen zu besorgen. Und sie gaben daher den Rat, eben dieses Standbild an eine tiefer gelegene Stelle zu versetzen, auf die wegen der ringsherum stehenden hohen Häuser nie ein Sonnenstrahl fiel. Als sie schon die Römer davon überzeugt hatten, dies so auszuführen, wurden sie beim Volk angezeigt und verraten und, nachdem sie ihren hinterlistigen Trug eingestanden hatten, hingerichtet. Und man beschloss, dass diese Statue, so wie es auch die richtigen Überlegungen, die später in Erfahrung gebracht wurden, nahelegten, an einen hochgelegenen Ort zu verbringen und so im Areal des Volcanus an einem erhöhten Ort aufzustellen sei. Und seitdem schlug dem römischen Volk sein Geschick gut und vorteilhaft aus.“50 50 

Noctes Atticae 4,51–4; Übersetzung angelehnt an Weiss 1992.

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Bevor wir uns mit der Frage der in das Geschehen involvierten Autoritäten näher beschäftigen, seien zunächst einige für das Textverständnis unverzichtbare Hintergründe geklärt: 1.  Dass sich die Anekdote nicht im Unterhaltungswert erschöpft, sondern einen Nerv des römischen Selbstverständnisses trifft, wird bereits deutlich durch den Standort des Denkmals „in Rom auf dem comitium“ (Romae in comitio), d.h. mitten im politischen und religiösen Herzen der Hauptstadt.51 Wir sehen bereits anhand der programmatischen Eröffnung, die das Geschehen so konkret topographisch verortet, wie sich dieser Kommentar in seiner ‚nationalrömischen‘ Färbung von den athenischen Werkeinträgen abgrenzt. Und in der Tat könnte kaum ein prominenterer politischer Brennpunkt gewählt sein. Denn in der römischen Republik – sprich: vom 6. bis zum 1. Jahrhundert – diente das comitium als Versammlungsstätte des gesamten wahlberechtigten römischen Volks, das dort über Krieg und Frieden, über Verträge und Gesetze entschied und die Beamten wählte. Kein geringerer als Cicero betitelt daher die Rednertribüne, von der aus sich die Beamten an das Volk wandten, als die „größte Bühne eines politischen Redners“ (oratoris maxima scaena)52 und als einen „Pfad zum Ruhm“ (aditus laudis)53, auf dem Publikum wie Redner jeweils ihre volle Autorität in die Waagschale warfen. Aus eben diesem Grund habe er sich bislang angesichts seines noch jungen Alters davor gescheut, sich diesem „Ort voller Autorität“ als Redner zu nähern (huius auctoritatem loci attingere).54 Für den Umgang mit ‚Autorität‘ ist bedeutsam, dass das republikanische comitium zuerst und vor allem durch den politischen Wettbewerb unter den führenden Vertretern der politischen Elite gekennzeichnet ist und daher ganz im Zeichen von „Rede und Gegenrede, Anspruch und Gegenanspruch“55 steht. Dieser aggressiv ausgefochtene Kampf um führende Positionen, der sich in einer entsprechend polemischen Zurschaustellung von Ehrenmonumenten spiegelt (siehe unten Punkt 3), kommt mit dem Beginn des Principats zum Erliegen: Das comitium verliert nicht nur seine Funktion und Bedeutung als der politische Versammlungsort, sondern wird auch baulich geradezu „ausradiert“56 (siehe unten Abschnitt 5). 2.  Religiös konnotiert ist das comitium insofern, als jede Handlung vor der Volksversammlung mit einer feierlichen Gebetsformel eröffnet wurde. Zudem hatte das comitium den Status eines templum, auf dem der Wille der Götter vor einer Entscheidung eingeholt werden konnte.57 Auch die dort getätigten AmtsZur herausragenden politischen Bedeutung des comitium als dem wichtigsten stadtrömischen Symbol- und Erinnerungsort, an dem die Vertreter der republikanischen Nobilität ihre Konkurrenz um die führenden Ämter austrugen, Hölkeskamp 2001, 122–126. 52 Cicero, De oratore 2,338. 53 Cicero, De imperio Cn. Pompei 1. 54 Cicero, De imperio Cn. Pompei 1. Zum comitium in Ciceros Zeit Vasaly 1993, 62–75. 55  Walter 2004, 157. 56  Muth 2012, 22. 57  Zum Rechtsstatus von templa und ihrer Nutzung durch den Senat siehe Noctes Atticae 14,7,7. 51 

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handlungen umfassten eine ganze Reihe sakraler Akte, so die formelle Einweihung von Gebäuden, die Bekanntgabe von Feiertagen und die Ablegung von Eiden. Einerseits wurden also auf dem comitium politische Entscheidungen durch religiöse Handlungen autorisiert. Andererseits blieb die Durchführung solch sakraler Handlungen der Autorität politischer Beamten vorbehalten. Der sakrale Status des comitium verhinderte freilich nicht seine weitgehende Überbauung am Ende der Republik; der noch verbleibende Freiraum geriet nun in die Sogkraft des benachbarten Volcanals und erhielt damit eine religiös-museale Aura (siehe unten Punkt 5). 3.  Es wundert nicht, dass dieser geschichtsträchtige Raum bereits in der mittleren Republik architektonisch bzw. statuarisch entsprechend ausgestaltet wurde:58 Nicht nur bildeten die Fassaden der ortsnahen Curia und des Tempels der politischen Eintracht (Concordia) eine symbolträchtige Kulisse. Ideologisch wurde das comitium zudem dadurch aufgeladen, dass seit dem 4. Jahrhundert auch und gerade dort herausragende Personen aus Roms Mythos und Geschichte mit öffentlichen Ehrendenkmälern59 und Memorialstatuen60 ausgezeichnet wurden.61 Quasi unter den Augen dieser gesamtrömischen Identitätsfiguren konnte ein politischer Redner römische Gemeinschaftswerte betonen, das kollektive Selbstbewusstsein der Bürger stärken oder auch eine engagierte Nachahmung eben dieser exempla anmahnen. Zugleich wurden auf dem comitium aber auch familienpolitische Autoritätskonkurrenzen ausgetragen: Die Rednerbühne am comitium wurde seitens der führenden gentes der Republik für ihre Leichenreden auf verstorbene Familienmitglieder genutzt, die die höchsten Ämter erreicht und sich um die res publica verdient gemacht hatten. Zugleich wurde das comitium in einem beispiellosen Denkmälerkrieg seitens einzelner Führungspersonen und ranghoher Familienclans zur individuellen Profilierung genutzt. Kollektive Autoritätsbildung und Strategien der individuellen Konkurrenz standen somit in einem komplexen Spannungsverhältnis.62

Zur architektonischen Entwicklung des comitium Coarelli 1993. Zur Abgrenzung von Denkmal und ‚Erinnerungsort‘ siehe Walter 2004, 131: „Mit einem Denkmal teilen Erinnerungsorte […] die Eigenschaft, dass sie Kristallisationspunkte von Erinnerungsakten sein können, aber allein Denkmäler sind gänzlich oder primär mit der Absicht der Kommemoration errichtet worden.“ 60  Memorialstatuen sind kategorial von Ehrenstatuen zu scheiden: Während letztere noch zu Lebzeiten oder unmittelbar nach dem Tod der geehrten Personen errichtet wurden, erinnern erstere Figuren einer länger zurückliegenden Zeit, siehe Walter 2004, 143f.; Muth 2012, 14. 61  Hierzu grundlegend Sehlmeyer 1999, 103–108; Hölkeskamp 2001, 119–122; Walter 2004, 157–160; Muth 2012, 7–17. 62  Siehe Hölscher 2001, 188: „Öffentliche Denkmäler wirkten kompetitiv gegenüber den politischen Konkurrenten, adhortativ gegenüber der eigenen Bürgerschaft, aggressiv und expansiv gegenüber den äußeren Gegnern.“ 58 

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4.  Innerhalb dieses ‚Denkmälerwalds‘ nimmt nun die Statue des Horatius Cocles eine Sonderstellung ein.63 Denn er ist als ein heldenhafter Verteidiger und Garant der Republik in die römische Geschichte eingegangen:64 Laut Überlieferung65 hatte Cocles nur ein Jahr nach der Vertreibung der Könige im Alleingang die Tiberbrücke gegen den Ansturm eines feindlichen, unter der Führung des etruskischen Herrschers Porsenna stehenden Heeres solange gehalten, bis die römische Besatzung die Brücke zum Einsturz bringen konnten. In diesem kritischen Moment stürzte sich Cocles nach einem inbrünstigen Gebet an den Flussgott Tiberinus in die Fluten des Flusses, aus denen er dank seiner Gottesfurcht prompt gerettet wurde. Dank dieses göttlich sanktionierten Beweises seiner Tapferkeit wurde Cocles – so berichtet u.a. Livius in seinem kanonischen Geschichtswerk66 – mit einer Statue geehrt. Dass diese Statue unmöglich schon – wie Livius suggeriert – im 6. Jahrhundert, sondern erst im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. errichtet worden sein kann,67 tat Cocles’ Karriere zum exemplum keinen Abbruch, sondern bestätigt vielmehr seinen herausragenden Erinnerungswert:68 In statuarischer Gestalt auf dem comitium verewigt, war er eine Identifikationsfigur, die allen Römern gemeinsam als leuchtendes Vorbild und Inbegriff römischer virtus diente. Bildlichen Ausdruck fand das distinktive Merkmal der Tapferkeit in der Darstellung dieses Freiheitshelden als bewaffneter Krieger.69 5.  Mit der Neuaufstellung der Coclesstatue am Volcanal, von der nun Gellius berichtet, tritt ein weiterer und nicht minder ehrwürdiger Erinnerungsort auf dem römischen Forum in den Vordergrund: Das Volcanal umfasste ein Ensemble von archaischen Kultmonumenten aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Die hohe Bedeutung dieses Kultmals wird daran deutlich, dass es bei seiner Niederlegung eigens mit einem auffälligen Steinpflaster überdeckt wurde und durch die schwarze Farbe auch im neuen Erscheinungsbild des Forums sichtbar blieb. Auch im Zuge 63  Zum

Mythos und zur Memorialstatue des Horatius Cocles grundlegend Sehlmeyer 1999, 92–96; zur Wirkmacht und vielfältigen Rezeption dieser Figur in antiken Bild- und Textmedien Roller 2004, 10–28. 64  Siehe die programmatische Formulierung bei Livius 2,10: „die Pfahlbrücke hätte beinahe den Feinden einen Weg eröffnet, wäre nicht ein Mann gewesen, Horatius Cocles; an ihm hatte das Glück der Stadt Rom an diesem Tag einen Beschützer“ (pons sublicius iter paene hostibus dedit, ni unus vir fuisset, Horatius Cocles; id munimentum illo die fortuna urbis Romanae habuit). 65  Maßgebliche Textzeugnisse sind Livius 2,10 und Polybios 6,54,6–55,4. 66  Livius 2,10: „für diese Heldentat erwies sich die Bürgerschaft dankbar; auf dem comitium wurde sein Standbild errichtet“ (grata erga tantam virtutem civitas fuit; statua in comitio posita). Die Statue findet zudem Erwähnung bei Plutarch, Publicola 16,9; Plinius, naturalis historia 34,21; Dionysios von Halikarnass, Antiquitates 5,25,1 f. 67  So die communis opinio der archäologischen und althistorischen Forschung, siehe Roller 2004, 21 mit Anm. 47. 68  Anders als die zum Teil hoch umstrittenen Ehrenstatuen würdigten die Memorialstatuen (myth-)historische Leitgestalten, die allgemein akzeptiert waren und deshalb über einen besonders hohen Exempelwert verfügten, siehe Walter 2004, 144–146; Muth 2012, 11–14. 69  Dionysios von Halikarnass, Antiquitates 5,52,2, siehe hierzu Roller 2004, 20–23.

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einer umfassenden Reorganisation des gesamten Areals wurde demnach der sakrale Charakter stets präsent gehalten (siehe unten Abschnitt 5).

4. Vom Blitz geschlagen: religionspolitische Autoritätsdiskussionen um eine Statue Nachdem wir uns solchermaßen mit dem aufgerufenen Schauplatz und seinen Funktionen vertraut gemacht haben, wird es Zeit, die religiösen Kommunikationsakte und die daran beteiligten Akteure samt der ihnen zugeschriebenen oder auch abgesprochenen Autorität und, nicht zuletzt, die sich daraus ergebenden Spannungen und Konflikte genauer unter die Lupe zu nehmen. Erneut ist dabei bereits im Vorfeld hervorzuheben, dass religiöse, politische und juristische Institutionen, Amtsträger und Verantwortlichkeiten ein eng verflochtenes Netzwerk bilden. In Gang gesetzt wird das Geschehen – laut Gellius – durch den Blitzschlag in die Statue. Bereits dieses Ereignis ließ sich als göttliche Bestätigung von Cocles’ herausragender Bedeutung deuten:70 Wie der weitere Handlungsverlauf erkennen lässt, wurde der Vorfall als eine unerwartete und unerfragte Kontaktaufnahme seitens der Götter – d.h. als ein prodigium – aufgefasst, mit dem auf eine kommunikative Störung verwiesen wurde, die es rituell zu ‚reparieren‘ galt. Auch ohne einen entsprechenden Hinweis bei Gellius dürfen wir davon ausgehen, dass dieses omen, wie auch sonst üblich, zunächst dem Senat zur Kenntnis gebracht wurde.71 Denn erst wenn dieses Gremium das Ereignis formell als göttliches Vorzeichen akzeptiert hatte, konnte ein rituelles ‚Heilungsverfahren‘ (procuratio) eingeleitet werden, indem der Senat die Klärung der Sachlage in die Verantwortung der religiösen Experten überwies. Nicht erschließen lässt sich allerdings in unserem konkreten Fall, ob die etruskischen Zeichendeuter direkt vom Senat oder über das collegium der Oberpriester (pontifices) eingeschaltet wurden, die für alle religiösen Himmelsereignisse wie Blitz, Donner und deren Deutung zuständig waren und daher vom Senat mit der Problemlösung betraut worden sein könnten. Wie immer wir uns diesen Verfahrensschritt zu denken habe: Die Hinzuziehung etruskischer Experten der Divination, die für die Erforschung des göttlichen Willens zuständig waren, sollte jedenfalls nicht in dem Sinne verstanden werden, dass die römische Priesterschaft mit ihrer Weisheit am Ende und daher den dubiosen Machenschaften externer ‚Krisenmanager‘ ausgeliefert war. Vielmehr lässt sich die Konsultation etruskischer haruspices als ein durchaus gängiges Verfahren72 und, darüber hinaus, als ein Zeichen für eine souveräne Machtausübung 70  Eine ähnliches Schicksal ereilte bezeichnenderweise eine auf dem Capitol geweihte Figurengruppe der Wölfin mit den Zwillingen, die deshalb besondere Berühmtheit erlangte, siehe Cicero, De divinatione 1,20; 2,45; Cicero, Catilina 3,19. 71  Zum üblichen Verfahren bei der Entsühnung von Unheilszeichen Rüpke 1990, 125–128. 72  Exemplarisch Livius 1,55,6; 1,56,5; 5,15–17; 8,6,2; Plinius, epistulae 9,39,1. Zur Wert-

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bewerten: Immer wieder verweisen römische Autoren stolz darauf, dass sich Rom bei Bedarf stets gezielt der Ressourcen seiner eroberten Gebiete bedient habe.73 Gerade in dieser Fähigkeit zum effizienten Wissens- und Expertisenimport liege ein zentraler Grund für Roms Sieghaftigkeit. Die Römer verstanden sich demnach gerade nicht als multikultureller Schmelztiegel, sondern als ein überlegenes, zur Führung bestimmtes Volk, das sich die Fähigkeiten der unterworfenen Fremdvölker zur Stärkung seiner eigenen Vorherrschaft zunutze zu machen wusste. Die Entschiedenheit und Durchschlagskraft, mit der die römische Justiz den aufgedeckten Schädigungsversuch der Zeichendeuter ahndet und Recht und Ordnung wieder herstellt, bestätigt ein solches Textverständnis. Dabei ist festzuhalten, dass sich nicht aus dem Rat zur Versetzung der Statue an sich,74 sondern erst aus dem dafür ausersehenen nachteiligen Standort die Betrugsabsicht der etruskischen Priester enthüllt. Die im Gelliuskommentar nicht näher kommentierte Romfeindlichkeit der haruspices erklärt sich für einen Leser, der mit der kanonischen Mythenversion des Livius vertraut ist. Daher scheint die Leerstelle indirekt auf diesen kanonischen Prätext zu verweisen – zumal sie ja auch gewissermaßen die chronologische Fortsetzung zum Liviustext bietet, der seine Cocles-Erzählung mit der Errichtung der Gedenkstatue beendet hatte. Laut Livius hatte Horatius Cocles das belagerte Rom gegen ein etruskisches Heer des Königs Porsenna verteidigt; die Wahrsager hätten demnach mit Rom noch eine Rechnung offen gehabt. Porsenna selbst war eine Figur, an die sich die Römer ungern erinnerten: Seine Rolle in der Geschichte wurde von den römischen Annalisten offenbar gezielt ‚schwarz gefärbt‘.75 Dieses in der Überlieferung vorgeprägte Feindbild könnte demnach in der von Gellius exzerpierten Textvorlage (siehe unten Abschnitt 6) auf die etruskischen Wahrsager übertragen worden sein. Welche Instanz wir uns letztlich als für die korrektive Wiederaufstellung der Statue am Volcanal verantwortlich zu denken haben, lässt die Erzählung offen. Jedoch darf man schließen, dass es sich um eine römische Autorität handeln muss. Dass die Götter den rituellen Sühneakt akzeptieren, ergibt sich aus ihrer verlässlichen Begünstigung von Roms künftigen Geschicken „seit diesem Zeitpunkt“ (ex quo) an. schätzung der etruskischen Haruspizin Cicero, De divinatione 2,28; De legibus 2,21. Hierzu auch Frier 1979, 59. 73  Besonders deutlich in Plinius’ Naturalis historia, siehe etwa die Einführung von Luxusgütern wie Ebenholz (12,20) oder Balsam (12,111) oder der Präsentation von exotischen Tieren, etwa des Flusspferds (8,70 f.) oder der ersten Giraffe (8,69) in Triumphzügen; ein Pendant aus dem Ende des 2. Jh. n. Chr. bieten die Deipnosophisten des griechischen Enzyklopäden Athenaios, siehe etwa zur Bewirtung der Gäste mit dem exotischen Vogel tetrax in Athenaios 9,398b–399a oder die Präsentation eines Gorgonenfells im stadtrömischen Herkulestempel, Athenaios 5,221 f.; vgl. auch das Plädoyer des römischen Gastgebers Larensis für einen konsequent am Nutzen (utile) ausgerichteten Genuss der imperialen Ressourcen (Athenaios 6,273e–f). 74  Zur gängigen Praxis von Statuenversetzungen Muth 2012, 22 f. 75  Sehlmeyer 1999, 91 f.

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5. Aitien für einen republikanischen Helden: Cocles im augusteischen Licht-Schattenspiel Wie glaubhaft ist nun aber die von Gellius vermittelte Erklärung zum Standort der Statue? Ein besonderer Charme seiner Erzählung liegt zweifellos in seiner Anschaulichkeit: Horatius Cocles wird dabei als eine Lichtfigur inszeniert, deren strahlenden Ruhm die etruskischen haruspices im ganz buchstäblichen Sinn zu ‚verschatten‘ suchten. Mit dem ursprünglichen Raum des alten comitium hat diese hübsche Geschichte allerdings kaum etwas zu tun. Denn die im Text imaginierte Topographie ist unmöglich mit den Gegebenheiten der mittleren Republik zur Deckung zu bringen.76 Damals war nämlich das comitium durch keinerlei Nachbarbauten eingeengt. Der perfide Vorschlag der etruskischen Zeichendeuter, die Statue an einen möglichst lichtarmen Standort zu versetzen, ergibt daher nur einen Sinn, wenn wir von der Gestalt des Areals im 1. Jahrhundert v. Chr. ausgehen. „Hohe Bauten“ (altae aedes), die auf den Versammlungsort unter freiem Himmel lange Schatten werfen könnten, sind nämlich erst seit Caesar mit der aufwändig renovierten Basilica Aemilia und der imposanten Curia Iulia an der nordwestlichen Ecke existent. Bereits die archäologischen Befunde legen daher nahe, dass das Aition um Licht und Schatten den Standort der Statue nachträglich, und zwar wohl aus augusteischer Sicht zu erklären sucht, weil dieser in eben jener Zeit nicht mehr verständlich war.77 Dieser Verständnisverlust hat bauliche und politische Gründe:78 Unter Sulla und Caesar war das alte comitium nicht nur räumlich drastisch beschnitten worden, sondern hatte damit faktisch auch seine politische Funktion vollständig eingebüßt. Folgerichtig wurde die Rednertribüne unter Caesar an die Westseite des Forums verlegt und in den folgenden Jahrzehnten zunehmend vom Kaiser und der Kaiserfamilie als deren Auftrittsraum vereinnahmt. Zudem scheint unter Augustus der Bestand an republikanischen Ehrendenkmälern radikal reduziert worden zu sein, um die Konkurrenz zu den neuen Kaiserstatuen zu minimieren. Die wenigen Ehrenmonumente, die diesen Schwund überlebten – darunter auch die Statue des Horatius Cocles – bezogen sich entweder auf Figuren der frühen Republik an oder führten – der Legende nach – die so gewürdigten Personen gar auf mythische Zeiten zurück. Sie waren durch diese zeitliche Ferne für den Princeps ungefährlich, ja konnten sogar als ehrwürdige Spuren der Vergangenheit für eine römisch-iulische ‚Nationalgeschichte‘ nutzbar gemacht werden. Mit ihrer Neuaufstellung am ortsnahen Volcanal wurde die Statue des Horatius Cocles aber nicht nur als ein besonders ehrwürdiges Relikt der Republik in den augusteischen Principat ‚hinübergerettet‘, sondern auch in einen neuen Erinne-

76 

So bereits Frier 1979, 62. Siehe Sehlmeyer 1999, 94 mit Anm. 294. 78  Zum Folgenden Muth 2012, 18–30. 77 

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rungskontext überführt.79 Denn auch das Volcanal erhielt in augusteischer Zeit eine neue Aura: Laut antiquarischen und historischen Gelehrtenaussagen deutete man das archaische Kultmal bald als mythisches Grab des Romulus, bald als das des Hirten Faustulus, der die ausgesetzten Zwillinge aufgefunden habe; wieder andere behaupteten, an diesem Ort sei der Held Hostus Hostilius, ein Zeitgenosse des Romulus, bestattet, der in einer Schlacht auf dem Forum gefallen sei.80 Genährt wurden solche gelehrten Spekulationen durch eine ortsnah aufgestellte Statue der römischen Wölfin81, einen Feigenbaum, der angeblich den mythischen Fundort der Zwillinge bezeichnete82, und eine Triumphquadriga, die Romulus persönlich geweiht haben sollte83. Die räumliche Nähe zwischen Cocles und diesen in augusteischer Zeit gezielt ins Bewusstsein gehobenen, um nicht zu sagen: neu erfundenen Romulusmalen dürfte weniger eine direkte Konkurrenz zwischen beiden Figuren befeuert als vielmehr eine win-win-Situation dargestellt haben. Denn die örtliche (wie semantische!) Nähe zu Romulus, dem exemplarischen Krieger und aitiologischen ‚Erfinder des Triumphs‘,84 konnte den Stellenwert des tapferen Schlachtkämpfers Cocles durchaus optimieren (der, wie oben bereits erwähnt,85 als bewaffneter Krieger dargestellt war) – so wie umgekehrt der Ruhm des republikanischen Helden auf den mythischen Stadtgründer zurückstrahlte. Gemeinsam vermittelten beide Vorbilder einem Forumsbesucher den Eindruck, dass Roms jahrhundertelanger Erfolg von ersten Anfängen an durch solch exemplarische Leistungsträger betrieben und garantiert wurde. Sowohl die aitiologische Struktur der Kleinerzählung als auch ihr teleologischer Ausblick, laut dem den Römern seit der von göttlicher Autorität bewilligten Umsetzung der Statue „alles zum Guten ausschlug“ (res bene et prospere populo Romano cessit), passt zur augusteischen Zeit. Denn die Geschichtsschreiber und Dichter dieser Epoche waren besonders produktiv in der Konstruktion von Aitien; und sie entwickelten ein neues, positives und zielgerichtetes Geschichtsmodell, das ganz auf den Princeps zugeschnitten war. Die Statue des Horatius Cocles scheint durch eine solche Wortwahl in eine assoziative Nähe zu den sakralen Unterpfändern (pignora) gerückt, die Roms Fortbestand garantierten.86 Sie 79 

Siehe Muth 2012, 32–34. Zu den verschiedenen Versionen Festus 184L; Dionysios von Halikarnass, Antiquitates 1,87,2 f.; 3,1,2. 81  Livius 10,23,12. 82 Plinius, naturalis historia 15,77; Tacitus, annales 13,58. 83  Dionysios von Halikarnass, Antiquitates 2,54,2. 84  Livius 1,10. 85  Abschnitt 3 mit Anm. 69. 86  Siehe Livius 5,52: „Was soll ich vom ewigen Feuer der Vesta und von dem Götterbild sagen, das als Unterpfand der Herrschaft im Schutz dieses Tempels aufbewahrt wird? Was von euren Schilden, Mars Gradivus und du, Vater Quirinus? Sollen all diese Heiligtümer, die so alt sind wie diese Stadt, zum Teil sogar noch älter, an ungeweihtem Ort zurückgelassen werden?“ Quid de aeternis Vestae ignibus signoque quod imperii pignus custodia eius templi tenetur loquar? Quid de ancilibus vestris, Mars Gradive tuque, Quirine pater? Haec omnia 80 

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hätte demnach einen ähnlichen Status wie das heilige Feuer der Vesta und die vom Himmel gefallenen Schilde des mythischen Friedenskönigs Numa erlangt; wohl nicht von ungefähr setzt der unmittelbar anschließende Kommentar in den Attischen Nächten (4,6) mit den Schilden des Numa ein und stellt damit eine Verbindung zur Cocles-Geschichte her.87 Vor diesem Hintergrund erhält nun der folgende Erzählpassus des Gelliuskommentars zu Horatius Cocles eine besondere Brisanz und Ambiguität, die erneut die Frage nach konkurrierenden Autoritäten – und diesmal im Spannungsfeld von Religion und Bildung – ins Spiel bringt.

6. ‚Hüter der Geschichte‘ oder charmante Erzählung? Die Autorität der Bücher und Gelehrten Die Geschichte um Cocles ist mit der erfolgreichen Statuenversetzung noch nicht zu Ende erzählt. Gellius erweitert nämlich seine Erzählung – einigermaßen überraschend – um ein zweites Aition, das mit der Statuengeschichte eher locker mit einem „damals also“ (tum igitur) verknüpft ist. Dieses zweite Aition erlaubt dann einen gleitenden Übergang zum Nachspann, in dem sich der Erzähler erstmals dezidiert als antiquarischer Forscher und wissenschaftlicher Gelehrter zu erkennen gibt: Tum igitur, quod in Etruscos haruspices male consulentis animadversum vindicatumque fuerat, versus hic scite factus cantatusque esse a pueris urbe tota fertur: malum consilium consultori pessimum est. Ea historia de aruspicibus ac de versu isto senario scripta est in annalibus maximis, libro undecimo, et in Verri Flacci libro primo rerum memoria dignarum. „Damals also soll, weil man gegen die etruskischen Zeichendeuter eingeschritten war und sie bestraft hatte aufgrund ihres falschen Rates, dieser Vers von den Knaben kundig gedichtet und in der ganzen Stadt gesungen worden sein: „Ein übler Rat ist für den Ratgeber am übelsten“. Diese Erzählung von den Zeichendeutern und diesem Vers im iambischen Senar ist verzeichnet in den Annales maximi im elften Buch und im ersten Buch der Denkwürdigen Begebenheiten des Verrius Flaccus.“88

Dass die Erzählung erst mit diesem Nachtrag ihr Ende findet, macht Gellius in einer Ringkomposition deutlich, indem er mit der Ortsangabe „in der ganzen Stadt“ (urbe tota) nochmals auf den Beginn seiner Erzählung „in Rom auf dem in profano deseri placet sacra, aequalia urbi, quaedam vetustiora origine urbis? Vgl. Vergil, Aeneis 8,663–666. 87  Beide Kommentare sind thematisch eng miteinander verzahnt: Sie weisen beide auf Roms myth-historische Vorzeit zurück und betonen die militärische virtus als römische Kerntugend, auf welcher der Fortbestand des Weltreichs gründet; und sie berichten beide von einem prodigium, das rituell geheilt wurde. Zur linearen Lektüre der Noctes Atticae und deren gezielter Lancierung durch den Autor siehe Beer 2020, Kapitel 2.1.2. 88  Noctes Atticae 4,5,5–6.

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comitium“ (Romae in comitio) zurückgreift. Der „kundig erdichtete Spottvers“ (versus scite factus) der Knaben lässt sich als ein verkapptes Aition für ein Sprichwort lesen, das, wie mehrere Parallelzeugnisse belegen,89 im ersten Jahrhundert zum geflügelten Wort geworden war und nun mit der Erzählung um die etrus­ kischen Zeichendeuter verknüpft wird. Eine gewisse Skepsis gegenüber dieser Erklärung ist zweifellos angebracht und wird m.E. auch von Gellius selbst durch seine Bezeichnung solch subliterarischer ‚Gassenhauer‘ als „kundige Dichtung“ gezielt genährt. Umso mehr gewinnt vor diesem Hintergrund der letzte Abschnitt des Texts an Bedeutung, in dem hinter dem Erzähler der Autor Gellius Gestalt annimmt. Dieser geht augenscheinlich ganz in der Rolle des idealen Gelehrten auf, der seinem Leser stets genau und verlässlich über die benutzten Quellen in Kenntnis setzt. Auf den zweiten Blick wirft aber nicht nur die Zitierpraxis, sondern auch die damit verknüpfte Strategie der Beglaubigung Fragen auf. Denn Gellius führt zwei typologisch denkbar gegensätzliche Autoritäten als Kronzeugen für seine Cocles-Geschichte ins Feld. Bei den Annales maximi handelt es sich – so behauptet jedenfalls kein geringerer als Cicero – um das Erstwerk der römischen Geschichtsschreibung, nämlich um die uralte, bis in die myth-historische Vergangenheit zurückreichende Jahreschronik der römischen Oberpriester, der pontifices: erat enim historia nihil aliud nisi annalium confectio, cuius rei memoriaeque publicae retinendae causa ab initio rerum Romanarum usque ad P. Mucium pontificem maximum res omnis singulorum annorum mandabat litteris pontifex maximus referebatque in album et proponebat tabulam domi, potestas ut esset populo cognoscendi, eique etiam nunc annales maximi nominantur. Hanc similitudinem scribendi multi secuti sunt, qui sine ullis ornamentis monumenta solum temporum, hominum, locorum gestarumque rerum reliquerunt. „Geschichtsschreibung war (scil. zu Anfang an) ja nichts anderes als die Abfassung von Jahreschroniken. Zu diesem Zweck und um das Andenken an öffentliche Angelegenheiten zu bewahren, schrieb vom Beginn der römischen Geschichte bis hin zum Oberpriester P. Mucius (Scaevola) der Oberpriester sämtliche Ereignisse des jeweiligen Jahres auf und stellte sie auf einer weißen Tafel bei seinem Haus aus, damit das Volk sich informieren konnte; und diese Aufzeichnungen nennt man heute noch „Haupt-Chroniken“. Diesem Modell der Darstellung haben sich viele angeschlossen, die ohne irgendeine Ausschmückung nur die Erinnerung an Daten und Personen, Schauplätze und Begebenheiten überlieferten.“90

Ciceros Aussage ist zu entnehmen: Die Autorität dieses ehrwürdigen religiösen Archivs war enorm, die dort enthaltenen Informationen von höchstmöglicher religiöser Instanz, dem pontifex maximus, persönlich verbürgt.91 Sowohl die angeb-

62.

89 Varro,

De re rustica 3,2,1; Sallust, Historiae 1,74. Zum Sprichwortcharakter Frier 1979,

De oratore 2,52 f. Übersetzung in Anlehnung an Merklin 1976. Zur engen Verknüpfung der annales maximi mit der auctoritas des pontifex maximus

90 Cicero, 91 

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lich jahrhundertelange öffentliche Publikation dieser Jahreschroniken als auch ihre emphatische Überhöhung zu einer allumspannenden Gesamtchronik Roms machen deutlich: Cicero stilisiert die Annales maximi zu einem Erinnerungsort par excellence, anhand dessen sich die Stadtrömer ihrer kollektiven Identität durch persönliche Lektüre stets vergewissern konnten. Eine größere religiöse, ideologische und geschichtliche Autorität scheint demnach kaum möglich. Ungeachtet der herausragenden symbolischen Stellung, die Cicero diesem ehrwürdigen Geschichtsdokument zuschreibt, beurteilt er dann aber die literarische Qualität dieser Akten als höchst defizitär: Da die Chronik allein ein dürres Gerüst von Namen, Daten und Fakten enthalte, scheint sie – legt man die Kategorien eines versierten Rhetors und Stilisten wie Cicero an – in hohem Maße antiquiert und aus der Zeit gefallen. Als Maßstab für eine moderne, gehobenen Leseransprüchen genügende Annalistik, wie sie der augusteische Historiker Livius vertreten wird, scheint sie demnach völlig ungeeignet.92 Umgekehrt waren aber offenbar gerade die evidenten sprachlichen Mängel dazu angetan, den Annales maximi eine Patina des Alters zu verleihen, die – gemeinsam mit der priesterlichen Urheberschaft – den Symbolwert dieses Archivs nochmals in die Höhe trieb. Gellius wird mit seiner Quellenangabe allerdings nicht die ursprünglichen Aufzeichnungen auf einer geweißten Tafel, sondern deren achtzigbändige Textausgabe meinen, die sich mutmaßlich auf Scaevola zurückführen und damit in das letzte Drittel des 2. Jahrhunderts v. Chr. datieren lässt.93 Dieser Entstehungszeitraum bedeutet nun aber auch, dass die Annales maximi nur einen kleinen Anteil der von Gellius referierten Geschichte enthalten konnten: Wie im letzten Abschnitt gezeigt, ist der Betrugsversuch der haruspices mit einer erstrebten ‚Verschattung‘ der Statue erst für das späte 1. Jahrhundert v. Chr., also nach der weitgehenden Überbauung des comitium, plausibel zu machen. Die Pontifikalchroniken können daher nur einen älteren Geschichtskern enthalten haben: Dieser mag vom Blitzschlag in die Statue und einem anschließenden Sühnungsverfahren berichtet haben.94 Der Großteil der Erzählung – d.h. die gesamte Episode um die haruspices inklusive des Aitions zum Spottvers der Knaben – ist dagegen Gellius’ zweiter Quellenangabe zuzuschreiben, da diese in die augusteische Zeit datiert. Dazu passt auch der anekdotische Duktus der Erzählung. Denn bei den Denkwürdigen Begebenheiten des Verrius Flaccus handelt es sich um ein Sammelwerk, in dem der augusteische Antiquar verschiedenstes mehr oder minder historisches Material zur belehrenden Unterhaltung seiner Leserschaft zusammengetragen hatte.95 Ein Feldherr 2003, 199 f.; zur sakralen und politischen Dimension der Pontifikalannalen und ihrer Aufstellung Rüpke 2012, 53–58. 92  Zu Ciceros Konzept einer literarisch geformten Geschichtsschreibung grundlegend Feldherr 2003. 93  Zur Datierung Rüpke 2012, 56. 94  So bereits Frier 1979, 66. 95  Frier 1979, 40.

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solches Werk kann demnach kaum – oder jedenfalls kaum primär – durch seine historische Autorität – punkten; umso mehr befriedigt es aber die Ansprüche eines literarisch gebildeten Publikums und steigert durch seine gefällige Gestaltung die Leselust. Die Denkwürdigen Begebenheiten des Verrius Flaccus dürften damit Gellius’ eigener Präferenz einer neuen Form von Geschichtsschreibung nahe gekommen sein: Diese versteht sich selbstbewusst nicht mehr als Fortsetzung, sondern als zeitgemäße Alternative zur republikanischen Geschichtstradition.96 Angesichts einer solchen Affinität des Gellius für eine ‚belletristische‘ Form von Geschichtsschreibung, wie sie Verrius pflegt, stellt sich unweigerlich die Frage, warum er dann überhaupt noch die literarisch offenkundig antiquierten Annales maximi als gleichberechtigen Kronzeugen und sogar noch vor Verrius anführt. Meiner Meinung nach ist dieses Verfahren nicht zuletzt als ein strategischer Schachzug zu werten, mittels dessen der antoninische Buntschriftsteller für sein eigenes Werk sowohl die unstrittige Autorität eines ‚nationalrömischen‘, bis in Roms myth-historische Urzeit zurückreichenden Gedächtnisspeichers der Priesterchroniken als auch den erzählerischen Charme einer zeitgemäßen Geschichtsschreibung in belletristischer Manier in Anspruch nehmen kann. Gellius sieht aber seine literarische Leistung mit der Verschmelzung verschiedener historiographischer Traditionen noch mitnichten erschöpft. Denn wie sich in einem letzten Teilschritt zeigen wird, versteht er sich offenkundig zuerst und vor allem als ein antiquarischer Wortgelehrter, der seinem Leser seine jahrelang gefertigten literarischen Exzerpte und Textrecherchen wie eine Schatztruhe präsentiert.

7. Das Beste kommt zum Schluss, oder: vom ‚Ortsgedächtnis‘ zum ‚Wortgedächtnis‘ Dass Gellius in unserem Kommentar in der Tat auch eine eigene Agenda verfolgt, tritt allerdings erst zutage, wenn wir die paratextuellen ‚Ränder‘ der Erzählung in unsere Überlegungen miteinbeziehen. Blicken wir zunächst auf die Überschrift, die unserem Kommentar vorgeschaltet ist:

96  Anderson 1994, 1845–1848; Pausch 2004, 229–232. Aufgrund des antiquarischen Charakters von Verrius’ ‚belletristischem‘ Sammelwerk ist es zudem nicht unwahrscheinlich, dass es seinerseits bereits einen Verweis auf die Annales maximi enthielt. In einem solchen Fall lässt sich nicht einmal mehr ausschließen, dass Gellius nur die Schrift des Verrius Flaccus benutzte und von dort auch den Quellenverweis auf die Annales maximi übernahm: So postuliert von Frier 1979, 40. Siehe aber zur Kritik an der ‚Einquellentheorie‘ Holford-Strevens 2003, 72–80.

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Historia narrata de perfidia aruspicum Etruscorum; quodque ob eam rem versus hic a pueris Romae urbe tota cantatus est: „Malum consilium consultori pessimum est.“ „Eine erzählte Geschichte über die Unredlichkeit etruskischer Zeichendeuter; und dass wegen dieses Vorfalls folgender Vers von den Knaben in der ganzen Stadt Rom gesungen wurde: „Ein böser Rat ist für den Ratgeber am schädlichsten.“

Die Überschrift hält für uns, die wir den folgenden Haupttext des commentarius ja bereits kennen, zunächst eine Überraschung bereit: Die Statue des Horatius Cocles – d.h. das ehrwürdige Denkmal, an dem sich jahrhundertelang der Exempelcharakter dieses myth-historischen Freiheitshelden vor der gesamten stadtrömischen Öffentlichkeit dokumentierte und das sogar die funktionale ‚Entmachtung‘ des comitium überstand – wird dort mit keinem Wort erwähnt! Ausgerechnet der Hauptgegenstand des Kommentars ist damit plötzlich in Frage gestellt: Geht es Gellius am Ende womöglich gar nicht primär um die denkwürdige Geschichte dieser Statue, sondern vielmehr um die aitiologische Erklärung eines Sprichworts?97 Bemerkenswert ist weiterhin, dass sich in der Überschrift erstmals „die ganze Stadt Rom“ (Romae urbe tota) als maßgeblicher Referenzpunkt für die folgende Erzählung konstituiert. In diesen umfassenden Erinnerungsraum wird dann erst in einem zweiten Schritt, mit der Eröffnung des Haupttexts, das comitium als ein geschichtsträchtiger Zentralort eingetragen (Romae in comitio); aus diesem entspringen dann am Ende der Erzählung die Spottverse auf die etruskischen haruspices, die „in der ganzen Stadt herumgetragen“ (urbe tota fertur) zu werden. Der Denkspruch schlägt demnach – jedenfalls was seinen räumlichen Radius betrifft – die ortsfixierte Gedenkstatue des Horatius Cocles um Längen! Zu den in den vorherigen Abschnitten diskutierten Autoritätskonkurrenzen tritt demnach nun auch noch eine mediale Ebene hinzu, nämlich der Streit um die jeweilige Strahlkraft von Bild und Text. Dass Gellius dem gesungenen Vers in der Tat eine besondere Bedeutung beimisst, wird bereits daraus ersichtlich, dass er ihn in ein und demselben, relativ kurzen commentarius gleich mehrfach in vollem Umfang zitiert. Er bildet nämlich nicht nur den äußeren Rahmen, der die anekdotische Erzählung am Anfang und Ende einfasst; vielmehr kommt der Erzähler noch ein drittes Mal im allerletzten Satz auf eben diesen Spottvers zurück, d.h., nachdem er schon seine beiden historischen Quellen zu der Cocles-Erzählung genannt hat:

97  Auch andernorts zeigt Gellius Interesse an literarischen Denksprüchen und Sprichworten, siehe Noctes Atticae 17,14 (Sinnsprüche des Publilius Syrus). Vgl. auch Noctes Atticae 1,24 (literarische Grabepitaphe auf die republikanischen Dichter Naevius, Plautus und Pacuvius, siehe hierzu Vessey 1994, 1883 f.). Wie zudem Anderson 1994, 1846 f. betont, sind auch und gerade die erzählenden Exzerpte in den Noctes Atticae bemerkenswert oft aus dem konkreten Interesse an einem bestimmten Einzelwort oder Begriff motiviert.

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Videtur autem versus hic de Graeco illo Hesiodi versu expressus: ἡ δὲ κακὴ βουλὴ τῷ βουλεύσαντι κακίστη. „Es scheint aber dieser Vers eine Übertragung des berühmten Hesiodverses zu sein: „Der schlechte Rat ist für den Ratgeber am schlechtesten.“98

Die Randposition dieses dritten Zitats rückt den Vers in die Nähe eines kommentierenden Paratexts; seine exponierte Schlussstellung legt nahe, dass Gellius hier nicht mehr seine exzerpierten Quellen wiedergibt, sondern vielmehr das Ergebnis seiner eigenen Recherchen präsentiert.99 Und dabei erfährt nun der Spottvers, der in der Überschrift zunächst nur als ein subliterarischer Gebrauchstext eingeführt wurde, eine höchst überraschende Nobilitierung. Der scheinbar ganz aus dem aktuellen Ereignis heraus erschaffene Vers enttarnt sich nämlich im allerletzten Satz als Übersetzung eines griechischen Sprichworts.100 Und dieses geht auf keinen Geringeren als Hesiod zurück, d.h. auf eine erstrangige literarische Größe, die Gellius selbst an anderer Stelle101 als „weisesten der Dichter“ (poetarum prudentisssimus) würdigt. Nachdem die aitiologische Erzählung dem Leser also zunächst ein Schaufenster auf den städtischen Erinnerungsort ‚Rom‘ eröffnet und dann den Blick auf das republikanische comitium als einen besonders denkwürdigen Geschichtsraum fokussiert hat, ergänzt Gellius diese konsequent romzentrierte Perspektive nun im Appendix um einen zusätzlichen Referenzpunkt im alten Griechenland. Mit dieser räumlichen Weitung wird zugleich auch der zeitliche Rückblick auf die Gründungsjahre der frühen Republik (kurz nach 510 v. Chr.) nochmals um rund 200 Jahre verlängert. In letzter Instanz ist es demnach allein dem antiquarischen Forscher und Sammler Gellius zu verdanken, dass sich dem zeitgenössischen Leser die volle inhaltliche und literarische sowie räumliche und zeitliche Dimension des exzerpierten Sinnspruchs erschließt. Durch die Blume betreibt Gellius mit diesem Kommentarschluss also auch Werbung in eigener Sache: Im Werkvorwort hat er bereits  98  Vgl. Hesiod, Erga 265, dort im Rahmen einer eindringlichen Ermahnung des Sprechers an die Herrscher, sich an das geltende Recht zu halten und sich nicht zu krummen Abwegen verführen zu lassen, da das Auge des Zeus alle Untaten sehe. Dies passt damit thematisch bemerkenswert gut zur Ahndung des Rechtsbruchs durch die etruskischen Zeichendeuter.  99  Endgültig beweisen lässt sich diese Zuschreibung an Gellius nicht; sie entspricht aber seiner in den Noctes Atticae vielfach angewandten Praxis, am Ende eines Kommentars seine eigenen Nachrecherchen zum erörterten T hema zu präsentieren, siehe exemplarisch Noctes Atticae 2,22,27–31 oder Noctes Atticae 18,7,8 f. 100  Damit bestätigt unser commentarius den Bilinguismus der antoninischen Kaiserzeit, der sich in zahlreichen Einträgen der Noctes Atticae niederschlägt – sei es in den allgegenwärtigen Übersetzungsvergleichen oder Kombinationen griechischer und römischer Dichtungsexzerpte, oder auch in komparatistischen Wortuntersuchungen: siehe Swain 2004, 28–40; Heusch 2011, 205–229. 101  Noctes Atticae 1,15,14.

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ganz explizit auf seine Rechercheleistung verwiesen, mit denen er in langen attischen Nächten zahllose griechische wie römische Schriften auf alles Wissenswerte hin durchforstet und exzerpiert hat. Aus diesen Studien ist dann ein Sammelwerk hervorgegangen, das der Autor programmatisch als eine „Vorratskammer des Wissens“ (penus litterarum) beschreibt.102 Gellius prägt damit eine einprägsame Metapher für einen genuin literarischen Gedächtnisspeicher,103 der – anders als die topographischen Erinnerungsorte ‚Athen‘ und ‚Rom‘ – nicht mehr mit Personen und Monumenten, sondern zuerst und vor allem mit denkwürdigen Worten und Zitaten bestückt ist.104 Zudem deutet Gellius durch seinen doppelten Quellenverweis an, dass der Leser seine Attischen Nächte als einen sprachlich erzeugten Erinnerungsort wertschätzen kann, der eine bessere, da an ‚heutigen‘ Erzählansprüchen orientierte Alternative sowohl zu der 80–bändigen Ausgabe der Annales maximi als auch zu den Sammelwerken der spätrepublikanischen und frühaugusteischen Antiquare (man denke neben Verrius an die 41–bändigen Antiquitates humanarum et divinarum des Enzyklopäden M. Terentius Varro105) bieten kann.

102  Zu der in der Forschung vielkommentierten Stelle Gunderson 2009, 21 f.; Beer 2014, 52–55. Siehe auch Gunderson 2009, 74–79 und Keulen 2009, 87–94 zu Noctes Atticae 4,1, in dem – in unausgesprochenem, aber unverkennbaren Rückbezug auf das Werkvorwort – das Bedeutungsspektrum des Begriffs penus im gelehrten Expertengespräch erörtert wird. 103  Zu weiteren Raummetaphern, die den Erinnerungsakt anschaulich machen, siehe Assmann 1999, 158–162. 104  Wie in der Gelliusforschung bereits vielfach vermerkt, nehmen in den Noctes Atticae etymologische, grammatische und philolologische Wort- und Begriffsuntersuchungen einen besonders breiten Raum ein: siehe exemplarisch Anderson 1994, 1841–1845; Holford-Strevens 2003, 172–240; Garcea / Lomanto 2004; Cavazza 2004. 105 Varros Antiquitates werden von Cicero (Academica 1,3) als ein exemplarischer ‚Erinnerungsort‘ gepriesen: „Deine Bücher haben uns in unserer Vaterstadt, in der wir wie Fremdlinge umherirrten, erst heimisch gemacht, so dass wir endlich erkennen konnten, wer und wo wir sind; du hast uns das Alter unserer Vaterstadt, die Chronologie, die Rechtsverhältnisse von Kultus und Priesterschaft, die Regelungen für Kriegs- und Friedenszeit erhellend dargelegt; von Ortschaften, Gegenden und Plätzen, von schlechthin allen die Götter und Menschen angehenden Dingen hast du die Bezeichnungen, Arten, Funktionen sowie die tieferen Ursachen klargemacht.“ (nam nos in nostra urbe peregrinantis errantisque tamquam hospites tui libri quasi domum deduxerunt ut possemus aliquando qui et ubi essemus agnoscere. tu aetatem patriae tu descriptiones temporum tu sacrorum iura tu sacerdotum tu domesticam tu bellicam disciplinam, tu sedum regionum locorum tu omnium divinarum humanarumque rerum nomina genera officia causas aperuisti). Den engen Konnex zwischern dem stadtrömischen Raum und dem antiquarischen Werk hebt auch schon Walter 2004, 175 hervor. Zu Varro als einem Höhepunkt antiquarischen Schreibens, zu seiner herausragenden Wirkmacht und seinem Einfluss auf Gellius siehe Stevenson 2004.

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Tradition, Kompetenz und Charisma Streiflichter auf das Spannungsfeld von Autorität und Bildung in spätantiken Religionskulturen

Peter Gemeinhardt* 1. Götterverehrer und Jesusjünger: Kaiser Julians antichristliche Schulreform Die griechischen und römischen Schulen von der frühen Kaiserzeit bis zum Ausgang der Spätantike folgten einem Lehrplan, der über Jahrhunderte hinweg konstant blieb, und zwar ohne dass es dafür einer Stabilisierung durch Kultusminister oder Schulämter bedurft hätte.1 Mit Niklas Luhmann kann man sie als „autopoietisches System“ bezeichnen, das seine Plausibilität im Vollzug vermittels „zirkulärer Selbstreproduktion“ generierte.2 Das brachte es mit sich, dass sich die Akteure der antiken Schulen üblicherweise jeder Innovation verweigerten und auf die normative Kraft der Tradition setzten. Umso interessanter ist es, wo aus Gründen der Qualitätssicherung direktives Handeln von „ganz oben“ geboten schien. Zu den seltenen Zeugnissen staatlicher Bildungspolitik gehört ein Edikt Kaiser Julians vom 17. Juni 362: „Schulmeister und Professoren müssen sich in erster Linie durch ihre Sitten, sodann durch ihre Redekunst auszeichnen. Weil ich aber nicht persönlich in allen Gemeinden anwesend sein kann, ordne ich an, dass jeder, der sich als Lehrer betätigen will, sich nicht auf der Stelle und ohne weiteres auf diesen Beruf verlegen darf, sondern durch einen Ratsbeschluss anerkannt sein muss und ein Dekret der Ratsherren mit einstimmigem Votum der Vornehmsten unter ihnen zu erlangen hat. Dieses Dekret wird mir nämlich zur Bearbeitung vorgelegt werden, damit sie durch unsere Bestätigung mit erhöhtem Ansehen in die Schulen der Gemeinden eintreten können.“3 *  Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen des von der DFG geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ (Universität Göttingen), Teilprojekt C 04 „Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft“. Für kritische Lektüre danke ich Frau Dorothee Schenk. 1  Hierzu vgl. Vössing 2003 und jetzt Vössing 2019. 2  Luhmann 1989, 161; vgl. ebd.: „Die Autopoiesis ist die geschlossene (zirkulierende) Reproduktion des Systems durch sich selbst; sie läuft ab oder hört auf.“ 3  Codex T heodosianus XIII 3,5 (741 Mommsen): Magistros studiorum doctoresque excellere oportet moribus primum, deinde facundia. Sed quia singulis civitatibus adesse ipse non

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Wer Unterricht erteilen wollte, musste also ein bestimmtes Qualifikationsprofil erfüllen und eine Autorisierung durch die kommunale Führungsschicht sowie – das ist entscheidend – durch den Kaiser selbst erlangen. Das Dekret zielte auf eine Überprüfung von mores et facundia, Lebensführung und Kompetenz, also auf eine doppelte Qualifikation angehender Lehrer. Einfach eine Schule aufzumachen und auf Zulauf von (idealiter sowohl motivierten als auch zahlungskräftigen) Schülern zu hoffen – das sollte es fortan nicht mehr geben. Das „Rhetorenedikt“ war aber mehr als nur eine schulreformerische Maßnahme. Es barg in sich auch eine religionspolitische Initiative.4 Das Edikt selbst konzentrierte sich auf die Qualifikation der Lehrkräfte und fand später in die Rechtscorpora der christlichen Kaiser T heodosius II. (408–450) und Justinian (527–565) Eingang.5 Aber die in einem Begleitschreiben gebotene Deutung durch den Kaiser selbst lässt tiefer blicken. Lehrer waren für Julian demnach „Erklärer des Schrifttums der Alten“, damit aber „nicht nur Lehrer sprachlicher Stilgesetze, sondern auch sittlicher Grundsätze“. Ein Grammatiker oder Rhetor vermittelte in dieser Sicht also nicht nur Kompetenz in Bezug auf das Exegesieren und Komponieren von Texten, sondern auch und vor allem eine affirmative Haltung gegenüber dem Lehrstoff, der eben eine tausendjährige Tradition der Zivilreligion verkörperte. Darum galt für Julian: „Wer seine Schüler anderes lehrt, als er denkt, scheint mir von Bildung ebenso weit entfernt zu sein wie von der Wesensart eines redlichen Mannes.“6

Von einem Lehrenden war also Loyalität gegenüber seinem Gegenstand gefragt, um überzeugend zu wirken. Nur ein sittlich und politisch verlässlicher Mann sollte Lehrer werden dürfen. Auch das war nicht völlig neu: Unter lateinischen Autoren kursierte das geflügelte Wort des älteren Cato, ein freier Mann sei ein vir bonus, dicendi peritus, d.h. ihm eigne nicht nur Redegewandtheit, sondern ein ethisch und politisch einwandfreier Habitus.7 Auch hier wurde also rhetoripossum, iubeo, quisque docere vult, non repente nec temere prosiliat ad hoc munus, sed iudicio ordinis probatus decretum curialium mereatur optimorum conspirante consensu. Hoc enim decertum ad me tractandum referetur, ut altiore quodam honore nostro iudicio studiis civitatum accedant. Übers. Fiedrowicz 2004, 126. Vössing 2014, 332 weist darauf hin, dass dieses Edikt die erste generelle Maßnahme der römischen Obrigkeit in Bildungsfragen seit dem Zensorenedikt des Jahres 91 v. Chr. war, das „professionelle Redelehrer und ihren rein auf die rhetorische Technik konzentrierten Unterricht eindämmen wollte“; vgl. Sueton, De grammaticis et rhetoribus 25,1 (28,3–13 Brugnoli). 4  Das ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Einblicke in die Debattenlage bietet Gemeinhardt 2007, 352–354. Eindeutig für eine antichristliche Stoßrichtung optierte jüngst (mit guten Gründen) Vössing 2014, 339. 5  Mit Ausnahme des letzten Satzes wurde der in Anm. 3 zitierte Text aus dem Codex T heodosianus in Codex Iustinianus X 53,7 (CIC II, 666 Krüger) übernommen. 6 Julian, Epistula 61c (422B Bidez/Cumont): ῞Οστις οὖν ἕτερα μὲν φρονεῖ, διδάσκει δὲ ἕτερα τοὺς πλησιάζοντας, αὐτὸς ἀπολελεῖφθαι δοκεῖ τοσούτῳ παιδείας, ὅσῳ καὶ τοῦ χρηστὸς ἀνὴρ εἶναι. Übers. Weis, 177 (hier gezählt als Epistula 55). 7 Cato, Ad filium fr. 14 (80,1 Jordan): Orator est, Marce fili, vir bonus, dicendi peritus. Cato wird zitiert bei Quintilian, Institutio oratoria XII 1,1 und 12,11 (II 684; 792 Rahn) sowie pa-

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sche Kompetenz mit moralischer Integrität verbunden. Nach Quintilian hing die glaubwürdige Darlegung eines Falles vor Gericht – der rhetorische Arbeitsschritt der narratio – wesentlich von der narrantis auctoritas, dem „persönlichen Ansehen des Erzählers“, ab, „das wir uns vor allem zwar durch unsere Lebensführung verdienen, jedoch gerade auch durch die Art, wie wir reden; je würdiger und feierlicher diese ist, umso mehr muß sie zwangsläufig bei persönlichen Versicherungen an Gewicht haben.“8

Entsprechend wurde in einer kaiserzeitlichen Grabinschrift der achtzehnjährig verstorbene Nordafrikaner M. Antonius Faustianus Nepos Principinus als „versehen mit besonders starker Loyalität (pietas), berühmt an Sitten (mores) und Geisteskraft (ingenium)“, aber eben auch als „in der Redekunst erfahren (dicendi peritus)“ gelobt.9 Neu war hingegen, dass Julian Sittlichkeit und Moral ausdrücklich zu religiöser Loyalität in Beziehung setzte. Für die angemessene Haltung eines Lehrers gab es, so führt der zitierte Brief weiter aus, Vorbilder aus der normativen Vergangenheit, die mit den Standardautoren des Grammatik- und Rhetorikunterrichts seit hellenistischer Zeit identisch waren: „Für Homer und Hesiod und Demosthenes und Herodot und T hukydides und Isokrates und Lysias waren die Götter Führer zu jeglicher Bildung […] Ein Unding ist es deshalb nach meiner Auffassung, daß die Interpreten ihrer Werke den von ihnen verehrten Göttern die Ehre verweigern.“10

Von wem man die kunstgerechte Beherrschung der Sprache lernte, von dem lernte man auch die angemessene Gottesverehrung – und umgekehrt: Wer nicht auch Homers Göttern die gebührende Reverenz erwies, ließ die religiöse Ehrfurcht vermissen, die für Julian die Bedingung einer erfolgreichen Vermittlung des traditionellen Lernstoffs war, der nicht nur Grammatik und Rhetorik, sondern auch Religion (als intellektuell unterfütterte Götterverehrung) umfasste. Zu den Göttern führt der Weg über die Autoren der Schultexte, und eben diese Texte erschließen die gegenwärtigen Multiplikatoren von Bildung. Aus dieser Tradition auszuscheraphrasiert in I praef. 9 (I 6 Rahn): Oratorem autem instituimus illum perfectum, qui esse nisi vir bonus non potest […].  8 Quintilian, Institutio oratoria IV 2,125 (I 184 Rahn): Ne illud quidem praeteribo, quantam adferat fidem expositioni narrantis auctoritas, quam mereri debemus ante omnia quidem vita, sed et ipso genere orationis: quod quo fuerit gravius ac sanctius, hoc plus habeat necesse est in adfirmando ponderis. Übers. aaO. 185. Vgl. zur Autorität des Rhetors in römischer Sicht Kany 2009a, 443 f.  9  Corpus inscriptionum Latinarum VIII 12159 (Agger, Byzacena, 2. Jh. n. Chr.): „insigni piaetate praeditus, | moribus et ingenio clarus, | acceptus patriae, dicen|di peritus, his cum sum|mo honore parentium | dilectus“; dazu Vössing 1997, 117–119. 10 Julian, Epistula 61c (423A B./C.): ῾Ομήρῳ μέντοι καὶ ῾Ησιόδῳ καὶ Δημοσθένει καὶ ῾Ηροδότῳ καὶ Θουκυδίδῃ καὶ ᾿Ισοκράτει καὶ Λυσίᾳ θεοὶ πάσης ἡγούνται παιδείας… ῎Ατοπον μὲν οἶμαι τοὺς ἐξηγουμένους τὰ τούτων ἀτιμάζειν τοὺς ὑπ᾿ αὐτῶν τιμηθέντας θεούς. Übers. Weis, 179.

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ren warf Julian nicht in dem Edikt, aber in seinem Brief unzweideutig den Christen vor: „Halten sie aber die für Weise, deren Interpreten sie sind und als deren Propheten sie sozusagen thronen, dann sollen sie zuerst ihrer Ehrfurcht vor den Göttern nacheifern; nehmen sie hingegen von ihnen an, daß sie in ihrer Auffassung von den verehrungswürdigen Wesen geirrt haben, dann sollen sie in die Kirchen der Galiläer gehen, um den Matthäus und Lukas auszulegen, deren Weisung folgend euer Gesetz die Teilnahme am Opfermahl untersagt.“11

Man kann, so ließe sich Julians Position zuspitzen, als Lehrer nur „Hellene“ oder Christ sein und muss sich daher zwischen der Autorität des einen oder des anderen literarischen Corpus entscheiden, damit aber auch zwischen zwei religiösen Affiliationen.12 Homer, Hesiod, Demosthenes und die anderen sind eben nicht nur sprachlich-rhetorische, sondern auch religiöse Autoritäten, deren Autorisierung wiederum die Schullehrer zu „Propheten“ macht. Das bedeutet dann aber, dass die Lehrer von niemand anderem als den Göttern höchstselbst in Dienst genommen werden und entsprechend auf die Schüler einwirken müssen. Man kann sogar von einer dezidiert „heidnischen“ Bildungspolitik sprechen.13 Julian stellte Bildung und Religion in einen untrennbaren Zusammenhang, den er mit kaiserlicher Autorität sanktionierte. Homer und Hesiod – oder Matthäus und Lukas: Das sollte fortan die Gretchenfrage sein.14 Julians religionspolitische Initiative blieb durch seinen baldigen Tod auf einem Feldzug gegen die Perser weitgehend folgenlos.15 Die literarischen Entgegnungen 11 Julian, Epistula 61c (423D): ᾿Αλλ᾿ εἰ μὲν οἴονται σοφοὺς ὧν εἰσιν ἐξηγηταὶ καὶ ὧν ὥσπερ προφῆται κάθηνται, ζηλούτωσαν αὐτῶν πρῶτον τὴν εἰς τοὺς θεοὺς εὐσέβειαν· εἰ δὲ εἰς τοὺς τιμιωτάτους ὑπολαμβάνουσι πεπλανῆσθαι, βαδιζόντων εἰς τὰς τῶν Γαλιλαίων ἐκκλησίας ἐξηγησόμενοι Ματθαῖον καὶ Λουκᾶν, οἷς πεισθέντες ἱερείων ὑμεῖς ἀπέχεσθαι νομοθετεῖτε. Übers. Weis, 179. 12  Vgl. dazu Stenger 2009, 22–34.95–110; zum Versuch verschiedener Autoren des 4. Jahrhunderts, eine kollektive, auf „heidnische“ Religion gegründete Gruppenidentität zu konstruieren, vgl. aaO. 69–94; zu den Zielen von Julians Religionspolitik in Bezug auf strukturelle und personelle Maßnahmen vgl. Wiemer 2017. 13  Das problematische Begriffsfeld „heidnisch / Heide“ wird hier verwendet, um auszudrücken, dass Julian sich in seiner Auseinandersetzung mit den Christen nicht nur einer allgemeinen Argumentation mit religio bediente – wie in den 380er Jahren z.B. Symmachus in der Diskussion um die Wiederaufstellung des Altars der Victoria in der Kurie in Rom (vgl. Gemeinhardt 2007, 153 f.) –, sondern ein explizites, kohärentes Konzept von Religion auf der Basis der traditionellen Kulte postulierte, das er der christlichen Religion entgegensetzte und insofern eine Art „paganer Religion“ revitalisierte bzw. erst kreierte; Stenger 2009, 391–396 spricht von einer „Palingenesie“. 14  Insofern kommentiert Vössing 2014, 336 die Wendung des Edikts moribus primum, deinde facundia zutreffend: „Mit dieser Verhältnisbestimmung verläßt der Kaiser den Boden der bisher allgemein und ohne Diskussion akzeptierten Definition der Bildungsziele.“ 15  Sicher bezeugt sind nur zwei Lehrer, die aufgrund des Edikts ihre Tätigkeit beendeten: der hoch geehrte römische Rhetor Marius Victorinus, der im Folgenden durch trinitätstheologische Traktate hervortreten sollte (Augustin, Confessiones VIII 5,10; CChr.SL 27, 119,3–6 Verheijen), und der athenische Lehrer Julians, Prohaeresius, für den der Kaiser – nach Hiero-

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hielten dagegen bis zu Kyrill von Alexandriens (412–444) monumentaler Apologie Contra Iulianum an, also mehr als ein halbes Jahrhundert. Der erklärte „Heide“ Julian hatte offenbar in ein Wespennest gestochen: Er hatte die Diskussion über die Bildungsfähigkeit oder -feindlichkeit des Christentums wiederbelebt, die schon von Celsus, Porphyrius und anderen geführt worden war, in deren Sicht das Christentum als anmaßende Gemeinschaft erschien, die den Begriff „Philosophie“ usurpierte, ohne ihm gerecht werden zu können. Bisweilen hatten die Christen selbst dieselbe Alternative wie Julian eröffnet: Auch für Tertullian († nach 215) konnte ein Christ nicht Lehrer sein, weil er sich dann der Autorität der falschen Götter unterworfen hätte, deren Texte er werbend behandeln musste, um Schulgeld zu kassieren.16 Und auch für ihn war (ein) Gott der „Führer zur rechten Bildung“, nämlich Jesus Christus, und dies ebenfalls über eine Sukzession menschlicher Vermittler: durch die Apostel und ihre Schüler. Sogar letztere – im Folgenden sind die Evangelisten Markus und Lukas gemeint – würden vergeblich lehren, „wenn ihnen nicht das Ansehen der Lehrer zur Seite stehen würde, ja sogar die Autorität Christi, welche die Apostel zu Lehrern machte.“17

Stellt man Julian und Tertullian nebeneinander, scheinen sich „pagane“ und christliche Religion und die damit verbundenen Bildungstraditionen diametral gegenüberzustehen. Übereinstimmend erscheint jedoch der herkömmliche Unterricht in Grammatik und Rhetorik als – sit venia verbo – konfessionsgebundener Religionsunterricht. Das Gelingen der Bildungsvermittlung liegt bei beiden Autoren wesentlich an der religiösen Authentizität des Lehrers, der eben nicht nur als Autorität in Bezug auf Sprache18 –, sondern auch als Bote (des christlichen) Gottes respektive der („heidnischen“) Götter fungiert, bei Julian als deren Prophet, bei Tertullian als Kritiker der letzteren. Damit steht aus beiden Blickwinkeln Autorität im Bildungswesen unter einem religiösen Vorzeichen – und in diesem Spannungsfeld von Bildung und Religion musste sich verorten, wer sprachliche Kompetenzen in einer schola publica lehren wollte. Dass das in der alltäglichen Praxis Schüler, Lehrer, Eltern und Magistrate genauso sahen, ist damit allerdings nicht behauptet. Fraglos war Julians Religionsund Bildungspolitik auch für viele „Heiden“ in höchstem Maße irritierend. Eine solche religiöse Aufladung des Bildungswesens hatte es bis dato nicht gegeben. Die Lehrer hatten keinen „Religionsunterricht“ erteilt, und in aller Regel war die Schule in der Spätantike nicht der Schauplatz weltanschaulicher Auseinandersetzungen. Die Vorbehalte gegenüber Lehrern, Stoffen und Unterrichtsmethoden, die Augustin in den Confessiones vorträgt, sind nicht als Indizien für eine christ­ nymus, Chronicon a. 363 (GCS Eus. VII/1, 242,24–243,1 Helm) – sogar eine Ausnahme hatte machen wollen; vgl. Eunapius, Vitae sophistarum X 8,1 (LCL 134, 512 Wright). 16  Vgl. Tertullian, De idololatria 10,1 (SVigChr 1, 38,1–5 Waszink / Van Winden). 17 Tertullian, Adversus Marcionem IV 2,1 (FC 63/3, 502,15 f. Lukas): Si non adsistat illi auctoritas magistrorum, immo Christi, quae magistros apostolos fecit. Übers. aaO. 503. 18  Ausführlich zur Rolle des grammaticus in der Antike: Kaster 1988.

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licherseits übliche, religiös motivierte Verweigerung schulischer Bildung zu verstehen. Berichte von Martyrien christlicher Lehrer, die aufgrund ihrer kritischen Haltung zum Schulstoff (wie Babylas in Nikomedien) hingerichtet oder gar von ihren eigenen Schülern mit Griffeln erstochen worden seien (wie Cassianus in Imola) sind Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.19 Schule, Lehrer und Bildungsideale waren jedoch ein T hema literarischer Auseinandersetzungen, sowohl zwischen Christen und Nichtchristen als auch innerhalb des Christentums. In diesem Diskurs spielen Autoritätskonstruktionen eine zentrale Rolle, die sich als Deutungsoptionen in einer traditionsbestimmten, in der Spätantike aber in unaufhaltsamem Wandel befindlichen Welt anboten. Wenn es sich bei Julians Initiative, wie gesehen, um den außergewöhnlichen Fall einer unmittelbaren religionspolitischen Einflussnahme auf die Autorisierung von Lehrpersonen handelte, ist zu fragen, in welcher Weise solche Autorität in anderen Fällen definiert wurde, welche Kriterien dafür in Anspruch genommen wurden und wie solche Konstruktionen von Autorität durch kommunikative Strategien plausibilisiert wurden. Ich will dem an Texten von drei Protagonisten (Augustin, Johannes Chrysostomus und Antonius dem Einsiedler) unter den im Titel genannten Schlagworten nachgehen: Tradition, Kompetenz und Charisma. Damit sind drei Aspekte genannt, die bei der Begründung von Autorität zusammenspielen, aber auch zueinander in Konkurrenz treten können.20 Damit sei von vornherein betont, dass es nicht „die“ christliche Autorisierungsstrategie gab, sondern ein Bündel von Komponenten, nach deren Konfiguration unter konkreten raumzeitlichen Bedingungen zu fragen ist; hier sind dies das nordafrikanische Hippo, das syrische Antiochien und die ägyptische Wüste. Wie die christliche Religionskultur sich im spätantiken Spannungsfeld von Bildung und Religion positionierte, ist dann wiederum aufschlussreich für nichtchristliche Religionskulturen jener Zeit, worauf der Schlussabschnitt eingehen wird.

19 

Hierzu Gemeinhardt 2013a, 1–4. Das ist schon deshalb kaum vermeidbar, weil der Begriff auctoritas nach klassischem Verständnis „eine in der Persönlichkeit gründende Überzeugungsmacht“ bezeichnete, während er im Verständnis christlicher Autoren auf Gott und andere Instanzen übertragen wurde und im Sinne von „Wirkungskraft und Anspruch christlicher Wahrheit“ verstanden wurde, ohne die erstgenannte Bedeutung gänzlich zu verdrängen (Lütcke 1986–1994, 498; ausführlich zur Traditionsgeschichte insbesondere des augustinischen Verständnisses von Autorität ders. 1968, 13–63). Zum Begriff „Autorität“ allgemein vgl. die Einleitung zum vorliegenden Band (oben S. 1–15). 20 

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2. Grammatik und Glaube: Augustin über die Nützlichkeit von Autoritäten Beginnen wir mit Augustin. Wenn ein T heologe der Spätantike als „Kirchenvater“ zu gelten hat, dann den Bischof von Hippo (354–430), der für ein Jahrtausend zur dominierenden theologischen Autorität des Abendlandes wurde, dies aber auch schon für die Kirche Nordafrikas zu seinen Lebzeiten war. Seine kirchliche Karriere startete Augustin jedoch mit Verzögerung, nämlich erst nach seiner Bekehrung (386) und Taufe (387) und damit in mittlerem Lebensalter. Zuvor hatte er als Lehrer der Grammatik und Rhetorik in T hagaste, Karthago und Rom gewirkt und auf Vermittlung des prominenten Senators Q. Aurelius Symmachus sogar einen der wenigen besoldeten „Lehrstühle“ im Römischen Reich, den des rhetoricae magister in Mailand, besetzt.21 Hier endete aber nicht nur seine Laufbahn als Lehrer, sondern – unter dem Einfluss der Predigten des Bischofs Ambrosius von Mailand († 397) – auch seine lebenslange religiöse Suchbewegung, in deren Zuge sich Augustin in Afrika für immerhin neun Jahre als „Hörer“ (auditor) den Manichäern angeschlossen hatte, deren Postulat einer rein aus Vernunft begründeten religiösen Erkenntnis ihm aber zunehmen unplausibel erschienen war.22 Dabei geht es nicht um eine Abkehr von vernünftiger Überlegung als solcher: Augustin bekundete in seiner Ende 386 verfassten Schrift Contra Academicos, dass er sich von der ihn kurzzeitig anziehenden akademischen Skepsis ab- und den Lehren der Platoniker zuwenden und bei diesen lernen wolle, „was durch subtile Vernunft erforscht werden muß“ – aber nur, „soweit es nicht unseren heiligen Mysterien widerspricht.“23 Neu zu bestimmen war für den Konvertiten demnach die rechte Gewichtung von religiöser Autorität und rationaler Erkenntnis: „Niemandem aber ist zweifelhaft, daß wir durch das doppelte Gewicht von Autorität und Vernunft zum Lernen gedrängt werden. Bei mir nun steht der Entschluß fest, mich wirklich nirgends von der Autorität Christi zu entfernen; denn eine stärkere finde ich nicht.“24

Beide Dimensionen seiner eigenen Lebensgeschichte – das Streben nach Bildung und nach religiöser Einsicht – fließen zusammen in einer kleinen Schrift, die Augustin bald nach seiner Priesterweihe (391) verfasste: „Vom Nutzen des Glaubens“ (De utilitate credendi). Dieser Text, der Augustins Verständnis von Autorität in Bezug auf Bildung in nuce enthält, soll daher im Mittelpunkt der folgenden AusConfessiones V 13,23 (CChr.SL 27, 70,1–6 Verheijen). Hierzu vgl. Kany 2009a, 450–452 sowie Drecoll / Kudella 2011, 63–66.80–86. 23 Augustin, Contra Academicos III 20,43 (83,14–19 Fuhrer / Adam): Quod autem subtilissima ratione persequendum est – ita enim iam sum affectus, ut quid sit verum non credendo solum sed etiam intellegendo apprehendere impatienter desiderem – apud Platonicos me interim, quod sacris nostris non repugnet, reperturum esse confido. Übers. Voss, 142. 24 Augustin, Contra Academicos III 20,43 (83,11–14 Fuhrer / Adam): Nulli autem dubium est gemino pondere nos impelli ad discendum auctoritatis atque rationis. Mihi ergo certum est nusquam prorsus a Christi auctoritate discedere; non enim reperio valentiorem. Übers. Voss, 142. 21 Augustin, 22 

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führungen stehen.25 Die Schrift richtet sich an Honoratus, einen Studienkollegen Augustins, der ebenfalls von den Manichäern angezogen worden war und diesen immer noch angehörte. Von dieser falschen Affiliation will Augustin ihn abbringen. Dabei wollen beide im Grunde dasselbe, nämlich das, was die Manichäer für sie überhaupt attraktiv gemacht hatte: Erkenntnis. Augustin strebt nach seiner Bekehrung – wie auch schon zuvor – nach Wissen über Gott und die Seele: Deum et animam scire cupio.26 Aber wer oder was weist den Weg zur richtigen Erkenntnis? Die Beantwortung dieser Frage führt Augustin auf das Verhältnis des Glaubens zur Autorität und darauf, wie beides zusammengehört – und warum ein Erkenntnisweg, der beim Glauben und der auctoritas seinen Anfang nimmt, nicht der menschlichen ratio widerspricht. Offenbar glaubte nämlich Honoratus der manichäischen Kritik am kirchlichen Christentum, „man schrecke uns mit einem Aberglauben und befehle uns Glauben vor Vernunfteinsicht, sie aber würden niemanden zum Glauben drängen, wenn nicht zuvor die Wahrheit erörtert und entwickelt worden sei.“27

Ein solcher Fideismus war den Christen seit dem 2. Jahrhundert von ihren paganen Kritikern vorgeworfen worden28, und er wird von Augustin auf den ersten Blick sogar noch institutionell verstärkt, wenn er in einem später viel zitierten Brief gegen die Manichäer bekennt: „Ich aber würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegte!“29 Es ist demnach nicht nur die Pflicht zum Glauben als solche, die Anstoß erregt, sondern auch deren Verknüpfung mit einer irdischen (und offensichtlich nicht unfehlbaren) Institution, von der die Wahrheit – so die manichäische Sichtweise – domestiziert würde und von deren auctoritas man sich durch die ratio befreien müsse. Dagegen steht für Augustin der Glaube am Anfang, getreu dem Wort des Propheten Jesaja: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht verstehen“ (Jes 7,9).30 De utilitate credendi vgl. grundlegend Hoffmann 1997 sowie dessen Einleitung zur Textausgabe und Übersetzung (Hoffmann 1992); zum Autoritätsbegriff in Augustins Schrifttum vgl. überblicksweise Lütcke 1986–1994 sowie ausführlich ders. 1968, 64–195; eine prägnante Zusammenfassung bietet Kany 2009a, 448–465. 26 Augustin, Soliloquia 1,7,1 (CSEL 89, 11,15 Hörmann); vgl. De ordine II 18,47 (177,24–28 Fuhrer / Adam). 27 Augustin, De utilitate credendi 2 (FC 9, 80,21–82,1 Hoffmann): Quod nos superstitione terreri et fidem nobis ante rationem imperari dicerent, se autem nullum premere ad fidem nisi prius discussa et enodata ueritate. Die Übersetzungen folgen dieser Ausgabe, ohne kleinere Abweichungen eigens zu markieren. – In welcher Form die nordafrikanischen Manichäer zu Augustins Lebzeiten ihre Kritik vortrugen, zeigt Hoffmann 2001. Im Folgenden steht nicht die Frage nach der manichäischen Position als solcher, sondern nach Augustins Plausibilisierung der kirchlichen Autorität im Vordergrund. 28  Vgl. dazu Schröder 2011, 88–100 mit zahlreichen Textbeispielen, allerdings recht tendenziöser Interpretation; vgl. meine Besprechung in: ZAC 16 (2012) 390 f. 29 Augustin, Contra epistulam Manichaei quam vocant fundamenti 5 (CSEL 25/1, 197,22 f. Zycha): Ego uero euangelio non crederem, nisi me catholicae ecclesiae conmoueret auctoritas. Zur Wirkungsgeschichte dieses Satzes vgl. die Hinweise bei Kany 2009a, 465–468. 30 Augustin, Sermo 43,7 (CChr.SL 41, 511,140–146 Lambot): quid inter nos agebatur? 25 Zu

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Gegenüber Honoratus weist Augustin daher die manichäische Forderung, „nichts ohne begründete Erkenntnis zu glauben“31, als anmaßend und unerfüllbar zurück – denn woher solle man sichere Kriterien für die Erkenntnis der Wahrheit nehmen, solange man diese noch nicht kenne? Anders formuliert, wo und wie solle man in den hermeneutischen Zirkel eintreten? Es ist zu betonen, dass Augustin tatsächlich eine wechselseitige Erschließung vor Augen hat und zwischen Autorität und Vernunft keine einlinige Hierarchie sieht. Das kommt deutlich in De ordine, seiner Programmschrift über die artes liberales aus christlicher Sicht, die er ebenfalls bald nach seiner Bekehrung verfasste, zum Ausdruck: „Wir werden zum Lernen ebenfalls notwendig auf einem doppelten Wege geführt, durch die Autorität und durch die Vernunft. In zeitlicher Hinsicht nimmt die Autorität die erste Stelle ein, in sachlicher Hinsicht aber die Vernunft. Man muß nämlich das, was faktisch als erstes zu Worte kommt, unterscheiden von dem, was man höher einschätzt. Zwar scheint sich der Weg über die Autorität der Guten mehr für die ungebildete Masse zu empfehlen, während für die Gebildeten der Weg über die Einsicht der Vernunft angemessener erscheint. Da aber jeder Mensch unerfahren ist, bevor er erfahren wird, ein Unerfahrener aber nicht weiß, welchen Lebenswandel seine Lehrer bei ihm voraussetzen müssen, um ihn lehren zu können, kommt es trotzdem darauf hinaus, daß denen, welche die großen und verborgenen Güter kennenlernen wollen, nur die Autorität die Tür öffnet. Sobald jemand eingetreten ist, befolgt er zweifellos die Vorschriften für den besten Lebenswandel. Wenn er durch ein Leben entsprechend den Vorschriften (sc. der Tugend) genügend vorbereitet worden ist, dann kann er schließlich lernen, wieviel Vernunft sich in demjenigen, nach dem er strebte, bevor er den Weg der Vernunft beschreiten konnte, verbirgt und was die Vernunft, der er selbständig folgen und die er erfassen kann, wenn er der Wiege der Autorität entwachsen ist, ihrem Wesen nach ist […]“.32

tu dicebas: intellegam ut credam. ego dicebam: ut intellegas crede. nata est controuersia, ueniamus ad iudicem, iudicet propheta, immo uero deus iudicet per prophetam. ambo taceamus. quid ambo dixerimus, auditum est. intellegam inquis ut credam. crede inquam ut intellegas. respondeat propheta: „nisi credideritis, non intellegetis“. Diese Korrelation von Glauben und Verstehen kommt in Jes 7,9 im Text der Septuaginta, Vetus Latina und Vulgata zum Ausdruck, jedoch nicht im hebräischen Text, wo es heißt: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!“ Zur frühchristlichen Auslegungstradition, die Augustin mit seinen häufigen Berufungen auf dieses Jesaja-Zitat quasi für das Mittelalter kanonisiert, und zu den schon in patristischer Zeit diskutierten Alternativübersetzungen vgl. Gemeinhardt 2016. 31 Augustin, De utilitate credendi 24 (FC 9, 148,9 Hoffmann): Nihil sine cognitione esse credendum. 32 Augustin, De ordine II 9,26 (162,4–17 Fuhrer / Adam): Ad discendum item necessario dupliciter ducimur, auctoritate atque ratione. Tempore auctoritas, re autem ratio prior est. Aliud est enim quod in agendo anteponitur, aliud quod pluris in appetendo aestimatur. Itaque quamquam bonorum auctoritas imperitae multitudini videatur esse salubrior, ratio vero aptior eruditis, tamen – quia nullus hominum nisi ex imperito peritus fit, nullus autem imperitus novit, qualem se debeat praebere docentibus et quali vita esse docilis possit – evenit, ut omnibus bona magna et occulta discere cupientibus non aperiat nisi auctoritas ianuam. Quam quisque ingressus sine ulla dubitatione vitae optimae praecepta sectatur, per quae, cum docilis factus fuerit, tum demum discet, et quanta ratione praedita sint ea ipsa, quae secutus est ante rationem, et quid sit ipsa ratio […] Übers. Mühlenberg, 305 f.

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Individuelle intellektuelle Einsicht ist also keineswegs ausgeschlossen, sondern vielmehr sehr erstrebenswert, aber sie kann, zumal wo es um Göttliches geht, nicht der erste Schritt sein. Der gebildete Mensch möge sich also daran erinnern, dass er nicht als solcher angefangen hat – es gibt keine Prädestination von Menschen für bestimmte Bildungsniveaus, sondern ein für alle Menschen mögliches und notwendiges Fortschreiten von der Akzeptanz von Autorität zur individuell gewonnenen Einsicht. Augustin zielt sicher nicht auf das Niederlegen von Standesgrenzen durch ein allgemeines Bildungsprogramm; De ordine richtet sich an die ‚happy few‘, die für eine umfassende Bildung Zeit, Geld und das richtige soziale Standing haben. Es ist aber bemerkenswert, dass gerade diesen ins Stammbuch geschrieben wird, dass jede Bildungsanstrengung sich externer Belehrung, Anleitung, ja sogar Herrschaft verdankt: „Man muß zunächst das glauben, was man später erst erfaßt und einsieht, wenn man sich sittlich gut verhalten hat und würdig geworden ist, kurz, man muß sich der strengen Herrschaft einer Autorität unterwerfen.“33

Erkenntnis hängt dabei wesentlich davon ab – wie schon das Zitat aus De ordine zeigte und wie es auch Julian für wesentlich hielt –, sich in eine Glaubensweise lebenspraktisch eingefunden, sich quasi unter der Aufsicht der Autorität im Glauben „eingelebt“ zu haben. Im besten Fall vermeidet man so das Risiko des Irrtums, der beim Verstehen-Wollen immer droht. Und so kann Augustin die christliche Erkenntnismethode pointiert zusammenfassen: „Was wir verstehen, schulden wir demnach der Vernunft, was wir glauben, der Autorität, was wir uns einbilden, dem Irrtum!“34

Es geht also keineswegs um eine Kontradiktion zwischen Vernunfterkenntnis und der zu dieser anleitenden Autorität, sondern um deren angemessene Verhältnisbestimmung und ihre gemeinsame Abgrenzung vom bloßen Meinen. Augustin, der frisch bekehrte und philosophisch interessierte Rhetor, ruft ja als erstes mit Freunden in Cassiciacum eine Lerngemeinschaft ins Leben und entwirft für diese ein christianisiertes Curriculum der artes liberales – der intellektuelle Anspruch ist also ungebrochen. Augustin, der kurz darauf geweihte Priester, hat aber nun nicht mehr nur die intellektuelle Elite, sondern die Masse der Menschen im Blick, die „Unwissenden“ (stulti), die der Anleitung bedürfen, nicht nur um zur Erkenntnis zu gelangen, sondern um überhaupt herauszufinden, wer ein „Weiser“ ist, der sie solchermaßen anleiten kann.35 Zwar liegt, so Augustin, in einem biographischen 33 Augustin, De utilitate credendi 21 (FC 9, 136,21–24 Hoffmann): Nam uera religio, nisi credantur ea, quae quisque postea, si se bene gesserit dignus que fuerit, adsequatur atque percipiat, et omnino sine quodam graui auctoritatis imperio inire recte nullo pacto potest. 34 Augustin, De utilitate credendi 25 (FC 9, 152,21 f. Hoffmann): Quod intellegimus igitur, debemus rationi, quod credimus, auctoritati, quod opinamur, errori. 35 Augustin, De utilitate credendi 28 (FC 9, 162,17–20 Hoffmann): Non ergo potest, quamdiu stultus est, quisquam certissima cognitione inuenire sapientem, cui obtemperando tanto stultitiae malo liberetur.

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Rückblick auf seine eigenen religiösen und philosophischen Suchbewegungen, die Wahrheit selbst nicht verborgen, doch behaupten alle Lehrer und Schulen, sie zu vermitteln, so dass das eigentliche Problem nicht die grundsätzliche Möglichkeit, sondern die konkrete Methode der Wahrheitserkenntnis sei; und diese „muss man von einer göttlichen Autorität übernehmen.“36 Wo aber findet man diese, und wie wirkt sie? Wenn Augustin feststellt: „Allein die Autorität ist es, die die Unwissenden aufrüttelt, der Weisheit entgegenzueilen!“37, dann muss diese Autorität personal gedacht werden; sie ist kein Abstraktum, sondern tritt dem nach Glauben Suchenden ganz handfest entgegen. Das oben zitierte Jesajawort aufgreifend erläutert Augustin in einer Predigt, wie sich bei einem Christen Glauben und, darauf aufbauend, Erkenntnis Gottes einstellen kann: „Verstehe, auf dass du glaubst, mein Wort; glaube, auf dass du verstehst, Gottes Wort.“38

Der Prozess der Glaubenseinsicht setzt also durchaus beim Menschen an, nur eben nicht individuell, sondern interpersonal. Und dafür bedarf es „glaub-würdiger Instanzen“39. Entsprechend enttäuscht war Augustin selbst, als er in Karthago auf den berühmten Manichäerbischof Faustus traf, dem der Ruf vorauseilte, „in allen angesehenen Wissenschaften außerordentlich beschlagen, zumal in den freien Künsten wohl bewandert“ zu sein40, der sich bei der direkten Begegnung durchaus auch als gewandter Redner entpuppte, dem jedoch bezüglich der Fragen nach Gott und der Welt, die Augustin bedrängten, jegliches fundierte Wissen fehlte.41 Faustus verfügte – wie der professionelle Rhetor Augustin es mit dem Säulenheiligen dieser Disziplin, Cicero, hätte formulieren können – über eloquentia, aber nicht über eruditio42, und erwies sich daher gerade nicht als Autorität für die wissensbasierte Gotteserkenntnis, deren die Manichäer sich rühmten. Honoratus war hingegen ein wirklicher eruditus, einerseits ein persönlicher Weggefährte Augustins, andererseits ein Repräsentant der Gebildeten unter den nordafrikanischen Verächtern des katholischen Christentums und geprägt vom manichäischen Erkenntnisoptimismus. Wie Augustin dieser Herausforderung begegnet, wirft bereits Licht auf seine spätere katechetische Tätigkeit als Bischof, bei der er nach einem umsichtigen Brückenschlag zu den Gebildeten strebte, unter denen sich allerdings manche auch als von der Schule Ver-Bildete erwiesen.43 36 Augustin, De utilitate credendi 20 (FC 9, 134,5 f. Hoffmann): Ipsum modum ab aliqua diuina auctoritate esse sumendum. 37 Augustin, De utilitate credendi 34 (FC 9, 178,6–8 Hoffmann): Sola est auctoritas, quae commovet stultos, ut ad sapientiam festinent. 38 Augustin, Sermo 43,9 (CChr.SL 41, 512,184 f. Lambot): intellege, ut credas, uerbum meum; crede, ut intellegas, uerbum dei. 39  Hoffmann 2007, 465. 40 Augustin, Confessiones V 3,3 (CChr.SL 27, 58,9 f. Verheijen): honestarum omnium doctrinarum peritissimus et ad prime disciplinis liberalibus eruditus. Übers. Bernhart, 193–195. 41  Dies kritisiert Augustin, Confessiones V 6,10 (CChr.SL 27, 61,7–17 Verheijen). 42 Cicero, De oratore I 6,20 (9,9–11 Kumaniecki). 43  Das ist insbesondere ein T hema in De catechizandis rudibus, wo Augustin zwischen dem Umgang mit wirklich Gebildeten (Kap. 8,12,8; CChr.SL 46, 134,51–56 Bauer) und

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Gegenüber Honoratus kommt die traditionelle Bildung, die Augustin selbst gelehrt hatte, auf eine konstruktive Weise ins Spiel, nämlich als lebensweltliches Beispiel, warum man sich als auch schon halbwegs Wissender selbstverständlich einer Autorität unterwerfen kann, ja muss. Man könne nämlich, erinnert der frühere grammaticus Augustin seinen Freund, schon bei der Lektüre der Schultexte religiösen Schiffbruch erleiden. Wenn jemand der Aeneis entnähme, „daß sich Rhadamanthys in der Unterwelt die Sache der einzelnen Verstorbenen vortragen lasse und darüber sein Urteil fällt“, und dies auch glaube, gehe er gleich doppelt in die Irre: „Zum einen glaubt er etwas, was man nicht glauben darf, zum anderen darf man nicht annehmen, daß der Verfasser selbst dies geglaubt hätte.“44

Es überrascht nicht, dass Augustin Vergils Unterweltvorstellung als theologisch unangemessen kritisiert. Interessant ist aber, dass er den Dichter gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, dieser habe seine Verse ernst gemeint und müsse als Ungläubiger gelten.45 Das ist nicht nur ein ad hoc‑Argument, sondern hat grundsätzliche Bedeutung in Augustins Bemühen um eine kritische Rezeption der paganen Bildungstexte: In De ordine hatte Augustin erklärt, den Dichtern werde zugestanden, „vernunftgemäße Lügen“ zu formulieren.46 Klassische Dichtung wird also nicht als bitterernst gemeinte religiöse Literatur betrachtet, sondern als eine Form, Unaussprechliches in spezifisch verhüllter Form auszudrücken, so dass alle Kundigen sogleich wissen, dass sie auf den tieferen Sinn anstatt auf die mythologische Text­ oberfläche zu achten haben. Weil aber der nützliche, ja heilvolle Sinn eben nicht unmittelbar vor Augen steht, bedarf es eines Experten, der dazu anleitet, Wahres und Falsches zu entschlüsseln – und das gilt (hier liegt Augustins Pointe) mutatis mutandis auch für die Bibel: Die Manichäer behaupteten, die Heilige Schrift, die Quelle göttlichen Wissens par excellence, sei jedermanns Urteil frei zugänglich47; den durch den Besuch der Grammatik- und Rhetorikschulen Ein- oder Halbgebildeten (Kap. 9,13,1 f.; aaO. 135,1–9) unterscheidet. 44 Augustin, De utilitate credendi 10 (FC 9, 104,22–27 Hoffmann): Primi generis exemplum est, ut si quisquam uerbi gratia dicat et credat Rhadamanthum apud inferos audire ac diiudicare causas mortuorum, eo quod Maronis in carmine id legerit. Hic enim errat duobus modis: quod et rem non credendam credit neque id putandus est credidisse ille quem legit. Bezug genommen wird auf Vergil, Aeneis VI 566–569. 45  Zu diesem Argument und ähnlichen Sichtweisen in der zeitgenössischen Literatur vgl. Gemeinhardt 2007, 411–417, u.a. mit Verweis auf eine positive Bezugnahme auf Vergils Vorstellung vom doppelten Ausgang des menschlichen Schicksals in der Unterwelt (im Tartaros oder im Elysium): Zeno von Verona, Tractatus I 2,4 (CChr.SL 22, 15,30–16,32 Löfstedt): ­Poetae autem melius, qui duplicem uiam apud inferos ponunt: impiorum unam, quae ducit in tartarum, piorum aliam, quae ducit ad elisium. Der Bezug geht auf Vergil, Aeneis VI 540–543. Zeno bezog dieses Zitat wohl aus Laktanz, Institutiones VI 4,1 (538,8–11 Heck / Wlosok). 46 Augustin, De ordine II 14,40 (173,2–5 Fuhrer / Adam): In quibus [sc. poetis] cum uideret non solum sonorum sed etiam uerborum rerumque magna momenta, plurimum eos honorauit eisque tribuit, quorum uellent, rationabilium mendaciorum potestatem. 47 Augustin, De utilitate credendi 13 (FC 9, 114,10–12 Hoffmann): An istae scripturae legis planissimae sunt, in quas isti quasi vulgo expositas inpetum faciant frustra et inaniter?

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dabei würde man sich – so Augustin – doch an keinen Dichter ohne Kenntnis der Kunst der Poetik und vor allem ohne kompetente Anleitung heranwagen (und sei es ein literarischer Lehrer; aufgezählt werden die Vergilkommentatoren Asper, Cornutus und Donatus).48 Und das wäre auch für Honoratus der angemessene Weg gewesen: „Du hättest dir einen gottesfürchtigen Gelehrten suchen sollen oder einen, den viele übereinstimmend so einschätzen, um durch seine Anweisungen besser und durch seine Lehre erfahrener zu werden.“49

In der Tat kann von der Schrift „jeder trinken, soviel er braucht“, solange er „demütig und ehrfürchtig“ vorgeht, „wie es die wahre Religion verlangt.“50 Der Lehrer trägt dazu bei, indem er die Verfasser zu schätzen, nicht zu kritisieren lehrt, indem also auch er die Autorität des Autors von vornherein akzeptiert und dem Schüler damit ein Vorbild gibt. Augustin betont, ein guter Grammatiklehrer würde Probleme bei der Deutung Vergils ja auch nicht damit erklären, dass der Dichter sich geirrt oder dunkel formuliert habe, „denn selbst bei denen, die ihn nicht verstehen, gilt er als Autor, der keine Fehler gemacht hat, ja der sogar keinen Vers gedichtet hat, der nicht Lob verdient.“51 Augustin setzt demnach voraus, dass es von der Tradition sanktionierte Texte gibt, denen gegenüber eine anmaßende Haltung nicht nur unanständig erscheint – als würde man die eigene Unzulänglichkeit auf den Gegenstand der erfolglosen Bemühungen abschieben wollen! –, sondern auch zu fehlgeleiteten und darum geradezu unprofessionellen Interpretationen führt. Sich als Lehrer der Autorität des Textes und als Schüler derjenigen des wohlwollenden Interpreten des autoritativen Textes zu unterwerfen führt hingegen zur Einsicht – in der Grammatik, aber eben auch in der Exegese. Damit können wir für unser T hema festhalten: Eine Autorität zu akzeptieren ist für Augustin die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Heiligen Schrift. Zwar kann der Bezug auf die Heilige Schrift als ein neues autoritatives Corpus im religiösen Diskursfeld der Spätantike durchaus als innovativ gelten – und Kaiser Julian sah dies zutreffend! –, doch verwendet Augustin zur Plausibilisierung die48 Augustin, De utilitate credendi 17 (FC 9, 124,21–126,6 Hoffmann): Nulla inbutus poe­ tica disciplina Terentianum Maurum sine magistro adtingere non auderes – Asper, Cornutus, Donatus et alii innumerabiles requiruntur, ut quilibet poeta possit intellegi, cuius carmina et theatri plausus uidentur captare – tu in eos libros, qui quoquo modo se habeant, sancti tamen diuinarum que rerum pleni prope totius generis humani confessione diffamantur, sine duce inruis et de his sine praeceptore audes ferre sententiam. 49 Augustin, De utilitate credendi 17 (FC 9, 124,10–12 Hoffmann): Quaereres aliquem pium simul et doctum vel qui talis esse multis consentientibus diceretur, cuius et praeceptis melior et doctrina peritior fieres. 50 Augustin, De utilitate credendi 13 (FC 9, 116,5–9 Hoffmann): Inest omnino ueritas et reficiendis instaurandis que animis adcomodatissima disciplina et plane ita modificata, ut nemo inde haurire non possit, quod sibi satis est, si modo ad hauriendum deuote ac pie, ut uera religio poscit, accedat. 51 Augustin, De utilitate credendi 13 (FC 9, 116,22–118,1 Hoffmann): Qui non solum nihil peccasse, sed nihil non laudabiliter cecinisse ab eis etiam, qui illum non intellegunt, creditur.

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ser Autoritätskonstruktion ausdrücklich eine Analogie zu der christlicherseits oft kritisierten Schulbildung, beruft sich also auf einen allgemein plausiblen Umgang mit der Tradition. Das liegt nicht lediglich daran, dass er die Eierschalen seiner eigenen Karriere als Schüler und Lehrer in den frühen 390er Jahren noch nicht völlig abgestreift hätte: Was ihm daran nützlich, ja unabdingbar für einen orator christianus erschien, schätzte und kultivierte er auch weiterhin, bis zu dem rund 35 Jahre später entstandenen Buch IV von De doctrina christiana, das eine kongeniale Transformation der ciceronischen Rhetorik für die Zwecke der christlichen Predigt bietet.52 Zwar hätte Augustin wohl nicht – wie sein jüngerer Zeitgenosse, der stadtrömische Literat und Vergil-Liebhaber Macrobius – gesagt: „Wenn wir weise sind, müssen wir immer das Altertum verehren.“53 Immerhin beinhaltete das Christentum auch Neues, und deshalb hatte sich Christus selbst anfänglich durch Wunder Autorität verschafft.54 Aber seitdem hatte die neue Religion, so Augustin, ihre eigene vetustas erlangt, und in diese konnte er, wie gesehen, die pagane vetustas geschickt integrieren. Insofern lässt Augustins Begründung von Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion charakteristische strukturelle Analogien zwischen zwei inhaltlich unterschiedlichen religiösen Autorisierungsstrategien erkennen – der wirklich Gebildete unterwirft sich der Autorität der Bibel und der Kirche und wird genau darum wissen, was er an seinem Vergil hat und was er von ihm über Gott und die Welt lernen kann, ohne die von ihm überlieferten Göttermythen für wahr zu halten. Augustin nahm damit eine Differenzierung von Autoritäten vor, die Kaiser Julian, wie gesehen, für unmöglich gehalten hatte. Angesichts von wiederholten Bezugnahmen auf das „Rhetorenedikt“ in Augustins späteren Schriften55 könnte man sogar überlegen, ob er Julians Versuch einer Vereindeutigung religiöser Autorität im Hinterkopf hatte, als er an Honoratus schrieb. Das muss spekulativ bleiben. Aber die Entwicklung solcher Strategien im spätantiken Christentum dürfte mit dazu geführt haben, dass Julian dieser Konkurrenz so energisch entgegenzutreten suchte.56 52  Dazu Pollmann 1996; auf den spätantiken christlichen Bildungsdiskurs bezogen Gemeinhardt 2007, 337–349. 53 Macrobius, Saturnalia III 14,2 (196,18 f. Willis): Vetustas quidem nobis semper, si sapimus, adoranda est. 54 Vgl. Augustin, De utilitate credendi 33 (FC 9, 174,12–15 Hoffmann): Ergo ille adferens medicinam. quae corruptissimos mores sanatura esset, miraculis conciliauit auctoritatem, auctoritate meruit fidem, fide contraxit multitudinem, multitudine obtinuit uetustatem, uetustate roborauit religionem. 55 Augustin, De civitate dei XVIII 52 (CChr.SL 48, 651,41–43 Dombart / Kalb): An ipse non est ecclesiam persecutus, qui Christianos liberales litteras docere ac discere vetuit? Weiterhin Confessiones VIII 5,10 (CChr.SL 27, 119,3–6 Verheijen). Zu den lange anhaltenden Reaktionen christlicher T heologen auf Julians Edikt vgl. den Überblick bei Gemeinhardt 2007, 361–367. 56  Diese Konstellation ließe sich insofern in das Paradigma der „Bedrohungskommunikation“ einzeichnen, wie es die antichristlichen Schriften des Neuplatonikers Porphyrius belegen (vgl. dazu Männlein-Robert 2014).

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III. Amt und Kompetenz: Johannes Chrysostomus über das Priesteramt Nachdem wir uns mit Augustins Erwartungen an einen Lernenden vertraut gemacht haben, möchte ich im Folgenden die Perspektive umkehren und nach den Anforderungen an den Lehrenden fragen, konkret: wie die Autorität des Lehrers konstituiert wird, dem sich der Unwissende unterwerfen soll. Vorausgeschickt sei, dass es viele verschiedene Lehrerrollen im spätantiken Christentum gibt, für die diese Frage je spezifisch zu beantworten wäre.57 Ich nehme im Folgenden den Priester oder Bischof als Prediger in den Blick, also den öffentlichen Repräsentanten des christlichen Glaubens, und frage, aufgrund welchen Kompetenzprofils dieser als glaubwürdiger Lehrer und damit als rechter Nachfolger der Apostel gelten darf. Diese Frage ist allerdings nicht einfach zu beantworten: Es gab in der christlichen Spätantike nur selten explizite Äußerungen zum T hema – meist in Kirchenordnungen und Konzilskanones58 – und schon gar keine Rahmenordnung für die Ausbildung von Klerikern. Es gibt aber eine pastoraltheologische Schrift, die für unsere Fragestellung einschlägig ist: den Dialog „Über das Priesteramt“ (Περὶ ἱερωσύνης, De sacerdotio) des Johannes Chrysostomus († 407). Johannes, der wohl berühmteste Prediger der spätantiken Kirche, erwarb als Heranwachsender profunde rhetorische Bildung und lebte nach seiner Konversion zum Christentum zuerst als Asket im Umland seiner Heimatstadt Antiochien, bevor er als Diakon und von 386 bis 398 als Presbyter in Antiochien wirkte. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er als Bischof der Reichshauptstadt Konstantinopel, wo er freilich nicht den Erwartungen an einen Hofprediger entsprach und in die hierarchischen Streitigkeiten zwischen der alten Metropole Alexandrien und dem aufstrebenden „neuen Rom“ am Bosporus hineingezogen wurde, was im Jahr 404 in seiner Absetzung resultierte.59 De sacerdotio ist ein Werk aus der antiochenischen Zeit und wurde vermutlich bereits vor Chrysostomus’ Weihe zum Presbyter verfasst.60 Hier finden wir dezidierte Äußerungen zu derjenigen Bildung, die für eine ekklesiale Autorität durch öffentliche religiöse Rede nötig und förderlich ist.61 57 

Vgl. überblicksweise Kany 2009b. Das Material wird (unter Aufnahme der älteren Literatur) gesichtet und systematisiert in Gemeinhardt 2018a; für die vorkonstantinische Zeit vgl. Gryson 1982, 176–182. 59  Zu Chrysostomus’ Wirken und Scheitern in Konstantinopel vgl. Tiersch 2002. 60  Zu den in der Forschung vertretenen Datierungen des Traktats vgl. Fiedrowicz 2013, 30–33. 61  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio V 1 (SC 272, 282,10 f. Malingrey) will ausdrücklich περὶ τὰς διαλέξεις τὰς κοινῇ πρὸς τὸν λαὸν γινομένας sprechen. – Im Folgenden nehme ich also die Frage nach der Autorität des Predigers von Chrysostomus’ prinzipiellen Erwägungen her in den Blick und ordne diesen punktuell Passagen aus konkreten Predigten zu. Umgekehrt wird sein rhetorisches Bildungshandeln z.B. bei Maxwell 2006, 88–117 und Rylaarsdam 2014, passim, von der Praxis der Predigt her beleuchtet, jedoch ohne auf die Autoritätsfrage ausdrücklich einzugehen. 58 

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De sacerdotio stellt eine Pastoraltheologie in nuce dar, gewissermaßen die T heo­ rie der Praxis von Klerikern, ausgehend von der Grundfrage, wer der Aufforderung, sich zum Priester weihen zu lassen, nachkommen soll – und wer lieber nicht. Dabei besteht das literarische Setting darin, dass der eine Dialogpartner, „Johannes“, dem anderen, „Basilius“, erklärt, warum er selbst das Priesteramt lieber nicht übernehmen wollte.62 Das liegt an seiner Zurückhaltung gegenüber einem Amt, das im Vergleich zu den Gemeindemitgliedern „als Haupt die meiste Kraft besitzen müßte“, dessen Erscheinungsbild aber dadurch beeinträchtigt ist, „daß man bei der Wahl und Auslese der Vorsteher so oberflächlich und aufs Gerate­wohl verfährt.“63 Das ist umso schlimmer, als mit einem kirchlichen Amt Autorität (αὐθεντία) und Macht (δυναστεία) verbunden sind64 und auch ganz konkret zur Geltung kommen: „Meist ist die Masse der Untergebenen so geartet, daß sie auf das Verhalten der Vorgesetzten wie auf ein Urbild schaut und jenen ähnlich zu werden sucht.“65

Eine solche Verähnlichung passiert natürlich auch dann, wenn jemand ein schlechtes Vorbild abgibt. Johannes Chrysostomus vermittelt den Eindruck, als werde bei der Auswahl der Kleriker in Antiochien, die in Form öffentlicher Wahlen erfolgte, nach allen möglichen Opportunitätsgründen, nur nicht nach geistlichen Kriterien entschieden: „Nur auf den Geeigneten will niemand schauen noch irgendeine 62  Ob hier der Verfasser selbst als Dialogfigur auftritt und die Widerstände gegen die Übernahme des Priesteramtes biographisch für bare Münze zu nehmen sind, ist für die hier behandelte Fragestellung nicht von Belang. Die Schrift verfolgt in jedem Fall ein grundsätzliches Anliegen, nämlich zur Selbstprüfung anhand von Röm 9,3 oder ersatzweise zur externen Bezeugung der Eignung für das Priesteramt anzuleiten (vgl. Dörries 1973, 13–19), und sie wirkte bis weit in die Neuzeit hinein, unabhängig von der Frage, ob der Verfasser hier eigene Erfahrungen verarbeitet. Es ist offensichtlich, dass Chrysostomus die Apologia de fuga sua (= Oratio 2) des Gregor von Nazianz als literarisches Muster verwendet, das er aber in vieler Hinsicht umgestaltet (vgl. aaO. 26–38; Lochbrunner 1993, 39–66). 63  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio III 10 (SC 272, 166,23–26 Malingrey): Ἐγὼ μὲν γὰρ οὐδὲ ἄλλοθέν ποθεν, οἶμαι, ἢ ἐκ τοῦ τὰς τῶν προεστώτων αἱρέσεις καὶ ἐκλογὰς ἁπλῶς καὶ ὡς ἔτυχε γίνεσθαι. Τὴν γὰρ κεφαλὴν ἰσχυροτάτην εἶναι ἐχρῆν […] Übers. Fiedrowicz, 205. Die Übersetzungen in diesem Abschnitt folgen grundsätzlich derjenigen von Fiedrowicz, ohne kleinere Abweichungen eigens zu markieren. 64  Vgl. Johannes Chrysostomus, De sacerdotio III 10 (SC 272, 170,59 Malingrey). Die erwähnten Begriffe lassen sich heuristisch mit auctoritas und potestas im Lateinischen parallelisieren, wenn sie auch nicht deckungsgleich mit diesen sind. Zum Begriff der αὐθεντία als Übersetzungsbegriff für auctoritas bei griechischen patristischen Autoren vgl. Lütcke 1968, 59–61; weitere Äquivalente werden aaO. 47–51 diskutiert. Kany 2009a, 441 verweist neben ἀξίωμα auf ἀληθής δόξα als sachliches Äquivalent zu auctoritas: Dies werde nach Platon, Meno 97b jemandem zugeschrieben, von dem die Masse die Vorstellung hege, er wisse um das richtige Handeln und könne anderen Orientierung geben – was Platon notgedrungen akzeptierte, weil so eine Handlungsorientierung ohne eigentliches Wissen ermöglicht wurde, obwohl er dies grundsätzlich kritisch sah, da man nicht auf Menschen, sondern auf die Wahrheit selbst blicken solle (Res publica X 595c); vgl. dazu auch schon Lütcke 1968, 69 f. 65  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio III 10 (SC 272, 178,185–188 Malingrey): πέφυκε γὰρ ὡς τὰ πολλὰ τὸ τῶν ἀρχομένων πλῆθος ὥσπερ εἰς ἀρχέτυπόν τινα εἰκόνα τοὺς τῶν ἀρχόντων τρόπους ὁρᾶν καὶ πρὸς ἐκείνους ἐξομοιοῦν ἑαυτούς. Übers. Fiedrowicz, 213.

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Prüfung der Seele anstellen!“66 Ob das der Realität entsprach, lässt sich nicht mehr nachprüfen; relevant ist hier nur die grundsätzliche Position, die darin zum Ausdruck kommt: Das klerikale Amt ist mit Autorität verbunden und will mit entsprechender Kompetenz ausgeübt werden; diese stellt sich aber nicht von alleine ein, erfordert also eine sorgfältige Auswahl der geeigneten Kandidaten.67 Dem Geist der Zeit hätte nun durchaus ein besonderes geistliches Profil entsprochen, das des Asketen, also ein Ideal, das Johannes Chrysostomus selbst zeitweise praktiziert hatte und das er seiner Gemeinde in vielen Predigten ans Herz legte.68 Denn von jemandem, der sein Leben in radikaler Konsequenz Gott gewidmet und allen innerweltlichen Ambitionen entsagt hatte, könnte man erwarten, dass er eine unhinterfragbare Autorität mitbringen würde, die ihm eine unabhängige Amtsführung ermöglichen würde. Wie Chrysostomus selbst und eine Generation später T heodoret von Kyros († 466) in seiner Historia religiosa bezeugen, fand man solche charismatischen Persönlichkeiten in beträchtlicher Zahl im antiochenischen Hinterland.69 Für Bischöfe konnte seinerzeit eine asketische Lebensphase sogar als notwendige Qualifikation für ihr verantwortungsvolles Amt angesehen werden.70 Interessanterweise sieht Chrysostomus aber – bei aller Sympathie für diese Form christlichen Lebens – die Eignung zum Priesteramt bei einem Asketen nicht von vorneherein gegeben. Gegenüber seiner anfänglichen Überzeugung, dass der Mönch das Idealbild jedes Christen und damit auch des Amtsträgers sei, ist Chrysostomus in De sacerdotio zurückhaltender.71 Als Priester ist ein Einsiedler nämlich nicht zu empfehlen, „wenn er neben der Gottesfurcht nicht auch über viel Verstand verfügt.“72 In der Einsamkeit Fortschritte in der christlichen „Philosophie“ zu erzielen sei ja keineswegs dasselbe, wie in der Öffentlichkeit die Unbildung (ἀμαθία) der Masse zu verbessern.73 Zwar soll ein Priester die geist66  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio III 11 (SC 272, 190,21–23 Malingrey): εἰς δὲ τὸν ἐπιτήδειον οὐδεὶς ὁρᾶν βούλεται, οὐδὲ ψυχῆς τινα ποιεῖσθαι βάσανον. Übers. Fiedrowicz, 221. 67  Nach Dörries 1973, 2 machen sich dabei „die Auswirkungen der mit Konstantin einsetzenden Staatsbegünstigung auf das kirchliche Amt“ bemerkbar. Vielleicht noch wichtiger dürfte m.E. das gesteigerte soziale Prestige eines kirchlichen Amtsträgers in der religiös und kulturell pluralen Metropole Antiochien gewesen sein. Ein differenziertes Panorama des religiösen, sozialen und intellektuellen Spannungsfeldes in Antiochien in der Spätantike zeichnen jetzt die Beiträge in Bergjan / Elm 2018. 68  Vgl. dazu knapp Gemeinhardt 2014, 64 f.; ausführlich Maxwell 2006, 129–133. 69  Vgl. dazu Liebeschuetz 2011, 97–112. 70  Zur asketischen Vorqualifikation von Bischöfen vgl. Rapp 2005, 137–152. 71  Zum Verhältnis von asketischem Leben und bischöflichem Amt in De sacerdotio vgl. Sterk 2004, 141–160 und bereits Dörries 1973, 19–26; zu Chrysostomus’ Sicht des Mönchtums insgesamt Ritter 1972, 90–98 und Illert 2000, 37–45; teilweise anders nuanciert Liebeschuetz 2011, 174 f. 72  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio III 11 (SC 272, 190,28 f. Malingrey): εἰ μὴ μετὰ τῆς εὐλαβείας πολλὴν καὶ τὴν σύνεσιν ἔχων τύχοι. Übers. Fiedrowicz, 221. 73  Vgl. Johannes Chrysostomus, De sacerdotio III 11 (SC 272, 190,29–38 Malingrey): Καὶ γὰρ οἶδα πολλοὺς ἐγὼ τῶν ἅπαντα τὸν χρόνον καθειρξάντων ἑαυτοὺς καὶ νηστείαις

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lichen Qualitäten eines Mönchs – wie Reinheit, Unerschütterlichkeit, Heiligkeit etc. – erwerben und kultivieren.74 Das Priesteramt ist jedoch, wie Chrysostomus andernorts ausführt, insbesondere auch „das Amt des Lehrers“75 und besitzt ein spezifisches χάρισμα διδασκαλικόν76, was aber nach dem eben Gesagten nicht eine von Gott unmittelbar verliehene Gabe impliziert (wie wir ihr unten bei dem Einsiedler Antonius begegnen werden), sondern eine Kompetenz, die erworben, geformt und beständig trainiert werden will. Die Semantik von διδάσκειν ist in Chrysostomus’ pastoraltheologischen Schriften omnipräsent, ebenso in zahlreichen seiner Predigten. In einer Homilie über den ersten Timotheusbrief unterstreicht er in Aufnahme eines bereits dort gebrauchten Begriffs: „Es ist wichtig zur Auferbauung der Kirche und trägt viel dazu bei, wenn die Vorsteher in der Lehre kompetent (διδακτικούς) sind (vgl. 1 Tim 3,2).“77

Während in De sacerdotio das Ideal im Vordergrund steht, an dem sich messen lassen muss, wer das Priesteramt übernehmen möchte, und damit tendenziell persönliche Vollkommenheit oder gar Heiligkeit zur Vorbedingung der rechten Amtsführung wird, relativiert Chrysostomus dies in einer Homilie über den zweiten Timotheusbrief, indem er in Bezug auf die individuelle Würdigkeit des Priesters zwischen der Sicht Gottes und der Menschen unterscheidet. Gott werde einen Priester, der seinem Amt nicht gerecht werde, bei sich nicht akzeptieren, die Gemeinde möge hingegen nach dessen Lehre, nicht nach seinem Leben urteilen: δαπανηθέντων, ὅτι ἕως μὲν αὐτοῖς μόνοις εἶναι ἐξῆν καὶ τὰ αὐτῶν μεριμνᾶν, εὐδοκίμουν παρὰ Θεῷ καὶ καθ’ ἑκάστην ἡμέραν ἐκείνῃ προσετίθεσαν τῇ φιλοσοφίᾳ μέρος οὐ μικρόν ἐπειδὴ δὲ εἰς τὸ πλῆθος ἦλθον καὶ τὰς τῶν πολλῶν ἀμαθίας ἐπανορθοῦν ἠναγκάσθησαν, οἱ μὲν οὐδὲ τὴν ἀρχὴν ἤρκεσαν πρὸς τὴν τοσαύτην πραγματείαν, οἱ δὲ βιασθέντες ἐπιμεῖναι, τὴν προτέραν ἀκρίβειαν ῥίψαντες, ἑαυτούς τε ἐζημίωσαν τὰ μέγιστα καὶ ἑτέρους ὤνησαν οὐδέν. Übers. Fiedrowicz, 221. 74  Vgl. Johannes Chrysostomus, De sacerdotio VI 8 (SC 272, 330,9–15 Malingrey): τούτους γὰρ οὐδ’ εἰς νοῦν βάλλεσθαι δεῖ, ὅταν ἱερέων ἐξέτασις ᾖ, ἀλλ’ εἴ τις μετὰ τοῦ πᾶσιν ὁμιλεῖν καὶ συναναστρέφεσθαι δύναιτο τὴν καθαρότητα καὶ τὴν ἀταραξίαν, τήν τε ἁγιωσύνην καὶ καρτερίαν καὶ νῆψιν καὶ τὰ ἄλλα τὰ τοῖς μοναχοῖς προσόντα ἀγαθὰ φυλάττειν ἀκέραια καὶ ἀπαρασάλευτα μᾶλλον τῶν μεμονωμένων ἐκείνων. Dazu vgl. Dörries 1973, 20 f. 75  Johannes Chrysostomus, Homilia 5,1 in 1 Timotheum (PG 62, 527): οὕτω καὶ ἐν τῇ Ἐκκλησίᾳ, ὁ μὲν εἰς διδασκάλου τάξιν, ὁ δὲ εἰς μαθητοῦ, ὁ δὲ εἰς ἰδιώτου […]; Epistula 8,2 ad Olympiadem (SC 13bis, 162 Malingrey): πολλοὶ δέ φασιν ὅτι καὶ διδασκάλου τάξιν ἐπεῖχε. Zu diesem und den folgenden, nicht aus De sacerdotio stammenden Belegen vgl. Fiedrowicz 2013, 64 f. Die Gnade Gottes vermittelt bei der Priesterweihe den Auftrag zu lehren; vgl. Johannes Chrysostomus, Concio 7,1 de Lazaro (PG 48, 1046); Homilia 11,3 in Genesim (PG 53, 94); Homilia 4,6 in Hebraeos (PG 63, 46). 76  Vgl. Johannes Chrysostomus, Homilia 3,5 in Hebraeos (PG 63, 34). Das Verhältnis von göttlich verliehenem Charisma und durch Menschen übertragenem Lehramt diskutiert ausführlich Ritter 1972, 109–124. 77 Johannes Chrysostomus, Homilia 15,2 in 1 Timotheum (PG 62, 582): Μέγα γὰρ τοῦτο, μέγα πρὸς Ἐκκλησίας οἰκοδομὴν, καὶ πολὺ συντελεῖ τὸ διδακτικοὺς εἶναι τοὺς προεστῶτας. Vgl. auch Johannes Chrysostomus, Homilia 4,1 in 2 Timotheum (PG 62, 619); Homilia 2,2 in Titum (PG 62, 673 f.); Homilia 3,4 in Acta Apostolorum (PG 60, 39 f.).

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„Wenn er eine verkehrte Lehrmeinung vertritt – und wäre es ein Engel! (vgl. Gal 1,8) –, so soll man ihm nicht vertrauen; wenn er aber Richtiges lehrt, habe nicht auf sein Leben acht, sondern auf seine Worte.“78

Das ist natürlich weder in den neutestamentlichen Pastoralbriefen noch bei Chrysostomus selbst das einzige Kriterium einer gelingenden Amtsführung, aber es ist eine zentrale Facette. Die Autorität, die einem Priester (und analog einem Bischof) eignet, ist eng an ihre dienende Funktion geknüpft, denn als Prediger und Liturg bringt der Priester die Gemeindeglieder ihrem Heil nahe und näher. Und darauf muss man sich durch Studium und Gebet vorbereiten.79 Das gelingt keineswegs allen gleich gut, weshalb, so Chrysostomus, die weniger gelehrten Priester mit der Taufe betraut werden, also mit dem Vollzug eines Ritus, die gelehrteren mit der Predigt, d.h. der eigenständigen Performanz religiöser Rede.80 Es gibt also in Bezug auf das Kompetenzprofil für die öffentliche Kommunikation des Evangeliums ein klares Kriterium, nämlich „daß Christi Wort reichlich in uns wohne“81. Denn nur mit diesem Wort kann der Priester Heiden, Häretiker und Dissenter „kraft der Autorität zum Schweigen bringen“; daher darf er nicht den Eindruck von „Unverständigkeit“ und „Unbildung“ erwecken.82 Hier überkreuzen sich zwei Autorisierungsstrategien: der Rekurs auf das Ideal rhetorischer Performanz und auf das Ideal biblischer Demut. Diese Spannung versucht Chrysostomus in Buch V seines Dialogs zu bewältigen.83 Einerseits muss ein 78  Johannes Chrysostomus, Homilia 2,3 in 2 Timotheum (PG 62, 610): Εἰ μὲν γὰρ δόγμα ἔχει διεστραμμένον, κἂν ἄγγελος ᾖ, μὴ πείθου· εἰ δὲ ὀρθὰ διδάσκει, μὴ τῷ βίῳ πρόσεχε, ἀλλὰ τοῖς ῥήμασιν. Vgl. Dörries 1973, 8 mit Anm. 27. 79 Johannes Chrysostomus, Homilia 21,1 in Johannem (PG 59, 127): Πολλῆς ἡμῖν, ἀγαπητοὶ, δεῖ τῆς μερίμνης, πολλῆς τῆς ἀγρυπνίας, ὥστε δυνηθῆναι τὸ βάθος κατοπτεῦσαι τῶν θείων Γραφῶν. Vgl. Homilia 6,1 in Matthaeum (PG 57, 61) Πολλῆς ἡμῖν δεῖ τῆς ἀγρυπνίας, πολλῶν τῶν εὐχῶν, ὥστε δυνηθῆναι ἐπεξελθεῖν τῷ παρόντι χωρίῳ […] 80  Vgl. Johannes Chrysostomus, Homilia 3,3 in 1 Corinthios (PG 61, 26): Ἐπεὶ καὶ νῦν τοῖς μὲν ἀφελεστέροις τῶν πρεσβυτέρων τοῦτο ἐγχειρίζομεν, τὸν δὲ διδασκαλικὸν λόγον τοῖς σοφωτέροις. 81  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio IV 3 (SC 272, 252,43 f. Malingrey): ὥστε τὸν λόγον τοῦ Χριστοῦ ἐν ἡμῖν ἐνοικεῖν πλουσίως (ein fast wörtliches Zitat aus Kol 3,16). 82  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio IV 5 (SC 272, 262,16–19.22 f. Malingrey): Ἀλλ’ ὅμως καὶ τούτων τοιούτων ὄντων, ὅταν τις μετὰ αὐθεντίας ἐπιστομίζῃ τοὺς τὰ ἄπορα ταῦτα ἐρευνῶντας, ἀπονοίας τε καὶ ἀμαθίας ἑαυτῷ προσετρίψατο δόξαν […] Πρὸς ἅπαντα δὲ ταῦτα ἕτερον μὲν οὐδέν, ἡ δὲ τοῦ λόγου βοήθεια δέδοται μόνη. Übers. Fiedrowicz, 275. 83  Vgl. zum Folgenden Lochbrunner 1993, 162–172; er bezeichnet De sacerdotio V als „ein knappes Directorium der Predigt“ und stellt im Vergleich mit Buch IV von Augustins De doctrina christiana fest, dass jene Schrift „jeglicher technischer Terminologie“ entbehre und „das Ergebnis der Denkanstrengung eines gesunden Menschenverstandes“ sei, „den kein ideologischer Überbau von der nüchternen Diagnose der menschlichen Schwächen ablenkt“ (aaO. 163). Man könnte freilich auch überlegen, ob Chrysostomus gegenüber Augustin eine andere Leserschaft im Blick hatte, nämlich Priesteranwärter, die nicht in der Schule des Rhetors, sondern durch Beobachtung und Nachahmung christlicher Prediger ihre sprachlichen Kompetenzen erworben hatten; ‚learning by doing‘ dürfte in jener Zeit bereits der Normalfall gewesen sein. Es ist bemerkenswert, dass die etwa zeitgleich im Umfeld von Antiochien entstandenen Constitutiones apostolorum rhetorische Fähigkeiten bei Bischöfen und Priestern

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Priester reden können: Rhetorische Fähigkeiten schätzt die Menge84, und nur mit kraftvoller Rede85 lässt sie sich dazu bringen, „ein nützlicheres Ziel beim Zuhören zu verfolgen, so daß sich das Volk nach dem Prediger richtet und ihm Folge leistet.“86 Andererseits betont der Apostel Paulus, für Chrysostomus das Leitbild schlechthin87, er sei „ungebildet im Reden“ (2 Kor 11,6), und zwar schreibt er dies, wie der Dialogpartner „Basilius“ herausstellt, nicht zufällig „an die Korinther, die wegen ihrer Sprachfertigkeit bewundert wurden und sich viel darauf einbildeten.“88 „Johannes“ gibt zu bedenken, dass Paulus sich als „ungebildet im Reden, aber nicht in der Erkenntnis“ bezeichnet habe, und unterscheidet scharf das „Blendwerk heidnischer Redekunst“ – personifiziert an Größen der Tradition wie Isokrates, Demosthenes, T hukydides und Platon89, die weitgehend auch bei Julian auftauchen (s.o.) – vom „Kampf für die Lehren der Wahrheit“, in dem Paulus sich ausgezeichnet habe: „Also darf die Redeweise arm sein und die Zusammenstellung der Wörter einfach und kunstlos, nur soll niemand in der Erkenntnis und dem genauen Verständnis der Glaubenslehren ungebildet sein und jenem seligen Mann sein größtes Gut und seinen höchsten Ruhm rauben, um dadurch die eigene Trägheit zu kaschieren.“90

zwar voraussetzen, sie aber nicht näher beschreiben oder sich gar um eine Ausbildung kümmern (vgl. dazu Gemeinhardt 2018a, 40–43). Dies könnte einen Hintergrund von Chrysostomus’ Text bilden, mit dem er überhaupt erst Sensibilität für die Notwendigkeit rhetorischer Kompetenzen zu erzeugen versucht, aber eben im Blick auf eine weniger – oder anders – als er selbst gebildete Gruppe amtierender oder künftiger Kleriker. 84  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio V 1 (SC 272, 284,29–31 Malingrey): καὶ ἡ τοῦ λόγου δύναμις ἣν ἐξεβάλομεν νῦν, οὕτως ἐνταῦθα γίνεται ποθεινὴ ὡς οὐδὲ τοῖς σοφισταῖς ὅταν πρὸς ἀλλήλους ἀγωνίζεσθαι ἀναγκάζωνται. Übers. Fiedrowicz, 293. 85  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio V 2 (SC 272, 284,4 Malingrey): ἡ ἐν τῷ λέγειν δύναμις. 86  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio V 1 (SC 272, 284,33–35 Malingrey): καὶ πρὸς τὸ ὠφελιμώτερον μετάγειν δύνηται τὴν ἀκρόασιν, ὡς αὐτῷ τὸν λαὸν ἕπεσθαι καὶ εἴκειν. Übers. Fiedrowicz, 293. 87  Zu Chrysostomus’ Strategien der Paulus-„Inszenierung“ vgl. ausführlich Heiser 2012. 88  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio IV 6 (SC 272, 262,2–8 Malingrey): Τί οὖν ὁ Παῦλος, φησίν, οὐκ ἐσπούδασε ταύτην οἷ κατορθωθῆναι τὴν ἀρετήν, οὐδὲ ἐγκαλύπτεται ἐπὶ τῇ τοῦ λόγου πενίᾳ, ἀλλὰ καὶ διαρρήδην ὁμολογεῖ ἰδιώτην ἑαυτὸν εἶναι, καὶ ταῦτα Κορινθίοις ἐπιστέλλων, τοῖς ἀπὸ τοῦ λέγειν θαυμαζομένοις καὶ μέγα ἐπὶ τοῦτο φρονοῦσι; Übers. Fiedrowicz, 275. Zum Folgenden vgl. Lochbrunner 1993, 169–172. Zur Interpretation dieser Bibelstelle in einem vergleichbaren diskursiven Kontext vgl. Augustin, Contra Cresconium III 74,86 (Opera. Werke 30, 340,13–16 Sieben). 89 Johannes Chrysostomus, De sacerdotio IV 6 (SC 272, 268,69–270,72 Malingrey): Ἐγὼ δὲ εἰ μὲν τὴν λειότητα Ἰσοκράτους ἀπῄτουν καὶ τὸν Δημοσθένους ὄγκον καὶ τὴν Θουκυδίδου σεμνότητα καὶ τὸ Πλάτωνος ὕψος, ἔδει φέρειν εἰς μέσον ταύτην τοῦ Παύλου τὴν μαρτυρίαν. Übers. Fiedrowicz, 279. 90  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio IV 6 (SC 272, 270,74–79 Malingrey): Ἀλλ’ ἐξέστω καὶ τῇ λέξει πτωχεύειν καὶ τὴν συνθήκην τῶν ὀνομάτων ἁπλῆν τινα εἶναι καὶ ἀφελῆ, μόνον μὴ τῇ γνώσει τις καὶ τῇ τῶν δογμάτων ἀκριβείᾳ ἰδιώτης ἔστω· μηδ’ ἵνα τὴν οἰκείαν ἀργίαν ἐπικαλύψῃ, τὸν μακάριον ἐκεῖνον ἀφαιρείσθω τὸ μέγιστον τῶν ἀγαθῶν καὶ τὸ τῶν ἐγκωμίων κεφάλαιον. Übers. Fiedrowicz, 279.

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Mit „arm“, „einfach“ und „kunstlos“ ist hier das rhetorische decorum gemeint, dessen sich der christliche Prediger nicht bedienen soll; er soll also auf all die performativen Kunstgriffe verzichten, die einer öffentlichen Rede Glanz und dem Redner Ruhm verleihen. Autorität soll ein Prediger nicht als der bessere Sophist haben, sondern als Streiter für die Wahrheit und damit auch wider die Häretiker.91 Gerade gegen diese muss das Wort Gottes allerdings möglichst wirkungsvoll zur Sprache gebracht werden; in Antiochien, wo mehrere christliche Gemeinden nebeneinander existierten und es viele Gelegenheiten zu rhetorischer Performanz gab, also herkömmliche pagane und (relativ) neue christliche Kontexte religiöser Rede miteinander konkurrierten92, war dies eine aktuelle Notwendigkeit. Obwohl also der äußerliche Schmuck der Rede nicht zur Autorität des Redenden beitrage, dürfe niemandem, der Priester sein und öffentlich den Glauben lehren und verteidigen müsse, rhetorische Kompetenz fehlen, so Chrysostomus. Das aber impliziert Training, „denn das Reden ist kein Produkt einer Naturanlage, sondern des Erlernens“.93 Allerdings bleibt hier wie auch sonst in der zeitgenössischen christlichen Literatur offen, wo und wie eine solche Ausbildung erfolge. Die in manchen Quellen erwähnte „asketische Lehrstätte“ (ἀσκητήριον) für die „christliche Philosophie“, die in Chrysostomus’ Anfangszeit als Asket und Kleriker der Exeget, T heologe und spätere Bischof von Tarsus, Diodor († 394), geleitet hatte94, wäre eine denkbare Institution, doch ist deren konkretes Profil kaum erkennbar, zumal es hier eher um asketisches Leben als um die sachgerechte Ausübung des Priesteramtes gegangen sein dürfte. Dass man aktiv nach geeigneten Kandidaten suchte und diese auch im Blick auf ihre schulisch erworbenen Kompetenzen auswählte, wird nur selten berichtet – einmal mehr ist Augustin die Ausnahme.95 Freilich bringt selbst eine moderate, auf das Wesentliche beschränkte rhetorische Ausbildung gleich wieder die nächste Herausforderung mit sich: Ein guter Redner wird (nicht nur damals) gerne gelobt, und insbesondere davon muss sich, so Johannes Chrysostomus, der christliche Prediger unbedingt freimachen96, 91  Hierzu bietet Johannes Chrysostomus, De sacerdotio IV 8 (SC 272, 274,1–276,22 Ma­ lingrey) eine Art Cento aus Stellen aus den Pastoralbriefen (1 Tim 4,13.16; 2 Tim 2,24; 3,14– 16; Tit 1,9). 92  Vgl. Maxwell 2006, 42–64. 93  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio V 5 (SC 272, 290,5 f. Malingrey): ἐπειδὴ γὰρ οὐ φύσεως ἀλλὰ μαθήσεως τὸ λέγειν. Übers. Fiedrowicz, 299. Vgl. auch Dörries 1973, 11 f. 94  Darüber berichten Sokrates, Historia ecclesiastica VI 3,1; 4.6 (GCS N.F. 1, 313,21–23; 314,3–5.7–9 Hansen) und Sozomenos, Historia ecclesiastica VIII 2,6 (FC 73/4, 956,1 f. Hansen). 95  Nach Possidius, Vita Augustini 5,2–4 (34,12–24 Geerlings) wurde Augustin (gegen kirchliches Recht) seinem Vorgänger Valerius schon vor dessen Tod als Mitbischof beigegeben, weil dieser als gebürtiger Grieche des Lateinischen nicht hinreichend mächtig und auch sonst nicht übermäßig gebildet (litteris instructus) gewesen sei. 96  Zu diesem von vielen zeitgenössischen T heologen empfundenen Problem der rhetorischen Performanz im Gottesdienst vgl. die bei Gemeinhardt 2007, 320–325 diskutierten Beispiele, bes. 323 f. zu Augustin, Sermo 339,1 (PL 38, 1480). Zu Chrysostomus vgl. Lochbrunner 1993, 166 f. Bereits aaO. 165 Anm. 42 wird auf Johannes Chrysostomus, Homilia 30,4 in Acta

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um die durch Kompetenz erworbene Autorität nicht gleich wieder zugunsten der Selbstgefälligkeit an seiner glänzenden Performanz aufs Spiel zu setzen. Er muss also, mit der oben erwähnten klassischen lateinischen Formel ausgedrückt, nicht nur dicendi peritus, sondern auch ein vir bonus sein, der in sich ruht und nichts auf Anerkennung für Äußerlichkeiten gibt, sondern das, was er vorträgt, auch verkörpert: „Erst dann, wenn er selbst für alle unangreifbar geworden ist [sc. durch Redekompetenz und moralische Integrität], wird er auch mit ganzer Vollmacht (ἐξουσία) allen ihm Unterstellten Strafen auferlegen oder erlassen können.“97

Chrysostomus schließt diesen Gedankengang mit der Feststellung, für den perfekten Prediger sei kennzeichnend, „daß er im Reden vollkommene Freiheit genießt sowie die Gunst der Masse und die Liebe aller Untergebenen besitzt.“98 All das ist nun nicht nur das Ergebnis individueller Anstrengung, sondern beinhaltet auch das Moment der Inspiration: „Nicht meine Worte rede ich, sondern die des Heiligen Geistes“99, sagt Chrysostomus andernorts in Anlehnung an Mt 10,20100. Aber auf den Heiligen Geist zu setzen, dass er bei Bedarf schon wehen werde (vgl. Joh 3,8) – das war, aus nachvollziehbaren Gründen, nicht Chrysostomus’ pastoraltheologisches Konzept. Festgehalten sei, dass öffentliche religiöse Rede Autorität durch Kompetenz generierte – womit man nolens volens vor der Frage einer Adaption der rhetorischen Tradition für Zwecke der Predigt stand, die Augustin ebenso umtrieb wie seinen etwas älteren Zeitgenossen am anderen Ende des Mittelmeeres. Exkurs: Johannes Chrysostomus über die Lehrautorität von Frauen Wo von Priestern die Rede ist, geht es – nicht erst im 4. Jahrhundert – durchweg um Männer. Es ist aber bemerkenswert, dass Johannes Chrysostomus das Charisma der Lehre durchaus auch den Laien aufgetragen sieht101 und, mehr noch, auch eine Lehrautorität von Frauen kennt und befürwortet, wenn auch beschränkt apostolorum (PG 60, 226) hingewiesen, wo dieser das Problem behandelt, dass das Beifallklatschen in der Kirche den Prediger spontan erfreut, er aber später umso enttäuschter ist, weil die Hörer zwar ästhetischen Genuss, aber keinen Nutzen von seinen Predigten haben.  97  Johannes Chrysostomus, De sacerdotio V 3 (SC 272, 286,13–16 Malingrey): καὶ γὰρ ὅταν αὐτὸς ἀνεπίληπτος ἅπασι γένηται, τότε δυνήσεται μεθ’ ὅσης βούλεται ἐξουσίας καὶ κολάζειν καὶ ἀνιέναι τοὺς ὑπ’ αὐτῷ ταττομένους ἅπαντας. Übers. Fiedrowicz, 295.  98 Johannes Chrysostomus, De sacerdotio V 8 (SC 272, 300,45–302,48 Malingrey): Μεγίστην δὲ ἐν ἅπασι τούτοις ἀσφάλειαν τὴν ἐν τῷ λέγειν κέκτηται παρρησίαν καὶ τὴν τοῦ πλήθους περὶ αὐτὸν σπουδὴν καὶ τὸ φιλεῖσθαι παρὰ τῶν ἀρχομένων ἁπάντων. Übers. Fiedrowicz, 309. – Dass der Autor von der Nachwelt selbst als Personifizierung dieses Idealtyps wahrgenommen wurde, zeigt die entsprechende Passage bei Sozomenos, Historia ecclesiastica VIII 2,3–5 (FC 73/4, 954,4–28 Hansen); vgl. Fiedrowicz 2013, 65.  99  Johannes Chrysostomus, Homilia 2,4 in Titum (PG 62, 675): οὐδὲ ἐμαυτοῦ λέγω ῥήματα, ἀλλὰ τοῦ θείου Πνεύματος. 100  Dazu vgl. jetzt die konzisen Ausführungen von Rylaarsdam 2018, 118–121. 101  Vgl. Ritter 1972, 79–88.

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auf bestimmte Situationen. Die Fokussierung auf die Öffentlichkeit ist das zentrale – aber eben auch einzige – Kriterium, mit dem er das Lehren von Männern gegenüber dem von Frauen abgrenzt. Das wird an einer Predigt über Röm 16,3 („Grüßt die Prisca und den Aquila, meine Mitarbeiter in Christus Jesus“) deutlich: „Als er (sc. Paulus) sagte: ‚Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre‘ (1 Tim 2,12a), sprach er über die Lehre von der Kanzel herab, also über eine Darlegung in der Öffentlichkeit (ἐν κοινῷ), über ein Wort, das sich gegen das Priesteramt richtet. Er verbietet aber nicht, im Privaten (ἰδίᾳ) zu mahnen und zu raten. Wenn es verboten wäre, hätte er sie (sc. Prisca) nicht dafür gelobt.“102

Andernorts stellt Chrysostomus fest, Frauen dürften nicht das Verbot übertreten, „über den Mann zu herrschen“ (αὐθεντεῖν), vielmehr sollten sie sich ihm „in Stille“ (ἐν ἡσυχίᾳ) fügen (1 Tim 2,12b). Er spitzt dies im selben Atemzug wiederum auf Lehrautorität zu: Den Männern sei die Belehrung beider Geschlechter anvertraut worden, den Frauen der Bereich der häuslichen Unterweisung – aber hier agierten sie als „gute Lehrerinnen“ (καλοδιδάσκαλοι, so Tit 2,3).103 Ohne die Beschränkung von Frauen auf den privaten Bereich zu relativieren, ist doch die Würdigung ihrer Mitwirkung an der Vermittlung christlicher Lehre zu beachten. Das Maß aller Dinge in der diesbezüglichen Zuordnung der Geschlechter bleibt der Mann, aber nicht unhinterfragt: Mit Bezug auf Prisca ergänzt Chrysostomus, dass die Frau solange nicht lehren darf, wie der Mann selbst fromm ist und mit ihr Glauben und Weisheit teilt. Wenn jedoch der Mann ungläubig oder im Unrecht ist, hat auch die Frau die Autorität zu lehren (τὴν αὐθεντίαν τῆς διδασκαλίας).104 Nicht das geschlechtliche Merkmal der Männlichkeit an sich ist für die Autorität der (innerfamiliären) Lehrperson ausschlaggebend, sondern die Richtigkeit der Lebensführung und der pädagogischen Betätigung. Lehren ist also grundsätzlich nicht nur Männer-, sondern auch Frauensache: Im Bereich der Familie teilen sich die Eltern regelmäßig die pädagogische Autorität, wie Johannes Chrysostomus in seiner Schrift „Über Hoffart und Kindererziehung“ ausführlich erläutert.105 In dieser 102  Johannes Chrysostomos, In illud: Salutate Priscillam et Aquilam, sermo 1,3 (PG 51, 192): Ἄλλως δὲ, ὅταν λέγῃ, Γυναικὶ διδάσκειν οὐκ ἐπιτρέπω, περὶ τῆς ἐν τῷ βήματι διδασκαλίας λέγει, περὶ τῆς ἐν κοινῷ διαλέξεως, καὶ τῆς κατὰ τὸν ἱερωσύνης λόγον· ἰδίᾳ δὲ παραινεῖν καὶ συμβουλεύειν οὐκ ἐκώλυσεν. Οὐ γὰρ ἂν, εἰ κεκωλυμένον ἦν, ταύτην ἐπῄνεσε τοῦτο ποιοῦσαν. – Für den Hinweis auf diese Predigt danke ich Maria Munkholt Christensen. 103  Johannes Chrysostomus, Homilia 4 in ep. ad Titum 1 (PG 62, 683): Καλοδιδασκάλους. Καὶ μὴν κωλύεις γυναῖκας διδάσκειν· πῶς οὖν ἐνταῦθα ἐπιτρέπεις, ἐν τοῖς ἑτέρωθι λέγων, Γυναικὶ δὲ διδάσκειν οὐκ ἐπιτρέπω; Ἀλλ’ ἄκουε τί ἐπήγαγεν, Οὐδὲ αὐθεντεῖν ἀνδρός. Ἀνδράσι μὲν γὰρ ἐπιτέτραπται διδάσκειν ἄνωθεν καὶ ἄνδρας καὶ γυναῖκας· γυναιξὶ δὲ τὸν μὲν παραινετικὸν ἐπιτρέπει λόγον ἐπ’ οἰκίας, οὐδαμοῦ δὲ προκαθῆσθαι συγχωρεῖ, οὐδὲ ­μακρὸν ἀποτείνειν λόγον ἀφίησι. 104  Johannes Chrysostomos, In illud: Salutate Priscillam et Aquilam, sermo 1,3 (PG 51, 192): Ὅταν καὶ ὁ ἀνὴρ εὐλαβὴς ᾖ, καὶ τὴν αὐτὴν πίστιν κεκτημένος, καὶ τῆς αὐτῆς σοφίας μετέχων· ὅταν δὲ ἄπιστος ᾖ καὶ πεπλανημένος, οὐκ ἀποστερεῖ τὴν αὐθεντίαν τῆς διδασκαλίας αὐτήν. 105  Dazu vgl. Gärtner 1985, 312–316; Stenger 2016, 87–91.

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Hinsicht setzte das Christentum fort, was in der antiken mediterranen Welt seit jeher üblich gewesen war106, und man wird die Attraktivität christlicher Lebensformen und Glaubensweisen sicher auch darauf zurückführen dürfen, dass die Vermittlung religiöser Bildung im weitesten Sinne auf viele Schultern verteilt wurde und je nach Kontext unterschiedlichen Personen dann auch zugebilligt wurde, zu lehren; die Predigt im Gottesdienst war gewiss das öffentlichkeitswirksamste, aber nicht das einzige Mittel, „alle Völker zu Jüngern zu machen“ (Mt 28,19).107

IV. Schrift und Charisma: Antonius als gottgelehrter „Lehrer für viele“ Das Tableau von Begründungsweisen lehrender Autorität im spätantiken Christentum wäre allerdings nicht vollständig, wenn nicht noch eine dritte Strategie der Begründung von Lehrautorität genannt würde. Ich bezeichne diese als „Charisma“, wohl wissend, dass dieser Begriff seit Max Weber eine politikgeschicht­ liche Bedeutung mit sich trägt, die nicht umstandslos auf kirchliche und geistliche Sachverhalte übertragen werden kann.108 Gemeint ist hier eine Autorität, die weder durch die Verfügung über institutionalisierte Traditionsgüter – wie bei Augustin – noch durch Ausbildung einer bestimmten Kompetenz durch Erziehung und Training – wie bei Johannes Chrysostomus – erworben wird, sondern die von anderen Menschen dem Träger oder der Trägerin des Charisma zugeschrieben wird. Das schließt nicht aus, dass für diese Zuschreibung auch eine Bildungsgeschichte verantwortlich sein kann, z.B. das lange und entbehrungsreiche Leben in der Wüste, das einen Schatz von geistlichen Erfahrungen zeitigt, die die Autorität stützen. Anders als bei den vorigen Beispielen ist aber keine formalisierte (und damit überprüfbare) Autorisierung im Blick, vielmehr ist charismatische Auto106 

Vgl. Munkholt Christensen / Salvo 2018, 189–191. die herkömmliche Lutherübersetzung; die 2017 abgeschlossene Revision der Lutherbibel übersetzt dagegen mit größerer Präzision und guten theologischen Gründen μαθητεύσατε mit „lehrt sie“ i.S. von „versetzt sie in den Stand, die Botschaft und Lehre Jesu wahr- und anzunehmen“. 108  Zur Definition vgl. Weber 1976, 140: „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ Vgl. auch Weber 1988, 481–488. Bei der Entwicklung dieses Konzepts griff Weber auf Karl Holls Forschungen zum griechischen Mönchtum zurück, der den Begriff des Charismatischen auf die Vita Antonii anwendete (Holl 1898, 153) – hier schließt sich der Kreis. Anhand von Webers Kategorien analysiert auch Rothe 2016, 53–60 die Vita Antonii in komparatistischer Perspektive, wobei die Untersuchung allerdings recht schematisch bleibt; dass es Weber nicht um Mönche, sondern um charismatische Herrscher ging, wird nicht hinreichend berücksichtigt. 107 So

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rität ebenso dynamisch wie fluide, was (in Webers Diktion) über kurz oder lang zur „Veralltäglichung“ des Charismas (und damit zur Transformation in andere Formen der Autorität) führt. Dass charismatische Autorität oft auf göttliches Einwirken zurückgeführt wird, erübrigt nicht die für Autorisierungen grundlegende Triangulation: „Jemand ist für jemand anderen auf einem bestimmten Gebiet eine Autorität.“109 Der Unterschied liegt darin, wie sie entsteht und aus welchen Gründen sie akzeptiert wird. Mit der Frage nach charismatischer (Lehr-) Autorität, die ein Mönch gegenüber einem anderen hat, kommt eine Konstellation in den Blick, die wir nicht in Städten, sondern in der Wüste Ägyptens, Syriens und Palästinas beobachten können. Warum gerade einem abbas („Vater“, „Altvater“), in wenigen Fällen auch einer amma („Mutter“) Autorität zugeschrieben wird, ist für die Zeit Augustins und Johannes Chrysostomus’ eine spannende Frage, bezeugen beide Autoren doch textbasierte, institutionalisierte und hoch reflektierte Formen der Autorisierung. Dazu steht charismatisch begründete Autorität im frühen Eremitentum auf den ersten Blick im Widerspruch.110 Was machte eine solche scheinbar aus der Zeit gefallene Form von Autorität attraktiv? Und war sie überhaupt so unzeitgemäß, wie sie in moderner Betrachtung erscheint? Insbesondere die Frage nach Bildung nötigt hier zu Differenzierungen, wie im Folgenden an einigen ausgewählten Texten gezeigt werden soll. Dafür bieten sich zwei Quellengattungen an: einerseits die Lebensbeschreibungen (Vitae) einzelner Einsiedler, andererseits die Sammlung von Aussprüchen zahlreicher Eremiten, die sogenannten Apophthegmata Patrum. Im Folgenden wird exemplarisch die Tradition, die sich an den Eremiten Antonius († 356) knüpft, herausgegriffen, da dieser sowohl in den Apophthegmata Patrum prominent auftritt (in der alphabetischen Sammlung, dem sogenannten „Gerontikon“, gleich als erster abbas) als auch unmittelbar nach seinem Tod mit einer Vita bedacht wurde, die für das emergente monastische Ideal von großer Prägekraft sein sollte.111 Insofern ergeben sich mehrere Blickwinkel auf eine Person, die Autorisierungsstrategien und die dabei involvierten Bildungsvorstellungen zu beleuchten erlauben.112 109  Kany 2009a, 440 im Rückgriff auf die Unterscheidung von „Träger“, „Subjekt“ und „Gebiet“ bei Bocheński 1974, 23; die Pointe bei Bocheński liegt darin, dass mit „Subjekt“ nicht die Person bezeichnet wird, die Autorität ausübt, sondern diejenige, die sie ihrem Träger zuschreibt. Zur grundsätzlichen Frage, was Autorität in den hier vereinten Beiträgen bedeutet, vgl. die Einleitung zum vorliegenden Band (oben S. 1–5). 110  Es sei nur erwähnt, dass die pachomianische Gemeinschaft im 4. Jahrhundert in Ägypten institutionalisierte Formen des Klosters mit Ämtern und Hierarchien ausbildete – das wäre eine weitere Untersuchung wert. 111  Vgl. Gemeinhardt 2018b, 72–94. 112  Für einen Überblick über die Texte des Asketentums des 4. Jahrhunderts vgl. Harmless 2004, hier 167–273 zu den Apophthegmata Patrum (hiernach zitiert: AP/G); vgl. dazu auch Schulz / Ziemer 2010, 310–324. Die Schwierigkeiten, einzelne Apophthegmata aufgrund ihrer Bezeugung in alten Sammlungen ins 4. Jahrhundert zurückzuführen, können hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Ich lege im Folgenden diejenigen Antonius-Apophtheg-

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„Es ist selbstverständliche Voraussetzung in den Apophthegmen“ – so Karl Heussi –, „daß der Mensch sich nicht selber zum Mönch machen kann, sondern daß er zunächst zu einem mönchischen Lehrmeister kommt.“113 Dabei zeichnen die Apophthegmata Patrum nicht das Bild einer stabilen, dauerhaften Lehrer-Schüler-Beziehung, sondern bestehen aus zahlreichen Miniaturen einzelner Lehrsitua­ tionen, in denen ein namentlich genannter „Vater“ auf die Frage einer anderen, oft namenlosen Person eine treffende Antwort gibt – eben ein Apophthegma. Dass dabei bisweilen Personen in mehreren Apophthegmata auftreten, ist nicht zu vernachlässigen, denn es entwickelt sich implizit ein Netzwerk von Wüstenvätern über mehrere Generationen hinweg. Das bedeutet zugleich, dass jemand hier als Fragender sprechen und dort als Antwortender begegnen kann. Dabei ist vorausgesetzt, dass der Gefragte als Autorität gilt (sonst trüge er nicht den Titel abbas), dass sich aber zugleich durch das belehrende Wort diese Autorität bestätigen muss. Das schließt nicht aus, dass auch ein abbas als Fragender auftritt – und damit die charismatische Autorität des jeweils Befragten anerkennt.114 „Wie kann ich gerettet werden?“ ist die Frage der Fragen in der Wüste, die die Apophthegmata Patrum in vielen Einzelsprüchen, unterschiedlichen Pointierungen und wechselnden Personenkonstellationen aufgreifen. So lautet das dritte Antonius-Wort im Gerontikon: „Einer fragte den Abbas Antonius: ‚Was muss ich beachten, damit ich Gott gefalle?‘ Und der Greis antwortete und sagte: ‚Was ich dir auftrage, beachte es: Wohin du auch gehst, habe immer Gott vor deinen Augen. Und was du auch tust, habe dafür ein Zeugnis aus der Heiligen Schrift. Und an welchem Ort du auch wohnst, geh nicht schnell wieder weg. Diese drei Dinge beachte, und du wirst gerettet werden.‘“115

Die Anerkenntnis der Autorität des Vaters liegt bereits in der Frageform: Was einem Menschen zum ewigen Heil verhilft, kann er sich nicht selbst sagen, es bedarf des Fragens und dann natürlich des gehorsamen Annehmens der Antwort (sei sie auch noch so erratisch!). Die literarische Gestaltung der Apophthegmata Patrum mata zugrunde, die in der ältesten Handschrift der griechischen alphabetischen Sammlung (Codex Vaticanus graecus 2592, spätes 5. Jh.) mit seinem Namen verbunden sind; für die nichtgriechischen (lateinischen, syrischen und koptischen) Überlieferungen, die zusammen allerdings auch kein einheitliches Bild ergeben, vgl. Dörries 1966a, 215–218. Müller 2006, 349 führt bedenkenswerte Argumente dafür an, dass gerade die drei letzten Antonius-Apophthegmen, die ein dezidiertes Konzept geistlichen Gehorsams enthalten, spätere Zufügungen sind – daher bleibt der für unsere Fragestellung eigentlich einschlägige Spruch „Die Unterordnung, mit Enthaltsamkeit verbunden, zähmt wilde Tiere“ (AP/G Antonius 36; PG 65, 88AB: ἡ ὑποταγὴ μετὰ ἐγκρατείας ὑποτάσσει θηρία) hier außer Betracht. 113  Heussi 1036, 198. 114  Zum Autoritätskonzept der Apophthegmata Patrum vgl. auch Müller 2006, 369–375. 115  AP/G Antonius 3 (PG 65, 76C): Ἠρώτησέ τις τὸν ἀββᾶν Ἀντώνιον, λέγων· Τί φυλάξας τῷ Θεῷ εὐαρεστήσω; καὶ ἀποκριθεὶς ὁ γέρων εἶπεν· ἃ ἐντέλλομαί σοι φύλαξον· ὅπου δὲ ἂν ἀπέρχῃ, τὸν Θεὸν ἔχε πρὸ ὀφθαλμῶν σου πάντοτε· καὶ ὅπερ ἂν πράττεις, ἔχε ἐκ τῶν ἁγίων Γραφῶν τὴν μαρτυρίαν· καὶ ἐν οἵῳ δ’ ἂν καθέζῃ τόπῳ, μὴ ταχέως κινοῦ. Τὰ τρία ταῦτα φύλαξον, καὶ σώζῃ. Übers. Schweitzer, 21 f. Kleinere Modifikationen an dieser im Großen und Ganzen gelungenen Übersetzung werden im Folgenden nicht eigens vermerkt.

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lässt keinen Platz für eine Erläuterung, wer dieser „eine“ (τις) war, was ihn dazu brachte, ausgerechnet Antonius seine Frage vorzulegen, und ob er mit der Antwort zufrieden war und sie lebenspraktisch umsetzte. All das ist in der Wüste gerade nicht von Belang! Vielleicht wurde der Fragesteller später selbst zu einer monastischen Kapazität, an die andere sich fragend wandten – eremitische Autorität war von Dynamik und Reziprozität geprägt, zumal sich in den „Wüstenvätersprüchen“ Zeugnisse über mehrere Generationen solcher Eremiten überlagern. Ein solcher Rollentausch ist auch explizit in vielen Einzelsprüchen bezeugt: So wenden sich die Väter Pambo und Poimen als demütig Fragende an Antonius116; Pambo selbst ist aber im Gerontikon immerhin mit vierzehn ihm zugewiesenen Sprüchen vertreten, Poimen wird sogar ein umfangreiches Corpus von 187 Einzelperikopen zugeschrieben. Poimen erscheint somit als eine Art Schwellengestalt: In seinem Wirken wird die Tradition der Väter des 4. Jahrhunderts summiert und zu seinen Lebzeiten wohl erstmals verschriftlicht.117 Es ist diese schriftliche Form, in der die Kommunikation der Wüstenväter bald nach 400 n. Chr. Gestalt fand und die über die Jahrhunderte zu umfangreichen Corpora anwachsen sollte.118 Der Aspekt der Bildung ist bereits im dialogischen Setting zwischen einem Fragenden und einem abbas inbegriffen, dessen Autorität sich aus seiner geistlichen Erfahrung ableitet, nicht aus einer kirchlichen Weihe oder einer formellen Beauftragung. Die neuere Forschung hat zutreffend herausgestellt, dass die Eremiten sich dabei durchaus schulischer Lehrmethoden bedienten: Gnomen, Chrien, mehr oder weniger ausführlicher Lehrsätze oder Gesprächsszenarien – die Apoph­ thegmata Patrum spiegeln in dieser Hinsicht den rhetorischen Schulbetrieb ihrer Zeit, genauer gesagt das Einüben ins Memorieren und Reden („Progymnasmata“), was oft anhand ethischer Maximen trainiert wurde.119 Das Gespräch ist zugleich didaktisches Mittel und praktischer Bestandteil des Wegs zum Heil: Nur wer sich der Autorität eines „Vaters“ unterwirft und dessen Weisung befolgt, ist auch Gott gehorsam. Die Lehrsituation ist also auch eine Bewährungssituation. Es kann dabei passieren, dass diese väterliche Autorität sich nicht in einer Belehrung, sondern in deren Verweigerung äußert: Dem oben genannte Abbas Pambo wird die geradezu sokratische Haltung attestiert, auf die Frage nach einem Schrift- oder AP/G Antonius 4 und 6 (PG 65, A). / Ziemer 2010, 58 sprechen von einer „‚Poimenisierung‘ der gesamten Apoph­ thegmata-Tradition.“ Diese geht im Übrigen parallel mit der Entstehung anderer Sammeltexte über das frühe Eremitentum wie der anonymen Historia monachorum in Aegypto und der Historia Lausiaca des Palladius (zu diesen Texten vgl. Harmless 2004, 284–299), so dass im frühen 5. Jahrhundert der hagiographische Diskurs literarisch in vielfältiger Form greifbar und damit erforschbar wird. 118  Vgl. schon Heussi 1936, 136 f.140–142, wonach der Grundstock der alphabetischen Sammlung um 400 vorgelegen habe und mit der ersten umfassenden, jedoch nicht abschließenden Redaktion des Gerontikon um 500 zu rechnen sei; ähnlich Harmless 2004, 170 f. 119  Vgl. die Beispiele bei Larsen 2016, 21–25, die klar belegen, dass in monastischen Lehrkontexten, die auch in den Apophthegmata Patrum im Hintergrund stehen, Analogien zu den „Progymnasmata“ des Rhetorikunterrichts zu beobachten sind. Zahlreiche Einsichten in die monastische pädagogische Praxis bieten die Beiträge in Larsen / Rubenson 2018. 116 

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geistlichen Wort mit der Bekundung seines Nichtwissens zu antworten.120 Ebenso unterzieht Antonius einmal mehrere γέροντες, selbst erfahrene Lehrer der Wüste, einer Prüfung und fragt sie nach der Bedeutung eines Bibelworts; nachdem diese jeweils „nach ihrer eigenen Fähigkeit“ (κατὰ τὴν ἰδίαν δύναμιν) antworten, bekennt am Ende Abbas Joseph, die Antwort auf die Frage schlicht nicht zu wissen, woraufhin Antonius ihn lobt: „Abbas Joseph fand den Weg, da er sagte: Ich weiß es nicht!“121 Die Autorität des abbas besteht in diesem Fall darin, zu entscheiden, ob es überhaupt zu einem bestimmten T hema etwas zu sagen gibt oder ob einsichtsvolles Schweigen die bessere Alternative ist. Das bringt auch das folgende Apophthegma zum Ausdruck: „Drei der Väter hatten die Gewohnheit, sich jährlich zum seligen Antonius zu begeben. Zwei von ihnen befragten ihn über die Gedanken und das Heil der Seele. Der eine schwieg jedoch immer und fragte nichts. Nach etlicher Zeit sagte Antonius zu ihm: ‚So lange Zeit bist du schon hierhergekommen, und du fragst mich nichts.‘ Und der antwortete ihm und sagte: ‚Mir genügt, nur dich zu sehen, Vater.‘“122

Warum dies genügen konnte, macht schließlich das folgende Apophthegma deutlich: „Einige sagten von Abbas Antonius, dass er ein Geistträger (Πνευματοφόρος) sei, wegen der Menschen aber nicht davon sprach. Denn er zeigte an, was in der Welt geschah, und auch das, was kommen würde.“123

Damit ist die ultimative Autorisierungsinstanz des Wüsten-Lehrers benannt: der Heilige Geist, der auf Antonius ruht und ihm gewissermaßen ein prophetisches Charisma verleiht, d.h. die Fähigkeit, die innerweltlichen Ereignisse zu durchschauen und sogar Zukünftiges mit Verlässlichkeit ankündigen zu können. Sich diesem Lehrer unterzuordnen bedeutet, sich der Leitung durch den göttlichen Geist anzuvertrauen, dessen Sprachrohr Antonius ist. Dabei ist solches Vertrauen 120  AP/G 770 Pambo 9 (PG 65, 369D–372A). Solche skeptischen Haltungen der Wüstenväter gegenüber ihrem eigenen Verstehens- und Ausdrucksvermögen sind nicht selten; vgl. dazu Gemeinhardt 2019, 259–261. 121  AP/G Antonius 17 (PG 65, 80D): Παρέβαλόν ποτε γέροντες τῷ ἀββᾷ Ἀντωνίῳ, καὶ ἦν ὁ ἀββᾶς Ἰωσὴφ μετ’ αὐτῶν. Καὶ θέλων ὁ γέρων δοκιμάσαι αὐτοὺς, προεβάλετο ῥῆμα ἐκ τῆς Γραφῆς, καὶ ἤρξατο ἐρωτᾷν ἀπὸ τῶν μικροτέρων, τί ἐστι τὸ ῥῆμα τοῦτο. Καὶ ἕκαστος ἔλεγε κατὰ τὴν ἰδίαν δύναμιν. Ὁ δὲ γέρων ἑκάστῳ ἔλεγεν· Οὔπω εὗρες. Ὕστερον ὅλων λέγει τῷ ἀββᾷ Ἰωσήφ· Σὺ πῶς λέγεις εἶναι τὸν λόγον τοῦτον; Ἀποκρίνεται· Οὐκ οἶδα. Λέγει οὖν ὁ ἀββᾶς Ἀντώνιος· Πάντως ἀββᾶς Ἰωσὴφ εὗρε τὴν ὁδὸν, ὅτι εἶπεν, Οὐκ οἶδα. Übers. Schweitzer, 25. 122  AP/G Antonius 27 (PG 65, 84CD): Τρεῖς τῶν Πατέρων εἶχον ἔθος κατ’ ἐνιαυτὸν ὑπάγειν πρὸς τὸν μακάριον Ἀντώνιον· καὶ οἱ μὲν δύο ἠρώτων αὐτὸν περὶ λογισμῶν καὶ σωτηρίας ψυχῆς· ὁ δὲ εἷς πάντα ἐσιώπα μηδὲν ἐρωτῶν. Μετὰ δὲ πολὺν χρόνον λέγει αὐτῷ ὁ ἀββᾶς Ἀντώνιος· Ἰδοὺ τοσοῦτον χρόνον ἔχεις ἐρχόμενος ὧδε, καὶ οὐδὲν ἐρωτᾷς με. Καὶ ἀποκριθεὶς εἶπεν αὐτῷ· Ἀρκεῖ μοι μόνον τοῦ βλέπειν σε, Πάτερ. Übers. Schweitzer, 28. 123  AP/G Antonius 30 (PG 65, 85B): Ἔλεγόν τινες περὶ τοῦ ἀββᾶ Ἀντωνίου, ὅτι γέγονε Πνευματοφόρος, ἀλλ’ οὐκ ἤθελε λαλεῖν διὰ τοὺς ἀνθρώπους· καὶ γὰρ τὰ γινόμενα ἐν τῷ κόσμῳ καὶ τὰ μέλλοντα ἐλθεῖν ἐμήνυεν.

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aber nicht blinder Dezisionismus, denn es gibt ein einfaches Kriterium für die Authentizität der Lehre eines abbas, nämlich dass er selbst tut, was er sagt: „Er (sc. Poimen) sagte wiederum: Ein Mensch, der lehrt und nicht tut, was er lehrt, gleicht einer Quelle: Alles tränkt und wäscht sie, sich selbst aber kann sie nicht reinigen.“124

Hierbei sekundiert eine der wenigen Wüstenmütter, die amma Syncletica: „Es ist gefährlich zu lehren, ohne (das, was man lehrt) durch das praktische Leben ausgeführt zu haben […] (Die solches tun,) rufen zwar mit Worten zum Heil auf, durch ihre schlechte Lebensweise fügen sie aber den Athleten (sc. Asketen) mehr Unrecht zu.“125

Hierin spiegelt sich die Schwierigkeit, den Geistbesitz, der den Lehrer der Wüste autorisiert, intersubjektiv dingfest zu machen. Es ist aber (anders als bei Augustin) nicht eine geregelte Form der Traditionsweitergabe und (anders als bei Johannes Chrysostomus) nicht ein bestimmtes Kompetenzprofil, wodurch ein Lehrer sich ausweist, sondern die lebenspraktische Umsetzung der eigenen Lehre. Das ist freilich nichts Neues, vielmehr wird damit die lange Tradition philosophischer Ethik reproduziert, die richtiges Denken durch richtiges Leben authentifiziert sah. In der Mitte des 5. Jahrhunderts brachte T heodoret von Kyros († 466) dies auf den Punkt: „Platon hat tatsächlich die πολιτεία unserer Philosophen beschrieben!“126 Die Eremiten seien ja die wahren „Philosophen des Evangeliums“127, die, so T heodoret mit Worten aus der Politeia, „nicht nur gut scheinen, sondern gut sein wollten“.128 Damit ist allerdings durchaus ein Kompetenzprofil benannt, nämlich ein „gutes Leben“, das in monastischen Texten oft durch den Verweis auf die „Tugenden“ konkretisiert und mit Ehrfurcht in Bezug auf den christlichen Gott korreliert wird. Antonius’ Autorität – und die der vielen anderen Wüstenväter, deren ­Sprüche gesammelt und aufgeschrieben wurden – reicht über die Wüste hinaus, denn die Sammlungen erfolgten ja zu einer Zeit, als das ägyptische Eremitentum als so124  AP/G 599 Poimen 25 (PG 65, 328D): Εἶπε πάλιν· Ἄνθρωπος διδάσκων, μὴ ποιῶν δὲ ἃ διδάσκει, ὅμοιός ἐστι κρήνῃ· ὅτι πάντας ποτίζει καὶ πλύνει, ἑαυτὴν δὲ οὐ δύναται καθα­ ρίσαι. Übers. Schweitzer, 229. 125  AP/G 903 Syncletica 12 (PG 65, 425B): Ἐπικίνδυνον, τὸν μὴ διὰ τοῦ πρακτικοῦ βίου ἀναχθέντα διδάσκειν… τοῖς μὲν γὰρ λόγοις συνεκαλέσαντο εἰς σωτηρίαν, τῇ δὲ τοῦ τρόπου κακίᾳ τοὺς ἀθλητὰς μᾶλλον ἠδίκησαν. Übers. Schweitzer, 313. 126  T heodoret, Graecarum affectionum curatio XII 26 (SC 57/2, 426,11 f. Canivet): Ἐν δὲ τούτοις ὁ Πλάτων τὴν τῶν ἡμετέρων φιλοσόφων ἐζωγράφησε πολιτείαν. Dies bezieht sich auf das Ideal einer „Angleichung an Gott nach Möglichkeit“, die sich nur in der philosophischen Lebensform realisiert, durch die man „gerecht und fromm mit Einsicht wird“ (δίκαιον καὶ ὅσιον μετὰ φρονήσεως γενέσθαι; vgl. Platon, T heaetetus 176a–b). 127  T heodoret, Graecarum affectionum curatio XII 27 (SC 57/2, 427,8 f. Canivet): οἱ δὲ τῆς εὐαγγελικῆς ἐρασθέντες φιλοσοφίας. 128  T heodoret, Graecarum affectionum curatio XII 30 (SC 57/2, 428,9–11 Canivet): „Τὸν γὰρ τοιοῦτόν“ φησι „θέντες, τὸν δίκαιον αὖ παρ’ αὐτὸν ἱστῶμεν τῷ λόγῳ, ἄνδρα ἁπλοῦν καὶ γενναῖον, κατ’ Αἰσχύλον, οὐ δοκεῖν, ἀλλ’ εἶναι ἀγαθὸν ἐθέλοντα.“ Zitiert wird Platon, Politeia II 361b, der wiederum auf Aischylus, Septem contra T hebas 592 Bezug nimmt. Vgl. Urbano 2018, 244.

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zialgeschichtliches Phänomen schon wieder im Verschwinden begriffen war. Sie stammen aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht aus Ägypten selbst, sondern aus Palästina, wo in Klöstern und Lauren ein starkes Interesse an den „Urvätern“ der eremitischen Lebensform bestand. Was die Apophthegmata P ­ atrum dazu leisten sollten, sagt das Vorwort des anonymen Redaktors des Gerontikon: „In diesem Buch sind die vortreffliche Lebensweise und der wunderbare Lebenswandel sowie die Worte der heiligen und seligen Väter aufgeschrieben, zum Wecken des Eifers, zur Bildung und zur Nachahmung für die, die einen himmlischen Lebenswandel führen wollen und den Weg gehen möchten, der ins Himmelreich führt.“129

„Eifer“ (ζῆλος), „Bildung“ (παιδεία) und „Nachahmung“ (μίμησις) soll die Lektüre der Vätersprüche erzeugen. Damit sind die Haltung (das Engagement für das eigene Seelenheil durch eine ungestörte Gottesbeziehung) und das Vorbild (die Väter der Frühzeit, denen man solche Erfahrungen zuschrieb) benannt; es ist nicht ohne Ironie, dass Antonius, der ja in den Apophthegmata Patrum als der paradigmatische „Altvater“ erscheint, den es nachzuahmen galt, der Spruch zugeschrieben wird, Gott schicke dieser Generation „keine Kämpfe, wie er sie den Alten sandte, denn er weiß, dass sie schwach sind und diese nicht ertragen könnten“.130 Wichtiger ist Folgendes: Das monastische Leben erscheint in diesem Vorwort als Prozess der Formung des Selbst, als eine lebenslange Selbst-Bildung. Die Apoph­ thegmata Patrum sind in diesem Sinne ein Bildungskompendium, aber eins, das zur Seligkeit anleitet, indem man die πολιτεία der Wüstenväter und ihre Worte betrachtet. Lehren und Lebenspraxis machen erst zusammen die besondere Autorität aus, die zu dieser besonderen Art von Bildung führen, die wiederum zur „weltlichen“, schulischen Bildung in scharfen Kontrast gestellt werden kann: „Abbas Euprepius besuchte an seinem Anfang (d.h. als er selbst Mönch wurde) einen Greis und sagte zu ihm: ‚Sag mir ein Wort, wie ich gerettet werde.‘ Der aber sprach zu ihm: ‚Wenn du gerettet werden willst, so sprich, wenn du jemanden besuchst, nicht eher, als dass man dich befragt.‘ Jener aber war über dieses Wort zerknirscht, warf sich ihm zu ­Füßen und sprach: ‚Ich habe wirklich viele Bücher gelesen, aber von dieser παιδεία habe ich nirgends etwas erfahren.‘ Und mit viel Nutzen ging er weg.“131

129  AP/G praef.: Ἐν τῇδε τῇ βίβλῳ ἀναγέγραπται ἐνάρετος ἄσκησις καὶ θαυμαστὴ βίου διαγωγὴ, καὶ ῥήσεις ἁγίων καὶ μακαρίων Πατέρων, πρὸς ζῆλον καὶ παιδείαν καὶ μίμησιν τῶν τὴν οὐράνιον πολιτείαν ἐθελόντων κατορθῶσαι, καὶ τὴν εἰς βασιλείαν οὐρανῶν ἄγουσαν βουλομένων ὁδεύειν ὁδόν. Übers. Schweitzer, 19. 130  AP/G Antonius 23 (PG 65, 84B): Εἶπε πάλιν, ὅτι ὁ Θεὸς οὐκ ἀφίει τοὺς πολέμους ἐπὶ τὴν γενεὰν ταύτην, ὥσπερ ἐπὶ τῶν ἀρχαίων. Οἶδε γὰρ ὅτι ἀσθενεῖς εἰσι καὶ οὐ βαστάζουσιν. Übers. Schweitzer, 27. 131  AP/G 224 Euprepius 7 (PG 65, 172D): Παρέβαλεν ἐν ἀρχῇ αὐτοῦ ὁ ἀββᾶς Εὐπρέπιός τινι γέροντι, καὶ λέγει αὐτῷ· Ἀββᾶ, εἰπέ μοι λόγον πῶς σωθῶ. Ὁ δὲ εἶπεν αὐτῷ· Ἐὰν θέλῃς σωθῆναι, ὅταν παραβάλῃς τινὶ, μὴ προλάβῃς λαλῆσαι πρὶν ἐξετάσει σε. Ὁ δὲ ἐπὶ τῷ λόγῳ κατανυγεὶς ἔβαλε μετάνοιαν, λέγων· Ὄντως πολλὰ βιβλία ἀνέγνων, καὶ τοιαύτην παιδείαν οὐδέπω ἔγνων. Καὶ πολλὰ ὠφεληθεὶς ἐξῆλθεν. Übers. Schweitzer, 98.

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Es ist also nicht keine Bildung, die Euprepius von dem ungenannten „Alten“ empfängt, sondern eine andere Bildung, nämlich die der Unterwerfung unter eine geistliche Autorität; das lässt sich in der „heidnischen“ Schule naturgemäß nicht lernen. Anstatt lediglich sprachliche Kompetenz zu vermitteln, springt der Lehrer hier umstandslos zur Einübung in eine bestimmte Lebensform. Und gerade davon hat der monastische Anfänger „Nutzen“. In den „Wüstenvätersprüchen“ tritt das Spannungsfeld von Bildung und Religion vielfach nur implizit zutage.132 Expliziert wird es hingegen in der ersten Vita des prototypischen Wüstenvaters, der Vita Antonii des Athanasius von Alexandrien, die um 360, kurz nach dem Tod des Eremiten, geschrieben wurde.133 Antonius wurde um 250 in Mittelägypten als Kind christlicher Eltern geboren und war seinem Hagiographen zufolge schon von klein auf unterwegs zur Heiligkeit – ein Prototyp des παιδαριογέρων der späteren monastischen Tradition.134 Die Suche nach einem Leben in Gottesnähe führte ihn in die ägyptische Wüste, wo er allerdings nicht allein blieb, sondern ohne viel Zutun ganze Kolonien von Eremiten um sich scharte – „die Wüste wurde zu einer Stadt der Einsiedler“135 und Antonius zu deren Dorfschullehrer: „Indem er beständig Unterweisung im Gespräch gab, vermehrte er die Bereitwilligkeit der Mönche, von den anderen brachte er aber die meisten zur Liebe zur Askese. Und schnell, durch das Wort angezogen, entstanden zahlreiche Einsiedeleien; und er lehrte sie wie der Vater von allen.“136

Antonius sah hierin jedoch nicht seine letzte Bestimmung, vielmehr wollte er während der Christenverfolgung unter Maximinus Daia das Martyrium erleiden – vergeblich: „Der Herr bewahrte ihn zu unserem und zum Nutzen anderer, damit er auch in der Askese, die er selbst aus der Schrift gelernt hatte, zum Lehrer für viele würde.“137 Zum Wortfeld παιδεία in den Apophthegmata Patrum vgl. Gemeinhardt 2019, 258. Einleitungsfragen zur Vita Antonii (einschließlich Datierung und Autorschaft sowie Rezeption der Vita) werden in Gemeinhardt 2018b diskutiert. 134  Vgl. z.B. Kyrill von Skythopolis, Vita Sabae 11 (TU 49,2, 94,16 f. Schwartz). 135 Athanasius, Vita Antonii 14,7 (FC 69, 150,12 Gemeinhardt): ἡ ἔρημος ἐπολίσθη μοναχῶν. Der zitierten Ausgabe entstammen auch – ohne Einzelnachweise – die folgenden Übersetzungen. Einen Vergleich der Darstellung des Antonius in der Vita Antonii und in den Apophthegmata Patrum unter dem Autoritätsaspekt nimmt Smith 2017, 126–137 vor; er konstatiert gewissermaßen einen Autorisierungsüberschuss in der Vita, die „Antony’s clerical obedience, his Athanasian alliance, and his ecclesiastical asceticism“ herausarbeite (126). Stattdessen kommt Smith zu dem Schluss: „T he AP’s Antony is a monk who is authoritative in individual asceticism, holds sway over cenobitic monasticism, and has a special connection with the divine, granting him some of the specialized gifts that partly imbue him with authority“ (134). 136 Athanasius, Vita Antonii 15,3 (FC 69, 152,6–10 Gemeinhardt): Διαλεγόμενός τε συνεχῶς, τῶν μὲν ἤδη μοναχῶν τὴν προθυμίαν ηὔξανε, τῶν δὲ ἄλλων τοὺς πλείστους εἰς ἔρωτα τῆς ἀσκήσεως ἐκίνει. Καὶ ταχέως, ἕλκοντος τοῦ λόγου, πλεῖστα γέγονε μοναστήρια καὶ πάντων αὐτῶν ὡς πατὴρ καθηγεῖτο. 137 Athanasius, Vita Antonii 46,6 (FC 69, 214,16–216,2 Gemeinhardt): ὁ δὲ Κύριος ἦν 132 

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Die Lehrautorität, die anderswo – wie gesehen – über Traditionsmodelle wie die apostolische Sukzession oder über Kompetenzkriterien plausibilisiert wird, erscheint hier als von Gott intendiert und mit einer bestimmten Form von Bildung verbunden, nämlich mit dem Studium der Bibel. Dieses war nicht, wie im Grammatikunterricht, analytisch ausgerichtet, sondern lebenspraktisch; dennoch ist ausdrücklich davon die Rede, dass Antonius durch Lernen zum Lehrer wird. Das ist zu beachten, wenn über Antonius, dem immer wieder Visionen zuteil werden, gesagt wird, er sei, „wie geschrieben steht, ‚von Gott selbst gelehrt‘“.138 Der Begriff θεοδίδακτος geht auf 1 T hess 4,9 und Jes 54,13 LXX zurück (und dass hier ein Schriftbezug vorliegt, wird ausdrücklich gesagt!); er zeigt die „charismatische“ Dimension von Antonius’ Autorität an, die qua göttlichem Ursprung als außeralltäglich, nicht intentional vermittelbar definiert wird.139 Schon im Zusammenhang mit jener „Verstädterung der Wüste“ heißt es, der Herr habe „Antonius Gnade (χάρις) im Reden“140 gegeben – eine bemerkenswerte Pointe, hatte der junge Antonius doch, wie gleich zu Beginn der Vita festgestellt wird, sich dem schulischen Bildungserwerb rundheraus verweigert: „Als er heranwuchs, ein Junge wurde und im Alter voranschritt (vgl. Lk 2,40.52), weigerte er sich, Bildung zu erwerben, denn er wollte sich vom gewohnten Umgang mit anderen Kindern fernhalten. Sein ganzes Begehren richtete sich darauf, wie geschrieben steht, ‚unverbildet in seinem Hause zu weilen‘“ (Gen 25,27).141

Antonius’ Bildungsweg weicht also ausdrücklich von den gebahnten Pfaden ab; allerdings erwirbt Antonius in der Kirche eine besondere Bildung, die in den biblischen Schriften: „Er hatte derart auf die Lesungen acht, dass nichts von dem, was geschrieben steht, von ihm zu Boden fiel (vgl. 1 Sam 3,19), vielmehr blieb ihm alles erhalten (vgl. Lk 8,15); und so wurde ihm das Gedächtnis zum Ersatz für Bücher.“142 αὐτὸν φυλάττων εἰς τὴν ἡμῶν καὶ τὴν ἑτέρων ὠφέλειαν, ἵνα καὶ ἐν τῇ ἀσκήσει, ἣν αὐτὸς ἐκ τῶν γραφῶν μεμάθηκεν, πολλοῖς διδάσκαλος γένηται. 138 Athanasius, Vita Antonii 66,2 (FC 69, 252,14 f. Gemeinhardt): Καὶ ἦν, κατὰ τὸ γεγραμμένον, θεοδίδακτος γενόμενος ὁ μακάριος. 139  Zum Begriff θεοδίδακτος und seiner Verwendung in der christlichen Spätantike vgl. de Andia 1993. 140 Athanasius, Vita Antonii 14,6 (FC 69, 150,4 Gemeinhardt): Χάριν τε ἐν τῷ λαλεῖν ἐδίδου τῷ Ἀντωνίῳ. 141 Athanasius, Vita Antonii 1,2 f. (FC 69, 108,5–9 Gemeinhardt): Ἐπειδὴ δὲ καὶ αὐξήσας ἐγένετο παῖς καὶ προέκοπτε τῇ ἡλικίᾳ, γράμματα μὲν μαθεῖν οὐκ ἠνέσχετο, βουλόμενος ἐκτὸς εἶναι καὶ τῆς πρὸς τοὺς παῖδας συνηθείας. Τὴν δὲ ἐπιθυμίαν πᾶσαν εἶχε, κατὰ τὸ γεγραμμένον, ὡς ἄπλαστος οἰκεῖν ἐν τῇ οἰκίᾳ αὐτοῦ. Die hier ausgedrückte Ablehnung der höheren Schulbildung (Grammatik und Rhetorik) bedeutet keine Absage an jede Art von Bildung, weder an die Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können noch an eine Bildung, die auf einer angemessenen Grundlage, nämlich der Bibel, beruht. Γράμματα μαθεῖν ist nicht dasselbe wie der Schulbesuch: Kinder von bessergestellten Eltern erwarben oft zu Hause elementare schriftsprachliche Kenntnisse und gingen erst zum Erwerb höherer (grammatischer und rhetorischer) Bildung in eine Schule (vgl. Gemeinhardt 2007, 33 f.). 142 Athanasius, Vita Antonii 3,7 (FC 69, 116,14–118,2 Gemeinhardt): Καὶ γὰρ προσεῖχεν

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Neben der asketischen Erfahrung sowie der Belehrung durch Gott ist die Schriftkenntnis bzw. der Schriftgebrauch das dritte Element von Antonius’ Autorisierung als Lehrer, wie er selbst zu Beginn einer langen Rede an die Mönche zum Ausdruck bringt: „Die Heilige Schrift ist ausreichend als Lehre; gut aber ist es, wenn wir einander im Glauben ermahnen und mit ihren Worten salben. Und ihr bringt nun wie Kinder vor den Vater und sagt, was ihr wisst; ich aber, der ich dem Lebensalter nach euch schon vorangeschritten bin, teile euch mit, was ich weiß und was ich für Erfahrungen gemacht habe.“143

Autorität beruht also auch im Mönchtum auf Bildung, aber nicht auf formaler Schulbildung, die jemand, „dessen Verstand sich in gesundem Zustand befindet“, nicht braucht144, sondern auf biblischer Bildung145. Diese wiederum ist die Bedingung der Möglichkeit der Autorisierung durch Gott, jedenfalls nach der Vita Antonii. Der Akzent auf Erfahrung, Naturbelassenheit und Begabung unterscheidet das eremitische Mönchtum signifikant von den Autoritätsdiskursen, die wir zuvor untersucht haben.146 Dass Augustin den laut der athanasianischen Vita eklatant ungebildeten Antonius zuhöchst schätzte und sogar als Autorität in Bezug auf die Bibel anführte, ist umso bemerkenswerter.147 οὕτω τῇ ἀναγνώσει, ὡς μηδὲν τῶν γεγραμμένων ἀπ’ αὐτοῦ πίπτειν χαμαί, πάντα δὲ κατέχειν καὶ λοιπὸν αὐτῷ τὴν μνήμην ἀντὶ βιβλίων γίνεσθαι. 143 Athanasius, Vita Antonii 16,1 f. (FC 69, 152,13–154,5 Gemeinhardt): τὰς μὲν γραφὰς ἱκανὰς εἶναι πρὸς διδασκαλίαν, ἡμᾶς δὲ καλὸν παρακαλεῖν ἀλλήλους ἐν τῇ πίστει, καὶ ἀλείφειν ἐν τοῖς λόγοις. Καὶ ὑμεῖς τοίνυν ὡς τέκνα φέρετε τῷ πατρὶ λέγοντες εἴ τι οἴδατε· κἀγὼ δὲ ὡς τῇ ἡλικίᾳ πρεσβύτερος ὑμῶν, ἃ οἶδα καὶ ὧν πεπείραμαι μεταδίδωμι. 144 Athanasius, Vita Antonii 73,3 (FC 69, 266,16 f. Gemeinhardt): ᾯ τοίνυν ὁ νοῦς ὑγιαίνει, τούτῳ οὐκ ἀναγκαῖα τὰ γράμματα. 145  Zum Schriftgebrauch im eremitischen Mönchtum vgl. Gemeinhardt 2019, 251–256; ausführlicher Burton-Christie 1993, 107–133; grundlegend immer noch Dörries 1966b. 146  Es unterscheidet sie im Übrigen auch von formaler strukturierten Hierarchien im koinobitischen Mönchtum, das ebenfalls im 4. Jahrhundert entstand, sei es pachomianischer oder basilianischer Provenienz. Insbesondere bei Basilius ist der Zusammenhang von „Führung“ (προστασία) und „Gehorsam“ (ὑπακοή) durch den Bezug auf die Schrift geprägt, deren Gebote der Lehrer vermitteln muss, weshalb er – und nur er – gehalten ist, sich mit der Bibel intensiv vertraut zu machen, damit er als „leibhaftiges Beispiel des ganzen Gebotes des Herrn“ fungieren kann (Basilius von Caesarea, Regulae fusius tractatae 43,1; PG 31, 1028B: πάσης ἐντολῆς τοῦ κυρίου ἐναργὲς ὑπόδειγμα). Entsprechend ist nach Basilius (Regulae fusius tractatae 35,1; PG 31, 1004A) ein Vorsteher (προεστώς) erforderlich, der unter anderem „im Wort gewandt ist“ (ἐν λόγῳ τὸ αὔταρκες ἔχοντα) und „mit ganzem Herzen Gottes Gebote studiert“ (ἐν τελείᾳ καρδίᾳ ἐκζητοῦντα τὰ δικαιώματα τοῦ Θεοῦ). Vgl. dazu Müller 2006, 324 f.331. Intendiert ist eine „Verbindung von gemeinschaftsregulierendem und persönlichkeitsförderndem geistlichen Handeln des Vorstehers“ (aaO. 333). Müllers gründliche Untersuchung zum „geistlichen Gehorsam“ fragt aus der Perspektive derer, denen Gehorsam abverlangt wird und die sich einer Autorität unterwerfen; sie verhält sich insofern komplementär zu der hier verfolgten Fragestellung, die nach den Autoritäten selbst fragt. Müller 2006, 298–399 bietet eine höchst instruktive traditionsgeschichtliche Untersuchung von monastischen Gehorsamsstrukturen zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert, auf deren Grundlage das T hema von Abschnitt IV. weiter vertieft werden könnte und müsste. 147 Augustin, De doctrina christiana prol. 4 (CChr.SL 32, 2,51–3,53 Martin). Zu beachten ist allerdings, dass Antonius hier nicht als Paradigma für den christlichen Umgang mit

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V. Wandel und Kontinuität: Autorisierungsmuster in spätantiken Religionskulturen Blicken wir abschließend zurück und voraus. Im spätantiken Christentum war umstritten, wie religiöse Autorität durch Bildung zu begründen war, besser gesagt: durch welche Bildung. Was ich mit dem Begriff Tradition zusammengefasst habe – den Kanon der in der Schule vermittelten Kenntnisse in Grammatik und Rhetorik – ermöglichte zwar die Kommunikation unter Gebildeten, brachte aber aus christlicher Sicht die Gefahr einer Kontamination mit „falscher“ Religiosität mit sich. Davon prinzipiell abzusehen war freilich kaum möglich, weil die durch Bildung vermittelte Kompetenz zur öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes aufgrund der Rezeptionserwartungen von „Heiden“ und Christen unverzichtbar waren. Eine wirkliche Alternative bot allenfalls die Auswanderung aus der Gesellschaft in die Wüste, aber das war stets der Weg einer kleinen Elite, deren Viten für ein urbanes Publikum geschrieben wurden, das ihr Charisma anzuerkennen bereit war. Die Radikalität der Alternative ist überdies zu relativieren: Nur in seiner Welt konnte sich das Christentum von ihr unterscheiden, und alle hier beschriebenen Autorisierungsstrategien finden sich mutatis mutandis auch in nichtchristlichen Kontexten. Unterscheidet sich die christliche Religionskultur im Blick auf den Beitrag von Bildung zur Etablierung von Autorität überhaupt von zeitgenössischen paganen Praktiken und T heoriebildungen? Ja – und nein. Ja, denn die Begründung von Autorität durch den Rekurs auf das eigene Schriftcorpus, die eigene Tradition und die eigenen autoritativen Figuren konstituierte einen spezifischen Autoritätsdiskurs: „Was sie (sc. die Väter) in der Kirche vorfanden, hielten sie fest; was sie lernten, lehrten sie; was sie von den Vätern empfingen, überlieferten sie ihren Kindern.“148

Und nein – denn das sprachliche Bezugssystem blieb dasselbe, und damit waren auch die Spielräume für autoritatives Reden und Argumentieren vorgegeben. Augustin verwendet nicht zufällig ein Beispiel aus dem Grammatikunterricht, um das Akzeptieren traditioneller Normen und Figuren als Ausgangspunkt der selbständigen Verstehensbemühung zu etablieren; und bei Johannes Chrysostomus ist deutlich, dass der christliche Prediger sich die Kunst öffentlicher Rede aneignen und dann in einer seiner Sache – dem Evangelium – angemessenen Weise anwenden soll. Die kritische Haltung vieler christlicher T heologen zu der Schulbildung, der heiligen Schrift allgemein angeführt wird, sondern als Ausnahmemensch – und insofern tatsächlich als Träger charismatischer Autorität –, mit dessen Beispiel Augustin seinen imaginierten Gesprächspartnern zeigen will, dass sie sich gerade nicht ihrer Inspiration rühmen und die Befolgung der Regeln der Schriftauslegung für entbehrlich halten sollen. 148 Augustin, Contra Iulianum II 34 (PL 44, 698): Quod invenerunt in Ecclesia, tenuerunt; quod didicerunt, docuerunt; quod a patribus acceperunt, hoc filiis tradiderunt. Übers. Fiedrowicz 2013, 114. Zu Chrysostomus als Mitglied im Kreis der normativen Väter der Kirche vgl. auch Contra Iulianum I 30; II 37 (PL 44, 661 f.; 700 f.).

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die sie selbst genossen hatten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Modus der Ablehnung die Autorität der klassischen Bildung präsent blieb: So betonte, um ein zeitlich späteres Beispiel zu nennen, Papst Gregor I. († 604) im Widmungsbrief seiner Moralia in Iob an Bischof Leander von Sevilla, er habe bewusst die Regeln der disciplina exterior missachtet, Barbarismen absichtlich nicht vermieden und sich schon gar nicht um Satzstellung, Modi und Kasus geschert, „weil ich es für unangemessen halte, die Worte der himmlischen Offenbarung den Regeln eines Donatus zu unterwerfen.“149 Auch am Ende des Jahrhunderts, in dem die Institutionen der römischen Bildung im lateinischsprachigen Europa weithin ihre Funktion verloren, musste man die Autorität des zwei Jahrhunderte zuvor wirkenden Grammatikers Donatus eigens bestreiten! Doch lassen sich auch viele Beispiele dafür finden, dass christliche T heologen der Spätantike ihre Schriftwerke an Donatus und anderen einflussreichen Lehrbuchautoren orientierten, und dies überwiegend ohne schlechtes Gewissen. Wie innerhalb desselben kulturellen Bezugssystems religiöse Autorität neu konstituiert wurde und wie in den folgenden Jahrhunderten solche Autorisierungsstrategien in Byzanz und in den neuen abendländischen Herrschaftsgebieten, insbesondere im Karolingerreich, erneut transformiert wurden, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Stattdessen sei der Bogen zurück zum Anfang meiner Überlegungen geschlagen, zu Kaiser Julians christenfeindlichem Schuledikt. Der – sit venia verbo – „konfessionsgebundene Religionsunterricht“, den Julian zur Stärkung der paganen Religion intendierte, blieb Episode; schon Mitte 364 hob sein Nachfolger Jovian die eingangs beschriebenen Maßnahmen wieder auf. Es verdient jedoch Beachtung, dass Julians Ziel, Lehrautorität auf fachliches Können und glaubwürdigen Lebenswandel zu gründen, auch in Jovians Nachfolgeedikt erhalten blieb: „Wenn jemand für die Ausbildung der Jugend durch Lebensführung und Beredsamkeit gleichermaßen geeignet ist, möge er eine neue Schule eröffnen oder seine unterbrochene Lehre wieder aufnehmen.“150

Auch über Julians ebenso innovative wie kurzlebige Initiative hinaus liegt der rote Faden in Bezug auf Autorität und Bildung in der Spätantike in der Kohärenz von Lehren und Tun: Nur wer persönlich hinter dem steht, was er (oder sie) lehrt, wirkt glaubwürdig. Hierin waren sich „Heiden“ und Christen einig, selbst wenn sich die Geister an den autoritativen Texten, Gestalten und Verfahren schieden. In Fragen der Religion erschien persönliche Glaubwürdigkeit als Bedingung gelingenden 149  Gregor I., Registrum epistolarum V 53a (MGH.Epp. I, 357,37–358,1 Ewald / Hartmann): Unde et ipsam loquendi artem, quam magisteria disciplinae exterioris insinuant, servare despexi. Nam sicut huius quoque epistolae tenor enuntiat, non metacismi collisionem fugio, non barbarismi confusionem devito, situs modosque et praepositionum casus servare contemno, quia indignum vehementer existimo, ut verba caelestis oraculi restringam sub regulis Donati. Neque enim haec ab ullis interpretibus, in scripturae sacrae auctoritate servata sunt. 150  Codex T heodosianus XIII 3,6 (742 Mommsen): Si qui erudiendis adulescentibus vita pariter et facundia idoneus erit, vel novum instituat auditorium vel repetat intermissum. Übers. Vössing 2014, 332.

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Lehrens, ob sie nun durch den plausiblen Bezug auf Traditionsgrößen, durch performative Kompetenz oder charismatisches Auftreten generiert wurde. Anders als heute waren Autoritäten in der Spätantike vielleicht nicht ausdrücklich dazu da, um sich an ihnen zu reiben; dennoch wurde in der Auseinandersetzung mit ihnen Identität durch Bezug auf Tradition gestiftet und die eigene Lehrkompetenz ausgebildet, ja die Bildung des Selbst profiliert. Das gilt auch da, wo vordergründig gar nicht ständig von Autorität die Rede ist, im Mönchtum. Lebenslanges Lernen und dynamische Autoritätsstrukturen – vielleicht war das eremitische Mönchtum innovativer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag! Der Blick auf Wüstenväter wie Antonius und seine Zeitgenossen ist hilfreich, um die urbanen, diskursiven Autorisierungsstrategien eines Augustin und Johannes Chrysostomus zu kontextualisieren. Die Partizipations- und Plausibilisierungsstrategien in diesem religionskulturellen Spannungsfeld in der Spätantike weiter zu kartieren wäre ein lohnendes Unterfangen.

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Autoritäten in Priesterbüchern der Karolingerzeit Steffen Patzold 1. Einleitung Priesterbücher haben als Quellenmaterial für die Geschichte der Karolingerzeit erst seit knapp zwei Jahrzehnten größere Aufmerksamkeit in der Mediävistik gefunden. Es handelt sich um Codices, die für die Ausbildung und den Alltagsgebrauch von Priestern hergestellt worden sind – und zwar gerade für diejenigen lokalen Priester, die jenseits der Bischofssitze, Klöster und Kanonikerstifte in den Weiten des Karolingerreichs die Seelsorge der Menschen zu schultern hatten.1 Die Frage nach Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion ist für dieses Quellenmaterial gleich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen diente die Ausbildung der Priester nicht zuletzt dazu, sie zu lokalen Autoritäten im Umgang mit religiösem Wissen zu machen;2 wir können also im Spiegel dieses Materials nach dem Priester als Autorität in Glaubensfragen vor Ort fragen. Zum anderen lässt sich aber auch untersuchen, wie die Kompilatoren der Bücher selbst mit Autoritäten umgingen. Beide Ebenen von Autorität im Spannungsfeld von Religion und Bildung sollen im Folgenden diskutiert werden. Zuvor allerdings gilt es, zumindest kurz den Untersuchungszeitraum in seinen kulturellen Eigenarten vorzustellen.

2. Hinführung: Das Karolingerreich und die sogenannte Correctio Das Frankenreich erstreckte sich seit der Spätzeit Karls des Großen († 814) von der Nordsee bis Rom, von Barcelona bis zur Elbe; es dominierte zumindest den Westen Europas deutlich. Es war allerdings kulturell weit weniger einheitlich, als es handelsübliche historische Karten vorspiegeln: Die kulturellen Unterschiede von Region zu Region waren kräftig; die Spanne reicht von dem noch stark von römischen Traditionen geprägten Südfrankreich bis hin zu den sächsischen Gebieten 1  Hen 1999; 2001; Keefe 2002; Patzold 2009; 2015a; 2019; McCune 2013; Van Rhijn 2014; 2016a; 2019. 2  Vgl. Van Rhijn 2006; 2016b.

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im heutigen Norddeutschland bis zur Elbe, die Karl erst seit den 770er Jahren in immer neuen Feldzügen erobert hatte. Die Forschung war der Ansicht, gerade die Karolinger hätten sich seit Karl dem Großen intensiv darum bemüht, einheitliche Strukturen in ihrem Großreich einzuführen: Denn anders sei ein solches politisches Gebilde kaum zu regieren gewesen. An der Idee mag etwas Richtiges sein; das Hauptziel der Politik, die wir seit etwa 780 beobachten können, dürfte jedoch nicht die Regierbarkeit des Großreichs gewesen sein, sondern die Gnade Gottes – oder genauer: der Versuch, möglichst alle Menschen im Frankenreich zu guten Christen zu erziehen, die das Richtige glaubten und den christlichen Kult korrekt und gottgefällig vollzogen. Dahinter stand der Gedanke: Erst dann, wenn Gott gnädig auf die den Karolingern zur Führung anvertrauten Menschen schaue, erst dann werde er auch bereit sein, der Herrschaft der Karolinger seinen Segen zu geben. Ohne Gottes Wohlgefallen aber bleibe alle irdische Herrschaft zum Scheitern verurteilt.3 Politik und Religion waren damit in interessanter Weise ineinandergeblendet.4 Diese politische Kernidee löste im späten 8. und im 9. Jahrhundert eine hektische Betriebsamkeit aus. Sie war darauf ausgerichtet, möglichst jeden einzelnen Menschen zentral zu erfassen, in seiner Lebensweise und Moral zu überwachen und in seinem alltäglichen Handeln so zu bessern, dass er Gottes Wohlgefallen finden konnte. Als wesentliche Mittel hierfür galten den hofnahen Eliten die Predigt (zur Belehrung) und die Praktiken der Beichte und der Buße (zur Besserung im Angesicht Gottes).5 Eines der lateinischen Wörter, das die Zeitgenossen in diesem Zusammenhang immer wieder nutzten, war correctio. Es ist zunächst einmal bezogen nicht auf die Gesellschaft als Ganzes, sondern auf den einzelnen Menschen; und es schillert in seiner Bedeutung zwischen „Verbesserung“ und „Züchtigung“. Gerade damit trifft das Wort den Kern des politischen Unternehmens erstaunlich gut. Janet Nelson hat die Atmosphäre auf den großen und kleinen Versammlungen, auf denen diese correctio jedes einzelnen vorangetrieben wurde, einmal bezeichnet als „a cross between Quaker meeting and quality inspection, with traces of confessional, lawcourt, touchgroup, and management training session“6. Verbesserung setzte nun allerdings zugleich voraus, dass jeder einzelne Mensch auch wusste, wie er sich in der christlichen Kultpraxis, im Glauben, in der täglichen Lebensführung gottgefällig zu verhalten hatte. Man musste jeden Menschen darüber belehren, was für einen Christen richtig und was falsch war. Und man musste dafür sorgen, dass auch die Lehrer selbst dies möglichst genau wussten. Das war keine leichte Aufgabe. Denn letztlich konnte man Gottes Willen nie zweifelsfrei er3  Vgl. dazu zuletzt van Rhijn 2013 / 2018 sowie Patzold 2020. Zur T hese, Karl der Große habe sich politisch wesentlich von dem Ziel einer „Vereindeutigung“ leiten lassen, vgl. Weinfurter 2013 und die Kritik daran bei Ubl 2015. 4  Vgl. dazu – mit je eigener Perspektive – Fried 1982 sowie de Jong 2006 und 2009. 5  Zur Bedeutung der Predigt: McCune 2013a; Diesenberger 2015; zu Beichte und Buße: Meens 2014. 6  Nelson 2001, 81.

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kennen; man musste ihn irgendwie aus den Heiligen Schriften, der Väterliteratur und weiteren Formen göttlicher Offenbarungen zu ermitteln suchen, denen man Autorität im religiösen Feld zuschrieb. Zumal Autoritäten wie die Bibel und Schriften der Kirchenväter waren aber als Gesamtkomplex alles andere als widerspruchsfrei und transparent. Es bedurfte also erheblicher Expertise im Umgang mit Texten, um hier so viel Sinn zu stiften, wie es politisch gewollt war. Besonders anschaulich wird dieser gesamte Ideenkomplex an jenem berühmten Rundschreiben Karls des Großen, das in der Forschung heute unter dem lateinischen Kunsttitel Epistola de litteris colendis zitiert wird.7 Es ist nicht datiert, stammt aber am ehesten aus der zweiten Hälfte der 780er Jahre.8 In diesem vielbehandelten Brief mahnte Karl der Große in dringendem Ton, das Wissen der Mönche zu bessern. Von den Klöstern werde fortan mehr erwartet als nur eine „Ordnung regelgebundenen Lebens“, mehr auch als „eine Lebensführung heiliger Frömmigkeit“. Diejenigen, denen Gott die Fähigkeit zum Lernen geschenkt hatte, sollten künftig ihren Eifer auch wirklich aufs Lernen richten: „So wie die Norm der Regel die Ehrwürdigkeit der Sitten, so soll der beharrliche Fleiß beim Lehren und Lernen auch die Reihe der Wörter ordnen und schmücken – so dass diejenigen, die Gott dadurch zu gefallen suchen, dass sie richtig leben, nicht vernachlässigen, ihm dadurch zu gefallen, dass sie richtig sprechen.“9 Diese Forderung begründete der Brief mit Autoritäten. Zunächst wird das Matthäus-Evangelium selbst zitiert: „Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden“ (Mt 12,37). Danach wird dann nahezu wörtlich ein Zitat aus einer der Predigten des Caesarius von Arles angeführt: „Obwohl es besser ist, gut zu handeln als zu wissen, kommt doch das Wissen vor dem Handeln.“10 Der Satz bringt die Kernidee auf den Punkt: Gutes, gottgefälliges Handeln setzte Wissen voraus. Deshalb sollte die Sprache der Mönche fortan korrekt und fehlerfrei sein. Allzu oft, so klagte Karl, erreichten ihn Schreiben von Mönchen, deren Gedanken zwar richtig, deren Sprache aber roh sei: „Daher bekommen wir Angst, dass so, wie die Klugheit beim Schreiben sehr gering war, die Weisheit beim Verstehen der Heiligen Schriften noch viel geringer sein könnte, als sie es richtigerweise sein muss. Und wir wissen ja alle nur zu gut: Schon Fehler in Wörtern sind gefährlich, noch viel gefährlicher aber sind Fehler in den Gedanken!“11 Epistola de litteris colendis 166 (246–254 Stengel). Zur Datierung vgl. Martin 1985, 250–254; zur Mitwirkung Alkuins an der Abfassung: Scheibe 1958; Wallach 1959, 204–211.  9  Epistola de litteris colendis (251 Stengel): […] sicut regularis norma honestatem morum, ita quoque docendi et discendi instantia ordinet et ornet seriem verborum, ut qui deo placere appetunt recte vivendo, ei etiam placere non neglegant recte loquendo. 10  Epistola de litteris colendis (252 Stengel): Quamvis enim melius sit bene facere quam nosse, prius tamen est nosse quam facere; vgl. Caesarius von Arles, Sermo 4 (I, 1 Morin) 1953, Bd. 1,1, Nr. IV, 21–25, hier 22; vgl. dazu auch Patzold 2015b. 11  Epistola de litteris colendis (252 f. Stengel): Unde factum est, ut timere inciperemus, ne forte, sicut minor erat in scribendo prudentia, ita quoque et multo minor esset quam recte esse  7   8 

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Deshalb mahnte der König die Mönche, ihr eifriges Bemühen um die litterae nicht zu vernachlässigen. Untereinander wetteifernd sollten die Brüder lernen: „Damit ihr leichter und richtiger die Geheimnisse der göttlichen Schriften zu durchdringen vermögt!“12 Man werde den geistlichen Sinn der Texte rascher verstehen, je eher man voll und ganz im Lehramt ausgebildet sei, konstatierte Karl. Das richtige Wissen, der korrekte Umgang mit den litterae galten den Eliten der Zeit geradezu als eine heilspolitische Notwendigkeit. Denn erst, wenn man mit Buchstaben und Texten, mit schriftlicher Überlieferung und deren Sinn umzugehen vermochte, konnte man aus den Heiligen Schriften überhaupt Gottes Willen erkennen, um dann ihm gemäß zu handeln und erfolgreich zu beten. Ohne Gottes Wohlgefallen aber konnte keine menschliche Herrschaft Bestand und Erfolg haben. Eben deshalb galt es, das Wissen aller Christen zu bessern: Denn nur dann konnten sie gottgefällig leben und handeln; nur dann wurde der Herrscher selbst seiner von Gott auferlegten Verantwortung gerecht; nur dann durfte man auf Gottes Gnade für das Reich hoffen. Dieser Zusammenhang zwischen Wissen, schriftlich tradierten Autoritäten, rechtem Handeln und der Gnade Gottes war für die karolingische Welt fundamental. Er prägte den politischen Diskurs im Frankenreich spätestens seit den 780er Jahren tiefgreifend.13 Dies ist nun aber auch die Folie, vor der die Priester in den Weiten des Landes eine neue Bedeutung erlangten. Wir können im späten 8. Jahrhundert beobachten, wie die Eliten die Priester als geeignete Vermittler der correctio ‚vor Ort‘ entdeckten und profilierten. Carine van Rhijn hat diese lokalen Priester sehr treffend als „bottleneck of correctio“ bezeichnet14. Wir können dies schon in der bekannten Admonitio generalis Karls des Großen von 789 sehen: Karl und seine Berater ließen dieses programmatische Mahnschreiben mit ausführlichen Anweisungen enden, wie und was die Priester ihren Gemeinden predigen sollten.15 Die Idee muss sich damals geradezu aufgedrängt haben: Wer die gottgefällige Besserung eines jeden Menschen anstrebt, der kann ohne lokale Priester kaum auskommen. Sie wirkten in der einzelnen Siedlung vor Ort; sie konnten das Leben ihrer Schäfchen unmittelbar beobachten und überwachen; sie konnten zeitnah auf moralische oder praktische Missstände reagieren; sie waren berechtigt zur Predigt (was sie zu geeigneten Lehrern vor Ort machte); und sie durften Christen die Beichte abnehmen und Bußen auferlegen (was sie zu geeigneten ‚Korrektoren‘ vor Ort machte). Allerdings setzte all das voraus, dass die Priester so weit gebildet waren, dass sie keinen Unfug lehrten oder ihren Schäfchen abverlangten – und auch von ihren Gedebuisset sanctarum scripturarum ad intellegendum sapientia. Et bene novimus omnes, quia, quamvis periculosi sint errores verborum, multo periculosiores sunt errores sensuum. 12  Epistola de litteris colendis (253 Stengel): […] ut facilius et rectius divinarum scripturarum mysteria valeatis penetrare. 13 Vgl. dazu auch McKitterick 1977, XVIII–XXI; Angenendt 1992; van Rhijn 2013, 159 f.165 f. 14  Van Rhijn 2006 (das Zitat schon im Titel des Beitrags). 15  Admonitio generalis 80 (234–238 Glatthaar).

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meinden als Autoritäten ernstgenommen wurden. Der Hof, die hofnahen Eliten, die Bischöfe in ihren Diözesen standen deshalb vor einem Problem, das wir heute als ‚Qualitätssicherung‘ beschreiben würden: Tatsächlich können wir eine große Vielfalt an Instrumenten, Institutionen und Praktiken beobachten, über die diese Qualitätssicherung priesterlichen Wissens erreicht werden sollte. Das Spektrum ist breit: Es reicht von der Abfassung und Kompilation immer neuer Lehrtexte für Priester und Priesterexamen vor der Weihe über jährliche Diözesan­synoden (mitsamt Wissensprüfungen und Bücherdurchsicht) und neuartige Normtexte von Bischöfen für Priester (die wir heute als „Bischofskapitularien“ bezeichnen) bis hin zum bischöflichen Sendgericht, das sich in den letzten Jahren des 9. Jahrhunderts institutionell verfestigte.16 Die Überlieferung zur Ausbildung der Priester ist weniger dicht, als man es wünschen könnte; aber die Quellen bieten uns doch zumindest einige Splitter einschlägiger Informationen. So wissen wir, dass Jungen bei ihren lokalen Priestern die Grundlagen der christlichen Lehre erlernen konnten. Außerdem sollte man hier auch die litterae, also das Lesen, einüben können.17 Der entsprechende Unterricht wurde nicht zuletzt von jenen Klerikern niederer Weihegrade abgehalten, die in einem Priesterhaushalt der Karolingerzeit ohnehin zu erwarten sind.18 Wichtig ist aber: Diejenigen Männer, die selbst Priester werden wollten, blieben nicht bei einer solchen Ausbildung im Priesterhaus stehen. Sie erhielten eine weitere Stufe ihrer Ausbildung in Klöstern oder direkt an der Bischofskirche. Die normativen Vorgaben hierzu sind deutlich; der Bischof T heodulf von Orléans beispielsweise benannte um 800 namentlich eine Reihe von Klöstern in seiner Diözese und die Kathedrale Sainte-Croix in Orléans als diejenigen Orte, zu denen Priester ihre Verwandten zur Ausbildung schicken sollten19. Und wir haben auch Belege dafür, 16 

Vgl. zu alledem Patzold 2020, Kapitel VII. Admonitio generalis 70 (224 Glatthaar): ut scolae legentium puerorum fiant; T heodulf von Orléans, Kapitular I 20 (116 Brommer): Presbyteri per villas et vicos scolas habeant. Et si quilibet fidelium suos parvulos ad discendas litteras eis commendare vult, eos suscipere et docere non rennuant, sed cum summa caritate eos doceant […]. Cum ergo eos docent, nihil ab eis pretii pro hac re exigant nec aliquid ab eis accipiant excepto, quod eis parentes caritatis studio sua voluntate obtulerint; Concilium Moguntinense a. 813, c. 45 (Nr. 36; 271 f. Werminghoff): Propterea dignum est, ut filios suos donent ad scolam, sive ad monsteria sive foras presbyteris, ut fidem catholicam recte discant et orationem dominicam, ut domi alios edocere valeant. Qui vero aliter non potuerit vel in sua lingua hoc discat; Riculf von Soissons, Kapitular, c. 18 (108 Pokorny / Stratmann): […] et scolarios suos modeste distringant, caste nutriant et sic litteris imbuant, ut mala conversatione non destruant, et puellas ad discendum cum scolariis suis in scola sua nequaquam recipiant. 18  Vgl. zum Beispiel Walter von Orléans, Kapitular, c. 6 (189 Brommer): Ut unusquisque presbiter suum habeat clericum, quem religiose ęducare procuret et, si possibilitas illi est, scolam in ęcclesia sua habere non negligat sollerterque caveat, ut, quos ad erudiendum suscipit, caste sinceriterque nutriat. 19  T heodulf von Orléans I, c. 19 (115 f. Brommer): Si quis ex presbyteris voluerit nepotem suum aut aliquem consanguineum ad scolam mittere, in ecclesia sanctae Crucis aut in monasterio sancti Aniani aut sancti Benedicti aut sancti Lifardi aut in ceteris de his coenobiis, quae nobis ad regendum concessa sunt, ei licentiam id faciendi concedimus. 17 Vgl.

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dass Priester in der Praxis tatsächlich auch in solchen geistlichen Institutionen ausgebildet worden sind20 – das heißt an Stätten, die ein deutlich höheres Wissensniveau bieten konnten als der Haushalt eines durchschnittlichen lokalen Priesters. Mit Blick auf die Inhalte der Wissensvermittlung helfen uns vor allem die Bischofskapitularien weiter. Denn eine ganze Reihe dieser bischöflichen Normtexte bieten Listen derjenigen Texte, die Priester zu kennen hatten: das Vaterunser, das ‚Symbolum apostolorum‘ und das athanasianische Glaubensbekenntnis, die Ordines für die Taufe und die Messe, die Canones, die Evangelienhomilien Gregors des Großen, mindestens aber die 17. dieser Homilien – und dergleichen mehr. Ein angehender Priester musste einiges auswendig lernen!21 Der äußere Rahmen ist damit abgesteckt. Eben in den Kontext dieser ‚Qualitätsoffensive Priesterbildung‘ seit den Jahren um 800 gehört auch dasjenige Quellenmaterial, das im Folgenden genauer vorgestellt werden soll: Dies sind Codices, die im Frankenreich für die Ausbildung von Priestern, vielleicht auch für die Weiterbildung von Priestern im Amt oder für die praktische Nutzung durch lokale Priester im Alltag hergestellt wurden. Wir verdanken die Kenntnis eines Gutteils dieses Materials Susan Keefe: Sie hat diese Bücher in einer großen Pionierstudie von 2002 als „instruction readers“ für Priester bezeichnet.22

3. Überblick über das Material Es ist keine einfache Aufgabe, diese sogenannten „instruction readers“ als eine Gruppe zu beschreiben. Was sie eint, ist immerhin dies: Sie alle bieten Sammlungen jener grundlegenden Lehrtexte und mehr oder minder kurzen Erklärungen zum christlichen Dogma und zur Liturgie, die für die Ausbildung von Geistlichen wichtig waren, außerdem aber auch Texte für den Gebrauch von Priestern in ihrem alltäglichen geistlichen Dienst. Sie alle enthalten damit zumindest eine gewisse Anzahl derjenigen Materialien, von denen Bischöfe in ihren Kapitellisten seit ca. 800 regelmäßig forderten, dass Priester sie auswendig lernen und verstehen sollten. Das heißt konkret: Recht häufig finden sich Erklärungen zum Vater20  Vgl. etwa Einhard, Translatio ss. Marcellini et Petri III 20 (104 Kies et al.): Suntilinga dicitur villa in pago Nitahgaouue, in qua presbiter quidam nomine Uualtbertus tenebat ecclesiam. Is mente captus magno suorum maerore ad basilicam martyrum adductus est. Ex quibus tres erant fratres eius, unus presbiter et duo laici; quartus erat monachus, propinquus ipsius, de monasterio Hornbach, in quo et ipse presbiter a parva aetate fuerat educatus. 21  Vgl. statt anderem nur den Wissenskanon, den in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in der Salzburger Kirchenprovinz die Capitula Frisingensia prima (204 f. Pokorny), den Priestern vorschrieben. Die Kenntnis der 17. Evangelienhomilie Gregors des Großen fordert Hinkmar von Reims, Kapitular I, c. 8 (38 Pokorny / Stratmann): Omelias XL Gregorii quisque presbyter studiose legat et intellegat et, ut cognoscat se ad formam LXXduorum discipulorum in ministerio ecclesiastico esse promotum, sermonem predicti doctoris de LXX discipulis a domino ad praedicandum missis plenissime discat ac memorię tradat. 22  Keefe 2002, Bd. 1, 23–25.

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unser23 und zu den verschiedenen Glaubensbekenntnissen24, außerdem Texte zur Tauf- und Messliturgie25; hinzutreten können typischerweise Gebete und Benedictiones für die verschiedensten Zwecke26, Predigten27 oder kleinere Texte zur christlichen Moral (wie etwa Tugenden- und Lasterkataloge), Canones, Bußtexte, Lehrdialoge zu verschiedenen kirchlichen T hemen28, auch Bischofskapitularien, bisweilen sogar Materialien zum Computus und noch anderes mehr. Die Übereinstimmung zwischen den Forderungen der Bischofskapitularien und den Sammlungen in den Codices bleiben nicht nur allgemein und vage, sondern können auch sehr konkret werden. T heodulf von Orléans beispielsweise forderte um 800 von den Priestern seiner Diözese, dass sie die Liste der instrumenta bonorum operum im vierten Kapitel der ‚Regula Benedicti‘ kannten.29 In einem Priesterbuch aus Fleury (einem der Klöster, in das Priester der Diözese Orléans ihre Verwandten zur Ausbildung schicken konnten30) findet sich nun als Beginn einer Sammlung von Predigten eben dieses vierte Kapitel der Benediktregel.31 Ein anderes Beispiel: Hinkmar von Reims hatte gefordert, dass die Priester die 17. Evangelienhomilie Gregors des Großen auswendig kennten32; in Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 1012, einem frühen „instruction reader“ aus dem ersten Drittel des 9. Jahrhunderts, steht eben diese 17. ‚Homilia in evangelium‘ des Papstes (während die übrigen fehlen).33 Jenseits von der thematischen Grundausrichtung und demselben Repertoire an Texten bleibt allerdings jeder „instruction reader“ ein Solitär. So ähnlich der Grundcharakter als Sammlung von Lehr- und Brauchtexten für lokale Priester ist, so unterschiedlich und individuell ist die je eigene Zusammenstellung der Materialien in jedem einzelnen Buch. Eine exakte (oder auch nur weitgehende) Doublette einer Sammlung ist bisher nicht bekannt geworden. Das bedeutet: Die Herstellung dieser Bücher kann eigentlich nicht zentral gesteuert worden sein – und zwar weder vom Hof aus für das gesamte Frankenreich, noch auf Diözesanebene, vom jeweiligen Bischof für alle Priester seines Bistums (wie Keefe es vermutet hat34). In solchem Falle nämlich müssten wir weit größere Übereinstimmungen zwischen 23 

Dazu näherhin Patzold 2016. Keefe 2012a. 25  Keefe 2002; eine Neuedition des weit verbreiteten Messkommentars Dominus vobiscum bereiten zur Zeit Carine van Rhijn und Els Rose vor. 26  Vgl. zum Beispiel Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 485, fol. 49r–63v. 27  Ein interessantes Beispiel in Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 1012 behandelt McCune 2013b. 28  Zu diesen sogenannten Priesterexamen: Vykoukal 1913; van Rhijn 2012. 29  T heodulf von Orléans I, c. 21 (117–119 Brommer). 30  Vgl. oben, Anm. 19. 31 Orléans, Médiathèque, 116, fol. 28r–v. 32  Vgl. Anm. 21. 33 Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 1012, fol. 9v–27r. 34  Keefe 2002, Bd. 1, 24. – Das 4. Konzil von Toledo hatte im Jahr 633 in seinem 26. Kanon vorgeschrieben, dass ein Bischof den Priestern, die für Kirchen auf dem Land geweiht wurden, nach ihrer Ordination einen liber officialis übergeben sollte, das heißt ein liturgi24 

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den einzelnen Büchern sehen. Nirgends aber lassen sich Spuren eines festen Modells oder wenigstens einer größeren Sammlung finden, die regelhaft und über längere Zeit für den Gebrauch von mehreren Priestern einer Diözese kopiert worden wäre. Die betreffenden Bücher wurden also wohl nicht ‚von oben‘ verteilt, sondern dezentral an verschiedenen Orten und in je eigener Weise angefertigt. Anders kann man die immer neuen Variationen über einige wenige Kernthemen, die wir in diesen Büchern treffen, wohl kaum erklären. Das ist ein Befund, der nicht zuletzt für die Frage nach Autorität interessant ist: Ihre Autorität bezogen die „instruction readers“ offenkundig nicht aus einem standardisierten, allseits anerkannten Modell eines solchen Buches, auch nicht aus ihrer Herkunft vom Hof oder vom Bischofssitz. Ihre Autorität als Buch beruhte auf der Autorität der einzelnen Texte, die in der jeweiligen Sammlung zusammengestellt waren. Die Varianz zwischen den Büchern reicht dabei tatsächlich sogar bis weit in die Gestalt der einzelnen Texte hinein. Ein typisches Beispiel hierfür ist die sogenannte Collectio Sangermanensis XXI titulorum, die für die Herstellung mindestens dreier Priesterbücher (Albi, Bibliothèque Municipale 38bis; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14508; Orléans, Médiathèque, 116) und außerdem noch für das Referenzwerk im Vaticanus Palatinus latinus 48535 aus Lorsch eine gewisse Rolle gespielt hat. Die Collectio Sangermanensis ist in derjenigen Gestalt, die die kritische Edition bietet36, tatsächlich nur in einer einzigen Handschrift überliefert (Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 12444). Auch das ist jedoch nicht der Archetyp; und so können wir letztlich nicht einmal sicher sein, dass wenigstens dieser Textzeuge, dem die Sammlung ihren lateinischen Kunst­ titel verdankt, die ursprüngliche, vollständige Gestalt bietet. In unseren drei „instruction readers“ wiederum finden sich jeweils nur mehr oder minder kurze Auszüge aus der Sammlung, die ihrerseits wieder bearbeitet und um anderes Material ergänzt worden sind: Im Monacensis latinus 14508 sind gezielt Passagen ausgewählt worden, die besonders interessant für einen lokalen Priester waren.37 In Albi, Bibliothèque Municipale, 38bis, hat ein Redaktor sein Exzerpt aus der Collectio Sangermanensis zusammengewoben mit weiteren Fragen und Antworten zum Priesteramt und zur Taufe.38 In Orléans, Médiathèque, 116, sieht man zwar noch die Bezüge zur Collectio Sangermanensis, allerdings weicht hier die konkrete Textgestalt des Auszugs selbst schon sehr weit vom Vorbild ab.39 sches Buch, dem die richtige Art der Spendung der Sakramente zu entnehmen war: Schneider 2004, 30. 35  Zu der Handschrift grundlegend Paxton 1990; zur Rezeption der Collectio Sangermanensis: Stadelmaier 2004, 100 f. 36  Ed. Stadelmaier 2004; zum vorwiegend didaktischen Charakter der Sammlung vgl. Siems 2009. 37  Dazu Waagmeester 2016, bes. 49–70. 38  Stadelmaier 2004, 87. 39  Stadelmaier 2004, 79 f.

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Und als wäre all das nicht schon kompliziert genug: Die Collectio Sangermanensis bietet ganz am Ende auch einen Abschnitt zu eherechtlichen Fragen. Ein Teil dieses Abschnitts (wie noch andere Passagen mehr) geht zurück auf die sogenannte Collectio Hibernensis. In Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 1370 kann der Leser nun ebenfalls Canones zu eherechtlichen Fragen finden. Die sind teilweise aus denselben Passagen der Collectio Hibernensis geschöpft wie diejenigen der Collectio Sangermanensis; aber in diesem Falle wurden sie – wie eine Detailanalyse des Texts zeigt – sicher nicht über die Collectio Sangermanensis vermittelt… Die Beispiele solcher Art ließen sich leicht vermehren. Schon ein rascher Blick in die Editionen der karolingerzeitlich überlieferten Texte zur Taufe und zu den Glaubensbekenntnissen, die Susan Keefe vorgelegt hat40, macht dasselbe Phänomen auf andere Weise anschaulich: Es ist auch hier nämlich keineswegs immer klar zu entscheiden, ob wir es bei einem überlieferten Text lediglich mit einem Textzeugen eines auch anderweitig tradierten Werks zu tun haben; oder ob eine eigenen Rezension desselben Werks vorliegt; oder ob wir ein anderes, eigenes Werk vor uns haben. Tatsächlich sind die Übergänge zwischen diesen drei Phänomenen in dem in den Priesterbüchern überlieferten Material oft ganz und gar fließend. Die klassischen, auf die Rekonstruktion des Archetyps eines Werks ausgerichteten Editionsprinzipien helfen deshalb bei der Erschließung dieser Textgruppe wenig weiter.41 Man kann sagen: Die Texte in „instruction readers“ waren ‚lebendig‘. Immer wieder neu wurden aus einer überschaubaren Zahl von Autoritäten (wie etwa Isidors De ecclesiasticis officis42) oder aus bereits vorliegenden Bearbeitungen solcher Autoritäten (wie in der oben erwähnten Collectio Sangermanensis, oder auch in der sogenannten Disputatio puerorum43) mehr oder minder kurze Texte hergestellt: kleine Lehrdialoge, Erklärungen, Erläuterungen zu den Grundlagen des Christentums in Dogma, Kult und Liturgie. Dieses Material wurde dann seinerseits wieder in immer neuen Exzerpten zu je eigenen Sammlungen zusammengeführt und dabei teils auch noch einmal in der Textgestalt variiert und angereichert. Solche Sammlungen bilden schließlich den Grundstock eines „instruction reader“ – der allerdings von Fall zu Fall noch mit je besonderem Zusatzmaterial ergänzt wurde.

40 

Keefe 2002, Bd. 2; dies. 2012 (mit Edition ausgewählter Texte in CChr.CM 254). Tübingen erproben Andreas Öffner und ich zur Zeit in einem von der DFG geförderten Projekt, in welchen elektronischen Formen das Material editorisch übersichtlich erschlossen werden kann. 42  Isidor von Sevilla, De ecclesiasticis officiis (Lawson). 43  Disputatio puerorum, ed. Rabin / Felsen 2017 (vollständiger: Migne PL 101, 1097–1144). 41  In

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4. Autorität in Priesterbüchern und Autorität durch Priesterbücher Insgesamt verweist dieser Überlieferungsbefund sehr klar auf die hohe Intensität, mit der in verschiedenen Regionen des Karolingerreichs an didaktisch aufbereiteten Materialien für die Ausbildung von Priestern gearbeitet wurde. Zugleich erscheint dieser Befund aber auch bemerkenswert für die Frage nach Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion. Hier ist eine interessante Spannung zu beobachten: Auf der einen Seite sollten Priester in der Karolingerzeit bestimmte Texte (wie das Vaterunser, die Glaubensbekenntnisse, aber auch die 17. Evangelienhomilie Gregors des Großen und anderes mehr) schlicht und einfach auswendig lernen. Bei diesen Texten kam es offenbar auf den exakten Wortlaut, auf das einzelne Wort an: Autorität genoss der Text dabei gerade in seiner „authentischen“, stillgestellten, festen Form. Zugleich aber sehen wir in den Priesterbüchern auch eine intellektuelle Kultur, die schriftlich tradierte Texte eher als Knetmasse begreift, die sich immer wieder neu formen lässt: Textschnipsel werden exzerpiert, korrigiert, umgeschrieben, ergänzt, kompiliert – so dass Mediävisten heute vor einem Dickicht stehen, in dem die Grenzen zwischen Zitat, Exzerpt, Textzeuge, Rezension, Werk nicht mehr scharf zu ziehen sind. Das aber heißt: In diesen Fällen genoss ganz offensichtlich nicht der Wortlaut Autorität – sondern der Inhalt. Wichtiger als die Wörter war der Sinn. Interessanterweise herrschte aber auch mit Blick auf den Sinn in dem reichen Material für die Priesterausbildung eine bemerkenswerte Gelassenheit der Zeitgenossen – oder besser: eine ausgeprägte Freude an Mehrdeutigkeit. Es ist nicht leicht, die Erklärungen zum ‚Vaterunser‘, die in Handschriften der Karolingerzeit umliefen, auch nur zu sammeln; die Zahl einschlägiger Texte in Manuskripten des 9. Jahrhunderts geht in die Dutzende (und ein erklecklicher Teil davon findet sich gerade auch in Priesterbüchern).44 Diese Fülle verschiedener Deutungen war für die Zeitgenossen offenbar gar kein Problem: Die Mönche der Reichenau sammelten im 9. Jahrhundert in einem einzigen Codex elf unterschiedliche Auslegungen des Vaterunsers hintereinander, die sie fein säuberlich durchnummerierten.45 Der Text des Herrengebets genoss eine hohe Autorität, der Wortlaut war wichtig;46 aber zugleich gab es bei der Auslegung dieses autoritativen Textes bemerkenswerte Spielräume. Ein ganz übliches Verfahren der Zuschreibung von Autorität an den einzelnen Text in einer solchen Sammlung war dabei – wie auch sonst häufig – die Verbindung des Textes oder eines Zitats mit einem Namen (konkret mit dem Namen eines Kirchenvaters). Eine ganze Reihe von Priesterbüchern schreiben in dieser 44  Eine – immer noch unvollständige Liste – 26 unterschiedlicher Texte bietet Patzold 2016, 212–214. 45 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 18, fol 1r–11r. 46  Vgl. dazu Patzold 2016, 204–211.

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Weise einzelnen der Texte, die sie dem Leser bieten, Autorität zu. Das geschieht in der Regel schlicht über ein Incipit, eine Inskription, eine Rubrik – nach dem Muster: „Es beginnt eine Homilie des Augustinus über X“; „Isidor von Sevilla sagt über Y“47. Eine solche Zuschreibung einzelner Texte an Autoritäten war den Akteuren ganz offenkundig in manchen Fällen wichtig – aber interessanterweise durchaus nicht immer und überall. Die Priesterbücher bieten tatsächlich eine bunte Mischung von anonym überlieferten Texten und Textschnipseln einerseits – und Texten, die Autoritäten qua Namen zugeschrieben werden, andererseits. Ein Muster, wann ein Name hinzugesetzt wird und wann nicht, ist nicht zu erkennen. Hinzu kommt: Wie so oft auch sonst, stimmen die Zuschreibungen auch in Priesterbüchern keineswegs immer. Auch der gegenwärtigen Wissenschaft fällt es nicht leicht, solche Zuschreibungen zu prüfen. Welche Predigten wirklich von Caesarius von Arles stammen, ob ein Text, der unter Augustins Namen überliefert ist, wirklich Augustinus von Hippo gehört – das ist keineswegs immer zweifelsfrei zu ermitteln. Für die zeitgenössischen Nutzer – also für die Priester an ihren lokalen Kirchen und für deren Gemeinden – dürfte diese Aufgabe im 8. und 9. Jahrhundert oft schier unlösbar gewesen sein. Vielleicht erklären sich eben hieraus die merkwürdige Gelassenheit und das so unsystematische Interesse an der Zuschreibung von Texten an namentlich bekannte Autoritäten? Am Ende konnte im Zweifelsfall in den kleinen Welten lokaler Kirchen jedenfalls ohnehin niemand handfest überprüfen, ob ein Text (oder auch nur eine einzelne Textpassage) in einer Kompilation wirklich von Augustinus, Caesarius, Isidor oder Gregor dem Großen stammte. Vor diesem Hintergrund sei am Ende nun noch ein Beispiel des Umgangs mit Autorität in einem Priesterbuch in größerer Detailschärfe vorgestellt. Das Beispiel stammt aus einem Codex, der heute in Laon in der Bibliothèque Municipale aufbewahrt wird, und zwar unter der Signatur 288. Das Buch ist handlich: 91 Blätter, ca. 21 x 14 cm klein. Es ist einfach ausgestattet, aber doch über weite Strecken durch einheitlich gestaltete Initialen und Tituli strukturiert; man erkennt den Willen, ein benutzbares Buch zu schaffen. Bernhard Bischoff hat die eine Haupthand und die verschiedenen weiteren Hände datiert auf „ca. 2. Viertel des 9. Jahrhunderts“; und er hat sie vage ins nördliche Frankreich verortet, nicht aber einem bekannten Skriptorium zugewiesen.48 Susan Keefe setzt die Handschrift noch etwas früher an, in das erste Drittel des 9. Jahrhunderts.49 Zur Schrift der „Anlageschicht“ hat Bischoff zurückhaltend 47  Hier können nur einige wenige Beispiele genannt werden: Orléans, Médiathèque, 116, fol. 31r: Incipit omelia sancti Agustini episcopi ad populum praedicandum; ebd., fol. 33r: Lectio sancti Agustini de diem (!) iudicii; Laon, BM, 288, fol. 40r: Humilia sancti Augustini episcopi; ebd., fol. 46r: Humilia sancti Exidoris (!); ebd., fol. 69v: Humilia sancti Agustini de die iudicii; Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, 40, 332: Item sancti Ambrosii episcopi; ebd.: Incipit de libro Isidori offitiorum usw. 48  Bischoff 2004, Nr. 2102, 31 f. 49  Keefe 2002, Bd. 2, 429; ihr folgt Van Rhijn 2013, 174.

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notiert: „Mehrere meist etwas schwerfällige Hände“.50 Der alte Bibliothekskatalog des 19. Jahrhunderts urteilt mutiger: „l’écriture et l’orthographe, barbares“.51 Schon in der Karolingerzeit (und dann auch noch einmal im 11. Jahrhundert52) ist diese erste Textschicht dann von anderen, routinierteren Händen an manchen Stellen korrigiert worden. In einem der Texte, die der Codex überliefert, ist allerdings noch etwas anderes passiert, und zwar wohl noch in der Karolingerzeit: Diejenige Lage des Codex, die mit der Signatur VI markiert ist, wird zu einem guten Teil von einem Text eingenommen, der in der Rubrik als „Humilia sancti augustini episcopi“ vorgestellt wird.53 Wir teilen heute diese Einschätzung nicht mehr: Der Text gilt als Sermo XIII des Caesarius von Arles. Der Text ist für unseren Zusammenhang inhaltlich besonders interessant: Caesarius forderte in dieser Predigt nämlich die Christen zu einer gottgefälligen, moralisch vorbildlichen Lebensweise und zu entsprechenden guten Werken auf. Das Spektrum seiner Forderungen ist breit. Es umfasst freiwillige Gaben von Almosen und Oblationen am Altar, Beherrschung des Vaterunsers und des Symbolum, keusches und gerechtes Leben als Vorbild bei der Erziehung der Kinder, Heiligung des Sonntags, Abgabe von Zehnten usw.54 All das sind Kernthemen der karolingischen Bemühungen um die Besserung der Menschen: Im 9. Jahrhundert muss der Text über weite Strecken wie eine Programmschrift der correctio erschienen sein – höchst geeignetes Material für einen lokalen Priester also. In unserer Handschrift aus Laon hat nun allerdings eine zweite Hand den vorhandenen Text systematisch überarbeitet. Sie hat nicht etwa nur Fehler ausgebessert. Und das Ziel des Redaktors war es ganz sicher auch nicht, den ursprünglichen Text zu rekonstruieren. Er gestaltete ihn vielmehr absichtlich um und fasste ihn neu. Die Sprache des Caesarius war wahrscheinlich elegant, aber zumindest für Leser und Hörer des 9. Jahrhunderts war sie doch einigermaßen komplex. In der Fassung, die dem Redaktor vorlag, war der Text des 6. Jahrhunderts noch deutlich erkennbar, manche kleinere Fehler hätten sich leicht korrigieren lassen. Dem Redaktor war es aber darum zu tun, den Predigttext durch Kürzung der Sätze zu vereinfachen, ihn durch Ergänzungen und Streichungen stellenweise auch inhaltlich zu verändern und insgesamt verständlicher zu gestalten. Die Umformungen werden exemplarisch am Anfang des Textes sichtbar. Caesarius hatte gepredigt: sicut ipse dominus in evangelio dixit: „Quid prode est quod dicitis mihi domine domine, et non facitis quae dico?“ Si te milies christianum dicas, et iugiter cruce Christi te signes, et elemosynam secundum vires tuas non feceris, caritatem et iustitiam vel castitatem habere nolueris, nihil tibi prodesse poterit christianum nomen. Magna res est signum Christi et 50 

Bischoff 2004, 31. Catalogue général I 1849, 171; vgl. van Rhijn 2013, 174: „an irregular hand“. 52  So Bischoff 2004, 31. 53 Laon, Bibliothèque Municipale, 288, fol. 40r. 54  Caesarius von Arles, c. 13 (64–68 Morin). 51 

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crux Christi: et ideo de isto tam pretioso signaculo res magna et pretiosa signari debet. Quid enim prode est, si de aureo anulo sigillum facias, et putridas paleas intus recondas? Quid prode est, si signum Christi in fronte et in ore ponimus, et intus in anima crimina et peccata recondimus? Qui enim male cogitat, male loquitur, male operatur, si se emendare noluerit, quando se signat, peccatum illius non minuitur, sed augetur. Multi enim, dum ad furtum aut ad adulterium vadunt, si pedem inpegerint, signant se, et tamen de malo opere non revocant se; et nesciunt miseri quia includunt in se magis daemones quam excludant.55

Der Redaktor machte daraus (Übernahmen kursiv, Einfügung recte, Streichungen durchgestrichen): sicut ipse dominus deus in evangelio dixit: „Quid prodest vobis quod dicitis mihi domine domine, et non facitis que dico?“ Si te cogitas milies christianum et dicas, que sis, et tunc iugiter crucem Christi te signeas, et euuangelium non credis et elimosinam secundum vires tuas non feceris, caritatem et iustitiam dei et humilitatem vel castitatem habere nolueris, nihil tibi prodesse poterit christianum nomen. Magna res est signum Christi et crux Christi: et ideo isto tam pretioso signaculo res magna et pretiosa est. Signariculus Christi debet, quid enim prodest? Si de aureo anulo aut sigillum facias, et intus putriedas paleas recondais, vani sunt. Quid prodest si signum Christi in fronte et in ore ponimuss, et intus in anima tua crimina et peccata et superbia recondimusis? Qui enim male cogitat, male loquitur, male operatur. Dominus cognoscat cogitaciones suas, quia nihil sunt. Si se emendare noluerit, quando se signat, peccatum illius non minuetur, sed augetur. Peccata, cum (?) consummata fuerint, generant morte. Multi enim, dum aut furtum vadunt aut falsum testimonium dicunt aut adulterium vadunt faciunt, tunc si pedem inpegerint et negant dominum, signant se, et tamen de malo operea non se revoccognoscant; et nescient illi miseri peccatores quia inclaudunt in se magis daemones quam excludant eiciant.56

Dass der Redaktor dabei nicht nur den Stil des Caesarius zerstörte, sondern immer wieder auch den Sinn seiner Vorlage veränderte, nahm er in Kauf. Dabei erweist er sich bei seinen Überarbeitungen auch nicht durchweg als sattelfester Lateiner: So schrieb der Redaktor signaculus statt signaculum, auch generant morte, statt generant mortem. Und die korrekte Wendung de malo opere verschlimmbesserte er zu de malo opera.57 Auf fol. 41v war zudem eine größere Passage zu stehen gekommen, die sich versehentlich noch einmal auf fol. 42r fand. Der Redaktor strich komplett die erste Fassung (auf fol. 41v) und bearbeitete die Doublette auf der nächsten Seite weiter. Wichtig ist außerdem noch ein letzter Befund: Der Redaktor rahmte mit dem Buchstaben Z jeweils am Anfang und Ende die einzige Passage der Predigt ein, die von „den Priestern“ in der dritten Person handelt. Caesarius hatte an dieser Stelle die Gläubigen aufgefordert, im Falle einer schweren Krankheit, demütig von „den Priestern“ geweihtes Öl zu erbitten und damit ihren Körper zu salben. Die beiden Zs in der Handschrift grenzen diese Aufforderung ab – und stehen, zusammen

55 

Caesarius von Arles, c. 1 (64 f. Morin). Bibliothèque Municipale, 288, fol. 40r–41r. 57 Ebd. 56 Laon,

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mit einer kleinen Ergänzung zum Text, gerade so, dass die übriggebliebenen Satzstücke zusammen wieder einen guten Sinn ergeben.58 Sofern wir die beiden Zs als Markierung für die Auslassung des dazwischenstehenden Textes interpretieren dürfen, erhält das Detail eine größere Bedeutung für die Gesamtdeutung der Umarbeitungen: Für Caesarius als Bischof von Arles war es im 6. Jahrhundert ohne weiteres angemessen gewesen, die Gläubigen seiner Diözese in einer Predigt zu ermahnen, sie sollten im Krankheitsfalle „von den Priestern“ geweihtes Öl für die Salbung erbitten. Auch ein Bischof des 9. Jahrhunderts hätte diese Aufforderung in seiner Predigt noch aussprechen können. Ein lokaler Priester aber hätte kaum zu den Mitgliedern seiner Gemeinde sagen können, sie sollten, wenn sie erkrankten, „von den Priestern“ das Salböl erbitten. Er hätte stattdessen von sich selbst als dem zuständigen Priester sprechen müssen: „erbittet das Salböl von mir!“ So könnte die Auslassung wohl darauf hinweisen, für wen hier der Text des Caesarius überarbeitet worden ist: Nicht ein Bischof sollte aus ihm sprechen, sondern ein Priester. Hier wird die ganze Komplexität wie in einem Brennspiegel gebündelt: Das Incipit schreibt dem Text über den Namen des Augustinus Autorität zu (zu Unrecht, wie wir heute wissen). Aber schon ein zeitgenössischer Redaktor hatte im 9. Jahrhundert keine Hemmungen, den vermeintlichen Text des Kirchenvaters Augustinus umzuschreiben und für einen Priester besser nutzbar zu machen – und zwar nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich.

5. Fazit Der Befund, der sich aus den Priesterbüchern der Karolingerzeit ergibt, lässt sich am Ende in vier Punkten zusammenfassen: 1. Schriftlich tradierte Texte, die als Autoritäten galten, waren für die correctio möglichst eines jeden einzelnen Menschen wichtig: Denn gerade sie verhießen, Gottes Willen für Christen erkennbar zu machen; dies aber war die notwendige Voraussetzung, um den göttlichen Willen überhaupt im eigenen Handeln erfüllen zu können. Eben deshalb galt den politischen Eliten des 8. und 9. Jahrhunderts der kompetente Umgang mit der lateinischen Sprache, mit Buchstaben, Schriften, Texten als unverzichtbar. 2. Als Akteure der Besserung vor Ort profilierten der Hof und die Eliten die lokalen Priester: Sie sollten die Menschen in ihrem Alltag überwachen, in Predigten belehren, in Buße und Beichte korrigieren. Das aber setzte voraus, dass sie hinreichend gut ausgebildet wurden und dass sie ihrerseits vor Ort als Autorität zumindest im religiösen Feld Anerkennung fanden. 58 Ebd., fol. 43v–44r: Quociens aliqua infirmitas superuenerit, corpus et guinem Christi querat ille[Z que egrotat accipiat oleum benedictum a presbiteris humiliter […] in informitate currit Z] et corporis sanitatem et peccatorum indulgentiam merebitur obtenere.

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3. Wir sehen dementsprechend seit den Jahren um 800 ein neues kräftiges Bemühen um die Aus- und Fortbildung von Priestern – in Normtexten (wie besonders den neuartigen Bischofskapitularien), in der Anfertigung und Verbreitung immer neuer Lehrtexte und in Codices, die Material bündelten, das das Wissen von Priestern fundieren konnte. 4. Die bischöflichen Normen und die Priesterbücher der Praxis zeigen uns zugleich aber einen einigermaßen vielschichtigen und komplexen Umgang mit Autoritäten im Spannungsfeld von Bildung und Religion: Bei manchen Texten kam es auf den Wortlaut an; sie waren auswendig zu lernen. Bei anderen ist ein erstaunlich gelassener Umgang mit dem Wortlaut zu beobachten (der immer wieder umgeschrieben werden konnte), ja sogar eine große Aufgeschlossenheit gegenüber Mehrdeutigkeit und konkurrierenden Interpretationen ein und desselben Textes (wie etwa des Vaterunsers). Und man scheute sich im Zuge dessen auch nicht, einen Text, dem qua Incipit die Autorität des heiligen Augustinus zugeschrieben worden war (obwohl er eigentlich Caesarius von Arles gehörte), stilistisch wie inhaltlich für eigene Zwecke umzuschreiben. Kein Zweifel, Autoritäten waren wichtig in der karolingischen Welt. Aber der Umgang mit ihnen war alles andere als dumpf, leichtgläubig und folgsam. Eben weil das Exzerpieren, Kompilieren, Kommentieren, das Wieder- und Umschreiben von Texten ein selbstverständlicher Teil der Wissenskultur war, waren Autoritäten nicht unantastbar. Geradeso wie Alkuin von York und T heodulf von Orléans den Bibeltext korrigierten, geradeso wie Paschasius Radbertus in Corbie meinte, einen besseren Matthäuskommentar schreiben zu können als der heilige Hieronymus, so konnte in dieser Welt ein namenloser Redaktor mit Rasiermesser und Feder eine Predigt des heiligen Augustinus (die eigentlich von Caesarius stammte) für seine eigenen Zwecke „verbessern“.

Bibliographie Handschriften Albi, Bibliothèque Municipale, 38bis. Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 18. Laon, Bibliothèque Municipale, 288. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14508. Orléans, Médiathèque, 116. Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 1012. Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 12444. Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 485.

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Die Autorinnen und Autoren Ulrike Egelhaaf-Gaiser: Studium der Klassischen Philologie und Klassischen Archäologie an den Universitäten München und Tübingen. 1998 Promotion in Tübingen. 2005 Habilitation an der Universität Gießen. Seit 2008 Professorin für Klassische Philologie (Latinistik) an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Horace, the Self-made Poet. How to Promote Your Literary Career (Sat. 1.6; Carm. 2.20): Paul as homo novus. Authorial Strategies of Self-fashioning in Light of a Ciceronian Term (hg. von Eve-Marie Becker / Jacob Mortensen; Studia Aarhusiana Neotestamentica 6; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018) 87–113; Saturnalian Riddles for Attic Nights. Intratextual Feasting with Aulus Gellius: Intratextuality and Latin Literature (hg. von Stephen Harrison / Stavros Frangoulidis / T heodore D. Papanghelis; Trends in Classics 69; Berlin / Boston: de Gruyter, 2018) 431–447; An der Schwelle zur Unterwelt. Liminalität und mythische Stratigraphie in Vergils Polydorus-Erzählung (Aen. 3,13–68): Mythische Sphärenwechsel. Methodische neue Zugänge zu antiken Mythen in Orient und Okzident, hg. von Annette Zgoll / Christian Zgoll (MythoS 2; Berlin / Boston: de Gruyter, 2020) 251–307. Peter Gemeinhardt: Studium der Evangelischen T heologie an den Universitäten Marburg und Göttingen. 2001 Promotion an der Universität Marburg. 2006 Habilitation an der Universität Jena. Seit 2007 Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen; 2015–2020 Sprecher des SFB 1136 „Bildung und Religion“. Neuere Veröffentlichungen: Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike (STAC 90; Tübingen: Mohr Siebeck, 2014); Education and Religion in Late Antique Christianity. Reflections, Social Contexts, and Genres (Hg., mit Peter Van Nuffelen und Lieve Van Hoof; London / New York: Routledge, 2016); Was ist Kirche in der Spätantike? (Hg.; SPA 14; Leuven: Peeters, 2017); Athanasius von Alexandrien: Vita Antonii. Das Leben des Antonius (Hg. und Übers.; FC 69; Freiburg u.a.: Herder, 2018); (Hg.) Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4; Tübingen: Mohr Siebeck, 2019) (Hg., mit Christoph Brunhorn und Maria Munkholt Christensen) Narratologie und Intertextualität. Zugänge zu spätantiken Text-Welten (SERAPHIM 7; Tübingen: Mohr Siebeck, 2020).

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Die Autorinnen und Autoren

Reinhard G. Kratz: Studium der Griechischen Philologie und Evangelischen T heologie in Frankfurt a.M., Heidelberg und Zürich. 1987 Promotion und 1990 Habilitation im Fach Altes Testament an der Universität Zürich; seit 1995 Professor für Altes Testament an der Universität Göttingen. Wichtige Veröffentlichungen: Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, auf Englisch: 2005); Die Propheten Israels (München: C.H. Beck, 2003, auf Italienisch 2006; auf Englisch 2015); Historisches und biblisches Israel (Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 22017; auf Englisch 2015); Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels. Kleine Schriften I (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, 22013); Prophetenstudien. Kleine Schriften II (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011); Mythos und Geschichte. Kleine Schriften III (Tübingen: Mohr Siebeck, 2015). Peter Kuhlmann: Studium der Klassischen Philologie, Indogermanistik und Romanistik in Gießen und Kiel. 1991 Erstes Staatsexamen in Kiel. 1993 Promotion und 1995 Zweites Staatsexamen in Gießen. 2001 Habilitation in Gießen. Seit 2004 Professor für Lateinische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen in Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Die Philosophie der Stoa: Senecas Epistulae morales (Classica; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016); (Hg., mit Susanne Pinkernell-Kreidt) Res Romanae. Literatur und Kultur im antiken Rom (München: Oldenbourg, 2017); Denkströmungen der Antike: Rom: Handbuch politische Ideengeschichte (hg. von Samuel Salzborn; Stuttgart: Metzler, 2018) 70–81; (mit Henning Horstmann) Wortschatz und Grammatik üben. Didaktische Kriterien und Praxisbeispiele für den Lateinunterricht (Göttingen: Vandenhoeck & ­Ruprecht, 2018); (Hg., mit Valeria Marchetti) Cicero im Rahmen der römischen Bildungskultur (SERAPHIM 6; Tübingen: Mohr Siebeck, 2020). Heinz-Günther Nesselrath: Studium der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte an der Universität zu Köln. Ebendort 1981 Promotion und 1987 Habilitation. 1981–1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Altertumskunde der Universität zu Köln. 1992–2001 vollamtlicher Professor für Klassische Philologie (mit besonderer Berücksichtigung des Griechischen) an der Universität Bern. Seit 2001 Professor für Klassische Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: (Hg.) Iulianus Augustus, Opera (Biblio­ theca Teubneriana; Berlin / Boston: de Gruyter, 2015); (Hg., mit Balbina Bäbler) Philostrats Apollonios und seine Welt: Griechische und nichtgriechische Kunst und Religion in der Vita Apollonii (BzA 354; Berlin / Boston: de Gruyter, 2016); (Hg./ Übers.) Herodot, Historien (Stuttgart: Kröner, 2017); (Hg., mit Balbina Bäbler) Origenes der Christ und Origenes der Platoniker (SERAPHIM 2; Tübingen: Mohr ­Siebeck, 2018).

Die Autorinnen und Autoren

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Steffen Patzold: Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Journalistik an der Universität Hamburg. 1996–2006 dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent. Ebendort 1999 Promotion und 2006 Habilitation. Seit 2007 Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Neuere Veröffentlichungen: (mit Annette Grabowsky, Christoph Haack, T homas Kohl) Einhards Briefe. Kommunikation und Mobilität im Frühmittelalter (Acta Einhardi 3; Seligenstadt: Einhard-Gesellschaft, 2018); (Hg., mit T homas Kohl / Bernhard Zeller) Kleine Welten. Ländliche Gesellschaften im Karolingerreich (VuF 87; Ostfildern: T horbecke, 2019). Tanja S. Scheer: Studium der Alten Geschichte, Klassischen Archäologie und Mittelalterlichen Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ebendort 1992 Promotion und 1998 Habilitation. 2001–2004 Heisenberg-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft; 2004–2011 Professorin für Alte Geschichte an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg; seit 2011 Professorin für Alte Geschichte an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Mythische Vorväter. Zur Bedeutung griechischer Heroenmythen im Selbstverständnis kleinasiatischer Städte (Münchner Arbeiten zur Alten Geschichte 7; München: Editio Maris, 1993); Die Gottheit und ihr Bild. Untersuchungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik (Zet. 106; München: C.H. Beck, 2000); Griechische Heiligtümer als Vermittler religiösen Wissens? Das Orakel von ­Delphi: „Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen“. Institutionen religiöser Bildung in historischer Perspektive (hg. von Peter Gemeinhardt / Ilinca Tana­seanuDöbler; SERAPHIM 1; Tübingen: Mohr Siebeck, 2018) 25–50; (Hg.) Nature – Myth – Religion in Ancient Greece / Natur – Mythos – Religion im antiken Griechenland (PawB 67; Stuttgart: Franz Steiner, 2019). Florian Wilk: Studium der Evangelischen T heologie an den Universitäten Göttingen und St. Andrews. 1993–1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der T heologischen Fakultät der Universität Jena. Ebendort 1996 Promotion und 2001 Habilitation. 2002 Professor für Gemeindepädagogik und Diakonie mit dem Schwerpunkt Biblische T heologie an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Seit 2003 Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: (Hg.), Identität und Sprache. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BT hSt 174; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018); Durch Schriftkenntnis zur Vollkommenheit: Zur Funktion des vielgestaltigen Schriftgebrauchs in 1Kor 2,6–16 und 14,20–25: ZNW 110 (2019) 21–41; (Hg.), Scriptural Interpretation at the Interface between Education and Religion. In Memory of Hans Conzelmann (TBN 22; Leiden / Boston: Brill, 2019).

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Register Abonuteichos 115, 117, 121 Adam 80 Ägypten 124, 190 f. Äthiopien 130 Agathobulos (Kyniker) 124 Aigai 128 Aischines 38, 139 Alexander von Abonuteichos 8, 12, 115– 122 Alexandria 78 f., 81, 130 Alkibiades 19 Ambrosius von Mailand 167 Anaxagoras 41 Antiochia 128 f., 175 f., 181 Antisthenes 123 Antoninus Pius 125 Antonius (Eremit) 166, 184–192 Apollon 34, 117 Apollonios von Tyana 8, 117, 127–133 Apophthegmata Patrum 185–189 Aristeas 79 Aristophanes 47 – Aves 47 – Equites 47 – Pax 47, 49, 51 – Thesmophoriazusae 30 – Aristoteles 20, 63–65 – Politica 20, 36 – Athenaion Politeia 26, 30, 35, 49 f. Arpinum 61 Artaxerxes 78 Asklepios 117 f., 121, 123 Athanasius von Alexandrien 191 – Vita Antonii 191–193 Athen 6, 10, 17, 19 f., 22, 26, 28 f., 33 f., 38, 46–48, 52 f., 130, 163, 138, 140 f., 157 – Agora 17, 27, 137, 139 – Akropolis 35, 137 Athena 25, 35, 39

Atticus 63 Augustin von Hippo 9, 165, 167–174, 193, 213, 216 f. – Contra Academicos 167 – Contra Iulianum 194 – De doctrina christiana 174, 193 f. – De ordine 169, 172 – De utilitate credendi 167 f., 170–173 – Sermo 43 168 f. 171 Augustus 2, 73 – Res gestae divi Augusti 2 f. Aulis 131 Aulus Gellius s. Gellius Aurelius Cotta s. Cotta Babylas 166 Babylon 129 Ben Sira 79–81 Bischoff, Bernhard 214 Bithynia et Pontus (Provinz), Bithynien 104, 117 f., 121 Caesar 61, 67 f., 149 Caesarius von Arles 205, 213–216 Cassianus 166 Cassiciacum 170 Cato maior 65, 162 Celsus 165 Chalkedon 117 Christus s. Jesus Chrysipp 6, 65 Cicero 2, 6 f., 13, 59–61, 63–71, 135–139, 141, 152 f., 171 – Academica 157 – De divinatione 136 – De finibus 135 – De natura deorum 59 f., 67–71 – Topica 2 Clinton, Kevin 45

228 Codex Theodosianus 195 Collectio Sangermanensis 210 f. Cotta 69–72 David 77, 80 Delphi 46, 48 Demosthenes 20, 22 f., 137, 139, 164, 180 Diodor von Tarsus 181 Diogenes von Sinope 123 Dion von Prusa 130 Dionysos 34, 123 Domitian 131 Donatus 195 Eleusis 35, 45, 129 Elephantine 78 Ephesos 129, 131 Epikur 6, 65, 69, 119, 137, 139 Esra 78–80 Euphrates (Stoiker) 130 Euprepius 190 f. Euripides 19 Eusebius von Caesarea – Contra Hieroclem 132 Euthyphron 12, 17 f. Faustus (Bischof) 171 Flavius Josephus s. Josephus Flower, Michael 19, 51 Gaius Iulius Caesar s. Caesar Galatien 104, 118 Galba 130 Garizim 78, 82 Garland, Robert 20 Gellius 8, 12, 125, 137–157 – Noctes Atticae 125, 137–157 Glykon 116, 118, 120 f. Gregor I. 195, 209, 212 f., Griechenland 11 f., 125, 128, 130 f., 139 Hadrian 139 Helios 123 Henoch 79 Herakles 123 Herodes Atticus 125, 139 Herodot 18, 22, 27, 48 Hesiod 40, 155 f., 163 f. – Erga 156

Register

Heussi, Karl 186 Hierokles (Chresmologe) 49 Hinkmar von Reims 208 f. Hippo 166 Homer 40, 72, 163 f. Honoratus 168 f. Horatius Cocles 8, 137 f., 142–151, 155 Indien 128 f. Isidor von Sevilla 213 Isokrates von Athen 21, 41, 47, 163, 180 Israel 85, 101 Jabesch-Gilead 85, 88 f. Jabne 77 Jakobus 102 Jerusalem 79, 101 f., Jesaja 168 f., 171 Jesus 7, 95 f., 98 f., 101–103, 127, 132, 183 Johannes Chrysostomos 9, 13, 166, 175– 184 – De sacerdotio 9, 175–182 – In illud: Salutate Priscillam et Aquilam, sermo 1,3 183 Johannesevangelium 7, 94–102 Joschija 77 f., 79 f. Josephus 85 – Antiquitates Judaicae 85 Jovian 195 Juda 78 Julian 9, 161–170, 174, 180, 195 – Epistula 61 162, 164 Juppiter 60 f. Justinian 162 Kairo 82 f. Karl der Große 203–206 – Epistola de litteris colendis 205 f. – Admonitio generalis 206 Karneades 64 Karthago 167, 171 Keefe, Susan 9, 208, 211, 213 Kreta 131 Kyrill von Alexandrien 165 – Contra Iulianum 165 Laon 213 f. Leander von Sevilla 195 Leontopolis 78

Register

Lepidus 61 Leppin, Hartmut 3 Livius 142, 148 Lütcke, Karl-Heinrich 2 f. Luhmann, Niklas 161 Lukas 164 f. Lukian von Samosata 8, 115–133 – Alexander 116–122 – De morte Peregrini 123–127 Lukrez 65, 72 Lysias 23, 37, 54 Macrobius 174 Marcion 93 f. Marcus Terentius Varro s. Varro Markus 165 Matthäus 164 – Matthäus-Evangelium 205 – Matthäus-Kommentar 217 Maximinus Daia 191 Mikalson, Jon 20, 49 Mose 7, 79 f., 98 f. Mucius Scaevola s. Scaevola Nachasch 85, 88 Nehemia 79 f. Nelson, Janet 204 Nero 129, 131 Newman, Henry 132 Nikomachos 18, 23 f., 26 f., 31, 37 Nora, Pierre 142 Olympia 126 Onomakritos 47 Origenes 127 – Contra Celsum 127 Otho 130 Palästina 123, 190 Pambo (Wüstenvater) 187 Paphlagonien 115 Parion 123 f. Parker, Robert 20, 51 Paulus 104, 108, 180, 183 Pella 118 Peregrinos Proteus 8, 115, 122–127 Perikles 19, 137 Perseus 117 f., 121 Philostrat 8, 127–133

229

– Vita Apollonii 8, 127–133 Petrus 7, 102, 109 – Petrusbrief (Erster) 104 – Petrusbrief (Zweiter) 7, 12, 102–109 Platon 17, 63, 65, 137, 139, 180, 189 – De re publica 52 – Euthyphron 17, 41, 43 f., 54 – Laches 50 – Leges 41, 44 Plutarch – Cicero 62 – Pericles 41 Podaleirios 118 Poimen (Wüstenvater) 187, 189 Porphyrius 165, 174 Porsenna 148 Poseidon 25, 35 Priapus 60 Protagoras 41 Ptolemaios II. 79 Pythagoras 128, 131 Pythia 46 Quintilian 136, 163 – Institutio oratoria 163 Qumran 79 f., 83 f., 89 Regula Benedicti 209 Reichenau 212 Rom 6, 10, 12, 61, 125, 129, 131, 140–157, 167 – comitium 142–146, 149, 153 – Forum Romanum 8 – Volcanal 146 f., 149 Romulus 150 Rutilianus (Senator) 120–122 Salomo 77 Saul 85 Scaevola, Quintus Mucius 62, 66, 152 Scipio 65 f. Seneca 63, 65 Sharpes, D. K. 132 Sibyllinische Bücher 12 f. Sizilien 130 Sokrates 17 f. 41 f., 123 f., 139 Solon 25 f. 27 Sophokles 139 Sossianus 132

230

Register

Soterichos von Oasis 132 Sulla 149

Todd, Stephen 39 Tora 78–81, 101

Tarsos / Tarsus 128, 181 Tatian 125 Tertullian 165 Theagenes von Patras 123 Theodoret von Kyros 177, 189 – Graecarum affectionum curatio 189 – Historia religiosa 177 Theodosius 162 – Codex Theodosianus 161 Theodulf von Orléans 207, 209, 217 Theophrast – Characteres 42, 45 Thukydides 19, 49, 51, 180 Tigellinus 129, 131 Titus 130

Varro, M. Terentius 72, 157 Velleius 68 f., 71 Vergil 172–174 – Aeneis 172 Verrius Flaccus 151, 153 Vespasian 130 Vitellius 130 Weber, Max 184 f. Xenophon 25, 42 Zenon 65 Zeus 29, 123 Zypern 129