Menschen und Mentalitäten: Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters [Reprint 2015 ed.] 9783050070230, 9783050026039

Dachten, fühlten und handelten Menschen im Mittelalter anders, als wir es heutzutage tun? Und bejaht man diese Frage: Wo

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Menschen und Mentalitäten: Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters [Reprint 2015 ed.]
 9783050070230, 9783050026039

Table of contents :
Vorwort
Kapitel I. Einleitung
1. Begriffsklärungen
2. Die „Schule“ der Annales
3. Bemerkungen zur Rezeption der Annales-Schule
4. Probleme der Mentalitätsforschung
5. Axiome der Mentalitätsforschung und Skizzierung der Vorgehensweise
6. Bibliographie
Teil A. Synchrone Beschreibungsebene: Mentalitäten einzelner gesellschaftlicher Gruppen
Kapitel II. Adel
1. Zu Begriff und Geschichte des Adels
2. Einige Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität
3. Bibliographie
Kapitel III. Ritter
1. Zur Terminologie
2. Ritterliche Mentalität
3. Ideologische Konzeption und tatsächliches Verhalten im Spätmittelalter
4. Bibliographie
Kapitel IV. Kirche
1. Bischöfe und Äbte
2. Priester
3. Mönche
4. Bibliographie
Kapitel V. Städter und Bürger
1. Einstellungen zu städtischen Lebensformen
2. Zur historischen Entwicklung der Stadt
3. Probleme städtischer Mentalitäten am Beispiel mittelalterlicher Kaufleute
4. Bibliographie
Kapitel VI. Randgruppen
1. Mehrheiten und Minderheiten
2. Annäherungsversuche an Randgruppenmentalitäten: Juden und Prostituierte
3. Bibliographie
Kapitel VII. Bauern
1. Zur Forschungssituation
2. Skizzierung einiger Entwicklungslinien bäuerlichen Daseins im Mittelalter
3. Aspekte bäuerlicher Mentalitäten
4. Bibliographie
Kapitel VIII. Intellektuelle
1. Zur mittelalterlichen Terminologie des „Intellektuellen“
2. Ausgewählte Beispiele des frühen, hohen und späten Mittelalters
3. Bibliographie
Teil B. Diachrone Beschreibungsebene: Mentalitäten im Wandel
Kapitel IX. Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen
1. Mittelalterliche Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Natur und Welt
2. Mittelalterliche Raumerfahrungen
3. Anmerkungen zum mittelalterlichen Zeitverständnis
4. Bibliographie
Kapitel X. Krankheit, Alter, Sterben und Tod
1. Das Mittelalter und die Medizin
2. Alters- und Generationsvorstellungen
3. Sterben und Tod im Mittelalter
4. Bibliographie
Kapitel XI. Sexualität und Liebe
1. Vorbemerkung
2. Die Entstehung der christlichen Sexualmoral in der Spätantike
3. Mittelalterliche Naturlehre und menschliche Sexualität
4. Die Liebe im frühen und hohen Mittelalter
5. Ausblicke auf das Spätmittelalter
6. Bibliographie
Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen
1. „Wunder“ und Wunderglauben im Mittelalter
2. Das Konzept der „Volkskultur“ und „Volksfrömmigkeit“
3. Die Ketzer und die Kirche: Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber religiösen Sondergruppen
4. Spätmittelalterliche Frömmigkeitsvorstellungen und Verhaltensweisen im Spiegel zeitgenössischer Kritik
5. Bibliographie
Schlußbetrachtung
Register

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Hans-Henning Kortüm

Menschen und Mentalitäten

Hans-Henning Kortüm

Menschen und Mentalitäten Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters

Akademie Verlag

Abbildungen auf dem Einband aus: Hans R. Hahnloser, Villard de Honnecourt. Kritische Gesamtausgabe des Bauhüttenbuches ms. fr 19093 der Pariser Nationalbibliothek. Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz, 1972.

Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Kortüm, Hans-Henning: Menschen und Mentalitäten : Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters / Hans-Henning Kortüm. - Berlin : Akad. Verl., 1996 ISBN 3-05-002603-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz J. Schmidt, Gräfenhainichen Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Dieter Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

9

Kapitel I.

Einleitung

1. Begriffsklärungen

13 13

2. Die „Schule" der Annales

19

3. Bemerkungen zur Rezeption der Anna/es-Schule

23

4. Probleme der Mentalitätsforschung

24

5. Axiome der Mentalitätsforschung und Skizzierung der Vorgehens weise . .

29

6. Bibliographie

31

Teil A.

Synchrone Beschreibungsebene: Mentalitäten einzelner ge-

sellschaftlicher Gruppen

35

Kapitel II.

37

Adel

1. Zu Begriff und Geschichte des Adels

37

2. Einige Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität

39

3. Bibliographie

51

Kapitel III.

53

Ritter

1. Zur Terminologie

53

2. Ritterliche Mentalität

55

3. Ideologische Konzeption und tatsächliches Verhalten im Spätmittelalter . .

73

4. Bibliographie

77

6

Inhaltsverzeichnis

Kapitel IV.

Kirche

79

1. Bischöfe und Äbte 2. Priester

79 91

3. Mönche 4. Bibliographie

100 109

Kapitel V.

110

Städter und Bürger

1. Einstellungen zu städtischen Lebensformen 2. Zur historischen Entwicklung der Stadt

110 114

3. Probleme städtischer Mentalitäten am Beispiel mittelalterlicher Kaufleute . 4. Bibliographie

117 134

Kapitel VI.

136

Randgruppen

1. Mehrheiten und Minderheiten

136

2. Annäherungsversuche an Randgruppenmentalitäten: Juden und Prostituierte

141

3. Bibliographie

155

Kapitel VII.

157

Bauern

1. Zur Forschungssituation 2. Skizzierung einiger Entwicklungslinien bäuerlichen Daseins im Mittelalter

157 162

3. Aspekte bäuerlicher Mentalitäten 4. Bibliographie

166 182

Kapitel VIII.

184

Intellektuelle

1. Zur mittelalterlichen Terminologie des „Intellektuellen" 2. Ausgewählte Beispiele des frühen, hohen und späten Mittelalters

184 186

3. Bibliographie

212

Inhaltsverzeichnis Teil B.

Diachrone Beschreibungsebene: Mentalitäten im Wandel

Kapitel IX.

7 . .

Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen

213 215

1. Mittelalterliche Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Natur und Welt

215

2. Mittelalterliche Raumerfahrungen: a) Physische Räume, b) Metaphysische Räume

224

3. Anmerkungen zum mittelalterlichen Zeitverständnis

236

4. Bibliographie

241

Kapitel X .

224

Krankheit, Alter, Sterben und Tod

1. Das Mittelalter und die Medizin

244

2. Alters- und Generationsvorstellungen

252

3. Sterben und Tod im Mittelalter

257

4. Bibliographie

267

Kapitel XI.

269

Sexualität und Liebe

1. Vorbemerkung

269

2. Die Entstehung der christlichen Sexualmoral in der Spätantike

270

3. Mittelalterliche Naturlehre und menschliche Sexualität

276

4. Die Liebe im frühen und hohen Mittelalter

283

5. Ausblicke auf das Spätmittelalter

290

6. Bibliographie

293

Kapitel XII.

296

Religiöse Vorstellungen

1. „Wunder" und Wunderglauben im Mittelalter

296

2. Das Konzept der „Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit"

301

3. Die Ketzer und die Kirche: Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber religiösen Sondergruppen

327

4. Spätmittelalterliche Frömmigkeitsvorstellungen und Verhaltensweisen im Spiegel zeitgenössischer Kritik 5. Bibliographie

337 345

Schlußbetrachtung

346

Register

353

Vorwort

Das vorliegende Buch basiert auf einer zweisemestrigen Vorlesung, die ich im Wintersemester 1993/94 und im Sommersemester 1994 an der Universität Tübingen gehalten habe. Die damalige Veranstaltung war gedacht als eine Einführung in die Mentalitätsgeschichte des Mittelalters. Sie sollte mit einer historiographischen Methode vertraut machen, die in Frankreich entwickelt wurde und weit über Frankreich hinaus Anerkennung fand. Einer der besten deutschen Kenner französischer Mittelaltergeschichtsforschung, der Hannoveraner Mediävist O. G. Oexle, hat erst dieser Tage wieder seine deutschen Kollegen mit dem provokanten Hinweis „Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß"' diesbezüglich zu sensibilisieren versucht. Freilich erwies sich die ursprünglich geplante „Einführung in die Mentalitätsgeschichte des Mittelalters" im strengen Wortsinn aus zweierlei Gründen als undurchführbar: Zum einen konnten bei weitem nicht alle für eine Mentalitätsgeschichte relevanten Themen (so z. B. Recht, Herrschaft usw.) behandelt werden. Insofern spiegelt die hier vorgenommene Auswahl sehr subjektive Interessen des Verfassers wider. Zum anderen soll der Titel „Menschen und Mentalitäten" auch ausdrücken, daß es, strenggenommen, d i e Mentalitätsgeschichte nicht - oder soll man besser sagen: nicht mehr? gibt. In ihrem französischen Mutterland hat man sich bereits mehr oder

1

O. G. OEXLE, Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß, in: M. Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, Historische Zeitschrift, Beiheft 2 0 ( 1 9 9 5 ) S. 8 9 - 1 2 7 .

10

Vorwort

weniger vom Konzept der Mentalitätsgeschichte verabschiedet 2 . Zumindestens ist es wesentlich modifiziert worden: Dem eher diffusen Modebegriff „Mentalität" ist der Begriff des „Imaginären" ergänzend zur Seite getreten. Französische Forscher, die ihn, wie Jacques Le Goff u. a., geprägt und verwendet haben, versuchen damit, der Kritik an einem als allzu unscharf empfundenen Mentalitätsbegriff zu begegnen. Diese Modifizierung des ursprünglichen Konzepts hat selbstverständlich auch das vorliegende Buch zu berücksichtigen. Es hat dies dadurch zu tun versucht, daß es den auch in der deutschen Forschung verwendeten und durch H.-W. Goetz vorgeschlagenen Begriff der „Vorstellungsgeschichte" 3 aufgenommen hat. Es geht mithin um die Frage, wie „Wirklichkeit" im Mittelalter erfahren und gedeutet wurde. Bei der Beantwortung sollen die angeführten Quellen helfen, die sich als integrative Bausteine der jeweiligen Kapitel verstehen. Ihnen kommt nicht nur eine belegende oder illustrierende Funktion zu, sondern sie wollen auf die im Mittelalter im Vergleich zur Moderne stark unterschiedlichen „Wahrnehmungsmuster" aufmerksam machen, deren Bedeutung erst in jüngster Zeit durch J. Fried 4 und andere unterstrichen worden ist. Ihre Wichtigkeit für eine „moderne" Mentalitätsgeschichte liegt auf der Hand: Sie muß gleichzeitig immer auch eine „Geschichte der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster" sein. Der Charakter einer „Einführung", die sich bewußt an ein weiteres Publikum wendet, bringt es mit sich, daß die herangezogenen Quellen hier durchweg in Übersetzung dargeboten werden. Eigene wie fremde Übersetzungen sind als solche gekennzeichnet. Der Autor verkennt durchaus nicht die damit verbundene Gefahr, stellt doch jede Übersetzung gleichzeitig immer eine Interpretation dar. Bei der Auswahl der Quellen wurde versucht, möglichst unterschiedliche und nicht allgemein bekannte Texte heranzuziehen, was freilich nicht immer durchgehalten werden konnte. Dennoch bleibt zu hof-

2

Vgl. etwa die ausdrückliche Distanzierung des französischen Mediävisten GEORGES DUBY (geb. 1919), der gemeinhin als „Mentalitätshistoriker" par excellence gilt, in dessen Autobiographie .L'Histoire continue', 1991 (hier zitiert nach der dt. Übersetzung ,Die andere Geschichte', 1992, S. 94): „Heute benutze ich das Wort Mentalität nicht mehr. Es ist unzulänglich, und wir haben es erst spät gemerkt".

3

H.-W. GOETZ, „Vorstellungsgeschichte". Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit, in: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), S. 253-271.

4

J. FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Handelns im früheren Mittelalter, in: J. MIETHKE/K. SCHREINER (Hgg.), Sozialer Wandel im Mittelalter, 1994, S. 73-104, hier insbesondere S. 7 3 - 7 6 .

Vorwort

11

fen, daß vielleicht auch die Fachgenossen ihre Freude an der einen oder anderen ihnen noch nicht bekannten Quelle haben werden. Um eine intensivere Beschäftigung mit den herangezogenen Texten zu ermöglichen, findet sich jeweils in einer Anmerkung die genaue Angabe des in aller Regel lateinischen Textes. Dem Anspruch als Studienbuch wurde auch dadurch Rechnung zu tragen versucht, daß jedes der zwölf Kapitel mit einer Bibliographie endet. Sie soll ein tieferes Durchdringen der im jeweiligen Kapitel angesprochenen Themenbereiche ermöglichen. Vollständigkeit der Bibliographien konnte nicht und wollte auch nicht angestrebt werden. Überreiche Literaturangaben entmutigen in aller Regel eher, als daß sie die Lektüre fördern. Dies gilt zumindestens für denjenigen, der sich erst in die Materie einzuarbeiten versucht, und für den dieses Buch in erster Linie geschrieben wurde. Ganz bewußt wurde mit Anmerkungen im darstellenden Teil gegeizt, um eine leichtere Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten. Dem gleichen Zweck dient auch der weitgehende Verzicht auf Abkürzungen und Siglen. Für die Darstellung herangezogen wurden in der Regel erzählende Texte. Der Verzicht auf sogenannte serielle Quellen wie beispielsweise Testamente hängt damit zusammen, daß man für die Zeit des frühen und hohen Mittelalters, die in diesem Buch verstärkt Gegenstand der Darstellung ist, noch nicht über diese ansonsten von der Mentalitätsgeschichtsschreibung besonders bevorzugte Quellengruppe verfügt. Gleichzeit hat man zu Recht darauf hingewiesen, daß mittelalterliche Geschichtsschreibung ein besonders sensibler Indikator sich ändernder Wahrnehmungs- und Deutungsmuster darstellt. 5 Leider konnten keine Abbildungen aufgenommen werden, was Autor und Verlag gleichermaßen schwergefallen ist. Aber in Zeiten teurer Bücher sollte wenigstens die vorliegende „Einführung" auch für ein studentisches Budget erschwinglich bleiben. Manche Anregungen, zahlreiche Hinweise, kritische Einwände und viele Verbesserungsvorschläge stammen von meinen Tübinger Kollegen und Freunden aus der Abteilung für mittelalterliche Geschichte am Historischen Seminar, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Ebenso dankbar bin ich für die tatkräftige Unterstützung durch die studentischen Hilfskräfte des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Regensburg. 5

Vgl. J. MIETHKE/K. SCHREINER, Innenansichten einer sich wandelnden Gesellschaft, in: Sozialer Wandel im Mittelalter (wie Anm. 4), S. 9 - 2 6 , hier S. 10-11.

12

Vorwort

Ein ausdrückliches Wort des Dankes gilt auch dem zuständigen Lektor des Berliner Akademie Verlages, Herrn Manfred Karras. Gewidmet sei das Buch meinen damaligen Tübinger Hörerinnen und Hörern aus dem Wintersemester 1993/94 und dem Sommersemester 1994. Denn sie sind ganz wesentlich und mehr, als ihnen vielleicht bewußt sein dürfte, am Zustandekommen dieses Buches beteiligt gewesen. Regensburg, im Februar 1996

Hans-Henning Kortüm

Kapitel I. Einleitung 1. Begriffsklärungen Annales-Schu\e

2. Die „Schule" der Annales

4. Probleme der Mentalitätsforschung

schung und Skizzierung der Vorgehensweise

3. Bemerkungen zur Rezeption der 5. Axiome der Mentalitätsfor-

6. Bibliographie

1. Begriffsklärungen Titel und Untertitel des vorliegenden Werkes verweisen auf die Intention, mit der dieses Buch geschrieben wurde. Es handelt sich bewußt nicht nur um eine „Einführung in die Mentalitätsgeschichte des Mittelalters". Das hängt u. a. ganz wesentlich damit zusammen, daß die „Mentalitätsgeschichte" mittlerweile, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, in die Jahre gekommen und durch andere mit ihr konkurrierende Konzepte modifiziert, wenn nicht abgelöst worden ist. Diesem Umstand versucht der Untertitel des vorliegenden Buches Rechnung zu tragen, indem er in Anlehnung an den von der französischen Forschung geprägten und inzwischen auch von der deutschen Forschung übernommenen Begriff des imaginaire von .Vorstellungswelten' spricht. Auch wenn die Mentalitätsgeschichte mittlerweile historisch in so manchem überholt zu sein scheint, so wird man doch auf den Begriff der „Mentalität" nicht verzichten wollen und können, schon allein deswegen nicht, weil er wie kein anderer auf die anthropologische Dimension der Geschichte aufmerksam macht. Dies möchte auch der vorliegende Titel des Buches „Menschen und Mentalitäten" zum Ausdruck bringen. Scheinbar unkompliziert stellt sich der Begriff „Mittelalter" dar. In diesem Buch soll unter dem Mittelalter die Zeit zwischen 500 und 1500 verstanden werden. Hierbei handelt es sich jedoch um eine rein formale Begrenzung. Es ist beispielsweise kaum vorstellbar, daß sich, bezogen auf die meisten Bereiche und Personengruppen, mentale Strukturen zwischen 1480 und 1520, dem von uns angenommenen Grenzbereich zwischen Mittel-

14

Kapitel I. Einleitung

alter und Neuzeit, grundlegend verändert hätten. Denn sie sind unabhängig von sehr formalen, künstlichen Periodisierungsversuchen der Historiker. So überrascht es auch nicht, daß Mentalitätshistoriker sich nicht an solch starre Epochengrenzen halten und, zumindestens in der Theorie, sehr häufig von einem „langen Mittelalter" ausgehen, das erst mit der Französischen Revolution von 1789 sein Ende fand. Hinter einer derartigen Periodisierung steckt das theoretische Konzept der longue durée, das von dem französischen Historiker Ferdinand Braudel (gest. 1985) in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt worden ist 1 . Wenn hier dennoch an der üblichen Epochenabgrenzung festgehalten werden soll, erklärt sich dies aus Praktikabilitätsgründen und entspricht auch der tatsächlichen Praxis vieler Mentalitätshistoriker, die, ungeachtet aller theoretischen Lippenbekenntnisse, in ihrer praktischen Arbeit zumeist an herkömmlichen Periodisierungsschemata orientiert bleiben. Daß die moderne Mentalitätsforschung sich besonders intensiv mit dem Mittelalter (hier verstanden im traditionellen Sinne als die Zeit zwischen 500 und 1500) beschäftigt hat, kommt nicht von ungefähr. Die Attraktivität des Mittelalters, nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Öffentlichkeit, speist sich aus zwei durchaus unterschiedlichen Quellen. Zum einen reizt das Exotische, das Fremdartige, das Andere, das man am Mittelalter festgestellt haben will. Das Interessante am Mittelalter scheint die Differenz zur eigenen Gegenwart zu sein. Daraus hat sich, vor allem in letzter Zeit, eine regelrechte Vermarktung des Mittelalters aus zumeist kommerziellen Gründen ergeben. Zum anderen gibt es die genau entgegengesetzte Neigung, nämlich die eigene Lebenswelt bereits im Mittelalter vorfinden zu wollen. Es werden also im Gegensatz zu der eben erwähnten Haltung die Gemeinsamkeiten zwischen Mittelalter und Neuzeit betont. Beide Neigungen, beide Einstellungen - oder sollen wir sagen: beide „Mentalitäten" ? - gegenüber dem Mittelalter sind bedenklich, denn sie verkennen einen entscheidenden Punkt: Es gibt nicht „das Mittelalter"; es gibt nur unsere Rekonstruktionsversuche dessen, was wir unter „Mittelalter" verstehen. Notwendigerweise bleiben unsere Deutungsmuster des Mittelalters von unserer eigenen historischen Zeit, der Moderne, bestimmt, der wir nicht 1

Der berühmt gewordene Aufsatz von F. BRAUDEL, Histoire et sciences sociales. La longue durée (in: Annales. E.S.C. 13, 1958, S. 7 2 5 - 7 5 3 ) ist mehrfach ins Deutsche übersetzt worden; bequem zugänglich etwa bei C. HONEGGER (Hg ), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, 1977, S. 47-85.

Begriffsklärungen

15

zu entrinnen vermögen. Immer gilt es, sich der Geschichtlichkeit des eigenen Standortes bewußt zu bleiben 2 . Es gehört zu den bleibenden Verdiensten der Mentalitätsgeschichte, zu der Erkenntnis beigetragen zu haben, daß die Erfüllung der Forderung Rankes an den Historiker, „blos (zu) zeigen, wie es eigentlich gewesen ist" 3 , notwendigerweise eine Chimäre bleiben muß. Das Ziel dieser Einführung besteht deshalb auch nicht darin, ein festumrissenes Bild des Mittelalters und seiner „Mentalität" zu zeichnen. Vielmehr soll die Differenzierung an erster Stelle stehen, der Facettenreichtum mittelalterlicher conditio humana aufgezeigt werden. Damit entgehen wir noch am ehesten der Gefahr einer Verzeichnung des Mittelalters, das oft genug, sei es nun unter einem positiven oder einem negativen Vorzeichen, mythisiert worden ist. Die Verwendung des uns heute so geläufigen Begriffes der Mentalität ist relativ jungen Datums. Er wurde als „politisches Schlag- und Kampfwort" national-konservativ und antisemitisch gesinnter Kreise in der die französische Gesellschaft erschütternden Affäre um den (jüdischen) Hauptmann Dreyfus gebraucht, der zu Unrecht der Spionage für die Deutschen bezichtigt und 1894 verurteilt wurde. Um die Jahrhundertwende läßt er sich als ein neu aufkommender Modebegriff der höheren französischen Gesellschaft belegen. Der Gebrauch des Wortes mentalité, in dem das lateinische Wort mens (der innere Sinn, aber auch: Verstand, Denkvermögen) steckt, galt damals, folgen wir dem französischen Romancier Marcel Proust (gest. 1922), als dernier cri. Aus dem Französischen drang das Wort mentalité auch in die englische (mentality), italienische (mentalità) und deutsche (Mentalität) Umgangssprache ein. Die 20. Auflage des „Duden" definierte 1991 „Mentalität" als „Denk-, Anschauungsweise; Sinnes-, Geistesart".

2

Vgl. O. G. OEXLE, „Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins." Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Denken des Mittelalters und das Problem ihrer Deutung, in: J. MIETHKE/K. SCHREINER (Hgg.), Sozialer Wandel im Mittelalter, 1994, S. 4 5 - 7 0 , hier S. 4 6 - 4 7 : „Die Verwendung dieser Schemata der Deutung historischen Wandels (gemeint u. a.: zunehmende Individualisierung, Säkularisierung, Rationalisierung, welche die Neuzeit vom Mittelalter angeblich unterscheiden, d. Verf.) im Kontext historischer Erkenntnis und geschichtswissenschaftlicher Argumentation ist keineswegs illegitim, letztlich jedoch nur legitim unter der Bedingung ihrer gleichzeitigen Historisierung, das heißt im Rahmen der Einsicht in ihre historische Gewordenheit und Vermitteltheit."

3

Zur Bedeutung von Leopold von Ranke und seinem Objektivitätsanspruch an die Geschichtswissenschaft vgl. kurz H. BERDING, Leopold von Ranke, in: H.-U. WEHLER (Hg.), Deutsche Historiker, Band I, 1971, S. 7-24.

16

Kapitel I. Einleitung

Für den hier zu behandelnden Zusammenhang entscheidend wird freilich der Umstand, daß der Begriff der Mentalität auch in die (französische) Wissenschaftssprache einzudringen begann. 1921 veröffentlichte der bedeutende französische Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl (gest. 1939) ein Buch mit dem Titel ,La mentalité primitive' und beeinflußte mit seinem Konzept einer „primitiven Mentalität", d. h. der Mentalität einer nicht-modernen, nichtentwickelten Gesellschaft, eigentlich bis heute das Denken vieler Mentalitätshistoriker. Auch wenn Lévy-Bruhl in aller Regel nicht mehr direkt zitiert wird, so greift man doch in vielen Fällen auf von ihm entwickelte Konzepte zurück. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in solchen Etikettierungen und Zuschreibungen, welche Zumindestens die früh- und hochmittelalterliche Gesellschaft als eine „archaische" deuten. Unter einer „archaischen Mentalität" versteht Lévy-Bruhl vornehmlich „prälogische" Denk- und Handlungsweisen. Der affektiv-emotionale Bereich spiele in vormodernen, archaischen Gesellschaften eine starke Rolle, was auch für die Bedeutung des „Übernatürlichen" (le surnaturel) gelte. Für Lévy-Bruhls Sichtweise, ungeachtet aller von ihm in seinen zahlreichen Schriften vor allem in der Spätphase immer wieder vorgenommenen Modifizierungen 4 , erscheint der Umstand typisch, daß archaische Mentalität eng verknüpft ist mit einem wenig fortgeschrittenen zivilisatorischen Entwicklungsstand. Sie stellt sich daher primär auch als ein Charakteristikum vormoderner Gesellschaften dar. Die sogenannte erste Generation der französischen Forscher im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts vermied es freilich noch, den aus der Umgangssprache stammenden Begriff der Mentalität zu verwenden, und bevorzugte statt dessen Umschreibungen wie état d'esprit, genre de penser, habitudes de pensée, état mental, condition mentale, outillage mental, histoire de sensibilité. Erst seit den späten fünfziger Jahren hat man den Mentalitätsbegriff ohne präzisierende Umschreibungen stärker verwendet. Seine eigentliche Karriere beginnt freilich erst, zumindestens was Frankreich angeht, in den sechziger und siebziger Jahren, in denen er nach Ansicht der Kritiker zum wissenschaftlichen Modewort wird.

4

So revidierte Levy-Bruhl seine These vom antagonistischen Verhältnis zwischen archaischem und modernem Denken, das zugunsten des letzteren in einem evolutionistischen Prozeß entschieden werde, gegen Ende seines Lebens (1938-39): Archaische Denkstrukturen stellten Universalien des menschlichen Denkens dar und fänden sich daher auch in modernen Gesellschaften, vgl. dazu knapp zusammenfassend G. E. R. LLOYD, Demystifying Mentalities, 1990, S. 1-2.

Begriffsklärungen

17

Spätestens seit den achtziger Jahren ist man, nicht zuletzt auch bedingt durch den großen Einfluß von Jacques Le Goff, ungleich zurückhaltender geworden im Gebrauch des Wortes Mentalität und bevorzugt häufiger den Begriff des imaginaire oder der représentation de l'imaginaire5. Bei diesem nur sehr schwer übersetzbaren Begriff (Weltbild, Leitbild, Wunschbild) liegt der Akzent auf der gesellschaftlichen Vermitteltheit dieser kollektiven Vorstellungswelten und Deutungsmuster 6 . „Mentalität" erscheint nicht mehr unmittelbar für den Historiker greifbar, sondern allenfalls mittelbar über den Umweg von Vorstellungs- und Deutungsmustern. Auch der Begriff des „Archaischen" bzw. des „Primitiven" ist seit Anfang der sechziger Jahre zunehmend fragwürdig geworden. Im Unterschied zu Lévy-Bruhl hält der führende französische Ethnologe Claude LéviStrauss (geb. 1908) archaisches Denken nicht für ein Signum ausschließlich vormoderner Gesellschaften. Er vermeidet daher diesen Begriff und spricht lieber von „wildem Denken" in Opposition zum „wissenschaftlichen Denken". Vor allem darf aber nach Lévi-Strauss „archaisches" bzw. „primitives" Denken keinesfalls mit „einfachem" Denken gleichgesetzt werden. Seiner Meinung nach ist das Denken von Angehörigen prämoderner Gesellschaften nicht weniger komplex strukturiert als dasjenige von Mitgliedern moderner Gesellschaften. Die Bedeutung des „Strukturalisten" Lévi-Strauss für die moderne französische und außerfranzösische Mentalitätsgeschichte ist außerordentlich groß, denn viele Historiker begreifen mittelalterliche Gesellschaften als

5

Geprägt und besonders häufig verwendet von J. LE GOFF, L'imaginaire médiéval. Essais 1985; ein praktisches Beispiel gibt ders. in seinem Werk ,La Naissance du purgatoire', 1981 (dt.: Die Geburt des Fegefeuers, 1984); ausdrücklich auch im Titel genannt bei G. DUBY, Les trois ordres ou l'imaginaire du féodalisme, 1978 (dt.: Die drei Ordnungen: das Weltbild des Feudalismus, 1981).

6

Zum Begriff und seinen historischen Wurzeln (imaginaire gleich histoire des représentations collectives) vgl. P. BURKE, Offene Geschichte. Die Schule der Annales, 1991, S. 75-77 und 116 (mit Betonung der engen Verwandtschaft von imaginaire und mentalité)', stärker differenzierend O. G. OEXLE, Das Andere, Die Unterschiede, Das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters, in: Francia 17 (1990), S. 141-158: Die ,histoire de l'imaginaire' intendiere bei Le Goff als „Geschichte des individuellen und kollektiven Vorstellungsvermögens, der Hervorbringungen der Phantasie", die „Überwindung" eines unscharf gewordenen Mentalitätsbegriffes. Oexle hat aber gleichzeitig auf die Schwächen der Konzeption Le Goffs aufmerksam gemacht: So läßt sich auch in seinem Fall der alte, schon gegenüber der Mentalitätsgeschichte erhobene Vorwurf mangelnder begrifflicher Klarheit erneuern.

18

Kapitel I. Einleitung

„archaische". Daraus folgt für sie die Anwendbarkeit und Übertragbarkeit strukturalistischer Konzepte und Deutungsmuster, wie sie Lévi-Strauss für „primitive" Gesellschaften entwickelt hatte. Eine wichtige Rolle bei der bislang noch nicht endgültig entschiedenen Frage nach der Übertragbarkeit des Konzeptes „primitiver" Gesellschaften spielt die Überlegung, inwieweit das Mittelalter eine auf Mündlichkeit (Oralität) beruhende Kultur gewesen ist oder nicht. Auch Lévi-Strauss sieht in der Erfindung bzw. im Gebrauch der Schrift ein, wenn nicht das entscheidende Kriterium, das archaische und moderne Gesellschaften voneinander unterscheide. Auf einem Feld ist der Einfluß von Lévi-Strauss besonders stark zu spüren: auf dem Gebiet der „Elementaren Strukturen der Verwandtschaft" 7 . Die von Lévi-Strauss in enger Anlehnung an den französischen Soziologen M. Mauss entwickelte Deutung der Frau als wertvollstes Tauschobjekt zwischen Männern bzw. Familien, mit der Absicht, Kontakte zu knüpfen und Allianzen zu schmieden, wurde von Duby für seine Deutung mittelalterlicher Heirats- und Eheschließungsstrategien übernommen 8 . Auch er unterstreicht die Passivität der Frau, ihren Status als bloßes Objekt, von der bereits Lévi-Strauss in seiner Analyse elementarer Verwandtschaftsstrukturen ausgegangen war. Den Einfluß von Lévi-Strauss hat der Umstand befördert, daß dieser die Kooperation mit den Historikern wie Duby nicht abgelehnt, sondern im Gegenteil befürwortet hat. So hat Lévi-Strauss beispielsweise 1979 davon gesprochen, daß unter dem Zeichen einer „historischen Anthropologie" „die Zusammenarbeit (mit den Historikern, er erwähnt namentlich G. D u b y ) . . . immer enger (werde") 9 . 7

Vgl. den Titel „Les structures élémentaires de la parenté" des erstmalig 1948 erschienenen und überaus einflußreichen Werkes von LÉVI-STRAUSS (dt.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 1981).

8

Vgl. dazu unten Kapitel XI. - Ein ausführlicher Rekurs auf die von dem französischen Soziologen MARCEL MAUSS (gest. 1950) entwickelte Theorie der „Gabe" (vgl. dessen „Essai sur le don, forme et raison de l'échange dans les sociétés archaiques", 1925; dt.: Die Gabe, Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, 2 1994, auch als Tb.Ausgabe) findet sich in Dubys Deutung bäuerlich-agrarischer Mentalitäten, vgl. G. DUBY, Guerriers et paysans VII-XII e siècle, premier essor de l'économie européenne, 1973, S. 62-63, wo er von Mauss als „un des maîtres de l'ethnologie" spricht (dt.: Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, 1977, S. 54).

9

Vgl. das Gespräch, das Lévi-Strauss mit M. d'Eramo im „mondoperaio" (Nr. 2, Februar 1979) über „Die strukturalistische Tätigkeit" führte, abgedruckt in deutscher Übersetzung, in: C. LÉVI-STRAUSS, Mythos und Bedeutung (édition suhrkamp N. F. Bd. 27), 1980,

Die „Schule" der Annales

19

Auch die in vielen Arbeiten jüngeren Datums so betonte Bedeutung ritueller Formen für die politische Geschichte dürfte zumindestens teilweise auch durch Arbeiten von Lévi-Strauss befruchtet worden sein, für den Rituale als „Übersetzungs-" und Deutungsversuche des Mythos spätestens seit Anfang der siebziger Jahre verstärkt wichtig wurden. Nach Ansicht vieler, auch deutscher Forscher (H. Vollrath, G. Althoff u. a.) ist zumindestens das frühe und hohe Mittelalter, ähnlich wie „primitive" Gesellschaften, durch einen hohen Grad an Ritualisierung geprägt.

2. Die „Schule" der Annales Die Tatsache, daß wir heute von „Mentalitätsgeschichte" sprechen, hängt ganz ursächlich mit der Bildung der sogenannten Annales-Schule in Frankreich zusammen. Der Begriff der „Schule" ist in gewisser Weise falsch und in gewisser Weise auch wiederum richtig. Falsch ist er insofern, als er falsche Vorstellungen einer so niemals vorhandenen methodischen Einheitlichkeit von Historikern nährt. Richtig ist er insofern, als er allen Unterschieden zum Trotz die starken organisatorischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen Historikern unterstreicht, die sich dem Inhalt und Programm ihres Zentralorgans, der 1929 gegründeten Zeitschrift Annales, verpflichtet fühlten und noch fühlen. Ihre beiden Begründer und führenden Köpfe, der Mediävist Marc Bloch (gest. 1944) und der Frühneuzeitler Lucien Febvre (gest. 1956), können als die „Väter" der modernen Mentalitätsgeschichte bezeichnet werden. Mit ihren Arbeiten beeinflußten sie ganz wesentlich spätere Generationen von Mentalitätsforschern. Dieser Umstand hat dazu beigetragen, daß die Mentalitätsgeschichte und die Annales häufig ineinsgesetzt wurden und werden. Doch gilt es hier sorgfältig zu differenzieren. Auch wenn Febvre, stärker noch als Bloch, sich in besonderer Weise für die mentalen Strukturen der Geschichte interessierte, war das Hauptanliegen der beiden Annalesgründex die kritische Auseinandersetzung und endgültige Abrechnung mit einer als traditionell und überholt angesehenen Geschichtsschreibung, wie sie an der führenden Universität Frankreichs, der Sorbonne, S. 252-274, Zitat hier S. 267. Lévi-Strauss verweist in diesem Zusammenhang auch auf das „Montaillou"-Buch von E. Le Roy Ladurie (vgl. dazu unten Kapitel VII mit Anm. 2), das ihm zufolge „eine ausgezeichnete Ethnologie eines Abschnitts der Vergangenheit darstelle" (ebd.).

20

Kapitel I. Einleitung

gelehrt wurde. Febvre und Bloch forderten in ihrem Manifest „An unsere Leser" die Überwindung der engen Fachgrenzen, sowohl zwischen den Historikern selbst als auch zu den Nachbardisziplinen. Reine „BindestrichGeschichtsschreibung", also einzelne Politik-, Verfassungs-, Wirtschafts-, Sozial- oder Kultur-Geschichten wurden ebenso verworfen wie die herkömmliche Trennung in Alte, Mittelalterliche und Neuzeitliche Geschichte. Man forderte die Zusammenarbeit aller miteinander verwandten Disziplinen; auch die Zeitgeschichte sollte - für die damalige Zeit durchaus ungewöhnlich - ihren gebührenden Platz erhalten. Wirtschaft und Gesellschaft, die „Zivilisation", galten als die wichtigen und entscheidenden Themen einer modernen Geschichtsschreibung, die das Prädikat für sich beanspruchen wollte, eine Nouvelle Histoire zu sein. Die Einbeziehung konkurrierender Nachbarwissenschaften und ihres methodischen Rüstzeuges (der Geographie, der Psychologie, vor allem aber der Soziologie) sollte der Geschichte ihren nicht unbestrittenen Führungsanspruch im Kreise der Sozial- bzw. Humanwissenschaften (Sciences sociales bzw. humaines) sichern helfen. Bloch und Febvre waren zum Zeitpunkt ihrer Zeitschriftengründung im Jahre 1929 noch Außenseiter der Historikerzunft an einer, wenn auch durch ihre Grenzlage wichtigen französischen Provinzuniversität (Straßburg). Ihrer beider Berufung nach Paris (1933 wechselt Febvre an das Collège de France, Bloch 1929 an das Collège de France, 1936 an die Sorbonne) ist das äußere Zeichen ihres beginnenden Erfolges. Nach der Ermordung Blochs im Jahr 1944 durch die Deutschen - er war in die französische Widerstandsbewegung der Résistance eingetreten - übernahm Febvre die alleinige Leitung der Annales, die nach Kriegsende unter ihrem veränderten Titel Annales. Economies-Sociétés-Civilisations (zumeist abgekürzt zitiert als: Annales. E.S.C.) bis 1993 erschienen. Im Jahr 1994 wurde der Untertitel geändert in Histoire, Sciences Sociales10. Entscheidend für die end-

10 Der Titel der Zeitschrift erfuhr, zeitbedingt, mehrfach Änderungen: 1929 gegründet als Annales sociale;

d'histoire

économique

1942-1944

et sociale;

als Mélanges

1939-1941 erschienen als Annales

d'histoire

sociale;

1945

als Annales

sociale ; seit 1946 unter dem bis 1993 einschließlich gültigen Titel Annales. Sociétes-Civilisations\

d'histoire d'histoire Economies-

seit Januar 1994 lautet er Annales. Histoire, Sciences Sociales. - Zur

Rechtfertigung der oftmaligen Änderungen vgl. die vom persönlichen wie auch von einem generellen Aufbruchspathos der unmittelbaren Nachkriegssituation geprägten Bemerkungen des Herausgebers LUCIEN FEBVRE, Mit dem Gesicht zum Wind. Das Manifest der neuen Annales, in: M. MIDDELL/S. SAMMLER (Hgg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales 1929-1992, 1994, S. 69-82.

Die „Schule" der Annales

21

gültige Institutionalisierung der Annales Ende der vierziger Jahre war der Umstand, daß es Febvre gelang, wichtige Positionen in der französischen Bildungslandschaft für die Annales zu sichern: Am bedeutsamsten war sicherlich die Gründung der berühmten Sixième Section der École Pratique des Hautes Études 1948 in Paris, bis heute - auch nach ihrer 1975 erfolgten Umwandlung in eine autonome École des Hautes Études en sciences sociales - das geistige Zentrum der Annales. Obgleich sich Febvre, wie bereits erwähnt, in besonderer Weise für Probleme der Mentalitätsgeschichte interessierte und 1942 sein berühmt gewordenes Buch ,Le problème de l'incroyance au XVIe siècle: la religion de Rabelais' veröffentlicht hatte, entwickelten sich die Annales unter der Leitung des von Febvre geförderten Ferdinand Braudel (gest. 1985) in einer Richtung weiter, die vor allem auf quantifizierende Methoden (Cliométrie; Histoire quantitative) setzte. Das Ziel dieser sogenannten zweiten Generation der Annales, charakterisiert durch eine enge Verknüpfung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen, lag vornehmlich in der Ermittlung langfristiger Zyklen (longues durées) auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte (z.B. Preis-, Verkehrs-, Bevölkerungsentwicklungen). Anthropologische und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen traten während dieses Zeitraums eher in den Hintergrund. Erst in den sechziger Jahren begann man sich verstärkt auch wieder Problemen der Mentalitätsgeschichte zuzuwenden. Diese Offenheit der dritten Generation (u. a. Georges Duby, Jacques Le Goff, Emmanuel Le Roy Ladurie) für anthropologische Fragestellungen hängt sicherlich auch mit einer seit den fünfziger Jahren wachsenden politischen Distanz französischer Intellektueller gegenüber den USA zusammen, wo man, wie ursprünglich auch in Frankreich, auf quantifizierende Methoden in der Geschichtswissenschaft besonderen Wert legte. Die Verstrickung der Vereinigten Staaten in den Vietnamkrieg führte nicht nur zu einer Erschütterung ihres moralischpolitischen Führungsanspruches, sondern erleichterte gleichzeitig auch einen gewissen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel in Frankreich. Er dokumentierte sich in einer personellen Erneuerung der Führungsriege der Annales. Der Generationswechsel wurde gefördert und erfuhr zusätzliche Schubkraft durch die in Frankreich besonders starke 68er-Bewegung. Die Folgezeit ist, wenn wir uns hier auf das Gebiet der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte beschränken, durch die bedeutenden Arbeiten von Le Goff, Duby und Le Roy Ladurie gekennzeichnet, die, entstanden in den siebziger und achtziger Jahren, allesamt auch zu großen Erfolgen auf dem Buchmarkt

22

Kapitel I. Einleitung

wurden. Typisch für viele dieser Arbeiten ist, wie bereits betont wurde, der Umstand, daß der Begriff der Mentalität weniger eine Ersetzung denn eine Ergänzung durch den Begriff des Imaginären erfahren hat: Die histoire des mentalités präsentiert sich heute oft im Gewand einer histoire des imaginaires, ohne daß sich freilich immer ein exakter Unterschied zwischen mentalité und imaginaire definieren ließe 11 . Die gegenwärtige Situation, in der sich die vierte Generation der Annales (André Burguière, M. Vovelle u. a.) befindet, ist gekennzeichnet einerseits durch einen Pluralismus der methodischen Ansätze und Konzepte, andererseits durch eine gewisse Ratlosigkeit über den weiter einzuschlagenden Weg. Für unseren Zusammenhang, die Mentalitäts- und Vorstellungsgeschichte des Mittelalters, ist der Umstand bedeutsam, daß sich das Interesse führender Mentalitätsforscher von der Mentalitätsgeschichte im engeren Sinne abgewandt hat. Im Vorwort ist bereits auf die dezidierte Absage Georges Dubys an die Mentalitätsgeschichte hingewiesen worden 1 2 , und Alain Boureau hat der Mentalitätsgeschichte bescheinigt, ein wenig aus der Mode gekommen zu sein (légèrement démodée), und hat ihr empfohlen, sich wieder auf ihre ursprünglichen Anliegen zu besinnen 1 3 . Der als unzulänglich empfundene Mentalitätsbegriff hat eine Erweiterung erfahren, die vor allem Jacques Le Goff verdankt wird, der die Bedeutung der Geschichte des Imaginären hervorgehoben hat. Schließlich hat sich das Interesse einstiger Mentalitätshistoriker auf neue Arbeitsfelder verlagert, so z. B. die Geschichte der Frau, die Geschichte des privaten Lebens bzw. Alltagsgeschichte, die Vorstellungsgeschichte. Die Leitung der Annales hat diese Schwerpunktverlagerung vieler historischer Arbeiten aufmerksam registriert und ihr durch die schon erwähnte Änderung des Untertitels ihrer Zeitschrift Rechnung getragen. Der neue Untertitel Histoire, Sciences Sociales erwähnt die Economies und die Civilisations nicht mehr, Ausdruck eines veränderten Forschungsinteresses, das sich von quantifizierender und deskriptiver Wirtschafts- und Sozialgeschichte à la Braudel abgewendet hat hin zu den „Befragungsmethoden des Soziologen, die den Historiker immer mehr betreffen" 1 4 .

11 Vgl. Anm. 5. 12 Vgl. oben S. 9 - 1 0 mit Anm. 2. 13 A. BOUREAU, Propositions pour une histoire restreinte des mentalités, in: Annales. E.S.C. 44 ( 1 9 8 9 ) , S. 1 4 9 1 - 1 5 0 4 .

14 Vgl. das Vorwort zur „Table analytique des Annales. Economies. Sociétés. Civilisations. 1989-1993", hg. von C. GRÉRARD/M. GRINBERG/Y.TRABUT, 1995, das Zitat hier S . 6 ; vgl. auch

23

Zur Rezeption der Annales-Schule

3. Bemerkungen zur Rezeption der Annale

s-Schu\e

Betrachtet man die Rezeption der Annales in Westdeutschland, so gewinnt man einen höchst zwiespältigen Eindruck. Der Rezeptionsprozeß ist sehr unterschiedlich verlaufen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Annales beschränkte sich auf einige wenige Historiker. Die Gründe für diese allenfalls partielle Rezeption sind vielfältiger Natur. Wie erst jüngst Peter Schüttler 1 5 hat zeigen können, dürfte eine der entscheidenden Ursachen in der „akademischen Nachkriegsmentalität" westdeutscher Historiker zu suchen sein. Sie brachten vielfach die französischen Anna/ei-Historiker mit solchen Begriffen in eine enge Beziehung, die von jeher im bundesrepublikanischen Lager besonders stark tabuisiert (Materialismus, Kommunismus, Marxismus) oder stigmatisiert (z.B. Marc Bloch Resistance-Partisanen etc.; Anna/es-Lamprecht-Kulturgeschichtsschreibung etc.) waren. Im Bereich der Geschichte der deutschen Mittelalterforschung läßt sich die dem Mentalitätsbegriff innewohnende Problematik daran ermessen, daß auch solche Arbeiten deutschsprachiger Historiker, die nach dem Verständnis der Annales-Schule genuine Mentalitätsgeschichtsschreibung betrieben, in aller Regel auf den durch die Annales offenbar belasteten Begriff der Mentalität verzichtet haben 1 6 . Er wurde und er wird dort ersetzt durch Begriffe wie „Lebensformen" (A. Borst) 1 7 , „Lebensordnungen" (H. Fichtenau) 1 8 oder ebd.: „Es ist klar, daß nach einer langen Zeit der Vorherrschaft einer bestimmten beschreibenden Wirtschaftsgeschichte, die sich um empirische, stark quantitative Analysen kümmert, eine solche heute nicht mehr dieselbe Anziehungskraft auf die Historiker ausübt." (aus dem Französischen übersetzt). 15 Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West), in: MIDDELL/SAMMLER (Hgg.) (wie Anm. 10), S. 4 0 - 6 0 . 16 Vgl. aber R. SPRANDEL, Mentalitäten und Systeme, 1972 (freilich mit stärkerer Betonung von Ansätzen der angloamerikanischen Systemtheorie) und - mit ausdrücklich positiver Bezugnahme auf G. Duby und die von ihm vertretene Histoire de la mentalité - H. LÖWE, Einleitung, in: DERS., Von Cassiodor zu Dante, 1973, S. 1-10; hier S. 2. LÖWE bevorzugt in seinen Arbeiten solche Begriffe wie „Ideenwelt", „Weltauffassung" oder er spricht, die Mentalität umschreibend, von „Überreste(n) des Wollens, Fühlens und Denkens". 17 A. BORST, Lebensformen im Mittelalter, 1973. - Das Buch von Borst, das nach eigener Einschätzung des Autors bei seinem Erscheinen von der Historikerzunft nicht beachtet wurde, wurde auch als Taschenbuch verlegt und erlebte im Juli 1993 die 13. Auflage. 18 H. FICHTENAU, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde, 1984. (Tb.-Ausgabe 1992).

24

Kapitel I. Einleitung

„Vorstellungsgeschichte" (H.-W. Goetz) 1 9 . In jüngster Zeit wurde besonders die methodische Bedeutung einer „Geschichte der Wahrnehmungsformen und Erklärungsmuster" betont (J. Fried, J. Miethke, O. G. Oexle, K. Schreiner) 20 . In seltsamem Kontrast zur mangelnden Rezeption in Fachkreisen, die sich jetzt allmählich zu wandeln beginnt, steht der bereits erwähnte große Publikumserfolg französischsprachiger Autoren. Wenn man hierzulande Namen wie Duby oder Le Goff kennt, so ist dies vor allem deutschen Verlagen zu danken, die, wenn auch leider nicht immer in geglückten Übersetzungen, zentrale Werke französischer Mentalitätshistoriker dem hiesigen Publikum zugänglich gemacht haben 2 1 . Auch dem überzeugendsten und beeindruckendsten Beispiel deutscher Mentalitätsgeschichtsschreibung, soweit sie das Mittelalter betrifft, den 1973 erschienenen „Lebensformen im Mittelalter" des Konstanzer Mediävisten Arno Borst, war eine große Resonanz beim Leser beschieden, freilich nicht bei der Historiker-„Zunft". Die Anzeichen vermehrter Auseinandersetzung mit mentalitätsgeschichtlichen Problemen auch bei deutschen Mediävisten sind mittlerweile unübersehbar, wie z.B. der gewichtige Tagungsband „Mentalität" des renommierten „Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte" 2 2 . An dieser Stelle zu nennen ist auch die jüngst von Peter Dinzelbacher herausgegebene „Europäische Mentalitätsgeschichte" 2 3 .

4. Probleme der Mentalitätsforschung Die Distanz, die man der Mentalitätsgeschichte gegenüber nicht nur in Deutschland entgegengebracht hat, ist außer durch wissenschaftsgeschichtliche (Stichwort: Hochschätzung nationaler Wissenschaftstraditionen durch die Historikerzunft) und allgemeinpolitische (Stichwort: durch den OstWest-Konflikt belastete Nachkriegssituation in Europa, sog. Kalter Krieg) 19 H.-W. GOETZ, „Vorstellungsgeschichte": Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit, in: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), S. 253-271. 20 Vgl. den einschlägigen Sammelband „Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsform e n , E r k l ä r u n g s m u s t e r , R e g e l u n g s m e c h a n i s m e n " , h g . v o n J. MIETHKE/K. SCHREINER, 1994.

21 K. SCHREINER, Von der Schwierigkeit, mittelalterliche Mentalitäten kenntlich und verständlich zu machen. Bemerkungen zu Dubys „Zeit der Kathedralen" und „Drei Ordnungen" für deutschsprachige Leser, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 217-231. 22 F. GRAUS (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter, 1987. 23 P. DINZELBACHER (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993.

25

Probleme der Mentalitätsforschung

Ursachen auch durch solche Probleme bedingt, die mit Begriff und Methode der Mentalitätsgeschichte aufs engste zusammenhängen. Der erste grundlegende und auch schwer zu widerlegende Vorwurf gegenüber der Mentalitätsgeschichte gründet auf der Unscharfe des Begriffes ,Mentalität', der sich auch bereits in den Anfängen der Mentalitätsgeschichte bei Marc Bloch und Lucien Febvre verschiedenartig umschrieben findet, wenn er nicht ganz vermieden wurde. Im Lager der Mentalitätshistoriker wurde bis heute immer wieder versucht, zu einer plausiblen und stringenten Definition von Mentalität zu kommen 2 4 . Ob alle diese Versuche immer geglückt sind, sei dahingestellt. Man sollte vielmehr mit dem deutschen Historiker Gerd Tellenbach aus der Not eine Tugend machen und in der begrifflichen Unschärfe einen Vorteil der Mentalitätskonzeption sehen, die sich dadurch elastisch verschiedenartigen historischen Fragestellungen anpassen kann 2 5 . Allerdings ist eine Abgrenzung gegenüber herkömmlicher Ideen- oder Geistesgeschichte eben nicht immer möglich. Eine weitere grundlegende Schwierigkeit bildet die Möglichkeit der Nachweisbarkeit von Mentalitäten. Für den Historiker erfaßbar sind Mentalitäten durch Quellen. Da wir für den Bereich des frühen und hohen Mittelalters nur über eine sehr beschränkte Zahl an - schriftlichen - Quellen verfügen, bedeutet dieser Umstand auch eine Einschränkung, was eine (exakte) Ermittlung der Mentalitäten dieser frühen Zeiträume angeht. Manche Mentalitätshistoriker gehen sogar so weit und sehen die Ermittlung von Mentalitäten ausschließlich an sogenannte serielle Quellen (z. B. Testamente) gebunden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Histoire sérielle (Paul Chaunu). Gegen eine solch ausschließlich quantifizierende Ideengeschichte ist im Lager der Annales selbst energischer Widerspruch (Roger Chartier: „Illusionen der Quantifizierung") eingelegt worden 2 6 . Auch die vorliegende Skizze teilt die Skepsis gegenüber solchen sozialwissenschaftlichen Praktiken, die darauf hinauslaufen, „Wörter, Ideen,

2 4 V g l . hierzu als einen der letzten Versuche P. DINZELBACHER, ZU Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, in: DERS. ( H g . ) ( w i e A n m . 2 3 ) , S. X X I : „Historische Mentalität ist das E n s e m b l e der Weisen und Inhalte d e s D e n k e n s und E m p f i n d e n s , das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist. Mentalität manifestiert sich in Handlungen". 25 G. TELLENBACH, „Mentalität", in: G e s c h i c h t e -

Wirtschaft -

Gesellschaft.

Festschrift

C. Bauer z u m 75. Geburtstag, 1974, S. 1 1 - 3 0 . 2 6 V g l . R. CHARTIER, Intellektuelle G e s c h i c h t e und Geschichte der Mentalitäten, in: U . RAULFF (Hg.), Mentalitäten-Geschichte, 1989, S. 6 9 - 9 6 , das Zitat S. 83.

26

Kapitel I. Einleitung

Gedanken, Vorstellungen als bloße Gegenstände zu betrachten, die nur aufgezählt zu werden brauchen" (Chartier). Gleichwohl soll aber an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß wir nicht sicher wissen, inwieweit es sich bei vielen der von einer qualitativ' vorgehenden Forschung ermittelten ,Mentalitäten' auch tatsächlich um kollektive Einstellungen sozialer Gruppen handelt oder nicht nur um eine individuelle sensibilité. Es stellt sich die Frage nach der Abgrenzung bzw. Ineinssetzung von Individuum und Gruppe („Homogenitätsproblem"). So ist beispielsweise daran zu denken, daß Individuen historisch spätere kollektive Bewußtseinslagen gleichsam vorwegnehmen können. Freilich auch der umgekehrte Vorgang - die einzelne Persönlichkeit orientiert sich an einer im allgemeinen Bewußtsein so längst nicht mehr akzeptierten und vorhandenen vergangenen Denk- und Verhaltensweise - ist durchaus vorstellbar. Theoretisch schwierig zu lösen bleibt auch das Problem, daß Personen und Gruppen nicht ausschließlich eine einzige Mentalität zugeschrieben werden kann, daß sich Mentalitäten überlagern können und damit komplex werden 2 7 . Genauso verdient es ein weiteres Problem der Mentalitätsgeschichte, angesprochen zu werden. Dieses hat bereits Febvre in seiner oben genannten Rabelais-Studie intensiv beschäftigt: Mentalität äußert sich durch und über Sprache; gleichzeitig ist aber die Sprache stark traditionsgebunden. Dieser Umstand bedeutet, daß neue Denkweisen und veränderte Mentalitäten sich häufig in traditioneller Sprachgestalt äußern. Mit anderen Worten: Mentalitätsgeschichte hat sich sehr oft auch mit Fragen der historischen Semantik zu beschäftigen. Das schwerwiegendste Problem berührt ein Thema, das wir bereits zu Beginn dieser Einführung angeschnitten haben. Wir erwähnten jenes bipolare Verhältnis der Gegenwart zum Mittelalter, die entweder glaubt, die eigene ,Moderne' bereits in der Vergangenheit vorzufinden, also gleichsam ein statisches Modell (ohne Annahme eines historischen Wandels) bevorzugt, oder aber den großen Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart betont und damit einem evolutionistischen Modell verpflichtet ist. Die Mentalitätsgeschichte ist in der Gefahr gewesen (und ist es noch) - sicherlich zu einem großen Teil bedingt durch den Einfluß ethnologischer Fragestellungen eines Lévy-Bruhl und eines Lévi-Strauss - , manchmal die Veränderungen überzubetonen. Das hängt vielleicht auch damit zusammen,

27 Dieser Umstand bildet einen Hauptgegenstand der Kritik der Mentalitätsgeschichte bei G. E. R. LLOYD ( w i e A n m . 4), S. 1 3 8 - 1 3 9 .

Probleme der Mentalitätsforschung

27

daß man sich auf jeden Fall vor der Gefahr des „psychologischen Anachronismus" hüten wollte (und auch heute noch will), den Lucien Febvre als eine der „Hauptsünden" traditioneller Geschichtsschreibung ansah. Der französische Mentalitätsforscher Philippe Aries 2 8 erinnert sich: „Lucien Febvre erzählte eine Geschichte, die ich hier aus dem Gedächtnis wiedergebe, ohne sie genauer zu verifizieren, ganz so, wie sie mir in Erinnerung geblieben ist; ich erzähle diese Geschichte, weil sie, wenn auch verändert und vereinfacht, was wenig ausmacht, mir immer den schwierigen Begriff der .Mentalität' auf eine schlagende Art und Weise zu veranschaulichen schien. ... Am frühen Morgen verließ König Franz I. das Bett seiner Mätresse, um unerkannt in sein Schloß zurückzukehren. Auf dem Weg dahin kam er an einer Kirche vorbei, deren Glocken zur Messe läuteten. Innerlich bewegt, unterbrach er seinen Weg, um an der Messe teilzunehmen und um gläubig seine Gebete zu verrichten. Der Mensch von heute, überrascht von der fast gleichzeitigen Existenz einer sündigen Liebesbeziehung und einer aufrichtigen Frömmigkeit, hat die Wahl zwischen zwei Interpretationen. Erste Interpretation: Die Glocke der Kirche erweckt beim König das Verlangen, seine Sünde zu bereuen, und er betet zu Gott, um Vergebung für seine Sünde zu erlangen. Er kann nicht fast zur gleichen Zeit, wenn er kein Heuchler sein will, mitten in der Nacht sündigen und ,danach' früh am Morgen fromm sein. Durch sein Handeln erweist er sich als ein Mensch von heute, wenigstens als ein Mensch mit einer gewissen Rationalität, der nicht Dostojevsky gelesen hat und der Freud mißtraut, als ein nüchterner Jurist oder Geschworener. Er ist davon überzeugt, daß die Moral von Natur aus und notwendigerweise ein zusammenhängendes Ganzes bildet. Diejenigen Menschen, auf die dies nicht zutrifft, werden für anormal erklärt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Diese Normalität ist ein unveränderlicher Wert; tief in ihrem Innern ändert sich die menschliche Natur ihrer Substanz nach nicht. Eine solche Interpretation wird die Interpretation eines klassischen Historikers sein, der dazu neigt, in allen Epochen und in allen Kulturen, zumindestens in allen zivilisierten, und das heißt automatisch, in allen christlichen Kulturen, die fortwährende Dauer sich nicht verändernder Gefühle anzunehmen. 28

Über Philippe Aries (gest. 1984), der durch seine Studien zur „Geschichte der Kindheit" (dt. 1975) und zur „Geschichte des Todes" (dt. 1980) auch hierzulande einem größeren Publikum bekannt wurde, vgl. P. BURKE (wie Anm. 6), S. 71-73.

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Kapitel I. Einleitung

Die Interpretation des Mentalitätshistorikers verläuft genau entgegengesetzt. Der König macht, was seine Spontaneität und seine naive Aufrichtigkeit angeht, keine Unterschiede zwischen seinen religiösen Gefühlen und seinem Liebesleben. Er fühlte noch nicht ihre Unvereinbarkeit. Er betrat die Kirche mit demselben jugendlichen Ungestüm, mit dem er das Bett seiner Geliebten erobert hatte. Die Aufrichtigkeit seines Gebets wurde nicht beeinträchtigt durch einen unangenehmen Nachgeschmack, den das Liebesabenteuer bei ihm hinterlassen hätte ... Heutzutage akzeptiert die allgemeine Meinung die Quasi-Simultaneität einander widersprechender Gefühle nicht mehr. Alle Bemühungen der Tiefenpsychologie, die öffentliche Meinung von der Vereinbarkeit solch entgegengesetzter Gefühle zu überzeugen, sind am Ende doch zum Scheitern verurteilt, auch wenn es den Anschein hat, man wolle eine solche Annahme wenigstens erwägen. Hingegen wurde früher eine solche Annahme als völlig natürlich empfunden. Es handelt sich nicht nur um den Unterschied zwischen einem Christentum, das gleichermaßen für Gefühle empfänglich war und abergläubische Züge trug, und einem Christentum, das moralisch höhere Ansprüche stellt, rationaler und in sich geschlossener ist. Die Unterschiede haben historisch tiefere Wurzeln, und die religiösen Reformen des 16. und 17. Jahrhunderts sind nicht die Ursachen, wohl aber Manifestationen dieser Unterschiede. Lucien Febvre hat noch ein anderes Beispiel der Vereinbarkeit von Haltungen gegeben, die seitdem miteinander unvereinbar sind. Margarethe von Navarra, die Schwester von Franz I., konnte nacheinander, ohne übertriebene Skrupel zu haben, das Heptaméron, eine Sammlung schlüpfriger Geschichten, und den Miroir de l'âme pécheresse, eine Sammlung geistlicher Gedichte, verfassen. Unsere geistige Verfassung könnte eine solch naive Vermischung und diesen einfachen Glauben nicht mehr zulassen. Gewisse Dinge waren also vorstellbar und akzeptabel in einer gewissen Epoche, in einer bestimmten Kultur, und sie hörten auf, es zu sein in einer anderen Epoche und in einer anderen Kultur. Die Tatsache, daß wir uns heute nicht mehr mit demselben guten Glauben und der gleichen Selbstverständlichkeit bewegen können, wie es unser Fürst und unsere Prinzessin in einer vergleichbaren Lage noch tun konnten, ist ein genauer Indikator dafür, daß sich zwischen ihnen und uns ein Mentalitätswandel vollzogen hat . . . " 2 9 .

29 Ph. Ariès, L'histoire des mentalités, in: J. Le G o f f u. a. (Hgg.), La Nouvelle Histoire, 1978, S. 402-423 hier S. 402-403 (unveränderter Ndr. in der um ein Vorwort von J. Le Goff ergänzten 2. Auflage: S. 167-190, hier S. 167-168) (Übersetzung aus dem Französischen).

Axiome und Skizzierung

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5. Axiome der Mentalitätsforschung und Skizzierung der Vorgehensweise Obschon die Mentalitätsgeschichte sich durch einen Methodenpluralismus auszeichnet, lassen sich einige Grundannahmen (Axiome) dieser Forschungsrichtung definieren. Weitgehend einig ist man sich darüber, daß es sich bei Mentalitäten um Gruppenphänomene handelt. Die Beschreibung dieser Gruppen ergibt sich aus der jeweiligen Untersuchungsabsicht des Mentalitätsforschers und kann deshalb höchst unterschiedlich ausfallen: Eine kleine Gruppe kann ebenso Gegenstand der Untersuchung sein wie eine ganze Nation. Es sind grundsätzlich zwei Betrachtungsebenen denkbar, um Mentalitäten durch die genuin historische Methode des Vergleiches ermitteln zu können: die synchrone Betrachtung und die diachrone Betrachtung. Bei der synchronen Betrachtung steht die Mentalität einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe im Mittelpunkt der Betrachtung, also z. B. die des Adels, der Ritter, der Priesterschaft, der Mönche usw. Die Mentalität einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Gruppe (ordo) wird erkennbar im kontrastierenden Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen. Mittelalterliche Kaufleute haben (vielleicht) ein anderes Verhältnis zum Geld als mittelalterliche Adlige, die zur Großzügigkeit (largitas) verpflichtet sind. Man unterstellt ihnen daher unterschiedliche „Mentalitäten". Bei der diachronen Betrachtung steht der zeitliche Aspekt (und weniger der Vergleich einzelner gesellschaftlicher Gruppen) im Mittelpunkt des Interesses. Man orientiert sich häufig thematisch und fragt beispielsweise danach, ob und inwieweit sich die Einstellungen gegenüber der „Liebe" im Laufe des Mittelalters geändert haben. Frantisek Graus hat in diesem Zusammenhang ein anschauliches ReizReaktionsmodell bemüht und die Bedeutung des „Testens" unterstrichen, um Mentalitäten ermitteln zu können 3 0 . Mentalität ist an der Art und Weise erkennbar, in der kollektive Gruppen auf bestimmte Stimuli (Reize) reagieren. Wenn wir dieses Modell, das den amerikanischen Sozialwissenschaften (insbesondere der Sozialpsychologie von G. H. Mead u.a.) entliehen ist, übernehmen, können wir die folgenden zwei Axiome formulieren: 1) Wenn soziale Gruppen auf gleiche Stimuli unterschiedlich reagieren, dann haben wir es auch mit jeweils unterschiedlichen Mentalitäten der betreffenden Gruppen zu tun. Beispiel: Adlige haben häufig ein anderes Ver30 F. GRAUS, Mentalität, Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung, i n : DERS. ( H g . ) ( w i e A n m . 2 2 ) , S . 7 - 4 8 .

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K a p i t e l I. E i n l e i t u n g

hältnis zum Krieg, der als willkommene Möglichkeit gesellschaftlichen Aufstiegs oder adligen Leistungsnachweises empfunden wird, als z. B. Stadtbürger, die Krieg vor allem als eine Gefährdung ihrer materiellen und persönlichen Existenz empfinden. Wir befinden uns also auf einer synchronen Beschreibungsebene. 2) Reagiert ein und dieselbe Gruppe (als größtes Kollektiv ist das „Mittelalter", der „mittelalterliche Mensch" vorstellbar), auf den gleichen Stimulus zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise, dann haben wir es mit einem Mentalitätswandel zu tun. Hier ein schon klassisches Beispiel: Im Laufe des Mittelalters wandelt sich das Naturverständnis, das als Indikator des Mentalitätswandels gelten oder aufgefaßt werden kann. Der Stimulus, der Reiz der Natur auf den Menschen, ändert sich, objektiv betrachtet, nicht. Die alpine Bergwelt verändert sich, unter geophysikalischem Aspekt betrachtet, nicht oder nur unwesentlich; nur die Art und Weise, in der Natur erfahren wird, verändert sich. Die Natur wird im Spätmittelalter, ganz grob gesprochen, weniger als Bedrohung wie im frühen und hohen Mittelalter, sondern zunehmend als ein ästhetisches Phänomen gedeutet und erfahren. Wir haben eine diachrone Beschreibungsebene gewählt. Freilich bietet das soeben skizzierte Modell eine Reihe von Angriffspunkten. So ist daran zu denken, daß die Impulse bzw. Stimuli, mit deren Hilfe Mentalitätswandel untersucht werden soll, häufig selbst einer starken zeitlichen Veränderung unterliegen oder historisch einmalige Phänome (wie z. B. Naturkatastrophen, Epidemien, Mißernten, große Kriege) darstellen. Aber auch scheinbar unveränderliche Stimuli wie Geburt und Tod unterliegen historischer Veränderung (beispielsweise höhere oder niedrigere Geburten- und Todesraten). Die Versuchsbedingungen im „Labor" des Historikers ändern sich also beständig. Ein genaues „Messen" oder „Testen" scheint unter diesen Bedingungen eine Illusion zu sein, denn zu Unrecht würden naturwissenschaftliche Exaktheit oder Genauigkeit suggeriert. Auch ist daran zu denken, daß wir Mentalität nie direkt, sondern nur mittelbar über Verhaltensweisen und Einstellungen erschließen können. Diese werden freilich nicht allein durch die Mentalität gesteuert, spiegeln also Mentalitäten wider, sondern werden auch durch solche Einflüsse wie Tradition, Erziehung, gesellschaftlichen Kontext etc. beeinflußt. Schließlich ist, worauf namentlich O. G. Oexle zu Recht 3 1 immer wieder

31 Vgl. OEXLE, „Die Statik ist ein G r a n d z u g des mittelalterlichen B e w u ß t s e i n s " (wie A n m . 2), S. 46.

Bibliographie

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insistiert hat, zu beachten, daß unsere Mittelalterinterpretation Deutungsschemata verpflichtet ist, die der „Sicht der Moderne" entspringen. Ungeachtet der vielen offenen Fragen, welche die Mentalitätsgeschichte hinterläßt, hat sich ihr Ansatz bei vielen Problemstellungen der mittelalterlichen Geschichte als fruchtbar erwiesen. Freilich wird man sich davor zu hüten haben, allein in der Mentalitätsgeschichte den Königsweg für alle Probleme der mittelalterlichen Geschichte zu erblicken. Ihr Hauptverdienst liegt sicherlich in der Sensibilisierung gegenüber Fragestellungen, die von der älteren Geschichtsschreibung für nicht wesentlich gehalten und daher vernachlässigt oder allenfalls am Rande behandelt wurden. Daß sich häufig auch ein größeres Publikumsinteresse mit der Mentalitätsgeschichte verbindet, könnte auch als ein glücklicher Umstand empfunden, sollte aber nicht von vornherein als ein Indiz mangelnder Wissenschaftlichkeit dieser Forschungsrichtung gedeutet werden. Unsere Vörgehensweise ist, gemäß den soeben entwickelten Axiomen der Mentalitätsgeschichte, zweigeteilt. In einem ersten, stärker synchron orientierten Teil werden wir uns der Mentalität von verschiedenen Gruppen (Adel, Geistlichkeit, Bürger, Bauern etc.) der mittelalterlichen Gesellschaft zuwenden. Danach erfolgt die Beschreibung der Mentalität auf einer diachronen Ebene. Stärker als im ersten Teil steht der Mentalitätswandel im Vordergrund, der anhand verschiedener Themen (Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen, Liebe und Sexualität etc.) untersucht wird. Generalisierungen („der mittelalterliche Mensch", „das Mittelalter") sollen hierbei nach Möglichkeit vermieden werden. Das gebietet allein schon die Komplexität des Themas. Nur so kann dem wohl schärfsten und oft auch sehr berechtigten Vorwurf an die Adresse der Mentalitätsgeschichte, sie fördere die große Vereinfachung und unterschätze die Komplexität der von ihr gedeuteten Vorgänge - „in some cases drastically" 32 entgangen werden.

6. Bibliographie Zum Verständnis des „Mittelalters" in der Moderne: G. ALTHOFF, Sinnstiftung und Instrumentalisierung: Zugriffe auf das Mittelalter, in: DERS. (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter, 1992, S. 1 - 6 und vor allem O. G. OEXLE, Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 1-22; DERS., Das entzweite Mittelalter, in: ALTHOFF (Hg.), Sinnstiftung und Instrumentalisierung, S. 7 - 2 8 ; DERS., Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalter-

3 2 S o LLOYD ( w i e A n m . 4 ) , S. 144.

32

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H. ATSMA U. a. (Hgg.), Marc Bloch aujourd'hui. Histoire comparée et sciences sociales, 1990; zu F. Braudel vgl. P. DAIX, Braudel, 1995; zu J. Le Goff vgl. die kenntnisreiche Würdigung eines der besten deutschen Annales-Kenner

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Unterschiede, das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des Europäischen Mittelalters, in: Francia 17(1990), S. 141-158. Z u m Begriff der .Mentalität': G. TELLENBACH, „Mentalität", in: Geschichte - Wirtschaft Gesellschaft. Festschrift C. Bauer zum 75. Geburtstag, 1974, S. 11-30 (Ndr. in: M. KERNER (Hg.), Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, 1982, S. 3 8 5 - 4 0 7 ) ; U. RAULFF, Die Geburt eines Begriffs. Reden von .Mentalität' zur Zeit der Affäre Dreyfus, in: DERS. (Hg.), Mentalitäten-Geschichte, 1987, S. 5 0 - 6 8 . Zur Rezeption der Annales

in der Bundesrepublik: C. HONEGGER, Geschichte im Entstehen.

Notizen zum Werdegang der Annales, in: DIES. (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a. Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, 1977, S. 7 - 4 4 ; P. SCHÖTTLER, Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West), in: MIDDELL/SAMMLER (Hgg.), Alles Gewordene hat Geschichte, S. 4 0 - 6 0 . Probleme der Mentalitätsgeschichte (Einforderung quantitativer Verfahren f ü r die Mentalitätsgeschichte): P. CHAUNU, Un nouveau champ pour l'histoire sérielle: le quantitatif au troisième niveau, in: Mélanges F. Braudel II: Méthodologie de l'histoire et de sciences humaines, 1973, S. 107-125; F. GRAUS, Mentalität - Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung, in: DERS. (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter, 1987, S. 7 - 4 8 ; (kritisch zur Überbetonung quantitativer Methoden); A. BOUREAU, Propositions pour une histoire restreinte des mentalités, in: Annales 44 (1989), S. 1491-1504; R. CHARTIER, Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten, in: RAULFF (Hg.), MentalitätenGeschichte, S. 6 9 - 9 6 (souveräne Zusammenfassung und Aufzeigung grundlegender Probleme); P. BURKE, Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: RAULFF (Hg.), Mentalitäten-Geschichte, S. 127-145; G . E . R . LLOYD, Demystifying Mentalities, 1990.

Teil A. Synchrone Beschreibungsebene: Mentalitäten einzelner gesellschaftlicher Gruppen

Kapitelll. Adel 1. Zu Begriff und Geschichte des Adels 3. Bibliographie

2. Einige Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität

1. Zu Begriff und Geschichte des Adels Folgt man dem ,Lexikon des Mittelalters', dann handelt es sich im Fall des „Adels" (lat. nobilitas) um eine „in zahlreichen Kulturen auftretende Aussonderung erbl. bevorrechteter Familien, die ggf. einen (meist untergliederten) Adelsstand bilden. Da es mehrfach zu Neubildung von ,Adel' kommen kann, bezeichnet der Begriff zu verschiedenen Zeitaltern jeweils abweichend strukturierte Gruppen" (K. F. Werner) 1 . Dieser Definitionsversuch eines führenden Adelsforschers läßt mit seinen vorsichtigen Formulierungen bereits etwas von den Schwierigkeiten erahnen, die mit dem Begriff des Adels und notabene damit auch der adligen Mentalität verbunden sind. Zwei grundlegende Probleme zeichnen sich bereits bei diesem Bestimmungsversuch ab. Erstens handelt es sich beim Adel nicht nur um ein Spezifikum des Mittelalters. Er läßt sich vielmehr auch in anderen Kulturräumen und zeitlich voneinander geschiedenen Epochen nachweisen. Dieser Umstand bedeutet, daß unsere Beispiele vielleicht nicht nur eine europäisch-mittelalterliche, sondern eine generelle Adelsmentalität beschreiben, die mutatis mutandis für die griechische Adelsgesellschaft um 500 vor Christus ebenso zutreffen wie für die hochmittelalterliche um 1100 nach Christus. Die oben angeführte Definition läßt aber auch noch eine zweite Schwierigkeit erkennen. „Adel" ist in sich keineswegs sozial homogen strukturiert,

1

K. F. WERNER, Artikel „Adel", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, 1980, Sp. 119.

38

Kapitel II. Adel

weist vielmehr große Unterschiede in gesellschaftlichem Ansehen, wirtschaftlicher Potenz und politischer Macht auf. Die realen Unterschiede zwischen einem über einzelnen Volks- bzw. Stammesverbänden (supragentil) orientierten und agierenden hohen „Reichsadel" und einem stark regional gebundenen mittleren und kleinen Lokaladel dürften beispielsweise in der Karolingerzeit des 9. Jahrhunderts immens gewesen sein. Ungeachtet dieser soeben angeführten Schwierigkeiten soll im folgenden der Versuch unternommen werden, einige Charakteristika „adliger mittelalterlicher Mentalität" anzuführen, genauer gesagt des frühmittelalterlichen Adels. Für die spätere Zeit sei auf das folgende Kapitel III verwiesen, das sich mit Mentalitäten und Verhaltensweisen der „Ritter" beschäftigt, eines Standes, in dem sich auch ein großer Teil des Adels wiederfinden und definieren konnte. Dabei bleiben wir uns immer bewußt, daß unsere Aussagen auch auf andere nichtmittelalterliche „Adelsepochen" und deren Gesellschaften zutreffen könnten. Freilich genügt bereits ein kurzer Blick auf einige in der Adelsforschung vertretene Positionen, um die Grenzen unseres häufig nur sehr fragmentarischen Wissens zu verdeutlichen. So hat man beispielsweise das Vorhandensein eines fränkischen Geburtsadels bestritten, ohne daß sich freilich diese Meinung in der Forschung hätte durchsetzen können. Vielmehr nimmt man, obwohl rechtshistorische Quellen der Zeit den Begriff des „Adligen" nicht kennen, wohl aber den des „Freien" (über), bereits für die Merowingerzeit (5. bis 8. Jahrhundert) die Existenz eines am Hofe und auf dem Lande lebenden, in sich differenzierten Adels an. Für das Karolingerreich ist von der bereits erwähnten hochadligen Schicht der „Reichsaristokratie" auszugehen, deren Wurzeln teilweise in die galloromanische Zeit (4./5. Jahrhundert) zurückreichen. Dieser Reichsadel stellt die obersten Amtsträger im karolingischen Großreich, die Grafen, Markgrafen und die duces (Herzöge). Nicht zuletzt aufgrund ihrer Amtsstellung kommt es zu einer räumlichen Fixierung dieser Adelsgruppe in den verschiedenen Teilreichen. Auch im 10., 11., und 12. Jahrhundert bleibt dieser alte Hochadel im wesentlichen stabil, doch wird er ergänzt durch einen rangniederen Adel, der seinerseits in sich hierarchisch gestuft ist. Vornehmlich das 11. Jahrhundert erweist sich, wenn wir uns auf Deutschland konzentrieren, als eine besonders bedeutsame Zeit. Einzelne große Adelsfamilien wie z. B. die Staufer werden in den Quellen faß- und nunmehr besonders greifbar in Gestalt des „Adelshauses" (K. Schmid), dessen sichtbarstes Machtsymbol die Adelsburg wird. Das 11. Jahrhundert ist gleichzeitig gekennzeichnet durch vielfachen sozialen Aufstieg niederer, nun auch unfreier Schichten.

Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität

39

Die Dynamik sozialer Veränderungen innerhalb des „Adels" wird in der Zeit um 1200 unterbrochen. „Alter" und „neuer Adel" definieren sich in dem beiden gemeinsamen Ideal des „Ritters". Doch wird nunmehr, nicht zuletzt durch rechtliche Normen, der Kreis derjenigen, die in den Ritterstand (ordo militaris) eintreten, genau definiert 2 .

2. Einige Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität Die Suche nach Erscheinungsformen adliger Mentalität wird dadurch erschwert, daß wir für die frühe Zeit über wenige programmatische Selbstaussagen des Adels verfügen. Adlige Mentalität lernen wir nur gespiegelt in der Form kirchlicher Adelskritik kennen. Von besonderem Interesse für die Forschung und auch für unsere Fragestellung ist ein „Gesellschaftsmodell", das im Frühmittelalter, besonders im 10. und im 11. Jahrhundert, von verschiedenen Autoren diskutiert wurde. Es geht von einer Dreiteilung der Gesellschaft in die Gruppe der Beter (oratores), der Krieger (bellatores) und der Arbeiter (laboratores) aus. Dieses sogenannte tripartite Modell geht auf alte Traditionen zurück, die vielleicht bereits bis in indogermanische Zeiten (Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr.) zurückreichen. Für unseren Zusammenhang als wichtig erweist sich eine bestimmte Variante dieses Modells aus dem ausgehenden 10. Jahrhundert, welche die traditionelle Spitzenstellung des Adels unverhohlen in Frage stellt. Nach adlig-konservativer Mentalität hatten die „Beter" und die „Arbeiter" schon deswegen zurückzustehen, weil es ihnen ihre „Berufe" gar nicht erlaubten, die für den Adel selbstverständlichen militärischen Qualifikationen zu erwerben. Schon allein zeitlich sind sie dazu gar nicht in der Lage, eben weil sie „beten" bzw. „arbeiten" müssen. Dieser Umstand rechtfertigt adliger Auffassung zufolge die gesellschaftliche Spitzenstellung der „Krieger". In dem hier kurz vorzustellenden Modell des Abtes Abbo von Fleury (gest. 1004), der seinen gesellschaftlichen Aufstieg nicht etwa einer adligen Herkunft, sondern einzig und allein seiner intellektuellen Leistung verdankte, wird keine offene Kritik an adliger Mentalität geübt, die sich Abbo überdies gar nicht erlauben konnte. Daß die „Kämpfer" gleichwohl ihre soziale Spitzenstellung verloren haben, liegt an der besonderen Raffinesse und Subtilität

2

V g l . d a z u Kapitel III. Ritter.

40

Kapitel II. Adel

des von Abbo entwickelten Modells. Adlige tragen, wenn wir dem Abt von Fleury folgen, einen zweifachen Makel: Erstens sind sie verheiratet und zweitens sind sie Laien. Der Umstand ihrer Verheiratung, obwohl vom Apostel Paulus die Ehe als notwendiges Übel toleriert worden sei, um schlimmeres zu verhüten, deutet auf die prinzipielle „Schwäche ihres Fleisches" (fragilitas carnis). Mit dieser Bemerkung richtet sich Abbo auch gegen den traditionellen adligen Stolz auf einen trainierten „schönen Körper", auf den ein subtiler Angriff geführt wird. Durch die Bejahung der Ehe erweist sich der Adlige zumindestens in einem Punkt als schwach. Er kann seiner sexuellen Begierde nicht widerstehen, ist für ein keusches Leben nicht diszipliniert genug. Kein Wunder, daß die Verheirateten und damit eben auch die Adligen abgeschlagen auf dem dritten Platz landen nach den jungfräulich und den freiwillig bzw. gezwungen enthaltsam Lebenden 3 . Ihr laikaler Status führt dazu, daß der Adel zum ,dritten Stand' neben den Bauern wird, wobei die Sympathie Abbos den von ihm für gesellschaftlich ungleich gewichtiger gehaltenen Bauern gilt: „Aber unter Hintansetzung derer (gemeint sind die zuvor erwähnten Jungfrauen) soll zuerst über den Stand der Männer, d. h. der Laien, gesprochen werden, wobei die einen Bauern (agricolae) sind, die anderen aber Kämpfer (agonistae). Die Bauern bestellen sowohl im Schweiße ihres Angesichts die Felder wie sie auch verschiedenes bäuerliches Handwerk betreiben, was die materielle Basis für die gesamte Kirche bildet. Die Kämpfer aber, zufrieden mit dem Lohn für ihren kriegerischen Dienst, verletzen sich nicht gegenseitig im Schoß ihrer Mutter, der heiligen Kirche Gottes, sondern bekämpfen mit aller Umsicht die Feinde der Heiligen Kirche Gottes" 4 . Es folgen bei Abbo dann die Stände des dreigeteilten Klerus (Diakone, Priester, Bischöfe) und schließlich als gesellschaftliche Spitze die Mönche: „Demnach erfreuen sich die Mönche, die das eine, was im kontemplativen Leben notwendig ist, erlangt haben, gemeinsam mit Martha desto mehr daran, die Füße Jesu mit Tränen zu benetzen und mit ihren Haaren abzutrocknen, je weiter sie von der Unruhe aller weltlichen Geschäfte entfernt sind. Der Klerikerstand ist freilich der mittlere Stand zwischen Laien und

3

Vgl. dazu Kapitel XI. Sexualität und Liebe.

4

Abbo von Fleury, Apologeticus (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina, Bd. 139, Sp. 464) (aus dem Lateinischen übersetzt).

Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität

41

Mönchen; um soviel, wie er gegenüber dem niedrigeren Laienstand höher ist, um soviel ist er niedriger gegenüber dem höheren Mönchsstand. Derselbe Abstand, der den Klerikerstand von den beiden anderen Ständen trennt, verbindet ihn auch gleichzeitig mit ihnen. Jene (die Laien) sind mit ihren Ehepartnern verbunden, gehen in der Sorge um ihr Vermögen auf, mit weltlichen Geschäften überlastet; diese (die Mönche) sind von weltlichen Geschäften frei, indem sie auf ihren eigenen Willen verzichten und allein den Befehlen ihres geistlichen Vaters gehorchen . . . " 5 Vor allem seine kriegerische Qualifikation sicherte dem Adel unbeschadet aller Kritik seine soziale Exklusivität und förderte sein Elitebewußtsein, das mit sozialer Abschottung gegenüber „Nichtadligen" einherging. Gesellschaftlich äußerte sich adliges Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl in der Entstehung von „Freundschaften" (amicitiae), durch Eid beschworene, häufig in Opposition zur königlichen Zentralgewalt stehende Adelseinungen. Die .berufliche' Ausrichtung vor allem auf Krieg und Kampf erklärt aber auch die besondere Attraktivität militärischer Tugenden für die Adligen. Da der Kriegsdienst auch schon im frühen Mittelalter einen hohen Grad der Spezialisierung erreicht hatte, wurde der junge Adlige bereits durch die Erziehung auf seine späteren militärischen Aufgaben vorbereitet. Nicht nur nahm die körperliche Ertüchtigung in der Phase des Heranwachsens einen besonderen Rang ein. Auch die im Mittelalter geradezu als Signum des Adels geltende Jagd läßt sich als ein Training von möglichst effizienter Tötungstechnik (schnelles Reiten, geschickter Umgang mit Waffen) auffassen 6 . Die in zahllosen mittelalterlichen Quellen immer wieder zu beobachtende Verbindung von körperlicher Schönheit und Kraft einerseits und adliger Herkunft andererseits, den Gedanken, daß Adel sich auch in einem „adligen" Körper manifestieren müsse, wird man vor diesem soeben skizzierten Hintergrund besser verstehen können. Insbesondere das mittelalterliche Heldenepos liefert überaus eindrucksvolle Beispiele, wie stark adliges Denken und Agieren idealisiert werden konnten. Einen Zentralbegriff adliger Selbstdarstellung bildet die bereits im antiken Denken nachweisbare magnanimitas (Großgesinntheit, Hochgesinntheit). Sie beinhaltet das richtige, d. h. das korrekte, adlige Verhalten in

5

Abbo von Fleury (wie Anm. 4), Sp. 464 (aus dem Lateinischen übersetzt).

6

Vgl. dazu unten S. 4 9 - 5 1 .

42

Kapitel II. Adel

der konkreten Situation. Als Beispiel sei aus der Schlüsselszene eines der berühmtesten frühmittelalterlichen Heldenepen, aus dem Waltharius (10. Jahrhundert?) zitiert, der, „verhältnismäßig reich" überliefert, gleichermaßen als „Schulbuch" wie als Unterhaltungslektüre „bei adligen Bischöfen beliebt gewesen sein muß" (B. K. Vollmann). Das heißt, daß wir es im Fall des Waltharius nicht mit einem isolierten, singulären Zeugnis zu tun haben; vielmehr muß der Verfasser offensichtlich die Erwartungshaltung seines adligen Publikums getroffen haben. Von daher erscheint auch der Rückschluß von der Mentalität des „Musterhelden" Waltharius auf die Mentalität seiner adligen Rezipienten in dem Sinne erlaubt zu sein, daß auch diese gerne „edle Recken" nach der Art und Weise eines Waltharius gewesen wären. Streng genommen haben wir es hier nicht mehr mit einer histoire de la mentalité im engeren Sinne, sondern mit einer Weiterentwicklung zur histoire de l'imaginaire als einer Geschichte von Wunschvorstellungen im Sinne Le Goffs zu tun 7 . Aber nun zum Inhalt des Epos: Der Königssohn Walther aus Aquitanien, am Hofe des Hunnenkönigs Etzel aufgewachsen, ist der Prototyp des adligen Helden, dessen magnanimitas sich ebenso in der superatio dolorum carnis, in der Negierung und Überwindung körperlicher Schmerzen äußert wie in der Unbeugsamkeit seines Charakters, da er auch in einer noch so verzweifelten Lage nicht bereit ist, aufzugeben, vielmehr immer und überall die adlige contenance zu wahren versteht. Auf den Vorschlag seiner Braut Hildegund, die Walther auffordert, (nach bereits bestandenen schweren Kämpfen) vor seinen Verfolgern zu fliehen, antwortet er: „Umsonst hätte meine Rechte so viele Feinde niedergestreckt, wenn dem jetzt ein ruhmloses und schimpfliches Ende folgte. Besser ist es, ehrenvoll seinen Wunden zu erliegen, als den Besitz verlorenzugeben, nichts als das Leben zu retten und dann mittellos herumzuirren. Doch ganz so schnell braucht einer die Hoffnung auf glückliche Rettung nicht aufzugeben, der sich früher weit größeren Gefahren ausgesetzt sah" 8 . Walther ist also gänzlich ungebrochen und verzweifelt auch in äußerst schwieriger Situation nicht. Selbst als ihm durch Hagen, den getreuen Gefolgsmann von König Gunther, seine Rechte abgeschlagen wird, reagiert er gelassen: 7 8

Vgl. dazu oben S. 17. Vgl. die Übersetzung von B. K. VOLLMANN, in: W. HAUG/B. K. VOLLMANN (Hgg.), Frühe deutsche und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150, 1991, vv. 1215-1220, S. 243/245.

Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität

43

„Aber der vortreffliche Held, der sich auch vom Unglück nicht besiegen ließ und Manns genug war, körperlichen Schmerz zu ertragen, gab sich nicht verloren, noch verdüsterte sich sein Gesicht, vielmehr streckte er den verwundeten Arm in den Schild, riß mit der unversehrten Hand blitzschnell das Halbschwert heraus, mit dem er, wie erwähnt, die rechte Seite gegürtet hatte, und nahm sofort blutige Rache an seinem Gegner. Denn mit einem Streich schlug er Hagen das rechte Auge aus, hieb ein Stück von seiner Schläfe herunter, schlitzte gleichzeitig dessen Lippen auf und brach ihm sechs Backenzähne aus dem Mund" 9 . Damit unterscheidet sich Walther ganz grundsätzlich von seinem Antipoden, dem Burgunderkönig Gunther, der, von Affekten getrieben, hinterhältig und feige agierend, als Nervenbündel ein Musterbeispiel unadligen Verhaltens abgibt, weshalb er von Walther auch gar nicht weiter beachtet wird. Der einzige verkable Gegner Walthers ist Hagen, den der Aquitanier freilich vergeblich - durch einen Appell an frühere Zeiten und die damit verbundene adlige Solidarität („Freundschaft") vom Kampf abzubringen versucht: „Ich frage dich (Hagen), was hat den so treuen Freund (amicus) plötzlich verwandelt, daß der, der sich neulich vor seiner Flucht fast nicht aus meinen Armen losreißen konnte, jetzt ohne jeden Grund, das heißt, durch keine Übeltat gekränkt, mit der Waffe auf uns losgeht.? ... Auf meinem Weg durch unbekannte Gegenden sagte ich mir: ,Wenn Hagen lebt, brauche ich keinen Franken zu fürchten'. Komm jetzt zu Vernunft! Ich bitte dich darum bei den Knabenspielen, die wir gleichermaßen geliebt, die wir so gut gekonnt haben und mit denen wir unsere Kindheitsjahre verbrachten. Wohin ist denn unsere gepriesene Eintracht entschwunden, die uns allzeit beseelte, vor dem Feind ebenso wie zu Hause, und die keinen Zwist kannte? Fürwahr, dein Anblick ließ mich den Vater vergessen; solange ich mit dir zusammen war, war mir das reiche Heimatland gleichgültig. Willst du denn den so oft geleisteten Treueschwur aus deinem Gedächtnis tilgen? Ich bitte dich inständig: Laß ab von diesem Unrecht und fordere mich nicht zum Kampf heraus! Unerschüttert habe durch alle Zeiten unser Freundschaftsbund Bestand! Stimmst du zu, wirst du hier und heute mit Freundschaftsgaben beschenkt von dannen ziehen: Ich werde deinen Schild mit rotem Gold füllen" 10 .

9 VOLLMANN (wie Anm. 8), vv. 1386-1395, S. 255. 10 VOLLMANN (wie Anm. 8), vv. 1240-1263, S. 247.

44

Kapitel II. Adel

Allein Hagen läßt sich nicht umstimmen: „Im Waffengang möchte ich prüfen, ob dir (Walther) allein Tüchtigkeit eignet ... Wohlan, entweder falle ich, oder ich werde eine denkwürdige Tat vollbringen" n . Es beginnt der vom Dichter dramatisch beschriebene Kampf, der schwerste Verwundungen für die Kontrahenten mit sich bringt und schließlich zur Einstellung des Kampfes führt: „Jedem legte seine Verwundung nahe, die Waffen abzulegen. Wer hätte auch unverletzt von dannen gehen können, wenn zwei hochgemute Helden (duo magnanimi heroes), gleich an Kraft wie an feurigem Mut, im Kampfgewitter standen?" 1 2 Inwieweit literarische Stilisierung auch tatsächliches adliges Verhalten widerspiegelt und nicht nur dichterisch beschworenes Ideal bleibt, kann nur vermutet werden. Unser Mißtrauen wird besonders dadurch genährt, daß namentlich in den Zeiten, in denen die Legitimation des Adels stark gefährdet erscheint, adlige Verhaltenskodizes immer besonders heftig beschworen und eingefordert werden. Dieses Phänomen tritt nicht erst, wie noch zu zeigen sein wird, im Spätmittelalter auf, wie man vermutet hat, als die kriegerische Realität adlige Verhaltenskodizes besonders obsolet erscheinen ließ 1 3 . Vielmehr ist bereits für frühere Zeiten von Legitimationsschwierigkeiten für einen Adel auszugehen, der seine gesellschaftliche Spitzenstellung vor allem mit seiner militärischen Qualifikation begründen mußte. So schrieb beispielsweise der Bischof Adalbero von Laon, ein erbitterter Gegner des oben erwähnten Abtes Abbo von Fleury, aus einer Position der Verteidigung ein Gedicht, das er seinem Herrn, dem französischen König Robert II., widmete (Carmen ad Rotbertum regem). Auch er benutzte wie vor ihm Abbo die Theorie der drei Ordnungen, doch wollte er die gesellschaftliche Führungsposition der „Krieger", d. h. des Adels retten. Freilich, der mittlere und kleinere Adel konnte oder wollte vielfach auch gar nicht mehr, wie die inneren Verhältnisse in Frankreich am Ende des 10. Jahrhunderts drastisch belegen, seiner gesellschaftlichen Aufgabe des Schutzes der „arbeitenden" Bauernschaft und der „betenden" Kirche nachkommen. Die

11 VOLLMANN ( w i e A n m . 8 ) , v. 1 2 7 7 ; v. 1 2 7 9 ; S . 2 4 7 .

12 VOLLMANN (wie Anm. 8), vv. 1397-1402; S. 255/257. 13 Vgl. dazu Kapitel III. Ritter.

Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität

45

Aufgabe der Friedenswahrung ging daher an neue gesellschaftliche Führungskräfte, hier das cluniazensische Reformmönchtum über, das ein Bündnis mit den hochadligen Fürsten (principes) schloß und das die „alten" Gewalten, den mittleren und kleineren Adel und die mit dem Adel versippten konservativen Bischöfe zumindestens in ihrer adligen Autonomie bedrohen mußte. Die vorwiegend militärische Legitimationsbasis des Adels war in den Zeiten des frühen und hohen Mittelalters freilich weniger durch die Tatsache in Frage gestellt, daß es neben ihm noch andere „Anbieter" militärischer Dienstleistungen gegeben hätte. Dieser Fall tritt verstärkt erst im hohen und späten Mittelalter ein. Vielmehr ist daran zu denken, daß militärisch geprägte adlige Mentalität sehr leicht dazu führen konnte, daß sie als ein Wert an sich betrachtet wurde, der alles andere in den Hintergrund zu drängen drohte. So etwa, wenn sich der Adel zum permanenten Nachweis seiner militärischen Tüchtigkeit (lat.: virtus) aufgerufen fühlte und deshalb in einen Wettstreit mit dem adligen oder nichtadligen Konkurrenten trat. Solange diese Auseinandersetzung in einem gesellschaftlich ausdrücklich legalisierten Rahmen stattfand, zum Beispiel in der Form des Turniers I 4 , waren damit allenfalls negative Effekte für denjenigen verbunden, der unter die Hufe des gegnerischen Pferdes geriet. Anders sah freilich die Situation aus, wenn der Nachweis adligen Mutes zum Selbstzweck wurde, die kriegerische Mentalität adliger Führer nicht nur diese selbst, sondern den Adel insgesamt und damit die politische Stabilität bedrohte oder gar vernichtete. Paulus Diaconus, ein langobardischer Geschichtsschreiber aus dem 8. Jahrhundert (gest. 797), der selbst aus dem Adel stammte, hat diese Pervertierung adliger Mentalität, die eben auch politisch so bedenklich war, wiederholt exemplarisch dargestellt und unverhohlen kritisiert, sah er doch in ihr einen der Gründe für den Niedergang langobardischer Macht im 8. Jahrhundert: „Als in Friaul (nordöstliches Siedlungsgebiet der Langobarden in Oberitalien) der oben erwähnte Statthalter Ado gestorben war, übernahm Ferdulf das Herzogtum, ein Mann aus Ligurien, schlüpfrig und aufgeblasen. Mit seinem Wunsch, als umjubelter Sieger über die Slawen dazustehen, zog er sich und den Bewohnern von Friaul großen Schaden zu. Er gab einigen Slawen Geld. Dafür sollten diese einen Heereszug nach Friaul unternehmen. So geschah es auch. Doch bedeutete dieser Zug gleichzeitig großes Unglück 14 Vgl. dazu Kapitel III. Ritter.

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Kapitel II. Adel

und brachte schließlich den Untergang für Friaul mit sich. Slawische Räuber stürzten sich auf die Viehherden und die Schäfer, die ihre Schafe im Grenzgebiet weiden ließen, und machten Beute. Der örtliche Befehlshaber, der auf langobardisch ,Schultheiss' heißt, ein Mann von Adel, voller Mut und Kraft, nahm die Verfolgung auf der Stelle auf, konnte die Slawen gleichwohl nicht mehr erreichen. Bei seiner Rückkehr begegnete ihm Herzog Ferdulf. Auf dessen Frage, was mit den Feinden geschehen sei, antwortete ihm Argait, so hieß er nämlich, daß die Feinde geflohen seien. Daraufhin schalt ihn Ferdulf und sagte: ,Wann hast du schon irgendwas tapfer vollbracht, wo doch dein Name Argait lautet, was von arga (langobardisch für .Feigling') herkommt?' Dieser entbrannte in großem Zorn, zumal er ein kräftiger Mann war, und antwortete: .Möge Gott es so einrichten, daß weder ich noch du aus diesem Leben scheiden, ehe nicht die anderen erkennen können, wer von uns beiden der größere Feigling (arga) ist'. Nachdem sie sich noch gegenseitig einige Grobheiten an den Kopf geworfen hatten, rückte einige Tage später das von Ferdulf angeheuerte Slawenheer mit beträchtlichen Truppenmassen heran. Es schlug sein Lager unmittelbar auf der Spitze eines sehr hohen Berges auf und fast von jeder Seite aus war ein Angriff schwierig. Herzog Ferdulf rückte mit seinem Heer heran und begann um den Berg herumziehen, auf der Suche nach einem weniger steilen Anstieg, um über die Feinde herzufallen. Da sagte der obengenannte Argait zu Ferdulf: ,Denke daran, Herzog Ferdulf, daß du mich als unfähig und inkompetent bezeichnet und mich mit unserem Wort ,arga' genannt hast. Jetzt soll der Zorn Gottes über den kommen, der nicht als erster in die slawischen Linien eindringt'. Und kaum hatte er dies gesagt, hatte er schon sein Pferd gewendet und begann an der steilsten und schwierigsten Stelle mit dem Angriff auf das Lager der Slawen. Ferdulf, der es für eine persönliche Schande gehalten hätte, nicht an derselben Stelle mit dem Angriff auf die Slawen zu beginnen, folgte dem Argait in dem überaus mühsamen und schwierigen Gelände. Ihm folgte wiederum sein Heer, das es für schimpflich erachtete, dem Anführer nicht zu folgen. Die Slawen sahen den Aufstieg des Gegners in schwierigem Gelände, bewaffneten sich stark und mehr mit Steinen und Beilen als mit richtigen Waffen kämpften sie gegen die Langobarden und vernichteten diese, die zuvor von ihren Pferden gestürzt waren. Und so verdankten die Slawen ihren Sieg nicht ihren eigenen Kräften, sondern einem Zufall. Dort fiel fast der ganze Adel von Friaul; dort fiel Herzog Ferdulf; dort fiel auch jener, der ihn provoziert hatte. Und so viele starke Männer sind besiegt worden durch

B e s t i m m u n g s f a k t o r e n adliger Mentalität

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das Übel gegenseitiger Rivalität und ihre Unvorsichtigkeit, die doch, wenn sie nur einig gewesen wären und überlegt vorgegangen wären, viele tausend Feinde hätten töten können" 15 . Adlige Mentalität blieb freilich nicht allein nur auf den säkularen Bereich beschränkt. Durch den Umstand, daß seit merowingischen Zeiten auch die kirchlichen Führungspositionen mit wenigen Ausnahmen von Personen adliger Herkunft besetzt wurden, setzte sich adliges Denken und Verhalten auch im Bereich der Kirche fort. Dies gilt insbesondere für die Zeit vor der großen kirchlichen Reformbewegung im 11. Jahrhundert, für die eine enge Verquickung von weltlichem und geistlichem Bereich nicht oder nur sehr bedingt anstößig war. Manche Forscher (K. Bosl, H. Löwe, F. Prinz u. a.) sprechen deshalb auch vom „Adelsheiligen", wie er sich in der Heiligengeschichtsschreibung (Hagiographie) nachweisen lasse. Mit teilweise berechtigter Kritik haben Kenner der Materie wie F. Graus dieser Typenbildung widersprochen, zumal wenn allzu leichtfertig einer Gleichsetzung von „adlig" und „germanisch" das Wort geredet wurde. Gleichwohl wird man doch nicht umhinkommen, eine gewisse Verschiebung innerhalb des Tugend- und Wertekanons „heiliger Männer" zu konstatieren. Typisch „adlige" Einstellungen und Verhaltensweisen, etwa der unverhohlene Stolz auf die eigene Familie, tatkräftiges Eingreifen des Heiligen, der auch körperlich züchtigt und straft, lassen sich seit der Merowinger- und in der frühen Karolingerzeit (8. Jahrhundert) verstärkt in der Hagiographie beobachten und ersetzen teilweise traditionelle, stärker asketisch-passiv ausgerichtete Leitbilder. Die enge Verbindung zwischen Kirche und Adel beruhte freilich nicht nur auf personellen und institutionellen Gründen. Vielmehr kam die Kirche adliger Mentalität insoweit entgegen, als sie sich als eine ideale Bewahrerin des adligen Familien- und Sippendenkens erwies. Im Rahmen der sogenannten memoria pflegte sie das Andenken adliger Stifter. Die Namen verstorbener Adliger wurden in Gedenkbüchern (libri memoriales) verzeichnet und die „Beter", an ihrer Spitze die Mönche, widmeten sich der Aufgabe der memoria im Rahmen ihrer Gottesdienste. Ganz wesentlich erleichtert wurde das Eindringen adliger Wertvorstellungen in die Kirche durch den Umstand, daß christliche Lehre und adlige Ideale symbiotisch miteinander verschmelzen konnten. Wie beispielsweise

15 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum VI 24 (Monumenta Germaniae Historica: Scriptores rerum Germanicarum in us. schol. 48), 1878, S. 2 2 2 - 2 2 3 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel II. Adel

der um 841/843 entstandene Uber Manualis, eine Lehrschrift der fränkischen Adligen und Fürstengattin Dhuoda für ihren Sohn Wilhelm, zeigt, war Freigiebigkeit (largitas), eine besonders typische adlige Haltung, auch in christlichem Sinne als Milde (mansuetudo) interpretierbar, die man seinem Bruder in Christo schuldete. Sie war auch deshalb so erstrebenswert, weil sie das Ansehen des Schenkers steigerte und das Gedenken der Nachwelt sicherte, mithin gloria und memoria beförderte: „Erweise dich mit all dem Reichtum, den dir Gott verliehen hat, als überaus freigiebig. Von Habgier, da sie die Heiden knechtet, soll man bei dir nicht sprechen. Wenn dir Gott etwas gegeben hat, viel oder auch wenig, so gib davon demjenigen ab, der dich bittet. Gib du, damit auch du bekommst. Es steht nämlich geschrieben: ,Selig der, der den Armen erkennt' und weiter ,Selig der, der an den Armen denkt'. Ihn (den Schenker) wird man zu seinen Lebzeiten preisen, sein Werk wird für großartig gehalten. Auch noch etwas anderes (steht geschrieben): ,Wer einem Armen gibt, wird niemals Mangel leiden'. Auch wenn der gerechte Geber von der irdischen Welt scheidet, so wird er doch ruhmreich und angenehm schließlich ohne Ende weiterleben" 16 . Es ließen sich weitere Belege dafür angeben, wie sehr christlicher Tugendkatalog und adliger Wertekanon konvergieren. So empfiehlt Dhuoda ihrem Sohn Wilhelm, in Zeiten der Gefahr und der Versuchung, der inneren und der äußeren Gefährdung, sich nicht unterkriegen zu lassen (animum ferre), Mut und Geduld (patientia) an den Tag zu legen, sich nicht von seinen Affekten, insbesondere dem Zorn (ira), überwältigen zu lassen. Sie fordert damit ein christliches Verhalten ein, das mit adligen Wertvorstellungen völlig übereinstimmt. Adel und Christentum fanden in einem vorwiegend stoisch geprägten Wertesystem eine gemeinsame Basis. Ob sich damit aber auch der Adel wirklich christianisiert hat, mithin seine Mentalität im Sinne christlicher Humanität entscheidend verändert hat, steht freilich dahin. In dieser Hinsicht eher skeptisch stimmen einen die Aussagen des Jonas von Orléans (gest. 843). Mit Dhuoda in seinen Intentionen durchaus vergleichbar, unternahm es der spätere Bischof von Orléans, christliche Wertvorstellungen und Verhaltensweisen beim Adel zu befördern. Diesem Ziel

16 Dhuoda, Manuel pour mon fils IV, 8, 231-241 (hg. von P. RICHE), 1975, S. 252 (aus dem Lateinischen übersetzt).

Bestimmungsfaktoren adliger Mentalität

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war auch sein in drei Büchern gegliedertes Werk De institutione laicali (Über die Unterweisung des Laien) verpflichtet. Naturgemäß besonders unversöhnlich standen sich das christliche Gebot, in seinem Nächsten den Bruder in Christo zu sehen, und adlige Herrenmentalität gegenüber. Jonas versuchte beispielsweise - ob mit großem Erfolg, wird man bezweifeln dürfen das vom Adel beanspruchte Recht auf körperliche Züchtigung Untergebener einzudämmen. Schon eher wird man davon ausgehen müssen, wie noch genauer zu zeigen sein wird, daß adlige Mentalität sich auch in einem genuin christlichen Bereich wie der Kirche durchsetzen konnte 1 7 , daß beispielsweise auch Bischöfe adliges Züchtigungsrecht gegenüber Nichtadligen beanspruchten, einfach deshalb, weil sie ihre adlige Herkunft nicht verleugnen konnten: „Wenn also die Knechte ihren Herren von Natur aus gleichwertig sind, weil sie es nun einmal sind, dann sollen die Herren nicht glauben, sie entgingen der Strafe, wenn sie aus stürmischer Entrüstung und Übereifer sich über die Fehler ihrer Knechte erregen und sich allzusehr aufführen, indem sie sie durch äußerst gewalttätige Schläge töten oder deren Glieder durch Verstümmelung beeinträchtigen, da ja Herren und Knechte (nur) einen Gott im Himmel haben" 18 . Ein weiteres typisches Signum adliger Mentalität bildete der Umstand, daß der Adel, folgen wir dem Soziologen Th. Vehlen (gest. 1929), die leasure class par excellence darstellte. Adel definierte sich geradezu dadurch, daß seine Mitglieder sich vom Zwang zur Arbeit dispensieren konnten, denn meistens hatte man es dank seiner wirtschaftlichen Lage gar nicht nötig, für seinen Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Für den Adel stellte sich vielmehr das Problem, seine „Freizeit" durch standesgemäße Tätigkeiten ausfüllen zu müssen. Eine typisch adlige Lösung bestand darin, sich der Jagd zu widmen, die eine Demonstration körperlicher Kraft und Gewandtheit vor den Augen der Standesgenossen und Untergebenen ermöglichte. Es überrascht nicht, daß dieser exklusive Adelssport auf die beißende Kritik des Jonas stößt, geht jener doch vor allem auf Kosten der Armen. Die Stellungnahme von Jonas verdeutlicht aber auch, daß den Adel keinerlei Unrechtsbewußtsein plagte, sondern die Jagd als eine ihm gemäße Art der Lebensführung ansah:

17 Vgl. dazu unten Kapitel IV. 1. 18 Jonas von Orléans, D e institutione laicali II, X X I I (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina, Bd. 106, Sp. 215) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel II. Adel

„Sie kümmern sich nicht so sehr um die Sache der Armen, da einige aufgrund ihrer Macht aufgeblasen, einige durch die andauernde Ruhe ergötzt sind, einige sich in maßloser Weise körperlichen Gelüsten hingeben und sich in ihnen verlieren; nichtsdestoweniger gibt es zahlreiche Menschen, die aus Liebe zu ihren Hunden und den verschiedenen Arten der Jagd, denen sie sich elenderweise hingeben, sowohl sich als auch die anderen vernachlässigen. Es ist eine beklagenswerte und sehr beweinenswerte Sache, wenn wegen der wilden Tiere, die die Sorgfalt der Menschen nicht genährt hat, sondern die Gott allen Sterblichen zur gemeinsamen Nutzung gegeben hat, die Armen von den Mächtigeren beraubt, geschlagen und ins Gefängnis gebracht werden, und sie vieles anderes erdulden müssen. Die solches tun, behaupten, sie könnten dies unter Hinweis auf weltliches Gesetz rechtfertigen. Ihnen entgegne ich, daß sie gerechterweise erwägen sollten, ob weltliches Gesetz göttliches Gesetz aushöhlt oder nicht ... Wer wollte es also leugnen, daß es gegen das Gesetz der Christenheit ist, wenn so viele Arme Christi um der Vergnügungen eines einzelnen willen Unrecht erleiden; das kommt so häufig vor, daß man es kaum aufzählen kann. Wer es will und mag, soll schmeicheln und denjenigen, die solche Dinge tun, Straflosigkeit versprechen; ich wage es aber, niemandem um den Bart zu gehen, ja ihn sogar sorglos zu machen, daß er auf irgendeine Weise straflos solches tun könne. Wer aber jemandem für eine solche Tat Straflosigkeit verspricht, soll daran denken, so ermahne ich, welche Belohnung diejenigen am zu fürchtenden Tag des Gerichts zu erwarten haben, die dem Gesetz Christi folgen und welche Verdammnis diejenigen erwartet, die wegen des weltlichen Gesetzes von ihm abweichen. Das ist ein Zeichen äußerster Dummheit, wenn einer der Jagd zuliebe an Sonntagen und anderen Festen sich von Gottesdiensten und Lobpreisungen Gottes fernhält und wegen solcherlei Jagden das Heil seiner Seele und das Heil derjenigen, denen er vorsteht und denen er nützen sollte, vernachlässigt. Solche werden mehr durch das Gebell der Hunde erfreut, als daß sie an dem Gesang himmlischer Hymnen teilnehmen." (Im folgenden zitiert Jonas aus einer Predigt des heiligen Augustinus:) „Glaubt ihr etwa, Brüder, daß jener (wirklich) fastet, der bei Tagesanbruch nicht in der Kirche wacht, nicht die Stätten der Märtyrer aufsucht, sondern sich erhebt und die Knechte zusammenruft, die Netze austeilt, die Hunde vorführt und die Wälder durchstreift? Die Knechte, sage ich, reißt er mit sich, die vielleicht gerade zur Kirche eilten, und er vermehrt die Sünden Fremder durch die eigenen Begierden, ohne zu ahnen, daß er sich schuldig macht sowohl durch sein eigenes Vergehen, wie durch das Verderben anderer.

Bibliographie

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Den ganzen Tag verbringt er mit Jagen, bald schreit er unmäßig laut, bald fordert er leise, zu schweigen; er ist froh, wenn er etwas gefangen hat, er ist zornig, wenn er verlor, was er nicht haben konnte und was er mit großem Eifer zu erjagen versuchte. Sagt, Brüder, wo gibt es bei diesen Ausschweifungen eine Verehrung Gottes, wo eine geistige Andacht? Es wird nicht gefastet, um für Gott oder seine Gebote dazusein, sondern um in aller Ruhe und in aller Ungebundenheit seinem eigenen Willen nachzugeben. Wenn du, Bruder, der du so gesinnt bist, am Abend nach Hause zurückkehrst, glaubst du etwa, wenn du erst bei untergehender Sonne etwas ißt, du hättest nach Gottes Gebot gehandelt, der du deinem Vergnügen nachgehst? ... Es gibt aber viele, die kehren von der Jagd zurück und kümmern sich mehr um ihre Hunde als um ihre Knechte. Und sie lassen ihre Hunde bei sich schlafen oder bei sich zur Tafel niederlegen und geben ihnen täglich in ihrer Gegenwart zu fressen; ob aber ein Knecht von ihnen den Hungertod erleidet, wissen sie nicht; und was schwerer wiegt, wenn man für ihre Hunde nicht ausreichend gesorgt hat, dann wird wegen eines Hundes ein Knecht getötet. Man sieht freilich in den Häusern einiger Leute prächtige und fette Hunde herumstreifen, Menschen aber bleich und wankend daherkommen. Solche Leute werden sich freilich nicht um die Armen kümmern, die sich nicht einmal im geringsten um ihre Knechte kümmern" 1 9 .

3. Bibliographie Allgemein: K. F. WERNER, Artikel „Adel" A: Frank. Reich, Imperium, Frankreich, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, 1980, Sp. 118-128; H. FICHTENAU, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts, 1984 (hier zitiert nach der Tb.-Ausgabe 1992, S. 185-323). Zur militärischen Seite des Adels: J. FLECKENSTEIN, Adel und Kriegertum und ihre Wandlung im Karolingerreich, in: Nascità dell'Europa ed Europa Carolingia: un'equazione da verificare (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 27), 1981, S. 67-94; K. F. WERNER, Heeresorganisation und Kriegführung im deutschen Königreich des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Ordinamenti militari in Occidente nell'Alto Medioevo (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 15), 1968, S. 791-843; M. BLOCH, La société féodale, 1939 (dt.: Die Feudalgesellschaft, 1982).

Die gesellschaftliche Führungsposition des Adels: O. G. OEXLE, Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters,

19 Jonas von Orléans, De institutione laicali II, XXIII (wie Anm. 18), Sp. 215-216 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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K a p i t e l II. A d e l in: W. SCHULZE (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, 1988, S. 19-51; G. DUBY, Les trois ordres ou l'imaginaire du féodalisme, 1978 (dt.: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, 1981), vgl. dazu O. G. OEXLE, Die „Wirklichkeit" und das „Wissen". Ein Blick auf das sozialgeschichtliche Œuvre von Georges Duby, in: Historische Zeitschrift 232 (1981), S. 61-91.

Einzelprobleme: K. SCHREINER, Zur biblischen Legitimation des Adels, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 85 (1974), S. 317-357; H. KALLFELZ, Das Standesethos des Adels im 10. und 11. Jahrhundert (Diss. Würzburg 1960); K. BOSL, Der Adelsheilige, in: Spéculum historiale, Festschrift J. Spörl, 1965, S. 167-187; J. JARNUT, Die frühmittelalterliche Jagd unter rechts- und sozialgeschichtlichen Aspekten, in: L'Uomo di fronte al mondo animale nell'Alto Medioevo (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 31/1), 1985, S. 765 bis 798; G. ALTHOFF, Verwandte, Freunde und Getreue, 1990; A. RANFT, Adelsgesellschaften, 1994.

Kapitel III. Ritter 1. Zur Terminologie

2. Ritterliche Mentalität

liches Verhalten im Spätmittelalter

3. Ideologische Konzeption und tatsäch-

4. Bibliographie

1. Zur Terminologie Ritter und Rittertum gehören nach landläufiger Auffassung zu den Charakteristika des Mittelalters par excellence. Kein populäres Mittelalterbild kommt ohne sie aus. Beide Begriffe lösen zahlreiche Assoziationen aus: RitterBurg', ,Ritter-Rüstung', ,Ritter-Turnier' etc. Dennoch entpuppen sich Ritter und Rittertum bei näherem Zusehen als äußerst komplexe Begriffe, die definitorisch schwer zu fassen und wissenschaftlich umstritten sind. Die auftretenden Probleme sind dabei grundsätzlicher Natur. So hat man beispielsweise von mediävistisch-literaturgeschichtlicher Seite aus betont, „daß der Ritterbegriff im 14. Jahrhundert zur Standesbezeichnung des niederen Adels geworden ist" 1 . Wir sind, folgen wir der soeben zitierten Auffassung Bumkes, mit dem seltsamen Umstand konfrontiert, daß eine endgültige rechtliche Fixierung des „Ritters" im Sinne eines Klein- oder Niederadligen erst im Spätmittelalter erfolgte, mithin in einer Zeit, die nach einer oft vertretenen Ansicht gar nicht mehr das „klassische" Zeitalter von Ritter und Rittertum gewesen ist, sondern in der vielmehr bereits der gesellschaftliche Abstieg des Ritters, seine Degeneration zum „Raubritter" eingesetzt habe. Die ältere mediävistisch-historische Forschung, aber auch noch die jüngere, geht demgegenüber vielfach von einem erweiterten „Ritterbegriff' aus und möchte von einem „Ritterstand" (im Sinne eines Berufsstandes) bereits

1

J. BUMKE, Höfische Kultur 1, 1986, S. 71.

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Kapitel III. Ritter

im 12. Jahrhundert sprechen; dieser habe sich „um 1300" endgültig „in einen Geburtsstand verwandelt" 2 . Die unterschiedlichen Kriterien, die entweder rechtlich oder berufsständisch orientiert sind, führen so zu einer gewissen begrifflichen Unsicherheit über den „Ritterstand". Aus diesem Dilemma hilft auch keine Betrachtung einschlägiger mittelalterlicher termini technici. So ist zu Recht auf die begriffliche Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ordo militaris hingewiesen worden, der keinesfalls mit dem „Ritterstand" gleichgesetzt werden darf, sondern der in unterschiedlichen Textzusammenhängen auch ganz Unterschiedliches bedeuten konnte: so z. B. den „Kriegerstand" im Unterschied zum „Klerikerstand" in Texten geistlicher Autoren, die etwa über die im zweiten Kapitel bereits angesprochene tripartite (dreigeteilte) Gesellschaft handelten 3 ; „eine konkrete Bedeutung erhielt der Begriff ordo militaris oder ordo militum erst im 12. Jahrhundert, als er einerseits zur Bezeichnung der neuen religiösen Ritterorden (Templer-, Johanniterorden u. a.) benutzt wurde und andererseits gleichbedeutend wurde mit ordo ministerialis und zur Umschreibung der Ministerialität diente" 4 . Auch eine Betrachtung einschlägiger volkssprachlicher Bezeichnungen, des deutschen Ritter bzw. riter (erstmalig in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts bezeugt) wie des französischen Chevalier (nach 1100 in französischen Heldenepen belegt, aus spätlateinischem caballarius), hilft nicht weiter, meinen diese Begriffe doch meistens den einfachen Krieger oder Dienstmann (lat. ministerialis) bzw. den Berittenen. Die ganze Vielschichtigkeit offenbart freilich der in den lateinischen Quellen des Mittelalters weitaus am häufigsten gebrauchte Begriff des miles, der in der Zeit ab der Jahrtausendwende im allgemeinen in dreifacher Bedeutung verwendet wurde: 1. miles ~ Reiterkrieger (im Unterschied zu den pedites, Fußsoldaten); 2. miles Vasall (vgl. lat. militare: d. h. militärischen (Lehns-)Dienst leisten als Vasall zu Pferde); 3. miles = Ministeriale (Dienstmann, zumeist aus unfreiem Stand). Der soziale Kontrast, den der Begriff des miles offenbart, könnte scheinbar nicht größer sein, umfaßt er doch sowohl den nichtadligen, unfreien Dienstmann wie den hochadligen Vasallen. Dennoch eint beide sozial so unterschiedliche Gruppen eine charakteristische funktionale Gemeinsamkeit, die es rechtfertigt, von einem ordo militaris in dem Sinn zu sprechen, daß er den Stand derjenigen bezeichnet, die „Dienst leisten", wobei es im 2

W. PARAVICINI, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, 1994, S. 22.

3

Vgl. dazu oben S. 3 9 - 4 1 , 4 4 .

4

BUMKE ( w i e A n m . 1), S . 7 0 .

Ritterliche Mentalität

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12. Jahrhundert zu sozialgeschichtlich bedeutsamen Veränderungen kommt: Der ursprünglich unfreie Dienstmann steigt auf; sein fachliches, zumal militärisches Spezialistentum macht ihn wertvoll und unentbehrlich, nobilitiert ihn. Aus dem Ministerialenstand erwächst ein im Frühmittelalter so noch nicht existenter niederer Adel. Der Kreis militärischer Fachleute erweitert sich durch die „Ritter"; die numerische Stärke des Adels nimmt zu. Daß insbesondere militärische Dienstleistungen eine so stark nobilitierende Funktion ausüben konnten, hängt ganz wesentlich damit zusammen, daß militia durch die Kirche ideologisch überhöht wurde. Eine bereits per se anziehende militia erfuhr eine Attraktivitätssteigerung, wenn sie als militia Christi interpretiert und damit auch gerechtfertigt werden konnte. Der stärkste Propagandist dieser Deutung von militia wurde der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) mit seiner Schrift De laude novae militiae. In seinem Traktat unterschied er zwei Arten der militia: 1. die militia saecularis und 2. die militia Christi. Nur die zweite militia war für Bernhard erstrebenswert, während er die militia saecularis als malitia schmähte. Für unseren mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang wichtig ist der Umstand, daß adliges Verhalten und adlige Mentalität, wie wir sie im vorausgegangenen Kapitel zu umschreiben versuchten, also Tapferkeit, Treue, magnanimitas etc., eine ethisch-christliche Rechtfertigung erfuhren, sofern sie sich in der militia Christi verwirklichten. Der Gedanke der militia Christi, der militärischen Dienstleistung im Namen und im Auftrage Christi, ermöglichte das Weiterleben genuin adliger Wertvorstellungen in christlichem Gewände und förderte deren gesellschaftliche Akzeptanz. „Alter" und „neuer" Adel konnten sich beide in dem gemeinsamen Ideal des miles christianus, des „christlichen Ritters", wiederfinden und definieren.

2. Ritterliche Mentalität Zahlreiche Beschreibungs- und Deutungsversuche ritterlicher Mentalität und Verhaltensweisen kranken daran, daß vor allem die ältere Germanistik literarische Stilisierungen und Aussagen über das Rittertum für bare Münze genommen und dementsprechend von einem „ritterlichen Tugendsystem" (G. Ehrismann) gesprochen hat, dessen gleichzeitig konkrete wie ideale historische Ausformung man im staufischen Rittertum zu erkennen glaubte (H. Naumann). Heutzutage hat man freilich besser gelernt, poetische Fiktion und historische Realität auseinanderzuhalten und rechnet mit einer starken Kluft zwischen ritterlicher Stilisierung und tatsächlichem ritterlichem Ver-

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halten. So wird man insbesondere bei spezifisch „ritterlichen", namentlich von den Dichtern immer wieder beschworenen Tugenden wie Demut, Treue, staete, mäze usw. besonders kritisch sein müssen, ob Ideal und Wirklichkeit einander entsprachen, zumal bereits mittelalterliche Autoren sich der Spannung zwischen ritterlichem Ethos und alltäglicher Erfordernis bewußt waren und den daraus häufig erwachsenden Kompromiß tadelten, weil hehre Ideale einer rauhen Lebenswirklichkeit zum Opfer fielen. So berichtet der normannische Geschichtsschreiber Ordericus Vitalis (gest. um 1141) über die Schwierigkeiten normannischer milites, die ihrem Herzog und Lehnsherrn Wilhelm, dem späteren englischen König, bei der Eroberung Englands 1066 geholfen hatten und sich Ende der sechziger Jahre noch immer auf der Insel aufhielten: „In dieser Zeit wurden einige Ehefrauen in der Normandie von der wilden Fackel ihrer Lust verbrannt. Sie schickten häufig Boten und forderten ihre Männer zu schneller Rückkehr auf. Sie fügten hinzu, daß sie sich andere Ehemänner verschaffen wollten, kämen ihre Gatten nicht schleunigst zurück. Weil sie mit der Seefahrt noch nicht vertraut waren, wagten die Ehefrauen nicht, den Kanal zu überqueren, um dort in England ihre Männer aufzusuchen, wo diese ständig unter Waffen und täglich unter großen Verlusten für beide Seiten ausrückten. Der König (Wilhelm der Eroberer) aber wünschte wegen der zahlreichen Feldzüge seine Ritter (milites) bei sich zu haben, und bot ihnen in freundschaftlicher Art umfangreichen Grundbesitz an, der mit hohen Einkünften und umfassender Machtbefugnis verbunden war. Er versprach noch mehr, sobald das ganze Königreich von den Feinden gesäubert sei. Die rechtlich denkenden Barone und die tüchtigen Kämpfer ängstigten sich auf vielfache Weise, wenn sie an den König mit seinen Brüdern und Freunden und seine getreuen Genossen dachten, wie er von allen Seiten von Kriegsgefahr umgeben sei; sie selbst würden sich, verließen sie ihn, dem öffentlichen Vorwurf der Untreue und der Verschwörung aussetzen, man würde sie als Feiglinge und Deserteure beschimpfen. Was sollten die angesehenen Helden hingegen tun, wenn ihre lasziven Ehefrauen ihr Ehebett durch Ehebruch befleckten und ihr Geschlecht durch die Geburt eines Kindes für alle Zeiten öffentlich entehrten? Deshalb brachen auf Hugo de Grentemaisnil, der schon die Herrschaft über die Bewohner des Gebietes von Kent innegehabt hatte, und sein Schwager Unfridus de Telliolo, dem die Burg Hastings seit dem Tage ihres Baubeginnes zur Bewachung übertragen worden war, und viele andere und verließen traurig und gegen ihren Willen den König, der unter Fremden sich abmühen mußte. Dann kehrten sie in die

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Normandie zurück, um ihren lasziven Herrinnen zu dienen; aber ihre Ämter und ihre Besitzungen, die sie sich schon erworben hatten, mußten sie dadurch im Stich lassen; weder sie noch ihre Erben konnten sie jemals wiedererlangen" 5 . Vielleicht noch am ehesten von einer Übereinstimmung zwischen Ideal und Wirklichkeit wird man in solchen Situationen ausgehen können, in denen adlig-militärische Mentalität und erwartetes gesellschaftliches Verhalten des Ritters besonders eng zusammentreten konnten. Ein Musterbeispiel hierfür bildete das für das mittelalterliche Rittertum so typische Turnierwesen, entsprach es doch in nahezu idealer Weise adliger Kriegermentalität. Dieser Umstand dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, daß sich „Ritterturniere" in höchst vielfältiger Ausprägung auch und gerade im Spätmittelalter größter Beliebtheit erfreuten. Das aus Frankreich kommende Turnier (lat. torneamentum, exercitia militum, hastiludium u.a.) vereinigte gleichzeitig mehrere Vorteile in sich: Zum einen bot es, wie schon das adlige Jagdvergnügen, militärisch-technisches Training für den Ernstfall; darüber hinaus gewährleistete es einer gesellschaftlichen Elite einen angemessenen Zeitvertreib durch aktive oder passive Teilnahme an einem spectaculum. Für den tumierenden Ritter damit verbunden war die Möglichkeit, gesellschaftliche Ehre und Anerkennung zu gewinnen und sein Bedürfnis nach Ruhm (gloria) zu befriedigen; die eigene existentielle Gefährdung und das finanzielle Risiko waren im Vergleich zu einer realen kriegerischen Verwicklung ungleich geringer; schließlich ermöglichte das Turnier die heutzutage ein wenig archaisch anmutende Demonstration gesellschaftlichen Führungsanspruches durch den Erweis körperlicher Kraft und Geschicklichkeit im Rahmen einer adligen Festkultur. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Turniers bereits zu Ende des 12. Jahrhunderts erweist das in der Literatur in diesem Zusammenhang oft angeführte Mainzer Hoffest von 1184, auf dem die beiden Söhne des Kaisers Friedrich Barbarossa (1152-1190) zu Rittern geschlagen wurden. Es kann hier nicht der Ort sein, über die Entwicklung des in mannigfachen Formen ablaufenden Turnieres zu handeln 6 . Nur einige allgemeine

5

Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica IV 2 (ed. M. CHIBNALL, The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, Bd. II, 1969, S. 218-220) (aus dem Lateinischen übersetzt).

6

Man unterscheidet beispielsweise den sog. Tjost (Einzelkämpfe), den sog. Buhurt (Schaureiten mit Kampfspielen) und das sog. torneamentum Kampf).

(Reiterschlacht mit wirklichem

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Entwicklungslinien können skizziert werden. So werden die Turniere zunehmend teurer, da der Inszenierungsaufwand sich steigert. Das Turnier wird umrahmt von zahlreichen Begleitveranstaltungen, es kommt zu aufwendigem Tribünenbau, die Ausrüstung der Turnierkämpfer wird immer kostbarer, die gefährlichen Einzelkämpfe (Tjoste) werden immer beliebter und geben professionellen Turnierrittern („Glücksritter") und jungen Adligen (juvenes milites) die Möglichkeit, gleichermaßen zu Ansehen und zu Vermögen zu kommen. Freilich kam es bereits sehr früh, mithin zu einer Zeit, in der man vielleicht noch nicht wie dann im Spätmittelalter von einem besonders starken Gegensatz zwischen hoher Festkultur und alltäglicher Praxis ausgehen muß, zu einer unverblümten Kritik an ritterlichem Turnierverhalten. Einer der bekanntesten Prediger der Zeit, Jakob von Vitry (gest. 1240), Bischof von Akkon im Heiligen Land und Patriarch von Jerusalem, erinnerte sich, „daß ich eines Tages mit einem Ritter sprach, der sehr gerne Turniere besuchte und andere dazu bat, indem er Boten und Sänger aussandte, die zu den Turnieren einluden. Er glaubte nicht, wie er versicherte, daß ein solches Spiel (ludus) oder eine solche Waffenübung (exercitium) eine Sünde sein könne. Ansonsten war er aber sehr fromm. Ich habe damit begonnen, ihm zu erklären, daß mit dem Turnier die sieben Todsünden verbunden seien. Es fehlt nämlich nicht Hochmut (superbia) bei den Rittern, wenn sie, dem Lob der Zuschauer und eitlem Ruhm zuliebe, unfromm und eitel herumstolzieren. Es fehlt auch nicht der Neid (invidia) bei ihnen, wenn einer den anderen beneidet, weil dieser im Waffenhandwerk für tüchtiger gehalten wird und größeres Lob erntet. Es fehlen nicht Haß (odium) und Zorn (ira) bei ihnen, wenn einer den anderen durchbohrt und ihm übel zusetzt und meistens tödlich verwundet oder direkt gleich tötet; aber darüber hinaus machen sie sich der vierten Todsünde, der Melancholie (acedia) bzw. der Traurigkeit (tristitia) schuldig. So sehr sind sie mit ihrer Eitelkeit beschäftigt, daß alle geistlichen Güter ihnen reizlos erscheinen, und wenn sie mit ihrem Gegner (auf dem Turnierplatz) nicht fertig werden, ergreifen sie häufig die Flucht, was ihnen Tadel einbringt und sie sehr traurig macht. Sie entbehren auch nicht der fünften Todsünde, d. h. der Habgier und einer räuberischen Gesinnung, wenn einer den anderen gefangensetzt und nicht freiläßt und ihm sein Pferd, das er begehrt, mitsamt den Waffen raubt; aber auch bei den Turnieren plündern die Ritter auf schwere und unerträgliche Weise, rauben die Güter von anständigen Menschen, ohne Mitleid zu haben, sie zertrampeln die Ernte oder rauben den Ernteertrag ohne Furcht und schädigen und bedrän-

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gen die armen Bauern sehr. Die Turniere sind auch mit der sechsten Todsünde, der Freß- und Trunksucht (gastrimargia), verbunden, weil sich die Ritter weltlichem Pomp zuliebe gegenseitig zu Festessen einladen und eingeladen werden; nicht nur ihre Güter, sondern auch das Eigentum der armen Leute verschwenden sie bei ihren Gelagen und aus fremder Haut machen sie sich prächtige Gürtel. Sie entbehren auch nicht der siebten Todsünde, die man die Ausschweifung (luxuria) nennt, wenn sie unzüchtigen Frauen gefallen wollen, indem sie als waffenerprobt gelten wollen und sich daran gewöhnt haben, Schmuckstücke ihrer Damen gleichsam als eine Art Feldzeichen mit sich zu führen" 7 . Hier überrascht weniger die große Härte des Urteils als vielmehr die analytische Schärfe der Beobachtungen. Ritterliches Verhalten wird als adliges Konkurrenzdenken geschmäht und verurteilt. Die sieben Todsünden sind an die Stelle der traditionellen adligen Tugenden getreten, welche sich, ebenfalls sieben an der Zahl, aus den vier bereits in der Antike nachweisbaren, primär adligen Kardinaltugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung) und den drei „christlichen" Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) zusammensetzen. Die ritterliche Mentalität wird dadurch bloßgestellt, daß Jakob von Vitry die hinter ihr stehenden psychologischen Antriebskräfte, so z. B. männliches Imponiergehabe, Beutelust und mangelnde Selbstbeherrschung, entlarvt. Ritterliches Verhalten wird außerdem nach seinen Konsequenzen befragt. Die Bilanz ist eindeutig negativ, nicht nur für den adligen Turniergegner, der von seinem Kontrahenten getötet wird, sondern vielmehr für die Gesellschaft insgesamt, inbesondere den „dritten Stand", d. h. die Bauern, die die Kosten zu tragen haben. Mit seiner Kritik adliger Mentalität steht Jakob von Vitry nicht alleine. Bereits 1179 hatte das dritte Laterankonzil ein Begräbnisverbot für Ritter ausgesprochen, die im Rahmen eines Turniers umgekommen waren. Freilich befand sich die mittelalterliche Kirche in einem ausgesprochenen Dilemma, denn sie benötigte die Ritter dringend für die von ihr initiierten Kreuzzüge. Diese Konfliktsituation bringt das folgende, häufig erzählte Exemplum zum Ausdruck: Ein Ritter reist zum Turnier. Unterwegs kommt er an einer Kapelle vorbei. Fromm, wie er ist, hält er an und betet zur heiligen Maria. Freilich führt dies

7

Jakob von Vitry, Exempla, ed. TH. F. CRANE, London 1890, Nr. 141, S. 6 2 - 6 4 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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dazu, daß er nicht mehr rechtzeitig zum Turnier kommen kann. Betrübt reitet er nach Hause. Dort hat man bereits von seinem grandiosen Turniersieg erfahren. Der Ritter wird gefeiert und erkennt, daß an seiner statt die heilige Maria für ihn den Sieg erfochten hat 8 . Inwieweit das adlige Rittertum sich durch kirchliche Kritik wirklich beeindrucken ließ, wissen wir nicht, zumal Ritter der Institution Kirche bisweilen ausgesprochen skeptisch gegenüberstanden, wie das folgende Exemplum lehrt: „Ich habe von einem gewissen Ritter gehört, daß er niemals die Wahrheit Gottes in der Form ihrer kirchlichen Verkündigung gehört habe und auch im Glauben nicht gut unterrichtet sei. Als er gefragt wurde, warum er nicht gern die heilige Messe hören wolle, die von solch großer Würde und Kraft geprägt sei, daß (sogar) Christus und die Engel immer dorthin kämen, antwortete er nur: ,Das weiß ich nicht, aber ich war der Auffassung, daß die Priester die Messe einzig der Abgaben halber feierten'. Nachdem er aber die Wahrheit gehört hatte, begann er darauf, gern und fromm die Messe zu hören" 9 . Viel spricht dafür, daß adlige Mentalität in ihrer ritterlichen Ausformung sich während des gesamten Mittelalters, und, folgen wir einer in der Forschung stark verbreiteten Meinung, auch darüber hinaus weit in die Neuzeit hinein erhalten hat. Wesentlich dazu beigetragen hat ganz sicher der Umstand, daß die Kirche sehr oft mit dem Adel institutionell und personell auf das engste verflochten war. So sorgte schon der gemeinsame soziale Hintergrund dafür, daß kirchliche Führungspersönlichkeiten, die in aller Regel aus dem Adel stammten, zu den eloquentesten Propagandisten adligritterlicher Mentalität gehörten. Ein eindrucksvolles Beispiel bieten die Gesta Danorum des sog. Saxo Grammaticus (gest. um 1216) aus dem ausgehenden zwölften Jahrhundert. Für den aus dem dänischen Roskilde stammenden Autor, der es bis zum Erzbischof von Lund brachte, löst sich die dänische Volks- und Königsgeschichte in eine Vielzahl einzelner Heldenepisoden auf. Freilich, und darin liegt der Wert dieser Geschichtsschreibung für unser Thema, sind es keine archaischen Helden, obwohl der Autor sein Epos überwiegend in sagenum-

8 9

Zum Quellennachweis dieser und anderer vergleichbarer Exempla vgl. K. SCHREINER, Maria, 1994, S. 321-323; vgl. auch unten Kapitel XII, S. 325. Jakob von Vitry, Exempla (wie Anm. 7), Nr. 139, S. 62 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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wobener Frühzeit spielen läßt. Er überträgt seine Idealvorstellungen rechten Rittertums vielmehr in die Vergangenheit, was den Schluß nahelegt, daß die eigene Gegenwart wenig oder keinen Platz ließ für ritterliche Mentalität und aus ihr resultierendes Verhalten. So läßt sich sein Werk auch als ein Spiegel zeitgenössischer ritterlicher Wunschbilder verstehen, die es uns wenigstens ansatzweise erlauben, eine histoire imaginaire rechten Rittertums zu rekonstruieren. Die „Recken" des Saxo Grammaticus, einem permanenten Zwang zur ritterlichen Bewährung ausgesetzt, liefern ebenso bereitwillig wie ständig Proben ihres ritterlichen Mutes und ihrer Körperkraft. Zeiten des Friedens werden eindeutig negativ bewertet, denn sie sind gleichzeitig Zeiten sittlicher Gefährdung einer „hitzigen" Jungmannschaft, deren aggressives Gewaltpotential nicht mehr auf einen äußeren Feind abgelenkt werden kann: „Als die Söhne des Westmar und Kolo (dänische Adlige) eben erwachsen geworden waren und voller Tatendrang steckten, hatte sich ihre Treuherzigkeit in Übermut verwandelt. Sie mißbrauchten ihre Anlagen, die durch unverschämtes Verhalten beschmutzt waren, zu obszönen und entarteten Gewohnheiten. So unverschämt und zügellos führten sie sich auf, daß sie dadurch, daß sie die Ehefrauen und Töchter anderer geschändet hatten, die Keuschheit zu ächten und ins Bordell zu verbannen schienen. Nachdem sie auch die Betten ehrbarer Ehefrauen mißbraucht hatten, scheuten sie nicht einmal mehr vor Jungfrauen zurück. Niemandem verschaffte sein Ehebett Sicherheit und fast kein Ort in ihrer Heimat war von den Spuren ihres ausschweifenden Lebens frei. Die verheirateten Männer wurden von Furcht, die Weiber durch die gewaltsame Schändung ihrer Leiber gequält. Man gehorchte den Verbrechen; man respektierte die ehelichen Bande nicht mehr, und der Beischlaf wurde mit Gewalt erzwungen; die Liebe wurde käuflich, während gleichzeitig die Achtung der Ehegatten untereinander schwand; in rasendem Tempo verlangte man nach Ausschweifungen. Der Grund hierfür war das Nichtstun, da mit Lastern vertraute Körper, wenn sie einer Betätigung ermangeln, im Zustand der Ruhe sich auflösen" l0 . Einen zentralen Bestandteil adliger und vor allem auch ritterlicher Mentalität macht die Ehre (honor) aus. Wird diese verletzt, ist man als Ritter gezwungen, seine Ehre wiederherzustellen, und dies kann am einfachsten und am schnellsten dadurch geschehen, daß man zur Waffe greift und in der

10 Saxo Grammaticus, Gesta Danorum V, I, 3 (ed. J. Olrik/H. Raeder, Bd. 1, 1931, S. 104-105 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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festgelegten, ritualisierten, ,ritterlichen' Form eines Zweikampfs, mit anderen Worten: in einem Duell, seine verletzte Ehre wiederherstellt; so zumindest in den literarisch-fiktiven Wunschbildern eines Saxo Grammaticus: „Zur selben Zeit nahm ein gewisser Agnerus, der Sohn des Ingellus, die Schwester des Rolvo namens Ruta zur Frau. Er richtete ein gewaltiges Festmahl aus. Die über alle Maßen ausgelassenen Kämpen warfen, betrunken wie sie waren, einem gewissen Hialto ihre abgenagten Knochen an den Kopf. Da passierte es, daß dessen Nebensitzer, der Biarco hieß, versehentlich kräftig am Kopf getroffen wurde. Biarco, gleichermaßen durch den erlittenen Schmerz provoziert wie in seiner Ehre gekränkt, warf den Knochen demjenigen, der ihn geworfen hatte, zurück, drehte daraufhin dessen Stirn nach hinten und bog dessen Hinterkopf nach vorn dorthin, wo seine Stirn gewesen war. So bestrafte er denjenigen, dessen Verstand verdreht war, durch ein verdrehtes Gesicht. Dies dämpfte ihre ehrverletzenden und unverschämten Scherze und zwang die Kämpen dazu, den Hof zu verlassen. Der Bräutigam, aufgebracht über das Unrecht, das sich während des Festmahls ereignet hatte, beschloß, mit Biarco zu kämpfen. Auf der Suche nach Rache für die gestörte Heiterkeit des Festes forderte er (den Biarco) zum Duell. Nur kurz hat man eingangs darüber verhandelt, wem von den beiden der erste Schlag gebühren sollte. Von alters her strebte man bei Kämpfen nicht danach, abwechselnd eine Vielzahl von Schlägen auszuteilen, sondern es folgte, jeweils mit einer Pause dazwischen, ein Schlag auf den anderen, und die Kämpfe wurden damals mit wenigen, dafür aber umso gräßlicheren Schlägen ausgefochten, so daß damals weniger die Zahl der Schläge, als vielmehr die Stärke ihrer Ausführung für Ruhm sorgte. Aufgrund der Vornehmheit seines Geschlechtes kam Agnerus das Vorrecht zu, den ersten Streich zu führen. Er führte ihn mit solch einer Stärke aus, daß er den vorderen Teil des Helms durchschlug und die obere Kopfhaut verletzte; aber sein Schwert, eingeklemmt mitten zwischen den Helmteilen, mußte er fahrenlassen. In der Absicht, seinerseits den Gegner zu schlagen, stemmte .Biarco, um sein Schwert besser schwingen zu können, einen Fuß an einen Baumstumpf und durchschlug mit seiner überaus scharfen Klinge den Körper des Agnerus zur Hälfte. Es gibt welche, die behaupten, Agnerus sei mit einem Lachen auf den Lippen gestorben; er habe seinen Geist aufgegeben, wobei er seinen Schmerz mit größter Anstrengung zu verbergen suchte" 1 1 .

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Saxo Grammaticus, Gesta Danorum dem Lateinischen übersetzt).

II, V I , 9 - 1 0

(ed.

Olrik/Raeder,

Bd.

1,

S.

50-51)

(aus

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Auch wenn der Kämpe unterliegt, so sichert ihm doch ein „ehrenvoller" Tod - und das ist nach ritterlicher Anschauung der Tod im Duell allemal, zumal wenn man so heiter-gelassen zu sterben versteht wie Agnerus das Andenken der Nachwelt. Der bedenkenlose Einsatz der eigenen Person, die Bereitschaft, diese nötigenfalls zu opfern, gewährleistet den Ruhm (gloria) des Ritters. Freilich haben wir es hier mehr mit einem Wunschbild ritterlichen Verhaltens zu tun. Daß ritterliche Realität ganz anders ausgesehen hat, daß sich eine Diskrepanz ergab zwischen tatsächlicher Praxis und hehrem Anspruch an sich selbst - und dies nicht erst im späten Mittelalter - ist schon solch aufmerksamen Zeitgenossen wie dem von uns bereits zitierten Ordericus Vitalis aufgefallen. Der normannische Historiker räumte den mit der normannischen Eroberung Englands einsetzenden Spannungen zwischen englischem und französischem König bekanntlich in seinem Werk einen besonders großen Raum ein. Er kam in diesem Zusammenhang auch auf die größte militärische Auseinandersetzung zwischen Heinrich I. von England (1100-1138) und Ludwig VI. von Frankreich (1108-1137) zu sprechen, die als „Schlacht von Bremule" 1 2 (1119) in die Geschichtsbücher eingegangen ist: „Als König Ludwig das sah, was er sich so lange gewünscht hatte, rief er die vierhundert Ritter zu sich, die er damals unmittelbar zur Verfügung hatte, und befahl ihnen, zur Verteidigung ihrer Ehre und der Freiheit des Königreichs (Frankreich) tapfer in der Schlacht zu kämpfen, damit nicht durch ihre Feigheit der Ruhm Frankreichs untergehe . . . " 1 3 Das schlechte Gefühl, das - folgen wir Ordericus Vitalis - den französischen König bereits vor der Schlacht beschlichen haben muß, war nicht unbegründet. Denn bereits die erste Angriffswelle der Franzosen, welche „kraftstrotzend nach Bremule zusammengeströmt waren, um tapfer gegen die Normannen zu kämpfen", blieb vor den englischen Linien stecken und brach in sich zusammen: „Zwar begannen die Franzosen mit einem heftig vorgetragenen Angriff; weil sie aber ungeordnet vorwärts stürmten, konnten sie überwältigt werden. Sie wurden schnell müde und begannen deshalb zu fliehen ... In der ersten

12 Brémule, Ort in der Normandie bei Noyon. 13 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica XII 18 (ed. CHIBNALL, Bd. VI, S. 236) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Schlachtreihe stürzten sich Wilhelm Crispinus (ein Normanne, der auf französischer Seite kämpfte) und achtzig Ritter auf die Normannen, aber nachdem man ihre Pferde getötet hatte, wurden die Reiter alle eingeschlossen und gefangengenommen . . . " (Im folgenden berichtet Ordericus noch von anderen französischen Rittern, die man von ihren Pferden herunterholen und gefangennehmen konnte:) „Als das die Franzosen sahen, sagten sie zu ihrem König: .Achtzig unserer Ritter, die als erste angegriffen haben, sind nicht zurückgekommen. Der Feind ist uns zahlenmäßig und an Kampfkraft überlegen. Schon hat man den Burcard und den Otmund und andere hervorragende Kämpfer gefangengenommen, unsere Schlachtreihen sind schon beträchtlich ins Wanken geraten und reduziert. Wir bitten dich deshalb, o Herr, zieh dich zurück, damit wir nicht einen irreparablen Verlust erleiden.' Ludwig hörte auf diese Worte und machte sich mit Baudry von Bray schleunigst aus dem Staub. Die Sieger aber nahmen einhundertvierzig Ritter gefangen und verfolgten die übrigen bis an die Stadttore von Les Andelys. So sind diejenigen, die voller Pomp auf einer Straße dahergezogen kamen, in alle Winde zerstreut, auf vielen krummen Wegen entflohen ... Man hat mir (Ordericus) erzählt, daß bei diesem Treffen der beiden Könige fast neunhundert Ritter teilgenommen haben, aber nur drei den Tod fanden. Die Ritter waren nämlich an allen Seiten mit Eisen geschützt und wegen ihrer Gottesfurcht und aus alter Verbundenheit gemeinsamer Waffenbruderschaft schonten sie sich gegenseitig. Und sie waren nicht so sehr darauf bedacht, die Flüchtenden zu töten, als vielmehr gefangenzunehmen und zu schonen. .Christliche Kämpfer dürsten nicht nach dem Blut ihres Mitbruders, sondern freuen sich über einen rechtmäßigen Sieg, den sie mit der Hilfe Gottes zum Nutzen der Heiligen Kirche und zur Sicherheit der Gläubigen errungen haben ... Der König (von Frankreich) irrte auf der Flucht allein im Wald umher. Aber irgendein Bauer, der nicht wußte, wen er vor sich hatte, traf ihn zufälligerweise. Diesen bat der König inständig und versprach ihm eidlich zahlreiche Geschenke, er möge ihm doch eine Abkürzung nach Andelys zeigen oder auch ihn gegen eine große Belohnung dorthin begleiten. Der Bauer, im Vertrauen auf eine üppige Bezahlung, gab seine Einwilligung und führte den zitternden König nach Andelys. Ludwig fürchtete sich sowohl vor einem Verrat seines vorausgehenden Führers als auch vor der Gefangennahme durch seine nachrückenden Feinde. Als das Bäuerlein das herrschaftliche Gefolge sah, das in Les Andelys dem König beflissen entgegenkam, schätzte er die Belohnung, die ihm für seine Dienste zukommen würde, als

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äußerst gering ein. Er verfluchte seine eigene Dummheit und trug schwer daran, daß ihm ein so großer Gewinn entgangen war, nur weil er den König nicht erkannt hatte" 1 4 . Der Bericht des Ordericus Vitalis macht vor allem zwei Dinge deutlich: Erstens kann von einer Bereitschaft der Ritter, für den eigenen Ruhm und für König und Vaterland ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nicht wirklich emsthaft die Rede sein. Stattdessen ergreift man, schon als der allererste vorgetragene Angriff scheitert, Hals über Kopf die Flucht; der Rückzug wird nicht geordnet angetreten. Man spürt förmlich das kaum verhüllte Erstaunen des Chronisten, daß es in dieser ,Schlacht', die ihren Namen kaum verdient hat, nur drei Tote gegeben hatte, obwohl doch fast neunhundert Ritter an ihr teilgenommen hatten. Sein Hinweis, dies verdanke man unter anderem der christlichen Gesinnung der Ritterschaft, ist ein leicht durchschaubarer Versuch, die Differenz zwischen Ideal und Realität zu überspielen. Aus der angeblichen ,Schlacht' ist in Wahrheit längst ein ,Turnier' geworden. Dieser Umstand bringt es mit sich - und dies ist die zweite wesentliche Erkenntnis, die wir dem Bericht des Ordericus Vitalis entnehmen können - , daß das Risiko für den einzelnen Ritter viel weniger darin besteht, auf dem Feld der Ehre zu fallen, als vielmehr in Gefangenschaft zu geraten. Die Gefangenschaft war nun, wie die Anekdote vom „dummen Bäuerlein" andeutet, vor allem unter finanziellem Aspekt interessant. Was für den unterlegenen Gegner möglicherweise einen großen finanziellen Verlust, wenn nicht gar seinen finanziellen Ruin bedeutete, wenn er in Gefangenschaft geriet, aus der er sich oft durch hohe Summen freikaufen mußte, war andererseits für den Sieger eine willkommene Gelegenheit, sich finanziell zu sanieren. „Ritterliches" Verhalten, die Schonung des Gegners, ist also nicht etwa Ausdruck einer spezifisch ritterlichen Mentalität, sondern vor allem auch Ausdruck einer ökonomisch-rationalen Mentalität militärischer Spezialisten, die in der wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft des 12. Jahrhunderts sich längst der Bedeutung des Geldes bewußt geworden waren. Wie sehr finanzielle Aspekte die ritterliche Mentalität beeinflussen konnten, legen auch andere Stellen bei Ordericus nahe. So berichtet der Historiker vom Fall der mächtigen Burg Bridgnorth in Südengland. Sie bildete den wohl wichtigsten Stützpunkt für den normannischen Herzog Robert Kurzhose (gest. 1137), der in England zu Anfang des 12. Jahrhunderts gegen

14 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica XII 18 (ed. CHIBNALL, Bd. VI, S. 238-240) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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seinen jüngsten Bruder, den mittlerweile (seit 1100) zum König avancierten Heinrich I. (1100-1135), den späteren Sieger von Bremule, opponierte. Die Kommandanten der Burg, obschon Anhänger und Vasallen Roberts, ließen sich zur Übergabe der Festung an den englischen König überreden. Ihr Entschluß wurde freilich dadurch erleichtert, daß man ihnen reiche Belohnung für ihren Übertritt versprach. Noch galt es freilich, die Ritterschaft auf der Burg für den König zu gewinnen. Diese spaltete sich in zwei Gruppen auf: „Die ständig auf der Burg wohnenden Ritter stimmten, nachdem sie den (mit einer Übergabe verbundenen) Vorteil für sich erkannt hatten, (dem Vorschlag zur Übergabe) zu und gehorchten, weil sie sich nicht ihrerseits durch einen Widerstand gegenüber dem königlichen Willen in Gefahr begeben wollten. Mit Erlaubnis des Königs schickten sie ihrem Lehnsherrn Robert einen Boten, durch den sie ihm mitteilen ließen, daß sie der militärischen Gewalt des unbesiegbaren Königs (Heinrich I.) nicht länger Widerstand leisten könnten. Die gegen Geld angeworbenen Soldritter wußten freilich nichts von dem Frieden, den die anderen Ritter und die in der Burg sich aufhaltenden Bürger, die keine Lust verspürten unterzugehen, bereits geschlossen hatten, ohne sie zu fragen. Sie gerieten in Wut, als sie von dem unerwarteten Plan erfuhren, griffen zu ihren Waffen und versuchten, die bereits begonnene Übergabe zu verhindern. Durch die Gewalt der in der Burg ansässigen Ritter wurden sie in eine Ecke der Burg abgedrängt. Das königliche Gefolge wurde zusammen mit dem königlichen Banner von vielen freundlich in der Burg empfangen. Darauf gestattete der König den angeworbenen Soldrittern, weil diese ihrem Fürsten die Treue bewahrt hatten, wie es sich geziemte, freien Abzug. Als diese die Burg verließen und die Reihen der Belagerer durchquerten, begannen sie sich lauthals zu beklagen: Sie seien von der Burgbesatzung und deren Anführern ganz übel zum Narren gehalten worden. Und vor dem ganzen (königlichen) Heer deckten sie die geheimen Pläne der Überläufer auf, damit nicht ihr Fall Anlaß geben sollte, andere Soldritter durch Vorwürfe zu inkriminieren" 15 . Die Schilderung des Chronisten ist ein Hinweis auf die Schwierigkeiten, denen sich jede Bestimmung ritterlicher Mentalität ausgesetzt sieht. Es gibt

15 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica X I 3 (ed. CHIBNALL, Bd. V I , S. 28) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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nicht „den Ritter" und „das ritterliche Ideal". Auch der Berufsstand des Ritters ist in sich stark differenziert. Es gibt den Ritter, der als Lehensmann dient, und der, wenigstens im England des frühen 12. Jahrhunderts, gegen entsprechende Belohnung relativ leicht die Seite zu wechseln bereit ist. Er verspürt offensichtlich nur eine begrenzte Neigung, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Entweder flieht er oder geht zur militärisch stärkeren Partei über. Daneben gibt es die Soldritter (milites stipendiarii) mit einer Berufsehre, aber auch sie könnte zumindestens teilweise auf finanziellen Motiven beruhen. Die Unzufriedenheit der aus der Burg zum Abzug gezwungenen Soldritter beruht darauf, daß ihnen durch den „Verrat" der übrigen Ritter jede Möglichkeit genommen wurde, wenigstens ihre Bereitschaft zu demonstrieren, militärischen Widerstand zu leisten. Die damit verbundene notwendige Rufschädigung beeinträchtigte ihre Chancen auf Weiterverwendung oder auf eine „Neueinstellung" bei einem anderen Herrn, der gegen gutes Geld auch „gute Arbeit" verlangen konnte. Daß ritterliche Mentalität höchst unterschiedlich sein konnte, beweist nicht zuletzt auch die Schilderung der Schlacht von Bourgtheroulde 1139. Ordericus war über ihren Verlauf durch seine persönliche Bekanntschaft mit einigen an der Schlacht beteiligten Adelsfamilien gut informiert. Die Auseinandersetzung weist in ihrem Verlauf eine große Ähnlichkeit mit Bremule auf. Der schwungvoll vorgetragene Kavallerieangriff der Ritter bleibt im Feuer der Bogenschützen stecken, die abgesessenen Verteidiger nehmen zahlreiche Ritter gefangen. Die große Masse der angreifenden Ritter flieht, wobei es zu grotesken Szenen kommt: „Wilhelm Lovel (ein Ritter) freilich wurde von einem Bauern gefangengenommen. Um seine Freilassung zu erreichen, gab er ihm seine Waffen; von ihm nach der Art eines Hausknechtes geschoren floh er, in der Hand einen Stab haltend, daraufhin an die Seine. Unerkannt kam er zur Stelle, wo man über den Fluß setzte. Um die Überfahrt zu bezahlen, gab er dem Fährmann seine Stiefel und so kam er mit nackten Füßen nach Hause, froh, wenigstens dem Feind nicht in die Hände gefallen zu sein" 16 . Daß der angreifende Gegner nicht den Sieg davongetragen hatte, lag aber nicht nur an der besseren Taktik der Verteidiger, die, ebenso wie bei Bremule,

16 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica XII 39 (ed. CHIBNALL, Bd. VI, S. 352) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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in der Mehrzahl waren. Vielmehr lag es auch an ihrer besseren Moral, sprich an ihrer speziellen Mentalität. Sich als militärische Elite fühlend, waren diese angeworbenen, bezahlten Ritter (milites stipendiarii), wollten sie auch in Zukunft vom König weiter „beschäftigt" werden, zum energischen Widerstand verpflichtet. Es galt, gleichermaßen den eigenen Ruf und den eigenen Unterhalt zu verteidigen, wie einer ihrer Anführer, Odo Borleng, seinen untergebenen Rittern erklärte: „,Schaut euch doch nur die Gegner des Königs (Heinrich I. von England) an, wie sie sein Land verwüsten und sorglos sind. Einen Großen, dem der König die Verteidigung seines Reiches übertragen hat, haben sie schon gefangengenommen und weggebracht. Was sollen wir tun? Sollen wir es etwa zulassen, daß sie straflos die ganze Gegend verwüsten? Ein Teil unserer Leute muß bei der Schlacht absitzen und sich bemühen, zu Fuß zu kämpfen, der andere Teil soll zum Kämpfen auf den Pferden sitzen bleiben. Die Gruppe der Bogenschützen soll sich in die vorderste Linie begeben und den Angriff der feindlichen Reiterei dadurch verzögern, daß sie deren Pferde verwundet. Heute wird der Mut und die Kraft jedes Ritters auf diesem Schlachtfeld deutlich werden. Wenn wir es nämlich in feiger Tatenlosigkeit zulassen, daß ein Baron des Königs von den Feinden gefesselt weggebracht werden kann, ohne daß wir einen Schwertstreich führen, wie wollen wir es dann noch wagen, vor den Augen des Königs zu erscheinen? Zu Recht werden wir unseren Lohn zusammen mit unserem Ansehen verlieren und nach meiner Meinung werden wir dann künftig nicht mehr vom königlichen Brot essen.' Also wurden die übrigen durch die Ermahnung eines solch hervorragenden Helden in ihrem Mut befestigt. Und seine Waffengefährten gaben ihm ihre Zustimmung, daß er mit seinem Gefolge absitzen könne. Das lehnte er nicht ab, sondern wartete heiter mit den Seinen, von denen er sehr geschätzt wurde, auf den Kampf. Waleranus, ein junger Mann (er gehörte zur Partei der Angreifer, die dem König feindlich gesonnen war), begierig auf den Kampf, begann beim Anblick der Feinde, begeistert wie ein Junge zu tanzen, als hätte er sie bereits besiegt, aber der ältere und reifere Amalricus riet diesem und den anderen unvorsichtigen Rittern folgendermaßen vom Kampf ab: ,Um alles in der Welt', so beschwor sie Amalricus,,meine ich, daß wir den Kampf vermeiden sollten. Denn wenn wir, die wir in der Unterzahl sind, es wagen zu kämpfen, fürchte ich, daß dieser Umstand uns Schande bringt und Schaden einträgt. Seht nur, Odo Borleng ist mit den Seinen bereits abgestiegen; ihr sollt wissen, daß er alles versuchen will, uns zu überwinden. Ein Ritter, der

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kampfentschlossen von seinem Pferd steigt, um zu Fuß zu fechten, wird nicht fliehen, sondern sterben oder siegen'" 1 7 . Amalricus wurde nicht gehört. Der zu Pferde angreifende Adel verwechselte ganz offensichtlich, wie schon in Bremule, die Schlacht mit einem Turnier, die Wirklichkeit mit dem Kampfspiel. Offensichtlich verbot ihm seine konservative Mentalität eine nichtadlige Kampfesweise zu Fuß. Und so kann auch der Sieg des königstreuen Odo Borleng nicht weiter überraschen. Wohl zu den am schwierigsten zu beantwortenden Fragen gehört die Zuordnung eines ganz bestimmten zivilisatorischen Verhaltens zu den Rittern. Hat heutiges „ritterliches Verhalten" etwas mit den mittelalterlichen Rittern zu tun? Ganz sicherlich hat es etwas mit dem bisher von uns noch nicht gestreiften Begriff des „Hofes" zu tun. Dessen Bedeutung für Ritter und Rittertum hat die Forschung dadurch Rechnung zu tragen versucht, daß sie bisweilen von der „höfisch-ritterlichen Kultur" spricht. Freilich ist die Frage nach der Beziehung von Höfischem und Ritterlichem zueinander ausgesprochen schwierig zu beantworten. So spricht man bezeichnenderweise von „höfischer Liebe", 1 8 bei der der Ritter als Werber um die Liebe und Gunst seiner Herrin sehr wohl eine wichtige Rolle spielt, aber eben nicht von „ritterlicher Liebe". Entscheidendes Konstituens dieser Liebesbeziehung war der Umstand, daß sie unter den gesellschaftlichen Bedingungen des „Hofes" ablief. Daher sollte man vorsichtig sein und solche zivilisatorischen Errungenschaften wie z.B. Höflichkeit, Zuvorkommenheit namentlich gegenüber dem weiblichen Geschlecht, wohl weniger einer angeblichen „Ritterlichkeit" der Ritter als vielmehr primär der zivilisatorischen Kraft höfischer Etikette zuschreiben. Dies gilt umso mehr, als wir nicht wissen, wieweit dieses vor allem in der Dichtung beschriebene Geschlechterverhältnis eine geschichtliche Realität besaß. Mit ungleich größerer Sicherheit wird man sagen können, daß Ritter einem besonders starken Zwang zu einem gruppen-konformen Verhalten unterlagen. Man hatte als Ritter sich auch „ritterlich" zu verhalten, denn man unterlag stets einer effizienten sozialen Kontrolle durch seine Standesgenossen. Daß dadurch reines Nützlichkeitsdenken bisweilen eher in den Hintergrund treten mußte, andererseits die Neigung zur Repräsentation und

17 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica XII 39 (ed. CHIBNALL, Bd. VI S. 348-350) (aus dem Lateinischen übersetzt). 18 Vgl. dazu auch Kapitel XI.

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Selbstinszenierung notwendigerweise wuchs, zeigen militärisch sinnlose, aber dem ritterlichen Bedürfnis nach Selbstdarstellung entgegenkommende Waffenspiele, wie sie beispielsweise im Zuge der Auseinandersetzungen um die Grafschaft Maine Ende des 11. Jahrhunderts zwischen dem englischen König Wilhelm Rufus und dem Grafen Fulko IV. von Anjou stattfanden. Fulko hatte die Hauptstadt der Grafschaft, Le Mans, noch eilig durch eigene Truppen militärisch verstärkt, um dem heranrückenden englischen König Paroli bieten zu können: „Als der König nahte, rückten die Ritter ihrerseits aus der Stadt, ihm entgegen. Und den ganzen Tag hat man tapfer gegen die Normannen gekämpft. Und auf beiden Seiten hat man militärische Taten vollbracht. Die berühmten Helden suchten sich nämlich gegenseitig ihre Körperkräfte zur Schau zu stellen, und sie wollten vor ihren Fürsten und ihren Kameraden für ihre Bluttaten Ruhm einheimsen" 1 9 . Sehr hoch dürfte die gegenseitige soziale Kontrolle und der Zwang zur Übernahme gemeinsamer Normen naturgemäß auch in städtisch-höfischem Milieu gewesen sein, das gleichzeitig einen idealen Ort ritterlicher Selbstinszenierung abgab. Auch hier bietet sich der soeben erwähnte Graf Fulko IV. von Anjou als ein gutes Beispiel an. Auch wenn ihn mißgünstige Zeitgenossen mit dem wenig ehrenvollen Beinamen ,der Griesgrämige' (franz.: le Rechiri) bedachten, so war er Ordericus zufolge das unbestrittene modische Vorbild seiner Ritterschaft. Diese folgte ihm begeistert, und zwar galt das vor allem für die von ihm propagierte Schuhmode. Fulko, an den Zehen körperlich verunstaltet, machte aus der Not eine Tugend. Er verwarf den, wie es Ordericus zumindestens darstellt, bislang allein üblichen weiten und runden ,Bequemschuh' zugunsten spitzer, dafür aber umso modischerer Schnabelschuhe: „Aber jetzt nehmen die Weltleute in ihrem Hochmut, der zu ihren verdorbenen Sitten paßt, begierig die neue Mode auf, und was einst ehrenwerte Männer für äußerst anstößig hielten und gleichsam als Kot verabscheuten, schätzen die Modernen als süßen Honig und tragen es, als handle es sich um eine Auszeichnung" 2 0 .

19 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica X 8 (ed. CHIBNALL, Bd. V, 1975, S. 242) (aus dem Lateinischen übersetzt). 20 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica VIII 10 (ed. CHIBNALL, Bd. IV, 1973, S. 186) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Das ganze Unglück hatte, folgen wir dem Bericht des zutiefst entrüsteten Ordericus Vitalis, mit einem gewissen Robertus, einem „närrischen" Höfling des englischen Königs Wilhelm Rufus, angefangen und hatte sich dann rasch als ,dernier cri' auch auf den Kontinent ausgebreitet. Die Auswirkungen seien verhängnisvoll gewesen: Alte Heroen hätten sich in verweichlichte, undisziplinierte Männer verkehrt: „Einige beanspruchten die ganze Zeit für sich und verbrachten sie, entgegen dem Gesetz Gottes und der Väter, nach ihrem eigenen Gusto. Nachts beschäftigten sie sich mit Fressen und Saufen, eitlen Erzählungen, mit Würfelspiel und anderen Vergnügungen, am Tag aber schliefen sie. So ist nach dem Tode Papst Gregors (VII., gest. 1085) und Wilhelms des Bastards (gemeint W. der Eroberer, gest. 1085) und anderer frommer Fürsten in der westlichen Welt die ehrwürdige Sitte der Väter nahezu vollkommen abgeschafft worden. Jene trugen bescheidene Gewänder, die eine hervorragende Paßform besaßen, überaus praktisch waren beim Reiten, Laufen und überhaupt bei jeder vernünftigen Tätigkeit. Aber in diesen Tagen ist die Mode durch neue Erfindungen revolutioniert worden. Die leichtfertige Jugend genießt feminine Weichheit, und die Männer bei Hofe himmeln die Frauen mit größter Laszivität an. Auf ihre Fußzehen, wo eigentlich der Körper aufhört, stecken sie sich schlangenartige Schwänze, damit sie gleichsam Skorpione vor ihren Augen haben. Den Staub vom Erdboden wischen sie mit ihren viel zu langen Gewändern und Mänteln auf; was auch immer sie tun, lange und weite Ärmel bedecken ihre Hände; und durch solch überflüssiges Zeug belastet, können sie kaum noch schnell gehen oder etwas anderes in nützlicher Weise tun. Wie die Diebe tragen sie ihre Haare vorne kurz, dafür aber hinten lang wie die Huren. Einstmals waren Büßer, Gefangene und Pilger für gewöhnlich ungeschoren und trugen lange Bärte und machten dadurch denjenigen, die sie anschauten, unmißverständlich deutlich, daß sie entweder Buße taten, gefangen waren oder sich auf Pilgerschaft befanden. Nun tragen aber fast alle Leute verrückterweise einen kleinen Bart und geben dadurch öffentlich zu erkennen, daß sie sich über schmutzige Vergnügungen freuen, als wären sie stinkende Böcke. Sie lassen sich die Haare mit der Brennschere kräuseln, sie bedecken ihren Kopf mit einem Band oder einem Hut. Kaum ein Ritter geht in die Öffentlichkeit ohne Kopfbedeckung und geschoren, wie es die apostolische Vorschrift zu Recht fordert" 2 1 .

21 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica VIII 10 (ed. CHIBNALL, Bd. IV, S. 1 8 8 - 1 9 0 ) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Auch die folgende Geschichte, die der überaus gut informierte Notar und Geschichtsschreiber Galbert von Brügge (gest. nach 1128) über das Duell zweier Ritter erzählt, verdeutlicht den großen Anpassungsdruck, dem sich Ritter ausgesetzt sahen, und der sie dazu veranlaßte, entsprechend den Konventionen ihres Standes zu handeln, ohne daß sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich alternativ zu verhalten. Der Zweikampf fand am 11. April 1127 im flandrischen Ypern statt. Die präzise Schilderung Galberts macht deutlich, daß der zum Duell geforderte Ritter Wido nicht die geringste Chance hatte, sich dieser Auseinandersetzung zu entziehen. Dieser mußte die Aufforderung schon deshalb annehmen, weil er „in aller Öffentlichkeit" - d. h. vor dem flandrischen Fürsten Wilhelm von Ypern (gest. 1165) - des Verrats und damit der Verletzung seiner Pflichten als Lehnsmann beschuldigt worden war, auch wenn ihm das Vertrauen auf seine großen Körperkräfte vielleicht die Entscheidung etwas leichter gemacht haben sollte. Die Geschichte ist aber auch geeignet, falsche Vorstellungen über eine angeblich spezifisch „ritterliche" Kampfesweise zu erschüttern. Denn das Duell der beiden Ritter hält sich keinesfalls an „ritterliche" Spielregeln und erinnert in seiner erbarmungslosen Brutalität viel eher an römisches Gladiatorentum: „Zur gleichen Zeit hatte Wido, ein berühmter und starker Ritter, der im flandrischen Fürstenrat eine herausragende Position besaß, an eben dieser Verschwörung (gegen den 1127 ermordeten Karl v. Flandern) teilgenommen, weil er die Nichte des (Brügger) Propstes (Bertulf, Hauptfeind Karls), die Schwester des Isaac (Bertulfs Neffe), geheiratet hatte. Daher forderte ein gewisser Hermann der „Eiserne", ein kräftiger Ritter, unmittelbar nach der Ermordung Karls, in Anwesenheit des Fürsten Wilhelm Adulterinus von Ypern, den Wido zu einem Zweikampf heraus, weil dieser schändlicherweise seinen Lehnsherrn verraten habe. Wido aber sprang auf: Er werde immer bereit sein, sich wegen dieses ihm zur Last gelegten Verrates zu rechtfertigen. Und man bestimmte als Termin (des Kampfes) den Tag, an dem auch der Propst qualvoll zu Tode kam. Als der Propst gestorben war, kehrten alle, die dabei gewesen waren, sofort an den Hof zurück, an dem der Kampf zwischen Hermann dem Eisernen und Wido stattfinden sollte. Beide kämpften verbissen miteinander. Wido aber hatte seinen Gegner vom Pferd herabgestoßen, und sooft dieser versuchte, wieder hochzukommen, wurde er von Widos Lanze zu Boden gedrückt. Als sein Widersacher sich einmal genügend genähert hatte, durchbohrte Hermann mit seinem Schwert Widos Pferd. Wido stürzte von seinem Pferd, zog sein Schwert und ging auf seinen Gegner los. Es gab ein ununterbrochenes und äußerst

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Ideologische Konzeption und tatsächliches Verhalten

heftiges Aufeinandereinschlagen der beiden Gegner mit ihren Schwertern, bis sie, erschöpft durch die Last und das Gewicht ihrer Rüstungen, beide ihre Schilde wegwarfen und versuchten, durch einen Ringkampf die Auseinandersetzung schnell zu ihren Gunsten zu entscheiden. Und jener Hermann der Eiserne stürzte zu Boden. Wido warf sich auf ihn und zerquetschte mit seinen eisernen Widerhaken dessen Mund und Augen. Aber der niedergestürzte Hermann gewann, so wie man es von Antheus liest, durch die Kälte des Bodens allmählich seine Kräfte wieder. Es gelang ihm schlauerweise, Wido glauben zu machen, dieser habe gewonnen. Unterdessen schob Hermann ganz vorsichtig seine Hand bis an das untere Ende von Widos Panzer, an eine Stelle, wo dieser nicht mehr besonders geschützt war. Hermann ergriff schnell Widos Hoden, nahm dann alle seine Kräfte zusammen und stieß darauf ganz plötzlich seinen Gegner wieder von sich. Dieser reißende Stoß, der von unten ausgeführt wurde, zerstörte gleichzeitig auch die ganze Natur des (gegnerischen) Körpers, so daß Wido zu Boden stürzte, gänzlich den Mut verlor und ausrief, er sei besiegt und werde bald sterben" 2 2 .

3. Ideologische Konzeption und tatsächliches Verhalten im Spätmittelalter Das Spätmittelalter bedeutete für die ritterliche Mentalität eine besondere Herausforderung insofern, als die Diskrepanz zwischen ritterlichem Ethos und alltäglicher Lebenswirklichkeit eher noch wuchs. Auch wenn diese Aussage natürlich nur ganz allgemein gilt und jeder Einzelfall historisch differenziert betrachtet werden muß, kann doch davon ausgegangen werden, daß das Rittertum auf zentralen Feldern in seinem Selbstverständnis durch neue spätmittelalterliche Entwicklungen tangiert wurde. Nur wenig oder genauer gesagt, eigentlich gar kein Verständnis konnten spätmittelalterliche Landesherrn beispielsweise für ritterliche Fehden aufbringen. Das Verlangen des Ritters nach Durchsetzung seiner Rechte in der Form der privatrechtlichen Fehde war unvereinbar mit der Entstehung des „staatlichen" Gewaltmonopols. Die Herausbildung stehender Heere und

22 Galbertus Notarius Brugensis, D e multro, traditione et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum,

58, ed. J. RIDER (Corpus Christianorum,

Continuatio

C X X X I ) , 1994, S. 1 0 9 - 1 1 0 (aus d e m Lateinischen übersetzt).

Mediaevalis

Bd.

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Kapitel III. Ritter

großer Söldnerverbände mit stark spezialisierten Waffengattungen (englische Bogenschützen, massierter Einsatz gut ausgerüsteter Infanteristen, allmähliches Aufkommen der Artillerie), wie sie sich bereits im hohen Mittelalter abgezeichnet hatte, offenbarte die „selbstmörderische Antiquiertheit der Ritter" (H. Fuhrmann) und ließ nur noch wenig Raum für den ritterlichen Einzelkämpfer zu Pferde. Die starke Betonung ritterlicher Werte ausgerechnet im Spätmittelalter wäre dann nur als eine verständliche Reaktion auf die in Frage gestellte gesellschaftliche Führungsposition einer äußerst verunsicherten Ritterschaft zu interpretieren. Wir können trotzdem immerhin soviel sagen, daß die ritterliche Ideologie sich im späten Mittelalter nach wie vor großer Beliebtheit erfreute. Krieg und Kriegsführung galten in diesen Kreisen nach wie vor als ein ehrliches und ehrenvolles Gewerbe, wie die folgende Anekdote über den englischen Kapitän John Hawkwood zeigt, den es nach einer Tätigkeit im sog. Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich nach Italien verschlagen hatte: „Hawkwood begegnete am Stadttor von Montecchio (Stadt in Italien) zwei Brüdern, die ihm mit dem Friedensgruß entgegenkamen. ,Möge Gott eure Wünsche nicht beachten', antwortete er, ,wißt ihr denn nicht, daß ich vom Krieg lebe und daß der Frieden mich arbeitslos machen würde?' Der Erzähler der Anekdote setzte noch hinzu: Hawkwood machte seinen Job so gut, daß es in Italien damals wenig Frieden gab" 2 3 . Die Übernahme ritterlicher Ideologie auch durch solche Leute, die wie der Söldnerführer John Hawkwood gegen handfeste Bezahlung ihr militärisches Spezialistentum vermarkteten, sagt freilich noch nichts darüber aus, ob eine dem Adel zugeschriebene angebliche ritterliche Mentalität tatsächlich das konkrete Verhalten beeinflußt hat. Der niederländische Kulturhistoriker Jan Huizinga (gest. 1945) hat in seinem erstmals 1919 erschienenen berühmten Buch „Herbst des Mittelalters" von einer „politischen und militärischen Bedeutung des Rittergedankens" gesprochen und dabei die These verfochten, daß „es (das Ritterideal) die Forderungen der Strategie denen der Lebensschönheit opferte" 2 4 . Freilich sind die von ihm angeführten Belege problematisch. Das gilt beispielsweise von den „Fürstenzweikämpfen" des 23 Die Anekdote wird erzählt von M. H. KEEN, Chivalry, Nobility, and the Man-at-Arms, in: C. T. ALLMAND (Hg.), War, Literature, and Politics in the Late Middle Ages, 1976, S. 32, dem wir hier folgen. 24 J. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters,

10

1969, S. 135.

Ideologische Konzeption und tatsächliches Verhalten

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Spätmittelalters. Die Tatsache, daß sie niemals stattgefunden haben, verweist auf ihren Sinn: Die Aufforderung zum Duell, zum ritterlichen Zweikampf, wird propagandistisches Mittel der Außenpolitik. In der Literatur und Festkultur der Zeit (Turniere) kultivierte Vorstellungen über den idealen Ritter werden politisch ausgenutzt, bestimmen aber wohl kaum die Mentalität der spätmittelalterlichen „Ritter". Das zeigt auch ein Blick auf die spätmittelalterliche Kriegsgeschichte. So ist die bereits erwähnte „selbstmörderische Antiquiertheit" des Ritterstandes vor allem Ausdruck einer konservativen adligen Kriegermentalität, die nicht rasch genug auf die Wandlungen im Kriegswesen reagierte. Auch mit der angeblichen Tapferkeit der Ritterheere war es nicht immer zum besten bestellt. Die Kriegsgeschichte der Zeit bietet genügend Beispiele für Panik und Massenflucht, wie sie von uns bereits für das Hochmittelalter festgestellt wurden. Kontinuität von Hoch- zu Spätmittelalter ist auch für die angebliche ritterliche Schonung des unterlegenen Gegners zu verzeichnen: Sie verliert entschieden ihren idealistischen Glanz, denkt man an das hohe Lösegeld, das man von der Familie des Gefangenen einfordern konnte. Dessen pflegliche Behandlung erklärt sich ganz pragmatisch und ist Ausdruck eines Wirtschaftsrationalismus. Das im Zusammenhang angeblicher ritterlicher Mentalität oft zitierte Beispiel König Johanns von Böhmen, der als Lehnsmann des französischen Königs in der Schlacht von Crecy 1346 gegen die Engländer den Tod suchte und fand, ist kein Beispiel für ein typisch ritterliches Verhalten. Er fällt nicht in ritterlichem Kampf, sondern es handelt es sich eher um einen Selbstmord, der durch die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit eines Menschen ausgelöst wurde, den seine völlige Erblindung handlungs- und damit regierungsunfähig gemacht hatte. Die Ritter, die Johann von Böhmen auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin in die vordersten Linien bringen mußten, wo der Kampf am heftigsten wogte und deshalb der Tod auch am wahrscheinlichsten war, mochten vielleicht insgeheim ähnlich harsch urteilen, wie gut einhundertfünfzig Jahre früher angeblich die Gesandten des Königs Otto (des Großen) von Sachsen, der sich, folgen wir Saxo Grammaticus, mit der Aufforderung zum Zweikampf konfrontiert sah: „Als König Wermund (von Dänemark) durch die Last des Alters das Augenlicht verloren hatte, glaubte der sächsische König, daß Dänemark keinen Führer mehr habe. Er schickte zu ihm Gesandte mit der Aufforderung, ihm, Otto, das Reich, das er noch innehabe, obwohl er bereits zu alt dafür sei, zu übertragen, damit Wermund nicht länger das Vaterland seiner Machtbegierde zuliebe an Recht und Einfluß mindere. Wie könne nämlich

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Kapitel III. Ritter

einer als König gelten, dem das Alter den Mut genommen, dem die Blindheit das Auge mit dem Schrecken der Finsternis erfüllt habe? Lehne Wermund seinen Vorschlag ab und habe er einen Sohn, der es wage, mit seinem eigenen Sohn auf diese Herausforderung hin zu kämpfen, dann solle er zulassen, daß der Sieger das Reich bekomme. Wenn er keinem der beiden Vorschläge zustimme, dann müsse mit Waffengewalt, nicht mit Ermahnungen durchgesetzt werden, daß Wermund schließlich auch gegen seinen Willen das herausgebe, was freiwillig zu geben er ablehne. Darauf antwortete Wermund, innerlich gebrochen, unter tiefen Seufzern: In unverschämter Weise verletze man ihn durch den Vorwurf des Alters. Seine unglückliche Situation im Alter verdanke er nicht dem Umstand, daß er in seiner Jugend als ein Feigling zuwenig gekämpft habe. Es sei nicht angebracht, ihm seine Blindheit zur Last zu legen, weil sehr häufig ein solches Alter eine derartige Behinderung zur Folge habe. Man müsse mit einem solchen Unglücklichen eher Mitleid haben als über ihn zu lachen. Man könne gerechterweise dem König von Sachsen seine Ungeduld zur Last legen, der doch eher das Ende des alten Königs abwarten solle als schon jetzt sein Reich zu fordern, weil es wesentlich besser sei, einem Toten nachzufolgen als einen Lebenden zu berauben. Um aber nicht als ein schwachsinniger Greis einer fremdländischen Macht die Rechtstitel der altehrwürdigen (dänischen) Freiheit übertragen zu müssen, wolle er eigenhändig der Aufforderung zum Kampfe Folge leisten. Darauf antworteten die Gesandten, sie wüßten, ihrem König sei das lächerliche Schauspiel, mit einem Blinden zu kämpfen, zutiefst zuwider, ein solcher Kampf sei ein Gegenstand öffentlichen Spottes; er stelle ein solches lächerliches Mittel der Entscheidung dar, welches eher geeignet sei, Schande als Ehre einzutragen" 25 . Das Beispiel des blinden Königs Johann kann also schwerlich als ein Beispiel mittelalterlicher Ritterlichkeit angeführt werden. Man wird für das Spätmittelalter angesichts der vielen Kriege und Raubzüge eher davon ausgehen müssen, daß militärische Greuel und Grausamkeiten zunahmen. Die mittelalterliche Kriegsgeschichte kennt genügend Beispiele für ein schonungsloses brutales Verhalten der Ritter. So hatte die berühmte Schlacht von Tagliacozzo 1268 zwischen dem jungen Staufer Konradin und dem sizilischen König Karl I. von Anjou auf staufischer Seite „mit einem brutalen

25 Saxo Grammaticus, Gesta Danorum IV, IV 1-2, (ed. OLRIK/RAEDER, Bd.l, S. 97) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Bibliographie

Akt" begonnen und wurde von beiden Seiten erbittert geführt, wobei nach dem Urteil des wohl besten Kenners „vom Ethos des mittelalterlichen Kampfes nichts zu spüren (war)" 26 . Man sollte also vorsichtig sein mit diesbezüglichen Etikettierungen, was die angebliche „Ritterlichkeit" in der mittelalterlichen Kriegsführung angeht. Krieg war und Krieg ist immer grausam.

4. Bibliographie Allgemein: W. PARAVICINI, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, 1994 (mit umfassender Bibliographie); J. BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde, 1986, hier: Bd. 2, S. 6 4 - 7 0 (über Ritterbegriff und Ritterstand); CH. HARPERBILL/R. HARVEY (Hgg.), The Ideals and Practice of Médiéval Knighthood, 1986; M. H. KEEN, The Chivalry, 1984 (dt.; Das Rittertum, 1987); A. BORST (Hg.), Das Rittertum im Mittelalter, 1976; M. BLOCH, La société féodale, 1939 (dt.; Die Feudalgesellschaft, 1982); F. CARDINI, Der Krieger und der Ritter, in: J. LE GOFF (Hg.), Der Mensch des Mittelalters, 3

1994, S. 87-129; A. SCHULTZ, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesänger, 2 Bde, 2 1889

(Ndr. 1965); W. H. JACKSON (ed.), Knighthood in Médiéval Literature, 1981. Entstehung des Ritterstandes: J. FLECKENSTEIN, Die Entstehung des niederen Adels und das Rittertum, in: DERS., Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters, 1989, S. 333-356; DERS., Zum Problem der Abschließung des Ritterstandes, in: Ordnungen und formende Kräfte, S. 357-376; F.-R. ERKENS, Militia und Ritterschaft, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 623-659. Hochmittelalter: A. BORST, Das Rittertum im Hochmittelalter. Idee und Wirklichkeit, in: DERS. (Hg.), Rittertum im Mittelalter, 1976, S. 212-246; G. DUBY, Le dimanche de Bouvines, 27 juillet 1214, 1973 (dt.: Der Sonntag von Bouvines 27. Juli 1214, 1988); DERS., Guillaume le Maréchal ou le meilleur chevalier du monde, 1984 (dt.: Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter, 1986); J. FLECKENSTEIN (Hg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter 1985; DERS., Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland, ebd., S. 229-256. Rittertum und Marienverehrung : K. SCHREINER, Maria, 1994, S. 319-330. Spätmittelalter: J. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters,

10

1969, S. 8 8 - 1 5 0 ; G. JÄGER, Aspekte des

Krieges und der Chevalerie im XIV. Jahrhundert in Frankreich, 1981 ; G. T. DILLER, Attitudes chevaleresques et réalités politiques chez Froissait, 1984; R. SABLONIER, Rittertum, Adel und Kriegswesen im Spätmittelalter, in: J. FLECKENSTEIN (Hg.), Das ritterliche Turnier

26 P. HERDE, Karl der Erste von Anjou, 1979, S. 60.

78

K a p i t e l III. Ritter im Mittelalter, 1985, S. 532-570; W. PARAVICINI, Die Preußenreisen des europäischen Adels, 1989 (insb. S. 288-333 über spätmittelalterliche adlig-ritterliche Lebensweise); A. RANFT, Adelsgesellschaften, 1994.

Zum militärischen Aspekt: J. F. VERBRUGGEN, The Art of Warfare in Western Europe during the Middle Ages from the Eigth Century to 1340, 1977; PH. CONTAMINE, La Guerre au Moyen Age, 1980; V. SCHMIDTCHEN, Kriegswesen im späten Mittelalter, 1990.

Kapitel IV. Kirche 1. Bischöfe und Äbte

2. Priester

3. Mönche

4. Bibliographie

1. Bischöfe und Äbte Wenn wir uns jetzt - nach der Besprechung von Adel und Rittertum - der Kirche (ecclesia) zuwenden, dann haben wir es, folgen wir einer im Mittelalter vielfach vertretenen und von uns bereits erwähnten Gesellschaftstheorie 1 , mit d e r führenden gesellschaftlichen Gruppe, den Betern (oratores) zu tun. Es versteht sich von selbst, daß die Mentalität eines so großen Kollektivs, das in sich wiederum stark differenziert ist, nicht als Gesamtheit darstellbar ist. Wir haben vielmehr verschiedene Gruppen zu unterscheiden und beginnen mit der hierarchischen Spitze, den Bischöfen (Episkopat). Wichtig und entscheidend für die Feststellbarkeit bischöflicher Mentalität ist die Tatsache, daß es sich bei den Bischöfen im allgemeinen um eine sozial homogene Gruppe handelt. Bereits die ältere Forschung war sich dieser Tatsache bewußt. So hatte schon 1910 der deutsche Historiker A. Schulte in seinem Buch „Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter" die Tatsache unterstrichen, daß die mittelalterliche Kirche in ihren höheren Funktionsträgern eine Adelskirche gewesen ist. Dieses Charakteristikum gilt unvermindert auch für die katholische Kirche der frühen Neuzeit. Es wird also zu fragen sein, inwieweit der mit dem Adel gemeinsame soziale Hintergrund die Mentalität der Bischöfe beeinflußt hat. Um Mentalitäten des Episkopats feststellen zu können, bietet sich für das frühe und hohe Mittelalter ein besonderer historiographischer Quellentypus

1

Vgl. oben Kapitel II, S. 3 9 - 4 1

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Kapitel IV. Kirche

an. Es handelt sich um die sog. gesta episcoporum, „Tatenberichte" der Bischöfe einer Diözese. Häufig geht es in solchen Quellen nicht oder nur wenig um spirituelle Tugenden, sondern um ganz handfeste, praktische Lebenstüchtigkeit von Bischöfen. Im Rahmen unserer Fragestellung als besonders aussagekräftig erweist sich die Geschichte der Eichstätter Bischöfe des Anonymus Haserensis. Das altehrwürdige Bistum Eichstätt, im 8. Jahrhundert vom angelsächsischen Missionar Willibald (gest. um 787) begründet, war zwar das kleinste, aber dank seiner strategischen Lage nicht das unbedeutendste deutsche Bistum und hatte mit Viktor II. (1055-1057) sogar einen Papst gestellt. Freilich geriet das Eichstätter Bistum, als in den siebziger Jahren des elften Jahrhunderts der große Streit zwischen König Heinrich IV. (1056-1106) und Papst Gregor VII. (1073-1085) ausbrach, in eine ausgesprochen schwierige Situation. Ein Anliegen des für uns anonym bleibenden Autors aus dem benachbarten Stift Herrieden bestand darin aufzuzeigen, daß Treue zum Kaiser und Treue zur Kirchenreform sehr wohl miteinander vereinbar waren. Diese apologetische Zielsetzung des Autors gilt es also bei der Interpretation seiner Bischofsbiographien immer mit im Auge zu behalten. Dennoch sind ungeachtet aller anekdotischen Verklärung mentalitätsgeschichtliche Einblicke möglich, wie das Beispiel des vom Autor nicht ohne Sympathie geschilderten Bischofs Megingaud von Eichstätt (991-1015) zeigt: „Er (Bischof Megingaud) selbst hat mit größter Lust gegessen, und deshalb mißfiel ihm ein Name, der vom Wort ,Fasten' abgeleitet war. Er pflegte ferner sehr häufig nach der Sitte seiner Vorgänger Besuch zu machen. Wenn er dorthin kam und ihn die Brüder nach gewohnter Art empfangen wollten, gab er ihnen, sobald ein kurzer Psalm gesungen war, das Zeichen, nicht mehr weiter zu singen; und saß er bei Tisch, schickte er den Brüdern entweder einen großen Eber oder etwas derartiges mit der Bemerkung: .Bringe dies jenen Dienern Gottes, die mich soeben so ehrerbietig und bestens empfangen haben.' Er war nämlich in allen gottesdienstlichen Handlungen ein Freund der Kürze und er wollte immer lieber eine kurze Messe als ein kurzes Essen. Als er daher einmal am heiligen Tag des Osterfestes bei dieser Gelegenheit die öffentliche Messe feierte und als man schließlich dazu gekommen war, die Sequenz zu singen, und sie der Vorsänger in gewohnter Weise feierlich anstimmte, da rief der Bischof zornentbrannt den Archidiakon und befahl ihm, schleunigst das Evangelium zu lesen. ,Die da', sagte er, ,sind ja verrückt und bringen mich mit diesem allzu langen Gesang durch Hunger und

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Durst noch um. Ihr Dummköpfe! Noch bevor die Sequenzen hier zu Ende gebracht wären, hat man ja mehrere gottgefällige Messen gesungen.' ... Er pflegte auch mitunter leichtfertig zu fluchen, aber ohne irgendeine bittere Gehässigkeit. Als er, im Begriffe nach Rom zu reisen, von den Brüdern schließlich den Sündennachlaß für hundert Flüche erlangt und nachdem er diese alle in kürzester Zeit verbraucht hatte, soll er einen Boten zurückgeschickt und um weitere Dispens gebeten haben; doch auch diese hat er nachher in Maß und Zahl weit überschritten. ... Als einmal einer von den königlichen Dienstleuten, der in seinen Kreisen recht angesehen war, auf der Durchreise vorbeikam und um Verköstigung bat, wurde er vom Bischof gefragt, weshalb er auf einem so langen Weg - er hatte nämlich noch eine ziemlich weite Reise vor sich, deren Ziel mir nicht bekannt ist - nicht einen eigenen Reiseproviant bei sich trage. Als dieser beteuerte, er habe nichts dabei, und, wie gewöhnlich, fadenscheinige Ausreden als Entschuldigung vorbrachte, nahm er in schamloser Weise die Speise an, eine Sünde wegen der Unehrlichkeit des Menschen. Während des Mahls freilich, als der Bischof herausbekommen hatte, daß dieser ziemliche Mengen an Proviant mit sich führte, ließ er ihn vom Tisch wegziehen und mit Peitschen angehen und befahl ohne Rücksicht auf dessen Zugehörigkeit zur königlichen Dienstmannschaft, daß die Lüge des Mundes mit der Geißelung des Rückens bestraft werde. ,Königliche Dienstleute sollten nicht lügen', meinte er dabei, zumal er selbst bereit sei, sein Hab und Gut ehrlichen Leuten zu schenken. Als sich dieser umgewandt hatte und zornigen Sinnes verschwinden wollte, erhielt er einen langen Umhang aus Marderpelz und wurde in Frieden entlassen, zwar auf beschwerliche Weise gebessert, aber ehrenvoll beschenkt und völlig versöhnt. ... Diese beiden Bischöfe (gemeint sind der Würzburger und der Eichstätter Bischof) standen im übrigen in enger freundschaftlicher Verbindung zueinander ... Als unserer wieder einmal im Herbst die üblichen Geschenke geschickt hatte und der erhofften Gegengabe an Wein erwartungsvoll entgegensah, da sandte sein Amtsbruder, der sich einen köstlichen Scherz erlauben wollte, zwar zehn Wagenladungen ausgesuchten Weines an ihn, hielt ihn aber vorher in witziger Weise zum besten. Sein vorausgeschickter Bote nämlich warf die Säcke, mit denen die (an Würzburg gegangenen Eichstätter) Pelze transportiert wurden, angefüllt mit Most verachtungsvoll dem Bischof vor die Füße und sagte ohne irgendeinen Gruß: ,Siehe, mein Herr hat Euch Eure bescheidenen Geschenke zurückgegeben, die seiner unwürdig sind und die Ihr dringend benötigt.' ,Du Lump', entgegnete dem der Bischof, ,Dein Herr war solch edler Geschenke gar nicht wert und hat daher mit Recht das zurück-

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geschickt, von dem er erkannt hat, daß es seine Verhältnisse übersteigt. Der närrische König wußte nicht, was er tat, als er einem solchen Menschen ein derartiges Bistum übertrug'. Darauf schlitzte der Bote mit einem gezückten Messer ganz wahllos die Säcke auf und reizte durch den herausgeflossenen Most den Bischof zu größtem Zorn. Der schrie nämlich mit lauter Stimme und rief: ,Du Hurensohn, hat Dein Herr es wirklich gewagt, mich so offen zu verspotten? Beim heiligen Willibald, Du wirst Deine Augen nicht mehr haben, wenn Du von mir weggehst!' (Kurz darauf trifft aber tatsächlich das vom Eichstätter Bischof erwartete Weingeschenk seines Würzburger Amtsbruders ein und Megingaud ist unversehens bester Laune:) .Gepriesen bei Gott dem Herrn sei mein liebster Freund, gepriesen seine Geschenke! Wahrhaftig eine Zierde ist er unter den Würzburger Bischöfen. Der weise Kaiser konnte dieses vornehmste Bistum niemals besser besetzen.' So rasch war jene Schmähung in eine Lobrede verwandelt, so rasch aus dem so unwürdigen (Würzburger) ein so glänzender Bischof geworden. Du würdest es gar nicht glauben, wie dieser Bote beschenkt worden ist. So ein Mensch war er; wenn er soeben noch aufs heftigste aufbrauste, wurde er kurz darauf so sanft wie ein Lamm. Wenn er am Ende gar, ohne gegessen zu haben, bisweilen jemanden ziemlich hart anfuhr, so klagte er sich nach der Mahlzeit unter Tränen selbst an und versicherte, nur wegen der Ungeduld seines Magens habe er die unschuldigen Leute des heiligen Willibalds mißhandelt. ... Wenn er an den Hof kam, pflegte er, wenn der Weg morastig war, bis unmittelbar vor die Türe des königlichen Gemachs zu reiten. Als die anderen Bischöfe fanden, dies gezieme sich nicht, brachte er sie mit folgenden Worten zum Schweigen: ,Ihr Dummköpfe, sollte ich mich etwa wegen Eurer hohlen Benimmregeln wie ein lumpiger Knecht mit Schmutz bespritzen? Was nützt mir mein Reitpferd, wenn ich als verdreckter Wanderer an den Hof komme?' Wenn die anderen Bischöfe beim Vorbeigehen des Kaisers mit der gebührenden Ehrerbietung aufstanden, jener aber sitzenblieb und die übrigen dies tadelten, rechtfertigte er sein Verhalten ganz einfach, indem er erklärte: ,Ich bin der ältere Verwandte, und den Älteren zu ehren, befehlen sowohl die Schriften der Heiden wie die der Kirche'" 2 . Auch wenn wir im vorliegenden Fall die anekdotische Verklärung und die literarische Brechung immer mit in Anschlag zu bringen haben, so lassen die Quellenzitate doch immerhin erkennen, daß adliges Selbstbewußtsein

2

Wir folgen der Übersetzung von S. WEINFURTER, Die Geschichte der Eichstätter Bischöfe des Anonymus Haserensis, 1987, S. 7 8 - 8 3 .

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und adliges Verhalten, „adlige" Mentalität, die „bischöfliche" Mentalität prägt oder diese überlagert. Zu unverkennbar ist das adlige Standesbewußtsein, der Stolz auf die eigene Herkunft und Familie, die Bischof Megingaud erfüllen und seine Selbstsicherheit auch gegenüber dem König stützen, der als adliger Standesgenosse eben nur den Anspruch erheben kann, primus inter pares (erster unter gleichen) zu sein. Adlige Mentalität bestimmt auch sein Verhalten gegenüber gesellschaftlich Rangniederen. Der geschilderte Konflikt mit dem königlichen Dienstmann, also einem aller Wahrscheinlichkeit nach Unfreien, auf jeden Fall aber einem Nichtadligen, wird auf adlige Weise gelöst. In „Herrenmanier" wird ein „Nichtsatisfaktionsfähiger" seinem unfreien Stand entsprechend bestraft, indem man ihn einer entehrenden Strafprozedur unterwirft und wie einen Sklaven auspeitschen läßt. Die Frage, ob er dies überhaupt tun durfte, ob er das Recht dazu hatte, hat sich Megingaud wohl zu spät gestellt. Ausdruck seines schlechten Gewissens oder genauer: seiner Angst vor der königlichen Reaktion, ist der Versuch, durch großzügige Geschenke den so hart und so entehrend bestraften Dienstmann zu versöhnen. Analog verhält es sich im Fall des Würzburger Boten. Ihm droht der Eichstätter Bischof, als die erwartete Weinlieferung anfänglich ausbleibt, die Augen ausstechen zu lassen. Lax und großzügig auch der Umgang mit den Geboten der Kirchenzucht. Der persönliche Frömmigkeitsstil ist insoweit adlig geprägt, als er sich durch allzu beengend eingeschätzte kirchliche Vorschriften nicht beeindrucken läßt, zumal wenn diese die adlige Festkultur, das großzügige Feiern und das dazugehörende aufwendige Essen, beeinträchtigen könnten. Die Arbeit, das kirchliche Amt, der „ B e r u f , werden weniger als Berufung, denn als etwas Lästiges, Nebensächliches empfunden. Ein Zeichen adliger largitas (Freigiebigkeit) ist der großzügige Umgang mit kostspieligen Geschenken, die man seinem Standesgenossen, hier dem Würzburger Bischof, macht. Man braucht eben finanziell nicht auf den Pfennig zu schauen oder mit der Mark zu rechnen. Freilich wird genau auf den Wert des gemachten Geschenkes geachtet. Geschenk und Gegengeschenk haben einander zu entsprechen und verpflichten einander. Daß bischöfliche Mentalität und adlige Mentalität im Mittelalter auf das engste miteinander verwandt waren, zeigt sich auch in einem identischen Verhalten gegenüber nichtadligen Standesgenossen. Weltlicher wie bischöflicher Adel reagierten ähnlich unfreundlich und ungehalten auf den sozialen Aufsteiger, den social climber, wie ihn die Soziologie bezeichnet. Das soziale Milieu erwies sich als ziemlich undurchlässig, und man versuchte - sehr oft erfolgreich -, den homo novus regelrecht herauszubeißen. Die mangel-

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hafte Akzeptanz des Emporkömmlings im Kreise der Alteingesessenen machte ihn naturgemäß besonders abhängig von einem mächtigen Förderer, und darin lag gleichzeitig der Vorteil für den König. Denn allenfalls mit der Hilfe eines von ihm abhängigen Günstlings, der aufgrund der Ungunst seiner niederen Herkunft nicht mit dem alteingesessenen Adel liiert und daher auch nicht oder noch nicht in die adlige Solidarität eingebunden war, konnte der König hoffen, adligen Widerstand zu brechen. Freilich war auch in einem solchen Fall noch immer mit Widerstand zu rechnen, hatte der Bischof doch auch auf seine adligen Lehnsleute Rücksicht zu nehmen. Auch für diese Konfliktsituation bietet wiederum die Eichstätter Bistumsgeschichte ein anschauliches Beispiel: „Als der allerchristlichste Kaiser Heinrich (II.) die Gründung des königlich ausgestatteten Bistums Bamberg nur vollenden konnte, indem er von den umliegenden Diözesen Bistumsgebiete erwarb, hat sich allein unser Streiter Gottes (gemeint ist Bischof Megingaud), gestützt auf seinen Charakter und seine Herkunft, ihm standhaft widersetzt und wollte sich bis an sein Lebensende in keiner Weise mit dem nachteiligen Tausch abfinden. Nachdem jener segensvoll gestorben war, da sprach der listige Kaiser das Bistum Eichstätt, das von den Anfängen bis zur damaligen Zeit von adligen und hervorragendsten Männern geleitet worden war, nun schließlich einer unfreien Person zu und übertrug es einem gewissen Gunzo, dem Kustos der Bamberger Domkirche, damit er das besagte Vorhaben ausführe. Als unter diesem Bischof der Kaiser, der es mit der Verwirklichung seines Planes eilig hatte, den genannten Tausch rasch zum Abschluß bringen wollte und jener neue Bischof, gestützt auf den Rat seiner Kapelläne und seiner damals bedeutendsten Vasallen, beständig Widerstand leistete, soll der Kaiser zornentbrannt gesprochen haben: ,Gunzo, was höre ich da von Dir? Weißt Du nicht, daß ich Dich nur deswegen zum Bischof jenes Ortes gemacht habe, weil ich meinen Willen bei Deinem Vorgänger (Megingaud), obgleich er mein Verwandter war, nicht durchsetzen konnte und damit ich mein Vorhaben mit Dir, der Du Dich nun genauso benimmst, ohne Verzögerung zur Ausführung bringe? Hüte Dich, damit ich nie wieder so etwas von Dir höre, wenn Du das Bistum und meine Gnade behalten willst!' Als er dies vernommen hatte, fügte sich zwar der Bischof; der Klerus aber und die Vasallität verharrten so hartnäckig im Widerstand, daß der verabscheuenswerte Tausch mehr unter Zwang als freiwillig zustandekam" 3 .

3

WEINFURTER ( w i e A n m . 2 ) , S . 8 3 .

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Versuchen wir ein erstes Fazit. Wir können, wenn wir bereit sind, der Eichstätter Bistumsgeschichte über den Einzelfall hinaus eine gewisse Repräsentativität zuzubilligen, bischöfliche Mentalität in vielen Fällen als adlige Mentalität deuten und verstehen, haben diesen Vorgang jetzt aber auch zu erklären. Warum wird ausgerechnet das bischöfliche Amt zur Plattform adligen Handelns und Agierens? Zwei unterschiedliche, gleichwohl aber einander ergänzende Begründungen können dafür in Anschlag gebracht werden: eine stärker allgemeinhistorisch orientierte und eine primär geistesgeschichtliche. Der historische Erklärungsansatz verweist auf den Umstand, daß sich bereits in der frühmittelalterlichen Gesellschaft (5. bis 8. Jahrhundert) die Bischofsämter als überaus geeignete Positionen zur Ausübung adliger Herrschaft erwiesen. Denn an die Stelle einer häufig genug verkümmerten oder gar zusammengebrochenen spätantiken städtischen Verwaltungsorganisation traten zunächst vor allem in den romanisch geprägten Gebieten Bischöfe, die sich keineswegs auf ihre kirchlichen Aufgaben beschränkten, sondern, modern formuliert, fast alle hoheitlichen, staatlichen und kommunalen Aufgaben wahrnahmen. Auch in der folgenden karolingischen Zeit (8. bis 10. Jahrhundert) und dann im Hochmittelalter ändert sich das Bild nicht. Die Bischöfe gehören zu den wichtigsten politischen Handlungsträgern. Da gesellschaftliche Konflikte in einer Zeit ausgetragen wurden, die das politische Gewaltmonopol des „Staates" allenfalls in Ansätzen kannte, führten sie häufig genug zu militärischen Auseinandersetzungen der verfeindeten Parteien untereinander. Da andererseits die Bischöfe gezwungen waren, „Partei" zu ergreifen, ließen sich adliges Kriegerethos und bischöfliche Mentalität häufig nicht voneinander trennen, flössen vielmehr in eins. Erleichtert wurde diese Verschmelzung auch durch geistesgeschichtliche Traditionen. Zwar ging man, wenigstens in der politischen Theorie der Zeit, beispielsweise im Rahmen der sogenannten Zwei-Schwerter-Lehre, davon aus, daß geistlicher und weltlicher Bereich voneinander getrennt seien, doch deutet bereits die einschlägige militärische Terminologie darauf hin, wie eng sie in der Realität beieinanderlagen. Die Verstrickung des Bischofs, der ja immer auch Lehnsherr seiner adligen Vasallen war und spätestens seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert in die Rolle eines Territorial- bzw. Landesherrn hineinwuchs, sorgte dafür, daß geistliches und weltliches Schwert von ein und derselben bischöflichen Hand geführt wurde. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür bietet die bald nach dessen Tode entstandene Lebensbeschreibung des Kölner Erzbischofs Engelbert (1216-1225), der nicht nur das Schwert zu führen wußte, sondern der auch durch das Schwert umkom-

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men sollte. Der Autor der Lebensbeschreibung, der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach (gest. 1240), charakterisiert den Erzbischof wie folgt: „Auf den heiligen Engelbert scheint zuzutreffen, was Salomo (Hohelied 2,6) der Kirche in den Mund legt: ,Seine, d. h. Christi, Linke liegt unter meinem Haupt, und seine Rechte herzet mich'. Die Linke des Bräutigams meint die leiblichen und irdischen Güter, die Rechte aber die geistigen und himmlischen. Leibliche Güter sind Adel der Geburt und der Sitten, Kraft und Schönheit des Körpers. Die Güter der Rechten sind die heiligen Tugenden, die die Seele hier auf Erden erleuchten, und das ewige Leben, das man sich durch die Tugenden verdient ... Wie stark er auf Erden durch die Güter der Linken gestützt und von ihnen gehalten wurde, will ich (Caesarius von Heisterbach) kurz ausführen. ... Seiner Abstammung nach war er ein sehr vornehmer und angesehener Mann, der Sohn des Grafen Engelbert von Berg. Seine Oheime waren die Erzbischöfe Friedrich und Bruno von Köln. Adolf aber, der dem Bruno als Erzbischof folgte, war der Sohn seines Onkels. Seine Mutter war die Tochter des Grafen von Geldern, eines reichen und mächtigen Herrn; Bischof Dietrich von Münster und Engelbert, der Erwählte von Osnabrück, waren die Enkel seines Oheims. Seht, aus so vornehmem und erlauchtem Geschlecht stammt unser Märtyrer leiblich ab. Auch in seinem inneren Wesen schlug er nicht aus der Art; er war nämlich schon zu Beginn seines Lebens ein kluger und liebenswürdiger Knabe, besaß nach dem einen Teil seines Namens das Gesicht eines Engels, war umgänglich, freigebig, sehr demütig und sehr gefällig. Als er aus den Knabenjahren herauskam und zum Jüngling reifte, trachtete er, sich so allseitig auszubilden, daß er sich den Geistlichen als Geistlicher und den Rittern als Ritter erwies. In diesem Alter war seine Schönheit sogar so groß, daß man unter allen Klerikern und Laien keinen schöneren Mann finden konnte. Er war anmutig in seiner Erscheinung, schlank von Wuchs und stark an Kräften, so daß es schien, als ob sich Mutter Natur über die einzigartigen Vorzüge einer solchen Gestalt mit freue und darin wie in einem Spiegel wiederscheine. ... Denn zu Anfang seiner Wahl erweckte ihm der Teufel, der Feind allen Friedens, der ,macht, daß das tiefe Meer siedet wie ein Topf' (Hiob 41,22), sehr heftige Gegner, Graf Dietrich von Kleve und Walram, Herzog von Limburg und Graf von Luxemburg, sowie deren Verwandte und Verbündete, damit sich an ihnen der künftige Makkabäus erprobe. Die beugte und unterdrückte er so, daß sich durch ihr Beispiel die übrigen Grafen und Adligen des Landes schrecken ließen und nicht gegen ihn aufzubegehren wagten; sie

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fürchteten, das Schicksal zu erleiden, von dem einer (Horaz, Episteln I 18, 84) sagt: ,Dich geht es nämlich schon an, wenn des Nachbarn Gehöft steht in Flammen'. Walram hatte eine Burg und einen Marktflecken im Kölner Herzogtum erbaut; die ließ der Herr erwählte Erzbischof zerstören und dem Erdboden gleichmachen. ... Auf einer Fürstenversammlung zu Aachen krönte er (Engelbert) den Knaben Heinrich (Sohn Friedrichs II.) zum König, den er wie einen Sohn aufzog und wie einen Herrn ehrte. Mit ihm und ohne ihn reiste er durch die verschiedenen Teile des Reichs und erreichte einen solchen Friedenszustand, daß man an die Zeiten des Augustus hätte denken können. Die Raubritter und die Fehdelustigen, die solche trefflichen Werke sahen, neideten dem Erzbischof diesen Ruhm, so wie man es von Jonathan liest (vgl. 1. Makkabäer 9,58ff; 10,61 ff.), und verzehrten sich darum; aber die Guten und besonders die Kaufleute lobten und rühmten ihn und priesen Gott, weil er ihm solche Macht verliehen hatte. Eines Tages bat ein Kaufmann einen Erzbischof des Reichs um Geleit durch gewisse Teile seiner Diözese, wobei Engelbert Ohrenzeuge war. Als jener die Schlechtigkeit der Adligen und Ritter, die dort ansässig waren, vorschützte und ihm so das Geleit zu gewähren abschlug, schalt der ehrwürdige Erzbischof Engelbert den Erzbischof nicht, sondern hatte Mitleid mit dem Bittenden und wandte sich an ihn mit den Worten: ,Guter Mann, sag mir, ob du dich unter mein Geleit zu stellen wagst!' Als der ohne Schwanken antwortete: ,Ja, Herr', erwiderte unser Makkabäus: ,Nimm meinen Handschuh hier und, wenn du es nötig hast, zeige ihn als Ausweis vor! Und wenn man dir etwas gewaltsam entwendet, werde ich dir allen Schaden ersetzen'. Der handelte danach und brachte mit Hilfe seines Unterpfands oder vielmehr durch die Furcht vor dem Erzbischof sein Hab und Gut ungefährdet hindurch. So wie geschrieben steht von Judas Makkabäus, ,wurde er einem Löwen ähnlich in seinen Werken' und ,schützte das Heer Israels', d.h. die Güter der ihm anvertrauten Kirche, ,mit seinem Schwerte' (1. Makkabäer 3, 4 Anfang und 3 Ende). Wie man sagt, ist es die Natur des Löwen, die zu Boden Geworfenen zu schonen und die Aufrechtstehenden anzufallen. Unser Löwe, unser Makkabäus, verstand es dank seiner edlen Natur und seines Eifers für Gerechtigkeit, ,daß er den schont, der sich fügt, den bekämpft, der sich gegen ihn wendet' (Vergil, Aeneis VI, 853) ... er war großherzig und demütig, ehrfurchtgebietend und leutselig, streng und milde; vieles übersah er eine Zeitlang absichtlich und schritt, wenn man es am wenigsten erwartete, zur Strafe. Mit dem Erzbistum hatte er ja das geistliche und mit dem Herzogtum das weltliche Schwert erhalten. Mit beiden Schwertern hielt er die

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Widerspenstigen in Zaum, exkommunizierte die einen und kämpfte die anderen mit Heeresmacht nieder" 4 . Auch im Falle der Äbte können wir, wie schon zuvor bei den Bischöfen, davon ausgehen, daß adlige Mentalitätszüge das Bild dieser zweiten wichtigen kirchlichen Führungsgruppe wesentlich geprägt haben dürften. Bereits die organisatorische und rechtliche Grundlage für das benediktinische Mönchtum, die Regel des heiligen Benedikt von Nursia (gest. um 560), erweist sich unübersehbar von militärischem Sprachgebrauch beeinflußt 5 : das Geschlecht der Mönche, das unter der Regel und unter dem Abt kämpft (militans)\ man kämpft (pugnare) gegen den Teufel; der Abt ist der Vorgesetzte (maior); er befiehlt und bestimmt (constituere vel iubere); er hat das Sagen (praeesse) und durch sein Verhalten verweist er auf die göttlichen Gebote (factis suis divina praecepta monstrare)', seine Vorbildfunktion schließt das Schelten und das Strafen mit ein (increpare und corripere); ja sogar vom Abschneiden (amputare) des Übels auch durch körperliche Züchtigung (castigatio corporis) ist die Rede. Wie der Bischof, so ist auch der Abt ein Verantwortungsträger, denn er muß nicht nur über sein eigenes Verhalten, sondern auch über dasjenige der ihm anvertrauten Mönche vor Gott Rechenschaft ablegen. Der Mönch Andreas von Fleury (gest. vor 1056), der in dem vom cluniazensischen Reformgeist erfaßten Kloster Fleury nahe Orléans lebte, hat eine Vita seines Abtes Gauzlinus (1004-1030) geschrieben, die zu den wertvollsten historischen Zeugnissen aus dem Frankreich des 11. Jahrhunderts gehört und das Anforderungs- und Qualifikationsprofil eines Abtes verdeutlicht. In Analogie zu Caesarius von Heisterbach beginnt auch Andreas seine Biographie mit einer Bemerkung zur hochadligen Herkunft seines Helden, die ihn wie keinen anderen zur Herrschaft befähige: „Als Abbo seligen Angedenkens den Hof des himmlischen Vaterlandes, den er sich mit seinem seligen Märtyrerblut erworben hatte, betrat, wurde an seine Stelle Gauzlinus, der größtes Ansehen in der Welt genoß und die Tugend der Klugheit besaß, zur Leitung der Kirche von Fleury bestellt. Er soll als Freier von Geburt an aus einem der bedeutendsten Geschlechter von ganz Gallien abstammen. Ganz sicher stand er in der Verwaltung der Dinge von öffentlichem Belang seinen Vorgängern in nichts nach; von Natur aus 4

Caesarius von Heisterbach, Leben, Leiden und Wunder des heiligen Erzbischofs Engelbert v o n K ö l n , ü b e r s e t z t v o n KARL LANGOSCH, 1 9 5 5 , S . 3 1 - 3 3 , 3 7 , 3 9 - 4 1 .

5

Vgl. dazu E. MANNING, La signification de „militare" - „militia" - „miles" dans la règle de Saint-Bénoît, in: Revue Bénédictine 72 (1962), S. 135-138.

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eifrig, zeichnete er sich auch durch seinen Eifer in den göttlichen wie in den weltlichen Wissensgebieten aus; und um ein geläufiges Sprichwort zu zitieren: ,das Werk lobt seinen Schöpfer'" 6 . Es steht in Einklang mit diesem Bild, wenn Gauzlinus als der militärische Führer einer auserlesenen vornehmen Kriegerschar beschrieben wird, wobei wohl nicht zufällig wiederum der schon bei Caesarius zitierte Vergleich mit dem biblischen Kriegshelden Makkabäus gezogen wird: „Ihr Anführer (Gauzlinus) war mächtig durch die gleichsam eine Schlachtordnung bildenden ausgezeichneten Männer (gemeint sind die zuvor erwähnten gelehrten Mönche von Fleury). Seine Rechte verkündete das Gesetz, die Linke seinen flammentragenden Ruhm. Er hat den Heldentaten jenes Makkabäus nachgeeifert, der die Grenzen des väterlichen Reiches durch seine Kriegstaten ausgeweitet hat. So sann auch er mit vergleichbarem Verlangen wachsam auf die Ausdehnung des klösterlichen Besitzes" 7 . Auch die Äbte führen Krieg. Es ist ein Krieg um den weltlichen Besitz des Klosters, den man für entfremdet hält von den Rittern oder vom zuständigen Diözesanbischof. Um Besitz zu gewinnen oder wieder zu gewinnen, führt man - das Beispiel des Gauzlinus zeigt es - kleinere oder größere Kriege, wobei man sich der zeitlosen, ewig gleichen Mittel bedient: nicht immer der offenen Gewalt, wohl aber der List, der Bestechung, der Druckausübung: „Außerdem übertrug einer seinen beträchtlichen Besitz, nämlich das Grundstück Fraxineda, der Gemeinschaft von Fleury. Dieser Schenkung widersetzte sich einer seiner Nachkommen, ein gewisser Hildebert, auf das heftigste. Die Schenkung machte er dadurch hinfällig, daß er sie selbst zu nutzen begann. Gauzlinus seligen Angedenkens durchkreuzte seine schlechten Absichten, zahlte ihm hundert Schillinge und schenkte ihm darüberhinaus noch ein Pferd mit demselben Wert und gewann dadurch das Grundstück für den klösterlichen Besitz zurück. Freilich glaube ich nicht mit Stillschweigen übergehen zu dürfen, wie zustimmend die sorgende Liebe Gottes das gottgefällige Handeln dieses seligen Mannes an den Tag gelegt hat. Kurze Zeit später saß Hildebertus auf eben diesem Pferd und wurde von zahlreichen seiner Feinde bedrängt, schon wollte man ihn mit der bloßen Hand fangen, da er durch göttliche Fügung auch nicht mehr auf die Hilfe seines Pferdes

6

Andreas von Fleury, Vita Gauzlini I 1 (ed. R. BAUTIER/G. LABORY, André de Fleury, Vie de Gauzlin, 1969, S. 32) (aus dem Lateinischen übersetzt).

7

Vita Gauzlini I 3 (ed. BAUTIER/LABORY, S. 38) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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hoffen konnte (d.h. das Pferd blieb einfach stehen); da soll Hildebertus folgendermaßen mit sich ins Gericht gegangen sein: ,Zu Recht', sagte er, ,kann ich nicht mehr auf deine Unterstützung hoffen, da ich dich ungerechterweise dem heiligen Benedikt (d. h. dem Patron des Klosters Fleury) weggenommen habe, wie die jetzige Situation ganz klar zeigt. Wenn mich aber der heilige Benedikt, was er ohne jeden Zweifel tun kann, aus dieser Situation errettet, dann verspreche ich, dich wieder zurückzugeben, ja sogar mit einer entsprechenden Entschädigung den heiligen Benedikt wieder versöhnlich zu stimmen, den beleidigt zu haben ich aufrichtig bekenne.' Unverzüglich begann das Pferd wieder zu galoppieren und rettete den Bedrängten, der sein Versprechen auch getreulich einlöste" 8 . Da die Besitzungen eines Klosters sehr häufig zerstreut in ganz unterschiedlichen und weit voneinander entfernten Gebieten lagen, war persönliche Präsenz des Abtes im Konfliktfall überaus wichtig. Auch die jetzt zu schildernde Episode zeigt Gauzlinus als einen aktiv und dynamisch Handelnden, der sich, wenn es denn die Lage erfordert, unverzüglich auf sein Pferd schwingt und bereit ist, einer angedrohten militärischen Aggression entschlossen mit Gegengewalt zu antworten: „Ein gewisser Ritter Hildebertus (vielleicht identisch mit dem oben genannten) hatte seine an der Grenze zu Aquitanien gelegenen Besitzungen zusammen mit seiner Person dem Kloster übereignet. Einige dieser Besitzungen hatten andere als Lehnsgut inne; deshalb wollten sie die restlichen Besitzungen widerrechtlich auch noch in ihren Besitz bringen. Ihr Anführer hieß Walter der ,Mönch'. Als Abt Gauzlinus von dessen dauernder Bösartigkeit erfuhr, schwang er sich aufs Pferd und ritt zum Kloster St.-Benoit-sur-Sault. Einen gewissen Elisiernus, unseren Bruder, setzte er als Wächter dieses Ortes ein. Als Walter, wahnsinnig wie er war, dem löblichen Vater Gauzlinus zu drohen begann und sagte: ,Wenn ich hier einen deiner Mönche finde, dann werde ich ihn mit meinem Schwert umbringen', antwortete ihm der heilige Mann, und er meinte es nicht scherzhaft: ,Ich habe schon genügend Märtyrer in Fleury und freue mich deshalb über keine weiteren Märtyrer aus dieser heiligen Gemeinschaft. Aber wenn du mir nur einen einzigen meiner Mönche zum Märtyrer machst, werde ich dir zwei von deinen eigenen Leuten als Märtyrer zurückschicken. Wenn du aber zwei meiner Mönche zu Märtyrern machst, werde ich dir vier deiner Leute zu Märtyrern machen.

8

Vita Gauzlini I 14 (ed.BAUTlER/LABORY, S. 46) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Und soviele du auch umbringst, ich werde dir (jedesmal) die Zahl verdoppeln'" 9 . Freilich boten nicht allein erfolgreich bestandene Konflikte und Auseinandersetzungen die Möglichkeit, spezifisch adlige Tugenden auch im Klerikeroder Mönchsgewand zu erproben. Adliges Bedürfnis nach Ruhm, nach Verewigung des eigenen Namens und des eigenen Geschlechts, ließen sich auch durch umfangreiche Bautätigkeit wenigstens ansatzweise befriedigen. Man ist heute ungleich vorsichtiger geworden gegenüber Quellen, die davon berichten, daß Bischöfe und Äbte selber zu Architekten und Handwerkern geworden seien. Unbestreitbar bleibt aber ihre initiierende und mäzenatische Funktion für die mittelalterliche Architektur, Handwerks- und Baukunst, wofür die Vita Gauzlini anschauliche Beispiele bietet: „Ferner schmückte Abt Gauzlinus den Adel seiner Abstammung durch Proben seiner Tüchtigkeit. Er beschloß, an der Westseite des Klosters Fleury einen festen Turm aus quadratischen Steinen errichten zu lassen. Die Steine hierzu hatte er per Schiff aus dem Gebiet um Nevers kommen lassen. Als ihn, den gütigsten aller Künstler, der Princeps (gemeint ist König Robert II. von Frankreich) gefragt hatte, was für ein Werk er in Auftrag gegeben hätte, anwortete er: ,Ein solches Werk, das ganz Gallien als Beispiel dienen kann'"10.

2. Priester Die jetzt zu beschreibenden Gruppen der Priester und Mönche sind unter mentalitätsgeschichtlichem Aspekt aus verschiedenen Gründen überaus schwer darstellbar. So gibt es beispielsweise ungleich mehr Aussagen Dritter über Priester als Selbstaussagen. Auch die häufig vorgenommene idealtypische Abgrenzung zwischen Klerus und Mönchtum ist überaus problematisch, denn allzu häufig sind die Übergänge fließend. So gibt es im Bereich des Weltklerus den adligen, reichen und gebildeten „Domherrn" genauso wie den einfachen, ungebildeten Priester auf dem Lande oder den streng lebenden Kanoniker, der sich als Augustinerchorherr der monastischen Regel annähert und fast schon als Mönch zu bezeichnen ist. Ein benediktinischer

9 Vita Gauzlini I 2 5 (ed. BAUTIER/LABORY, S. 6 0 ) (aus d e m Lateinischen übersetzt). 10 Vita Gauzlini 1 4 4 (ed. BAUTIER/LABORY, S. 8 0 ) (aus d e m Lateinischen übersetzt).

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Mönch des frühen und hohen Mittelalters dürfte sich ganz wesentlich vom franziskanischen oder dominikanischen Mönch des späten Mittelalters unterschieden haben. Innerhalb des Klosters gibt es neben dem Mönch, der von Kindheit an der Gemeinschaft angehört, hier erzogen wurde und häufig über geistliche Weihegrade verfügte, auch den adligen Konversen, den erst in höherem Alter bzw. an seinem Lebensende in die klösterliche Gemeinschaft aufgenommenen Laienbruder, der auf seinen Tod wartet. Es gibt kleine und große Klöster, es gibt schlichte, ungebildete Mönche ebenso wie den Typus des Wissenschaftlers oder Intellektuellen. Diese Umstände erschweren pauschal i e r e n d e Aussagen oder machen sie, genauer gesagt, unmöglich. Insofern trifft auf alle hier gemachten Aussagen noch stärker als in den vorangegangenen Teilen der Darstellung zu, daß es sich nur um Facetten handelt, deren Repräsentativität dahinsteht. Um dennoch überhaupt Aussagen treffen zu können, wird man sich einiger gruppenspezifischer Merkmale erinnern müssen. Die grundlegende Konstante, die alle Priester verbindet, bildet der Akt der Weihe. Der Begriff leitet sich aus dem Althochdeutschen wih = heilig ab. Die Weihe (lat.: benedictio, consecratio, ordinatio) ist derjenige Ritus, durch den eine Person oder eine Sache in besonderer Weise in den Dienst Gottes gestellt wird, wobei man niedere und höhere Weihegrade unterscheidet. Der Priester (lat.: presbyter, clericus) ist also eine geweihte Person oder, anders formuliert, eine Person in unmittelbarer Nähe zu Gott bzw. von ihm und zum Dienst an ihm verpflichtet. Religionssoziologisch gesprochen „(ist der Priester) der in einer Gemeinschaft bestellte und überirdisch autorisierte Mittler zu dem transzendenten Wesen, der öffentlich Kultakte vollzieht, heiliges Wissen hütet und Segen spendet" 1 1 . Der Priester ist also eine Mittlerperson zwischen Gott und der Welt und damit geradezu zwangsläufig auch der Spannung zwischen beiden Bereichen ausgesetzt. Auch wenn ein stringenter Beweis dafür fehlt, so wird man doch davon ausgehen können, daß für das Priestertum in seiner Mehrheit von einem „Verhaftetsein in der Welt" auszugehen ist. Denn um seinem Auftrag der Verkündigung und der Seelsorge nachkommen zu können, war der Priester darauf angewiesen, sich an seine Umwelt, an deren Frömmigkeitsvorstellungen und Frömmigkeitsstile anzupassen. Wir möchten deshalb in der Folge

11 J. HAEKEL, Artikel „Priester", in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, Sp. 735-798, hier Sp. 735.

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auch von einer adaptiven Mentalität des Priestertums sprechen. Es gibt in der christlichen mittelalterlichen Priesterschaft zahlreiche Übernahmen, Transformationen und Überlagerungen volksmagischer Riten und der mit ihnen verbundenen Glaubensvorstellungen. Dieses Verhalten kann nicht allein mit dem zugegebenermaßen häufig sehr geringen Bildungsstand der Kleriker erklärt werden. Es wird vielmehr auch und besonders verständlich durch die Konkurrenzsituation, in der sich der Priester befand. So legte der Bischof Atto von Vercelli (gest. vor 964) in einer Verwaltungsanordnung (sogenanntes Kapitulare) fest, daß weder ein Bischof noch ein Diakon noch sonst einer aus dem Klerikerstande Magier oder Wahrsager aufsuchen dürfe, um sich von ihnen „beraten" zu lassen: „Wenn ein Bischof oder ein Priester oder ein Diakon oder irgendein anderer aus dem Stand der Kleriker Magier oder Vogeldeuter oder Weissager oder Losdeuter oder diejenigen befragt, die diesen Beruf ausüben oder irgend etwas vergleichbares, und daraufhin ertappt wird, dann soll er seiner priesterlichen Würde entkleidet werden, ins Kloster eintreten und dort ewig büßen für seinen begangenen Frevel. Ebenso: Wenn einer in Kenntnis dieser Bestimmung die kirchliche Lehre verdammt und sich zu denjenigen begibt, die man .Propheten' oder ,Engel' oder den verstorbenen Heiligen vergleichbare Personen nennt und ihren verdorbenen Lehren anhängt, dann soll er verflucht sein und nicht mehr an den heiligen Mysterien der Kirche teilhaben, bis er vor dem Bischof Buße getan hat ... Ebenso soll beschlossenermaßen mit denjenigen verfahren werden, die Bäume verehren oder in frommer Absicht zu den Quellen gehen" 1 2 . Das heißt mit anderen Worten: noch in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts entsprach es, wenigstens in Italien, vielfach priesterlicher Mentalität, berufsmäßige Wahrsager aufzusuchen, sozusagen zur „Konkurrenz" zu gehen, die sich auf magische Praktiken, Beschwörungen, Wetterzauber, Prophezeihungen spezialisiert hatten, und die ihr Gewerbe besonders gut beherrschten 13 . Die adaptive Mentalität der Priester beruhte sicherlich ganz wesentlich auf ihrem engen Eingebundensein in das gesellschaftliche Leben. Folgen wir dem Bischof Atto von Vercelli, so beteiligten sich die Kleriker stark am 12 Atto von Vercelli, Capitulare cap. XLVIII (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina, Bd. 134, Sp. 37-38) (aus dem Lateinischen übersetzt). 13 Zum Problem des Magischen in den religiösen Vorstellungen des Mittelalters vgl. Kapitel XII.

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Erwerbsleben. Unter anderem verliehen sie Geld und begaben sich in feudale Abhängigkeit, indem sie Lehnsbindungen eingingen. Am stärksten auf ihre Einbindung in die Gesellschaft dürfte freilich der Umstand verweisen, daß die Priester im frühen und hohen Mittelalter verheiratet waren bzw. in eheähnlichen Lebensgemeinschaften (sog. Konkubinaten) lebten. Dieses Verhalten ist von rigoristischen Reformern naturgemäß immer wieder angegriffen worden. Als Beispiel, das für viele andere steht, sei aus einem Lehrschreiben Rathers von Verona (gest. 974), eines anderen norditalienischen Bischofs der damaligen Zeit, zitiert, das dieser in der Fastenzeit des Jahres 966 an die Kleriker seiner Diözese richtete 1 4 . So fordert Rather seine Kleriker dazu auf, während der Messe nicht betrunken zu sein; auch solle ein Kleriker nicht „mit außen (am Gürtel) hängenden Messern" bewaffnet und „nicht mit Sporen angetan" die Messe lesen; auch solle er keine Jagdvögel für sich halten; es werden Mindestanforderungen an Lesefähigkeit und Kenntnis des Lateinischen erhoben; Gaststättenbesuch wird untersagt. Insbesondere verbietet Rather für die Adventszeit fleischlichen Genuß jedweder Art. Die Priester sollen weder Fleisch essen noch in übertragenem Sinne Fleisch genießen, indem sie mit ihren Frauen schlafen. Gleiche Verbote gelten für die Weihnachts-, Fasten-, Oster- und Pfingstzeit, für Festtage, für Frei- und Sonntage, an denen man sich auch des ansonsten erlaubten, d.h. des ehelichen Beischlafs enthalten soll. Offensichtlich hat Rather bereits resigniert: Ein generelles Verbot der Klerikerehe kann er bei seinem Veroneser Pfarrklerus nicht durchsetzen, stattdessen versucht er eine rigorose Eindämmung der Sexualpraxis zu erreichen. Für unseren Zusammenhang überaus interessant ist nun die Rechtfertigung der angegriffenen Priester. Ihre Argumente lernen wir in einem Brief kennen, den rund ein Jahr später der mittlerweile mit seinem Klerus völlig zerstrittene Rather an Ambrosius, den damaligen Leiter der italienischen Kanzlei Ottos des Großen, richtete. Rather beschuldigte seine Kleriker heftig: „ . . . da jene immer die (schlechte) Gewohnheit ihrer Vorgänger, die ununterbrochen gegen ihre Bischöfe rebellierten, den heiligen und von Gott verfügten Kanones vorgezogen haben; ich (Rather) bin hingegen der Meinung

14 F. WEIGLE, Die Briefe des Bischofs Rather von Verona (Monumenta Germaniae Histórica: Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 1), 1949, ep. 25, S. 1 2 4 - 1 3 7 , hier S. 1 3 0 - 1 3 1 zum Verbot des Tragens von Sporen und äußerlich sichtbarer, herabhängender Messer.

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gewesen, man müsse die heiligen und von Gott erlassenen Kanones denjenigen Gebräuchen vorziehen, die vom Teufel erfunden sind. Sie halten sich gewohnheitsmäßig und in aller Öffentlichkeit Frauen, obwohl dies auf der Synode von Nizäa verboten worden war, achten die Ehrfucht vor Gott und den Menschen so gering, auch die Angst vor der Hölle wurde so sehr verdrängt, daß die Kleriker die Meinung vertraten, sie dürften nicht nur, sondern sie müßten Frauen haben, da nach ihrer Meinung derjenige, der auf Frauen verzichtet, notwendigerweise jenem schlimmsten Laster anheimfallen würde, das der Apostel (Paulus) in seinem Brief an die Römer erwähnt. Scheint dir (Ambrosius) eine solche Argumentation nicht eine Erfindung des Teufels zu sein? ... Wie verderbt ist die ganze Gemeinschaft der Tonsurträger, wenn es niemand bei ihnen gibt, der nicht entweder die Ehe bricht 1 5 oder homosexuell ist" 1 6 . Worin besteht nun dieses überaus schlimme Vergehen, von dem der Apostel Paulus spricht? Im Brief des Apostels Paulus an die Römer (1, 27) ist die Rede davon: „desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch des Weibes und sind aneinander erhitzt in den Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben ..." Vor diesem Hintergrund verstehen wir die Effektivität der Argumentation der angegriffenen Kleriker besser. Die Priester argumentieren mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung, die sie als soziale Norm verstehen. Von ihr gehe ein Druck zur Adaption an die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Man müsse mit einer Frau zusammenleben und verheiratet sein. Ehelosigkeit könne sonst nur den naheliegenden Verdacht der Homosexualität gegenüber den Priestern hervorrufen. Schon allein, um ihm zu entgehen, müßten sie heiraten. Mit der Priesterehe ist einer der Hauptpunkte priesterlicher Mentalitätsund Verhaltensweisen angesprochen. Daß sich im Vergleich zum ausgehenden zehnten Jahrhundert die Situation im 13. Jahrhundert noch nicht radikal verändert hat, zeigen die Exempla des von uns bereits erwähnten Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (um 1180-1240). Seine als Predigtmärlein gedachten moralischen Erzählungen schildern sehr häufig der „Sünde" verfallene Priester, denen besonders viel Schlechtes zugetraut wird. Freilich

15 Die Priester sind nach herrschender kirchlicher Auffassung mit der Ecclesia verheiratet; eine andere „normale" Frau zu haben, bedeutet nach dieser Sicht, Ehebruch zu begehen. 16 WEIGLE, Briefe ep. 29, S. 159-169, hier S. 160-161 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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können einzelne Priester mitunter auch allen körperlich-sexuellen Anfechtungen erfolgreich widerstehen, wie das folgende Exemplum eindringlich demonstriert: „Es ist noch nicht lange her, da hielt sich in Soest ein fremder Kleriker mit Namen Hermann auf. Er war jung, schlank und schön. Auf ihn warf eine Bürgerin dieser Stadt ihre Augen und begehrte ihn so sehr, daß sie sagte: ,Wenn du mich umarmen willst, soll all mein Hab und Gut dir gehören'. Der junge Mann aber verachtete, eingedenk des heiligen Joseph, ihre Worte und Versprechungen. Als sie sah, daß sie keinen Erfolg bei ihm hatte, beschuldigte sie ihn vor den Richtern, er habe sie vergewaltigt. Jener leugnete es, doch man schenkte ihm keinen Glauben und warf ihn in den Kerker, den Ort der Verurteilten. Die Frau aber, getrieben von ihrer Leidenschaft, tat so, als sei sie durch den Kleriker um den Verstand gebracht, bestieg auf einer Leiter die Mauer, sprang hinab, umarmte den jungen Mann und versuchte, ihn zur Unzucht zu verleiten. Doch sie hatte auch auf diese Weise keinen Erfolg. Als das die Richter erfuhren, holten sie den Unschuldigen aus dem Kerker heraus und verurteilten ihn als Bösewicht und Zauberer zum Feuertod. Wie er bereits in Flammen stand, so daß die Rippen entblößt und seine Lungen sichtbar waren, sagte er den Engelsgruß, das heißt das Ave-Maria, und noch anderes. Und alle hörten es. Da ergriff einer der Umstehenden, ein Verwandter der Frau, ein brennendes Scheit, steckte es ihm in den Mund und schrie: ,Ich werde dir solche Gebete austreiben', und so erstickte er ihn. Kurz, er starb, und seine Gebeine wurden auf dem Felde begraben. An seinem Grab sah man oft Lichter, und es geschahen dort mancherlei wunderbare Dinge" 1 7 . Noch immer ist der unverheiratete Kleriker, der zölibatär leben will und deshalb entschlossen und bis zum Äußersten gehend seine Keuschheit verteidigt, offensichtlich der Ausnahmefall. Er wird zum idealisierten Vorbild, ja zum Märtyrer und Heiligen. Seine Leistung ist ja auch deshalb so groß, weil er sich, obwohl er aus der „Fremde" stammt, d. h. ein Nicht-Soester ist, städtischem Anpassungsdruck nicht unterwirft, und obwohl ihn doch sein jugendliches Alter und sein attraktives Äußeres (schlank und schön) zur „Unmoral" verführen müßten. Bemerkenswert auch die Rolle der „Verwandten" der angeblich entehrten und vergewaltigten, in Wahrheit aber nur 17 Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum 4, 99 (ed. J. STRANGE, Vol. I. 1851), S. 270 (Übersetzung nach I. u. J. SCHNEIDER, Hgg., Die wundersamen Geschichten des Caesarius von Heisterbach, o. J., S. 106-107).

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verschmähten Frau. Nicht nur die Ehre der Frau, sondern auch die Ehre der Familie, der Sippe ist verletzt. Infolgedessen ist ihre „beschleunigende Intervention" in den Strafvollzug gerechtfertigt. Noch unmittelbarer und eindringlicher als das vorangegangene zeigt das folgende Exemplum den Anpassungszwang, dem sich der Priester, diesmal im ländlich-feudalen Raum ausgesetzt sehen konnte. Hören wir wiederum Caesarius: „Wie mir ein angesehener Priester, der jetzt Mönch in unserem Orden ist, erzählt hat, wollte der Pfarrer eines bestimmten Dorfes sich bei seinen Pfarrkindern beliebt machen. Deshalb nahm er an ihren weltlichen Spielen teil, besuchte die Wirtshäuser und paßte sich, soweit er es vermochte, ihren Sitten an. Und es erfüllte sich an ihm das Wort des Propheten: ,Wie das Volk, so wird auch der Priester sein'. Er hatte in dem Dorf einen Ritter zum Paten, der mit seinen Lastern gut zu ihm paßte, und sie waren ein Herz und eine Seele, jedoch nicht in Christus, sondern in weltlichen Dingen. Oft wurde der eine vom anderen zu Spielen und Gelagen eingeladen, oft in die Schänken geschleppt. Das sah der Teufel, der Meister aller Ränke, und um ihre lasterhafte Zuneigung in verderblichen Haß zu verwandeln, begab er sich eines Nachts, als der Ritter schlafen gegangen war, in der Gestalt des Pfarrers an sein Bett und veranlaßte ihn mit ungestümen Worten und Gebärden zu folgen. Erschrocken erhob sich der Ritter, ging fast nackt und barfuß hinter ihm her und wurde von ihm über ein Feld voller Stacheln und Dorngestrüpp geführt. Da ihm diese die Fußsohlen zerrissen und das Blut heraustropfte, schrie er ihm wütend nach: ,Du übler Priester, das soll dir noch schlecht bekommen, daß du mich hierher geführt hast!' Doch der Teufel rief in einem fort: ,Folge, folge!' Da geriet der Ritter außer sich, und mit einer Hacke, die er zufällig fand, zerspaltete er, wie ihm schien, dem Priester das Gesicht. Als der nun so zu Boden geschmettert dalag und das Blut über sein Gesicht strömte, kehrte der Ritter mit Mühe und unter Schmerzen in sein Haus zurück. Er beklagte sich bei seiner Frau, seiner Dienerschaft und seinen Freunden darüber, wie ihm der Pfarrer mitgespielt habe. Da sie ihm aber nicht recht glauben wollten, fügte er hinzu: ,Ich habe ihm Kopf und Tonsur nicht wenig verletzt'. In derselben Nacht mußte nun der Pfarrer, der von alledem keine Ahnung hatte, hinausgehen, um seine Notdurft zu verrichten. Dabei stieß er mit dem Kopf so heftig gegen den oberen Türbalken, daß er sich seinen Kopf schwer verletzte und das herausströmende Blut sein ganzes Gesicht besudelte.

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Danach ging er wieder zu Bett. Als aber am Morgen nach dem Meßgeläut die Leute in der Kirche warteten und er nicht kam, weil ihn seine Wunde so schmerzte, erfuhr das auch der Ritter aus den Erzählungen der Leute. Da sagte er: ,Seht, genau das habe ich euch auch gesagt!' Kurz, seine Verwandten und Freunde wurden wütend. Der Priester bestritt die Vorwürfe, die ihm gemacht wurden, energisch, jene aber glaubten ihm nicht. So wurde er für zwei Jahre aus seiner Kirche vertrieben und konnte sich schließlich nur mit Mühe mit jenen aussöhnen" 18 . Stärker noch als in der Stadt erscheint der Anpassungsdruck auf den Priester in ländlich-dörflicher Umgebung, die vom Lokaladel beherrscht wird. Die Macht des Ritters ist auch deshalb so groß, weil dieser auf seine Verwandten und seine „Freunde" zählen kann. Die völlige Abhängigkeit des Priesters zeigt sich unübersehbar an seiner erzwungenen zweijährigen Verbannung aus dem Dorfe, ohne daß wir etwa von einer Intervention des zuständigen Diözesanbischofs erführen. Noch etwas anders gelagert ist das Problem beim folgenden Exempel, mit dem wir unsere Betrachtung priesterlicher Mentalität beschließen wollen. Diesmal nutzt ein sich „elastisch" verhaltender Priester Widersprüche innerhalb der katholischen Sexualmoral aus, wobei er bestehenden Erwartungen der Beichtenden entspricht. Demjenigen, der sich durch eine Verletzung kirchlicher Sexualgebote als Sünder fühlt und deshalb von seiner Schuld loskommen möchte, wird durch Auferlegung einer Buße genauso entsprochen wie demjenigen, der sich wegen seiner Enthaltsamkeit Schuldgefühle einreden läßt, weil er dem biblischen Fortpflanzungsgebot („Seid fruchtbar und mehret euch!") nicht folgegeleistet habe und deshalb genauso folgerichtig bestraft wird. Es ist das überlegene Verhalten eines,

wie

Caesarius wohl nicht ohne Grund hinzugefügt hat, „recht gebildeten, doch wenig gottesfürchtigen Priesters", der gleichsam zwischen der Skylla der Aufforderung zur Enthaltsamkeit und der Charybdis eines biblischen Fortpflanzungsgebotes sein Schiff im tiefen Wasser der katholischen Sexualmoral steuert, um auf diese Weise den ihm anvertrauten naiven Schäflein das Geld aus der Tasche zu ziehen: „Bei Soest, einer Stadt der Kölner Diözese, leitet ein Priester namens Hegenard, der recht gebildet, doch wenig gottesfürchtig ist, eine Pfarrei. Zu ihm kam zur Fastenzeit ein Mann aus seiner Pfarrei und beichtete unter 18 Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum 5, 40 (ed. STRANGE, Vol. I), S. 325-326 ( Ü b e r s e t z u n g nach SCHNEIDER, w i e A n m . 17, S . 1 3 4 - 1 3 5 ) .

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anderem, daß er an den heiligen Tagen der Unenthaltsamkeit nachgegeben habe. Der Priester tadelte ihn hart und sagte, diese heilige Zeit sei für Gebete, Fasten, Enthaltsamkeit und alle anderen Werke der Barmherzigkeit vorbehalten, und fügte hinzu: ,Ich lege dir als Buße für diese Sünde auf, daß du mir 18 Denare zum Absingen ebensovieler Messen gibst, um die Schuld deiner Unenthaltsamkeit zu tilgen.' Jener gelobte, das Geld zu zahlen. Er ging weg, und ein anderer kam zur Beichte. Als der Priester diesen nach seinem Verhalten fragte und erfuhr, daß er während der ganzen Fastenzeit Enthaltsamkeit geübt habe, sagte er: ,Du hast sehr schlecht gehandelt, daß du dich so lange von deinem Weib ferngehalten hast. Sie hätte ein Kind von dir empfangen können, das du durch deine Enthaltsamkeit verhindert hast'. Der Mann bat ihn erschrocken, wie das bei so einfachen Menschen der Fall ist, um einen Rat bei solch einem Vergehen. Da antwortete ihm der Beichtvater: ,Du wirst mir 18 Denare geben, und ich werde durch ebensoviele Messen Gott mit dir wieder aussöhnen.' Der Mann versprach, ihm zu einer bestimmten Zeit das Geld zu geben. Einige Tage später traf es sich nach dem Willen Gottes, daß diese zwei Männer, jeder mit einem Sack, zum Markt gingen und der Sack des einen infolge des beschwerlichen Weges vom Pferd herunter in den Schmutz fiel. Der andere lief herbei, um seinem Gefährten zu helfen, doch der rief zornig: ,Der Teufel soll unseren Priester belohnen, denn seinetwegen ertrage ich solche Mühe*. Als der andere den Grund wissen wollte, antwortete er: ,Ich habe ihm meine Unenthaltsamkeit gebeichtet, und er hat mir eine solche Buße auferlegt, daß ich mich gezwungen sehe, vor der Zeit meine Ernte zu verkaufen, um das geforderte Geld ihm überbringen zu können. Darauf sagte der andere: ,Was muß ich da hören? Ich gestand ihm das Gegenteil, und er hat mich mit der gleichen Buße belegt. Du mußt wissen, daß ich aus demselben Grund zum Markt komme. Wahrlich, wir sind an einen schlechten Priester geraten'. Sie gingen in die Stadt, erhoben Klage gegen ihn vor dem Dekan und den Kanonikern des heiligen Patroklus und bereiteten ihm dadurch große Schande" 19 . Versuchen wir ein Fazit. Priesterliche Mentalitäten dürften namentlich im niederen Klerus eher adaptiv gewesen sein. Der Zwang zum Kompromiß mit der Welt förderte die Anpassung an das gesellschaftliche Umfeld. Freilich gilt es immer den Umstand zu bedenken, daß Aussagen über Priester

19 Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum 3, 40 (ed. Strange, Vol. I), S. 160-161 ( Ü b e r s e t z u n g nach SCHNEIDER, w i e A n m . 17, S . 6 4 - 6 5 ) .

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häufig aus dem monastischen Lager kommen - man denke nur an den hier so ausführlich zu Wort gekommenen Caesarius von Heisterbach - und deshalb häufig von einem negativen Unterton begleitet werden.

3.

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Die Vielzahl monastischer Gruppen und Orden (Benediktiner, Zisterzienser, Kartäuser, Dominikaner, Franziskaner usw.), die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind und in den unterschiedlichsten sozialen Umfeldern tätig waren (und noch sind), verbietet es von vornherein, von monastischer (mönchischer) Mentalität schlechthin zu sprechen. Auch hier können und sollen wiederum lediglich einige Facetten aufgezeigt werden. Für das frühe und hohe Mittelalter wird man vielfach von einem Elitedenken ausgehen können, das die Mönche geprägt hat. Man glaubt, durch seine Lebensführung an der Spitze der Gesellschaft zu stehen. Besonders ausgeprägt lassen sich solche Vorstellungen am Ende des zehnten Jahrhunderts bei dem uns bereits bekannten Abt Abbo von Fleury (gest. 1004) nachweisen: „Unter den Christen beiderlei Geschlechts gibt es, wie wir sehr wohl wissen, drei Ordnungen, drei Grade gewissermaßen; zum ersten die der Laien, zum zweiten die der Kleriker und zum dritten die der Mönche. Obwohl keine der drei frei von Sünde ist, ist die erste gut, die zweite besser und die dritte am besten" 20 . Ihr Elitebewußtsein nährte sich aus ihrer Überzeugung, durch ihre Lebensführung die wahren Nachfolger Christi zu sein. Durch ihre Ehelosigkeit unterschieden sich die Mönche vor allem vom niederen Klerus, bei dem sich der Zölibat erst im Spätmittelalter allgemein durchzusetzen begann. Auch die im Vergleich zu den Klerikern stark gesteigerte Askese, der Verzicht auf Privateigentum, das Gebot der sogenannten stabilitas loci (dauernder Aufenthalt im Kloster) und - vor allem im frühen Mittelalter das Bewußtsein, Hüter der Kultur im weitesten Sinne zu sein, mußten die Position der Mönche stärken. Sie galten vor allem im Vergleich mit den sogenannten Weltgeistlichen als die besseren Mittler zu Gott; die Mönche als die berufsmäßigen Beter waren die Spezialisten und Garanten für eine

20 Abbo von Fleury, Apologeticus (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina), Sp. 463 A/B; hier zitiert nach G. MICCOLI, Die Mönche, in: J. LE GOFF, Der Mensch d e s Mittelalters,

3

1 9 9 4 , S. 4 7 - 8 6 , hier S. 6 6 .

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erfolgreiche Intervention bei Gott. Das Mönchtum konnte so, wie G. Miccoli es überaus treffend formuliert hat, zu einer „Zitadelle" werden 2 1 . Die gesellschaftliche Führungsposition, die das Mönchtum im 11. und 12. Jahrhundert erlangt hatte, läßt sich auch daran ablesen, daß nunmehr zahlreiche Äbte die cathedra Petri bestiegen; es begann die Zeit der sogenannten Mönchspäpste. Gleich den Priestern - vielleicht manchmal in noch stärkerem Maße als diese - konnten auch Mönche der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit ausgesetzt sein. Bereits die älteste Geschichte des Mönchtums kennt diese Spannung, und der in der Spätantike bereits beginnende Übergang vom eremitisch lebenden Asketen zum sogenannten Coenobitentum, zu einem Leben in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, bedeutete eine Anpassung an die Welt unter Hintanstellung asketischer Idealvorstellungen. Je nachdem, wie stark diese Anpassung an die Welt und deren scheinbare oder echte Zwänge ausfällt, lassen sich zwei unterschiedliche Denk- und Verhaltensweisen, zwei unterschiedliche Mentalitäten im monastischen Bereich konstatieren: Zum einen eine konservativ-adaptive Mentalität, die auf Kompromiß und Verständigung mit der Welt setzt, und zum anderen eine rigoristische Mentalität, die stärker idealistisch orientiert ist und die Wirklichkeit am Ideal mißt. Wie gleich noch zu zeigen sein wird, sind diese Mentalitätsunterschiede durchaus ordensunabhängig. Zwar ist zuzugeben, daß beispielsweise die im Vergleich zu den Benediktinern erst zu einer späteren Zeit des Mittelalters entstandenen Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) genau wie der Reformorden der Zisterzienser einem stärker asketisch ausgerichteten Ideal verpflichtet waren, aber entscheidend ist, daß sich auch innerhalb dieser von Natur aus rigoristischeren Orden eine stark konservativ-adaptive Mentalität nachweisen läßt. Doch beginnen wir chronologisch, und das heißt in unserem Fall, mit den Benediktinern. Als Beispiel einer konservativ-adligen Mentalität innerhalb dieses Ordens dienen uns die sogenannten Casus sancti Galli, die Geschichte des Klosters St. Gallen, geschrieben von Ekkehard IV. (gest. nach 1050). Sie erscheint insofern vergleichbar mit der von uns bereits herangezogenen Eichstätter Bistumsgeschichte, als es beiden Autoren darum geht, einer aus ihrer Perspektive allzu kritisch eingestellten Reformzeit die Qualität, die Sittlichkeit und Moralität einer verklärt gesehenen Vergangenheit vorzustellen. Man möchte sich rigoristischen Reformern gegenüber behaupten. Auch

2 1 MICCOLI, M ö n c h e ( w i e A n m . 2 0 ) , S . 6 6 .

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Ekkehard weiß, wie schon vor ihm der anonym gebliebene Verfasser der Eichstätter Bistumsgeschichte, von derben Späßen zu berichten, die sich der Konstanzer Bischof Salomo, der damals gleichzeitig auch Abt von St. Gallen war, mit seinem Amtsbruder Erzbischof Hatto von Mainz lieferte. Als Höhepunkt der St. Gallener Klostergeschichte gilt Ekkehard freilich die Abtszeit von Notker (971-975): „Denn sein Frohsinn, der ihm gewissermaßen von Natur aus zu eigen war und unter heutigen Verhältnissen dem Luxus zugeschrieben werden mag, läßt sich nur zum Teil beschreiben. Weshalb denn nun die Neider schmähen, die aber, die mit den Dingen nicht vertraut sind, unter Seufzer klagen können: , 0 Zeiten, o Sitten!'. Hatte tatsächlich der Überfluß, der Purchards (Vorgänger von Notker) letzte Jahre verherrlichte und den Richer (Prior von St. Gallen) auf Ekkehards Weisungen einbringen ließ, alle Wirtschaftsräume des Klosters wieder aufgefüllt, so zierte Gott dem in aller Fröhlichkeit verschwenderischen Mann auch noch seine Jahre in solchem Maße, daß dies jeder mit Fug den Verdiensten seiner Herrschaft zuschreiben kann und er selber mit Tullius (Marcus T. Cicero) - jedoch in feinerer Versform - sagen durfte: ,0, du Zelle des Gallus, blühend im Glück, als ich Konsul!' ... Während er aber darauf bedacht war, die Satzungen Hartmuts (Abt von St. Gallen 872-883) in allen Stücken zu bewahren, verließ er St. Gallen des öfteren, damit sich die Brüder in seiner Abwesenheit ungezwungener ergötzen möchten, wobei er dem Dekan und seinen Vertrauten erklärte: ,Wenn wir derentwegen, die zu diesen Zeiten ihren Mund gegen die Mönche aufgesperrt haben, fortwährend eine unbeugsame Strenge (inflexibilem rigorem) beibehalten, werden wir entweder den Bogen der Regel zerbrechen oder, glaubt mir nur', so sagte er, ,ihre Saite zerreißen. Und weil ich es offen nicht dulden mag, will ich nun absichtlich meinen teuren Brüdern zuliebe', so sprach er, ,von hier verschwinden, damit sie, wenn sie die Tür hinter sich zugeschlossen haben, sich einmal lockerer benehmen können. Seht jedoch zu', sagte er, ,ich beschöre euch, ihr Herren, auf die ich mich stütze, daß sie nicht über die Stränge schlagen und daß keinerlei Laien an ihrer Fröhlichkeit teilhaben, insbesondere aber keine Knechte; haben wir doch gelernt', sagte er, „nicht einmal ihren Schwüren zu trauen'" 2 2 . Das negative Gegenbild der fröhlichen, allzeit zu derben Späßen aufgelegten und, wie Ekkehard auch zu erwähnen nicht vergißt, stets trinkfreudigen

2 2 Ekkehard IV, Casus sancti Galli 1 3 4 - 1 3 5 , übersetzt v o n H. HAEFELE, 2 1 9 8 9 , S. 2 6 1 - 2 6 5 .

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St. Gallener Mönche bildet Sandrat. Nach der abschätzigen Meinung Ekkehards handelte es sich bei diesem aus dem Reformkloster St. Maximin vor Trier nach St. Gallen entsandten Rigoristen um einen ausgesprochen unsympathischen „Supermönch", einen monachus regularissimus, „einen Mönch, der absolut der Regel entspreche" 2 3 . Kein Wunder, daß er „mager, bleich und im Äußeren vernachlässigt" aussieht. Mit unverhohlener Freude schildert Ekkehard den technischen K.O. des Rigoristen Sandrat, der sich bereits nach kurzem Aufenthalt in St. Gallen als überaus aggressiver Alkoholiker mit Anlage zum Schnarchen und Neigung zur Inkontinenz entpuppt hatte. Ein junger Mönch, hochgeboren und hochgebildet, mithin also von adliger Herkunft, war von Sandrat über Gebühr beleidigt worden und hatte ihn deshalb als „Halbschulmeister" (semimagister) bezeichnet. Dieser stürzte sich sogleich in völliger Verkennung seiner Kräfte auf den Mönch, der sich seinerseits in seiner adligen Ehre angegriffen fühlte und deshalb mit überlegener Gegengewalt reagierte: „Sandrat erhaschte das Wort, das der junge Bruder heimlich, wie er dachte, gesprochen hatte, sogleich von dessen Mund und rief: ,Ich, dein Halbschulmeister, muß es dir wohl auf der Stelle zeigen, ob ich noch bei Sinnen bin!' Und er sprang auf ihn und versetzte ihm, der hochgeboren, aber auch hochgebildet war, einen tüchtigen Backenstreich. Jener aber, viel kräftiger als er, schoß im Nu den Arm vor und schlug ihm mit der Faust mächtig gegen die Schläfe und ließ ihn halb tot zu Boden sinken und wollte ihm noch Schlimmeres antun, hielten nur die anderen ihn nicht zurück" 2 4 . Die Moral, die Ekkehard mit seiner anekdotischen Erzählung über Sandrat, den „bösen Engel", den „Ischariot", vermitteln will, ist unverkennbar. Nicht die frommen, konservativ-adaptiven Mönche und Äbte des altehrwürdigen Klosters St. Gallen, sondern überspannte reformerische Rigoristen vom Schlage eines Sandrat gefährden das Mönchtum. Angesichts dieser von Ekkehard in apologetischer Absicht verklärten heiteren benediktinischen Philosophie eines Lebens und Lebenlassens überrascht auch eine von Ekkehard dem Bischof Salomon III. von Konstanz in den Mund gelegte Aussage keineswegs. Auf die Frage, welche der beiden Bodensee-Abteien, St. Gallen oder die Reichenau, er vorziehen würde, wenn er wählen könnte, soll Salomo geantwortet haben:

23 Casus sancti Galli 98, S. 201. 24 Casus sancti Galli 141, S. 275.

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„,Die Abtei Reichenau ist wohl stattlicher und reicher; aber die des heiligen Gallus ist behaglicher und behäbiger. Die Behaglichkeit wiegt Gold a u f ' " 2 5 . Aber auch bei den als streng geltenden Zisterziensern, die wenigstens am Anfang ihrer Geschichte im 12. Jahrhundert den Benediktinern noch mit unverhülltem Stolz auf ihren reformerischen Neuansatz begegnet waren, konnte man einer strengen Askese in späteren Zeiten durchaus skeptisch gegenüberstehen, wie das folgende vom Zisterzienser Caesarius erzählte Beispiel verdeutlicht: „In Sachsen lebte in der Stadt Braunschweig ein edler Ritter namens Balduin, der der Vogt dieser Stadt war. Durch Gottes Eingebung entsagte er dem Leben in der Weltlichkeit und legte in einem Hause unseres Ordens, Ritterhausen, das Mönchsgewand an. Schon während seines ganzen Probejahres war er so streng gegen sich, daß er sowohl vom Abt als auch von seinem Novizenmeister deswegen oft getadelt wurde. Erst recht als Mönch legte er solch einen leidenschaftlichen Eifer an den Tag, daß ihm die allgemeinen Verpflichtungen nicht genügten, sondern er noch viele besondere hinzufügte und den persönlichen sogar den Vorrang gab. Während die anderen ruhten, arbeitete er; während die anderen schliefen, wachte er. Schließlich trocknete infolge der übertrieben vielen Wachen und Arbeiten sein Gehirn aus, und sein Kopf wurde so schwach, daß er eines Nachts, bevor die Brüder zur Frühmesse aufstanden, in den Betsaal ging, auf die Novizenbank stieg und sich das Glockenseil um den Hals schlang. Dann sprang er hinab und brachte dadurch, daß er mit der Last seines Körpers zog, die Glocke mehrfach zum Erklingen. Erschrocken eilte der Küster in den Betsaal, aber er entsetzte sich noch mehr, als er den Mönch so hängen sah. Er lief hin und schnitt das Seil durch, dann legte er den noch Zuckenden, der beinahe schon erstickt war, auf den Boden und brachte ihn wieder zur Besinnung. Seitdem konnte dieser seinen früheren Verstand nicht mehr wiedererlangen. Er lebt zwar heute noch, aber es ist ihm gleichgültig, wann oder was er ißt oder wie lange er schläft. So entsteht bisweilen aus einem übertriebenen Eifer das Übel der Abstumpfung" 2 6 . Und selbst bei den Franziskanern, also Angehörigen eines seit jeher und bis heute als besonders streng geltenden Bettelordens, lassen sich adaptive Men-

25 Casus sancti Galli 25, S. 65. 26 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 4, 45 (ed. STRANGE, Vol. I), S. 2 1 2 - 2 1 3 (Übersetzung nach SCHNEIDER, wie Anm. 17, S. 78-79).

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talitäten feststellen. Ein besonders einschlägiges Beispiel bietet die Chronik des Fra Salimbene von Parma (gest. um 1288/89). Dieser war in seinem langen Leben weit herumgekommen und hatte namentlich während seiner Frankreich-Aufenthalte die Errungenschaften französischer Kultur kennen und schätzen gelernt. Die Internationalität des Franziskanerordens, die örtliche Unabhängigkeit und die damit häufig verbundene Mobilität der Franziskaner sorgten für die Weite des Blickes und eine Aufgeschlossenheit allem Fremden gegenüber. Schon weil man als Franziskaner häufig das vertraute enge Umfeld verließ, um in der Fremde zu wirken, mußte man sich ihr gegenüber öffnen, um erfolgreich zu sein. Nicht umsonst gehören gerade die Franziskaner und Dominikaner zu den Missionaren, denen wir die besten Nachrichten über außereuropäische Völker, z. B. die Mongolen, verdanken. Die Erwähnung eines Burgundaufenthaltes im Jahre 1248 benützt Salimbene zu einem kulturgeschichtlichen Exkurs, der nicht nur den Weinliebhaber, sondern auch den genauen Beobachter mit Neigung zum völkerpsychologischen Räsonnieren und prinzipieller Offenheit allem Fremden gegenüber erkennen läßt: „Beachte, daß in der Provinz Frankreich - ich spreche von der Einteilung des Minoritenordens - acht Kustodien liegen, von denen in vieren Bier, in den anderen vier Wein getrunken wird. Beachte ferner, daß es drei Landstriche gibt, die in Frankreich Wein in Fülle produzieren, La Rochelle nämlich, Beaune und Auxerre; ferner, daß die Rotweine von Auxerre einen sehr geringen Ruf genießen, weil sie nicht so gut sind wie die italienischen Rotweine. Ferner, daß die (rechten) Weine von Auxerre Weißweine sind, manche darunter von goldener Farbe, wohlduftend, bekömmlich und von starker köstlicher Blume, die jeden Trinker zu .Sicherheit und Fröhlichkeit' begeistern und bekehren (vgl. 3. Esdra 3, 20); so daß man mit Recht auf die Weine von Auxerre die Worte im 31. Spruch (vgl. Sprüche 31, 6/7) anwenden darf: ,Gebt starke Getränke denen, die am Umkommen sind und den Wein betrübten Seelen. Daß sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken!' ... Die Franzosen also freuen sich am Weine; kein Wunder, ,denn der Wein macht Gott und die Menschen fröhlich', wie es im Buch der Richter heißt ... Und so fügt auch Salomo, nachdem er von dem bösen Weib im 23. Spruch gesprochen ... gleich vom Weine hinzu: ,Wo ist Weh, wo ist Leid? Wo ist Zank, wo ist Klagen? Wo sind Wunden ohne Ursach? Wo sind rote Augen? Nur da nicht, wo man beim Wein liegt und kommt auszusaufen, was eingeschenkt ist.' Wörtlich so, wie es hier steht, handeln Engländer und

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Franzosen, indem sie ,aussaufen, was eingeschenkt ist'. Daher leiden auch die Franzosen an unterlaufenen Augen, weil von allzu vielem Saufen ihre Augen verdreht, gerötet, triefig und luchsartig sind; und so treten sie am frühen Morgen, wie sie sich vom Weine erhoben haben, mit solchen Augen vor den zelebrierenden Priester und bitten ihn, er möge das zur Waschung der Hände dienende Wasser ihnen in die Augen sprengen ... Auch die Engländer freuen sich in der Tat an solchen Dingen und ,saufen aus, was eingeschenket ist'. Ein Engländer ergreift z.B. ein großes Gemäß Wein und säuft es leer mit den Worten: ,ich komme euch eins'. Das heißt so viel wie ,ihr müßt nun ebensoviel trinken, wie ich trinke'. Und damit glaubt er eine große Höflichkeit zu sagen und zu tun und nimmt es sehr krumm, wenn einer anders tut, als er selbst es ihm mit Worten gelehrt und durch sein Beispiel gezeigt h a t . . . Doch darf man nicht streng mit den Engländern rechten, wenn sie gern guten Wein trinken, sobald sie es können, weil sie sehr wenig Wein im eigenen Land haben. Weniger gilt das von den Franzosen, weil sie davon im Überfluß haben, es sei denn, man wollte behaupten: hart ist es, das Gewohnte aufzugeben" 2 7 . Auch sein persönliches Verhältnis gegenüber den Frauen darf als ausgesprochen entspannt bezeichnet werden und ist frei von einer in der mittelalterlichen Literatur so häufig sich findenden Feindlichkeit und Aggressivität gegenüber dem weiblichen Geschlecht, wodurch sich vor allem viele kirchliche Autoren auszeichneten 28 . Auf den Vorwurf, die Franziskaner seien „Frauenjäger, d. h. wir (der Autor meint sich und die Franziskaner) betrachteten Weiber gern und plauderten mit ihnen und hielten mit ihnen intime Zwiesprache", reagierte Salimbene mit Skandalgeschichten über Bischöfe und Kleriker, die sich ganz ungeniert mit Frauen vergnügt hätten, und meinte im übrigen: „Wir und die Predigermönche sind arme Bettelmönche, die von Almosen leben müssen; und unter anderen Personen, die uns wohl tun, sind auch Frauen; nach dem Wort des Ecclesiasticus im 36. Kapitel: ,Wo keine Hausfrau ist, da wird der Durstige seufzen'. Und das sagt er um deswillen, weil sie mehr Erbarmen haben, den Armen zu geben, und für die Bedrängten mehr Mitgefühl haben als die Männer, die härteren Herzens sind. Und des27 Salimbene von Parma, Chronik, Bd. 1 (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 2. Gesamtausgabe), 1914, S. 193-196. 28 Vgl. dazu unten Kapitel XI.

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halb ist es unsere Pflicht, wenn sie nach uns senden, zu ihnen zu gehen, sei es wegen ihrer Kranken oder wegen einer andren Kümmernis, die sie haben, um ihnen einigermaßen ihre Wohltaten zu vergelten und auf daß wir nicht undankbar erscheinen" 2 9 . Wiederum stellt sich auch bei Salimbene, wie schon bei allen unseren Quellen zuvor, die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit, nach der Repräsentativität seiner Ansichten. Viel spricht dafür, daß Salimbenes ausgesprochen „liberale" Einstellung, sein Verständnis für Menschlich-Allzumenschliches, kein Einzelfall im Franziskanerorden gewesen ist. Die in ganz Europa aufgebauten Ordensprovinzen, die sich auf die Städte konzentrierten, die hohe Mobilität vieler Franziskaner und die damit notwendigerweise verbundene Internationalität, mußten allein schon für ein weiteres Blickfeld sorgen. Klerikalisierung und Akademisierung, die sich im Franziskanerorden schon bald nach dem Tode ihres Gründers, des heiligen Franziskus (gest. 1226) vollzogen, sorgten dafür, daß rigoristische Richtungen nicht die Oberhand gewannen, sondern die pragmatische Richtung unter dem Ordensgeneral Bonaventura (gest. 1274) obsiegte, der mit Unterstützung des Papsttums die seelsorgerische und akademische Tätigkeit des Ordens gegen die sogenannten Spiritualen verteidigte, die im folgenden 14. Jahrhundert sogar offiziell von Papst Johannes XXII. verurteilt wurden. Überhaupt läßt sich feststellen, daß rigoristischen Mentalitäten während des Mittelalters ein relativ geringer Erfolg beschieden war. Dies mag wohl an ihrer Intransingenz, ihrer Unversöhnlichkeit gelegen haben, die ihr reformerisches Anliegen immer wieder gefährden mußten. Als ein Beispiel, das für viele andere stehen kann, sei hier der irische Heilige Columban der Jüngere (gest. 615) angeführt, der gleich mehrfach und wiederholt in Konflikt mit der „Obrigkeit", sowohl der weltlichen wie auch der kirchlichen, geriet. Columban, der sich dem irischen Programm einer „Pilgerschaft im Namen Christi" (lat.: Peregrinatio pro Christo) verpflichtet fühlte, hatte, seiner weinenden Mutter zum Trotz, seine irische Heimat verlassen und, gefördert durch merowingische Könige, zahlreiche Klöster gegründet. Das irische Mönchtum, wie es durch Columban repräsentiert wurde, unterschied sich, sieht man einmal von den organisatorisch-juristischen und liturgischen Aspekten ganz ab, vom benediktinischen durch einen ungleich stärker asketisch geprägten Lebens- und Frömmigkeitsstil. Für Columban und seine Konflikte mit dem merowingischen Königtum typisch erscheint der

29 Salimbene, Chronik, Bd. 2, S. 81-82.

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Umstand, daß der irische Heilige nicht gewillt ist, zu Gunsten der von ihm gegründeten Klöster auf seine strengen Maßstäbe zu verzichten. Die von ihm erwartete Kooperation - so soll er auf Betreiben der berüchtigten Königinwitwe Brunichilde 609/610 ihre Enkel, die unehelichen Söhne König Theuderichs II. segnen - lehnt Columban entschieden ab, „da sie der Hurerei entsprossen sind" und daher auch „niemals die Königswürde erlangen werden" 3 0 . Auf diesen Affront folgt, nicht weiter verwunderlich, die Ausweisung Columbans. Auch wenn die neueren Forschungen die Auseinandersetzungen zwischen dem irischen Heiligen und Brunichilde/Theuderich II. nicht nur als die „persönliche Konfrontation von Sittenstrenge und sittlicher Verwilderung", sondern auch als einen „Normenkonflikt um den Gegensatz unterschiedlicher Rechtsauffassungen" (K. Schäferdiek) gedeutet haben, so zeigt doch die weitere Lebensgeschichte Columbans, daß es sich 609/610 nicht um einen Einzelfall gehandelt haben kann. Auch den Bruder Theuderichs II., Theudebert II., der den ausgewiesenen Heiligen bei sich aufgenommen hatte, hat Columban ebensowenig mit Kritik verschont, wie seinen letzten Gastgeber, den langobardischen König Agilulf, bei dem er sich seit 613 aufhielt. Auch in seinem Briefwechsel mit dem Papsttum scheute Columban vor harten Worten nicht zurück. Bei seinen im Bodenseeraum (Bregenz) zwischen 610 und 612 unternommenen Missionsversuchen, die den Alamannen gelten, verzichtet Columban darauf, Rückendeckung bei Papst und König zu suchen. Sein unbeugsames, kompromißloses Verhalten, seine rigoristische Mentalität unterscheidet sich ganz grundlegend von dem über ein Jahrhundert später wirkenden Bonifatius (gest. 754), der ganz bewußt in engster Kooperation mit Papst und König die fränkische Kirche organisierte und reformierte. Seiner adaptiv-realistischen Einstellung ist denn auch der größere historische Erfolg beschieden gewesen.

30 Vgl. Vita Columbani I 19 (ed. B. KRUSCH, Ionae vitae sanctorum Columbani, Vedastis, Iohannis, Monumenta Germaniae Histórica, Scriptores rer. Germ. 37), 1905, S. 188 - zitiert nach der Übersetzung von K. SCHÄFERDIEK, Columbans Wirken im Frankenreich (591 bis 612), in: H. LÖWE (Hg.), Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, Bd. 1, 1982, S. 171-201, hier S. 187-188.

Bibliographie

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Bibliographie

Allgemein: A. BORST, Lebensformen im Mittelalter, 1973; H. FICHTENAU, Lebensordnungen im 10. Jahrhundert, 2 Bde., 1984 (auch als Tb.-Ausgabe erschienen). Anonymus Haserensis: S. WEINFURTER, Einleitung, in: DERS. (Hg.), Die Geschichte der Eichstätter Bischöfe des Anonymus Haserensis, 1987, S. 11-37. Caesarius von Heisterbach: F. WAONER, Artikel „C. von Heisterbach", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, 1983, Sp. 1363-1366 (mit weiterer Literatur). Andreas von Fleury, Vita Gauzlini: R. BAUTIER/G. LABORY, Introduction, in: DIES. (Hgg.), André de Fleury, Vie de Gauzlin, Abbé de Fleury, 1969, S. 7-30. Atto von Vercelli: S. F. WEMPLE, A. of V., Church, State and Society in the Tenth Century (Diss. Columbia 1967); J. BAUER, Die Schrift ,De pressuris ecclesiasticis' des Bischofs A. v. V. (Diss. Tübingen 1975). Rather von Verona: P. C. JACOBSEN, Artikel „Rather (Ratherius) von Verona und Lüttich", in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. völlig neu bearb. Aufl., hg. von K. RUH U. a., Bd. 7, 1989, Sp. 1013-1032; F. BRUNHÖLZL, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. II, 1992, S. 355-366, 6 0 9 - 6 1 0 (mit weiterer Literatur). Casus sancti Galli: H. HAEFELE, Einleitung, in: DERS., Ekkehard IV. St. Galler Klostergeschichten, 2 1989, S. 1 - 1 4 (mit weiterer Literatur). Salimbene: W. KOLLER, Artikel „Salimbene", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, 1995, Sp. 1302 (mit Nennung weiterer Literatur). Columban (der Jüngere): K. SCHÄFERDIEK, Columbans Wirken im Frankenreich (591-612), in: H. LÖWE (Hg.), Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, Bd. 1, 1982, S. 171-201.

Kapitel V. Städter und Bürger 1. Einstellungen zu städtischen Lebensformen

2. Zur historischen Entwicklung der Stadt

3. Probleme städtischer Mentalitäten am Beispiel mittelalterlicher Kaufleute

4. Biblio-

graphie

1. Einstellungen zu städtischen Lebensformen Zwei Grandprobleme erschweren die Darstellung spezifisch „städtischer" Mentalitäten. So ist einmal die Definition des Begriffes der „Stadt" schwierig: Was ist überhaupt eine „Stadt" - was macht eine „Stadt" aus? Zum anderen ist bereits für unseren Untersuchungszeitraum eine historische Vielgestaltigkeit der „Stadt" zu konstatieren. Dies gilt sowohl für die Genese der verschiedenen Städte als auch für deren Strukturen. Es gab „alte", bereits in der römischen Antike bzw. Spätantike nachweisbare Städte, die auch in der Völkerwanderungszeit ihre städtischen Strukturen wenigstens teilweise bewahren konnten. Neben diese Römerstädte traten andere, teilweise erst im hohen Mittelalter gegründete Siedlungen, die in durchaus unterschiedlicher Entwicklungszeit zu Städten heranwuchsen. So vielgestaltig sich die Anfänge städtischer Siedlungen darstellen, so vielgestaltig war das äußere Erscheinungsbild der Stadt im Mittelalter. Es gab kleine und große Städte, es gab die kleine Landstadt in einem agrarisch geprägten Umfeld genauso wie die bedeutende Gewerbestadt in einer vorindustriell geprägten Städtelandschaft. Aufgrund dieser Vielgestaltigkeit wird man mit einigem Recht die Frage stellen dürfen, ob man überhaupt noch von spezifisch „städtischer" Mentalität sprechen kann. Können wir nur aufgrund der Tatsache, daß Menschen an einem Ort zusammenleben, davon ausgehen, daß sie dieselben mentalen Züge miteinander teilen? „Was gibt es Gemeinsames zwischen dem Bettler und dem Bürger, dem Kleriker und der Hure, Städter allesamt? Zwischen dem Einwohner von Florenz und dem von

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Einstellungen zu städtischen Lebensformen

Montbrison?" 1 - Dennoch wird man von städtischen Mentalitäten insofern sprechen können, als, ungeachtet aller sozialen Vielfältigkeit (Handwerker, Patrizier, Randgruppen usw.), alle in der Stadt lebenden Menschen sich als „Städter/Bürger" verstanden haben. Sicherlich haben sie sich außerdem oder gar in erster Linie immer auch als „Priester", als „Frau", als „Kaufmann" usw. gefühlt. Aber es gibt gute Gründe anzunehmen, daß mit diesem Gefühl oder Bewußtsein gleichzeitig die Überzeugung vorhanden gewesen sein muß, auch Bürger einer bestimmten Stadt, einer communitas bzw. einer coniuratio zu sein, wie der entsprechende terminus technicus frühen kommunalen Selbstverständnisses im 11. Jahrhundert lautet. Sorgen mußte dafür schon die topographische Enge und Kleinräumigkeit der Stadt: „der Domherr kreuzt zwangsläufig den Weg der Prostituierten, des Bettlers und des Bürgers. Sie alle können nicht ohne einander und gehören in diese dichtbesiedelte Welt, die dem Dorf unbekannte Formen des gesellschaftlichen Umgangs, eine spezifische Lebensweise, den täglichen Gebrauch von Münzgeld ... erzwingt" 2 . Aber es gibt noch ein weiteres, ungleich gewichtigeres Argument für die Annahme spezifisch städtischer Mentalitäten. So nehmen bereits die Menschen im ausgehenden 12. Jahrhundert, also zu einer Zeit, in der in vielen Regionen Europas die zunehmende Bedeutung der Stadt deutlich wird, die Stadt als eine Lebensform sui generis wahr. Die Skala mittelalterlicher Einschätzungen reicht von äußerster Ablehnung bis zu begeisterter Zustimmung. Zwei in der Literatur immer wieder zitierte Autoren, Richard von Devizes, ein Benediktiner aus Winchester, und William Fitz Stephen, ein Kleriker aus Canterbury, kommen so in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu jeweils ganz unterschiedlichen Bewertungen ihrer Großstadt London. Der Mönch Richard schreibt: „Ich mag diese Stadt überhaupt nicht. Dort kommen alle möglichen Leute aus allen möglichen Ländern zusammen; jedes Volk schleppt seine eigenen Laster und Bräuche ein. Niemand lebt dort, ohne auf irgendein Verbrechen zu verfallen. Jeder Stadtteil wimmelt von widerwärtigen Scheußlichkeiten ... Je schuftiger ein Mann, desto angesehener ist er. Man begebe sich nicht unter das Volk in den Herbergen ... Die Zahl der Schmarotzer ist dort unendlich groß. Schauspieler, Possenreißer, Weichlinge, Mohren, Speichel-

1

J. ROSSIAUD, Der Städter, in: J. LE GOFF (Hg.), Der Mensch des Mittelalters, S. 1 5 6 - 1 9 7 , hier S. 157.

2

Vgl.Anm. 1.

3

1994,

112

Kapitel V. Städter und Bürger

lecker, Lustknaben, Päderasten, Tänzerinnen und Sängerinnen, Scharlatane, Bauchtänzerinnen, Geisterbeschwörer, Erpresser und Nachtschwärmer, Zauberer, Pantomimenspieler, Bettler, solches Volk füllt diese Häuser. Wenn man also keinen Umgang mit diesen Schurken haben will, lasse man sich nicht in London nieder. Ich sage nichts gegen die Gebildeten, nichts gegen die Frommen oder die Juden. Dennoch glaube ich, daß die dort nicht so makellos sind wie anderswo, weil sie mitten unter Schelmen leben . . . " 3 Ganz anders lautet die Meinung des Klerikers William: „Von allen erhabenen Städten der Welt hat London, Thronsitz des Königreichs England, auf der ganzen Welt seinen Ruhm, seinen Reichtum, seine Waren verbreitet und das Haupt am höchsten erhoben. Die Stadt ist vom Himmel gesegnet; ihr gesundes Klima, ihre Frömmigkeit, die Länge ihrer Befestigungen, ihre günstige Lage, der gute Ruf ihrer Bürger, die Ehre ihrer Damen, alles gereicht ihr zum Vorteil ... Die Einwohner Londons werden allenthalben wegen der Eleganz ihrer Manieren und ihrer Kleidung und wegen der Genüsse ihrer Tafel gerühmt. Andere Städte haben Bürger, London hat Barone. Bei ihnen genügt ein Eid, um jeden Streit zu schlichten. Die Frauen von London gleichen den Sabinerinnen . . . " 4 Beide Haltungen, Städtekritik wie Städtelob, haben gemeinsame antike Wurzeln. Bereits in römischer Zeit gab es die Distanzierung gegenüber einer zivilisatorisch als überzüchtet und moralisch als verkommen eingeschätzten „Stadt", der man sich nur durch den Rückzug in ländliche Einsamkeit und Abgeschiedenheit entziehen konnte. Diese negative Haltung gegenüber der Stadt verstärkte sich in der Zeit der ausgehenden Spätantike. Denn prominente und einflußreiche Vertreter des Christentums propagierten und probten den gesellschaftlichen „Ausstieg". - Das berühmteste Beispiel gab der Kirchenvater Hieronymus (gest. 420) ab, der gefeierte Intellektuelle und Liebling einer sich langweilenden römischen Damenwelt. Er hatte sich, nachdem sich seine Hoffnungen auf eine rasche Karriere, vielleicht gar auf die päpstliche Kathedra, nicht erfüllt hatten, im Jahre 386 enttäuscht nach Bethlehem in Palästina zurückgezogen, ohne dort freilich die von ihm angeblich so gewünschte Ruhe und Abgeschiedenheit zu erlangen. Askese, Einsamkeit und Einfachheit, nach christlich-frühmittelalterlicher Auffassung Voraussetzung wahren religiösen Lebens und von Jesus selbst, 3 4

Zitiert nach ROSSIAUD (wie Anm. 1), S. 156. Zitiert nach ROSSIAUD (wie Anm. 1), S. 157.

Einstellungen zu städtischen Lebensformen

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der vierzig Tage in der Wüste gefastet hatte, beispielhaft vorgelebt, waren in aller Regel nur außerhalb der Stadt vorstellbar. So ist es nicht überraschend, daß, zumal in kirchlichen Kreisen, bis in die Zeit des Hochmittelalters die kritischen Stimmen überwogen. Freilich gab es, wie schon in der Antike, auch den Stolz auf die eigene Heimatstadt, das Bewußtsein, daß politische Macht, kulturelle Leistungen und zivilisatorischer Fortschritt ganz unmittelbar an städtische Strukturen gebunden waren. Unübersehbare Zeichen einer Höherbewertung der Stadt und ihrer Lebensformen lassen sich spätestens seit dem 13. Jahrhundert, also noch vor dem Beginn der eigentlichen Renaissance hundert Jahre später, nunmehr auch bei kirchlichen Autoren feststellen. Zwar kommt es erst im Zeitalter der Renaissance zu einer Wiederbelebung der antiken Literaturgattung der sog. laudes urbis (Lobschriften über eine bestimmte Stadt), doch auch schon für vorangegangene Zeiten gibt es, wie schon angedeutet, auch bei kirchlichen Autoren durchaus freundliche Einstellungen gegenüber der Stadt. Positive Identifikationsmodelle waren für die Christen allemal die „Heiligen Städte" an ihrer Spitze deren unbestrittener Prototyp, die Stadt der Apostelfürsten, die urbs aeterno, Rom. Aber auch ein früher Lokalpatriotismus trug dazu bei, Stadt und städtische Lebensformen nicht nur negativ zu beurteilen. So lassen die sog. gesta episcoporum (,Tatenberichte der Bischöfe') häufig genug nicht nur die Sympathie des Autors für die von ihm dargestellten Bischöfe erkennen, sondern ebenso auch die Wertschätzung der Stadt, in der der jeweilige Bischof lebte und wirkte. Zu einer positiveren Bewertung städtischer Lebensformen trugen dann spätestens im 13. Jahrhundert auch die Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner bei. Denn ihr Wirken war ganz unmittelbar auf die Stadt ausgerichtet, was sich schon daran ablesen läßt, daß man seit den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts die sich sehr schnell verbreitenden Niederlassungen dieser Orden in den Städten konzentriert findet. Damit unterschieden sie sich stark von den älteren Orden, die, wie beispielsweise die Zisterzienserklöster, ländliche Abgeschiedenheit städtischer Unruhe vorzogen. Und nicht ohne tieferen Grund gehörten kirchliche Autoren, die gegenüber der Stadt eine freundlich-realistische Haltung einnahmen - das beste Beispiel dürfte der Dominikaner Thomas von Aquin (gest. 1274) sein häufig den Bettelorden an. Thomas von Aquin, der in den vierziger und fünfziger Jahren des 13. Jahrhunderts zweimal einen theologischen Lehrstuhl an der Pariser Universität bekleidete, wußte sehr wohl um die Vorzüge der Stadt. Die im

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Kapitel V. Städter und Bürger

13. Jahrhundert besonders intensive Beschäftigung mit den Werken des Aristoteles beförderte im Falle des Aquinaten eine positive theoretische Grundeinstellung gegenüber der Stadt, die auch durch seine praktischen Erfahrungen in der „Großstadt" Paris gestärkt wurde. Nicht nur waren fast alle theologischen Lehrstühle von Angehörigen der Bettelorden besetzt und die Konkurrenz der Weltkleriker damit fast ausgeschaltet, sondern auch der damalige französische König Ludwig IX. der Heilige (1226-1270) stärkte durch massive materielle Leistungen die Autonomie der Universität und ihrer Ordensmitglieder. Ehe wir uns aber städtischen Mentalitäten zuwenden, wird es von Nutzen sein, einige historische Entwicklungslinien der Stadtgeschichte zu zeichnen.

2. Zur historischen Entwicklung der Stadt Für die deutsche Stadtgeschichtsforschung typisch erscheint die Betrachtung der Stadt unter rechtlichem Aspekt. Die Stadt wurde als Rechtsbezirk sui generis gedeutet, was dazu führte, daß vor allem Stadtrecht und Stadtverfassung untersucht wurden. Daneben wurde die Stadt und die ihr zugrundeliegende bzw. vorausgehende Siedlung unter topographischen/toponymischen und sozialökonomischen Kriterien betrachtet. Man konzentrierte sich unter anderem auf die Bedeutung von Klöstern und Stiften für die Stadtentwicklung, von Märkten und alteingesessenen Handelsorten, auf Kontinuitätsfragen ebenso wie auf die Bedeutungen von Neu- oder Erstgründungen. Soziale und ökonomische Aspekte lassen sich quellenmäßig verstärkt aber erst seit dem 11. Jahrhundert fassen. Die Stadt bildet nunmehr den Rahmen, innerhalb dessen heftige Konflikte zwischen den verschiedenen Interessengruppen ausgefochten werden. Für diese frühe Zeit des 11. und 12. Jahrhunderts vollziehen sich die Entwicklungen gleichsam in einem Kräftedreieck. Dessen erster Eckpunkt wird gebildet von einem weltlichen Stadtherrn, der, wie in Deutschland und in Frankreich häufig, mit dem geistlichen Stadtherrn identisch sein kann. Einen zweiten Eckpunkt stellt die politisch besonders aktive Gruppe der Stadtbevölkerung, die der reichen Kaufleute dar, die nach politischer Einflußnahme trachtet und häufig den populus (das „Volk") für seine Interessen gewinnen kann. Schließlich muß als dritter Machtfaktor der König bzw. Landesherr genannt werden, der von außen in die Geschicke der Stadt eingreift. In den schweren, teilweise auch sehr blutig verlaufenden Auseinandersetzungen, die zwischen dem Stadtherrn und der sich in Schwureinungen

Historische Entwicklung der Stadt

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(coniurationes) organisierenden Stadtbevölkerung ausbrechen, kommt der dritten Größe eine äußerst wichtige Funktion zu. Der Landesherr bzw. König verfolgt dabei, wie beispielsweise die französische Stadtgeschichte des 12. Jahrhunderts zeigen kann, durchaus keine einheitliche Politik. Bündnisse mit dem aufstrebenden städtischen Bürgertum werden ebenso eingegangen, wie es zu Allianzen zwischen König/Landesherr und den in ihrer Stellung bedrohten bisherigen Stadtherrn kommt. Spätestens im 13. Jahrhundert wird eine komplexe soziale Schichtung greifbar: Die Oberschicht (Patriziat) setzt sich aus der reichen, in der Stadt seßhaft gewordenen Kaufmannschaft zusammen, ferner aus wohlhabenden Handwerkern und - namentlich gilt dies für Italien, aber auch teilweise für deutsche Verhältnisse (z.B. Wien, Augsburg) - aus dem in der Stadt lebenden Adel. Die Mittelschicht bilden Handwerker und Gewerbetreibende, die sich, wie die Kaufleute, in spezifischen Organisationsformen (die Terminologie ist landschaftlich unterschiedlich; man spricht von Gilden, Innungen, Zechen und Zünften) zusammenschließen. Die städtischen Unterschichten setzen sich aus Gesellen, Lehrlingen, Gehilfen, Gesinde, Hauspersonal usw. zusammen. Die unterstädtischen Schichten und Randgruppen, denen wir uns in einem eigenen Kapitel zuwenden 5 , konstituieren sich u.a. aus den sog. unehrlichen Berufen, den Juden, den Prostituierten, den Fremden. Mit der soeben skizzierten Geschichte der Stadt aufs engste verknüpft sind die Rahmenbedingungen, an die städtische Mentalitäten gebunden sind. Ein auf jeden Fall beachtenswertes Faktum dürfte die räumliche Enge, die Konzentration der Bevölkerung auf einen in vielen Fällen durch die Stadtmauer symbolisch und real umschlossenen Raum, darstellen. Freilich gilt auch hier das Gebot einer differenzierten historischen Betrachtung. Die Verhältnisse Mitte des 13. Jahrhunderts in der damals einzigen europäischen Großstadt Paris, wobei unter Großstadt der heutige Maßstab einer Stadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern zugrundegelegt wird, sind ungleich andere, als in einer „Kleinstadt" mit einer Einwohnerzahl unter zehntausend, die gleichwohl die Masse der damaligen Städte ausmachte; denn noch in der Mitte des 13. Jahrhunderts dürften nicht mehr als 60 bis 70 Städte in Europa über zehntausend Einwohner gehabt haben. Die Bedeutung räumlicher Enge bzw. Umgrenztheit für die Ausbildung einer spezifisch städtischen Mentalität ist ganz unmittelbar einsichtig. Auf jeden Fall förderte sie die Entstehung kollektiver Psychosen und Ängste. So nahm die Judenverfolgung in der spätmittelalterlichen Stadt besonders grau5

Vgl. das folgende Kapitel VI.

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Kapitel V. Städter und Bürger

same und intensive Formen an. Beispielsweise waren die meisten Straßburger Christen in der Mitte des 14. Jahrhunderts, als die Pest auch ihre Stadt überzogen hatte, fest davon überzeugt, daß die Juden die städtischen Brunnen vergiftet hätten. Mit der Kleinräumigkeit und der damit verbundenen Möglichkeit einer besonders leichten Entstehung und Schürung von Psychosen hängt auch die Möglichkeit einer schnellen Informationsverbreitung zusammen. Im Vergleich mit den auch noch im Spätmittelalter nach wie vor langsamen Kommunikationswegen konnten sich Nachrichten und Informationen im städtischen Rahmen verhältnismäßig schnell ausbreiten. Städtische Bevölkerung ließ sich vergleichsweise rasch mobilisieren. Ob freilich „die Enge der Gassen einen diffusen Voyeurismus (förderte)", da man angenommen hat, daß „nichts Wichtiges dem Spürsinn der Nachbarn lange verborgen bleiben (konnte)" 6 , soll hier nicht entschieden werden. Vielleicht handelt es sich bei dieser Meinung auch nur um ein Klischee. Denn mit Sicherheit darf man daneben auch einen spezifisch dörflichen „Voyeurismus" annehmen, der angesichts der viel größeren Enge und Geschlossenheit ländlicher Siedlungsverhältnisse stärker als ein entsprechender städtischer ausgebildet war. Überhaupt muß davor gewarnt werden, den Stadt-Land-Gegensatz überzubetonen. Der Einflußbereich der Stadt und der Städter endete nicht an der Stadtmauer. Auch das umgebende Land - in Italien spricht man vom contado - gehörte häufig rechtlich und wirtschaftlich zur Stadt. So besitzen beispielsweise wohlhabend gewordene Lübecker Kaufleute im 14. Jahrhundert umfangreichen Landbesitz außerhalb von Lübeck, den sie als Grundherrn durch von ihnen abhängige Bauern bewirtschaften lassen. Und eine alte Reichsstadt wie das württembergische Rottweil ist Territorialherr über zahlreiche Dörfer und Städte am oberen Neckar gewesen. Wichtiger erscheint etwas anderes. Für viele Städte müssen wir mit einer hohen Mobilität rechnen. Die wirtschaftliche und rechtliche Attraktivität der Stadt sorgte für eine ständige Zuwanderung von Neubürgern. Für manche Städte in Italien und Deutschland hat man ein überaus starkes Wachstum errechnet. So gehen Schätzungen davon aus, daß sich innerhalb einiger Jahrzehnte die Bevölkerung so mancher Stadt verdoppelt hat. Inwieweit dadurch traditionelle Bindungen wie Familie und Sippen zerstört wurden, läßt sich schwer sagen. Man sollte aber auch daran denken, daß es vor allem im Spätmittelalter im städtischen Spital- und Armenwesen zu neuen Formen solidarischer Fürsorge gekommen ist, die von der städtischen Obrigkeit unterstützt wurden. 6

V g l . d a s Z i t a t b e i R O S S I A U D ( w i e A n m . 1), S .

177.

Kaufleute

117

3. Probleme städtischer Mentalitäten am Beispiel mittelalterlicher Kaufleute Wir greifen dieses Beispiel aus zwei Gründen auf: Zum einen aus ganz pragmatischen. Auf dem diffizilen Gebiet der Mentalitätsgeschichte gehört die Figur des Kaufmanns zu dem noch am besten erforschten Bereich; zum anderen ist darauf hinzuweisen, daß mit kaufmännischer Mentalität ein Kernbereich städtischer Mentalitäten angesprochen wird, weil die Kaufleute zu den städtischen Führungsschichten par excellence gehören. Auch wenn es vielleicht ein wenig pathetisch klingen mag: das Diktum „Das Geld ist das Blut der Stadt, ihr Lebenssaft" trifft Wesentliches. In ungleich stärkerem Maße als das Land ist die Stadt auf Kauf und Verkauf angewiesen. Die Stadt ist vom Markt, der sie beliefert, abhängig. Die Städter sind keine Selbstversorger. Einen sichtbaren Ausdruck findet dieses ökonomische Prinzip in den spätmittelalterlichen Kleider- und Luxusordnungen, die von vielen Städten erlassen wurden. Diese definieren u. a. den finanziellen Rahmen, innerhalb dessen sich der Kleideraufwand einer Frau zu bewegen hat. Der Maßstab hierfür ist die Höhe der Mitgift. Das Geldvermögen legitimiert einen bestimmten Lebensstil. Man darf mit seiner Kleidung aber keinesfalls über seinen finanziellen Status täuschen. So gesehen dürfen in Umkehrung eines alten Sprichwortes im Mittelalter Kleider eben keine Leute machen. Züge städtischer Mentalität, wie wir sie in den vorangegangenen Passagen beschrieben haben, spiegeln sich auch in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung besonders seit dem 12. Jahrhundert. Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis stellt das „Tagebuch" des bereits erwähnten Galbert (gest. nach 1128) dar, der als Kanoniker und Notar in Brügge in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts lebte. Für seine Geschichtsschreibung typisch ist der „städtische" Blickwinkel, unter dem Galbert die ihn tief aufwühlenden Ereignisse der Jahre 1127 und 1128 schildert und erklärt. Soziales Milieu, die große Kaufmannstadt Brügge, und historische Entwicklung, das politische Eigengewicht der flandrischen Städte, erzwangen diese Sichtweise geradezu. Anlaß und Ausgangspunkt seiner Darstellung bildet für Galbert die Ermordung des von ihm verehrten flandrischen Grafen Karl des Guten am 2. März 1127 in der Kirche St. Donatien zu Brügge. Wenn die adligen Mörder gehofft haben mochten, die Einwohner Brügges würden die Gewalttat in ihren Mauern klaglos hinnehmen, so sollten sie sich gründlich getäuscht haben. Schneller als erwartet verbreitete sich die Nachricht von der Ermordung des Grafen in der Städtelandschaft Nordostfrankreichs und Flanderns und fand auch den Weg über den Kanal:

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Kapitel V. Städter und Bürger

„Als das Leben eines so ruhmreichen Fürsten (Karls des Guten) sein Ende im Martyrium gefunden hatte, trauerte die gesamte Einwohnerschaft seiner Länder, erschüttert durch den ruchlosen Verrat, heftig um ihn. Und, so seltsam es klingt, als der Fürst am Morgen in seiner Burg in Brügge niedergeschlachtet worden war, und zwar an einem Mittwoch, erschütterte die Nachricht seines schändlichen Todes am darauffolgenden Tage in der Frühe bei Tagesanbruch die Bürger der Stadt London, die in England liegt, und am gleichen Tag gegen Abend die Bürger von Laon, die von uns weit entfernt in der „Francia" leben. Darüber haben uns unsere Schüler informiert, die damals in Laon studiert haben. Das wußten wir auch durch unsere Kaufleute, die an eben diesem Tag in London ihren Kaufmannsgeschäften nachgingen. Weder zu Pferd noch zu Schiff hätte jemand so schnell solche zeitlichen und räumlichen Distanzen überwinden können" 7 . Die Geschwindigkeit, mit der sich die Nachricht von der Ermordung Karls innerhalb dieser flandrischen Städtelandschaft und in den angrenzenden „Großstädten" wie dem englischen London und dem französischen Laon verbreitete, sorgte, wenn schon nicht für eine „Internationalisierung" des Konfliktes, so doch dafür, daß der Konflikt kein lokaler blieb. Die Einwohner Brügges konnten zumindestens hoffen, daß sie in ihrem Kampf gegen die mächtigen Adligen, die Karl ermordet hatten, nicht lange alleine bleiben würden. Aber vor allem war dank der raschen innerstädtischen Kommunikationswege dafür gesorgt, daß der Handlungsspielraum der Mörder Karls sich sehr rasch einengte. So scheiterten die Verschwörer, zu denen auch der Propst von St. Donatien gehörte, bei ihrem Versuch, den Leichnam des Grafen möglichst unauffällig, „sine tumultu", verschwinden zu lassen. Zu diesem Zweck hatten sie einen Abt gebeten, den toten Karl heimlich nach Gent zu bringen. Dort, sozusagen an neutralem Ort, sollte man ihn dann begraben: „Und es verbreitete sich unter den Bürgern (von Brügge) sehr rasch das Gerücht, man wolle den Leichnam Karls (aus der Stadt) bringen. Der Propst und jener Abt beeilten sich, um einer Unruhe in der Stadt zuvorzukommen, und ließen die Bahre, die man erst jüngst zum Wegschaffen der Leiche angefertigt hatte, bis zum Ausgang der Kirche schaffen. Zwar betraten Soldaten die Kirche, die jene Bahre mit dem (toten) Fürsten, die in der Mitte 7

Galbertus Notarius Brugensis, D e multro, traditione et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum,

12, ed. J. RIDER ( C o r p u s Christianorum, Continuatio Mediaevalis,

C X X X I ) , 1994, S. 3 1 - 3 3 (aus d e m Lateinischen übersetzt).

Bd.

Kaufleute

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des Chorraumes stand, aufheben und zu einer anderen Bahre am Ausgang der Kirche bringen sollten, doch liefen daraufhin die Kanoniker der Kirche herbei und stellten die Bahre mit Gewalt wieder auf den Boden. Sie sagten, sie wollten zuerst vom Propst hören, aus welchem Grund er dies angeordnet habe. Und sie begaben sich zur Burg, wo sich der Propst und seine Neffen (d. h. die Mörder Karls) und eine sehr große Zahl von Bürgern zusammen mit denjenigen eingefunden hatten, die das Gerücht vernommen hatten, man wolle den Leichnam aus der Stadt bringen. Und einer der Ältesten sprach: ,Oh Herr Propst, wenn ihr gerecht hättet handeln wollen, dann hättet ihr nur mit Zustimmung und nach Absprache mit den Brüdern diesen so wertvollen Märtyrer, diesen so großen Lenker des Reiches, diesen so großen Schatz unserer Kirche ausgeliefert, den uns die göttliche Barmherzigkeit und Fügung als Märtyrer geschenkt hat. Es gibt keinen Grund dafür, weshalb er von uns entfernt werden sollte, zumal er besonders mitten unter uns aufgewachsen ist und gelebt hat, und zumal er mitten unter uns aufgrund göttlicher Fügung seiner Gerechtigkeit wegen verraten worden ist. Ja, wir fürchten die Zerstörung der Stadt und der Kirche, sollte Karl weggeschafft werden. Durch seine Intervention wird Gott uns verschonen und sich unser erbarmen. Ganz sicher wird Gott, sollte Karl von uns (aus der Stadt) gebracht werden, ohne Mitleid den unter uns begangenen Verrat rächen.' Aber der Propst und die Verräter wurden unwillig und befahlen, den Leichnam wegzuschaffen. Also stürzten sich die Kanoniker mit großem Geschrei zu den Kirchenausgängen. Und sie riefen mit lauter Stimme, daß sie den Leichnam Karls, des überaus frommen Fürsten und Märtyrers, nicht freigäben, solange sie lebten; sie würden lieber sterben, als zuzulassen, daß er weggebracht würde. Damals hätte man freilich Kleriker sehen können, die sich mit ihren Wachstafeln bewaffnet hatten, mit Schemeln und mit Leuchtern und allerlei kirchlichem Gerät, womit sie Widerstand leisten konnten. Anstatt mit der Kriegstrompete zu blasen, läuteten sie die Kirchenglocken. Dadurch riefen sie alle Bürger Brügges zusammen. Als diese erkannt hatten, wie die Sache stand, kamen sie bewaffnet angelaufen, umstellten mit gezückten Schwertern die Bahre mit dem Leichnam des Fürsten, bereit zum Widerstand, sollte jemand es wagen, diesen wegzutragen. Und da es außerhalb und innerhalb der Kirche ein großes Geschrei gab, wollte die göttliche Barmherzigkeit ihre Kinder vor Unvernunft und Waffenlärm bewahren. So lagen unter der Bahre Lahme und Krüppel. Und während des Lärmens begann ein Krüppel, dessen einer Fuß mit dem Gesäß verwachsen war, laut zu rufen und Gott zu preisen. Aufgrund der Verdienste des frommen Fürsten hatte Gott es vor den Augen aller möglich gemacht,

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Kapitel V. Städter und Bürger

daß der Gelähmte wieder auf natürliche Art gehen konnte. Die Nachricht von diesem Wunder sorgte dafür, daß sich alle beruhigten. Aber der Propst und der Burgherr und die Verräter hatten sich in das Haus des (ermordeten) Grafen begeben. Sie fürchteten sich vor Unruhen und teilten den Bürgern mit, daß sie gegen deren Willen nichts unternähmen, um den Leichnam aus der Stadt zu schaffen" 8 . Das hier bereits erkennbare Selbstbewußtsein der Brügger Bürger steigert sich im weiteren Verlauf des Konfliktes. Sie schließen mit Teilen des flandrischen Adels ein Bündnis, das sich gegen die Mörder des Grafen Karl richtet. Vor allem aber gehen sie mit ihrer Nachbarstadt Gent ein Bündnis ein. Dadurch gestärkt, erstürmen sie zusammen mit ihren Alliierten den Burgbezirk, in den sich die Mörder Karls zurückgezogen haben. Man schreibt den 19. März 1127, und gerade beginnt es zu tagen: „ . . . unsere Bürger (die Brügger) klettern im südlichen Teil (des Burgbezirkes), in den man auch die Reliquien der Heiligen geschafft hatte, über die Mauer mit Hilfe von kleinen Leitern und Stricken, die ein Mensch alleine tragen konnte. Drinnen ordneten sie sich, leise und ohne viel Geräusch zu verursachen, in großen Schlachtreihen, die kampfbereit waren. Und sofort bestimmten sie, daß die Kleineren unter ihnen zu den großen Türen sich aufmachen sollten. Sie hatten den Auftrag, die dort angehäuften Erd- und Steinmassen von den Toren wegzuräumen und dadurch den davor sich befindenden Belagerern, die von all dem noch nichts wußten, eine Eintrittsmöglichkeit zu verschaffen. Auch an der westlichen Burgseite fanden sie ein Tor, das durch Schloß und Riegel aus Eisen fest verschlossen war. Es war weder mit Erd- noch Steinmassen überschüttet worden. Jene Verräter hatten das Tor deshalb freigelassen, damit sie diejenigen Leute, die sie wollten, herein- und herauslassen konnten. Unsere Bürger näherten sich dem Tor und öffneten es sofort mit ihren Schwertern und ihren Beilen. Die dadurch im Inneren verursachten lauten Geräusche alarmierten das vor der Burgmauer lagernde Heer. Also stürmte eine große Anzahl der Belagerer in den Burgbezirk: die einen, um zu kämpfen, die anderen, um zu plündern, was sie finden konnten, andere betraten die Kirche (St. Donatien), um sich des Leichnams des seligen Grafen Karl zu bemächtigen, um ihn dann anschließend nach Gent zu transportieren. Durch das Wüten und den unendlichen Lärm schreckten die Verräter, die im

8

Galbertus, De multro 22, ed. RIDER, S. 53-55 (aus dem Lateinischen übersetzt).

Kaufleute

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Hause des Grafen in tiefem Schlaf lagen und von nichts wußten, empor und liefen dann umher, um die Ursache des ganzen Lärms herauszufinden. Und als sie erkannten, wie gefährlich die Lage war, stürzten sie zu den Waffen und stellten sich draußen auf, um den Angriff zu erwarten. Einige von ihnen wurden beim Anstürmen der Bürger innerhalb des Burgbezirkes bei einem der Tore abgefangen, ziemlich viele Ritter nämlich, denen die Bewachung eben dieser Tore im östlichen Teil übertragen worden war. Diejenigen Ritter, die sich mit den hereingeströmten Bürgern ein Gefecht lieferten, haben sich, als sie nicht mehr konnten, ergeben in der Hoffnung auf Gnade und Schonung durch die, die sie gefangennahmen. Einige von ihnen aber, die um ihr Leben fürchteten, wenn sie von den Bürgern gefangengenommen würden, stürzten sich von der Mauer herab. Einer von ihnen, der Ritter Giselbert, schlug bei seinem Fall kopfüber auf den Boden und hauchte so sein Leben aus. Frauen hatten ihn in ein Haus geschleift und wollten ihn eben beerdigen, als der Kastellan Dietrich und sein Gefolge erkannten, daß jener tot sei. Sie banden ihn an den Schweif eines Pferdes, zogen ihn durch alle Straßen der Stadt. Daraufhin schändeten sie ihn dadurch, daß sie ihn in die Kloake warfen, die sich in der Mitte des Marktplatzes befand. Als die Bürger erkannt hatten, daß sie (die Mörder Karls und ihre Anhänger) vor dem Eingang des gräflichen Wohnhauses Widerstand leisten wollten, stürzten sie die Stufen, die zu eben diesem Eingang führten, hinauf, zertrümmerten mit ihren Beilen und Schwertern die Türen und trieben die Belagerten, nachdem sie zu ihnen vorgedrungen waren, mitten durch das Haus bis zu dem Durchgang, den der Graf gewöhnlich benutzte, um von seinem Haus zur Kirche St. Donatien zu gelangen. Dieser Durchgang, gewölbt und aus Steinen erbaut, war der Schauplatz eines sehr großes Kampfes, wo die Bürger Mann gegen Mann mit Schwertern mit den Belagerten kämpften, weil diese nicht mehr weiter fliehen wollten. Beide Seiten, im festen Vertrauen auf ihren Mut und ihre Kampfeskraft, standen unbeweglich wie eine Mauer, bis es den Bürgern gelang, in vereinter Masse, nicht durch Einzelkampf, sondern indem sie sich auf die Belagerten stürzten, selbige in die Flucht zu schlagen .. , " 9 Die Moral und die Botschaft, die Galbert vermitteln möchte, liegen auf der Hand. Der wehrhafte Bürger, der „Bürger in Uniform" ist dem „Ritter in Rüstung" allemal ebenbürtig. Dies gilt gleichermaßen für seine Unerschrockenheit wie für seine Kampfkraft, ja der Bürger ist, wenn wir der

9

Galbertus, De multro 41, ed. RIDER, S. 9 0 - 9 1 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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optimistischen Schilderang Galberts folgen wollen, dem Ritter sogar überlegen, zumindestens im städtischen Häuserkampf und bei der Belagerung, bei der der handwerklich geschulte bürgerliche Spezialist sehr willkommen ist. Zudem sind die Städter nach Meinung Galberts leicht mobilisierbar. Direkt vom Abendbrottisch eilen sie bei drohender Gefahr zu den Waffen, um ihre Stadt zu verteidigen 10 . Bürgerlich-städtisches Selbstbewußtsein äußert sich freilich nicht nur militärisch, sondern vor allem auch politisch. Den flandrischen Städten gelingt es, auf dem Verhandlungswege wesentliche finanzielle Zugeständnisse von dem als Nachfolger des ermordeten Karl bestellten neuen Grafen zu erlangen: „Man las auch vor die Vereinbarung zwischen dem Grafen (von Flandern) und unseren Bürgern bezüglich der erlassenen Zölle und der Besteuerung, die Herdstellen betreffend. Die Bürger sollten als Preis für Wahl und Anerkennung des neuen Grafen von diesem die Freiheit erhalten, dergestalt, daß sie und die nachfolgende Bevölkerung dem Grafen und seinem Nachfolger keine Zölle und Steuern bezahlen sollten" 11 . Wie sehr ökonomischer Rationalismus das Denken und Handeln der Bürger, ihre Mentalität, beherrscht hat, dokumentiert die von Galbert detailliert geschilderte Auseinandersetzung zwischen dem neuen Grafen und den flandrischen Städten. Im März 1128, ein Jahr nach der Ermordung Karls des Guten, verlangen sie Rechenschaft von ihrem neuen Grafen, den sie ja gewählt haben. Der Graf Wilhelm wird beschuldigt, seinen Vertrag mit den Flamen gebrochen zu haben. Die Stadt Gent macht den Anfang, und schließlich läßt sich auch Brügge, die Hauptstadt, überzeugen. Denn allzu einleuchtend sind die Beschuldigungen. Es sind vor allem ökonomische Gründe. Wider besseres Wissen belaste der Graf die Bevölkerung Flanderns mit Steuer und Zins. Die bürgerlichen Widerständler motivieren ihre Revolte mit dem durch die neue gräfliche Regierung eingeleiteten wirtschaftlichen Niedergang: „Sieh da! Es ist ganz offensichtlich, daß die Kaufleute und alle Händler Flanderns wegen dieses Grafen in Bedrängnis geraten sind ... und schon für dieses Jahr haben wir unsere ganzen Ressourcen aufgebraucht, und darüber-

10 Vgl. den Bericht bei Galbertus, De multro 28, ed. RIDER, S. 69. 11 Galbertus, De multro 55, ed. RIDER, S. 104 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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hinaus hat der Graf das, was wir zu einer anderen Zeit erworben haben, geraubt bzw. haben wir es selbst verbrauchen müssen, weil wir von den Feinden des Grafen eingeschlossen und belagert waren" 1 2 . Politische Einschüchterungsversuche des Grafen werden von den Bürgern als Behinderungen des Wirtschaftslebens gedeutet und rechtfertigen deshalb ihren Abfall vom Grafen: „Als er (der Graf von Flandern) schließlich zu Ypern für uns und die Großen einen Tag bestimmte, an dem er sich mit uns vergleichen wollte, kam er, das wissen alle Einwohner Flanderns, und besetzte vorweg mit militärischer Gewalt die Burg von Ypern, um in der Sprache der Gewalt mit uns zu verhandeln und uns zu dem zu zwingen, was er wollte. Deshalb hat er uns ohne Begründung, wider das Gesetz Gottes und das Gesetz der Menschen, in diesem Gebiet festgehalten, so daß wir nicht unsere Geschäfte betreiben konnten; ja, wir mußten sogar das, was wir bisher erworben hatten, ohne Gewinn, ohne Möglichkeit zu handeln, ohne neue Dinge erwerben zu können, selbst verbrauchen. Damit haben wir einen gerechten Grund, ihn aus dem Lande zu verjagen" 1 3 . Das spannungsreiche Verhältnis gegenüber allem Ökonomisch-Materiellen hat im Mittelalter, so lautet zumindestens eine besonders stark von der französischen Forschung (J. Le Goff) vertretene These, auch die Mentalität und das Verhalten des Kaufmanns beeinflußt. Schließlich unterlag auch er den Normen einer sich als Gemeinschaft von Christen definierenden Gesellschaft. Und hier konnte es keinen Zweifel geben: Geldbesitz gefährdet die Reinheit der Seele und macht den Menschen zum Sünder. So war im Buch Jesus Sirach (31,5) zu lesen: „Wer Geld liebhat, der bleibt nicht ohne Sünde; und wer Gewinn sucht, der wird damit zugrunde gehen" und der Herr selbst, Jesus Christus, folgen wir dem Evangelisten Matthäus (6, 24), meinte: „Niemand kann zwei Herren dienen. Entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon". Diese für einen Kaufmann, der auf Kapital zur Führung seiner Geschäfte zwangsläufig angewiesen war, nicht eben unproblematischen Aussagen erfuhren noch eine weitere Verschärfung. Nicht nur der Besitz von Geld war

12 Galbertus, De multro 95, ed. RIDER, S. 143 (aus dem Lateinischen übersetzt). 13 Galbertus, De multro 106, ed. RIDER, S. 151 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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für den Christen moralisch bedenklich, sondern ihm wurde ökonomisches Verhalten geradezu verboten. So war im Alten Testament (2. Buch Mose 22,24) zu lesen: „Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, an einen Armen neben dir, so sollst du nicht an ihm wie ein Wucherer handeln; du sollst keine Zinsen von ihm nehmen", wie auch im dritten Buch Mose (25, 35-37) die Meinung vertreten wurde: „Wenn dein Bruder verarmt und neben dir abnimmt, so sollst du ihn aufnehmen als einen Fremdling oder Gast, daß er lebe neben dir und sollst nicht Zinsen von ihm nehmen noch Wucher sondern sollst dich vor deinem Gott fürchten, auf daß dein Bruder neben dir leben könne. Denn du sollst ihm dein Geld nicht auf Zinsen leihen und kein Übermaß an Früchten leihen." Die Kirche hat viel dafür getan, daß sich das biblische Verbot der Zinsnahme im Bewußtsein des Mittelalters verbreitete. Die Zinsnahme wurde häufig als Wucher (usura) geschmäht und dämonisiert. Dies konnte leicht dazu führen, daß der Kaufmann, der ja auch von der Zinsspanne lebte, indem er billiger einkaufte und teurer verkaufte, als Wucherer galt: der usurarius konnte mit dem mercator gleichgesetzt werden. Karolingische „Rationalisten" vom Schlage des Bischofs Theodulf von Orléans (gest. 821), für den „Handelsgeschäfte ... Erwerbsarten wie andere auch" waren (H. Siems), blieben in der Minderzahl. Um die restriktive Haltung der Kirche besser verstehen zu können, muß man sich daran erinnern, daß Geld nach mittelalterlicher Auffassung primär als Bewertungsmaßstab galt, nicht hingegen als ein Gut, das den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterlag. Das Leihen von Geld gegen Geld konnte nur als sog. Aequivalententausch (J. Le Goff) gerechtfertigt sein: ,Du leihst mir 5 Mark und ich zahle dir 5 Mark zurück.' Die Einforderung eines Zinses galt nach Einschätzung der mittelalterlichen Kirche als schwere Sünde. Denn wer Zinsen forderte, ließ sich die Zeitspanne bezahlen, für die er sein Kapital ausgeliehen hatte. Unter ökonomischem Aspekt war die Zinsforderung ein ausgesprochen vernünftiges Verhalten, verzichtete der Gläubiger für die Dauer des von ihm gewährten Kredites doch darauf, sein Geld für eigene Unternehmungen zu verwenden. Freilich machte er sich dadurch einer schweren Sünde schuldig, denn mit seiner Zinsforderung „verkaufte" er die ihm von Gott gegebene Zeit. Und eines stand jedenfalls fest: Jeder Mensch, auch der Gläubiger, hatte am Tag des Gerichts Rechenschaft abzulegen, wie er mit der ihm von Gott gegebenen Zeit umgegangen war. Der psychologisch-seelische Druck, dem speziell „Finanzkaufleute" im Mittelalter ausgesetzt gewesen waren, muß teilweise beträchtlich gewesen

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sein. Denn das gesellschaftliche Klima war gegenüber den Geldverleihern aufgeheizt. Eindrucksvolle Beispiele, wie scharf und agitatorisch die Kirche vorgehen konnte, bietet der wohl berühmteste Prediger der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Berthold von Regensburg (gest. 1272). Wie kein anderer zog er die Massen in Süddeutschland, Thüringen, Österreich, Böhmen, Mähren und Ungarn an sich. Und wenn auch die Zahlenangaben übertrieben sind, die mitunter von zweihunderttausend Zuhörern sprechen, so kann doch an seiner ungeheuren Attraktivität kein Zweifel bestehen. Immer wieder kommt Berthold in seinen Predigten auch auf die „Wucherer" zu sprechen. Mit seiner Kritik am ungerechten Zins zeigt er sich alter kirchlicher Tradition verpflichtet. Die Kirche hatte sich schon immer schwer getan mit der Akzeptanz wirtschaftlichen Verhaltens anderer, und verstärkt seit der Karolingerzeit waren die Grenzen für ein moralisch-ethisch vertretbares Geschäft, negotium iustum, eng gezogen: „ . . . das ist die Zeit, die euch Gott zu leben hat gegeben, deren will Gott nicht entbehren, er will wissen, wie wir sie vertreiben ... Pfui, Geiziger, wie legst du deine Zeit an! wie wirst du stehen bei der Rechnung! wie bist du so mißgestaltet vor allen Sündern, die die Welt je hatte oder je haben wird! Denn deine Zeit geht dir nicht allein unnütz hin, sie geht dir unnütz und schändlich und sündhaft hin. Alle anderen Sünder lassen Gott zuweilen Ruhe, außer du und deine Zeit, denn die geht alltäglich hin mit Sünden ohne Unterlaß. Darum spricht Gott selber: Du Wucherer und Vörkäufer, du „Satzunger" und Borger - denn weil du Gott seine Zeit verkaufst, so spricht Gott selber zu dir ein Wort, daß ich (Berthold) nicht dreißig Pfund nähme, so vor diesen Leuten zu sprechen und vor diesen Engeln, wie Gott selber zu dir spricht - er spricht also durch den Propheten: ,Du recht böse Haut, du läßt mich niemals ruhen; die von Sodoma und Gomorra und von Samaria ließen mich dann und wann in Ruhe mit ihren Sünden, aber vor dir habe ich zu keiner Zeit, weder Tag und Nacht, das ist wahr.' Nun sieh, Geiziger! seit ich heute anhub zu predigen, bist du sehr leicht um sechs Pfennige reicher geworden durch deinen Wucher, oder durch deine ,Satzung', oder durch deinen Vörkauf, oder durch dein Borgen in das Jahr um das Teuere. Ihr Ehebrecher! Ihr brecht jetzt mit niemandem die Ehe. Ihr Mörder! ihr mordet jetzt niemanden, ihr sitzt jetzt mit guter Zucht hier; daselbe tun die Würfler, die Trinker; diese dürsten jetztgar sehr, müssen sich lassen dürsten; ebenso müssen auch die Tänzer jetzund ungetanzt (ohne zu tanzen) sein, und die Spötter ungespottet. Ihr Räuber! ihr seid hier vor mir jetzt ohne Raub und ohne Brennen und ohne Lärm und ohne andere Hoffart.

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Ihr Schelter, ihr Flucher! ihr sitzet jetzund hier vor mir, und schweigt ganz still, das tut ihr auch, so ihr in einer Messe oder bei einer anderen Predigt. Aber wie immer die Zeit ist, du, Geiziger, ruhest niemals. Du Geiziger gehabest dich wohl, du bist abermals um einen halben Pfennig reicher geworden, seit ich von dir rede ... Nun siehe, Verkäufer der Gottes-Zeit! da sitzest du verhärtet und hast von der wahren Reue nichts, nicht so viele als einen Tropfen. Ihr anderen Sünder gewinnt alle um des allmächtigen Gottes willen wahre Reue; wie ihr auch die Zeit unnütz angewendet habet, sei es mit Tanzen oder mit Würfeln, oder womit ihr sie verloren, denn an diesen geizigen Leuten richte ich nichts aus" 1 4 . Die ein wenig resignativ klingende Schlußbemerkung Bertholds von Regensburg läßt es schon erkennen: die Theorie der Theologen war eine Sache, die Praxis der Kaufleute eine andere. Wie eine dem ersten habsburgischen König Rudolf I. (1273-1291) zugeschriebene Anekdote nahelegt, operierte man bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfolgreich mit „Warentermingeschäften". Deren Rentabilität lag und liegt ja bekanntlich auf einem spekulativen Umgang mit dem Zeitfaktor. Der Gewinn ergibt sich beim Warentermingeschäft aus der richtigen Einschätzung, wie sich der Preis einer Ware bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft entwickelt haben wird. Der Chronist Matthias von Neuenburg (gest. 1364) berichtet: „Ein gewisser reicher Kaufmann, der vor allem in Handelsdingen überaus vorsichtig war und seine Geschäfte nur dann betrieb, wenn sie Aussicht auf Erfolg versprachen, erlitt beständig Verluste. Einmal rief ihn der König (Rudolf I.) zu sich und fragte ihn, ob er ihn als Sozius aufnehmen und auf seinen Rat hören wolle. Der Kaufmann stimmte zu, und jeder der beiden zahlte 100 Mark als Geschäftskapital ein. Der König aber sagte: ,Ich möchte, daß du Heringe in Straßburg kaufst und sie nach Köln verschiffst. In Köln sollst du Wein kaufen und nach Straßburg verbringen'. Obgleich der Kaufmann sehr, und das mit Recht, entsetzt war 1 5 , gab er nach. Zu jener Zeit gab es freilich in Straßburg ein Überangebot an Heringen, der zu einem völligen Preisverfall führte. Und als der Kaufmann (mit seinen in Straßburg billig eingekauften Heringen) nach Köln gekommen war, gab es dort eine Ge-

14 F. GÖBEL, D i e P r e d i g t e n d e s F r a n z i s k a n e r s B e r t h o l d v o n R e g e n s b u r g , 5 1 9 2 9 , 2, S . 1 8 - 1 9 .

15 Seit altersher galt das Elsaß als ein Zentrum der Weinproduktion; dort war Wein vergleichsweise billig, der Hering aber infolge des langen Transportweges vergleichsweise teuer.

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Wässervergiftung, so daß keine Hoffnung bestand, in jenem Jahr noch Heringe zu fangen. Dadurch ergaben sich sehr lukrative Verdienstspannen. Gleichzeitig kam es aber zu einem Überangebot an Wein, so daß der Kaufmann diesen billiger als in Straßburg einkaufen konnte. So ließ er den Wein mit Fuhrwerken nach Straßburg hinaufführen. Da im Elsaß aber inzwischen durch plötzlich auftretenden Frost die Weinreben erfroren waren, konnte er den (in Köln billig eingekauften) Wein zum Dreifachen des Einkaufspreises verkaufen. Dadurch machten der König und er selbst einen sehr großen Gewinn. So konnte der König bemerken: ,Man muß manchmal auch das Entgegengesetzte tun, nicht immer das, was der Wahrscheinlichkeit nach einen Gewinn verspricht'" 1 6 . Die Moral der soeben erzählten Geschichte ist eindeutig: Wer es als Kaufmann zu etwas bringen will, darf keine Angst vor dem Risiko haben. Nur diejenigen Geschäfte zu betreiben, die eine sichere Aussicht auf Gewinn haben, bringt nichts ein, weil sich alle so verhalten. Langfristig bedeutet traditionelles Verhalten nicht nur Stillstand, sondern Rückschritt, wie das Beispiel des hier geschilderten Kaufmanns zum Ausdruck bringt, dessen Geschäfte vor dem Eintritt des risikofreudigen Königs ständig bergabgingen. Die Lehre, die vermittelt werden soll, lautet: Ein Kaufmann wird nur dann erfolgreich sein, wenn er in seiner Geschäftspolitik der Konkurrenz den einen entscheidenden Schritt voraus ist, das „Entgegengesetzte" von dem macht, was die anderen machen. Damit dürfte tatsächlich ein wesentlicher Punkt kaufmännischer Mentalität angesprochen sein: die Risikobereitschaft, also die Bereitschaft, das zu wagen, was andere nicht wagen, denn nur dann kann man erfolgreich sein. Auch sonst spiegeln sich in der soeben erzählten Geschichte einige charakteristische Eigenarten des Kaufmannstandes. Durch die Gründung einer „Handelsgesellschaft", bei der der König als „stiller Teilhaber" eingestiegen ist, kann das Risiko, weil auf zwei Schultern verteilt, vermindert, der Gewinn, weil das Geschäftskapital gestiegen ist, vergrößert werden. Auch der Umstand, daß der eine Geschäftspartner zuhause bleibt, während der andere seine Handelsgeschäfte in der Ferne betreibt, entspricht der langfristigen Entwicklung. Immer seltener wickelten größere Kaufleute ihre Geschäfte persönlich in der Fremde ab, sondern ließen sich durch ihre

16 A. HOFMEISTER, Die Chronik des Matthias von Neuenburg, Kap. 26 (Monumenta Germaniae Histórica: Scriptores rerum Germanicarum. Nova series Bd. 4), 2 1955, S. 43 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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„Angestellten", durch ihre noch in der Ausbildung steckenden Söhne oder durch sonstige Dritte vertreten. Der spätmittelalterliche Fernhandelskaufmann bleibt wie sein neuzeitlicher Kollege im Kontor, um sich der damals entstehenden Buchführung zu widmen. Möglichst genaue Verzeichnisse von Einnahmen und Ausgaben dienen dem Kaufmann dazu, die Rendite, d. h. das Verhältnis von Aufwand und Ertrag seines eingesetzten Kapitals zu bestimmen und Verluste zu vermeiden. Das bedeutet: Schreib- und Rechenfähigkeiten werden zu unverzichtbaren Voraussetzungen erfolgreicher kaufmännischer Tätigkeit. Es setzt sich ein ökonomischer Rationalismus (E. Maschke) durch; la ragione, von der italienische Kaufleute sprechen, die Rechenhaftigkeit, bestimmt sein Verhalten, seine Mentalität. Einzelne französische Forscher (z. B. Y. Renouard und der ihm folgende J. Le Goff) haben sogar angenommen, daß das rechnende Kalkül der Kaufleute auch zu einer Mentalitätsveränderung der (städtischen) Gesellschaft insgesamt geführt hätte. Ablesbar sei dieser Prozeß an einer im Spätmittelalter grundsätzlich veränderten Einstellung gegenüber der Zeit. Die zyklische „Zeit der Kirche" sei abgelöst worden durch die lineare „Zeit der Kaufleute". Dieser vielbeachteten These ist jüngst mit gewichtigen Gründen widersprochen worden (G. Dohrn-van Rossum). Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß auch im Spätmittelalter „zyklisch-kirchliche" und „lineare" Zeitvorstellungen nebeneinander existieren, auch und gerade bei Kaufleuten. Ferner läßt sich bislang wenigstens nicht eindeutig nachweisen, daß die merkantile Praxis der Kaufleute ausschließlich von einem linearen Zeitverständnis geprägt ist. Umgekehrt kommt es zu genaueren Zeitmessungen und Zeiteinteilungen auch bei nichtkaufmännisch orientierten Gesellschaftsschichten (z. B. im Falle der auf genaue Uhrzeiten und Stundenpläne angewiesenen Universität). Ein sich veränderndes Zeitbewußtsein im Spätmittelalter, symbolisiert durch die seit dem 14. Jahrhundert verstärkt in den Städten anzutreffenden großen (Schlag-)Uhren, erfaßt vielmehr alle gesellschaftlichen Bereiche. So ist das Bewußtsein von der Kostbarkeit der Zeit beispielsweise gerade in einer spezifisch unökonomisch denkenden Intellektuellenschicht besonders verbreitet. Man wird also zumindest vorsichtig sein müssen, was die Verwendung des Begriffspaares „zyklische" und „lineare" Zeit angeht. Unternehmerisches Risikobewußtsein scheint demgegenüber schon eher ein Spezifikum kaufmännischer Mentalität gewesen zu sein. Denn nur so scheint der schnelle Wohlstand vieler großer Kaufleute erklärbar. Freilich ist der Mut zum Wagnis immer wieder durch den Grundsatz kaufmännischer Vorsicht gebrochen worden, die darin besteht, das rechte Maß nicht zu über-

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schreiten: „Halte Maß in allem, Maßhalten ist die schönste Tugend" meinte der Lübecker Kaufmann Johann Wittenborg 1335 17 . Und häufig nahm der Mut - und das scheint wahrlich eine universale anthropologische Konstante zu sein - in dem Maße ab, in dem man sich finanziell saturiert fühlte, wenn mit anderen Worten der Kaufmann zum „Rentier" wurde, wenn er beispielsweise große Teile seines Einkommens aus von ihm erworbenem Grundbesitz bezog. Freilich wurde - gerade die lübbische Kaufmannsfamilie Wittenborg bietet ein gutes Beispiel dafür - die damit verbundene Mentalitätsveränderung, der Verlust kaufmännischen Wagemuts, häufig teuer bezahlt. Bereits zu Ende des 14. Jahrhunderts verlieren die Wittenborgs ihre führende wirtschaftliche und gesellschaftliche Position in der Stadt Lübeck. Der Reichtum vieler mittelalterlicher Kaufleute deutet darauf hin: kirchlicher Kritik am Agieren der mercatores war in der Praxis vermutlich nur geringer Erfolg beschieden. Gleichwohl scheint es doch so gewesen zu sein, daß zumindest der eine oder andere nicht ganz unbeeindruckt blieb. Denn allzu massiv fiel die Kritik mancher Kirchenmänner aus, und allzu gefährlich sahen die angedrohten Konsequenzen für effektives, aus „christlicher" Sicht gleichwohl aber verwerfliches kaufmännisches Agieren aus: „das immer und ewige Brennen mit den abtrünnigen Teufeln im Grunde der Hölle". Besonders die Bettelordensprediger eiferten nicht nur gegen die „Wucherer", also diejenigen Kaufleute, die mit „Geld" strictu sensu handelten, sondern auch gegen solche, die sich, modern formuliert, des „unlauteren Wettbewerbs" schuldig machten. Daß mittelalterliche Verkaufs- und Einkaufsstrategien sich nicht immer grundlegend von den modernen unterschieden haben, beweist die beißende Kritik des Franziskaners Berthold von Regensburg an den kaufmännischen Usancen seiner Zeit. Gleichwohl ist es ungeachtet ihrer Schärfe eine weitgehend traditionelle Kritik, weil bereits einige Jahrhunderte früher die karolingische Kirche „rechte Waage" und „rechtes Gewicht" gefordert und korrektes Geschäftsgebaren der Kaufleute eingeklagt hatte: „Ihr sollt rechte Waage halten und rechtes Maß und rechtes Gewicht, so wird euch Gott wägen mit der rechten Waage. Gibst du deine Ware mit Maß oder mit der Waage oder mit Sestern oder mit der Elle, das soll alles gewiß sein und gewähr (zuverlässig) sein; bedarf aber der Kauffschatz (die Ware)

17 F. RÖRIG, Lübecker Familien und Persönlichkeiten aus der Frühzeit der Stadt, in: DERS., Wirtschaftskräfte im Mittelalter, 2 1971, S. 134-146, hier S. 146.

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weder Waage noch Maß noch Sester noch Elle, so sollst du niemandem etwas anderes daran verheißen, als was daran ist, und was du daran weißt; tust du anders, so bist du ein Betrüger. Du sollst Gott vertrauen, daß er dich mit getreuem Gewinne immer wohl ernähre, denn das hat er dir gelobt mit seinem göttlichen Munde. Nun schwörest du dazu so viel, wie gut die Ware sei und was du dem Käufer gutes damit tust. Alle Heiligen verschwörst du mehr denn zehnmal oder dreißigmal, Gott und alle seine Heiligen um einen fünf Schillinge werten Kauffschatz. Was fünf Schillinge wert, verkaufst du leicht um sechs Pfennige höher, als wenn du nicht ein Verschwörer unseres Herrn wärest; denn du schwörst hoch und teuer: ,Man wollte mir schon viel mehr darum geben', und das ist eine Lüge. Und so oft du Gott und seine Heiligen verschwörst, so oft hast du der zehn Gebote eines gebrochen; das ist eine große Hauptsünde, deren tust vielleicht zehn oder mehr bei einem kleinen Kaufe. Nun seht! wie viele der Sünden werden, ehe ein Jahr ausgeht, und wie viel ihrer werden, ehe dann zehn Jahre ausgehen; und der Sünden allesamt könntest du dich gar wohl enthalten. Denn es ist mancher Mensch von solchem Verstand und Gefühle, daß er umso unlieber von dir kauft, je mehr du bei deinem Verkaufe schwörst; und es trägt dir nicht viel ein, außer dem, daß du deine Seligkeit damit verdammst. Denn er geht doch gar oft hinweg, ohne zu kaufen, so du ihm dazu gar dick geschworen hast. Und so du etwas kaufen willst von einfältigen Leuten, so kehrest du alle deine Sinne darauf, wie du es ihm umsonst abgewinnest, und machst ihm manche Lüge vor, wiewohl du weißt, daß das wohlfeil ist, wie du es von ihm kaufen willst. Und du heißest deinen Gesellen auch dazu gehen, und gehst dann eine Weile hinweg und sagst deinem Gesellen, was du jenem darum geben willst, und heißest ihn weniger darauf bieten; da erschrickt jener, und wollte gern, daß du wiederum kämest. So gewinnst du es ihm ungetreulich ab und schwörst aber so: .Fürwahr!' sagst du, ,bei allen Heiligen! euch gibt niemand so viel darum, wie ich.' Und doch gäbe ihm ein anderer mehr darum als du. Du bist abtrünnig worden deinem Chore, zu dem dich Gott geordnet hat; darum mußt du auch zu den abtrünnigen Teufeln, und mußt mit denen immer und ewig brennen, so lang Gott ein Herr im Himmel ist. Willst du dich vor Hauptsünden behüten, wenn du kaufen willst, so sollst du niemandem seine Ware herabsetzen und geringer machen, als sie ist; und sollst nicht schwören, daß du nicht mehr dafür geben wollest. Und ist halt das wahr, daß du ihm nicht mehr dafür geben willst, so sollst du es doch ihm nicht verschwören, daß ihm andere Leute so viel nicht darum geben; denn du weißt ja nicht, was ihm ein anderer darum gibt. So sprichst du so manche Lügen, daß es Gott erbarmen müsse, daß Lug und Trug so viel ist. Laßt es

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euch erbarmen, daß sich Gott über euch erbarme! Du sollst also sprechen: ,Es ist mir gar zu teuer um dieses Geld; da ich aber dazu hergekommen bin, so gebt mir's so, wie ich euch gesagt habe, und ihr seid mir desto lieber; tut ihr das nicht, so muß ich euch damit tun lassen, was ihr wollt.' - Und willst du dich vor Sünden behüten beim Verkauf, so sollst du wieder nicht schwören; du sollst sprechen: ,Kauft ihr es nicht, so kauft es vielleicht ein anderer Mann'; und sollst auch redlich ohne Lug und Trug verkaufen. Und also soll man sich im Kaufhandel hüten. Denn es werden viele tausend Seelen verdammt dabei, da der Betrügerei und Falschheit und des Schwörens so viel ist, daß es niemand all sagen kann. Ihr wisset selber am besten, wie Lug und Trug in euerem Handel geschäftig ist" 1 8 . Solche Kaufleute hatten sich nach Meinung der Kirche und nach Meinung von Berthold einer Todsünde schuldig gemacht. Um nicht „immer in der Hölle zu sein" blieb nur der Ausweg, Buße zu tun und Opfer zu geben: „Wenn du aber die rechte Buße tust, so nimmt dich die Buße von der Hölle Pforten, und setzt dich auf den Weg zum Himmelreich. Nun seht, wie gar nützlich die wahre Buße ist! - Das zweite ist, daß dir die Buße die guten Werke, die da in Todsünden geschehen sind, nicht zu Lohne bringen kann; sie bringt dich aber in die Gemeinde heiligen Christenheit, darin du wohl Lohn verdienen kannst. - Das dritte ist: dir kann die Buße dein Magdtum nicht wieder gewinnen, du kannst aber mit der Buße verdienen, daß du zu so großem Lohn kommst, wie manche im Magdtum. St. Peter ist durch die Buße so hoch gekommen, wie manche Mägdliche, ebenso St. Maria Magdalena und manch andere großen Heiligen. - Das vierte ist: dir kann die Buße die Zeit nicht mehr wieder verschaffen, die du unnütz verloren hast, sie tut dir aber etwas, das diesem fast gleich ist. Du hast vielleicht verdient, daß du zehn Jahre im Fegfeuer brennen sollst oder zwanzig oder vierzig oder hundert, du kannst nun die Buße so kräftig und heilsam angreifen, daß du anstatt zehn Jahre leicht nur ein Jahr brennst, ja du kannst sie so angreifen, daß du nimmer ins Fegfeuer kommst" 1 9 . Es gab also Auswege aus dem Dilemma, das erwachsen war durch den Anspruch kirchlicher Moral einerseits und tatsächlicher Praxis andererseits. Durch einen spezifisch kaufmännisch geprägten Frömmigkeitsstil konnte der Kaufmann versuchen, das eigene Gewissen zu beruhigen. Eine bereits am Ende des 11. Jahrhunderts in Gent in Flandern praktizierte Form sah zum 18 GÖBEL, Predigten, 10, S. 1 4 1 - 1 4 2 . 19 GÖBEL, Predigten, 5, S. 73.

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Beispiel so aus, daß man Gott bzw. den Heiligen am Geschäft und am Gewinn beteiligte: „Im Kloster St. Bavo hatten die Mönche vergessen, nach der Messe einen goldenen Kelch vom Altar abzuräumen. Ein Kaufmann, der in der Kirche betete, sah den Kelch und verfiel auf die Idee, mit dem heiligen Bavo ein Geschäft abzuschließen: .Erlaube mir, daß ich diesen Kelch mitnehme; ich werde dir seinen Wert mehrfach zurückzahlen'. Überzeugt, der Heilige habe seine Zustimmung gegeben, nahm der Kaufmann den Kelch mit, und, eines schönen Tages, als er sein Glück gemacht hatte, kehrte er zum Kloster zurück, erklärte sich und löste sein damaliges Versprechen auf großzügige Weise ein" 2 0 . Auch andere Formen eines kaufmännischen Frömmigkeitsstils waren denkbar: Man errichtete fromme Stiftungen oder machte testamentarische Verfügungen zugunsten der Kirche. Damit konnte der Kaufmann immerhin sein, sofern überhaupt vorhanden, schlechtes Gewissen beruhigen. In ungleich stärkerem Maße als heute war Reichtum gesellschaftlich umstritten, moralisch anstößig und sozial verpflichtend. Denn Reichtum war prinzipiell belastet: belastet durch die Hypothek der im Neuen Testament erzählten Geschichte vom reichen Jüngling. Dieser konnte oder wollte der Aufforderung Jesu nicht nachkommen, alles aufzugeben, um ihm, dem Sohn Gottes, nachzufolgen. Der reiche Jüngling war „traurig" davon(gegangen) ; „denn er hatte viele Güter" (Markus 10, 21). Dessen Verhalten, dessen „Mentalität" hatte Jesus zu seinem berühmten Ausspruch veranlaßt: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme" (Markus 10, 25). Auch hatte Jesus seine Jünger belehrt, daß die bescheidenen Gaben armer Leute, die sprichwörtlich gewordenen „Scherflein" einer „armen Witwe" vor Gott unvergleichlich mehr zählen als die noch so großen Geschenke der Reichen: „Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt denn alle, die eingelegt haben. Denn sie haben alle von ihrem Überfluß eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut alles, was sie hatte, ihre ganze Nahrung eingelegt" (Markus 12, 43-44). Freilich darf man sich die psychologische Belastung durch ein schlechtes Gewissen im Einzelfall nicht zu groß vorstellen. Und nicht zuletzt aus 20 J.-F. LEMARIGNIER, La France médiévale, französischen Text).

lo

1970, S. 176 (das deutsche Zitat hier nach dem

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eigennützigem Interesse waren pragmatisch orientierte Kirchenmänner, wie beispielsweise der bereits mehrfach zitierte Zisterzienser Caesarius von Heisterbach (gest. 1240), längst zur Ansicht gelangt, daß Reichtum an sich keine Schande darstellte, vorausgesetzt, er war ehrlich erworben. Wie seine Geschichte zweier Kölner Kaufleute zeigt, gab es bereits im Mittelalter Frühformen einer dann von dem Soziologen Max Weber (gest. 1920) beschriebenen calvinistisch-protestantischen Wirtschaftsethik. Wirtschaftlicher Erfolg und daraus resultierender Reichtum sind Indikatoren gottgefälligen Lebens, wirtschaftlicher Mißerfolg und daraus resultierende Armut hingegen Zeichen göttlicher Mißbilligung. Caesarius versucht in seiner Beispielerzählung, die einander widerstreitenden Prinzipien von geschäftlichem Erfolg und sog. christlicher Moral miteinander zu versöhnen. Wie schwer dieser Ausgleich in praxi durchzuführen war, läßt die Geschichte des Caesarius auch erkennen. Denn immerhin bedurfte es schon einer Intervention von oben, einer „Eingebung des Herrn", damit die Kaufleute ,bei der Stange blieben' und den auf den ersten Blick geschäftsschädigenden Ratschlägen des Priesters Folge leisteten: „Zwei Kölner Bürger beichteten unter anderem zwei Arten von Sünden, die an sich sehr schwer sind, aber wegen ihrer Häufigkeit, zumal bei Kaufleuten, klein erscheinen und kaum als Sünden gelten, nämlich Lüge und Meineid. ,Herr', sprachen sie, ,wir können fast nichts kaufen noch verkaufen, ohne daß wir lügen, schwören und oft falsch schwören müssen'. Der Pfarrer sagte: ,Das sind sehr schwere Sünden, die der Heiland verboten hat, denn er sagt selbst: ,Eure Rede soll sein: ja, ja, nein, nein'. Sie antworteten: ,Wir können bei unseren Geschäften dies Gebot nicht beachten'. Sprach der Priester: ,Folgt meinem Rat, und es wird euch Wohlergehen. Laßt das Lügen, laßt das Schwören, lobt eure Ware so, wie ihr sie geben wollt'. Sie gelobten ihm, sie wollten es ein Jahr lang versuchen. Aber vom Satan gehindert, der immer dem Seelenheil der Menschen entgegen ist, konnten sie dies Jahr über fast nichts verkaufen. Als das Jahr um war, kehrten sie zu ihrem Pfarrer zurück und sagten: ,Daß wir in diesem Jahr gehorsam gewesen sind, hat uns viel Schaden getan, die Menschen verlassen uns, ohne Eid können wir nichts verkaufen'. Darauf der Priester: .Fürchtet nichts, es ist eine Versuchung. Haltet fest in eurem Herzen, daß kein Mißgeschick, keine Armut euch von diesem Vorsatz abbringen soll, und der Herr wird euch segnen. Sie versprachen ihm durch Eingebung des Herrn, daß sie seinen Rat und das göttliche Gebot alle Tage ihres Lebens beobachten wollten, und wenn sie auch betteln müßten. Und, o Wunder! Sogleich scheuchte der Herr die Ver-

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suchung, so daß die Menschen begannen, sie mehr aufzusuchen als die anderen Kaufleute, und binnen kurzem wurden sie so reich, daß jeder staunte. Da kehrten sie zu ihrem Beichtvater zurück und dankten ihm, daß sie durch seinen heilsamen Rat von so schweren Sünden entlastet und in äußeren Dingen bereichert seien" 21 . Schließlich hat nicht zuletzt die Kirche selbst seit dem 13. Jahrhundert zu einer freundlicheren Beurteilung kaufmännischen Verhaltens gefunden. Namentlich so berühmte Theologen wie der Dominikaner Thomas von Aquin (gest. 1274) und die Franziskaner Petrus Johannis Olivi (gest. 1296) und Johannes Duns Scotus (gest. 1308) haben den Gewinn, den der Kaufmann erzielt, ausdrücklich gerechtfertigt. Hierzu stützten sie sich u. a. auf antikes Gedankengut (Cicero), das kaufmännisches Verhalten dann für ethisch vertretbar und ehrbar angesehen hatte, wenn es für die Allgemeinheit mit einem Nutzen verbunden war, beispielsweise die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sichern half und dadurch dem öffentlichen Wohl diente. Erzielter Gewinn eines Kaufmanns konnte auch moralisch insofern gerechtfertigt werden, weil er als „Lohn" oder „Gehalt" eines Kaufmanns für seine aufgewendete Mühe (labor) gedeutet werden konnte. Dominikaner und Franziskaner wie Thomas oder Olivi erkannten aber auch bereits, daß Geld, wenn es als Kapital investiert wird, eine schöpferische Kraft besitzt, daß es mit anderen Worten die Tendenz hat, sich zu vermehren. Sie haben diesen Umstand in ihren ökonomischen Theorien dadurch berücksichtigt, daß sie das Geld in eine Analogie zum Samengut setzten, das sich vermehrt, weil es Früchte trägt. Voraussetzung dafür ist freilich dessen Einbringen in den Boden durch den Bauern, setzt also menschliche Aktivität voraus. Dem Saatgut entspricht das Geld; seine potentielle Fähigkeit, sich zu vermehren, setzt gleichfalls menschliche Aktivität, hier des Kaufmanns, voraus.

4.

Bibliographie

Allgemein: E. ISENMANN, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250-1500: Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 1988 (grundlegend für Deutschland); E. ENGEL, Die deutsche Stadt des Mittelalters, 1993; W. HARTMANN (Hg.),

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135

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1984, S. 2 9 - 4 2 ) ;

G . DOHRN-VAN ROSSUM,

Die

Geschichte der Stunde, 1992, S. 2 1 0 - 2 1 4 : „Zeit der Kaufleute?". Zur Entwicklung kirchlicher Einstellungen: H. SIEMS, Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen, 1992; M. WOLFF, Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter, in: J. MIETHKE/K. SCHREINER, Sozialer Wandel im Mittelalter, 1994, S. 4 1 3 - 4 2 3 ;

H.

FUHRMANN, Ü b e r a l l

ist M i t t e l a l t e r ,

Gewinn" oder das Zinsverbot im Mittelalter.

1996,

S.

123-149:

Der

„schnöde

Kapitel VI. Randgruppen 1. Mehrheiten und Minderheiten 2. Annäherungsversuche an Randgruppenmentalitäten: Juden und Prostituierte 3. Bibliographie

1. Mehrheiten und Minderheiten Es erscheint angebracht, Randgruppenmentalitäten im Anschluß an „städtische" Mentalitäten zu besprechen: Wo immer Gemeinschaften sich konstituieren, bildet sich ein Minderheiten- oder Randgruppenproblem, zumal bei großen Gemeinschaften auf eng umgrenztem Raum. Mithin läßt sich die Aussage treffen, daß das Ausgrenzen von Minderheiten durch eine Mehrheit eines der Zeichen „städtischer" Mentalität darstellt. Insofern lassen sich Mentalitäten und Verhaltensweisen von Randgruppen als Reaktionsformen auf städtische Mehrheits-Mentalitäten deuten. Randgruppen sind nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend in größerer Geschlossenheit in Städten zu finden. Dies gilt beispielsweise für eine besonders typische Randgruppe, die Prostituierten. Zwar gibt es im Mittelalter bereits vor der Blütezeit der Städte Prostituierte, doch konzentrieren sich „freie Frauen" in Urbanen Siedlungen aus leicht einsehbaren Gründen verstärkt in hoch- und spätmittelalterlicher Zeit: „Erst in hinreichend großen Ansiedlungen war eine gleichbleibend hohe Nachfrage nach Prostituierten gewährleistet, die ihre Organisation in Bordellen lukrativ machte" Die enge Bindung dieser Randgruppe an städtische Strukturen hat die Forschung sicherlich mit gewissem Recht auch damit erklärt, daß herkömmliche Sozialbindungen durch die Familie oder die Sippe in städtischen Strukturen nicht mehr oder in anderer Form galten. So haben beispielsweise

1

P. SCHUSTER, D a s F r a u e n h a u s , 1992, S. 2 6 .

Mehrheiten und Minderheiten

137

Untersuchungen gezeigt, daß viele Prostituierte nicht aus der Stadt stammten, in der sie lebten und arbeiteten, sondern oft von weither kamen. Die „Randgruppe" bzw. entsprechende Synonyme der französischen und angloamerikanischen Forschung, die von marginaux und exclus, von disvalued people und outcasts spricht, verdanken ihre Popularität im heutigen Sprachgebrauch moderner soziologischer Betrachtungsweise. Es bleibt aber festzuhalten, daß bereits das Mittelalter die „Randständigen" als eine eigene soziale Gruppe erkannte und daher auch terminologisch erfaßte, wenn sie von ribaldi, den „unehrlichen Berufen" oder den „freien Frauen" sprach. Drei Faktoren haben im Mittelalter in besonderer Weise die Zugehörigkeit von Menschen zu Randgruppen gefördert: Erstens die Ausübung sogenannter „unehrlicher Berufe". Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können an dieser Stelle genannt werden z. B. der Henker, Totengräber, Abdecker, Schinder, Schäfer, Kloakenreiniger, Kamin- und Rauchfeger, Bader, Barbiere, nichtakademisch gebildete Chirurgen, Prostituierte. Zweitens förderten geistige und/oder körperliche Gebrechen die Randgruppenzugehörigkeit. Lahme, Krüppel, Blinde, Lepröse gehörten - und gehören auch heute noch zu den klassischen Außenseitern der Gesellschaft. Drittens waren ethnische und religiöse Minderheiten besonders der Gefahr ausgesetzt, von städtischer Mehrheit dominiert und unterdrückt zu werden. Die moderne historische Forschung hat sich bei ihren Definitionsversuchen der Randgruppe sehr stark an soziologische Beschreibungsmodelle angelehnt. So sind beispielsweise für Hergemöller Randgruppen „Personen, die im Rahmen der herrschenden bewußten und kollektiv-unbewußten Normen und Werte der Gesellschaft aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Äußerlichkeiten oder aufgrund traditionsgebundener Assoziationen unter gruppenspezifischen Aspekten betrachtet und ganz oder teilweise ihrer Rechte und Ehre entkleidet werden" 2 bzw. - etwas abstrakter formuliert: „heterogene Personenkreise ..., die durch negative kollektive Attributionen einem partiellen oder totalen Verlust ihrer Ehre unterworfen werden" 3 . Kürzer und mit etwas anderer Nuancierung werden „Randständige" von F. Graus als „Personen oder Gruppen" beschrieben, „die Normen der Gesellschaft, in der sie leben, nicht anerkennen bzw. nicht einhalten wollen oder 2 3

B.-U. HERGEMÖLLER, Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 1990, S. 14. Vgl. B.-U. HERGEMÖLLER, Artikel „Randgruppen (Westen)", in: Lexikon des Mittelalters. Bd. VII, 1994, Sp. 4 3 4 - 4 3 6 , hier Sp. 434; wiederholt in: DERS., Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 2., neubearbeitete Auflage, 1994, S. 3.

138

Kapitel VI. Randgruppen

nicht einhalten können und aufgrund dieser Ablehnung bzw. Unfähigkeit (infolge sog. nichtkonformen Verhaltens) von der Majorität nicht als gleichwertig akzeptiert werden" 4 . Welche Definition man auch bevorzugen wird, beide erscheinen als durchaus gangbare Möglichkeiten, das historische Phänomen „Randgruppe" schärfer zu fassen. Ein Vorteil der Definition von Hergemöller liegt zweifellos darin, daß sie auf die Bedeutung von Tradition aufmerksam macht. Minderheiten haben in besonders starker Weise mit generellen, tradierten Urteilen und Vorurteilen von Mehrheiten zu kämpfen. Der Vorteil der Definition von Graus besteht darin, daß sie den Blick auf das Verhalten von Randständigen lenkt und den für ein mentalitätsgeschichtliches Thema besonders geeignet erscheinenden Begriff des „nichtkonformen Verhaltens" in die Diskussion einführt. Zwei Arten des nichtkonformen Verhaltens sind denkbar: eine „positive" und eine „negative" Normverletzung. Eine Normverletzung kann dann von einer Mehrheit akzeptiert und sogar positiv bewertet werden, wenn die Durchbrechung der Normalität dem Ziel dient, ein von der Gesellschaft akzeptiertes Ideal zu erreichen. Der klassische Fall eines gesellschaftlichen Außenseiters im positiven Sinne ist der „Heilige" der mittelalterlichen Gesellschaft. Dieser durchbricht ganz bewußt die Spielregeln, die Normalität der Gesellschaft, in der er lebt. Denn es ist erst deren Nichtakzeptanz, die seine „Heiligkeit" begründet. Würde er die gesellschaftliche Normalität akzeptieren, dann wäre er auch nicht heilig. Die Provokation der Gesellschaft fällt natürlich umso stärker aus, je weniger „heilig" sich die Gesellschaft darstellt, in der der Heilige lebt. Die historische Randgruppenforschung bedient sich bei ihrer Analyse noch anderer soziologischer Kategorien und Erklärungsansätze. Eine überaus wichtige Rolle spielt die sog. Stigmatisierung, die man als „statusdegradierende Zeremonie" verstehen kann. Diese Zeremonien werden von einer Mehrheit mit dem Ziel zelebriert, Randgruppenstatus und Außenseitertum einer Minderheit deutlich zu machen. Stigmatisierung erfolgte häufig durch einen bestimmten Akt, z. B. Auflagen in Form von Kleiderordnungen. So mußten beispielsweise Juden spitze, gelbe Hüte tragen, um sie einer christlichen Mehrheit als Angehörige des mosaischen Glaubens kenntlich zu machen; Prostituierte waren in vielen Städten gehalten, keinen Schmuck

4

F. GRAUS, Die Randgruppen der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), S. 385-437, hier S. 396.

Mehrheiten und Minderheiten

139

oder aufwendige Kleidung zu tragen; bisweilen waren Dirnentrachten 5 vorgeschrieben, um sie gegenüber den „ehrbaren" Frauen abzugrenzen, wobei freilich die Diskussion über die Bedeutung und Relevanz solcher vom Rat der Stadt erlassenen Vorschriften kontrovers geführt wurde. Mitunter wird in der Literatur noch zwischen „primärer" und „sekundärer" Stigmatisierung unterschieden. Unter sekundärer Stigmatisierung versteht man die aus primärer Stigmatisierung erwachsenden Vorurteile und Stereotype. So unterstellten Christen immer wieder, daß ihre jüdischen Mitbürger besonders blutdürstig seien. Man erhob ihnen gegenüber den Vorwurf des sog. Ritualmordes und des Hostienfrevels: Die Juden würden den Mord an Christus durch den Mord an einem christlichen Jungen wiederholen, um christliches Blut zu gewinnen; auch würden sie die Hostien stehlen, die seit dem 4. Laterankonzil 1215 als „wahrer Leib Christi" galten, um sie anschließend zu durchbohren, worauf die Hostien angefangen hätten zu bluten. 6 Zu den schwierigsten Problemen der Randgruppenforschung gehört die Frage nach der Ursache. Bis heute hat sich kein Konsens darüber finden lassen, welche Faktoren und historische Ursachen zu Marginalisierung und Stigmatisierung im Mittelalter geführt haben. Eine immer wieder vertretene Forschungsmeinung, zu deren prominentesten Köpfen der 1989 verstorbene tschechische Historiker F. Graus gehört, sieht in der „Krisenzeit des Spätmittelalters" den entscheidenden Grund für die Marginalisierung und Stigmatisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Überspitzt formuliert: Ohne die Pestwellen, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts über weite Teile Europas hereinbrachen, und die mit ihnen verbundenen und teilweise dadurch beschleunigt verlaufenden krisenhaften Entwicklungen, seien Marginalisierung und Stigmatisierung nicht zu verstehen. Die Suche nach „Sündenböcken" beweise die mangelnde spätmittelalterliche Integrationsfähigkeit der Gesellschaft. Andere Forschungsmeinungen setzen die für sie entscheidende Zäsur ungleich später. Häufig wird bei solchen Ansätzen entscheidender Wert auf veränderte, quasi vorreformatorische Einstellungen und Verhaltensweisen gelegt, die ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verstärkt nachweisbar

5

„In der Regel eine kurze Jacke und Haube", vgl. dazu „Anhang 1: Kleiderordnungen bei Dirnen" bei B. SCHUSTER, Die freien Frauen, 1995, S. 4 2 0 - 4 2 1 .

6

Vgl. für entsprechende Anschuldigungen die beiden unten S. 148-149 erzählten Exempla des Hugo von Trimberg.

140

Kapitel VI. Randgruppen

seien. Die „Große Pest" wird bei diesen Erklärungsmodellen eindeutig in den Hintergrund gedrängt zugunsten einer angenommenen einschneidenden Mentalitäts- und Verhaltensänderung, an deren Ende und als deren logische Folge die Reformation von 1517 gestanden sei. Am weitesten gegangen ist in dieser Hinsicht die jüngst erschienene Studie von Beate Schuster über „Die freien Frauen": Sie beschreibt die Marginalisierung als einen äußerst komplexen Prozeß, an dem unterschiedliche Kräftegruppen mit jeweils durchaus unterschiedlichen Zielsetzungen beteiligt gewesen .seien. In ihrer Deutung erscheint nicht der städtische Rat als eigentlich Handelnder, sondern in weit stärkerem Maße die Bürgerschaft und vor allem ein reformfreudiger Klerus. War die Politik des städtischen Rates, so die hier vertretene Meinung, bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ungleich stärker auf eine Integration „freier Frauen" in die städtische Gesellschaft bedacht, so verschlechterte sich danach aufgrund zunehmender „Intoleranz gegenüber vor- und außerehelichem Geschlechtsverkehr" die Position der Prostituierten entscheidend, deren eigentliche Marginalisierung erst jetzt begonnen habe. Man wird allen vorgetragenen Konzepten gegenüber seine Bedenken nicht verbergen können. Mit Sicherheit gibt es keine monokausale Erklärung. Vor allem wird man bedenken müssen, daß die Marginalisierung unterschiedlicher Gruppen zeitlich nicht immer parallel verlaufen muß und durchaus auf unterschiedlichen Gründen beruhen kann. So ist beispielsweise die Marginalisierung der Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft ungleich älter und beruht auf anderen, zu einem großen Teil religiösen, vielleicht auch wirtschaftlichen Gründen. Sie erreicht in der Pogromwelle des ersten Kreuzzuges 1096 einen ersten furchtbaren Höhepunkt, mithin in einer Zeit, in der sich das Problem freier Frauen noch nicht oder anders als dann im Spätmittelalter stellte. Insofern schließen sich unterschiedliche Marginalisierungskonzepte keinesfalls gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. So dürfte die sog. Sündenbocktheorie als Erklärungsmodell der Marginalisierung der Juden vielleicht ein stärkeres Gewicht besitzen als die im Falle der Prostituierten eher sich anbietende Moralisierungsthese. Vielleicht ist die Autorin B. Schuster in der Einschätzung sexueller Toleranz der städtischen Obrigkeit, die nach ihrer Meinung bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts andauerte, auch ein wenig zu optimistisch gewesen. Immerhin wird man ihr doch darin folgen können, daß sich aufgrund veränderter moralischer Anschauungen die Stigmatisierung und Marginalisierung der Prostituierten am Ende des Spätmittelalters beschleunigte. Einleuchtend erscheint der Hinweis auf die Ablösung adlig geprägter und damit „liberale-

141

Juden und Prostituierte

rer" Einstellungen gegenüber Frauen beim städtischen Rat zugunsten einer neuen, ungleich engherzigeren „kommunalen Moral" (B. Schuster). Begleitet und gefördert sei diese Entwicklung durch eine verstärkte Aristotelesrezeption, „die die Verantwortlichkeit des Menschen für ein vorbildliches Leben betonte und von seiner sozialen Position abstrahierte" 7 .

2. Annäherungsversuche an Randgruppenmentalitäten: Juden und Prostituierte Im folgenden sollen anhand der Juden, einer relativ geschlossenen Bevölkerungsgruppe, und der häufig in sog. Frauenhäusern lebenden „freien" Frauen Mentalitäten von Randgruppen dargestellt werden. Beide gehören sie zu den noch am besten erforschten randständigen Personengruppen in der städtischen Gesellschaft des Mittelalters. Bisweilen haben bereits Zeitgenossen zwischen Juden und Prostituierten nicht scharf unterschieden und sie vergleichbaren Diskriminierungen, etwa einer besonderen Kennzeichnungspflicht, unterworfen 8 . Bereits 1215 hatte beispielsweise das 4. Laterankonzil gefordert, daß die Juden sich von den Christen durch ihre Kleidung unterscheiden sollten (ut Judaei discernantur

a Christianis

in habitu), und auch

der wortgewaltige Prediger Berthold von Regensburg (gest. 1272) hatte Juden und Prostituierte ineinsgesetzt und für beide Gruppen eine Kennzeichnungspflicht durch die Farbe Gelb gefordert. Die Beschreibung der Mentalität von Randgruppen ist naturgemäß besonders schwierig. Ihre Marginalisierung förderte in aller Regel ihre Sprachlosigkeit. So sind beispielsweise Selbstaussagen von Angehörigen unehrlicher Berufe, von Henkern, Schankwirten, Bettlern, Totengräbern, Prostituierten usw. überaus selten; dies ganz im Unterschied zu Meinungsäußerungen und Urteilen von Majoritäten über jeweilige Minderheiten. Randgruppen erscheinen ferner vor allem als Objekte städtischer Ordnungsvorschriften, nicht aber als handelnde Subjekte. In aller Regel ist man daher erst einmal zur vorherigen theoretischen Reflexion aufgefordert, will man Mentalitäten solcher Gruppen erkunden. Ausgangspunkt jeder Überlegung ist das grundlegende Faktum fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Reaktionsform auf diese fehlende Akzeptanz können wir unter Zugrundelegung des in der Einleitung bereits skiz7 8

B. SCHUSTER, Freie Frauen, S. 418. Belege gibt P. SCHUSTER, Frauenhaus, S. 212-213.

142

Kapitel VI. Randgruppen

zierten Modells mentalitätsgeschichtlicher Forschung 9 als Hinweis auf Mentalitäten betroffener Randgruppen werten. Die Art und Weise, wie die betroffenen Personen mit ihrer Stigmatisierung umgingen und sie zu bewältigen versuchten, ihr, wie die Forschung bisweilen etwas salopp formuliert, „Stigmamanagement", ist vielleicht ein Indikator ihrer Mentalität. Randgruppenmentalität ist somit eine Reaktionsform auf die Mentalität der städtischen Mehrheit. Immer wird Randgruppenmentalität davon bestimmt, welchen Umfang und welche Formen das Verhalten seitens der Mehrheit der Stadtbürger annahm. Diese konnten von liberaler Duldung bis zu offener Verfolgung reichen. Folgende Reaktionsformen von Minderheiten sind zu belegen: Erstens die Anpassung, freiwillig oder durch Zwang, an die Normen der Majorität. Man distanziert sich dadurch von anderen Randständigen und hofft, weiterer Stigmatisierung und Diskriminierung zu entgehen. Im Fall der Juden vollzieht sich Angleichung und Integration durch die Taufe, im Fall der Prostituierten durch die bürgerliche Ehe. Eine zweite Möglichkeit besteht in der Solidarisierung mit anderen Randständigen und in der bewußten Absonderung von der Mehrheit. Es kommt zur Ausbildung von Sondersprachen (Soziolekten), im Fall der Juden etwa des Jiddischen, das aus dem Mittelhochdeutschen erwächst, oder bei kriminalisierten Randgruppen zur „Gaunersprache" des Rotwelschen. Die Solidarisierung kann schließlich drittens so weit gehen, daß sich ganze „Gegengesellschaften" bzw. sekundäre oder Nebengesellschaften entwickeln. So bilden sich innerhalb der mittelalterlichen Stadt spezielle Wohn- und Lebensräume der Juden. In ihnen befinden sich die zentralen jüdischen Kult- und Lebensbereiche wie Synagoge, Friedhof und rituelle Badestätte (das sog. „Judenbad"). Erleichtert wird diese räumliche Konzentrierung durch die Tatsache, daß in der mittelalterlichen Stadt Arbeits- und Wohnstätten ungleich weniger als heute voneinander getrennt waren und gleiche Berufsgruppen (Zünfte) im selben Viertel und häufig in derselben Gasse anzutreffen waren. Ob damit bereits im Fall der Juden ein Zustand erreicht war, den man heute mit dem Wort Ghetto verbindet, bleibt offen und hängt sicherlich vom Einzelfall ab. Freilich ist daran zu erinnern, daß die Sozialtopographie als guter Indikator für Randständigkeit gelten kann. So lagen die sog. Frauenhäuser, in denen die Prostituierten lebten und ihrem Gewerbe nachgingen, in der Regel in „schlechten Gegenden", d. h.

9

Vgl. oben S. 2 9 - 3 0 über das „Stimulus"-Modell.

Juden und Prostituierte

143

„in der Vorstadt oder in unmittelbarer Nähe zur Stadtmauer und zum Stadtgraben" 1 0 . Die vierte Reaktionsform, mit der auf Ausgrenzung und Stigmatisierung reagiert werden kann, ist gleichzeitig die entschiedenste. Randgruppen entziehen sich der Majorität, soweit möglich, durch Abwanderung und Flucht oder leisten aktiven Widerstand. Die erste große Verfolgungswelle, der Juden im mittelalterlichen Deutschland ausgesetzt waren, setzte ein mit der Kreuzzugszeit am Ende des 11. Jahrhunderts. Quellenberichte dieser Zeit sowohl von christlicher als auch von jüdischer Seite schildern unterschiedliche Reaktionsweisen der in ihrer Existenz bedrohten jüdischen Minderheit. So berichten aus christlicher Sicht die Gesta Treverorum über die 1096 in Trier stattfindenden Judenverfolgungen: „Zu dieser Zeit beabsichtigte viel Volk beiderlei Geschlechts aus allen Gegenden und Herkunftsgebieten, nach Jerusalem zu ziehen, und aus Liebe zu Gott und ihrem Glauben dürsteten sie mit ganzem Herzen danach, entweder selbst zu sterben oder die Nacken der Ungläubigen dem Glauben zu unterwerfen. In dieser Geisteshaltung beschlossen sie, erregt wie sie waren, zuerst die Juden, in welchen Städten und befestigten Plätzen sie auch wohnten, zu verfolgen. Sie wollten sie zwingen, entweder an den Herrn Jesus Christus zu glauben, oder sie sonst unverzüglich zu töten. Nachdem sie sich in ihrer Wut der Stadt der Trierer genähert hatten, glaubten die dort wohnenden Juden, daß etwas derartiges mit ihnen geschehen würde. Einige unter ihnen ergriffen ihre Kinder und trieben das Messer in ihre Bäuche. Sie sagten, sie müßten ihre Kinder lieber in den Schoß Abrahams entlassen, damit diese nicht vielleicht als Spielball für wahnsinnig gewordene Christen dienen könnten. Einige jüdische Frauen stellten sich auf die Brücke über den Fluß (gemeint: Moselbrücke), füllten ihren Schoß und ihre Ärmel mit Steinen und stürzten sich danach in die Tiefe. Die übrigen aber, die bis dahin noch leben wollten, ergriffen ihre Siebensachen und ihre Kinder und flohen dann zum (erzbischöflichen) Palast, der für die Trierer ein Asyl war, wo sich eben zu dieser Stunde (der Erzbischof) Egilbert befand, und begannen, ihn unter Tränen um Unterstützung zu bitten. Jener aber nutzte die Gunst des Augenblicks und ermahnte sie, sich zu bekehren. Er begann folgendermaßen: ,Ihr Armen, nun kommen über euch eure Sünden, die ihr begangen habt, indem ihr den Sohn Gottes geschmäht und seine aller-

10 B. SCHUSTER, Freie Frauen, S. 98.

144

Kapitel VI. Randgruppen

heiligste Mutter in den Schmutz gezogen habt, indem ihr nämlich geleugnet habt, daß er (der Sohn Gottes) fleischliche Gestalt angenommen habe, und indem ihr seine Mutter mit überflüssigen Worten herabgesetzt habt ... Stimmt deshalb meinen Bitten und meinen Ratschlägen zu, bekehrt euch und laßt euch taufen, und ich werde dafür sorgen, daß ihr euren Besitz in Frieden und unbeschädigt zurückbekommt. Auch werde ich euch in Zukunft vor euren Widersachern beschützen'. Da er dies und ähnliches zu ihnen sagte, begann einer von ihnen, ein Rechtskundiger (gemeint: ein Rabbi) namens Micheas, folgendes zu sagen: ,Wahrlich, es ist nötig, so wie du gesagt hast, daß wir uns eher dem christlichen Glauben anschließen, als daß wir weiter von Tag zu Tag um unser Leben und um unseren Besitz fürchten. Sage uns, auf welche Weise wir glauben sollen, und hilf uns, daß wir aus den Händen derer errettet werden, die draußen stehen und uns zu vernichten suchen'. Und der Bischof sagte: ,Das ist der katholische Glaube, ohne den niemand gerettet werden kann ...' Daraufhin sagte Micheas, nachdem auf sein Drängen der Bischof sein Glaubensbekenntnis gegenüber den Juden abgelegt hatte: ,Ich schwöre dir bei, daß ich das, was du gesagt hast, glaube und siehe, ich schwöre dem Judentum ab, und ich werde mich bemühen, das zu begreifen, was ich jetzt noch nicht vollständig genug erkannt habe, sobald die Zeit des Friedens und der Ruhe für uns angebrochen ist. Beeile dich jetzt aber nur, uns zu taufen, damit wir den Händen unserer Häscher entkommen'. Auf ähnliche Weise sprachen auch alle anderen. Daraufhin taufte der Bischof ihn und gab ihm seinen (neuen) christlichen Namen, anwesende Priester tauften die anderen Juden. Aber, um anderes mit Stillschweigen zu übergehen, im darauffolgenden Jahr fielen alle anderen vom christlichen Glauben wieder ab, allein der Rabbi verließ den Bischof nicht und blieb im Glauben fest" n . Dieses unterschiedliche Verhalten der Juden, wie es der christliche Autor der Gesta Treverorum geschildert hat, wird von zeitgenössischen jüdischen Quellenzeugnissen bestätigt. Angesichts äußerster Not und höchster Lebensgefahr entscheiden sich einige für das Leben und gegen den Tod und damit für die christliche Taufe, wie die Chronik des Juden Solomon bar Simson nicht ohne kritische Untertöne vermeldet: „Ich (Solomon) will jetzt erzählen, was den Leuten von Metz zustieß. Oh Gott, du hast Israel vollständig verstoßen. Deine Seele verabscheute die 11 D. BERG/H. STEUR, Juden im Mittelalter, 1976, Nr. 51: Über die Judenverfolgungen in Trier ( 1 0 9 6 ) , S. 6 4 - 6 5 (aus d e m Lateinischen übersetzt).

Juden und Prostituierte

145

heilige Gemeinschaft von Metz; warum wurden sie und ihre Kinder erschlagen? Warum wurden die Heiligen, die sich dem größten Höchsten geweiht hatten, die Ehrenwerten auf der Erde, die Kenner der Thora, dort erschlagen? Samuel Cohen, die Gabbai und viele andere wurden dort hingeschlachtet, alles Titanen und Heilige, die wahren Fundamente der Welt. Zweiundzwanzig Leute wurden dort erschlagen, und die Mehrheit wurde mit Gewalt bekehrt - wegen unserer zahlreichen Sünden und unserer großen Schuld. Die zwangsweise bekehrten blieben dort, bis der Tag des Zorns vorbei war, und danach kehrten sie zum HERRN von ganzen Herzen zurück; möge Gott ihre Buße akzeptieren und die Sünden seines Volkes vergeben. Die ganze Gemeinde in Regensburg ließ sich zwangsweise bekehren, weil sie (die Juden) sahen, daß sie sonst nicht gerettet werden könnten. Als sich die Irrenden und der Rest des Mobs zusammenrotteten, zwangen die Regensburger die Juden in den Fluß (d. h. in die Donau, um sie zu taufen), und dann machte der Feind ein böses Zeichen über dem Wasser - vertikal und horizontal (d. h. ein Kreuzzeichen) - und zwar trieben die Regensburger die Juden alle gleichzeitig ins Wasser, da es von ihnen (den Juden) eine große Anzahl gab. Auch kehrten sie zum HERRN zurück, sobald der Feind sie verlassen hatte, indem sie große Buße taten. Denn was sie getan hatten, das hatten sie unter mächtigem Zwang getan, da sie unfähig waren, dem Feind zu widerstehen; und der Feind hatte sie nicht erschlagen wollen. Möge Gott uns unsere Fehltritte vergeben" 12 . Folgt man den Aussagen der vier wichtigsten jüdischen Chronisten aus dieser Verfolgungszeit, so zeichnete die meisten Juden eine andere Haltung aus: eine religiös fundierte „Opfermentalität". Man akzeptiert den eigenen Tod leichter, weil man ihn als „Opfertod" interpretieren kann. Es ist ein „Märtyrertod". Die Andersgläubigen sind aus der Sicht einer religiösen Minderheit die „Ungläubigen", mit denen man notgedrungen zusammenleben muß. Doch der Kompromiß ist immer nur vorläufig und stets gefährdet. Die Bereitschaft, mit dem eigenen Leben für seinen Glauben einzustehen, stellt die äußerste Form des Gehorsams gegenüber einem Gott dar, dessen Ratschlüsse unerforschlich sind. Das verpflichtende Vorbild hatte aus jüdischer Sicht Abraham gegeben. Denn der Stammvater Israels war bereit gewesen, Gottes Gebot zu gehorchen und den eigenen Sohn Isaak als Opfer darzubringen:

12 The Chronicle of Solomon bar Simson, in: S. EIDELBERG, The Jews and the Crusaders, 1977, S. 21-72, hier S. 67 (aus dem Englischen übersetzt).

146

Kapitel VI. Randgruppen

„Es gab dort (in Mainz) einen Mann mit Namen Meshullan, Sohn des Isaak, und er rief mit lauter Stimme zu seiner geliebten Frau Zipporah und zu allen Anwesenden: ,Hört mir zu, Erwachsene und Kinder! Gott gab mir diesen Sohn; meine Frau Zipporah gebar ihn, als sie schon älter war. Sein Name ist Isaak. Ich werde ihn jetzt opfern, so wie es unser Vater Abraham mit seinem Sohn Isaak gehalten hat'. Seine Frau Zipporah sagte zu ihm: ,Mein Herr, mein Herr, wartet, legt eure Hand nicht auf den Knaben, den ich aufgezogen habe, den ich gebar, als ich schon alt war. Schlachtet mich zuerst und laßt mich nicht den Tod des Kindes sehen'. Er antwortete: ,Ich werde nicht eine Sekunde zögern. Er, der ihn uns gab, soll ihn wegnehmen, weil er ihm gehört, und er soll ihn an den Busen unseres Vaters Abraham legen'. Er band Isaak, seinen Sohn, und nahm das Messer in seine Hand, um ihn zu schlachten, wobei er die bei einem rituellen Opfer übliche Segensformel sprach. Der Knabe antwortete: ,Amen.' Und er schlachtete den Knaben. Er nahm seine kreischende Frau, und zusammen verließen sie den Raum. Die Ungläubigen (gemeint sind die Christen) schlachteten sie ab. ,Wirst du dich wegen dieser Dinge in deinem Zorn mäßigen, o Herr?' Dennoch, ungeachtet all dieser Vorkommnisse, wandte sich sein großer Zorn nicht von uns ab. Und da war ein junger Mann namens Isaak, Sohn des Daniel. Sie fragten ihn: .Willst du deinen Gott gegen einen abstoßenden Götzen eintauschen?' Er antwortete: ,Gott bewahre, daß ich ihn leugne. In ihn werde ich mein Vertrauen setzen und ich werde selbst meine Seele ihm darbringen.' Sie legten einen Strick um seinen Hals und zerrten ihn durch die ganze Stadt durch die schmutzigen Straßen zum Haus ihres Götzendienstes. Es war noch etwas Leben in seinem Körper, als sie zu ihm sagten: ,Du kannst noch gerettet werden, wenn du damit einverstanden bist, Christ zu werden.' Da ihm bereits die Kehle zugeschnürt war, konnte er aus seinem Mund kein Wort mehr hervorbringen. Deshalb machte er mit seinem Finger ein Zeichen, das ausdrücken sollte: .Schneidet mir doch den Kopf ab!' Und sie schlitzten ihm die Kehle auf. ... Als die Heiligen, die Frommen der Allerhöchsten, der Heiligen Gemeinde von Mainz hörten, daß einige aus der Gemeinde von Speyer getötet worden waren und daß die Gemeinde von Worms zum zweiten Mal angegriffen worden war, da ließen sie den Mut sinken, und ihre Herzen schmolzen und wurden wie Wasser. Sie schrien auf zum Herrn: ,Oh weh, o Herr, o Gott! Willst du den Rest des Volkes Israel vollkommen auslöschen? Wo sind alle deine Wunder, von denen unsere Vorväter berichtet haben, indem sie sagten:,Brachtest du uns nicht herauf von Ägypten,

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o Herr?' Aber nun hast du uns verflucht, da du uns in die Hände der Heiden ausgeliefert hast, damit sie uns zerstören!"' 1 3 Aktiver, offener Widerstand von jüdischer Seite war, folgt man den Aussagen der zeitgenössischen Quellen, eher selten. Aber es gab ihn: „Dort (in Worms) war ein anderer junger Mann mit Namen Simha ha-Cohen, Sohn unseres Meisters Isaak ha-Cohen, den sie mit ihrem fauligen Wasser zu beschmutzen versuchten (d.h. zu taufen). Sie sagten zu ihm: ,Sieh, sie sind schon alle getötet worden und liegen nackt da.' Der junge Mann antwortete schlau: ,Ich will alles tun, was ihr von mir verlangt, wenn ihr mich zum Bischof bringt.' So nahmen sie ihn mit und brachten ihn zum Hof des Bischofs. Des Bischofs Neffe war auch dort, und sie begannen, den Namen des fauligen und abstoßenden Abkömmlings anzurufen, und dann ließen sie ihn im Hof des Bischofs zurück. Der junge Mann zog sein Messer, dann fletschte er die Zähne wie ein Löwe, der im Begriff ist, seine Beute zu reißen, im Angesicht des Edelmannes, des Verwandten des Bischofs; dann stürzte er sich auf ihn und rannte sein Messer in dessen Leib, und der Mann fiel tot nieder. Dann, indem er sich abwandte, erstach er noch zwei andere, bis das Messer in seiner Hand zerbrach. Sie flohen in alle Richtungen. Als sie sahen, daß sein Messer zerbrochen war, griffen sie ihn an und machten ihn nieder. Dieser junge Mann wurde abgeschlachtet, der den Namen Gottes geheiligt hatte, indem er das tat, was der Rest der Gemeinde nicht getan hatte; indem er drei Unbeschnittene mit seinem Messer getötet hatte" 1 4 . Die soeben beschriebenen Verhaltensweisen sollten sich auch in der zweiten großen Pogromwelle nicht ändern, die Europa und Deutschland, hier wiederum mit Schwerpunkten in der Städtelandschaft entlang des Rheins, vor allem in der Mitte des 14. Jahrhunderts erfaßte. Passivität und Opferbereitschaft, Flucht und Fluchtversuche, nur vereinzelter aktiver Widerstand prägen das Bild. Insoweit ließe sich davon sprechen, daß keine grundlegenden Mentalitätsänderungen über die Jahrhunderte hinweg eingetreten seien. Freilich ist große Vorsicht geboten, denn im Unterschied zur ersten großen Pogromwelle bleibt der moderne Historiker diesmal fast ausschließlich auf christliche Berichte angewiesen. Ausführlichere jüdische Zeugnisse fehlen.

13 The Narrative of the Old Persecutions or Mainzer Anonymus, in: EIDELBERG, Jews and Crusaders, S. 9 9 - 1 1 5 , hier S. 1 0 3 - 1 0 5 (aus dem Englischen übersetzt). 14 The Narrative of the Old Persecutions, in: EIDELBERG, Jews and Crusaders, S. 104 (aus dem Englischen übersetzt).

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Kapitel VI. Randgruppen

Adaption von Randgruppen an die Gesellschaft erfolgte nicht immer nur durch Zwang, sondern bisweilen auch freiwillig. So gibt es in der Geschichte des mittelalterlichen Judentums auch den Typus des Judaeus conversus, des Juden, der sich freiwillig zum Christentum bekehrte; freilich ein Fall, der eher selten eintrat. Denn, folgt man mittelalterlichen Beispielerzählungen, den sog. Exempla, bedurfte es schon eines handfesten Wunders, damit sich ein Jude bekehrte. Dieses übernatürliche Ereignis steht häufig in einem engen Zusammenhang mit einer den Juden unterstellten bewußten Schändung der Hostie. Die provozierte Hostie weiß sich freilich in aller Regel so wollen es mittelalterliche Erzählungen zumindestens suggerieren - zu rächen, wie auch die folgende Geschichte des Hugo von Trimberg (gest. um 1313) berichtet, die den stereotypen Vorwurf des Hostienfrevels mit der sog. Ritualmordbeschuldigung 15 verbindet: „Ein Jude wollte die Christen verwirren und besuchte in der heiligen Karwoche, nachdem er sich zuvor (als Christ) verkleidet hatte, in einer großen Stadt mit den Christen den Gottesdienst. Als sie den Leib des Herrn empfingen, trat auch der Jude hinzu und verließ die Kirche, nachdem er den Leib des Herrn empfangen hatte. Dadurch wollte er die Christen verspotten. Und als er die Hostie aus seinem Mund in die Hand genommen hatte, lächelte ihn der Herr in der Gestalt eines Knaben an. Der Jude, über alle Maßen erschrocken, wußte nicht, was er jetzt als dringendstes tun sollte. Er fürchtete nämlich, daß die Christen ihn unverzüglich töten würden, wenn sie von seinem Frevel erführen. In verschiedensten Schmerzen und Ängsten gefangen, wartete er, bis das ganze Volk den Friedhof verlassen hatte, und nach Errichtung eines kleine Grabmals verscharrte er den Knaben voller Furcht heimlich in einer Ecke des Friedhofs. Als er danach eilig den Friedhof verließ, begegnete er dem Bischof der Stadt. Als er diesen von Ferne sah, seufzte er tief im Inneren und gedachte, ihm seine Tat zu offenbaren und sich taufen zu lassen. Als er dies dachte, näherte sich der Bischof, der Jude aber warf sich zu Boden und rief aus: , 0 Herr, höre den tückischen und hinterhältigen Menschen an, der den Sohn der Jungfrau ermordet und begraben hat'. Als er dies vernahm, seufzte der Bischof und stieg von seinem Pferd. Nachdem er die Beichte des Juden vernommen hatte, weinten sie gemeinsam bitterlich. Danach rief der Bischof Klerus und Volk der Stadt zusammen und eilte in größter Demut - der Jude ging voraus - zum Platz des Begräbnisses und öffnete das Grab. Bald fand er den Jungen, der noch lebte und fröhlich war.

15 Vgl. dazu auch oben S. 139.

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Während er diesen allen Umstehenden zeigte, erschien der Junge den einen in derjenigen Gestalt, in der er gefunden worden war; die anderen, die weniger würdig waren, sahen statt des Jungen freilich nur die Hostie. Der Jude aber hat sich zum katholischen Glauben bekehrt" 1 6 . Ähnlich dramatisch verläuft ein anderes Exemplum, das wiederum Hugo erzählt und gleichfalls von einem Hostienwunder seinen Ausgang nimmt: „Über den Sohn eines Juden, der zusammen mit seinen christlichen Mitschülern am Abendmahl teilnahm und die heilige Jungfrau erblickte, die mit der Hand des Priesters die Hostie verteilte. Das erzählte er daheim seinem Vater, der ihn in den Ofen steckte, aber von der heiligen Jungfrau verteidigt wurde. An seiner Stelle verbrannten dazukommende Christen den Vater" 1 7 . Wir besitzen auch ein jüdisch-christliches Selbstzeugnis von einzigartigem Wert aus dem 12. Jahrhundert, das unter mentalitätsgeschichtlichem Aspekt ein Dokument der schwierigen Situation der zum Christentum übergetretenen Juden ist. Der nach 1181 gestorbene Hermann von Köln schildert die Geschichte seiner Bekehrung. Freilich hat er seine Erlebnisse bewußt für ein christliches Publikum geschrieben. Dies mag dazu beigetragen haben, daß dieser jüdische Renegat, bewußt oder unbewußt, christliche Stereotype über die Juden zur Freude seiner christlichen Leserschaft wiederholt hat, beispielsweise die Aussage, daß alle Juden Kaufleute seien, was so in dieser Pauschalität nicht stimmen dürfte, weil es neben jüdischen Kaufleuten auch Priester, niedere Kultusfunktionäre, jüdische Metzger (Schächter) und Bäcker, Ärzte, „Hausangestellte" etc. wenigstens in größeren Gemeinden gegeben hat. Auch muß offenbleiben, inwieweit Hermanns Schilderung eines intellektuell äußerst engstirnigen und intoleranten Klimas in seiner Kölner Heimatgemeinde der damaligen Realität entsprach. So bekommt nach eigener Aussage der junge Hermann einen „Aufpasser" zugeteilt, der dafür sorgen soll, daß Jung-Hermann nicht auf die falsche, d. h. christliche Bahn abgleitet. Freilich stirbt dieser bald, was Hermann selbstverständlich als Zeichen Gottes wertet. Argwöhnisch werden seine Kontakte zu den Christen registriert, und schließlich stellt ihn der jüdische Rat vor die Alternative, Heirat oder Ausschluß aus der Gemeinde:

16 Hugo von Trimberg, Solsequium (ed. E. SEEMANN, 1914), cap. 29, S. 59-60 (aus dem Lateinischen übersetzt). 17 Hugo von Trimberg, Solsequium (ed. SEEMANN), cap. 39, S. 70 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel VI. Randgruppen

„Es kam freilich ein Jude namens Alexander zu mir (Hermann), mit dessen jungfräulicher Tochter ich verlobt war. Er ermahnte mich, drängte mich, bat mich eindringlich, den Hochzeitstag festzulegen, und begann zu insistieren. Ich aber, damals noch unsicher, ob ich im Judentum verharren oder zum Christentum übertreten sollte, habe sorgfältig darüber nachgedacht, daß eine Heirat mich stärker mit häuslichen Pflichten belasten würde, so daß ich nicht mehr täglich, wie ich es gewohnt war, an Disputationen teilnehmen könnte. Ich dachte daran, die Heirat auf einen geeigneteren Zeitpunkt zu verschieben, bis ich dank göttlichem Erbarmen durch irgendein Zeichen erfahren könnte, was für mein Seelenheil das beste wäre. So antwortete ich wohlüberlegt, daß ich zwar seinen wohlwollenden Ratschlag mit offenem Herzen empfangen hätte, diesen gleichwohl aber im gegenwärtigen Stadium nicht befolgen könne, da ich daran gedacht hätte, nach Frankreich des Studiums wegen aufzubrechen. Als jener aber erkannte, daß er nichts erreichen würde, da er häufiger um mein Einverständnis zu seinem Vorschlag nachsuchte, griff er nach Art des Skorpions, der mit seinem Schwanz tötet, zu Drohungen und Einschüchterungsversuchen, nachdem er es zuerst mit Bitten und Schmeicheleien probiert hatte. Die Ratsversammlung der Juden wurde einberufen, auf der Alexander klagte, daß ich durch die unheilvollen Fabeleien der Christen so sehr verdorben sei, daß ich weder auf den Rat der Verwandten und Freunde hören noch mich, was ungleich schwerwiegender sei, von der Autorität des Gesetzes zur Eheschließung bewegen ließe. Als mich die Juden fragten, ob es sich so verhielte, antwortete ich, daß ich die Heirat nicht grundsätzlich ablehnte, sondern noch darüber nachdenken und deshalb auch verschieben wolle, wobei ich das gleiche Argument wie gegenüber meinem Schwiegervater benützte. Als jene hörten, daß ich nach Frankreich aufbrechen wollte, und als jene Verdacht schöpften, daß ich dies nicht wahrheitsgemäß vorbrachte, was ich ja auch nicht tat, stellten sie sich alle einmütig gegen mich. Sie riefen in unverschämter Weise, daß mein Reiseplan bereits ein Zeichen meines Abfalls vom Glauben sei und daß ich nicht durch die Liebe zum Studium, wie ich behauptet hatte, sondern nur durch die Liebe zum Aberglauben der Christen zu diesem Entschluß bewogen worden sei. Und was mehr? Als sie meine Standhaftigkeit kennengelernt hatten, stellten sie mich vor folgende Alternative: entweder sollte ich gemäß dem jüdischen Gesetz ohne weiteren Vorwand heiraten, widrigenfalls, sollte ich lieber etwas anderes tun, würde ich aus ihrer Synagoge ausgeschlossen werden. Es soll aber niemand glauben, diese Drohung stelle etwas Harmloses dar. Er soll vielmehr wissen, daß das ,aus der Synagoge ausgeschlossen werden' dasselbe beinhaltet,

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was bei den Christen der Kirchenausschluß durch die Exkommunikation bedeutet" 1 8 . So dürfte die Bekehrungsgeschichte des Hermann von Köln vor allem ein Zeugnis sein für die psychologisch schwierige Lage eines jüdischen Renegaten, der überkompensiert und sich durch seine betonte Distanzierung vom Judentum als „hundertfünfzigprozentigen" Christen darstellen möchte. Er selbst hat seine Situation vor dem endgültigen Übertritt zum Christentum genau analysieren und mit ergreifenden Worten beschreiben können: „Ich Armer, was soll ich tun? Wohin soll ich fliehen? Welche Hoffnung auf Rettung wird mir noch bleiben, da ich weder ganz Jude noch ganz Christ sein kann? Wenn mich, der ich in solcher Lage bin, schließlich unvermutet wie ein Dieb der letzte Tag meines Lebens ereilt, wohin soll ich dann gehen? So oder so, ich werde untergehen" 1 9 . Hermanns kritische Distanz gegenüber einem Judentum, in dem er aufgewachsen war, wird man verstehen können angesichts eines latenten oder offenen Mißtrauens, mit dem viele Christen ihren neu bekehrten Glaubensbrüdern sicherlich begegnet sind. Wie Hermann wiederum kritisch anmerkt, waren doch die Juden nach ihrer Taufe vom christlichen Glauben abgefallen, sobald die Zeit der Bedrängnis, die ersten großen Pogromwellen der frühen Kreuzzüge, abgeklungen waren. Insofern bestand für ihn ein besonders starker Zwang zur Assimilation. Vielleicht muß man auch annehmen, daß sein Übertritt zum Christentum zu einem psychischen Trauma geführt hat. Darauf mag man es zurückführen, daß sich sein Haß gegen seine ehemaligen jüdischen Glaubensgenossen am Ende seiner autobiographischen Skizze weiter steigert. Wie groß er geworden ist, zeigt Hermanns Bericht, daß er einer „jüdischen Konspiration", einem Mordkomplott zum Opfer fallen sollte: „Als aber die Juden (in Köln) sahen, daß ich nicht mehr, wie es üblich war, am Gottesdienst in der Synagoge teilnahm, den ich zu versäumen früher gefürchtet hatte, wie aus dem Vorangegangenen hervorgeht, bemerkten sie, daß mein unvermuteter Gesinnungswechsel kein leichtfertiger Entschluß meinerseits gewesen war. Sie lauerten mir also auf und begannen, meine 18 Hermannus quondam Judaeus, Opusculum de Conversione sua (Monumenta Germaniae Histórica: Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters IV, ed. G. NIEMEYER, 1963), cap. 10, S. 98-100 (aus dem Lateinischen übersetzt). 19 Hermannus Judaeus, Opusculum, cap. 11, S. 106 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel VI. Randgruppen

Wege und Tätigkeiten genauestens zu erforschen. Als sie erkannt hatten, daß ich mich nur noch um meine kirchliche Unterweisung (ins Christentum) kümmerte, ergriff sie ein solch gewaltiger Zorn gegen mich, daß sie nicht davor zurückgeschreckt wären, mich zu steinigen, hätte sich nur die Gelegenheit dafür geboten. Aber blind, wie sie im Dunkeln ihrer Perfidie und ihrer Bösartigkeit waren, versuchten sie auch andere in ihr Mordkomplott zu verstricken, das sie selbst nicht durchführen konnten. Diese Anstiftung anderer erhöhte nur ihre Schuld; auch wenn der Anschlag mißlang, so trifft doch allein sie der Vorwurf des Vorsatzes .. . " 2 0 Freilich läßt Hermanns Schilderung, wie er das Mordkomplott aufdecken und ihm dadurch auch entkommen konnte, ernsthafte Zweifel daran aufkommen, ob die jüdische Gemeinde tatsächlich, da sie selbst Hermann angeblich nicht ermorden konnte, ihre Mainzer Mitbrüder damit beauftragt hat. So soll angeblich die Kölner Judengemeinde einem Kapellan aus der Umgebung der Königin Richenza einen in Hebräisch verfaßten Brief auf dessen Reise nach Mainz mitgegeben haben. Und wie der Zufall es dann so wollte, reiste auch Hermann zusammen mit demselben Kapellan nach Mainz, gewann dessen Vertrauen und erfuhr dadurch vom Brief und dessen Inhalt. Diese Situierung ist, wie ein Vergleich mit anderen Exempla zeigen kann, ein beliebtes erzähltechnisches Versatzstück: das Gespräch zwischen vorher einander nicht bekannten Reisegefährten führt zu überraschenden Aufdeckungen. Aber sei dem, wie es wolle, erschreckend bleibt der Umstand, wie unbedenklich der ehemalige Jude Hermann alte judenfeindliche Stereotype aufgreift. Stereotypa, die, wie dasjenige von der „jüdischen Verschwörung", bis in die Gegenwart weiterleben. Noch stärker als im Fall einer spezifisch jüdischen Mentalität bleibt man bei den Prostituierten auf Vermutungen angewiesen. Denn es existieren keine mit den soeben angeführten Berichten von Juden vergleichbaren Selbstzeugnisse von .freien Frauen*. Um wenigstens einige wenige Anhaltspunkte gewinnen zu können, muß der Historiker zunächst einen methodischen Umweg einschlagen: Er hat in einem ersten Schritt die gesellschaftliche Einschätzung der Prostituierten im Mittelalter zu untersuchen. Erst nachdem er diese bestimmt hat, kann er dann in einem zweiten Schritt besser fundierte Aussagen über Mentalitäten von Prostituierten - vielleicht wagen. Denn deren Mentalität und Verhalten dürfte ganz wesentlich von ihrer gesellschaftlichen Position abhängen.

20 Hermannus Judaeus, Opusculum 14, S. 109-110 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Die französische Forschung (J. Rossiaud u. a.), der auch die jüngste deutsche Forschung (P. Schuster, B. Schuster) im großen und ganzen gefolgt ist, kam zu überraschenden Ergebnissen. So kann nach deren Meinung für die Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts sowohl in Deutschland wie auch in Frankreich nicht von einer Randgruppen- bzw. Außenseiterposition der Prostituierten ausgegangen werden. Vielmehr seien Prostituierte vollkommen in die städtische Gesellschaft integriert und gesellschaftlich akzeptiert gewesen. Integration und Akzeptanz seien doppelt gefördert worden: in der Theorie durch eine kirchliche Lehre, deren Wurzeln bis zum Kirchenvater Augustin (gest. 430) zurückreichten und die sich in der Zeit der Scholastik ab dem 13. Jahrhundert (beispielsweise durch Thomas von Aquin) als die Lehre vom geringeren Übel der Prostituierten endgültig durchgesetzt habe; in der Praxis durch eine städtische Obrigkeit, die den Prostituierten die Aufgabe zugewiesen hätte, den innerstädtischen Frieden zu sichern. Die Aggressivität junger Leute', insbesondere auch der Handwerksgesellen, denen aufgrund ihres Alters oder ihrer materiellen Lage die Heirat noch verwehrt war, konnte sich so in geordneten Bahnen entladen. Die Befürworter dieser Theorie führen eine Vielzahl von Belegen ins Feld, die nicht ohne weiteres zu entkräften sind, beispielsweise die finanzielle Unterstützung von Bordellen und Bordellwirten, den sog. Frauenwirten, durch den städtischen Rat, die Durchsetzung von Frauenhausordnungen, der unterstützende Einsatz städtischer Bediensteter, Büttel und Knechte, bei der Organisation von Frauenhäusern, die steuerliche Abgabenpflicht für Frauenwirte, die Aufnahme von Dirnen in die städtischen Kleiderordnungen, der relativ unbefangene gesellschaftliche Diskurs über freie Frauen, so etwa die ,ungenierte' Erwähnung eines Bordellbesuches, die finanzielle Erschwinglichkeit eines Bordellbesuches auch für die Handwerksgesellen, welche die stärkste Besuchergruppe bildeten. Die entscheidende Zäsur, die Marginalisierung, die sich bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts abzuzeichnen beginne, ist nach dieser Meinung erst in einem mental durch reformatorischen Rigorismus grundlegend veränderten Klima des 16. Jahrhunderts zu suchen, das Sexualität zwar als Bestandteil menschlicher Natur durchaus bejaht, ihre ,Bändigung' moralisch freilich nur noch im Rahmen der Ehe für rechtens gehalten habe. Ist man bereit, dieser ,Integrationsthese' zu folgen, ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Mentalität der Prostituierten. Der Begriff der Randgruppe' träfe dann nicht mehr auf sie zu, da sie einer für die städtische Gesellschaft wichtigen und notwendigen Beschäftigung nachgingen. Im Unterschied beispielsweise zu den Juden hätten sie nicht unter den Folgen

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Kapitel VI. Randgruppen

einer Stigmatisierung zu leiden gehabt, man hätte vielmehr bei ihnen von einem „Selbstwertgefühl", einem wie auch immer gearteten Selbstbewußtsein auszugehen. So hat J. Rossiaud beispielsweise auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß Prostituierte wegen ihres Berufes kein schlechtes Gewissen hatten und sich deswegen auch wegen ihres Seelenheils nicht allzu große Sorgen machten 2 1 . Beispiele ausgeprägten Selbstbewußtseins sind, wenn auch nicht leicht erkennbar, doch vorhanden. So versuchten ,freie Frauen' gegen unliebsame Konkurrenten, gegen ,heimliche Frauen', die der Prostitution außerhalb des Frauenhauses nachgingen, vorzugehen; bei offiziellen Anlässen, bei städtischen Festtagen oder bei hohem Besuch, waren Prostituierte keinesfalls ausgeschlossen; das .liberale' Klima des 15. Jahrhunderts tolerierte auch bei Hochzeiten und Tanzvergnügen freie Frauen und „band sie gesellschaftlich ein" (P. Schuster). Freilich macht ein solch relativ optimistisches Bild der spätmittelalterlichen Prostituierten die Rechnung ohne den Wirt, in diesem Fall ohne den ,Frauenwirt', den städtischen Bordellbetreiber. Es gibt wenig Anlaß, die Lebensverhältnisse der freien Frauen sehr positiv einzuschätzen. Denn diese unterlagen doch häufig einer strengen Kontrolle ihres Frauenwirts, der sie bei den ihnen ausdrücklich gestatteten Kirchgängen bisweilen sogar bewachen ließ, um Fluchtversuche zu verhindern. Auch der Umstand, daß die allermeisten der aus der Unterschicht stammenden Prostituierten ihren Dienst (ministerium) gezwungenermaßen ausübten, verbietet entschieden eine allzu optimistische Einschätzung ihrer Situation und damit sicherlich auch ihrer Mentalität. Manchmal drängt sich dem unbefangenen Beobachter die Vermutung auf, daß die Forschung in ihrem Bemühen, den zu Beginn der frühen Neuzeit eingetretenen Mentalitätswandel zu unterstreichen, die gesellschaftliche Situation der Prostituierten im Mittelalter bisweilen ein wenig zu positiv darstellt, wobei es zu Beurteilungen kommt, die einer spezifisch männlichen, verharmlosenden und die weibliche Psyche gänzlich mißachtenden Sichtweise entspringen 22 . Man wird vielmehr dem vorsichtig-

21 Vgl. J. ROSSIAUD, Die D a m e Venus, 1989 (hier zitiert nach der T b . - A u s g a b e 1994, S. 2 4 0 A n m . 19 über Selbstaussagen französischer Prostituierter: „ . . . einzig in e i n e m Testament f ü r fünf Prostituierte aus Beaucaire-Tarascon finden sich H i n w e i s e auf Sorge und A n g s t vor möglichen Höllenstrafen wegen des a u s s c h w e i f e n d e n L e b e n s ...")• 22 D a s gilt beispielsweise f ü r den in A n m . 21 zitierten J. Rossiaud, w e n n dieser (S. 4 7 ) schreibt: „Wenn sie (die Prostituierten) auch m a n c h m a l von mehreren Leuten mißhandelt oder e n t f ü h r t wurden, weil diese sie für ihre Dienste nicht bezahlen wollten, so genossen die Dirnen doch besondere Sicherheitsgarantien und w a r e n in guter O b h u t . In dieser Hinsicht

Bibliographie

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abwägenden Urteil von A. Lömker-Schlögell zustimmen müssen, die von einer „ambivalenten" Einstellung der städtischen Gesellschaft spricht, die dafür sorgte, daß es „in vielen Städten zur Marginalisierung der Prostitution" gekommen ist 2 3 .

3. Bibliographie Allgemein: B. GEREMEK, Les marginaux parisiens aux XIV e et XV e siècles, 1976 (klassisch); F. GRAUS, Randgruppen der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), S. 3 8 5 - 4 3 7 ; DERS., Die Randständigen, in: P. MORAW (Hg.), Unterwegssein im Spätmittelalter (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 1), 1985, S. 93-104; W. HARTTUNG, Gesellschaftliche Randgruppen im Spätmittelalter. Phänomen und Begriff, in: B. KIRCHGÄSSNER/F. REUTER (Hgg.), Städtische Randgruppen und Minderheiten, 1986, S. 49-114; J.-C. SCHMITT, L'Histoire des marginaux, in: J. LE GOFF (Hg.), La nouvelle histoire, 2 1988, S. 277-305; F. IRSIGLER/A. LASSOTTA, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, 1984 (dtv Tb. 6 1995); B.-U. HERGEMÖLLER: Randgruppen in der städtischen Gesellschaft. Einheit und Vielfalt, in: DERS. (Hg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 2., neubearbeitete Auflage, 1994, S. 1-55; E. SCHUBERT, Gauner, Dirnen und Gelichter in den deutschen Städten des Mittelalters, in: C. MECKSEPER/ E. SCHRAUT (Hgg.), Mentalität und Alltag im Spätmittelalter, 1985, S. 9 7 - 1 2 8 ; K. SIMONMUSCHEID, Randgruppen, Bürgerschaft und Obrigkeit. Der Basler Kohlenberg, 14.-16. Jahrhundert, in: Spannungen und Widersprüche - Gedenkschrift für Frantisek Graus, hg. v o n S . BURGHARTZ U. a . , 1 9 9 2 , S . 2 2 9 - 2 4 4 .

war das Erkennungszeichen, das sie trugen, nicht nur ein Schandmal, sondern auch ein Schutz gegen mögliche Gewalttätigkeiten. Außerdem hatten sie Freunde, die keine Zuhälter waren und die abends auf den Zimmern oder im großen Saal vertraulich mit ihnen zu schwatzen pflegten ...". - Folgt man Rossiaud (ebd. S. 4 8 - 4 9 ) , so war auch das Alter für die Prostituierten kein Thema, das diese allzusehr hätte beunruhigen müssen: „Der größte Teil der .öffentlichen Mädchen' aber hatte gute Chancen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Sie mußten kaum mehr die Überfälle der jungen Burschen fürchten und waren doch noch im heiratsfähigen Alter. Weil sie nicht auf gesellschaftliche Ablehnung stießen, konnten sie leicht einen Platz als Dienstmagd oder Konkubine im Haushalt eines Priesters oder (geistlichen) Rechtsgelehrten finden ... In der Ehe endete letztlich auch der Weg der meisten öffentlichen Prostituierten, die oft mit der Stadt verbunden blieben, in der sie das Geschäft mit ihrem Körper gemacht hatten." 23 A. LÖMKER-SCHLÖGELL, Prostituierte - „umb vermeydung willen merers Übels in der cristenhait", in: B.-U. HERGEMÖLLER (Hg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 2., neubearbeitete Auflage, 1994, S. 5 6 - 8 8 , hier S. 78.

156

Kapitel VI. Randgruppen

Stigmatisierung: R. JÜTTE, Stigma-Symbole, in: N. BULST/R. JÜTTE (Hgg.), Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft (Saeculum 44), 1993, S. 6 5 - 8 9 . Zur Situation der Juden: F. GRAUS, P e s t - G e i ß l e r - J u d e n m o r d e ,

2

1988 (insbesondere Teil III,

A : Kapitel 5 : „Die Opfer und ihr Verhalten" und Teil III, B : Kapitel 2 : „Die .Verschwörung ' der Juden und die Fabel von der Brunnenvergiftung 1348-1350); A. HAFERKAMP (Hg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1981 ; H. SCHRECKENBERG, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld ( l . - l l . Jahrhundert), 2 1990; A. EBENBAUER/K. ZATLOUKAL (Hgg.), Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, 1991 ; R. ERB (Hg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, 1993; R. SCHNEIDER, Der Tag von Benfeld im Januar 1349: Sie kamen zusammen und sie kamen überein, die Juden zu vernichten, in: Spannungen und Widersprüche - Gedenkschrift Graus, S. 2 5 5 - 2 7 2 ; A. MEYUHAS GINIO, Self-Perception and Images of the Judeoconversos in Fifteenth-Century Spain and Portugal, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 1993, S. 127-152. Prostituierte, .freie Frauen': A. LEMKER-SCHLÖGELL, Prostituierte - „umb vermeydung willen merers Übels in der cristenhait", in: HERGEMÖLLER (Hg.), Randgruppen, S. 5 6 - 8 8 (gute Zusammenfassung der unterschiedlichen Forschungspositionen); B. SCHUSTER, Die freien Frauen, 1995 (mit reicher Bibliographie); P. SCHUSTER, Das Frauenhaus, 1992; DERS., Sünde und Vergebung. Integrationshilfen für reumütige Prostituierte im Mittelalter, in: Zeitschrift f ü r h i s t o r i s c h e F o r s c h u n g 2 1 ( 1 9 9 4 ) , S . 1 4 5 - 1 7 0 ; L . L . OTIS, P r o s t i t u t i o n i n

Médiéval

Society, 1980; J. ROSSIAUD, La prostitution médiévale, 1988 (dt.: Dame Venus, 1989, Tb.Ausgabe 1994).

Nichtseßhafte: E. SCHUBERT, Mobilität ohne Chance: die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: W. SCHULZE (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12), München 1988, S. 113-164; DERS., Fahrendes Volk im Mittelalter, 1995. Spielleute: W. HÄRTUNG, Die Spielleute (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beihefte 72), 1982.

Kapitel VII. Bauern 1. Zur Forschungssituation im Mittelalter

2. Skizzierung einiger Entwicklungslinien bäuerlichen Daseins

3. Aspekte bäuerlicher Mentalitäten

4. Bibliographie

1. Zur Forschungssituation Die mittelalterliche Gesellschaft ist, unter numerischem Aspekt betrachtet, eine bäuerliche Gesellschaft gewesen. Plausible Schätzungen gehen davon aus, daß der Anteil der Bauern an der Gesamtgesellschaft des mittelalterlichen Deutschland bei über neunzig Prozent gelegen hat. Dies ist Grund genug, sich mit dieser Gesellschaftsgruppe intensiver auseinanderzusetzen. Leider entspricht ihrer zahlenmäßigen Stärke kein auch nur annähernd gleichgewichtiges Interesse der Forschung. Daß man der mittelalterlichen Agrargeschichte, wenn man einmal von einigen bedeutenden Vertretern der älteren Generation (G. von Below, G. Franz, F. Lütge) absieht, in Deutschland ein eher geringes Interesse entgegengebracht hat, liegt zum einen natürlich an der hier nach wie vor besonders starken Dominanz der politischen bzw. „Ereignis"-Geschichte. Für diese bietet die bäuerliche Geschichte, soweit sie das Mittelalter betrifft, nur wenig Anhaltspunkte. Die scheinbare „Geschichtslosigkeit des Bauern" endet erst mit dem Bauernkrieg der Frühen Neuzeit. Zum anderen dürfte das bislang eher geringe Interesse der Forschung (in Deutschland) auch unmittelbar mit dem Gegenstand selbst zusammenhängen. Die Agrargeschichte entzieht sich, mehr als andere Untersuchungsobjekte der mittelalterlichen Geschichte, dem unmittelbaren Zugriff. Aussagen lassen sich in aller Regel nur für einzelne, lokal, regional oder zeitlich eng begrenzte Untersuchungsobjekte machen und verbieten meist jede Verallgemeinerung. Darüber hinaus scheint der Konsens der Sozial- und Wirtschaftshistoriker über ihre Ergebnisse nicht nur in Deutschland besonders schwierig zu sein. Häufig werden beispielsweise in Frank-

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Kapitel VII. Bauern

reich ganz unterschiedliche Thesen über die Lage der französischen Bauernschaft zu Beginn des premier

âge féodale

im 11. Jahrhundert vorgetragen.

So teilen nicht alle die optimistische Meinung von R. Fossier über die angenommene, vergleichsweise gute Situation der Bauernschaft und bezweifeln insbesondere die Übertragbarkeit regionaler Untersuchungsergebnisse (Champagne, Flandern) auf andere Landschaften Frankreichs. Was die Lage speziell in Deutschland angeht, so beginnen sich auch hier die Verhältnisse allmählich zu ändern. Ausdruck verstärkter Bemühungen sind beispielsweise der Syntheseversuch von W. Rösener über „Bauern im Mittelalter" (1985) oder die eindringliche Spezialstudie von L . Kuchenbuch über „Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm" (1983). In der früheren D D R wandte man sich - man denke insbesondere etwa an S. Epperlein und seine Untersuchung zu „Bauernbedriickung und Bauernwiderstand im hohen Mittelalter" (1960) - vor allem Formen bäuerlichen Protestes zu. Stellt sich die Lage, was die Agrargeschichte des Mittelalters im allgemeinen angeht, schon als sehr komplex und wenig befriedigend dar, so gilt dies insbesondere von der Mentalitätsgeschichte, die sich mit den Bauern allenfalls ansatzweise befaßt hat, wobei die Skepsis überwiegt, überhaupt Aussagen treffen zu können. Symptomatisch dafür ist ein unlängst erschienener Aufsatz des Mediävisten H.-W. Goetz „Zur Mentalität bäuerlicher Schichten im frühen Mittelalter". Dessen eher deprimierendes Ergebnis lautet etwa: Pauschalurteile sind unzulässig. Die bäuerliche Mentalität läßt sich nicht erfassen (und das liegt nicht etwa daran, daß es keine Bauern gegeben hätte oder daß diese sich ihres bäuerlichen Daseins nicht bewußt gewesen wären). Vielmehr sind die Aussagen zu widersprüchlich, ist die Schicht der Bauern in sich aber auch zu wenig einheitlich: „Die Quellenlage reicht nicht aus, um die Mentalität jeder einzelnen Gruppe zu erfassen". 1 Soweit Goetz, der insbesondere auf die sich hemmend auswirkende Tatsache verweist, daß man im Falle der Bauern über keinerlei Selbstaussagen, sondern nur über Fremdaussagen mönchisch-klerikaler Kreise verfügt. Dennoch soll ungeachtet dieser nicht unbegründeten pessimistischen Einschätzung versucht werden, zu einigen Teilaussagen zu kommen. U m die Situation wenigstens etwas freundlicher erscheinen zu lassen, sei darauf hingewiesen, daß im Fall der Mentalitätsgeschichte, zumal in der Zeit des frühen und hohen Mittel-

1

H.-W. GOETZ, Zur Mentalität bäuerlicher Schichten im frühen Mittelalter, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80 (1993), S. 153-174.

Zur Forschungssituation

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alters, in der sogenannte serielle Quellen (große, thematisch einheitliche Quellencorpora wie z.B. Testamente) fehlen, generalisierende Aussagen nie zu treffen sind. Der Umstand, daß wir im Rahmen einer Mentalitätsgeschichte der Bauern nur über „Fremdaussagen" Dritter verfügen, also über Quellen, die von Klerikern und Mönchen geschrieben wurden, stellt eine generelle Schwierigkeit der Mentalitätsgeschichte des Mittelalters dar, ist also keinesfalls ein Spezifikum einer mit Bauern befaßten Mentalitätsgeschichte. Mit einer solch problematischen Quellenlage belastet erscheint auch die 1975 erstmalig erschienene Arbeit des französischen Mediävisten Emmanuel Le Roy Ladurie über das in der Grafschaft Foix südlich von Toulouse gelegene Dörfchen Montaillou 2 . Diesem Buch, das längst zu einem Klassiker der Mentalitätsgeschichtsschreibung geworden ist, war weit über Frankreich hinaus ein enormer Erfolg beim Publikum beschieden. Mit seinen zahlreichen Auflagen und Übersetzungen ins Englische und Deutsche hat es ganz wesentlich dazu beigetragen, daß die Mentalitätsgeschichte über Frankreich hinaus auch international Beachtung und Anerkennung fand. Für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse ist die große Studie Le Roy Laduries deshalb, weil sie versucht, die Mentalität eines bäuerlichen Mikrokosmos von etwa fünfzig Haushaltungen mit rund zweihundertfünfzig Personen im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert zu rekonstruieren. Freilich stützt sich der Autor, und eben darin liegt die Schwierigkeit seiner Untersuchung begründet, einzig auf die Inquisitionsprotokolle, deren Abfassung auf den für Montaillou zuständigen Diözesanbischof Jacques Fournier (1317-1326), den späteren Papst Benedikt XII. (1334-1342), zurückgeht. Dem Bischof war zu Ohren gekommen, daß zahlreiche Einwohner Montaillous Anhänger der sogenannten Katharer bzw. Albigenser waren. Diese seit dem 12. Jahrhundert vor allem in Südwestfrankreich beheimatete Sekte, die die katholische Kirche durch die im 13. Jahrhundert veranstalteten Kreuzzüge und Inquisitionsverfahren längst für ausgerottet gehalten hatte, fand aber doch, namentlich in den unzugänglichen Bergregionen Südwestfrankreichs, noch immer Zuspruch. Der massivste und schwerwiegendste Einwand, der gegenüber dem Montaillou-Buch erhoben wurde 3 , bezieht sich auf den Umstand, daß Le Roy Ladurie die Problematik seiner Quelle entschieden unterschätzt habe. Weder 2

E. LE ROY LADURIE, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324, 1975 (dt.: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294-1324, 1980; hier zitiert nach der Tb.-Ausgabe 1993).

3

L. E. BOYLE, Montaillou revisited: .Mentalité' and Methodology, in: J. A. RAFTIS (Hg.), Pathways to Medieval Peasants (Papers in Mediaeval Studies 2), 1981, S. 119-140.

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habe er berücksichtigt, daß die Überlieferung der Inquisitionsprotokolle nur unvollständig sei - so fehle mindestens ein Band noch habe er der Tatsache genügend Beachtung geschenkt, wie die Protokolle zustandegekommen seien. Le Roy Ladurie habe die Aussagen, wie sie in den Protokollen vorliegen, wörtlich genommen und als authentische Selbstaussagen betrachtet, obwohl es sich in Wahrheit doch nur um „ziemlich nachlässige Abschriften von wenigstens vier Notaren handelt. Diese Kopien beruhten auf den lateinischen Übersetzungen der in der Volkssprache (vor dem Inquisitionsgericht) gemachten Aussagen" 4 . Es fällt schwer, diese und andere grundlegende Einwände, die im einzelnen hier nicht besprochen werden können 5 , zu widerlegen. Freilich hat selbst ein so entschiedener Kritiker Le Roy Laduries, wie Boyle 6 es ist, nicht die Faszination bestritten, die von diesem glänzend geschriebenen Buch ausgeht und der auch er sich nicht hat entziehen können. Selbst wenn man vielen Aussagen des Autors mit berechtigter Skepsis gegenübersteht, so wird man doch beispielsweise den zentralen Platz, den das ,Haus', die domus, im Denken der Bauern von Montaillou einnahm, nicht bestreiten können. Man wird es für einen Grundzug allgemein bäuerlicher Mentalität halten, daß ,Haus und Hof' eben mehr darstellten als reine Wohn- und Wirtschaftseinheiten, weshalb die Bevölkerung Montaillous auch versuchte, Glück und Erfolg auf Dauer an die eigene domus zu ketten. Magische Praktiken, die Verwendung von Reliquien, wie „Haarlocken oder Fingernagelschnipsel", sollten helfen, die Kontinuität des jeweiligen Hauses und der darin wohnenden Bauernfamilie auf Dauer zu bewahren 7 . Ungeachtet aller Kritik im einzelnen muß auch gesagt werden, daß Le Roy Ladurie nicht der naheliegenden Versuchung erlegen ist, die Andersartigkeit der Einwohner Montaillous überzubetonen. Zwar verzichtet der Autor nicht darauf,-warum sollte er a u c h ? - d i e zivilisationstechnische Rück-

4

BOYLE ( w i e A n m . 3), S.

5

BOYLE (wie Anm. 3) nennt außer dem bereits erwähnten Problem einer ungenügenden

122.

Quellenanalyse (vgl. dazu Anm. 4) die isolierte Betrachtung einer Quellenaussage ohne Berücksichtigung des Kontextes (S. 124), Mißverständnisse des Textes (S. 1 2 4 - 1 2 6 ) , „little or no sense of responsibility in his (Laduries) pages to the people who created his stories" (S. 127), Streben nach Effekthascherei (S. 130), Verletzung des Gebotes historischer Objektivität (S. 133), Einbringen der eigenen Mentalität (S. 136), Verwechslungen (S. 1 3 7 - 1 3 8 ) , Überbewertung einfacher Sachverhalte (S. 139). 6

Vgl. Anm. 3.

7

L E ROY LADURIE ( w i e A n m . 2), S.

64.

Zur Forschungssituation

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ständigkeit dieses 1300 Meter hoch gelegenen Pyrenäennestes anschaulich zu schildern, doch unterschätzt er im Unterschied zu manch anderen Mentalitätshistorikern die Bedeutung anthropologischer Grundkonstanten keineswegs. In bewußter Distanzierung zu Philippe Ariès, der ,Kinderliebe' erst für eine Erfindung der Neuzeit hält, kann Le Roy Ladurie zeigen, daß Mütter eine tiefe, herzliche und liebevolle Bindung an ihre Kinder haben 8 . Überhaupt erweist sich der Autor als ein Meister in der Schilderung emotionaler Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Er ist weit davon entfernt, das Phänomen der „Liebe" zu negieren, obwohl er seinen Lévi-Strauss 9 gelesen hat, demzufolge die Frau nur das Tauschobjekt zwischen zwei Männern bzw. ihren Familien darstelle. Zwar geht auch Le Roy Ladurie durchaus davon aus, daß die meisten mittelalterlichen Ehen, zumal in Montaillou, arrangiert wurden, hält diesen Umstand aber durchaus vereinbar mit einer aus diesen Beziehungen erwachsenden „Liebe" zwischen den Partnern. Im Unterschied zu vielen anderen Mentalitätsforschern hält Le Roy Ladurie privates „Glück" und Rücksichtnahme auf soziale Zwänge nicht prinzipiell für unvereinbar 10 . Frauen in Montaillou verhalten sich, folgen wir dem Autor, auch nicht nur passiv. Zwar müssen sie Prügel ihrer Ehemänner befürchten, die unbestritten die Position des starken Geschlechtes besetzen und denen die Frauen in aller Regel nicht davonlaufen können, doch stärkt die Mutterrolle ihre Position innerhalb der Familie. Die Inquisitionsprotokolle belegen, wie Le Roy Ladurie zeigen kann, die traditionell hohe Achtung, welche die Mutter bei ihren Kindern genoß Die differenzierte Sichtweise des Autors erweist sich auch noch in anderen Punkten. So kann er die vielfach geäußerte These von der besonderen Bedeutung magischer Praktiken in bäuerlichen Gesellschaften für Montaillou nicht bestätigen, obwohl es sich doch um ein zivilisatorisch sehr rückständiges, äußerst abgelegenes Dorf handelt, dessen Einwohnerschaft mit wenigen Ausnahmen, wie beispielsweise dem Pfarrer, weder lesen noch schreiben konnte.

8 L E ROY LADURIE ( w i e A n m . 2 ) , S . 2 3 2 .

9 Zur Bedeutung des strukturalistisch arbeitenden Ethnologen Claude Lévi-Strauss für die Mentalitätsgeschichtsschreibung vgl. oben Kapitel I, S. 17-19. 10 LE ROY LADURIE (wie Anm. 2), S. 210: „Ebenso wie in Lesquire (Dorf im Béarnais, das Gegenstand einer historischen Studie über Ehen zwischen 1900 und 1960 bildete, auf die sich der Autor bezieht) wie noch heute war es vorlängst in Montaillou möglich, sich in einen Partner, den einem die starre Notwendigkeit vorschrieb, leidenschaftlich zu verlieben". 11 L E ROY LADURIE ( w i e A n m . 2 ) , S . 2 2 0 .

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Die Faszination, die sich beim Leser des Montaillou-Buches unweigerlich einstellt, hängt unübersehbar damit zusammen, daß der Abstand zwischen ihm und den vom Autor gezeichneten Personen nicht allzu groß wird. Ihr Verhalten unterscheidet sich in der Sicht des Autors nicht grundlegend von dem unseren. Freilich scheint es, daß sich der Autor allzusehr von seiner Sympathie gegenüber den von der katholischen Amtskirche verfolgten Bauern hat leiten lassen und daß er die mögliche und wahrscheinliche Stilisierung der Inquisitionsprotokolle unterschätzt, wenn er schreibt: „So sind denn die Protokolle der in Montaillou durchgeführten Untersuchungen ein höchst wertvolles Dokument der bäuerlichen Weltanschauung. Die Tatsache, daß wir in diesen Protokollen die Bauern für sich selbst sprechen hören, mindert den Erkenntnisgehalt dieses Dokuments keineswegs, denn, wie sich darin zeigt, waren diese Bauern keineswegs so sprachlos, wie sich akademisch gebildete Weltverbesserer die einfachen Leute gern vorstellen. Die Leute, deren Aussagen wir in diesen Protokollen fixiert finden, waren vielmehr keineswegs dumm, abstraktem Denken durchaus nicht abgeneigt und sogar an philosophischen Fragen und metaphysischen Spekulationen interessiert. Wir begegnen ihnen in Gesprächen und Debatten mit häretischen Missionaren und Juristen aus der Stadt, die von der Geistesgegenwart und Sprachmächtigkeit der okzitanischen Bauern das beste Zeugnis ablegen . . , " 1 2 Angesichts unleugbarer Schwierigkeiten des Themas ,Bäuerliche Mentalitäten' muß diesmal weiter ausgeholt werden, ehe facetten- und bruchstückhaft wenigstens ein paar Aspekte erörtert werden können. Dazu wird es nötig sein, mittelalterliches Bauerntum in den geschichtlichen Kontext einzubetten, wobei, wie üblich, mit einigen terminologischen Abklärungen begonnen sei.

2. Skizzierung einiger Entwicklungslinien bäuerlichen Daseins im Mittelalter Im frühen Mittelalter fehlt eine entsprechende berufsständische Terminologie. Stattdessen findet sich in den Quellen eine am rechtlichen Status orientierte Bezeichnung „bäuerlicher Schichten" wie beispielsweise Uber (Freier), servus (Unfreier, „Sklave"), litus (Halbfreier), libertus (Freigelasse-

1 2 L E R O Y LADURIE ( w i e A n m . 2 ) , S . 2 5 4 .

Entwicklungslinien bäuerlichen Daseins

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ner); häufig wird von der Landbevölkerung als den pauperes im Unterschied zu potentes oder den domini gesprochen. Im hohen Mittelalter (11./ 12. Jahrhundert) beginnt sich die Situation zu wandeln. Eine berufsständische Terminologie ersetzt die rechtsständische Terminologie. Jetzt erscheint der rusticus in Abgrenzung vom miles. Das Wort „Bauer" ist aus althochdeutsch gebur entstanden, das den Siedlungs- oder Haus-(bur)-genossen bezeichnet; vgl. auch ,Nachbar' (burschaft heißt soviel wie Nachbarschaft). Die Wörter rusticus und agricola werden im frühen Mittelalter eher selten und dann in einem anderen Bedeutungszusammenhang verwendet; rusticus bedeutet zum einen: einheimisch, nicht-lateinisch, auf das Volk bezogen; mit der lingua rustica war die Volkssprache gemeint; daneben besitzt der Begriff auch eine negative Konnotation: rusticus gleich bäuerisch, ungehobelt, nicht kultiviert. Der Wandel von einer eher rechts- zu einer stärker berufsständisch orientierten Terminologie spiegelt den im Übergang vom frühen zum hohen Mittelalter eingetretenen Wandel sozialer Verhältnisse wider. Entscheidend dürfte die spätestens im 12. Jahrhundert weitgehend abgeschlossene Herausbildung einer berittenen adligen Berufskriegerschicht gewesen sein. Wie bereits gezeigt werden konnte 1 3 , beanspruchen diese milites neben den professionellen „Betern" (oratores) eine gesellschaftliche Führungsposition. Den laboratores oder agricultores, den „Bauern", kommt hingegen eine ausschließlich dienende Funktion zu; ihnen obliegt die Aufgabe, die beiden anderen Stände mit Subsistenzmitteln zu versorgen. Der staufische König und spätere Kaiser Friedrich I. Barbarossa hat diese Ausschließung der Bauern aus der Gruppe der Wehr- und Waffenfähigen auch rechtlich im Reichslandfrieden von 1152 fixieren lassen, der unter anderem bestimmte: „Wenn ein Bauer Waffen trägt, sei es ein Spieß oder eine Lanze oder ein Schwert, dann soll der Richter, in dessen Bereich er aufgegriffen wird, ihm die Waffen wegnehmen und er soll 20 Schillinge vom Bauern als Strafe erhalten" 1 4 . Diese Bestimmung setzt gleichsam den Schlußpunkt hinter eine teils schleichend, teils beschleunigt ablaufende sozialgeschichtlich wichtige Entwicklung, die spätestens in karolingischer Zeit eingesetzt hatte. Schon in der 13 Vgl. Kapitel III. 14 Zitiert nach G. FRANZ (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter, 1967, Nr. 83, S. 223.

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Regierungszeit Karls des Großen ließ sich der Grundsatz nicht mehr aufrecht erhalten, daß alle Freien das Recht, aber auch die Pflicht hatten, in den Krieg zu ziehen. Wie die vom fränkischen Herrscher unternommenen Versuche einer Besserstellung der pauperes zeigen, war man sich über die Bedeutung der sich vollziehenden sozialen Veränderungen im klaren. Und auch wenn man die verschiedenen Gründe durchaus erkannte, die dazu führten, daß immer weniger Freie der Verpflichtung zum Heeresdienst nachkommen konnten, blieben die getroffenen Maßnahmen zur Stärkung wirtschaftlich und sozial schwächerer Freier doch ohne große Erfolge. Das Ergebnis war die Umwandlung des Bauernkriegers zum Ackersmann, die der Soziologe Max Weber mit den folgenden treffenden Worten beschrieben hat: „Je unentbehrlicher die ständige persönliche Mitarbeit des Mannes in der Wirtschaft geworden war, desto weniger war er für Kriegs- und Beutezüge abkömmlich, desto seltener für ihn also die Gelegenheit für derartigen Erwerb, desto mehr saugte er sich gewissermaßen am Boden fest, wurde im wirtschaftlichen Sinne ,schollenfest' und - natürlich nur relativ gesprochen unkriegerisch" 15 . Das Seßhaftwerden der Bauern, ihre „Unabkömmlichkeit" im Weberschen Sinne, wurde nicht nur aufgrund ungünstiger äußerer Bedingungen (Verarmung von Freien, Mißbrauch militärischer Befehlsgewalt, des sog. Heerbannes, durch die Grafen, freiwillige Übereignung der eigenen Person an einen potens, die sog. Kommendation, Bestechungspraktiken usw.) weiter gefördert, sondern auch durch die damals vorherrschende landwirtschaftliche Organisationsform gestärkt. Diese in jener Zeit in freilich höchst unterschiedlichen Formen auftretende sog. Grundherrschaft breitete sich in der Zeit vom 9. bis zum 11. Jahrhundert im west-, mittel- und südeuropäischen Raum aus und wurde, sieht man einmal von regionalen Sonderräumen (in Deutschland z. B. Friesland, Dithmarschen, Sachsen) ab, zum vorherrschenden landwirtschaftlichen Produktionssystem. Die mit der Grundherrschaft verbundene Spezialisierung und Intensivierung der Landwirtschaft ließ keinen Raum mehr für einen freien Bauernkrieger. Dieser avancierte entweder zum militärischen Spezialisten, zum Berufskrieger, oder er sank, teils „freiwillig" durch Kommendation (Selbstübereignung) an einen potens, teils durch äußeren Zwang, in den sozial tieferen Status eines abhängigen Freien 15 Das Zitat von M. WEBER (Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts, in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1924, S. 538) nach W. RÖSENER, Bauern im Mittelalter, 1985, S. 20.

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ab. Diese Entwicklung mußte auf lange Sicht schließlich auch zum Verlust, oder aber zumindest zu einer wesentlichen Minderung seiner persönlichen Freiheit führen. Das Entstehen eines Bauernstandes hat man nun als einen Angleichungsvorgang zu deuten versucht: abhängige ehemalige Freie und schon immer unfreie Knechte gleichen sich einander an. Freilich handelt es sich bei den jetzt entstehenden mittelalterlichen „Bauern" keinesfalls um eine homogene Masse. Ihre Lage war, sowohl unter regionalem wie unter rechtlichem wie unter wirtschaftlichem Aspekt, höchst unterschiedlich. Nicht zuletzt deshalb ist die Annahme einer spezifisch bäuerlichen Mentalität höchst problematisch und muß in gewisser Hinsicht immer theoretisches Konstrukt bleiben, denn, um die Worte von M. Bloch zu wiederholen: „Welcher Hüfner (Vollbauer), der stolz auf seine Zugtiere war, hätte die armen Leute seines Dorfes als seinesgleichen gelten lassen, die nichts als ihre Muskeln besaßen, um ihre dürftigen Landstückchen zu bebauen?" 16 Wir haben also mit einer großen Vielgestaltigkeit bäuerlicher Verhältnisse zu rechnen, mit reichen und armen Bauern, mit bäuerlichen Unterschichten, sicherlich teilweise auch mit Handwerkern, soweit sie sich im Rahmen großer Grundherrschaften entwickelt hatten. Dennoch eint diese so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ein Umstand: sie alle leben im Rahmen eines Dorfes, und eben dieser Umstand wird es uns erlauben, Elemente bäuerlicher Mentalität aufzuzeigen. Das Dorf als bäuerlicher Lebensraum bestand, wenn wir uns auf Mitteleuropa beziehen, freilich nicht von Anfang an. Im Frühmittelalter herrschte das einzelne Gehöft und der Weiler vor. Im Hochmittelalter entwickelte sich der in Deutschland am stärksten verbreitete Typ des sogenannten Haufendorfes: Um einen Ortskern lagerten sich gleichsam konzentrische Ringe mit der Ackerflur und der Allmende (gemeinsam genutzte Weide- und Waldflächen) an. Der Prozeß der sogenannten Verdorfung setzte verstärkt ein mit dem Hochmittelalter, grob gesprochen mit der Jahrtausendwende. Er vollzog sich vor dem Hintergrund einer im 11. und 12. Jahrhundert stark wachsenden Bevölkerung. Die Ursachen dieses Wachstums sind äußerst komplex und können hier nur angedeutet werden: Verbesserung der Agrartechnik, Ausdehnung agrarisch genutzter Rächen, Abnahme kriegerischer Ausnahmesituationen, Rückgang der Hungerkrisen usw. Die Verdorfung wurde unterstützt durch gleichzeitige Veränderungen im Bereich der Grundherrschaft.

16 M . BLOCH, D i e Feudalgesellschaft, 1982, S. 425.

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Die Grandherrschaft älteren Typs, in deren Mittelpunkt der vom Grundherrn selbst bewirtschaftete Herrenhof und die dazu gehörenden und von Meiern geleiteten Fronhöfe standen (sog. Villikationsverfassung), begann sich zu wandeln. Die Fronhöfe verloren zunehmend an Bedeutung. Denn die Dienstleistungen (Frondienste) der zu einer Grundherrschaft zugehörigen Personen wurden zunehmend abgelöst und ersetzt durch Naturalabgaben oder Geldzahlungen (Renten) 1 7 . Der aufgrund des Bevölkerungswachstums ausgelöste größere Nahrungsmittelbedarf führte zu steigenden Preisen der Agrarprodukte, was die Lage der „Bauern" verbesserte, die nun zum Teil infolgedessen ihre Frondienste durch Zahlung einer einmaligen Summe ablösen konnten. Die bäuerliche Rechtsstellung verbesserte sich auch deshalb, weil sich wenigstens den aktiven jüngeren ländlichen Bevölkerungsschichten attraktive Alternativen boten: entweder die in damaliger Zeit an Bedeutung gewinnende Stadt oder die zahlreichen Neulanderschließungen (Rodungen), die nur dann Aussicht auf Erfolg besaßen, wenn man den Neusiedlern umfangreiche persönliche und finanzielle Privilegien zubilligte. Dieser hier nur sehr grob geschilderte Wachstumsprozeß gerät erst um 1300 ins Stocken, was sich in Verbindung mit den seit der Mitte des 14. Jahrhunderts einsetzenden Pestwellen zu einer Strukturkrise auswächst und die Hochkonjunktur der Landwirtschaft für längere Zeit beendigt. Die bäuerlichen Einkommen beginnen zu sinken, nicht zuletzt angesichts der inzwischen eingetretenen hohen Bevölkerungsverluste. Die Zahl der ländlichen Siedlungen geht stark zurück; in ganz Europa entstehen sogenannte Wüstungen.

3. Aspekte bäuerlicher Mentalitäten Dieser notwendigerweise nur sehr kursorisch bleibende Überblick hat vielleicht etwas von den Schwierigkeiten der Mentalitätsforschung, soweit sie die Bauern betrifft, aufzeigen können. Stärker noch als auf anderen Feldern kann man hier nur Vermutungen wagen. Hinzu kommen weitere Probleme. Insbesondere hat man mit der Wirkungskraft von sehr alten, bis in das 17 Dazu unter Betonung der zeitlichen und regionalen Unterschiede zusammenfassend A. VERHULST, Aspekte der Grundherrschaftsentwicklung des Hochmittelalters aus westeuropäischer Perspektive, in: W. RÖSENER (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, 1995, S. 16-30.

Aspekte bäuerlicher Mentalitäten

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Mittelalter hineinreichenden traditionellen Bildern vom „Bauern" zu rechnen. So gilt der Bauer - nicht nur des Mittelalters - häufig als dümmlich, unkultiviert (,rustikal'), häßlich und schmutzig. Das heißt: man übernimmt die dem Wort BauerIrusticus innewohnende negative Konnotation von „bäuerlich" gleich „bäurisch", die in besonderer Weise von Teilen der mittelalterlichen Gesellschaft, zumal der höfischen und städtischen, gepflegt wird. So erzählt ein Exemplum des Jakob von Vitry (gest. 1240) die folgende Geschichte: „Ich habe von einem gewissen Bauern gehört, der im Gestank und Mist der Tiere lebte, und als dieser an einer Apotheke vorbeiging, in der wohlduftende Kräuter gemahlen wurden, konnte er den Duft nicht ertragen und stürzte halbtot zu Boden. Und er konnte nicht eher wieder zu Kräften kommen oder wiederbelebt werden, als er nach Hause zum Gestank und Kot der Tiere zurückgebracht wurde" 1 8 . Höfische Literatur und bürgerliches Fastnachtsspiel tradieren das Bild vom Bauerntölpel, das freilich nicht der Wirklichkeit entspricht. Es ist vielmehr der ,Stadtmensch', der sich in der Maske des Bauern versteckt, was ihm erlaubt, eigene Schwächen und die seiner Mitmenschen aufs Korn zu nehmen. Wie stark die Prägekraft solcher Vorstellungen gewesen sein muß, verdeutlicht der Umstand, daß auch in einem ländlich-bäuerlichen Milieu das Wort ,Bauer' als ausgesprochenes Schimpfwort verwendet werden konnte, aparterweise von solchen Leuten, die vielleicht selber Bauern waren 1 9 . Ebenso bedenklich wie alte Klischees sind freilich sozialromantische Verklärungen, die nicht von ungefähr im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Industrialisierung, verstärkt einsetzen. Hauptangriffsziel dieser Sozialromantiker (bedeutende deutsche Vertreter im 19. Jahrhundert: W. H. von Riehl und G. Freytag) ist die als Verhängnis und Gefährdung empfundene „Stadt", vor allem in ihrer Ausprägung als „Großstadt", der antithetisch die angeblich sozial heile Welt des Dorfes und seiner Bewohner, der Bauern, gegenübergestellt wird. Hier liegen die Wurzeln einer Blut- und Bodenromantik, die bis in das 20. Jahrhundert hinein anhält und in ihrer letzten Konsequenz zu Hitlers Agrarpolitik führte. Man muß in diesem Zusammenhang nur an das 1917 geschriebene Buch Oswald Spenglers über den „Untergang des Abendlandes" erinnern, wo es heißt: 18 Jakob von Vitry, Exempla, ed. TH. F. CRANE, London 1890, Nr. 191, S. 80 (aus dem Lateinischen übersetzt). 19 Vgl. dazu das Beispiel bei LE ROY LADURIE (wie Anm. 2), S. 88.

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„Der Bauer ist geschichtslos. Das Dorf steht außerhalb der Weltgeschichte und die ganze Entwicklung vom ,trojanischen' bis zum mithridatisehen Kriege und von den Sachsenkaisern bis zum Weltkrieg geht über diese kleinen Punkte der Landschaft hinweg, sie gelegentlich vernichtend, ihr Blut verbrauchend, aber ohne je ihr Inneres zu berühren. Der Bauer ist der ewige Mensch, unabhängig von aller Kultur, die in den Städten nistet. Er geht ihr voraus, überlebt sie, dumpf und von Geschlecht zu Geschlecht sich fortzeugend, auf erdverbundene Berufe und Fähigkeiten beschränkt" 2 0 . Wir werden uns vor diesen Klischees und traditionellen Bildern zu hüten haben. Denn in aller Regel sind sie falsch. So genügt es beispielsweise im Falle des soeben angeführten Spenglerzitates, auf die enge Korrelation zwischen Stadt und Land zu verweisen. Die Stadt braucht das Land als Produzenten und Versorger, und der Bauer bzw. das Dorf braucht die Stadt als Abnehmer seiner Produkte. Es gibt sehr häufig fließende Übergänge zwischen Stadt und Land: es gibt die Landwirtschaft betreibenden „Ackerbürger" und die im Weichbild der Städte, freilich extra muros lebenden „Pfahlbürger". Häufig erhalten sich sogar in mittelalterlichen Großstädten, wie z.B. im Paris des 13. Jahrhunderts, landwirtschaftliche Produktionsformen. Umgekehrt orientiert sich auch das Dorf oder genauer: das dörfliche Zusammenleben, oft an Formen städtischer Ordnung und städtischen Zusammenlebens. Freilich dürfen die Gefahren, die von diesen Klischees über Bauern und Bauernleben ausgehen, nicht unterschätzt werden. Ihre Wirkungskraft ist deshalb so groß, weil sie so suggestiv sind. Dies gilt sogar für moderne französische Mentalitätsforscher, die, wie das Beispiel von Georges Duby zeigen kann, dem in Frankreich besonders stark gepflegten Mythos alles l ä n d lichen' (la campagne), wenn auch nur ansatzweise, erliegen. In seinem autobiographischen Essay „Vom Vergnügen des Historikers" kommt Duby auch auf seine Herkunft zu sprechen: „Sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits senken sich die Wurzeln meiner Familie in jenes Ostfrankreich, dessen Besonderheiten Lucien Febvre beschrieben hat. Die Bauern sind nicht fern. Dennoch erreicht die Erinnerung sie nicht. Sie macht bei kleinen Dorfnotablen halt, Männer mit dicken Schnurrbärten, von denen keiner in seiner Jugend auf einen anderen zählen konnte, als auf sich selbst, die sich durch Sparen hocharbeiteten, über ihre 20 O. SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, 1-2, 1920, hier Bd. 2, S. 113 zitiert nach RÖSENER ( w i e A n m . 1 5 ) , S . 1 8 .

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Frau, ihre Kinder und ihre Hilfskräfte herrschten, zuerst auf Sicherheit, dann auf Muße bedacht. In ihren Augen stellte die gut verrichtete Arbeit einen grundlegenden Wert dar. Da sie lange Zeit mit den Arbeitern zusammengelebt hatten, fühlten sie sich nie vom Volk abgeschnitten ... ... Meine Kindheit war im beengtesten Paris eingesperrt, gleichsam erstickt in einem damals noch zentralen Viertel, wo sich das Volkstümliche mit der Halbwelt vermischte. Jeden Sommer, wenn ich in eine winzige, verschlafene, ganz vom Landleben durchdrungene Stadt fuhr, hatte ich das Gefühl einer Befreiung, das Gefühl zu atmen" 2 1 . Auch was die möglichen Voraussetzungen oder Konstanten angeht, die bei der Rekonstruktion bäuerlicher Mentalität möglicherweise hilfreich sein könnten, ist Vorsicht geboten. Beispielsweise hat man - auch hier muß man wieder den Namen Max Webers nennen 2 2 - im Falle der Bauern sehr gern ihre besonders starke Abhängigkeit von der Natur betont, die im Unterschied zu heute ungleich weniger beeinflußbar erscheint; man unterstreicht häufig die bäuerliche Immobilität, die sich im Zuge der Durchsetzung der Grundherrschaft weiter verstärken mußte, und verweist schließlich auf die Abhängigkeit des Bauern von der Dorfgemeinschaft. Bei näherer Betrachtung mögen einem dann doch emste Bedenken kommen, ob alle diese Punkte wirklich entscheidende Konstituenten bäuerlicher Mentalität darstellen. Zumindestens in der Pauschalität, mit der sie hier angeführt worden sind, dürften sie auch auf nichtbäuerliche Schichten zutreffen. Auch der dritte genannte Punkt ist insofern angreifbar, als die Dorfentwicklung bzw. die Verdorfung ein Prozeß ist, der erst im Hochmittelalter greifbar wird, jedoch nicht im Frühmittelalter, wo vielfach, wie bereits angedeutet, einzelne Höfe und Weiler das Landschaftsbild beherrschen. Dennoch erscheint er noch am ehesten als Ausgangspunkt für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen geeignet. Denn die spätestens seit dem Hochmittelalter vorherrschende Dorfgemeinschaft bildet die Bühne und den Hintergrund, auf der und vor dem sich bäuerliches Handeln abspielt. Dieses Handeln wird nun, wie im einzelnen noch näher zu belegen sein wird, durch

21 G. DUBY, Das Vergnügen des Historikers, in: P. NORA (Hg.), Leben mit der Geschichte, 1 9 8 9 , S. 6 8 .

22 Vgl. das einschlägige Zitat aus seinen „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie" (Bd. 1, 1920, S. 255), angeführt von K. SCHREINER, Frömmigkeit in politisch-sozialen Wirkungszusammenhängen des Mittelalters, in: M. BORGOLTE (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, Historische Zeitschrift, Beiheft 20 (1995), S. 177-226, Zitat hier S. 200.

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den Zwang zur Solidarität bestimmt. Bauern sind, wenn sie „Erfolg" haben wollen, unabdingbar zu solidarischem Verhalten gezwungen. Das gilt sowohl für den wirtschaftlichen wie für den politischen „Erfolg". So kann kein Bauer autonom, ohne Rücksichtnahme auf die anderen Dorfgenossen, seine Felder bestellen. Vielmehr ist er gezwungen, sein Verhalten auf das seiner Nachbarn abzustimmen. Der Zwang zur Koordination ergibt sich aber auch im politischen Bereich. Seine wirtschaftlich schwache Position, sein äußerst geringes gesellschaftliches Ansehen am Ende der Gesellschaft zwingt den Bauern, will er erfolgreich nach außen agieren, notwendigerweise zu solidarischem Handeln. Dieser Umstand soll im folgenden durch Beispiele verdeutlicht werden, die zwei zentralen bäuerlichen Aktionsfeldern entnommen sind: der bäuerlichen Widerstandsbewegung und dem dörflichen Gemeinschaftsleben samt den damit verbundenen sozialen Normen. Bäuerliche Opposition läßt sich, folgen wir dem russischen Agrarhistoriker B. F. Porschnew, in drei unterschiedliche Grundformen einteilen: 1) latenter oder Teil-Widerstand; 2) Flucht; 3) Aufstand. Wie stark bereits g e m e i n s a m e r es ist ausdrücklich von den amici des rusticus die Rede - bäuerlicher Widerstand im 9. Jahrhundert sein konnte, zeigt die bald nach 864 entstandene Legende des Heiligen Liudger, Abt von Werden. Um die widerspenstigen Bauern zu überwinden, bedarf es eines handfesten Wunders (miraculum): „Was gegen die trotzigen Bauern geschehen ist: Die folgende Geschichte hat uns ein sehr wahrheitsliebender Mann, unser früherer Vogt Bothold, berichtet. In der Stadt Oefte, nicht weit von unserem Kloster Werden gelegen, kaufte der Heilige (Liudger) eine Hufe von einem Manne, der später, von bösen Freunden beraten, den Kauf ableugnete. Er und seine „Freunde" (amici) hatten beschlossen, wenn sie das Land mit Fug und Recht nicht behalten könnten, wollten sie es mit Gewalt und Unrecht zurückbehalten. Denn sie verachteten den Heiligen und haßten ihn. Bei der ersten und zweiten Tagzeit, die der Bischof hielt, fochten sie jedoch den Kauf nicht an. Als bei der dritten Tagzeit dem Bischof schon viele schmähliche Worte entgegengehalten worden waren, sprach ein ziemlich verächtlicher und ganz ungestalter Bauer zu den Umstehenden: ,Ist es nicht eine große Schmach und Konfusion, daß dieser fremde und unbekannte Mensch sich unseres Erbes unterwinden will?' Da der ehrwürdige Bischof das hörte, sah er sich um und wollte wissen, wer solche Worte gesprochen hätte. Der Bauer scheute aber den Blick des Bischofs und wandte seinen Kopf nach rückwärts, als ob nicht er, sondern ein anderer gesprochen hätte. Da konnte

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er seinen Hals nicht wieder umbiegen und so blieb ihm das Haupt also sitzen bis zu seinem Tode und deswegen wurde er Caco, der Gucker, genannt. Da die Bauern ein solches Mirakel sahen, ließen sie den Bischof gern das folgen, was sie ihm bisher zäh vorenthalten hatten" 2 3 . Auch der Wegzug bzw. die Flucht stellte eine der wenigen Möglichkeiten bäuerlichen Protestes dar. Nicht nur um einen Einzelfall dürfte es sich bei dem Bauern Durand aus dem südfranzösischen Dorf La Bastide (Département Hérault) gehandelt haben. Wir erfahren von dem Vorgang aus den Akten einer Untersuchungskommission, die der französische König Ludwig IX. (1226-1270) Ende der Vierziger Jahre für den Seneschallat (königlicher Amtsbezirk) Nîmes eingesetzt hatte. Diese und die zahlreichen anderen mit ihr vergleichbaren Kommissionen hatten vom König den Auftrag bekommen, für die unter kapetingischer Herrschaft stehenden Gebiete Frankreichs Mißstände innerhalb der Verwaltung zu untersuchen. Insbesondere sollten von der Bevölkerung eingereichte Klagen zu Protokoll genommen und nachweislich erlittener Schaden durch Zahlungen wiedergutgemacht werden. Denn König Ludwig IX., der schon zu seinen Lebzeiten als ein „Heiliger" galt, wollte mit reinem Gewissen auf den Kreuzzug gehen, den er schon seit langem geplant und vorbereitet hatte und nun endlich auch in die Tat umsetzen wollte. So schrieb Wilhelm Rufus, Magister und Notar, zwischen November 1247 und Februar 1248 auch die folgende Klage nieder: „Durand aus Bastide, bzw. aus Langlade (heute: Département Gard in Südfrankreich) macht geltend, daß Petrus de Alvernis, königlicher Amtmann, zuständig für das Dorf Langlade, den obengenannten Durand durch zahlreiche unrechtmäßige Steuereintreibungen und Beschwernisse bedrückt und den obengenannten Durand und dessen Mutter und dessen Brüder sehr oft ohne Rechtsgrund gequält habe, indem er sie vielfach geschädigt und beschwert habe. Er weist darauf hin, daß er, Durand, aufgrund der Verfolgung des Amtmannes, sein Dorf Langlade verlassen und seinen Wohnsitz in einem anderen Bezirk nehmen wollte, und zwar am Donnerstag vor der Beschneidung des Herrn (27. 12. 1246) 24 , und als der genannte Durand sein Dorf verlassen wollte und sich am Ausgang des Dorfes befunden habe, da sei hinter ihm der genannte Petrus de Alvernis, der Amtmann, hergelaufen 2 3 FRANZ ( w i e A n m . 14), Nr. 2 5 , S. 6 3 - 6 5 .

24 Beschneidung des Herrn = 1. Januar; da der 1. Januar 1247 auf einen Dienstag fiel, ergibt sich als Datum für den Donnerstag vor der Beschneidung des Herrn der 27. Dezember 1246, falls der Vorgang noch 1247 zu Protokoll genommen wurde.

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und habe folgendes zu ihm gesagt: ,Du und deine Mutter, ihr untersteht meiner Gewalt'. Und darauf antwortete der genannte Durand demselben Petrus, indem er sagte: ,Ihr sollt sie (die Gewalt) auch haben, wie es rechtens ist. Ich will das Dorf verlassen, weil ich nicht in Frieden mit Euch sein kann, weil Ihr mich am Tag und in der Nacht quält*. Und daraufhin antwortete ihm der Amtmann Petrus de Al vernis: ,Es wäre gut, wenn man euch und eurem Bruder den Mund mit Scheiße zustopfen würde, und zwar so sehr, daß ihr nur noch durch euren Arsch atmen könntet'. Und darauf antwortete ihm Durand: ,Das könnt Ihr auch machen, weil Ihr der Herr und Amtmann des Dorfes seid'. Und darauf nahm der genannte Amtmann Petrus de Alvernis vom Erdboden Dreck auf und schmierte ihn in den Mund des genannten Durand, und zwar auf eine solche Weise, daß der genannte Durand fast erstickt wäre. Nachdem diese Gewalttat geschehen war, zeigte Durand der Dorfbevölkerung, wie man ihn unterdrückt und vergewaltigt hatte. Als er dies demonstrierte, fragte ihn der Amtmann: .Willst du noch mehr...?' Darauf kniete sich Durand, weil er arm und ohne Hinterlist war, vor den Amtmann nieder und sagte zu ihm: ,Ihr könnt es machen, weil Ihr Amtmann und Herr seid'. Und daraufhin sagte der genannte Amtmann zum Bruder des Durand: ,Wollt Ihr, daß ich es genauso mit Euch mache?' Und daraufhin antwortete der Bruder des Durand dem Amtmann, der schon völlig seine Beherrschung verloren hatte, er solle es nicht tun. Und nachdem diese Dinge gesagt waren, verließ der genannte Durand das Dorf und begab sich nach Calvisson (Nachbardorf, ebenfalls im Département Gard)" 2 5 . Am bedrohlichsten erwies sich für Adel und Amtskirche freilich die stärkste Form bäuerlicher Opposition: der offene, unverblümte Widerstand, den Bauern leisteten, nachdem sie sich militärisch organisiert hatten. Wie der Bericht des Abtes Albert von Stade über den Aufstand der Stedinger 2 6 Bauern in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erkennen läßt, unterschätzte anfänglich der Landesherr, der Bremer Erzbischof, die Stärke dieser bäuerlichen Protestbewegung: „1204. Die Stedinger begannen dem Grafen Moritz (von Oldenburg) und ihren anderen Herren Widerstand zu leisten.

25 Recueil des Historiens des Gaules et de la France, Bd. 24, 1904, S. 433 (aus dem Französischen übersetzt). 26 Stedingen, Landschaft an der westlichen Unterweser.

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1207. Hartwig, Erzbischof von Bremen, überfiel mit einem zusammengebrachten Heere die Stedinger, kehrte aber, nachdem er Geld empfangen hatte, zurück und starb kurze Zeit darauf. 1212. Die Stedinger werden mächtiger und zerstören die Burg Münte und Seehausen, belagern die Burg Hagen. 1230. Der Erzbischof von Bremen, um den Übermut der Stedinger zu unterdrücken, greift dieselben mit starkem Heere am Tage der Geburt des Herrn (25. Dez. 1229) an, und dabei wird sein Bruder Hermann, Herr von Lippe, ein durchaus weiser und angesehener Mann, getötet. 1232. Der Erzbischof von Bremen erbaut die Burg Schutter gegen die Stedinger, aber diese haben sie sofort zerstört. 1233. Das Kreuz wird gegen die Stedinger überall auf Veranlassung des Apostolischen Stuhles gepredigt und von vielen genommen. Das östliche Stedingen wird von den Pilgern, nachdem sehr viele von den Stedingern getötet waren, verwüstet. Burkhard, Graf von Oldenburg, wird von den Stedingern mit fast 200 Pilgern zu Boden gestreckt." 2 7 Doch gelingt es der gemeinsamen Kraftanstrengung von Kirche und Adel, die Bauernschaft, die von einigen lokalen Adligen unterstützt wird, niederzuwerfen. Der Erzbischof von Bremen, der Herzog von Brabant, der Graf von Holland besiegen in einer blutigen Schlacht am 26. Juni 1234 die aufständischen Bauern; an einem Samstag, wie der Chronist ausdrücklich vermerkt; also an einem Werktag, nicht an einem Sonntag oder an einem anderen heiligen Tag. Diesmal hat man den Termin besser gewählt. Man möchte nicht noch einmal den gleichen Fehler begehen wie vier Jahre früher, als man sogar am Weihnachtstage, „am Tag der Geburt des Herrn", die aufständischen Bauern angegriffen hatte. Daher hatte der Herr damals auch die Seinen für ihre Sünde bestraft. Der Bruder des Bremer Erzbischofs war in der Schlacht gegen die Bauern gefallen. Aber diesmal durchbohren die „Kämpfer" erfolgreich mit ihren Lanzen die „verpesteten" Bauern, während die „Beter" fromme Psalmen für den „Sieg des Kreuzes" singen: „1234 ... Auch die Geistlichen und die Mönche lästerten sie (d.h. die Stedinger) in gottloser Weise und quälten dieselben mit jeder Art von Martern. Und es genügte ihnen auch nicht ihr eigener Verderb, sondern sie suchten alle, welche sie erreichen konnten, und besonders die Bauern in den Abgrund ihres Unglaubens hinabzuziehen ... Ebenso vergifteten die elenden 2 7 FRANZ ( w i e A n m . 1 4 ) , Nr. 1 1 8 , S . 3 1 7 .

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und beklagenswerten Stedinger, indem sie sich Gott vollständig entgegensetzten, durch ihre Überredungen und schlechten Beispiele das christliche Volk schwer, so daß eine unermeßlich große Menge von Bauern sowohl in entfernten als benachbarten Gegenden befindlich mit Worten dieselben verteidigte, und wenn sich die Gelegenheit geboten hätte, bereitwillig dem Trotze derselben Hilfe gebracht haben würde. Aber Gott, der Herr aller Barmherzigkeit, entflammte seine Gläubigen, daß sie sich auf die Predigt des Kreuzes tapfer gürteten zur Ausrottung eines so verworfenen Volkes, indem sie sich jenes Ablasses und jenes Vorrechtes erfreuten, welche den zur Unterstützung des Heiligen Landes Ausziehenden bewilligt werden. Daher brachen der Erzbischof von Bremen, der erwähnte Herzog (von Brabant) und der Graf (von Holland) mit einer nicht geringen Zahl von Kreuzfahrern am 26. Juni, einem Samstag, einmütig gegen dieselben, als solche, welche die göttliche Geduld mißbrauchten, auf, bereit zu unterliegen oder dieselben mit ihren nichtswürdigen Werken zur Ehre und zum Ruhme Jesu Christi und seiner Kirche vollständig zu vertilgen. Jene dagegen, gleich als ob sie an den Brüsten wilder Tiere genährt wären, wüteten jetzt noch grausamer, und indem sie ihre Zuversicht auf ihren Asmodet (Dämon) setzten, zweifelten sie nicht, daß sie dem mächtigen Arme des Herrn Zebaot und einer so großen Menge Kreuzfahrer widerstehen könnten ... Es überschritten aber inzwischen die Kreuzfahrer den Fluß Ochte, indem sie eine Brücke von Schiffen herstellten, und als sie hinüber waren, ordneten sie vorsorglich ihre Reihen. Die Stedinger, gleichsam rasend geworden und von einer gewissen Tollheit erfaßt, fürchteten nicht die Menge der Kreuzfahrer, nicht die Gewalt des geistlichen und des weltlichen Schwertes, sondern stürzten sich in zwar geordneter Schlachtreihe, aber ungeordneten Geistes, gleich tollen Hunden den Pilgern entgegen. Der Herzog von Brabant und der Graf von Holland griffen beim ersten Anlaufe jener Verpesteten bei dem Felde Altenesch, wo sie sich versammelt hatten, mannhaft an, aber diese verteidigten sich mit höchster Kraftanstrengung. Sofort brach der Graf von Kleve mit den Seinigen von der Seite über sie her und zerstreute ihre Schlachtreihe. Die Geistlichkeit, welche in der Ferne stand und den Ausgang der Sache erwartete, sang: ,Mitten wir im Leben' und andere Klagelieder mit Trauer und betete für den Sieg des Kreuzes. Kein Verzug, jene Toren und Bösewichter schwanden in ihren Gedanken dahin, weil sie von dem Heere des Herrn unterdrückt wurden, von Lanzen durchbohrt, von Schwertern getroffen, von den Hufen der Pferde zertreten. Und so stark kam die Hand des Herrn über sie, daß in kurzer Zeit 6000 derselben zugrunde gingen. Die Mehrzahl von ihnen ging, als sie ihr Heil in der Flucht suchten,

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in einer nahen Grube und in der Weser zugrunde. Diejenigen, welche etwa entkamen, wurden in alle vier Winde zerstreut. So wurde ihre Hartnäckigkeit bei ihnen zu einem Fallstrick, zur Widervergeltung und zur Schande" 2 8 . Solidarisches Handeln der Bauern als Ausdruck bäuerlicher Mentalität vollzieht sich aber nicht nur in Formen des Widerstands gegen äußere Feinde, sondern läßt sich auch im Rahmen der Dorfgemeinschaft beobachten. So erzwingen Bauern die Einhaltung der sozialen Spielregeln, die ihr wirtschaftliches und soziales Zusammenleben regeln. Wer sich nicht an die Spielregeln hält, muß mit Sanktionen der Dorfbewohner rechnen. Als Beleg dient uns der vermutlich im 11. Jahrhundert entstandene und in der mediävistischen Forschung vieldiskutierte lateinische Versroman Ruodlieb. Der Ritter Ruodlieb kehrt nach langem und erfolgreichem Dienst in der Fremde nach Hause zurück. Der König, dem Ruodlieb treu gedient hat, gibt seinem scheidenden Ritter außer einer reichen Belohnung auch noch zahlreiche gute Ratschläge. Unter anderem empfiehlt er ihm: „Mag der allgemeine Fahrweg zum Dorf auch noch so kotig sein, verlasse ihn niemals, um den Pfad durch die Saatfelder zu nehmen, damit dir keine üble Behandlung widerfährt und du dort nicht deine Selbstbeherrschung verlierst, indem du, von jemanden gescholten, eine freche Antwort gibst... Wenn dir Saatfelder gehören, die neben öffentlichen Straßen liegen, dann ziehe keine Gräben, damit nicht noch weitere Wege, mitten durch die Saaten hindurch, entstehen. Denn beim Umgehen der Gräben entsteht auf jeder Seite eine neue Straße, weil die Leute im Trockenen gehen wollen. Hättest du keinen Graben gezogen, wäre dein Schaden kleiner gewesen" 2 9 . Auf seinem Nachhauseweg macht der Ritter Ruodlieb Bekanntschaft mit dem „Rotkopf', einem ausgesprochen unsympathischen Menschen, dem der anonyme Autor des Ruodlieb die Funktion des Negativhelden zugedacht hat. Als Antipode des Ruodlieb macht er immer das genaue Gegenteil von dem, was der weise König empfohlen hatte: „Nachdem sie (Ruodlieb und der Rotkopf) weitergeritten waren, kamen sie in die Nähe eines Dorfes, zu dem eine ziemlich breite, aber kotige Straße führte. Kaum daß ein Berittener in der Lage war, den sumpfigen Löchern

28 FRANZ (wie Anm. 14), Nr. 118, S. 319-321. 29 Ruodlieb, Fragment V, 458-460, 522-526; Übersetzung: W. HAUG/B. K. VOLLMANN (Hgg.), Frühe deutsche Literatur u. lateinische Literatur in Deutschland 800-1150, 1991, S. 457, 461.

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auszuweichen, und ein Fußgänger hätte auf einer so schmutzigen Straße nicht einmal den Zäunen entlang gehen können, hätte es da nicht einen ganz schmalen Brettersteg gegeben. Wenn er diesen vorsichtig benutzte und sich mit der Hand am Zaun festhielt, so hatte er eine kleine Chance, einen Sturz in den Kot zu vermeiden. Im Feld jedoch, mitten durch die Saaten, lief ein versteckter, ausgetretener Pfad. Wie nun der Rotkopf sah, daß es einen solchen Pfad gab, riet er, diesen zu nehmen. Er könne vor lauter Dreck nicht mehr weiter; dies sei die schmutzigste und pfützenreichste Straße überhaupt" 3 0 . Es kam, wie es kommen mußte: „Der Rotkopf ritt trotz der Warnungen des Ritters durch die Saaten, stieß auf die Bauern, denen die Felder gehören und wurde von ihnen angefahren, vielleicht sogar (mit Steinen?) angegriffen. Er antwortete mit wüsten Beschimpfungen, mußte sich aber zurückziehen. Zum Ritter zurückgekehrt, wurde er von diesem zur Rede gestellt" 31 . Die harte Reaktion der Bauern ist verständlich. Die bäuerliche Wirtschaftsweise verlangt, wenn sie denn Aussicht auf Erfolg haben will, notwendigerweise ein solidarisches Verhalten. Die einzelnen bäuerlichen Grundstücke, wahrscheinlich schon zur Abfassungszeit des Ruodlieb in der sog. Dreifelderwirtschaft bestellt, befinden sich in einer Gemengelage. Deshalb muß der eine auf den anderen hören. Das Nutzungsrecht der Allmende ist genauso zu regeln wie beispielsweise der Beginn von Aussaat und Ernte. Man hat sich an die vereinbarten Spielregeln zu halten, und dies gilt genauso für das (verbotene) Betreten der Felder. Der vom Autor des Ruodlieb angedeutete Konflikt eskaliert. Denn der Rotkopf verletzt ein zweites Mal die dörflichen Spielregeln. Er verführt die junge Frau eines alten Bauern, der ihn gastlich bei sich aufgenommen hat. Beim Ehebruch ertappt, erschlägt der Rotkopf den Alten, wird aber seinerseits von den Dorfbewohnern überwältigt und gefangengenommen. Diesesmal sind die Konsequenzen wesentlich unangenehmer: „Im Frühtau des Tages kam das Volk von überall her zusammen, und vor der Kirche traf sich eine große Gemeinde zum Gericht, gebildet von den einflußreicheren wie von den geringeren Dorfbewohnern. Der Richter kam dorthin, sobald er von dem beklagenswerten Verbrechen erfahren hatte, und 30 Ruodlieb, Fragment V, 611-621; Übersetzung: HAUG/VOLLMANN, S. 465-467. 31 Rekonstruktion des verlorenen Inhaltes nach HAUG/VOLLMANN, S. 467.

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als sich alle gesetzt hatten, denen dort zu sitzen zukam, begann der Richter: ,Es liegt die in der Tat bejammernswerte Klage vor, daß ein Mensch erschlagen wurde, der zu den besten zählte.' Weinend sprachen alle, die dort saßen: ,Wenn das nicht bestraft wird, wissen wir, daß ein Gleiches wieder geschehen w i r d ' " 3 2 . Wiederum reagiert die bäuerliche Dorfgemeinschaft. Sie erzwingt ein Gerichtsverfahren, das den Rotkopf hart bestrafen wird. Er wird hingerichtet, um zu verhindern, „daß ein Gleiches wieder geschehen wird", d. h., daß nicht noch einmal die Spielregeln bäuerlichen Miteinanderlebens verletzt werden. Und dazu gehört, daß auch im Fall eines großen Altersunterschiedes zwischen den Ehepartnern die junge Frau ihren alten Mann nicht betrügen darf. Daher wird auch die vom Rotkopf verführte junge Ehefrau des Alten zu Recht bestraft. Freilich ist die dörfliche Gemeinschaft bereits vor dem Auftauchen des Rotkopfes in ihrem Frieden gestört. Dies geht aus der Einschätzung des Hirten hervor, der die Meinung der Dorfbewohner über die erneute Eheschließung des alten Bauern, bei dem sich der Rotkopf dann auch einquartieren wird, wiedergibt. Auf die Frage des Rotkopfes: „Gibt es hier nicht irgendeinen Alten mit einer bildhübschen Frau?" sagte der Hirte: „Es gibt einen Alten, der eine sehr gute Frau hatte. Ach, die ist leider gestorben. Unlängst hat er ein zweites Mal geheiratet und eine törichte und mehr als ausgelassene junge Frau heimgeführt, für die er nicht mehr zählt; sie düpiert ihn nämlich noch und noch. Sie sucht die Gesellschaft unreifer junger Leute auf und amüsiert sich mit ihnen auf die ausgelassenste Weise" 3 3 . Man mag einwenden, daß es sich im Fall des Ruodlieb „nur" um fiktionale Literatur handele, der keine zeitgenössische Realität entsprochen habe. Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß es nicht das Anliegen des Dichters war, ein getreues Abbild der eigenen Gegenwart zu geben: das legen schon die vielen vom Autor verwendeten Märchen- und Schwankmotive nahe. Doch folgt aus diesem Umstand noch lange keine vollständige Autonomie des Autors von Denkmustem der eigenen Zeit. So lassen sich beispielsweise die soeben vom Ruodlieb-Autor geschilderten Akzeptanzprobleme von Fremden in der engen bäuerlichen Dorfgesellschaft und die mit ihnen verbundenen Konflikte auch in nichtliterarischen Texten beobachten. Daß bereits in der Zeit des frühen Mittelalters vergleichbare Vorgänge, das Eindringen Fremder in die

32 Ruodlieb, Fragment VIII, 11-19; Übersetzung: HAUG/VOLLMANN, S. 485. 33 Ruodlieb, Fragment VII, 119-124; Übersetzung: HAUG/VOLLMANN, S. 475.

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festgefügte Dorfgemeinschaft, schwere Probleme auslösen konnten, zeigt der Blick auf den Pactus Legis Salicae. Diese Rechtskodifikation, die dem Typus der sogenannten Konsensgesetzgebung angehört, ist vermutlich noch in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts (nach 507) entstanden und ermöglicht einen Einblick in frühmittelalterliche Rechtsvorstellungen der in Gallien lebenden Franken. Für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse ist der Titel 45, weil er die mit der Aufnahme von Fremden verbundenen Probleme anspricht 3 4 : „45. Von Zuziehenden § 1. Wenn einer zu einem anderen in ein Dorf (andere Übersetzung: Gehöft, lat. villa) zuziehen will und einer und einige von denen, die in dem Dorf wohnen, ihn aufnehmen wollen, und wenn einer vorhanden ist, der widerspricht, habe er keine Erlaubnis, ebendort zuzuziehen. § 2. Wenn er sich aber gegen den Einspruch eines oder zweier in diesem Dorf niederzulassen unterfängt, dann darf jener protestieren. Und wenn er nicht von dort hinausgehen will, darf jener, der gegen ihn protestiert, mit Zeugen ihm so protestieren: ,Hiermit protestiere ich gegen dich, daß du in dieser nächsten Nacht gemäß dem, was das salfränkische Gesetz bestimmt, bleibst, und ich protestiere gegen dich, daß du binnen zehn Nächten aus diesem Dorf hinausgehst.' Hernach nach noch zehn Nächten muß er wiederum zu diesem kommen und ihm protestieren, daß er wiederum binnen zehn Nächten noch nicht hinausgehen will, füge er wiederum zum dritten zehn Nächte zum Termin hinzu, daß so 30 Nächte erfüllt werden. Wenn er auch dann nicht hinausgehen will, dann lade er ihn zum Thing und seine Zeugen aus den einzelnen Terminen, die da waren, habe er dort bereit. Und wenn dieser, dem protestiert ist, nicht kommen will und ihn nicht irgendeine echte Not abhält und dies, was wir oben gesagt haben, so gemäß dem Gesetz protestiert ist, dann setze der, der ihm protestierte, sein Vermögen ein und ersuche den Grafen, daß er zu jenem Ort gehe, daß er ihn von dort austreibe. Und weil er nicht auf das Gesetz hören wollte - gerichtlich ,Widersetzlichkeit' genannt - , lasse er zurück, was er ebendort werkte und werde obendrein 1200 Pfennig, die machen 30 Schillinge zu schulden verurteilt" 3 5 .

34 Die Forschung hat einen Zusammenhang dieses Titels 45 mit dem Zuzug der Franken auf römischen Reichsboden vermutet, vgl. dazu R. SCHMIDT-WIEGAND, Artikel „Lex Salica", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, 1991, Sp. 1931 f. 35 FRANZ ( w i e A n m . 14), Nr. 6, S. 1 1 - 1 3 .

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Auch der im Ruodlieb und weiter oben bereits erwähnte Ratschlag, keinesfalls vom öffentlichen Weg abzuweichen und die Felder der Bauern zu betreten, hat einen realhistorischen Hintergrund. Wie stark diese Norm im bäuerlichen Leben verankert war, zeigt der Umstand, daß mitunter selbst Heilige, an und für sich die „Normenverletzer" par excellence, sie nicht überschreiten konnten. So berichtet der Abt von Echternach, Thiofrid, in seiner in den dreißiger Jahren des 11. Jahrhunderts geschriebenen Geschichte des heiligen Willibrord 36 : „... um den Weg abzukürzen, ritt er (Willibrord) auf dem üblichen Weg. Dieser verlief durch die grünen Saatfelder. Die feinsinnige Kunst des Feldmessers und genügend Raum hatten dafür gesorgt, daß er schnurstracks durch die Äcker verlief, so als hätte man in geometrischer Weise zwei Punkte durch eine Gerade miteinander verbunden. Als das in der Ferne der Feldhüter, ein Unfreier, der für einen habgierigen und reichen Mann arbeitete, sah, geriet dieser ziemlich in Wut, so als würde man Öl ins Feuer gießen. Er kam zornig herbeigelaufen und überschüttete den Gärtner des Herrn (d.h. Willibrord) mit Schmähungen und Drohungen. Er versuchte, den Heiligen zurückzuhalten, indem er den Zügel von dessen Pferd ergriff; das Haupt des verehrungswürdigen Heiligen versuchte er mit einem tödlichen Schlag zu zerschmettern. Schon wollten die Begleiter (des Willibrord) den tobenden Feldhüter töten, da ermahnte sie Willibrord mit der ihm eigenen Milde. Und da er das stahlharte Herz seines Gegners weder durch Überredung noch das Versprechen einer Belohnung erweichen konnte, wurde er zornig und kehrte auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen war" 37 . Auch einschlägige Bestimmungen in den in karolingischer Zeit kodifizierten Volksrechten lassen erkennen, wie wichtig dem Dorf entsprechend formulierte Wegerechte und Wegeordnungen waren. So bestimmte beispielsweise der Titel X, 18 der Lex Baiuvariorum: „Wenn aber einer ein Zeichen, wie sie nach altem Brauch zur Abwehr aufgesteckt werden, sei es um einen verbotenen Weg zu schließen, oder um die Viehweide zu schützen ... (wer es) beseitigt, oder widerrechtlich abschneidet, der büße mit 1 Schilling" 38 .

36 Willibrord (gest. 739), Missionar, der unter den Friesen wirkte. 37 Thiofrid, Vita Willibrordi 14 (Acta Sanctorum November III, S. 469) (aus dem Lateinischen übersetzt). - Der Hinweis auf Thiofrid findet sich bei B. K. VOLLMANN, Ruodlieb, 1993, S. 33. 3 8 L e x B a i u v a r i o r u m X , 1 8 ( e d . F. BEYERLE, 1 9 2 6 , S. 1 2 0 ) .

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Die rechtlichen Regelungen waren auf dem Grundsatz des „geringsten Schadens" (F. Bader) aufgebaut und versuchten damit dem solidarischen Nachbarschaftsprinzip des Dorfes zu entsprechen. Und ebenso sind dem Agrarhistoriker juristische Regelungen geläufig, die das Nutzungsrecht von Verbindungswegen zwischen den Dörfern auf den unmittelbaren Kreis der betroffenen Dorfgenossen zu beschränken versuchten. Und schließlich könnte man auch noch auf den sog. rheinfränkischen Landfrieden verweisen, den der Stauferkaiser Friedrich I. 1179 verkünden und in den er zahlreiche Schutzbestimmungen zugunsten des Dorfes aufnehmen ließ. In dessen 13. Artikel hieß es in bezug auf den Fremden ausdrücklich: „Muß ein berittener Reisender sein Pferd füttern, so soll er, einen Fuß auf dem Weg, mit Sichel oder Dolch soviel Getreide als nötig schneiden und sein Pferd auf dem Wege füttern; doch darf er kein Gras mitnehmen. Gras soll er nicht schneiden, sondern sein Pferd auf der Wiese selbst ausreichend weiden lassen. Wer anders handelt, ist ein Friedensbrecher" 39 . Die Gründe, warum Bauern in besonderer Weise zu solidarischem Handeln verpflichtet sind, liegen auf der Hand. Ihre tatsächlich schwierige wirtschaftliche Lage geht einher mit einer allgemeinen Geringschätzung ihrer Leistungen für die mittelalterliche Gesellschaft. Ihr schlechtes Sozialprestige wurde auch ideologisch begründet. Bereits die im 8. Jahrhundert enstandene altdeutsche Genesis erklärt die Knechtschaft der Bauern mit dem Hinweis auf Noahs Sohn Cham, der sich laut biblischer Aussage (1. Mose 9,12) an der Scham seines betrunkenen Vaters geweidet und dafür auch die gerechte Strafe erlitten hatte. Auch der mit dem Bauern traditionell eng verbundene Begriff der Arbeit und Mühe (lat. labor) war negativ besetzt, denn er war die notwendige Folge des menschlichen Sündenfalls. Ihre Jahrhunderte lange Unterdrükkung mag dazu beigetragen haben, daß sich bei den Bauern im allgemeinen eine eher passive Grundhaltung, die Bereitschaft, auch großes Unrecht hinzunehmen, wie im Fall des oben erwähnten Durand, weiter verstärkt hat. Dennoch sollten auch die solidarischen Aspekte bäuerlicher Mentalität nicht unterschätzt werden. Denn Kooperation mit dem im selben Dorf lebenden und wirtschaftenden Nachbarn war unabdingbare Voraussetzung bäuerlichen Überlebens. Der für das Dorf typische „Nachbarschaftsverband" war notwendigerweise, sollte er funktionieren, auf Kooperation und Solidarität angewiesen. 39

FRANZ ( w i e A n m .

14), Nr. 9 3 , S.

248.

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Und natürlich waren auch die mittelalterlichen Bauern nicht dümmer als ihre übrigen Mitmenschen, auch wenn dies mittelalterliche Exempla immer wieder behaupteten: „Es wird von einem Bauern erzählt, daß sein Nachbar am Auge erkrankte. Darauf sagte ihm der Bauer: ,Als ich eine Fußkrankheit hatte, habe ich eine heiße Zwiebel darauf gelegt und bin daraufhin vollständig wieder gesund geworden.' Als das sein Nachbar gehört hatte, legte er eine heiße Zwiebel auf sein Auge, und er verlor seine Sehkraft" 4 0 . Ganz im Gegenteil. Einigen klugen Leuten ist dies bereits im Mittelalter bewußt geworden. Zu ihnen gehört beispielsweise der zum Christentum konvertierte jüdisch-spanische Arzt Petrus Alfonsi (gest. um 1140). Dieser erzählt in seiner moralischen Exemplasammlung Disciplina clericalis, die man im Mittelalter sehr geschätzt und deshalb auch oft abgeschrieben hat, folgende bemerkenswerte Geschichte. Bemerkenswert deshalb, weil, ganz unüblich, diesmal nicht der Bauer der Dumme ist, vielmehr Bauernschläue über die Gerissenheit von Städtern triumphiert. Petrus Alfonsi läßt seine legendarische Motive verwendende Erzählung im arabisch-muslimischen Raum spielen. Das mochte die Akzeptanz der Geschichte auch bei seinem städtisch-abendländischen Publikum erleichtern, das sich im allgemeinen den angeblich dummen Bauern überlegen fühlte: „Es heißt, daß einmal zwei Stadtleute und ein Bauer auf einer Pilgerfahrt nach Mekka waren und sich gemeinsam verpflegten, bis ihnen kurz vor Mekka der Vorrat ausging, so daß sie nur noch Mehl für ein einziges kleines Brot hatten. Die beiden Städter sprachen, als sie das bemerkt hatten, zueinander: ,Wir haben zu wenig Brot, und unser Gefährte ißt viel. Deshalb müssen wir einen Weg finden, daß wir ihm seinen Anteil entziehen und allein aufessen können.' Dann machten sie miteinander aus, daß sie ein Brot kneten und backen und während der Backzeit schlafen wollten; und wer von ihnen den wunderbarsten Traum gehabt, der solle das Brot allein essen dürfen. Das sagten sie mit dem Hintergedanken, daß der Bauer zu dumm für einen solchen Wettstreit sei. Sie machten also ein Brot, taten es ins Feuer und legten sich schlafen. Der Bauer aber hatte ihren Plan durchschaut, holte das Brot halbgar aus dem Feuer, aß es auf und schlief weiter. Nun wurde einer der Stadtleute aus dem Schlaf aufgeschreckt, erwachte und rief nach

40 Jakob von Vitry, Exempla, ed. Th. F. CRANE (wie Anm. 18), Nr. 100, S. 59 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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seinem Kumpan. Der sagte: ,Was hast du?' Jener erzählte: ,Ich hatte einen wunderbaren Traum. Mir träumte, daß zwei Engel das Himmelstor öffneten, mich an der Hand faßten und vor das Angesicht Gottes geleiteten.' Darauf sagte der andere: ,Das ist ja wunderbar, was du geträumt hast. Aber ich habe geträumt, daß mich zwei Engel geleiteten, einen Spalt in der Erde öffneten und mich in die Hölle brachten.' Der Bauer hörte das alles, tat aber so, als schliefe er. Die Städter jedoch, diese betrogenen Betrüger, riefen den Bauern, er solle aufwachen. Der Bauer tat schlauerweise, als schrecke er hoch, und antwortete: ,Wer ist es, der mich ruft?' Jene darauf: ,Wir, deine Weggenossen!' Und der Bauer fragte: ,Seid ihr schon wieder zurück?' Darauf erwiderten sie: ,Wohin sind wir denn gegangen, daß wir zurückgekehrt sein sollen?' Da erzählte der Bauer: ,Mir hat geträumt, daß zwei Engel den einen von euch geleiteten, das Himmelstor öffneten und ihn vor Gottes Angesicht brachten. Dann nahmen zwei Engel den anderen von euch, öffneten die Erde und brachten ihn in die Hölle. Und wie ich das sah, meinte ich, daß keiner von euch wieder zurückkommen werde, erhob ich mich und aß das Brot auf'" 4 1 .

4. Bibliographie Allgemein: G. DUBY, Guerriers et paysans: VII E -XII E siècle, premier essor de l'Economie européenne, 1973 (dt.: Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, 1977); W. RÖSENER, Bauern im Mittelalter, 1985; DERS., Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 13), 1992; M. BLOCH, Die Feudalgesellschaft, 1982. Grundherrschaft: W. RÖSENER (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, 1989; DERS., GrundherTschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, 1995. Dorf/Dorfentwicklung: K. S. BAADER, Dorfgenossenschaft und Dorf, 1962; K.-H. SPIESS, Bäuerliche Gesellschaft und Dorfentwicklung im Hochmittelalter, in: RÖSENER (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft, S. 384-412. Bild des Bauern in der mittelalterlichen Gesellschaft: P. FREEDMAN, Sainteté et sauvagerie. Deux images du paysan au Moyen Age, in: Annales. E.S.C. 47 (1992), S. 539-560.

41 Petrus Alfonsi, Die Kunst, vernünftig zu leben (Disciplina clericalis), dargestellt und aus dem Lateinischen übertragen von von E. HERMES, 1970, Kap. XIX, S. 182-183 - unter dem Rubrum „Bauernschläue" angeführt und interpretiert bei A. BORST, Lebensformen im Mittelalter, l 3 1993, S. 377-380.

Bibliographie

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Bäuerliche Mentalitäten: DUBY, Guerriers et paysans, VII-XII E siècle, insb. S. 6 0 - 8 6 über „attitudes mentales" (dt.: Krieger und Bauern, S. 52-76 über bäuerliche „Geisteshaltungen"); K. RANKE, Agrarische und bäuerliche Verhaltensweisen im Mittelalter, in: R. WENSKUS u. a. (Hgg.), Wort und Begriff „Bauer", Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge, Nr. 89, 1975, S. 207-221; G. CHERUBINI, Der Bauer, in: J. LE GOFF (Hg.), Der Mensch des Mittelalters, 3 1994, S. 130-155; H.-W. GOETZ, Zur Mentalität bäuerlicher Schichten im frühen Mittelalter, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80 (1993), S. 153-174; E. LE ROY LADURIE, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324, 1975 (dt.: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294-1324, 1980; Tb.-Ausgabe 1993); L. E. BOYLE, Montaillou revisited; .Mentalité' and Methodology, in: J. A. RAFTIS (Hg.), Pathways to Médiéval Peasants (Papers in Mediaeval Studies 2), 1981, S. 119-140. Bäuerlicher Widerstand: S. EPPERLEIN, Bauernbedrückung und Bauernwiderstand im hohen Mittelalter, 1960; H. SCHMIDT, Hochmittelalterliche .Bauernaufstände' im südlichen Nordseeküstengebiet, in: RÖSENER (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft, S. 4 1 3 - 4 4 2 .

Kapitel VIII. Intellektuelle 1. Zur mittelalterlichen Terminologie des „Intellektuellen" frühen, hohen und späten Mittelalters

2. Ausgewählte Beispiele des

3. Bibliographie

1. Einleitung Das Mittelalter kannte den Begriff des „Intellektuellen" noch nicht. Ansatzweise mit ihm vergleichbar erscheinen allenfalls solche Begriffe wie der in scharfer Opposition zum illiteratus stehende litteratus, der den in den Wissenschaften (litterae) Gebildeten, manchmal einfach nur den Lese- und Schreibfähigen im Unterschied zum Analphabeten bezeichnete. Da es sich beim litteratus bis zum Aufkommen der Universitäten im Hochmittelalter in aller Regel immer um einen Geistlichen handelte und ein Laie zumeist keine oder nur sehr geringe Kenntnisse im Lesen und Schreiben besaß, benutzte man bis zum 11. und 12. Jahrhundert den Begriff des clericus häufig als ein Synonym für den litteratus. Der Umstand, daß eine eindeutige und strenge mittelalterliche Terminologie fehlte, bedeutet freilich noch lange nicht, daß es den „Intellektuellen" als soziologischen Typus im Mittelalter nicht gegeben hätte, auch wenn er sich eindeutigen definitorischen Kategorien entzieht. Ökonomisch-berufsständische Kriterien wie etwa im Fall der Ritter oder Bauern sind zur Definition des Intellektuellen nicht geeignet. Auch ein Blick auf die Geschichte des Begriffes „Intellektueller" hilft nicht weiter. Eingang in die Umgangssprache findet er erst Ende des 19. Jahrhunderts im Manifeste des Intellectuels, einer Solidaritätsadresse französischer Schriftsteller zugunsten ihres Kollegen Emile Zola, der sich in der bereits erwähnten Affäre um den jüdischen Hauptmann Dreyfus 1 enga-

1

Vgl. oben Kapitel I mit S. 15.

Einleitung

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giert hatte und sich deshalb auch staatlicher Angriffe zu erwehren hatte. Seine Einführung in die wissenschaftliche Welt verdankt der Begriff des Intellektuellen vor allem den Soziologen Karl Mannheim (gest. 1947) und Alfred Weber (gest. 1958), welche die soziale Standortgebundenheit allen Wissens und Bewußtseins betonten und den Intellektuellen die Aufgabe zuwiesen, „Träger der Kultursynthese" zu sein. Im allgemeinen Bewußtsein der Öffentlichkeit blieb der Begriff des „Intellektuellen" noch lange Zeit negativ besetzt. „Intellektuelle" in Deutschland haben sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg häufig gegen diese Bezeichnung gewehrt 2 . Dezidiert auf das Mittelalter angewandt wurde der Intellektuellenbegriff durch Jacques Le Goff in seinem 1957 erstmalig erschienenen Buch „Les intellectuels au Moyen Age". Dort definierte er den Intellektuellen als einen „gleichzeitig schreibenden und lehrenden Menschen". Für Le Goff typisch ist seine fast ausschließliche Konzentration auf den an der Universität tätigen Intellektuellen. Folgerichtig spricht er deshalb auch von der „Geburt des Intellektuellen im 12. Jahrhundert": „Am Anfang waren die Städte. Im Abendland erblickte der Intellektuelle mit ihnen das Licht der Welt" 3 . Le Goffs Ansatz führt dazu, daß er bedeutende Perioden der mittelalterlichen Geschichte, die vor der Universitäts- und Städteentwicklung des 12. und 13. Jahrhunderts liegen, vernachlässigen muß, genau wie spätere Zeiten, als sich Intellektuelle auch außerhalb der Universität nachweisen lassen. Wir folgen deshalb lieber dem Ansatz von Mariateresia Fumagalli Benito Brocchieri und unterscheiden zwischen einem engeren, berufsständischen Begriff („Universitätsintellektueller: lat.: magister) und einem weiteren, nicht berufsständisch orientierten Begriff des Intellektuellen 4 . Dieser weitere Begriff besitzt einen überaus großen Vorteil, weil er Intellektuelle nicht auf den „akademisch" Ausgebildeten und an der Universität Tätigen einschränkt, was angesichts zahlreicher Intellektueller im späten Mittelalter, die ihre Wirkung vor allem im außeruniversitären Bereich entfalteten, sinnvoll erscheint. Ferner gestattet eine bewußt weiter gehaltene Begrifflichkeit, auch früh- und hochmittelalterliche Persönlichkeiten vor dem 12. Jahrhundert als Intellektuelle zu verstehen. 2

„Als Intellektuelle beschuldigen sie sich nur gegenseitig" (J. HABERMAS, Heinrich Heine und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland, in: DERS., Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI, 1987, S. 25-54, hier S. 34).

3

J. LE GOFF, Die Intellektuellen im Mittelalter, 1986, S. 15.

4

M . FUMAGALLI BEONIO BROCCHIERI, D e r I n t e l l e k t u e l l e , i n : J. L E GOFF ( H g . ) , D e r M e n s c h

des Mittelalters, 3 1994, S. 198-231, hier S. 201.

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Kapitel VIII. Intellektuelle

Im folgenden werden einzelne Personen vorgestellt, wobei das Frühmittelalter in Gestalt des angelsächsischen Gelehrten Alkuin den Anfang und das Spätmittelalter mit Nikolaus von Kues das Ende markieren sollen. Obgleich alle in paradigmatischer Absicht herausgegriffenen Persönlichkeiten jeweils unterschiedlichen Epochen des Mittelalters angehören und mit einer Ausnahme (Abaelard) keine „Universitätsintellektuellen" waren, können sie doch, wie noch genauer zu zeigen sein wird, als Intellektuelle (im weiteren Sinne) angesprochen werden. Im einzelnen handelt es sich um die folgenden Personen: I. Alkuin (um 730-804) als Repräsentant des karolingisch geprägten Europa um 800; II. Gerbert von Aurillac (Papst Silvester II.) (um 940/950-1003) für die Zeit um 1000; III. Abaelard (1079-1142) für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts; IV. Petrarca (1304-1374) für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts; V. Nikolaus von Kues (1401-1464) für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts.

2. Ausgewählte Beispiele des frühen, hohen und späten Mittelalters I. Alkuin (um 730-804), aus dem angelsächsisch geprägten England stammend, an der Kathedralschule in York tätig, seit 760 deren Leiter, machte sich sehr bald einen großen Namen. Aus ganz Europa strömten ihm die Schüler zu. 781 kam es zur entscheidenden Begegnung mit Karl dem Großen, der ihn zum Leiter seiner Aachener „Hofschule" machte; 796 wurde er, der lediglich die Weihe zum Diakon, nicht aber zum Priester empfangen hatte, zum Laien-Abt des berühmten Martinsklosters in Tours bestellt. Die Rekonstruktion namentlich frühmittelalterlicher Mentalitäten mittels schriftlicher Quellen gilt im allgemeinen zu Recht als besonders schwierig, weil deren Bindungen an vorgegebene typologische Muster (Bibel, Legende, Heiligenleben etc.) besonders stark waren. Dennoch lassen sich Alkuins Äußerungen einzelne Charakteristika entnehmen, die insofern einer typisch intellektuellen Mentalität entsprungen sein könnten, als sie auch bei den anderen von uns noch darzustellenden Persönlichkeiten nachweisbar sind. Bei Alkuin unübersehbar ist ungeachtet aller christlichen Demut im einzelnen sein Selbstbewußtsein, das er mit vielen anderen Intellektuellen nicht nur des Mittelalters teilt. So schrieb Alkuin anläßlich des Plans über eine zu gründende Akademie an Karl den Großen:

Ausgewählte Beispiele

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„Wenn viele an dem von Euch (Karl dem Großen) geplanten Studium teilnehmen, könnte im Frankenreich ein neues Athen entstehen, ja, es könnte sogar das erstere an Glanz übertreffen. Geadelt durch die Lehre Christi, unseres Herrn, wird unsere Schule alle Gelehrsamkeit jener Akademie übertreffen, die sich nur den Lehren Piatons widmete und ihren Ruhm durch die Beschäftigung mit den sieben freien Künsten (d.h. Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik) erwarb. Das neue Athen, dem auch noch die siebenfache Gabe des Heiligen Geistes in ihrer ganzen Fülle zuteil geworden ist, stellt alle weltliche Weisheit in den Schatten stellen" 5 . Ebenso war Alkuin davon überzeugt: „Denn die Vermehrung der Herde ist der Ruhm des Hirten; eine Vielzahl von Wissenden bedeutet die Gesundheit der ganzen Welt" 6 . Die angeführten Stellen lassen die Wurzeln des Selbstbewußsteins von Alkuin erkennen: seinen Glauben an die Überlegenheit einer christlichen Wissenschaft gegenüber einer „nur" heidnischen und damit automatisch auch inferioren Wissenschaft, fehlt jener doch die entscheidende christliche Fundierung („die Lehre Christi, unseres Herrn"). Aber gleichzeitig wird auch etwas von jenem Selbstbewußtsein eines Intellektuellen spürbar, der glaubt, mit „seiner" Akademie im Frankenreich die Vorgänger, die Alten, hinter sich lassen zu können, es einfach besser machen zu können. Eng damit verbunden ist ein nicht nur bei Alkuin nachweisbarer pädagogischer Eros. Dieser karolingische Gelehrte fühlte sich immer auch als Lehrer: Er verfaßte Lehrschriften in Dialogform und gab mathematische Rätsel auf. So gehören Lehren und Lernen für ihn untrennbar zusammen: „Wer nicht sät, der wird auch nicht ernten, und wer nicht lernt, wird auch nicht lehren" 7 . Dahinter steht der Glaube an die prinzipielle Bildungsfähigkeit des Menschen, der auch nach christlicher Ansicht per definitionem ein mit Vernunft begabtes Lebewesen (animal rationale) ist. Angesichts dieser optimisti-

5

Alkuin, ep. 170 (Monumenta Germaniae Histórica: Epistolae IV, II, S. 279) (aus dem Lateinischen übersetzt).

6

Alkuin, ep. 31 (Monumenta Germaniae Histórica: Epistolae IV, II, S. 73) (aus dem Lateinischen übersetzt).

7

Alkuin, ebd. (aus dem Lateinischen übersetzt).

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sehen und idealistischen Haltung kann es nicht überraschen, daß höhere Einsicht in den Wert und Gang der Dinge (sapientia) und durch Unterricht erlangte Bildung (eruditio) zentrale Bestandteile des Denkens bei Alkuin darstellen. In einem im Jahr 796 geschriebenen Brief, der sich an den damaligen Salzburger Bischof Arn richtete, räsonnierte Alkuin über Missionsgrundsätze bei den nach damaliger Ansicht als Hunnen geltenden Awaren, wobei er ausdrücklich eine Zwangsbekehrung u.a. mit dem folgenden Argument ablehnte: „Der Mensch, der ja eine rationale Einsichtsfähigkeit besitzt, muß deshalb unterrichtet und durch vielfältiges Predigen dazu gebracht werden, daß er die Wahrheit des heiligen Glaubens erkennt" 8 . Untrennbar verbunden mit diesen Auffassungen über die Formbarkeit des zu rationaler Einsicht fähigen Menschen ist der Glaube an die Macht des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, sei es nun in der Form der sorgfältig ausgearbeiteten Predigt, des persönlichen Gesprächs oder des mahnenden Briefes. So beginnt Alkuin seinen Brief, den er an den der Häresie verdächtigten Bischof Felix von Urgel (Spanien) richtet, mit den folgenden Worten: „Die Sorge um das Wohlergehen des Bruders ist nicht gering zu achten. Solange ein Lebenshauch die Glieder beseelt, darf aufgrund des Wirkens göttlicher Gnade niemand an der Möglichkeit zur Umkehr zweifeln. Da die Dinge sich nun einmal so darstellen und ihnen billigerweise nicht widersprochen werden kann, sind Anwesende durch Gespräche und Abwesende durch hilfreiche Briefe zu ermahnen, damit einerseits die Verpflichtung zur Liebe demütig erfüllt wird und andererseits sich die der Brüderlichkeit innewohnende Demut gehorsam zeigt. Jenem ruft die Heilige Schrift zu: ,Wer hört, der soll sagen, ich bin gekommen'; diesem ruft die Autorität des Evangeliums zu: ,Wer euch hört, hört mich!' ,Der Geist weht, wo er will'. Daher ist auch aus Saulus, dem Verfolger, Paulus, der Prediger geworden" 9 . Mit Alkuins starkem Glauben an die Macht des gesprochenen oder geschriebenen Wortes hängt auch der von der Antike übernommene und vornehmlich durch das Medium des Briefes sich vollziehende Freundschaftskult 8

Alkuin, ep. 113 (Monumenta Germaniae Histórica: Epistolae IV, II, S. 164) (aus dem Lateinischen übersetzt).

9

Alkuin, ep. 23 (Monumenta Germaniae Histórica: Epistolae IV, II, S. 60) (aus dem Lateinischen übersetzt).

Ausgewählte Beispiele

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zusammen. Der Brief ist eine oft gesuchte Form des Austausches mit dem persönlich abwesenden Freund, wobei dieser Austausch - und das hat ihn für die Intellektuellen aller Zeiten von jeher so attraktiv gemacht - rhetorisch-literarischen Gesetzen folgt; das heißt: Der antike und der mittelalterliche Brief verstehen sich auch und vor allem als Literatur. Sie unterliegen literarischer Stilisierung und sind als offene, „veröffentlichte" Briefe auf Außenwirkung bedacht. Auch Alkuin macht in dieser Beziehung keine Ausnahme. So beendete er sein oben bereits erwähntes und die Awarenmission betreffendes Schreiben an Arn mit einer captatio benevolentiae. Eigentlich habe Arn als Besitzer und Kenner einschlägiger Kirchenväterliteratur überhaupt keine Ratschläge nötig: „Es erscheint überflüssig, deine weisen Ohren mit meinem Brieflein der Unerfahrenheit zu belasten. Nur meine Zuneigung (zu dir) könnte meine Anmaßung gegenüber deiner Autorität einigermaßen, wie ich glaube, rechtfertigen, damit nicht meine Liebe, die in meinem Innersten brennt, nach außen stumm und wortlos bleibt. Dazu freilich sind den Menschen die Worte geschenkt worden, damit sie ihre innersten Geheimnisse brüderlichen Ohren anvertrauen können. Dazu werden Briefe geschrieben, daß dorthin, wo der Klang der Worte nicht hingelangen kann, sie die Aufgaben der Mitteilung übernehmen; damit wechselseitige schriftliche Bezeugungen der Zuneigung dem jeweiligen brüderlichen Blick erwiesen werden können; damit es zu einer Anwesenheit der Seelen in Liebe kommen kann, wo weit voneinander entfernt liegende Orte körperliche Trennung erzwingen" 1 0 . Vielleicht das eindrucksvollste Beispiel seines christlich fundierten Intellektualismus und Humanismus bietet ein Trostbrief, den Alkuin wahrscheinlich 798 an den kranken Arn richtete: „Was soll ich tun und aus welchem Grund schreibe ich? Nur weil meine Zuneigung nicht zu schweigen versteht und weil es eine gewisse Erfrischung für mein Herz bedeutet, das in Worte zu fassen, worin mein Inneres entbrennt. Und ich weiß, daß Du (Arn) meine Unbeholfenheit geduldig ertragen und mein vertrautes Brieflein nicht verabscheuen wirst. Deswegen schäme ich mich auch nicht, wenn ich bereits früher Gesagtes aufschreibe und mich dabei auch wiederhole. Auch wenn ich nicht mehr weiß, was ich

10 Alkuin, ep. 113 (Monumenta Germaniae Histórica: Epistolae IV, II, S. 166) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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früher geschrieben habe, so bin ich doch immer eingedenk ewiger Zuneigung (zu Dir)" 1 1 . Die Person Alkuins läßt aber gleichzeitig auch die notwendigen Voraussetzungen erkennen, an die nicht nur in diesem Fall intellektuelle Existenz gebunden blieb. Bei Alkuin sind es hochentwickelte geistliche Bildungszentren - die Kathedralschule in York oder das Kloster St. Martin in Tours - , die erst die rechten intellektuellen Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten eröffnen. Hinzu kommen die mäzenatischen Voraussetzungen, die intellektuelles Dasein ermöglichen, bei Alkuin dessen entschiedene Förderung durch Karl den Großen. Aber auch schon bei diesem bedeutenden angelsächsischen Gelehrten beginnt sich ein Problem abzuzeichnen, dem man in der Geschichte des Intellektuellen immer wieder begegnen kann: das spannungsreiche Verhältnis von Theorie und Praxis. Zwar hat Alkuin sehr häufig auf die Mission bei den von Karl den Großen in vielen Feldzügen mühsam unterworfenen Sachsen in christlich-humanistischem Geist einzuwirken versucht, doch hat er an der praktischen Missionsarbeit niemals teilgenommen. Dies mußte geradezu zwangsläufig seinen Einfluß mindern, konnte man doch auch an Alkuin einen den Intellektuellen aller Zeiten gegenüber wohl immer wieder erhobenen Vorwurf richten, mit seinen Ratschlägen, die auf eine innere, „sanfte" Mission mittels Bekehrungsgespräch und Predigt setzten, mehr ein weltfremder Träumer und Idealist denn ein Realist und Praktiker zu sein. II. Zwei Jahrhunderte später hat sich die Situation noch nicht grundlegend verändert. Auch im Falle Gerberts von Aurillac, dem, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, ein Aufstieg beschieden war, der ihn als Papst Silvester II. (999-1003) bis an die Spitze der katholischen Christenheit führte, lassen sich mit Alkuin vergleichbare mentale Charakteristika nachweisen. Wie bereits sein Vorgänger wurde er ein berühmter Lehrer, dessen Ruf weit über den Ort, an dem er unterrichtete, im Falle Gerberts das westfränkische Reims, hinausstrahlte und Schüler aus dem gesamten christlichen Abendland anzog. Auch wenn man nicht allen Aussagen über das äußerst umfangreiche Unterrichtsprogramm Gerberts an der Reimser Kathedralschule Glauben schenkt, so besteht kein Zweifel daran, daß ihn ein besonderer pädagogischer Eros beseelte, der ihn zum damals bekanntesten Lehrer seiner Zeit machte. So entwarf er, modern formuliert, „Unterrichtsmaterialien". 11 Alkuin, ep. 161 (Monumenta Germaniae Histórica: Epistolae IV, II, S. 260) (aus dem Lateinischen übersetzt).

Ausgewählte Beispiele

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Er konstruierte Rechentafeln und entwarf astronomische Sphären-Modelle, um seinen Schülern das Verständnis der Arithmetik, Geometrie und Astronomie zu erleichtern. Einem Freund, der in Aurillac lebte, schrieb Gerbert nach seiner Rückkehr aus dem berühmten Kloster Bobbio (982), wo er als Abt, ohne genügenden Rückhalt beim Kaiser, mit seinem idealistischen Reformprogramm an der rauhen Wirklichkeit überkommener Lehensstrukturen gescheitert war: „ . . . Ich überlasse es auch der Beurteilung anderer, daß ich mich aus Italien zurückgezogen habe, um nicht mit den Feinden Gottes, die auch die Feinde des Sohnes (gemeint ist Otto II.) meines Lehnsherrn göttlichen Angedenkens (Otto I.) sind, paktieren zu müssen, oder daß ich manchmal meinen berühmten und adligen Schülern die süßen Früchte der weltlichen Wissenschaften zum Verzehr anbiete. Aus Liebe zu meinen Schülern habe ich mich vergangenen Herbst an einer schematischen Darstellung der Rhetoriklehre versucht, die aus sechsundzwanzig Pergamentblättern besteht, die miteinander verkettet sind nach der Art einer überlangen Zahl, die sich aus zwei mal dreizehn zusammensetzt. Für die unwissenden Anfänger ist dies wirklich ein Werk zum Staunen, für die Schüler nützlich, um die einzelnen Gegenstände der Rhetorik besser im Gedächtnis zu behalten, die man leicht vergißt und schwer begreift. Wenn also jemand von euch (gemeint sind die Mönche des Geraldus-Klosters in Aurillac) sich für solche Dinge interessiert, oder auch für einen Unterricht in der Musik oder der Orgelbaukunst, die ich selbst nicht unterrichten kann, wenn ich von einem bestimmten Wunsch des Herrn Abtes Raimund (von Aurillac) erfahre, werde ich es durch Constantin in Fleury (mit Gerbert befreundeter Mönch) erledigen lassen. Er ist ein berühmter Lehrer, sehr gebildet und mir in überaus enger Freundschaft verbunden. Lebe wohl, süßer Bruder, genieße meine dauernde Zuneigung Dir gegenüber und denke daran, daß unsere Güter und unser Glück auch die Deinigen sind" 1 2 . Im Vergleich zu Alkuin hat sich der Ton nicht wesentlich verändert. Auch bei ihm ist der Stolz auf die eigene Leistung, das intellektuelle Selbstbewußtsein, das sich mit seinen didaktischen Neigungen eng verbunden hat, unübersehbar. Nicht nur in dem hier herangezogenen Brief an seinen alten Mitbruder in Aurillac, sondern in zahllosen anderen Briefen pflegt Gerbert sehr bewußt den literarischen Freundschaftskult. Auch Gerbert ist überzeugt

1 2 G e r b e r t d ' A u r i l l a c , C o r r e s p o n d a n c e I, 9 2 , e d . P. RICHÉ - J . P. CALLU, P a r i s 1 9 9 3 , S . 2 1 8 / 2 2 0

(aus dem Lateinischen übersetzt).

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von der Macht des geschriebenen und gesprochenen Wortes. Die Macht der Rhetorik, die ihm wie wohl keinem anderen Intellektuellen seiner Zeit zur Verfügung gestanden ist, hat Gerbert ganz unmittelbar erfahren. Bereits in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gab es wenigstens ansatzweise erste Formen einer intellektuellen Streitkultur. Die Disputation, die Gerbert überaus erfolgreich mit seinem Konkurrenten, der gleichfalls Domschullehrer war, führte, gewinnt ihren Wert durch eine bewußt hergestellte Öffentlichkeit, die - an ihrer Spitze Kaiser Otto II. - den Schiedsrichter spielte, den Sieger Gerbert ehrte und durch die Verleihung einer der reichsten norditalienischen Abteien auch materiell belohnte. Sein intellektueller Glaube an die Macht des gesprochenen Wortes mußte durch die erfolgreich bestandene Disputation gestärkt werden. Vielleicht hat sie ihn zu einer gewissen Selbsttäuschung über eigene Einflußmöglichkeiten verleitet. So erwiesen sich die literarischen Selbststilisierungen in Briefen, die Publikationen einschlägiger Prozeß„akten", die rhetorisch vorbereiteten Auftritte auf einschlägigen Synoden, mit denen der mittlerweile zum Erzbischof aufgestiegene Domscholaster versuchte, sein im unruhigen Westfrankenreich durch politische Rochaden leck geschlagenes Schiff wieder flott zu bekommen, als untaugliche Mittel. Gerbert, der sein Amt als Reimser Erzbischof verlor, weil er die Solidarität der französischen Könige verloren hatte, mußte Unterschlupf bei Kaiser Otto III. (983-1002) in Deutschland suchen. Dieser Umstand machte Gerbert, wie schon in anderen vergleichbaren Situationen zuvor, schmerzhaft die große Abhängigkeit des Intellektuellen von der Macht deutlich, die diesen ihrerseits zu ihrer Unterstützung nur sehr partiell gebrauchen kann. Dieser Umstand will erst verkraftet sein, und daher kann ein auch bei Gerbert gelegentlich konstatierbarer intellektueller Hang zum Selbstmitleid und zu einer gewissen Larmoyanz nicht überraschen. Im Sommer des Jahres 997 schreibt der von seinem Reimser Erzbistum nach Deutschland geflüchtete Gerbert an den abwesenden Otto III.: „Die einzelnen Tage werden für mich zu einzelnen Jahren, wenn meine Boten nicht zu mir zurückkommen und wenn auch keine Gesandten von Eurer Majestät zu mir kommen. Voll von Sorgen und voll von Ängsten bringe ich meine Tage und Nächte hin. Das Skythenland 1 3 mehrt die Sorgen, Italien vervielfacht sie. Ich habe Angst, wenn wir die Skythen verlassen sollten; genauso habe ich Angst nicht nach Italien zu gehen. Weil die Italiener - oder vielmehr ihre Gesandten - wenn sie die an ihnen begangenen

13 Hier gemeint die Stammesgebiete der an der Elbe und östlich davon siedelnden Slawen.

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Ungerechtigkeiten aufzählen, auch immer damit deutlich machen, daß es sich um Ungerechtigkeiten Euch gegenüber handelt, was also ist der Grund dafür - das frage ich namens Eurer Gnade - , daß die kaiserliche Majestät so hartnäckig verachtet wird? Und ich frage auch: Und von was für Personen wird die kaiserliche Majestät mißachtet? Ich würde mich wundern, sollten diejenigen straflos Eure Geduld mißbrauchen, die Feigheit für eine Tugend halten, so wie sie nun einmal eingestellt sind. Das wissen wir alle und bräuchten es deshalb eigentlich auch nicht eigens zu erwähnen. Auch wenn in dem mir von Euch geschickten Brief die meiner Person angetanen Ungerechtigkeiten ganz offensichtlich beschrieben werden, so handelt es sich doch mehr um Euch angetane Ungerechtigkeiten, und ich vermag sie nicht gänzlich auf mich zu beziehen, soweit ich sie für die Euren halte" 1 4 . Es ist das alte und das ewig junge Problem, dem sich der Intellektuelle ausgesetzt sieht: seine Abhängigkeit von demjenigen, der die reale Macht in Händen hält. Sie zwingt Gerbert dazu, diese für ihn eher entwürdigenden Zeilen zu schreiben. Nur wenn es gelingt, die eigene Sache auch zur Sache des Kaisers zu machen, kann Gerbert auf die Unterstützung Ottos III. hoffen. Nur mit dessen Hilfe ist eine Restitution auf den Reimser Stuhl denkbar. Ob Gerbert sie tatsächlich bekommen kann, scheint mehr als unwahrscheinlich. Wenigstens zum Zeitpunkt der Abfassung seines Briefes ist er vom Epizentrum der Macht weit entfernt, wie seine Klage über mangelnde Information durch Otto III. deutlich genug belegt. III. Mit der jetzt vorzustellenden Persönlichkeit von Abaelard begeben wir uns bereits in das 12. Jahrhundert, das in der Kultur- und Geistesgeschichte seit langer Zeit als eine Schlüsselepoche angesehen wird. Unabhängig davon, ob man nun diese Zeit bereits als eine „Renaissance" auffaßt oder eine solche Etikettierung eher ablehnt, besteht doch weitgehende Einigkeit über die in dieser Zeit sich vollziehenden vielfachen Veränderungen. Für unser Thema von besonderer Bedeutung ist die in die Lebenszeit Abaelards fallende Herausbildung frühuniversitär geprägter Lebensformen. Nur vor diesem Hintergrund wird Abaelards Lebensweg überhaupt erst verständlich. 1079 als ältestes Kind eines Ritters in der Nähe von Nantes geboren, entscheidet er sich, dessen hohe geistige Begabung sehr früh deutlich wird, bewußt gegen den traditionellen und bequemen Weg, in das väterliche Erbe einzutreten. Obwohl er in seiner Jugend die übliche ritterliche Unterweisung

14 Gerbert d'Aurillac, Correspondance II, 219, S. 576/578 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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erfährt, gilt Abaelards Interesse weniger den Waffen als vielmehr den Wissenschaften, die er bei verschiedenen Lehrern (Roscelinus, Wilhelm von Champeaux, Anselm von Laon u.a.) studiert. 1111 leitet Abaelard bereits eine eigene Schule in Melun südöstlich von Paris, wendet sich nach bisher vor allem der Rhetorik und der Dialektik geltenden Studien nunmehr verstärkt der Theologie zu, lernt 1117 seine Schülerin Heloise kennen und lieben und gerät 1121 endgültig in das Kreuzfeuer kirchlicher Kritik, als die Synode von Soissons sein Werk De unitate et trinitate verbrennen läßt. In den zwanziger Jahren unterbricht Abaelard teils auf kirchlichen Druck, teils auf eigene Veranlassung, seine Lehrtätigkeit und versucht sich mehr oder weniger erfolglos in die Einsamkeit und das Kloster zurückzuziehen, doch Ende 1136 nimmt er seine Lehrtätigkeit in Paris wieder auf. Aber schon wenige Jahre später kommt es 1140 durch die Intervention seines unversöhnlichen Gegners, Bernhards von Clairvaux, auf dem Konzil von Sens zu einer erneuten Verurteilung Abaelards, der sich in das Kloster Cluny zurückzieht und dort 1142 stirbt. Auch im Falle Abaelards können wir wie bei den bereits zuvor besprochenen Persönlichkeiten auf briefliche Quellen zurückgreifen, um die historische Persönlichkeit genauer zu erfassen. Freilich ist die Benutzung der Briefe Abaelards insofern nicht ganz unproblematisch, weil ihre Authentizität in der Forschung nicht unumstritten geblieben ist. Dennoch geht in jüngster Zeit die Mehrheit der Forscher von einer Echtheit der Briefe aus, auch wenn spätere Überarbeitungen, Zusätze und Verfälschungen durch Dritte natürlich nicht auszuschließen sind. Den besten und - unter der stillschweigenden Annahme seiner Echtheit - unmittelbarsten Zugang zu Abaelards Intellektuellenmentalität bietet der erste und zugleich berühmteste Brief Abaelards, die „Geschichte seiner Unglücksfälle" (Historia Calamitatum). Er resümiert in autobiographischer Absicht das Leben und Lehren eines berühmten Magisters in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im bereits universitär anmutenden Schulmilieu Nordfrankreichs. Es handelt sich um Memoiren eines „Professors", der sich seines eigenen Wertes immer bewußt bleibt. Das bei Alkuin und Gerbert bereits unverkennbar sich abzeichnende Selbstbewußtsein tritt bei Abaelard in deutlich gesteigerter Form auf und hat ganz offensichtlich die Schwelle zur intellektuellen Arroganz bereits überschritten: „Schließlich kam ich (Abaelard) auch nach Paris, dem alten Mittelpunkt der logischen Studien, und zwar wurde Wilhelm von Champeaux mein Lehrer; seine Logikvorlesungen waren damals berühmt und verdienten es auch. Ich

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studierte eine Zeitlang bei ihm und war anfangs lieb Kind; später wurde ich ihm mehr als lästig, suchte ich doch etliche seiner Thesen zu widerlegen und gestattete mir, Gegengründe aufmarschieren zu lassen, was mir einige Male im Wortgefecht einen klaren Sieg über den Professor einbrachte. Ein solcher Sieg empörte auch die Kommilitonen, die schon einen Namen hatten, und sie empörten sich um so stärker, da ich der Jüngste war und noch kein so langes Studium hinter mir hatte. Das gab das erste Glied der Leidenskette, die noch kein Ende hat; mit der Ausbreitung meines Ruhms schürte ich den Neid der Fremden; obendrein traute ich meinem Kopf größere Kraft zu, als ich es meinen Jahren nach tun durfte: Ich wollte, jung wie ich war, selber eine Schule gründen; als Schulort faßte ich Melun ins Auge; dieser feste Platz hatte damals ohnehin einen Namen und war außerdem königliche Residenz. Mein Lehrer Wilhelm erriet den Plan. Er wollte die Neugründung von seiner alten Schule wenigstens möglichst weit weg haben und bot deshalb insgeheim alles auf, solange ich noch seiner Schulgemeinde angehörte, die Gründung überhaupt zu hintertreiben oder mindestens den geplanten Schulort mir zu nehmen. Aber einige der Großen des Landes waren seine Gegner; mit ihrer Hilfe konnte ich meinen sehnlichsten Plan erfüllen, und weil Wilhelm seine Gehässigkeit nun offen zeigte, bekam ich gerade dadurch noch viele Gönner. Gleich diese erste Vorlesungstätigkeit ließ meine Meisterschaft in der Logik überall bekannt werden und brachte den Stern meiner früheren Kommilitonen zum Sinken, ja sogar den meines alten Lehrers. Mein Selbstvertrauen stieg so immer mehr, und ich verlegte meine Schule schleunigst nach Corbeil; die größere Nähe von Paris sollte mir in meinem Ungestüm häufiger Disputationen gestatten ... Ich ging jetzt wieder zu Wilhelm, um Rhetorik bei ihm zu hören. Abgesehen von den sonstigen Redegefechten, die wir einander lieferten, ging der Kampf vor allem um seine alte Lehre von den Universalien (Allgemeinbegriffe); In unwiderlegbarer Beweisführung brachte ich ihn dazu, seinen Lehrsatz umzubiegen, besser gesagt aufzuheben ... Durch diesen Vorfall wurde meine Schule innerlich kräftig und bekam einen solchen Namen, daß alles in ihr zusammenströmte, was zuvor auf unseren gemeinsamen Lehrer Wilhelm geschworen hatte und ein Todfeind meiner Schule war. Sogar Wilhelms Nachfolger auf dem Pariser Lehrstuhl bot mir sein Katheder an, um im gleichen Hörsaal mit den anderen bei mir zu hören, in dem zuvor unser gemeinsamer Lehrer Wilhelm so geglänzt hatte. Ich leitete das logische Studium noch gar nicht lange, als Wilhelm vor Neid geradezu krank wurde und sich in seinem Schmerz geradezu

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verzehrte. Lange hielt er es nicht aus, sein Mißgeschick brannte ihn zu sehr, und so machte er sich mit List und Tücke daran, mich auch jetzt wieder aus dem Sattel zu heben. Offene Angriffspunkte bot ich ihm nicht, aber er griff den Mann an, der mir seinen Lehrstuhl abgetreten hatte, warf ihm die schmutzigsten Dinge vor und setzte einen anderen auf den erledigten Lehrstuhl, gerade einen meiner Gegner. Ich ging nach Melun zurück und hielt meine Vorlesungen wie zuvor. Mein Ruhm wuchs entsprechend der unverhüllten Eifersucht, mit der mich Wilhelm verfolgte, so wie es Ovid schildert:,Großem nahet der Neid und der Wind umbrauset die Wipfel'" 1 5 . Auch wenn die soeben zitierte Passage mit mancherlei guten Gründen in ihrer Authentizität bestritten worden ist - beispielsweise war Melun zur Zeit Abaelards noch keine königliche Residenz so bleibt sie doch wertvoll als eindrucksvolles Zeugnis, wenn vielleicht auch nicht Abaelardscher, dann doch zumindestens universitärer Intellektuellenmentalität, die auch einen Abaelard ebenfalls ausgezeichnet haben muß. Die Freude an der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Gegner ist längst umgeschlagen in eine äußerst aggressive Auseinandersetzung mit dem einstigen Lehrer und jetzigen Kollegen, die in einer Schlammschlacht endet, wobei die verfeindeten Parteien auf Unterstützung durch die jeweilige Schülerschaft hoffen und das außeruniversitäre Umfeld für sich zu mobilisieren suchen. Abaelard hat sich in Studium und Lehre nicht auf die einführenden philosophischen Fächer Rhetorik und Dialektik (Logik) beschränkt, sondern wandte sich danach auch der Theologie zu. Doch auch diesmal fällt das Urteil über seinen akademischen Lehrer überaus hart aus: „Wilhelm von Champeaux genoß wohl in seiner Diözese Chälons den Ruf eines tüchtigen Theologen; aber sein Lehrer Anselm von Laon galt seit alters her als die größte theologische Autorität überhaupt, und seine Wertschätzung dauerte damals noch an. Darum entschloß ich mich, bei ihm Theologie zu studieren. Aber Anselm war eben ein alter Mann und dankte seinen großen Namen der Routine, die er sich in langen Jahren erworben hatte, jedoch kaum einer besonderen geistigen Begabung. Wenn man ihn allein besuchte und sich über irgendwelche Fragen beraten lassen wollte, ging man noch ratloser

15 Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, übertragen und herausgegeben von E. BROST, 1984, S. 10-13.

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weg, als man gekommen. Eine bewundernswerte Erscheinung, wenn er im Hörsaal allein das Wort führte, aber eine Null, wenn man ihm Fragen stellte. Seine Wortfülle war erstaunlich, aber was dahinter steckte, waren armselige Allerweltsgedanken; sein Feuer füllte das Haus mit Rauch, aber es leuchtete nicht. So war er: ein Baum mit reicher Krone, staunenswert schön in der Fernsicht, aber betrachtet man ihn aus der Nähe, so kann auch das sorgsamste Auge keine Frucht erblicken. Und wie ich nun von seinem Baum die Früchte pflücken wollte, da wurde es mir klar: Er war der Feigenbaum, den der Herr verflucht, oder die alte Eiche, mit der Lukan seinen Pompeius vergleicht: , . . . ein Schatten einstigen Glanzes/steht er noch; so ragt hoch im Fruchtgefilde/ der E i c h b a u m ' " 1 6 . Aber nicht allein sein hohes Selbstbewußtsein, sein pädagogisches Sendungsbewußtsein, seine immerwährende, bis an das Lebensende reichende Bereitschaft zu intellektuellen Auseinandersetzungen mit anerkannten Autoritäten, die Überschätzung menschlicher Einsichtsfahigkeit, die optimistische Hoffnung auf den intellektuellen Diskurs und den damit verbundenen Glauben an die Macht der Vernunft - in seinem berühmtesten Werk Sic et Non hatte er formuliert: „Der erste Schlüssel zu Einsicht und Erkenntnis (sapientia) ist das Fragen" (prima sapientiae clavis est interrogatio) - machen Abaelard zum typischen Intellektuellen. Vielmehr tritt auch bei ihm ein häufiges, bereits konstatiertes Problem vieler, gerade auch mittelalterlicher Intellektueller auf: das Scheitern in einer Umgebung, die nicht akademischintellektuell geprägt ist. Es bestehen zwischen Gerbert und Abaelard überraschende Parallelen, denn beide scheitern sie an der rauhen Wirklichkeit und an den aus ihr erwachsenden praktischen Anforderungen, die sie in ihrer Funktion als Äbte eines Klosters nicht meistern können. Beide zeichnen sie sich durch eine gewisse „Weltferne" aus. Als zartere Pflanzen gedeihen sie wirklich gut nur in einem intellektuell bestimmten Klima. Abaelard, seit 1128 Abt des bretonischen Klosters St. Gildas in Rhuys bei Vannes, wird, genau wie Gerbert, zerrieben zwischen reformunwilligen Mönchen einerseits und einem mächtigen Lokaladel andererseits, der bereits seine begehrlichen Blicke auf das Klostergut geworfen hat: „Die Abtei selbst hatte ein hochmögender Dynast der Gegend sich schon seit langer Zeit zinspflichtig gemacht; er hatte die im Kloster herrschende Unordnung dazu mißbraucht, sich den Nießbrauch des gesamten Kloster16 Abaelard, Die Leidensgeschichte, ed. BROST, S. 14-15.

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gutes anzueignen und die Mönche noch schlimmer zu brandschatzen als seine Schutzjuden. Die Mönche lagen mir immerzu in den Ohren mit ihres Lebens täglicher Notdurft. Sie hatten keinen Besitz mehr, mit dessen Ertrag ich ihre Anliegen hätte befriedigen können, sondern jeder hatte auf die Vermögenswerte zurückgegriffen, die er bei seinem Eintritt ins Kloster eingebracht hatte und suchte damit, sich mit Kebsweibern und Kindern zu unterhalten. Sie empfanden eine boshafte Freude daran, wenn ich in peinliche Verlegenheit geriet; außerdem stahlen sie und verschleppten sie alles, was sie erreichen konnten; kam ich dann in der Verwaltung der Abtei nicht zurecht, dann mußte ich - so war ihr Gedanke - entweder mildere Saiten aufziehen oder mein Amt niederlegen. Die ganze wilde Horde dort im Lande war ohne Ausnahme genauso gesetz- und zuchtlos wie meine Mönche; ich hatte also keinen Menschen, bei dem ich hätte Unterstützung suchen können, zumal mir eine Anpassung an den Landesbrauch ganz unmöglich war. Draußen der gewalttätige Herrscher und seine Trabanten, die mich immerfort offen bedrohten, und innen die Klosterbrüder, die gegen mich ohne Ende intrigierten! Wie gut traf des Apostels Wort meine wirkliche Lage: ,Auswendig Streit, inwendig Furcht!' Ich jammerte oft bei dem Gedanken, wie zwecklos und elend ich hier mein Leben hinschleppte, ohne für mich oder für andere eine Frucht daraus entstehen zu lassen. Was hatte ich zuvor in meiner Einsiedelei für meine Studenten, die nur Kleriker waren, schaffen dürfen! Dann hatte ich sie verabschiedet, um meinen Mönchen zu dienen, und der Erfolg - jetzt hatten meine Schüler und die Mönche nichts von mir! Ich konnte jetzt anfangen, was ich wollte, meinen Mühen blieb der Erfolg versagt. Mit vollem Recht durfte man mir bei allem das Wort der Heiligen Schrift vorhalten: .Dieser Mensch hob an zu bauen, und kann's nicht hinausführen'" 17 . IV. Auch Leben und Wirken von Francesco Petrarca (1304-1374), der bis heute der Forschung als d i e zentrale Persönlichkeit des Frühhumanismus gilt, läßt sich als Beispiel einer typisch „intellektuellen" Existenz mit allen ihren Schwierigkeiten und Widersprüchen verstehen. Im Vergleich zu Abaelard haben sich die historischen Rahmenbedingungen zugegebenermaßen verändert, doch geblieben ist die Grundproblematik jeder intellektuellen Existenz: die Frage nach dem eigenen Engagement, die sich bei Petrarca, wie gleich zu zeigen sein wird, besonders kraß stellt. 17 Abaelard, Die Leidensgeschichte, ed. BROST, S. 58-59.

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In Florenz als Sohn eines bald exilierten städtischen Notars geboren, mußte Petrarca nach einem unsteten Wanderleben bereits als Zwölfjähriger zusammen mit seinen Eltern Italien verlassen und nach Avignon ziehen, das durch die Übersiedlung des Papsttums sehr rasch seinen kleinstädtischen Charakter verloren und sich zu einer multikulturell geprägten Großstadt mit heute noch beeindruckenden päpstlichen Monumentalbauten entwickelt hatte. Petrarca hielt es nicht lange in dem von ihm wenig geliebten Avignon aus. Dank der Unterstützung der einflußreichen römischen Adelsfamilie der Colonna, deren Gunst er sich erfreute, und gleichermaßen ermutigt durch frühe dichterische Erfolge, konnte es sich Petrarca leisten, Avignon, dem gehaßten „Sündenbabel", wenigstens temporär immer wieder den Rücken zu kehren und in Anknüpfung an antike Ideale ein Leben fernab der Stadt auf dem Lande zu führen. Wachsender Ruhm, der sehr rasch vor allem nach Italien drang, brachte Petrarca 1341 die Dichterkrönung auf dem römischen Kapitol ein. Es folgten zahlreiche weitere Reisen des immer bekannter und berühmter werdenden Dichters und Kenners des klassischen Altertums, die ihn vor allem nach Italien, einmal aber auch nach Prag (1356) und nach Paris (1360) führten. Seinen ständigen Aufenthalt nahm Petrarca, der die Provence 1353 endgültig verlassen sollte, schließlich an den Fürstenhöfen von Padua und Mailand. In Arquä, unweit von Padua, vollendete sich 1374 sein Leben. Wie die zuvor bereits behandelten „Intellektuellen", so zeichnete sich auch Petrarca durch ein hohes Maß an Selbstbewußtsein aus. Er war sich seines Wertes als Schriftsteller und als Kenner antiker Literatur und antiker Geschichte sehr wohl bewußt. Einen überaus großen Platz nahm bei Petrarca wie in vergleichbaren Fällen zuvor der Kult der Freundschaft ein, der von ihm gleichfalls in Nachahmung derselben antiken, namentlich ciceronianisch geprägten Modelle zelebriert wurde und wie schon bei Alkuin und Gerbert sich auch und vor allem in der literarischen Gattung des Briefes äußerte. Wenn auch in ungleich geringerem Maße als Alkuin und Gerbert, übte er eine Beraterfunktion für den Herrscher aus. Von Kaiser Karl IV. (1346 bis 1378) als Gutachter bestellt, konnte er eine dem Herrscher vom österreichischen Herzog Rudolf IV. dem Stifter (1358-1365) zur Bestätigung eingereichte Urkunde als Fälschung entlarven. Auch ihn erfüllte gleich Abaelard eine intellektuelle Streitlust. Meisterhaft nutzte Petrarca die vielfältigen literarischen Formen, die Invektive, die anonym erscheinende Schmähschrift, den offenen Brief, um Stellung zu beziehen gegenüber den großen Themen seiner Zeit, und wie schon seine Vorgänger vertraute auch Petrarca

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allzu optimistisch der Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes. So verhallten seine zahllosen Appelle ungehört, mit denen er gleichermaßen die in Avignon verharrenden Päpste wie den sich immer stärker auf seine Stamm- und Erblande zurückziehenden Kaiser Karl IV. aufforderte, doch endlich in Rom ihre angestammten Sitze einzunehmen. Und ebensowenig gelang ihm der Sieg über die von ihm zeitlebens erbittert bekämpften Universitätsgelehrten, die sog. Averroisten, nach der Meinung Petrarcas engherzige Scholastiker, (als Anhänger des bedeutendsten Aristoteles-Kommentators Averroes nach diesem bezeichnet). Besser als alles andere verdeutlicht freilich seine Freundschaft mit dem römischen Revolutionär Cola di Rienzo (gest. 1354) den inneren Zwiespalt, der mit Petrarcas Existenz als Intellektueller fast schon notwendigerweise verbunden war. Es ist Pfingsten, ein Sonntagmorgen im Mai des Jahres 1347, als sich eine feierliche Prozession auf das Kapitol zubewegt. Oben angekommen, besteigt ein gewappneter Mann - es handelt sich um den römischen Notar und städtischen Kämmerer - die Rednertribüne. Die Überraschung gelingt. Colas Rede über den totalen Verfall der Stadt Rom, die zur „Räuberspelunke" verkommen sei, wird vom anwesenden Publikum begeistert aufgenommen. Geschickt versteht es Cola, bestehende soziale Gegensätze und Spannungen für sich auszunutzen. Er macht sich zum Wortführer der wirtschaftlichen Interessen des römischen Bürgertums: Das administrative Versagen der bisherigen, vom römischen Feudaladel getragenen senatorischen Verwaltung habe dazu geführt, daß „ - oh weh! Pilgerzüge und Reisen des Ablasses wegen und Besuchsfahrten zu den Allerheiligsten Aposteln Petrus und Paulus, den Bürgern und Fürsten unserer Stadt, und zu den anderen heiligen Aposteln, von denen immerhin acht in unserer Stadt begraben liegen, und Besuche bei den anderen unzähligen Märtyrern und Jungfrauen, deren Blut die Stadt ihre Heiligkeit verdankt, schon beträchtlich abgenommen haben. Es gibt sie j a schon fast nicht mehr!" 1 8 Bereits vier Tage später amtiert Cola als „Tribun der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit und als Befreier der heiligen römischen Republik". Aufkommenden Widerstand des Adels bricht Cola entschlossen und hart. Der eigentliche Herr der Stadt Rom, der in Avignon residierende Papst 18 K. Burdach/P. Piur, Briefwechsel des Cola di Rienzo III, 1912, Nr. 7, S. 20 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Clemens VI. (1342-1352), ist beunruhigt. Er steckt in der Zwickmühle: Er weiß, daß er durch seinen ständigen Aufenthalt an den Ufern der Rhone die Gefühle, vor allem aber auch die wirtschaftlichen Interessen der bisher vergeblich auf eine Rückkehr des Pontifex Maximus hoffenden Römer tief verletzt hat. Und er weiß um die überwältigende Zustimmung der Bürger zu Cola. So macht er vorläufig das Beste aus der Situation und ernennt ihn, den er auch persönlich kennt, zum Rektor der Stadt mit allen dazugehörenden Vollmachten. An seine Seite stellt er ihm, quasi als Aufpasser, noch einen Kollegen, den Bischof von Orvieto. Die Bestallung Rienzos ist nichts anderes als der päpstliche Versuch, die Revolution im nachhinein zu legitimieren. Der Plan scheint auch aufzugehen, da der Revolutionär mit dem Papst nicht brechen will. Immer wieder versucht er, sich dessen Unterstützung zu sichern. Er verspricht Clemens VI. wiederholt, die Rechte des Papstes, der Kardinäle, der Kirche nicht anzutasten: „Es gab niemals einen Tag (in meinem Leben), an dem ich es ins Werk gesetzt hätte oder auch nur im Traum daran gedacht hätte, etwas gegen die Heilige Kirche und die kirchliche Freiheit und gegen Eure Heiligkeit zu unternehmen. Und diejenigen, die behaupten, ich hätte einen Kleriker verbrennen lassen oder sonst irgendeinen Kleriker ungerechterweise belästigt, sind verbrecherische und teuflische Lügner" 1 9 . Rienzo schließt seinen Brief an den Papst, aus dem wir soeben zitiert haben und der vom 5. August 1347 datiert, mit einem eigenhändigen Zusatz. Den topischen Schluß seines Briefes, die Bitte um Korrektur, verbindet er mit einer erneuten Ergebenheitsadresse: „Darüber hinaus, Heiligster Vater, vermag ich es nicht, mich auch noch um die Korrektur meines Briefes an Dich zu kümmern. Da meine Zeit für die vielen Aufgaben nicht ausreicht, habe ich kaum Zeit für den Entwurf des Briefes gehabt. Ertragt also vorkommende Fehler mit Nachsicht und verbessert sie. Seht sie nur als Fehler eines Schreibenden an, da doch die Zuneigung des getreuen Schreibers ganz rein, voller Verehrung und Demut ist". 2 » Der Papst ist nicht der einzige in Avignon, der die Vorgänge in Rom mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtet. Auch Petrarca, der nach seiner Dichterkrönung und nach ausgedehnten Reisen sich wieder in der Umgebung 19 BURDACH/PIUR, Nr. 28, S. 115 (aus dem Lateinischen übersetzt). 20 BURDACH/PIUR, ebd. (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Clemens VI. aufhält, verfolgt die in Rom sich abspielenden Ereignisse mit größtem Interesse. Für ihn ist Cola di Rienzo kein Unbekannter mehr. Der Dichter hatte Cola anläßlich dessen Avignonreise 1343 kennen- und schätzengelernt. Petrarca gab sich damals entzückt: „Wenn ich mir unser allerheiligstes und gleichzeitig so tiefgründiges Gespräch ins Gedächtnis zurückrufe, das Du mit mir vor drei Tagen vor den Türen des altehrwürdigen Tempels (in Avignon) führtest, wird mir noch jetzt ganz warm ums Herz und mir ergeht es so, daß ich glaube, aus dem Allerheiligsten sei ein Orakel ausgegangen, und daß es mir so vorkommt, als hätte ich einem Gott gelauscht, nicht einem Menschen. So sehr schienst Du mir den gegenwärtigen Zustand, oder genauer gesagt, den Verfall und den Ruin der göttlichen Republik (gemeint ist Rom) zu beweinen, und so tief schienst Du die Finger Deiner Rede auf unsere Wunden zu legen, daß sich Schmerz auf meine Seele, Trauer auf meine Augen legt, sooft die Erinnerung an unser Gespräch zurückkehrt... Und war ich vor diesem Tag bereits häufig (in Gedanken) bei Dir, so bin ich in besonderer Weise nach diesem Tag noch häufiger als gewohnt bei Dir; macht sich jedesmal häufig Verzweiflung, bald Hoffnung bei mir breit; oft aber sage ich insgeheim zu mir, wenn mein Herz zwischen Bangen und Hoffen hin und her gerissen ist: 'Oh, wenn doch ... Oh, wenn es doch zu meinen Lebzeiten noch geschehen könnte ... Oh, wenn ich doch nur an einem so berühmten Werk mich ruhmvoll beteiligen könnte" 2 1 . Vier Jahre später, im Frühsommer des Jahres 1347, ist die von Petrarca ersehnte Veränderung endlich eingetreten. Mitte Juni schreibt der Dichter dem Politiker einen langen Brief. Er gratuliert ihm zum erworbenen Ruhm wie zur wiedergewonnenen Freiheit der Ewigen Stadt. Und er erteilt Ratschläge. Es sind die Ratschläge eines im Grunde zutiefst unpolitischen Intellektuellen. Und vor allem sind es heroische Durchhalteappelle angesichts der möglicherweise sich schon bald formierenden Adelsreaktion: Niemand, der seine fünf Sinne beeinander habe, könne jetzt noch daran denken, in Zukunft ein Leben in Unfreiheit zu führen. Er, Petrarca, setze darauf, daß die Erinnerung an die vergangene Knechtschaft schon dafür sorgen werde, daß niemand mehr, wenn er denn überhaupt nur einen Tropfen römischen Blutes in sich verspüre, jemals dem Leben vor der Freiheit den Vorzug einräumen werde.

21 BURDACH/PIUR, Nr. 3, S. 9 - 1 0 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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„Im übrigen", so fügt Petrarca noch hinzu, „wenn Du (Cola) Dich zum Schlafen niederlegst, oder wenn Du, ohne Schlaf zu finden, daliegst, ... dann sorge auch ausreichend für Deine geistige Nahrung. Lies, wann immer Du Zeit hast, und wenn Dir das zu unbequem ist, dann laß Dir wenigstens vorlesen. Nimm Dir Augustus als ein leuchtendes Vorbild, von dem geschrieben steht, daß er, wenn er zu Bett gegangen war, höchstens sieben Stunden, und die noch nicht einmal am Stück, geschlafen hat. Zwei- bis dreimal sei er dazwischen aufgewacht, und konnte er dann nicht mehr einschlafen, was passierte, dann ließ er Vorleser oder Geschichtenerzähler kommen. Über ihn liest man ferner, daß er so sparsam mit seiner Zeit umging, daß er auch beim Scheren des Bartes und beim Rasieren las oder schrieb" 2 2 . Das Ende des Briefes legt den Schluß nahe, daß es Petrarca bei seinen Ratschlägen selber nicht ganz wohl gewesen sein muß. Seine Verunsicherung gründete sich auf den Umstand, daß er zwar mit wohlfeilen Ratschlägen nicht gegeizt hatte, es aber an etwas Wesentlichem, ja an etwas Entscheidendem selber fehlen ließ, am eigenen Engagement, am offensiven, tatkräftigen Einbringen der eigenen Person. Der Entschuldigung, die Petrarca vorbringt, mangelt es an Überzeugungskraft; sie zeugt vielmehr von schlechtem Gewissen: „Aber ich fürchte schon, daß ich Euch mehr als billig durch bloße Worte hinhalte, zumal in einer Zeit, da Taten nötiger sind. Da aber mir aufgrund meiner Berufung und meines Lebensschicksals eigene Taten verwehrt sind, bleibt mir als einzige Möglichkeit einer Unterstützung das Wort. Und zuerst war ich - ich räume es ein - aufgeschreckt durch die weithinschallenden Gerüchte, neidisch auf Euer ehrenvolles Amt (das Volkstribunat des C.), und ich habe mir mein eigenes Schicksal durch vielfaches Klagen schwergemacht, weil es mich von der gegenwärtigen großen Freude ausgeschlossen macht. Aber damit es mich doch nicht ausschließt, erreichte mich über Land und Meer ein für einen Mann angemessener Teil der Freude. Unverzüglich habe ich deshalb zur Feder gegriffen, damit wenigstens meine Stimme aus der Ferne gehört wird und damit ich wenigstens auf diese Weise meiner Aufgabe als römischer Bürger nachkomme, wenn das Volk sich schon mit solch großer würdiger Übereinstimmung zur Freiheit bekennt. Übrigens denke ich daran, daß ich das, was ich jetzt in Prosa niedergeschrieben habe, vielleicht schon bald in einer anderen Schreibart behandeln

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Burdach/Piur, Nr. 23,

S. 7 6 - 7 7 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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werde, vorausgesetzt, Ihr setzt, was ich hoffe und wünsche, so ruhmreich und beständig Euren Weg fort, wie Ihr ihn angefangen habt.. ," 2 3 Man kann sich die Enttäuschung Cola di Rienzos über diesen flauen Brief Petrarcas sicherlich nicht groß genug vorstellen. Das Schreiben ist geprägt vom Selbstbewußstein eines eitlen Dichterfürsten, der sich einzig eine Rolle als Sänger der Revolution vorstellen kann; dies aber auch nur dann, wenn Cola weiterhin so erfolgreich, wie er angefangen hat, auf seinem Weg fortschreitet. Dann, aber auch nur dann, kann sich Petrarca vorstellen, die Ereignisse auch dichterisch zu behandeln. Was er aber ausdrücklich verweigert, ist das eigene Engagement. Daß Petrarca nicht im mindesten gewillt ist, seine bequeme Zuschauerrolle aufzugeben, zeigt der vergebliche Versuch Rienzos, ihn nach Rom einzuladen und damit das große dichterische Prestige Petrarcas auch politisch für sich und seine Sache nutzbar zu machen. Petrarca jedoch zieht sich aus Avignon zurück und flieht in die sommerliche Idylle der Provence, die er in einem Brief aus dem August 1347 dem in jener Zeit wahrlich mit anderen Dingen belasteten Volkstribunen ausführlich beschreibt. Im November desselben Jahres - der nervenschwache Cola di Rienzo war bereits erheblich unter Druck geraten, und eine Unterstützung seiner Person wäre notwendiger denn je gewesen gibt Petrarca seine Reisepläne in die Ewige Stadt, die er nie ernsthaft betrieben haben dürfte, endgültig auf. Am 15. Dezember tritt Cola di Rienzo von seinem Amt als Volkstribun zurück, nachdem seine italienische Sammlungspolitik gescheitert war und sich auch der Papst in Avignon offen gegen ihn gestellt hatte. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, inwieweit eine eindeutigere Unterstützung Petrarcas den Volkstribunen länger hätte stützen können. Es bleibt aber das politische Versagen des Intellektuellen Petrarca zu konstatieren. Aus welchen Gründen auch immer: aus Gründen der eigenen Bequemlichkeit - das schattige und kühle Tal, in dem sein provenzalischer Landsitz liegt, ist allemal bequemer als das heiße und gefährliche Rom; aus fehlendem Mut, aus der Angst, mit seinen adligen Gönnern in Avignon und Rom, den Colonna, offen brechen zu müssen, die gleichzeitig die erbittertsten Feinde des Cola waren. Dieses Versagen wiegt umso schwerer, als Petrarca in dem schon zitierten Gespräch mit seinem Freund Cola ganz offen den Wunsch nach aktiver Teilnahme, nach Partizipation und Engagement, geäußert hatte. 23 BURDACH/PIUR, Nr. 23, S. 8 0 - 8 1 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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V. Anders als Petrarca scheute der jetzt abschließend zu betrachtende „Intellektuelle" vor eigenem Engagement keineswegs zurück; ja dieses war vielmehr untrennbar mit seiner Person verbunden. Es handelt sich um Nikolaus von Kues (1401-1464), den man mit einigem Recht als den „bedeutendsten Deutschen des Spätmittelalters" bezeichet hat. Das Prestige, das er genoß, und die Anerkennung, die er erfuhr, beschränkten sich freilich vornehmlich auf die päpstliche Kurie und die mit ihr mehr oder weniger eng verbundenen italienischen Humanistenkreise. In Deutschland begegnete man ihm schon zu seinen Lebzeiten mit unverhohlenem Mißtrauen, das bisweilen in offene Ablehnung und gewalttätigen Widerstand umschlagen konnte. Auch spätere Zeiten konnten sich aus den unterschiedlichsten Gründen mit dem Cusaner nicht so recht anfreunden. Erst die seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts verstärkt einsetzende Cusanus-Forschung hat es vermocht, ein historisch gerechteres Bild von ihm zu zeichnen, auch wenn bis in die jüngste Gegenwart hinein immer wieder auch die Schattenseiten dieses Mannes verschwiegen werden, der die eigene Existenz durch den Erwerb zahlreicher kirchlicher Pfründen höchst erfolgreich abgesichert hatte. Erklärbar wird dieses nach modernen Moralvorstellungen eher kritisch zu betrachtende Verhalten nicht nur vor dem historischen Hintergrund einer auf Benefizienvergabe beruhenden spätmittelalterlichen Kirchenverfassung, sondern auch durch die besondere Situation, in die sich Nikolaus von Kues gestellt sah und die ganz wesentlich mit seiner Intellektuellenexistenz zusammenhängt. So verdankte auch der Petrarcakenner Nikolaus, wie die zuvor dargestellten Intellektuellen - sieht man einmal von dem Sonderfall Abaelard ab seinen gesellschaftlichen Aufstieg der Kirche. Vor allem und noch immer stellte die Kirche diejenige Institution dar, in der sozialer Aufstieg dank eigener überlegener geistiger Qualitäten noch am ehesten möglich war. Insofern erscheinen die Karrieren von Gerbert und Nikolaus unbeschadet aller historischen Unterschiede durchaus vergleichbar, denn beide entsprechen sie dem Typ des homo novus, des Emporkömmlings aus bescheidenen sozialen Verhältnissen, seien es nun die namentlich gar nicht bekannten Eltern wie bei Gerbert, oder seien es die beengten Verhältnisse eines Moselschifferhauses, dem Nikolaus entstammte. Die bei beiden vergleichbare Sozialisation kann vielleicht auch erklären, daß sowohl für Gerbert wie für Nikolaus die finanzielle Sicherung der Existenz einen so wichtigen Platz in ihrem Denken und Handeln einnahm, was man freilich immer wieder kritisch oder doch zumindestens mit einem Stirnrunzeln beanstandet hat, vor allem, wenn auf die Diskrepanz zwischen hohem intellektuellem Geistesflug und kleinlicher Sorge um die eigenen Finanzen verwiesen wird.

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Freilich nicht allein die Karrieremuster von Gerbert und Nikolaus weisen überraschend viele Gemeinsamkeiten auf. Beide waren sie Kardinäle, und auch der Kusaner hätte fast, wie vor ihm der Mann aus der Auvergne, die cathedra Petri bestiegen. Aber die Gemeinsamkeiten reichen weiter und gehen tiefer. Beiden gemein ist der unbedingte Wille zur Reform, und beide scheitern sie bei der Umsetzung der Idee in die Praxis. Und auch die Gründe ihres Mißerfolges scheinen teilweise vergleichbar zu sein: die unübersehbare Intransigenz ihres reformerischen Anliegens, die einhergeht mit einer gewissen Ungeschicklichkeit ihres Vorgehens, mit einem Mangel an diplomatischem Einfühlungsvermögen, vor allem aber das nicht zu übersehende Unvermögen, gewachsene historische Machtstrukturen erkennen zu können, was dazu führte, daß sie sich blutige Köpfe holten. Für Nikolaus von Kues muß besonders an seine durch zahlreiche Quellen hervorragend dokumentierte und daher auch besonders eindringlich erforschte Zeit als Füstbischof von Brixen (1450-1460) gedacht werden. Was scheinbar als Höhepunkt seines Wirkens begonnen hatte, sollte für Nikolaus als „zerstörerische Tragödie" (E. Meuthen) enden. Bereits die Anfänge waren alles andere als günstig. Nikolaus verdankte seine Bischofseinsetzung (23. 4. 1450) nicht etwa einer Wahl des dafür eigentlich zuständigen Brixener Domkapitels, das sich bereits für einen „Einheimischen", Leonhard Wismayer, Pfarrer von Dorf Tirol und darüber hinaus Rat des Herzogs Sigismund von Tirol, des gefährlichsten Gegners von Nikolaus, entschieden hatte. Dieser Umstand bedeutete zumindest eine moralische Schwächung seines reformerischen Anliegens, hatte Nikolaus in einer vergleichbaren Situation doch die Wahlrechte des Kapitels betont. Entscheidend war freilich, wie sich hinterher sehr bald herausstellen sollte, die Tatsache, daß auch der Herzog von Tirol und der einheimische Adel den landfremden Reformer entschieden ablehnten. Hinter dem Kusaner standen nur Papst Nikolaus V. und Kaiser Friedrich III., die sich beide freilich zu einer effektiven Unterstützung nicht entschließen konnten. Auch hier sind Parallelen - bei Anerkennung aller Unterschiede - zu Gerbert wiederum unübersehbar. Reform und Reformer werden von außen oktroyiert. Für den selbstbewußten Tiroler Adel handelte es sich bei dem Mosellaner Nikolaus ebenso um einen „Ausländer", auch wenn er, im Unterschied zum „Franzosen" Gerbert im italienischen Bobbio, wenigstens dieselbe Sprache benutzte. Sollte die von Nikolaus angestrebte grundlegende Reform seines Bistums nur einigermaßen Aussicht auf Erfolg haben, dann war er entscheidend auf die Unterstützung durch Dritte angewiesen. Da er diese nicht bekam, weder im Lande selbst - der Herzog und der einheimische Adel

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lehnten ihn ab - noch von außen, war das Scheitern schon vorprogrammiert. So deutlich die historischen Unterschiede zwischen Gerbert und Nikolaus sind, so unverkennbar sind die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Persönlichkeiten. Beiden geht es um die Reform von kirchlichen Mißständen, sei es nun in einem einzelnen Kloster oder in einem ganzen Bistum. Auch der Ansatz ist der gleiche. Beide Reformer wollen zurückkehren zur „Regel", zur „Observanz", an der sich das kirchliche, und das heißt bei Nikolaus von Kues, vor allem auch das klösterliche Leben, orientieren soll. Da beide nichtadlige, gleichsam „bürgerliche" Reformer auf ein monastisches Leben stoßen, das jeweils vom Adel geprägt und dominiert wird, sei es nun von einem mächtigen Bobbienser oder sei es von einem genauso einflußreichen Südtiroler Lokaladel, verdoppeln sich naturgemäß ihre Schwierigkeiten. Es gilt nicht nur denjenigen Widerstand zu überwinden, der aus Bequemlichkeit und Neigung zum Verharren in Altbewährtem erwächst, sondern auch ständisch geprägten Widerstand gegenüber einem sozial Tieferstehenden. Inwieweit nun auch das persönliche Moment, der Rigorismus eines idealistischen Reformers, zum Scheitern beigetragen hat, läßt sich bei Gerbert kaum, bei Nikolaus schon eher beurteilen. Die Tatsache, daß der Kusaner sich auch in seinem allerletzten Lebensabschnitt wiederum vergeblich bei einer Reform, diesmal freilich im städtisch-kommunalen Milieu des umbrischen Orvieto, aufzehrte, spricht dafür, daß auch der Persönlichkeit des Kirchenreformers ein gewisser Anteil an der Niederlage zukommt. Auch hier scheint Nikolaus die Macht gewachsener historischer Strukturen und den Einfluß mächtiger Familien, die sich in ihrem Ansehen durch eingeleitete Reformen gemindert oder bedroht sahen, ganz gehörig unterschätzt zu haben. An zwei besonders gut dokumentierten Beispielen lassen sich exemplarisch die zahlreichen Widerstände aufzeigen, denen Nikolaus während seiner Brixener Zeit begegnet ist und an denen er schließlich scheitern sollte. Mit dem ersten Fall, dem Klarissenkloster 24 , das damals noch unmittelbar vor den Stadttoren von Brixen (extra muros) lag, begeben wir uns mitten in das Zentrum der Kusanischen „Macht", an seinen Südtiroler Bischofssitz. Aber auch hier beweist der langanhaltende, über Jahre sich erstreckende Widerstand gegen den Mosellaner, wie schwer er sich bei seiner Reform tat

2 4 Zweiter Orden des heiligen Franziskus von Assisi, 1212 gegründet, nach der Mitgründerin, der heiligen Klara, benannt.

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und wie gering seine Macht war. Nachdem erste Reformversuche durch das Einschalten Dritter in den Jahren 1452 und 1453 gescheitert waren, erschien Nikolaus, gestützt auf eine zwischenzeitlich in Rom erworbene päpstliche Reformlizenz, höchstpersönlich am 25. Januar 1454 im Konvent des Klarissenklosters und hielt eine Predigt über ein Thema aus der Apostelgeschichte (9, 17-18): die Bekehrung des Christenverfolgers Saulus, der, auf seiner Reise nach Damaskus vom Herrn mit Blindheit geschlagen, durch ein Heilungswunder in Damaskus wieder sehen kann und sich taufen läßt: „... der Herr hat mich (gemeint: Ananias, der Jünger Jesu) gesandt, der dir erschienen ist auf dem Wege, da du herkamst, daß du wieder sehen und mit dem Heiligen Geist erfüllet werdest. Und alsbald fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er ward wieder sehend." Der Bischof hatte seinen Predigttext nicht ohne Bedacht gewählt. Er sah sich - daran läßt seine Predigt keinen Zweifel - als einen zweiten, vom Herrn selbst beauftragten Ananias, der die mit Blindheit geschlagenen Nonnen wieder „sehen" lehren wollte: „Jesus hat mich zu dir, Klarissenkonvent, geschickt, zu dir Schwester, die du voll blinden Eiferns bist. Ihm bist du auf der Straße dieser Welt begegnet, als du dich aus dieser Welt entferntest. Eure Regel ist Ausdruck dafür, daß ihr Gott auf der Straße begegnet seid. Aber weil du den Geist der Regel nicht verinnerlicht hast, bist du mit Blindheit geschlagen worden, damit du bis zur Stadt geleitet wirst, wo dir gezeigt wird, was du machen sollst. Und zuerst sollst du erkennen; und das ist nur möglich, wenn die Schuppen von deinen Augen fallen und die schlechten Gewohnheiten aufhören, die auf einem falschen Verständnis der Regel beruhen. Danach wirst du gereinigt und mit heiligem Geist erfüllt sein usw." 2 5 Freilich: Nikolaus war kein Ananias, und vor allem war Brixen eben nicht Damaskus. Das heißt: das Bekehrungswunder fand nicht statt, und so wurde aus dem Saulus eben kein Paulus. Die Nonnen verharrten vielmehr in blindem Widerstand. Die Predigt blieb folgenlos. Es trat allenfalls insofern eine Änderung ein, als Nikolaus wenigstens für eine Änderung an der Spitze des Klosters sorgen konnte. Ganz offensichtlich unterstützt durch Bitten einiger Klarissinnen: „und hatt uns nit wenig bewegt, das swester Maria von Wolkenstein, die wir gross achtent umb vill Sachen willen, auffirein ayd 25 Der lateinische Predigttext bei H. HALLAUER, Nikolaus von Kues und das Brixener Klarissenkloster, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 6 (1967), S. 75-123, hier S. 105 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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gesagt hatte, wie die Raessnerin (die amtierende Äbtissin) zue dem ampt nicht nutz", erwirkte Nikolaus die Ablösung der bisherigen Äbtissin. Freilich stößt ihre Nachfolgerin auf Widerstände, namentlich von Seiten der soeben erwähnten Maria: „Nu ist die selb Maria wider sich selbs der seibin abtissin, der sy gehorsam mit gutem willen gelobt hatt, ungehorsam worden und auch uns (Nikolaus), und sagt was sy will wider uns; und besunder lasset sy vil drowort laujfen auffirfruntschafft wider uns ... "26 Doch Maria von Wolkenstein drohte nicht nur mit Worten, sondern handelte auch. Im April 1455 schrieb sie ihrem Bruder Friedrich von Wolkenstein, einem Sohn des bekannten Minnesängers Oswald von Wolkenstein, einen Brief, der zeigt, wie sehr sich die Situation bereits verschärft hatte. Nikolaus behielt seine bisherige Linie bei und setzte - hier ganz der Intellektuelle offensichtlich weiter auf die rhetorische Überzeugungskraft seiner Predigten. Andererseits verraten seine übrigen begleitenden Strafmaßnahmen, daß gute Worte allein nicht genügten: ,J)em edlen und vesten Frydrich Wolkenstainer, meinem herczn lieben prüder. ... Daz es dir wol ging an deim gesund und in allen Sachen, daz hört ich

alzit gern und war mir ain grose frewd etc. Auch lass ich dich wissen, daz es mir von gotz gnaden auch wol gat an meinen gesund, aber sunst get es mir und allen frawen nicht wol von wegen dez cardinal und pissof von Brichsen. Mein herczen lieber prüder. Ich cklag dir und alle frawen den grosen ungerechten gewalt, den der pyssoff mit uns treybt. Er will uns korn und ränt alles hin aus haben und spricht, daz kloster sey sein, und hat uns daz fleysch verpoten an der panck; und alz oft er predigt, so rieht er uns gar übl aus und geleicht uns zu Pilato auf der kanczl. Daz hat er tan an dem heiligen weichen pftneztag (3. April), und an dem heiligen karfreytag (4. April) hab wir der heiligen czeit nit mugen gemessen. Und wan er nit predigt, so müssen es seine pfaffen tun. Und hat die heilige czeit die leut, reych und arme, umb getriben und hat sey nit wollen absolfieren die mit uns geret haben oder die zu uns gen etc. Auch hat der pissof gesprochen, er geb nicht umb die Wolkenstainer noch umb ander lantherren; und wan man im ain purn angreift, so sol unser kloster daz erst sein, daz er well angreyfen. mein herzeen lieber prüder, daz 2 6 HALLAUER ( w i e A n m . 2 5 ) , S . 1 0 6 .

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klag ich dir an aller frawen stat, daz du dir daz last zu herczen gen und pit dein prüderliche trew gar frewntlich und alle frawen pitten dich auch gar trewlich, das du auch herre kumst mit andern unsern frewnten, alz dir unser lieber prüder Osbald wol sagen wirf etc." 2 7 Auch wenn Maria in ihrem Brief sicherlich manches übertrieben und verzerrt dargestellt hat, so zeugt das Vorgehen des Nikolaus doch von einem mangelhaften Vermögen, sich auf die Verhältnisse adäquat einzustellen. Konnte er es sich wirklich leisten, ein Kloster völlig von der Außenwelt abzuschirmen, es sozial zu isolieren, in dem Mitglieder aus den reichsten und mächtigsten Südtiroler Adelshäusern wie eine Maria von Wolkenstein saßen? Reformen konnten doch nur im Einverständnis mit den adligen lantherrn, die untereinander enge standesgenössische Bindungen unterhielten (unsere frewnte), wirklich gelingen. Konnte Nikolaus denn hoffen, einen dann notwendigerweise eintretenden militärischen Konflikt angesichts eigener schwacher Machtmittel zu gewinnen? Daß sich Nikolaus im Falle der reformunwilligen Nonnen durchsetzen konnte, hängt mit besonderen historischen Umständen zusammen. Der Tiroler Herzog Sigismund war an einer Intervention zugunsten des Klarissenklosters durch eine sich abzeichnende Aufstandsbewegung gehindert, Friedrich von Wolkenstein war 1456 bereits gestorben, und so konnte Nikolaus durch eine militärische Besetzung des Klosters die Rädelsführerinnen, an ihrer Spitze Maria von Wolkenstein, entmachten, die sich nach Meran in ein anderes Kloster begaben. An ihre Stelle traten neue „Musterschwestern", die sich Nikolaus aus dem Nürnberger Klarissenkloster hatte schicken lassen. War Nikolaus die Reform des Klarissenklosters zu Brixen nur unter größten Mühen gelungen, so scheiterte sein Versuch, die bei Bruneck gelegene Benediktinerinnen-Abtei Sonnenburg zu reformieren, vollständig. Auch hier wiederholten sich die Vorgänge. Der idealistische Rigorist versuchte ohne eine genügende Berücksichtigung der gewachsenen historischen Strukturen die Reform zu erzwingen. Er setzte der reformunwilligen adligen Äbtissin feste Fristen, bis zu deren Ablauf spätestens die Reformen durchgeführt sein sollten. Am 29. November 1453 war der Kardinal wiederum persönlich „vor Ort" in Sonnenburg. Das Ergebnis seines Besuches bildeten die von ihm kurze Zeit später erlassenen Reformstatuten, die Nikolaus mit dem Hinweis rechtfertigte, er und die anderen Visitatoren hätten „viel geprechen und abgeng" gefunden. Auch hier geißelte er ohne jede

2 7 HALLAUER ( w i e A n m . 2 5 ) , S. 1 0 8 - 1 0 9 .

Ausgewählte Beispiele

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diplomatische Zurückhaltung die Mißstände. Da er der festen Überzeugung war, die Äbtissin und die Nonnen müßten wieder „ richtikleicher den steyg geystlicher zucht on irrung gen ... und nach der heyligen regell sand Benedikten und bäbstlichen gesaczten Ordnung leben ", versuchte Nikolaus - und auch hier wird man ihm den Vorwurf einer gewissen Unsensibilität gegenüber dem Repräsentationsbedürfnis adliger Nonnen nicht ersparen können - , selbst Einzelheiten des klösterlichen Lebens zu regeln: „Und daz dy aygenschafft khain stat hab, auch genczlich ausgerewtt werde, ist notturfft, daz yegleiche schwester von speys und tranck, gewantt und pettgwant, ain czymleich genügen hab. Und nach gleichem geduncken, an gesehehen gelegenhait diser stat, ist einer yegleichen ze geben ein khor khutten, ein tag rock, ein langer pelcz, ein khiirsen, czyven nacht röck, einen tag scaplar, einen nacht scaplar, schlayr und haupt tuecher ein benügen; und so sy weybleich khranckait haben, mügen sy leynen hemde und leylachen prauchen, so lang dy khranckait werend ist. Pettgwant sullen sy haben nach ausweysung der regel und gewonhait des ordens .. ,"28 Im Unterschied zum Brixener Klarissenkonvent konnte sich Nikolaus bei den Sonnenburger Benediktinerinnen nicht durchsetzen. Es kann hier nicht der Ort sein, den immer stärker eskalierenden Konflikt, in dessen Verlauf es sogar zu einer „Schlacht" (von Enneberg) kommen sollte, im einzelnen zu schildern. Die mißlungene Reform von Sonnenburg, das bei seinem Vogt, Herzog Sigismund von Tirol, Unterstützung in seinem Widerstand gegen Nikolaus fand, bildete nur eines der vielen Ereignisse, die in ihrer Summe dazu geführt haben, daß Nikolaus schließlich im September 1458, verbittert und resigniert, das eigene Domkapitel gegen sich, sein Bistum verlassen mußte. Auch sein Versuch, im Februar 1460 nach Südtirol zurückzukehren, endete mit einem Desaster. Nikolaus wurde vom Tiroler Herzog Sigismund in Bruneck eingeschlossen, belagert, gefangengenommen und schließlich zu einem formellen Verzicht auf sämtliche landesherrlichen Rechte und zu umfangreichen Entschädigungszahlungen genötigt. Man hat die Brunecker Vorgänge des Jahres 1460 zu Recht als das Scheitern des Bischofs Nikolaus von Kues an der weltlichen Macht gedeutet (H. Hallauer). Es ist aber auch gleichzeitig das Scheitern des „Intellektuellen" Nikolaus von Kues, der glaubte, die Macht durch die Kraft der Idee bezwingen zu können. 28 H. HALLAUER, Eine Visitation des Nikolaus von Kues im Benediktinerinnenkloster Sonnenburg, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 4 (1964), S. 104-125, hier S. 122.

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Kapitel VIII. Intellektuelle

3. Bibliographie Allgemein: J. LE GOFF, Les intellectuels au Moyen Age, 2 1985 (dt.: Die Intellektuellen im Mittelalter, 1986); DERS. (Hg.), Der Mensch des Mittelalters, 3 1994; M. FUMAGALLI BEONIO BROCCHIERI, Der Intellektuelle, in: LE GOFF (Hg.), Der Mensch des Mittelalters, S. 198 bis 231; A. PILTZ, Die gelehrte Welt des Mittelalters, 1982; J. NELSON, Intellectual Life in the Middle Ages, 1994. zu Alkuin: W. EDELSTEIN, Eruditio und sapientia. Weltbild und Erziehung in der Karolingerzeit, 1965. zu Gerbert: P. RICHE, Gerbert d'Aurillac, Le pape de l'An mil, 1987. zu Abaelard: J. VERGER, Abélard et les milieux sociaux de son temps, in: Abélard en son temps. Actes du colloque international organisé à l'occasion du 9 e centenaire de la naissance de Pierre Abélard, 1981, S. 107-132. zu Petrarca: E. H. WILKINS, Life of Petrarch, 1961; H. BARON, The Evolution of Petrarch's Thought, in: DERS., From Petrarch to Leonardo Bruni, 1968, S. 7-59. zu Nikolaus von Kues: E. MEUTHEN, Nikolaus von Kues 1401-1464. Skizze einer Biographie 7 1992; H. HALLAUER, Bruneck, 1460. Nikolaus von Kues - der Bischof scheitert an der weltlichen Macht, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift E. Meuthen, hg. von J . HELMRATH U. H . MÜLLER, 1 9 9 4 , S . 3 8 1 - 4 1 2 .

Teil B. Diachrone Beschreibungsebene: Mentalitäten im Wandel

Kapitel IX. Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen 1. Mittelalterliche Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Natur und Welt alterliche Raumerfahrungen: a) Physische Räume, b) Metaphysische Räume gen zum mittelalterlichen Zeitverständnis

2. Mittel3. Anmerkun-

4. Bibliographie

1. Mittelalterliche Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Natur und Welt Unter anthropologischem Gesichtspunkt scheinen zwei einander entgegengesetzte Einstellungen des Menschen gegenüber der Natur denkbar: zum einen die Bereitschaft und der Wille, in die Natur lenkend, regulierend, verändernd usw. einzugreifen, zum anderen eine prinzipielle „Naturfurcht", mit der sich häufig die Vorstellung und die Verehrung eines in der und durch die Natur wirkenden Göttlichen verbindet. Man wird, unbeschadet aller notwendigen Differenzierungen im einzelnen, doch die folgende pauschale Aussage wagen dürfen: Vom Frühmittelalter zum Spätmittelalter wächst die Bereitschaft, die Natur zu beherrschen, sie zu instrumentalisieren. Dementsprechend nimmt vom Frühmittelalter zum Spätmittelalter die Naturfurcht eher ab, und mit ihr schwinden Auffassungen vom Numinosen in der Natur. Inwieweit von diesen im folgenden näher zu skizzierenden Veränderungen größere Bevölkerungsschichten erfaßt worden sind und nicht nur die sehr kleine Gruppe jener „Intellektuellen", auf deren Zeugnis wir uns hier stützen, muß freilich offen bleiben. Die für die Mentalitätsgeschichte so wichtige Frage der Repräsentativität 1 kann nicht beantwortet werden, doch wird man, einigen Optimismus vorausgesetzt, vielen Zeugnissen eine „Vörreiterfunktion" zugestehen können, in dem Sinne, daß sie spätere allgemeine Entwicklungen und Mentalitäten vorwegnehmen.

1

Vgl. dazu oben Kapitel 1.4. Probleme der Mentalitätsforschung.

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Kapitel IX. Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen

Ein wichtiges Indiz für den so skizzierten Wandel scheint das allmähliche Vordringen antiker locus amoenus- Vorstellungen in der Literatur und damit wohl auch im mentalen Bereich vieler Zeitgenossen zu sein. Angesichts häufiger werdender Beschreibungen eines „lieblichen Ortes" (locus amoenus), beispielsweise in Gestalt eines ,lichten Gehölzes', eines ,sanft ansteigenden Hügels', eines ,leise plätschernden Baches', eines ,still daliegenden Sees', befindet sich solches Denken auf dem Rückzug, das Natur vor allem in Gestalt des .dunklen Waldes', des ,dräuenden Berges' und des stürmischen und gefährlichen Meeres' begreift. Bereits im späten Mittelalter gibt es überraschend modern anmutende Idyllisierungen von Natur und Umwelt. Der Mentalitätswandel vom frühen zum späten Mittelalter scheint ganz entscheidend durch den Wandel äußerer Rahmenbedingungen in vielen Teilen Europas ausgelöst worden zu sein. Wir konzentrieren uns an dieser Stelle auf das Thema ,Wald', das mit am besten erforscht ist. Für das frühe Mittelalter überwog in den allermeisten Landschaften Europas die terra inculta: Große Wälder und Sumpfgebiete erschwerten selbst in alten Kulturlandschaften wie Norditalien das Reisen entscheidend. Als der deutsche König Heinrich IV. (1056-1106) im Jahre 1073 vor seinen aufrührerischen sächsischen Untertanen fliehen mußte, soll er tagelang im Harz umhergeirrt sein. Die großen Waldflächen wurden im Hochmittelalter durch Rodungsbewegung und Siedlungsausbau stark dezimiert. Der hohe Holzbedarf, der sich damals abzuzeichnen begann, verstärkte sich im Spätmittelalter weiter. Der Wald bildete als Energielieferant häufig auch die wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt (E. Schubert). Der Rohstoff Holz war die Ausgangsbasis zahlreicher mittelalterlicher Handwerksberufe. Die intensive Nutzung des Waldes veränderte die Natur häufig nicht nur äußerlich. Als ein für Deutschland oft zitiertes Beispiel sei die Kulturlandschaft ,Lüneburger Heide' genannt, deren heutiges Aussehen auf die hochmittelalterliche Waldrodung zurückgeht. Gleichzeitig konnte die wirtschaftliche Ausbeutung natürlicher Ressourcen auch schon im Mittelalter mit ökologischen Problemen verbunden sein. An der spätmittelalterlichen Gesetzgebung der Reichsstadt Nürnberg, die mit gesetzlichen Schutzmaßnahmen (Begrenzung des Holzeinschlages, Wiederaufforstung) die intensive Nutzung ihres großen Waldbesitzes zu begleiten suchte, wird in allerersten Ansätzen ein ökologisches Bewußtsein deutlich, das sich aus wirtschaftlichen Erwägungen speiste. Wir müssen uns an dieser Stelle mit diesen wenigen und isolierten Bemerkungen begnügen. Dennoch können sie vielleicht das Verständnis erleichtern, warum literarisch-theologisches Denken, das den „Wald" vor allem auch als ,bösen' Ort begriff und ihn als Ort der Sünde, der Umkehr,

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Natur und Welt

der Gefährdung allegorisiert hatte, immer weniger der allgemeinen Auffassung der Zeitgenossen entsprach. Auch der Adel, der in den Wäldern seiner Lieblingsbeschäftigung, der Jagd, nachging, teilte die negative Einschätzung des Waldes nicht. Aufmerksam registrierte die Literatur den mit Rodung und Landausbau verbundenen Wandel. So konstatierte der Dichter Walther von der Vogel weide Ende des 12. Jahrhunderts: „die mine gespilen waren, die sint nu traege und alt/gebreitet ist daz feit, verhouwen ist der walt"2. Nüchtern registrierten die Kolmarer Annalen am Anfang des 13. Jahrhunderts: „Es gab damals im Elsaß viele Wälder, welche das Land unfruchtbar machten an Korn und Wein ... Gießbäche und Flüsse waren damals nicht so groß wie jetzt, weil die Wurzeln der Bäume die Feuchtigkeit des Schnees und des Regens längere Zeit in den Bergen zurückhielten" 3 . Gefördert wurde der Mentalitätswandel außerdem durch einen Rationalisierungsschub im 12. Jahrhundert. Die „Natur" wird jetzt u.a. in der sogenannten Schule von Chartres (Thierry von Chartres, gest. 1156, Wilhelm von Conches, gest. 1154, Bernardus Silvestris, gest. nach 1159, Alanus ab Insulis, gest. 1202) verstärkt wissenschaftlich und philosophisch erklärt. Zwischen Gott und den Menschen tritt als Zwischeninstanz die natura. Gott greift nicht unmittelbar in die Natur ein, sondern wirkt über die Natur. So konnte die Ansicht aufkommen, Gott habe den menschlichen Körper durch die Wirkkräfte der Natur erschaffen (per naturam operantem corpus humanuni creasse). Damit war die Basis dafür geschaffen, daß man sich in seinem Denken und seinen Auffassungen immer weiter von theologischreligiösen Erklärungsansätzen entfernen konnte. So war es die natura, die Geburt und Tod des Menschen bewirkte, und der Gedanke lag daher nahe, daß der Mensch auch direkt experimentierend und verändernd in die Natur eingreifen könne. Jedenfalls hatten sich spätestens seit dem Hochmittelalter die Chancen vergrößert, Umwelt und Natur weniger affektiv-emotional zu interpretieren. Dieser Vorgang läßt sich besonders deutlich im Bereich der mittelalterlichen Naturkunde nachweisen. Auch hier findet ein tendenzieller Wandel von der vorwiegend theologisch-allegorischen Betrachtung der Natur zu ihrer physikalischen Erklärung statt.

2

Zitiert nach H.-D. HEIMANN, Der Wald in der städtischen Kulturentfaltung und Landschaftswahrnehmung. Zur Problematik des kulturellen Naturverhältnisses als Teil einer Umweltund Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: A. ZIMMERMANN/ A. SPEER (Hgg.), Mensch und Natur im Mittelalter, 2 Bde, 1991/92, hier Bd. 2, S. 8 6 6 - 8 8 1 , hier S. 875.

3

V g l . HEIMANN ( w i e A n m . 2 ) , S .

875.

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Kapitel IX. Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen

Frühmittelalterliches Nachdenken über Natur war besonders stark durch die Autorität Augustins (gest. 430) geprägt worden, der die Naturkunde u. a. in seinem Werk De doctrina Christiana als Voraussetzung eines besseren Bibelverständnisses gerechtfertigt hatte. Die Beschäftigung mit naturkundlichen Problemen war keineswegs unproblematisch, denn hierbei war man als Christ gezwungen, auf die Erkenntnisse antiker, und das bedeutete gleichzeitig: heidnischer Autoren zurückzugreifen. Auch die ausführliche Behandlung kreatürlicher Vorgänge wie beispielsweise der Fortpflanzung konnte für mittelalterlich-christliche Mentalitäten ein Problem darstellen. Freilich stand für den Kirchenvater vor allem die Zeichenhaftigkeit, die symbolische Bedeutung der Natur, nicht aber ihre physikalische Erklärung, im Mittelpunkt seines Denkens: „Man pflegt auch danach zu fragen, welche Form und welches Aussehen der Himmel gemäß den Aussagen unserer Schrift (gemeint ist die Bibel) besitzt. Viele streiten sich viel über diese Fragen, über die sich unsere Altvorderen deshalb in überlegener Klugheit nicht geäußert haben, da sie für den Schüler nicht nur ohne Nutzen und Wert für die Frage nach der Seligkeit sind, sondern auch, was bedenklicher ist, unverhältnismäßig viel kostbare Zeit in Anspruch nehmen, die man besser für die Dinge des Heils aufwenden sollte. Was berührt mich die Frage, ob der Himmel wie eine Spähre von allen Seiten die Erde umschließt, die in der Mitte des Weltenbaues ruht, oder ob der Himmel die Erde von einer Stelle von oben herab wie eine Scheibe bedeckt?" 4 Biblische Aussagen, die in ganz offensichtlichem Widerspruch zu menschlicher Vernunft (ratio) und Erfahrung (experimentum) stehen, versuchte Augustin dadurch zu entschärfen, daß er eine allegorische Interpretation der einschlägigen Stelle empfahl. So sollte beispielsweise Psalm 135,6 (136,6) (Gott schuf die Erde über dem Wasser) nicht wörtlich, nach dem sogenannten Litteralsinn (ad litteram), sondern in übertragenem Sinne (figurate) aufgefaßt werden. Ausdrücklich fügte Augustin hinzu: „Niemand darf Psalm 135,6 dahingehend mißverstehen, daß in der Ordnung der Natur festgelegt sei, das Gewicht des Wassers bilde das Fundament für die Erdmassen" 5 . Siebenhundert Jahre später, in der Zeit des Hochmittelalters, begann sich die Situation entscheidend zu verändern. Der Philosoph und „Naturwissen4

Augustinus, De Genesi ad litteram II 9 (ed. I. ZYCHA, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 28,1, S. 4 5 - 4 6 ) (aus dem Lateinischen übersetzt).

5

Augustinus, De Genesi ad litteram II 1 (ed. ZYCHA, S. 35) (aus dem Lateinischen Ubersetzt).

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schaftler" Wilhelm von Conches wollte sich nicht mehr damit begnügen, daß etwas geschehen ist. Im Mittelpunkt seines Interesses stand vielmehr die Frage, wie etwas geschehen war: „Denn wenn nämlich ein Weiser nur sagt, etwas sei geschehen und nicht erklärt, wie, ein anderer aber ebendies sagt, aber dazu es noch erklärt, - wieso soll da ein Gegensatz sein. Aber weil sie, die so reden, die Kräfte der Natur nicht kennen, aber sie alle Welt zum Bundesgenossen ihrer Dummheit haben und wollen auch nicht, daß jemand sie erforsche, sondern wollen, daß wir wie Bauern glauben und nicht nach einer Begründung suchen, auf daß erfüllet werde, was der Prophet sagt: ,Es geht dem Priester wie dem Vieh'" 6 . Wieder zweihundert Jahre später lassen sich die verschiedenartigen mittelalterlichen Einstellungen zur Natur gleichsam in einem Brennglas einfangen in einem zu Recht berühmt gewordenen Bericht. Geschrieben hat ihn der bereits erwähnte Humanist Francesco Petrarca (gest. 1374) anläßlich seiner Besteigung des Mont Ventoux (in der Provence) im Jahre 1336: „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht den f i n d i gen' nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, einzig von dem Verlangen getrieben, dessen ungeheure Höhe zu erkunden. Viele Jahre plante ich schon im Geiste den Aufstieg. Von Kindheit an hielt ich mich, wie du weißt, in dieser Gegend (gemeint ist die Provence) auf, in die mich die Laune des Schicksals verschlagen hat. Den Berg hat man nämlich, da er weit und breit zu sehen ist, immer vor Augen. Meine tägliche Beschäftigung gab mir den Anstoß, meine Pläne endlich zu verwirklichen, besonders nachdem ich am Tage zuvor bei meiner Livius-Lektüre zufällig auf jene Stelle gestoßen war, an der der mazedonische König Philipp - derjenige, der mit den Römern Krieg geführt hat - den thessalischen Berg Hemus bestieg. Von dessen Scheitel solle man, so hatte man dem König berichtet, zwei Meere, das Adriatische und das Euxinische (Schwarzes Meer), sehen können. Ob dies stimmt oder nicht, habe ich nicht mit Sicherheit in Erfahrung bringen können, weil dieser Berg sich in einer gänzlich anderen Gegend befindet und die Meinung darüber in der Literatur nicht einhellig ist. Um nicht alle Autoren anzuführen: beispielsweise ist der Geograph Pomponius Mela der festen Überzeugung, daß man die Meere sehen könne; Titus Livius hält es hingegen für ein Gerücht. Hätte ich so leicht wie dieser die Gelegenheit

6

Übersetzung entnommen aus: Wilhelm von Conches, Philosophia Mundi (ed. G. MAURACH), 1 9 7 7 , S . 8 9 - 9 0 .

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dazu gehabt, das Gerücht durch die eigene Erfahrung (experientia) zu überprüfen, wäre ich der Sache auf den Grund gegangen ... Am vereinbarten Tag bin ich von zuhause aufgebrochen; wir (Petrarca hat sich als Begleiter für seine Bergbesteigung seinen Bruder ausgesucht) kamen abends nach Maulaucene, das nordwestlich am Fuße des Mont Ventoux liegt. Dort hielten wir uns einen Tag lang auf; heute schließlich haben wir unter nicht geringen Mühen mit einigen Dienern den Berg bestiegen. Er bildet ein gewaltiges, jäh abfallendes Felsmassiv, das fast unbezwingbar erscheint; aber der Dichter (Vergil) hat mit Recht gesagt: »Verwegenes Bemühen bezwingt alles' (Georgica I 145). Der Tag war eben erst angebrochen, die Luft mild, die Wanderer waren in ausgezeichneter geistiger und körperlicher Verfassung; einzig die uns umgebende Natur stellte ein Hindernis dar. Unten im Talkessel stießen wir auf einen sehr alten Hirten, der uns mit vielen Worten von der Besteigung abzuhalten versuchte. Er sagte, er habe vor fünfzig Jahren mit demselben jugendlichen Eifer den Bergkamm bestiegen, habe aber von dort nichts zurückgebracht außer Mühen und Anstrengungen, außer einem durch Felsgestein und Schlangen zerschundenen Körper und einer zerrissenen Kleidung. Und weder vor dieser noch nach dieser Zeit habe man davon gehört, daß einer aus der Gegend etwas Ähnliches unternommen habe. Während er dieses laut und eindringlich sagte, wuchs unser Verlangen noch, weil er uns abzuhalten versuchte, die Jungen aber sowieso nichts auf Ermahnungen geben. Sobald der Alte bemerkte, daß er nichts erreichen konnte, zeigte er uns mit dem Finger einen steilen Weg. Er gab uns viele Ratschläge und verdoppelte sie, als wir schon aufgebrochen waren und ihn hinter uns gelassen hatten ... (Nach vielen Mühen und Irrwegen erreicht Petrarca zusammen mit seinem Bruder schließlich den Gipfel:) Vor allen anderen Dingen durch den außergewöhnlichen Luftzug und durch das sehr ausgedehnte Panorama überwältigt, bin ich, einem Staunenden gleich, stehengeblieben. Ich habe um mich geblickt: die Wolken waren zu meinen Füßen; und schon ist mir das, was man über den Athos und den Olymp erzählt, weniger unwahrscheinlich vorgekommen, weil ich dasselbe auf einem Berg von geringerer Berühmtheit sah. Danach richte ich meinen Blick nach Italien, auf das sich auch mein Herz und mein Verstand richtet. Die vor Kälte starrenden schneebedeckten Alpen, die einst jener Feind des römischen Namens (Hannibal) durchquerte, indem er die Felsen, wenn wir dem Gerücht Glauben schenken, durch Essig zerspaltete, erschienen mir ganz nah, obwohl sie doch durch einen großen Zwischenraum getrennt sind ... Ich drehe mich und schaue

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nach Westen. Die Grenze zwischen Gallien und Spanien, den Scheitel der Pyrenäen, kann man von dort aus nicht sehen; freilich wüßte ich keinen anderen Hinderungsgrund dafür zu benennen als die zu geringe Sehkraft des Menschen. Zur Rechten sah man ganz deutlich die Berge der Lyoneser Provinz, zur Linken, freilich durch einige Tagesreisen voneinander entfernt, das Meer von Marseille, dessen Wogen auch Aigues Mortes (Kreuzfahrerhafen westlich von Marseille) bedrängten; die Rhone sahen wir unmittelbar unter uns liegen. Als ich einzelnes noch bewunderte und bald an Weltliches, bald, durch das Vorbild meines Körpers (der sich auf dem Bergkamm befand) dazu gebracht, an Höheres dachte, kam mir die Eingebung, die „Bekenntnisse" (Confessiones) des Augustinus aufzuschlagen, das Buch, das du (gemeint ist der Empfänger von Petrarcas Bericht, Dionysius von San Borgo) mir in deiner liebenden Fürsorge geschenkt hast. Dieses Buch bewahre ich zur Erinnerung an den Urheber und Schenker auf und werde es nie aus meinen Händen geben. Das Werkchen ist nur faustgroß, von äußerst geringem Umfang, aber von unendlicher Süße. Ich habe es aufgeschlagen, um das zu lesen, auf was ich stoßen würde. Was anderes als auf etwas Frommes und Demütiges könnte man stoßen? Zufälligerweise schlug ich das zehnte Buch jenes Werkes auf. Der Bruder, in der Erwartung, durch mich etwas von Augustinus zu hören, stand mit offenen Ohren daneben. Ich rufe Gott und denjenigen, der neben mir stand, zum Zeugen dafür auf, daß dort, wohin ich zuerst den Blick richtete, geschrieben stand: ,Und es gehen die Menschen zu bewundern die hohen Berge und die ungeheuren Ruten des Meeres und die weiten Flüsse und den umherströmenden Ozean und den Lauf der Gestirne, und sie vergessen sich selbst. Ich bekenne: ich bin verstummt; ich bat meinen Bruder, der begierig war, mehr zu hören, mir nicht weiter lästig zu werden; ich schloß das Buch, zornig über mich selbst, daß ich nun sogar irdische Dinge zu bewundern begann, der ich schon von den heidnischen Philosophen hätte lernen sollen, daß es außer der Seele nichts Bewundernswertes gebe, vor deren Größe nichts groß ist" 7 . Die Forschung hat viel darüber gestritten, ob Petrarca tatsächlich diesen provenzalischen Berg nordöstlich von Avignon bestiegen hat, oder ob sein Bericht nur eine literarische Fiktion darstellt. Diese Diskussion ist für unsere Fragestellung unerheblich. Petrarcas Schilderung interessiert deshalb, weil 7

Francesco Petrarca, Le Familiari IV, 1 (ed. V. Rossi, Edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca Bd. 10), 1933, S. 153ff. (aus dem Lateinischen übersetzt).

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sich bei ihr sehr gut die Überlagerung verschiedener Mentalitätsschichten in einer einzigen Person nachweisen läßt. Diese höchst unterschiedlichen Schichten wird man, freilich mit der gebotenen Vorsicht, verschiedenen Epochen des Mittelalters zuordnen dürfen. ,Zuordnen' heißt hier, daß diese Mentalitäten in besonderer Weise für den betreffenden historischen Zeitraum repräsentativ waren. Gerade frühmittelalterlichem Denken entspricht die Allegorisierung des Mont Ventoux als eines Ortes, der gefährlich ist, dem numinose, unheilvolle, ja lebensbedrohliche Kräfte zugesprochen werden. Petrarca dürfte, auch wenn man seine literarische Stilisierung abzieht, ein guter Zeuge dieser besonders in mündlicher Form (Der alte Mann erzählt, daß ...) weitergegebenen Traditionen und Mentalitäten, die von naturmagischen Vorstellungen geprägt sind, gewesen sein. Von jeher besonders .anfällig' für solches Denken und ein damit verbundenes Verhalten mußte die von der Natur besonders stark abhängige Landbevölkerung sein, weshalb auch nicht zufällig der alte Mann bei Petrarca ein Hirte ist. Den Berg besteigen heißt, auf eine kurze Formel gebracht, Gott versuchen. Jesus wird vom Teufel auf einem sehr hohen Berg in Versuchung geführt. Gleichzeitig ist der „Berg" aber auch ein positiv besetztes Symbol. Er ist der Ort, an dem Gott durch die Propheten den Menschen seine Ratschlüsse und Gesetze offenbart. Das bekannteste biblische Beispiel stellen die mosaischen Gesetze dar, die der Prophet von Gott am Berge Sinai erhielt. Von einem bereits hochmittelalterlich wirkenden Selbstbewußtsein und Glauben an die eigene Kraft kündet das Optimismus ausstrahlende VergilZitat: ,Verwegenes Bemühen bezwingt alles' (labor omnia vincit improbus). Man läßt sich durch den Hinweis auf die angebliche Gefährlichkeit von seiner Mont-Ventoux-Besteigung nicht mehr abbringen, will vielmehr selbst alles erproben und nachprüfen. Auf spätmittelalterlichen Humanismus deutet hingegen die ,Augenlust', die befriedigt werden will durch das Erlebnis einer ästhetisch gedeuteten Natur. Freilich kann die Natur noch immer nicht unbefangen, um ihrer selbst willen genossen werden, denn Petrarca „muß", endlich auf dem Gipfel angekommen und durch das grandiose Panorama für einen Augenblick überwältigt, die „Bekenntnisse" (Confessiones) des heiligen Augustin (gest. 430) öffnen, jenes berühmte Buch, mit dem der Kirchenvater Abschied nahm von seinen alten antiken Idealen, denen Petrarca (mit schlechtem Gewissen?) sich auch verpflichtet fühlte. Rund hundert Jahre später hat sich die Situation noch stärker zugunsten einer ästhetischen Landschaftserfahrung „ohne schlechtes Gewissen" und ohne metaphysische Ausdeutung verschoben. Wiederum macht sich ein in

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seiner Berühmtheit mit Petrarca fast schon vergleichbarer Zeitgenosse, sein italienischer Landsmann Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (1458-1464), daran, die Schönheiten ihn umgebender Landschaften zu schildern. Besonders charakteristisch hierfür sind seine vor allem in Briefen sich findenden Landschaftserlebnisse, aber auch die Schilderung seiner eigenen Heimat in den 1463 abgeschlossenen Commentarii zeugt von seiner säkularen Freude an einer als Idylle empfundenen Natur, die man beispielsweise zu einem „Frühstück im Freien", zu einem Gesandtenempfang usw. nutzen kann. Freilich hat im Vergleich zu Petrarca die landschaftliche Szenerie gewechselt; an die Stelle der Provence und des Mont Ventoux ist die Toskana und der Montamiata getreten: „Der Berg Amiata liegt auf sienesischem Gebiet und ist nicht kleiner als die Gebirgszüge des Apennin; nur die Berge von Pistoia und zwei andere sollen ihn überragen; sein höherer Teil wird häufig von Wolken umlagert und ist mit Buchen bedeckt; darauf folgen Kastanien und Eichen oder Korkeichen; ganz unten gibt es Weinstöcke und durch menschlichen Fleiß angepflanzte Bäume und Äcker und Wiesen; in einem abgelegenen Tal des Berges gibt es hochgewachsene Tannen, die sowohl den sienesischen wie den römischen Häusern als edles Baumaterial zur Verfügung stehen: Pius hat von dort Balken für sein Haus in Pienza gekauft. Zwischen Tannen und Kastanien und nirgendwo anders erscheint der Berg kahl, aber überall ist er mit Kräutern bewachsen und geeignet für das Vieh." (Aeneas beschreibt im folgenden einige Städte und Ortschaften in der Umgebung des Montamiata und erwähnt auch die „Abtei", ein zu seiner Zeit bereits aufgegebenes Kloster aus der Langobardenzeit:) „1500 Schritte von diesem Kloster entfernt begegnet denjenigen, die auf den Gipfel des Montamiata steigen, ein altes Heiligtum, das, wie man meint, die Gattin des (langobardischen) Königs Rothari aufbewahrt; die Anwohner verehren es mit größter Frömmigkeit. In der Umgebung wohnen Einsiedler, zu denen der Aufstieg beschwerlich ist. Der Papst hat das Grabmal der edlen Frau besucht und dem Heiligtum die Gnade des Ablasses gegeben. Im Juli sind dort die Kirschen noch nicht reif. Daneben entspringt eine große Felsquelle, an der der Papst, nachdem er gefrühstückt hatte, die Gesandtschaften empfing und die Bittgesuche anhörte. Danach bestiegen mehrere, nachdem sie den Papst verlassen hatten, die äußerste Spitze des Berges auf einem schwierigen und steilen Weg, den auch niemand zu beschreiten gewagt hätte, hätten nicht die zahlreichen Buchen dafür gesorgt, daß man die Gefahr nicht wahrnahm und sie den Stürzenden einen Halt boten. Auf dem

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Bergrücken fanden sie eine ebene Fläche vor und in der Mitte einen mächtigen Felsen, an den sich ein zweiter, nicht weniger großer anlehnte. Sie bestiegen beide, von denen sie, wie sie berichteten, die Berge von Sizilien und Korsika hatten sehen können. Nicolaus Sagundinus, der Gesandte der Venezier, eilte mit anderen dorthin. Die Kastanien, die auf die Buchen folgen, sind überaus hochgewachsen und streben in den Himmel. Man findet viele Eichen, deren Stämme kaum von vier Männern umarmt werden können; einige Höhlen bieten Platz für fünfundzwanzig Stück Vieh. Unterhalb der Kastanien erstrecken sich Grasflächen, die immer im Schatten liegen, außer, wenn der erste Frost im Herbst die Blätter hat fallen lassen und durch die Zweige der Bäume ein Lichtstrahl dringt. Sollten jemals an irgendeinem Ort liebliche Schatten und silberne Quellen und grünende Blätter und lachende Wiesen die Dichter anziehen, dann werden sie hier den Sommer lang bleiben ... Der Papst bewohnte das (aufgelassene) Kloster, die „Abtei". Sechs Kardinäle wohnten in der Stadt und viele Angehörige der Kurie. Die referendarii haben sich in einer Entfernung von zwei Meilen Wohnungen an einem Ort gesucht, den sie Planus nennen, ebenfalls sehr angenehm und nicht weniger anziehend als die „Abtei". An festgesetzten Tagen kommen sie zum Unterschreiben; die Unterschrift leistete der Papst bald in diesem Hain, bald unter jenem Baum und in der Nähe lieblich murmelnder Gewässer" 8 .

2. Mittelalterliche Raumerfahrungen: a) Physische Räume Es scheint im Fall der Mentalitätsgeschichte angebracht, zwischen einem physischen und einem metaphysischen Raum zu unterscheiden. Unter „physischem Raum" sei im folgenden ein Raum verstanden, der historisch-geographisch definierbar ist. Viele mittelalterliche Quellen wissen freilich von solchen Räumen zu berichten, die sich einer eindeutigen geographischen Bestimmung entziehen, weil es sich um virtuelle oder spirituelle Bereiche handelt, die ausschließlich in der und durch die Imagination des „Schauenden" existieren. Wir bezeichnen sie deshalb im folgenden als „metaphysische" Räume. 8

Pii II Commentarii rervm memorabilivm qve temporibvs svis contigervnt IX, 1 (ed. A. VAN HECK), 2 Bde, 1984, hier Bd. 1, S. 517-519 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Der physikalische Raum wird, im doppelten Sinn des Wortes, .erfahren'. Man wird, wie schon im Fall des mittelalterlichen Verhältnisses zur Natur, eine pauschale Aussage dergestalt wagen dürfen, daß sich im Vergleich zwischen dem frühen und dem späten Mittelalter die Mobilität steigert. Ein prozentual höherer Grad der Bevölkerung ist, ohne daß wir ihn numerisch genauer beziffern könnten, im späten Mittelalter .unterwegs'. Zu Beginn des Mittelalters waren vor allem der König und sein Gefolge in einem .Reich ohne Hauptstadt' auf Reisen (weshalb die Verfassungsgeschichte auch gerne vom „Reisekönigtum" spricht), der hohe Adel und die hohe Geistlichkeit ist gereist, ebenso einzelne Pilger oder Pilgergruppen. Fragt man nach den Motiven dieser „Reisen", so war mit ihnen immer ein bestimmter Zweck verbunden. Mit anderen Worten: Man reiste, um anzukommen. Infolgedessen wurde die Reise als solche, wenn man sie überhaupt erwähnte, häufig negativ bewertet, wozu natürlich ihre prinzipielle Gefährlichkeit entscheidend beitrug: der „dunkle", undurchdringliche Wald, in dem man sich verirren konnte, wo die Räuber ihr Unwesen trieben, die „eingestürzte Brücke", die das weitere Fortkommen behinderte etc. Im hohen und dann im späten Mittelalter erhöhte sich die Mobilität wesentlich. Es kam verstärkt zu Kreuzzugs- und Pilgerfahrten, sei es zu weit entfernten Zielen, zu „überregionalen" oder auch nur zu lokalen Wallfahrten. Die Motive der Reisenden lassen sich nicht immer genau spezifizieren: Außer an einen freiwilligen, spontanen Entschluß ist vor allem an ein Gelübde (lat.: ex voto) oder an eine Buße (lat.: ex poenitentia) zu denken, die für den Antritt der Pilgerfahrt entscheidend waren. Diese galt freilich noch immer als gefährlich, war kostspielig und dauerte lang, so daß reiche Leute auf die Idee verfallen konnten, sich durch sogenannte Söldnerpilger/Delegationspilger vertreten zu lassen. Man wird sich die emotionale Belastung sicherlich gar nicht groß genug vorstellen können, denen beispielsweise solche Leute ausgesetzt waren, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Meer konfrontiert waren. Dann konnten selbst ausgemacht fromme Pilger, wie es der als Märtyrer verehrte und selig gesprochene Hrosnatha aus dem ausgehenden zwölften Jahrhundert einer gewesen ist, unsicher werden. Dem böhmischen Magnaten Hrosnatha waren in kurzer Zeit hintereinander sein einziges Kind und seine Frau gestorben. Er bedachte bei sich die Worte des Herrn ,Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig' und beschloß deshalb, sich auf den Kreuzzug zu begeben. Er tätigte sehr kostspielige Reisevorbereitungen und verließ schließlich im Jahre 1197 zusammen mit seinem Gefolge „die süße heimatliche Erde und machte sich auf die Reise.

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Als er aber an den Strand des Meeres geführt wurde, betrachtete er argwöhnisch die große Weite des Meeres und die Bewegung der Wellen. Er dachte an die Schwierigkeit der Schiffspassage und überlegte voller Furcht, was jetzt zu tun übrig bleibe. Schließlich war er von dieser Überlegung so gefangengenommen und von Furcht, die auch einen Standhaften hätte befallen können, mutlos gemacht, daß er auf Ratschluß der göttlichen Vorhersehung das Meer wieder verließ. Da er aber an sein Kreuzzugsgelübde dachte und auch sein Urteilsvermögen ihn vorsichtig darüber belehrte, daß niemand geeignet sei für das Reich Gottes, der die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, beschloß er nach Rom zu reisen" 9 . Dort ermöglicht es ihm der Papst, sein Kreuzzugsgelübde auch auf andere Weise als durch die ursprünglich geplante Reise in das Heilige Land zu erfüllen, nämlich durch die Gründung eines Klosters. Freilich nicht allein nur religiöse Gefühle und Verhaltensweisen führten zu einer gesteigerten Mobilität. Vielmehr dürfen wir, wohl verstärkt seit dem Hochmittelalter, auch mit einem gewissen „touristischen Element" rechnen: Wichtig wird jetzt nicht mehr nur das Ankommen, sondern auch das Reisen als solches kann verstärkt als etwas Positives erfahren werden. Denn es ermöglicht, das Bedürfnis, Neues und Anderes zu sehen, die cupiditas videndi, zu befriedigen. Wie dann sein weitaus prominenterer Nachfolger im 19. Jahrhundert, der „Baedeker", versteht sich auch der mittelalterliche Pilgerführer als ein Handbuch für den Reisenden. Als Beispiel zitieren wir aus dem im 12. Jahrhundert entstandenen Uber sancti Jacobi. Dieses Buch wandte sich an den Pilger, der unterwegs war auf einer langen und beschwerlichen Reise, die ihn nach Santiago de Compostela und zum Grabe des Apostels Jakobus führen sollte: „Um die Landes 1 0 zu durchqueren, benötigen bereits Ermattete drei Tage. Dies ist eine an allem arme Gegend; man findet Brot, Wein, Fleisch und Fisch ebensowenig wie Wasser und Brunnen; es gibt kaum Orte in dieser sandigen Ebene; jedoch bietet das Land Honig, Hirsegras, Hirse und Schweinefleisch. Wenn du diese Landschaft im Sommer durchquerst, so schütze dein Gesicht vor den zahlreichen Roßbremsen, die volkssprachlich guespe oder tavones genannt werden. Beobachte nicht weniger aufmerksam deine Füße, die im dortigen Sande schnell bis zum Knie versinken können.

9 De Beato Hrosnatha martyre ordinis Praemonstratensis, in: Acta Sanctorum Julii, tomus tertius, Antwerpen 1723, S. 793-810, hier S. 805 A/B (aus dem Lateinischen übersetzt). 10 Französische Küstenlandschaft südlich von Bordeaux.

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Nachdem man diese Gegend durchmessen hat, erreicht man die Gascogne, wo es viel Weißbrot, besten Rotwein, Wälder, Wiesen, reine Flüsse und Quellen gibt. Die Gascogner haben ein loses Maulwerk, sie sind schwatzhaft, spöttisch, lüstern, Wein und Essen zugeneigt, schlecht mit Kleidung und Geld ausgestattet, aber an den Krieg gewöhnt und in der Gastlichkeit gegenüber Armen zuvorkommend. Wenn sie am Feuer sitzen, essen sie gewöhnlich ohne Tisch und trinken gemeinsam aus einem Becher. Sie essen und trinken viel, sind schlecht gekleidet, sie schlafen alle zusammen auf wenig verfaultem Stroh, sogar das Gesinde mit Herr und Herrin. Beim Verlassen dieser Gegend führt der Weg nach Santiago nahe beim Ort St-Jean-de-Sorde über zwei Flüsse, einer fließt rechts und einer links; sie heißen ,Bach' und ,Fluß' und können nicht ohne Floß überquert werden. Ihre Fährleute sind entschieden zu verdammen! Obwohl nämlich jene Flüsse schmal sind, verlangen diese gewöhnlich von jedem, den sie ans andere Ufer bringen - ob arm oder reich - , eine Münze, und für ein Pferd erzwingen sie ganz unwürdigerweise mit Gewalt vier. Ihr Schiff ist nämlich klein, aus einem einzigen Baum gefertigt, und kann Pferde kaum aufnehmen; wenn man es besteigt, muß man sich hüten, nicht ins Wasser zu fallen. Es ist ratsam, daß du dein Pferd am Zügel nach dir ziehst, und zwar außerhalb des Bootes, im Wasser. Besteige das Boot nur mit wenigen, denn wenn es zu sehr beladen ist, kentert es rasch. Oftmals lassen die Fährleute, nachdem die Pilger bezahlt haben, eine große Menge in das Boot einsteigen, damit das Schiff kentert und die Pilger im Wasser ertrinken. Dann freuen sie sich hämisch und bemächtigen sich der Habe der Toten" n . Das seit dem Hochmittelalter verstärkt einsetzende Reisen hat dazu beigetragen, daß sich im Spätmittelalter eine eigene Quellengattung, die sog. Reiseberichte bzw. Reiseliteratur, entwickelt hat. Teilweise finden sich auch in anderen Gattungen, zum Beispiel in Briefen und autobiographischen Zeugnissen, längere Passagen, die vom Interesse und von der „Augenlust" (cupiditas videndi) der Reisenden, von ihrer Neugierde (curiositas) künden. Einer der aufmerksamsten und genauesten Beobachter fremder Völker und Kulturen ist der bereits erwähnte Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II., gewesen. Seine detaillierten Schilderungen erweisen ihn, bei allem Verständnis für andere Länder und Kulturen, freilich immer auch als einen mediterran geprägten Menschen, der ihm fremde Zivilisationen am

11 Liber sancti Jacobi 4 (5),7 (Übersetzung entnommen aus: K. Herbers, Der Jakobsweg, 1986, S. 95-96).

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hoch entwickelten Standard Nord- und Mittelitaliens mißt und der deshalb bisweilen ein unverkennbares Überlegenheitsgefühl gegenüber den nordischen „Barbaren" jenseits der Alpen entwickelt. Aeneas bildet freilich keinen Einzelfall, wenn er Unvertrautes-Neues mit Vertrautem-Altem vergleicht. Dieses Verfahren kann geradezu als ein Spezifikum spätmittelalterlicher Reiseberichte gelten. Der Vergleich hilft bei der „Bewältigung fremder Wirklichkeit" (A. Esch) 1 2 . Auch die für einen Fremden, einen Reisenden notwendige Adaption an andere Kulturen ist Aeneas nicht immer leicht gefallen, was sich beispielsweise in dem von ihm immer wieder beklagten Unterschied in der Eßkultur äußert. Insoweit scheint er sich von vielen heutigen Reisenden wenig zu unterscheiden. 1405 in der Nähe von Siena geboren, hat ihn sein verschlungener Lebensweg u. a. auch nach Deutschland geführt, wo er lange Zeit am Hofe des deutschen Königs und nachmaligen Kaisers Friedrichs III. (1440-1493) als dessen Sekretär und Berater lebte. Schon in jungen Jahren war er im Auftrage eines italienischen Kardinals in politischer Mission 1435/36 in Schottland gewesen. Freilich erwies sich sein ursprünglicher Plan, über England nach Schottland zu reisen, als undurchführbar,weil ihm die Engländer die Weiterreise nach Schottland verweigerten. Sie befürchteten eine Verschwörung zwischen dem italienischen Kardinal, von dem man munkelte, er sei mit der burgundischen Partei im Bunde, und dem schottischen König. Unverrichteter Dinge mußte Aeneas, der die politischen Hintergründe nicht ausreichend durchschaut hatte, einigermaßen frustriert wieder die Insel verlassen, nutzte aber seinen Aufenthalt in England noch zu einem ausgiebigen Sightseeing-Programm: „Die Rückkehr war notwendig, doch kam es ihm sauer an, daß er sich umsonst der Gefahr des Meeres ausgeliefert hatte. Es gefiel (ihm) aber, daß er das bevölkerte und sehr reiche London sah und die ehrwürdige St. PaulsKathedrale und die wunderbaren Königsgräber und die Themse, die bei Flut schneller stieg, als sie bei Ebbe zurückging, und eine Brücke, die einer Stadt glich, und die Stadt, in der angeblich die Menschen mit Schwänzen geboren werden, und, was alles andere übertrifft, das goldene Mausoleum des gött-

12 A. ESCH, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 281-312 (Ndr. in: DERS., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, 1994, S. 70-92).

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liehen (Erzbischofs) Thomas (Beckett) von Canterbury, bedeckt mit Diamanten, Perlen und Rubinen; sie halten es für schändlich, irgendein Material für dieses Mausoleum zu verwenden, das billiger als Silber ist." (Aeneas machte sich nach seiner Rückkehr auf den Kontinent erneut auf den Weg nach Schottland; es verschlug ihn freilich zuerst nach Norwegen:) „... durch zwei äußerst gewaltige Stürme hin und her geworfen, von denen der eine vierzehn Stunden lang Furcht einflößte, der andere zwei Nächte und einen Tag lang das Schiff erschütterte und es in seinem Bau erbeben ließ; so sehr hatte sich das Schiff in den Ozean und nach Norden vorgewagt, daß die Seeleute, die schon keine Zeichen mehr am Himmel sehen konnten, bereits alle Hoffnungen hatten fahren lassen." (Dennoch schaffte es Aeneas doch noch, am zwölften Tag endlich schottischen Boden zu betreten; er suchte den König auf, aber seine diplomatische Mission scheiterte aus Gründen, die Aeneas nicht näher erläutert. Immerhin bekam er neben Gastgeschenken auch seine Reisekosten erstattet. Es folgen Ausführungen, die das große landeskundliche Interesse des Autors verraten:) „Über Schottland ist das Folgende berichtenswert: es handelt sich um eine mit England verbundene Insel, die sich nach Norden erstreckt; in der Länge zweihundert Meilen, in der Breite fünfzig; der Boden ist kalt, er bringt nur wenige Früchte hervor; Bäume gibt es so gut wie keine; unter dem Erdboden liegt schwefelhaltiges Gestein, das man des Feuers wegen aufgräbt. Die Städte haben keine Mauern; die Häuser werden zu einem großen Teil ohne Kalk gebaut; die Dächer in den Dörfern sind mit Rasen gedeckt; die Eingänge zu den Häusern auf dem Lande sind mit rindsledernen Häuten verschlossen. Das Volk, arm und ungebildet, verfügt über genügend Fleisch und Fisch, um satt zu werden; sie essen Brot dazu. Die Männer sind klein und kühn, die Frauen haben eine weiße Haut und sind liebenswürdig und bereitwillig zur Liebe: Küsse der Frauen haben in Schottland eine geringere Bedeutung als es in Italien (bereits) eine Berührung mit den Händen hat. In Schottland kennt man nur importierten Wein ..." (Aeneas beschließt nach seinen unguten Erfahrungen, die er als Schiffspassagier hat sammeln müssen, lieber auf dem Landwege zurückzureisen, was sich im Nachhinein als ein ausgesprochen kluges Verhalten herausstellt; denn kaum hat das Schiff, auf dem er gekommen war, den Hafen verlassen, gerät es in einen gewaltigen Sturm und geht mit Mann und Maus unter, darunter auch tragischerweise dem Kapitän, der nach seiner Rückkehr nach Flandern sich hatte wiederverheiraten wollen, wie Aeneas, vielleicht in moralisierender Absicht, ausdrücklich anmerkt. Um ungefährdeter reisen zu

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können, verkleidet sich Aeneas als Kaufmann. Er überschreitet den Grenzfluß zwischen Schottland und England und gelangt schließlich bei Sonnenuntergang in ein großes Dorf. Er kommt in einem Bauernhaus unter und ißt mit seinem Gastgeber und dem Dorfpfarrer zu Abend:) „Es gab viel zu essen, Hühner und Gänse trug man zum Essen auf, aber es gab weder Wein noch Weißbrot. Und dann kamen alle Männer und Frauen aus dem Dorf herbeigelaufen, als gebe es eine Neuigkeit, und so wie die Unsrigen Äthiopier oder Inder anstarren, starrten sie Aeneas an ..." (Aeneas, durch den üblichen Mangel an Lebensmitteln auf Reisen bereits gewitzigt, hatte sich in einem Kloster mit Wein und Weißbrot versorgt; seine Vorräte kann er nicht, wie ursprünglich geplant, lediglich mit seinem Gastgeber und dem Ortspfarrer teilen, sondern muß sie zu seinem großen Ärger der gesamten herbeigelaufenen Bevölkerung stiften:) „Nachdem er beides hervorgeholt hatte, ergriff sehr großes Erstaunen die Barbaren, die zuvor weder Wein noch Weißbrot gesehen hatten. Es näherten sich die schwangeren Frauen und ihre Männer dem Tisch. Sie betasteten das Brot, rochen an dem Wein und wollten etwas davon haben. Und er mußte alles unter ihnen verteilen." (Das Abendessen hatte sich bereits bis weit in den Abend hineingezogen, als der Pfarrer und sein Gastgeber abrupt aufstehen und mit ihrem Anhang Aeneas zurücklassen. Sie rufen ihm noch zu, daß sie aus Angst vor den Schotten sich in einen befestigten Turm zurückzögen; bei abnehmender Flut pflegten diese nämlich über den mit dem Meer verbundenen Grenzfluß auf englisches Gebiet zu kommen und zu plündern:) „ . . . und sie wollten sich, so sehr Aeneas auch darum bat, überhaupt nicht darauf einlassen, ihn oder irgendeine Frau mitzunehmen, obgleich sehr junge Frauen und schöne Ehefrauen anwesend waren; sie glaubten, die Feinde würden jenen nichts antun; sie hielten eine Vergewaltigung für eine harmlose Angelegenheit. Also blieb Aeneas mit zwei Dienern und dem Wegführer allein zurück unter hundert Frauen. Sie bildeten einen Kreis, umschlossen das Feuer in ihrer Mitte und reinigten den Hanf und verbrachten so die Nacht schlaflos und schwatzten viel mit dem Übersetzer. Nachdem aber schon der größte Teil der Nacht vorüber war, führten zwei junge Frauen den schon schlaftrunkenen Aeneas in ein Schlafgemach, auf eine mit Streu gefüllte Decke; würde man sie darum bitten, wären sie bereit, mit ihm zu schlafen, wie es des Landes Brauch und Sitte sei. Aeneas aber, dem nicht so sehr die Frauen als vielmehr die Feinde im Kopf herumgingen, deren baldige Ankunft er fürchtete, stieß die Mädchen, die murrten, von sich zurück. Er fürchtete, daß er, sollte er sündig werden, auf der Stelle mit den

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hereingekommenen Feinden dafür büßen müsse. Er blieb also allein zurück zwischen Kühen und Ziegen, die heimlich die Streu von seinem Lager auffraßen und ihn die ganze Nacht lang nicht schlafen ließen. Mitten in der Nacht begannen die Hunde und die Gänse anzuschlagen; es gab einen gewaltigen Lärm, und alle Frauen stürzten in verschiedene Richtungen davon; auch der Wegführer entfloh, und alles war von Geschrei erfüllt, als wären die Feinde schon da. Aber Aeneas hielt es für das Beste, zunächst auf seinem Lager - d.h. in seinem Stall - die Entwicklung der Dinge abzuwarten, als ohne Ortskenntnis sich vom nächstbesten gefangennehmen zu lassen. Kurze Zeit später kehrten die Frauen mit dem Dolmetscher zurück und sagten, nicht der Feind, sondern ihre Freunde seien gekommen. Diese Tatsache erachtete Aeneas als eine Belohnung für seine Keuschheit; sobald es zu tagen anfing, machte er sich wieder auf den Weg . . . " 1 3 b) M e t a p h y s i s c h e R ä u m e Für viele mittelalterliche Mentalitätsvorstellungen typisch ist die Annahme einer räumlichen Dimension, die ihre Existenz ausschließlich menschlicher Vorstellungskraft verdankt. Auf ihre starke psychische Prägung verweist auch der Umstand, daß solch metaphysische oder spirituelle Räume vornehmlich in .Visionen' beschrieben werden. Visionen können nachgeradezu als „ein Versetztwerden in andere, bildhaft beschreibbare Räume" (R Dinzelbacher) definiert werden. Das Gebiet der mittelalterlichen Visionen ist freilich sehr komplex und bislang noch unzureichend erforscht, weshalb generalisierende Aussagen schwierig bleiben. Doch allein schon die Vielzahl der überlieferten Visionsberichte, ihre reiche handschriftliche Tradition, sichern dieser Quellengruppe eine große Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte. Es handelt sich also nicht um singulare, sondern um breit gestreute Zeugnisse während des gesamten Mittelalters. Freilich dürfen, wie man inzwischen erkannt hat, Visionen keinesfalls als unmittelbarer Reflex mittelalterlicher Mentalität aufgefaßt werden. Auch Visionen unterliegen schon aufgrund ihrer Stilisierung und ihrer Übersetzung von der Volkssprache in die Gelehrtensprache Latein gattungsspezifischen Traditionen und Ausdrucksformen. Unübersehbar ist zudem ihre häufige „Appellfunktion" (P. G. Schmidt) im Dienste der

13 Pii II Commentarii (wie Anm. 8) I, 5 - 6 , ed. VAN HECK, Bd. 1, S. 4 5 - 4 8 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kirche. Die drastische Schilderung der Sündenstrafen, zumeist kontrastierend verbunden mit einer Darstellung des glücklichen Lebens der Seligen im Himmel, hatte eine ausgesprochen didaktische Funktion und verfolgte das Ziel, Kirchenzucht und Glaubensfestigkeit zu stärken. Im wesentlichen lassen sich zwei Arten visionär geschauter Räume unterscheiden: zum einen irdische Räume mit symbolischem Bezug, zum anderen außerirdische Räume (Himmel, Hölle, Fegefeuer 1 4 usw.). Für mittelalterliche Mentalität typisch erscheint das Überwiegen der psychologischen Komponente. Das heißt: In den Visionen wird berichtet, wie die meist recht abstrakt und wenig anschaulich geschilderten Räume von den Visionären seelisch erfahren werden. Dazu paßt der Umstand, daß der Zugang zu diesen spirituellen Räumen nur ungenau und unkonkret beschrieben wird. Von großem Interesse könnte eine bislang noch nicht vorliegende Typologie visionärer Räume sein. Ließe sich beispielsweise der Eindruck erhärten, daß im frühen und hohen Mittelalter negativ besetzte Räume ( wie z. B. die Hölle) in den Visionen überwiegen, im späten Mittelalter hingegen positiv besetzte (wie z . B . Fegefeuer 1 5 , Himmel, Paradies), so könnte man daraus vielleicht auf einen Mentalitätswandel schließen. Auch hier wäre mit dem Argument eines fortgeschrittenen Rationalismus und Intellektualismus zu operieren. Die zunehmende „naturwissenschaftliche" Erkenntnis und logisches Denken hätten so populäres Denken des Frühmittelalters leichter erschüttern können, das beispielsweise den sizilianischen Vulkan Aetna als Eingang zur Hölle auffassen konnte. Das verstärkte Vordringen von Paradies- und Himmelsvorstellungen im Laufe des Mittelalters könnte dann sozialpsychologisch als kompensatorischer Akt verstanden werden: Fortgeschrittene geographische und naturkundliche Kenntnisse hätten den Glauben an eine unmittelbare physikalische Realpräsenz der Hölle unterminiert. Das würde bedeuten, daß mit einiger zeitlicher Verschiebung auch spätmittelalterliche Visionen jene Distanz gegenüber der „Hölle" entwickelt hätten, wie sie sich bereits wesentlich früher bei „aufgeklärten" Theologen nachweisen läßt. Diese hatten empfohlen, solche Orte des Schreckens weniger real, denn bildhaft-allegorisch (mystice) zu deuten. Im folgenden sei als aufschlußreiches Beispiel aus der zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstandenen Visio Thurkilli zitiert. Es handelt sich um den von einem 14 Zur mittelalterlichen Vorstellung des Fegefeuers vgl. unten S. 2 3 4 - 2 3 6 . 15 Nach mittelalterlicher Auffassung war das Fegefeuer ein Ort der Reinigung für die nicht ganz Schlechten und konnte somit auch freundlicher gesehen werden.

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Kleriker redigierten Jenseitsbericht eines Bauern aus der englischen Grafschaft Essex: (Aus der Vorrede) „Den Menschen, die in Sünden und Üppigkeit aufgewachsen und deshalb durch die Bosheit ihres Herzens gleichsam abgestumpft sind, fällt es freilich schwer, etwas für wahr zu halten, was man mit leiblichen Augen nicht erblicken kann. Um den Verstockten die Möglichkeit zu nehmen, sich für ihre Sünden zu entschuldigen, hat der allmächtige Gott zu verschiedenen Zeiten, für fast jede Generation, immer aufs neue viele Zeugen auftreten lassen ... Sie sollten nicht nur vom Hörensagen die qualvollen Strafen der Schuldigen und die glanzerfüllten Stätten der Gerechten kennen, sondern sie auch selbst klar und unverhüllt mit eigenen Augen betrachten, um zu erfahren, wie es den Seelen ergeht, wenn sie sich vom Körper gelöst haben, welche Straforte und welche Strafarten es für jede einzelne Sündenart gibt und mit welchen Fürbitten sie nach dem Tod entsühnt werden können ... (Der Bauer Thurkill macht, als er eines Tages mit der Feldarbeit beschäftigt ist, die Bekanntschaft eines Fremden, der sich ihm gegenüber als der heilige Julianus Hospitator vorstellt und ankündigt, mit ihm zum heiligen Jakobus reisen zu wollen:) ,Deinetwegen bin ich hierher gesandt worden, damit dir bestimmte Geheimnisse offenbart werden, die den noch im Fleische wandelnden Menschen verborgen sind. Geh deshalb möglichst schnell nach Hause und bereite dich auf die Reise vor*. (Der Bauer geht heim, „läßt sich Kopf und Füße waschen" und begibt sich zur Ruhe und schläft auch ein.) „Als sich aber alle ins Bett gelegt hatten und eingeschlafen waren, erschien der heilige Julianus, weckte ihn auf und sprach: ,Da bin ich, wie ich es versprochen habe. Jetzt ist es Zeit aufzubrechen.' Als er aufgestanden war und sich für die Reise ankleiden wollte, sagte der Heilige zu ihm: ,Dein Körper mag in der Zwischenzeit ruhig auf deinem Lager liegenbleiben und sich ausruhen, denn nur deine Seele wird mit mir fortziehen. Aber damit man deinen Körper nicht für tot hält, werde ich lebensanzeigenden Atem in dir zurücklassen.' Nach diesen Worten blies er ein wenig in den Mund des Ruhenden. Darauf verließen beide, wie es ihm schien, das Haus und zogen in gerader Richtung nach Osten ... Der Mann, der von seinem Körper auf die eben beschriebene Art und Weise entrückt war, folgte leichtfüßig dem heiligen Julianus, der ihm voranschritt. Er ging in der gleichen Gestalt und in der gleichen Kleidung einher wie sonst an anderen Tagen; die einzige Ausnahme, die er bemerken konnte, bestand darin, daß er häufiger als sonst ein- und ausatmete. Sie

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zogen nach Osten und gelangten zum Mittelpunkt der Welt, wie ihm sein Führer sagte, und betraten eine Basilika von staunenswerter Bauart ... Der heilige Julianus erklärte dem Entrückten, daß diese Basilika der Versammlungsort für alle Seelen sei, die eben ihren Körper verlassen hätten. Hier sollen sie nach ihren Verdiensten ihr Urteil finden; die einen sollen in die Stätten der Gerechten einziehen, die anderen in die Straforte, die ihnen von Gott bestimmt sind, teils um für immer verdammt, teils um durch die Strafen im Purgatorium noch erlöst werden zu können ... Als man ihn über die nördliche Mauer (der Basilika) herausführte, sah er viele Seelen dicht an der Mauer stehen, die mit weißen und schwarzen Flecken bedeckt waren. Einige von ihnen sahen mehr weiß als schwarz aus, bei anderen war es umgekehrt. Diejenigen, die weißer als die anderen waren, standen dichter an der schon erwähnten Mauer. In noch größerer Entfernung von der Mauer erblickte er aber andere Seelen, die überhaupt keine weißen Stellen hatten, sondern völlig schwarz und häßlich aussahen. Neben der Mauer aber war ein Schlund, der Eingang zur Hölle, der unablässig überallhin durch einige Öffnungen Qualm mit abscheulichem Gestank in die Gesichter der Umstehenden ausströmte. Dieser Qualm kam von dem zu Unrecht zurückbehaltenen Zehnten und von den Ernteerträgen, die nicht korrekt verzehntet waren ... Im östlichen Teil dieser Basilika befand sich ein Fegefeuer, das gewaltige Ausmaße hatte und von zwei Mauern begrenzt war. Die eine Mauer erhob sich im Norden, die andere im Süden; sie waren der Breite nach weit voneinander entfernt, in der Länge verliefen sie noch weiter nach Osten bis zu einem weiten und großen See, in dem die Seelen versanken, die das Fegefeuer passiert hatten. Das Wasser dieses Sees war unvergleichlich kalt und äußerst salzig, wie man nachher dem Manne zeigte. Danach gab es eine große Brücke, die mit Spitzen und Stacheln gespickt war; ein jeder mußte sie überqueren, bevor er zum Berg der Freude kam. Stufenförmig liegt auf diesem Berg eine so große Kirche von erstaunlicher Bauart, daß sie alle Erdbewohner fassen könnte, wie es ihm schien, als er in sie hineingeführt wurde . . . " 1 6 Das hier in dieser Vision erwähnte Fegefeuer ist durch die große Untersuchung von Jacques Le Goff verstärkt zum Gegenstand nicht nur des wissenschaftlichen, sondern auch des allgemeinhistorischen Interesses geworden. Auch wenn einzelne Aussagen seines Buches Widerspruch gefunden

16 Übersetzung entnommen aus: P. G. SCHMIDT, Die Vision des Bauern Thurkill, 1987, S. 15-16, 2 3 , 3 1 - 3 5 .

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haben, gebührt Le Goff das Verdienst, einen wichtigen Aspekt vor allem spätmittelalterlicher Frömmigkeit beleuchtet und deren historische Wurzeln untersucht zu haben. Die Idee des Fegefeuers beruht auf spätantiken Grundlagen, namentlich auf Augustin und Gregor dem Großen, die Le Goff als die „Doktoren des Fegefeuers" bezeichnet hat. Beide Kirchenväter gingen, ungeachtet aller Unterschiede im einzelnen, davon aus, daß die Seelen der Verstorbenen, sofern sie nicht gleich unmittelbar in die Hölle fuhren bzw. in den Himmel kamen, an einen nicht oder nur sehr vage lokalisierten Ort der Reinigung (locus purgatorius) gelangten, an welchem die Seelen der Toten für ihre Sünden zu büßen hatten. Die biblische Grundlage der Hypothese eines dritten Ortes zwischen Himmel und Hölle bildete ein schwierig zu deutendes Zitat des Apostels Paulus: „Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, edle Steine, Holz, Heu, Stroh, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden; der Tag wird's klar machen. Denn mit Feuer wird er sich offenbaren; und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer bewähren. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst wird aber gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch". (1. Korinther 11-15) Auch wenn das Interesse am Thema .Fegefeuer' in der Zeit des Frühmittelalters nie ganz erloschen war, kam es erst im ausgehenden 12. Jahrhundert, in den Jahren zwischen 1170 und 1180, im Bereich der Pariser Domschule Notre Dame zur Wiederentdeckung - zur eigentlichen „Geburt" des Fegefeuers - , welches dann im 13. Jahrhundert und im Spätmittelalter seinen eigentlichen Siegeszug in der Vorstellung des Kirchenvolkes antreten sollte, wenngleich viele Intellektuelle innerhalb der Kirche allzu konkreten Beschreibungs- und Lokalisierungsversuchen mit einer gewissen Skepsis gegenüberstanden. Der außerordentlich große „Erfolg" des Fegefeuers hatte verschiedene Ursachen. Zum einen lag die Förderung solcher Vorstellungen entschieden im Interesse der Kirche: Umfangreiche Stiftungen, großzügige Schenkungen, die Abhaltung zahlreicher Seelenmessen, die dazu dienen sollten, das Los der im Fegefeuer büßenden Seelen zu verbessern, namentlich ihre Zeit, die sie im Fegefeuer zubringen mußten, zu verkürzen, kamen natürlich auch und vor allem der Kirche zugute. Denn deren Mittlerposition zwischen den Lebenden und den Toten wurde gestärkt. Die Intervention besonders frommer Personen, also insbesondere der Heiligen und der heiliggemäß lebenden Personen, wie z.B. der Mönche der Bettelorden, waren

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nach mittelalterlicher Anschauung besonders effektiv. Dies förderte naturgemäß ein rechenhaftes Denken, denn allzu bereitwillig ging man davon aus, daß der Schatz der Heiligen und sonstiger fromm lebender Personen die Verfehlungen sündig gewordener Menschen kompensieren könnte, vorausgesetzt, die Sünder bereuten ihre Missetaten und dankten der Kirche für ihre Intervention durch entsprechende Gaben. Die Furcht vor der reinigenden Strafe im Fegefeuer wurde nicht zuletzt durch die drastische Ausmalung derselben in Predigt, Literatur und bildlicher Darstellung gefördert. Ein extremer Realismus und eine überschießende Phantasie schilderten die Strafen in extenso, deren angenommene lange Dauer über Jahre und Jahrzehnte die Angst der Gläubigen nur vermehren konnte. Dennoch ist es wichtig, sich klarzumachen, daß es sich beim Fegefeuer prinzipiell um einen positiv besetzten Ort handelt. Denn die Buße ging vorüber, stellte mithin nur einen, wenn auch besonders grauenvollen und zeitraubenden „Umweg" zum Himmel dar. Er war vorgesehen für die dritte Kategorie der Menschen neben den „ganz Schlechten" und den „ganz Guten", nämlich für die „nicht ganz Schlechten" und „die nicht ganz Guten".

3. Anmerkungen zum mittelalterlichen Zeitverständnis Die Komplexität des Themas erfordert strenggenommen eine eingehende und sehr differenzierende Darstellung, die aber an dieser Stelle, d.h. im Rahmen einer „Einführung", nicht zu leisten ist. Wir müssen uns deshalb auf einige wenige, allgemeine Anmerkungen beschränken, deren pauschaler Charakter dem berechtigten Vorwurf allzu starker Vereinfachung freilich nicht entgehen kann. Dennoch soll hier auf sie im Interesse einer Primärinformation nicht verzichtet werden. Unter dem Aspekt des Mentalitätswandels betrachtet, geht die Forschung davon aus, daß im Laufe des Mittelalters mit einer sich verstärkenden Sensibilität der Menschen gegenüber der „Zeit" zu rechnen ist. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Eine große, wenn nicht entscheidende Bedeutung hat man der Tatsache zugemessen, daß erst seit dem späten Mittelalter die Zeit verstärkt physikalisch-exakt meßbar geworden ist. In früheren Zeiten hat man sich mit relativ ungenauen Wasser- oder Sonnenuhren behelfen müssen, oder man benützte die nur für größere kirchliche Gemeinschaften oder Monarchen bezeugten und erschwinglichen sog. Kerzenuhren, mit deren Hilfe anhand ihrer Brenndauer der Tag in gleichlange Abschnitte eingeteilt werden konnte. Erste „öffentliche Uhren" sind in Italien aus der ersten Hälfte

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des 14. Jahrhunderts bekannt 1 7 . Diesem „Uhrenboom" im 14. Jahrhundert (Dohrn-van Rossum), für den Stadtbürger durch die Rathaus-Uhr konkret sichtbar und hörbar geworden, läuft parallel die zunehmende Erkenntnis der wirtschaftlichen Bedeutung des Faktors Zeit. Zeit ist - man denke nur an den Zins - Geld. Zeit verschenken heißt Geld verschenken. Die Einsicht in die ökonomische Bedeutung des Faktors Zeit steht in einem gewissen ideologischen Widerspruch zu einem christlichen Verständnis von Zeit, die als Geschenk Gottes an die Menschen galt. Angesichts der biblischerseits behaupteten Aufhebung aller Zeit in der und durch die Ewigkeit Gottes konnte Zeit nur eine relative Bedeutung besitzen. In Zuspitzung eines von ihm behaupteten Gegensatzes zwischen christlichem und säkularem Zeitverständnis hat der französische Mentalitätsforscher Jacques Le Goff von der angeblich zyklisch bestimmten „Zeit der Kirche" und einer linear orientierten „Zeit der Kaufleute" gesprochen 1 8 . Die Problematik einer solch antagonistischen Gegenüberstellung ist an anderer Stelle bereits kurz angesprochen worden 1 9 . Sie berücksichtigt nicht das Problem komplexer Mentalitäten 2 0 : So ist durchaus vorstellbar, daß sich in einer Person verschiedene Mentalitäten überlagern können: Der mittelalterliche Kaufmann war nicht nur Kaufmann, sondern immer gleichzeitig auch Christ. Eine Orientierung an zyklisch geprägter christlicher Zeitvorstellung, also die Orientierung am Kirchenjahr mit seinen immer wiederkehrenden Höhepunkten einer reichen Festkultur war durchaus vereinbar mit dem linear ausgerichteten Gewinnstreben des Kaufmanns. Auch die Charakterisierung christlicher Zeitvorstellung als einer zyklisch ausgerichteten beschreibt nur einen Teilaspekt, beispielsweise die christliche Wocheneinteilung, die immer wieder von neuem mit dem Sonntag, dem Tag des Herrn, beginnt, oder den eben erwähnten Zyklus des Kirchenjahres mit seinen immer wieder kehrenden Festen. Darüberhinaus war aber auch „die Zeit der Kirche" linear geprägt, beispielsweise

17 Erste „öffentliche Uhren" 1307/08 in Orvieto, 1317/18 in Parma; 1336 läßt Azzo Visconti die erste, sicher bezeugte schlagende Turmuhr anbringen, vgl. G. DOHRN-VAN ROSSUM, Die Geschichte der Stunde, 1992, S. 124-126. 18 J. LE GOFF, Au Moyen-Age: Temps de l'Église et temps du marchand, in: Annales. E. S.C. 15 (1960), S. 417-433 (auch in: DERS., Pour un autre Moyen-Age. Temps, travail et culture en Occident, 1977, S. 4 6 - 6 5 (dt.: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter, in: C. HONEGGER (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a., Schrift und Materie der Geschichte, S. 393-414). 19 Vgl. dazu oben Kapitel V, S. 128. 20 Vgl. dazu oben S. 129-134.

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wenn man an das von Jacques Le Goff so intensiv untersuchte Fegefeuer denkt, in dem die bedauernswerten Seelen nach ihrem Tode eine festgesetzte Zeit lang ausharren mußten 2 1 . Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die zeitliche Bestimmung der biblischen und der Heilsgeschichte im Rahmen der allgemeinen Weltgeschichte. Da die Geschichte nach mittelalterlicher Auffassung einen Anfang und ein Ende kannte, hat man eine solche Einstellung, auch im Unterschied zum zyklischen Zeitverständnis, das in der heidnischen Antike vorgeherrscht habe, als ein lineares charakterisiert. Man dachte im Frühmittelalter wie beispielsweise der angelsächsische Mönch Beda Venerabiiis (gest. 735) bereits intensiv über das Problem der „Zeit" und ihrer Einteilung nach und verfaßte gelehrte Abhandlungen darüber. Auch gelangen auf dem Feld der Zeitrechnung (computus) bereits frühmittelalterlichen Gelehrten durchaus beachtenswerte Leistungen, die häufig praktischen Bedürfnissen wie z.B. der Bestimmung des sich jährlich ändernden Osterfesttermines dienten. Man wird aber skeptisch sein dürfen, inwieweit gelehrte Geschichtsdeutungen, die unter Zugrundelegung einer linearen Zeitvorstellung davon ausgingen, daß die Geschichte sich ihrem Ende zuneigte, nicht nur im Kreise christlicher Intellektueller, sondern auch darüberhinaus wirklich diskutiert wurden. Dazu waren die auf die Kirchenväter wie Augustinus (gest. 430) zurückgehenden Geschichtsmodelle in aller Regel viel zu komplex. Die sog. Theorie von den sechs Weltaltern versuchte ihre Vorstellungen dadurch zu erläutern, daß sie das Alter der Welt in Analogie zu den einzelnen Lebensabschnitten eines Menschen setzte und davon ausging, daß die Welt mittlerweile „alt" geworden sei und man sich mithin im Zeitalter der senectus (des „Greisenalters") befinde. Weiter verbreitet sein dürfte schon eher die sog. Vier-Monarchien-Lehre gewesen sein. Denn sie basierte nicht nur auf biblischen Aussagen, der Ausdeutung des Traumes des babylonischen Königs Nebukadnezar durch den Propheten Daniel, sondern konkretisierte sich darüberhinaus auch politisch: So verstand sich das mittelalterliche Kaisertum als legitimer Erbe und Fortsetzer des römischen, das als letzte in der Reihe von vier aufeinanderfolgenden Monarchien durch seine schiere Weiterexistenz dafür sorgte, daß die Welt nicht unterging. Freilich muß schon der seit dem Hochmittelalter unverkennbar einsetzende Bedeutungsverlust des Kaisertums und die „kaiserlose Zeit" im Spätmittelalter davor warnen, die reale Bedeutung solcher geschichtsphilosophischer Deutungsmuster zu überschätzen.

21 Vgl. dazu oben S. 234-236.

Zeitverständnis

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Für die „allgemeine Mentalität" in der Epoche des frühen und hohen Mittelalters typischer dürfte viel eher die mangelnde Sensibilität gegenüber der Zeit als einer physikalischen Meßgröße gewesen sein. Nicht nur war die Zeit für diese frühe Epoche des Mittelalters nur sehr schwer meßbar, die „Zeit" war darüber hinaus auch unterschiedlich lang. Da die christliche, die „kanonische" Zeitrechnung in der Einteilung der verschiedenen Tages- und Nachtzeiten von astronomischen Gegebenheiten abhängig war, dauerte der Tag im Sommer naturgemäß länger als im Winter. Die sogenannten Stundengebete (lat.: Hören), die von den Mönchen in den Klöstern zu festgelegten Zeiten zu verrichten waren, waren nicht einfürallemal physikalisch fixiert, sondern orientierten sich danach, ob man sich nun im Sommer- oder im Winterhalbjahr befand. Größten Wert legte man in den Klöstern vor allem auf die rechte Reihenfolge der gottesdienstlichen Übungen, nicht aber auf die genaue Fixierung einzelner Gebetstermine, die häufig von Kloster zu Kloster schwankten. Mangelnde Sensibilität gegenüber zeitlichen Faktoren drückt sich aber auch in vielen mittelalterlichen Schriftquellen aus. So verzeichneten die sogenannten Libri Memoriales, die von den Mönchen angelegten Gedenkbücher, nur den Todestag, nicht aber das Todesjahr des Verstorbenen. Auch der literarisch orientierten Geschichtsschreibung des frühen und hohen Mittelalters kam es weniger darauf an, die von ihr geschilderten Ereignisse und Personen chronologisch präzise zu fixieren. Es ist eine Neigung der Geschichtsschreiber zu konstatieren, genauere Zeitangaben zu vermeiden. Stattdessen verwendeten sie uns heute sehr unpräzise erscheinende Angaben wie beispielsweise „inzwischen" „während dieser Ereignisse", (interdum, dum haec geruntur usw.). Im Gegensatz hierzu tendieren die seit dem Spätmittelalter literarisch sich äußernde Kaufleute, die sog. marchands écrivains, verstärkt zu einer genauen Präzisierung der von ihnen geschilderten Ereignisse. Die Vorliebe für eine genaue Datierung findet sich aber auch häufig in der städtischen Geschichtsschreibung - wir waren ihr bereits einmal in Gestalt des Galbert von Brügge begegnet, der nicht nur Kleriker, sondern bezeichnenderweise auch Notar gewesen ist, mithin also einer, der durch seine berufliche Tätigkeit um die Bedeutung exakter Datierungen wußte 2 2 . Geschichtsbewußtsein im Sinne eines strengen Zeitbewußtseins fehlte im frühen Mittelalter noch weitgehend und begann sich erst allmählich seit dem Zeitalter des Investiturstreites (11./12. Jahrhundert) zu entwickeln.

22 Zu Galbert von Brügge vgl. oben S. 117.

240

Kapitel IX. Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen

Typisch für das konservative frühmittelalterliche Geschichtsverständnis, das man auch als „archaisch" bezeichnet hat, scheint vor allem das sehr häufig fehlende Distanzgefühl gegenüber der Vergangenheit zu sein und, damit eng verbunden, die feste Überzeugung, daß sich nichts geändert habe im Vergleich zu früher, die Zeit gleichsam still stehe. Das Gefühl hingegen, von der Vergangenheit durch eine historische Distanz getrennt zu sein, entwickelt sich erst ganz allmählich. Deutlichere Anzeichen dafür finden sich, wenn man einmal von einzelnen Ansätzen im 9. und 10. Jahrhundert absieht, erst im Umkreis der Kirchenreformer des ausgehenden elften und beginnenden zwölften Jahrhunderts. Deren „historisches" Verständnis wurde zumindest ansatzweise gefördert durch die Lektüre der Bibel. Denn diese hatte doch ausdrücklich die Zeit des Alten Bundes (tempus sub lege) von der Zeit des durch Jesus Christus begründeten Neuen Bundes (tempus sub gratia) geschieden. Das heißt, daß die Zeit und die Zeiten nicht stillstanden, sondern sich fortentwickelten; es gibt qualitative Unterschiede, die sich zeitlich fixieren lassen. Die eigene Zeit unterscheidet sich damit deutlich von vergangener Zeit. Beispielsweise fragten sich die Reformer, inwieweit das von ihren konservativen Gegnern ins Feld geführte königliche Selbstverständnis, das sich am Modell des alttestamentarischen Priesterkönigtums (David) orientierte, nicht historisch längst überholt war. Die von ihnen im Namen der libertas ecclesiae geforderte Trennung von König und Kirche konnten die Reformer auch historisch begründen. Eine königliche Kirchenherrschaft war vielleicht im „Zeitalter des (Mosaischen) Gesetzes" (tempus sub lege) angebracht, in dem mit Christus anfangenden „Zeitalter der Gnade" (tempus sub gratia) aber nicht mehr vonnöten. Insbesondere der kritische Blick der Reformer auf die von ihnen häufig pessimistisch gesehene eigene Gegenwart einerseits, und die von ihnen idealisiert gesehene Vergangenheit des frühen Christentums andererseits, konnte den Sinn für eingetretene historische Veränderung nur schärfen. Insofern hängen kirchliche Reform und historisches Bewußtsein eng zusammen: der Blick für die diversitas bzw. qualitas temporum wurde geschärft. Ein gewisses „Fortschrittsbewußtsein", der Stolz auf die eigene Leistung, ein Superioritätsgefühl gegenüber den Alten, läßt sich dann endgültig verstärkt seit dem 12. Jahrhundert registrieren. Es scheint in dem von der Forschung häufig als „Renaissance" gedeuteten kulturell-wissenschaftlichen Aufschwung des 12. Jahrhunderts verstärkt nachweisbar zu sein. Freilich ist im Vergleich zu den moralisch-historisch argumentierenden Kirchenreformern mittlerweile ein entscheidender Unterschied zu konstatieren: So wollten die „Intellektuellen" jenes Aufbruchszeitalters keine laudatores temporis

Bibliographie

241

acti, keine Lobredner vergangener Zeiten sein. Sie waren vielmehr stolz auf die eigenen Leistungen, die es ihnen ermöglichten, wie sie meinten, „auf den Schultern von Riesen sitzend, ein wenig weiter als jene sehen zu können."

4. Bibliographie Allgemein: R. SIMEK, Erde und Kosmos im Mittelalter, 1992. Natur/Umwelt: A. BORST, Lebensformen im Mittelalter, 1973 (zitiert nach der Tb.-Ausgabe l0

1993, hier S. 133-228 über „Raum und Umwelt"); L'Ambiente vegetale nell'Alto

Medioevo (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 37), 1990 (Sammelband eines 1989 abgehaltenen Frühmittelalterkongresses in Spoleto, Italien mit zahlreichen Einzelaufsätzen über Klima, Landschaftsbild, Ernährung, Agrartechnik usw.); B. HERRMANN (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, 1986; H. KÜHNEL, Natur/Umwelt (Mittelalter), in: P. DINZELBACHER (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993, S. 6 0 4 - 6 1 4 ; P. DINZELBACHER, Raum (Mittelalter), in: DERS. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, S. 562-579; A. ZIMMERMANN/A. SPEER (Hgg.), Mensch und Natur im Mittelalter, 2 Bde., 1991/92; wichtig jetzt die neue Zeitschrift „Micrologus": bisher erschienen Bd. 1 (1993: I Discorsi dei Corpi/Discourses of the Body), Bd. 2 (1994: Le Scienze alla corte di Federico Il/Sciences at the Court of Frederick II) (Die Bde. 3: Le Crisi deH'Alchimia/The Crisis of Alchemy und 4: Le Théâtre de la nature au bas Moyen Age sind angekündigt). Naturverständnis: D. THOSS, Studien zum locus amoenus im Mittelalter, 1972; W. KÖLMEL, Natura: genitrix rerum - régula mundi. Weltinteresse und Gesellschaftsprozeß im 12. Jahrh u n d e r t , i n : ZIMMERMANN/SPEER, M e n s c h u n d N a t u r , B d . 1, S . 4 3 - 5 6 ; J . ZAHLTEN, N a t u r a

sua und Natura generans. Zwei Aspekte im Naturverständnis Kaiser Friedrichs II., in: ZIMMERMANN/SPEER, M e n s c h u n d N a t u r , B d . 1, S . 8 9 - 1 0 4 , m i t 2 B i l d t a f e l n ; A . BORST,

Alpine Mentalität und europäischer Horizont im Mittelalter, in: DERS., Barbaren, Ketzer u n d A r t i s t e n , 1 9 8 8 , S . 4 7 1 - 5 2 7 ; DERS., D a s E r d b e b e n v o n 1 3 4 8 , e b d . , S . 5 2 8 - 5 6 3 .

Mittelalterliche Naturkunde: M. GRABMANN, Augustins Lehre von Glauben und Wissen und ihr Einfluß auf das mittelalterliche Denken, in: DERS., Mittelalterliches Geistesleben Bd. 2, 1936, S. 3 5 - 6 2 ; B. K. VOLLMANN (Hg.), Geistliche Aspekte mittelalterlicher Naturlehre (Wissensliteratur im Mittelalter Bd. 15), 1993; Ch. HÜNEMÖRDER, Hochmittelalterliche Kritik am Naturkundlich-Wunderbaren durch Albertus Magnus, in: D. SCHMIDTKE (Hg.), Das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur, 1994, S. 111-135; B. PABST, Atomtheorien des lateinischen Mittelalters, 1994. Thema ,Wald': R. BECHMANN, Des arbres et des hommes. La forêt au moyen age, 1984; E. SCHUBERT, Der Wald: wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt, in: HERRMANN (Hg.), Mensch und Umwelt, S. 2 5 7 - 2 7 4 ; V. FUMAGALLI, Der lebende Stein. Stadt und Natur im Mittelalter, 1989; R. GRÉGOIRE, La foresta come esperienza religiosa, in: L'ambiente vegetale nell'Alto Medioevo (Settimane di studio ... sull' Alto Medioevo Bd. 37), 1990, S. 663-703; H.-D. HEIMANN, Der Wald in der städtischen Kulturentfaltung

242

Kapitel IX. Natur-, Welt-, Raum- und Zeiterfahrungen

und Landschaftswahrnehmung. Zur Problematik des kulturellen Naturverhältnisses als Teil einer Umwelt- und Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: ZIMMERMANN/SPEER ( H g g . ) , M e n s c h u n d N a t u r , B d . 2 , S . 8 6 6 - 8 8 1 ; J . SEMMLER ( H g . ) , D e r

Wald in Mittelalter und Renaissance, 1991. Reisen/Pilger: J. RICHARD, Les récits de voyages et pèlerinages, 1981 (insbesondere Kapitel IV.E. La découverte des autres hommes et la mentalité occidentale, S. 82-84); N. OHLER, Reisen im Mittelalter, 3 1993; DERS., Pilgerleben im Mittelalter, 1994; A. ESCH, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des Späten Mittelalters, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 281-312 (Ndr. in: DERS., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, 1994, S. 7 0 - 9 2 ) ; X. VON ERTZDORFF/D. NEUKIRCHEN (Hgg.), Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Chloe. Beihefte zu Daphnis 13), 1992; P. WUNDERLI (Hg.), Reisen in reale und mythische Ferne, 1993; K. HERBERS, Der Jakobsweg, 1986; M.L. FAVREAU-LILIE, Civis peregrinus, in: Archiv für Kulturgeschichte 76 (1994), S. 321-350; W. PARAVICINI, Von der Heidenfahrt zur Kavalierstour. Über Motive und Formen adligen Reisens im späten Mittelalter, in: H. BRUNNER/N. R. WOLF (Hgg.), Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, 1993, S. 91-130; DERS. (Hg.), Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie. Teil 1 : Deutsche Reiseberichte bearbeitet von C. HALM, 1994. zu Petrarca: G. BILLANOVICH, Petrarca und der Ventoux, in: A. BUCK (Hg.), Petrarca, 1976, S. 4 4 4 - 4 6 3 ; J. ADLER, Die Besteigung des Mont Ventoux. Francesco Petrarca und die Landschaft, in: Castrum Peregrini 217-218 (1995), S. 54ff. zu Aeneas Silvius Piccolomini (Pius II.): A. ESCH, Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II.: Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung,

i n : H . BOOCKMANN/H. MÖLLER/K.

STACKMANN

(Hgg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften, Göttingen), 1989, S. 112-140, hier S. 133-135. Zeitverständnis: A. BORST, Lebensformen im Mittelalter, 1973 (zitiert nach der Tb.-Ausgabe ,0 1993, hier S. 35-132 über „Zeit und Lebenslauf); G. DOHRN-VAN ROSSUM, Die Geschichte der Stunde, 1992; A. ESCH, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: Historische Zeitschrift 239 (1984), S. 309-351; R. WENDORFF, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, 1980; H.-W. GOETZ, Zeit, in: P. DINZELBACHER (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993, S. 6 4 0 - 6 4 9 ; A. BORST, Die historische Zeit bei Abaelard, in: DERS., Barbaren, Ketzer und Artisten, 1988, S. 4 5 5 - 1 7 3 ; J. LE GOFF, AU Moyen-Age: Temps de l'Eglise et temps du marchand, in: DERS., Pour un autre Moyen-Age. Temps, travail et culture en Occident, 1977, S. 4 6 - 6 5 (dt.: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter, in: C. HONEGGER (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a., Schrift und Materie der Geschichte, 1977, S. 393 bis 414); DERS., Le temps du travail dans la «crise» du XIV e siècle: du temps médiéval au temps moderne, in: DERS., Pour un autre Moyen-Age, S. 6 6 - 7 9 (dt.: Die Arbeit in der „Krise" des 14. Jahrhunderts.: von der mittelalterlichen zur modernen Zeit, in: DERS., Für ein anderes Mittelalter, 1984, S. 29-42); H. KÜHNEL, Zeitbegriff und Zeitmessung, in:

243

Bibliographie

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P. DILG/G. K E I L / D . - R . M O S E R ( H g g . ) ,

Rhythmus

und Saisonalität, 1995 (enthält zahlreiche einschlägige Aufsätze zum Thema „Zeit" und „Zeitverständnis im Mittelalter"). Anfänge historischen Denkens:

K. F. WERNER, Gott, Herrscher und Historiograph: der

Geschichtsschreiber als Interpret des Wirkens Gottes in der Welt und Ratgeber der Könige (4. bis 12. Jahrhundert), in: E.-D. HEHL u. a. (Hgg.), Devs qvi mvtat tempora. Festschrift A. Becker, 1987, S. 1 - 3 1 ; H.-H. KORTÜM, Necessitas temporis: Zur historischen Bedingtheit des Rechtes im früheren Mittelalter, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 7 9 (1993), S. 3 4 - 5 5 ; K. SCHREINER, „Diversitas temporum". Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, h g . v o n R . HERZOG/R. KOSELLECK, 1 9 8 7 , S . 3 8 1 - 4 2 8 .

Metaphysische Räume/Fegefeuer: C. CAROZZI, Le voyage de l'âme dans l'au-delà d'après la littérature latine, 1994; P. DINZELBACHER, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, 1981; DERS., Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie, 1989; J. LE GOFF, La naissance du purgatoire, 1981 (dt.: Die Geburt des Fegefeuers, 1984, auch als Tb.-Ausgabe), vgl. dazu auch A. ANGENENDT, Rezension von J. LE GOFF, Die Geburt des Fegefeuers, in: Theologische Revue 82 (1986), S. 3 8 - 4 1 ; Himmel-Hölle-Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. vom Schweizerischen Landesmuseum, Zürich, 2 1 9 9 4 (mit zahlreichen einschlägigen Aufsätzen zum Thema und guten Abb.).

Kapitel X. Krankheit, Alter, Sterben und Tod 1. Das Mittelalter und die Medizin und Tod im Mittelalter

2. Alters- und Generationsvorstellungen

3. Sterben

4. Bibliographie

1. Das Mittelalter und die Medizin Vorurteile, unter denen das Mittelalter allgemein leidet, scheinen sich besonders im Bereich der mittelalterlichen Medizin zu bestätigen. Nicht nur im Vergleich zur modernen, sondern auch zur antiken Medizin genießt die mittelalterliche Heilkunst ein allenfalls bescheidenes Ansehen. Der Übergang von der Antike zum Mittelalter bedeutet nach heutiger Vorstellung vor allem den Verlust von medizinisch hochentwickelten Kenntnissen. Dem kranken Menschen sei damals nur der Rückzug auf magische Praktiken und/oder die christliche Religion geblieben, die dem Gläubigen das geduldige Ertragen von Krankheit zur Pflicht machte. Es entsteht, vom mentalitätsgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, das Bild einer sich passiv und resignativ verhaltenden Gesellschaft. Dieser überaus weit verbreiteten Einschätzung - das muß mit Nachdruck betont werden - gilt es entschieden entgegenzutreten. Sie ist aus zwei Gründen falsch: zum einen geht sie von verkehrten Voraussetzungen aus, was die griechisch-römische Antike und ihre Einstellung gegenüber Krankheit angeht. Man muß nur an das antike Sprichwort „Wen die Götter lieben, der stirbt jung" erinnern, an die enge Verbindung von Schönheit, Jugend und Gesundheit, an eine Antike, der Krankheit, Alter und Siechtum sehr häufig als größtes Übel galt und die deshalb auch teilweise (Beispiel Sparta) vor der Tötung Neugeborener nicht zurückschreckte. Nach Einschätzung der Forschung führte die negative Einstellung der antiken Gesellschaft gegenüber chronisch Kranken zu einem starken Ansteigen magischer Praktiken; denn diese galten im Unterschied zu den thraumatisch (aufgrund einer Ver-

Mittelalter und Medizin

245

letzung) Erkrankten als nicht durch eine rational orientierte Medizin therapierbar. Das heißt, daß wir bereits für diese Zeit von einem überaus starken Vorhandensein solcher Behandlungsmethoden und den dahinter stehenden Mentalitäten auszugehen haben, die man fälschlicherweise erst für das Mittelalter zu reklamieren pflegt. Man wird davon ausgehen können, daß im Mittelalter - im Unterschied zur Antike und im Unterschied zu heute - Krankheit nicht immer und nur als ein sozial defizienter Status empfunden wurde, der Leben nicht mehr lebenswert machte. Dies kann sogar, wie das Beispiel Hermanns des Lahmen (gest. 1054), eines der bedeutendsten Gelehrten des 11. Jahrhunderts, zeigt, auch für eine Adelsgesellschaft gelten, in der körperliche Vitalität und Unversehrtheit naturgemäß besonders wichtig waren. Hermanns überaus starke Lähmung, die ihn seit seiner Geburt weitestgehend bewegungsunfähig und damit auf die dauernde Hilfe Dritter angewiesen machte, veranlaßte seine Eltern, mächtige alemannische Grafen, ihr Kind dem Kloster Reichenau am Bodensee zu überantworten, gleichsam „abzuschieben". Aber es gilt festzuhalten, daß dieses Abschieben überhaupt möglich war und daß sich im Kloster für Hermann ein intellektueller Freiraum eröffnete, der es ihm ermöglichen sollte, einer der bedeutendsten Gelehrten des 11. Jahrhunderts zu werden. Es gab also einen Bereich innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft, nämlich die Kirche, die eine christliche Auffassung von Krankheit und Tod, als deren Urheber Gott galt, durchsetzen half. Daraus kann, muß nicht, eine positive Interpretation von Krankheit und Tod resultieren. Krankheit kann in einer interpretatio Christiana als Prüfung Gottes gedeutet werden; geduldiges Ertragen von Krankheit ist Ausdruck wahren Christentums. So wertete beispielsweise Balderich von Bourgeuil, Abt, Bischof und Dichter in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (gest. 1130), in seiner Schrift De visitatione infirmorum Krankheit als „Geschenk" Gottes: Wen Gott liebt, den züchtigt er, meinte Balderich unter Berufung auf den Hebräer-Brief (12,6). Krankheit wurde auch als Chance gedeutet. Sie eröffnete dem Menschen die Möglichkeit zur Umkehr (Konversion) und gab Gott Gelegenheit, seine allmächtige Gnade gegenüber den Menschen zu demonstrieren. Die mittelalterliche Kirche hat sich - davon künden eindrucksvoll die zahlreichen Kommentare zum Buch Hiob - in besonderer Weise um dieses Deutungsmuster bemüht. Auch dem Tod kann nach christlichem Verständnis eine positive Seite abgewonnen werden: So bedeutet nach christlicher Lehre das biologische Ende eines Menschen keineswegs das endgültige Aus, sondern dem Frommen und Gerechten war „Auferstehung von den Toten und ein ewiges Leben" - wie die einschlägige Formulierung im Glaubens-

246

Kapitel X. Krankheit, Alter, Sterben und Tod

bekenntnis lautet - versprochen. Daß die Menschen im Mittelalter ungeachtet einer christlichen Lehre, die auf die Relativität von Krankheit und Tod setzte, natürlich nach wie vor auch in starkem Maße auf magische Praktiken setzten 1 , wie sie bereits in der Antike bestanden, sollte in diesem Zusammenhang nicht weiter überraschen. Vielmehr fanden sie Unterstützung durch biblische Schilderungen von den Wunderheilungen Christi; freilich konnte nur Christus als Sohn Gottes solche Heilungen vollbringen; diese Fähigkeit beschränkte sich daher im Mittelalter auch folgerichtig auf einen engen Personenkreis von „Heiligen", die man als Nachfolger Christi verstand. Daher überrascht auch nicht die bei vielen Heiligen, zumindestens nach Aussagen ihrer Biographen, vorhandene Scheu vor dem „Wunder" 2 . Eher widerwillig, wenn überhaupt, vollbringen sie übernatürliche Heilungen, und gleichen in ihrer Reserve Christus, der bekanntlich dem Wunder distanziert gegenüberstand. Wichtiger als das Weiterleben solcher bereits für die Antike bezeugter magischer Praktiken erscheint freilich etwas anderes: die Bemühung um den Nächsten, zumal um den Kranken, stellt ein verpflichtendes Gebot christlicher Lebensführung dar und wendet sich in besonderer Weise an das Mönchtum, wie die vom Gründer des abendländischen Mönchtums, Benedikt von Nursia (gest. um 540), aufgestellte Regel (Kap. 36) verdeutlicht: „Vor alles und über alles ist die Sorge um die Kranken zu stellen, so daß man ihnen in der Weise dient, wie man in der Tat damit Christus dient, weil dieser gesagt hat: ,Ich war krank und ihr habt mich besucht' und ,Was ihr einem von den geringsten getan habt, das habt ihr mir getan' 3 . Diese Aussage blieb nicht etwa nur theoretisches Gebot, sondern wurde auch in die Lebenspraxis wenigstens monastischer Gemeinschaften umgesetzt. So brachte man beispielsweise im 9. Jahrhundert kranke Mönche aus Prüm in der Eifel über eine Distanz von über dreihundert Kilometern unter großen Mühen nach Sens in Mittelfrankreich, weil der dortige Abt Dido als medizinische Autorität galt. Dieser Umstand verdient besondere Erwähnung. Denn er kann zeigen, wie sehr bereits im frühen Mittelalter praktische medizinische Kenntnisse geschätzt wurden, ungeachtet aller theoretischer Aussagen, die Heilung allein von einer Intervention Gottes erwarteten. Andererseits zeigt der Vorgang aber auch, wie wenig verbreitet solches Wissen war. Das Prestige 1 Zur Bedeutung magischer Praktiken im Mittelalter vgl. Kapitel XII. 2 Zur Bedeutung des „Wunders" im Mittelalter vgl. Kapitel XII. 3

La Règle de Saint-Benoît (ed. A. DE VOGÛÉ), II, 1972, S. 570 (aus dem Lateinischen übersetzt).

Mittelalter und Medizin

247

des Abtes Dido beruhte auf soliden, antiken theoretischen Grundlagen, die im Mittelalter nie erloschen sind. Wenn auch der Gesamtumfang medizinischen Schrifttums im Übergang von Antike zum Mittelalter beträchtlich reduziert wurde, so brach die Tradition doch nie völlig ab. Ein Zeitgenosse von Dido, der Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus (gest. 856), informierte in seiner Enzyklopädie De rerum naturis seu De universo über den Stand der Medizin. Für den mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang wichtig erscheint die ausdrückliche Behandlung der Medizin als einer ars bzw. scientia. Sie sei schon deshalb hoch zu achten, weil sie eine von Gott geschaffene Kunst sei, die dazu diene, dem Menschen zu helfen. Ausführlich zitiert Hrabanus einschlägige Bibelstellen, die den Arzt und seine Heilkunst sehr positiv bewerten. Seine Verteidigung der Medizin und der Mediziner erklärt sich durch die schwierige Lage dieser Wissenschaft, die gewissen kirchlichen Kreisen als eine ausgesprochen „heidnische" galt, der man nicht vertraute bzw. die man für überflüssig hielt. Hrabanus seinerseits ist einer Tradition verpflichtet, die sich bereits im ausgehenden 8. Jahrhundert abzuzeichen begann. Dies läßt das „um das Jahr 795, also zur Zeit Karls des Großen" entstandene sog. Lorscher Arzneibuch erkennen. Es enthält u. a. auch eine „Rechtfertigung der Heilkunde". Der für uns anonym bleibende Autor beansprucht unter Berufung auf die große Autorität des frühmittelalterlichen Enzyklopädisten Isidor von Sevilla (gest. 636) für die Medizin den Rang eines wissenschaftlichen Faches. Die Medizin konstituiere zusammen mit sechs anderen Teildisziplinen die „Physik". Für unseren mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang ungleich interessanter ist freilich etwas anderes. Ausdrücklich wird der Medizin und den Medizinern ein autonomer Handlungsspielraum eingeräumt. Überraschend modern mutet die vom Autor vorgetragene Ätiologie (Lehre von den Krankheitsursachen) an. Krankheit muß nicht in jedem Fall religiös bedingt sein, sie kann auch ,säkular' und .rational' erklärt werden: „Denn aus drei Ursachen wird der Leib von Krankheiten befallen: aus einer Sünde, aus einer Bewährungsprobe und aus einer Leidensanfälligkeit. Nur dieser letzteren kann menschliche Heilkunst abhelfen, jenen aber einzig und allein die Liebe der göttlichen Barmherzigkeit. Gleichwohl wurden auch sie bisweilen nicht ohne menschliche Beihilfe geheilt. Das legen wir besser dar, wenn wir einen Beleg bringen. Aufgrund von Sünde nämlich wurde Saulus mit dem Verlust des Augenlichts geschlagen, wird jedoch nur geheilt durch die Handauflegung eines Menschen (Apostelgeschichte 9,8-18). Aufgrund einer Bewährungsprobe

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Kapitel X. Krankheit, Alter, Sterben und Tod

wie Tobias, als dieser, obwohl auf dem Wege der Gerechtigkeit wandelnd, die Sehkraft der Augen verloren hatte, ihn jedoch der Engel Raphael, der .Arznei Gottes' heißt, geheilt hat, nicht durch sich selbst, sondern durch den Sohn des Tobias, mit einem aus Fisch bereiteten Heilmittel (Tobias 11,10-14). Aufgrund einer Leidensanfälligkeit wie jener, den der Apostel belehrte: ,Wer schwach ist, möge Gemüse essen' (Römerbrief 14,2), und wie der Schüler desselben Apostels, den er ermunterte mit den Worten: .Genieße ein wenig Wein wegen des Magens und deiner häufigen Krankheiten' (1. Timotheusbrief 5,23). Aus alledem ist klar, daß weder menschliche Hilfen noch die Heilkunst zu verschmähen sind, weil, wenn sie zu verachten wären, der Herr keineswegs dem Paulus durch die Handauflegung des Ananias das Augenlicht wiedergeschenkt hätte und er seinen Jüngern nicht geboten hätte, den Kranken die Hand aufzulegen, damit es ihnen besser gehe (Markus 16, 18; Lukas 9,12)... Da pflegen aber einige zu sagen: ,Was haben wir nötig, von Ärzten geheilt zu werden, die wir unseren Kummer auf den werfen, der, wie feststeht, uns umsorgt (1. Petrusbrief 5,1)1 Kann der etwa nicht gewähren, daß wir ohne Heilmittel gesunden, er, der allein schon durch ein Wort alles zu erneuern vermag?' ... Aber unser Herr Jesus Christus, der uns ein Vorbild hinterlassen hat, damit wir seinen Fußspuren folgen (1. Petrusbrief 2,21), geruhte im Evangelium deutlichst zu zeigen, daß die Heilkunst und menschliche Beihilfen in der Not nicht abzuweisen sind. Denn als er im Haus des Pharisäers sich niedergesetzt hatte und eine Dirne, die ein Gefäß aus Alabaster voll kostbaren Salböls mitgenommen hatte, zu ihm trat und es, während er zu Tische saß, über sein Haupt goß, nahm er das nicht unwillig an, sondern lobte vielmehr ihre liebende Hingabe, so daß er zum Pharisäer sagte: ,Wahrlich, ich sage dir, ihr werden viele Sünden vergeben'. Über sie beklagten sich sogar seine Jünger und sagten: ,Wozu diese Verschwendung von Salböl?' Zu ihnen sagte der Herr: ,Ein gutes Werk hat sie an mir getan. Denn indem sie dieses Öl über meinen Leib goß, hat sie es zu meinem Begräbnis getan' (Matthäus 26, 6ff.). Wieso also tadelt jemand, der nur ein Mensch ist, das, was der Gottmensch als untadelig erklärt? Nachahmer dieses Vorbildes ist der Apostel Paulus gewesen mit den schon erwähnten Worten: ,Wer schwach ist, esse Gemüse'. Aber auch andere sehr viele heilige Männer eiferten ihm nach, von denen wir erfahren haben, daß sie ihre Krankheiten mit einem Hausmittel linderten und ins Himmelreich Eingang fanden ... (Es folgen zahlreiche Beispiele).

Mittelalter und Medizin

249

Infolgedessen darf man doch die menschliche Heilkunst nicht ablehnen, sondern muß sie bei einer Mühsal mit Danksagung anwenden, weil keiner sein Fleisch in dem Zustand, in welchem es geschaffen ist, hassen darf. Vielmehr darf man ihm darin, daß es leicht zum Sündigen neigt, den Zügel der Lust nicht lockern. Obgleich Paulus sagte:,Traget nicht Sorge für das Fleisch', fügte er doch sofort hinzu: ,bei den Begierden' (Römerbrief 13,14). Denn was er bei der Begierde verboten hat, erlaubte er durchaus bei einer Notlage" 4 . Hundertfünfzig Jahre später, am Ende des ersten nachchristlichen Jahrtausends, kommt es bereits zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen zwischen reinen Praktikern, deren medizinische Kenntnisse allein auf Erfahrung beruhten, und solchen Ärzten, deren Kunst auch und vor allem auf einem theoretischen, durch ein „Studium" erworbenen Wissen basierte. So erzählt der westfränkische Geschichtsschreiber Richer von St. Remi bei Reims (gest. nach 998) die folgende Geschichte: Bischof Derold von Amiens (gest. 946) galt am Hofe Ludwigs IV. aus dem Westfrankenreich als ein sehr erfahrener, wissenschaftlich ausgebildeter Arzt, dem der König zugetan war. Freilich hatte er in Gestalt eines Arztes aus dem süditalienischen Salerno einen Gegenspieler, der im Unterschied zu Derold über keinerlei „wissenschaftliche Ausbildung", sondern nur über praktische Erfahrung verfügte. Um festzustellen, wer die besseren naturwissenschaftlichen Kenntnisse hatte, ließ der König täglich wissenschaftliche Streitgespräche zwischen den beiden Medizinern veranstalten. Der Salernitaner, reiner Praktiker, der er war, unterlag der scholastischen Disputierkunst seines Gegners. Doch er war ein schlechter Verlierer. So konnte er seine Niederlage nicht verwinden und versuchte, freilich vergeblich, seinen Bezwinger, Bischof Derold, zu vergiften. Der seinerseits fackelte nicht lange und revanchierte sich dadurch, daß er dem arglosen Salernitaner Gift ins Essen streute. Der erwünschte Effekt trat ein. Das Gift verbreitete sich im Körper und die Folgen waren fatal: Der Salernitaner erkrankte ernstlich, weshalb er sich schweren Herzens an seinen Gegner Derold wenden mußte, dessen medizinische Kenntnisse er mittlerweile auf höchste lobte: „Derold, durch die Bitte des Königs bewegt, läßt dem Patienten Gegenmittel geben, sorgt freilich mit Absicht dafür, daß nicht alles Gift aus dem Körper weicht. Denn nachdem man das Gegengift verabreicht hatte, konzentrierte sich das ganze Gift im linken Bein. Das führte, wie Derold seinen Haus4

,Die Rechtfertigung der Heilkunde', übersetzt von A. OHLMEYER, in: Das Lorscher Arzneibuch, hg. vom Heimat- und Kulturverein Lorsch, 2 1990, S. 5 2 - 5 4 .

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Kapitel X. Krankheit, Alter, Sterben und Tod

genossen vertraulich erzählte, dazu, daß das Gift in der Art einer Kichererbse durch die Beinvene nach oben stieg, dort aber vom Gegengift zum Rückzug gezwungen wurde. Aufgrund dieses beständigen Hinundher wurden die äußeren Hautschichten am Bein durchlässig; der Gesundheitszustand verschlechterte sich, so daß die Chirurgen am Ende gezwungen waren, das betroffene Bein zu amputieren" 5 . Wir können den historischen Wahrheitsgehalt dieser Geschichte im einzelnen nicht nachprüfen. Aber sie ist insofern „wahr", als sie den Schulgegensatz zwischen einer theoretisierenden französischen und einer aufs Praktische konzentrierten salernitanischen Medizin verdeutlicht. Sie ist aber auch insofern „wahr", als sie die ab dem 11. und 12. Jahrhundert verstärkt zu beobachtende Verwissenschaftlichung der Medizin vorwegnimmt, die sich in einer verstärkten Wertschätzung der medizinischen Diagnostik niederschlägt. Hugo von Folieto (gest. um 1174) und Hildegard von Bingen (gest. 1179) betonen die Wichtigkeit der signa (Symptome) der verschiedenen Krankheiten: Aus dem Allgemeinzustand des Kranken, seinem Appetit, seiner Bewegungsfähigkeit, seinen Ausscheidungen etc. lassen sich Art der Krankheit, Prognosen über ihren weiteren Verlauf und mögliche Therapie verläßlich ableiten. Die durch Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Kenntnisse werden gesammelt und aufgeschrieben. Die weitere Entwicklung im Mittelalter ist von einer zunehmenden Spezialisierung und Institutionalisierung der Medizin geprägt. Zunächst wird die Ausbildung eines eigenen Berufsstandes der Mediziner durch das 2. Laterankonzil von 1139 gefördert. Es bestimmte in seinem neunten Kanon unter anderem, daß Mönchen und Regularkanonikern (Geistliche, die in einer engen Gemeinschaft nach der Regel des heiligen Augustinus zusammenleben) das Medizinstudium verboten sei. Man wollte damit verhindern, daß Kleriker und Mönche aus finanziellem Interesse sich der Medizin zuwandten. Mit welch überraschend modern anmutenden Problemen man sich bereits im 13. Jahrhundert herumschlagen mußte, zeigen die 1231/1240 vom Stauferkaiser Friedrich II. erlassenen sog. Konstitutionen von Melfi (Liber Augustalis). Dort findet sich - freilich nur mit Geltung für den besonders weit entwickelten süditalienischen Machtbereich Friedrichs - eine ausfürliche Approbationsordnung für Ärzte, eine Festlegung von Studieninhalten und Mindestkenntnissen, eine ärztliche Gebüh-

5

Richer, Histoire de France (888-995), II, 59 (ed. R. LATOUCHE, Bd. 1), 1930, S. 222-226 (aus dem Lateinischen übersetzt).

Mittelalter und Medizin

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renordnung, die Trennung von Pharmazeuten und Medizinern, der Zwang zur Fortbildung etc. Natürlich erlischt im späten Mittelalter naturkundlich-medizinische Laienbildung, die häufig von einem stark magischen Denken geprägt ist, keineswegs und setzt sich, wie gerade die jüngste Forschung hat deutlich machen können, auch in der Frühen Neuzeit noch weiter fort. Man wird vielmehr, unabhängig davon, in welcher Epoche des Mittelalters wir uns befinden, in den allermeisten Fällen von „komplexen" Mentalitäten auszugehen haben. Das heißt, daß sich verschiedene Einflüsse miteinander verbinden bzw. überlagern können. So ergänzen sich beispielsweise im Fall des heiligen Geraldus von Aurillac (gest. 908) der Glaube an eine „übernatürliche", durch Gott bewirkte Heilung seines Gebrechens und der Einsatz rational-wissenschaftlicher Therapeutik. Geraldus hatte sich, jung wie er war, von der Schönheit eines Mädchens bezaubern lassen: „Als er den strahlenden Glanz ihrer zarten Haut bemerkt hatte, begann er dahinzuschmelzen". Das vereinbarte Rendezvous mit dem Mädchen endet freilich in einem Fiasko, denn bei näherer Betrachtung erweist sich das Mädchen als ausgesprochen häßlich, so daß Geraldus anfänglich ernste Zweifel kommen, ob es sich noch um ein und dasselbe Mädchen handelt: „Er stößt einen tiefen Seufzer aus, steigt ganz schnell auf sein Pferd, dankt Gott und macht sich unverzüglich aus dem Staub ... Freilich vergaß der süße und gerechte Gott nicht, seinen Knecht Geraldus, den er aus süßer Geneigtheit vor Unzucht bewahrt hatte, wegen dessen sexueller Begehrlichkeit mit gerechtem Maß zu bestrafen. Kaum waren einige Tage vergangen, so züchtigte Gott den schuldig gewordenen mit dem grünen Star. Ein Jahr und länger konnten die Augen des Geraldus, die Unerlaubtes gesehen hatten, nicht einmal Erlaubtes mehr sehen, und sei es auch nur für kurze Zeit, da weder auf seinen Augenlidern noch auf seinen Pupillen sich etwas abzeichnete. Seine Vertrauten wußten um die Blindheit seiner Pupillen und verheimlichten die Krankheit gegenüber Fremden. Geraldus aber, unter der strafenden Hand Gottes, demütigte sich. Er schwieg und deutete damit seine Bereitschaft an, die Züchtigungen Gottes anzunehmen. Freilich verweigerte er weder eine medizinische Behandlung seines körperlichen Leidens, noch verlangte er sie dringend. Vielmehr wartete er geduldig, wann und auf welche Weise der Herr seine Bestrafung beenden wollte" 6 . 6

Odo von Cluny, Vita s. Geraldi comitis 1,9-10 (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina, Bd. 133, Sp. 6 4 8 - 6 4 9 ) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Ein gutes Beispiel für eine Überlagerung verschiedener Mentalitäten, ein Beispiel für „komplexe" Mentalitäten, bietet das folgende Exemplum, das Jakob von Vitry (gest. 1240) über den berühmten Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) erzählt: „ . . . vom heiligen Bernhard wird berichtet, daß er zwei Mönche (in seinem Kloster) hatte, einen sehr frommen und demütigen und einen eigensinnigen und störrischen. Als beide von einer schweren Krankheit gequält wurden, sah der heilige Bernhard für den schlechten Mönch den besten Arzt vor, für den guten aber überhaupt keinen, sondern überließ ihn Gottes Urteil. Daher begann der ganz Konvent sich zu entrüsten und zu bedauern, daß der gute und demütige Mönch verachtet, der schlechte und ungehorsame Mönche aber sorgfältig behandelt werde. Um die Entrüstung zu dämpfen, sagte Bernhard: .Sollte jener, den ihr für schlecht haltet, sterben, dann fürchte ich, daß seine Seele verdammt werden wird. Daher ist es nötig, daß er seine Gesundheit wiedererlangt, so daß er sich bessern kann. Der andere aber hat eine körperliche Medizin nicht nötig, da er zu denjenigen gehört, die gerettet werden, und ihm nützt es, wenn er aus dieser Krankheit zu Gott hinübergeht'. Als sie das hörten, freuten sie sich sehr, und ihr Murren legte sich" 7 . Zusammenfassend wird man sagen können, daß im medizinischen Denken, in Diagnostik und Therapie, rationale Mentalitäten bereits für das frühe Mittelalter nachweisbar sind. Man wird die Entwicklung während des Mittelalters als zunehmende Sicherung des „therapeutischen Autonomieraumes der Medizin" (G. Keil) beschreiben können, wie er sich spätestens bereits im 8. Jh. in dem erwähnten „Lorscher Arzneibuch" abzuzeichnen beginnt.

2. Alters- und Generationsvorstellungen Folgen wir dem Enzyklopädisten Isidor von Sevilla (gest. 636) und seiner Einteilung in insgesamt sechs Lebensabschnitte (infantia: bis 7 Jahre; pueritia: bis 14 Jahre; adolescentia: bis 28 Jahre; iuventus: bis 50 Jahre; gravitas: bis 70 Jahre; senectus: über 70 Jahre), so unterscheiden sich mittelalterliche und neuzeitliche Auffassungen von Lebensaltern nicht wesentlich voneinander. Dennoch sind Gründe vorstellbar, die dafür sprechen könnten, daß man, der antikisierenden Auffassung Isidors zum Trotz, nach mittelalterlicher Auffassung ungleich früher „erwachsen" und „alt" wurde als heute. 7

J. GREVEN, Die Exempla aus den Sermones feriales et communes des Jakob von Vitry, 1914, Nr. 10, S. 13 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Diese Differenz dürfte wesentlich durch den Umstand bedingt sein, daß die Lebenserwartung im Mittelalter um einiges niedriger war als heute. Eine wesentlich geringere Rolle, vor allem für die Masse der Bevölkerung, dürfte das bei manchen mittelalterlichen „Intellektuellen" nachweisbare Gefühl gespielt haben, in einer „alternden Welt" zu leben, im sechsten und letzten Weltalter, also - folgen wir Isidor - in der Phase der senectus, an deren Ende nach christlicher Lehre das Jüngste Gerichte stehen würde. Wir haben wenig Grund zu der Annahme, daß Alter im Mittelalter grundsätzlich anders als heute aufgefaßt und erfahren wurde. Vielmehr ist auch für das Mittelalter davon auszugehen, daß dieser Begriff vornehmlich negativ besetzt war. Einschätzungen des Alters als einer Zeit körperlichgeistigen Verfalls finden sich bereits in der Bibel und wurden vom Mittelalter übernommen, zumal auch damals häufig gelesene antike Autoren wie Cicero und sein Werk Cato maior de senectute diese Einstellungen verstärken mußten. Ob sich Einstellungen gegenüber dem Alter während des Mittelalters verändert haben, ist schwer zu beurteilen. In einer eindringlichen Studie hat R. Sprandel versucht, dem Wandel der Altersmoral dadurch nachzugehen, daß er für das Thema ,Alter' einschlägige mittelalterliche Psalmenkommentare auf inhaltliche Unterschiede befragte 8 . Er kam zu dem Ergebnis, daß zeitlich später entstandene Psalmenkommentare zu einer ungleich pessimistischeren und realistischeren Deutung von Alter neigen (Alter als das Ergebnis physiologischer Prozesse) als zeitlich frühere, bei denen verstärkt symbolisch-mystische Interpretationen des Alterungsprozesses (z. B.: ,alt sein' und ,alt werden' durch Sünde, senectus vitiorum) zu konstatieren sind. Was das Verhältnis der Generationen im Mittelalter zueinander angeht, so dürfen auch hier die Unterschiede zu heute nicht überbetont werden. Der Gegensatz zwischen Jungen und Alten ist ganz sicherlich ein generelles anthropologisches Strukturelement, das allen Gesellschaftsverbänden inhärent war und ist. Aus dieser Perspektive betrachtet, reduziert sich die vor allem von Georges Duby so betonte Rolle der „Jungen" (jeunes) in der Adelsgesellschaft des Hochmittelalters 9 : Vater-Sohn-Konflikte, die aus einer

8

R. SPRANDEL, Altersschicksal und Altersmoral. Die Geschichte der Einstellungen zum Altern nach der Pariser Bibelexegese des 12.-16. Jahrhunderts, 1981.

9

G. DUBY, Les J e u n e s " dans la société aristocratique dans la France du Nord-Ouest du XII e siècle, in: Annales 19 (1964), S. 8 3 5 - 8 4 6 ; Ndr. in: DERS., Hommes et structures du moyen âge, 1973, S. 213-225.

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(vorläufigen) Nichtbeteiligung des „Jungen" an der Herrschaft des „Alten" resultieren, spielen auch in der mittelalterlichen Geschichte eine wichtige Rolle, lassen sich sicherlich aber nicht als Ausdruck typisch mittelalterlicher Mentalität deuten. Der der Jugend im Mittelalter häufig zugeschriebene Leichtsinn, ihre Neigung zur engen Verbindung mit Gleichaltrigen („Cliquenbildung"), die zuweilen behauptete Superiorität oder gar Dominanz alles Sexuellen, die das Verhalten (männlicher) Jugendlicher angeblich konditioniert habe, beruht auf einer häufig nicht genügend reflektierten Übernahme literarischer Klischees (sog. topoi) durch die moderne Mentalitätsforschung. Mit dem Begriff der Jugend war häufig, quasi-zwangsläufig, eine Reihe von Stereotypen verbunden, denen im jeweiligen literarischen Kontext ganz bestimmte Funktionen zukamen. Im Falle der oben bereits erwähnten Versuchung des „jungen" Geraldus dient die ihm zugeschriebene sexuelle Begierde (concupiscentia) als negative Folie, welche die sich abzeichnende Heiligkeit des Helden umso heller strahlen läßt. Etwas anders verhält es sich im Fall der dem ,jungen" deutschen König Heinrich IV. zugeschriebenen sexuellen Hemmungslosigkeit. Hier dient das Stereotyp, das sich mit dem Begriff der Jugend verbindet, der Denunziation des politischen Gegners. Auch die in zahlreichen mittelalterlichen Exempla sich findende Figur des ,lüsternen Alten', der durch attraktive junge Frauen verführt zu werden droht, sollte davor warnen, Sexualität ausschließlich zu einem Problem der „Jungen" zu erklären. Eine differenzierte Sichtweise empfiehlt sich auch im Falle des von manchen Mentalitätsforschern (z. B. Ph. Aries) gezeichneten Bildes über mittelalterliche Einstellungen Kindern gegenüber. Man wird gerne zugeben, daß die Pädagogik eine vergleichsweise junge Disziplin ist, doch folgt daraus nicht notwendigerweise der Schluß, im Mittelalter habe man Kinder als kleine Erwachsene behandelt und angesehen, die zudem unter mangelnder Zuwendung gelitten hätten. Wie sehr Probleme einer modernen ,kindgerechten' Pädagogik vielmehr bereits im Mittelalter diskutiert wurden, zeigt die sog. Ökonomik des Pariser Universitätslehrers Konrad von Megenberg (gest. 1374), der im ersten Buch eine Fülle von Ratschlägen für eine angemessene Kindererziehung bereithält. Alle nur denkbaren Bereiche werden - beginnend mit der Säuglingspflege - von Konrad behandelt. So warnt er beispielsweise die Amme vor allzu starken Weinen, weil sie dann, „betrunken wie sie ist, leicht den ihr anvertrauten Säugling vernachlässigt, was dazu führen könnte, daß ihr Schützling von einem Haustier verschlungen wird, während sie selbst

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schläft. Auch ist denkbar, daß sie das Kind fahrlässig ins offene Feuer oder ins Wasser fallenläßt oder aber das Kind in ihrem Bett im Schlafe erdrückt" 10 . Konrad empfiehlt deshalb den adligen Eltern, in angemessener Weise für die Amme zu sorgen, „denn man muß die Amme lieben wegen seines noch mehr geliebten Kindes" 1 Auch wenn im Mittelpunkt des Werkes der Adel steht, geraten die Nichtadligen, die „Armen", doch nicht ganz aus Konrads Blickwinkel. So fragt er sich beispielsweise: „Was aber soll die arme Bäuerin machen, oder ganz allgemein formuliert, jede Frau „aus sozial schwachen Verhältnissen" (omnis mulier inops), die ihren Lebensunterhalt mit der eigenen Hände Arbeit bestreiten muß? Diese hat manchmal nicht ein Leintuch, um damit den Kopf ihres Säuglings einzuwickeln oder dessen Nabel zu bedecken. Wo wird sie, was wünschenswert wäre, die Windeln wechseln, wo wird sie ein ruhiges Zimmer für ihren Säugling finden? Es liegt nämlich ganz offensichtlich auf der Hand, daß die Armen mit einer gewaltigen Unreinheit belastet sind, vor der die reichen Leute bewahrt bleiben. Aber der Herr über die Natur hat auch seine Gaben verteilt und denjenigen, denen er ein geringeres Vermögen gegeben hat, hat er größere Gnadenbeweise geoffenbart. Ich (Konrad von Megenberg) habe des öfteren darüber nachgedacht und mich auch sehr darüber gewundert, wie gewisse arme Frauen, auch wenn sie schwanger waren, schwerste körperliche Arbeit verrichteten, die bei einer reichen Frau ohne Zweifel zum Abort geführt hätte" 1 2 . Nachdem sich Konrad über die beste Methode verbreitet hat, das Kind zu entwöhnen - er empfiehlt, die Brustwarzen der stillenden Amme mit einer Salz-Honigmischung zu bestreichen - kommt er gleich anschließend auf die richtige Säuglingspflege zu sprechen: „Auch soll man nicht mit Schweigen übergehen, daß gewisse Ammen die Glieder der kleinen Kinder, wenn sie noch weich sind, durch falsche Behandlung schändlich deformieren, und zwar besonders den Kopf und die

10 Konrad von Megenberg, Ökonomik 1.2, 9 (hg. von S. KRÜGER, Monumenta Germaniae Histórica: Staatsschriften des späteren Mittelalters, Bd. 3), 1973, S. 81 (aus dem Lateinischen übersetzt). 11 ebd. 12 Ökonomik 1.2, 9 (ed. KRÜGER, S. 82) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Beine. Denn wenn der Kopf ungeschickt hingelegt oder gedrückt wird, wird er entweder enorm verlängert oder auf eine lächerliche Art bucklig. Ganz ähnlich führt eine falsche Krümmung der Beine des gewickelten Säuglings zu einer Fersen- und Zehenmißbildung. Und wenn solche Kinder herangewachsen sind, reiten sie nicht, wie sehr sie auch, gegen ihren Willen, ihrem Pferd die Sporen geben. Denn sie können ihre Fersen nicht mehr richtig beherrschen und drücken sie deshalb in die Weichteile ihres Pferdes. Auch soll die Amme häufiger mit der hohlen Hand den Kopf des Säuglings leicht zusammendrücken, den Kopf mit einer runden Mütze aus Bändern schützen und ihn auf ein weiches Kopfkissen betten, bis aufgrund der Verhärtung der hinteren Schädelpartie der Kopf des Kindes sich in einer angemessenen Art gerundet hat und einen lobenswürdigen Anblick bietet" 13 . Besondere Gedanken macht sich Konrad auch über die Kindheit, die er für eine besonders gefährliche Zeit hält. Zwar ist er der Meinung, daß Siebenjährige bereits „bildungsfähig" seien, doch bleibt er überaus skeptisch, was den kindlichen Verstand betrifft: „Die Zeit der Kindheit, der infantia, leitet sich ab von in, was soviel wie ,nicht' bedeutet, und von for, faris (ich spreche, du sprichst), sozusagen, weil das Kind in diesem Alter unfähig ist, zu sprechen. Der Grund dafür ist nicht, daß in dieser Zeit das Kind nicht etwa sprechen könnte, sondern weil es sich bei dem, was es spricht, um äfflsches und nachahmendes Zeug handelt, ohne daß viel Verstand dabei wäre. Daher kommt es auch, daß Kinder mehr aus Gewohnheit sprechen und handeln, weil auch der Affe dasjenige nachahmen will, was er bei den Menschen bemerkt. So kam es, daß ein Kind, das einen Gerber Leder zuschneiden sah, als dieser nach Hause ging, sich ein Schneidewerkzeug griff und sich unvorsichtigerweise die Hände verstümmelte. So hat ein Kind in der kaiserlichen Stadt Nürnberg, welche der Provinz Noricum benachbart ist, zur Zeit des Römerkönigs Ludwig IV. (gemeint ist Kg. Ludwig d. Bayer 1314-1347) gesehen, wie sein Vater, der Schlachter war, mehrere Lämmer schlachtete. Eines Tages raubte es das väterliche Schlachtmesser und schnitt seinem Spielkameraden, einem anderen Kind, die Gurgel durch. ,So', sagte es, ,hat mein Vater die Lämmer geschlachtet'. Deshalb muß sorgfältigst darauf geachtet werden, daß die Kinder keine Gegenstände in die Hand bekommen, mit denen sie sich verletzen könnten. Auch sollte man darauf achten, Dinge,

13 Ökonomik 1.2, 11 (ed. KRÜGER, S. 8 4 - 8 5 ) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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die geheimbleiben sollten, nicht vor fünf- oder sechsjährigen oder in dieser Altersklasse sich befindlichen Kindern zu besprechen. Sie sind nämlich geschwätzig, und was sie auch hören und sehen, plaudern sie in ihrer Gedankenlosigkeit aus ..." 1 4 .

3. Sterben und Tod im Mittelalter „Wenn es ein Charakteristikum gibt, das die Einstellung der Menschen zum Tod im Mittelalter von der anderer Perioden unterscheidet, so das, daß er durchgehend nicht als das Ende des Lebens, sondern als ein Schritt innerhalb des Lebens angesehen wurde" - so lautet eine jüngst vertretene Meinung 15 . Gemäß dieser Auffassung ließe sich die Alterität des Mittelalters am besten in dessen von der Moderne grundsätzlich geschiedenen Einstellung und Verhaltensweise gegenüber dem Tod fassen. Mittelalterliches Sterben habe sich „öffentlich" vollzogen; die Furcht vor dem Tode sei, wenn sie nicht ganz negiert worden sei, damals in ungleich geringerem Maße vorhanden gewesen 16 ; auch habe man im Mittelalter eine Vorahnung seines Todes gehabt. Eine solch positive Interpretation, wie sie hier skizziert worden ist, kann nicht uneingeschränkt akzeptiert werden. Denn sie entpuppt sich bei näherer Betrachtung als romantische Verklärung des Mittelalters, deren Wurzeln unübersehbar im Leiden an einer als zu technologisch empfundenen und deshalb auch als antihuman geschmähten Moderne zu suchen sind 17 und auf der Überschätzung solcher mittelalterlicher Texte, die wie Viten und Exempla

14 Ökonomik 1.2, 13 (ed. KRÖGER, S. 8 8 - 8 9 ) (aus dem Lateinischen Ubersetzt). 15 P. DINZELBACHER, Sterben/Tod. Mittelalter, in: DERS. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 1993, S. 244. 16 Vgl. DINZELBACHER (wie Anm. 15), S. 2 4 5 - 2 4 6 : „Die erstaunliche Furchtlosigkeit vor dem Sterben, die in der altnordischen Literatur viele Männer auszeichnet, war gewiß auch bei vielen frühmittelalterlichen Kriegern zu finden, wobei in der Merowinger- und Karolingerzeit noch sehr viele Bauern Krieger waren. Der heldenhafte Schlachtentod, der Nachruhm bringen würde, war eher zu wünschen als zu fürchten. Eine solche Einstellung prägt auch noch die im Hochmittelalter aufgezeichneten Heldendichtungen (Nibelungenlied usw.)." 17 So auch die Meinung von A. PATSCHOVSKY, Tod im Mittelalter, in: A. BORST U. a. (Hgg.), Tod im Mittelalter, 1993, S. 9 - 2 4 , hier S. 9: „... aber ich kann vor einer Idyllisierung älterer Gesellschaften nur warnen. Wer die Vergangenheit romantisiert, dämonisiert die Gegenwart und macht sich und andere blind für beides".

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in erzieherischer, ermahnender oder auch propagandistischer Absicht geschrieben wurden. Als ein Beispiel hierfür sei aus der Vita Richarii confessoris Centulensis des Alkuin (gest. 804) zitiert: „Denn da er (Richarius) den Tag seiner Heimrufung, an dem er das solange ersehnte Glück erlangen und für immer mit Christus verbunden werden sollte, den er immer geliebt hatte, bereits wußte, rief er seinen bereits erwähnten Mitstreiter Sigobard zu sich und sagte: ,Mein Sohn, ich weiß, daß mein Ende nicht mehr fern ist, und daß ich meinen König, nach dem ich mich schon lange gesehnt habe, sehr bald sehen werde ... Aber du, mein Sohn, bereite für meinen Körper ein Gefäß, in dem er (der Körper) bestattet werden soll, ohne überflüssigen Aufwand, sondern in zweckmäßiger Weise, damit er darin bewahrt werde bis zu jenem Tag, an dem diese Vergänglichkeit verwandelt wird zu Unvergänglichkeit und diese sterbliche Hülle unsterblich wird. Und bereite dich in aller Sorgfalt darauf vor, allerliebster Sohn, damit, wenn jener Tag, der mir nun naht, für dich anbricht, er dich bereit finde. Ich aber gehe den Weg allen Fleisches; nur sei mir der Retter der Welt gnädig und möge er mich nun vor dem Feind verteidigen, der mich einst schon vor dem Feind erlöst hat; und den, den ich als Tröster in meinem gegenwärtigen Leben hatte, den möchte ich als Spender des ewigen Lebens bekommen'. Als der Schüler dies von seinem (geistlichen) Vater hörte, da befolgte er tränenüberströmt seine Anweisungen, spaltete einen Baumstamm, höhlte ihn aus und paßte ihn an die Körpermaße des Vaters an und benetzte weinend das Werk, das er schuf; und er füllte es mit seinen bitteren Tränen, bevor er den Leib seines Vaters hineinlegte ... Und während der Sohn das traurige Leichenbegängnis für den Vater vorbereitete, da zehrte den Vater eine heftige Krankheit aus und in seinem kalten Körper verblieb kaum noch ein letzter Atemhauch, und dennoch ließ er nicht ab vom Beten und vom Gotteslob. Und während er durch die heilbringende Speise des Körpers und Blutes Christi seinen Weg (zum Heil) sicherte, hauchte er unter Danken und Gebeten seinen Geist aus. Und er wurde von seinem Schüler an dem Ort, den er selbst vorbestimmt hatte, begraben. Aber wie wunderbar! Während des Leichenbegängnisses für seinen Vater fiel der Schüler plötzlich in den Schlaf und sah in einer Vision, daß er sozusagen in eine hellerstrahlende und wunderschöne Halle entrückt sei, die leuchtender als das Sonnenlicht war, in der er den seligen Richarius mit leuchtendem und heiterem Antlitz sah und der zu ihm sagte:,Siehe, Bruder Sigobard, welche Wohnung mir Gott bereitet hat; für die elende Behausung, die ich auf Erden hatte, hat er mir eine prächtige im Himmel gegeben, für die verachtenswerte

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eine ruhmreiche, für die finstere eine hell leuchtende und für die rauchige eine, die in aller Süße erstrahlt.' Und als er erwachte, da führte er voller Freude das Leichenbegängnis zu Ende, da Gott dafür gesorgt hatte, daß der Sohn getröstet und der Ruhm des Vaters aufgezeigt würde" 1 8 . Einer der einflußreichsten Urheber dieser Mittelalterverklärung ist der bereits mehrfach erwähnte französische Mentalitätshistoriker Philippe Aries (gest. 1991), dessen „Geschichte des Todes" ausdrücklich von der Inhumanität moderner Intensivstationen ausgeht und in diesem Zusammenhang vom „verwilderten Tod" spricht, dem er einen angeblich „gezähmten Tod" im Mittelalter kontrastierend gegenüberstellt 19 . Die Eingängigkeit der Aries'schen These, die wohl wesentlich auf ihrem zivilisationskritischen Ansatz beruht, sorgt dafür - die oben zitierten Aussagen Dinzelbachers legen es zumindestens nahe - , daß der in der Forschung schon erhobene entschiedene Widerspruch nicht zur Kenntnis genommen wird. Der Mediävist Arno Borst hat die grundlegende Problematik des Ansatzes von Aries bereits auf den Punkt gebracht: „(Wir) dürfen ... nicht wie Aries das, was hätte sein sollen, mit dem verwechseln, was gewesen ist" 2 0 . Ein Blick in das Geschichtswerk des aus einem sächsischen Adelsgeschlecht stammenden Thietmar von Merseburg (gest. 1018) zeigt, daß man auch in den angeblich so heroischen Zeiten des frühen Mittelalters massive Todesfurcht kannte: „Währenddessen ließ mich die schwerkranke Frau Liudgard 2 1 durch einen Boten rufen; wie ich (Thietmar) schon erzählte, stand sie mir ganz besonders nahe und war mir auch verwandtschaftlich verbunden. Doch als ich nach Dunkelwerden in Wolmirstedt ankam, wo sie damiederlag, merkte ich gleich beim Betreten der Kemenate, daß sie in großer Angst war und darum unablässig Psalmen sang. Vor allem sprach und bedachte sie immer wieder das Wort: ,Mich hält deine Hand, Herr! Nun suchen sie vergeblich meine

18 Alkuin, Vita Richarii Confessons Centulensis (ed. B. KRUSCH), in: Monumenta Germaniae Historica: Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. IV, S. 3 9 7 - 3 9 9 (aus dem Lateinischen übersetzt). 19 PH. ARIÈS, L'homme devant la mort, 1977 (dt.: Geschichte des Todes, 1980); vgl. ferner DERS., Essais sur l'histoire de la mort en Occident du moyen Age à nos jours, 1975 (dt.: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, 1976). 20 A. BORST, Drei mittelalterliche Sterbefälle, in: DERS., Barbaren, Ketzer und Artisten, 1988, S. 567-598, hier S. 572-573. 21 verheiratet mit dem Markgrafen Werner v. d. sächsischen Nordmark.

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Seele'. An mich richtete sie kein einziges Wort; nur auf meine Frage, ob sie nach der hl. Ölung verlange, erwiderte sie: ,Gern, denn dann wird sich Christi Wille an mir schnell erfüllen'. Nachdem man sie frisch bekleidet hatte, ließ sie mich kommen; und als alles recht zur Ölung vorbereitet war, sagte ich ihr: ,Wie schön bist du jetzt!' Sie aber entgegnete: ,Ich sehe einen schönen Jüngling zu meiner Rechten' - und wies mit den Augen dorthin. Dann ging ich weg; müde von der Reise schlief ich lange und hörte sie beim Erwachen in großen Schmerzen schwer stöhnen. Ich ging zu ihr und sang den Psalter, bis allen Anwesenden bewußt wurde, daß sie im Todeskampfe lag" 22 . Welch massive Angstvorstellungen das mittelalterliche Denken beherrscht haben müssen, lassen insbesondere die zahlreichen zeitgenössischen Visionsberichte erkennen. Als besonders markantes Beispiel sei hier die Visio Tundali (auch Visio Tnugdali genannt) angeführt. Sie ist die wohl berühmteste mittelalterliche Jenseitsbeschreibung, von der über einhundertfünfzig lateinische Handschriften bekannt sind. Im Jahre 1148 fällt der Ritter Tundal während des Essens in eine Ekstase, die drei Tage andauern sollte: „Als" sagte er (Tundal), „meine Seele den Leib verließ und erkannte, daß jener (der Leib) gestorben war, begann sie sich im Bewußtsein ihrer Schuld zu ängstigen und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie fürchtete sich nämlich, wußte aber nicht, was sie fürchtete. Sie wollte zu ihrem Leib zurückkehren, konnte aber nicht eindringen; sie wollte auch nach draußen gehen, aber erschrak überall sehr. Und so wandte sich die ärmste Seele hin und her im Bewußtsein ihrer Schuld, auf niemanden vertrauend, außer auf Gottes Erbarmen. Und als sie sich so länger befand und weinend und heulend bebte und nicht wußte, was sie tun solle, sah sie schließlich eine so große Menge unreiner Geister zu sich kommen, daß sie nicht nur das ganze Haus und den Hof erfüllten, wo der Tote weilte, sondern auch über alle Straßen und Plätze der Stadt hin kein Ort aufschien, der nicht von ihnen voll gewesen wäre. Wie sie aber diese arme Seele umringten, bemühten sie sich nicht, sie zu trösten, sondern vielmehr in Trauer zu versetzen, indem sie sagten: ,Laßt uns', sprachen sie, ,dieser Armen den passenden Todesgesang singen, weil sie eine Tochter des Todes ist und Nahrung für das unauslöschliche Feuer, eine Freundin der Finsternisse, eine Feindin des Lichtes'. Und zu ihr 22 Thietmar von Merseburg, Chronik VI, 84 (Neu übertragen und erläutert von WERNER TRILLMICH) (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. IX), 1966, S. 333.

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gewandt, knirschten sie alle wider sie mit den Zähnen und zerkratzten mit den eigenen Krallen aus großer Raserei ihre ganz schauerlichen Wangen, indem sie sagten: ,Siehe, Armselige, das Volk, das du gewählt! Mit denen zu brennen, wirst du in die Höllentiefe fahren! Du Nährerin des Zankes, du Liebhaberin der Zwietracht, warum bist du nicht stolz? Warum treibst du nicht Ehebruch? Warum hurst du nicht? Wo ist deine Eitelkeit und eitle Wonne? Wo ist dein unbändiges Lachen? Wo ist deine Kraft, mit der du viele angegriffen hast? Warum zwinkerst du jetzt nicht mit den Augen, wie du gewohnt warst? Scharrst nicht mit dem Fuß, sprichst nicht mit dem Finger, brütest nicht Übles im bösen Herzen?' Durch dies und Ähnliches erschreckt, konnte die arme (gemeint ist die Seele) nichts anderes als weinen, da sie den ihr von allen, die da waren, ohne Unterlaß angedrohten Tod erwartete ,.." 2 3 Man wird also dem Fazit von Arno Borst zustimmen müssen: „Der Tod war im Mittelalter schwerer als heute, denn niemand wußte eine Antwort auf die Fragen, die Sterbende am dringlichsten stellten: ob ihre Seele für immer in Himmel oder Hölle einziehen, ob ihr Leib für diesmal Tod oder Leben ausbrüten werde. Sie mußten alle Lebenskraft zusammennehmen, um ihre doppelte Angst, die religiöse und die kreatürliche, zu überwinden. Wer ihre Qual verklärt, verkennt ihre Leistung" 24 . Auch die vielfach behauptete Tatsache, daß der „mittelalterliche Mensch" seinen eigenen Tod voraussehen konnte, bedarf entschieden einer realistischeren Einschätzung. Wir haben keinen stichhaltigen Grund, der uns veranlassen könnte, in dieser Beziehung für das Mittelalter gegenüber anderen Epochen grundlegend verschiedene Verhältnisse anzunehmen. Auch damals galt schon wie noch heute die grundlegende Erkenntnis, welche die Antike bereits mit den Worten formuliert hatte: Mors certa - hora incerta (,Der Tod ist gewiß - aber die Todesstunde ist ungewiß'). Selbst der fromme Bischof Thietmar, der ansonsten dazu neigte, von ihm geschilderte Sterbefälle zu stilisieren, läßt erkennen, daß ein präzises Wissen um das eigene Sterben und das Sterben anderer beileibe nicht den mittelalterlichen ,Normalfall' darstellte. Bis zum Schluß hofft der Erzbischof noch und hält seine Genesung für möglich. So berichtete Thietmar vom Erzbischof Waithard von Magdeburg das folgende (August 1012):

23 Wir folgen der deutschen Übersetzung der Visio Tnugdali von P. DINZELBACHER, Mittelalterliche Visionsliteratur, 1989, S. 8 7 - 8 9 . 24 BORST, Drei mittelalterliche Sterbefälle (wie Anm. 20), S. 5 9 6 - 5 9 7 .

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Kapitel X. Krankheit, Alter, Sterben und Tod

„In der folgenden Nacht erkrankte der Erzbischof unter schweren Kopfschmerzen; als ich mich am Morgen bei ihm einfand, mußte ich lange warten, da er sein Zelt nicht verlassen konnte. Als er endlich erschien, klagte er mir, er sei schwer krank. Er versprach aber, er werde die damals in Merseburg weilende Königin besuchen und dort mit mir verhandeln. So ging ich wieder; er sang noch die Messe, obwohl er es zunächst abgelehnt hatte; war doch gerade das Fest der Auffindung des ersten Märtyrers Christi und Sonntag; es sollte leider seine letzte sein. - Am Donnerstag traf ich in Merseburg ein; noch während ich mich mit den Brüdern auf seinen Empfang vorbereitete, erfuhr ich durch Boten, er sei krank auf einem Wagen in Giebichenstein eingetroffen. Ich ritt am nächsten Tag zu ihm und traf Bernward, den Bischof der Hildesheimer Kirche - man hatte ihn um des Segens, aber auch um seiner Heilkunst willen rufen lassen, auf die er sich gut verstand - und außerdem den Grafen Friedrich, dessen Bruder Graf Dedi war. Bei meinem Eintreten begrüßte mich der Erzbischof in seinem Sessel sitzend sehr herzlich. Dann betrachtete er mit Bedauern seine weniger als sonst geschwollenen Füße, denn sein Leib fühlte mehr Erleichterung, wenn sie dick waren. Er hat mir damals erklärt: Wenn er diese Krankheit gesund überstehe, würde ich keinen gewogeneren Freund als ihn finden. Ich blieb bis zum Abend und ritt dann unbefriedigt heim, denn am folgenden Abend war Vigil vom Fest des Christusstreiters Laurentius, dessen Feier am Sonntag bevorstand ... Am Dienstag vor der Prim suchte ich ihn nochmals auf. Jetzt war Bischof Eid zugegen und bemühte sich in ständigem Gebet redlich um ihn. Als ich die Kemenate betrat, in der der fromme Mann lag, hörte ich ihn schon nicht mehr sprechen und merkte, daß er mich nicht mehr erkannte" 25 . Es ist also unbedingt vor falscher Romantisierung eines angeblich „einfacheren" Todes im Mittelalter zu warnen. Das gilt beispielsweise auch für die als ein besonderes Defizit der Moderne diagnostizierte und beklagte „Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen" 26 . Hier wird man ebenfalls sehr vorsichtig sein müssen und daran erinnern können, daß sich „mittelalterliches" Sterben keinesfalls immer „begleitet" in einer Gemeinschaft vollzog. Auch im Mittelalter starb man sehr häufig einsam: der verwundete Soldat auf dem Schlachtfeld ohne jede Chance auf eine medizinische Ver-

25 Thietraar von Merseburg, Chronik VI, 70-71, ed. TRILLMICH, S. 319. 26 Vgl. das bekannte Buch von NORBERT ELIAS, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, 1982.

Sterben und Tod

263

sorgung ebenso wie der kranke und alte Bürger im städtischen Spital des Spätmittelalters 27 . Die Gnade eines „privilegierten Todes" (K. Schreiner), wie er noch am ehesten Mönchen zuteil werden konnte, die in ihrer Gemeinschaft den Tod erwarteten, stellte ganz sicher nicht den mittelalterlichen Normalfall dar. So mancher Adliger zog sich in ein Kloster zurück, um sich dort auf seinen Tod vorzubereiten. Dieser Umstand deutet darauf hin, daß ein Sterben in der Mönchsgemeinschaft relativ .leichter' war als ein Sterben in der ,Welt'. Das dürfte ganz wesentlich damit zusammenhängen, daß in monastischen Kommunitäten individuelles Sterben sich in den Bahnen eines aufwendigen Rituals vollzog, das die jeweilige Klostergemeinschaft in das Sterben miteinbezog und beiden Seiten, dem Sterbenden wie den ihn Begleitenden, den Tod „bewältigbarer" machte. Die uns überlieferten monastischen Brauchtexte, die sog. consuetudines, beeindrucken noch heute durch ihre Intensität und Aufmerksamkeit, die sie dem Thema ,Sterben und Tod' schenken. Sie erklären die große Attraktivität, die das monastische Sterben für den Adel besaß. Darüberhinaus sollte ein seit dem 11. Jahrhundert intensiviertes Totengedenken der Klöster dazu dienen, den Seelen der Verstorbenen auch im Jenseits durch Gebete Beistand zu sichern. Man war der Ansicht, daß die Effektivität der Gebete für die Seele des Verstorbenen entscheidend von der moralischen Qualität der Betenden abhing. Dies trug dazu bei, daß das Totengedächtnis zu einer der Hauptaufgaben der Klöster wurde, die dafür sorgten, daß die Verbindung zwischen Lebenden und Toten nicht abbrechen konnte. Als ein Beispiel, das für viele andere monastische Sterberituale steht, sei aus der sog. Redactio Helmstadiana-Fuldensis zitiert, die aus dem 11. Jahrhundert stammt und in ihrem dreißigsten und einunddreißigsten Kapitel ausführlich über „Krankheit, Tod und Begräbnis" handelt: „Wenn er (der Abt) aber sieht, daß sich dessen Ende (des kranken Bruders) ankündigt, dann soll er den Kranken dazu bringen, daß er nicht nur ihm, sondern auch den Priestern beichtet. Nach der Beichte soll der Abt die Mönchsgemeinschaft zusammenrufen und dessen Zustand mitteilen. Danach sollen alle mit dem Kreuz, dem Weihwasser und den Reliquien der Heiligen und einer angezündeten Kerze zusammen mit dem Priester zum Kranken gehen.

27 Ein Beispiel einer mittelalterlichen Klage über die „Anonymität des Sterbens" gibt K. SCHREINER, Der Tod Marias als Inbegriff christlichen Sterbens, in: A. BORST U. a. (Hgg.), Tod im Mittelalter, 1993, S. 261-312, hier S. 288.

264

Kapitel X . Krankheit, Alter, Sterben und Tod

Das Krankenöl, den Leib und das Blut des Herrn, sollen sie herbeibringen. Danach soll der Priester das Haus segnen und zum Bett (des Kranken) gehen und seine Hand auf das Haupt des kranken Bruders legen und ihn segnen. Der Abt aber soll mit den Brüdern die sieben Psalmen und die Litanei singen. Auf die Litanei sollen die Gebete des Priesters mit dem Psalm ,Deus deorum' folgen. Danach soll er mit dem heiligen Öl gesalbt werden, so wie es der kirchliche Ritus vorschreibt. Ein härenes Gewand soll über seinen Kopf gelegt und Asche auf seine Brust gestreut werden. Nachdem dies alles in rechter Form vollbracht ist, soll er ein letztes Mal allen Brüdern und dem Priester beichten, indem er folgendes spricht: ,Ich beichte dem Herrn'. Danach soll er nach erlangter Absolution den Leib und das Blut des Herrn zu sich nehmen. Darauf soll er, wie es die Regel vorschreibt, bewacht werden mit Nachtwachen, Gebeten, mit dem Trost der Heiligen Schrift und jeglicher Sorgfalt, bis er in die Welt zurückkehrt, aus der er gekommen ist." (Es schließen sich Anweisungen über Gebete, die der Abt mit den übrigen Brüdern während des Sterbevorgangs zu leisten hat:) „Während dies geschieht, soll der Leichnam mit warmem Wasser gewaschen werden und die Seele soll durch Gebete Gott empfohlen werden. Der Leichnam soll aber mit einem wollenen Hemd bekleidet werden und der Kukulle (mit Kapuze versehenes Obergewand eines Mönches) und den Schuhen, und der Kopf soll mit der Kapuze bedeckt werden. Und so soll er im Sarg in die Kirche getragen werden, wobei die Antiphon ,Chorus angelorum', der Psalm ,In exitu', das Responsorium ,Libera me domine' angestimmt werden und alle Glocken geläutet werden." (Es folgen weitere ausführliche gottesdienstliche Anweisungen für den Sterbetag und die folgenden dreißig Tage:) „Während des gesamten Jahres soll seine Essensportion im Speisesaal der Mönche dort aufgetischt werden, wo er (der Verstorbene) zu sitzen pflegte, und der Abt soll einen gottesfürchtigen Bruder bestimmen, der sie (die Portion) für seine Seele an die Armen verteilt. Innerhalb von dreißig Tagen sollen drei Gerichte pro Tag gegeben werden und für das restliche Jahr zwei Gerichte pro Tag und pro Monat. Und am Jahrestag seines Todes sollen volle Vigilien (Totengedenkgottesdienste), Messen und das Abendmahl zu seinem Andenken gefeiert werden. Damit aber sein Name nicht in Vergessenheit gerät, soll er an diesem Tag in das Totengedenkbuch eingetragen werden und sein Tod soll schriftlich allen Mönchsund Kanonikergemeinschaften mitgeteilt werden zu seinem Gedächnis" 28 .

28 Corpus consuetudinum monasticarum Bd. VII/III, ed. K. HALLINGER, 1984, S. 359-363.

265

Sterben und Tod

Es überrascht nicht, daß solche Totengedächtnisfeiern, je länger je mehr die Klöster ruinieren mußten. Die monastischen Beter standen einer immer größer werdenden Anzahl von Toten gegenüber, derer durch Messen, Speisungen der Armen und Almosengabe gedacht werden mußte. Das führte fast zwangsläufig zum Ruin vieler Klöster, an ihrer Spitze das burgundische Reformkloster Cluny, das der Memoria-Pflege besonders verpflichtet war. Unterschiede zwischen mittelalterlicher und heutiger Mentalität sind vor allem auch in dem Umstand zu erblicken, daß man Sterben und Tod in jener Zeit weniger tabuisierte als heute. Insbesondere das späte Mittelalter behandelte diese Themen mit einer besonderen Intensität, die der niederländische Kulturhistoriker Jan Huizinga (gest. 1941) wie folgt umschrieb: „Drei Themata waren es, die die Melodie für die nie ausgesungene Klage über das Ende aller irdischen Herrlichkeit lieferten. Da war vorab das Motiv: wo sind sie alle geblieben, die früher die Welt mit ihrer Herrlichkeit ausfüllten? Dann gab es das Motiv der schaudernden Betrachtung der Verwesung alles dessen, was einmal menschliche Schönheit ausmachte. Schließlich das Motiv des Totentanzes, der Tod, der die Menschen mit sich zerrt aus jedem Beruf heraus, aus jedem Lebensalter" 29 . Diese Sätze Huizingas, die er vor nunmehr über siebzig Jahren in seinem berühmten Buch über den „Herbst des Mittelalters" niederschrieb, haben von ihrer Aktualität nichts verloren. Auch die moderne Forschung ist, von Modifikationen einmal abgesehen, dem von Huizinga gezeichneten Bild spätmittelalterlicher Einstellungen gegenüber dem Tod in vielem treu geblieben. Die besondere Bedeutung von Huizinga liegt in der Komplexität seiner Motiverforschung. So wies er bereits auf interkulturelle Gemeinsamkeiten hin, indem er scheinbar typische „mittelalterliche" Einstellungen gegenüber dem Tod als anthropologische Grundkonstanten erkannte, die sich auch in außereuropäischen Gesellschaften (z. B. Buddhismus) wiederfinden lassen. Eine Konstanz der Motive läßt sich aber auch innerhalb des zeitlichen Rahmens des Mittelalters erkennen. So findet sich scheinbar typisch „Spätmittelalterliches" bereits im frühen und hohen Mittelalter. Von Huizinga übernommen hat die jüngste Forschung auch dessen Nachweis einer dialektischen Verschränkung von an sich Gegensätzlichem und einander Ausschließendem. Der Lebenslust, der Kunst des guten Lebens (ars

29 J. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters. Kapitel XI: Das Bild des Todes, h i e r S . 193-194.

10

1969, S. 190-208,

266

K a p i t e l X . K r a n k h e i t , Alter, S t e r b e n u n d T o d

bene vivendi) steht die Kunst des rechten Sterbens (ars bene moriendi) gegenüber. Vielleicht noch mehr als früher ist im Spätmittelalter das Sterben zum Problem geworden, weil es nicht mehr als „Teil des Lebens" aufgefaßt wird: „Je mehr die Auffassung schwindet, daß der Tod ein Teil des Lebens ist, kann er als dessen Gegenteil zu Bewußtsein kommen" 3 0 . So gesehen ist die Tatsache, daß dem Spätmittelalter das Sterben zunehmend zu einem Problem geworden ist, ein Indiz für seine im Vergleich zu vorangegangenen Zeiten fortgeschrittene Säkularisierung. Die besonders intensive Beschäftigung des Spätmittelalters mit Vergänglichkeit und Tod erklärt sich - darüber besteht in der Forschung weitgehend Einmütigkeit - vor dem Hintergrund einer Zeit, welche aufgrund einer durch die Pestwellen (seit 1348) ausgelösten existentiellen Krise in ihrer Selbstsicherheit auf das Schwerste erschüttert wurde. Man wird die Einstellung des Mittelalters gegenüber dem Tod nicht auf einen einzigen Nenner bringen können. Vielmehr gilt es zu differenzieren: „Leichter" starb es sich im Mittelalter nur sehr bedingt, vor allem dann, wenn es, wie im Idealfall monastischer Gemeinschaften, ein „begleitetes Sterben" war. Ob immer von einer im Glauben verankerten Gewißheit der Erlösung auszugehen ist, welche die Heiligengeschichtsschreibung ihren Helden zugeschrieben hat, steht dahin. Nur wenige Menschen waren selbst im Mittelalter Heilige. Auf alle Fälle schwerer gemacht wurde das Sterben durch bedrückende Jenseitsvorstellungen wie z. B. Fegefeuervorstellungen. Und ganz sicher war das Sterben im Mittelalter physisch schwerer. Uns heute zur Verfügung stehende Methoden der Schmerzmilderung gab es damals nicht. Die Bedeutung kreatürlichen Schmerzes sollte nicht unterschätzt werden, mit der Möglichkeit wochen- und monatelanger Agonie gerechnet werden. Die Analyse sog. mittelalterlicher Totenroteln aus dem 11. und 12. Jahrhundert durch Jean-Claude Kahn hat deutlich gemacht, daß auch der Tod im Mittelalter dieselben Gefühle der Angst und des Pessimismus bei den Menschen hervorgerufen hat wie heutzutage. In diesen Schreiben, die über das Ableben eines Mönches oder eines sonstigen der jeweiligen monastischen Gemeinschaft Nahestehenden berichten und der Information untereinander dienen, erscheint der Tod als der große Gleichmacher, der sich nicht korrumpieren läßt, der überraschend eintritt und des3 0 W. WEHLE, Der Tod, das Leben und die Kunst, in: A. BORST (Hg.), Tod im Mittelalter, 1993, S. 2 2 1 - 2 6 0 , hier S. 2 2 2 .

31 J.-C. KAHN, Les moines messagers. La religion, le pouvoir et la science saisis par les rouleaux des mort ( l X e - X I I e siècle), 1987.

267

Bibliographie

halb häufig als ein Schock empfunden wird. Die Verfasser der Totenrotuli versuchten, ihn mit denselben Einstellungen zu „bewältigen" wie heute wir: mitmenschlich, durch Tröstung der Hinterbliebenen; philosophisch, durch Hinweis auf das unabwendbare menschliche Schicksal; christlich, durch den Hinweis auf die - freilich nicht sichere - Möglichkeit des ewigen Lebens für den Verstorbenen.

4. Bibliographie Zur mittelalterlichen Medizin: P. WUNDERLI (Hg.), Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance, 1986; D. JACQUART/C. THOMASSET, Sexualité et savoir médical au Moyen Age, 1985; G. BAADER, Die Anfänge der medizinischen Ausbildung im Abendland bis 1100, in: Settimane di studio ... sull'Alto medioevo 19 (1972), S. 6 6 9 - 7 1 8 ; DERS./G. KEIL (Hgg.), Medizin im mittelalterlichen Abendland, 1982; H. SCHIPPERGES, Der Garten der Gesundheit. Mediziner im Mittelalter, 1985; DERS., Die Kranken im Mittelalter,

3

1992;

G. KEIL/A. PLATTE, Zur Heilkunde im frühen Mittelalter, in: Das Lorscher Arzneibuch, hg. vom Heimat- und Kulturverein Lorsch, 2 1990, S. 11-22. Alters- und Generationsvorstellungen (vgl. dazu auch die Bibliographie von Kapitel IX): G. DUBY, Les , j e u n e s " dans la société aristocratique dans la France du Nord-Ouest au X I I e siècle, in: Annales 19 (1964), S. 8 3 5 - 8 4 6 ; Ndr. in: DERS., Hommes et structures du moyen âge, 1973, S. 2 1 3 - 2 2 5 ; vgl. dazu U. PETERS, Von der Sozialgeschichte zur Familienhistorie. Dubys Aufsatz über die . j e u n e s " und seine Bedeutung f ü r ein funktionsgeschichtliches Verständnis höfischer Literatur, in: Beiträge zur Geschichte der dt. Sprache und Literatur 112 (1990), S. 4 0 4 - 4 3 6 ; K. ARNOLD, Lebensalter/Mittelalter, in: P. DINZELBACHER (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993, S. 2 1 6 - 2 2 2 ; DERS., Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, 1980; R. SPRANDEL, Altersschicksal und Altersmoral, 1981; DERS., Mentalitäten und Systeme, 1972; PH. ARIÈS, Geschichte der Kindheit, 4 1981 ; P. BORSCHEID, Geschichte des Alters, 1987; S. SHAHAR, Childhood in the Middle Ages, 1990(dt.: Kindheit im Mittelalter, 1991); CH. DETTE, Kinder und Jugendliche in der Adelsgesellschaft des frühen Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 76 (1994), S. 1 - 3 4 ; A. NITSCHKE, Die Stellung des Kindes in der Familie im Spätmittelalter und in der Renaissance, in: A. HAVERKAMP(Hg.), Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt, 1984, S. 2 1 5 - 2 4 3 . Sterben und Tod: W. GOEZ, Die Einstellung zum Tode im Mittelalter, in: Der Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim

Jungius-

Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg am 9. und 10. Oktober 1975, 1976, S. 111-153; K. STÜBER, Commendatio animae. Sterben im Mittelalter, 1976; PH. ARIÈS, Essais sur l'histoire de la mort en Occident du moyen Age à nos jours, 1975 (dt.: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, 1976); DERS., L'homme devant la mort (dt.: Geschichte des Todes, 1980); H. BRAET/W. VERBEKE (Hgg.), Death in the Middle Ages, 1983; O. G. OEXLE, Die Gegenwart der Toten, in: BRAET/VERBEKE, Death in the Middle Ages, S. 1 9 - 7 7 ;

268

Kapitel X. Krankheit, Alter, Sterben und Tod

J.-C. KAHN, Les moines messagers, 1987; N. OHLER, Sterben und Tod im Mittelalter, 1990; A. BORST, Ein exemplarischer Tod, in: DERS. U. a. (Hgg.), Tod im Mittelalter, 1993, S. 2 5 - 5 8 ; DERS., Drei mittelalterliche Sterbefälle, in: DERS., Barbaren, Ketzer und Artisten, 1988, S. 5 6 7 - 5 9 8 ; J. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, Kap. XI: Das Bild des Todes, L0

1 9 6 9 , S . 1 9 0 - 2 0 8 ; H . ROSENFELD, D e r m i t t e l a l t e r l i c h e T o t e n t a n z ,

2

1 9 6 8 ; A . PATSCHOVSKY,

Tod im Mittelalter, in: BORST U. a. (Hgg.), Tod im Mittelalter, S. 9 - 2 4 ; W. WEHLE, Der Tod, d a s L e b e n u n d d i e K u n s t , i n : BORST U. a . ( H g g . ) , T o d i m M i t t e l a l t e r , S . 2 2 1 - 2 6 0 ; K . SCHREI-

NER, Der Tod Marias als Inbegriff christlichen Sterbens, in : BORST U. a. (Hgg.), Tod im M i t t e l a l t e r , S . 2 6 1 - 3 1 2 ; H . FUHRMANN, Ü b e r a l l ist M i t t e l a l t e r ,

1996, S. 2 0 5 - 2 2 4 :

Vom

„schlimmen Tod" oder wie das Mittelalter einen „guten Tod" herbeiwünschte. Klösterlicher Totendienst/Memoria: J. WOLLASCH, Totengedenken im Reformmönchtum, in: R. KOTTJE/H. MAURER (Hgg.), Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, 1989, S. 147-166; D. IOGNA-PRAT, Les morts dans la comptabilité céleste des Clunisiens de l'an M i l , i n : R e l i g i o n e t c u l t u r e a u t o u r d e l ' a n M i l , e d . D . IOGNA-PRAT/J.-C. PICARD,

1990,

S. 5 5 - 6 9 ; O. G. OEXLE, Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: J . HEINZLE ( H g . ) , M o d e r n e s M i t t e l a l t e r , 1 9 9 4 , S . 2 9 7 - 3 2 1 .

Jenseitsvorstellungen : J. LE GOFF, La naissance du purgatoire, 1981 (dt.: Die Geburt des Fegefeuers, 1984; auch als Tb.-Ausgabe), vgl. dazu auch A. ANGENENDT, Rezension von J . L E GOFF, D i e G e b u r t d e s F e g e f e u e r s , i n : T h e o l o g i s c h e R e v u e 8 2 ( 1 9 8 6 ) , S .

38-41;

Himmel-Hölle-Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. vom Schweizerischen Landesmuseum, Zürich, 2 1994.

Kapitel XI. Sexualität und Liebe 1. Vorbemerkung

2. Die Entstehung der christlichen Sexualmoral in der Spätantike

3. Mittelalterliche Naturlehre und menschliche Sexualität hohen Mittelalter

5. Ausblicke auf das Spätmittelalter

4. Die Liebe im frühen und 6. Bibliographie

1. Vorbemerkung Die in diesem und dem folgenden Kapitel vorzustellenden Bereiche menschlicher Mentalität sind in besonderer Weise von Gefühlen, Stimmungen, Leidenschaften usw. geprägt. Die Verwendung des Begriffes .Affekt' bzw. .affektiv' rechtfertigt sich vor dem Hintergrund eines bereits zeitgenössischen mittelalterlichen Sprachgebrauchs, der häufig von affectus spricht und damit die emotionalen und körperlichen Beziehungen von Menschen untereinander bezeichnet. Zweifelsohne gehört die Behandlung von ,Liebe und Sexualität' zu den Verdiensten der Mentalitätsgeschichte, denn die traditionelle Geschichtswissenschaft hat dieses Thema allenfalls am Rande berührt. Doch wäre es zu einfach, diesen Umstand nur mit einer (früher) vorhandenen Tabuisierung des Themas erklären zu wollen. Es schmälert die vorhandene ,emanzipatorische' Leistung der Mentalitätsgeschichte nicht oder nur wenig, wenn wir darauf hinweisen, daß ein weiterer Hauptgrund für die geringe Aufmerksamkeit der Forschung in der Sprödigkeit der Quellen, namentlich derjenigen vom 5. bis zum 12. Jahrhundert, zu suchen ist. Etwas anderes wiegt ungleich schwerer. Bisweilen scheint die Mentalitätsforschung, soweit es wenigstens das Gebiet der mittelalterlichen Geschichte betrifft, im Eifer des Gefechts das Kind mit dem Bade auszuschütten, will sagen, daß im Zuge des bereits in der Einleitung erwähnten Konzepts von der starken Andersartigkeit des Mittelalters 1 anthropologische

1

Vgl. oben Kapitel 1.

270

Kapitel XI. Sexualität und Liebe

Grandkonstanten, vor allem für das frühe Mittelalter, außer Kraft gesetzt werden. Die Gefahr einer Erneuerung usueller Mittelalterklischees wird dadurch besonders groß. Mitunter läßt sich Mentalitätsgeschichtsschreibung auch als ein Spiegel moderner Mentalität verstehen: Erkennbar wird weniger die untersuchte vergangene fremde als vielmehr unbeabsichtigt die eigene zeitgenössische Mentalität des Mentalitätsforschers, worauf noch zurückzukommen sein wird 2 . Eine weitere Komplizierung ergibt sich dadurch, daß ,Liebe und Sexualität' andere Themengebiete tangieren, insbesondere die ,Frauen'- und .Geschlechtergeschichte'. Ein Problem bildet hierbei die von einer feministisch/geschlechtergeschichtlich orientierten und argumentierenden Position gestellte Kernfrage, inwieweit ,Männer' überhaupt Frauengeschichte zu schreiben in der Lage sind.

2. Die Entstehung der christlichen Sexualmoral in der Spätantike Der Entstehungszeitraum der offiziellen christlichen Sexualmoral läßt sich relativ genau festlegen. Er fällt in jene Periode der Spätantike, in welcher sich das Christentum als die gesellschaftlich anerkannte und führende Religion durchgesetzt hatte. Die genauere Ausformulierung der christlichen Sexualmoral, die dann vom Abendland übernommen wird, verbindet sich vor allem mit zwei Namen. Es handelt sich um die beiden bedeutendsten lateinischen Kirchenväter (lat.: patres) Augustinus (von Hippo, gest. 430) und Hieronymus (aus Stridon, gest. 420). Die große Bedeutung, welche die Kirche den Aussagen dieser Männer beigemessen hat - weshalb sie auch häufig zitiert wurden - , liegt in einer Mentalität begründet, die sich in der Spätantike sehr oft belegen läßt und die man auch immer gern als typisch „mittelalterlich" erachtet. Im allgemeinen verspürte man nur eine geringe Neigung, Lehrmeinungen der Kirchenväter (lat.: auctoritates patrum) kritisch zu hinterfragen oder gar in Zweifel zu ziehen. Daher ist ihre autoritative Wirkungskraft im Mittelalter nicht zu unterschätzen. Doch sollte man nicht, was aber in der mentalitätsgeschichtlichen Forschung bisweilen geschieht, mittelalterliche Mentalität völlig ineinssetzen mit Lehrschriften der beiden Kirchenväter, die, entstanden in einer besonderen politischen und geistigen Krisensituation der Spätantike, alternative Modelle einer stark asketisch orientierten Lebensführung empfahlen. Man sollte also nicht empfohlene Normen mit der gelebten Wirklichkeit verwechseln.

2

Vgl. unten XI. 4. Die Liebe im frühen und hohen Mittelalter.

Entstehung der christlichen Sexualmoral

271

Aus der römischen Tradition übernahmen die Kirchenväter und mit ihnen das Mittelalter die Konzeption einer patriarchalisch und monogam organisierten Familie, in der das Oberhaupt der Familie (pater familias) die Gewalt (potestas domini) ausübte. Der Antike folgend erblickte man in der Familie die Keimzelle des Staates (lat.: seminarium rei publicae). Gleichfalls bereits römischem Denken entspricht die vom Mittelalter übernommene Forderung nach Virginität (Jungfräulichkeit) vor der Ehe; der Geschlechtsverkehr der Eheleute dient der Fortpflanzung; empfängnisverhütenden Mitteln stand man ablehnend gegenüber. Die Erinnerung an bereits in römischer Zeit vorhandene Werte einer strengen Sexualmoral ist wichtig. Denn sie vermag das Bild einer damals angeblich permissiven Sexualmoral etwas zurechtzurücken. Ein solches entwirft man in Überschätzung antik-literarischer Zeugnisse (Ovid!) immer besonders gern, um es als lichte Folie vor einem angeblich asketischen Mittelalter zu benützen, welches infolgedessen dann noch ,dunkler' wirkt, als es eigentlich gewesen ist. Die Bedeutung der Kirchenväter Augustinus und Hieronymus liegt darin, auf der Basis bereits vorhandener, aber vielleicht teilweise überlagerter oder vergessener altrömischer Werte, christlichen Forderungen nach Askese und einer sehr strengen Regelung des Sexuallebens zur gesellschaftlichen Akzeptanz verholfen zu haben. Dieser heute sehr kritisch bewertete Tatbestand ist begleitet von einem parallel verlaufenden Vorgang, den man wesentlich positiver kommentiert hat: Die entschiedene Abwertung einer libertinären, ausschließlich männlich orientierten Sexualmoral durch die Kirchenväter geht einher mit einer Aufwertung weiblicher Rollenbilder. So wird in der sogenannten Keuschheitstriade der nicht wiederheiratenden Witwe ,sechzigfache Frucht' als himmlischer Lohn versprochen, einer keusch bleibenden Jungfrau gar hundertfache Frucht'. Diese Aufwertung von neuen, in der antiken Welt damals so nicht vorhandenen Rollenangeboten (Hubert Cancik) für die Frauen gewinnt im Mittelalter eine gewisse Bedeutung. Als Nonnen und - zahlenmäßig freilich nur von geringer Bedeutung - als Heilige vermögen die Frauen ihr traditionell geringes Prestige aufzuwerten. Demgegenüber wiegt der damit verbundene Verlust antiker Rollen (Frauen als Priesterinnen bzw. Hetären) gering. Positive Identifikationsmodelle für Frauen bot auch das Neue Testament, vor allem in den Evangelien, in den verschiedenen Marien-Gestalten: so einmal die .Gottesmutter' Maria; Maria von Bethanien, die in einer besonders engen geistigen Beziehung zu Jesus steht; Maria aus Magdala, die, von Teufeln besessen, durch Jesus geheilt wird und der am Ostermorgen als

272

Kapitel XI. Sexualität und Liebe

erster das Wunder des leeren Jesus-Grabes offenbar wird; die .unbekannte Sünderin', deren Schuld der Herr vergibt; die beiden letztgenannten Frauen verschmelzen im Mittelalter zur Figur der Maria Magdalena. Dieser eindeutig positiven Bewertung der Frauen, die sich alle durch eine besondere Nähe zum Herrn auszeichnen, steht freilich bereits im Neuen Testament und vor allem im Alten Testament eine erdrückende Fülle von biblischen Aussagen gegenüber, welche die Frauen überaus negativ darstellen und ihre Geringerwertigkeit gegenüber den Männern betonen. In der Geschichte vom Sündenfall erscheint die Frau als die gefährliche Verführerin des Mannes; mit Adam und Eva, die sich, durch den unerlaubten Genuß des Apfels ihrer Unschuld beraubt, ihrer Nacktheit bewußt werden und schämen, nimmt die biblische Verknüpfung von Sexualität und Sünde ihren Anfang und beginnt die Dämonisierung der Frau. Der „Erfolg" dieser Frauenbilder, die uns im Mittelalter immer wieder begegnen, liegt sicherlich zu einem guten Teil darin begründet, daß sie vielfach männerspezifischen Auffassungen und Wunschvorstellungen entsprechen. Es waren Texte, die von Männern geschrieben waren und deshalb oszillierte das mittelalterliche Bild der Frau häufig zwischen ,Mutter' und ,Hure', zwischen .Maria' und ,Eva'. Dieser Umstand erklärt aber noch nicht die besondere Akzeptanz dieses Modells in der Spätantike und, ihr folgend, im Mittelalter. Ein wesentlicher Grund dürfte darin liegen, daß die soeben skizzierte Konzeption der Sexualität mentalen Bedürfnissen eines Großteils der intellektuellen Elite der Zeit entsprach. Als Christ mit der Hoffnung auf das ,wahre Leben' erst nach dem leiblichen Tod hatte man zur Welt ein eher distanziertes Verhältnis. Man löste sich von der sündigen Welt als dem Inbegriff des Vergänglichen und Körperlichen am besten dadurch, daß man sich vom eigenen vergänglichen Körper und dessen Bedürfnissen löste und diese als teuflische Versuchungen brandmarkte. Ein kurzer Blick auf Leben und Werk des im Mittelalter so geschätzten Hieronymus erklärt besser als viele Worte das Geheimnis seines Erfolgs. Hieronymus, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, gelang dank seiner intellektuellen Fähigkeiten innerhalb weniger Jahre ein rascher Aufstieg in der lateinischen Kirche des Westens, also bezeichnenderweise in einer Organisation, der erst in jüngster Zeit der gesellschaftliche Durchbruch in breitem Rahmen gelungen war und die aufgrund einer damals noch vorhandenen strukturellen Offenheit jungen Talenten die Möglichkeit bot, Karriere zu machen, auch ohne einen entsprechenden familiären Hintergrund zu haben. In Rom lernte Hieronymus Papst Damasus kennen, der ihn in die vornehmen Hauptstadtkreise adliger Damen einführte; schließlich

Entstehung der christlichen Sexualmoral

273

wurde Hieronymus sogar als ein möglicher Nachfolger des Papstes gehandelt. In jener Zeit der achtziger Jahre des 4. Jahrhunderts entstanden seine wichtigsten Arbeiten, die für Jungfräulichkeit plädierten und von der Ehe abrieten. Wir beschränken uns hier auf zwei besonders aussagekräftige Schriften. In seinem Werk Ad Eustochium, das Hieronymus Julia Eustochium, der Tochter der hochadligen Römerin Paula, gewidmet hat, wird etwas von der besonderen psychologischen Raffinesse deutlich, mit der der Kirchenvater operierte. Denn er anerkannte, daß es sich bei der ,Liebe' um ein anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen handelt: „Es ist schwierig für die menschliche Natur, nicht zu lieben. Es ist notwendig, daß sich unser Sinn zu irgendwelchen Affekten verleiten läßt. Doch die körperliche Liebe (carnis amor) wird übertroffen durch die geistige Liebe (spiritus amor), das eine Verlangen wird durch das andere Verlangen erstickt" 3 . Hieronymus erhöht die Attraktivität seiner Empfehlung einer jungfräulichen Lebensführung durch zwei Hinweise, die auch für das Mittelalter anziehend sein mußten: Zum einen weist er darauf hin, daß das Keuschheitsideal gleichzeitig ein .adliges' Ideal par excellence darstelle. Adlig insofern, als nicht alle das christliche Gebot überhaupt ernstnehmen und beherzigen können. Es wendet sich an einen kleinen auserlesenen Kreis derjenigen, denen Gott die Fähigkeit zur Askese geschenkt hat. Der Adel der Geburt erweist sich auch in der Bereitschaft zur körperlichen Askese, denn .Adlige' vermögen besser als das .Volk', anthropologische Grundkonstanten, zu denen sexuelles Verlangen (carnis amor) gehört, zu negieren. Gerade dieser Gedanke ist im Mittelalter von der Kirche propagiert worden, um den Adel durch Appell an seine Mentalität zu .versittlichen'. Für eine Beliebtheit keuscher Lebensformen sorgt freilich auch die von Hieronymus offerierte Kompensationsmöglichkeit: Der Verlust körperlicher Liebe wird wettgemacht durch eine mystische Liebe zu Christus, die stark erotische Bezüge aufweist - gleichfalls ein Gedanke, der für das Mittelalter von großer Bedeutung geworden ist. Auch in seiner Streitschrift Adversus Jovinianum hat Hieronymus die Keuschheit mit Vehemenz verfochten. Besondere Bedeutung gewann dieses von Klerikern vielgelesene und beispielsweise auch von dem berühmten

3

Hieronymus, ep. 2 2 , c. 17,4 (ed. J. HILBERG, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Bd. 54, 1910, S. 166) (aus dem Lateinischen übersetzt).

274

Kapitel XI. Sexualität und Liebe

Philosophen Abaelard (gest. 1143) zitierte Buch durch seine streckenweise dezidiert frauenfeindlichen Äußerungen: „Wir folgen auch nicht den Lehrmeinungen der Marcianer 4 und Manichäer 5 und setzen die Heirat herunter; wir lassen uns auch nicht durch den Irrtum des Tatianus, des Fürsten der Enkratiker 6 , täuschen und halten jegliche fleischliche Vereinigung für etwas Schweinisches ... Wir wissen, daß es in einem großen Haus nicht nur goldene und silberne Gefäße gibt, sondern auch solche aus Holz und Ton. Und auf dem Fundament Christi, das der Apostel Paulus errichtet, haben andere mit Gold, Silber und kostbarem Material weitergebaut; andere hingegen mit Heustoppeln und Holz. Wir kennen die Worte (der Heiligen Schrift) über die ehrbare Ehe und das unbefleckte Ehebett (Hebräerbrief 13, 4). Wir haben das erste Gebot Gottes an die Menschen: ,Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllt die Erde' (Genesis 1, 28) gelesen. Aber wir verstehen das Wort ,Ehe' in dem Sinne, daß wir die Jungfräulichkeit, die aus einer Ehe erwächst, dieser selbst vorziehen. Wird Silber etwa nur deshalb nicht mehr Silber sein, weil Gold wertvoller als Silber ist? Bedeutet es eine Schande für den Baum und den Boden (auf dem er wächst), wenn man, statt der Wurzel und den Blättern, statt des Halmes und der Ähren, die Früchte bevorzugt, die er hervorgebracht hat? Wie die Frucht vom Baum stammt, das Getreide aus dem Halm wächst, so die Jungfräulichkeit aus der Ehe ..." (Im folgenden versucht Hieronymus durch zahlreiche Beispiele aus der Geschichte zu zeigen, daß bereits „bei den Heiden die Tugend der Keuschheit der Wollust vorgezogen wurde". Er kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Inder zu sprechen, „die, wie fast alle Barbaren, mehrere Frauen haben":) „Bei ihnen gibt es ein Gesetz, daß die Lieblingsfrau des Verstorbenen mit ihrem Ehemann verbrannt werden soll. Sie wetteifern untereinander in der Liebe zu ihrem Ehemann. Ihr größter Ehrgeiz besteht darin - dies ist ein Beweis ihrer Keuschheit würdig genug befunden zu werden, sterben zu dürfen. Daher legt sich die Siegerin in diesem Wettstreit, feierlich gekleidet, neben den Leichnam ihres Gatten, umarmt und küßt ihn. Den

4

Marcion (gest. 180) hielt den Verzicht auf jede Form von Sexualität und Heirat für eine Möglichkeit, den „Engeln gleich zu werden".

5

Anhänger des Mani (gest. 277), des Begründers einer dualistischen Religion, welche von ihren „Auserwählten" (elecli) körperliche Askese forderte.

6

Enkratiker, von gr. enkrateia,

Enthaltsamkeit; Anhänger Tatians (2. Jahrhundert), der

strenge sexuelle Abstinenz gefordert hatte.

Entstehung der christlichen Sexualmoral

275

brennenden Scheiterhaufen über ihr verachtet sie angesichts des Ruhmes, den ihr die Keuschheit einbringt. Ich glaube, daß jemand, der so stirbt, kein Verlangen empfindet, ein zweites Mal zu heiraten ... Ich möchte jetzt zu den römischen Frauen kommen und als erstes Beispiel die Lukrezia nennen, die, nachdem man ihr Gewalt angetan, nicht mehr weiterleben wollte, und ihren befleckten Körper durch ihr eigenes Blut reinigte. Duellius, der als erster Römer eine Seeschlacht gewonnen hatte, nahm eine Jungfrau namens Billia zur Ehefrau. Diese zeichnete sich durch eine solch große Keuschheit aus, daß sie sogar jenem Jahrhundert als ein Vorbild galt, das mangelnde Keuschheit nicht für einen Fehler, sondern für etwas Abscheuliches gehalten hatte. Bei einer Auseinandersetzung beschuldigte man Duellius, als dieser schon alt und zitterig geworden war, er stinke aus dem Mund. Traurig ging er nach Hause. Er beschwerte sich bei seiner Frau, daß sie ihn niemals ermahnt hätte, etwas gegen seinen Mundgeruch zu unternehmen. Sie antwortete: ,Das hätte ich getan, wenn ich nicht gedacht hätte, alle Männer würden so aus dem Mund stinken'. Zweierlei muß man bei dieser keuschen und adligen Frau loben: Sei es, daß sie vom Fehler ihres Mannes nichts wußte, sei es, daß sie ihn geduldig ertrug und daß ihr Mann von seinem körperlichen Makel nicht durch die Krittelei seiner Frau, sondern erst durch die Beschimpfung eines Feindes erfuhr ... Man erzählt sich von einem vortrefflichen Buch des Theophrast ,über die Ehe', in dem er die Frage erörtert, ob ein weiser Mann heiraten solle. Als notwendige Voraussetzungen einer solchen Ehe forderte er, die zukünftige Ehefrau müsse schön, wohl erzogen, von ehrbarer Herkunft, der Ehemann selbst gesund und reich sein. Sofort fügte er aber hinzu: ,Selten treffen bei einer Heirat alle diese Umstände zu'. Also sollte ein Weiser nicht heiraten. Zuerst behindern die Frauen einen beim Studieren: man kann nicht gleichzeitig den Frauen und den Büchern dienen. Tausenderlei Dinge benötigen die Ehefrauen: kostbare Kleider, Gold, Schmuckstücke, Haushaltsgeld, Sklavinnen, allen möglichen Hausrat, Sänften und vergoldete Reisewägen. Dann ganze Nächte lang ihr Geplapper und ihre Klagen: j e n e geht besser angezogen in die Öffentlichkeit; diese wird von allen beachtet, mich bedauern die anderen Frauen, wenn ich mit ihnen zusammenkomme. Warum hast du unserer Nachbarin nachgeschaut? Was hattest du mit der kleinen Sklavin zu besprechen?' Kommst du aus der Stadt, fragt sie dich: ,Was hast du mir mitgebracht?'... Denk auch daran, daß man seine Ehefrau nicht richtig auswählen kann, sondern diejenige, die einem zufällig über den Weg läuft, muß man dann auch behalten. Ob sie jähzornig, närrisch ist, ob sie ein körperliches Gebrechen hat, ob sie überheblich ist, stinkt oder sonst einen

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

Fehler hat, erfahren wir erst nach der Hochzeit. Ein Pferd, einen Esel, eine Kuh, einen Hund, Sklaven, die nichts taugen, auch Kleidungsstücke, Fleischkessel, einen Holzstuhl, ein Trinkgefäß, einen Tonkrug kauft man erst dann, wenn man sie vorher geprüft hat. Allein die Ehefrau zeigt nicht ihr wahres Gesicht. Denn sie will vermeiden, daß sie vor der Ehe dem Mann mißfällt ,.." 7

3. Mittelalterliche Naturlehre und menschliche Sexualität Maßgeblich für die häufig anzutreffende Frauenfeindlichkeit der mittelalterlichen Kirche war nicht nur die Autorität vieler biblischer Aussagen und eine darauf gründende frauen- und leibfeindliche Einstellung der Kirchenväter. Von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die Mentalität vor allem kirchlicher Führungsschichten dürften, wie die jüngste Forschung hat deutlich machen können, auch anthropologische Vorstellungen gewesen sein. Aus der Antike übernommenes „naturwissenschaftliches" Wissen festigte in der Regel vorhandene männliche Vorurteile über die dem Manne unterlegene Frau. Erklärbar wird das aus heutiger Sicht so seltsam erscheinende Übergewicht der Buchgelehrsamkeit (auctoritas) gegenüber eigener Erfahrung (experientia) durch das hohe Prestige, das eine als intellektuell überlegen empfundene Antike im Mittelalter genoß. Was der so verehrte Aristoteles einst gelehrt hatte, wagte das Mittelalter erst allmählich in Zweifel zu ziehen. Die heute selbstverständliche Basis naturwissenschaftlicher Forschung, wertfrei zu sein und auf der Grundlage des Experiments die eigenen Hypothesen kritisch zu überprüfen, gab es damals nicht. Vielmehr ging man von einem sogenannten Prinzip der Finalität aus: die Frau sei, so vermutete man, deshalb schwächer als der Mann, damit dieser besser über sie herrschen könne. Anatomische Unterschiede zwischen Mann und Frau erklärte man mit dem Prinzip der gegenläufigen Symmetrie: das Glied des Mannes ist entwickelt und nach außen gerichtet, während die Gebärmutter der Frau nach innen gerichtet ist. Gerade über dieses Organ bestanden besonders große Unsicherheiten, da das Mittelalter eine Sektion des menschlichen Körpers ablehnte. So vermutete man, gestützt ausschließlich auf häufig falsche Er-

7

Hieronymus, Adversus Jovinianum, lib. I c. 2 u. c. 44 u. c. 46 und c. 47 (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina, Bd. 23, Sp. 223 AB; Sp. 274 B; Sp. 275 BC; Sp. 276C-277A) (aus dem Lateinischen übersetzt).

Naturlehre und Sexualität

277

kenntnisse aus der tierischen Anatomie, eine siebenkammrige Gebärmutter: während die drei rechten Kammern den Männern vorbehalten seien, seien die linken Kammern für die Frauen bestimmt, die mittlere hingegen für den Zwitter. Die Gebärmutterkammern bestimmten gemäß dieser Auffassung nicht nur die Zahl der bei einer Niederkunft möglichen Kinder - eine Frau konnte daher maximal Siebenlinge gebären - , sondern waren darüberhinaus auch verantwortlich für den .Charakter' der Nachkommenschaft: ein Mann mit femininem Einschlag (vir effeminatus) war nicht ganz rechts, sondern ein bißchen weiter links entstanden, eine Mannfrau (virago, mulier virilis) hingegen nicht ganz links, sondern etwas weiter rechts. Den Angelpunkt vieler mittelalterlicher medizinischer Deutungsversuche bildete dabei die sogenannte Humoralpathologie (4-Elemente-Lehre), die das Mittelalter dem berühmten Arzt Galen (gest. um 199) zuschrieb. Dieser ordnete den 4 Elementen (Luft, Feuer, Erde, Wasser) entsprechende Säfte (humores) (Blut, gelbe, schwarze Galle, Schleim), entsprechende physikalische Aggregatzustände (heiß, trocken, kalt, feucht) und ebensolche menschliche Temperamente (sanguinisch, cholerisch, melancholisch, phlegmatisch) zu. Da die Leber zum einen der rechten Gebärmutterseite stärker als der linken benachbart sei, zum anderen der Leber die Blutversorgung zukomme, werde ein (männlicher) Foetus auf der rechten Seite mit heißerem Blut versorgt als der entsprechende weibliche Foetus auf der linken Seite: eine willkommene Erklärung der damals allgemein verbreiteten Meinung, die Frau sei von Natur aus ,kälter' als der Mann. Diese Ansicht diente auch der mittelalterlichen Erklärung der Menstruation: Die kältere Frau kann die aufgenommene Nahrungsmenge nicht vollständig verdauen; der überschüssige ,Rest' (superfluitates) wird monatlich (mensis!) in Form von Menstruationsblut ausgeschieden; bei einer Schwangeren entfällt die Menstruation, weil sie, durch den Foetus gleichsam ,wärmer' geworden - die Wärme hat sich verdoppelt - , die Nahrung besser verdauen kann. Die Menstruation bietet gleichzeitig ein anschauliches Beispiel dafür, wie das Mittelalter .natürliche' physiologische Vorgänge mit entsprechenden Verhaltensnormen verknüpft hat. Die Frau galt nicht nur während der Menstruationszeit, sondern auch für eine gewisse Zeit danach als unrein. Daher untersagen viele kirchliche Vorschriften der Frau, während dieser Zeit die Kirche zu besuchen. Sie verbieten dem Ehemann gleichzeitig jeden Geschlechtsverkehr mit seiner Gattin. Wiederum wäre es zu einfach, diesen Rigorismus allein dem Mittelalter in die Schuhe schieben zu wollen. Das Mittelalter übernahm vielmehr nur vorhandene Vorstellungen. Beispielsweise dämonisierte der vielgelesene frühmittelalterliche Enzyklopädist Isidor

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

von Sevilla, der „Brockhaus des Mittelalters" (gest. 636), das Menstruationsblut und schrieb ihm magische Kräfte zu: Früchte werden nicht reif, der Most wird sauer, Eisen fängt an zu rosten, Hunde werden tollwütig, der Asphalt auf der Straße löst sich auf; alles das ereignet sich, wenn es zu einem Kontakt mit dem von einer Frau ausgeschiedenen Menstruationsblut kommt. Doch Isidor folgte, als er diese Meinung dem Mittelalter weitervermittelte, nur der Autorität von Plinius d. Älteren (gest. 79 n. Chr.), einem äußerst einflußreichen römischen Naturkundler, und nicht etwa der eigenen Eingebung. Auch die Forderung nach einem Verzicht auf den Geschlechtsverkehr mit einer „unreinen" Frau ist wesentlich älter als das Mittelalter selbst. Bereits das Alte Testament ( IV. Mose 12) hatte das Menstruationsblut tabuisiert und einen besonderen Reinheitskult entwickelt, dessen spezifisch „jüdische" Prägung unter Ethnologen freilich umstritten ist. Zahlreiche kirchliche Vorschriften, die auf eine strenge Reglementierung und Normierung des Sexuallebens abzielen, finden sich in den sogenannten Bußbüchern (Libri poenitentiales). Im Frühmittelalter als „Privatarbeiten" entstanden, gelangten sie aus Irland und England auch auf den Kontinent. Sie wollten dem Priester eine Hilfe bei der genauen Festlegung der Bußleistung sein. Dabei gingen sie von der psychologisch richtigen Annahme aus, daß Öffentlichkeit die Beichtbereitschaft der Gläubigen verhängnisvoll herabsetzen würde. Schuldbekenntnis und Bußleistung hätten deshalb im Geheimen stattzufinden. Da die Bußbücher häufig sehr stark kasuistisch ausgearbeitet sind, glaubte die moderne Mentalitätsforschung (Jean-Louis Flandrin u. a.), in ihnen eine vorzügliche Quelle für die Sexualmoral und -praxis zu besitzen. Dank der Tatsache, daß wir eine stattliche Anzahl von Bußbüchern vom 6. bis zum 12. Jahrhundert besitzen, schienen zudem auch die für die Mentalitätsforschung so bedeutsamen Fragen der Homogenität und Repräsentativität der Quellen geklärt 8 . Heutzutage ist man zu Recht etwas skeptischer geworden, weil man erkannt hat, daß Bußbücher als eine Rechtsquellengattung sehr stark von ihren jeweiligen Vorlagen beeinflußt sind. Es handelt sich also keineswegs um einen unmittelbaren Reflex von Mentalitäten der Gläubigen. Ob die von den Bußbüchern angeprangerte Devianz von Sexualpraktiken in der Realität tatsächlich die Rolle spielte, die ihr von modernen Historikern zuerkannt wird, kann bezweifelt werden. Denn wer hätte sich, sei es auch in der Form der geheimen Beichte, schon zu ihnen bekennen mögen? Auch die

8

Vgl. dazu Kapitel I. 4. Probleme der Mentalitätsforschung.

Naturlehre und Sexualität

279

von vielen Bußbüchern geforderten sehr langen Zeitspannen, in denen auch Eheleute sich des fleischlichen Verkehrs zu enthalten gehabt hätten, dürften in praxi von geringerer Bedeutung gewesen sein. Nicht nur die fehlende Kontrollmöglichkeit, sondern auch die banale Tatsache, daß wir im Mittelalter ein freilich unterschiedlich stark verlaufendes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen haben, spricht gegen die Annahme einer strengen Beachtung solcher Verbote, die in ihrer Summierung den legalen Verkehr auf wenige Wochen im Jahr beschränkt und die Fertilitätsrate damit entscheidend gedrückt hätten. Dennoch soll solchen Enthaltsamkeitsvorschlägen, wie sie Bußbücher und Predigten forderten, nicht jede Wirksamkeit abgesprochen werden. Von einer gewissen Bedeutung dürfte vielleicht jenes Phänomen gewesen sein, das man mit den Begriffen der prédication et terrorisme (Flandrin) umschrieben hat: So brachte die Kirche die Entstehung von Mißgeburten in einen Kausalzusammenhang mit unerlaubter Schwangerschaft. Vielleicht haben auch attitudes rustiques einen Einfluß ausgeübt. Diese, dem bäuerlichen Milieu verhaftet, könnten dafür gesorgt haben, eigenes Sexualverhalten an den ebenfalls zeitlichen Beschränkungen unterliegenden Agrarpraktiken („Sä"- und „Erntezeit") zu orientieren. Verglichen mit dem Frühmittelalter beginnt sich die Situation im hohen und späten Mittelalter teilweise zu verändern. Noch immer beherrscht freilich antikes Wissen das mittelalterliche Denken und dominiert auch die medizinischen Vorstellungen. So ist beispielsweise der berühmte Naturphilosoph Wilhelm von Conches (gest. 1157) ein überzeugter Verfechter der Theorie von bereits in der Antike vermuteten weiblichen Sperma: „Man diskutiert die Frage, ob männliches Sperma allein, ohne weibliches, für die Zeugung ausreicht. Einige behaupten, das männlich reiche aus. Als Beweis dafür wird folgendes angeführt: Ein Mann kann ein Kind zeugen, auch wenn die Frau wider ihren Willen und unter Weinen zum Beischlaf gezwungen wird, ein Fall, bei dem weiblicher Samen nicht vorhanden ist. Denn ein Samenerguß setzt Lust voraus. Wir aber sagen, daß weiblicher Samen bei der Zeugung vorhanden ist. Dies geht daraus hervor, daß der Junge einen körperlichen Defekt an der gleichen Stelle aufweist wie die Mutter. Einige aber weisen darauf hin, daß eine Empfängnis ohne weibliche Lust stattfindet. Dem halten wir entgegen, daß es der Frau, auch wenn es ihr am Anfang nicht gefällt, aufgrund ihrer fleischlichen Schwäche am Ende doch Spaß macht" 9 .

9

Wilhelm von Conches, Philosophia mundi, XI, 18 (ed. G. MAURACH, 1980, S. 97).

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

Auch wenn in Gestalt der für das hohe und späte Mittelalter so zahlreichen naturkundlichen Werke altes Wissen scheinbar unverändert weitergegeben wird, vollzieht sich doch eine spürbare Veränderung. Größte Bedeutung bekommt, gefördert wohl auch durch eine immer stärkere Übersetzungstätigkeit aus dem Arabischen und Griechischen, der Begriff der „Natur" (natura) und der in ihr wirkenden Gesetze. Da die Natur als von Gott geschaffen gedacht wurde, konnte ein Sichunterwerfen unter ihre Gesetze keinesfalls eine Mißachtung göttlicher Gebote bedeuten. Gleichzeitig brachte aber den Menschen die Einbeziehung einer unter eigenen Gesetzen stehenden Natur einen größeren Handlungsspielraum. Für unseren Zusammenhang bedeutsam wird dieses an der ,Natur' orientierte Denken dadurch, daß man vor allem in Klerikerkreisen die Natur anthropologisch deutete: Die Natur ist der „bessere" Mensch; sie demonstriert, wie man das richtig macht, was der Mensch falsch, d. h. wider die Natur und damit in letzter Konsequenz auch gegen göttliches Gebot macht. Das gilt gerade auch für den Bereich der Sexualität, wie das folgendene Beispiel demonstriert. Es stammt aus dem Liber de natura rerum des Thomas Cantimpratensis, ein, wie die zahlreichen Handschriften nahelegen, überaus beliebtes und weitverbreitetes Handbuch der Naturkunde aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, das sich speziell an den Prediger wandte: „Das Furionz ist, wie Aristoteles sagt, ein lasterhaftes Lebewesen. Es frißt sich mit Nahrung toll und voll und lebt deshalb meistens sehr gefährdet. Aufgrund seiner ausschweifenden und verderbten Lebensführung lebt es nicht lange. Allzu maßlos ist es der Lust ergeben. Auf das exzessive Fressen folgt die Wollust. Das Geschlechtsteil befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bauch, und so ergibt sich aus der Nähe der Körperteile häufig auch die Nähe der Laster. Wenn es denn koitiert, richtet es sich auf und stürzt sich wie wild auf das Weibchen. Wenn es nicht alles erreicht, was es in seiner Maßlosigkeit verlangt, schreit es, sobald die Zeit für den Koitus gekommen ist. Jedem Lebewesen verweigert die Natur einen häufigen Beischlaf, obwohl die wollüstige Begierde häufig danach verlangt. Die Heftigkeit des Samenergusses beim Koitus ist auf die Kraft des Blutes zurückzuführen. Wer deshalb das rechte Maß beim Beischlaf verliert, täuscht sich über den damit verbundenen Kraftverlust und muß allzu früh sterben. Man hat auch häufiger gehört, daß der Mann während des Geschlechtsaktes plötzlich gestorben ist, und zwar deswegen, weil sein zu heftiges Verlangen ihm die Luft zum Atmen genommen hat. Dieses Furionz scheint also in menschlicher Weise den Beischlaf zu vollziehen: Das männliche Tier beugt

Naturlehre und Sexualität

281

sich nämlich von oben herunter, während das Weibchen flach unter ihm liegt. Diese Position (Ordnung) ändert sich nie, obgleich der Mensch, das ungeordnetste aller Lebewesen, seine ihm von der Natur doch vorgegebene Ordnung ändert: mal vollzieht er den Koitus wie der Hund von hinten, mal im Stehen wie der Igel, mal liegt die Frau über dem Mann, was das schlimmste Verbrechen bei jedem Lebewesen ist: freilich läßt es sich nur beim Menschen belegen" 10 . Wie groß der im Namen der natura erreichte Freiraum bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts geworden ist, zeigt ein Blick auf das Speculum naturale des Dominikaners Vinzenz von Beauvais (gest. um 1264). Vinzenz, der als Erzieher und Bibliothekar am Hofe des französischen Königs Ludwigs IX. tätig war und auch Thomas Cantimpratensis gelesen hatte, behandelt im 31. Buch seines enzyklopädischen Werkes in ausführlicher Weise den Beischlaf, der keineswegs per se verteufelt wird. Vielmehr wird er im Rahmen der Natur als eine „angenehme Bewegung" der Glieder beschrieben. Ausdrücklich weist Vinzenz von Beauvais darauf hin, daß der Beischlaf der Vermehrung (propagatio) des Menschengeschlechts und damit dem göttlichen Heilsplan diene. Selbst der (eheliche) Beischlaf allein aus sexueller Lust wird von Vinzenz in seiner Theorie des „verdienstvollen, des erlaubten, des schuldhaft-verzeihlichen und des verbrecherischen Beischlafs" als ein sehr verzeihliches Vergehen (peccatum veniale) gewertet: „Man muß wissen, daß es einen Unterschied zwischen einem erlaubten, einem durch Schwäche bedingten und einem heftigen Beischlaf gibt. Es gibt einen erlaubten Koitus dreifacher Art: Erstens um einen Nachkommen für die Verehrung Gottes zu zeugen; und um seiner ehelichen Pflicht nachzukommen; und um der Sünde der Unenthaltsamkeit zu entgehen. Die erste und die zweite Art des Beischlafs sind verdienstvoll; die dritte aber ist nur erlaubt, weil sie der Apostel (Paulus) gerechtfertigt hat mit den Worten: ,Um der Unzucht zu entgehen, soll jeder Mann seine Frau haben und jede Frau ihren Mann.' ... Der Koitus wird aber ,durch Schwäche bedingt' genannt, der aus der Schwäche hervorgeht und nur vollzogen wird, nicht um Nachkommen zu zeugen oder der ehelichen Pflicht zu genügen und auch nicht, um die Unzucht zu meiden, sondern rein um des Vergnügens willen. Und wenn dieses Vergnügen geringer als Gott geschätzt wird, dann ist es eine

10 Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum, 4, 43: De furionz (ed. H. BOESE, 1973, S. 136) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

verzeihliche Sünde, da es durch das Sakrament der Ehe vom Vorwurf der Todsünde entschuldigt wird; wenn es aber über die Liebe zu Gott oder gleich der Liebe zu Gott geschätzt wird, dann ist es eine Todsünde. ,Stürmisch' wird der Beischlaf genannt, der aus reiner Begierde hervorgeht und die Grenzen des Ehrbaren und der Vernunft überschreitet. Dies geschieht auf fünferlei Art. Erstens durch Zärtlichkeiten einer Dirne, um seine Lust zu befriedigen, und das wird eine Todsünde genannt... Zweitens durch Praktiken, die gegen die Natur verstoßen. Und dieser Mißbrauch ist gegenüber einer Dirne verdammenswert, aber noch viel verdammenswerter ist er nach Augustinus gegenüber der Ehefrau. Deshalb gibt es keinen Zweifel, daß er eine Todsünde ist. Drittens zu einer verbotenen Zeit, nämlich während der vorösterlichen Fastenzeit ... Viertens an einem nicht angemessenen Ort, zum Beispiel in der Kirche, wo derjenige, der den Beischlaf vollzieht, der Verachtung und mangelnden Demut gegenüber göttlichen Geboten anzuklagen ist, außer er hat keinen anderen Ort, an dem er den Beischlaf vollziehen könnte und außer in Kriegszeiten oder etwas ähnlichem ... oder an einem Ort mit Publikumsverkehr, wo nämlich diejenigen, die zusehen, Ärgernis verspüren ... Fünftens wenn die Frau kurz vor der Niederkunft steht, oder zur Zeit der Menstruation. Dann handelt es sich auch um eine Todsünde, weil es dem Wohl des Kindes zuwiderläuft. Denn aus einem solchen Beischlaf ... gehen Fehlgeburten oder lepröse oder elephantöse Kinder hervor" Weniger die Aussagen als solche, sondern die Art und Weise ihrer Zusammenstellung kündigen von einem beeindruckend rationalen Klima. Der (eheliche) Beischlaf erscheint zunehmend als ein vertretbares Eingehen auf die Ansprüche der menschlichen Natur. Und spätestens seine dezidierten und ins Detail gehenden sexualpraktischen Ratschläge erweisen Vinzenz als einen Mann der Praxis: Unter Berufung auf Wilhelm von Conches warnt Vinzenz davor, den Beischlaf nach dem Essen zu vollziehen, weil dadurch die Verdauung beeinträchtigt wird: „Und was unverdaut bleibt, ruft die verschiedensten Krankheiten hervor". Andererseits empfiehlt Vinzenz den Koitus nach einem Schlaf und gehabter Verdauung für diejenigen, „denen ein solches Werk erlaubt ist" 1 2 . Um irgendwelche Schwierigkeiten von vornherein zu vermeiden, wartet Vinzenz auch gleich mit einer ausführ-

11 Vgl. Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, XXXI, IX (Doaui 1624) (Ndr. 1964), Sp. 2298 (aus dem Lateinischen übersetzt). 12 Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, XXXI, VII, Sp. 2296-2297.

Liebe

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liehen Liste potenzfördernder bzw. die Manneskraft schwächender Nahrungsmittel a u f 1 3 . Das Beispiel des Vinzenz von Beauvais verdeutlicht, daß die Empirie spätestens im 13. Jahrhundert ihren Siegeszug über eine strenge kirchliche Moral auch im Bereich der Wissenschaften längst angetreten und damit auch den autonom-säkularen Handlungsspielraum der Menschen zu vergrößern begonnen hatte.

4. Die Liebe im frühen und hohen Mittelalter Ein Teil der (deutschen) Mentalitätsforschung hat mit besonderem Nachdruck die Auffassung vertreten, daß es „Liebe" im Frühmittelalter nicht gegeben habe, wobei unter „Liebe" „die zwischen zwei Individuen bestehende gegenseitige emotionelle Anziehung" zu verstehen sei, die sich „aber auf alle Seinsgebiete, an denen die geliebte Person idealiter partizipiert, (erstreckt)" und „als zentrales Lebenselement empfunden" werde, das „tendenziell Sexualität impliziert" (so Peter Dinzelbacher im Lexikon des Mittelalters). Der Autor stützt seine These durch einen Hinweis auf die frühmittelalterlichen Quellen, die „Liebe im oben gen. Sinn nicht kennen". Tatsächlich ist zuzugeben, daß Quellen dieses Zeitraums mit Nachrichten über den .privaten', zwischenmenschlichen Bereich in aller Regel geizen. Das ist freilich nicht darauf zurückzuführen, daß es ihn nicht gegeben hätte. Vielmehr lag es in aller Regel gar nicht in der Absicht der Quellen, solch private Dinge zu berichten. Denn man hielt sie für den Gang der Weltgeschichte, die vor allem als Heilsgeschichte gedeutet wurde, für völlig unerheblich. Es darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß Quellen, zumal historiographische, für den Historiker immer nur bedingt aussagekräftig sind. Aus ihrem Schweigen über bestimmte Phänomene kann noch lange nicht auf deren tatsächliche Nichtexistenz geschlossen werden. Eine These, die das Phänomen ,Liebe' radikal leugnet, krankt zudem daran, daß sie das angebliche plötzliche Verschwinden der Liebe zu Beginn des Frühmittelalters nur sehr schwer oder gar nicht erklären kann. Wenig überzeugend wirkt auch der Versuch, das angeblich unvermittelte, schnelle Aufkommen der ,Liebe' (die E n t d e c k u n g ' der Liebe) mit dem Hinweis auf eher langfristige und daher auch langsam ablaufende Strukturveränderungen (Aufkommen der Höfe, Bedeutung der Städte etc.), also Phänomenen der longue durée, er-

13 Vinzenz von Beauvais, Spéculum naturale, XXXI, VIII, Sp. 2297.

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

klären zu wollen. Auf einen Nenner gebracht: hier scheint eine Verwechslung von Literatur und Leben stattzufinden. Als Kronzeuge einer im Frühmittelalter angeblich fehlenden ,Liebe' dient der fränkische Historiograph Gregor von Tours (gest. 594). Denn bei ihm, so hat man argumentiert, bedeutet das lateinische amor keinesfalls ,Liebe', sondern brutale körperliche Begierde' des Mannes. Freilich zeigt eine genauere Betrachtung einschlägiger Gregorstellen, daß auch hier die Dinge weitaus komplizierter liegen, als es der erste Anschein vermuten ließe. Daß der auf seine „römischen" und „christlichen" Vorfahren überaus stolze Bischof das Sexualleben des fränkischen Adels mit spürbarer Distanz betrachten mußte, liegt auf der Hand. Die Franken und an ihrer Spitze das merowingische Königtum waren in seinen Augen ungebildete Barbaren, deren Bekehrung zum Christentum kaum ein Jahrhundert zurücklag. Immer wieder geriet die Kirche und mit ihr auch der streitbare Gregor in heftige Konflikte mit dem als Eroberer ins Land gekommenen fränkischen Adel und seinem Königtum. Es lag daher für einen polemischen Geist wie Gregor besonders nahe, angebliche fränkische Rohheit auch in sexualibus ausführlich zu dokumentieren. Amor ist nach seiner Ansicht bei den Franken auf das Sexuelle reduziert. Insoweit ist Dinzelbacher zuzustimmen. Einen Beleg hierfür bildet die ,Liebesgeschichte' des Königs Theudebert und der Deoteria, die ungeachtet aller Stilisierung durch Gregor für den modernen unvoreingenommenen Beobachter dennoch auch Reste einer ,Lovestory' aufweist. Einer Lovestory freilich ohne happy end: „Theuderich hatte seinen Sohn Theudebert mit Wisigarde, einer Königstochter verlobt... Es lebte aber daselbst (in der Feste Cabrieres) damals eine Frau, mit Namen Deoteria, ein tüchtiges und verständiges Weib, deren Mann nach Beziers entwichen war. Die schickte Boten zum König und sprach: .Niemand kann dir widerstehen, teuerster Herr. Wir wissen, du bist unser Gebieter. Komm also und tue, was deinen Augen wohlgefällig ist.' Da kam Theudebert zur Feste und zog friedlich ein, und als er sah, daß sich alles Volk ihm unterwarf, tat er dort niemandem Böses. Deoteria aber trat ihm entgegen; und da er sah, daß sie schön war, entbrannte er von Liebe zu ihr und gesellte sie seinem Lager zu ... Da aber Deoteria sah, daß ihre Tochter schon ganz erwachsen sei, und besorgte, der König möchte sie begehren und zu sich nehmen, setzte sie dieselbe in eine Sänfte, spannte wilde Stiere ein und ließ das Mädchen von einer Brücke herabschleudern; so gab es in den Wellen den Geist auf. Dies geschah bei der Stadt Verdun. Und da es bereits das siebente Jahr war, daß Theudebert mit Wisigarde verlobt war und sie

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Liebe

doch der Deoteria wegen nicht zu seinem Weibe nehmen wollte, traten die Franken zusammen und machten ihm heftige Vorwürfe, daß er seine Braut verließe. Da gab er nach und verließ die Deoteria, von der er einen kleinen Sohn mit Namen Theudebald hatte, und nahm Wisigarde zum Weibe. Als er sie noch nicht lange hatte, starb sie und er nahm ein andres Weib. Mit Deoteria dagegen hatte er keinen Umgang mehr" 1 4 . Dessen ungeachtet kennt aber auch Gregor, und dies muß angesichts der zuvor zitierten Auffassung Dinzelbachers betont werden, die ganze Bedeutungsfülle des Wortes amor und nicht nur dessen Reduktion auf eine brutale männliche Lust. Denn der merowingische Geschichtsschreiber verwendet es auch - jedoch bezeichnenderweise in Bezug auf Nichtfranken - in Zusammenhängen, die weit über den Bereich des rein Körperlichen hinaus gehen, und ausdrücklich „Liebe" im Vollsinn des Begriffes, also unter Einbeziehung des Seelischen, verstehen. So berichtet er im 47. Kapitel des ersten Buches, das überschrieben ist De castitate amantium, von Iniuriosus, einem Angehörigen der (gallorömischen) senatorischen Oberschicht von Clermont-Ferrand, und seiner Gattin, die, obwohl rechtmäßig getraut, ihr Leben Gott geweiht und in Keuschheit zubrachten. Ihre enge Verbundenheit, die sie dessen ungeachtet schon im Leben hatten - sie schliefen im selben Bett setzt sich auch über den Tod hinaus fort: „Und als sie begraben, folgte er bald ihr nach. Da aber das Grab beider an verschiedenen Wänden errichtet war, geschah ein unerhörtes Wunder, ihre Keuschheit zu zeigen. Denn als am Morgen das Volk zu der Stelle kam, fand es die Gräber beisammen, die doch weit voneinander entfernt gewesen waren; das geschah, damit das Grab des Leibes nicht hier die trenne, welche der Himmel verbunden hatte. Und bis auf den heutigen Tag nennen die Einwohner des Orts sie die beiden Liebenden (Duos Amantes)." 15 Ein weiteres Beispiel für Liebe (amor) im Völlsinn des Wortes bietet sich auch im 7. Kapitel des zweiten Buches. Eine Episode dokumentiert die Liebe, welche die Gattin des römischen Heerführes Aetius für ihren Mann empfindet, der sich im Krieg gegen den gefürchteten Hunnenkönig Attila befindet. Sie betet „Tag und Nacht" für das Leben ihres Mannes. Ihr Gebet in der Kirche der Apostel Petrus und Paulus wird erhört: 14 Gregor von Tours, Historiarum libri decem. III, 20; 22; 2 6 - 2 7 ; Übersetzung aus: Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, neubearbeitet von R. BUCHNER, 2 Bde., 1955/56, hier Bd. 1,S.

177-179.

15 Gregor von Tours I, 47; vgl. BUCHNER (wie Anm. 14), S. 4 9 - 5 1 .

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

„Darauf hub der ältere (Apostel) so an: ,Die Tränen, welche das Weib des Aetius weint, kann ich nicht mehr ansehen. Denn sie bittet ohne Unterlaß, daß ich ihren Gemahl aus Gallien wohlbehalten zurückführe, da doch anderes darüber in Gottes Rat beschlossen war; indessen habe ich diese unendliche Gnade für sein Leben erwirkt. Und siehe, nun eile ich, ihn lebend von dort zurückzubringen'" 1 6 . Es sei an dieser Stelle darauf verzichtet, weitere Beispiele für ,Liebe' in der vollen Bedeutung dieses Wortes aus Gregors Geschichtswerk zu präsentieren. Nur en passent verweisen wir auch auf die bekannte „Hammersteiner Eheaffäre", ein besonders eindrucksvolles Beispiel einer Gattenliebe zu Beginn des 11. Jahrhunderts. Unter dem Vorwand einer zu engen Verwandtschaft, in Wahrheit aber aus handfesten politischen Gründen, versuchte der deutsche König und Kaiser Heinrich II., die Ehe zwischen Otto und Irmingard von Hammerstein, freilich vergeblich, aufzulösen. Die Ehegatten blieben beisammen. Ihre Hartnäckigkeit konnten sich bereits damals die mittelalterlichen, kaiser- und kirchenfreundlich gesonnenen Historiker nur mit der Macht der Liebe erklären. Ihr gütliches Ende fand die Angelegenheit unter Mithilfe des Papstes erst unter Konrad II., dem Nachfolger Heinrichs II. Die ,Liebe' von Otto und Irmingard hatte also über die Politik gesiegt. Das Bild, das die Mentalitätsgeschichte von der ,Liebe' im frühen und hohen Mittelalter entworfen hat, geht im wesentlichen auf Georges Duby zurück. Sein Beschreibungsmodell hat aufgrund seiner Eingängigkeit viele überzeugt und ist geradezu „klassisch" geworden. Das Buch, in dem Duby seine Überlegungen vorstellte, erschien Ende der siebziger Jahre in Amerika, anfangs der achtziger dann im überarbeiteten französischen Originaltext unter dem Titel Le chevalier, la femme et le prêtre und wurde 1985 auch ins Deutsche („Ritter, Frau und Priester") übersetzt. Um dieses Werk gruppieren sich eine ganze Reihe von Aufsätzen, die sich mit derselben Thematik beschäftigen und unter dem Sammeltitel Mâle Moyenne Age. De l'amour et autres essais (dt.: Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter, 1989) herausgegeben wurden. Für Duby auch hier typisch, und damit ein wesentlicher Grund seines Erfolges, ist der stark essayistische Charakter seines Buches und die äußerst suggestive Formulierungskunst des Autors, der, ganz im Unterschied zur deutschen Mittelalterforschung, mit Anmerkungen äußerst sparsam verfährt. Die Faszination dieses Buches, die sich beim Leser sehr bald einstellt, be-

16 Gregor von Tours II, 2; vgl. BUCHNER (wie Anm. 14), S. 77-79.

Liebe

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ruht auf einem konsequent durchgehaltenen Konzept, das sehr stark von der Andersartigkeit (Alterität) des Mittelalters ausgeht. So legt Duby größtes Gewicht auf die spätantike Leibesfeindlichkeit eines Hieronymus, deren Verbindlichkeit zumindestens für die mittelalterliche Amtskirche er für gegeben hält. Diese kontrastiert er mit einer von ihm rekonstruierten archaischen Kriegermoral des mittelalterlichen Adels, dessen Sexualleben allein von Trieben gesteuert werde. Aufgrund seiner gesellschaftlichen Führungsposition unterliege dessen Sexualverhalten nur einer, wenn überhaupt, geringen Kontrolle. Die Ehe in dieser Epoche habe nichts mit,Liebe' zu tun. Das Verhalten der Geschlechter untereinander sei vielmehr von latentem gegenseitigem Mißtrauen geprägt. Duby zeigt am Beispiel des französischen Königs Robert II. (989-1024), der insgesamt dreimal verheiratet war, den Zusammenstoß von kirchlicher Ehe- und archaischer Kriegermoral. Der Kirche gelingt es, im Falle Roberts II. freilich erst nach langwierigen Auseinandersetzungen, ihre Ehevorstellungen bis zum Hochmittelalter (12. Jahrhundert) als die alleingültigen durchzusetzen. Den großen Erfolg, welcher der Kirche auf breiter Front beschieden war, erklärt Duby - sehr überzeugend - damit, daß die Entwicklung des kirchlichen Eherechts, das auf die Öffentlichkeit der Ehe, deren zumindestens theoretische Unaufhebbarkeit und auf den Gehorsam der Frau gegenüber dem Manne setzte, der sogenannten adligen ,Haus'bildung parallel lief. Die Mentalität des einzelnen Adligen, der „sein Blut" weitergeben wollte und dem deshalb aus dynastischen Gründen eine unumstrittene männliche Erbfolge mit Erstgeburtsrecht wichtig war, konnte die von der Kirche geforderte Monogamie akzeptieren, zumal man sich kirchlicherseits beim Verbot der Verwandtenehe elastisch zeigte und von einer allzu engherzigen Zählung der sogenannten Verwandtschaftsgrade absah. Die reale Bedeutung eines der Hauptbestandteile der kirchlichen Ehelehre, der gegenseitigen Zustimmung (lat.: consensus) von Mann und Frau zur Ehe, wie sie sich im Hochmittelalter entwickelt hatte, schätzt Duby hingegen eher gering ein, da zumindestens adlige Ehen in aller Regel arrangiert und Gegenstand der Familienpolitik gewesen seien. Äußerst pessimistisch bleibt auch seine am Ende des Buches und dann verstärkt in den ,Essais' stattfindende Deutung der sogenannten Höfischen Liebe. Sie wird bei ihm als ein vom Lehnsherrn arrangiertes Spiel als Gegenstück zum Turnier betrachtet, das der Einübung der männlichen Jugend in höfische Tugenden diene, das aber, bei Lichte betrachtet, vor allem nur eines bezwecke: eine Verinnerlichung der Lehnspflichten und des vasallitischen Dienstes, sowie die kompromißlose Unterordnung unter den

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Lehnsherrn. Die Frau spiele keine aktive Rolle, sei bloßer Lockvogel für den Mann. Wenn die Interpretation Dubys auch faszinierend erscheint, so bleiben doch einige Bedenken bestehen: der Autor geht von den politischen Ehen des Hochadels aus. Sind diese aber generell auf Beziehungen zwischen Mann und Frau im Mittelalter ohne weiteres übertragbar? Schließt die Tatsache einer von den Eltern arrangierten Verbindung die Möglichkeit späterer ,Liebe' zwischen den Eheleuten prinzipiell aus? Ist nicht gerade das Verhalten Roberts II., der auch nach der Trennung von seiner zweiten Frau, wider alle politische Opportunität, nicht von ihr lassen konnte, nicht gerade ein Beispiel für ,wahre Liebe', die aus einer ursprünglich rein politischen Ehe wachsen kann? 17 Stimmt das von Duby gezeichnete Bild einer archaischen Kriegermoral? Dürfen wir wirklich annehmen, die sexuellen Freiheiten junger Adliger seien fast unbegrenzt gewesen? Überschätzt er nicht die Bedeutung der Sexualität und unterschätzt er nicht die Bedeutung des ehebegründenden Konsenses auch der Frau? Und vielleicht das Entscheidendste: Hat Duby nicht vielleicht manchesmal unbewußt die eigene Mentalität, d. h. eventuell vorhandene eigene, typisch männliche Urängste gegenüber der Frau in seine Darstellung miteingebracht?18

17 So versuchte Robert, auch nach seiner von der Kirche anerkannten (dritten) Ehe mit Konstanze von Arles (verheiratet seit 1004/1005) zu seiner (zweiten) Ehefrau Bertha von Blois (verheiratet seit 996 bis 1003/1004) zurückzukehren. Sein Verhalten führte zu einer auch politisch gefahrlichen Spaltung des Hofes. Im Jahr 1010 unternahm er zusammen mit Bertha eine Romreise, um vom Papst, freilich vergeblich, die Zustimmung zu einer Scheidung von Konstanze und zu einer Heirat mit Bertha zu erlangen. - Dezidierten Zweifel an der Interpretation von Duby äußert auch A. BOUREAU, Propositions pour une histoire restreinte des mentalités, in: Annales. E.S.C. 44 (1989), S. 1491-1505, hier S. 1494-1495, der von der Möglichkeit einer „Liebesbeziehung" Roberts II. ausgeht. 18 Als Beispiel sei die folgende, sehr suggestiv wirkende Passage aus seinem Buch „Le chevalier, la femme et le prêtre" zitiert (wobei wir der deutschen Übersetzung folgen). Sie bezieht ihre Wirkung u. a. aus einer für Duby charakteristischen metapherngesättigten Sprechweise. Freilich ist sie nicht unproblematisch, weil sie typisch männlichen Frauenbildern und Ängsten verhaftet ist, die aber ungeschützt, und ohne daß es der unbefangene Leser gleich merken würde, auf die Frau übertragen werden: „In dem Haus, in das sie nach so vielen Vorsichtsmaßregeln schließlich eingeführt wurde, blieb die Gattin verdächtig, eine Feindin. Die Männer betrachteten das Eheleben als einen rauhen Kampf, der unermüdliche Wachsamkeit verlangte. Verborgen im tiefsten Grunde der männlichen Psyche erahnt man ein Gefühl, daß die Frau - obwohl das allgemeine Bild von den Strukturen des Kosmos sie mit der Nacht, dem Wasser, dem Mond, mit allem Kalten und Blauen zusammenstellte - , feuriger

Liebe

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Einen zentralen Punkt in der Forschung der letzten Jahre, soweit sie das Thema der „Höfischen Liebe" tangiert, bildete das modernen Interpreten nach wie vor viele Rätsel aufgebende Werk De amore des Franzosen Andreas Capellanus. In den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts, vielleicht in Paris am Königshofe entstanden, schildert es in drei Büchern das ,Spiel' zwischen den Geschlechtern. Der besondere Reiz ergibt sich dabei aus den soziologisch jeweils wechselnden Kombinationen: Mann und Frau, ständisch differenziert in Nichtadlige (,Plebeier'), niederen, mittleren und hohen Adel, treten einander dialogisch gegenüber. Es gibt, wie in der ,Liebesdiskussion' häufiger, zwei unterschiedliche Forschungspositionen: einerseits wird mit Duby De amore sehr negativ als ein reines Verführungs- und Überredungsbuch gedeutet; die Frau erscheine nur als Objekt persuasiver männlicher Strategien; man versteht unter Berufung auf einen germanistischen Deutungsversuch 19 Andreas Capellanus vor allem als einen Warner und Kritiker ,höfischer Liebe'. Andererseits sieht man bei Andreas Capellanus ein Zivilisationsmodell sich entwickeln, das von der Frau als einem bonum ausgehe. Die Frau werde nicht durch rohe physische Gewalt erobert, sondern müsse im „Liebesdiskurs" (Rüdiger Schnell) durch den Mann erst überzeugt werden. Die ,Liebe' als zivilisatorischer Akt gebe sich dadurch zu erkennen, daß eine freie Entscheidung der Frau möglich und ihre Zustimmung nötig sei; die Qualität der Geschlechterbeziehung hänge von beidem entscheidend ab. Für die Interpretation von Schnell spricht insbesondere der Umstand, daß ,Liebe' bei Andreas Capellanus, auch wenn ihre Gefährlichkeit natürlich nicht verschwiegen wird, eine positive Zeichnung erfährt: Wahre ,Liebe' beruht auf Gegenseitigkeit und Ausschließlichkeit.

und verschlingend sei. Der Ehemann fürchtete, ihren Brand nicht löschen zu können. Wenn Jonas von Orléans ihn vor der Entkräftung warnt, die ihm bei mangelnder Mäßigung drohe, kann er auf sicheres Gehör rechnen. Aber der Gatte wußte auch, daß die Gegnerin, mit der er sich in der Arena des Ehebettes zu messen hatte, nicht mit offenen Waffen kämpfte, sondern mit Finten und Ausweichmanövern operierte. So lebte er in Angst vor dem Tiefschlag, vor dem Verrat." (G. DUBY, Ritter, Frau und Priester, 1985, S. 55/56). 19 Duby beruft sich auf A. KARNEIN, De amore in volkssprachlicher Literatur, 1985, vgl. dazu aber die Rezension von B. K. VOLLMANN, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. Bd. 37/3(1987), S. 337-341.

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

5. Ausblicke auf das späte Mittelalter Auch für diesen Zeitabschnitt besteht in der mentalitätsgeschichtlichen Forschung wenig Einigkeit. Es lassen sich im wesentlichen zwei sehr kontroverse Positionen festmachen. Zum einen orientieren sich viele Aussagen über spätmittelalterliche ,Liebe' und Sexualität sehr häufig an dem von Norbert Elias 2 0 entwickelten Zivilisationsmodell. So glaubte Elias bei seinen kulturgeschichtlichen Untersuchungen festgestellt zu haben, daß es im Zuge des historischen Prozesses zu einer zunehmenden Beherrschung des menschlichen Trieb- und Affektbereiches gekommen sei. Elias ging bei seinen Untersuchungen vom (Spät-)Mittelalter aus, das für ihn im Vergleich zur frühen Neuzeit noch weitgehend frei von Restriktionen im menschlichen Affekthaushalt gewesen sei. Der Elias-Deutung in vielem verpflichtet sind auch solche Autoren, die, wie beispielsweise Jacques Rossiaud 2 1 , bei dem in der Forschung häufiger untersuchten spätmittelalterlichen Bordell- und Prostituiertenwesen von einer hohen gesellschaftlichen Akzeptanz ausgehen. Da in der städtischen Gesellschaft die Prostitution von städtischen Behörden organisiert und überwacht, mitunter aus Gründen des Staatswohls sogar ausdrücklich gefördert (Beispiel Florenz) worden sei, hätte es sich bei einem Besuch im öffentlichen Bordell (prostibulum publicum) mithin um etwas ganz Alltägliches gehandelt. Die Marginalisierung und die gesellschaftliche Ächtung seien vor allem das Ergebnis einer religiösen und wirtschaftlichen Krise am Ende des Spätmittelalters, die schließlich zur Reformation geführt habe. Überträgt man konsequent das Modell von Elias auf den gesamten Zeitraum zwischen 500 und 1500, so würde dies bedeuten, daß im Vergleich zum frühen das späte Mittelalter durch einen höheren Restriktionsgrad im menschlichen Trieb- und Affektbereich gekennzeichnet sein müßte. Michael Schröter, ein Schüler von Norbert Elias, hat diese Entwicklung am Beispiel der „Hochzeitsnacht" untersucht, die sich seiner Meinung nach durch einen zunehmenden Grad an Intimisierung auszeichne. Für die frühmittelalterliche

20 NORBERT ELIAS (gest. 1990), deutscher Soziologe; Hauptwerke: Über den Prozeß der Zivilisation (1939) und Die höfische Gesellschaft (1969); die Rezeption von Elias, der vor dem Nationalsozialismus nach England emigrierte, begann, Zumindestens was die Geschichtswissenschaft betrifft, sehr spät und setzte verstärkt Ende der 60er Jahre ein: sein Buch über den Zivilisationsprozeß, das bereits Ende der 30er Jahre erschienen war, wurde erst 1976 durch den Suhrkamp-Verlag einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. 21 Vgl. dazu oben Kapitel VI, S. 153-154.

Ausblicke

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Zeit habe man von einer sehr geringen Intimität auszugehen: die Brautleute wurden öffentlich zum Brautbett geführt und am nächsten Morgen aus dem Brautbett hinausgeleitet, die Hochzeitsnacht, das sogenannte Beilager (concubitus), fand häufig vor dem Kirchgang statt und unterstand einer sozialen Kontrolle durch die (adlige) „Öffentlichkeit", der die Virginität der Braut besonders wichtig war. Die Situation habe sich am Ende des Spätmittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit geändert: das Beilager habe erst nach dem Kirchgang stattgefunden, es habe sich eine „Entfunktionalisierung" bzw. Privatisierung und Individualisierung der Sexualität vollzogen. Nicht nur für Mentalitäts-, sondern auch für Allgemeinhistoriker ist ein von Schröter in diesem Zusammenhang herangezogenes Beispiel von besonderem Interesse. Es handelt sich um das Beilager zu Neapel, das Kaiser Friedrich III. (1440-1493), folgen wir dem Bericht eines Augenzeugen, des Aeneas Silvius Piccolomini, des späteren Papstes Pius II. (gest. 1464), zum nicht geringen Erstaunen des portugiesischen Gefolges seiner ihm frisch angetrauten Eleonore Ende März 1452 in aller Öffentlichkeit hätte vollziehen wollen. Das anfängliche Entsetzen habe freilich sehr rasch einer tiefen Erleichterung Platz gemacht, da Friedrich III. öffentlich die Ehe nur in symbolischer, nicht aber realer Form vollzogen habe: „Er (Friedrich) befahl deshalb nach deutscher Sitte das Lager herzurichten, legte sich darauf, ließ sich dann Leonor in seine Arme geben, um sie zu umfangen, und in Gegenwart des Königs und unter dem Umstand aller Vornehmen die Decke überbreiten. Doch geschah nichts weiter, man gab sich nur einen Kuß. Sie waren ja beide in ihren Kleidern und standen sofort vom Lager wieder auf. Der Brauch hat sich einmal bei den Deutschen so erhalten, wenn sich fürstliche Persönlichkeiten zum ersten Mal mit eineinander verbinden. Die Frauen aus Spanien, die zugegen waren und meinten, daß die Sache nun ernstlich vor sich gehen solle, schrieen, als sie sahen, daß die Decke übergebreitet wurde, das sei ein unwürdiger Auftritt, und schalten dabei auf den König (Alfons V. von Neapel, verwandt mit Eleonore, gest. 1458), der so etwas zulasse. Dieser aber schaute dem fremdländischen Brauche mit sichtlichem Ergötzen lächelnd zu. In der darauf folgenden Nacht sollte nun der Beischlaf ohne Kleider stattfinden. Während demnach der gesammte Hof sich am Tanze erfreute, schwangen die portugiesischen Frauen, denen die Sorge für das abgelegenere Schlafgemach anvertraut war, Rauchfässer über dem Lager, auf das man sich legen sollte. Dann sprachen sie Zaubersprüche, ließen einen Priester kommen und den Segen über das Bett sprechen und besprengten es mit Weihwasser. Auf diese Weise, so

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

meinten die Weiber in ihrem Aberglauben, werde die Ehe glücklich werden und die gegenseitige Liebe beständig andauern. Der Kaiser aber, sobald er das vernahm, befahl, aus Furcht, es möchte dabei irgendwie Zauberei mituntergelaufen sein, ihm ein anderes Bett herzurichten und ließ seine Gattin zu sich bitten ... Indeß die Kaiserin erklärte, trotz zwei-, ja dreimaliger Aufforderung, sie werde es halten, wie es Brauch sei und in ihrem Bette bleiben; es sei Sitte, daß die Männer zu dem Lager der Frau kämen, und nicht umgekehrt pflege es zu geschehen. Der Kaiser, sich gleichsam für überwunden gebend, verfügte sich zu ihr und bat, sie möge mit ihm in das andere Schlafgemach kommen. Als sie sich dessen weigerte, ergriff er sie bei der Hand und brachte sie, die nicht auf ihrem Willen bestehen wollte, leicht zum nachgeben. Und so ward auf diese Weise, indem man den Zauberkünsten aus dem Wege ging, in einem anderen Bette der eheliche Beischlaf vollzogen" 22 . Folgen wir Schröter, dann haben wir hier eine Zwischenstufe vor uns: das frühere öffentliche' Beilager (concubitus) sei bereits unterwegs zu seiner späteren Privatisierung, da es nur noch symbolisch vollzogen werde (sog. concubitus symbolicus). Wir müssen aus Platzgründen an dieser Stelle darauf verzichten, auf die ganze Problematik der Deutung Schröters näher einzugehen, doch zeigt der Bericht des Aeneas eindeutig, daß von igendeiner Zwischenstufe' schlechterdings keine Rede sein kann, der fleischliche Vollzug der Ehe findet - selbstverständlich ohne Publikum - in einem „abgelegeneren Schlafgemach" statt, ist also bereits „privatisiert" 23 . Stattdessen seien

22 Die Geschichte Kaiser Friedrichs III. von Aeneas Silvius. Zweite Hälfte übersetzt von TH. ILGEN (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 2. Gesamtausgabe, Bd. 89), 2

1 9 4 0 , S. 9 5 - 9 7 .

23 So muß darauf hingewiesen werden, daß die rechtshistorische Forschung, soweit sie sich mit dem .Beilager' beschäftigt hat, die für Schröter so wichtige .Öffentlichkeit' nur darin erkennt, daß das Ehebett vor den Verwandten beschritten wird; das eigentliche Beilager aber auch ,bei den alten Germanen', soweit es sich rekonstruieren läßt, natürlich nicht vor den Augen der Öffentlichkeit stattfand; die Intimität blieb mithin immer gewahrt. Insofern ist die alte Sitte der Brautbettbeschreitung gleichfalls ein symbolischer Akt. - Der Interpretationsversuch Schröters basiert hingegen auf der Annahme, der Bericht des Aeneas lasse gleichsam zwei verschiedene Mentalitätsstufen erkennen: eine historisch ältere, repräsentiert durch die Portugiesen, für welche die Ehe erst dann gültig gewesen sei, wenn sie auch fleischlich vollzogen sei, und eine historisch jüngere, vertreten durch Friedrich III., der die Ehe aufgrund des Ehevertrages und der Konsenserklärung der beiden Eheleute als bereits vollgültig angesehen und die fleischliche Vereinigung in Form des Beilagers als bloßes Akzidenz empfunden hätte. Dagegen spricht aber der Bericht des Augenzeugen Aeneas. Die

Bibliographie

293

abschließend einige Worte zum hier verwendeten „anthropologischen Modell" gesagt, das, wie so oft in der mentalitätsgeschichtlichen Forschung, von der Bedeutung grundlegender, durch historische Epochen nur sehr begrenzt beeinflußbarer menschlicher Grundkonstanten ausgehen möchte. Die stärkste Erschütterung des Modells von Elias erfolgte nicht von ungefähr durch einen Ethnologen. Hans-Peter Duerr wendet sich bereits im Titel seines ersten Buches (von bisher insgesamt dreien) unmißverständlich gegen Elias und dessen „Mythos vom Zivilisationsprozeß". Die Auseinandersetzung zwischen Duerr und der Elias-Schule ist bislang von einer, freilich manchmal durchaus erfrischend wirkenden Polemik auf beiden Seiten gekennzeichnet. Wenn die Debatte auch noch keineswegs als abgeschlossen gelten kann, so gebührt Duerr doch das Verdienst, auf die Bedeutung solch grundlegender anthropologischer Konstanten wie beispielsweise des menschlichen Schamgefühls aufmerksam gemacht zu haben. Nicht unproblematisch dürfte auch das mitunter von Elias zu stark vereinfachend gezeichnete und von Duerr daher mit Recht kritisierte Spätmittelalterbild sein. Man wird auch mit einigem Recht darüber im Zweifel sein dürfen, inwieweit die von Elias behauptete zunehmende Affektrestriktion in der Entwicklung zur Moderne mit dem Umstand zu vereinbaren ist, daß die Möglichkeiten für soziale Kontrollmechanismen und damit auch die Möglichkeiten einer Trieb- bzw. Affektrestriktion in früheren Zeiten ungleich stärker gegeben waren: In archaischer und einfacher strukturierten Gesellschaften (beispielsweise „ D o r f versus „Stadt") dürfte der soziale Anpassungsdruck besonders groß und die Möglichkeit, sich ihm zu entziehen, besonders gering gewesen sein.

6. Bibliographie Allgemein: C. KLAPISCH-ZUBER, Die Mediävisten, die Frau und die serielle Geschichtsschreibung, in: A. CORBIN u. a. (Hgg.), Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, 1989, S. 147-160; M. ROUCHE/J. HEUCLIN (edd.), La femme au moyen-age, 1990; G. DUBY/C. KLAPISCH-ZUBER (Hgg.), Geschichte der Frauen. Bd. 2: Mittel-

vom Autor bewußt angestrebte Komik entsteht durch den vom Kaiser nicht voraussehbaren Zusammenstoß zweier unterschiedlicher Kulturkreise und damit auch zweier unterschiedlicher Mentalitäten. Der Witz der anekdotischen Begebenheit liegt darin begründet, daß die Portugiesen die Symbolhaftigkeit des kaiserlichen Handelns nicht erkennen und mit der Realität eines fleischlichen Vollzugs der Ehe vor den Augen der Öffentlichkeit rechnen.

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Kapitel XI. Sexualität und Liebe

alter, 1993; J. CADDEN, Meanings of Sex Différence in the Middle Ages, Medicine, Science and Culture, 1993; Artikel „Sexualität" (verschiedene Autoren), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7 (1995), Sp. 1812-1819. Spätantike Grundlagen: H. CANCIK, Zur Entstehung der christlichen Sexualmoral, in: A. K. SIEMS (Hg.), Sexualität und Erotik in der Antike, 1988, S. 347-374; P. BROWN, Die Keuschheit der Engel, 1991; J. OPPEL, Saint Jerome and the History of Sex, in: Viator 24 (1993), S. 1 - 2 2 ; .

Frühmittelalter: H.-W. GOETZ, Frauen im frühen Mittelalter, 1995. Medizinischen Kenntnisse und naturphilosophische Vorstellungen: D. JACQUART/C. THOMASSET, Sexualité et savoir au moyen age, 1985; J. BLONDIAUX, La femme et son corps au haut moyen-age vus par l'anthropologue et le paléopathologiste, in: ROUCHE/HEUCLIN (edd.), L a f e m m e , S. 1 1 5 - 1 3 7 .

Zur kirchlichen Sexualmoral, insbesondere auch in den Bußbüchern: J.-L. FLANDRIN, Le sexe et l'Occident, 1981 ; DERS., Un temps pour embrasser, 1983; M. G. MUZZARELLI, Una componente della mentalità occidentale: i Penitenziali nell'alto medioevo, 1980; R. KOTTJE, Ehe und Eheverständnis in den vorgratianischen Bußbüchern, in: Love and Marriage in the Twelfth Century, hg. v. W. VAN HOECKE/A. WELKENHUYSEN, 1981, S. 18-40. Priester und Ehe: H. FUHRMANN, Überall ist Mittelalter, 1996, S. 150-171 : „Edle Pfarrersfrau" arme Pfarrersfrau. Prostitution: L. L. OTIS, Prostitution in Medieval Society, 1985; J. ROSSIAUD, La prostitution médiéval (dt.: Dame Venus. Prostitution im Mittelalter, 1989, auch als Tb.-Ausgabe). Zur Deutung von ,Liebe' im frühen und hohen Mittelalter: G. DUBY, Mâle Moyen Age. De l'amour et autres essais, 1988 (dt. Teilübersetzung: Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter, 1989); DERS., Le chevalier, la femme et le prêtre. Le mariage dans la France féodale, 1981 (dt.: Ritter, Frau und Priester, 1985); DERS., Le mariage dans la société du Haut Moyen Age, in: Il matrimonio nella società altomedievale. Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo, Bd. 24 (1977) S. 1 5 - 3 9 ; DERS., Dames du XII e siècle, Bd. 1: Héloise, Aliénor, Iseut et quelques autres, 1995 ; K. Schmid, Heirat, Familienfolge, Geschlechterbewußtsein, in: Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo, Bd. 24, S. 103-138. Rechtliche Aspekte, insbesondere Eherecht: J. A. BRUNDAGE, Law, Sex and Christian Society in Medieval Society, 1987; R. WEIGAND, Liebe und Ehe bei den Dekretisten des 12. Jahrhunderts, in: Love and Marriage, S. 4 1 - 5 8 ; C. N. L. BROOKE, The Medieval Idea of Marriage, 1989. Zur positiver eingestellten Haltung der Kirche im Hochmittelalter: J. LECLERCQ, L'amour et les mariages vus par des clercs et des religieux, spécialement au XII e siècle, in: Love and Marriage, S. 102-115. Zur Hammersteiner Eheaffäre: S. REICKE, Der H. Ehehandel im Lichte der mittelalterlichen Hen-schaftsordnung, in: Rheinische Vierteljahresblätter 38 (1974), S. 203-224.

295

Bibliographie

Zu Andreas Capellanus und .höfischer Liebe': A. KARNEIN, De amore in volkssprachlicher Literatur, 1985, insbes. S. 21-107 (über den Autor, der als Kaplan des französischen Königs Philipp II. Augustus in Paris De amore als antihöfischen Traktat geschrieben habe); D. A. MONSON, Andreas Capellanus and the Problem of Irony, in: Spéculum 63 (1988), S. 5 3 9 - 5 7 2 ; R. SCHNELL, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, 1985; DERS., Die ,höfische Liebe' als Gegenstand von Psychohistorie, Sozial- und Mentalitätsgeschichte, in: Poetica 23 (1991), S. 3 7 4 - 4 2 4 ; DERS., Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter, in: J. HEINZLE (Hg.), Modernes Mittelalter, 1994, S. 103-133. Zur angeblich fehlenden ,Liebe' im Frühmittelalter: P. DINZELBACHER, Sexualität/Liebe (Mittelalter), in: DERS. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993, S. 7 0 - 8 9 ; DERS., Artikel „Liebe", in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 1965-1968; DERS., Über die Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter, in: Saeculum 32 (1981), S. 185-208; DERS., Sozialund Mentalitätsgeschichte der Liebe im Mittelalter, in: U. MÜLLER (Hg.), Minne ist ein swaerez spil, 1986, S. 7 5 - 1 1 0 ; DERS., Pour une histoire de l'amour au moyen âge, in: Moyen Age 93 (1987), S. 2 2 3 - 2 4 0 ; dagegen: W. HARTMANN, Über Liebe und Ehe im früheren Mittelalter. Einige Bemerkungen zu einer Geschichte des Gefühls, in: DE IURE CANONICO MEDII AEVI. Festschrift für Rudolf Weigand (Studia Gratiana XXVII), 1996, S. 189-216. Ausblicke auf das Spätmittelalter - zum Problem eines .Zivilisationsprozesses': N. ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde, 1976; H.-P. DUERR, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß: I. Nacktheit und Scham, 3. Aufl. 1988; DERS., Der Mythos vom Zivilisationsprozeß: 2. Intimität, 1990; DERS., Der Mythos vom Zivilisationsprozeß: 3. Obszönität und Gewalt, 1993; J. HEINZLE, Der gerechte Richter. Zur historischen Analyse mittelalterlicher Literatur, in: DERS. (Hg.), Modernes Mittealter, 1994, S. 266-294, hier S. 2 8 6 - 2 9 0 über Elias und Duerr; M. SCHRÖTER, Zur Intimisierung der Hochzeitsnacht im 16. Jahrhundert, in: H.-J. BACHORSKI (Hg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und früher Neuzeit, 1991, S. 3 5 9 - 4 1 4 ; Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von K. SCHREINER/N. SCHNITZLER, 1992 (Aufsatzsammlung mit anthropologisch-historischer

Thematik); P. DINZELBACHER, Heilige oder

Hexen?

Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit, 1995; B. P. LEVACK, Hexenjagd. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa, 1995.

Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen 1. „Wunder" und Wunderglauben im Mittelalter „Volksfrömmigkeit"

2. Das Konzept der „Volkskultur" und

3. D i e Ketzer und die Kirche: Einstellungen und Verhaltensweisen

gegenüber religiösen Sondergruppen

4. Spätmittelalterliche Frömmigkeitsvorstellungen und

Verhaltensweisen im Spiegel zeitgenössischer Kritik

5. Bibliographie

1. „Wunder" und Wunderglauben im Mittelalter ,Die Religion des Mittelalters' und die mit ihr verbundenen mentalen Vorstellungen sind in ihrer Komplexität nicht auf einigen wenigen Seiten darzustellen. Es kann an dieser Stelle nur darum gehen, einige Züge mittelalterlicher Religiosität in ihrer Bedeutung für Mentalitäts- und Vorstellungsgeschichte aufzuzeigen. Eine aus anderen Kapiteln gewohnte chronologische Vorgehensweise erscheint dieses Mal nicht besonders sinnvoll. Zwar unterlagen, wie noch näher zu zeigen sein wird, auch religiöse Vorstellungen dem historischen Wandel, doch beschränken sich die im zweiten Abschnitt darzustellenden Phänomene mittelalterlicher „Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit" keineswegs auf das Mittelalter. Stellt man sich die Frage nach den für unser Thema relevanten schriftlichen Quellen, so ist namentlich an Viten (Heiligenbiographien), Mirakelberichte (Wundererzählungen), Bußbücher und Visionen zu denken. Insbesondere die erste und zweite Quellengruppe, Viten und Wundererzählungen, scheinen deshalb von ganz besonderem Interesse, weil bei ihnen, stärker als bei den meisten anderen historiographischen Zeugnissen, das „Volk", der populus, ins Blickfeld rückt 1 , also jene für den Mittelalterhistoriker so über-

1

Zum Aussagewert

hagiographischer Quellen

unter „kultur- und

mentalitätsgeschicht-

lich(em)" Aspekt vor allem in spätantiker und frühmittelalterlicher Zeit und ihrer Bedeutung für die Rekonstruktion der „Volkskultur" vgl. die Überlegungen von F. PRINZ, Der Heilige und seine Lebenswelt. Überlegungen zum gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Aus-

„Wunder" und Wunderglauben

297

aus schwer zu greifende Bevölkerungsgruppe, die in denjenigen Konzepten der Mentalitätsgeschichte eine wichtige Bezugsgröße darstellt, die mit dem später noch ausführlicher vorzustellenden Begriff der „Volksreligiosität" 2 arbeiten. Mirakelerzählungen finden sich häufiger im Anschluß an Viten und dienen dazu, die Heiligkeit des Titelhelden zu erweisen. Bisweilen sind sie sogar ganz unabhängig von der historischen Heiligenbiographie entstanden. So sind beispielsweise die Miracula sancti Benedicti des französischen Mönches Aimoin von Fleury (gest. um 1008) erst Jahrhunderte nach dem Tode des heiligen Benedikt von Nursia (gest. um 560) geschrieben worden, und das nicht einmal in der italienischen Heimat Benedikts, sondern in dem französischen Loirekloster Fleury (St-BenoTt-sur-Loire), welches sich rühmte, den Leichnam des Heiligen zu besitzen. Mirakelbücher sind für die Mentalitätsgeschichte deshalb von besonderem Interesse, weil weniger der Heilige, hier also Benedikt von Nursia, als vielmehr die durch ihn verursachten Wunder im Mittelpunkt stehen. Und diese Wunder beziehen sich auf und vollziehen sich an Personen, die dem populus entstammen und wenigstens teilweise Zeitgenossen des Verfassers der Miracula sancti Benedicti waren. Leider ist die Quellengruppe der Miracula bisher noch nicht gründlich aufgearbeitet, was ihre Auswertung als mentalitätsgeschichtliche Quellengruppe erschwert, denn nicht immer kann man sicher sein, inwieweit der oder die Verfasser älteren Vorlagen gefolgt sind. Auch im Fall der Vitenliteratur ging man häufig davon aus, daß sich in ihr die Meinung und die Mentalität des Volkes widergespiegelt hätte. Heutzutage ist man diesbezüglich ungleich vorsichtiger und skeptischer geworden. Man hat gelernt, stärker nach dem Grund für die Abfassung von Geschichtsschreibung, nach der causa scribendi (G. Althoff), insbesondere bei Heiligenerzählungen, zu fragen. Grundlegende Zweifel an einer allzu unbefangenen Betrachtungsweise der Vitenliteratur äußerte am Beispiel merowingischer Heiligenerzählungen der tschechische Historiker F. Graus (gest. 1989), der auf die Bedeutung kirchlicher Einflußnahme in propagandistischer Absicht bei Wundererzählungen hinwies. Bei der Auswertung der oben genannten drei Quellengruppen gilt es immer zu bedenken, daß wir

sagewert von Viten und Wundererzahlungen, in: Santi e Demoni nell'Alto Medioevo occidentale (Secoli V-XI) (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 36/1), 1989, S. 285-311. 2

Vgl. unten S. 300-326.

298

Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

vom ,Völk' nur mittelbar, also immer gebrochen, durch den stilisierten Bericht eines Klerikers erfahren. Man hat mit literarischer Zielsetzung, etwa den angesprochenen Rezipientenkreis angemessen zu unterhalten, ebenso zu rechnen wie mit ausgesprochen propagandistischen Absichten. Man versuchte beispielsweise, unliebsame heidnische „Konkurrenten", heidnische Magier, dadurch auszustechen, daß die Heiligen, die „christlichen Magier", besonders wunderkräftig dargestellt wurden (Heilungswunder, Beeinflussung von Naturgewalten etc.) 3 . Demgemäß macht einen wesentlichen Bestandteil der Hagiographie (Heiligengeschichtsschreibung), dessen Bedeutung für religiöse Vorstellungswelten unmittelbar evident ist, das „Wunder" aus. Seine Funktion besteht darin, die Verbindung des „Heiligen" mit dem Numinosen (Göttlichen) zu erweisen. Religionssoziologen sprechen deshalb auch gern vom sogenannten Bestätigungswunder. Es hat demonstrativen Charakter, indem es auf die Heiligkeit eines „Heiligen" verweist. Die enge Verbindung von Wunder und Heiligkeit hat man sich bei der Definition des „Heiligen" zunutze gemacht. Wenn wir A. Nitschke folgen, dann sind Heilige „Menschen, in deren Gegenwart Wunder geschehen" 4 . Nicht ohne Grund verlangt deshalb noch heute die katholische Kirche für einen Kanonisationsprozeß (Heiligsprechungsverfahren) mindestens zwei gut bezeugte Wunder. Das Vorbild eines heiligen Wundertäters war nach mittelalterlicher Vorstellung Jesus Christus. Mittelalterliche Heilige, die „Wunder" vollbrachten, bewegten sich damit in den Bahnen, die der HERR vorgezeichnet hatte. Wie stark der Gedanke einer imitatio (Nachahmung) Christi war, zeigt sich in der mittelalterlichen Hagiographie. Eine Vielzahl der in den Viten und Mirakelberichten erzählten Wunder sind biblisch-neutestamentlicher Tradition verpflichtet. Mit Vorliebe bekämpfen mittelalterliche Heilige besonders diejenigen Gebrechen, die bereits der HERR geheilt hatte: Blinde können wieder sehen, Lahme wieder gehen, Kranke wieder aufstehen, Totgeglaubte werden wieder lebendig. Dennoch sind Wunder und Wunderglauben alles andere als unproblematisch. Das hat bereits die mittelalterliche Kirche so gesehen, und insofern wäre es zu undifferenziert, dem Mittelalter samt und sonders kritiklose 3

4

Dieser Gesichtspunkt wird besonders betont von F. GRAUS, Hagiographie und Dämonenglaube - zu ihren Funktionen in der Merowingerzeit, in: Santi e Demoni (wie Anm. 1), S. 93-120; ebd. S. 96 u. 120 Hinweis auf die „Herausbildung neuer Mentalitäten" unter Bezugnahme auf den Historiographen Gregor von Tours und den Papst Gregor den Großen. A. NITSCHKE, Heilige in dieser Welt, 1962, S. 10.

.Wunder" und Wunderglauben

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Wundergläubigkeit zu attestieren. Eine erste Form der Wunderkritik oder besser: der Distanzierung vom Wunder, findet sich nach Aussage des Neuen Testaments bereits bei Jesus Christus, wie beispielsweise das Evangelium des Matthäus (12, 3 8 - 3 9 ) erkennen läßt: „(Die Pharisäer sagen:) ,Meister, wir wollten gerne ein Zeichen von dir sehen'. Und er antwortete und sprach zu ihnen: ,Die böse und ehebrecherische Art suchet ein Zeichen; und es wird ihr kein Zeichen gegeben werden'." Diese Zurückhaltung läßt sich auch in der Spätantike (5. Konzil von Karthago 401) und in der Karolingerzeit (z. B. in den Libri Carolini) beobachten. Die dem Mittelalter als Lehrautoritäten geltenden Kirchenväter wie Augustinus (gest. 430) oder Papst Gregor I. (gest. 604) hatten zu bedenken gegeben, daß auch „schlechte Menschen", heidnische Magier, Wunder vollbringen könnten, mithin ein „Wunder" nicht per se unbedingt etwas Positives für den Glauben darstelle. Auch konnte sich die Kirche nach ihrem Verständnis darauf berufen, daß das Zustandekommen eines wirklichen Wunders im Gegensatz zu den Zaubereien der Magier an eine wesentliche Voraussetzung gebunden war: Das Volk mußte daran glauben, denn bei einem ungläubigen Volk waren selbst dem H E R R N die Hände gebunden gewesen: „Jesus aber sprach zu ihnen: ,Der Prophet gilt nirgends weniger denn im Vaterland' ... Und er konnte allda nicht eine einzige Tat tun; außer einigen wenigen Siechen legte er die Hände auf." (Markus 6, 4 - 5 ) . Der Vorteil eines solchen „christlichen" Wunderverständnisses liegt auf der Hand. Nicht vollbrachte Wunder eines Heiligen waren leichter entschuldbar geworden. Dessen „Versagen" fand eine Erklärung im mangelnden Glauben derjenigen, vor denen und an denen er hätte Wunder vollbringen sollen: Sie hatten einfach nicht genügend Glauben dafür aufgebracht, daß ein Wunder möglich gewesen wäre. Umgekehrt scheint es bei einem nichtchristlichen Wunderverständnis weniger darauf anzukommen, inwieweit der einzelne an die Möglichkeit eines entsprechenden Wunders glaubt. Angesichts der Skepsis zumindestens der religiösen ,Intelligentsia', der christlichen .Intellektuellen', überrascht der Versuch der Kirche nicht, die Bedeutung der sogenannten miracula corporalia eher geringer einzustufen zugunsten einer Höherbewertung der miracula spiritualia. Körperliche Wunder, wie beispielsweise überraschende Krankheitsheilungen, vollzogen sich contra, supra oder praeter naturam. Es handelte sich also um „wider-" oder „unnatürliche" Vorgänge, denen ein aufgeklärteres Bewußtsein immer mit Skepsis begegnete.

300

Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

Ganz anders stellte sich die Situation dar für den großen Bereich der „geistigen Wunder", handelt es sich doch in ihrem Fall um „natürliche Vorgänge". Aufs äußerste gesteigerte Demut, Freigebigkeit, Askese und Feindesliebe eines Menschen waren und sind zwar immer ungewöhnlich, bleiben aber doch noch rational erklärbar. Diese intellektuelle „Heiligkeitskonzeption", die auf miracula spiritualia setzt, verstärkt sich im 10. Jahrhundert vor allem in den vom Reformkloster Cluny getragenen oder inspirierten Heiligenbiographien. Über ihren Erfolg bei einem breiteren Publikum wird man nur spekulieren können. Doch angesichts ihrer unbestreitbaren Attraktivität gerade auch für das einfache Volk kann man diesbezüglich optimistisch sein. Cluniazensische Musterheilige wie Graf Gerald von Aurillac (gest. nach 925) mußten beim populus hoch angesehen sein, weil sich ihre ,Werkheiligkeit' sozial positiv auswirkte. Für das ,Volk', die armen Bauern, war das äußerst friedfertige, für einen Adligen hingegen völlig untypische Verhalten ungleich segensreicher als die erfolgreiche übernatürliche Heilung einzelner Kranker. Insofern erscheint eine Zuordnung fraglich, welche die miracula corporalia spezifisch derplebs, die miracula spiritualia den ,Gebildeteren' zusprechen möchte. Hinter dieser und vergleichbaren Zuweisungen und Differenzierungen von „Volk" und „Intelligenz" steckt eine ganz spezielle Konzeption von „Volkskultur", die sich bei zahlreichen Vertretern der Mentalitätsgeschichte nachweisen läßt. Namentlich im Bereich der Frömmigkeitsgeschichte gehen zahlreiche Forscher, wie der Italiener Raoul Manselli (gest. 1984), der Österreicher Heinrich Fichtenau oder der Russe Aaron J. Gurjewitsch von der Existenz einer speziellen „Völksreligiosität"/,,Volksfrömmigkeit" (religion populaire) aus. Auch wenn hier nicht der Ort sein kann, diese Ansätze im einzelnen genauer darzustellen, seien doch einige ihrer Prämissen benannt. Unbeschadet aller Unterschiede in den jeweiligen Konzepten assoziiert der Begriff der Völksreligiosität eine „primitive", ursprüngliche, archaische, irrationale, unlogische bzw. prälogische Religiosität, die besonders stark von affektischen Momenten, wie z. B. der Angst, und magischen Zügen geprägt sei. Volksreligiosität steht nach dieser Auffassung in einem starken Gegensatz zur gelehrten Kultur der Geistlichkeit, die gezwungen ist, sich an die Volkskultur bis zu einem gewissen Grad anzupassen, wenn sie den populus in seinem Denken und Verhalten beeinflussen will. Die oben genannten Mentalitätsforscher zeigen sich damit einem Entwicklungskonzept menschlicher Mentalität verpflichtet, das in seinen grundlegenden Zügen Anfang dieses Jahrhunderts bereits der französische Ethnologe Lucien Levy-Bruhl und andere nach ihm beschrieben hatten 5 . 5

Vgl. dazu oben Kapitel I. S. 16.

„Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit"

301

2. Das Konzept der „Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit" Aus einsichtigen Gründen stellt das Frühmittelalter ein für das Konzept der mittelalterlichen Volksreligiosität besonders beliebtes Feld dar, weil es sich um eine im Vergleich zur Antike kulturell und zivilisatorisch rückständige Epoche handelt, in der junge „barbarische" Völker in das Licht der Geschichte treten. Es überrascht daher auch nicht, daß die obengenannten Forscher sich mit besonderer Intensität der frühmittelalterlichen Epoche zuwandten. Als ein besonders prägendes Element erscheint die Art und Weise, in der sich die Christianisierung großer Gebiete Europas vollzog. Die „Missionierung von oben" brachte mit sich die Aufgabe einer zusätzlichen „inneren Missionierung". Missionierung war mithin kein einmaliger historischer Vorgang, sondern ein sich hinziehender Prozeß, der sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte erstrecken konnte. Nachdem um 500 der Frankenkönig Chlodwig (gest. 511) sich zum Christentum hatte bekehren lassen, sollte es weitere drei Jahrhunderte dauern, bis an eine erfolgreiche Mission bei den Sachsen unter Karl dem Großen (768-814) zu denken war, von den Normannen ganz zu schweigen, die erst in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts zum Christentum übertraten, oder auch den Schweden, deren erster christlicher König um das Jahr 1000 getauft wurde. Ganz sicherlich hat auch die starke Intellektualisierung der christlichen Lehre dafür gesorgt, daß heidnisch-volksreligiöse Mentalität in großem Umfang bei den Neubekehrten erhalten geblieben ist. Die christliche Lehre war kompliziert und schloß höchst verschiedenartige Traditionen aus Juden-, Griechen- und Römertum in sich ein. Sie war nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch formal schwer vermittelbar, weil sie in einer Sprache geschrieben war, die nur eine kleine Kaste eigens dafür ausgebildeter Intellektueller, die „Priester", verstanden. Als „Buchreligion" hatte die christliche Lehre besonders mit dem Problem zu kämpfen, daß frühes und hohes Mittelalter sehr stark von Mündlichkeit geprägt waren. Die Lese- und Schreibfähigkeit der neben den Klerikern führenden gesellschaftlichen Gruppe des Adels war zumindestens im west- und mitteleuropäischen Raum nur zum Teil vorhanden. Die Priester mußten die christliche Lehre erst aus der Gelehrtensprache Latein in die jeweilige Völkssprache übersetzen. Gleichzeitig hatten sie den Inhalt der christlichen Botschaft ihrer Umwelt anzupassen. Evangelien wurden in der Form eines religiösen Epos erzählt. In dem in der Mitte des 9. Jahrhunderts entstandenen Heliand erscheint, ein oft zitiertes Beispiel, Jesus als christlicher Gefolgsherr, dem die Apostel als

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Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

seine „Degen" zur Seite stehen. Schließlich muß daran erinnert werden, daß sich die Lebensbedingungen im frühen Mittelalter auch nach der Einführung des Christentums nicht grundlegend verändert hatten. So blieb der einzelne nach wie vor besonders stark von einer Natur dominiert, die ihm prinzipiell als nicht beherrschbar oder nur teilweise durch magisch-religiöse Praktiken beeinflußbar erschien. Freilich ändert sich dieser Zustand im Spätmittelalter nur bedingt, und insofern überrascht es nicht weiter, daß sich „volksreligiöse" Züge, wie sie noch im einzelnen vorzustellen sein werden, auch im späten Mittelalter ungebrochen fortsetzen. Fragt man nach den historischen Ausdrucksformen, in denen sich archaische Volksreligiosität verwirklicht hat, so wurde und wird von der einschlägigen Forschung immer wieder auf die in den Quellen aufscheinenden naturmagischen Praktiken und auf den starken Dämonenglauben des Mittelalters verwiesen. Aus der hier nicht im einzelnen darzustellenden Fülle solcher religiöser Handlungsformen seien aber einige herausgegriffen. Meist erfahren wir davon nur durch Berichte christlicher Autoren, die aus ihrer Ablehnung keinen Hehl machen und deshalb auch immer abwertend von „Aberglauben" (superstitio) sprechen. Wenn wir den Aussagen der mittelalterlichen Quellen und der auf ihnen aufbauenden modernen Forschung folgen, lassen sich verschiedenartige Formen naturmagischer Praxis unterscheiden. Unter der superstitio observationum versteht man vor allem eine „abergläubische" Beachtung von „heiligen Orten" (Bäume, Quellen, Flüsse, Bäche, Steine etc.) (observatio locorum), von „heiligen Zeiten" (o. temporum) (z.B. Fest des 1. Januars) und schließlich von „magischen Zeichen" (o. signorum) (z. B. besonders ungewöhnliche und daher auch beunruhigende Naturphänomene). Auch der Versuch, die Zukunft zu ergründen (praenuntiatio futurarum rerum), galt der Kirche als rechter Aberglaube (superstitio divinationis). Vogelschau und Wahrsagerei, Sterndeutung und Losorakel wurden deshalb als magische Künste verworfen. Am entschiedensten bekämpft wurde die superstitio artis magicae. Die Beeinflussung der Zukunft durch aktive magische Praktiken lehnte die Kirche naturgemäß besonders entschieden ab. Darunter fielen alle möglichen Arten von „Zaubereien", die auf die magische Kraft des Wortes setzenden Zaubersprüche (incantationes) ebenso wie spezielle Schutzmittel (Phylakterien, z. B. Amulette) oder jede Art von „Liebeszauber", mit dessen Hilfe sich eine Frau die weitere Zuneigung ihres Mannes zu sichern hoffte. Der magus (Magier) wurde als malificus (Übeltäter) geschmäht, weil er als „negativer Priester" eine Konkurrenz zum Priester darstellte und den Monopolanspruch der Kirche gefährdete.

303

„Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit"

Einen zweiten großen Bereich mittelalterlicher „Volksfrömmigkeit" bildete der starke Dämonenglaube. Dämonen waren „unreine Geister" (spiritus impuri), übermenschliche, aber untergöttliche Mächte. Von Gott geschaffen, verfügten sie gleichwohl über einen eigenen Handlungsspielraum und lauerten den Menschen auf. Das Gefährliche war, daß die Dämonen dem menschlichen Auge unerkannt blieben. Die göttliche Vorsehung hatte in weiser Voraussicht dafür gesorgt. Denn könnten die Menschen, so meinte man, die Dämonen sehen, würden sie allzusehr erschrecken. Noch schlimmer: Die Menschen würden, mit den Dämonen allzu vertraut, gemeinsame Sache mit ihnen machen, was nur tödlich enden würde. Bei den Menschen unterbrächen wenigstens körperliche Erschöpfung, die Sorge um das tägliche Brot oder die Beschäftigung mit der Familie das lasterhafte Treiben. Dämonen, unkörperlich wie sie seien, dächten hingegen nur daran, wie sie sich gegenseitig und den Menschen schaden könnten. Weil die Dämonen unsichtbar und körperlos seien, könnten sie besonders leicht durch die offenen Teile des Körpers, sozusagen seine loca minoris

resistentiae, wie Mund, Augen

und Ohren, in den Menschen eindringen. Was freilich eine noch größere Gefahr darstellte: Der Mensch bemerkt, so hatte schon der heilige Augustinus (gest. 430) gemeint, das Eindringen der Dämonen gar nicht; er ist unversehens zum homo daemoniacus, zum „Besessenen" geworden. Den im Laufe des Mittelalters wachsenden naturkundlichen Interessen entsprechend versuchte man auch eine „wissenschaftliche" Erklärung, wie man sich das weitere Vordringen der in den menschlichen Körper eingefallenen Dämonen vorzustellen habe. So schrieb beispielsweise einer der bedeutendsten Enzyklopädisten des 13. Jahrhunderts, der Dominikaner und Prinzenerzieher Vinzenz von Beauvais (gest. um 1264) in seinem großen Naturkundebuch, dem Speculum

naturale:

„Der Teufel soll sich aber mit den Blutströmen, d. h. mit den Säften verbinden. Denn die Vorstellungskraft ist voller Säfte. Der Teufel beliefert die menschliche Vorstellungskraft mit Bildern ergötzlicher Dinge, aus denen schlechte Gedanken erwachsen, wenn sich die Seele mit ihnen abgibt. Und der Teufel wirkt solchermaßen nicht unmittelbar auf die Seele ein, sondern mittels der Säfte, mit denen er sich vermischt, besonders wenn er zu Freßsucht und Lotterleben verführt. Mittels jener Säfte wird die fleischliche Lust der menschlichen Seele geweckt" 6 .

6

Vincentius Bellovacensis, Speculum naturale II, C X V I I I (Douai 1624) (Ndr. 1964), Sp. 152 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

Kein Wunder, daß man sich gegen Dämonen zu schützen versuchte. Religionswissenschaftliche Untersuchungen unterscheiden zwischen den verschiedenen Reaktionsformen und sprechen deshalb von bannenden (defixiven), abwendenden (apotropäischen) und austreibenden (exorzistischen) Praktiken, mit denen man der Dämonen Herr zu werden versuchte. Daß Dämonen prinzipiell besiegbar waren, lernte das Mittelalter aus der Bibel. Das Musterbeispiel eines erfolgreich durchgeführten Exorzismus hatte Jesus Christus selbst gegeben: „Und es war in ihrer Schule ein Mensch, besessen mit einem unsauberen Geist, der schrie und sprach: ,Halt, was haben wir mit Dir zu schaffen ...' und Jesus bedrohte ihn und sprach: ,Verstumme und fahre aus von ihm'. Und der Teufel riß ihn und schrie laut, und fuhr aus von ihm, und tat ihm keinen Schaden" (Markus 1, 23-26). Die häufigen Erwähnungen von Dämonen in mittelalterlichen Quellen erlauben den Schluß, daß in sehr starkem Ausmaß Dämonen- und Teufelsglaube die damaligen Menschen beherrscht haben muß. Mit Dämonen war prinzipiell überall zu rechnen. Das lehrt die folgende Geschichte des Dominikaners Thomas von Cantimpre (nahe Lüttich) (gest. um 1263), eines durchaus gelehrten Mannes, der in Köln bei Albert dem Großen und später auch in Paris studiert hatte: „Ich (Thomas) wurde einmal beigezogen, um eine große Streitigkeit, welche unter zwei leiblichen Brüdern ausgebrochen war, beilegen zu helfen. Mit einem Bruder derselben, einem trefflichen Priester, machte ich mich auf den Weg. Nachdem wir uns in der Nacht zu Karsamstag zur Ruhe gelegt hatten, erwachte ich lange vor Tagesanbruch und bat den Priester, er möge hinuntergehen und Licht machen, damit wir das Officium der Matutin lesen könnten. Er ging auch hinunter; als er jedoch das Licht anzünden wollte, ergriff ihn plötzlich ein solches Entsetzen, daß er unverrichteter Sache wieder heraufkam und sagte: ,Ich habe kein Licht; wir müssen warten, bis es Tag wird.' Da es nicht anständig war, die Hausbewohner schon so frühe zu stören, gab ich ihm recht; wir schliefen wieder ein und erwachten erst bei Tagesanbruch. Es war mir unlieb, daß ich so lange geschlafen hatte; ich richtete mich im Bette auf, und - da erblickte ich mit offenen Augen am Fenster einen Teufel, der ganz meinem Reisegefährten ähnlich sah und im Begriff zu stehen schien, sein Wasser zu lassen. Ich wurde böse und wollte meinem Gefährten dieser Unanständigkeit wegen Vorwürfe machen; aber die Stimme versagte mir. Da hörte ich ihn aber in seinem Bette laut schnarchen. Jetzt

.Volkskultur" und „ V o l k s f r ö m m i g k e i t "

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kam mir die Stimme wieder, und ich rief ihn an; er fuhr auf und ich sagte lachend zu ihm: , H ö r \ du, neben mir stand der Teufel in deiner Gestalt so und so, und er ist schuld daran, daß ich gegen dich losfahren wollte.' Während ich dies aber sagte, fuhr der Teufel wie ein Rauch zum Fenster hinaus" 7 . Nicht immer ging die Geschichte so glimpflich ab. Kein Wunder, daß außer den Priestern eine spezielle Gruppe von Spezialisten, die Exorzisten, existierte, die sich der Bekämpfung dieser Dämonen widmete. Auch sie vertrauten, wie bereits ihr Vorbild Jesus Christus, der magischen Kraft des Wortes, wie zahlreiche überlieferte mittelalterliche Exorzismusformeln zeigen. Als Beispiel sei das Folgende aus einem bereits relativ ausführlich gehaltenen Exorzismus des 10. Jahrhunderts angeführt: „Exorzismus über diejenigen (zu sprechen), die von einem Dämon gequält werden. 1. O allmächtiger HERR, (fleischgewordenes) Wort des Vaters, Christus, Gott und HERR DEINER gesamten Schöpfung, der DU DEINEN heiligen Aposteln Gewalt gegeben hast, die Schlangen und die Skorpione zu zertreten, der DU DICH erbarmt hast, ihnen neben anderen wunderbaren Aufträgen das zu gebieten: Jagt die Dämonen in die Flucht'. Durch des Herrn Kraft besiegt, fiel Satan, gleichsam wie ein Blitz vom Himmel herab: mit Furcht und Zittern rufe ich demütig DEINEN Namen an, daß DU DICH erbarmst und mir unter Vergebung aller meiner Sünden das Vertrauen und die Möglichkeit schenkst, daß ich diesen grausamen Drachen voller Zuversicht und ohne Angst angreife, geschützt durch DEINEN kraftvollen und mächtigen Arm. 2. Ich beschwöre dich also, du ganz und gar schmutziger Geist, ganz und gar Gespenst, dich, du ganz und gar einfallender Satan, bei der Kraft, die dem Namen unseres HERRN Jesus Christus innewohnt, der nach seiner Taufe im Jordan dich besiegt hat an deinem eigenen Aufenthaltsort in der Wüste: Höre auf, einen Menschen zu bedrängen, den ER aus dem Schlamm der Erde gemacht zur Ehre seines Ruhms, und habe Ehrfurcht nicht vor dem Abbild menschlicher Hinfälligkeit, sondern vor dem Ebenbilde des allmächtigen Gottes. Weiche also GOTT, der dich erniedrigt und seinem Diener Hiob in Knechtschaft gegeben hat. Weiche GOTT, der dich und deine Bosheit in Gestalt des Pharao und seines Heeres durch Moses, seinen Knecht, in

7

Thomas Cantimpratensis, Liber de apibus III, 57,39, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von A. KAUFMANN, Thomas von Chantimpre, 1899, S. 1 1 2 - 1 1 3 .

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Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

den Abgrund versenkt hat vernichten lassen. Weiche also GOTT, der dich aus König Saul ausgetrieben hat durch seinen allertreuesten David und dessen geistliche Gesänge. Weiche also Gott, der dich durch seinen Diener Daniel vernichtet hat in der Gestalt des Bei, und der dich im Drachen getötet hat. Weiche also Gott, der dich in Gestalt des Judas verdammt h a t . . . 7. Heiliger HERR, allmächtiger Vater, o ewiger GOTT, vertreibe den Teufel aus jenem Menschen: aus seinem Kopf, aus seinen Haaren, aus seinem Scheitel, aus seiner Stirn, aus seinen Augen, aus seinen Ohren, aus seinen Nasenlöchern, aus seinem Mund, aus seiner Zunge, unter seiner Zunge, aus seiner Kehle, aus seinem Nacken, aus seiner Brust, aus seinem Herzen, aus seinem ganzen Körper, aus allen seinen Gliedern, aus seinem inneren und äußeren Gefüge, aus den Knochen, aus den Venen, aus den Nerven, aus dem Blut, aus dem Sinn, aus seinen Gedanken, aus seinen Worten, aus allen seinen Taten, aus seinem früheren Leben, aus seinem ganzen Leben jetzt und in Zukunft, so daß in ihm wirksam werde die Kraft Jesu Christi, des Sohnes unseres höchsten Gottes, der regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit" 8 . Eine erfolgreiche Vertreibung des bösen Dämons steigerte naturgemäß das Prestige des Exorzisten, sei es nun des einzelnen Priesters oder eines Heiligen. Vom Mailänder Bischof Ambrosius (gest. 397), einem der gewaltigsten Dämonenbekämpfer, die das Mittelalter kannte, erzählte man sich die folgende Geschichte: „Der Dämon sei aus einem Besessenen, als dieser die Stadt Mailand betreten habe, hinausgefahren. Als jener freilich Mailand wieder verlassen habe, sei der Dämon erneut in den armen Menschen hineingefahren. Darüber befragt, habe der Dämon gesagt, er habe vor Ambrosius Angst" 9 . Freilich, nicht alle Dämonen sind so ängstlich. Es gibt besonders schwierige Fälle, an denen die „normalen" Exorzisten scheitern. Gefragt sind dann „die Spezialisten" in Gestalt solch berühmter und schon zu ihren Lebzeiten im Geruch der Heiligkeit stehender Größen wie beispielsweise Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) oder Hildegard von Bingen (gest. 1179), die dort erst begannen, wo andere bereits wieder aufhören mußten. So hatte Geldolf, der

8

9

München, CLM 17027, fol. 99v-109v (aus Schäftlarn), vgl. A. FRANZ, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Bd. 2, 1909 (Ndr. 1960), S. 599-602 (aus dem Lateinischen übersetzt). Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cap. LVII. De sancto Ambrosio (ed. TH. GRAESSE, 3 1890, Ndr. 1965, S. 252) (aus dem Lateinischen übersetzt).

,Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit"

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Abt des Klosters Brauweiler (unweit von Köln), um das Jahr 1169 einen Brief geschrieben an die damals bereits hochberühmte Hildegard, die 1147 auf dem Rupertsberg nahe Bingen einen Benediktinerinnenkonvent gegründet hatte. Auch wenn der in demütigem und ehrfurchtsvollem Ton gehaltene Brief es nicht unmittelbar erkennen läßt: Seine Abfassung mußte dem Brauweiler Abt alles andere als leicht gefallen sein, hatte er doch der Äbtissin gegenüber das „Versagen" seines Schutzpatrons, des heiligen Nikolaus, zu beichten: „O geneigteste Herrin, möge die Süße Eurer Frömmigkeit es nicht unserer Unverschämtheit zuschreiben, daß wir es wagen, in aller Einfachheit unserer Herzen, aber von Not getrieben, Euch einen sehr dringenden Fall von uns zu schildern. Denn wir zweifeln nicht, daß wir guten Rat von Euch bekommen. Es kam nämlich, geleitet von Freunden, eine adlige Dame zu uns, die schon einige Jahre lang von einem bösen Geist befallen war. Sie wollte durch den Beistand des heiligen Nikolaus, der unser Patron ist, von ihrem sie bedrängenden Feind erlöst werden. Die überaus bösartige und nichtsnutzige Gerissenheit des Teufels hat aber fast so viele tausende von Menschen in Irrtum und Zweifel gestürzt, daß wir für die Heilige Kirche einen großen Schaden befürchten. Denn wir alle haben uns schon drei Jahre lang zusammen mit der ganzen Volksmenge auf alle erdenkliche Arten um eine Befreiung jener Frau bemüht. Und wir haben, was wir nicht ohne Trauer sagen können, aufgrund unserer Sünden nichts vermocht. All unsere Hoffnung ruht deshalb nächst Gott auf Euch. Als man dieser Tage den Dämon beschworen hat, hat er verkündet, daß jene besessene Frau durch die Kraft Eurer Kontemplation, durch die Macht göttlicher Eingebung vom Dämon befreit werde" 1 0 . Hildegard, durch eine Vision längst über den „Brauweiler Skandal" informiert, ließ sich nicht lange bitten und schrieb dem Abt einen Brief. Sie erklärte ihm: „Es gibt verschiedene Arten von bösen Geistern. Diejenige Art von Dämonen, über die Ihr Euch beklagt, verfügt über solche Kunstfertigkeiten, daß sie sich den Defekten des menschlichen Charakters anpassen kann. Daher hält sich diese Art auch gerne bei den Menschen auf, und sie verachtet und verlacht bis zu einem gewissen Grad das Kruzifix und die Reliquien der Heiligen und die zum Dienst an Gott bestimmten Dinge und fürchtet sie

10 Vita sanctae Hildegardis, III, XXI (ed. M. KLAES, Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis CXXVI, 1993, S. 5 8 - 5 9 ) (aus dem Lateinischen übersetzt).

308

Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

überhaupt wenig. Sie liebt diese Sachen freilich auch nicht, aber sie tut nur so, als wolle sie vor ihnen entfliehen, so wie irgendein dummer und nachlässiger Mensch die Worte und Drohungen weiser Menschen gering achtet. Das ist der Grund dafür, daß diese Art von Dämonen schwieriger als andere auszutreiben ist. Denn nur durch Fasten, Geißelungen, Gebete, Almosengeben und durch den unmittelbaren Befehl Gottes wird sich diese Dämonenart austreiben lassen. Hört also die Antwort, nicht die Antwort eines Menschen, sondern Gottes Antwort selbst. Nehmt Euch also Priester, sieben an der Zahl, von gutem Leumund und rechtschaffenem Lebenswandel, im Namen von und der Ordnung nach: Abel, Noah, Abraham, Melchisedek, Jakob und Aaron, die alle dem lebendigen Gott geopfert haben, und den siebten Priester nehmt im Namen Christi, der sich selbst am Kreuz dem Vater geopfert hat. Nachdem diese gefastet, sich gegeißelt, gebetet, Almosen gegeben und Messen gefeiert haben, sollen sie sich demütig und in priesterlichem Gewand, mit der Stola angetan, der Besessenen nähern. Sie sollen dann einen Kreis um sie bilden, wobei jeder von ihnen einen Stab in der Hand halten soll, nach dem Vorbild des Stabes, mit dem Moses Ägypten, das Rote Meer und den Felsen (in der Wüste, der dann Wasser spendete) auf Gottes Befehl schlug. So wie Gott dort mittels des Stabes Wunder vollbrachte, so wird er sich selbst verherrlichen, weil der so überaus schlimme Feind mittels der Stäbe vertrieben werden wird" 1 1 . Hildegard war vielleicht ein wenig zu optimistisch gewesen. Zwar genügte bereits das Vorlesen von Hildegards Brief im Brauweiler Kloster in Anwesenheit der geplagten Frau, daß der böse Geist aus dem Körper der Besessenen ausfuhr „unter Seufzen und großem Wehklagen und mit gewaltigem Lärmen, so daß sich alle Umstehenden ziemlich erschraken". Doch „nach Gottes verborgenem Ratschluß", vor allem aber weil der arme, heimatlos gewordene Dämon ja nicht wußte, wo er so schnell eine neue Bleibe finden könnte, strebte er dorthin zurück, von wo er gekommen war und quälte die arme Frau heftiger als je zuvor. Der verzweifelte Abt mußte erneut zur Feder greifen und die Besessene nebst einem Empfehlungsschreiben zur heiligen Dame senden, hatte der Dämon doch selbst gesagt, er werde nur in Hildegards Anwesenheit seinen ihm liebgewordenen Aufenthaltsort verlassen 12 . Selbstverständlich gelang

11 Vita sanctae Hildegardis, III, XXI (ed. KLAES, S. 6 0 - 6 1 ) (aus dem Lateinischen übersetzt). 12 Vgl. Vita sanctae Hildegardis, III,XXI (ed. KLAES, S.62-63).

„Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit"

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es ihr, den Dämon auszutreiben. Die Autoren der Hildegards-Vita haben den „propagandistischen" Nutzeffekt klar erkannt, der mit einer so komplizierten und langwierigen Dämonenaustreibung verbunden war: „Freilich hätte der Allmächtige dem Wunsch entsprechen und die Besessene heilen können mit Hilfe der anderen Heiligen, zu denen man sie so viele Jahre lang geführt hatte. Aber indem er den mit einem solchen Wunder verbundenen Ruhm auf die heilige Jungfrau (d. h. Hildegard) übertrug, wollte er die Qualität ihrer Verdienste ihren übrigen Zeitgenossen handgreiflich vor Augen führen" 1 3 . Da magische Techniken häufig auf dem Grundsatz beruhten, Gleiches mit Gleichem auszutreiben (similia similibus), konnte leicht der Vorwurf entstehen, mit dem Teufel im Bunde zu stehen: „Die Schriftgelehrten aber, die von Jerusalem herabgekommen waren, sprachen: ,Er (Jesus) hat den Beelzebub, und durch den obersten Teufel treibt er die Teufel aus'." (Markus 3, 22) Nicht ohne Grund hatte Jesus deshalb die eschatologische Funktion seiner Dämonenaustreibungen betont: „So ich aber durch Gottes Finger die Teufel austreibe, so kommt ja das Reich Gottes zu euch." (Lukas, 11, 20) Die intensive Auseinandersetzung der Kirche mit alltäglicher magischer Praxis geht insbesondere aus den einschlägigen Verbots- und Strafbestimmungen der vielen überlieferten Bußbücher hervor. Vor allem sind jene ein Hinweis auf die trotz oder gerade aufgrund der Christianisierung weiter vorhandene Vitalität magischen Denkens. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit magischem Denken hatte, zumal in frühmittelalterlicher Zeit, wenig Aussicht auf Erfolg. Dezidierte Rationalisten vom Schlage des Erzbischofs Agobard von Lyon (gest. 840) konnten zwar darauf hinweisen, daß Gott als Schöpfer aller Dinge auch das Böse geschaffen haben müsse, hatten aber mit ihrer Argumentation wenig Erfolg. Das hängt weniger mit angeblicher Primitivität und mangelnder Aufgeklärtheit der damaligen Zeitgenossen zusammen, als vielmehr mit dem Umstand, daß magisches Denken und Handeln offensichtlich anthropologische Grundbedürfnisse befriedigte. Darauf verweist nicht nur die lange gemein-indoeuropäische Vorgeschichte der Magie, sondern auch der Um-

13 Vita sanctae Hildegardis, III, XXI (ed. KLAES, S. 63) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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stand, daß selbst unsere heutige „Postmoderne" nicht vollständig auf magische Praktiken, wie beispielsweise Eidesformeln, verzichten mag. Freilich ist zuzugeben: Magische Akte, mit denen der Mensch versuchte, Kräfte, die sich in der Natur ausdrückten, für sich zu gewinnen, waren in solchen Zeiten besonders beliebt, in denen die Abhängigkeit des Menschen von der Natur besonders groß war. Deshalb überrascht auch nicht die dritte und wichtigste Form, mit der die Kirche auf magisches Denken und Handeln reagierte. Statt es einfach nur mit mehr oder weniger großem Erfolg zu verbieten oder intellektuell zu bekämpfen, setzte die Kirche auf Umdeutung und Anverwandlung magischer Praktiken. Das hatte freilich zur Folge, daß es zu vielfachen Synkretismen (Vermischungen) von Heidnischem und Christlichem kam. Folgt man der Meinung von R. Manselli 1 4 , dann konnte und wollte das Christentum auch gar nicht „magische" durch „christliche" Mentalität ersetzen. Es konnte und wollte nicht, weil das Christentum selbst eine magisches Denken voraussetzende Religion darstellt. Die Einführung des Christentums bedeutete nach dieser Auffassung nur einen Austausch der „Götter". An die Stelle Wotans trat beispielsweise Gott-Christus, beide „Götter" besaßen die gleichen übernatürlichen Kräfte, die der Mensch durch magische Praxis, beispielsweise durch die Beschwörung Gottes im Gebet, für sich zu nutzen sucht. Als Phänomen des alltäglichen Lebens - Manselli nimmt sogar an, daß sich unter dem Einfluß des Christentums die mentalità magica verstärkt habe - konnte die Kirche auch gar nicht auf magische Praktiken verzichten. Wenn gemäß einem Grundgedanken der germanischen Religion - und vieler anderer Religionen auch - die Götter in den Elementen, also z. B. in Feuer und Wasser steckten, die Macht der Götter sich im Sturm der Elemente ausdrückte, dann konnte die Kirche durchaus eine solche Überzeugung, nur geringfügig modifiziert, akzeptieren. Für ein christliches Verständnis bereitete die Annahme, Gott drücke sich in den Elementen aus, keinerlei Schwierigkeiten. Durch entsprechend frommes Verhalten, durch Gottesdienst und Gebet, war es möglich, den Herrn und damit die Elemente gnädig 14 Vgl. R. MANSELLI, Simbolismo e magia nell'alto medioevo, in: Simboli e Simbologia nell'alto medioevo (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 23), 1976, S. 2 9 3 - 3 2 9 ; seine Auffassungen hat wiederholt DERS., Resistenze dei culti antichi nella pratica religiosa dei laici nelle campagne, in: Christianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell'alto medioevo: espansione e resistenze (Settimane di studio ... sull'Alto M e d i o e v o Bd. 28), 1982, S. 5 7 - 1 0 8 .

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zu stimmen. Den im christlichen Abendland großes Aufsehen erregenden Untergang der Blanche Nef (.Weißes Schiff'), des Flaggschiffes der normannischen Flotte, die mit Mann und Maus im Jahre 1120 im Ärmelkanal untergegangen war, führten zeitgenössische Chronisten auf das Zürnen Gottes zurück. Denn anstatt vor der Überfahrt fromm zu Gott zu beten, hatten sich Matrosen, Ritter, Kapitän und englischer Thronfolger gewaltig betrunken. Der beleidigte Gott hatte sich furchtbar gerächt, das Schiff war kurz nach seiner Ausfahrt aus dem Hafen Honfleur gesunken, der Ärmelkanal hatte die Gottlosen in die Tiefe gezogen. Der Gedanke, daß Gott in den Elementen stecke, hat in einem Bereich vor allem des frühmittelalterlichen Rechtslebens größere Bedeutung erlangt. Im Unterschied zum sogenannten kirchlichen Inquisitionsprozeß, der von Papst Innozenz III. auf dem 4. Laterankonzil zur Ketzerbestrafung in das Kirchenrecht eingeführt wurde, kannten die germanischen Völksrechte nicht die Untersuchung des Sachverhaltes durch den Richter. Der Beklagte hatte die Möglichkeit, sich vom Vorwurf der Anklage durch sogenannte Eideshelfer zu reinigen. Fand er nicht genügend Eideshelfer, so konnte er seine Unschuld auch dadurch erweisen, daß er sich einem Gottesurteil unterzog. Ferner war es möglich, die Gültigkeit geleisteter Eide durch deren Schelte zu bestreiten, was gleichfalls zu einem Gottesurteil oder aber zu einem Zweikampf führen konnte. Hinter diesen Verfahrenstechniken steht der Gedanke eines gerechten Gottes, der dafür sorgen wird, daß sich die gerechte Sache durchsetzen wird. Er wird deshalb auch dafür sorgen, daß „ein Wunder", also ein Vorgang contra naturam, eintreten wird. Das Wunder ist deshalb möglich, weil Gott über die Natur gebietet. Es gibt in diesem Zusammenhang höchst verschiedenartige Verfahrenstechniken. Relativ harmlos war die sogenannte Abendmahlsprobe. Sie beruhte auf dem Gedanken, daß die Einnahme „geheiligter Speisen" durch Unwürdige deren Verdammnis nach sich ziehe. Unerschrockenere Naturen, wie beispielsweise der deutsche König Heinrich IV. (1056-1106) in Canossa im Jahr 1077, ließen sich durch den dabei entstehenden psychologischen Druck wenig beeinflussen. Heinrich nahm das ihm von seinem Gegenspieler, dem Papst Gregor VII. (1073-1085), gereichte Abendmahl ohne Zögern. Schon wesentlich schwieriger war eine „Brotprobe" zu bestehen, bei welcher der Proband trockenes Gerstenbrot und trockenen Ziegenkäse hinunterzuschlucken hatte, wollte er seine Unschuld erweisen. Blieb ihm aber der sprichwörtliche Bissen im Halse stecken, dann war er als Schuldiger überführt.

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Beliebt waren auch „Feuerproben": Der Proband mußte beispielsweise glühendes Eisen mit der Hand vom Taufstein zum Altar tragen. Blieb seine Hand unverletzt, so bewies dieses „Wunder" seine Unschuld. In Übung standen auch „Wasserproben", wie beispielsweise die „Heißwasserprobe", deren einzelne Bestandteile das folgende Formular, das vermutlich aus dem 10. Jahrhundert stammt, schildert: ,,a) Wenn du Menschen dem .Gottesurteil des heißen Wassers' unterwerfen willst, dann laß sie zuerst mit aller Demut in die Kirche eintreten, und nachdem sie sich zum Gebet niedergeworfen haben, soll der Priester die folgenden Gebete sprechen: ... b) ,Ich beschwöre euch, ihr Menschen, im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und bei eurem Christentum, das ihr empfangen habt, und bei dem eingeborenen Sohn Gottes, an den ihr als euren Erlöser glaubt, und bei der heiligen Dreieinigkeit, und beim heiligen Evangelium und bei den Reliquien, die in dieser Kirche aufbewahrt sind: Ihr sollt nicht auf irgendeine Weise zu diesem Abendmahl schreiten noch sollt ihr es nehmen und an ihm teilhaben, wenn ihr dieses oder jenes getan habt, oder eure Zustimmung dazu gegeben habt, oder irgendwie Kenntnis davon habt oder Bescheid wißt über denjenigen, der es getan hat'. c) Wenn sie aber schweigen und darüber kein Bekenntnis ablegen, soll der Priester zum Altar schreiten und in gewohnter Weise kommunizieren, dann soll er ihnen das Abendmahl reichen. Wenn sie aber vor dem Altar das Abendmahl nehmen, dann soll der Priester sagen:,Dieser Leib Christi und das Blut unseres Herrn Jesu Christi soll euch heute zu eurer Prüfung dienen'. d) Wenn die Messe beendet ist, dann soll der Priester zu dem Platz schreiten, an dem das Gottesurteil stattfinden soll. Er soll mit sich nehmen das Buch der Evangelien und das Kreuz und soll eine kleine Litanei singen; und wenn er diese Litanei beendet hat, soll er einen Exorzismus machen und das Wasser segnen, bevor es kocht, indem er folgendes spricht: h) ... ,Dich aber, du Kreatur des Wassers, ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, beim geheiligten Gott, der dich am Anfang vom Trockenen schied, ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, der dich aus der Paradiesquelle hervorgehen ließ und dich in vier Ströme ausgehen und die ganze Erde bewässern ließ, ich beschwöre dich bei ihm (gemeint: Christus), der dich beim Gastmahl zu Kana in Galiläa durch seine Macht in Wein verwandelt hat, der über dich mit seinen heiligen Füßen gewandelt ist, der dir den Namen Siloha gegeben hat, ich beschwöre dich bei Gott, der durch dich den

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Syrer Nahama von seiner Lepra geheilt hat, indem ich sage: Heiliges Wasser, gesegnetes Wasser, Wasser, das du den Schmutz abwäschst und die Sünden beseitigst, ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, daß du dich als rein erweist und kein Gespenst in dir zurückhältst, sondern daß du dich zu einer beschworenen Quelle verwandelst, um jede Lüge auszutreiben und zu entfernen und zu überführen und um jede Wahrheit aufzuspüren und zu erweisen; daß derjenige, der in dich seine Hand hineinstreckt, von dir nicht verletzt werden soll, wenn er denn die Wahrheit gesagt hat und die Gerechtigkeit auf seiner Seite steht; hat er aber gelogen, dann soll das Feuer seine Hand verbrennen, so daß alle Menschen die Kraft unseres Herrn Jesu Christi erkennen, der kommen wird mit dem Heiligen Geist, zu richten durch das Feuer die Lebenden und die Toten und die ganze Welt. Amen. i) Danach soll der Priester ihn (gemeint: den Probanden) ausziehen und ihn bzw. sie mit reinen Kleidern der Kirche anziehen, d. h. mit dem Gewand eines Exorzisten oder eines Diakons, und er soll sie bzw. ihn das Evangelium und das Kruzifix küssen lassen und soll sie mit diesem Wasser besprengen. Und allen denjenigen, die zum Gottesurteil schreiten, soll er von diesem geweihten Wasser zu trinken geben. Zu jedem einzelnen, dem er zu trinken gegeben hat, soll er sagen: ,Dieses Wasser habe ich dir bzw. euch heute gegeben zu eurer Prüfung'. Danach soll man das Holz unter die Kessel legen, und der Priester soll die folgenden Gebete sprechen, sobald das Wasser angefangen hat zu kochen: m) Und derjenige, der seine Hand zur Prüfung (in das kochende Wasser) hineinhält, soll das Vaterunser sprechen und sich bekreuzigen; und unverzüglich soll heißes Wasser von oben über das Feuer gestellt werden, und der Richter soll einen Stein, der Größe der Hand (des Probanden) entsprechend, nach üblicher Weise in das Wasser hinein versenken. Und danach soll derjenige, der sich dem Gottesurteil unterzieht, diesen Stein im Namen des Herrn herausholen. Danach soll mit großer Sorgfalt seine Hand verbunden und mit dem Siegel des Richters versehen werden, ehe sie am dritten Tage geeigneten Männern zur Beurteilung gezeigt wird" 1 5 . Wie stark nicht nur die mittelalterliche christliche Kirche magischem Denken verhaftet war und ist, zeigt sich auch daran, daß die Übertragung

15 Monumenta Germaniae Histórica: Leges V, Formulae. Ordines iudiciorum Dei. A. Ordines, Benedictiones, Exorcismi ad singulas probationes spectantes, S. 613-614 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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numinoser Kräfte nach kirchlichem Verständnis in einem besonderen Akt, der Weihe, zu erfolgen hat. Die Weihe bezog sich sowohl auf Personen wie auf Sachen. Man weihte den Priester und die Kirche; man weihte Salz und Brot, Wasser und Hafer. Der englische Chronist Gervasius von Tilbury (gest. 1220) weiß von folgendem Vorgang: „Bei den Alten (in England) herrschte der Brauch, daß man in der Weihnachtsnacht eine Handvoll Hafer ins Freie stellte, oder ein sonstiges Gefäß, gefüllt mit Hafer oder Gerste; sollte nämlich, was manchmal zu geschehen pflegt, eine tödliche Krankheit die Tiere befallen, dann mußte man ihnen von jenem Hafer beziehungsweise Gerste geben; denn man war der Auffassung, daß alljährlich zur Stunde der Geburt des Herrn auf göttlichen Befehl himmlischer Tau den Hafer benetze" 16 . Auch die Glocke in der Kirche ist geweiht und hat deshalb magische Kraft: Ihr Klang wird im Verbund mit anderen geweihten und daher auch magische Kraft ausstrahlenden Gegenständen das Gewitter vertreiben. So ordneten die aus dem 11. Jahrhundert stammenden „Hirsauer Gewohnheiten" (Consuetudines Hirsaugienses) bei einem heraufziehenden Unwetter folgendes Verhalten für die Mönche dieses Schwarzwaldklosters an: „Zieht ein Unwetter herauf, so soll ein Kreuz im Kloster in die Richtung gewendet aufgestellt werden, von der das Wetter droht, und die Reliquien und das Weihwasser. Sofort soll man die beiden größten Glocken läuten, bis nach allem Anschein die so große Gefahr vorübergegangen ist. Aber wenn die Gefahr so sehr anzuwachsen droht, daß man die Brüder zusammenrufen muß, dann soll der Sakristan ohne Unterlaß die beiden größten Glocken läuten, die Hagel verkünden; sooft in dieser Weise geläutet wird, damit die Brüder es hören und wissen, daß Hagel droht, dann sollen sie, ob es nun Tag oder Nacht ist, zwar nicht im Laufschritt, aber doch schneller als üblich gehend sich in der Kirche treffen (wo auch immer sie sich befunden haben), und wenn sie noch nicht mit der Messe oder dem üblichen Stundengebet angefangen haben, dann sollen sie mit einer Litanei anfangen. Wenn diese zu Ende ist, dann sollen sie, falls nötig, zusätzlich die sieben Psalmen beten. Während dieser ganzen Zeit soll man ununterbrochen alle Glocken läuten" 17 . 16 Gervasius von Tilbury, Otia imperialia I, 12; das (lateinische) Zitat bei FRANZ, Kirchliche Benediktionen, Bd. 1, S. 382 mit Anm. 1 (aus dem Lateinischen übersetzt). 17 Constitutiones Hirsaugienses II, cap. XXXV (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina, Bd. CL, Sp. 1093-1094) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Es überrascht nicht, daß magische Praktiken sich zu einem großen Teil auf Erscheinungen des täglichen Lebens bezogen, die von den damaligen Menschen nicht oder in ungleich geringerem Maße beeinflußbar und daher existentiell bedrohlich waren. Nicht ohne Grund erfreuten sich daher „Wettersegen" besonderer Beliebtheit. Eine fast noch schlimmere Bedrohung des Menschen stellten damals und stellen ja auch noch heute schwere Krankheiten dar. Angesichts der im Mittelalter ungleich geringeren therapeutischen Möglichkeiten überrascht die Vielzahl religiös-magischer Heilpraktiken und Schutzmaßnahmen vor Krankheiten nicht 18 . Auch hier, wie so oft, läßt sich eine christliche Überformung oder Anverwandlung alter heidnischer Vorstellungen konstatieren. So trugen auch Christen alle möglichen Arten von Amuletten; Krankheiten, an denen die Ärzte bereits verzweifelt waren, konnten noch immer eine glückliche Wendung nehmen, vorausgesetzt man begab sich in die unmittelbare Nähe eines besonderen „Heiligen": „Einmal, als der heilige Bischof (Ulrich von Augsburg) zu der in Ingelheim versammelten Synode des Kaisers Otto (I.) zog, schloß sich ihm unterwegs ein Armer aus dem Ort Affelterah an, der Ruodpert hieß. Der trug seine an der Stelle des Nabels aus dem Bauch hervorgebrochenen Eingeweide in seinem Schoß. Als er den Schoß auftat und das dem Bischof zeigte, gebot er, man solle ihm einen Denar geben, und sagte zu ihm: ,Zieh in Gottes Frieden'. Nicht lange danach, begann er sich von Tag zu Tag besser zu fühlen, sein Leib heilte zu, und er war von genannter Krankheit frei. Später aber wurde derselbe lahm, so daß er nur mit Hilfe von Schemeln laufen konnte; auch konnte er die rechte Hand zu keiner Bewegung mehr gebrauchen. Als er von dieser Krankheit vier Jahre gefesselt war, wünschte er, zum Grab des heiligen Ulrich zu kommen, und kaufte ein Kerze, die er ans Grab mitnehmen wollte. Schon nach dem Kauf der Kerze aber gewann er die Kraft, an Krückstöcken zu laufen; die Schemel konnte er weglassen. Als er auf diese Weise an sein Ziel kam, wurden Hand und Knie gesund und nahmen ihre Aufgaben wieder wahr, so daß der Mann aufrecht und ohne Krücken schreitend mit Jubel zurückkehren konnte" 19 . Wie immer, so sind freilich auch im Bereich des mittelalterlichen Heils- und Dämonenglaubens Differenzierungen nötig. Denn es gibt durchaus An18 Vgl. dazu aber oben Kapitel X über die bereits im Mittelalter in der Medizin gebräuchlichen „wissenschaftlichen" Diagnoseverfahren und Therapieformen. 19 Gerhard von Augsburg, Vita sancti Uodalrici II, 16 (ed. W. BERSCHIN/A. HÄSE, 1993, S. 3 6 6 - 3 6 9 ) .

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zeichen einer gewissen Skepsis, die meistens nicht offen vorgebracht, aber doch unübersehbar ist. Eine leise Distanzierung gegenüber einer Tendenz, immer und überall dämonischen Einfluß anzunehmen, läßt sich bereits bei dem von uns zitierten Vinzenz von Beauvais erkennen. Denn er hatte unter Berufung auf den Mönchsvater Cassian (gest. 435) sich und seinen Lesern die Frage gestellt, „warum heutzutage die Dämonen weniger mit uns Menschen kämpfen": „Entweder hängt es mit unserer Nachlässigkeit zusammen, daß die Dämonen einfach keine Lust haben, gegen uns zu kämpfen, oder es hängt mit der Kraft des Kreuzes unseres Herrn zusammen, die alles durchdringt und überall leuchtet" 2 0 . Skepsis gegenüber dem Dämon gab es aber nicht nur in Intellektuellenkreisen. Auch die Legenda aurea, die berühmte Legendensammlung des Bischofs Jakob von Voragine (gest. 1298), nach der Bibel das am häufigsten gelesene Buch des Mittelalters, läßt erkennen, daß nicht alle Menschen an die Dämonen glauben wollten. Sicherlich nicht ohne tiefere Absicht hatte der Genueser Bischof in seine Sammlung auch einen einschlägigen Passus der Ambrosius-Vita des Paulinus (von Mailand) aufgenommen. Dieser handelt davon, wie schlecht es denjenigen erging, die, wie die arianischen Ketzer, nicht bereit waren, an die Existenz von Dämonen zu glauben und damit auf das engste verbunden, auch nicht an die Wunderkraft des Ambrosius, vielmehr das ganze nur für einen ausgemachten Schwindel hielten. Die Moral der Geschichte liegt auf der Hand: Das Exemplum, das, wie zahlreiche andere auch, als Gebrauchstext für die Predigt gedacht war, sollte Gläubige davon abhalten, ihren Dämonenglauben aufzugeben. Gleichzeitig war, so zumindestens die offizielle Kirchenmeinung, mangelnder Glaube an die Dämonen ein Indiz für religiöses Abweichlertum und Ketzerei. Daß Jakob von Voragine und mit ihm die Kirche freilich solche Geschichten aufgriffen und mit didaktischer Intention den Gläubigen erzählten, zeigt indirekt den Zweifel, den nicht nur die Ketzer des 4. Jahrhunderts, sondern sicherlich auch so manche Christen in späterer Zeit empfanden: „Damals waren in Mailand viele von den Dämonen besessen, die laut riefen, sie würden von Ambrosius (Mailänder Bischof, gest. 397) gequält. Justina aber (Gattin des römischen Kaisers Valentinian I.) und ihr arianischer Anhang sagten, Ambrosius besteche die Leute. Diese sollten lügen: Sie seien von Dämonen gequält. Und sie sollten sagen: Sie würden von Ambrosius

20 Vincentius Bellovacensis, Speculum naturale (wie Anm. 6), Sp. 152 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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gequält. Da wurde plötzlich einer von den umstehenden Arianern von einem Dämon ergriffen. Er stürzte nach vorn und begann zu rufen: »Möchten doch alle, die dem Ambrosius nicht glauben, so gequält werden, wie ich gequält werde!' Jene Arianer aber gerieten in Verwirrung, versenkten ihn in einem Bassin und töteten ihn dann" 2 1 . Neben dem Dämonenglauben bildet das Reliquienwesen einen weiteren, das ganze Mittelalter prägenden Bereich der Völksreligiosität. Unter „Reliquien" versteht man - das lateinische Wort .reliquus' deutet es bereits an 2 2 - , Überreste der Körper von Heiligen, insbesondere organische Reste wie z. B. Knochen, Zähne usw. Neben diesen Reliquien im engeren Sinne faßt man unter diesem Begriff auch die sonstigen Überbleibsel seiner Existenz wie Kleider, aber auch Gegenstände jeglicher Art, die mit dem Heiligen einmal in Berührung gekommen sind, und sei es so etwas Profanes wie das Waschwasser eines Heiligen. Ein wesentlicher Grundgedanke, dem das Reliquienwesen seine große Bedeutung verdankt, ist stark magisch geprägt. Denn man ging davon aus, daß die dem Heiligen innewohnende numinose Kraft sich gleichsam automatisch durch bloßen „Kontakt" übertragen läßt auf denjenigen, der die Reliquie besitzt. Häufig ist auch die äußere „Hülle" von Heiligen nicht oder ungleich geringer den biologischen Gesetzen von Werden und Vergehen unterworfen. Dieser Dispens vom organischen Verfall drückt sich in der Hagiographie dadurch aus, daß die Körper der Heiligen häufig unversehrt sind und als Zeichen ihrer Nähe zu Gott einen süßen Duft verströmen. Vor allem aber erleichtert er die Gewinnung von Reliquien, die - welch praktischer Umstand - beliebig teilbar sind. Denn, wie leicht einsichtig ist, überstieg die Nachfrage nach Reliquien bei weitem das Angebot. Besonders gefragt waren verständlicherweise die Reliquien prominenter Heiliger, da man sich von ihnen eine entsprechend große numinose Wirkung erhoffte. Dies konnte zu schweren Auseinandersetzungen unter den interessierten Parteien führen, wobei sicherlich auch wirtschaftliche Gründe eine wesentliche Rolle spielten. Denn der entsprechenden Kirche oder respektive dem Kloster, der Stadt und ihrer Bevölkerung lag viel daran, solch kostbare Reliquien in ihren Mauern zu bergen, was entsprechende Besucherströme garantierte. So überrascht die von dem Geschichtsschreiber Gregor von Tours (gest. 594) überlieferte Auseinandersetzung der beiden Städte

21 Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cap. LVII. De sancto Ambrosio (ed. TH. GRAESSE wie Anm. 9, S. 252) (aus dem Lateinischen Ubersetzt). 22 lateinisch reliquus: .zurückgelassen', .übriggeblieben', .übrig'.

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Poitiers und Tours um den Leichnam des fränkischen „Spitzenheiligen" Martin nicht: „Und nachdem er (Martin) abgeschieden war, erhob sich ein gewaltiger Streit zwischen ihnen. Denn es sagten die von Poitiers: ,Er war bei uns als Mönch, bei uns als Abt, wir haben ihn euch nur geliehen und fordern ihn nun zurück. Schon genug für euch, daß ihr, so lange er Bischof war und in der Welt lebte, seine Rede gehört, sein Mahl geteilt habt, daß ihr von seinem Segen gestärkt und durch seine Wunder ergötzt worden seid. Aber nun habt ihr auch euer Teil dahin, und uns kommt es zu, mindestens seinen Leichnam zu nehmen.' Darauf aber antworteten die von Tours: ,Ihr behauptet da, wir hätten unseren Teil dahin an seinen Wundertaten, so wisset denn, er tat deren mehr bei euch, als unter uns. Denn vieler anderer Taten nicht zu gedenken, euch hat er zwei Tote erweckt und uns nur einen; und er pflegte ja selbst zu sagen, es habe ihm größere Wunderkraft beigewohnt, ehe er Bischof war, als nachher. So muß er denn noch als Toter erfüllen, was er für uns im Leben nicht geleistet hat. Euch ist er nun einmal von Gott genommen und uns gegeben. In der Tat, wird die alte Sitte bewahrt, so muß er nach Gottes Willen dort sein Grab haben, wo er geweiht worden ist. Und wenn ihr seinen Leichnam verlangt, weil das ein Recht seines Klosters sei, so wisset, daß er zu Mailand zuerst im Kloster war" 2 3 . Der Streit zwischen den beiden Städten wurde zugunsten von Tours durch göttliche Intervention entschieden. Während die Abordnung aus Poitiers in Tiefschlaf fiel, nutzten die Leute von Tours die Nachtstunden und schafften im Schutz der Dunkelheit „die irdische Hülle des heiligen Leibes" in ihre Heimatstadt: Kurzentschlossen warfen einige den Leichnam des heiligen Martin aus dem Fenster, vor dem andere bereits warteten, ihn auffingen, auf ein bereitliegendes Schiff brachten und dann das Flüßchen Vienne hinab über die Loire nach Tours schifften. Oft wurde der Weg der Gewalt beschritten. Man brach in die Kirche ein, in der Reliquien lagen, und holte sich heimlich, was man freiwillig nicht bekam. Ein Unrechtsbewußtsein war damit in vielen Fällen nicht verbunden. So wie das Mittelalter die pia fraus, den Betrug in frommer Absicht, kannte, so sprach es in bezug auf die Entwendung von Reliquien verharmlosend von furta sacra. Es handelt sich um den minder schweren Fall von Reliquiendiebstahl, der, wenn auch vielleicht nicht ,heilig', so doch entschuldbar war, 23 Gregor von Tours, Historiarum libri decem I, 48 (Übersetzung entnommen aus: Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, neubearb. v. R. BUCHNER, 2 Bde, 1955/56, hier Bd. 1, S. 51).

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weil er aus frommen Motiven erfolgte. Die gesellschaftliche Respektabilität solcher Unternehmungen läßt sich auch daran ermessen, daß sich so ausgesucht fromme Menschen wie beispielsweise Einhard, der Biograph Karls des Großen und Laienabt von Seligenstadt (gest. 840), daran beteiligten. Er hat die Überführung der Reliquien des heiligen Marcellinus und des heiligen Petrus von Rom nach Seligenstadt in einem sog. Translationsbericht eingehend geschildert und die gefahrvolle Reise der Reliquienräuber anschaulich beschrieben 24 . Wollte oder konnte man nicht den Weg der Gewalt einschlagen, so bot sich eine ungleich ,elegantere' Lösung an: die Zahlung einer entsprechend großen Summe, um das ein wenig unschön klingende Wort ,Bestechung' hier zu vermeiden. Diese Methode war freilich mit einem gewissen Nachteil verbunden. Konnte man denn wirklich sicher sein, die gewünschte ,echte' Reliquie und nicht bloß eine auf den Namen des Heiligen laufende Fälschung erlangt zu haben? Vielleicht mag bereits im Mittelalter fromme Reliquienkäufer in Italien, dem Lande der vielen Heiligen, jenes Gefühl der Unsicherheit befallen haben, das heutzutage Touristen beschleicht, die angebliche Originale, in Wahrheit aber lediglich billige Imitate teurer Luxusprodukte zu „günstigen" Preisen erstehen. Im Unterschied zu heute konnte der mittelalterliche Reliquieneinkäufer allenfalls darauf hoffen, daß Gott höchstselbst zu seinen Gunsten eingreifen und, falls nötig, die Kopie gegen das Original austauschen würde. Ob diese Geschichte, von der die Legenda aurea in der Vita des heiligen Augustin berichtet, freilich die Ängste damaliger Reliquienkäufer wirklich milderte, steht dahin: „Einer, der den heiligen Augustin sehr liebte, gab einem Mönch, der den Körper des heiligen Augustin (in Pavia) bewachte, eine große Summe Geldes, damit er ihm einen Finger des heiligen Augustin gebe. Jener aber, nachdem er das Geld angenommen hatte, wickelte den Finger irgendeines Toten in seidene Tücher ein und gab ihm diesen, wobei er so tat, als handle es sich um einen Finger des heiligen Augustin. Dieser nahm ihn ehrfurchtsvoll entgegen und betete ihn immerzu in vollster Hingabe an, legte ihn an seinen Mund und an seine Augen und band ihn häufig unmittelbar an seine Brust. Da Gott die Tiefe seines Glaubens erkannte, gab er ihm auf ebenso wunderbare wie barmherzige Weise einen echten Finger des heiligen Augustin, nachdem er den falschen Finger entfernt hatte. Als der Käufer nach Hause

2 4 Einhard, Translatio et Miracula SS. Marcellini Historica: Scriptores, Bd. XV, 1887, S. 2 3 8 - 2 6 4 .

et Petri, in: Monumenta

Germaniae

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zurückgekehrt war und sich dort viele Wunder ereigneten, drang die Kunde hiervon bis nach Pavia. Aber da der obengenannte Mönch versicherte, es sei der Finger irgendeines Toten, öffneten sie das Grab des heiligen Augustin und fanden, daß ihm ein Finger fehle. Als das der Abt erfahren hatte, enthob er den Mönch seines Amtes und bestrafte ihn schwer" 2 5 . Einen gewissen Ausweg aus dem ,Reliquienengpaß' bot die Tatsache, daß der Kirche ununterbrochen ,neue Heilige', gleichsam über Nacht, nachwuchsen. Dadurch vermehrte sich automatisch die Zahl der Reliquien. Praktischerweise war es, um an Reliquien heranzukommen, auch gar nicht unbedingt erforderlich, daß der betreffende Heilige bereits verstorben war. Schon zu seinen eigenen Lebzeiten konnte ein Heiliger dafür sorgen, daß es eine genügende Anzahl seiner ,Reliquien' gab. Einen guten Eindruck einer bereits massenpsychotische Formen annehmenden Reliquienverehrung gibt Jakob von Vitry (gest. 1240). In seiner Historia Occidentalis schildert er u. a. das Wirken des Pariser Predigers Fulco von Neuilly (gest. nach 1201), „der das gesamte Volk mit wenigen und einfachen Worten entflammte". Sein Bericht ist auch deshalb so interessant, weil er unübersehbar die Distanz des Autors und auch des ,heiligen' Fulco gegenüber einer „Reliquienhysterie" erkennen läßt: „Viele kranke Menschen legte man auf ihre Betten und stellte sie entlang der Straßen und Gassen auf, die er (Fulco) passieren würde. Wenn er kam, dann wollten die Kranken den Saum seines Gewandes berühren, um Heilung von ihren Gebrechen zu erlangen. Er berührte sie bisweilen. Einmal aber, als er wegen des dichten Gedränges nicht zu ihnen gehen konnte, segnete er sie und gab ihnen das durch seine Hand geweihte Wasser zum Trinken. Freilich waren der Glauben und die gläubige Demut der Kranken und derjenigen, die sie herbeigeschleppt hatten, so groß, daß mehrere nicht allein durch die Verdienste des Gottesmannes, sondern auch durch ihren Glaubenseifer und ihre unbeirrbare Glaubenskraft geheilt werden konnten. Diejenigen hielten sich aber für glücklich, die von seinen Kleidern irgendein Stückchen abreißen und für sich behalten konnten. Da sich seine Kleidung dadurch arg verkürzte und von der Völksmenge zerrissen wurde, benötigte Fulco fast jeden Tag einen neuen Mantel. Und da ihn meistens unerträglich große Massen bedrängten, verscheuchte er mit einem Stock,

25 Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cap. CXXIV. De sancto Augustino (ed. TH. GRAESSE wie Anm. 9, S. 562-563) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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den er in der Hand hielt, die Menschen, die allzu aufdringlich waren, indem er sie kräftig verprügelte, um nicht von denen erstickt zu werden, die ihn berühren wollten; obwohl er freilich bisweilen die so Geschlagenen verletzte, nahmen sie keinen Anstoß oder entrüsteten sich. Vielmehr küßten sie mit großer Hingabe und Glaubensfestigkeit ihr eigenes Blut, als wäre es gleichsam durch den Gottesmann geheiligt. Als eines Tages aber jemand allzu unverschämt seinen Mantel zerriß, wandte er sich mit folgenden Worten an die Menge: ,Ihr sollt nicht meine Kleider zerreißen, die nicht geweiht sind. Ich werde euch aber den Mantel dieses Menschen weihen'. Nachdem er das Kreuzzeichen gemacht hatte, zerrissen sie den Mantel dieses Menschen in einzelne kleine Stückchen und behielten diese als Reliquien für sich" 2 6 . Die zahllosen Berichte über die wundersamen Wirkungen der Reliquien scheinen moderne Klischees über ein angeblich besonders einfältiges und abergläubisches Mittelalter zu bestätigen. Umso wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, daß es in eben dieser mittelalterlichen Welt Kritiker eines überzogenen Reliquienkultes gab. Daß insbesondere typische „Intellektuelle", wie der in diesem Zusammenhang oft angeführte Guibert von Nogent (gest. 1124) dazu gehörten, ist nicht weiter überraschend. Viel bemerkenswerter erscheint der Umstand, daß sich Skepsis auch im „Volk" bemerkbar machte. Wie groß der Kreis der Zweifler an Wunderbarem und Magischem gewesen ist, läßt sich quantitativ natürlich nicht beziffern, doch wird man davon ausgehen können, daß die Zahl der Skeptiker nicht klein gewesen ist. Davon zeugen insbesondere die in den Mirakelsammlungen immer wieder erzählten „Strafwunder". Heilige rächen sich in manchmal ganz unheiliger Art und Weise an denjenigen, die nicht an sie glauben können. Besonders übel ist der 993 heiliggesprochene Bischof Ulrich von Augsburg mit seinen Skeptikern umgesprungen, die sich geweigert hatten, „die Minne des heiligen Ulrich zu trinken". Der Brauch des Minnetrinkens hatte heidnische Wurzeln und war sowohl in der griechischen wie auch germanischen Religion bekannt. Es handelt sich bei dieser im Mittelalter weit verbreiteten Form um ein rituelles Trinkgelage zu Ehren eines Verstorbenen. Es verband dankenswerterweise das Angenehme, die Einnahme alkoholischer Getränke, mit dem Nützlichen, dem Gedenken an den Verstorbenen, dessen Fürsprache man erhoffte, was die Beliebtheit des Minnetrinkens begreif-

26 J. F. HINNEBUSCH (ed.), The History Occidentalis of Jacques de Vitry, 1972, cap. VIII, S. 97 - 9 8 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel X I I . Religiöse Vorstellungen

licherweise förderte. Noch relativ glimpflich davon kam Razo, „der damals ein mächtiger Diener des Bischofs (Heinrich von Augsburg) war". Der Bäcker Liutnot aus der Hausgemeinschaft des Augsburger Bischofs hatte am eigenen Leibe die Heilkraft des Minnetrinkens erfahren. Als ihn eines Tages der einflußreiche Razo zum Essen und zum Trinken und nach dem Essen zum weiteren Trinken nötigt, kann sich der Bäcker Liutnot diesem „Sozialzwang" verständlicherweise nicht entziehen: „Als er (Liutnot) gesättigt gehen wollte, nötigte ihn der genannte Razo, mehr zu trinken. Jener aber wagte nicht, seine Bitte abzuschlagen, sondern nahm das Gefäß, das ihm gereicht wurde, mit den Worten entgegen: ,Dieses Rauschgetränk will ich trinken in der Minne des heiligen Ulrich, durch dessen Hilfe ich aus höchsten Bedrängnissen befreit wurde.' Als er den Krug ausgetrunken hatte und in der Hand das Gefäß wendete, sagte er: ,Mit dieser Minne bezeichnet, bin ich gewiß, daß mir heute keine freche Gegnerschaft schaden und mir auch kein Schwert den Leib verletzen kann.' Razo sagte zu ihm:,Reich mir deinen Finger, damit ich sehe, ob mein Messer dein Fingerglied verletzen kann.' Sogleich streckte er ihm mit großem Vertrauen seinen Finger entgegen. Der aber faßte seinen Finger, versuchte mit der anderen Hand das Messer aus der Scheide zu ziehen, um den Finger des genannten Bäckers zu verletzen, und brachte seiner eigenen Hand mit ebendiesem Messer eine große Wunde bei. Rasch ließ er zugleich den gefaßten Finger und das Messer fahren und begann, über die Verletzung seiner eigenen Hand zu jammern. Der Bäcker aber ging im Glauben gestärkt und heil hinweg" 2 7 . Wesentlich schlechter erging es da schon einem anderen Skeptiker: „Als im genannten Ort Eitinga eines Tages viele aus der Hausgemeinschaft (Bischof Heinrichs von Augsburg) zum gemeinsamen Trinken zusammengekommen waren, befand sich unter ihnen einer namens Waltger, ein Schuldner des Propstes Wiefred von St. Afra. Als er hörte, daß man dort aufforderte, die Minne des heiligen Ulrich zu trinken, sprach er mit gottlosem Mund wie ein Wahnsinniger die überaus törichten Worte: ,Was nützt mir die Minne des Bischofs; der kann doch nicht mehr Wunder tun als ein Hund!' Als er das Wort herausgelassen hatte, wurde er dem Teufel überlassen, verlor die menschliche Sprache, begann nach Art eines Hundes wütend zu tönen und beendete, ach, nach kurzer Zeit kläffend und bellend elend sein Leben" 2 8 .

27 Gerhard von Augsburg, Vita saneti Uodalrici II, 11 (edd. BERSCHIN/HÄSE, S. 354-357). 28 Gerhard von Augsburg, Vita saneti Uodalrici II, 13 (edd. BERSCHIN/HÄSE, S. 358-361).

.Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit"

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Naturgemäß besonders groß war die Skepsis gegenüber ,neuen' Heiligen, deren Heiligkeit noch nicht allgemein akzeptiert war. Bereits den Zeitgenossen war bewußt, daß die Kirche mit ihren Heiligen viel Geld verdienen konnte. Entsprechend kritisch äußerte man sich denn auch im einfachen Volk, wie die folgende Geschichte aus dem Leben des Petrus von Verona (gest. 1252) zeigt, der später als „Petrus der Märtyrer" heiliggesprochen wurde 29 : „In der Ordensprovinz Deutschland, in Lüttich saßen einmal in einer Gasse einige Frauen und spannen. Da sahen sie, wie unterdessen eine große Volksmenge in die Dominikanerkirche zu Ehren von Petrus dem Märtyrer strömte. Daraufhin sagten die Frauen zu den Umstehenden: ,Diese Dominikaner verstehen doch, aus allem Geld zu machen. Sie haben einen neuen Märtyrer erfunden, damit sie eine große Menge an Geld aufhäufen und sich riesige Paläste bauen lassen können'. Als sie das und ähnliches sagten, färbte sich ihr Garn ganz mit Blut und ihre Finger, die das Garn spannen, waren voller Blut. Als sie das sahen, wunderten sie sich sehr. Und sie wischten ihre Finger ab, um zu sehen, ob sie etwa verletzt seien. Als sie aber erkannten, daß ihre Finger ganz heil waren, und das blutige Garn sahen, zitterten sie und begannen voller Reue zu sagen: ,Wie wahr, weil wir uns über das kostbare Blut des Märtyrers lustig gemacht haben, ist mit uns dieses wahrhaft staunenswerte Blutwunder geschehen'. Sie liefen also zum Haus des Dominikanerpriors, erzählten ihm alles und zeigten ihm das mit Blut gefärbte Garn. Auf das Drängen vieler rief der Prior zu einer feierlichen Predigt und erzählte allen, was den obengenannten Frauen zugestoßen war, und zeigte ihnen das stark mit Blut gefärbte Garn. Wiederum begann einer - diesmal war es ein Grammatiklehrer, der der Predigt beiwohnte - , sich über dieses Ereignis sehr lustig zu machen und sagte zu den Umstehenden: ,Schaut nur, auf welche Weise diese Brüder die Herzen der einfachen Leute betrügen. Denn sie haben einige Weiber ihrer Bediensteten bestochen, damit sie das Garn mit irgendwelchem Blut färben. Hinterher sollten sie dann erzählen, dies sei durch ein Wunder geschehen'. Während er solchermaßen lästerte, versetzte ihm die göttliche Rache einen Schlag. Unter den Augen aller Umstehenden ergriff ihn ein solch heftiger Fieberschauer, daß er unmittelbar von der Predigt von seinen Freunden nach Hause gebracht werden mußte. Als aber sein Fieber immer mehr anstieg, und er fürchtete, bald zu sterben, ließ er den obengenannten Prior zu sich 29 Zu Petrus dem Märtyrer vgl. auch unten S. 330-333.

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Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

kommen und gestand sein Vergehen. Vor dem genannten Prior gelobte er Gott und dem heiligen Petrus, sollte er dank der Verdienste des Heiligen wieder gesund werden, dann würde er Petrus immer besonders verehren und nie wieder über ihn lästern. Welch wunderbare Sache, bald nachdem er sein Gelübde abgelegt hatte, wurde er alsbald wieder vollständig gesund" 30 . Es hieße, einen überaus wichtigen Bestandteil mittelalterlicher Religiosität zu übergehen, ließe man die Marienfrömmigkeit außer acht. Mit keiner anderen biblischen Gestalt haben sich Menschen im Mittelalter mehr auseinandergesetzt als mit der Gottesmutter. Die Intensität, mit der man sich mit ihr beschäftigte, schlug sich in einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Deutungsmustern nieder, die als Spiegel mittelalterlicher Vorstellungswelten und Einstellungen gelesen werden können. Das Mittelalter akzeptierte die historiographische Kargheit, mit der noch die Evangelisten Maria behandelt hatten, nicht mehr. Stattdessen schuf es sich auf der Basis von apokryphen Texten, von angeblichen „Marienleben", von Legenden und Exempla, aber auch mit Hilfe bildlicher Darstellungen, im einzelnen höchst verschiedenartige Marienbilder. So wurde Maria als vorbildliche Mutter, als Trost- und Gnadenspenderin, als exemplarische Christin, als Quelle göttlicher Weisheit usw. gedeutet. Sie wurde zur namensgebenden Patronin unendlich vieler mittelalterlicher Kirchen und Kapellen, ihren Namen trugen (und tragen bis heute) zentrale einzelne Plätze und ganze Ortschaften; auf die wohlwollende Hilfe der Gottesmutter hoffte manch mittelalterliche Stadt. So unterschiedlich auch die ständisch-gesellschaftlichen Gruppen des Mittelalters waren, die sich ihre jeweiligen Marienvorstellungen bildeten (Theologen, Mystiker, Visionäre, Volksprediger, Schriftsteller), so gab es doch eine verbindende Gemeinsamkeit. Sie bestand in der Unmittelbarkeit, mit der man sich der als himmlische Königin (regina caelestis) vorgestellten Gottesmutter zuwandte. Marias Attraktivität beruhte ganz wesentlich auf dem Umstand, daß sie nach mittelalterlicher Vorstellung nicht eine „historische", eine weit entrückte Person der Vergangenheit und der Geschichte war, sondern immer unmittelbar im realen Leben präsent und damit ansprechbar blieb. Unwiderlegbares Indiz ihrer Gegenwärtigkeit war die Tatsache, daß die Gottesmutter nach mittelalterlicher Vorstellung in das Leben des einzelnen Christen ganz direkt eingriff. Voraussetzung war allerdings, 30 Jacobus

a Voragine, Legenda aurea, cap.

LXIII. De

sancto Petro raartire (ed. TH. GRAESSE

wie Anm. 9, S. 2 8 5 - 2 8 6 ) (aus dem Lateinischen übersetzt).

„Volkskultur" und „Volksfrömmigkeit"

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daß man sich Maria in der ihr adäquaten Form näherte und zu ihr betete. Dann war freilich jede Art von Hilfe möglich: Selbst Tote konnte die heilige Jungfrau wieder zum Leben erwecken. Das bezeugt jedenfalls die folgende, von Hugo von Trimberg (gest. nach 1313) in seiner Exemplasammlung, dem Solsequium, erzählte Geschichte. Sie ist unter mancherlei Aspekten interessant: Einmal als ein Zeichen für die namentlich im Spätmittelalter besonders enge Verbindung der Ritterschaft mit der Gottesmutter. Maria hatte schon immer etwas für die milites übrig gehabt. Dieser Ansicht waren jedenfalls solche frommen Ritter, die sich Maria zu ihrer Schutzpatronin auserkoren hatten. Dann konnte es schon einmal vorkommen, daß die Gottesmutter stellvertretend für einen Ritter den Sieg auf dem Turnier erfocht. Denn wenn Ritter nicht aus eigener Schuld zu spät zum Turnier kamen, sondern nur deshalb, weil sie allzulang zu Maria gebetet hatten, dann mußte die Gottesmutter einfach solch hingebungsvolle Demut belohnen und in Vertretung des Ritters - natürlich siegreich - am Turnier teilnehmen 3 1 . Auch die hier zu erzählende Geschichte Hugos ist diesem Muster ansatzweise verpflichtet, kommt doch wiederum ein ritterlicher Marienverehrer nur deshalb in große Schwierigkeiten, weil er allzu intensiv die heilige Jungfrau verehrt. Das Verhältnis zwischen Maria und dem Ritter wird vom Erzähler als ein Liebesverhältnis geschildert. Der Ritter liebt die heilige Jungfrau, weil sie „ein sehr schönes Mädchen ist". Es handelt sich um eine weitverbreitete adlig-höfische Deutung von Maria. Die Gottesmutter hat sich längst aus einer einfachen Frau in eine erotisch-attraktive Dame verwandelt. Sie ist begehrenswert. Das Zeittypische dieses Exemplums liegt auch darin, daß es das mit Liebe verbundene und aus Liebe erwachsene Problem der Eifersucht aufgreift. Liebe tendiert dazu, ausschließlich und absolut zu sein. Insofern ist die im Exemplum angedeutete Eifersucht der Ehefrau des Ritters, die eine Rivalin vermutet, und der von ihr deshalb gesuchte Freitod, nur allzu verständlich. Noch unter einem anderen Aspekt erscheint die Geschichte bemerkenswert. Es ist auch eine Geschichte mißglückter Kommunikation. Der „Sprechakt" zwischen dem Ritter und seiner Ehefrau mißlingt, denn beide reden aneinander vorbei. Der - gebildete - Ritter (miles litteratus) spricht von seiner Liebe zu einem „sehr schönen Mädchen" und meint dies nicht wörtlich (litteraliter), sondern im übertragenen Sinn: Das „sehr schöne Mäd-

31 Vgl. dazu auch das oben Kapitel III, S. 59-60 erzählte Exemplum.

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Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

chen" ist nach seinem Verständnis natürlich keine normale Frau, sondern „die Jungfrau Maria". Die Ehefrau des Ritters - offenbar nicht gebildet erkennt die übertragene Sprechweise des Ritters nicht und nimmt dessen Aussage wörtlich, mit fatalen, aber dank der Intervention Marias dann doch letztlich reparablen Konsequenzen: „Irgendein gebildeter Ritter liebte die heilige Jungfrau Maria inniglich. Täglich pflegte er sie, noch bevor er etwas zu sich genommen hatte, durch besondere Gebete zu ehren. Der Ritter hatte eine sehr ehrbare und ihm rechtmäßig angetraute Ehefrau. Und da er häufiger zur Stunde der Mahlzeit von der Tafel aufstand, um in einer nahegelegenen Kapelle zu beten, und dort lange verweilte, beunruhigte sein Verhalten die Ehefrau sehr. Als sie sich bei ihm erkundigte, ob er etwa eine andere Frau liebe, antwortete er, er liebe ein wunderschönes Mädchen. Sie nahm das wörtlich, und brennender Schmerz ergriff sie. Eines Tages, als der Ritter sie wiederum bei Tische zurückließ, und, wie gewöhnlich, die Kapelle betreten hatte, stand sie vom Tisch auf, betrat eilends ihr Gemach, ergriff das Jagdmesser ihres Mannes und nahm sich unverzüglich das Leben. Nachdem er sein Gebet verrichtet hatte, kehrte der Ritter zurück. Als er wieder bei seiner Familie eintraf, fehlte die Herrin des Hauses. Über alle Maßen erschrocken, öffnete er die Tür ihres Gemachs und fand sie tot vor. Nachdem er sie so gesehen hatte, brach er sogleich in Tränen aus und kehrte klagend zur Kapelle zurück. Der heiligen Jungfrau erzählte er unter Wehklagen, was sein Herz so schwer bedrückte. Nachdem er noch längere Zeit getrauert hatte, erhielt er schließlich von Maria die Antwort, daß seine Ehefrau in ihrem Gemach sei und lebe; hätte der Ritter Zweifel an ihrer (d. h.) Marias Aussage, dann würde sie ihm ihren Sohn, den sie in ihrem Schoß hielt (d. h. Jesus Christus), als Geisel zur Verfügung stellen. Jener vertraute ihren Worten. Er kehrte in das Gemach seiner Frau zurück und traf sie, noch mit dem blutverschmierten Jagdmesser in der Hand, zu seiner Freude dort an. Sie sagte zu ihm: ,Auf immer gesegnet sei deine allersüßeste Freundin, deren Gnade du dir erworben hast!' In der Folgezeit führten sie ein reines und keusches Leben und gewannen dadurch das Ewige Leben" 32 .

32 Hugo von Trimberg, Solsequium, cap. 27 (ed. E. SEEMANN 1914), S. 5 6 - 5 8 ) (aus dem Lateinischen übersetzt).

Ketzer und Kirche

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3. Die Ketzer und die Kirche: Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber religiösen Sondergruppen Es gibt Anzeichen dafür, daß sich in manchen Gebieten Europas das religiöse Klima seit dem 11. Jahrhundert teilweise veränderte. Indikatoren dieser Veränderungen sind die ab jener Zeit verstärkt zu beobachtenden religiösen Außenseitergruppen, die von der katholischen Amtskirche als „Häretiker" und „Ketzer" bezeichnet wurden. Zugegebenermaßen hatte es seit dem Beginn ihrer Geschichte in den Reihen der katholischen Kirche immer wieder Abweichler von der offiziellen Lehre gegeben. So sah sich beispielsweise bereits der in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts lebende Bischof Isidor von Sevilla (gest. 636) genötigt, in seiner im Mittelalter viel benutzten Enzyklopädie auch die ihm bekannten christlichen Häresien der Spätantike zu berücksichtigen. Ehe er aber die Häretiker im einzelnen aufzählen konnte, hatte er noch den Begriff der .Häresie' durch eine etymologische Deutung zu erklären: „ÜBER HÄRESIE UND SCHISMA. ,Häresie' bedeutet im Griechischen ,WahP, weil nämlich jeder für sich das auswählt, was ihm das Bessere zu sein scheint, so wie die Philosophen es machen, die sich als ,Peripatetiker', als .Akademiker', als .Epikureer' und als ,Stoiker' verstanden, oder wie all die anderen, die ihrem eigenen Willen folgten und die Kirche verließen, weil sie sich eine verkehrte Lehre ausdachten. Daher stammt also das griechische Wort .Häresie', mit der Bedeutung der .Wahl', bei der jeder nach seinem Gutdünken auswählt, was immer er lehren oder glauben will. Wir dürfen aber nichts nach unserem eigenen Gutdünken vorbringen, noch dürfen wir das wählen, was irgendeiner nach seinem eigenen Gutdünken lehrt. Wir haben die Apostel Gottes als Autoritäten, die nichts nach ihrem eigenen Gutdünken auswählten, was sie vorbrachten, sondern voller Glaubenseifer die von Christus erhaltene Botschaft an die Völker weitergaben. Deshalb wird sogar ein Engel zu Recht verflucht, wenn er etwas anderes über den Himmel erzählt. Der Begriff der ,Sek-te' leitet sich von sequi (d.h.: ,nachfolgen') und von tenere (d.h.: ,halten', .bewahren') ab. Als ,Sekten' bezeichnen wir freilich Geisteshaltungen und Institutionen, die sich der Regel und der Lehre widmen, die die Häretiker bewahren und befolgen. Über die Glaubensdinge denken sie ganz anders als die übrigen" 3 3 . 33 Isidor von Sevilla, De Etymologiis VIII, III, 1 - 4 (ed. W. LINDSAY, Bd. I, 1911) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

Freilich beschränkten sich, soweit es die Zeit des Frühmittelalters betrifft, diese Abweichungen von der offiziellen Lehrmeinung, die Isidor zufolge einen typischen Häretiker ausmachten, doch vorwiegend auf einzelne Theologen. So hatte beispielsweise der sächsische Grafensohn Gottschalk (gest. 866/870) die Lehre von der doppelten Prädestination verfochten und war deshalb auf den energischen Widerstand der Amtskirche gestoßen. Das „Volk" scheint in diese Auseinandersetzungen unter Gelehrten freilich nicht verwickelt gewesen zu sein. Dazu waren diese theologischen Debatten ob ihrer Kompliziertheit auch wenig geeignet. Allenfalls die von der byzantinischen Kirche übernommene Debatte über die Zulässigkeit einer Bilderverehrung am Ende des 8. Jahrhunderts hat vielleicht eine größere Zahl der Gläubigen interessiert. Die Situation ändert sich erst mit dem Beginn des 11. Jahrhunderts. Nunmehr wird religiöses Außenseitertum zu einem Politikum allerersten Ranges für die Kirche. Denn diese Häretiker wirkten im Unterschied zu religiösen Abweichlern vorangegangener Zeiten auf das Volk ausgesprochen attraktiv. Ihre Faszination beruht, bei allen Unterschieden im einzelnen, auf einigen wenigen, gleichwohl sehr wichtigen Punkten. An erster Stelle zu nennen ist die Simplifizierung einer von der Masse der Gläubigen immer weniger verstandenen gelehrten Theologie. Die Theologie, wie sie mit ihren Feinheiten zuerst an der Domschule und später an der Universität unterrichtet wurde, hatte häufig den Kontakt zum Volk verloren. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, daß die Häretiker mit einiger Aussicht auf Erfolg das Interpretationsmonopol der Amtskirche bestreiten konnten. Durch die Predigt in der Volkssprache erreichten die häretischen Prediger das Volk ungleich besser und unmittelbarer als ihre katholischen Kollegen in einer stark lateinisch geprägten Messe. Höhere Akzeptanz versprach auch die von vielen Häretikern verkündete dualistische Weltdeutung. Die radikal-dualistische Scheidung in Weiß und Schwarz, in Gute und Böse, in Reine und Unreine, verhinderte zwar eine differenzierte Betrachtungsweise, erleichterte aber die Zuordnung der eigenen Person und die Einordnung der anderen. Entscheidend für den Erfolg von Häretikern blieb freilich immer ihre ,rigoristische' Mentalität und Verhaltensweise. Nur dann, wenn sie ihre Lebenspraxis im Gegensatz zu einer verweltlichten Amtskirche am Ideal der von ihnen vertretenen Lehre ausrichteten, hatten sie Aussicht auf Erfolg. Bereits einer der ersten Häretiker aus dem frühen 11. Jahrhundert, über den wir genauer informiert sind, der Bauer Leutard aus Vertus in der Champagne (gest. 1004), wurde für die Amtskirche zu einem größeren Problem. Denn diesem .einfachen' Mann, der unweit der nordfranzösischen Stadt

Ketzer und Kirche

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Soissons lebte, war das Volk massenweise zugeströmt. Ganz offensichtlich erwiesen sich zumindestens Teile seiner Lehre als ausgesprochen attraktiv, die er schon deswegen in der Volkssprache verkündete, da er als einfacher Landmann natürlich kein Latein gelernt hatte. Um mit Leutard fertig werden zu können, sah sich der Bischof von Soissons sogar gezwungen, eine Diözesansynode einzuberufen. Durch ein gelehrtes Streitgespräch, durch eine Disputation, wurde Leutard schließlich als Häretiker und Ketzer überführt. In seiner Verzweiflung soll er anschließend Selbstmord begangen haben. Ein solch resignatives Verhalten ist, wenn man die Geschichte der Häresien betrachtet, eher die Ausnahme gewesen. In aller Regel verfügten Häretiker über ein ausgesprochenes Selbstbewußtsein, was ihnen in den Augen ihrer rechtgläubigen katholischen Gegner den Vorwurf einbrachte, sie seien besonders hochfahrend (superbi). Um die Schwere dieser Anschuldigung ganz verstehen zu können, muß man sich daran erinnern, daß seit den Zeiten des heiligen Augustin superbia dem Mittelalter als die Wurzel aller Laster galt. Und noch der große Theologe und Philosoph Hugo von St-Victor (gest. 1141) hatte im 12. Jahrhundert diese Einschätzung des größten aller Kirchenväter erneut unterstrichen. Die von der Amtskirche über die Häretiker verbreiteten Klischees und Stereotypen sind sehr einheitlich, werden immer aufs Neue wiederholt und entstammen vielfach der literarischen Tradition der Kirchenväter. Außer ihrem Hochmut wird den Häretikern auch meistens Geheimniskrämerei vorgeworfen, weshalb besonders gerne die Metapher vom „Wolf im Schafspelz" (lupus sub pelle ovina) hervorgekramt wird: Häretiker sind in Wahrheit nicht fromm, sie geben sich nur den Anschein der Frömmigkeit (species pietatis) und verbergen ihre wahren Absichten und Einstellungen. Ihren geheimnisvollen Riten, ihren sexuellen Ausschweifungen gehen sie im geheimen, „in Winkeln und in Finsternis" (in antris et in occultis) nach. Sie sind mithin „Heuchler", sie sind ungehorsam, weil sie nicht auf die Bischöfe hören wollen, und schließlich sind sie auch anmaßend, weil sie sich auf die Bibel berufen und erklären: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, da er den Aposteln befohlen hat, alle Kreatur das Evangelium zu lehren und infolgedessen maßen sich die Ketzer auch das Predigtamt an, obwohl sie doch ungebildete Menschen sind. Heuchelei (hypocrisis), Ungehorsam (inoboedientia) und Anmaßung von Neuheiten (praesumptio novitatum), alle drei Vorwürfe richten sich an die Adresse der Häretiker und belegen ihren Hochmut. Diese Auffassung vertrat, um nur einen von vielen zu nennen, der französische Dominikaner und

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Kapitel XII. R e l i g i ö s e Vorstellungen

Inquisitor Bernardus Guidonis (gest. 1331) in seinem .Handbuch der Inquisitionspraxis' 34 . Ungeachtet der Anschuldigungen ihrer katholischen Gegner blieb das Selbstbewußtsein vieler Ketzer im 12. und 13. Jahrhundert ungebrochen. Dies gründete sicherlich zu einem guten Teil darauf, daß sie vielfach gar nicht zu den typischen gesellschaftlichen Randgruppen gehörten. Häufig handelte es sich bei ihnen um äußerst wohlhabende, angesehene Mitglieder der Gesellschaft, was beispielsweise auf die südwestfranzösische Sekte der Albigenser ebenso zutrifft wie auf die norditalienischen Waldenser. Es konnte sogar der Fall eintreten, daß die katholische Amtskirche und die von ihr vertretene Lehre ihrerseits in eine gesellschaftliche Außenseiterposition gerieten. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls eine Lektüre der Lebensbeschreibung des schon erwähnten Petrus ,des Märtyrers', eines der wenigen zeitgenössischen Heiligen, den der Genueser Bischof Jacob von Voragine in seine Legendensammlung, die berühmte Legenda aurea, aufgenommen hatte. Wie sein Beiname, ,der Märtyrer', bereits andeutet, war es dem aus Verona stammenden Petrus nicht beschieden gewesen, friedlich im Bett zu sterben. Vielmehr war der später von Papst Innozenz IV. (1243-1254) heiliggesprochene Dominikaner auf dem Wege nach Mailand zu einem Inquisitionsprozeß einem Anschlag der Häretiker zum Opfer gefallen. Bereits die in der Vita geschilderte Sozialisation des jungen Petrus ist ein rechtes R u n der'. Denn Petrus schaffte es, seiner zutiefst häretischen Verwandtschaft und Umwelt zum Trotz, die allesamt eingefleischte Anhänger der sogenannten Albigenser waren, zum rechten katholischen Glauben zu finden: „Die Eltern von Petrus freilich waren ungläubig und Häretiker, von deren Irrglauben er sich vollständig frei hielt. Als er aber gerade einmal sieben Jahre alt war und aus der Schule nach Hause kam, wurde er von seinem Onkel, einem Häretiker, gefragt, was er in der Schule gelernt habe. Er antwortete, er habe gelernt: ,Ich glaube an den Gottvater, den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde usw.'. Und darauf jener: ,Du sollst nicht sagen, Schöpfer des Himmels und der Erde, da Gott nicht der Schöpfer der sichtbaren Dinge gewesen ist, sondern der Teufel hat alles Sichtbare erschaffen'. Der Knabe aber versicherte, er wolle lieber das sagen, was er gelesen habe, und er sagte, er wolle lieber glauben, wie es (in der Bibel) ge-

34 Vgl. die Charakterisierung der Sekte der Waldenser in seiner Practica Inquisitionis haeret i c a e p r a v i t a t i s 1 1 , 1 - 8 ( e d . G . MOLLAT, 2 B d e , 1 9 2 6 - 1 9 2 7 , h i e r B d . 1, S . 3 4 - 7 6 ) m i t N e n -

nung der verschiedenen Vorwürfe.

Ketzer und Kirche

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schrieben stehe. Daraufhin versuchte sein Onkel mit aller Macht und durch Berufung auf Autoritäten, ihm seine Meinung aufzudrängen. Der Knabe aber, erfüllt vom Heiligen Geist, widerlegte ihn mit seinen eigenen Aussagen und ließ ihn in die eigene Falle laufen, so daß dem Onkel die Argumente ausgingen. Der Onkel, der schwer an seiner Niederlage trug, erzählte alles dem Vater. Er forderte ihn inständig auf, er solle den jungen Petrus von der Schule nehmen. ,Ich fürchte', sagte er, ,daß Petrus, wenn er gut erzogen wird, zu jener Hure, zur katholischen Kirche, überläuft und so unseren Glauben zerstört und vernichtet.' Dieser hatte unwissentlich die Wahrheit gesagt, als er prophezeite, daß Petrus gleichsam als ein zweiter Kaiphas den Unglauben der Häretiker zerstören würde. Aber durch das Einwirken Gottes hörte der Vater des Petrus nicht auf seinen Bruder, in der Hoffnung, er könne seinen Sohn, wenn er erst einmal Lesen und Schreiben gelernt hätte, durch irgendeinen Häresiarchen auf seine Seite ziehen. Als der heilige Knabe sah, daß er nicht sicher unter Skorpionen leben könne, sagte er der Welt und den Eltern ab und trat als reiner Mensch in den Orden der Prediger ein" 35 . Petrus, der trotz seiner häretisch gesonnenen Umgebung zum katholischen Glauben gefunden hatte, blieb freilich auch in seiner späteren Predigttätigkeit ausgesprochen auf ,Wunder' angewiesen. Zumal wenn er sich in denjenigen Städten Italiens durchsetzen wollte, welche die albigensische „Häretikerpest" bereits befallen hatte, wie beispielsweise „in Mailand, wo es ausgesprochen viele Häretiker gab, die im öffentlichen Leben sehr einflußreich, scharfsinnig, voller betrügerischer Eloquenz und diabolischer Weisheit" waren. Ausgerechnet in der lombardischen Hauptstadt hatte Petrus eine der heikelsten Situationen in seiner Karriere als Ketzerbekämpfer durchzustehen: „Er (Petrus) zeichnete sich schon zu seinen Lebzeiten durch zahlreiche Wunder aus. Einmal verhörte Petrus in Mailand einen Bischof der Häretiker, der von den Katholiken gefangengenommen worden war. Und viele Bischöfe und fromme Menschen und der größte Teil der Bevölkerung waren dort zusammengekommen. Und da der Tag sich sowohl durch die Predigt als auch durch die Untersuchung ziemlich in die Länge gezogen und eine brütende Hitze die übrigen schon ziemlich beeinträchtigt hatte, sagte der Häresiarch vor allen Leuten: , 0 Petrus, du verdorbener Mensch, wenn du wirklich so heilig bist, wie das Volk in seiner Dummheit annimmt, warum 35 Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cap. LXIII. De sancto Petro martire (ed. wie Anm. 9, S. 278) (aus dem Lateinischen übersetzt).

TH. GRAESSE

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Kapitel XII. Religiöse Vorstellungen

erlaubst du es, daß das Volk noch an der Hitze zugrundegeht, und warum bittest du nicht Gott, er möge eine Wolke aufziehen lassen, so daß dieses dumme Volk hier nicht an der Hitze stirbt?' Petrus antwortete ihm: ,Wenn du versprichst, daß du deinen Irrglauben aufgibst und den katholischen Glauben dafür annimmst, dann werde ich Gott darum bitten, und er wird tun, was du gesagt hast.' Daraufhin forderten die Sympathisanten der Häretiker durch laute Zurufe ihren Häresiarchen auf:,Versprich es, versprich es!' Sie glaubten nämlich, daß das nicht eintreten könne, was Petrus in aller Öffentlichkeit zu tun versprochen hatte, besonders auch deshalb, weil sich nicht die kleinste Wolke am Himmel zeigte. Die Katholiken aber wurden aufgrund des Versprechens des Petrus traurig. Sie befürchteten nämlich, daß deswegen der katholische Glauben schwer beeinträchtigt werden könnte. Obgleich sich aber der Häretiker nicht verpflichten wollte, sagte der heilige Petrus voller Vertrauen: ,Damit Gott sich als Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren Dinge erweist und damit die Gläubigen gestärkt und die Ungläubigen erschüttert werden, bitte ich Gott, daß irgendeine kleine Wolke aufsteige und sich zwischen die Sonne und das Volk schiebe'. So kam es denn auch, nachdem er zuvor das Kreuzzeichen gemacht hatte, daß eine ganze Stunde lang eine kleine Wolke wie ein Zeltdach das Volk beschirmte" 3 6 . Wenigstens einmal aber - seine Lebensbeschreibung deutet es verschämt an - war Petrus der hohen Disputationskunst seines selbstbewußten häretischen Gegners nicht mehr gewachsen und hatte in seiner Not Gott erneut um ein „Wunder" bitten müssen: „Als einmal ein gewisser Häretiker, ein überaus scharfer Disputant von einzigartiger Redekraft, zu Lebzeiten des heiligen Petrus mit diesem disputierte und die Irrtümer seiner Lehre auf feinsinnige und zugespitzte Weise zur Diskussion gestellt hatte und allzu unverschämt darauf drang, der heilige Petrus solle dazu Stellung nehmen, bat jener um Bedenkzeit. Er suchte mit Tränen in den Augen eine nahegelegene Kirche auf und bat Gott, er möge seine Glaubenssache verteidigen und den aufgeblasenen Schwätzer entweder zur Wahrheit des Glaubens bekehren oder ihn seiner Zunge berauben, damit jener nicht durch sie weiter in geschwollenem Ton gegen die Glaubenswahrheiten spreche. Daraufhin kehrte er zu dem Häretiker zurück und sagte in aller Öffentlichkeit, daß sein Gegner seine Aussagen noch einmal 36 Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cap. LX1II. De sancto Petro martire (ed. TH. GRAESSE wie Anm. 9, S. 279-280) (aus dem Lateinischen übersetzt).

Ketzer und Kirche

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wiederholen solle. Dieser war so vollständig verstummt, daß er nicht ein einziges Wort auf irgendeine Weise herausbringen konnte. Deshalb zogen die Häretiker verwirrt von dannen, und die Katholiken dankten Gott" 3 7 . Die Inquisitoren, denen, wie beispielsweise Petrus dem Märtyrer, die Aufgabe oblag, verborgene und offen zu ihrem Unglauben sich bekennende Ketzer aufzuspüren und zu verurteilen, hatten es nicht immer ganz einfach. Sie befanden sich häufig in einer Konkurrenzsituation mit ihren häretischen Gegnern, bei der dem „Volk" die Schiedsrichterrolle zufiel. Diese Situation war insbesondere dann gegeben, wenn eine Person coram publico, in aller Öffentlichkeit, und das bedeutet: vor dem „Volk", als Ketzer überführt werden sollte. Die wichtige Rolle des populus zeigt sich nicht nur in den soeben erzählten Beispielen des Petrus Martyr, wo der Mailänder Bevölkerung die Rolle eines arbiter elegantiarum zufällt. Auch andere Kollegen von Petrus dem Märtyrer hatten mit dem populus als einer wichtigen Größe zu rechnen, auf die es unbedingt Rücksicht zu nehmen galt. Tat dies der Inquisitor nicht, dann konnte die Stimmung sehr schnell umschlagen. Diese Erfahrung mußte auch der Pariser Magister und Dominikaner Robert le Bougre („der Schelm") machen, Uber den der Benediktiner Richer (gest. 1267) aus dem Vogesenkloster Senones mit unverhohlener Schadenfreude das Folgende berichtet: „Zu dieser Zeit lebte in Paris auch ein sehr gelehrter und durch seine Redegabe berühmter Mann namens Robert, der dem Dominikanerorden angehörte. Er erfreute sich eines solchen Ansehens, daß man ihn damals für einzigartig hielt. Aber er war, wie man sich erzählt, ganz dem weltlichen Ruhm und dem Laster ergeben. Er hatte mittels einer gewissen Zauberkunst ein kleines Schriftstück für sich zusammengestellt. Wenn er dieses Blättchen auf den Kopf irgendeines Menschen legte, dann mußte dieser, ob er nun wollte oder nicht, das bekennen, was Robert ihm in den Mund legte. Eines Tages freilich hatte Robert, während er predigte, eine attraktive Frau in seiner Zuhörerschaft ausgemacht. Er wollte sie haben und bat sie deshalb nach der Predigt um ein Gespräch. Sie kam zu einem verschwiegenen Ort, wo Robert wartete, damit sie ihm beichtete. Er sprach sie an, bald bedrohte er sie, bald schmeichelte er ihr, um sie seinem Willen gefügig zu machen. Was weiter? Sie weigerte sich; er blieb hartnäckig, drohte ihr gar: Sei sie ihm nicht zu Willen, würde er sie der Häresie bezichtigen und verbrennen lassen. Am nächsten Tag ließ er jene Frau tatsächlich vor allen zu sich 37 Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cap. LXIII. De sancto Petro martire (ed. TH. GRAESSE wie Anm. 9, S. 288) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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kommen, legte ihr die Hand auf den Kopf und fragte sie mit lauter Stimme: ,Gehörst du etwa zur Partei der Häretiker?' Jene sagte: ,Ja, ich bin wirklich eine Häretikerin'. (Jener:) ,Willst du zum katholischen Glauben zurückkehren?' Jene aber sagte: ,Nein'. Jener sagte: ,Willst du lieber verbrannt werden als jener Sekte abzuschwören?' Jene antwortete: ,Ich will'. Jener sagte: ,Habt ihr gehört, wie jene Frau ihre Schande bekannt hat?' Aber jene wunderten sich sehr und sagten, sie hätten über diese Frau niemals dergleichen gehört; und so warf man sie erst einmal ins Gefängnis. Jene Dame aber hatte einen Sohn, der war Geistlicher, ein begabter junger Mann, den das Unglück seiner Mutter sehr umtrieb, so daß er Nachbarn und Verwandte aufsuchte und ihren Rat einholte, ob er auf irgendeine Art und Weise seine Mutter vor der Todesstrafe bewahren könne. Irgendein Bekannter des Dominikaners hatte mit dem Sohn großes Mitleid und sagte deshalb zu ihm: ,Geh morgen zur öffentlichen Gerichts Versammlung, weil deine Mutter ein zweites Mal befragt wird. Steh du aber neben ihr; und wenn der Magister Robert deiner Mutter die Hand auflegt und sie über ihren Glauben befragt, dann ergreife fest dessen Hand, weil du ja stärker bist, und nimm das kleine Blatt, das du in seiner Hand findest, und behalte es bei dir und dann fordere mit lauter Stimme den Robert auf, er möge deine Mutter erneut über ihren Glauben befragen'. Und so ist es gekommen. Nachdem jener Kleriker das genannte kleine Blatt aus der Hand des Predigers genommen hatte, wurde die Dame, wie zuvor, noch einmal befragt. Darauf schwor sie vor allen, sie habe niemals jene Worte gehört und sie sei niemals vom Magister Robert über ihren Glauben befragt worden, noch habe sie ihm diesbezüglich darüber Antwort gegeben und niemals gehört, was Häresie sei. Ihr Sohn aber zeigte allen jenes kleine Blatt (und sagte), daß derselbe Prediger durch teuflische Kunst mittels jenes Blättchens jeden, den er wollte, getäuscht und dem Tode ausgeliefert habe. Als die Volksmassen das hörten, versuchten sie, ihn zu töten, aber der Klerus ließ ihn gefangennehmen und für alle Zeiten in einen steinernen Kerker verbringen. Und weil er seinen Vater und seine Mutter und darüberhinaus viele andere unschuldige Menschen durch die obengenannte Kunst hatte verbrennen lassen, mit der Absicht, seine ungerechte Tätigkeit zu verschleiern, beschloß Gott, ihm in diesem Leben eine solche Strafe aufzuerlegen, damit er vielleicht noch zu seinen Lebzeiten sich von seiner Bösartigkeit abwenden konnte" 3 8 .

38 Richer von Senones, Gesta Senoniensis ecclesiae IV, 18 (Monumenta Germaniae Histórica: Scriptores Bd. 25, S. 307-308) (aus dem Lateinischen übersetzt).

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Die Situation stellte sich für die Amtskirche als ausgesprochen schwierig dar. Nach wie vor hatte sie mit heidnisch-religiösen Vorstellungen und Praktiken zu rechnen und mußte sich gleichzeitig der Konkurrenz häretischer Gruppen erwehren. Es kann daher nicht überraschen, daß sie sich verstärkt Gedanken darüber machte, wie sie die Gläubigen am besten erreichen könnte. Dieses Engagement hat ein Teil der Forschung als „Völkstheologie" (A. Gurjewitsch) charakterisiert und darunter vor allem die Popularisierung theologischer Dogmatik verstanden. Beispielsweise wird die spektakuläre Zuspitzung theologischer Aussagen über Fegefeuer und Hölle unter dem Aspekt einer „Volkstheologie" gedeutet: „Diese Aufzählung und die Bilder von der Hölle und den Martern, denen die Sünder unterworfen werden, mußten, wenn sie vom Priester in der Predigt dargelegt wurden, einen Gläubigen zwangsläufig erschrecken und ihm Schauder vor den Strafen einflößen, die jeden trafen, der nicht der Kirche in Gehorsam ergeben war und die christlichen Gebote nicht beachtete" 3 9 . Als typischer Repräsentant dieser Volkstheologie wird immer wieder Honorius Augustodunensis (gest. um 1137) genannt, dessen zahlreiche Werke dank ihres vorwiegend enzyklopädisch-didaktischen Zuschnitts sich großer Beliebtheit erfreuten und deshalb auch teilweise in die Volkssprachen übersetzt wurden. Freilich bedeutet die Interpretation des Honorius, wie sie von manchen Vertretern der „Volkstheologie"-These unternommen wird, eine arge Verkürzung und damit gleichzeitig eine falsche Gewichtung der Gedankengänge des Honorius. Es kann nicht bestritten werden, daß die Darstellung einschlägiger Strafen so manchen Sünder erschreckt haben mag, doch kann keine Rede davon sein, daß Fegefeuer und Hölle die zentrale Rolle in der Theologie des Honorius Augustodunensis einnehmen. Dies gilt selbst für das in diesem Zusammenhang viel genannte Elucidarium („Lichtbringer"). Honorius war viel zu sehr Psychologe, als daß er einer Vorgehensweise „mit dem Holzhammer" große Chancen eingeräumt hätte. Viel wichtiger war ihm - und vor allem darin liegt, wenn überhaupt, der „volkstheologische" Aspekt seiner Schriften begründet - die adäquate Vermittlung der christlichen Lehre durch die Predigt. Zu diesem Zweck verfaßte er für seine Amtsbrüder in seinem Speculum ecclesiae Musterpredigten. Auf den stark homiletischen Charakter seiner Schrift verweisen nicht nur die überaus anschaulich und verständlich gehaltenen Predigten, in denen von Hölle und Fegefeuer höchstens am Rande die Rede ist. Wie aus seinen Bemerkungen hervorgeht, war

39 A. J. GURJEWITSCH, Mittelalterliche Volkskultur, 2 1992, S. 241.

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Honorius auch der praktische Aspekt überaus wichtig. So empfahl er beispielsweise seinem Amtsbruder am Ende der Musterpredigt anläßlich des Weihnachtsfestes, wenn „allzu große Winterkälte herrscht", die Beichte radikal abzukürzen 4 0 , in der Woche nach Weihnachten eher selten zu predigen, um die Geduld der Zuhörer nicht überzustrapazieren, die nach seiner Meinung mit allzu häufiger Predigt kaum noch zu erreichen sind 4 1 . Auch über die Mentalität seiner Zuhörerschaft machte sich Honorius keinerlei Illusionen. Die Gemeindeglieder stehen wohl nicht, wie Gurjewitsch vermuten möchte, zitternd und schlotternd in der Kirche und hören sich tiefbeeindruckt und voller Angst die Erzählungen des Pfarrers über Fegefeuer und Hölle an. Wie heutige Predigtbesucher auch sind sie nach der realistischen Einschätzung von Honorius mit eher profanen Gedanken beschäftigt: „Brüder, noch viel wäre euch über diesen heiligen Tag (gemeint: 1. Sonntag der Fastenzeit) mitzuteilen. Freilich muß ich (gemeint: der Prediger) diese Dinge mit Stillschweigen übergehen, damit ihr nicht überdrüssig werdet und mir vor Beendigung des Gottesdienstes die Kirche verlaßt. Einige unter euch sind schließlich von weit hergekommen und haben noch einen langen Heimweg vor sich. Andere haben zuhause vielleicht Gäste oder kleine Kinder, die weinen, und andere haben keine Zeit und sind mit anderen Dingen beschäftigt. Einige aber sind krank und empfinden deshalb Überdruß . , . " 4 2 Didaktischen Intentionen seiner „Theologie fürs Volk" entspricht auch der Versuch des Honorius, seine Predigt dadurch interessanter zu gestalten, daß er eine Geschichte aus der Odyssee in seine Predigt zum Beginn der Fastenzeit einbaut 4 3 . Spätestens bei der Erwähnung des ,Anführers Odysseus', der sich von seinen Reisegefährten an den Mastbaum seines Schiffes binden läßt, um den betörenden Gesängen der drei Sirenen widerstehen zu können, war auch der letzte eingeschlafene Predigtzuhörer wieder aufgewacht. Zwar wird die Geschichte, wie nicht anders zu erwarten, mystisch-theologisch ausgedeutet: die betörenden Sirenen als die das Seelenheil bedrohenden Laster, der Mastbaum, an den sich Odysseus anbinden läßt, um die Sirenen-

40 Vgl. Speculum ecclesiae (ed. J.-P. MIGNE, Patrologiae cursus completus, Series latina, Bd. CLXXII, Sp. 829-830): „Kurzform" einer confessio mit der „Normalform" einer confessio

(ebd. Sp. 8 2 4 - 8 2 6 ) .

4 1 V g l . S p e c u l u m e c c l e s i a e ( e d . J.-P. MIGNE, B d . C L X X I I , S p . 8 3 9 - 8 4 0 ) .

42 Speculum ecclesiae (ed. J.-P. MIGNE, Bd. CLXXII, Sp. 855) (aus dem Lateinischen übersetzt). 4 3 S p e c u l u m e c c l e s i a e ( e d . J.-P. MIGNE, B d . C L X X I I , S p . 8 5 5 - 8 5 7 ) .

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gesänge zu hören, als das die Menschen rettende Kreuz Christi usw., doch wichtig ist die Tatsache, daß nunmehr auch „spannender" heidnischer Erzählstoff einen Gegenstand christlicher Predigtallegorese abgibt mit der festen Absicht, das Interesse gelangweilter Zuhörer zu wecken. Es ist deshalb in diesem Zusammenhang auch nicht weiter verwunderlich, daß Honorius auch noch ein paar rhetorische Kniffe für seine Predigerkollegen bereithält: „Wenn du aber predigst, dann sollst du nicht mit ausgestreckter Hand deine Worte gleichsam dem Volk an den Kopf schmeißen. Du sollst auch nicht mit geschlossenen Augen sprechen oder den Blick auf den Boden richten oder mit nach oben gewandtem Gesicht dastehen; noch sollst du den Kopf wie ein Verrückter hin und her bewegen, noch Grimassen schneiden; vielmehr sollst du, wie es die Rhetorik gelehrt hat, mit angemessener Gestik sprechen, die Worte sorgfältig und aus dem Alltagsbereich auswählen; Trauriges mit trauriger Stimme, Frohes mit heiterer Stimme, Hartes mit heftiger Stimme, Demütiges mit unterdrückter Stimme aussprechen. Damit die Zuhörer den Eindruck haben, sie hätten mehr die Dinge unmittelbar vor Augen, als daß sie dich reden hörten, mußt du sie ihnen mit entsprechenden Worten vorstellen" 4 4 .

4. Spätmittelalterliche Frömmigkeitsvorstellungen und Verhaltensweisen im Spiegel zeitgenössischer Kritik Der Niederländer Jan Huizinga (gest. 1945) hat in seiner berühmten Kulturgeschichte des Spätmittelalters, dem 1919 erstmalig erschienenen „Herbst des Mittelalters" 45 , eine Interpretation spätmittelalterlicher Frömmigkeit gegeben, der auch jüngste Darstellungen 46 noch wesentlich verpflichtet bleiben. Huizinga und die ihm folgenden Forscher deuten spätmittelalterliche Religiosität unter zwei Aspekten, die sie als grundlegend ansehen: unter dem Gesichtspunkt einer Intensivierung und, aufs engste damit verbunden, 44 Speculum ecclesiae (ed. J.-P. MIGNE, Bd. CLXXII, Sp. 861-862) (aus dem Lateinischen übersetzt). 45 Das auf Niederländisch erschienene Buch wurde 1924 erstmalig ins Deutsche übertragen; im folgenden wird zitiert aus der deutschen Übersetzung der 6. niederländischen Ausgabe (Ausgabe der letzten Hand), die der 10. deutschen Auflage entspricht (Kröner-Tb. 1969). 46 Vgl. etwa den Überblick bei P. DINZELBACHER, Religiosität/Mittelalter, in: DERS. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993, S. 120-137, hier S. 132-135 über spätmittelalterliche Frömmigkeit.

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unter dem Gesichtspunkt einer Quantifizierung. Im Unterschied zu früheren Epochen sei, folgen wir Huizinga, „das Leben der mittelalterlichen Christenheit ... in all seinen Beziehungen durchdrungen, ja völlig gesättigt von religiösen Vorstellungen" 47 . Der niederländische Mentalitätsforscher hat die einzelnen Bereiche benannt, in denen sich die Intensivierung und Quantifizierung des religiösen Moments niedergeschlagen hat: Vervielfacht haben sich die Zahl der religiösen Orden, die Zahl der Heiligen und der Festtage. Der Prunk, den die Kirche entfaltet, nimmt zu. Die Intensivierung der Völksfrömmigkeit führt aber auch gleichzeitig zu einer Profanierung des Heiligen, zu einem Verlust an Numinosem, weil alles „Heilige in die Sphäre des Alltäglichen" (Huizinga) gezogen wird. Die Heiligen sind in der Form der zahllosen Heiligenbildchen unmittelbar verfügbar. Durch das Tragen von Amuletten und Rosenkranzbeten kann man ihre Intervention geradezu erzwingen. So einig man sich in der Forschung bei der Beschreibung spätmittelalterlicher Frömmigkeitstypen ist, so weitgehend einig ist man sich bei deren Erklärung. Auch hier hatte Huizinga den Weg gewiesen, als er - unter Berufung auf den Kulturhistoriker J. Burckhardt (gest. 1897) - Intensivierung und Quantifizierung des religiös-christlichen Lebens im Spätmittelalter „historisch" erklärte. Im Unterschied zum frühen und hohen Mittelalter habe sich im Spätmittelalter das Christentum endgültig auch im „Volk" durchgesetzt. Die besondere Intensität und Quantität allen religiösen Lebens sind nach dieser Meinung letztlich Ausdruck einer endlich abgeschlossenen inneren Christianisierung der breiten Massen. Huizinga zeigt sich damit in seiner Deutung spätmittelalterlicher Frömmigkeitstypen letzlich dem Konzept der „Volkskultur" verpflichtet. Denn die spätmittelalterliche Völksreligiosität, wie er sie beschreibt, ist eine einfache, primitive, weil stark „abergläubige" Formen aufweisende Religion. Die Bedeutung, die im späten Mittelalter der visuellen Darstellung zukommt, erklärt sich vor dem Hintergrund ihrer im Vergleich zum Buch unvergleichlich besseren Eingängigkeit: „Die Bilder sind die Bücher der Einfältigen" (Huizinga). Interessanterweise ist dieses für die spätmittelalterliche Volksreligiosität häufig verwendete historische Erklärungsmodell keine Entdeckung moderner Forscher. Aufmerksame zeitgenössische Beobachter und Kritiker haben bereits damals gewisse Strukturmerkmale des religiösen Lebens historisch erklärt. Ihre scharfe Kritik läßt erkennen, welch große Bedeutung gewisse

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HUIZINGA,

Herbst des Mittelalters, S. 210.

Spätmittelalterliche Frömmigkeit

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Frömmigkeitsvorstellungen und Frömmigkeitspraktiken im alltäglichen Leben des Spätmittelalters erlangt haben müssen. Ihre Kritik wird auch gleichzeitig zu deren Spiegel, wie an einem besonders klarsichtigen Autor des Spätmittelalters gezeigt werden soll. So hat der französische Theologe und Rektor der Pariser Universität Jean Gerson (gest. 1429) das Überhandnehmen abergläubischer Praktiken unter den Christen seiner Tage entwicklungsgeschichtlich erklärt. Gerson ist durchaus ein scharfer Kritiker des Aberglaubens, bringt aber doch insoweit Verständnis für solche Praktiken auf, weil er sie als christliche Kompensationsversuche einfacher Leute (idiotae et stulti) sieht, denen man ihre heidnischen Götter weggenommen hat. Im Zusammenhang seines Kampfes, der sich gegen abergläubische Vorstellungen von speziellen Unglückstagen, wie z. B. dem Tag der Unschuldigen Kindlein (Dies Innocent(i)um: 28. Dezember) richtete, schreibt Gerson: „Solche falsche Leichtgläubigkeit und solch ersonnener Brauch kommen bisweilen erstens aus dämonischer Einflüsterung Und Täuschung mit dem Ziel der Verdammung der Seelen, Zerstörung des christlichen Glaubens und der Beschimpfung der Heiligen, oder aber zweitens aus der Tatsache, daß man den antiken und heidnischen und anderen Götterglauben aufgegeben hat, wie man es häufiger zu Beginn einer Bekehrung zum christlichen Glauben finden konnte" 4 8 . Überhaupt sind für Gerson seine differenzierten Erklärungsversuche typisch. Der historische Ansatz ist nur einer neben vielen anderen, um abergläubische Verhaltensweisen zu erklären. Aberglauben ist für den Pariser Theologen eine Geisteskrankheit, die, obschon sie sich in vielerlei Erscheinungsformen zeigt, als „Melancholie" bezeichnet wird. Bei seiner Diagnose unterscheidet er zwischen endogenen und exogenen Faktoren. Außer der bereits erwähnten Einwirkung von Dämonen und den durch den Verlust alter heidnischer Götter ausgelösten Schock weist er hin 3) auf den Einfluß der Dichter; 4) auf die bösartige Tradition der Magier; 5) auf eine innerliche Verderbnis der Kräfte des Begehrens und des Verstandes; 6) auf die mangelnde Widerstandskraft von Phantasie und Vorstellungskraft, „was daran erkennbar ist, daß alte Frauen, Knaben und Mädchen und ungebildete Leute leichter dazu neigen, solchem Aberglauben zu vertrauen und ihn zu bewahren ..."; 7) resultiert diese Verstandeskrank48 J. Gerson, Contra superstitiosam dierum observantiam, in: P. GLORIEUX (Hg.), Jean Gerson, Œuvres complètes, Bd. X, L'œuvre polémique, 1973, S. 116-121, hier S. 119 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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heit „aus früher Kindheit durch einfältige Mütter und Ammenmärchen. Ammen und Mütter freuen sich, solche Geschichten zu erzählen, und das jugendliche Alter empfindet keinen Widerwillen; denn was die Jugend gelernt hat, bewahrt das Alter"; 8) ist zu nennen „die menschliche Angst und das fehlende Vertrauen auf Gottes Hilfe und die Sucht der Neugierde, um die Zukunft zu kennen"; 9) schließlich „die hochmütige Anmaßung der Menschen, die sich gerne als Kenner der wunderbaren Dinge darstellen und die Wissenschaftler verachten"; 10) sind für Aberglauben verantwortlich zu machen „gewisse ausgeklügelte Betrügereien, um andere zu täuschen und lächerlich zu machen, wofür namentlich einige unter den Scholaren und andere Betrüger in Frage kommen"; 11) ist zu nennen „die Lektüre von Romanzen, d. h. auf französisch verfaßten Büchern ... bei denen der größte Teil der Sachen erdichtet ist, mehr um damit eine Neuigkeit zu bringen und um Bewunderung zu erlangen, als um Wissen um die Wahrheit zu vermitteln"; 12) muß man „den Ungehorsam, die mangelhafte Verehrung und Kenntnis des göttlichen Gesetzes nennen; ein Zeichen hierfür ist, daß die Abergläubischen leichter Worten und Schriften und lügnerischen Erzählungen glauben, seien sie auch noch so unwahrscheinlich, als daß sie der göttlichen Autorität und ihren Doktoren glauben; so lassen sie sich auch leichter verleiten, sehr schwierige Dinge zu tun, zur Einhaltung bestimmter Fastenzeiten und zu gewissen Gebeten und zu Gelübden wie zum Beispiel gegenüber der heiligen Katharina, als daß sie dazu zu bringen sind, die einfachen vom christlichen Glauben gebotenen Werke zu verrichten wie z. B. das kirchliche Fasten, das sie viel leichter brechen, als daß sie von ihrem bei weitem aufwendigeren Aberglauben ablassen .. , " 4 9 Immer wieder hat Gerson auf die Kraft der Vernunft gesetzt. Als guter Psychologe hat er gewußt, wie leicht beispielsweise ein Unglücksfall dem Einwirken magisch-numinoser Kräfte zugeschrieben wurde, obwohl sich eine rationale Erklärung dafür durchaus anbot: „Schließlich ist nichts trügerischer als traditionelle Ansichten des einfältigen Volkes, das wie häufiger zu beobachten, aus einer nicht vorhandenen Ursache eine solche erfindet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Irgendeiner stürzt auf einer glatten Straße von seinem Pferd, das zügellos und ungezähmt ist, oder er ertrinkt in einem Fluß. Sobald das Volk von dem Vorgang erfahren hat, haben ganz verschiedene Leute ganz verschiedene Ansichten 49 J. Gerson, Contra superstitiosam dierum observantiam (in: Œuvres complètes, Bd. X), S. 119-120 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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über die Gründe dieses Unfalls, die jedoch alle in keinster Weise zutreffen: Der eine wird sagen, daß er beim Verlassen des Hauses einem Kater oder einem Hasen begegnet ist, oder daß er sich beim Verlassen des Hauses den Fuß angestoßen hat, oder daß er frühmorgens sein Hemd verkehrt herum angezogen hat, oder daß er den linken Schuh statt den rechten Schuh angezogen hat, was der Kaiser Augustus für ein Unglückszeichen gehalten hat. Ein anderer wird sagen: ,Ich habe folgendermaßen geträumt: ein Rabe auf dem Dach hatte gekrächzt, oder ein Uhu war klagend darüber hinweggeflogen, oder ein Hahn hatte zu unnormaler Zeit gekräht'. Ein anderer wird sagen: ,Es war ein schlimmer und unheilverkündender Tag'. Ein anderer wird sagen: ,Es war vierter Mond oder siebter Mond oder die Sonne war bei ihrem Aufgang hinter Wolken verborgen und hatte nur fahl geschienen, oder ein Stern war herabgefallen und hatte in der Luft geleuchtet; oder, wie man beim Komiker (Terenz) liest: Ein fremder schwarzer Hund betrat das Haus, eine Schlange war vom Dach herunter durch die Vorhalle ins Haus geschlichen; ein Hahn hat gekräht; der Wahrsager, der Vogeldeuter, beziehungsweise der Astrologe, hat verboten, vor der Wintersonnenwende irgendetwas Neues zu beginnen'. Andere beziehen sich auf die Sitten des Menschen und sagen, es hätte einem solchen Menschen nicht gelingen können, weil er dieses und jenes getan hatte, weil er entweder seine Nachbarn beraubt, oder betrogen oder sie geschmäht habe, oder weil er von ungerechten und unredlichen Eltern abstamme. Es würde zu weit führen, alles aufzuzählen, womit die Leute sich selbst und andere täuschen, indem sie einen Grund erfinden, auch wenn es keinen Grund dafür gibt, und wenn sie durch unbewiesene Dinge etwas für gleichsam wohl bewiesen und begründet ansehen" 5 0 . Gerson und mit ihm andere „aufgeklärte" Intellektuelle haben, unter dem Aspekt einer Geschichte der longue duree5i betrachtet, den Kampf für die Vernunft und gegen den Aberglauben verloren. Ein wesentlicher Grund liegt zweifelsohne darin, daß auch eine „aufgeklärte" Kirche nicht völlig dem Numinosen entraten kann, will sie denn weiter „Kirche", zumal eine „katholische", bleiben. Auch ihre Glaubenswahrheiten sind nicht alle rational begründbar. Bei Gerson ist dieser Konflikt unübersehbar, wenn er versucht, die Bedeutung des „Wunders" für die Konzeption von „Heiligkeit" herunter-

50 J. Gerson, Contra superstitiosam dierum observantiam, (in: Œuvres complètes, Bd. X), S. 118-119 (aus dem Lateinischen übersetzt). 51 Zu diesem vor allem von der französischen Forschung (F. BRAUDEL U. a.) verwendeten Konzept vgl. Kapitel I.

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zuspielen. „Wunder", definiert als „Ereignisse" contra oder praeter naturam, waren seiner Meinung nach zu einer gewissen historischen Zeit, als es noch viele Heiden und wenige Christen gab, notwendig, seien aber in der jetzigen christianisierten Gesellschaft gleichsam „überflüssig" geworden. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Tatsache, daß „Wunder gewöhnlicherweise geschehen, um die Heiligkeit desjenigen zu erweisen, der sie vollbringt." Aber Gerson schränkt seine Aussage sofort ein, indem er auf die Möglichkeit eines Heiligkeitsnachweises durch hervorragende Gelehrsamkeit verweist und in diesem Zusammenhang Augustin, Gregor den Großen, Hieronymus und Thomas von Aquin nennt, „der so viele Wunder vollbrachte, wie er strittige Fragestellungen geklärt hat" 5 2 . Es folgt eine Darlegung, aus welch unterschiedlichen Motiven früher Wunder geschehen seien, „um die Kraft ihrer (der frühchristlichen Märtyrer und Bekenner) Botschaft und den Namen Christi, in dem allein das Heil liegt, zu erhöhen ... Bisweilen geschahen Wunder, um die noch nicht völlig im Glauben Gefestigten zu stärken, weil sie möglicherweise leicht zu anderen Lehren hätten gehen können oder vom rechten Glauben hätten abirren können" 5 3 . Auf alle Fälle handelt es sich um Wunder, die durch die historische Entwicklung überholt sind. Die ,Wunder' seiner Zeit sind nach der Auffassung Gersons mystische Wunder, nämlich die Verwandlung' der Menschen: „Diese alten Wunder wiederholen sich täglich in der Kirche, die umso größer sind, als es keine körperlichen, sondern geistige Wunder sind; wie Augustin sagt, ist es etwas Größeres, einen Gottlosen gerecht zu machen, als Himmel und Erde zu erschaffen. So werden täglich durch Gottes Gnade aus einem Nichts, nämlich aus Sündern Engel, und aus Irdischen werden Himmlische" 5 4 . Und doch kann auch Gerson dem Wunder nicht entraten. Die zahlreichen Marienwunder, die sich ereignet haben und noch immer besonders zahlreich ereignen, geschehen Gerson zufolge nicht deshalb, um die besondere Heiligkeit der Gottesmutter zu beweisen. Vielmehr erklären sie sich aus der besonderen Liebe und Hinneigung der Gottesmutter zu den Menschen 55 . Dennoch, und darin liegt in gewisser Weise das Dilemma der Position Gersons und der Kirche begründet: Wo hört der christliche Glaube auf und 52 J. Gerson, Contra impugnantes ordinem Carthusiensium, in: Œuvres complètes, Bd. X.,S. 40 - 4 5 , hier S. 41 (aus dem Lateinischen übersetzt). 53 ebd. S. 42 (aus dem Lateinischen übersetzt). 54 ebd. S. 43 (aus dem Lateinischen übersetzt). 55 ebd. S. 44 (aus dem Lateinischen übersetzt).

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wo fängt der heidnische Aberglaube an? Gerson sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, auch die Kirche sei durch ihre religiöse Praxis dem Aberglauben verfallen, den sie an anderer Stelle bekämpfe: „Wiederum argumentieren sie (gemeint: die Anhänger des Aberglaubens und die Gegner Gersons) und versuchen, uns in einen vergleichbaren Fall hineinzuziehen. Sie sagen, geschieht denn nicht etwas Ähnliches (gemeint: abergläubische Praktiken) in der Kirche oder wird es nicht von ihr toleriert, durch gewisse Wallfahrten, durch die Bilderverehrung, durch die Weihe von Kerzen, durch die Weihe von Wachs, durch das Weihen von Wasser, durch die Teufelsaustreibung (Exorzismus)? Wird nicht täglich (von der Kirche) gesagt: Wenn er neun Tage in dieser Kirche bleibt, wenn er mit diesem und jenem Wasser übergössen wird, oder wenn er sein Gelübde vor diesem Heiligenbild ablegt, oder wenn er irgendetwas Vergleichbares macht, dann wird er bald gerettet werden, oder sein Wunsch wird sich bald erfüllen? Ich bekenne: Ich kann nicht leugnen, daß unter einfachen Christen viele Dinge unter dem Schein der Religion verbreitet worden sind, wo es heiliger gewesen wäre, man hätte darauf verzichtet. Sie müssen aber toleriert werden, weil sie nicht gänzlich ausgerottet werden können und weil der Glaube der einfachen Leute, obgleich er bei einigen Dingen nicht so vernünftig ist, durch den Glauben der Kirchenoberen geregelt und auf eine gewisse Weise verbessert wird. Dieser Glaube wird, wenigstens der Intention nach, bei allen Arten des Volksglaubens vorausgesetzt, wenn die Leute fromm und demütig, d. h. christlich denken und wenn sie bereit sind, der gezeigten Richtschnur der Wahrheit zu folgen. Die Hauptabsicht, die solchen Dingen zugrundeliegt, ist auch nicht, daß dadurch notwendigerweise etwas bewirkt wird, oder daß eine solche Hoffnung die Hauptrolle spielt und Gott hintangestellt wird, sondern daß dadurch eine fromme Einstellung gegenüber dem Glauben zunimmt und sich vermehrt und die Chance, gehört zu werden, steigt. Andernfalls, wo der Glaube verletzt wird, wird auch das göttliche Gesetz gebrochen. Es ist also sinnlos oder unverschämt, sich bei seinen Beispielen und Argumenten auf die Glaubenspraxis des ungebildeten Volkes zu beziehen und nicht darauf, was Theologen und Wissenschaftler lehren und praktizieren. Was ist schon besonderes daran, wenn Theologie und Glauben einige Verderber wie Häretiker und abergläubische Menschen als allzu blindwütige Anhänger ertragen müssen, wenn auch Medizin und Philosophie und wissenschaftliche Astrologie und schließlich jede Kunst und Wissenschaft

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bekannterweise mit derlei leben; aber das Glaubensfundament steht unverrückt" 5 6 . Ungeachtet der hier erkennbaren Distanz gegenüber der religiösen Volkskultur seiner Zeit hängt aber auch Gerson nach wie vor dem Dämonenglauben an, auch wenn er ganz offensichtlich versucht, die Bedeutung der Dämonen eher herunterzuspielen: „Und trotzdem möchte ich nicht leugnen, daß einige Menschen meistens allzu leicht auch dasjenige den Dämonen zuschreiben, dessen Entstehung durch materielle Ursachen bedingt und durch die Vernunft erklärbar ist. Denn wer könnte es leugnen, daß es im Bereich der Erfahrungswelt viele und wunderbare Wirkungskräfte, viele Wunder gibt. Aus deren Kombination, aus deren Veränderung und Zusammenstellung kommt es zu wundersamen Effekten, so wie aus der Anwendung verschiedener Spiegel, so wie aus dem schnellen Hin- und Herbewegen von Dingen . . . " 5 7 So bleibt, wie bereits Huizinga festgestellt hat, die Position Gersons seltsam unentschieden. Auch der Pariser Gelehrte entrinnt den Einflüssen volksreligiöser Frömmigkeit nicht. Auch er teilt mit seinen Zeitgenossen den Glauben an die Dämonen, auch er verehrt die heilige Gottesmutter und beteiligt sich an der starken Josephsverehrung. Man wird Verständnis aufbringen müssen für die religiöse Erregtheit der Zeit, da selbst führende Intellektuelle von ihnen beeinflußt bleiben. Und man wird sich fragen müssen, inwieweit ein historisches Erklärungsmodell allein ausreicht, um die vielen „volkstümlichen" Züge damaliger Religiosität zu erklären. Denn bei einer konsequenten Anwendung dieses Modells müßten angesichts zunehmender Zivilisiertheit und Christianisation der Gesellschaft im Laufe des Mittelalters archaisch-heidnisch-magische Praktiken eher im Rückgang begriffen gewesen sein. Das ist nicht der Fall gewesen, wie ein kurzer Blick auf frühneuzeitliche Frömmigkeit lehrt 5 8 . Ganz offensichtlich bedarf jede Gesellschaft einer massiven Portion an Irrationalität und mag ein Gutteil heutiger Irrationalität darin bestehen, eben dies leugnen zu wollen.

56 J. Gerson, De erroribus circa artem magicam, in: Œuvres complètes, Bd. X, S. 73-90, hier S. 8 3 - 8 4 (aus dem Lateinischen übersetzt). 57 ebd., S. 79 (aus dem Lateinischen übersetzt). 58 Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von R. VAN DÜLMEN (Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, 3 Bde., 1990-1994), aus denen deutlich wird, wie häufig ungebrochen „Mittelalterliches" in der frühen Neuzeit sich fortsetzt.

Bibliographie

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5. Bibliographie Allgemein: P. DINZELBACHER, Religiosität/Mittelalter, in: DERS., Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993, S. 120-136 (mit reicher Bibliographie); H. GRUNDMANN, Ausgewählte Aufsätze. Teil 1: Religiöse Bewegungen, 1976 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica, Bd. 25,1). Ketzer: H. GRUNDMANN, Ketzergeschichte des Mittelalters, 3 1978; E. LE ROY LADURIE, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324, 1975 (dt.: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor: 1294-1324, 1980, auch als Tb.-Ausgabe). Zu Wunder und Wunderverständnis: E. DEMM, Zur Rolle des Wunders in der Heiligkeitskonzeption des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), S. 3 0 0 - 3 4 4 ; P.-A. SIGAL, L'homme et le miracle dans la France médiévale, 1985; D. HARMENING, Superstitio, 1979. Mittelalterliche „Volkskultur" und „Volksreligiosität", Magie und Aberglauben: A. FRANZ, Die kirchlichen Benediktionen, 2 Bde., 1909 (Ndr. 1960); D. DELARUELLE, La culture religieuse des laies en France au X I e et XII e siècles, in : I laici nella .societas Christiana' dei secoli XI e XII (Miscellanea del Centro di Studi Medievali 5), 1968; R. MANSELLI, La religion populaire au moyen âge, 1975; DERS., Simbolismo e magia nell'alto medioevo, in: Simboli e simbologia nell'alto medioevo (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo 23), 1976, S. 2 9 3 - 3 2 9 ; DERS., Resistenze dei culti antichi nella pratica religiosa dei laici nelle campagne, in: Christianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell'alto medioevo: espansione e resistenze (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 28/1), 1982, S. 57-108; Santi e Demoni nell'Alto Medioevo occidentale (secoli VI-XI) (Settimane di studio ... sull'Alto Medioevo Bd. 36), 1989 (enthält zahlreiche einschlägige Referate des Spoletiner Frühmittelalterkongresses, das dem Thema .Heilige und Dämonen' gewidmet war); L. THORNDIKE, A History of Magic and Expérimental Science, 8 Bde, 1923-1958; R. KIECKHEFER, Magic in the Middle Ages, 1989 (dt.: Magie im Mittelalter, 1992, auch als Tb.-Ausgabe); M. BLÖCKER, Wetterzauber. Zu einem Glaubenskomplex des frühen Mittelalters, in: Francia 9 (1981), S. 117-132; C. DAXELMÜLLER, Zauberpraktiken, 1993; J.-C. SCHMITT, Heidenspaß und Höllenangst, 1993; A. J. GURJEWITSCH, Mittelalterliche Volkskultur, 2 1992; H.-J. GILOMEN, Volkskultur und Exemplaforschung, in: J. HEINZLE (Hg.), Modernes Mittelalter, 1994, S. 1 6 5 - 2 0 8 ; R. KÜNZEL, Paganisme, syncrétisme et culture religieuse populaire. Réflexions de méthodes, in: Annales. E. S . C . 47 (1992), S. 1055-1069. Heilige/Reliquienwesen: P. BROWN, The Cult of the Saints: Its Rise and Function in Latin Christianity, 1981 ; A. ANGENENDT, Heilige und Reliquien, 1994; H. FICHTENAU, Zum Reliquienwesen des früheren Mittelalters, in: DERS., Beiträge zur Mediävistik 1, 1975, S. 108-144; P. J. GEARY, Furta sacra, 1978; A. VAUCHEZ, La Sainteté en Occident aux derniers siècles du Moyen Age d'après les procès de canonisation et les documents hagiographiques, 1981. Hildegard von Bingen: H. SCHIPPERGES, Hildegard von Bingen, 1995. Marienvorstellungen: K. SCHREINER, Maria, 1994 (mit reicher Literatur); G. SIGNORI, Maria zwischen Kathedrale, Kloster und Welt, 1995. Jenseitsvorstellungen: Vgl. dazu Kapitel IX.

Schlußbetrachtung

Am Ende einer .Einführung' mag es erlaubt sein, eine Art Bilanz zu ziehen. Und so wie bei einer Bilanz stehen auch im Fall der Mentalitäts- und Vorstellungsgeschichte Aktiva und Passiva einander gegenüber. Um mit den Aktiva, dem Positiven, zu beginnen: der Mentalitätsgeschichte gebührt das große Verdienst, wichtige Bereiche der Geschichte „wissenschaftsfähig" gemacht zu haben, beispielsweise die Geschichte menschlicher Gefühle und Affekte. Solche Themen, die traditionellerweise im Rahmen der Kulturgeschichte behandelt wurden, sind durch die Mentalitätsgeschichte aus dem Abseits herausgeholt worden, in das diese spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts geraten war. Dieses Verdienst wird der Mentalitätsgeschichte niemand nehmen können. Vielfach verbirgt sich hinter dem „inflationären" Gebrauch solcher Modewörter wie „Mentalitäts"- und „Vorstellungsgeschichte" etwas, was man früher als „Geistes-" oder „Kulturgeschichte" bezeichnet hätte, wie man mit gewissem Recht kritisch angemerkt hat. Ob man aber deswegen auf solche „neumodischen Termini" gleich verzichten sollte, muß gründlich bedacht werden. So kann Mentalitäts- und Vörstellungsgeschichte dazu verhelfen, die in Deutschland traditionell schwache Position der Geistes- und Kulturgeschichte zu stärken, nicht zuletzt dadurch, daß deren theoretisches Fundament breiter wird und ihre methodische Vorgehensweise durch Einbeziehung von Nachbardisziplinen wie z. B. der Anthropologie oder Soziologie gestärkt wird. Hinzu kommt, daß ein ausdrücklicher Verzicht auf die Mentalitäts- und Vörstellungsgeschichte bedeuten würde, daß die deutsche Geschichtswissenschaft einen Sonderweg beschreiten würde. Denn es kann keinen Zweifel daran geben, daß, einer gewissen Ratlosigkeit zum Trotz, die

Schlußbetrachtung

347

Mentalitäts- und Vorstellungsgeschichte in anderen Ländern, namentlich ihrem Ursprungsland Frankreich, längst fest etabliert ist. Und wenn mit dem Terminus einer Mentalitäts- und Vorstellungsgeschichte neues Interesse an und für Geschichte geweckt werden kann, so wäre das nicht das Schlechteste. Auch deshalb sollte man nicht auf ihn verzichten. Dies gilt gerade in Hinsicht auf die mittelalterliche Geschichte, die - man denke nur an schulische Lehrpläne, die ,Das Mittelalter' ganz oder weitgehend gestrichen haben - in ihrer Existenz elementar gefährdet ist. Ihre geringe Akzeptanz bei Schülern und Studenten wird gefördert durch ihr Anderssein, das sich ganz elementar und ganz primär schon allein aus der Sprache ergibt. Diese Alterität wird man nie überwinden können, auch nicht durch spektakuläre Mittelalter-Großausstellungen im Zeichen einer sog. event culture, zumal nicht in einer Zeit, in der Latein nur noch von einigen wenigen Spezialisten an den Universitäten beherrscht wird. Um so wichtiger ist es, auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem Mittelalter und der eigenen Gegenwart aufmerksam zu machen. Und dazu erscheinen solche Begriffe wie Mentalitäts- und Vorstellungsgeschichte in besonderer Weise geeignet zu sein. Freilich können und sollen an dieser Stelle auch gar nicht die Passiva, die Defizite verschwiegen werden. Sie lassen sich danach differenzieren, ob sie mehr formaler oder mehr inhaltlicher Natur sind. Für deutsche Kritiker der Mentalitätsgeschichte stand schon immer eher das Formale im Vordergrund. Häufig rekurrierten sie - und dies völlig zu Recht - auf die sprachlich manchmal sehr ungenügenden Übersetzungen ihrer französischen Historikerkollegen. Doch dieser Vorwurf kann nicht die Autoren, sondern nur die Verlage, ihre Lektoren und Übersetzer, treffen. Eine tiefere inhaltliche Auseinandersetzung in Rezensionen und Aufsätzen blieb und bleibt eher die Ausnahme 1 . Stattdessen werden mit einer gewissen Schadenfreude „Schnitzer" der ausländischen Fachkollegen registriert, doch wirkt eine solche Kritik, so gerechtfertigt sie sachlich auch ist, gemessen am Anspruch der rezensierten Werke, mitunter ein wenig hart 2 . Ein anderer Vorwurf, der sich auf die formale Vorgehensweise vieler Mentalitätshistoriker bezieht, ist ungleich schwerwiegender, läuft er doch 1

Vgl. dazu den im Vorwort S. 9 mit Anm. 1 zitierten Aufsatz von O. G. OEXLE.

2

Korrektur einer „skandalöse(n) Fehldeutung" Georges Dubys durch W. HARTMANN in seiner Rezension einer Aufsatzsammlung des französischen Mediävisten (Wirklichkeit und höfischer Traum, 1990) in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 47 (1991), S. 357. - Ungleich sarkastischer und ironischer H. BOOCKMANN in seiner Besprechung von

348

Schlußbetrachtung

darauf hinaus, die „Wissenschaftlichkeit" der Mentalitätsgeschichte insgesamt zu bestreiten. Er richtet sich insbesondere an die Adresse desjenigen, der als einer ihrer renommiertesten und einflußreichsten Vertreter gelten darf, an den 1919 geborenen Georges Duby, den großen alten Mann der mediävistischen Mentalitätsgeschichte 3 . Tatsächlich hat er sich in seinen Arbeiten seit den siebziger Jahren von usueller (deutscher) Historikerprosa am weitesten entfernt. Dies gilt insbesondere für seinen dezidiert erklärten Abschied von einem aufwendigen wissenschaftlichen Apparat. Als renommierter Star der Historikerszene, den man in Frankreich längst heiliggesprochen hat, hat es Duby seit den siebziger Jahren, seit seiner Berufung von der verschlafenen Provinzuniversität Aix-en-Provence an das renommierte Collège de France, gar nicht mehr nötig, sich am „Fußnotendialog" zu beteiligen. Der Nachteil einer solchen Verfahrensweise liegt auf der Hand: die Nachprüfbarkeit getroffener Aussagen wird entscheidend erschwert 4 . Aber seien wir doch einmal ehrlich: wieviele Fußnoten werden nicht von Historikern einzig und allein in rhetorisch-strategischer Absicht gemacht, nämlich um den Fachgenossen zu demonstrieren, daß man die allseits akzeptierten Spielregeln der Zunft beherrscht, daß man insbesondere die erschienene Literatur registriert hat, was freilich noch lange nicht bedeuten muß, daß man sie auch wirklich benutzt oder gar sich mit ihr auseinanderge-

Georges Duby (Die Kunst des Mittelalters, 1985), in: Historische Zeitschrift 244 (1987), S. 414-415. - Sehr positiv urteilt hingegen H. M. SCHALLER in seiner Würdigung des „Bouvines"-Buches von G. Duby, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 31 (1975), S. 287. 3

Mit einem wichtigen Teilaspekt Dubyscher Geschichtsschreibung hat sich vor allem O. G. OEXLE immer wieder auseinandergesetzt, vgl. etwa DERS., „Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins", in: J. MIETHKE/K. SCHREINER (Hgg.), Sozialer Wandel im Mittelalter, 1994, S. 4 5 - 7 0 , hier S. 4 9 - 5 0 . - Von G. DUBY selbst besitzen wir eine Autobiographie mit dem Titel L'Histoire continue, 1991 (dt.: Eine andere Geschichte, 1992).

4

Vgl. dazu die allzu optimistisch klingende Begründung von GEORGES DUBY: „Wenn ich mich in meinen letzten Büchern dazu entschlossen habe, die Fußnoten fast ganz verschwinden zu lassen, dann deshalb, weil ich mich nicht dazu verpflichtet fühle, meine Nachweise auszupacken, und weil ich annehme, daß die Berufshistoriker, die mich lesen, schon wissen werden, woher ich meine Behauptungen beziehe; dies tat ich aber auch in der Absicht, diesen Büchern mit dem Umschlag der Nouvelle Revue Française das Aussehen von Romanen zu geben". (G. DUBY/G. LARDREAU, Geschichte und Geschichtswissenschaft, Dialoge, 1982, S. 57-58).

Schlußbetrachtung

349

setzt hat 5 . Insofern mag Dubys spöttische Distanzierung von den Fußnoten 6 dazu anregen, nachzudenken über Sinn und Unsinn des Zitierens im Zeitalter längst unüberschaubar gewordener Sekundärliteratur und elektronischer Textverarbeitung. Auch ein anderer, stärker auf den Inhalt abzielender Vorwurf an die Adresse der Mentalitätsgeschichte muß hier genannt werden: die starke Literarisierung der Texte, wie sie vor allem im Falle der französischen Mentalitätsgeschichtsschreibung unübersehbar ist 7 . Auch hier bietet das metapherngesättigte Werk von Georges Duby reiches Anschauungsmaterial. Die Metapher dient ihm vor allem dazu, dem Leser Fremdes und Nichtvertrautes anschaulich zu machen. Insofern eignet der Metapher aufklärerischer Wert und sollte nicht von vornherein verdächtigt werden. Wenn Duby beispielsweise in seinem „Bouvines"-Buch 8 die hochmittelalterliche Schlacht als einen „Gottesdienst" beschreibt, der strengen liturgischen Formen verpflichtet sei, veranschaulicht er wesentliche Elemente einer regelhaft ablaufenden mittelalterlichen Schlacht; wenn er mittelalterliche Söldner als „Lohnarbeiter des Kampfgewerbes" bezeichnet und Ritter mit „Schauspielern" vergleicht, trifft er wesentliche Bedingungen und spezifische Verhaltensweisen, die militärische Auseinandersetzungen in der Zeit des Hochmittelalters prägten. Auch wenn Duby die Metaphorik manchesmal etwas übertrieben zu haben scheint, so muß doch die Literarisierung per se nicht etwas Negatives sein. Dies muß mit Nachdruck gesagt werden, denn allzuoft wird in Deutschland die Literarisierung der Geschichtsschreibung sehr mißtrauisch betrachtet. Die Gründe hierfür liegen tief und scheinen spezifisch „deutsch" zu sein. Sie hängen zusammen mit der geringen Reputation des „Literaten", der in Deutschland immer schon weniger als poeta doctus gefeiert, denn als „Schreiberling" geschmäht worden ist. Zudem kann entschuldigend, wenn

5 Zur rhetorischen und strategischen Funktion von Fußnoten im wissenschaftlichen Diskurs des Historikers, der damit zeigen will, daß er Fußnoten verwendet und damit die Spielregeln der Zunft beherrscht ("take note that there are notes" - "the historian is playing the game by the rules"), vgl. P. CARRARD, Poetics of the New History, 1992, S. 160-164. 6 „... das Phänomen einer Alibiforschung: eine gewaltige Dunstwolke, bestehend aus den von Ihnen (gemeint: sein Gesprächspartner G. Lardreau) zu Recht monströs genannten Bibliographien und einer Anhäufung von Fußnoten, die die Armut der Resultate verdecken" (DUBY/LARDREAU, Geschichte und Geschichtswissenschaft, wie Anm. 4, S. 53). 7 Dazu grundlegend CARRARD (wie Anm. 5). 8 Vgl. dazu oben Anm. 2.

350

Schlußbetrachtung

denn eine Entschuldigung überhaupt angebracht und nötig ist, darauf hingewiesen werden, daß sich Mentalitätshistoriker zu ihrem literarischen Anspruch bekannt haben. Duby hat nie ein Hehl aus der von ihm intendierten Literarisierung gemacht 9 . Im übrigen wissen wir dank der Arbeiten des amerikanischen Historikers Hayden White, daß auch eine noch so nüchtern daherkommende Geschichtsschreibung literarischen Verfahrenstechniken notwendigerweise nicht entraten kann 1 0 . Denn um es mit dem Titel eines seiner bekanntesten Werke zu formulieren: „Auch Klio dichtet" 1 1 . Es ist eine Illusion vieler Historiker zu glauben, sie könnten dem „Erzählen" in irgendeiner Weise entkommen. „Erzählen" muß jeder Historiker, auch der nüchternste 12 . Der bewußte Versuch, darstellerisch-formalen Ansprüchen zu genügen, hat dazu geführt, daß viele Texte der Mentalitätshistoriker durch narrative Elemente geprägt sind. Geschichte wird anhand von Geschichten erzählt. Beispielsweise „erzählt" der Mediävist Emmanuel Le Roy Ladurie in seinem von uns bereits mehrfach erwähnten „Montaillou-Buch", das mit weit über zweihunderttausend verkauften Exemplaren allein in Frankreich zu d e m Bestseller der Mentalitätsgeschichte geworden ist, nicht nur die Geschichte des Pyrenäendorfes Montaillou zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Er erzählt auch die Geschichte des katharischen Predigers Guillaume Bélibaste, der seinen eigenen Idealen immer wieder untreu wird; er erzählt auch die Geschichte des einfältigen Schäfers Pierre Maury genauso, wie das Buch die Liebesgeschichte zwischen der verwitweten Gräfin Béatrice de Planissoles und dem intriganten Ortspfarrer Pierre Clergue schildert.

9 Vgl. dazu dessen Autobiographie .L'Histoire continue' (wie Anm. 3 und seine .Dialoge' mit Guy Lardreau (wie Anm. 4). 10 Seine wichtigsten Werke liegen mittlerweile auch in Übersetzung vor: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, 1973 (dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, 1991, auch als Tb.-Ausgabe); Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, 1978 (dt.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen, 1986, auch als Tb.-Ausgabe); The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, 1987 (dt.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, 1990, auch als Tb.-Ausgabe). 11 Vgl. Anm. 10. 12 Vgl. dazu White's Analyse des als „nüchterner Vermittler von Fakten" geltenden Historikers A. J. P. Taylor anhand einer Textpassage aus dessen Buch „The Course of German History. A Survey of the Development of Germany since 1815 (1946), in: WHITE, Auch Klio dichtet (wie Anm. 10, hier zitiert nach der Tb.-Ausgabe 1991), S. 132-135.

Schlußbetrachtung

351

Freilich können die Gefahren, die solch stark narrative Texte mit sich bringen, auch nicht verschwiegen werden. Auf alle Fälle fördern sie das voyeuristische Bedürfnis, das jedem Leser, zumal dem Leser historischer Literatur, immanent ist, und das auch denjenigen erfüllt, der „nur" der Ranke'schen Forderung an die Geschichtswissenschaft, darzustellen, „wie es eigentlich gewesen ist", nachkommen will. Vielleicht hängt die Beliebtheit narrativer Mentalitätsgeschichte ja auch damit zusammen, daß moderne Literatur oft auf herkömmliches Erzählen verzichtet und deshalb auch die Erwartungen der weitgehend konventionellen Erzähl strukturen verhafteten Leserschaft nicht mehr befriedigen kann. Insofern wäre die Konjunktur narrativer historischer Literatur gleichzeitig Ausdruck eines „Versagens" rein fiktionaler Literatur. Die Hochzeit der Mentalitätsgeschichte in den sechziger und siebziger Jahren fiel in Frankreich zusammen mit der Blütezeit des sog. Nouveau Roman (Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet u. a.), der sich von herkömmlichen Erzählstrukturen verabschiedet hatte. Ob die Mentalitätsgeschichte mit ihrem Konzept einer stark narrativen Geschichtsschreibung nun einen Fortschritt oder einen Rückschritt bedeutet, mag dem Urteil eines jeden einzelnen überlassen bleiben. Ein Vorwurf kann freilich der Mentalitätsgeschichte nicht erspart werden. Nicht immer ist es ihr gelungen, ihrem eigenen, grundlegenden methodischen Anspruch gerecht zu werden, auf den sich ihre Vörgehensweise stützt: der Historiker müsse bei seiner Arbeit von historisch verschiedenartigen, durch Raum und Zeit differenzierten Mentalitäten ausgehen. Die Mentalitätsgeschichte und ihre Vertreter müssen sich vielmehr den gleichen Vorwurf gefallen lassen, den sie selbst immer gegenüber den Vertretern traditioneller Geschichtswissenschaft erhoben haben, nämlich nicht ausreichend von der eigenen Mentalität abstrahieren zu können. Dies gilt für die romantische Sehnsucht von Philippe Aries nach einem „gezähmten Tod", den er im Mittelalter vermutet, ebenso, wie beispielsweise für die Rekonstruktion männlicher Ritter- und Frauenmentalität durch Georges Duby, der der eigenen Phantasie vielleicht manchmal allzusehr Raum gegeben hat 1 3 . Damit eng zusammen hängt ein weiteres Problem, auf das insbesondere O. G. Oexle in der Besprechung des Buches „Die drei Ordnungen" von Georges Duby aufmerksam gemacht hat. Das häufige Ausgehen vieler Mentalitätshistoriker von der Moderne kann dazu führen, daß eigene Prämissen die Interpretation beeinflussen. Im Falle des zitierten Werkes von Duby

13 Vgl. dazu unser Beispiel oben S. 288 mit Anm. 18.

352

Schlußbetrachtung

bleibt die ideologische Ausdeutung und Benutzung des sog. Dreiständemodells, das zwischen „Betern", „Kriegern" und „Arbeitern" unterscheidet, im Zeitalter des Ancien Régime und noch lange darüber hinaus unbestritten. Dieser Umstand muß aber nicht automatisch bedeuten, daß dieses Modell bereits zum Zeitpunkt seiner „Entstehung" bzw. in dem Zeitraum, in dem es verstärkt zum Gegenstand der Reflexion wurde, also etwa im ausgehenden 10. und im 11. Jahrhundert, „ideologischen" Zwecken diente 1 4 . Die suggestive Erklärungskraft, die vielen Werken der Mentalitätsgeschichte innewohnt, scheint damit zusammenzuhängen, daß sie beim Leser gewohnte Bilder und Klischees abrufen. Ihm höchst Vertrautem begegnet er in fremden Zeiten wieder, die damit ein Gutteil ihrer Fremdartigkeit verlieren. Auch in Montaillou zu Beginn des 14. Jahrhunderts hat man sich geliebt und gehaßt, geschlagen und vertragen, hat man geklatscht und getratscht, hat man gelebt und ist man gestorben. Im Prinzip, so lautet eine Botschaft des Montaillou-Buches von Le Roy Ladurie, hat sich nicht sehr viel verändert. Auch die Mentalitätsgeschichte, zumal ihre hervorragenden Vertreter, hat also immer die Bedeutung anthropologischer Konstanten anerkennen müssen, welche die conditio humana ausmachen. Die Diskussion wird künftig wohl auch und vor allem davon ausgehen müssen, inwieweit solche anthropologischen Grundkonstanten geschichtlich wirksam gewesen sind oder nicht, ob man beispielsweise „Liebe" für eine anthropologische Konstante hält oder nicht, ob sie auch im Frühmittelalter menschliches Verhalten beeinflußt hat oder nicht. Den Spielraum auszuloten, der dem einzelnen in seinem „Menschenalter" (A. Esch) 1 5 verblieb angesichts seiner Bindungen an anthropologische Konstanten einerseits und seinem Unterworfensein unter die spezifisch historischen Bedingungen seiner Epoche andererseits, wird die vornehmste Aufgabe jeder Mentalitäten-, Vorstellungs- und Wahrnehmungsgeschichte bleiben.

14 V g l . OEXLE ( w i e A n m . 3 ) .

15 Zur Bedeutung des Begriffes („Menschenalter ist der vertraute, dem Wiedergänger verschlossene, von Gegenwartsbewußtsein erfüllte Raum innerhalb der Reichweite mündlicher Tradition; Menschenalter ist empfundene Periodisierung") vgl. A. ESCH, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: DERS., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, 1994, S. 9 - 3 8 , hier S. 18.

Register I. Stellenregister

II. Personen

Folgende Abkürzungen wurden

III. Orte

verwendet:

a.

anno

jiid.

jüdisch

A.

Abt

König

amerik.

amerikanisch

Kg. Ks.

arab.

arabisch

lat.

lateinisch

atl.

alttestamentlich

literar.

literarisch

Bf.

Bischof

ma.

mittelalterlich

bibl.

biblisch

mhd.

mittelhochdeutsch

dt.

deutsch

mlat.

mittellateinisch

engl.

englisch

niederländ.

niederländisch

Erzbf.

Erzbischof

nördl.

nördlich

Frk.

Frankreich

östen.

österreichisch

geb.

geboren

östl.

östlich

gest.

gestorben

P.

Papst

frz.

französisch

röm.

römisch

Gf.

Graf

russ.

russisch

griech.

griechisch

s.

siehe

Hzg.

Herzog

südl.

südlich

Hzgtm.

Herzogtum

ungar.

ungarisch

islam.

islamisch

westl.

westlich

ital.

italienisch

I. Stellenregister Abaelard, Epístola 1 (Historia calamitatum)

194-198 Abbo von Fleury, Apologeticus

40-41; 100 Aeneas Silvius Piccolomini s. Pius II. Alkuin, Epistolae

23:188 31: 187 113: 188, 189

Kaiser

354

Register

161: 189, 190 170: 187 Vita Richarii C o n f e s s o n s 258 Andreas von Fleury, Vita Gauzlini I, 1: 8 8 - 8 9 I, 3: 89 I, 14: 8 9 - 9 0 I, 2 5 : 9 0 - 9 1 1,44: 91 Annales Stadenses a. 1204

172

a. 1207

173

a. 1212

173

a. 1230

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a. 1232

173

a. 1233

173

a. 1234

173-175

Anonymus Haserensis 16-17:80-81 19:81 20: 81 22:81-82 24: 82 Atto von Vercelli, Capitulare XLVIII : 93 Augustinus, De Genesi ad litteram II, 1: 218 11,9:218 Benedictio vel exorcismus aquae calidae, in qua manus ad iudicium mittitur 312-313 Berthold von Regensburg, Predigten 2: 1 2 5 - 1 2 6 10:129-131 Bibel Die Bücher Mose 1, 1 , 2 8 : 2 7 4 1 , 9 , 12: 180 2, 2 2 , 2 4 : 124

Stellenregister 3,25, 35-38: 124 4, 12: 278 Esdra 3, 20: 105 Hiob 41,22: 86 Psalm 135, 6 (136,6): 218 Sprüche Salomos 31,6/7: 105 23: 105 Salomo, Hohelied 2,6: 86

Tobias 11, 10-14: 248 Jesus Sirach 31,5: 123 Ecclesiasticus 36: 106 Makkabäer 1,3,4: 87 1, 9, 58 ff.: 87 10, 61ff.: 87 Matthäus 6 ,24: 123 12, 38-39:299 26, 6ff.: 248 Markus I,23-26: 304 3, 22: 309 6, 4 - 5 : 299 10,21: 132 10, 25: 132 12,43-44: 132 16, 18: 284 Lukas 9, 12: 284 II,20:309

355

356

Register

Apostelgeschichte des Lukas 9, 1 7 - 1 8 : 2 0 8 9, 8 - 1 8 : 247 Brief des Paulus an die Römer 1,27:95 13, 14: 249 14,2: 248 1. Brief des Paulus an die Korinther 7,2: 281 1. Brief des Paulus an Thimotheus 5,23:248 1. Brief des Petrus 2,21:248 Brief des Paulus an die Hebräer 12,6:245 13,4: 247 Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum 3, 37: 134 3,40:99 4, 45: 104 4, 99: 96 5,40:98 Leben, Leiden und Wunder des heiligen Erzbischofs Engelbert von Köln (Vita, passio et miracula beati Engelberti Coloniensis archiepiscopi) I, 2: 86 I,4-5:86-89 Chronicle of Solomon bar Simson 145 Cola di Rienzo, Briefe III, 3: 202 111,7:200 III, 23: 2 0 3 - 2 0 4 III, 28: 201 Corpus consuetudinum monasticarum s. Redactio Helmstadiana-Fuldensis Constitutiones Hirsaugienses II, XXXV: 314

Stellenregister

357

Dhuoda, Liber manualis IV, 8: 48 De Beato Hrosnatha martyre ordinis Praemonstratensis 226 Ekkehard IV., Casus sancti Galli 25: 104 98:103 134-135:102 141: 103 Galbert von Brügge (Galbertus Notarius Brugensis), De multro, traditione et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum 12: 118 22: 120 41:120 55: 122 58: 73 95:123 106:123 Gerbert von Aurillac (G. d'Aurillac), Epistolae 92:191 219:193 Gerhard von Augsburg, Vita sancti Uodalrici II, 11:322 II, 13: 322 II, 16: 315 Gervasius von Tilbury, Otia imperialia I, 12: 314 Gesta Treverorum 144 Gregor von Tours, Historiarum libri decem 1,47: 285 I, 48: 318 II, 2: 286 III, 20, 22, 2 6 - 2 7 : 285 Hermannus von Köln, Opusculum de conversione sua 10: 151 11:151 14:152

358

Register

Hieronymus, Adversus Jovinianum I, 2; I, 44; 1 , 4 6 - 4 7 : 2 7 6 Epistolae 22, 17,4: 273 Honorius Augustodunensis, Speculum ecclesiae 336-337 Horaz, Briefe I, 18, 8 4 : 8 7 Hugo von Trimberg, Solsequium 27: 326 29: 149 39:149 Isidor von Sevilla, De Etymologiis VIII, III, 1 - 4 : 327 Jacobus a Vorágine, Legenda aurea LVII: 306,317 LXIII: 324, 3 3 1 - 3 3 3 CXXIV: 320 Jacob von Vitry, Exempla 139:60 141:59 191: 167 Historia Occidentalis VIII: 321 Jean Gerson, Contra impugnantes ordinem Carthusiensium 256-257 Contra superstitiosam dierum observantiam 339-341 De erroribus circa artem magicam 344 Jonas von Orléans, De institutione laicali II, XXII: 49 II, XXIII: 51 Konrad von Megenberg, Ökonomik 1.2, 9: 255 1.2, 11: 256 1.2, 13:2570

Stellenregister

359

Legenda aurea s. Jacobus a Voragine L e x Baiuvariorum X , 18:179 Liber sancti Jacobi 4 (5), 7: 227 Lorscher Arzneibuch 249 Matthias von Neuenburg, Chronik 26: 127 Narrative of the Old Persecutions 147 Odo von Cluny, Vita s. Geraldi comitis I, 9 - 1 0 : 2 5 1 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica IV, 2: 57 V I I , 10: 71 V i l i , 10: 70 X, 8:70 XI, 3:66 X I I , 12: 63 X I I , 18: 65 X I I , 39: 67, 69 Pactus legis Salicae 45:178 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum V I , 24: 47 Petrarca, Francesco, L e Familiari IV, 1: 221 Petrus Alfonsi, Disciplina clericalis X I X : 182 Pius II (Aeneas Silvius Piccolomini), Commentarli rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt 1,5-6:231 X I , 1: 224 Rather von Verona, Epistolae 25: 94 29:95

360

Register

Redactio Helmstadiana-Fuldensis (Corpus consuetudinum monasticarum Bd. VII/III, 359-363) 263-264 Richer von St-Remi, Historiarum libri quattuor II, 59: 250 Richer von Senones, Gesta Senoniensis ecclesiae IV, 18: 334 Ruodlieb, Fragment V 4 5 8 - 4 6 0 : 175 522-526:175 611-621:176 Fragment VII 119-124:177 Fragment VIII 11-19:177 Salimbene von Parma, Chronik 106-107 Saxo Grammaticus, Gesta Danorum II, VI, 9 - 1 0 : 62 IV, IV, 1 - 2 : 7 6 V, 1 , 3 : 6 1 Thietmar von Merseburg, Chronik IV, 84: 260 VI, 7 0 - 7 1 : 262 Thiofrid, Vita Willibrordi 14:179 Thomas Cantimpratensis, Liber de apibus III, 57, 39: 305 Liber de natura rerum IV, 43: 281 Vergil, Aeneis VI,853: 87 Georgica I, 145: 220 Vinzenz von Beauvais, Speculum Naturale II, CXVIII: 3 0 3 , 3 1 6 XXXI, VII: 282 XXXI, VIII: 283 XXXI, IX: 282 Visio Thurkilli 234

361

Personen Visio Tnugdali (Tundali) 261 Vita Columbani I, 19: 108 Vita sanctae Hildegardis III, XXI: 3 0 7 - 3 0 9 Waltharius 1215-1220:42 1386-1395: 43 1240-1263: 43 1277;1279:44 1397-1402:44 Wilhelm von Conches, Philosophia Mundi XI, 18: 279

II. Personen Aaron: Bruder Moses 308 Abaelard: Philosoph

und Theologe

Alanus ab Insulis (Alain de Lille): Dichter (gest.

1142) 186, 193-197, 199, 205, 274 Abbo von Fleury: A. und Gelehrter (gest. 1004) 3 9 - 4 0 , 4 4 , 88, 100 Abel: Bruder Kains, atl. Gestalt 308 Abraham: Stammvater Israels, atl. Gestalt 143, 145-146 Adalbero von Laon: Bf. von Laon (gest. nach 1030)44 Adam: s. Eva, atl. Bibelgestalt 272

(gest. 1202) 217 Albert von Stade: Chronist, A. des Marienklosters in Stade (gest. nach 1256) 172 Albertus Magnus: dominikanischer Gelehrter, Bf. von Regensburg (gest. 1280) 304 Alexander: lüde in Köln 150 Alfons V. von Neapel: Kg. von Neapel (1442 bis 1458) 291 Alkuin: angelsächsischer Gelehrter (um 730 bis 804) 186-191, 194, 258

Ado: Statthalter von Friaul 45

Althoff, G.: dt. Historiker (geb. 1943) 19, 297

Adolf I. von Berg: Erzbf. v. Köln (1193 bis

Amalricus: Ritter 6 8 - 6 9

1205)86 Aeneas Silvius Piccolomini: Humanist (1404 bis 1464), 1458-1464 P. (Pius II.) 223, 227-231,291-292 Aetius, A. Flavius: röm. Heerführer (gest. 454)285-286 Agilulf: Kg. der Langobarden (590-616) 108

Ambrosius: ital. Kanzler Ks. Ottos I., Bf. von Bergamo (1023-1057) 9 4 - 9 5 Ambrosius: Bf. von Mailand (gest. 397) 306, 316-317 Ananias: Jünger Jesu 208 Andreas Capellanus: Verfasser von De Amore (zw. 1174 und 1238) 289

Agnerus: literar. Gestalt 6 2 - 6 3

Andreas von Fleury: Mönch (gest. vor 1056) 88

Agobard von Lyon: Erzbf. von Lyon (gest.

Anonymus

840)309 Aimoin von Fleury: Mönch (gest. 1002) 297

Haserensis:

Domkanoniker

in

Eichstätt, persönlicher Kapellan des Bf. Gundekar II. v. Eichstätt (1057-1075) 80

362 Anselm von Laon: Lehrer Abaelards (gest. 1117) 194, 196 Antheus : griech. Sagengestalt 73 Argait: langobardischer Adliger 46 Ariès, Ph.: frz. Historiker (gest. 1984) 27, 161,254, 259, 351 Aristoteles: griech. Philosoph (gest. 322 v. Chr.) 114,200, 280 Arn: Salzburger Erzbf. (gest. 821) 188-189 Attila: Hunnenkönig (434-453) 285 Atto von Vercelli: Bf. von Vercelli seit 924 (gest. vor 964) 93 Augustinus: lat. Kirchenvater (gest. 430) 153, 218, 221-222, 235, 238, 270-271, 299, 303, 319-320, 329, 342 Augustus: röm. Ks. (27 v. Chr-14 n. Chr.) 87, 203, 341 Averroes: Ibn Ruschd, arab. Arzt und Philosoph, Theologe, Jurist (gest. 1198) 200 Azzo Visconti: ital. Reichsvikar (1328-1339), Sohn des Galeazzo Visconti 237 Bader, F.: dt. Historiker 180 Balderich von Bourgeuil: A., Bf. und Dichter (gest. 1130) 245 Balduin: braunschweigischer Ritter 104 Baudry von Bray: frz. Ritter 64 Béatrice de Planissoles: Adlige, Geliebte des Pfarrers von Montaillou, Pierre Clergue 350 Beda Venerabiiis: angelsächsischer Gelehrter (gest. 735) 238 Bei: bibl. Gestalt 306 Below, G. v.: dt. Historiker 157 Benedikt XII.: Jacques Fournier, P. (1334 bis 1342)159 Benedikt von Nursia: Gründer des Benediktinerordens (gest. um 560) 88, 90, 246, 297 Bemardus Guidonis: frz. Donminikaner und Inquisitor (gest. 1331)330 Bernhard von Clairvaux: Zisterzienserabt (gest. 1153)55, 194,252, 306

Register Bemardus Silvestris: Dichter (gest. 1159) 217 Bernward: Bf. von Hildesheim (993-1022) 262 Bertha von Blois: 2. Ehefrau Kg. Roberts II. von Frankreich (verheiratet seit 996 bis 1003/1004) 288 Berthold von Regensburg: franziskanischer Prediger (gest. 1272) 125-126, 129, 131, 141 Bertulf: Propst in Brügge 1091 (gest. 1127) 72 Biarco: literar. Gestalt 62 Billia: Frau des Römers Duellius 275 Bloch, M.: frz. Historiker (gest. 1944) 19-20, 23, 25, 165 Bonaventura: Ordensgeneral der Franziskaner (gest. 1274) 107 Bonifatius: Heiliger, Missions-Erzbf. (gest. 754)108 Borst, A.: dt. Historiker (geb. 1925) 23-24, 259,261 Bosl, K.: dt. Historiker (geb. 1908) 47 Bothold: Vogt 170 Boureau, A.: frz. Historiker 22 Boyle, L. E.: engl. Historiker 160 Braudel, F.: frz. Historiker (gest. 1985) 14, 21-22

Brunichilde: merowingische Königin (gest. 613)108 Bruno III.: Erzbf. von Köln (1191-1193), Graf v. Berg, Oheim Engelberts 86 Bumke, J.: dt. Germanist (geb. 1929) 53 Burcard: frz. Ritter 64 Burguiere, A.: frz. Historiker 22 Burckhardt, J.: Historiker (gest. 1897) 338 Burkhard II.: Graf von Oldenburg (gest. 1233)173 Caesarius von Heisterbach: Schriftsteller, Zisterzienserprior (gest. nach 1240) 86, 88-89, 95, 97-98, 100, 104, 133 Cancik, H.: dt. Altphilologe (geb. 1937) 271 Cassian: Mönchsvater (gest. 435) 316

363

Personen Cham: Sohn Noahs 180 Chartier, R.: frz. Historiker 25-26 Chaunu, P.: frz. Historiker 25 Chlodwig: Frankenkg. (481/82-511) 301 Cicero: röm. Schriftsteller und Politiker (gest.

Duellius: Römer 275 Duerr, H.-P: dt. Ethnologe (geb. 1943) 293 Durand: Bauer des südfrz. Dorfes La Bastide 171-172, 180

43 v. Chr.) 102, 134, 253 Clemens VI.: P. (1342-1352) 201-202 Clergue, Pierre: Pfarrer von Montaillou 350 Cola di Rienzo: röm. Revolutionär (gest. 1354)200-204 Colonna: röm. Adelsfamilie 199, 204 Columban der Jüngere: irischer Heiliger

Egilbert: Erzbf. von Trier (gest. 1101) 143 Ehrismann, G.: dt. Germanist (gest. 1941?) 55 Eid: Bf. v. Meißen (992-1015) 262 Einhard: Gelehrter, Verfasser der Vita Karoli Magni (gest. 840) 319 Ekkehard IV.: Verfasser der Casus sancti

(gest. 615) 107-108 Constantin: Mönch in Fleury 191

Galli (gest. nach 1050) 101-103 Eleonore von Portugal: Gemahlin Friedrichs III. (gest. 1467) 291 Elias, N.: dt. Soziologe (gest. 1990) 290, 293 Elisiernus: Mönch in Fleury 90 Engelbert I. von Köln: Erzbf. v. Köln (1216 bis 1225) 85-87 Engelbert I. von Berg: Gf. von Berg (1161/5-1189), Vater Engelberts I. von Köln 86 Engelbert von Isenberg: Propst von St. Georg, Bf. von Osnabrück (1239-1250) 86 Epperlein, S.: dt. Historiker (geb. 1926) 158 Esch, A.: dt. Historiker (geb. 1936), 228, 352 Etzel: Kg., Sagengestalt 42 Eva: s. auch Adam 272

Damasus: P. (366-384) 272 Daniel: Prophet 238, 306 David: bibl. Gestalt 240, 306 Dedi : fränkischer Graf 262 Deoteria: Geliebte Kg. Theudeberts II. 284 bis 285 Derold von Amiens: Bf. von Amiens (gest. 946) 249 Dhuoda: fränkische Adelige, Verfasserin des Liber manualis (841/843) 48 Dido: A. von Sens 246-247 Dietrich: Kastellan in Brügge 121 Dietrich VI. von Kleve: Gf. von Kleve (1202 bis 1260) 86 Dietrich III. von Isenberg: Bf. von Münster (1219-1226)86 Dinzelbacher, P.: österr. Historiker (geb. 1948)24, 231,259, 283,285 Dionysius von San Borgo: Freund Petrarcas, Augustinermönch 221 Dohm-van Rossum, G.: dt. Historiker 128, 237 Dostojevsky, F. M.: russ. Schriftsteller (gest. 1881)27 Dreyfus, A.: frz. Hauptmann (gest. 1935) 15, 184 Duby, G.: frz. Historiker (geb. 1919) 10, 18, 21-24, 168, 253, 286-289, 347-351

Febvre, L.: frz. Historiker (gest. 1956) 1-21, 25-28, 168 Felix von Urgel: Bf. (gest. 818) 188 Ferdulf: Hzg. von Friaul zu Beginn des 8. Jh. 45-46 Fichtenau, H.: österr. Historiker (geb. 1912) 23, 300 Flandrin, J.-L.: frz. Historiker: 278-279 Fossier, R.: frz. Historiker 158 Fournier, Jacques: s. Benedikt XII. Franz I.: Kg. v. Frankreich (1515-1547) 27-28 Franz, G.: dt. Historiker 157

364

Register

Franziskus von Assisi: Heiliger (gest. 1226) 107, 207

Gottschalk:

sächsischer

Grafensohn

(gest.

Historiker

(gest.

866/870) 328

Freud, S.: österr. Psychologe (gest. 1939) 27 Freytag, G.: Schriftsteller (gest. 1895) 167

Graus,

F.: tschechischer

1989) 29,47, 137-139,297

Fried, J.: dt. Historiker (geb. 1942) 10, 24

Gregor I.: P. (590-604) 235, 298-299, 342

Friedrich I. Barbarossa: Kg. und Ks. (1152

Gregor VII.: Hildebrand, P. (1073-1085) 71, 80, 311

bis 1190)57, 163, 180 Friedrich II.: Kg. und Ks. (1215-1250) 87, 250

Gregor von Tours: Historiograph, Bf. von Tours (gest. nach 4. Juli 593) 284-286,

Friedrich III.: Kg. und Ks. (1440-1493) 206, 228, 291-292

298, 317 Guibert

Friedrich II. von Köln: Gf. von Berg, Erzbf.

von

Nogent:

Schriftsteller

(gest.

1124)321 Guillaume Belibaste: katharischer Prediger

von Köln (1156-1158) 86 Friedrich von Wolkenstein: Bruder der Maria

zu Beginn des 14. Jh. 350

von Wolkenstein, Sohn Oswalds von Wol-

Gunther: Kg., Sagengestalt 4 2 ^ t 3

kenstein 2 0 9 - 2 1 0

Gunzo: Bf. von Eichstätt (1015-1019) 84

Fulko

IV.: Gf.

von

Anjou

(gest.

1109)

Gurjewitsch, A. J.: russ. Historiker

(geb.

1924)300, 353-356

(1067-1109) 70 Fulco von Neuilly: Pariser Prediger (gest. 1201)320

Hagen: Sagengestalt 4 2 - 4 4

Fuhrmann, H.: dt. Historiker (geb. 1926) 74 Fumagalli Beonio Brocchieri, Mariateresa: ital. Historikerin 185

Hammerstein,

Irmgard

v.: Gemahlin

des

Gf.en Otto von Hammerstein 286 Hammerstein, Otto: Gf. (gest. 1036) 286 Hannibal: karthagischer Feldherr und Staats-

Gabbai : Juden in Metz 145 Galbert

von

Brügge:

Geschichtsschreiber

(gest. nach 1128) 72, 117, 121-122, 239 Galen: Arzt aus Pergamon (gest. um 199) 277 Gallus: Heiliger (gest. um 650), Begleiter des hl. Columban 102 Gauzlinus: A. des Klosters Fleury (1004 bis 1030)88-91 Geldorf: A. des Klosters Brauweiler bei Köln (um 1170) 306-308 Geraldus: Gf. von Aurillac (gest. nach 925) 251,254, 300 Gerbert von Aurillac: Gelehrter (gest. 1003),

mann (gest. 183 v. Chr.) 220 Hartmut: A. von St. Gallen (gest. 883) 102 Hartwig II. von Bremen: Erzbf. von BremenHamburg (gest. 1207): 173 Hatto I.: Erzbf. von Mainz (891-913) 102 Hegenard: Soester Priester 98 Heinrich I.: Kg. von England (1100-1135) 63, 66, 68 Heinrich II.: Kg. und Ks. (1002-1024) 84, 286 Heinrich IV.: Kg. und Ks. (1056-1106): 80, 216, 254,311 Heinrich (VII.): Kg. (1222-1235; gest. 1242) 87

P. (Silvester II.: 999-1003) 189-194, 197,

Heinrich I.: Bf. von Augsburg (973-982) 322

199, 205-207

Heloise: Schülerin und Geliebte Abaelards

Gervasius von Tilbury: engl. Kleriker und Schriftsteller (gest. 1220)314 Giselbert: flandrischer Ritter 121 Goetz, H.-W.: dt. Historiker 10, 24, 158

194 Hergemöller, B.: dt. Historiker (geb. 1950) 137-138 Hermann: Kleriker 96

365

Personen Hermann der „Eiserne": flandrischer Ritter

Isaak ha-Cohen: Jude in Worms 147 Isidor von Sevilla: frühma. Enzyklopädist

72-73 Hermann: Herr von Lippe (gest. 1230), Bruder des Bremer Erzbf. 173

(gest. 636) 247, 252-253, 277-288, 327 Jacobus: Apostel 226, 233

Hermann von Köln: jüd. Konvertit, Verfasser

Jacques Fournier: s. Benedikt XII.

der Schrift De sua conversione (gest. nach

Jakob: atl. Bibelgestalt 308

1181): 149-152

Jakob von Vitry: frz. Prediger und

Hermann der Lahme: Gelehrter (gest. 1054) 245

Ge-

schichtsschreiberigest. 1240)58-59, 167, 252, 320 Jakob von Voragine: Erzbf. von Genua, Ver-

Hialto: literar. Gestalt 62 Hieronymus: Kirchenvater (gest. 420) 112,

fasser der Legenda aurea (gest.

1298)

316, 330

270-274, 287, 342 Hildebert: Ritter 89-90

Jean Gerson: frz. Theologe, Rektor der Pari-

Hildegard von Bingen: Äbtissin, Mystikerin

ser Universität (gest. 1429) 339-344 Johann: Kg. von Böhmen (gest. 1346) 7 5 - 7 6

(gest. 1179)250, 306-309

Johannes XXII.: Jacques Duèze, P. (1316 bis

Hildegund: Sagengestalt 42

1334)107

Hiob: atl. Prophet 245, 305 Hitler, Adolf: 167

Johannes

Honorius Augustodunensis: Philosoph und Theologe (gest. um 1137) 335-337 Hrabanus Maurus: Mainzer Erzbf. (gest. 856)

Duns

Scotus:

franziskanischer

Theologe (gest. 1308) 134 John Hawkwood: engl. Kapitän 74 Jonas von Orléans: Bf. (gest. 843) 48-50, 289 Jonathan: atl. Gestalt 87

247 Hrosnatha: selig gesprochener

böhmischer

Josef: Heiliger, Gemahl Marias 96, 344 Judas Ischariot: 103, 306

Magnat (gest. 1217) 225 Hugo de Grentemaisnil: normannischer Ritter

Julia Eustochium: Tochter der adeligen Römerin Paula 273

56 Hugo von Folieto: Schriftsteller (gest. 1174)

Julianus Hospitator: Heiliger 233 Justina: Gattin des röm. Kaisers Valentinian I.

250 Hugo von St-Victor: Philosoph und Theologe

316

(gest. 1141)329 Hugo von Trimberg: mhd. und mlat. Autor (gest. um 1313) 148-149, 325 Huizinga,

J.:

niederländ.

Kulturhistoriker

(gest. 1945) 74, 265, 337-338, 344

Kahn, J.-C.: frz. Historiker 266 Kaiphas: atl. Gestalt 331 Karl der Große: Kg. und Ks. (768-814) 164, 186-187, 1 9 0 , 2 4 7 , 3 0 1 , 3 1 9 Karl IV.: Kg. und Ks. (1346-1378) 199-200

Ingellus: literar. Gestalt 62 Iniuriosus: Galloromane 285 Innozenz III.: P. (1198-1216) 311 Innozenz IV.: P. (1243-1254) 330

Karl I. von Anjou: Kg. von Sizilien (gest. 1285)76 Karl von Flandern: Gf. (gest.

1127) 72,

117-122

Isaac: Neffe des Brügger Propstes Bertulf 72

Keil, G.: dt. Medizinhistoriker (geb. 1926) 252

Isaak: Sohn Abrahams 145-146

Klara von Assisi: Heilige, Mitbegründerin

Isaak: Jude in Mainz, Sohn des Meshullan 146 Isaak: Jude in Mainz, Sohn des Daniel 146

des Klarissenordens (gest. 1253) 207 Kolo: literarische Gestalt 61

366

Register

Konrad II.: Kg. und Ks. (1024-1039) 286 Konrad von Megenberg: Pariser Universitätslehrer,

Domkanoniker

in

Regensburg

(gest. 1374)254-256 Konradin: Staufer, Sohn Kg. Konrads IV. (gest. 1268) 76 Konstanze von Arles: 3. Ehefrau Kg. Roberts

Ludwig IX. (der Heilige): Kg. von Frankreich (1226-1270) 114, 171, 281 Lukrezia:

Gemahlin

des

Tarquinius

Collatinus; begeht der Sage nach Selbstmord, als sie von Sextus Tarquinius entehrt wurde 275 Lütge, F.: dt. Historiker (gest. 1968) 157

II. von Frankreich (verheiratet seit 1004/ 1005)288 Kuchenbuch, L.: dt. Historiker (geb. 1939) 158

Makkabäus, Judas: atl. Kriegsheld 8 6 - 8 9 Mani: Religionsstifter (gest. 277) 274 Mannheim, K.: ungar. Soziologe (gest. 1947) 185

Lamprecht, K.: dt. Historiker (gest. 1915) 23 Lardreau, G.: frz. Historiker 349

Manselli, R.: ital. Historiker (gest. 1984) 300, 310

Laurentius: Märtyrer 262

Marcellinus: Heiliger 319

Le Goff, J.: frz. Historiker (geb. 1924) 10, 17,

Marcion: (gest. 180) 274

21-22, 24, 123-124, 128, 185, 234-235, 237-238 Leonhard Wismayer: Rat Hzg. Sigismunds von Tirol: 206 Le Roy Ladurie, E.: frz. Historiker (geb. 1929) 19,21, 159-161,350, 352

Margarethe

von

Navarra:

Schwester

Kg.

Franz I. von Frankreich 28 Maria: Gottesmutter 59, 271, 324-326, 342 Maria aus Magdala: 271 Maria Magdalena: 131,272 Maria von Bethanien: 271

Leutard: Bauer aus Vertus 328-329

Maria von Wolkenstein: Klarissin 2 0 8 - 2 1 0

Lévi-Strauss, C.: frz. Ethnologe (geb. 1908)

Martha: ntl. Gestalt 40

17-19, 26, 161, Lévy-Bruhl, L.: frz. Ethnologe (gest. 1939) 16-17, 26, 300 Liudgard: Gemahlin des Markgf.en Werner 259 Liudger: Heiliger, Abt von Werden, Bf. von Mainz (gest. 809) 170 Liutnot: Höriger des Augsburger Bischofs 322 Livius, T.: röm. Historiker (gest. 17 n. Chr.) 170,219 Lömker-Schlögell, A.: dt. Historikerin 155

Martin: Heiliger, Bf. von Tours (gest. 397) Maschke, E.: dt. Historiker 128 Matthias von

Neuenburg: Chronist

Mauss, M.: frz. Soziologe (gest. 1950) 18 Mead, G. H.: amerik. Sozialpsychologe 29 Megingaud: Bf. von Eichstätt (991-1015) 80, 83-84 Melchisedek: Priesterkg. von Jerusalem, atl. Bibelgestalt 308 Meshullan: Sohn des Isaak, Mainzer Jude 146

Löwe, H.: dt. Historiker (gest. 1991) 23, 47

Meuthen, E.: dt. Historiker 206

Ludwig IV. (der Bayer): Kg. und Ks. (1314

Miccoli,

bis 1374)256 Ludwig IV.: westfränkischer Kg. (936-954) 249 Ludwig VI.: Kg. von Frankreich (1108-1137) 63-64

(gest.

1364)126

G.:

ital. Historiker

(geb.

1933)

101 Micheas: Rabbi in Trier 144 Miethke, J.: dt. Historiker (geb. 1938) 24 Moritz: Gf. von Oldenburg 172 Mose: 305, 308

367

Personen Nahama: Syrer 313

Petrus Johannis Olivi: Theologe (gest. 1296)

Naumann, H.: dt. Germanist 55

135

Nebukadnezer: Kg. von Babylon 238 Nicolaus

Sagundinus:

venezianischer

Petrus von Verona/Petrus der Märtyrer: (gest. Ge-

sandter 224

1252)323-324, 330-333 Philipp: Makedonenkönig 219

Nikolaus: Heiliger 307

Pierre Clergue: s. Clergue, P.

Nikolaus V.: P. (1447-1455) 206

Pierre Maury: s. Maury, P.

Nikolaus von Kues: Kardinal, B. von Brixen

Pius II.: siehe Aeneas Silvius Piccolomini Plato: griech. Philosoph (gest. 347 v. Chr.):

(gest. 1464) 186, 205-211 Nitschke, A.: dt. Historiker (geb. 1926) 298 Noah: atl. Gestalt 180, 308

187 Plinius der Ältere: röm. Naturforscher (gest.

Notker von St. Gallen: A. des Klosters St. Gallen (971-975) 102

79 n. Chr.) 278 Pomponius Mela: röm. Geograph des 1. Jh. n. Chr., Verfasser von De Chorographia 219

Odo Borleng: engl. Ritter 6 8 - 6 9

Porschnew, B. F.: russ. Historiker 170

Odysseus: griech. Sagengestalt 336

Prinz, F.: dt. Historiker (geb.1928) 47

Oexle, O. G.: dt. Historiker 9, 24, 30, 351

Proust, M.: frz. Romancier (gest. 1922) 15

Ordericus Vitalis: normannischer Geschichts-

Purchard: A. von St. Gallen 102

schreiber (gest. um 1141) 56, 63-65, 67, 70-71

Raimund von Aurillac: A. des Geraldus-Klo-

Otmund: frz. Ritter 64

sters in Aurillac : 191

Otto I.: Kg. und Ks. (936-973)75, 94, 191, 315

Ranke, L. v.: dt. Historiker (gest. 1886) 15, 351

Otto II.: Kg. und Ks. (961-983) 191-192

Rather von Verona: Bf. (gest. 974) 94

Otto III.: Kg. und Ks. (983-1002) 192-193

Razo: Diener des Bfs. Heinrich von Augs-

Ovid: röm. Dichter (gest. 17 n. Chr.) 196, 271

burg 322 Renouard, Y.: frz. Historiker 128 Richard de Devizes: Benediktiner aus Win-

Patroklus: Heiliger 99

chester (2. Hälfte des 12. Jh.) 111

Paula: hochadelige Römerin 273 Paulinus von Mailand: Sekretär des Bfs. Ambrosius von Mailand, Verfasser der Vita Ambrosii (gest. 412/413) 316 2 0 8 , 2 3 5 , 2 7 4 , 281,285 Diaconus:

langobardischer

258-259 Richenza: Gemahlin Kg. Lothars III. (gest.

Paulus: Apostel, s. Saulus 40, 95, 188, 200, Paulus

Richarius: Abt von St. Riquier (gest. 645?)

1141)152 Richer:

Ge-

schichtsschreiber (gest. 797) 45

Benediktiner

Richer von St. Remi:

ter (gest. 1374) 186, 198-205, 219-223,

(gest. nach 998) 249

248-249 Petrus Alfonsi: jüd.-span. Arzt (gest. um 1140): 181 Petrus de Alvernis: kgl. Amtmann im Dorf Langlade: 171-172

Vogesenklosters

Richer: Prior von St. Gallen 102

Petrarca, Francesco: Frühhumanist und Dich-

Petrus: Apostel 131, 200, 285, 319

des

Senones (gest. 1267) 333 Geschichtsschreiber

Riehl, W. H. v.: Kulturhistoriker (gest. 1897) 167 Robbe-Grillet, A.: frz. Schriftsteller (geb. 1922) 351 Robert II. (der Fromme): Kg. von Frankreich (987/996-1031) 44, 91, 287-288

368 Robert

Register le Bougre:

Pariser

Magister

und

Dominikaner (um 1230) 333-334 Robert Kurzhose: normannischer Hzg. (gest.

Sigismund: Hzg. von Tirol (1427-1496) 206, 210-211 156 Sigobard: Mönch 2 5 8 - 2 5 9 Silvester II.: s. Gerbert von Aurillac

1137)65-66

Simhaha-Cohen: Sohn des Isaak ha-Cohen 147

Robertus: Höfling 71 Rösener, W.: dt. Historiker 158

Solomon bar Simson: jüd. Chronist 144

Rolvo: literar. Gestalt 62

Spengler, O.: dt. Schriftsteller (gest. 1936)

Roscelinus: Lehrer von Abaelard (gest. nach 1120)194

167-168 Sprandel, R.: dt. Historiker (geb. 1931) 253

Rossiaud, J.: frz. Historiker 153-155, 290 Rothari: Langobardenkg. (636-652) 223 Rudolf I.: Kg. (1273-1291) 126

Tatian: Apologet und Theologe (geb. um 120 n. Chr.) 274

Rudolf IV.: öster. Herzog (1339-1365) 199

Taylor, A. J. P.: amerik. Historiker 350

Ruodlieb: literar. Gestalt 175-177, 179

Teilenbach, G.: dt. Historiker (geb. 1903) 25

Ruodpert: Armer 315

Terenz: röm. Dichter (gest. 159 vor Chr.) 341

Ruta: literar. Gestalt 62

Theodulf von Orléans: Bf. von Orléans (gest. 821)124

Salimbene

von

Parma:

franziskanischer

Chronist (gest. 1288/89) 105-107

Theophrast: griechischer Philosoph (gest. um 287 v. Chr.) 275

Salomo: atl. Gestalt, Kg. von Israel 86, 105

Theudebert II.: Kg. (gest. 612) 108, 124

Salomo III.: Bf. von Konstanz, A. St. Gallen

Theuderich I.: Vater von Theudebert II. und

(890-919)102-103

Theuderich II. 284

Samuel Cohen: Jude in Metz 145

Theuderich II.: Kg. (gest. 613) 108

Sandrat: Mönch aus St. Maximin vor Trier

Thierry von Chartres: Dichter, Lehrer in

103

Chartres (gest. 1156) 217

Sarraute, N.: frz. Schriftstellerin (geb. 1900) 351 Saul: atl. Bibelgestalt, Kg.von Israel 306 Saulus: s. auch Paulus 188, 208, 247 Saxo Grammaticus: dänischer

Geschichts-

schreiber (gest. um 1216) 60-62, 75 Schäferdiek, K.: dt. Kirchenhistoriker (geb. 1930)108

Thietmar von Merseburg: Chronist

Thiofrid: A. von Echternach (1083-1100), Verfasser der Vita Willibrordi 179 Thomas von Aquin: Scholastiker (gest. 1274) 113-114, 134, 153, 342 Thomas von Cantimpré: Enzyklopädist und

Schmid, K.: dt. Historiker (gest. 1993) 38

Hagiograph,

Schmidt, P. G.: dt. Philologe (geb. 1937) 231

1272) 2 8 0 - 2 8 1 , 3 0 4

Schnell, R.: dt. Germanist (geb. 1942) 289 Schöttler, P : dt. Historiker 23

(gest.

1018)259, 261

Dominikaner

(gest.

1270/

Thomas Beckett: Heiliger, Erzbf. von Canterbury (1161-1170) 299

Schreiner, K.: dt. Historiker (geb. 1931) 24,263

Thurkill : Bauer 233

Schröter, M.: dt. Soziologe 290, 292

Tobias: Apostel 248

Schubert, E.: dt. Historiker 216

Tundal: Ritter 260

Schulte, A.: dt. Historiker 79 Schuster, B.: dt. Historikerin 140-141, 153 Schuster, P.: dt. Historiker 153-154 Siehms, H.: dt. Historiker 124

Ulrich von Augsburg: Heiliger, Bf. von Augsburg ( 9 2 3 - 9 7 3 ) 3 1 5 , 3 2 1 - 3 2 2 241 Unfridus de Telliolo: normannischer Ritter 56

369

Personen Valentinian I.: röm. Ks. (364-375) 316

Wiefred von St. Afra: Propst 322

Vehlen, Th.: amerik. Soziologe (gest. 1929) 49

Wido von Stenford: flandrischer Ritter 7 2 - 7 3

Vergil: röm. Dichter (gest. 19 v. Chr.) 87,

Wilhelm I. (der Eroberer): normannischer Hzg.

220-222 Viktor II.: P. ( 1 0 5 5 - 1 0 5 7 ) 8 0 Vinzenz von Beauvais: Enzyklopädist, Dominikaner (gest. um 1264) 281-283, 303-316 Vollmann, B. K.: dt. Philologe (geb 1933) 42 Vollrath, H.: dt. Historikerin 19 Vovelle, M.: frz. Historiker 22

und Kg. von England (1066-1087) 56, 71 Wilhelm

II.

(Rufus):

Kg.

von

England

(1087-1100) 70-71 Wilhelm: Sohn der Gräfin Dhuoda 48 Wilhelm Adulterinus von Ypern: flandrischer Fürst (gest. 1165)72, 122-123 Wilhelm Crispinus: normannischer Ritter 64 Wilhelm von Champeaux: Lehrer von Abael-

Waleranus: Ritter 68 Walram III.: Hzg. von Limburg (1221-1226), Gf. von Luxemburg 8 6 - 8 7

ard (gest. 1121) 194-196 Wilhelm von Conches: Naturphilosoph (gest. 1 1 5 4 ) 2 1 7 , 2 1 9 , 2 7 9 , 282

Walter/Waltharius: literarische Gestalt 4 2 - 4 4

Wilhelm Lovel: frz. Ritter 67

Walter der ,Mönch': 90

Wilhelm Rufus: Magister und Notar (um

Waltger: Bürger von Eitinga bei Augsburg 322 Waithard von Magdeburg: Propst (984 bis 1012), Erzbf. von Magdeburg 1012: 261 Walther von der Vogelweide: mhd. Dichter (gest. um 1230) 217 Weber, A.: dt. Soziologe (gest. 1958) 185 Weber, M.: dt. Soziologe (gest. 1920) 133, 164, 169 Wermund: sagenhafter Kg. von Dänemark 75-76 Werner: Markgf. von der sächsischen Nordmark (gest. 1014)259

1250)171 William Fitz Stephen: Kleriker aus Canterbury (gest. 1191) 111-112 Willibald: angelsächsischer Missionar, Gründer des Bistums Eichstätt (gest. um 787) 80, 82 Willibrord:

Heiliger,

Erzbf.

von

Utrecht

(695-739) 179 Wisigarde:

Königstochter,

Verlobte

von

Theudebert II. 2 8 4 - 2 8 5 Wittenborg, Johann: Lübecker Kaufmann 129 Wotan: germanischer Gott 310

Werner, K. F.: dt. Historiker (geb. 1924) 37 Westmar: literar. Gestalt 61

Zipporah: Frau des Meshullan 146

White, H.: amerik. Historiker 350

Zola, E.: frz. Schriftsteller (gest. 1902) 184

III. Orte Aachen: 87, 186 Adria: 219, Ägypten: 146, 308 Aigues Morles: Kreuzfahrerhafen westl. von Marseille 221 Aix-en-Provence: Stadt in Südfrk. 348 Akkon: im heutigen Israel nördl. von Haifa gelegene Hafenstadt der Kreuzfahrerstaaten 58

Altenesch: Stadt an der Weser nördl. von Bremen 174 Amiata: Berg in der Toskana, nordwestl. von Orvieto 223 Andelys, Les A.: Stadt an der Seine, ca. 40 km südl. von Rouen 64 Anjou: frz. Grafschaft 70 Apennin: Gebirgszug in Italien 223

370 Aquitanien: Territorium/Hzgtm. in Südwestfrankreich 42, 90 Ärmelkanal: 56, 117, 311 Arqua: Stadt in der Nähe von Padua 199 Athen: 187 Athos: Bergkap am östl. Finger der Chalkidike 220

Register Burg Münte: in Stedingen an der Unterweser 173 Burg Schutter: in Stedingen an der Unterweser 173 Burg Seehausen: in Stedingen an der Unterweser 173 Burgund: 43, 105

Augsburg: 115,321-322 Aurillac: frz. Stadt in der Auvergne siidwestl. von Clermont-Ferrand 186, 190-191 Auvergne: Gebiet in Mittelfrankreich (Zentralmassiv) 206 Auxerre: Stadt in der Champagne 105 Avignon: 199-202, 204, 22163

Cabrières : Burg in Südfrk. 284 Calvisson: Dorf im Département Gard in Frk. 172 Canossa: Burg im toskanischen

Apennin,

südl. von Reggio Emilia 311 Canterbury : Erzbistum in Südengland 111 Châlons-sur-Marne: Stadt in der frz. Graf-

Bamberg: 84 Bastide: siidfrz. Dorf im Département Hérault 171 Beaune: Stadt südlich von Dijon 104 Bethlehem: 112 Béziers: Stadt in Südfrankreich (Languedoc) 284

schaft Champagne 196 Champagne: frz. Grafschaft 158, 328 Clermont-Ferrand: Stadt am nördl. Rand des Zentralmassivs (Frk.) 285 Cluny: nordwestl. von Mâcon gelegene benediktinische Reformabtei 45, 194, 265, 300

Bingen: 307

Corbeil: Stadt südl. von Paris 195

Bobbio: nordital. Kloster (Provinz Piacenza),

Crécy: Stadt an der Somme 75

612/615 gegründet 191, 206-207 Bodensee: 103, 108, 245

Damaskus: Stadt in Syrien 208

Böhmen: 75, 125, 225

Dänemark: 6 0 - 6 1 , 7 5 - 7 6

Bourgthéroulde: Rougemontier an der Eure

Deutschland: 9, 13, 15, 19-20, 23-25, 38,

nördl. von Paris 67 Braunschweig: 104 Brauweiler: 307-308 Bregenz: Stadt am Bodensee 108 Bremen: 172

54, 79, 147, 153, 157, 165, 167, 192, 205, 228, 346, 349 Dithmarschen: Landstrich an der Nordsee (Schleswig-Holstein) 164 Donau: 145

Brémule: Ort an der Eure nördl. von Paris 63, 66-69 Bretagne: frz. Hzgtm. 197 Bridgnorth: Burg in Südengland 65 Brixen: Stadt in Südtirol 206-208, 210 Brügge: Hauptstadt Flanderns 72, 117-120, 122

Echternach: Ort in der Eifel (RheinlandPfalz) 179 Eichstätt: Stadt südl. von Ansbach, Bischofssitz 8 0 - 8 5 Eifel: Gebirge (Rheinland-Pfalz) 246 Elbe: 192

Bruneck: Stadt in Südtirol 210-211

Elsaß: 126, 217

Burg Hagen: in Stedingen an der Unterweser

England: 15, 56, 63, 65, 67-68, 71, 74,

173

105-106, 112, 186, 228, 278, 314

Orte

371 Italien: 15, 94, 192, 199, 205-206, 220, 229,

Essex: engl. Grafschaft 233

297,331

Europa: 24, 37, 147, 186, 327 Euxinisches Meer (Schwarzes Meer): 219

Jerusalem: 58, 143 Jordan : Fluß in Israel 305

Flandern: 72, 117-123, 158, 229 Fleury (St. Bénoit-sur-Loire): Kloster unweit Orléans 39-40, 44, 88-91, 100, 191, 297

Kapital: s. R o m

Florenz: 110, 199

Kent: Grafschaft südöstl. von London 56

Foix: Stadt und Grafschaft in Südwestfrk.

Köln: 85-86, 98, 126-127, 133,

Francia:

149-152,

304

159 Siedlungs-

und

Herrschaftsgebiet

Konstanz: 102-103 Korsika: 224

der Franken 118 Frankreich: 9 - 1 0 , 13-16, 19, 21, 24, 27, 54, 57, 63-64, 105-106, 114, 153, 157-159,

La Bastide: südfrz. Dorf

171, 184, 192, 206, 259, 281, 286-289, 297, 300,347, 349-351

im

Département

Hérault 171 La Rochelle: frz. Küstenstadt nördlich der

Fraxineda: Grundstück des Klosters Fleury 89

Garonnemündung 105 Landes: frz. Küstenlandschaft südl. von Bordeaux 226

Friaul : Langobardisches Hzgtm. 4 5 - 4 6 Friesland: 164

Langlade: Dorf im südfrz. Département Gard

Gallien: 91, 178, 221

Laon: Bistum zwischen Oise und Maas in

171 Gascogne : frz. Hzgtm. 227

Nordostfrk. 44, 118

Gent: Stadt in Flandern 118, 120, 122

Le

Gildas: Kloster bei Vannes in der Bretagne 197

Mans:

Hauptstadt

der

frz.

Grafschaft

Maine 70 Lesquire: Dorf im Béarnais 161 Ligurien: 45

Griechenland: 37

Loire: frz. Fluß 318 Lombardei: ?

Harz: 216

London: 111-112, 118,228,

Hastings: südengl. Küstenstadt in der Graf-

Lorsch: Ort und Kloster östl. von Worms

schaft Kent 56

247, 252

Hemus: Berg in Thessalien 219

Lübeck: 129

Herrieden : Stadt und Stift an der Altmühl 80

Lund: schwedisches Bistum 60

Hildesheim: 262

Lüneburger Heide: 216

Hippo: Stadt an der Mittelmeerküste, im heu-

Lüttich: Stadt an der Maas (Belgien) 304,

tigen Tunesien gelegen 270

323

Hirsau: Benediktinerkloster im Schwarzwald

Lyon: 221

314 Honfleur:

Küstenstadt

und

Hafen

an

Seinemündung 311

der

Mähren: 125 Mailand: 199, 306, 330-331, 333

Ingelheim: Stadt westl. von Mainz 315

Maine: frz. Grafschaft 70

Irland: 107-108, 278

Mainz: 57, 102, 146, 152, 247

372

Register

Maulaucène: Dorf am Fuße des Mont Ventoux 220 Mekka: islam. Pilgerstadt

Paris: 20-21, 113-115, 194-195, 199, 235, 254, 289, 304, 320, 333, 339

(Saudi-Arabien)

181 Melun: Stadt südöstl. von Paris 194-196

Parma: Stadt in Oberitalien (Lombardei) 105, 237 Pavia: Stadt in Oberitalien 319-320

Meran: Stadt in Südtirol 210

Pistoia: Stadt in der Toskana 223

Merseburg: Bistum südl. von Halle 262

Poitiers: Hauptstadt der Grafschaft Poitou

Metz: 144-145

318

Mittelfrankreich: 246

Prag: 199

Montaillou: Dorf in der Grafschaft Foix süd-

Provence: 199, 204, 219, 223

westl. von Toulouse 159-162, 350, 352

Prüm: Stadt in der Eifel 246

Montamiata: s. Amiata

Pyrenäen: 221

Montbrison: Stadt in Frankreich (Loire) 111 Montecchio: Stadt in Italien (Umbrien) 74 Mont Ventoux : Berg in der Provence 219 bis 220, 222-223 Mosel: 143, 206

Regensburg: 145 Reichenau: 103-104, 245 Reims: 190, 1 9 2 - 1 9 3 , 2 4 9 Rhein: 147 Rhone: Fluß in Frk. 201, 221

Nantes: Stadt an der Loiremündung (Bretagne) 193 Neapel: 291

Ritterhausen: Zisterzienserkloster 104 Rom: 81, 113, 200-202, 204, 220, 226, 271 bis 2 7 3 , 2 7 5 , 2 7 8 , 284,319

Neckar: Fluß 116

Roskilde: dänisches Bistum 60

NTmes: Stadt in Südfrankreich (Languedoc)

Rottweil: Stadt am oberen Neckar 116

171

Rupertsberg: Berg nahe Bingen 307

Norditalien: 94, 216 Nordostfrankreich: 117

Sachsen: 75-76, 104, 164

Noricum: röm. Provinz an der Donau 256

Salerao: Bistum an der ital. Westküste südl.

Normandie: 56-57, 6 3 - 6 5

von Neapel 249

Norwegen: 229

Salzburg: 188

Nürnberg: 210, 216, 256

St-Bavo: Kloster in Flandern: 132 St-Benoit-sur-Loire: s. Fleury

Oberitalien : 45 Oefte: Stadt in der Nähe des Klosters Werden unweit von Essen 170 Olymp: griech. Gebirge 220 Orléans: Stadt an der Loire (Frankreich) 48,

88

St-Benoit-sur-Sault: Kloster in Südwestfrankreich 90 St-Donatien:

Kirche in Brügge

117-118,

120 St-Jean-de-Sorde: Ort am Jakobsweg in Südwestfrankreich 227

Orvieto: Stadt in Umbrien (Italien) 201, 237

St.-Pauls-Kathedrale: s. London

Österreich: 125

St. Gallen: Ort und Kloster südl. des Boden-

Ostfrankreich: 168

sees 101-103 St. Maximin vor Trier: s. Trier

Padua: Stadt in Oberitalien (Lombardei) 199 Palästina: 112

Santiago de Compostela: Pilgerstadt in Gallicien (Spanien) 226

373

Orte Schottland: 228-230

Thüringen: 125

Schwarzes Meer: s. Euxinisches Meer

Tirol: 206

Schwarzwald: 314

Toskana: 223

Seligenstadt: Stadt am Main, Abtei

Toulouse: 159

Senones: Vogesenkloster 333

Tours: Stadt an der Loire 186, 190, 318

Sens: Stadt in Mittelfrankreich 194

Trier: 103, 143

Siena: Stadt in der Toskana 223, 228 Sinai: Gebirge in Palästina 222

Urgel: Bistum in den Pyrenäen (Spanien):

Sizilien: 224

188

Soest: Stadt westl. von Paderborn 96, 98 Soissons: Stadt östlich von Paris 194, 329 Sonnenburg:

Benediktinerinnen-Abtei

Vannes: Stadt in der Bretagne 197 bei

Bruneck (Südtirol) 210-211

Vercelli : Stadt im Piémont (Italien) 93 Verdun: Stadt in Lothringen 284

Sorbonne: Pariser Universität 19

Verona: Stadt in Oberitalien 94

Spanien: 188,221

Vertus: Dorf in der Champagne unweit von

Sparta: 244 Speyer: 146

Châlons 328 Vienne: Zufluß zur Loire 318

Stedingen: Landschaft an der west. Unterweser 172-173 Straßburg: Stadt am Rhein 20, 116, 126-127

Werden: Kloster, heute zu Essen (NordrheinWestfalen) gehörig 170

Stridon: Ort in Kleinasien 270

Weser: 175

Süddeutschland: 125

Westfrankreich: 249

Südengland: 65

Wien: 115

Südfrankreich: 171

Winchester: 111

Südtirol: 211

Worms: 146-147

Südwestfrankreich: 159

Würzburg: 81-83

Tagliacozzo: Stadt östl. von Rom 76

York: Erzbistum an der Ostküste Großbritan-

Themse: 228 Thessalien: Landschaft in Griechenland 219

niens 190 Ypern : Stadt in Belgien 72, 123