Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters [Reprint 2012 ed.] 9783110964592, 9783484640153

The 16 articles in this volume examine interlinkings between religious and secular diction and thought-forms in the lite

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German Pages 354 [356] Year 2000

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Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters [Reprint 2012 ed.]
 9783110964592, 9783484640153

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die geheime Weltlichkeit der Legende. Fortleben und Verwandlung antik-weltlicher Erzählstoffe in der Legende
Schwierige Nähe. Reflexe weltlicher Kultur und profaner Interessen in frühmittelhochdeutscher geistlicher Literatur
Archness: The Archpoet and the Arch-Chancellor
Herrscherapotheosen. Chrestiens Erec-Roman und Konrads Karls-Legende im Kontext von Herrschaftslegitimation und Heilssicherung
Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ‘Gregorius’
Der hövesche got und der Sælden wec. Zwei ‘Erec’-Konjekturen und ihre Folgen
Des Helden bester Freund. Zur Rolle Gottes bei Hartmann, Wolfram und Gottfried
Die Hölle auf Erden. Überlegungen zum Verhältnis von Weltlichem und Geistlichem in Wolframs ‘Willehalm’
Gotteserfahrung und Du-Begegnung. Korrespondenzen in der Geschichte der Mystik und der Liebeslyrik
Umbesetzungen. Zur Liebessprache in Liedern Frauenlobs
Genealogie-Mirakel. Erzählungen vom ‘Mädchen ohne Hände’. Mit Edition zweier deutscher Prosafassungen
Märe mit Moral? Zum Verhältnis von weltlichem Sinnangebot und geistlicher Moralisierung in drei mittelhochdeutschen Kurzerzählungen
Diogenes von Sinope – geistlich und weltlich. Zugleich ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Exempel und Novelle
Belehrung zwischen Kloster und Stadt. Das ‘Witwenbuch’ des Erhart Groß
Vera religio vor den Toren der Stände. Zur ‘Eusebia’ des Antonius Schorns

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Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters

Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters

Herausgegeben von Christoph Huber, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters / hrsg. von Christoph Huber .... - Tübingen: Niemeyer, 2000 ISBN 3-484-64015-4 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Paul Sappler, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Burghart Wachinger Einleitung

1

Benedikt Konrad Vollmann Die geheime Weltlichkeit der Legende. Fortleben und Verwandlung antik-weltlicher Erzählstoffe in der Legende

17

Elke Brüggen Schwierige Nähe. Reflexe weltlicher Kultur und profaner Interessen in frühmittelhochdeutscher geistlicher Literatur

27

Peter Godman Archness: The Archpoet and the Arch-Chancellor

51

Eckart Conrad Lutz Herrscherapotheosen. Chrestiens Erec-Roman und Konrads Karls-Legende im Kontext von Herrschaftslegitimation und Heilssicherung

89

Peter Strohschneider Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns 'Gregorius'

105

Manfred Günter Scholz Der hövesche got und der Salden wec. Zwei 'Erec'-Konjekturen und ihre Folgen

135

Joachim Theisen Des Helden bester Freund. Zur Rolle Gottes bei Hartmann, Wolfram und Gottfried

153

V

Inhalt

Annette Gerok-Reiter Die Hölle auf Erden. Überlegungen zum Verhältnis von Weltlichem und Geistlichem in Wolframs 'Willehalm'

171

Walter Haug Gotteserfahrung und Du-Begegnung. Korrespondenzen in der Geschichte der Mystik und der Liebeslyrik

195

Susanne Köbele Umbesetzungen. Zur Liebessprache in Liedern Frauenlobs

213

Christian Kiening Genealogie-Mirakel. Erzählungen vom 'Mädchen ohne Hände'. Mit Edition zweier deutscher Prosafassungen

237

Victor Millet Märe mit Moral? Zum Verhältnis von weltlichem Sinnangebot und geistlicher Moralisierung in drei mittelhochdeutschen Kurzerzählungen

. . .

273

Nikiaus Largier Diogenes von Sinope - geistlich und weltlich. Zugleich ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Exempel und Novelle

291

Henrike Lähnemann Belehrung zwischen Kloster und Stadt. Das 'Witwenbuch' des Erhart Groß

305

Cora Dietl Vera religio vor den Toren der Stände. Zur 'Eusebia' des Antonius Schorns

329

VI

Burghart Wachinger

Einleitung

Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur - das Thema dieses Bandes und der Heiligkreuztaler Tagung, die ihm vorausging, beansprucht Aufmerksamkeit. Im einzelnen ist es nicht neu. Die mit ihm angesprochenen Probleme sind in der Forschungsdiskussion zu einzelnen Texten, Gattungen und Strömungen der mittelalterlichen Literatur seit langem präsent, aber sie werden selten im Zusammenhang gesehen und methodisch reflektiert. Weltliches in geistlicher Literatur - wir können nicht behaupten, wir verfügten über sichere und differenzierte Beurteilungskriterien, wenn die Welthaltigkeit geistlicher Texte über die uns geläufigen Formen und Maße hinausgeht. Gewiß wird heute niemand mehr die vergegenwärtigende Ausgestaltung biblischer Szenen im 'Heliand' als »Germanisierung des Christentums« deuten wollen. Aber bei den komischen Szenen des geistlichen Dramas sind wir schon unsicherer, und über die Frage nach den mehr impliziten und unterschwelligen nicht-geistlichen Funktionen der geistlichen Spiele ist die Diskussion noch voll im Gang. Geistliches in weltlicher Literatur - das Spektrum reicht von der interpretatio Christiana des heidnisch-antiken Erbes bis zu den unbeholfenen Versuchen der 'Klage' und der Bearbeitung C, die Nibelungentragödie mit christlichen Begriffen zu verstehen. Bei Walthers Schilderung der Magdeburger Weihnacht glauben wir die geistlichen Allusionen, ihre reichsideologischen Hintergründe und ihre aktuell-politischen Funktionen einigermaßen zu verstehen. Aber bei Gottfrieds 'Tristan' werden die unverkennbaren geistlichen Konnotationen einiger Prologpartien und die möglichen geistlichen Konnotationen des Musenanrufs und der Entdeckungsszene seit langem kontrovers diskutiert. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Die Probleme sind teils virulent, teils erst noch zu entdecken, und sie liegen poetologisch und theologisch, frömmigkeits- und ideologiegeschichtlich auf verschiedenen Ebenen. Aber es fehlt an Kategorien, sie systematisch zu sichten und die Phänomene historisch zu deuten. Der für die frühe Neuzeit viel gebrauchte Begriff der Säkularisation' scheint für das Mittelalter nicht recht zu greifen. Die fürs 1

Hermann Zabel/Wemer Conze/Hans-Wolfgang Strätz, Säkularisation, Säkularisierung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 7 8 9 829; für die Literaturwissenschaft grundlegend: Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft, Göttingen 2 1968 (Palaestra 226).

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Mittelalter sicher brauchbarere Vorstellung einer Ausstrahlung geistlicher Inhalte und Denkformen in weltliche Zusammenhänge hinein erfaßt nur einen Teil der Phänomene, nur die eine Richtung historischer Bewegung, und auch diese nicht in ihrer ganzen Komplexität. Das Thema verdient also Aufmerksamkeit und fordert grundlegende Bemühungen. Der vorliegende Tagungsband vermag es weder in seiner Fülle auszuschöpfen noch eine systematische Grundlegung zu leisten. Wohl aber möchte er die Fragestellung stärker in das Bewußtsein der Fachöffentlichkeit rücken. Was >geistlich< und was >weltlich< meint, glauben wir in etwa zu wissen. Eine kleine semantische Explikation dürfte dennoch nicht überflüssig sein. Das Begriffspaar setzt die Präsenz, wenn nicht sogar die Dominanz, einer christlichen Tradition voraus, wie sie fürs Mittelalter gegeben ist. Es ist somit historisch spezifischer besetzt als die verwandten Begriffspaare >religiös-profan< oder >numinos-alltagsweltlichgeistlich-weltlich< erhält diese allgemeine Struktur religiöser Verständigung jedoch eine spezifische Füllung, einen Bezug auf die christliche Tradition. Diese Tradition ist - gerade auch, was die Begriffe >Geist< und >Welt< betrifft - durchaus facettenreich, und sie ist an den Rändern offen genug, um auch andere Traditionen, etwa neuplatonische Tendenzen, amalgamieren zu können.2 Aber sie ist durch Bilder, Erzählungen und Kultus doch immer in spezifischer Weise präsent. Innerhalb der christlichen Tradition kann das deutsche Wort geistlich auf sehr verschiedene Sachbereiche bezogen werden, für die es in dem terminologisch ausdifferenzierteren Latein teilweise eigene Benennungen gibt. Berthold von Regensburg3 gliedert in seiner berühmten Ständepredigt die geistlichen Stände in Papst und pfaffen einerseits, geistliche liute andererseits, d.h. in Weltklerus und homines religiosi. Innerhalb des Weltklerus aber führt er die geistlichen

forsten

auf, lateinisch principes

ecclesiastici.

Ihnen wie dem ge-

samten Weltklerus ist es, wie er sagt, aufgegeben, für die Christenheit zu sorgen mit geistlichem rehte und gerihte unde mit geistlicher lere, lateinisch ius canonicum und doctrina Christiana. Religiosus, ecclesiasticus, canonicus,

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Vgl. z.B. Hennann Braun, Welt, in: Geschichtliche Grundbegriffe [Anm. 1], Bd. 7, 1992, S . 4 3 3 510, bes. S. 4 4 0 - 4 5 0 . Berthold von Regensburg, hg. v. Franz Pfeiffer und Joseph Strobel, 2 Bde., Wien 1862 und 1880, Neudruck v. Kurt Ruh, Berlin 1965, Bd. 1, S. 140-156, bes. S. 142-144.

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Einleitung

christianus - vier lateinische Äquivalente für das deutsche Wort geistlich. Dabei fehlt hier bei Berthold diejenige Bedeutungsvariante, an die sich alle übrigen erst angelagert haben: geistlich = spiritalis >vom Geist Gottes ergriffen und auf ihn hin ausgerichtete Diese ursprüngliche und zentrale Bedeutung von geistlich dürfte auch im Zusammenhang dieses Tagungsbandes die wichtigste Orientierung bieten. Sie läßt sich weiter ausdifferenzieren, wenn etwa einerseits vom spirituellen Leben der Gläubigen die Rede ist, andererseits von der spiritalis intelligentia der Schrift als einer Zusammenfassung verschiedener nicht-litteraler Deutungsweisen; aber solche Spezifizierungen bleiben doch noch relativ deutlich auf den Kernbegriff bezogen, auf den Geist Gottes, den spiritus sanctus. Weltlich, das andere Leitwort des Themas, erhält seine inhaltliche Füllung fast ausschließlich als Gegenbegriff zu geistlich. Die Rede von weltlichen Fürsten setzt die Existenz von geistlichen Fürsten voraus, die Rede vom weltlichen Recht die Existenz eines geistlichen Rechts, obwohl es Fürsten und Recht auch vor und außerhalb des Christentums gegeben hat. Das dem Adjektiv weltlich zugrundeliegende Substantiv ahd. uueralt faßte die lateinischen Begriffe mundus und saeculum in einem Begriff zusammen, griechisch κόσμος und αίών. Der eine der Ursprungsbegriffe ist wohl mehr räumlich, der andere mehr zeitlich gedacht, beide sind aber schon im Neuen Testament nahe aneinandergerückt dadurch, daß sie gemeinsam in Opposition gestellt werden zu Gott und Gottes Geist. Das kann, selten genug, noch einen Abglanz Gottes in der von ihm geschaffenen und in der Inkarnation angenommenen Welt implizieren, meist aber bedeutet es Abwertung und Abwendung. Welt heißt aus dieser Perspektive alles, was nicht auf den Geist Gottes hin orientiert ist. Gelegentlich allerdings und schon von früh an wird das Substantiv uueraltI Welt ebenso wie seine Äquivalente mundus und saeculum auch weitgehend unabhängig von jener neutestamentlichen Opposition zu Gott gebraucht, eher deskriptiv für die Ganzheit des irdischen Raums oder die Gesamtheit der Menschen und ihrer Zeit. Da mögen vor- und außerchristliche Verwendungsweisen von mundus und saeculum durchschlagen, im Falle von uueralt vielleicht auch die Etymologie. Es bedurfte jedoch bekanntlich einer langen mühsamen Geschichte, bis sich der Begriff >Welt< von der neutestamentlichen Opposition zu Gott auf breiter Front emanzipiert hat. Das Adjektiv weltlich hat an dieser Emanzipationsgeschichte nur in geringem Maße teilgenommen. Es bleibt bis heute vor allem Gegenbegriff zu geistlich, auch und gerade bei emphatischer Aufwertung. Auch die nicht allzu zahlreichen Belege für eine dezidiert positive, scheinbar autonome Verwendung des Adjektivs werltlich in der höfischen Literatur des Mittelalters - werltlicher pris, werltliche zierheit, werltlicher muot - scheinen in der Steigerung der Aussage zugleich eine Annäherung an 3

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Wachinger

überweltliche Weitungen zu insinuieren und doch noch den Unterschied zu ihnen festzuhalten.4 Die Begriffe >geistlich< und >weltlich< sind also als Gegensatzpaar aneinander gekoppelt, aber nicht symmetrisch.5 Denn der Begriff >weltlich< ist aus dem Begriff >geistlich< ableitbar, die umgekehrte Ableitung aber ist nicht möglich, mag auch alles geistliche Denken und Reden auf die Umprägung vor- und außerchristlichen Denkens und Redens angewiesen bleiben. Wenn wir von unserer heutigen Position aus nach einem langen Säkularisierungsprozeß das vor- und außerchristliche Denken und Reden des Mittelalters als >weltlich< zusammenfassen, tun wir das immer noch im Bezug auf die christliche Tradition. Auch wenn wir in der Verfolgung historischer Fragen die Wertungen dieser Tradition zu suspendieren bereit sind,6 fassen wir im Begriff >weltlich< noch immer aus christlicher Perspektive zusammen, was aus säkularwissenschaftlichen Perspektiven ganz verschiedenen Bereichen und Ebenen zugehört: Physisches und Gesellschaftliches, Alltagsweltliches und Politisches, Mythisches und Philosophisches, Komisches und Tragisches. Diese Vielgestaltigkeit des Weltlichen, die Tatsache, daß der Begriff >weltlich< nur negativ als >nichtgeistlich< bestimmbar ist, macht die größte Schwierigkeit des hier erprobten Frageansatzes aus, aber sie hebt seine Fruchtbarkeit nicht auf. Die Frage nach der wechselseitigen Durchdringung geistlicher und weltlicher Sphären im Mittelalter ist sinnvoll, weil sie einerseits eine Perspektive aufnimmt, die für die mittelalterliche Kultur überragende Bedeutung hatte, andererseits Differenzierungen fordert, die nur mit Hilfe des gesamten heute verfügbaren Spektrums wissenschaftlicher Ansätze geleistet werden können. Sich auf die Polarität von >geistlich< und >weltlich< einzulassen, ist also nur sinnvoll, wenn die Vieldeutigkeit der Begriffe auch als Ansporn gesehen wird, sie immer wieder an den historischen Phänomenen und den überlieferten Texten zu überprüfen und je neu zu präzisieren. Da mit den beiden Begriffen immer auch jeweilige Glaubensüberzeugungen und Lebensentscheidungen an-

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Vgl. etwa Reinmar MF 159, Iff.: Ich wirbe umbe allez, daz ein man ze weltlichen vröiden iemer haben sol. Besonders deutlich Gottfried von Straßburg, wenn er vom lebenden paradis im Herzen spricht, in dem wipliche güete die Früchte triuwe unde minne, ere unde weltlicher pris wachsen läßt (Tristan und Isold, hg. v. Friedrich Ranke, 18066ff., bes. 18086f.). Ich gebrauche den Begriff der Asymmetrie hier zunächst in einem etwas formaleren Sinn als Reinhart Koselleck, Zur historischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 211-259. Doch selbstverständlich ist in der Begriffsbildung selbst bereits die geschichtliche Dynamik des Einschließens und Ausschließens angelegt, um die es Koselleck geht. Sein Abschnitt über Christen und Heiden ist denn auch für unser Thema unmittelbar einschlägig. Ein rigoristisch >geistlicher< Standpunkt würde jedes emsthafte Interesse an der Fragestellung blockieren: Nemo militans Deo implicat se negotiis saecularibus (IITim 2,4).

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Einleitung

gesprochen sind, läßt sich die Grenze zwischen >geistlich< und >weltlich< nicht objektiv und ein- für allemal festlegen. Für einen Konventualen lebte ein Weltpriester weltlich, für einen strengen Observanten auch der gemäßigte Konventuale. Die spiritalis intelligentia der Heiligen Schrift, die sich in der nichtlitteralen Bibeldeutung des Mittelalters ausdrückte, war für einen reformatorischen Theologen gerade nicht vom Heiligen Geist geleitet. Die Opposition >geistlich-weltlich< bezeichnet also eine Polarität, innerhalb derer verschiedene Standpunkte möglich sind. Es gibt Leute, die - nach der schönen Formulierung von Erhart Groß - ze vil gaistlich sind.7 Die kritisieren dann vielleicht sogar einzelnes aus der Heiligen Schrift als zu weltlich, als ze fleischlich. Zum Glück müssen wir als Historiker nicht sub specie aeternitatis über Rechtgläubigkeit und rechtes geistliches Leben urteilen. Wohl aber haben wir beim jeweils untersuchten Phänomen seine Position im Spektrum der zeitgenössischen theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Möglichkeiten abzuschätzen. Die hier entwickelte Fragestellung ist für alle mediävistischen Disziplinen relevant, jede aber hat ihre spezifischen Zugangsprobleme und ihre spezifischen Chancen. Die hier vorgelegten Beiträge stammen alle von Literarhistorikern. Sie haben es also alle mit Texten zu tun, teilweise hochkomplexen Texten. Diese Texte sind in der geistlich-weltlichen Mischkultur des Mittelalters entstanden, tragen in Motiven, Strukturen, Sprache und Sichtweise die Spannungen und Verschmelzungen dieser Kultur in sich und gehen mit ihnen produktiv um, sei es unreflektiert eklektisch, sei es mit artistischer Gewissenlosigkeit, sei es mit kritischer Sensibilität. Dieser Vielfalt von Haltungen in den Texten nähern sich die Aufsätze dieses Bandes mit verschiedenen methodischen Ansätzen. In allen aber überschneidet sich die Frage nach den jeweiligen Glaubens- und Vorstellungsinhalten (und deren Bezügen zu geschichtlichen Bedingungen und Erfahrungen) mit sprachästhetisch-literarhistorischen Fragen. Angeordnet sind die Beiträge nach der Chronologie der diskutierten Texte, mit wenigen kleinen Abweichungen, wo der Gattung oder dem Thema der Vorrang gegeben wurde. Doch möchte ich im folgenden versuchen, unter systematischen Aspekten einige Verbindungslinien zwischen den einzelnen Ansätzen hervorzuheben. Für mehrere Beiträge ist die Beschreibung einer konkreten historisch-gesellschaftlichen Situation mit ihren spezifischen Kontaminationen geistlicher und weltlicher Orientierungen ein wesentlicher Bestandteil der Problementfaltung. So setzen etwa die beiden letzten, nach der Chronologie der Texte jüngsten Aufsätze dieses Bandes an. Henrike L ä h n e m a n n (S. 305-328) zeigt, wie im

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Vgl. Henrike Lähnemann, in diesem Band S. 318.

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Wachinger

'Witwenbuch' des Erhart Groß zwar alte weltlich-geistliche Denkmuster und Exempla der christlichen Witwenbelehrung verarbeitet werden, wie aber durch die Inszenierung eines Dialogs zwischen Kartäuser und Patrizierin und durch Elemente der konkret erfahrbaren Situation im Nürnberg des 15. Jahrhunderts die alten Topoi zu einer lebendigen Empfehlung einer halbgeistlichen Lebensform in der zeitgenössischen städtischen Welt werden. Cora D i e t l (S. 329348) geht vom öffentlichen Skandal einer Theateraufführung an der Heidelberger Universität im Jahre 1550 aus. Sie analysiert das aufgeführte Stück vor dem Hintergrund der Traditionen des geistlichen Dramas und eines weltlich-moralischen Ständekritikschemas, und sie zeigt, wie in der Konfessionspolemik des Stücks geistliche und weltliche Aspekte ebensowenig auseinanderzudividieren sind wie in der heftigen Reaktion der Obrigkeit auf die Aufführung. Im Hochmittelalter, wo die meisten Beiträge dieses Bandes ansetzen, sind so konkrete Situationen der Entstehung und des Gebrauchs von Literatur selten bekannt oder rekonstruierbar. Immerhin gelingt es Peter G o d m a n (S. 51-88), die Atmosphäre an dem Hof, an dem der Archipoeta seine Dichtungen vorgetragen hat, plastisch werden zu lassen: die Hochschätzung weltlich-fürstlicher Lebensformen durch den archiepiscopus electus und archicancellarius Reinald von Dassel, seine Politik für das sacrum imperium, die geistliche Argumente sehr wohl politisch zu nutzen verstand, seinen meisterhaften Umgang mit sprachlichen Ambivalenzen und sein Bewußtsein einer eigenen kulturellen Identität, die sich von der geistlich-asketischen Ausrichtung des Reformmönchtums ebenso abhob wie vom kulturellen und politischen Anspruch der Kurie. Nur bei einem solchen Gönner konnte die an geistlichen und politischen Anspielungen reiche Dichtung des Archipoeta voll zur Geltung kommen. Eckart Conrad L u t z (S. 89-104) setzt wenige Jahre später um 1170 und im Rückbezug auf Reinald von Dassel bei den Höfen zweier politisch und literarisch bedeutenden Laienfürsten an, die durch Connubium und Herrschaftsinteressen eng verbunden waren. Am Hof Heinrichs II. Plantagenet in England scheint Chretiens de Troyes 'Erec und Enide' entstanden zu sein, der erste Roman des neuen Typus, am Hof Heinrichs des Löwen in Braunschweig das sehr viel altertümlicher wirkende 'Rolandslied' des Pfaffen Konrad, dessen Vorlage vielleicht über den Hof der Plantagenets vermittelt worden war. So grundverschieden beide Werke in ihrer literarischen Faktur und Thematik sind, sie gestalten doch beide, je mit eigenen Mitteln auf ihre politische Gegenwart bezogen, in einer abschließenden Verklärung des Herrschers das Konzept einer historisch legitimierten, heilsgeschichtlich eingebundenen, weltlich-ruhmreichen, aber auf die ewige Herrlichkeit hin durchsichtigen Herrschaft, und sie unterscheiden sich damit gemeinsam z.B. von der rein fiktionalen 'Erec'-Bearbeitung Hartmanns von Aue. 6

Einleitung

Solche Wege, wie sie Godman und Lutz einschlagen, sind allerdings in jenen allzu zahlreichen Fällen nicht gangbar, in denen die Gönner unbekannt sind und ihre konkreten Interessen nicht mit vergleichbarer Plausibilität rekonstruiert werden können. So suchen denn die Beiträge von Christian Kiening und Peter Strohschneider (s. u.) den Brückenschlag zur gesellschaftlichen Wirklichkeit auf anderem Wege, indem sie die für die mittelalterliche Adelsgesellschaft zentrale Problematik genealogischer Ordnung und Kontinuität und ihrer Relationen zum göttlichen Heil in den Erzählstrukturen selbst nachzeichnen. Aspekte der Sprache und der Darstellungsmittel spielen - für literarhistorische Zugänge selbstverständlich - in allen Beiträgen eine Rolle, einige aber thematisieren sie mit besonderer Intensität. Elke B r ü g g e n (S. 27-50) demonstriert an zwei entschieden geistlichen Texten des 12. Jahrhunderts, daß schon die Kritik weltlichen Lebens und die pastorale Hinwendung zu den in der Welt Lebenden zu Beobachtung und Verarbeitung konkreter Weltumstände führt. Sie zeigt aber auch, wie in der Verfeinerung literarischer Mittel und in der Gestaltung der Sprecher-/Autor-Rolle sich Ansätze zu einer Emanzipation des Literarischen einfinden, Indizien eines nicht nur geistlich bestimmten ästhetischen Interesses. Da geistliche Rede immer die allgemeine (und das heißt auch weltliche) Sprache benutzen muß, sie aber spezifisch umprägt, und da diese umgeprägte Sprache wiederum für weltliche Rede verwendet werden kann, ergeben sich aus dem Widerspiel von allgemeiner und geistlicher Sprache Wirkungsmöglichkeiten, die von der Literatur vielfältig genutzt worden sind. Zwei besonders markante Formen, die im vorliegenden Band nicht bzw. nur am Rande thematisiert werden, seien zur Verdeutlichung der Problematik kurz angesprochen: Kontrafaktur und Parodie. Beide Begriffe werden nicht immer präzise gebraucht und sind dann fast austauschbar. Hält man sich an den Bereich unseres Themas und hier an die Kernphänomene, von denen der wissenschaftliche Sprachgebrauch ausgegangen ist, so handelt es sich um zwei Verfahren, die beide eine klare Trennung von geistlich und weltlich voraussetzen und einander entgegengesetzt, aber nicht symmetrisch sind. Kontrafaktur läßt sich im engeren Sinn bestimmen als geistliche Umdichtung eines weltlichen Liedes, in einem etwas weiteren, aber noch praktikablen Sinn als die zitathafte Verwendung weltlicher Text-, Gattungs-, Brauchtumsoder Vorstellungsmuster für geistliche Texte (z.B. geistliches Tagelied, Heinrich Seuses geistlicher Mai und geistliche Ritterschaft). Sinn des Verfahrens ist offenbar nicht in erster Linie, wie man immer wieder gemeint hat, die Verdrängung des weltlichen Musters - dabei wäre ja die Bezugnahme eher hinderlich - , sondern die Übertrumpfung: dem, was für Weltkinder schön und gültig ist, wird die höhere Schönheit und Gültigkeit der geistlichen Inhalte und 7

Burghart Wachinger

Lebensformen entgegengestellt, und die Distanz wird im Rückbezug bewußtgehalten.8 Das gegenläufige Verfahren, der parodistische Bezug auf geistliche Texte, die Verwendung insbesondere biblischer und liturgischer Sprache für dezidiert weltliche Themen, ist im Mittelalter wohl nicht von ungefähr weitgehend auf die Latinität beschränkt:9 Auf Latein waren biblisch-liturgische Redemuster klarer definiert und stärker präsent, so daß sie auch in anderem Zusammenhang leichter erkannt werden konnten; nur in der Welt der clerici scheint man sich auch den Spielraum für derartig freien Umgang mit dem Heiligen verschafft zu haben. Die Funktionen parodistischer Verfahren waren verschieden und reichten von Kritik an falschem Heiligkeitsanspruch bis zu entlastender Komik. Niemals aber war, soviel ich sehe, eine Herabsetzung des Heiligen selbst das Ziel. Beim Archipoeta dienen, wie Peter Godman (s.o.) zeigt, parodistische Bibel- und Liturgiezitate zusammen mit anderen Allusionen einer ironischen Selbstverkleinerung, die in der konkreten Situation zugleich eine Selbstempfehlung sein konnte. Nun stehen aber >geistlich< und >weltlich< keineswegs immer in so klarer Opposition, wie sie die Verfahren von Kontrafaktur und Parodie voraussetzen, weder thematisch noch sprachlich. Insbesondere die Liebessprache verfügt über einen großen gemeinsamen Fundus für weltliche und geistliche Rede. In der Regel steht dabei außer Frage, welche Liebe >eigentlich< gemeint ist. Es gibt freilich Texte, die mit artistischem Vergnügen über längere Passagen oder gar grundsätzlich offen lassen, ob sie von einer irdischen Geliebten oder von Maria sprechen. Frieder Schanze hat in einem Beitrag zur Heiligkreuztaler Tagung, der hier leider nicht abgedruckt ist, ein Lied Konrads von Würzburg in diesem Sinne gedeutet. Für den klassischen Minnesang scheint mir Rainer Warnings Konzept der »konnotativen Ausbeutung« immer noch hilfreich.10 Ohne daß der weltliche 8

Vgl. Burghart Wachinger, Blick durch die braw. Maria als Geliebte bei Oswald von Wolkenstein, in: Fragen der Liedinterpretation, hg. v. Hedda Ragotzky, Gisela Vollmann-Profe u. Gerhard Wolf (im Druck). 9 Daß außerhalb des Gegensatzes geistlich - weltlich auch andere Formen von Parodie aus dem Mittelalter überliefert sind, soll damit nicht geleugnet werden. Zur mittelalterlichen Parodie vgl. zuletzt Fidel Rädle, Zu den Bedingungen der Parodie in der lateinischen Literatur des hohen Mittelalters, in: Literaturparodie in Antike und Mittelalter, hg. v. Wolfram Ax u. Reinhold F. Glei, Trier 1993 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 15), S. 171-185; Martha Bayless, Parody in the Middle Ages. The Latin Tradition, Ann Arbor 1996; Martin J. Schubert, Parody in thirteenth-century German poetry, in: Parody: Dimensions and Perspectives, ed. with an introduction, a bibliography and an index by Beate Müller, Amsterdam 1997 (Rodopi Perspectives on Modern Literature 19), S. 237-273. 10 Rainer Warning, Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven, hg. v. Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120-

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Einleitung

Charakter dieser Liebesdichtung in Frage gestellt würde, verleihen Entlehnungen von geistlichen (oder vor allem aus geistlichem Kontext vertrauten) Wendungen und Motiven der irdischen Liebesrede ein Mehr an Intensität und Verbindlichkeit, eine Aura, die sie für weiterreichende Assoziationen öffnet, ohne sie insgesamt ins Religiöse zu transponieren. Warnings Konzept ließe sich wohl auch auf manche Passagen von Gottfrieds 'Tristan' anwenden. Für Frauenlob jedoch stellt Susanne K ö b e l e (S. 213-235) die Anwendbarkeit dieses Konzepts in Frage. Bei ihm gerät die Hierarchie von Konnotat und Denotat, von Bild und Bedeutung ins Wanken - anders als bei dem anderen großen >Blümer< unter den Lyrikern, Heinrich von Mügeln, der immer wieder verglichen wird. Überlagerungen des Differenten einerseits," Aufspaltung des Einfachen andererseits12 erzeugen bei Frauenlob »den Effekt einer konnotativen Vervielfältigung, eine spezifische ästhetische Spannung, die ein Denken in ausschließenden Alternativen [...] verfehlen muß«. Das gilt zunächst innerhalb des weltlichen Liebesdiskurses der Lieder und innerhalb des geistlichen Liebesdiskurses des Marienieichs. Aber Frauenlob überspielt auch die Grenze zwischen weltlich und geistlich durch enge Korrespondenzen z.B. in der Naturmotivik, was sich auch in weltlich-geistlichen Überlieferungssymbiosen spiegelt. Die »bis in den Gleichklang der Reime reichende Konsonanz von >geistlich< und >weltlichWarum geht es dem Guten schlecht? Wie kann Gott dies zulassen?< ist wegeskamotiert. Eustachius zweifelt keinen Augenblick - Christus hat es ihm ja bereits anläßlich seiner Erscheinung erklärt. Es gibt keine Freunde und 16

Einführung in die genannten Werke bei Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, 3. Aufl., Bern/München 1971, S. 957-972 (Nachdr. 1993).

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Die geheime Weltlichkeit der Legende

kein Weib, die ihm zusetzen, und auch der Ersatz des Aussatzmotivs durch das Motiv 'Verlust des Ansehens' wirkt eher blaß. Selbst die im Romantypus vorgegebenen Möglichkeiten bleiben ungenutzt: der mittellos im fremden Land Angestrandete arbeitet sich nicht wie Apollonius aufgrund seiner Tüchtigkeit hoch, sondern verbleibt statisch auf der Eingangsstufe >SchafhirteRoman< bei, der der Vita des Heiligen so spannende und rührende Züge verlieh. Bei aller geistlichen Ausrichtung des >Romans< behält dieser doch seinen eigenen >weltlichen< Charakter, befriedigt er Bedürfnisse, die nicht in der religiösen Erbauung aufgehen, sondern unter dem Dach der Erbauung ein wenngleich bescheidenes Eigenleben fristen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß auch das Mittelalter selbst den Hauch Weltlichkeit in der Eustachiuslegende gespürt hat; immerhin ist der Textverbund auffällig, in dem die Münchener Handschrift clm 12730 (a. 1470) aus dem Kanonikerstift Ranshofen die Legende überliefert. Ihr geht voraus die 'Historia Udonis archiepiscopi Magedeburgensis' (f. 107-111) und eine mit Fabeln und Exempeln durchsetzte Sonderfassung der 'Gesta Romanorum' (f. 111-145), und es folgt auf sie eine Sammlung Äsopischer Fabeln (f. 147196). Aus dem Gesagten läßt sich, wie mir scheint, eine Schlußfolgerung ziehen, die über die Analyse einer einzigen Legende hinaus Bedeutung gewinnt: Wir haben auch im Frühmittelalter mit einem unterirdischen Strom weltlichen Erzählens zu rechnen, der jedoch in der von einer übermächtigen Spiritualität geprägten Schriftkultur nur selten und fast nur in religiöser Einbettung ans Licht tritt. (Es verhält sich damit ähnlich wie mit der Liebesdichtung: das älteste uns bekannte Liebesgedicht, 'Deus amet puellam', aufgezeichnet in einer Handschrift des 10. Jahrhunderts, ist in ein Gebet eingeflochten.) Dasselbe Phänomen, jedoch in einem fortgeschrittenen Stadium, zeigt sich be-

Tod des Schiffers auch der Acta Sanctorum-Fassung zu. Dort heißt es aber nur, Gott habe Theopistes »die ganze Zeit« vor der Entweihung bewahrt, und (irgendwann) sei dann der Schiffer gestorben: contigit vero illum alienigenam mori... Das Wunder der Unberührtheit, das an die Unversehrtheit der Tarsia im 'Apollonius von Tyrus' erinnert, ist natürlich größer, wenn die Gefahr längere Zeit andauerte.

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Benedikt Konrad Vollmann

kanntlich auch in der frühmhd. Literatur - ich erinnere an die 'Ältere Judith', die 'Kaiserchronik', an 'Orendel' und 'Oswald' und schließlich an das 'Rolandslied' des Pfaffen Konrad. Im mittellateinischen Bereich haben wir ein frühes Beispiel in der um 940 entstandenen Reichenauer 'Vita Symeonis Achivi' 22 , in der das Erbauliche an den Rand gedrängt scheint und das WeltlichSpielmännische den Gang der Erzählung bestimmt, angefangen von der höfischen Existenz Simons, der von Neidern verleumdet, ein Verhältnis mit der Kaiserin zu haben, in die Verbannung muß, dann ein anachoretisches Waldleben führt, dort einen Löwen vom giftigen Drachen befreit und später durch die Welt zieht, um Räubern den gestohlenen Weinkrug der Hochzeit von Kana abzujagen, den er dann auch wirklich auf der Reichenau findet, aber nicht ohne vorher als Pilger verkleidet und die Wachen mit Wein trunken machend eine Christenschar aus der Gefangenschaft der Sarazenen befreit zu haben. Wie gesagt, so deutlich ist die Lust an Unterhaltungsliteratur in der Legende des Frühmittelalters selten zu spüren, aber es würde sich lohnen, auch die weniger auffälligen Vertreter der Gattung durchzugehen. Man müßte freilich das Augenmerk nicht so sehr auf das Einzelmotiv richten, sondern auf die erzählerische Intention als solche, auf die größere oder geringere >Weltlichkeit< und deren Verhältnis zum religiös-geistlichen Überbau. Das große Ausgreifen in die Welt wird man freilich in der lateinischen Tradition nicht erwarten dürfen - Erzählungen vom Typ der 'Vita Symeonis' stellen bereits einen Grenzfall dar. Umso deutlicher erscheint dafür vor diesem Hintergrund die Neuartigkeit der europäischen Literatur in den Volkssprachen. Die Eustachiuslegende kann geradezu als Modellfall dafür gelten, wie ein von der lateinischen Klerikerkultur angebotener und von der volkssprachigen Laienkultur aufgegriffener Stoff in dieser vielfältig umgeformt und weiterentwickelt wird, während er im lateinischen Herkunftsbereich zwar in Verse umgegossen oder verknappend redigiert, aber nie entscheidend verändert wird. Von der Acta Sanctorum-Fassung des 8. Jahrhunderts bis zu den 'Gesta Romanorum' des 14. Jahrhunderts ist es immer dieselbe Geschichte mit demselben Personal, denselben Ereignissen, demselben Ausgang - und v. a. mit demselben geistlichen Grundton. In den volkssprachigen Ausformungen dagegen beobachten wir, wie eine schier überbordende Phantasie sich des Typus bemächtigt, um ihn mit den unterschiedlichsten Akzentuierungen neu zu erzählen. So gestaltet etwa der anonyme Dichter der 'Guten Frau' sein Epos als »weibliche >ErfolgsgeschichteDamaskusWeltlichkeit< seines bisherigen Lebens erkennt. Aber was erzähltechnisch merkwürdig erscheint, ist literarhistorisch das zu Erwartende: Die lateinische Legende verharrt in der geistlichen Form; der aus ihr hervorgegangene Legendenroman/die Legendenromanze entledigt sich nach und nach der geistlichen (weltverneinenden) Intention und wechselt über zu einer Position der Weltbejahung. Schon im 'Sir Isumbras' hatten Kleriker des 14. Jahrhunderts den Hauch weltlicher vanitas verspürt;25 die Novelle 'Sappho Duke of Mantona' wird im 16. Jahrhundert mit ihrer radikalen Säkularisierung der Eustachiuslegende die im Mittelalter sich anbahnende Entwicklung zu Ende führen.26 Nicht alle Legenden haben diesen Weg eingeschlagen. Das Eindringen von weltlichem Erzählstoff in die Eustachiuslegende und die bis zur völligen Verdrängung des >Heiligen< durch das >Profane< gehende Fortbildung können als eine Seitenerscheinung der Legendenliteratur betrachtet werden. Doch läßt sich an eben dieser Legende ablesen, wie sich die geheime Weltlichkeit des Frühmittelalters in die offene Weltlichkeit der Neuzeit verwandelte - und welchen Anteil die volkssprachige Laienkultur an diesem Prozeß hatte.

24 25 26

Haug [ A n n . 17], Fichte [Anm. 17], S. 136f. Fichte [Anm. 17], S. 143-150. - Es ist bezeichnend, daß im 'Sappho' auch der legendenhafte Anfang durch den romanzenhaften Anfang (Exilierung infolge von Verleumdung) ersetzt wurde.

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Schwierige Nähe Reflexe weltlicher Kultur und profaner Interessen in frühmittelhochdeutscher geistlicher Literatur Daß die Literatur sich unseren Ordnungswünschen mitunter erfolgreich zu entziehen versteht, ist bekannt. Verfasser von Literaturgeschichten schreiben aus diesem Grunde salvatorische Einleitungen, in welchen sie der Komplexität und Widerständigkeit ihres Gegenstandes bereitwillig Tribut zollen, bevor sie, mit Klios Hilfe, zur bändigenden Tat, zu Auswahl, Strukturierung und Perspektivierung des Vorhandenen schreiten. Zu den Instrumentarien, die für die literarhistorische Bewältigung mittelalterlicher Literatur von Bedeutung sind, gehört die Dichotomie >geistlichweltlichstummes Wissend gefunden hat, mit dem wir ganz selbstverständlich operieren. Insoweit die Begriffe unterschiedlichen Bildungswelten oder Kulturen zugeordnet werden, sind mit ihnen nicht nur eine dem Inhalt, der Thematik, dem Vorstellungshorizont und der ideologischen Ausrichtung nach als >geistlich< resp. >weltlich< klassifizierte Literatur einander gegenübergestellt, sondern zugleich Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Latein und Volkssprache, Gelehrsamkeit und Laizität, Kirche/Kloster und Hof/Stadt. Daß das Modell bei der Arbeit mit den Texten nicht nur Widersprüche zutage treten läßt - bereits der geschriebene volkssprachige Text wäre ein solcher Widerspruch in sich - verdankt sich dem Paradigma des >Übergangs< oder der >ZwischenformÜbergänge< zwischen zwei Welten oder zwei Kulturen werden läßt.2 Für die sog. frühmittelhochdeutsche Literatur von etwa 1050 bis gegen 1170/11803 läßt sich die Produktivität des Paradigmas an den neueren literarhistorischen Darstellungen von Gisela Vollmann-Profe und Dieter Kartschoke

1

Der Begriff des >stummen Wissens< meint hier, im Sinne Isers, jenen »Vorrat an Gewißheit [...], der so gesichert erscheint, daß er als selbstverständlich gelten darf«. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1993 (stw 1101), S. 18.

2

Vgl. Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, München 1990 (dtv 4551), S. 19. 3 Zu Fragen der Periodisierung vgl. Gisela Vollmann-Profe, Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60-1160/70), Königstein/Ts. 1986 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1/2), S. 15-22.

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ablesen.4 Sie gehören bekanntlich beide zu mehrbändigen Gesamtentwürfen,5 die, bei allen Unterschieden in der Konzeption wie auch im Detail, doch ein gemeinsames Erkenntnisinteresse verbindet, das die Auswahl des zu Behandelnden ebenso steuert wie es die Linien der Darstellung bestimmt: Es geht um den »Prozeß der Verschriftlichung der Volkssprache« oder, in konkurrierender, aber sinngemäß entsprechender Formulierung, um die »Vor- und Frühgeschichte der volkssprachigen Schriftkultur in Deutschland«.6 Die Entfaltung volkssprachiger Literatur wird dabei als »Moment eines umfassenden Emanzipationsprozesses der laikalen Gesellschaftsschichten« verstanden, »allen voran des hohen weltlichen Adels«.7 Demzufolge soll die Darstellung sichtbar werden lassen, »wie die deutsche Sprache im Verlauf des Mittelalters in immer weiteren Bereichen der Literatur Verwendung findet und allmählich das Lateinische immer mehr zurückgedrängt hat«, ein Vorgang, der mit der Ausbreitung der Laienbildung und damit der Lesefähigkeit breiterer Kreise in Zusammenhang gebracht wird.8 Dementsprechend sind es vor allem zwei Gesichtspunkte, die in den beiden Bänden zur frühmittelhochdeutschen Zeit zur Geltung gebracht werden: Es geht, erstens, darum, zu zeigen, wie eine volkssprachige geistliche Literatur allmählich aus dem Schatten der übermächtigen lateinischen Literatur heraustritt, zu einem eigenen Typenspektrum findet, Zeichen einer Ästhetisierung zeigt, Textreihen begründet und Traditionen bildet. Und es geht, zweitens, darum, zu verdeutlichen, wie eine stärker weltlich orientierte Dichtung aus dem Schatten der übermächtigen geistlichen Literatur heraustritt; als Fluchtpunkt der Entwicklung erscheint dabei die sog. höfische Klassik, wobei zum einen die Eroberung literarischer Freiräume und der Durchbruch zur Fiktionalität des höfischen Romans, zum anderen die Rezeption insbesondere altfranzösicher Dichtung und der weltliche Fürstenhof als literarisches 4 5

Kartschoke [Anm. 2]. Vollmann-Profe [Anm. 3], Joachim Bumke, Thomas Cramer, Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter, Bd. 1 - 3 , München 1990 (dtv 4551^-553). Joachim Heinzle (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, [bisher] Bd. 1/1, Bd. 1/2, Bd. 2/2, Königstein/Ts. 1984-1988.

6

Vgl. Joachim Bumke, Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe, Opladen 1991 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge. G309), S. 32. Joachim Heinzle, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30-1280/90), Königstein/Ts. 1984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zum Beginn der Neuzeit II/2), S. 9. Vgl. auch Joachim Heinzle, Wie schreibt man eine Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters? D U 41 (1989), S. 27^10, hier S. 29, w o die Grundfrage, die das Werk verfolgt, folgendermaßen formuliert ist: »wie hat sich die alphabetische, d.h. wesentlich auf den allseitigen Gebrauch der Schrift in der Volkssprache gegründete Zivilisation der Neuzeit herausgebildet?«.

7

Heinzle, Wie schreibt man [Anm. 6], S. 29. Vgl. Vollmann-Profe [Anm. 3], S. 16, S. 21. Kartschoke [Anm. 2], Vorwort (von J. Bumke, Th. Cramer, D. Kartschoke), S. 6. Vgl. Vollmann-Profe [Anm. 3], S. 15f.

8

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Zentrum als wesentliche Faktoren der Innovation namhaft gemacht werden. Unter diesen Vorgaben werden einerseits die Hinweise auf die Existenz mündlicher volkssprachiger Dichtung wie auch die noch spärlichen Schriftzeugnisse für eine stärker weltlich orientierte Literatur aufmerksam registriert und erfährt andererseits der volkssprachige Literarisierungsprozeß geistlicher Literatur besondere Beachtung. Daß eine derartige Rekonstruktion literarischer Prozesse bei der Besprechung einzelner Texte den Blick immer wieder auch auf die Interferenzen von Geistlichem und Weltlichem lenkt, scheint naheliegend; ich unterstreiche diese Perspektive, weil sie ein wichtiger Anstoß für die nachfolgenden Überlegungen war. »Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur« - die Formulierung des Tagungsthemas habe ich als Einladung genommen, an die skizzierte Betrachtungsweise anzuknüpfen und nach Reflexen weltlicher Kultur und profaner Interessen in frühmittelhochdeutscher geistlicher Literatur zu fragen, dieses am Beispiel zweier Texte, die wohl am Ende der in Rede stehenden >Epoche< entstanden sind: der 'Rede vom Glauben' des Armen Hartmann und des Gedichts 'Von des todes gehugde' des sog. Heinrich von Melk.9 Das Erkenntnisinteresse ist darauf gerichtet, Formen der Wahrnehmung, Kommentierung und Bewertung von Weltlichem in geistlicher Literatur zu erfassen, über den Ort und die Funktion von Weltlichem in den dominant geistlichen Texten nachzudenken, die Spannung zwischen der Darlegung von Glaubenswissen und Heilserfahrung und der Spiegelung weltlicher Kultur und profaner Interessen aufzunehmen. Die wissenschaftliche Neugier richtet sich damit auf Phänomene, die für die heilsgeschichtliche Dimension der Texte eher unbedeutend scheinen (und setzt sich somit dem Verdacht aus, Marginales in unzulässiger Weise zu akzentuieren). Gravierender (als ein derartiger Vorwurf) ist ein methodologisches Problem, das verschärft bei einer breiter angelegten Untersuchung zum Tragen kommen würde. Auch wenn die Bemühungen (zunächst) nicht der literarhistorischen Prozessualität des Beobachteten gelten, legt der Anschluß an die eingangs skizzierte Betrachtungsweise es doch nahe, nach dem Grad der novitas in den Texten zu fragen und dabei das Geistliche als das Traditionelle, Überkommene, das Weltliche als das Neue zu sehen, das über den heilsgeschichtlichen Gehalt hinausführt. Bei dem Versuch einer Zusammenstellung weltlicher Elemente in frühmittelhochdeutscher geistlicher Literatur wird man indes gut daran tun, weder einen vorschnellen Zusammenhang mit zeitgenössischen Lebenswelten herzustellen und so das Konventionelle, Tra9

Deutsche Gedichte des zwölften Jahrhunderts und der nächstverwandten Zeit. Erster Teil, hg. v. H.F. Massmann, Quedlinburg, Leipzig 1837, S. 1—42. - Heinrich von Melk, Von des todes gehugde/Mahnrede über den Tod. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einer Einführung in das Werk hrg. von Thomas Bein [u.a.]. Mit Beiträgen zu Text, Übersetzung und Kommentar von Susanne Kramarz-Bein, Stuttgart 1994 (RUB 8907).

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ditionelle, Topische der Literatur zu verfehlen, noch zu strikt mit dem Blick auf lateinisch-geistliche Traditionen zu argumentieren und auf diese Weise das Innovationspotential der volkssprachig-geistlichen Texte zu unterschlagen. Daß allerdings »das Instrumentarium noch kaum hinreicht, exakt den verpflichtenden Raum der Tradition einerseits, dessen Erweiterung und Durchbrechung andererseits auszumessen«, darauf hat Christian Kiening bei seiner Spurensuche nach Freiräumen literarischer Theoriebildung in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts bereits nachdrücklich hingewiesen. 10 *

Als Erklärung des Credo, des in der Sonntagsliturgie gebräuchlichen Glaubensbekenntnisses in seiner nicäno-konstantinopolitanischen Fassung," gehört die 'Rede vom Glauben' des Armen Hartmann12 in die Reihe der Dichtungen theologisch-dogmatischen Inhalts. Der Text folgt den einzelnen Artikeln des Credo; sie werden lateinisch zitiert, (in der Regel) übersetzt und dann in unterschiedlicher Ausführlichkeit erläutert. Die Eigenart dieser Credo-Auslegung 10

Christian Kiening, Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts, DVjs 66 (1992), S. 4 0 5 449, hier S.411f. " Vgl. die Artikel 'Glaubensbekenntnisse', 'Nicäa' und »Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis« in der TRE Bd. XIII, 1984, S. 384-446, und Bd. XXIV, 1994, S. 429-444 u. S. 444-456. 12 Zur Titelgebung vgl. Ursula Hennig, Zur Gattungsbestimmung frühmittelhochdeutscher alttestamentarischer Dichtungen, in: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971, hg. v. L.P.Johnson [u.a.], Berlin 1974, S. 136-150, hier S. 147-149. Einziger Überlieferungszeuge war die Straßburg-Molsheimer Sammelhandschrift (Strasbourg, Bibl. univ., cod. C. V. 16. 6. 4°). Der Text stand auf l v a -9 r b , allerdings mit einer Lücke von etwa 400 Versen (nach V. 3224) aufgrund eines Blattverlusts (Bl. 8); in den Editionen sind die fehlenden Verse mitgezählt. Zur Handschrift vgl. Edward Schröder, Die Strassburg-Molsheimer Handschrift, Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aus dem Jahre 1925, Philologisch-historische Klasse, Berlin 1926, S. 148-160. Ernst Hellgardt, Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert. Bestand und Charakteristik im chronologischen Aufriß, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. v. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 35-81, hier S. 43f. und S. 66. - Die übliche Datierung der 'Rede vom Glauben' schwankt zwischen 1140 und 1160. Hinweise zur Datierung, welche die Ergebnisse einer Untersuchung von Reimbindung und -brechung einbeziehen, jetzt bei Thomas Klein, Vers und Syntax in frühmittelhochdeutscher Dichtung. Wege zur Datengewinnung und -auswertung, in: Deutsche Sprache in Raum und Zeit (FS Peter Wiesinger), Wien 1998, S. 537-568, bes. S. 547f. Nach der Sprache der Reime und der Sprache der handschriftlichen Überlieferung gehört der Text zum Mitteldeutsch des hessisch-thüringischen Typs, vgl. dazu Thomas Klein, Heinrich von Veldeke und die mitteldeutschen Literatursprachen, in: Thomas Klein u. Cola Minis, Studien zu Veldekes 'Eneide' und zum Straßburger Alexander, Amsterdam 1985, S. 1-121, hier S. 2-4. Thomas Klein, Untersuchungen zu den mitteldeutschen Literatursprachen des 12. und 13. Jahrhunderts, Habil.-Schrift [masch.] Bonn 1982, S. 53-224.

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erschließt sich erst, wenn man die Proportionen der vier Hauptteile beachtet. Die insgesamt 3800 Verse sind nämlich sehr ungleichmäßig verteilt. Während der erste, dem Credo in unum deum patrem omnipotentem gewidmete Passus nur 117 Verse umfaßt (vv. 61-178), und der letzte Abschnitt, der von der Kirche, der Taufe, der Auferstehung und dem Ewigen Leben handelt, sogar mit nur 77 Versen auskommt (vv. 3631-3708), sind der christologische Teil und ganz besonders der Teil über den Heiligen Geist mit 1462 (vv. 179-1641) resp. 1988 Versen (vv. 1642-3630) breit entfaltet. Bereits an diesen Zahlen läßt sich ablesen, daß die 'Rede vom Glauben', die geläufiges Gedankengut lateinischer Credo-Exegesen aufweist, durch eine deutliche Akzentuierung des Überkommenen ein eigenes Profil gewinnt. Daß eine solche Akzentuierung nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern ebenso auf inhaltlicher Ebene faßbar wird, hat schon Heinz Rupp in seinem Buch über »Deutsche religiöse Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts« im einzelnen gezeigt, indem er auf Passagen mit formelhaften und auf solche mit weniger oder ganz und gar nicht formelhaften Wendungen hingewiesen, auf Umstellungen und Auslassungen aufmerksam gemacht und die Deutungsleistung der Übersetzung analysiert hat.13 Die Fragestellung, die ich gewählt habe, hat mich dazu geführt, den dritten, den Et in spiritum sanctum kommentierenden Abschnitt ins Zentrum zu stellen. Es sollte aber vermerkt werden, daß die hier zu beobachtenden Darstellungstendenzen durch eine Rückbindung an die von Rupp für das Übrige der Dichtung herausgearbeiteten Eigentümlichkeiten durchaus zu vertiefen wären. Nicht übergehen möchte ich indes die konzeptive Dimension der Prologaussagen. Der Einsatz mit einem verallgemeinernden swer (v. 1) hält den Kreis möglicher Adressaten zunächst offen. Angesprochen ist ein jeder, der das Heil der Seele finden und in das Reich Gottes gelangen möchte (v. 1 f.). Bereits die nächsten Verse formulieren Direktiven für ein entsprechendes Verhalten im Diesseits: Gott uor allen werlt dingen lieben (v. 3 f.), die Unterwerfung unter seinen Willen im Befolgen seiner Gebote zum Ausdruck bringen (v. 5 f.) und den heiligen gelouben, das Glaubensbekenntnis, betrachten (v. 7 f.). Mit dem Credo, so die folgende Aussage, die das swer des Anfangs zu einer den Sprecher einbeziehenden >wirobjektiven< Autorität eine subjektive Haltung des festen Glaubens und der Zuversicht auf den Beistand Gottes entspricht (vv. 26-34). Damit ist ein Gedanke angesprochen, der für die Credo-Auslegung des Armen Hartmann bestimmend ist: daß nämlich »dem credendum, der Zuwendung des othmutigen Gottes zum Menschen in Schöpfung, Erlösung und Sakramenten [...], das credere entsprechen sollte, d.h. die durch das Wirken des Hl. Geistes in der Seele und in der Kirche initiierte [...] Zuwendung des Menschen zu Gott«.15 Dadurch daß der Gottesanruf den Gedanken der Trinität aufnimmt, von Gottvater im Namen seines eingeborenen Sohnes die Sendung des Heiligen Geistes erbeten wird (vv. 3540), werden der Prolog und der nach Pater, Filius und Spiritus Sanctus gegliederte Haupttext weiter verklammert. Und schließlich erscheint das rechte, die Korrektheit der theologischen Dogmatik wie die Wirksamkeit der Paränese verbürgende Wort als Gabe des Heiligen Geistes, dessen Apostrophierung als allir meistere bezist (v. 44) den Refrain präludiert, der den dritten, dem Et in spiritum sanctum gewidmeten Abschnitt des Gedichts durchzieht. In diesem dritten Abschnitt hat der Text, wie gesagt, sein Zentrum, was durch einen prologartigen Neueinsatz bei vv. 1649-1657 unterstrichen wird. 14

Vgl. dazu Walter Haug, Allegorese und Entscheidung: Literaturtheoretische Positionen in frühmittelhochdeutscher Zeit, in: Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, 2., überarbeitete u. erweiterte Aufl., Darmstadt 1992, S. 46-74. 15 Kunze [Anm. 13], Sp.451f.

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»Eigenartig« hat Heinz Rupp diesen umfangreichsten Teil des Gedichts genannt16 und sich dabei auf die höchst selektive Weise der Kommentierung bezogen, die vor allem eines herausstellt: die lebensspendende Kraft des Hl. Geistes, seine heiligende und reinigende Wirkung und seine mitewist (v. 1664), seine Gegenwart, die dem Menschen fides und spes schenkt und ihn zu einem Gebrauch seiner fünf Sinne zallerslahte gvten (v. 1674) führt. Die Aufmerksamkeit wird damit auf die >Räte< des Heiligen Geistes gelenkt, und die Kommentierung streicht die Bedeutung heraus, die sie für eine Lebensführung besitzen, in der das zum Heil führende Bekenntnis des Glaubens Gestalt gewinnt. Das Leben in der Welt kommt also durch die Konzentration auf die >Räte< des Heiligen Geistes in den Blick. Der Umstand, daß sie nicht alle in der gleichen Breite behandelt werden, weist erneut auf bestimmte Schwerpunktbildungen und Interessen, die der Credo-Auslegung des Armen Hartmann zugrunde liegen. Während die ersten beiden Ratschläge mit ihren Aufforderungen zu christlicher Nächstenliebe sehr knapp gehalten sind, weisen die übrigen eine ausführliche Kommentierung mit einem jeweils fünfzehn- bis einundzwanzigfach höheren Versbestand auf. In thematisch-inhaltlicher Hinsicht rükken damit die Mahnung zu Sündenerforschung, Sündenbekenntnis, Reue und Buße (3. Ratschlag), die Konkretisierung eines gottfernen Weltlebens (4. Ratschlag) sowie die Musterung verschiedener gottgefälliger Lebensformen (5.Ratschlag) in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Bei den Mitteln der amplificatio, die dabei Verwendung finden, handelt es sich um reizvolle Literarisierungsstrategien, die im Hinblick auf die formal-ästhetische Dimension des Textes beachtet werden sollten. So wird die im dritten >Rat< vermittelte Aufforderung, der eigenen Vergehen innezuwerden, sie zu bekennen und zu bereuen, als Sündenbekenntnis, Sündenklage und Bußgebet eines Ich-Sprechers konkretisiert (vv. 1768 ff.). In das Gebet ist überdies eine Erzählung von sechs Legenden integriert, welche Schuld, Buße und Begnadung großer Sünderinnen und Sünder zum Thema haben (vv. 1828-2353). In der Logik der Rede trägt der sündige Ich-Sprecher Gott die Legenden vor, ihn gleichsam an seine Gnade und Barmherzigkeit erinnernd. Mit einer vergleichbaren Rollenstilisierung gewinnt der vierte >Rat< des Heiligen Geistes Kontur: Hier wird nämlich die Mahnung, sich seiner guten Werke nicht zu rühmen, sie stets als noch zu geringfügig zu veranschlagen, durch einen bußfertigen Sünder exemplifiziert, der an sich selbst eine Scheltrede richtet und dabei die Versuchungen und Verfehlungen eines falschen, das Heil der Seele gefährdenden Weltlebens greifbar vor Augen stellt (vv. 2384 ff.).17

16 17

Rupp [Anm. 13], S. 162. Es ist nicht klar markiert, wo die Rede des bußfertigen Sünders endet, so daß wir es mit einem gleitenden Übergang zum erneuten Sprechen einer übergeordneten Instanz zu tun haben.

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Es ist nicht zu übersehen, daß die angesprochenen Literarisierungsstrategien dort zum Einsatz kommen, wo von den Sünden und damit von den Abweichungen der in den ersten beiden Ratschlägen skizzierten Lebensweise die Rede ist. Bei der Erinnerung an die mit den Grundanforderungen der Nächstenliebe verbundenen Handlungsweisen - man unterstütze mit Almosen die Armen, speise die Hungrigen, gebe den Durstigen zu trinken, man bekleide die Nackten, umsorge die Fremden, die Kranken und die Gefangenen und vergebe den Feinden, das angetane Böse mit Gutem vergeltend - läßt es der Text bei einer trocken-reihenden Aufzählung bewenden (vv. 1680-1717). Bildhaft-anschauliche Qualität gewinnt er dagegen, wenn die Praxis christlichen Lebens unter der Perspektive des non posse non peccare zur Sprache kommt. Aufschlußreich erscheint dabei, erstens, daß das in der Kommentierung des dritten Ratschlags gebotene Sündenbekenntnis noch eine ganze Palette von schweren Sünden und Verbrechen nennt,18 während die daran angeschlossenen Exempla der Heiligen, die trotz ihres sündigen Lebenswandels von Gott gerettet wurden - es handelt sich um den Schächer am Kreuz, den Teufelsbündler Theophilus und Petrus den Zöllner sowie um Maria Magdalena, Afra und Maria Egyptiaca - , einzig das Streben nach Reichtum, weltlicher Macht und gesellschaftlichem Ansehen ins Zentrum rücken und, als frauenspezifische Gefährdung, die unkiusche. Und aufschlußreich erscheint, zweitens, daß diese am Beispiel beleuchteten Anfechtungen des Weltlebens in zweifacher Weise instrumentalisiert sind: Sie sollen den sündigen Diener der Welt zu Reue und Buße führen, sie sollen ihn aber auch im Glauben an die Gnade und Barmherzigkeit Gottes stärken und seiner Bußfertigkeit durch den Verweis auf die Rettung großer Sündenheiliger eine verläßliche Richtung geben. Beides, die Verengung bei der Thematisierung weltlicher Verfehlungen wie auch die Ausrichtung auf die misericordia domini geben für die weitere Behandlung weltlichen Lebens, für die Veranschaulichung adliger Kultur im Kontext des vierten Ratschlags, die Linie vor. Den systematischen Ort für diese Insertion einer Miniatur aristokratischen Weltlebens in die Auslegung des Credo bilden also die reuevollen Selbstvorwürfe und die Ermahnungen eines Sprechers, der eine Art >persona< mit einer Platzhalterfunktion darstellt: einsetzbar ist, wie die Selbstadressierung owi mensche (v. 2389) und die Einordnung der Verhaltensweisen als allgemein verbreitete zeigen, prinzipiell jeder Mensch, iz si man oder wib (v. 2505), einsetzbar ist im besonderen, wie die Konkretisierung des Weltlebens vor Au18

Diebstahl, Lüge, Raub und Brandschatzung, Totschlag bzw. Mord und Meineid, Ehebruch und das Verlangen danach, Essen und Trinken im Übermaß, die Bereicherung auf Kosten von Witwen, Waisen und anderen armen Leuten, die Verspottung von Mönchen und Pfaffen, die Plünderung von Gotteshäusern (vv. 1780-1809).

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gen führt, der adlige Herr, einsetzbar scheint des weiteren, wie die Konvergenz der Wertungsperspektiven nahelegt, das übergeordnete autoritative Arme-Hartmann-Ich des Textes. Durch die unmittelbare Konfrontation von expliziten und impliziten Signalen läßt der in Rede stehende Abschnitt dabei klarer und deutlicher als andere Stellen die gleichwohl für den gesamten Text charakteristische Ambivalenz in der Bewertung eines Lebens in Reichtum und Luxus hervortreten. Negiert und verurteilt wird es durch die Fiktion des Reuemonologs, durch eine nachträgliche Interpretation eines gelebten Lebens als Akt der superbia, durch eine konsequente Gegenüberstellung von Diesseits und Jenseits, Wohlleben des Leibes und Unheil der Seele, Vergänglichkeit des Erdenglücks und ewiger Verdammnis. Doch indem gleichzeitig der Stimme des Sünders Raum gegeben, das adlige Leben aus einer Innensicht geschildert wird, entsteht unter dieser normativ-expliziten Ebene das glanzvoll-verführerische Bild eines Lebensstils, der sich dem Luxus, der Schönheit, dem Genuß und der Verfeinerung verpflichtet weiß. Seine beunruhigende Attraktivität bezieht dieses Bild aus einer Redeweise, welche die Schilderung detailliert und dabei mit positiv wertenden Epitheta unterlegt. In dem Bild lassen sich deutlich einzelne Segmente voneinander abheben. Sie werden dadurch konstituiert, daß sukzessive vier Bereiche weltlicher Kultur abgeschritten werden: die Prachtentfaltung eines großen Haushalts (vv. 2406-2429), die Finessen der militärischen Ausrüstung (vv. 24302455), der Reichtum der Tafel (vv. 2456-2475) und das Vergnügen, das im lustvollen Liebesspiel mit einer schönen Frau liegt (vv. 2476-2489). Die Aufzählung von Einzelheiten der materiellen Kultur, die dabei ins Auge fällt, unterscheidet sich in nichts von entsprechenden Passagen der sogenannten höfischen Epik, sei es im Hinblick auf das Arsenal der genannten Sachgüter, sei es im Hinblick auf die verwendete Terminologie, sei es im Hinblick auf die Fülle schmückender Adjektive: die Goldborten sind wehe geworht (v. 2415), das Geschmeide ist edele (v. 2416), die Umhänge sind manicfalt (v. 2420), die Wandbehänge gut (v. 2423), teppit vnde vorhatte,/ vile breit vnde lanc/ gevollit mit golde (vv. 2424-26), die Lanze ist nvwe vnde lanc (v. 2443). Eine Brevitas-Formel, welche die prinzipielle Fortführbarkeit der Aufzählung anzeigt (v. 2428 f.), fehlt ebensowenig wie die Versicherung, daß alles nach Wunsch zu haben, vorhanden, ausgeführt und eingerichtet ist (v. 2427, 2437, 2439, vv. 2452-55). Die Schilderung zeigt überdies Ansätze einer - für die Technik der hochhöfischen Descriptio kennzeichnenden - Dynamisierung; so, wenn der Blick von den phert, di da zeldint (v. 2440) und den ros di da spei sint (v. 2441)19 auf den Reiter gelenkt wird, der die mit seidenen Wimpeln geschmückte Lanze führt, um bei der Schar von Knechten und Gefolgsleuten, die 19

Maurer ersetzt, vermutlich richtig, Massmanns spei durch snel. Vgl. Maurer [Anm. 13], 144,6.

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ihm folgt, zu enden, oder wenn der Reichtum der Tafel als Wohlleben erscheint, das vom morgendlichen Imbiß über das abwechslungsreiche Mittagsmahl bis zum offenbar abendlich gedachten Weingenuß sich erstreckt, mit gleitendem Übergang in die Nacht mit dem Komfort und der Wärme des Bettes und dem Reiz der geschlechtlichen Umarmung. Durch die in diesem Abschnitt gewählte Sprecherfiguration, die mit der Aufspaltung in einen sündigen und einen bußfertigen Menschen arbeitet, entsteht eine Überlagerung zweier Stimmen und Perspektiven. Diese Überlagerung ist zusätzlich dadurch verdichtet, daß partienweise die Stimme des übergeordneten Ich-Sprechers auf eine schwer durchschaubare Weise mit diesem >double-voiced discourse< amalgamiert scheint. Bei genauer Lektüre stellt man fest, daß die auf diese Weise produzierte Spannung zwischen dem Wohl des Fleisches und dem Heil der Seele im Rahmen des vierten Ratschlags, der auch im folgenden von der Fiktion der reuigen Selbstansprache getragen scheint, bis zum Schluß spürbar bleibt. Zwar vernehmen wir in den restlichen Versen nur noch die autoritativ aufgeladene Stimme des einsichtigen Büßers, dem die Gnade der Besinnung und der Umkehr zuteil wurde und der das so glanzvoll präsentierte Weltleben mit Anleihen an das Gedankengut der contemptus-mundi- und der memento-mori-Thematik der geistlichen Tradition relativiert. Doch ein Appell zu radikaler Weltabkehr ist daraus nicht zu gewinnen; schon die Auffassung, daß die Annehmlichkeiten adligen Lebens ein Gottesgeschenk sind (vv. 2471-75), stand einer solchen Lösung entgegen. Sehr viel kennzeichnender für die Signatur des Textes ist die Aussage: [...] des fleischis wollust/ daz ist der sele uerlust,/ swer si ubit zo ummaze (vv. 2494-96). In der Ausdeutung des angeschlossenen Lazarus-Gleichnisses (vv. 2684-2779) werden ihre Implikationen schlaglichtartig markiert, wobei eine Forderung besonders hervorsticht: Reichtum muß beizeiten sozial verträglich eingesetzt werden. Wenn der Eindruck nicht täuscht - und hier ist Sicherheit vor allem deshalb nicht zu erreichen, weil wir, aufgrund eines Blattverlustes,20 nicht wissen, wie die im fünften Ratschlag des Heiligen Geistes gebotene Musterung gottgefälliger Lebensformen zu Ende geführt werden sollte21 - , wenn also der Eindruck nicht täuscht, so beläßt die 'Rede vom Glauben' der Welt ein gewisses Recht. Swer an der sele wil genesen/ unde mit gote in sime riche wesen,/ der sol got mjnnen/ uor allen werlt dingen (vv. 1^4): die Maxime des Prologs klingt am Schluß des dritten Abschnitts wieder an. Geistliches und Weltliches rückt der Text somit in eine schwierige, aber immerhin mögliche Nähe. *

20 21

Vgl. Anm. 12. Vgl. dazu Rupp [Anm. 13], S. 174-177.

36

Schwierige Nähe dar bringe dv, got here, durch deiner muter ere vnt durch aller deiner haeiligen recht Haeinrichen, deinen armen chnecht. vnt den abt Erchennenfride, den habe dv, herre, indeinem fride. (vv. 1029-34) 2 2

Aus diesen wenigen Versen eines Schlußgebets, die für einen Heinrich und für einen Abt Erkenfried die Aufnahme in den Himmel und Gottes Schutz erbitten, hat die Forschung bekanntlich einen Autor generiert und in spekulativer Kombinatorik mit einer farbigen Biographie ausgestattet.23 So wenig allerdings, wie dieser >Heinrich von MelkHeinrich von MelkAutorbewußtsein< etwa, die Verwendung weiterer Sprecherrollen und deren Beziehung zur Ich-Rolle, den Textaufbau, der im Gedicht selbst reflektiert wird, und, damit zusammenhängend, die für die verschiedenen Teile des Gedichts erwogenen Titel, die poetologisch interessanten Aussagen zur hypothetischen Dimension des Vorgetragenen, die Überlagerung verschiedener Gattungsmerkmale und eben auch - und durchaus in diesen Rahmen gehörend - die auffällige Verbindung von >Geistlichem< und >Weltlichemc »Literatur zeigt sich hier als Medium, das sich aus dem reinen Dienst seinen Beitrag »Die frühmittelhochdeutsche geistliche Dichtung in Österreich« [Anm. 39] beschließt, singular: »Eine Datierung vor den letzten beiden Jahrzehnten und damit eine Zuordnung zum Corpus der frühmhd. geistlichen Literatur halte ich deshalb nicht für möglich« (S. 150). - Die verbreitete Bezeichnung der 'Mahnrede' als >Predigt< ist zunehmend problematisiert worden, ebenso ihre Einordnung als >SatireLe mepris du monde< dans la litterature monastique latine medievale, in: M[ichel] de Certeau [u.a.], Le mepris du monde. La notion de mepris du monde dans la tradition spirituelle occidentale, Paris 1965, S. 19-55 und Jean Leclercq, Postface, S. 5558. Francesco Lazzari, Le »mepris du monde< chez Saint Bernard, ebd. S. 59-72. Francesco Lazzari, II contemptus mundi nella scuola di S. Vittore, Napoli 1965 (Istituto Italiano per gli studi storici 19). Robert Bultot, La Chartula et l'enseignement du mepris du monde dans les ecoles et les universites medievales, Studi Medievali Serie Terza 8 (1967), S. 787-834. Gerhild Scholz-Williams, The Vision of Death: Α Study of the >Memento Mori< Expressions in some Latin, German, and French Didactic Texts of the 11th and 12th Centuries, Göppingen 1976 (GAG 191). Christiane Martineau-Genieys, Le theme de la mort dans la poesie francaise de 1450 ä 1550, Paris 1978 (Nouvelle Bibliotheque du Moyen Age 6). Rainer Rudolf, [Artikel] 'De contemptu mundi', in: 2 VL 2 (1980), Sp. 5-8. Contemptus mundi, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 3, 1986, Sp. 186-194. Memento mori, ebd. Bd. 6, 1993, Sp. 505-508. Christian Kiening unter Mitwirkung von Florian Eichberger, Contemptus mundi in Vers und Bild am Ende des Mittelalters, ZfdA 123 (1994), S. 409-457.

42

Schwierige Nähe

sehen Literatur bereits gut etabliert war und in der auf 1195 datierten Schrift 'De miseria hominis conditionis' des Lothar von Segni36 ihre wirkungsmächtigste Formulierung fand. Ihr Erscheinungsbild ist durch Auswahl, Kombinatorik und Ausgestaltung bekannter Elemente bestimmt. Zwei Darstellungsschemata sind dabei entscheidend: Der Text vermittelt die Einsicht in das grundsätzliche Elend der menschlichen und speziell der adlig-höfischen Existenz, indem er den Weg des Menschen von der Geburt bis zu den Letzten Dingen beleuchtet, und er bringt die Gefährdung, Nichtigkeit und Falschheit eines herrschaftlichen Lebens in Prunk und Reichtum über die Konfrontation von Lebenden und Toten zur Sprache.37 Der bildmächtigen Ausgestaltung des Topos von der Begegnung Lebender und Toter verdankt die 'Mahnrede' ganz wesentlich ihre - relative - Berühmtheit. Die Begegnung wird in einem Dreischritt realisiert: als gemeinsamer Blick des Sprechers und des impliziten Adressaten auf einen aufgebahrten Leichnam (vv. 559-596), als Gegenüberstellung einer adligen Witwe mit ihrem toten Ehemann (vv. 597-662) und als Gespräch eines Sohnes mit seinem toten Vater (vv. 663-811). Der Abfolge der sprachlich generierten Bilder wohnt dabei ganz deutlich ein Moment der Steigerung inne. Es resultiert zum einen daraus, daß im ersten Bild der Tote für den lebenden Betrachter ein Fremder ist, während die folgenden > Szenen < Relationen der Intimität und Vertrautheit thematisieren (Ehefrau - Ehemann, Sohn-Vater). Zum anderen vergrößert sich die Anschaulichkeit in dem Augenblick, wenn der implizite Adressat in der Rolle des Lebenden durch Figuren des Textes abgelöst wird und wenn schließlich nicht nur der Lebende, sondern sogar der Tote eine Stimme erhält und die Begegnung zwischen beiden dialogisiert wird.38 Beide 36

Lotharii Cardinalis (Innocentii III) De miseria humanae conditionis, hg. von Michele Maccarrone, Lucani 1955. Lotario dei Segni (Pope Innocent III), De miseria condicionis humanae, hg. von Robert E. Lewis, Athens 1978. Vgl. Mario di Pinto, II 'De miseria conditionis humanae' di Innocenzo III, in: Studi medievali in onore di Antonino di Stefano, Palermo 1956, S. 177-201. Robert Bultot, Mepris du monde, misere et dignite de l'homme dans la pensee d'Innocent III, Cahiers de civilisation medievale 4 (1961), S. 4 4 1 ^ 5 6 . Kurt Ruh, [Artikel] Innozenz III., in: 2 VL 4 (1983), Sp. 388-395, bes. Sp. 390-2. Martineau-Genieys [Anm. 35], S. 111-119. Christian Kiening, Schwierige Modernität. Der 'Ackermann' des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels, Tübingen 1998 (MTU 113), S. 181-186, S. 334-337 und passim; auf S. 524-575 Abdruck der deutschen Übersetzung aus Cod. Μ 174 (olim I VI 4) der Wissenschaftlichen Staatsbibliothek Olmütz.

37

Die 'Mahnrede' kennt dagegen weder die Todespersonifikation oder Frau Welt als Allegorie der Vergänglichkeit, noch rekurriert sie auf das Motiv des Lebensrades, auf den Leib-Seele-Dialog, die Frage nach dem Wesen des Todes oder die ubi-sunt-Thematik. 38 Zu dieser Textstrategie vgl. J.E. Cross, The Dry Bones Speak - a Theme in some Old English Homilies, JEGPh 56 (1957), S. 434-439. - Im Anschluß an die hier besprochenen >Szenen< der Begegnung Lebender und Toter hält der Text sogar eine fiktive Anrede Christi an sein Geschöpf bereit.

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Momente lassen sich als rhetorische Kunstgriffe verstehen, mit deren Hilfe an die Affekte appelliert werden soll, um so der Rede in stärkerem Maße als zuvor die Qualität des >movere< zu verleihen. Für die didaktische Funktion des Textes und speziell der betreffenden >Szenen< ist ferner wesentlich, daß die einzelnen Figuren nicht weiter individualisiert sind und somit für die Rezipienten jeweils als Medium fungieren, ihnen eine identifikatorische Präsenz ermöglichen: Die Ehefrau, die vom Sprecher aufgefordert wird, sich den verwesenden Körper ihres Mannes genau anzuschauen, der Sohn, der die Weisung erhält, das Grab des Vaters zu öffnen und das Gerippe zu betrachten, der tote Vater, der von den Qualen der Hölle, seinen Sünden zu Lebzeiten und der verspäteten Reue sprechen kann - sie alle laden dazu ein, sich imaginativ an ihre Stelle zu setzen. Daß sich die Einladung insbesondere an diejenigen richtete und bei denjenigen verfangen sollte, die adlig, wohlhabend und mächtig waren, läßt dabei sowohl die Konturierung der Figuren als auch die Konkretisierung des sündhaften Weltlebens erkennen. Alle drei Bilder wollen die Nichtigkeit der Welt angesichts der Realität des Todes vor Augen führen, doch sind dabei durchaus unterschiedliche Akzente gesetzt und verschiedene Mittel benutzt. In einem ersten Schritt wird eine pompöse Totenfeier imaginiert, bei der die Leichentücher aus kostbarer Seide, die Vielzahl von Kerzen und das Verbrennen von Myrrhe und Weihrauch herausgestellt werden (vv. 570-574), um den impliziten Adressaten auf die Sinnlosigkeit der Zeremonie aufmerksam zu machen: Der Tod ist ein Gleichmacher, der dem Mächtigen gerade soviel Erde zuteilt wie dem Armen (vv. 566569). Es ist somit letztlich die vorausschauende Perspektive auf den bereits begrabenen Körper, mit der hier die mangelnde Relevanz von Reichtum und Macht demonstriert wird. Bei der Konfrontation einer Ehefrau mit der Leiche ihres Mannes (vv. 597 ff.) setzt der Text dagegen auf eine Überblendung von Gegenwart und Vergangenheit.39 Zwar steuert die Passage deutlich auf die signa mortis und die an ihnen abzulesende Auflösung des Körpers zu (vv. 630-635), 40 doch folgt die Wahrnehmung des Toten zuvor dem rhetorischen Muster einer descriptio personae. Dabei wird suggeriert, daß der Blick der Frau von Erwartungen gelenkt ist, die in der erfahrenen Gemeinsamkeit eines adlig-höfischen Lebens gründen. Für diesen Blick läßt sich das, was war, mit dem, was ist, nicht in 39

Vgl. Hartmut Freytag, Die frühmittelhochdeutsche geistliche Dichtung in Österreich, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750), Teil 1, Graz 1986, S. 119-150, hier S. 150: » [ . . . ] dabei ist die descriptio nicht, wie üblich, einfach praesentisch aufgebaut, sondern lebt aus dem intensiven Nebeneinander von Praesens und Praeteritum«.

40

Vgl. Rossell Hope Robbins, Signs of Death in Middle English, Mediaeval Studies 32 (1970), S. 282-298, bes. S. 289ff.

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Schwierige

Nähe

Deckung bringen. Betont wird die Diskrepanz von Einst und Jetzt, und betont wird auch die dadurch evozierte Fremdheit, doch ist bemerkenswert, daß die Darstellung gerade dasjenige beleuchtet, was als vergänglich und nichtig erwiesen werden soll: das glanzvolle Leben eines höfischen Herrn. Die descriptio mortui registriert nämlich in erster Linie die Absenz vergangener Schönheit und einstigen Glücks und erfaßt dabei kenntnisreich und in vielen konkreten Einzelheiten die Verfeinerung adlig-höfischer Existenz.41 Die Gesichtsfarbe, der >richtig< gezogene Scheitel, das geglättete Haar und der Bart, die Beine mit den eng anliegenden Strümpfen werden erwähnt und lenken die Aufmerksamkeit auf die wichtigsten männlichen Schönheitsattribute der Zeit, die, und auch das verdient Beachtung, mit bestimmten Verhaltensweisen in Verbindung gebracht sind, die den Toten als Diener der Liebe ausweisen, als jemanden, der sich auf das Spiel der Blicke verstand, seine Beredsamkeit dem Preis der Frau widmete, Liebeslieder intonierte und Umarmungen folgen ließ, den höfischen Gang beherrschte und auf modische Kleidung42 bedacht war. Die Zwiesprache zwischen dem mächtigen, vornehmen jungen Mann und seinem in der inneren Hölle festgehaltenen Vater (vv. 663-811) überschreitet die Grenze des real Erfahrbaren. So erstaunt es wenig, daß sich gerade in dieser Passage vermehrt Signale der Glaubwürdigkeit und Wohlmeinenheit finden - sie dienen der Absicherung einer gänzlich fiktiven Kommunikationssituation und eines unmöglichen Sprechens. Die Rede des Sohnes legt das Gewicht auf die Geschwindigkeit, mit der nach dem Tode die Schönheit des Körpers einem schockierenden Fäulnisprozeß anheimfällt (vv. 670-681). Weniger, als man vielleicht erwarten würde, beleuchtet dann die Antwort des Vaters das eigene Schicksal im Jenseits - von der Hölle und den Qualen, die sie für denjenigen bereithält, der die Notwendigkeit rechtzeitiger Buße nicht erkennt, handeln nur relativ wenige Verse. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen vielmehr noch einmal die Verfehlungen des Weltlebens,43 wobei zum 41

Insofern erscheint mir die Sichtweise von Scholz-Williams nicht korrekt: »[...] we do not see the beautiful face, the strong, wide chest, the straight legs, instead, we look at still hands, the mouth that stopped singing, the beard that ceased growing, the feet that walk no more in the company of courtly women.« Gerhild Scholz-Williams, Against Court and School: Heinrich of Melk and Helinant of Froidmont as Critics of Twelfth-Century Society, Neophilologus 62 (1978), S. 513-526, hier S. 517. Vgl. auch dies., The Vision of Death [Anm. 35], S. 52.

42

Die Verse 627-629 (er ist dir ην vil fremde,/dem dv e die seiden indaz hemde/ mvse in manigen enden weiten) verstehe ich somit anders als Scholz-Williams, die hierin eine Anspielung auf eine Gewichtszunahme im Alter sieht und daran die Überlegung knüpft: »[...] references to his bulging waistline and his age suggest that he may not have died in a battle.« Scholz-Williams, The Vision of Death [Anm. 35], S. 52f. Vgl. zur Stelle aber die Anmerkung bei Kienast (Der sogenannte Heinrich von Melk, nach R. Heinzeis Ausgabe von 1867 neu hg. von Richard Kienast, Heidelberg 1946) und bei Bein (u.a.) [Anm. 9].

43

Vergleichbares beobachtete N. Palmer an spätmittelalterlichen Gebrauchstexten. Vgl. Nigel Pal-

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einen, retrospektiv, die väterlichen Sünden und dann die Sünden des Sohnes registriert werden, die, insofern sie in der Gegenwart der fiktiven Sprechsituation aktuell sind, die Warn- und Mahnrede des Vaters begründen können. Das dabei erfaßte Spektrum - Völlerei, Wollust, Habgier und Hochfahrt (vv. 715— 727) - ist allerdings aus den Lasterkatalogen gespeist, und die Darstellung, die zunehmend die Verfallenheit an den Reichtum in den Brennpunkt der Kritik rückt,44 kommt hier, anders als bei der Konfrontation der Ehefrau mit ihrem toten Mann, weitgehend ohne eine zeitspezifische Detaillierung aus. *

dar bringe dv, got here, durch deiner muter ere vnt durch aller deiner haeiligen recht Haeinrichen, deinen armen chnecht. vnt den abt Erchennenfride, den habe dv, herre, indeinem fride. (vv. 1029-34)

Ebensowenig wie sich dem Schlußgebet mit Sicherheit entnehmen läßt, daß der Abt Erkenfried der Gönner und Auftraggeber des Dichters war,45 ebensowenig ist die allgemein übliche Annahme, daß die Bitte für Haeinrichen, deinen armen chnecht auf den Autor zu beziehen ist, über jeden Zweifel erhaben; von beidem steht nichts im Text, möglich ist es gleichwohl. Doch auch wenn man Heinrich und den Autor des Textes in eins setzen möchte, scheint mir die immer wieder anzutreffende Rede von der >Selbstbezeichnung< oder >Selbstnennung< des Dichters in ihrer Verkürzung zumindest mißverständlich zu sein. Der betreffende Satz ist so konstruiert, daß eine textinterne Sprechinstanz sich an Gott wendet, mit einer Bitte, die einem Dritten, eben jenem Heinrich, zumer, Die Letzten Dinge in Versdichtung und Prosa des späten Mittelalters, in: Wolfgang Harms u. L. Peter Johnson (Hgg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters, Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975, S. 225-239, hier S. 238f., mit Hinweisen zur Tradition solcher Aufzählungen von Sündem und Sünden. 44 Für die Verfallenheit an den Reichtum findet der Text eine Vielzahl von Ausdrucksformen: das Zusammenraffen von Lehen, Eigenbesitz, Burgen, Meierhöfen und Hufen und anderen Herrschaftsrechten (vv. 752-756), die unbarmherzige Beraubung von Witwen und Waisen (vv. 771— 774), die Weigerung, Almosen zu geben und so die Bedürftigen zu unterstützen (v. 761 f.), die Weigerung, des Verstorbenen mit Seelenmessen zu gedenken (vv. 763-765), die Liebe zu Gold, Silber und Kleidung (vv. 843-847), die Akkumulation von Besitz zugunsten der Ehefrau oder der Kinder (vv. 864—871). - Die Liste der Sünden wird indes in der an späterer Stelle vom Sprecher gegebenen Höllenschilderung noch einmal erweitert. Neben Mord, Diebstahl und Raub werden hier erneut die 'Sünden der Zunge' exponiert: in der als Verbindung von Pechbächen, Feuersglut und Eis vorgestellten Hölle sitzen nämlich auch die ruomaere[], huraer[e], rednaere und scheltaere ein (vv. 951-971). 45 Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300, München 1979, S. 364, Anm. 368.

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gute kommen soll; genauso verhält es sich mit der unmittelbar daran angeschlossenen Bitte für den Abt Erkenfried. In keinem der beiden Sätze fällt auch nur ein Wort über die Produktion von Literatur, ein Autor ist damit ebensowenig präsent wie ein Gönner oder Auftraggeber. Den Satz über Heinrich als Selbstbezeichnung des Dichters zu verstehen, setzt zweierlei voraus: erstens muß man ihn so lesen, daß hier eine textinterne, bislang anonym gebliebene und über die erste Person Singular resp. Plural hereingeholte Sprechinstanz nun von sich selbst in der dritten Person spricht, und zweitens muß man für den Namen Heinrich die Referenz auf einen textexternen Autor ansetzen. Diese Verstehensoperationen sind überall dort vorgenommen worden, wo man versucht hat, aus den Aussagen des Sprechers über sich selbst die Biographie oder das Persönlichkeitsprofil des Autors zu rekonstruieren. Während man einem derartigen Rückschluß auf den Autor inzwischen allgemein kritischdistanziert begegnet, sind die ihn fundierenden Verstehensoperationen in Geltung geblieben, als seien sie selbstverständlich und zwingend. Wenn man ihnen diese Selbstverständlichkeit nimmt und sie als das einstuft, was sie sind, nämlich von bestimmten Interessen und Vorentscheidungen gesteuerte Rezeptionsweisen, müssen auch diese Interessen und Vorentscheidungen - als nicht länger biographisch orientierte - neu bestimmt werden. Bringt man nun, wofür eingangs votiert wurde, ein poetologisches Interesse in Anschlag, wird man die Rede vom armen chnecht Heinrich als eine besondere Form der Autorinszenierung und damit als Literarizitätssignal lesen wollen. Ähnlich hat jüngst Ernst Hellgardt argumentiert und die in der frühmittelhochdeutschen Literatur ansonsten nur noch bei dem Dichter der 'Litanei' belegte sprachliche Form der > Selbstnennung < als eine zwischen erster und dritter Person schwebende Möglichkeit der Rede beschrieben, die eine mündliche Gebetskommunikation zwischen einem »Fürbitte für den Autor leistenden, fiktiven Dritten« und Gott als Adressaten seines Sprechens inszeniert, wobei das fingierte Fürbittgebet als erst im Hinblick auf eine Verschriftung plausible Möglichkeit genutzt werde, den Rezipienten den Namen des Autors kundzutun: »Daß also der Name in dieser Weise genannt wird, ist als Indiz literarischen Bewußtseins des Autors zu deuten und muß vom Publikum in einem Akt literarischer Kommunikation rezipiert werden.«46 Die Namensnennung verbindet sich in der 'Mahnrede über den Tod' mit einer sorgfältig ausgearbeiteten Autorinszenierung. Der Epilog präsentiert einen Autor im Gebet und kombiniert dabei christliche Demutshaltung und 46

Ernst Hellgardt, Anonymität und Autornamen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschen Literatur des elften und zwölften Jahrhunderts. Mit Vorbemerkungen zu einigen Autornamen der altenglischen Dichtung, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen [u.a.], Tübingen 1998, S. 46-72, S. 67f„ Zitate auf S. 68.

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Heilsgewißheit: die Bitte um Aufnahme in den Himmel wird schließlich abgelöst von einem antizipatorischen Bild, das den Autor als Bewohner des Gottesreiches vorstellt, integriert in ein kollektives >Wir< gläubiger Christen und mit den Engeln zum Preis Gottes vereint (vv. 1029-1042). Der Autor tritt hier außerdem als sündiger Diener Gottes in Erscheinung, und dieser Figuration ist eine eigentümliche Spannung inhärent. Das Epitheton >arm< aktualisiert als Bestandteil christlicher Demutstopik den Gedanken der allgemeinen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen.47 Im vorliegenden Text ist es vor allem auf die als ubiquitäres Übel diagnostizierte Weltverfallenheit und Todesvergessenheit zu beziehen und auch auf deren besondere Ausprägung: das in der digressio vorgeführte Abweichen d e s A u t o r s von einem projektierten Memento mori. Zugleich aber ist diesem homo miser ein Bewußtsein menschlicher Sündhaftigkeit zugeschrieben und enthält der Text jene bereits angeführte Passage, in welcher der auctor miser die im Erzählakt sich zeigende Zuwendung zur Welt selbst zur Sprache bringt. Diese doppelte Selbstreflexivität ist rückgebunden an die didaktische Ausrichtung der Rede: An der Figur des Autors wird die Erkenntnisleistung, die von allen erbracht werden muß, exemplarisch vorgeführt. Diese spezielle Verwendungsweise des mi'ser-Epithetons verbindet sich mit der Bezeichnung >GottesdienerParvipontanuspope< uses against the »blasphemous« Germans one of their favorite arguments. 101 Aware of the intellectual inferiority ascribed to them by their critics in the curia, these stulti Alemanni102 were determined to prove the contrary. If the foundation of a Reichskirche can no longer be alleged as one of the aims of Reinald's policy, the conflict between the empire and the papacy in which he played a leading role led, in chancery circles, to the polemical formulation of a transalpine identity. In this context, the (misleadingly termed) >school exercises< of Trier are significant, for at the level not of historical fact but of cultural ideology they provide an insight into the Archpoet's milieu. Fictive counterparts to a political controversy, they reveal the freedom with which this writer's colleagues manipulated scriptural sources. In an imperialist parody of the arguments adopted by Adrian IV, they seek to undermine the basis of his authority. Auctoritas, as Barbarossa and his agents represent it, is independent of Rome. To deny or challenge this position is to become a madman, a blasphemer, a schismatic. Religious categories appropriated to secular ends, the papal monarchy is derided as a caricature of the empire. A >countercultureGerman national sentimentsnorth of the Alpspenitent< did not claim to flout; scarcely a rule in the handbooks which he did not boast of breaking. The ethics of inteniudicium accusat. Sciendum uero est, quia ex poena paenitentiae, quam sibi mens irrogat, aliquatenus securitatem percipit; atque ad interrogationem supemi iudicis fidentior exsurgit, ut semetipsam subtilius inueniat, et erga se quaeque quomodo disponantur, agnoscat.« S. Gregorii Magni Moralia in lob Libri I-X, ed. M. Adrien, CCSL 143 (Thmhout, 1979), 44,7, p. 504, 1-7. 1,7 »Sed sunt nonnulli qui apertis uocibus culpas fatentur, sed tamen in confessione gemere nesciunt, et lugenda gaudentes dicunt.« Ibid., 43,66, p. 504, 12-14. " 8 Alan of Lille, Liber poenitentialis 2,1,1, p. 20, 24-25. 119 Cf. A. Wathen, Conversio and Stability in the Rule of Saint Benedict, Monastic Studies 2 (1975), p. 1-44. 120 Alan of Lille, Liber poenitentialis 2,2,35, p. 36. 121 Ibid., 2,22,21, p. 33.

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Archness: The Archpoet and the Arch-Chancellor

tion that sought to eliminate mala uoluntas from external acts of pleasure 122 were made nonsense by this riotous yet refined conflation of the moralists' divisions and sub-divisions of sin. But if their solemnity is turned to ridicule, the purpose was not frivolous. For the Archpoet then goes on to identify, in his failings, the motive force of his art: Unicuique proprium dat Natura munus: ego nunquam potui scribere ieiunus; me ieiunum vincere posset puer unus, sitim et ieiunium odi tamquam funus. (10,17) (Nature gives each man his particular gift: I could never write on an empty stomach; a boy, alone and unaided, could knock me down in such a state I hate hunger and thirst like a funeral.)

Was Reinald of Dassel, while laughing at these verses, meant to observe that their combination of Propertius with Saint Paul on the subject of sex is made yet more ironical if one adds an allusion to the fortieth chapter of the Benedictine rule on the daily measures of monastic drink? 123 Or was this prince of the church capable of rising beyond the verbal level of the text to see, in the mirror-image of his client's art, a reflection of his own persona? Impudens scurrilitas verborum, as practiced by the Archpoet, is not merely stylistic. Its combination of the secular and the sacred achieves an effect of shock or amusement parallel to the one which Reinald, with his outrageousness and bravura, exercised on his contemporaries. Hence the appeal, to this unconventional prelate, of the boldness with which are inverted the categories traditionally employed to denounce vice. Twisted into new standards, they enable the Archpoet to make his confessio into a form of counter-accusation: Ecce mee proditor pravitatis fui, de qua me redarguunt servientes tui. Sed eorum nullus est accusator sui, quamvis vellent ludere seculoque frui. (10,20) (Look, I have betrayed my own wickedness, of which your servants accuse me. But none of them accuses himself, although they wish to live it up and enjoy this world.)

Displaced from their judges' thrones of 1,29, the moralists are banished to the margins of a scene where, in the public glare of a confessio solemnis, his 122 123

Ibid., 2,22,21, p. 33. Hamacher, Die Vagantenbeichte [note 109], p. 165 and Dronke, The Archpoet [note2], p. 66-67.

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Peter Godman

conversion and rebirth are announced (10,22-23). Pity should be taken on him who seeks forgiveness, penance imposed on him who avows his fault (10,24,2-3) - but not too harshly, because: quod caret dulcedine, nimis est amarum. (10,25,4) (what lacks sweetness is too bitter.) An allusion to the indulgentia recommended when penitential rigor would thwart its purpose? 124 Or a reference, as double-edged as the »sophistical contrition«125 that animates the rest of the poem, to the sweetness of »Venus' commands« celebrated at the point when its author begins to exalt his own sins (10,4,3)? One of them was drunkenness, a vice against which reformers inveighed. Rupert of Deutz, in his comments on the first book of Joel (1:5), identified dulcedo with luxuria, which led, he claimed, to the bitterness of grief (doloris amaritudo).126 Penance should be undertaken by those in such a state. That movement of thought - from dulcedo to amaritudo to penitentia - is reversed by the Archpoet, possibly because he knew Rupert's work and certainly because he was familiar with the structure of admonition which it and similar writings contained. Amused by this swipe at one of the local moralists, the electus Colonie (10,24,1) had even more reason for mirth at the expense of their leading champion on the European scene. For the simulata confessio which Reinald's client exploited had been identified and described, in graphic detail, by Bernard of Clairvaux. »There are quite a few«, wrote that vigorous stylist in the eighteenth chapter of his De gradibus humilitatis et superbiae, »who, when they are accused of obvious faults, knowing that their self-defence will not be believed, make up a subtler argument to defend themselves and reply in the words of a crafty confession [...] Their faces bowed, their bodies prostrate, they wring forth a few 124

Alan of Lille, Liber poenitentialis 2,2,13, p. 55. For the term see ibid., 2,2,1, p. 45. 126 »>Expergiscimini, ebrii, et flete et ululate omnes, qui bibitis vinum in dulcedine quoniam periit ab ore vestroqui bibitis vinumin dulcedineQuoniamtransalpine< polemic which enables the Archpoet's stance to be defined with exactitude. On the hierarchy of vices and virtues erected by Bernard, he was to be stationed at the ninth grade of superbia. There his »proud humility« and »twisting and turning« (tergiversatio) should swiftly be detected for what they were »by a prelate«129. That the prelate to whom this >confession< was addressed would not fail to do so, is its author's expectation. That Reinald, in his hostility to the Cistercians and their allies, would take the opposite attitude to the one recommended by Bernard is the ground for the Archpoet's confidence. When he compared himself to a gliding river, a drifting boat, and an aimless bird (10,1-2), he was lying through his teeth. The foundation for the apparently precarious mixture of outrageousness and irony in his work lay in the ecclesiastical politics of the 1160s. Undermining the position of the reformers in 127

»Nonnulli enim, cum de apertioribus arguuntur, scientes, si se defenderent, quod sibi non crederetur, subtilius inveniunt argumentum defensionis, verba respondentes dolosae confessionis [...] Vultus demittitur, prosternitur corpus; aliquas sibi lacrimas extorquerent, si possunt; vocem suspiriis, verba gemitibus interrumpunt. Nec solum qui eiusmodi est obiecta non excusat, sed ipse quoque culpam exaggerat, ut dum impossibile aliquid aut incredibile culpae suae ore ipsius additum audis, etiam illud, quod ratum putabas, discredere possis, et ex eo quod falsum esse non dubitas, cum confitetur, in dubium veniat quod quasi certum tenebatur. Dumque affirmant quod credi nolunt, confitendo culpam defendunt, et aperiendo tegunt, quando et confessio laudabiliter sonat in ore, et adhuc iniquitas occultatur in corde [...]« Sancti Bernardi Opera 3, Ed. J. Leclercq and H.M. Rochais (Rome, 1963), 3, p. 51,15-52,4.

128

See above, p. 55 and n. 19. De gradibus humilitatis et superbiae, Sancti Bernardi Opera 3, p. 52,11.

129

87

Peter

Godman

terms which they would have understood, this subversive >confessio< made a contribution to eliminating the poenitentia solemnis. What Abelard had advocated solemnly,130 Reinald and his client effected with laughter. Or so it is pleasing to think. Anti-reformist, anti-ascetic, anti-moralistic, and anti-Roman; erudite, sophisticated, profane, and provocative; expert in the conventions, the deportment, and the mores of clerical conduct, while defying them by his worldliness, his wit, and his flair, the Archpoet developed the persona of a literary spokesman of a >counter-cultureweltliche< und >geistliche< Literatur verbindenden und ihre Unterscheidung relativierenden Gebrauch, der in der unauflösbaren Verschränkung von Geistlichem und Weltlichem in mittelalterlichem Herrschaftsverständnis wurzelt und gerade in der Herrscherapotheose sinnfällig wird. Man geht heute davon aus, daß das 'Rolandslied' im Umkreis Heinrichs des Löwen (und in seinem Auftrag) entstand, vielleicht 1172;4 und es spricht manches dafür, den 'Erec' Chrestiens zwei, drei Jahre früher anzusetzen und ihn in den Umkreis Heinrichs II. von England zu tun.5 Beide Höfe verbindet Mathilde, Tochter Heinrichs II. und seit 1168 Frau Heinrichs des Löwen, der später mit ihr am englischen Hof im Exil leben wird. Von dort könnten schon die Vorlage des 'Rolandsliedes', ja wohl auch die gedanklichen Voraussetzungen einer Bearbeitung der 'Chanson de Roland' an den weifischen Hof gelangt sein. Über enge Beziehungen zwischen den beiden Höfen wenigstens von der Absprache der Heirat Heinrichs mit Mathilde 1165 bis zu ihrem (und ihres Vaters) Tod 1189 besteht Gewißheit.6 Wie weit diese Beziehungen aber an den Bedingungen Anteil hatten, unter denen das 'Rolandslied' entstand, ist offen; und mehr als plausible Überlegungen sind auch und gerade dann nicht zu erwarten, wenn man darauf verzichtet, die Anregung des 'Rolandslieds' zu personalisieren, sie (wie üblich) an die Personen Heinrichs II., Eleanores oder Mathildes zu binden,7 wenn man stattdessen diese Personen nur als Glieder ihres sozialen Systems begreift. 4

5 6

7

Seit Dieter Kartschoke, Die Datierung des deutschen Rolandsliedes, Stuttgart 1965 (Germanistische Abhandlungen 9). Vgl. die Argumentation unten, S. lOOff. Vgl. etwa Jens Ahlers, Die Weifen und die englischen Könige 1165-1235, Hildesheim 1987 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 102); zur Kunst Ursula Nilgen, Heinrich der Löwe und England, in: Heinrich der Löwe [Anm. 16], Bd. 2, S. 329-342: Von der Eheschließung Heinrichs und Mathildes an sei »mit einem kontinuierlichen Austausch zwischen dem weifischen und dem englischen Hof zu rechnen, der sicher den Transfer von Kunstwerken einschloß, wenn derartiges auch nicht in den Quellen erwähnt wird« (S. 329) und »kein einziges Kunstwerk nachweislich anglo-französischer Herkunft aus dem Umkreis des herzoglichen Hofes mehr erhalten ist« (S. 340). Zum »Kulturtransfer« im Bereich der »höfisch-adligen Sachkultur« vgl. Markus Müller, Die Weifen und Formen höfischer Repräsentation im anglonormannischen Reich, ebd., S. 377-386, noch grundsätzlicher Niehoff [Anm. 15]. Vgl. etwa Heinz Thomas, Matifere de Rome - matifere de Bretagne. Zu den politischen Implikationen von Veldekes 'Eneide' und Hartmanns 'Erec', ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 6 5 104, hier S. 69: »[...] dürfte es im wesentlichen Heinrichs II. Initiative zu danken sein, daß sein Schwiegersohn Heinrich der Löwe die 'Chanson de Roland' ins Deutsche übersetzen ließ.« Vgl. auch S. 75.

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Herrscherapotheosen

Man versteht einen Hof wohl (wirklich) am besten mit Aegidius Romanus als societas & communicatio personarum habitantium,8 als Rechts- und Lebensgemeinschaft, die den Herrscher einschließt, als Kreis, der in ständigem umfassenden Gespräch sein Selbstverständnis überdenkt, Entscheidungen vorbereitet und sie dank der sozialen Position seiner Mitglieder in politisches Handeln und kulturelle Ausdrucksformen umzusetzen vermag. Dabei beruht die Fruchtbarkeit dieses vorbereitenden (im weitesten Sinn) >höfischen< Diskurses nicht nur auf der Zusammensetzung der Führungsgruppen an sich aus Klerikern und Laien, sondern ebenso auf der Mobilität und der Instabilität der Höfe, wechselnder Umgebung und wechselnder Zusammensetzung und ständigem Verkehr, auf ihrem fortgesetzten Umgang mit Fremdem und auf der Auseinandersetzung mit ihm. Dieses Bild des Hofes hat in der Forschung gerade der letzten Jahre so kräftige Konturen bekommen, daß ich es hier nicht weiter auszuführen brauche.9 Obwohl wir aber mehr wissen als je zuvor über Idee und Inhalt der curialitas, ihren Ursprung und ihre Erhebung zum Bildungsziel, über die Personengruppen bei Hof, soziale Strukturen, Ämter und Umgangsformen, über höfische Diskurse unter Klerikern und Laien, Idealisierung und Hofkritik und subtile Reflexionen über den Umgang mit den Möglichkeiten der Literatur, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, im Kontext höfischer Kultur10 - trotz allem ist uns (wie Joachim Bumke gerade noch einmal betont hat) »die Wirklichkeit des höfischen Literaturbetriebs [...] weitgehend verschlossen«11. Was uns fehlt, sind etwa Studien wie die von Peter Godman für 8

Die von Thomas Zotz in seiner Zusammenfassung der Reichenauer Arbeitstagung vom Herbst 1996 »Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Früh- und Hochmittelalter« (Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Protokoll 354, S. 128-135, hier S. 129) zitierte Formulierung steht bei Aegidius Romanus im Zusammenhang seiner Definition der domus als kleinster natürlicher Einheit (als familia oder Hausgemeinschaft), in der sich der Mensch als animal communicatiuum & sociale organisiere: De regimine principum (Nachdr. der Ausg. Rom: Bladus 1556), Frankfurt a.M. 1968, II,i,iff., S. 128r-134v, die Definition auf S. 132".

9

Vgl. etwa losef Fleckenstein, Miles und clericus, in: Ders. (Hg.), Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, Göttingen 1990 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 100), S. 302-325; Klaus Schreiner, >Hof< (curia) und >höfische< Lebensführung (vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit, in: Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller (Hgg.), Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 67-138; Peter Johanek, Höfe und Residenzen, Herrschaft und Repräsentation, in: E.C. Lutz (Hg.), Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang. Ergebnisse des 3e Cycle Romand 1994, Freiburg/Schweiz 1997 (Scrinium Friburgense 8), S. 45-78.

10

Vgl. bes. Michael Curschmann, Höfische Laienkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Zeugnis Lamberts von Ardres, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), >Aufführung< und >Schrift< in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien 17), S. 149-169. 1 ' Joachim Bumke, Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik, ZfdPh 116 (1997), S. 87-114, hier S. 112.

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diesen Band verfaßte - was mir gerade als Ziel vorschwebt, ist dort für einen besonders wichtigen (freilich auch in mehrfacher Hinsicht ganz besonderen) Fall erreicht.12 Vorläufig aber kann man - um weiter mit Bumke zu reden angesichts der Überlieferungslage, des Fehlens von Autor-Texten, in der Tat nur ausweichen auf die Erforschung der »konkreten Überlieferungsverhältnisse« - wie Bumkes 'Klage'-Buch es tut13 - und eben auf »die historische Bedingtheit der literarischen Texte«.14 Um sie geht es mir auch hier, freilich im weitesten Sinn eines >interkurialen< höfischen Gesprächs, das 'Erec' und 'Rolandslied' als sehr verschiedene und eben doch verwandte Produkte analoger (sagen wir vorerst:) >Programme< (oder schlichter: Überlegungen und Interessen) erscheinen läßt.15 Der Hof Heinrichs des Löwen hat als Sonderfall hochmittelalterlicher Residenzbildung seit langem besondere Beachtung gefunden.16 Der systematische Ausbau Braunschweigs, seiner Mauern, seines Marktes, der Neubau der Burg und der Stiftskirche St. Blasius, die Errichtung des Löwen-Standbilds - alles zeugt von einer über Jahrzehnte hinweg konsequent verwirklichten Vorstellung von Herrschaft, eben von einem Programm, das intensives konzeptionelles Denken voraussetzt. Und man hat früh die Kunst, die Stiftungen des Hofes einbezogen, schließlich auch die Literatur.17 Ich lasse die Frage hier beiseite, 12

Peter Godman, Archness: The Archpoet and the Arch-Chancellor, in diesem Band, S. 51-88. "Joachim Bumke, Die vier Fassungen der 'Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8). 14 Bumke [Anm. 11], S. 114. 15 Ich setze damit an anderer Stelle begonnene Überlegungen fort: Zur Synthese klerikaler Denkformen und laikaler Interessen in der höfischen Literatur. Die Bearbeitung einer Chanson von Karl und Roland durch den Pfaffen Konrad und das Helmarshauser Evangeliar, in: E.C. Lutz u. Emst Tremp (Hgg.), Pfaffen und Laien - ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996, Freiburg/Schweiz 1999 (Scrinium Friburgense 10), S. 57-76, und: Literatur der Höfe - Literatur der Führungsgruppen. Zu einer anderen Akzentuierung, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst [Anm. 2], S. 25-45. - Ein entsprechendes, weit ausgreifendes Arbeitsprogramm entwickelt aus kunstgeschichtlicher Sicht Franz Niehoff, Heinrich der Löwe - Herrschaft und Repräsentation. Vom individuellen Kunstkreis zum interdisziplinären Braunschweiger Hof, in: Heinrich der Löwe [Anm. 16], Bd. 2, S. 213-236. 16 Vgl. Bernd Schneidmüller (Hg.), Die Weifen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter, Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7), und Jochen Luckhardt und Franz Niehoff (Hgg.), Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Weifen 1125— 1235. Katalog zur Ausstellung Braunschweig 1995, Bd. 1-3, München 1995. 17 Vgl. Karl Bertau, Das deutsche Rolandslied und die Repräsentationskunst Heinrichs des Löwen, DU 20 (1968), S. 4-30; dens., Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. 1: 8001197, München 1972, S. 462-470; Karl-Ernst Geith, Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Bern/München 1977 (Bibliotheca Germanica 19); Marianne Ott-Meimberg, Kreuzzugsepos oder Staatsroman. Strukturen adeliger Heilsversicherung im deutschen 'Rolandslied', Zürich/München 1980 (MTU 70).

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Herrscherapotheosen

was sonst noch an diesem Hof geschrieben oder rezipiert worden sein mag:18 Die (späten) historiographischen Interessen Heinrichs sind jedenfalls bekannt,19 und beim 'Rolandslied' spricht nun auch der handschriftliche Befund für Braunschweig.20 Wichtiger als diese Frage scheint mir in unserem Zusammenhang, daß das 'Rolandslied' konzeptionell im Gefüge der Selbstdarstellungen des weifischen Hofes zwar einen anderen, aber keinen geringeren Rang einnimmt als das Helmarshauser Evangeliar.21 Denn das lassen selbst noch die so umfassenden und differenzierten Untersuchungen Otto Gerhard Oexles nicht erkennen.22 Der kostbare liturgische Kodex, der die Tradition kaiserlicher Stiftungen aufnimmt, und der stilistisch anspruchslose volkssprachige Text des 'Rolandsliedes' vertreten in erstaunlicher Übereinstimmung dieselbe Herrschaftsauffassung, vertreten sie nur in unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen im Rahmen desselben weifischen Hofes. In beiden Fällen ist der Kern der Aussage gleich: Daß nach johanneischer Tradition (die Augustin und Otto von Freising vermitteln) wahrer Glaube zu einer ersten Auferstehung führt, die vor dem Jüngsten Gericht bewahrt, weil dieser Glaube die Mitregentschaft mit Christus schon jetzt und am Ende der Zeiten den unmittelbaren Übergang in die Seligkeit gewährt. Deshalb berechtigt die Stiftung des Buches (des 'Rolandsliedes' wie des Evangeliars) als Zeichen ihres Glaubens die Stifter zur Hoffnung, daß ihre irdische Herrschaft - als Regiment mit Christus im Glauben - >durchlässig< sei auf das Regieren der verewigten Kirche hin. Im Evangeliar steht dafür das Bild des in der Nachfolge Christi sein Kreuz tragenden Herrscherpaares, über dessen Häuptern göttliche Hände die verheißenen Kronen des ewigen Lebens noch in der Schwebe halten.23 Und im Epilog des 18

Insbesondere die Diskussion um den 'Lucidarius'; vgl. Georg Steer, Der Α-Prolog des deutschen Lucidarius - das Werk eines mitteldeutschen Bearbeiters des 13. Jahrhunderts, und Joachim Bumke, Heinrich der Löwe und der Lucidarius-Pro\og, DVjs 69 (1995), S. 603-665, weiter Georg Steer, Literatur am Braunschweiger Hof Heinrichs des Löwen, in: Die Weifen [Anm. 16], S. 347-375, Volker Mertens, Deutsche Literatur am Weifenhof, in: Heinrich der Löwe [Anm. 16], Bd. 2, S. 204-212, und Joachim Ehlers, Literatur, Bildung und Wissenschaft am Hof Heinrichs des Löwen, in: Ingrid Kasten u.a. (Hgg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire litteraire au moyen äge, Kolloquium Paris 1995, Sigmaringen 1998 (Beihefte zur Francia 43), S. 61-74, bes. S. 71-74.

"Vgl. die Annales Stederburgenses (ed. Pertz) (MGH SS 16), S. 230. Vgl. auch Klaus Naß, Geschichtsschreibung am Hofe Heinrichs des Löwen, in: Die Weifen [Anm. 16], S. 123-161. 20 Vgl. Barbara Gutfleisch-Ziche, Zur Überlieferung des deutschen 'Rolandsliedes'. Datierung und Lokalisierung der Handschriften nach ihren paläographischen und schreibsprachlichen Eigenschaften, ZfdA 125 (1996), S. 142-186. 21 Zum Folgenden Lutz, Synthese [Anm. 15]. 22 Vgl. etwa Otto Gerhard Oexle, Die Memoria Heinrichs des Löwen, in: Dieter Geuenich u. O.G. Oexle (Hgg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Göttingen 1994 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111), S. 128-177. 23 Vgl. Dietrich Kötzsche, Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. Autorisiertes vollständiges Fak-

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'Rolandlieds' wird der irdische Hof Heinrichs des Löwen in zeichenhaftsakramentaler Durchsichtigkeit vom ewigen Licht der Himmelsstadt erfüllt. 24 In beiden Fällen erscheint Heinrich als Nachfahr Karls des Großen, des seit 1165 heiliggesprochenen Kaisers. Nur im 'Rolandslied' freilich können Glaube und Heiligkeit Karls mit seinem Kampf gegen die Heiden begründet werden und kann dieser kriegerische Einsatz für die eine, diesseitige und jenseitige Kirche als ein Verdienst herausgehoben werden, das Heinrichs Herrschaft mit derjenigen Karls verbindet und gerade deshalb Grundlage der Erlösungsgewißheit Heinrichs sein kann. 25 Nun sind die Elemente dieser Herrschaftsauffassung und dieses Karlsbildes nicht neu und nicht auf Heinrich den Löwen beschränkt. Sie finden sich schon in Friedrich Barbarossas Privileg für Stift und Stadt Aachen vom 8. Januar 1166, dessen ausladende Narratio die soeben, an Weihnachten, vollzogene Heiligsprechung Karls des Großen würdigt. 26 Der Text geht nicht nur aus vom Bekenntnis Friedrichs zu Lebens- und Regierungsform Karls (forma vivendi et regendi), von dessen imitatio als eines Wahrers des Rechts, sondern umreißt auch die geistlichen Verdienste des Kaisers so, daß der gedankliche Zusammenhang mit der Konzeption des 'Rolandsliedes' evident ist: Karl ist charakterisiert durch sein Streben nach dem Lohn des ewigen Lebens aufgrund seines Einsatzes für die Verbreitung des Christentums im Innern wie nach außen. Er sei ein Held (fortis athleta) und verus apostolus bei der Bekehrung der Heiden mit Wort und Schwert (von den Sachsen bis zu den Spaniern), und obwohl er selbst nicht durchs Schwert gefallen sei, machten ihn seine Leiden, seine gefährlichen Kämpfe und seine ständige Todesbereitschaft bei der Bekehrung der Ungläubigen zum Märtyrer: Licet etiam ipsius animam gladius non pertransierit, diversarum tarnen passionum tribulatio et periculosa certamina et voluntas moriendi cotidiana pro convertendis incredulis eum martyrem fecit. (432,38 ff.)

Man verehre Karl schon auf Erden als Erwählten und allerheiligsten Bekenner (electum et sanctissimum confessorem\ 432,40f.), von dem man glaube, daß

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25

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simile des Codex Guelf., Frankfurt a.M. 1988, fol. 17Γ, bzw. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen, erläutert von Elisabeth Klemm, Frankfurt a.M. 1988 (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 47), Taf. 34, das sog. Krönungsbild. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. v. Carl Wesle, 3. durchges. Aufl. bes. v. Peter Wapnewski, Tübingen 1985 (ATB 69), vv. 9017-94, hier vv. 9050ff. Als nepos Karoli bezeichnet ihn das Widmungsgedicht des Evangeliars, fol. 4V, im 'Rolandslied' beziehen sich analoge Aussagen des Prologs (vv. 13-16) auf Karl bzw. des Epilogs (vv. 9043-49) auf Heinrich, dem seine Siege über die >Heiden< quasi erblich zugefallen sind (v. 9047). MGH Dipl. reg. imp. Germ. 10.2 (ed. Appelt), DF. 1.502, S. 430-434, hier S. 432,22-433,10.

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er in sancta conversatione gelebt habe und aufgrund seines reinen Glaubens (pura confessio) und seiner wahren Buße (vera penitencia) zu Gott hinübergegangen und unter den heiligen Bekennern als einer von ihnen im Himmel gekrönt worden sei. Der Interpretation und Darbietung des Rolandsstoffes durch Konrad liegt also (ohne daß ich das hier weiter ausführen kann) ein Karls-Bild zugrunde, das bis in Einzelheiten mit dem übereinstimmt, das schon zur Begründung der Heiligsprechung Karls diente.27 Die Erhebung der Gebeine und die Kanonisation selbst aber fanden im Rahmen eines weihnachtlichen Hoftages (solempna curia) zu Aachen statt, nach - so die Urkunde - Beratung mit den weltlichen und den geistlichen Fürsten und unter intensiver persönlicher Mitwirkung des Kaisers, dessen Erzkanzler (für Italien) Rainald von Dassel als Erzbischof (electus) von Köln im Auftrag Papst Paschalis III. die Kirche vertrat.28 Nun sagt aber Friedrichs Aachener Urkunde ausdrücklich, daß dieser Akt nicht allein durch die ruhmreichen Taten und Verdienste des allerheiligsten Kaisers Karl angeregt, sondern durch die inständige Bitte eines allerliebsten Freundes, des illustren Königs Heinrich von England, veranlaßt worden sei: et sedula peticione karissimi amici nostri Heinrici illustris regis Anglie (433,1). Sicher ist diese Hervorhebung des königlichen Intervenienten auch Teil der anhaltenden Bemühungen des Kaisers um die englische Unterstützung für >seinen< Papst Paschalis III. (ich komme gleich darauf zurück), und sie dient zugleich der Verhüllung des besonderen Engagements Rainalds.29 Sie ist aber vor allem Ausdruck eines offenbar höchst intensiven Austausche des kaiserlichen Hofes mit dem englischen: Denn die Bedingungen der Heiligsprechung und der Ablauf der Elevationsfeier wie die entscheidende Beteiligung des Herrschers an den liturgisch-zeremoniellen Vorgängen ist tatsächlich bis in Einzelheiten hinein vom Vorbild der Heiligsprechung König Edwards des Bekenners (1161) und der Erhebung seiner Gebeine durch Heinrich II. in Westminster (1163) geprägt, zu der Ailred of Rievaulx seine deutlich auf Heinrich II. bezogene 'Vita s. Edwardi regis' verfaßte; und diese Akte sind wiederum angeregt von der Dionysius-Translatio anläßlich der Neuweihe des Chores von Saint-Denis (1144), an der neben König Ludwig VII. seine Gemahlin Eleanore teilnahm, die 1163 dem analogen Vorgang in Westminster als Königin von England 27

Vgl. Lutz, Synthese [Anm. 15], S. 61 f., 71-76. Die Bedeutung Rainalds als gelehrter Berater des Kaisers greifen wir gerade auch in Ottos von Freising Brief an ihn, in dem Otto ihn auffordert, dem Kaiser bei der Lektüre der ihm gerade (1157) übersandten Chronik Ottos auslegend beizustehen - bonum vos Interpretern experiar. In: Otto Frisingensis, Chronica sive Historia de duabus civitatibus, übers, v. Adolf Schmidt, hg. v. Walther Lammers, Darmstadt 1960 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 16), S. 6-9, hier S. 6,17f. 29 Vgl. dazu Godman [Anm. 12], S. 51-88. 28

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beiwohnen sollte.30 Auch wenn daneben direkte Fäden von Saint-Denis nach Aachen laufen mögen,31 spricht alles dafür, die Angabe der Aachener Urkunde von 1166 beim Wort zu nehmen: Denn die Heiligsprechung Karls und ihre Vorbereitung sind, wie nicht anders zu erwarten, integriert in ein komplexes Gefüge reichspolitischer Vorgänge, die sich hier nur andeuten lassen.32 Die Einschränkung der Reichsherrschaft in Italien durch den normannischen König von Sizilien, die römische Kurie, die oberitalienischen Kommunen und den byzantinischen Kaiser führte nicht nur zu wechselnden Bündnissen und unsicheren Machtverhältnissen in Italien selbst, sondern prägte (u. a. über das römische Schisma) jahrzehntelang die Reichspolitik Friedrichs überhaupt. So wurden die heftigen Spannungen zwischen Heinrich II. von England und Thomas Becket bald nach dessen Erhebung zum Erzbischof von Canterbury (1162) für Friedrich zum Anlaß, ein gegen Papst Alexander III. gerichtetes deutschenglisches Bündnis zur Unterstützung des kaiserlichen Gegenpapstes Paschalis III. anzustreben. Was die Gesandtschaft unter Führung des Kanzlers Rainald von Dassel im April 1165 am englischen Hof in Rouen aushandelte, war aber eben nicht nur die Absage an Papst Alexander, die eine englische Gegengesandtschaft (honorabiles legati) auf dem Würzburger Reichstag an Pfingsten 1165 beschwor;33 man versuchte vielmehr, durch die Absprache von Ehen den Fortbestand der neuen Verbindung zu sichern: Die acht- oder neunjährige Mathilde von England wurde mit Heinrich dem Löwen versprochen, eine jüngere Schwester mit dem gerade einjährigen Sohn des Kaisers. Der Einklang der Interessen der Vettern Friedrich und Heinrich, der noch jahrelang anhielt, scheint mir aber eben auch in der gemeinsamen Umsetzung jener an Karl anbindenden Reichs- und Herrschaftsauffassung zum Ausdruck zu kommen, die sich in der Aachener Urkunde wie einige Jahre später im 'Rolandslied' niederschlägt (und schon in Ottos von Freising 'Chronik' vorbereitet ist).34 Wie

30

Vgl. Jürgen Petersohn, Saint-Denis - Westminster - Aachen. Die Karls-Translatio von 1165 und ihre Vorbilder, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 31 (1975), S. 420-454. Ailreds Vita betont das Verdienst Heinrichs um die Heiligsprechung Edwards und empfiehlt Heinrich, seinem Nachfahren, Edward in seiner sanctitas zur Imitatio, damit er mit diesem dereinst aeternam felicitatem erlangen möge. Aelredus Rievallensis, Vita s. Edwardi regis et confessoris, Paris 1855 (PL 195), Sp. 737-790, hier: prologus; dazu Broich [Anm. 42], S. 53-58; zur Integration Ailreds und seiner Legende in die Bemühungen um die Heiligsprechung Edwards als eines »saint for those interested in the secrets of political power« siehe Frank Barlow, Edward the Confessor, London 1979, S. 272-285, hier S. 284.

31

Ebd., S. 441 ff. Ich gebe nur eine Zusammenstellung von unstrittigem Handbuchwissen, so daß sich Nachweise erübrigen. Vgl. etwa Ahlers, Die Weifen [Anm. 6]. Vgl. MGH Dipl. reg. imp. Germ. 10.2 (ed. Appelt), DF. 1.480 (1165 Juni 1), S. 395ff., hier S. 396,34-397,4; 397,21-26. Vorläufig Lutz, Synthese [Anm. 15].

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33

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eng Planung und Vorbereitung der Heiligsprechung Karls mit den übrigen Verhandlungsgegenständen verbunden gewesen sein müssen, zeigt dann eben deren Realisierung am Ende des Jahres - die Sanktionierung der Kanonisation Karls durch den Gegenpapst von Kaisers Gnaden, die Delegierung des Verfahrens an den Verhandlungsführer in England, den Erzkanzler Rainald von Dassel, und die intensive Beteiligung des Kaisers am Verfahren selbst nach englischem Vorbild. Heinrich der Löwe wird schon bei der Vorbereitung der Gesandtschaftsreise auf dem Bamberger Reichstag im November 1164 beratend beteiligt gewesen sein, er ist jedenfalls der erste unter den weltlichen Fürsten, der auf dem Würzburger Reichstag am 1. Juni 1165 den Eid auf die Unterstützung Paschalis' III. ablegt,35 und er wohnt wohl auch Anfang Oktober in Köln der Weihe Rainalds von Dassel zum Erzbischof bei.36 Am 1. Februar 1168 schließt Heinrich im Dom zu Minden die Ehe mit Mathilde von England, und im Oktober desselben Jahres ist dann er es, der - nach dem Tod Rainalds (1167) - mit den Erzbischöfen von Mainz und von Köln als Gesandter des Kaisers seinen Schwiegervater in Rouen aufsucht, um unter veränderten Bedingungen - nach dem Tod Paschalis' III. - zunächst mit Heinrich II. und dann mit Ludwig VII. von Frankreich über die Beilegung des Schismas zu verhandeln und einen Friedensschluß zwischen ihnen zu vermitteln. Gewiß sind derartige Angaben noch unbefriedigend, wenn man wissen will, wie das 'Rolandslied' genau entstand; diese Angaben scheinen mir aber hinreichend genau und dicht, um sich den wiederholten intensiven und konstruktiven Austausch zwischen den deutsch-englischen Führungsgruppen an sich vorstellen zu können. Die Intensität dieses interkurialen Gesprächs läßt sich schon an der Präzision ablesen, mit der die Heiligsprechung Karls dem englischen Vorbild folgt und ihre Konzeption in so unterschiedliche Texte wie das Aachener Privileg und das 'Rolandslied' eingeht. Die Umsetzung der Karlsverehrung in eine volkssprachige Dichtung freilich ist neu, und sie ist bisher nur unzureichend erklärt. Ich wende mich deshalb nun dem englischen Hof zu und frage, inwiefern der ihm eigene Umgang mit Literatur im Rahmen jener intensiven >Gespräche< am Ende der 60er-Jahre diskutiert und nach Deutschland vermittelt worden sein, besser: was er dort angeregt haben könnte. Dabei ist von vornherein klar: Eine Antwort ist letztlich nur von den Texten selbst zu erwarten, und Gewißheiten gibt es da nicht. Der englische Hof der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts war in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Tagungen. Die negative Antwort auf die suggestive Frage von 1984, ob im Herrschaftsgebiet der Planta35 36

DF. 1.480 [Anm. 33], S. 397,12f. Am 2. oder 3. Oktober; jedenfalls erscheint er als erster der assensores des Reichshofgerichts in einer am 4. Oktober 1165 in Köln ausgefertigten Urkunde Friedrichs: DF. 1.493 [Anm. 33], S. 417f., hier S. 418,5f. (mit Einleitung des Herausgebers).

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genets ein eigener Kulturraum entstanden sei,37 ist insofern irreführend, als es ihr nur um das ging, was die Herrschaft Heinrichs II. in allen Teilen seines Reiches gleichermaßen ausgezeichnet und zugleich überdauert haben könnte. Das mag aber, wenigstens in unserem Zusammenhang, dahingestellt bleiben. Was aus jener Perspektive allenfalls als letztlich erfolglose systematische Heiratspolitik erscheint,38 erweist sich nämlich, sobald man (wie auf dem Colloquium von 1990) die Initiativen Heinrichs II. und seiner Umgebung im einzelnen in den Blick nimmt, eben doch als ein kohärentes, traditionelle und innovative Elemente verbindendes Bemühen um allseitige Sicherung der Herrschaft,39 ein Bemühen, das man auch erwartet, wenn man an die Bedeutung der Konzeption des Edward-Kultes für die Heiligsprechung Karls des Großen denkt. Die Bedeutung der Literatur am Hof Heinrichs II. (und die Bedeutung dieses Hofes für die Literaturgeschichte) ist freilich noch immer schwer zu fassen. Der engagierten geistesgeschichtlich bestimmten Darstellung des englischen Hofes als »centre litteraire« durch Reto R. Bezzola fehlt die historisch-kritische Distanz im Umgang mit den Quellen,40 während die beinahe gleichzeitig erschienene Darstellung Heinrichs II. als »Patron der Literatur« durch den jungen Ulrich Broich in ihrer Beschränkung auf nachweislich von Heinrich selbst in Auftrag gegebene bzw. ihm selbst gewidmete und zugleich inhaltlich seinen Einfluß erkennen lassende Werke41 eben gerade das nicht zu fassen vermag, was die literaturgeschichtliche Bedeutung dieses Hofes ausmachen dürfte, nämlich das Zusammentreffen unterschiedlicher literarischer Interessen und Positionen im Rahmen einer vielseitigen und veränderlichen Kommunikationsgemeinschaft, eines reichen und lebendigen Umgangs mit Traditionen und Möglichkeiten der Literatur, wie ihn etwa Lambert von Ardres in bezug auf den Hof der Grafen von Guines idealisiert.42 In diese Richtung scheint aber für den englischen Hof doch alles zu deuten. Es ist eben vor allem die volkssprachige Dichtung, deren Zuordnung zum Umkreis Heinrichs bzw. Eleanores 37 38

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Y a-t-il une civilisation du monde Plantagenet?, CCM 29 (1986), S. 3-147. So in den Conclusions von Robert-Henri Bautier, »Empire Plantagenet« ou »espace Plantagenet«. Y eut-il une civilisation du monde Plantagenet?, ebd., S. 139-147, hier S. 146f. Henri II Plantagenet et son temps. Actes du Colloque de Fontevraud 29 sept.-l e r oct. 1990, CCM 37 (1994), S. 3-123. Vgl. Reto R. Bezzola, Les origines et la formation de la litterature courtoise en Occident (5001200), t. 3.1, Paris 1963. Vgl. das aufschlußreiche Vorwort zur Entstehungsgeschichte im ersten Band des Werkes (von 1944) und dessen Widmung als Ausdruck von Bezzolas »ferveur pour le genie immortel de la France«. Vgl. Walter F. Schirmer und Ulrich Broich, Studien zum literarischen Patronat im England des 12. Jahrhunderts, Köln/Opladen 1962 (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 23), S. 32-42. Vgl. Curschmann [Anm. 10].

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unsicher ist.43 Sie ist aber doch immer nur Teil eines weiten Spektrums an gelehrter Schriftlichkeit von der Naturkunde bis zur Hofkritik - unter Einschluß der (>politischenHistoriographie< Geoffreys den >Roman< Waces vorbereitet, zeigt Jean-Yves Tilliette, Invention du recit: La »Brutiade« de Geoffrey de Monmouth (Historia regum Britanniae, § 6-22), CCM 39 (1996), S. 217-233. 46 Peter Johanek, König Arthur und die Plantagenets. Über den Zusammenhang von Historiographie und höfischer Epik in mittelalterlicher Propaganda, FMSt 21 (1987), S. 346-389. 47 Vgl. Andre Chedeville, Noel-Yves Tonnerre, La Bretagne feodale. Xle-XIIIe siecle, [Rennes] 1987, S. 83-112 (»Des Plantagenets aux Capetiens«); John Le Patourel, Henri II Plantegenet et la Bretagne, Memoires de la Societe d'Histoire et d'Archeologie de Bretagne 58 (1981), S. 99116. - Zum Folgenden Johanek [Anm. 46], S. 384-389. 48 Der etwa zehnjährige Gottfried erscheint an der Seite seines Vaters, des englischen Königs und Grafen von Nantes (seit 1158), der ihm erst nach der Eheschließung 1181 die Regierung des Herzogtums überlassen wird; Chedeville/Tonnerre [Anm. 47], S. 86-95; Le Patourel, Henri II

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Veranlassung >der Bretonen< erhielt später, 1187, Gottfrieds postumer Sohn den Namen Arthur. Er wurde aber nicht nur von den Bretonen als neuer König Arthur angesehen, sondern auch 1190 von seinem Onkel Richard Löwenherz zu seinem Erben, also zum künftigen englischen König bestimmt - zur selben Zeit, als Abt Heinrich von Sully, ein Blutsverwandter und Vertrauter Heinrichs II., kurz nach dessen Tod in Glastonbury die Auffindung der Gebeine Arthurs unternahm.49) Aber schon unmittelbar nach der Eroberung der Bretagne, also eben 1169, gab Etienne de Rouen, Mönch in Le Bec, unter Einfluß der Umgebung Heinrichs II. bzw., wenn Johaneks Deutung richtig ist, eher noch seiner Mutter Mathilde im 'Draco Normannicus' eine Darstellung des Zeitgeschehens, in der sich die konsequente Aneignung der Arthur-Tradition durch die Plantagenets bereits deutlich abzeichnet:50 Etienne läßt hier in einem fingierten Briefwechsel Heinrichs mit dem bei den Antipoden lebenden Arthur festhalten, daß Heinrich die Bretagne nur als Lehen Arthurs bis zu dessen Heimkehr verwalten werde.51 Machen sich die Plantagenets hier wie dort den bretonischen Glauben an die Wiederkehr Arthurs zunutze, um ihre Herrschaft in der Bretagne wie in England zu legitimieren, dann liegt es aber nahe - über Johanek hinausgehend - auch den 'Erec' Chrestiens in diese Überlegungen einzubeziehen. Man hat bei der Suche nach dem Adressatenkreis Chrestiens immer wieder an den Hof Heinrichs und Eleanores gedacht und neuerdings diese Zuweisung kaum noch bezweifelt.52 Läßt man die haltlosen (und doch immer noch üblichen) Versuche, Figuren der Romanhandlung mit Personen des Hofes zu [Anm. 47], S. 102ff. Vgl. Beate Schmolke-Hasselmann, Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart. Zur Geschichte einer Gattung, Tübingen 1980 (ZfrPh. Beihefte 177), S. 191 f. 49 Johanek [Anm. 46], S. 383 f. 50 Stephanus Rothomagensis, Draco Normannicus, in: Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II. and Richard I., vol. 2, ed. by Richard Howlett, London 1885 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. Rolls Series 82.2), S. 585-762; draco bedeutet hier >StandartePräsentation< Gottfrieds in Nantes 1169 (als Herzog der Bretagne) durch seinen Vater Heinrich II. korrespondieren auffällig genug; und ebenso gibt zu denken, daß die Gäste zu Erecs Krönung aus Ländern zusammenströmen, die dem Einflußgebiet der Plantagenets zu Ende der 1160er-Jahre entsprechen.54 Man sieht freilich noch schärfer, wenn man den 'Draco Normannicus' mitbedenkt:55 Wenn Erec sein ererbtes Reich König Artus als Lehen aufträgt, um es dann in Nantes zusammen mit Krone und Szepter aus Artus' Hand zu empfangen,56 und wenn Chrestien die Vernünftigkeit dieser Entscheidung Erecs (apres fist un molt grant savoir, que del roi sa terre reprisf, 6486f.) und die Verbindlichkeit des Krönungsortes eigens betont (6494-98), dann ist doch die Analogie zur ebenfalls freiwilligen Erklärung Heinrichs im 'Draco' 57 nicht zu übersehen, die Bretagne nur als Lehen (sub jure und sub pace ·, 11,1279) Arthurs verwalten zu wollen. Und neben den Ländern der Plantagenets, aus denen Erecs Gäste kommen (Normandie, Bretagne, Schottland, England, Cornwall, Wales, Anjou und Poitou; 6581-95), steht eben auch Deutschland (Alemaigne); das ist aber kaum anders zu erklären als mit der Bedeutung Mathildes, der Mutter Heinrichs II., für dessen eigenes Herrschaftsverständnis. Gerade die Nachricht von ihrem Tod (am 10. September 1167) läßt Heinrich im 'Draco' gegenüber Arthur einlenken (II, 1273-76). Und Etienne de Rouen widmet ihr gleich zu Beginn (und später) mehrere Kapitel, feiert die Verstorbene als imperii splendor, decus orbis, laus mulierum (1,127), sieht ihre Ehe mit Heinrich V., dem proles Karoli 53

Etwa D(ouglas) D.R. Owen, Eleanor of Aquitaine: queen and legend, Oxford 1993, S. 185: Wenn der 'Erec' auf das Hoffest zu Nantes 1169 Bezug nimmt, »[...] we are justified in examining Guenevere as a possible Eleanor-figure. Her portrait in Erec is in fact entirely flattering.«

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Ebenso die >Identifizierung< des Ritters Bruianz des Illes, der Artus und der Königin die Faltstühle der Krönungszeremonie geschenkt hat, mit Brian of Wallingford, dem Onkel und Vertrauten Heinrichs II. Dazu vor allem Beate Schmolke-Hasselmann, Henry II Plantagenet, roi d'Angleterre, et la genese d"Erec et Enide', CCM 24 (1981), S. 241-246, und dies. [Anm. 48], S. 190-201. Vemachlässigbar ist Carleton W. Carroll, Quelques observations sur les reflets de la cour d'Henri II dans l'ceuvre de Chretien de Troyes, CCM 37 (1994), S. 33-39.

55

Für unmittelbare zeitliche Nähe des 'Erec' zum 'Draco' (1170 bzw. 1167-70) aufgrund zweier inhaltlicher Übereinstimmungen, die am besten als »souvenir occasionnel« Chrestiens an den 'Draco' erklärbar seien, plädiert Maurice Delbouille, Le »Draco Normannicus«, source d"Erec et Enide', in: Melanges de Langue et de Litterature Medievales offerts ä Pierre le Gentil, Paris 1973, S. 181-198, hier S. 198. Über sein eigentliches Anliegen (der Datierung) hinaus zeigt Delbouille die Vernetzung beider Texte in der Artus-Tradition.

56

Chretien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranzösisch/deutsch, übers, u. hg. v. Albert Gier, Stuttgart 1987 (Reclams UB 8360), vv. 6452-6879. Jedenfalls zwingt ihn die Rechtslage zu diesem Schritt.

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und caput mundi, als Erfüllung einer Prophezeiung Merlins (1,147-184) - es ist unzweifelhaft, daß Mathilde, die zeitlebens den Titel imperatrix beibehielt,58 aus der Sicht Etiennes nicht nur die Herrschaft Heinrichs in England und in Anjou legitimierte, sondern seinem Regiment auch imperialen Glanz verlieh, einen Glanz, der sich erneuern ließ durch die eheliche Verbindung zwischen Mathilde und Heinrich dem Löwen. Die Ehre (honos) dieser Verbindung betonen im 'Draco' ausdrücklich die Briefe Barbarossas und Heinrichs II. (111,278; 326), die sie beide Heinrich dem Löwen selbst als dem kaiserlichen Gesandten (am englischen Hof) übergeben - dem dux Saxoniae, den Etienne de Rouen genau so vorstellt, wie ihn seine eigene Umgebung sah, als Vetter (des Kaisers), eines hochbedeutenden Fürsten, als Glanz des kaiserlichen Hauses, als einen, dessen Ansehen anders, aber nicht geringer sei (als das des Kaisers: alius non minor ejus honor, III, 196), sei er doch der Schwiegersohn des (englischen) Königs, dessen Tochter er heiratete, und leuchte nun dank solcher Ehe noch heller. In 170 Versen (111,191-360) schildert der 'Draco' Heinrichs des Löwen Gesandtschaftsreise, seinen Empfang in England und die Position Friedrichs, der als rechtmäßiger Erbe Karls des Großen für Heinrich II. Partei ergreift und Heinrichs Erben die französische Krone zu geben bereit ist. Vor diesem Hintergrund gewinnt nun nicht nur die intercessio Heinrichs zugunsten der Heiligsprechung Karls des Großen an Profil; jetzt rücken doch auch die Schlüsse des 'Erec'-Romans und des 'Rolandsliedes' unter entstehungs- und funktionsgeschichtlichen Aspekten so weit zusammen, daß wohl ein paar vergleichende Überlegungen zu diesen Texten selbst angebracht sind. Was sie trennt und einem solchen Vergleich zunächst im Weg zu stehen scheint, braucht kaum erwähnt zu werden, es hat ihn ja bisher wirksam verhindert - hier die altertümliche Umarbeitung einer Vorlage aus dem Gebiet der matiere de France in eine Legende, eine geistliche Dichtung, vielleicht zur Tischlesung59 bestimmt; da der moderne fiktionale Roman, die neue matiere de Bretagne, ein frühes literarisches Zeugnis für die Emanzipation der laikalen höfischen Kultur usf. Aber in beiden Fällen setzen doch Kleriker historische Stoffe in Erzähltexte um, die - unter analogen Voraussetzungen und auf komplementäre Weise - für eng verwandte und miteinander vertraute Gruppen ein 58

Marjorie Chibnall, The Empress Matilda. Queen Consort, Queen Mother and Lady of the English, Cambridge/USA 1992; vgl. Stephanus, Draco, Titel des cap. I,iii: Quod primi Henrici Anglorum regis et Mathildis reginae filia fiierit dicta Mathildis imperatrix, wobei dicta Mathildis in der dem Prooemium folgenden Liste der Kapitelüberschriften auf »a coeval hand, filling a lacuna« zurückgeht (S. 596, Anm. 3).

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Vgl. Friedrich Ohly, Zum Dichtungsschluß Tu autem, domine, miserere nobis, DVjs 47 (1973), S. 26-68; wieder in: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. v. Uwe Ruberg u. Dietmar Peil, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 1-33.

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Herrschaftsverständnis entwickeln, das in den idealisierenden Schlußbildern in ein je eigenes wirkungsvolles Spannungsverhältnis zur Realität der adressierten Höfe tritt. Beide Dichter verfahren, wie sie es gelernt haben, sie geben mit dem Prolog nicht nur den Blick auf den Stoff, auf seinen Protagonisten frei, sondern eröffnen zugleich einen Vorgang reflexiver Durchdringung der materia, der das Erzählen begleitet, sich amplifizierend und kommentierend in es einsenken kann und endlich - im Schlußbild - dessen Sinn in komprimierter Form vermittelt. Chrestiens gelehrte conjointure (14) macht aus den längst schon beliebten Abenteuern Erecs eine estoire (23), die erst als solche den Anspruch auf Dauer, auf mimoire (24), rechtfertigt, einen Anspruch, der sie deutlich über die Prologe der Antikenromane mit Homer und Vergil verbindet; diese gelehrte Durchdringung der Handlung erreicht ihren wohlvorbereiteten Höhepunkt und Abschluß dort, wo Erec Reich und Krone aus den Händen Artus' empfängt. Und bei seiner Investitur in prunkvoll-festlichem Rahmen finden ein Krönungsgewand (robe) und ein Szepter Verwendung, deren Dekor es erlaubt, im Akt der Krönung antikes kosmologisches Wissen, die Wunder der Welt, höfisches Zeremoniell und liturgische Handlung mit der Salbung selonc la crestiene loi (6798) so zu verbinden, daß irdischer Herrschaft von Artus' Gnaden ein Höchstmaß an Vollkommenheit zufällt.60 Hier - und erst und nur hier - öffnet sich der Raum der Handlung zum Hof des präsumtiven Adressaten hin:61 Krönungsort und Herkunft der Gäste, höfischer Glanz und gelehrte Bildung, am konkretesten aber der durch den 'Draco Normannicus' gesicherte Anspruch, die Bretagne als Lehen Artus' zu besitzen, überformen den realen Hof Heinrichs, nehmen ihn in die eine, literarisch begründete, erzählte und doch zugleich historisch-verbindliche, höfische Idealität hinein. Konrad hingegen schließt seine Erzählung ab, bevor er - auf die warheit (8) seines inspirierten Schreibens vertrauend - die lere seines buoch.es (vgl. 16) aktualisiert, bevor er auf der Grundlage genealogischer Abkunft, typologischer Entsprechung und analoger Handlungen Heinrich den Löwen, den Auftraggeber der Dichtung, über David zu Karl dem Großen, dem Heiligen, in Beziehung setzt und den irdischen Hof Heinrichs schon jetzt im Glanz des Himm60

Vgl. Uwe Ruberg, Die Königskrönung Erecs bei Chretien und Hartmann im Kontext arthurischer Erzählschlüsse, in: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Anfang und Ende, Stuttgart/Weimar 1995 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 99), S. 69-82, und E.C. Lutz, Verschwiegene Bilder - geordnete Texte. Mediävistische Überlegungen, DVjs 70 (1996), S. 3^47, bes. 42-46.

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So, aus der Perspektive der »Lobpoetik«, sieht die Schlußszene auch Christoph Huber, Herrscherlob und literarische Autoreferenz, in: Joachim Heinzle (Hg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, Stuttgart 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 452-473, hier S. 469-473.

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lischen Hofes aufleuchten läßt.62 Legitimation der Herrschaft auch hier, freilich als Regiment mit Christus aus dem Glauben, der zugleich Zugang zur e i n e n communio sanctorum, den erweiten gotes kinden (9029), gewährt. Die Welten, die Chrestien und Konrad gestalten und interpretieren, sind ihrem Anspruch nach - historisch; sie sind es zumindest insofern, als sie - wie der 'Draco Normannicus' zeigt - gegenwärtige Herrschaft historisch zu legitimieren vermögen. So, funktional gesehen, unterscheiden sich der moderne fiktionale Roman und die >ältere< heldenepisch gefüllte Legende kaum. Natürlich betonen sie verschiedene Seiten von Herrschaft und Repräsentation, ihre religiöse Begründung hier und ihre höfische Durchformung dort. Beide aber bedienen sich der Herrscherapotheose und spielen mit den Komponenten, die ihr eigen sind: historische Legitimation und heilsgeschichtliche Einbindung, liturgisches Gedenken und festlich-rituelle Bestätigung, irdischer Ruhm und christliche Vollendung. Das Gemeinsame ist freilich so stark, daß es mir notwendig scheint, zur Erklärung eben das hier skizzierte Gespräch zwischen den Höfen (unseren >interkurialen DiskursGesprächen< so überzeugt haben, daß der >Rückfall< ins Erzählen >älteren Typs< wenigstens hingenommen wurde. Und so scheint mir doch Konrads 'Rolandslied' letztlich der Konzeption Chrestiens näher als der 'Erec' Hartmanns, der mit seiner Entscheidung für die Fiktion (und nur die Fiktion) den historischen Boden unter den Füßen verliert.

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Zum Epilog bes. Friedrich Ohly, Beiträge zum Rolandslied, in: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters (FS Karl Stackmann), Göttingen 1987, S. 90-135, hier S. 104-130.

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Inzest-Heiligkeit Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns 'Gregorius'

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In der Religion, sofern sie Transzendenzreligion ist, geht es um das aus der Immanenz Ausgeschlossene. In einem allgemeinsten Sinne, so könnte man daher sagen, hat sie »es mit der Unterscheidung von Vertrautem und Unvertrautem zu tun [...].« Sie behandelt das Unvertraute, läßt es nämlich »im Vertrauten erscheinen« und »formuliert und praktiziert« derart »die Weltlage eines Gesellschaftssystems, das sich in Raum und Zeit von Unbekanntem umgeben weiß.«1 Heiligkeit läßt sich in diesem Zusammenhang als eine Distanzkategorie auffassen. Sie ist das Unvertraute, das Inkommensurable und Maßlose, das Unverfügbare, doch in eigentümlich paradoxer Gestalt: Denn als Distanzkategorie ist Heiligkeit zugleich eine Relationskategorie. Das Inkommensurable und Unverfügbare des Heiligen läßt sich nur denken in Relation zu jenem Vertrauten und Profanen - und von ihm her - , von welchem es Abstand nimmt. Und auch poetisch sprechen läßt sich vom Heiligen allein in der Weise, daß diese Distanz gerade nicht aufgehoben, sondern als Distanz überbrückt wird. Die Rede vom Heiligen ist stets ein Einschließen des unvertrauten Ausgeschlossenen als Ausgeschlossenes ins Vertraute.2 Speziell in der narrativen Rede von einem Heiligen kommt diese Paradoxie in jenem Problem zum Vorschein, daß der kategoriale Bruch, daß der unüberbrückbare Hiatus zwischen Welt und Anderwelt, Immanenz und Transzendenz, daß der radikale Unterschied von Profanem und Heiligem hier im Vitenschema als Prozeßzusammenhang epische Gestalt gewinnen muß. Es muß als Übergang gezeigt werden, was allein ein Sprung sein kann. Die wichtigste Möglichkeit, diesen Widerspruch weitgehend zu invisibilisieren, ist der Mechanismus der göttlichen Gnade, ist das Wunder des Übergriffs Gottes, also des unvertraut Inkommensura-

' Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Teilbde., Frankfurt a.M. 1997, S. 230ff„ hier S. 232. - Die folgenden Überlegungen habe ich auf dem Heiligkreuztaler Kolloquium zu Ehren von Walter Haug, später auch an den Universitäten München, Stuttgart und Konstanz vortragen können: Allen Diskussionspartnern danke ich sehr herzlich. Die Spuren jener mündlichen Kommunikationssituationen, welche auch im Duktus der Argumentation spürbar sein mögen, wollte ich bei der Überarbeitung nicht zur Gänze tilgen. 2

Vgl. auch Luhmann [Anm. 1], S. 230ff. sowie S. 646.

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blen schlechthin, in die Kontingenz, in die profane und vertraute Welt der Unterschiede. Ohne diesen Mechanismus kommt selbstverständlich auch Hartmanns von Aue Erzählung vom guten Sünder nicht aus. Keinesfalls schon die Buße des Büßers auf dem Stein, sondern allein seine gnadenhafte Erwählung durch Gottes unmittelbaren Eingriff in die Geschichte erst schließt Gregorius aus dem Schuld- und Sündenzusammenhang des Diesseits aus. Dieser Ausschluß heißt >Erlösunggnadenhaft< heißt dabei auch: Reue und Buße und Abtötung des Fleisches sind allenfalls notwendige,3 doch keineswegs hinreichende Bedingungen für die Erwählung. Gottes hulde operiert hier nicht in Verpflichtungs- oder Äquivalenzverhältnissen, sie ist prinzipiell unverfügbar.4 Auch für den Text: Er kann die göttliche Gnade konstatieren, er kann von ihren Effekten erzählen. Von ihr selbst erzählen kann er nicht. Also erzählt er von dem, was ihr vorausliegt, von Sünde schwer überbietbaren Ausmaßes, so daß gewissermaßen das Gnadenhafte und die Fülle der göttlichen Gnade um so glänzender hervortrete. Wie Hartmanns Text dies tut, das soll im folgenden beobachtet werden: nicht ohne Verkürzungen freilich, doch ist Beobachten ja gar nicht anders denkbar denn als perspektivische Selektion. Und ich versuche zum Zwecke solcher Beobachtungen eine Beschreibungssprache zu finden, welche die poetische Rede von Sünde und Schuld, Buße und Erlösung nicht reproduzieren muß, sondern von ihr Abstand nimmt, um sie vielleicht analytisch weiter aufschließen zu können.5 Dabei beruhen diese Erwägungen zugleich auf einer 3

Vgl. etwa v. 44ff., 162ff„ 2698ff., 3959ff. - Ich zitiere: Hartmann von Aue, Gregorius, hg. v. Hermann Paul, 13., neu bearb. Aufl. besorgt v. Burghart Wachinger, Tübingen 1984 (ATB 2). 4 Vgl. Walter Haug, Die Problematisierung der Legende. Hartmanns 'Gregorius'-Prolog, in: ders., Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. überarb. u. erw. Aufl., Darmstadt 1992 (zuerst 1985), S. 134-154, hier S. 135. Allein so wird ja begründbar, daß der zwivel, also der Verlust der Erlösungsgewißheit, um jede Erlösungschance bringt; vgl. v. 66ff., 157ff., 2698, sowie insbesondere Friedrich Ohly, Desperado und Praesumptio. Zur theologischen Verzweiflung und Vermessenheit, jetzt in: ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und Bedeutungsforschung, hg. v. Dietmar Peil u. Uwe Ruberg, Stuttgart u. Leipzig 1995, S. 177-216; ders., Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld, Opladen 1976 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften G 207). 5 Dafür, also ganz instrumenteil und ohne dies hier irgend theoretisch diskutieren zu wollen, nehme ich einige wenige differenztheoretische Begriffsanleihen bei der Systemtheorie Niklas Luhmanns [Anm. 1] und bei kulturtheoretischen Überlegungen von Rene Girard (am wichtigsten ist hier Rene Girard, Das Heilige und die Gewalt, aus dem Franz. v. Elisabeth MainbergerRuh, Zürich 1987 [zuerst unter dem Titel: La Violence et le sacre, 1972]; vgl. weiterhin Rene Girard, Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, aus dem Franz. v. Elisabeth Mainburger-Ruh, Frankfurt a.M. 1992 [zuerst unter dem Titel: Le Bouc emissaire, 1982]; Grundfiguren dieses Ansatzes finden sich bereits in: ders., Mensonge romantique et

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Grundentscheidung, die eingangs signalisiert worden ist, indem Transzendenz formal als das aus der Immanenz Ausgeschlossene bestimmt wurde. Bezogen auf Hartmanns Erzählung: Ich wähle einen Ansatz, der des Gregorius Weg ins Heil zunächst nicht in seinem Bezug auf Gott, nicht also in der Perspektive religiöser Erfahrung in den Blick bringt,6 sondern im Bezug auf die Welt, als Ausschluß aus und Unterscheidung von ihr; deswegen wurde Heiligkeit als Distanzkategorie eingeführt. Am Beispiel eines exemplarischen Textes handelt es sich insofern zugleich um Beobachtungen zu der Frage, wie im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts in der laikalen volkssprachigen Adelskultur die Relation von Heiligem und Welt konstitutiert und beobachtet werden konnte. Welt aber heißt hier stets: soziokulturelle Welt, heißt also: Begründung, Strukturierung und Verstetigung von Gemeinschaft, Welt heißt: Differenzierung,

verite romanesque, Paris 1961; eine knappe Selbstexplikation in: ders., Mythos und Gegenmythos: Zu Kleists Das Erdbeben in Chili, in: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili, hg. v. David E. Wellberry, München 1985, S. 130-148). Zur Diskussion um Girards Konzept wäre zuletzt zu vergleichen: Bruno Quast, Anthropologie des Opfers. Beobachtungen zur Konstitution frühneuzeitlicher >Verfolgungstexte< am Beispiel des 'Endinger Judenspiels', Zeitschrift für Germanistik N.F. 8 (1998), S. 349-360 (mit weiterer Literatur). Vgl. weiterhin die Arbeiten von Walter Burkert (besonders: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1972; Anthropologie des religiösen Opfers: Die Sakralisierung der Gewalt, München 1987 [Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen XL]; Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin 1990 [Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 22]). 6 Walter Haugs Interpretationen zeigen, wie mit Hilfe der Doppelkreisstruktur des arthurischen Romans im 'Gregorius' die Erfahrung des Glaubens als geistlicher Aventiureweg gestaltet wird (Walter Haug, Vom Imram zur Aventüre-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur, in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Studienausgabe, Tübingen 1990, S. 3 7 9 ^ 0 8 , hier S. 405f.; ders., Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach, in: ebd., S. 483-512, hier S. 489), wie freilich zugleich auch hier transzendente Ziele schließlich nur zu erreichen sind, indem »man den Weg zu [ihnen] zusammenbrechen läßt« (ders., Transzendenz und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Literarästhetik des Mittelalters, in: ebd., S.513528, hier S. 525). Weiter zu überlegen wäre, welcher Begriff von Erfahrung - und damit: von Subjektkonstitution - hier zugrundeliegt, und sodann: wie Erfahrungskonstitution im literarischen Text überhaupt konstitutiert wird. Die Frage wäre deswegen nicht unwichtig, weil sie eine Basisbegrifflichkeit berührt für Haugs Konzeption der Ausdifferenzierung von Weltlichem und Geistlichem im 12. Jahrhundert, die ihrerseits grundlegend ist für sein Modell der Evolution volkssprachiger Dichtung im Mittelalter (vgl. etwa ders., Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell, in: ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Studienausgabe, Tübingen 1997, S. 501-530, hier S. 501 ff. sowie Einleitung S. XIII). Die folgende Lektüre des 'Gregorius' diskutiert diese Frage nicht, sie versucht einen komplementären Ansatz, der auf den Begriff der religiösen Erfahrung vielleicht auch nur: vorerst - verzichten kann.

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Ordnung der - hier wesentlich familialen, genealogischen - Unterschiede.7 Diese Relation von Heiligem und Welt soll nun überdies zunächst nicht vom Zentrum der 'Gregorius'-Diskussion aus anvisiert werden, sondern gewissermaßen von deren Peripherie, nicht von einem >Prozeß< oder >Sprung< der Veränderung, nämlich der Verwandlung des sündigen in ein heiligmäßiges Leben, sondern von einem Problem der Dauer her: den Verstetigungen sozialer Strukturbildung, hier also der Konnexität und Persistenz von genealogischem Verband, feudaler Herrschaft und geistlichem Amt im Fluß der Zeit. Die Bedeutung solcher Verstetigungen läßt sich schon an der epischen Struktur des 'Gregorius' zeigen, wenn man vorerst darauf verzichtet, für diese ein legendarisches Viten-Modell oder das Doppelkreis-Schema des frühen Artusromans8 bereits vorauszusetzen. Jede solche Voraussetzung implizierte überdies eine Vorentscheidung zugunsten einer der beiden Grundpositionen, welche sich im Streit der 'Gregorius'-Interpretationen nach wie vor gegenüberstehen (Legende vs. Roman und die dazugehörigen Ableitungen),9 und sie wäre zugleich in beiden Fällen eine Entscheidung für ein Strukturmodell, welches auf der Einheit einer Protagonistenfigur operiert, deren Identität als sich wandelnde indes allererst auf ihre textuellen Bedingungen und Konstitutionsformen hin zu befragen wäre. Ich versuche also, demgegenüber noch einmal gewissermaßen >tiefer< anzusetzen: zunächst bei der topochronologischen Ordnung der erzählten Welt, denn wie Christoph Cormeau meine ich, daß die »Schwierigkeiten der Interpretation« vor allem auch darin liegen, »die Räume mit ihren Implikationen richtig zu erfassen und die Ordnung zu durchschauen, in die sie gerückt sind«,10 sodann bei dem, was man auch die mythische Struktur der Erzählung nennen könnte: Regeln, Elemente, Formen eines elementaren Wissens über gültige Ordnung überhaupt, hier also eines Wissens, das - mit Cassirer zu sprechen - die >Ur-Teilung< in die zwei Welten des >Heiligen< und des >Profanen< konstituiert." 7

Gegenüber Haugs Konzept (vgl. Anm. 6) treten (in Bezug auf die erzählte Welt) an die Stelle der Kategorie >Transzendenzerfahrung< also Kategorien wie Handlung, soziale Strukturierung, Kommunikation, Unterscheidung, Differenz. 8 Vgl. dazu Dagmar Hirschberg, Zur Struktur von Hartmanns 'Gregorius', in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. FS Hans Fromm, hg. v. Klaus Grubmüller u.a., Tübingen 1979, S. 240-267; Haug [Anm. 6], S. 405 f., 489f. 9 Zur Übersicht vgl. Christoph Cormeau u. Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche Werk - Wirkung, München 1985 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 113 f.; zuletzt Ulrich Ernst, Der 'Gregorius' Hartmanns von Aue im Spiegel der handschriftlichen Überlieferung. Vom Nutzen der Kodikologie für die Literaturwissenschaft, Euph. 90 (1996), S. 1-40. 10 Cormeau/Störmer [Anm. 9], S. 113. " Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II. Das mythische Denken, Darmstadt s 1987, S. 95f., 99, 129, 270, 310 u.ö.

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Jedenfalls ein Risiko solchen Vorhabens ist mir wohl bewußt: Der folgende Lektüreversuch könnte recht forciert, möglicherweise >unhistorisch< wirken. Doch handelt es sich um ein Experiment, und als solches möchte es vielleicht doch erlaubt sein bei einem Text, dessen ästhetischer Rang und dessen kanonische Geltung in der germanistischen Mediävistik zwar außer Frage stehen, der indes zugleich in kreisenden, auch aporetischen Forschungsdebatten beinahe endgültig zum Verstummen gebracht worden ist: Gewissermaßen der >klassische< Fall eines toten Klassikers. Man muß, meine ich, einen Punkt neu zu bestimmen versuchen, von welchem aus sich überhaupt noch und wieder über diesen Text sprechen läßt. Allein darum ist es einstweilen hier zu tun, und das heißt auch, daß die folgenden Erwägungen nur der Vorbereitung dessen dienen, was sie selbst noch nicht sein können: Eine umfassende Interpretation von Hartmanns 'Gregorius' an seinem historischen Ort.

II Diu selts&nen mcere (v. 175), die, wie Hartmann sagt, vil starc ze haerenne sind (v. 53)12 und die im wesentlichen, doch keineswegs in sämtlichen belangvollen Elementen der altfranzösischen 'Vie du pape Saint Gregoire' folgen, sie beginnen in Aquitanien und sie enden in Rom, genauer: in der ewigen Seligkeit. Was dazwischen liegt, ist als Weg erzählt, und für dessen Strukturierung wie für die des Textes gibt es konkurrierende Vorschläge. Am besten scheint mir allerdings ihre interpretatorischen Vorentscheidungen eine Gliederung des 'Gregorius' in fünf Teile kontrollieren zu können, welche nicht schon thematische Schwerpunktsetzungen impliziert, sondern vom Raumprogramm der Erzählung ausgeht.13 Dieses Programm wird deutlich vom Wasser, vom Meer 12

Vgl. dazu Haug [Anm. 4], S. 138. Hartmann spielt wohl auf die >harte Rede< (haec dixit in synagoga docens in Capharnaum/ multi ergo audientes ex discipulis eius dixerunt durus est hic sermo quis potest eum audire) des Johannesevangeliums (6,60f.) an. 13 Im Ergebnis ähnliche Gliederungen bei Wolfgang Dittmann, Hartmanns Gregorius. Untersuchungen zur Überlieferung, zum Aufbau und Gehalt, Berlin 1966 (Phil. Stud. u. Quellen 32), S. 213ff.; Hansjürgen Linke, Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue. Untersuchungen zur Formkritik, Werkstruktur und Vortragsgliederung, München 1968, S. 36f. - Zu konkurrierenden Strukturentwürfen vgl. Dittmann, S. 206ff.; Hirschberg [Anm. 8], S. 240ff.; vgl. auch Wolfgang Haubrichs, Einleitung: Für ein Zwei-Phasen-Modell der Erzählanalyse. Ausdrucksform und Inhaltsform in mittelalterlichen und modernen Bearbeitungen der Gregoriuslegende, in: Erzählforschung I. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Mit einer Auswahlbibliographie zur Erzählforschung, hg. v. Wolfgang Haubrichs, Göttingen 1976 (LiLi Beiheft 4), S. 7-28, bes. S. 13ff.; Bernward Plate, Einleitung, in: Gregorius auf dem Stein. Frühneuhochdeutsche Prosa (15. Jh.) nach dem mittelhochdeutschen Versepos Hartmanns von Aue. Die Legende (Innsbruck UB Cod. 631), der Text aus dem 'Heiligen Leben' und die

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zäsuriert, das hier wie sonst in der mittelalterlichen Literatur ein Zwischenund Schwellenbereich ist, der unterschiedliche Welten voneinander absetzt. Viermal befährt der Protagonist das Wasser, nämlich als ausgesetztes Findelkind von Aquitanien zur Klosterinsel, als werdender Ritter von dort zurück nach Aquitanien, als Büßer von Aquitanien zur Felseninsel, schließlich als erwählter Papst von dort weiter nach Rom. So - und nur so: nämlich als erzählte Grenzüberschreitung - entstehen fünf topochronologische Räume: 1. Aquitanien (I) mit der Geschichte der Eltern und der Geburt des Protagonisten, 2. die Klosterinsel mit seiner Kindheit und Erziehung, 3. Aquitanien (II) mit Gregorius als Befreier und Landesherr, 4. Wüstenei und Felseninsel mit Gregorius als Büßer, und schließlich 5. Rom mit dem neuen Papst. Das ist in dieser Allgemeinheit völlig unstrittig, und wichtig ist hieran einstweilen auch lediglich der Verzicht auf zwei sehr voraussetzungsreiche Alternativentscheidungen an den Rändern des Ausgangsmodells: Diese Strukturierung trennt nicht Herzogstod, Geschwisterinzest, Geburt und Aussetzung des Protagonisten (Aquitanien I) als eine Nicht-Geschichte v o r der Geschichte, also - wie man mit einem sehr bedenkensweiten und dann auch bedenklichen Ausdruck sagt - als >Vorgeschichte< von der eigentlichen Geschichte ab.14 Und diese Gliederung verzichtet zweitens darauf, die freilich ineinandererzählten Stationen Bußleben (Felseninsel) und Papsttum (Rom) schon wegen der sanctitas des Protagonisten in eins zu fassen.15 Geht man also von diesem Fünfersogenannte Redaktion, hg. u. kommentiert v. Bemward Plate, Darmstadt 1983 (Texte zur Forschung 39), S. 5-11. - Ebenfalls vom Raumprogramm der Erzählung ausgehend entwickelt Anita Guerreau-Jalabert ihre Interpretation der altfranzösischen Gregorius-Erzählung (Inceste et saintetß. La 'Vie de Saint Gregoire' en frangais [XII® siecle], Annales E.S.C. 43 [1988], S. 1291-1319, hier S. 1294ff.; vgl. auch dies., Gregoire ou le double inceste. Le role de la parente comme enjeu [XIP-XIX e s.], in: Reception et identification du conte depuis le Moyen Age, Textes reunis. Actes du colloque de Toulouse, janvier 1986, hg. v. Michel Zink u. Xavier Ravier, Toulouse 1986, S. 21-38). Dieser Ansatz berührt sich, bei aller Unterschiedlichkeit der Erkenntnisinteressen, in manchem mit dem hier verfolgten, führt indes - so wird sich zeigen zu ganz anderen Resultaten, was nicht allein an den Differenzen zwischen altfranzösischem und deutschem Gregorius-Gedicht liegt. Vgl. hierzu auch Ursula Peters, Familienhistorie als neues Paradigma der mittelalterlichen Literaturgeschichte?, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 134-162, hier S. 144f. 14 Diese Operation ist gleichermaßen charakteristisch für Interpretationen, die mit dem Legendenschema, wie für solche, die mit dem Doppelweg-Schema des Artusromans arbeiten: Die Abtrennung einer >Vor-Geschichte< macht das Kloster zum Ausgangspunkt des Weges und die Fahrt nach Aquitanien zu einem Auszug in die Welt (der Sünde, des Todes usw.); vgl. weiter unten Anm. 16. 15 So zum Beispiel verfahren Hermann Henne, Herrschaftsstruktur, historischer Prozeß und epische Handlung. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zum »Gregorius« und »Armen Heinrich« Hartmanns von Aue, Göppingen 1982 (GAG 340), S. 5 (mit weiterer Forschung); Cormeau/ Stornier [Anm. 9], S. 137 f.

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schema aus, dann sieht man: Es faltet eine zweigeteilte epische Welt aus,16 die durch einen Unterschied definiert - und darin überhaupt erst narrativ konstituierbar - wird. Es gibt, könnte man sagen, Höfe (in Aquitanien, in Rom) und es gibt Inseln (Klosterinsel,17 Felseninsel). Es gibt - so kann man selbst dann formulieren, wenn man von den axiologischen Semantiken vorerst absehen will, weil eben ihr Funktionieren interessiert - strukturell ein Diesseits und ein Jenseits des Wassers. Die Höfe liegen im Hier, die Inseln im Dort. Und der epische Prozeß - wie anders könnte er es - entsteht als Vorgang der Grenzüberschreitung.18 Held ist derjenige, der als einziger die Grenze zwischen Hier 16

So elementar eine derartige Gliederung des Textes in fünf Hauptteile und die Feststellung der binären Strukturierung der epischen Welt ist, sie würde es doch ermöglichen, eine ganze Reihe von - hier freilich nicht weiter zu verfolgenden - Beobachtungen anzuschließen: Man könnte unter anderem sehen, daß der Weg über die Schwelle jeweils zur Konfrontation mit Instanzen der Schwelle führt, nämlich Fischern, oder auch, daß er eingeleitet wird durch Grenzsituationen, in denen neugierige oder geschwätzige Frauen eine Rolle spielen; man könnte sehen, daß sein Weg den guten Sünder nacheinander durch drei geistliche Lebensformen leitet (Kloster Eremus - Papstamt); man könnte überhaupt beschreiben, wie Wiederholungen strukturell konstitutiv sind für diese Erzählung und wie sie >über< dem Syntagma des Geschehens paradigmatische Zusammenhänge produzieren, in denen dessen Sinn sich enthüllt.

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In der französischen 'Vie du pape Saint Gregoire' liegt das Kloster des Abtes nicht ausdrücklich auf einer Insel (La vie du pape Saint Gregoire ou La legende du bon pecheur. Das Leben des heiligen Papstes Gregorius oder Die Legende vom guten Sünder, hg. nach der Ausgabe von Hendrik Bastiaan Sol mit Übersetzung und Vorwort v. Ingrid Kasten, München 1991 [Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 29]; dies wird im folgenden mit der Sigle V zitiert, A, und B, sodann sind die üblichen Handschriftensiglen für die Versionen des altfranzösischen Textes). - Hier wie im weiteren bleiben Verweise auf andere mittelalterliche Fassungen der Gregorius-Erzählung punktuell auf die vorgeschlagene Hartmann-Lektüre bezogen: Sie berücksichtigen keine textgenetischen Abhängigkeitsverhältnisse und sie implizieren nicht weiterführende Interpretamente zu solchen Fassungen. Es geht allein um die fallweise Demonstration, daß einzelne Beobachtungen nicht auf ein Substrat des >Stoffes< sich beziehen, sondern auf dessen spezifische Realisierung bei Hartmann. Die dabei benützten Siglen verweisen auf die folgenden Ausgaben: A = Amold von Lübeck, Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen und Edition, mit einem Beiheft (Die Paderborner Handschrift), hg.

v. Johannes Schilling, Göttingen 1986 (Palaestra 280); G = Kurzfassung von Hartmanns 'Gregorius' in der Handschrift G (Cologny-Geneve, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodmer 62, fol. 7 v -44"), hier benutzt in dem Abdruck bei Franz Pfeiffer, Quellenmaterial zu altdeutschen Dichtungen. II. Zu Hartmanns Gregorius, in: Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien, Philosophisch-Historische Klasse, 16 (1869), S. 176-205; GR = Gesta Romanorum, hg. v. Hermann Oesterley (2. Nachdruckauflage der Ausgabe Berlin 1872), Hildesheim/New York 1980; Ρ = Prosaauflösung 'Gregorius auf dem Stein' [Anm. 13], ich beziehe mich beispielhaft auf den hier abgedruckten Text von Innsbruck UB, Cod. 631, Papierhandschrift v. J. 1466-1470, fol. 254 r -271 r . 18 Grenzüberschreitung - nicht nur im übertragenen Sinne - ist die elementare Wiederholungsfigur im 'Gregorius': Der Protagonist gelangt von Hof zu Insel zu Hof und so weiter. Von dieser Grundstruktur her kann man das Problem der Erzählung zunächst als eine zentrale strukturelle Ambiguität beschreiben, die für den Konflikt der Interpretationen, neben allen

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und Dort wiederholt kreuzen kann.19 Bevor freilich sein Weg verfolgt werden kann, ist zunächst dessen strukturelles Bedingungsgefüge weiter zu analysieren. Problemen der motivischen, sprachlichen und normativen Ausarbeitung, wohl fundierend ist. In der binär gebauten epischen Welt ist der erste Weg über die Grenze ein Auszug, der zweite eine Heimkehr, die Wiederholung der Grenzüberschreitung realisiert also ein elementares Schema von >exile and returnsun, [...] verkoufe dine kurze tage umbe daz ewige leben, sun, den rät wil ich dir geben.< >Ouwe, lieber herre, [.·.] ich engeruowe niemer me und wil iemer varnde sin, mir entuo noch gotes gnade schin von wanne ich si oder wer.< (v. 1795-1805) Vergangenheit und Futur, Zukunft (daz ewige leben) und Herkunft (von wanne ich st) sind oppositiv gegeneinander gesetzt und markieren jene konträren Ordnungen, in denen die Reise nach Aquitanien ein Weg ins Exil, >Um-Weg< also in die Zukunft, und zugleich ein return in die eigene Herkunft ist. Auch so wird die Dialog-Konstellation zwischen Gregor und dem Abt genau bezogen auf die strukturell gestiftete Ambiguität der folgenden Grenzüberschreitung: Die Heimkehr i s t ein Auszug und umgekehrt ( - und darin der Heiligkeit als Distanz- u n d Relationskategorie strukturell homolog). Es ist nicht zuletzt dieser Zusammenhang zwischen den diskursiven Oppositionen der Figurenreden und dem Spannungsgefüge der Handlungsstruktur, der es übrigens verbietet, etwa die Reden des Abtes schon für den zulänglichen Ausdruck der Konzeption der Erzählung zu halten. Sie ist komplizierter. 19 Der Vater stirbt den Minnetod, bevor er im heiligen Land ankommen kann (vgl. v. 83Iff., dazu Cormeau/Störmer [Anm. 9], S. 117), die Mutter überquert nur einmal die Grenze: auf dem Weg von Aquitanien nach Rom. - >Held< ist hier als formale narratologische Kategorie gemeint, vom Sprung aus der Immanenz in die Transzendenz - also von der Heiligkeit des Helden - ist noch nicht die Rede, obwohl es freilich darum gehen wird.

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III In die angedeutete fünfgliederige Struktur von Hartmanns Text ist eine Reihe paradigmatischer Konstellationen von Gesellschaft und Herrschaft eingeschrieben: Es gibt drei Höfe und jeweils zeigt der 'Gregorius' sie im Zustand prekär gewordener Herrschaft. 20 Die Handlung beginnt beim alten Herzog, der, als seine Kinder zehn Jahre alt sind (v. 187 f.), im Sterben liegt, daher seine Vasallen versammelt, die besten von dem lande (v. 196), und die Kinder in deren Verantwortung oder Vormundschaft übergibt (Aquitanien I). Die agnatische Fortsetzung von Sippe und Herrschaft scheint also gesichert, dennoch ist der Herzog voll Sorge (v. 238ff.). Und dies nicht zu Unrecht: Der Übergang von einer Generation zur nächsten ist in Systemen personaler Herrschaft stets kritisch, im gegebenen Fall verfügt der Fürst zwar über treue Vasallen, doch hat er seine Tochter nicht so versorgt, daß sie in den agonalen Konstellationen des feudalen Adels als Ziel sexueller und feudalherrschaftlicher Begehrlichkeiten ausschiede. 21 In Aquitanien II sodann haben sich die Tradierungsprobleme feudaler Herrschaft kritisch zugespitzt mit deren cognatischer Weitergabe an eine Frau, welche selbstverständlich den Annexionsbestrebungen konkurrierender Feudalherren beinahe hilflos ausgeliefert ist: dö si daz lant zuo ir gewan unde daz ze maere erschal in den landen über al, vil manec richer herre nähen unde verre die gerten ir ze wibe. (v. 858-863)

Insbesondere ein Römcere (v. 1999) verhert mit urliuge und mit drö (v. 910) die Herrschaft, bis der Herzogin nur noch ihre houbetstat (v. 917) bleibt. Drittens schließlich in Rom zeigt der Text wieder ein Problem der Verstetigung von Herrschaft in der Zeit, nun nicht im feudalen Familien- und Herrschaftsverband, sondern in der Situation eines Amtswechsels: Ein neuer Papst ist zu küren und dies droht an den internen Streitigkeiten der Römer zu scheitern, die je ihre eigene Sippe mit der Macht und dem Reichtum des Stuhles Petri verbinden wollen. 20

Wie immer man strukturelle Analogien zwischen dem 'Gregorius' und Artusromanen beurteilen will, besteht doch in diesem Punkt eine gewichtige Differenz. Zur Krise feudaler Herrschaft - im Rahmen theoretisch problematischer, teils anachronistischer sozialgeschichtlicher Rekonstruktionen - vgl. etwa auch Henne [Anm. 15], S. 5 ff.

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Anders als in Hartmanns anderen Erzählungen ist die Ausgangssituation hier also ein Problem der Tradierung feudaler Herrschaft; schon von daher mag es nahe liegen, beim 'Gregorius' auch an Wolframs 'Parzival' zu denken.

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Dreimal also ist der Fortbestand legitimer Herrschaft kritisch, und paradigmatisch ist diese Folge zumindest insofern, als in ihr die systematisch je gegebenen Lösungsoptionen realisiert werden. Denn mit Vererbung, Verheiratung und Gnadenwahl spielt der Text gewissermaßen jene Mechanismen durch, die in stratifikatorischen Sozialsystemen zur Bewältigung derartiger Kontinuitätsprobleme zur Verfügung stehen: In Aquitanien I vererbt der Herzog Land und Herrschaft an seinen minderjährigen Sohn unter der Vormundschaft der konsensbereiten Vasallen. In Aquitanien II erhält die bedrohte Landesherrin Hilfe von außen in Gestalt eines fremden Ritters, der den Aggressor unterwirft, sich dadurch als der Beste erweist und dementsprechend mit Zustimmung der Großen des Reiches Frau, Land und Herrschaft in der Fürstenheirat sich zu eigen macht; jener Widerspruch, daß dieserart gewissermaßen der eine Usurpator von einem zweiten aus dem Weg geräumt wird, ist durch die axiologische Besetzung ihrer Rollen als Bedroher und Befreier bearbeitet, welche Codierung von dem zugrundeliegenden Erzählschema >Befreiung der bedrohten Unschuld< (>Erlösermärchenzuvor< nicht hatte.«30 Das Inzestverbot konstituiert Blutsverwandtschaft dadurch als einen sozialen Beziehungstypus, der von anderen unterschieden ist, daß es einen Unterschied macht zwischen Gebot und Verbot. Es klassifiziert die Gesamtheit aller möglichen Beziehungen31 und ermöglicht es dieserart, diejenigen personalen Beziehungen, die nicht auch sexuelle sein dürfen, als Verwandtschaft aufzufassen. Damit begründet es Ordnung überhaupt, die nicht anders denn als strukturiertes Gefüge des Unterschiedenen zu denken ist. Das Gesetz konstituiert also vermittels einer Unterscheidung von Erlaubtem und Verbotenem eine weitere Unterscheidung, diejenige von Verwandten und Nicht-Verwandten, wobei die erste Unterscheidung zur Ordnung des kulturellen Wissens gehört, die zweite sich als naturgegeben, als Ordnung des Blutes zeigt; die Unbefragbarkeit der Geltung des Gesetzes rührt nicht zuletzt daher, daß es dieserart >naturalistisch< seine eigene Konstruktionsleistung abblendet. Schließlich gilt für diejenigen, die als Verwandte unter das Verbot des Gesetzes fallen, ein komplementäres Gebot, die sogenannte Exogamieregel.32 29

Vgl. insbesondere Günther Zuntz, Ödipus und Gregorius: Tragödie und Legende, Antike und Abendland 4 (1954), S. 191-203; Jürgen Kühnel, Ödipus und Gregorius, in: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions, hg. v. Jürgen Kühnel u.a., Göppingen 1985 (GAG 431), S. 141-170; kritisch weiterführend hingegen Christoph Huber, Mittelalterliche Ödipus-Varianten, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, hg. v. Johannes Janota u.a., Tübingen 1992, S. 165-199, bes. S. 189ff. 30 Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, aus dem Franz. v. Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 1990 [zuerst unter dem Titel: L'institution imaginaire de la sociite, 1975], S. 239. 31 Feministische Diskursanalyse versucht zu zeigen, daß dieser Unterscheidung eine weitere logisch und historisch vorausliegt, die der Geschlechter im Homosexualitätsverbot; vgl. Butler [Anm. 28], bes. S. 93ff., 113ff. Eine dritte, weniger allgemeine Unterscheidung baut schließlich darauf auf: das Polygamieverbot. 32 Vgl. Levi-Strauss [Anm. 28] S. 94ff., insbesondere S. 106; Girard, Das Heilige [Anm. 5], S. 345ff.

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In jener Ordnung des Wissens, die auch Hartmanns 'Gregorius' seine narrativen Spielzüge vorschreibt, stehen Genesis und Geltung des Gesetzes völlig außer Frage. Sie werden nicht zuletzt durch den theologischen Diskurs sanktioniert und sie werden präsent gehalten vor allem auch dadurch, daß man vom Verstoß gegen das Gesetz und seinen katastrophalen, Kultur nämlich grundsätzlich zerstörenden Folgen erzählt. Die Erzählung verwendet das Verbrechen als Problematisierungsfigur und damit kommunikativ als Mechanismus der Stabilisierung von genealogischer Ordnung, hier also Ordnung allgemein. Das Verbrechen, der Inzest, erscheint theologisch als Todsünde, strukturell aber als »Krise der Unterschiede«, als Krise von Kultur überhaupt, die auf den vom Gesetz begründeten Unterschieden aufbaut.33

V Von solchem Zusammenstürzen dessen, was als Unterschiedenes geordnet ist und zwar präzise vom Kollaps des Kultur, Gesellschaft, Herrschaft organisierenden Verwandtschaftssystems - , erzählt der 'Gregorius' zweimal. Um die für jede Lektüre entscheidenden Differenzen dieser beiden Erzählungen (Aquitanien I - Aquitanien II) hernach deutlich herausarbeiten zu können, sind zuvor kurz ihre Zusammenhänge zu skizzieren. Sie sind syntagmatischer wie handlungslogischer Art. Im Syntagma des epischen Prozesses sind solche Zusammenhänge zunächst als Einheit des Handlungsraums Aquitanien, als in der Zeit strukturierte Abfolge der Geschehnisse und auch hinsichtlich des Personals über die weibliche Hauptfigur gegeben. Die Tochter des alten Herzogs aus Aquitanien I, für die wir keinen Namen haben, ist in Aquitanien II Landesherrin; auf diese personal begründete Kontinuität der aquitanischen Herrschaft sind übrigens ihre Bußformen nach dem Geschwisterinzest genau abgestimmt (v. 2709 ff.). Sie versagt sich allen sie und die Herrschaft begehrenden Fürsten, um sich dem einzig berechtigten Bewerber nicht mehr versagen zu müssen - welcher sich hier freilich zugleich als der einzig verbotene erweisen wird. Handlungslogische Kausalitäten unterfangen diesen syntagmatischen Nexus der beiden Inzesterzählungen. Der Inzest der Geschwister in Aquitanien kann nur beantwortet werden mit dem, was ich später die Ausstoßung des Bruders nennen werde, mit seiner Bußfahrt nach Palästina: Wer in der Übertretung des Gesetzes das Verwandtschaftssystem destruiert, kann nicht mehr personale Herrschaft als Ordnung der auch genealogischen Unterschiede legitim ausüben. Damit schon und erst recht nach dem Tode des Bruders (v. 825 ff.) hän33

Girard, Das Heilige [Anm. 5], S. 77 ff.

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gen Stabilität und Dauer herzoglicher Macht in Aquitanien aber an der alleinregierenden Schwester. Und weil feudale Machtsysteme solche unentwegter männlicher Statuskonkurrenz sind34 - Landherren m ü s s e n sich benachbarte weibliche Herrschaft einverleiben - , sind dieserart die umsitzenden Fürsten zur Unterwerfung von Land, Herrschaft und Frau geradezu genötigt, was es ermöglicht, die strukturierte Geschehnisfolge des >Erlösermärchens< kausal anzuschließen. Diese skizzierten Zusammenhänge erlauben es, die gravierenden Differenzen deutlich zu profilieren, die in Hartmanns Text zwischen den beiden Inzesterzählungen selbst sowie zwischen den Konstellationen bestehen, in welche sie eingefügt sind. Es sind dies Unterschiede der jeweiligen Figurenkonstellationen (hier Geschwister-, dort Mutter-Sohn-Inzest), der Handlungssysteme (Minne vs. Aventiure) und der jeweiligen Relationierung von Gesetz und Wissen: In dieser Hinsicht kann man den ersten, von den Figuren im Bewußtsein der Schuld begangenen Tabubruch als ein Problem der Moral abheben vom zweiten als einem Problem gewissermaßen des Schicksals,35 weil hier Mutter und Sohn unwissend die inzestuöse Bindung eingehen. Paradigmatisch verschieden sind die beiden Gesetzesübertretungen darüberhinaus aber auch auf einer komplexeren Ebene, die nähere Beobachtung erfordert. Ich beginne, wie die Erzählung, beim Bruder-Schwester-Inzest, der die scheinbar erfolgreiche Bewältigung des Problems der Herrschaftskontinuisierung beim Generationenwechsel nachträglich zunichte macht. Diese Verletzung des Gesetzes36 ist das dritte Geschehnis in einer Reihe, die den gesamten Prozeß dynastischer Machtsicherung in Aquitanien begleitet und die schon mit der Geburt des Thronfolgers einsetzt: des selben landes herre gewan bi sinem wibe zwei kint diu an ir libe niht schcener mohten sin, einen sun und ein tohterlin.

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Schön beschrieben hat dies zum Beispiel Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), bes. S. 28 ff., 88 ff. 35 Vgl. Luhmann [Anm. 1], S. 246. Insofern beweist der erste Inzest die Schuld der Beteiligten, der zweite die Macht Gottes. Letzteres gälte nur dann nicht, wenn man den zweiten Inzest kausal auf Gregorius Entscheidung gegen die monastische Lebensform, auf seinen Abschied vom Abt und Weggang aus dem Kloster bezöge. Wie immer man den paradigmatischen Sinnzusammenhang beurteilen möchte (vgl. auch oben Anm. 18): Für eine solche Kausalitätsbeziehung gibt es keinen Anhalt im Text. Geleitet von den Winden (v. 1835) wird Gregorius als Erlöser und Todsünder in einem nach Aquitanien geleitet. 36 Vgl. V (A, v. 250): centre lei.

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der kinde muoter erstarp, d ö si in daz leben vol erwarp.

(v. 1 8 0 - 1 8 6 )

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Es handelt sich also um Zwillinge. Zwillinge stellen für viele Verwandtschaftssysteme ein gravierendes Problem dar, das zum Beispiel durch Tötung oder Aussetzung oder rituellen Ausschluß aus der Gemeinschaft bewältigt werden kann. Rene Girard und andere haben dies gedeutet als Reaktion des sozialen Verbands auf jene Unterschiedslosigkeit, die Zwillinge verkörpern38 und Girard hat von daher die These vertreten, Zwillinge setzten die Gemeinschaft der gleichen Gefahr aus wie der Inzestuöse; dies gelte besonders bei gleichgeschlechtlichen Zwillingen.39 Nun sind freilich die Verwandtschaftssysteme des Hochmittelalters längst so komplex und leistungsfähig, daß die Bedrohung durch Zwillinge weitgehend abgedämpft ist; wenn auch unübersehbar bleibt, daß das Thema fortgesetzt - zum Beispiel in der Literatur - diskursiv bearbeitet wird. Insofern darf man Girards Deutung nicht einfach in eine 'Gregorius'-Interpretation einbauen. Man kann indes ihre Grundfigur bedenken, und dann läßt sich immerhin sagen: Auch die ungleichgeschlechtlichen Zwillinge negieren zunächst eine Differenz, die für die Konstruktion feudaler genealogischer Ordnungen zentral ist, sie können nicht als Erst- und Zweitgeborene differenziert werden.40 Freilich bleibt ihnen ein anderer Unterschied, eben der des Geschlechts, und so hätte die Sippe die Möglichkeit, die fehlende Differenz gewissermaßen durch die Einführung einer neuen zu restituieren: In einer exogamen Heirat wäre die Tochter aus ihrer Herkunftsfamilie auszusondern und einem fremden Verwandtschaftsgefüge zuzuordnen. Solche Überlegungen bewegen sich in Bereichen, die aus der Perspektive der 'Gregorius'-Forschung peripher erscheinen mögen, gar spekulativ. Doch würde dabei übersehen, daß, was ich hier beschreibe, im Text selbst als gewichtiges Problem ausdrücklich thematisiert wird - vom alten Herzog gegenüber seinem Sohn: j a vürhte ich harte sere diner schcenen swester. des ist min jämer vester und b e g i n n e z nü ze späte klagen 37

Ebenso bei Arnold von Lübeck: Durch die Gnade Gottes werden dem aquitanischen Herrscher Erben von besonders schöner Gestalt geschenkt, und zwar ein Sohn gemeinsam mit einer Tochter (A, 1,1. v. 20f.); anders in GR, Cap. 81. [73.], S. 399,6f., und in P, 2ff.

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Vgl. Girard, Das Heilige [Anm. 5], S. 88ff.; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und AntiStruktur, aus dem Engl. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff und mit einem Nachwort v. Eugen Rochberg-Halton, Frankfurt a.M./New York 1989 (Theorie und Gesellschaft 10) [zuerst unter dem Titel: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, 1969], insbesondere S. 49. Girard, Das Heilige [Anm. 5], S. 115. Und eben diese Ähnlichkeit bereitet dem alten Herzog vil bitterlichen smerzen (v. 210).

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Inzest-Heiligkeit daz ich ze allen imnen tagen ir dinc niht baz geschaffet hän: daz ist unväterlich getan, (v. 236-242)

Es ist dies die letzte Klage des Fürsten vor seinem Tod. Man mag sie als Sorge bloß um die ökonomische Versorgung der Tochter lesen, doch wäre sie dann unberechtigt: In der Obhut ihres Bruders wie unter der Vormundschaft der Großen eines mächtigen Herzogtums ist die Tochter durchaus angemessen ausgestattet. Vielmehr geht es offenbar darum, daß der Fürst bei seiner Tochter die Befolgung der Exogamieregel unterließ.41 unväterlich ist dies in jenem genauen Sinne, daß der Vater als Instanz von Personenverband und Herrschaft die kulturelle Ordnung der Unterschiede aufrechtzuerhalten hätte. Dies nicht getan zu haben, und zwar auch angesichts des Zwillingsstatus seiner Nachfolger nicht, das ist hier sein Versäumnis,42 und so kollabiert die Ordnung der Unterschiede im Inzest der Zwillinge: doppelt notwendig gewissermaßen nicht gemäß den kausalen Handlungszusammenhängen, doch gemäß ihrer fundierenden Mytho-Logik. Hartmann erzählt diese Übertretung des Gesetzes als wachsende und schließlich zu große Nähe43 der Geschwister. Da es um ihre Körper geht, zeigt sich an deren proxemischer Ordnung im Raum das Schwinden des Unterschieds, und dies allererst ist es, was dem Teufel einen Ansatzpunkt für seinen Eingriff in das Geschehen bietet (v. 303 ff.). Seiner Gegenwart und der freilich hier allenfalls punktuell angebrachten theologischen Sündensemantik ungeach41

So explizit auch in GR, Cap. 81. [73.], S. 399,9-14. Zur entsprechenden Situation in der 'Vie' Guerreau-Jalabert [Anm. 13], S. 1299f. - Vgl. L6vi-Strauss [Anm. 28], S. 643: »Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, die Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, die Schwester oder Tochter anderen zu geben.« 42 Vielleicht wäre sogar weitergehend zu sagen, daß es sich um mehr als nur ein Versäumnis handelt: Zwar warnt der alte Herzog seinen Sohn implizit vor inzestuösem Tun, indem er ihm die Tochter mit dem Gebot anempfiehlt, daz du dich wol an ir bewarst und ir bruoderlichen mite varst (v. 261 f.). Doch tut er dies, während er zugleich im Kreis der möge man und dienestman (v. 201) beidiu Kinder bi der hant hält (v. 243): Nicht anders sähe ein Rechtsgestus der Verehelichung aus (vgl. P[aul] Mikat, [Artikel] Ehe, in: HRG 1 [1971], Sp. 809-833, besonders Sp. 820; Dietmar Peil, Die Gebärde bei Chretien, Hartmann und Wolfram. Erec Iwein - Parzival, München 1975 [Medium Aevum 28], S. 204f.; R[uth] Schmidt-Wiegand, [Artikel] Hochzeitsbräuche, in: HRG 2 [1978], Sp. 186-197, besonders Sp. 188). Insofern widersprächen die Aussagen des gestischen und des sprachlichen Codes einander und darin würde die Prekarität der Verhältnisse schon vor dem Inzest zum andern Male deutlich. 43 Vgl. v. 287 ff., 343, 365 ff. Ich lese wachsende Nähe nicht als psychologisches Phänomen (dahingehend skeptisch auch zum Beispiel Cormeau/Störmer [Anm. 9], S. 130), sondern mythologisch als Krise des Unterschieds. Diese Lektüre ermöglichte sodann, im Rahmen des Theorieentwurfs von Girard zu verstehen, warum der Inzest zunächst eine Vergewaltigung ist: »Wo Unterschiede fehlen, droht Gewalt.« (Girard, Das Heilige [Anm. 5], S. 88)

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tet,44 ist diese Übertretung des Gesetzes vor allem anderen eine soziale Katastrophe: Destruktion der Unterschiede auf der horizontalen Ebene der Generation. Bruder und Schwester werden zu Gatten, die unumstößliche Ordnung der Genealogie ist zerstört und mit ihr die Regeln, nach denen personale Herrschaft allein Geltung und Dauer besitzen kann. Genau in dieser sozialen Dimension wird der Inzest von den Figuren auch wahrgenommen, das Stichwort dafür ist ere.45 Abgebrochen wird er nicht ob seiner Sündhaftigkeit, sondern weil das Verbrechen und die faktische Störung der Genealogie mit der Geburt des Kindes nicht weiter zu verheimlichen wären.46 Zur Bewältigung der Inzestfolgen wird daher nicht der Priester, sondern ein alter fürstlicher Rat um Hilfe gebeten. Anders als bei der zweiten Übertretung des Gesetzes im 'Gregorius' ist hier das Netz des moralischen und theologischen Diskurses so weitmaschig, daß jene destruktive Gewalt ganz direkt sichtbar wird, welche das inzestuöse Geschehen für die Gemeinschaft darstellt und auf welche diese Lektüre zunächst abhebt.

44

Schuldsemantik wird von den Figuren nur selten (v. 440f., 470ff„ 579, 599ff„ 1780, 2484, 3304), an den wenigen übrigen Stellen vom Erzähler (v. 402, 688f., 1750) eingesetzt. Anders etwa bei Amold von Lübeck; hierzu zuletzt Jens-Peter Schröder, Arnolds von Lübeck Gesta Gregorii Peccatoris. Eine Interpretation, ausgehend von einem Vergleich mit Hartmanns von Aue Gegorius, Frankfurt a.M. u.a. 1997 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 23). - Zur Funktion des Teufels vgl. Daniel Rocher, Das Motiv der >felix culpa< und des betrogenen Teufels in der 'Vie du pape Gregoire' und in Hartmanns 'Gregorius', GRM 38 (1988), S. 5766. 45 v. 390, 461, 500, 525, 531; vgl. auch Henne [Anm. 15], S. 8 f. 46 Freilich handelt es sich auch in Aquitanien I um (ethische) >SündeSchande< - und sodann, dies sei hier am Rande doch notiert, in einer Semantik des höfischen Minnediskurses: An disem ungewinne [Schwangerschaft] erzeicte ouch vrou Minne ir swaere gewonheit: si machet ie nach liebe leit. (v. 451-454) Durch den Modus ihrer sprachlichen Vermittlung - bis hin zur Personifikation der Dame Minne, bis hin zum Herzenstausch (v. 653 f.) und zum Liebestod des Bruders auf der Palästinafahrt (v. 83Iff.) - verleiht die Geschichte den Zwillingen »programmatisch den Status eines Minnepaares« (Ingrid Kasten, Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin: Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns 'Gregorius', PBB 115 [1993], S. 400-420, hier S. 406), wird das Geschehen eingeordnet in ein Handlungssystem höfischer Liebe, welches es seinerseits in einer Elementarregel (v. 454) exemplarisch bestätigt. Das versteht sich freilich nicht schon als Kritik am höfischen Diskurs der Minne (wie anzunehmen naheliegt, wenn man den Text als Legende klarbekommen will), sondern sanktioniert diese als kulturell durchgearbeitete Form: als Beziehungstyp, der dann katastrophisch wird, wenn er nicht als Einheit einen Unterschied macht, einen Unterschied nicht nur zur Ehe, sondern auch zur Verwandtschaft.

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Inzest-Heiligkeit

VI Vorhin war zu betonen: Handlungslogisch funktioniert auch der zweite Inzest im Risikozusammenhang feudaler Herrschaftssicherung und wie der erste macht er nachträglich eine dort gefundene, zunächst scheinbar erfolgreiche Lösung zunichte, ohne daß doch diese Zerstörung noch ins Licht der Erzählung träte.47 Indes ist die Übertretung des Gesetzes zuvor die konsequente Folge dieser Lösung, nämlich im Handlungsschema von der Befreiung der bedrohten Landesherrin48 und im Regelsystem von Aventiure und Landesherrschaft, das jenem zugrundeliegt: Der Queste-Ritter gelangt nach Aquitanien, erfährt dort von der Bedrohung der Landesherrin und erkennt diese Situation als Herausforderung wie Chance seiner ritterlichen Bewährung im Frauendienst (v. 1867ff.). So kommt der Handlungsablauf in Gang. Der fremde Ritter und die Herzogin begegnen einander, es gibt einen Moment des Stutzigwerdens, doch zu einer Anagnorisis kommt es nicht.49 Dies ist als Voraussetzung des späteren Inzestes selbstverständlich narratologisch vom Ende her motiviert, liegt zugleich aber auch in jener Logik der epischen Welt begründet, die ich herauszuarbeiten versuche: Die Blutsverwandtschaft von Ritter und Landesherrin hat ja ihren Grund in einer Krise der genealogischen Unterschiede, sie ist eine Unterscheidung, die sich selbst negiert; die Mutter des Gregorius ist zugleich seine Tante (Vaterschwester). Wie sollte man diese Konfundierung wahrnehmen können in einer Welt visueller Evidenzen, deren Ordnungen sich stets verkörpern in den feudalen Körpern, und in welcher daher Wahrnehmbarkeit, Beobachtung, die horizontalen und vertikalen Unterscheidungen des Verwandtschaftssystems voraussetzt?50 47

Gregorius zieht aus der Welt, die Mutter büßt so wie nach ihrer ersten Übertretung des Gesetzes (Askese, Almosen) und herrscht im Lande, v. 271 Iff. Die Machtlage des Herzogtums im weiteren wird nicht thematisiert. Die Annahme, daß sie prinzipiell wieder so prekär wäre wie vor der ritterlichen Befreiungstat des Gregorius, scheint naheliegend und wird doch unzutreffend sein. Wie gezeigt werden soll, trägt Gregorius zum Zwecke der Stabilisierung des sozialen Ordnungsgefüges das Verbrechen aus diesem heraus an einen anderen Ort und sichert es gerade damit endgültig.

48

Vgl. oben Anm. 18. v. 1935ff.; vgl. V (A, v. 1315ff.); GR, Cap. 81. [73.], S. 404, 18-20; P, 252ff. So wird erklärlich, daß die Mutter angesichts seines Seidenkleides stutzig wird, ohne Gregorius zu erkennen (v. 1935 ff.). - Zur mittelalterlichen Kultur als einer Welt visueller Evidenzen vgl. etwa Haferland [Anm. 34], bes. S. 207 ff.; Höfische Interaktion. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda Ragotzky u. Horst Wenzel, Tübingen 1990; Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I, Frankfurt a . M . / N e w York 1989, besonders S. 19ff., 192ff.; ders., Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II, München 1993 (dazu Peter Stroh-

49 50

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Der Ritter Gregorius also erprobt sich in kleineren Gefechten (v. 1972 ff.), denn da er aus dem Nirgendwo zu kommen scheint,51 muß er zunächst vor sich und der aquitanischen Gesellschaft darstellen, daß er überhaupt Ritter ist, bevor er sodann im heldenhaften Zweikampf den gefährlichen Aggressor und Werber um die Landesherrin besiegen kann. Die damit beseitigte Gefährdung der Machtlage in Aquitanien hat aber auch die Risiken weiblicher Herrschaft evident gemacht, umgekehrt hat sich Gregorius als der beste aller Ritter bewiesen. Es gibt hier also keine Alternative: Der Beste muß die Frau heiraten,52 um als neuer Landesherr Stabilität und Dauer der Herrschaft zu garantieren. Der Vorschlag dazu kommt schemagemäß von den Vasallen, die ausdrücklich abwägen zwischen den Ansprüchen des Bußlebens der Landesherrin53 einerseits, anderseits demjenigen, was für Stabilität und Dauer des Herzogtums unumgänglich ist (v. 2199 ff.). Und das Ergebnis ist klar. Die Gemeinschaft zieht in jedem Fall die Sicherung ihrer eigenen Weiterexistenz den Einzelinteressen (und seien es die religiösen) eines ihrer Mitglieder (und sei es die Landesherrin) vor. Der Ritter wird also die Herzogin heiraten und als rex iustus et pacificus vorbildlich herrschen. Dieses Erzählschema samt den in ihm gespeicherten Regeln von Aventiure und Herrschaft funktioniert hier freilich unter falschen Voraussetzungen.54 Es Schneider, Die Zeichen der Mediävistik. Ein Diskussionsbeitrag zum Mittelalter-Entwurf in Peter Czerwinskis >GegenwärtigkeitSchicksal< zugefallene eigene, um diese Sünden, nämlich die Übertretung des Gesetzes der Unterscheidung, in einen Raum zu tragen, der von der Ordnung der Unterschiede radikal getrennt ist. Dieserart sichert er den Fortbestand des Gesellschaftsverbands als Ordnung der Unterschiede trotz deren temporärer Krise. Insofern ist der Protagonist nicht paradox gekennzeichnet durch - wie es insbesondere Walter Haug formulierte - »schuldlose Schuld«64, und es wäre zu erwägen, ob nicht überhaupt die philologischen Suchen nach der Schuld des Gregorius im Sinne einer personal zurechenbaren Verantwortung für das katastrophische Geschehen zu sehr von Subjektkategorien gelenkt werden, die die Eigenlogik der mythischen Struktur der Erzählung unterschätzen.65 Präziser als der zitierte Ausdruck von der »schuldlosen Schuld« ist, scheint mir, Hartmanns (und wohl auch seiner französischen Vorlage) eigene Wiederholungsformel: Der guote sündcere66 ist jener gute Stellvertreter und Sündenbock, der 64

Vgl. Haug [Anm. 4], bes. S. 148ff.; Kasten [Anm.46], S.418f.; Haubrichs [Anm. 13], S. 18. Kritisch zur These von der schuldlosen Schuld< auch Joachim Heinzle, Die Entdeckung der Fiktionalität. Zu Walter Haugs »Literaturtheorie im deutschen Mittelalter«, PBB 112 (1990), S. 55-80, hier S. 67 f. 65 Zur prinzipiellen Schuldlosigkeit des Gregorius vgl. Zuntz [Anm. 29], S. 93ff.; Volker Mertens, Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption, Zürich/München 1978 (MTU 67), S. 12ff.; Haug [Anm. 4], S. 152, und dazu Heinzle [Anm. 64], S. 67. Zur Diskussion um die Schuldfrage vgl. Elisabeth Gössmann, Typus der Heilsgeschichte oder Opfer morbider Gesellschaftsordnung? Ein Forschungsbericht zum Schuldproblem in Hartmanns 'Gregorius' (1950-1971), Euph. 68 (1974), S. 42-80; Rudolf Voß, Die Artusepik Hartmanns von Aue. Untersuchungen zum Wirklichkeitsbegriff und zur Ästhetik eines literarischen Genres im Kräftefeld von soziokulturellen Normen und christlicher Anthropologie, Wien 1983 (Literatur und Leben N.F. 25), S. 59ff.; Tomas Tomasek, Verantwortlichkeit und Schuld des Gregorius. Ein motiv- und strukturorientierter Beitrag zur Klärung eines alten Forschungsproblems im Gregorius Hartmanns von Aue, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993), S. 3 3 ^ 7 . 66 v. 176, 671, 2552, 2606, 4001; vgl. V (B, v. 34, 1280); dazu u.a. Hartmut Freytag, >sun, des bewise dich der/ der dich nach im gebildet hätGregorius-AlIegorieNatur< getilgt sind,73 einem imaginären höfischen Körper in seiner ganzen Schönheit kontrastiert - und Schönheit heißt hier differenzierende Zurichtung für die Choreographie sozialer Unterschiede im Gesellschaftstanz: als er ze tanze solde gän (v. 3398) - , dann ist solche Gegenüberstellung weit mehr als eigengültiger Ausdruck rhetorischer Virtuosität.74 Sie zeigt vielmehr - und ebenso tut es die Situierung der Felseninsel in Aquitanien75 - , daß noch diese Aufhebung der Unterschiede in der sanctitas des Bußlebens für den Beobachter strikt bezogen bleibt auf jene differenzielle Ordnung, welche sie vermittels der Ausstoßung des Sündenträgers sichert. Bis an die Grenzen der Erzählbaren hin wird Gregorius also in Distanz gerückt, wird er unterschieden von der Ordnung der Unterschiede. Genau so aber wurden eingangs Heiligkeit, Umschlag in die Transzendenz zu bestimmen versucht: als dasjenige, was von allem Unterscheidbaren und Unterschiedenen unterschieden ist. Dabei versteht sich: Die Disjunktion von Immanenz und Transzendenz, also die primordiale Unterscheidung, nämlich diejenige des Unterschiedenen vom Nichtunterschiedenen, liegt gewissermaßen im Rücken von Hartmanns Text (wie auch unserer eigenen Rationalitäten); sie kann nicht mehr beobachtet werden. Sie ist das unhintergehbare Gesetz des Textes und seiner metaphysisch konstruierten Welt. In dieser Welt aber ist der totale Ausschluß aus jener gesetzten und >gesetzlichen< Ordnung der Unterschiede die negative Theologie wird zum Beispiel mit Nikolaus Cusanus von aliuditas sprechen - , ist dieser Ausschluß zugleich der Eingang in das Nichtunterschiedene, in die Sphäre des non-aliud76: Es heißt Gott, Gnade, Heil. Gregorius hat in diesem Sinne die katastrophische Konfusion der Familie, Herrschaft, Welt begründenden Unterschiede ins Andere alles Unterschiedenen getragen, und 73

Vgl. V (B, v. 1943f.): Tut est veluz cum une beste,/Des piez amunt desqu'a la teste. Vgl. auch Haug [Anm. 4], S. 150f. 74 Dies selbstverständlich auch: v. 3378-3400, 3423-3465. Eine entsprechende rhetorische Ausarbeitung fehlt in V (vgl. A, v. 2495 ff.); G (fol. 40v) kürzt beide Stellen fast gänzlich. 75 Vgl. v. 3180f., 3206, 3764; in V liegt die Felseninsel demgegenüber mitten auf dem Meer (vgl. A, v. 2205ff.). 76 Jene Fassung des Problems, welche ich hier gebrauche, ist also auch in der theologischen Spekulation formulierbar, jedenfalls seitdem diese von Substanz- auf Funktionsontologie umstellt. Vgl. etwa Nikolaus von Kues, Vom Nichtanderen = De non aliud, übers, u. eingeleitet v. Paul Wilpert, (Schriften des Nikolaus von Kues, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, hg. v. Ernst Hoffmann, Bd. 12), Hamburg 1952, und dazu u.a. Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, erweiterte u. überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit«, 4. Teil, Frankfurt 1976, besonders S. 34ff.; Heinrich Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg/München 1965/1966 (21981), bes. Bd. 1, S. 150ff.; Luhmann [Anm. 1], S. 893ff.

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deswegen greift Gott an ihm direkt in das erzählte Geschehen ein: Er holt ihn in einen Raum jenseits aller, auch aller genealogischen Differenzierung, jenseits des Gesetzes; im französischen Text heißt es, er mache ihn zum pastur [...] de la lei11, zum Hirten ü b e r das Gesetz. Gott also erhöht den Sündenbock und Sündenträger zum Papst, und das heißt: Er macht Gregorius in neuer Weise zu dem, was er vom Moment seiner inzestuösen Zeugung an ist - einem Stellvertreter (v. 3497f.).

IX Ist der Inzest die Krise des Gesetzes der Unterschiede, so ist die Gnade dessen Aufhebung. Vor ihrem >Glanz< und ihrer >Fülle< bleibt allein das immer wiederholte Scheitern hymnischer Metaphorik, bleiben »Bilder der unbegriffenen Wahrheit«78. Erzählen kann man von der Gnade selbst nicht, denn narrative Prozesse sind Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens. Doch kann die Erzählung die Wirkungen der Gnade zeigen. Und wie die verbrecherische Zerstörung von Unterschieden im Inzest so bringt sie daher auch deren heilssichernde Aufhebung in der göttlichen Gnade auf der Ebene des genealogischen Diskurses zur Anschauung. Deswegen, so meine ich, ist die Erhöhung des Büßers Gregorius zum Papst, ist die Romfahrt mit ihren Wundern so wenig das Ende der Geschichte wie die päpstliche Friedensherrschaft, in welcher die göttliche Gnade auf die Ordnung der Welt bezogen bleibt.79 Den Abschluß des Erzählens bildet erst die dritte Begegnung mit der Frau,80 also die Wiedereinführung des genealogischen Diskurses mit dem Ziel, in ihm nun auch jenen Heiligkeitsraum narrativ aufscheinen zu lassen, der hier Rom, Papsttum heißt. Der doppelte Inzest, so versuchte ich zu zeigen, hat Gregorius als Voraussetzung seines Papsttums und seiner Heiligkeit von allen genealogischen Legitimitätslinien abgeschnitten, hatte ihn schon in der Konfusion der Verwandtschaften von allen Vorgängern und Vorfahren, von aller Welt entbunden. Zuletzt der Verlust der Tafel beim Weg zur Felseninsel zeigt, daß dieser Ort jenseits aller Tradierungen, jenseits der Geschichte liegt: Gregorius ist dort ohne Ursprung. Nur und erst deswegen kann jetzt Gnade an die Stelle genealogischer Gründung treten. Oder anders gesagt: Das Papsttum des Gregorius, 77 78

V (B, v. 1987). Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen/Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30).

79 80

Vgl. v. 3796ff. und Haug [Anm. 4], S. 148f. Eine entsprechende Anagnorisis-Szene fehlt in der Hartmanns Text insgesamt wohl am nächsten stehenden V-Version B,, nicht aber in den übrigen altfranzösischen Fassungen (vgl. V, S. 28, sowie Anmerkung zu v. 2593 ff.).

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von dem alles andere abgefallen ist, hat keinen anderen Grund als die Gnade Gottes und in ihr also seinen absoluten Grund.81 Das Heil der Sippe hat sich in totales Unheil und dieses in absolutes Heil verkehrt. Dieses aber hebt alles Differenzieren auf, und zum Zeichen dessen läßt die Erzählung die Mutter des Gregorius nach Rom kommen, als Erlösungssuche der Büßerin82 es inszenierend. Dort tritt sie ihrem geistlichen Vater gegenüber,83 der ihr leiblicher Sohn ist, ohne daß dies noch einen Unterschied machen würde. Auch auf dieser Ebene schließt hier also jene Trias paradigmatischer Konstellationen ab, an welcher sich diese Lektüre wiederholt orientiert hatte: In Aquitanien I ist Gregorius der Sohn und Neffe der Frau, in Aquitanien II ist er ihr Sohn und ihr Gatte (v. 3926), jetzt in Rom ist er ihr Sohn und ihr Vater. Daß es auf diesen genealogischen Diskurs bis zum Schluß ankommt, weil er allein im System des Textes aufscheinen läßt, was nicht zu erzählen ist, das signalisiert Hartmann dadurch, daß er am Eingang der Anagnorisis-Episode umgekehrt die Frau mit einer - ich denke, man muß sagen: - Trinitätsformel84 einführt: Sin muoter, sin base, sin wip (diu driu heten einen ltp) (v. 3831 f.)

- sie wird nun die Tochter ihres Vaters, des Papstes. Der Raum des Heils ist derjenige, in welchem sich alle Unterschiede aufheben, auch die Ordnungen der Blutsverwandtschaft: sus wären si ungescheiden (v. 3940),85 weil Mutter und Sohn, Tante und Neffe, Gattin und Gatte, Vater und Tocher jetzt zwei uz erweltiu gotes kint (v. 3954) sind. Man wird es nicht mehr überraschend finden, daß dieser Übertritt ins Heil, in welchem der Sohn zum Vater seiner Mutter wird, daß er genea-logisch genau die Inversion jenes Inkarnationsvor-

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Paradigmatisch deutlich wird dies im Gegenlicht nicht zuletzt darin, daß der vor dem göttlichen Eingriff unternommene Versuch der Papstwahl eben daran scheitert, daß die Römer diese Wahl gerade innerhalb ihrer genealogischen Ordnungen betreiben, vgl. oben S. 115. Auch dies wird als Verwandlung ihres Körpers erzählt, vgl. v. 3847 ff. Vgl. Kühnel [Anm. 29], S. 158. Vgl. auch Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1973, S. 633: Von »Allotria« und »Zahlenspielerei« freilich ist diese »inzestuöse [...] Trinität« weit entfernt. Eine entsprechende Trinitätsformel in P, 456, nicht aber in V, so sehr auch dort immer wieder der Kollaps der Unterschiede an den Aporien der Verwandtschaftsterminologie verdeutlicht wird (A, v. 2599 ff.), und auch nicht in GR. Anders in V (A, v. 2675 f., 2685 ff.): Hier bringt Gregoire seine Mutter in ein Frauenkloster, wo sie schließlich den Schleier nimmt. Vergleichbar auch die Fassung in den 'Gesta Romanorum' (GR, Cap. 81. [73.], S. 408: »lila hec audiens, ad pedes ejus cecidit et pre gaudio amare flevit, papa vero de terra eam levavit et in ejus nomine monasterium constituit, in quo eam abbatissam fecit et infra pauca tempora ambo animas deo reddiderunt«). Vgl. dazu Haubrichs [Anm. 13], S. 13ff.; Haug [Anm. 4], S. 146f.

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gangs ist, in welchem Gott der Vater zum Sohn seiner Tochter Maria wurde,86 um die Sünden der Welt hinwegzunehmen. Von dem, was jenseits aller Unterschiede ist, kann in einer genealogischen Wissensordnung nur als Aufhebung der Verwandtschaftsstrukturen gesprochen werden, und nur in diesen Formen eines genealogischen Diskurses offenbar kann Hartmanns Text auf der Ebene seiner mythischen Struktur - also unterhalb seiner geistlichen wie weltlichen Semantiken - , das absolut Andere zur Ordnung des Gesetzes und des Verbrechens narrativ hervortreten lassen. Aus der Mytho-Logik dieser Ebene aber erklärt sich, warum der Sünder zum Heiligen wird und weshalb in der Gregoriusgeschichte die Sünde gerade im Inzest, weshalb die Heiligkeit eben in der Erhöhung zum Papst liegt: Heiligkeit ist eine Distanzkategorie für das, was von allen Unterschieden durch eine Unterscheidung getrennt ist, und der Heilige hat hier seinen Ur-Sprung daher in der Krise der Unterschiede (im Inzest),87 aus ihr hervorgehend und vom Sündenbock/Stellvertreter zum Gottes-Stellvertreter sich wandelnd im schrittweisen Ausschluß aus der Ordnung der Unterschiede. Es scheint mir diese mythische Struktur zu sein, die den epischen Prozeß von Hartmanns 'Gregorius' organisiert und die zugleich die Spielräume festschreibt für das, was im höfischen und geistlichen Diskurs der Erzählung und auch im metanarrativen Diskurs des Textes zu sagen ist und gesagt werden kann.

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Vgl. etwa Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literarhistorische Studie, Darmstadt 1967 (Nachdruck der Ausgabe des Obergymnasiums Seitenstetten 1886-1894), bes. S. 98ff.; Peter Kern, Trinität, Maria, Inkarnation. Studien zur Thematik der deutschen Dichtung des späteren Mittelalters, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 55), S. 89ff. 87 Deswegen kann schließlich auch der Zwillingsbruder der Mutter, der Vater und Onkel des Gregorius, in diesen transzendenten Raum aufgenommen werden (v. 3955 ff.): Er als letzter, denn er hatte in der inzestuösen Vergewaltigung seiner Zwillingsschwester als erster die Krise der Unterschiede manifest werden lassen. - Der hier erwogene mytho-logische Zusammenhang zwischen der Krise der Unterschiede im Inzest und ihrer Aufhebung in der Heiligkeit liegt tiefer als die normative Entgegensetzung von »inceste et saintete«, welche nach der Interpretation der altfranzösischen Grigoire-Vita durch Guerreau-Jalabert [Anm. 13] deren ideologisch-polemische Antinomie von natürlicher und spiritueller Verwandtschaft codiert.

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Der hövesche got und der Scelden wec Zwei 'Erec'-Konjekturen und ihre Folgen

I

Als Enite von ihrem Vater beauftragt wird, sich um das Pferd des Gastes, der eben bei ihnen eingekehrt ist, zu kümmern (v. 316ff.),' empfindet Erec, der Gast, dies als Zumutung für sie, da er ahnt, daß siz selten habe getän (v. 342 ff.). 2 Der Vater aber besteht darauf, und das hat einen pragmatischen Grund: uns gebristet der knehte:/ von diu tuot siz mit rehte (v. 350 f.). Enite nimmt sich des Pferdes mit solcher Hingabe an, daß, wie der Erzähler bemerkt, sogar Gott selbst, wenn er hie üf erde rite, mit ihr als marstaller zufrieden gewesen wäre und daß jedenfalls niemand süezern schiltkneht nie gewan als Erec (v. 354 ff.). 3 Als Enite nach dem Gewinn des Sperberpreises gemeinsam mit Erec Tulmein verläßt, erhält sie ein Pferd zum Geschenk, der Art, daz vordes nie/ in der werlde dehein man/schcener pherit me gewan (v. 1412ff.). Besonders zeichnet es sich aus durch ein sanftes Wesen und eine sanfte Gangart, was dreimal hervorgehoben wird (v. 1433, 1437, 1440). Schon hier läßt sich erahnen, daß das Motiv des Pferdegeschenks und des Pferdes überhaupt »ein kompositorisches Mittel für die strukturelle Einheit« des Romans ist; indem es sowohl zurück- wie vorausweist, ist es Teil von Hartmanns »Signaltechnik«.4 1

Zitiert wird nach der folgenden Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, hg. v. Albert Leitzmann, fortgeführt v. Ludwig Wolff, 6. Aufl. bes. v. Christoph Cormeau u. Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39). 2 Rodney Fisher, Erecs Schuld und Enitens Unschuld bei Hartmann, Euph. 69 (1975), S. 160174, hier S. 170f., deutet die Verse als »ironischen Selbstkommentar« Erecs in bezug auf sein eigenes späteres Verhalten gegenüber Enite, als »dramatische Ironie«, bei der »die Hauptfigur sich klüger äußert, als sie es ahnt«. 3 Urs Herzog, Ein geheimes anderes Bethlehem. Zum Eingang von Hartmanns Erec, in: Claudia Brinker u.a. (Hgg.), Contemplate aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität, Bern [usw.] 1995, S. 217-223, hier S. 222, sieht im Rahmen seiner nur punktuell überzeugenden These, daß die Herbergsuche bei Hartmann »durchsichtig gemacht« sei (S. 219) auf die Herbergsuche in Bethlehem, Enite als »kühn vergleichbar der Braut des Hohenliedes«, sie sei demütig wie nur Maria (Demut im ursprünglichen Sinn als >Dienstmut< verstanden), und in ihrer Einwilligung in den väterlichen Auftrag klinge das Fiat der Verkündigung an, das später, v. 3277, »förmlich zitiert« werde. 4 Erika Oh, Aufbau und Einzelszenen in Hartmanns von Aue höfischen Epen 'Erec' und 'Iwein', Diss. Hamburg 1972, S. 15f.

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Als Enite wenige Wochen später zusammen mit ihrem Gatten Erec und dem kleinen König Guivreiz von dessen Burg Penefrec aufbricht, sitzt sie auf einem Pferd, das so vollkommen ist, daz doch nie dehein man/ dehein schcenerz gewan/ noch solde beschouwen (v. 7278 ff.), es ist also noch hervorragender als das erste. Seine Schönheit und die des Sattels sind dem schaenisten wtbe (v. 7764) ganz angemessen, und seine Bedeutung ist offenbar so groß, daß der Erzähler annähernd 500 Verse (v. 7274-7766) auf die Beschreibung des Pferdes und seiner Ausstattung verwendet. Unbeschreiblich sanfte trägt das Pferd seine Reiterin (v. 7792; ähnlich schon v. 7439); man ist versucht, es in seiner überirdischen Einzigartigkeit als Gottesgeschenk anzusehen, als Wiedergutmachung für all das, was Enite in der Zwischenzeit von Erec angetan worden war. Das Motiv des Pferdes rahmt die Ereignisse von der ersten Begegnung zwischen Enite und Erec bis zu ihrer Versöhnung und zur Heilung von Erecs Wunden, an der Enite maßgeblichen Anteil hat. Das Pferd und Enite, das ist eine Partnerschaft, die im Zeichen der senftekeit steht, eine Partnerschaft, die sich von Anfang an bewährt. Sie bewährt sich erst recht, als aus dem galanten, rücksichtsvollen Erec der ersten Begegnung ein harter, rücksichtsloser Despot geworden ist, der Enite die von den Raubrittern erbeuteten Pferde zur Strafe anheimgibt. Anfangs sind es nur drei: vol unde rehte soll Enite sich um sie kümmern, und Erec will auf dieser Aventiurefahrt nicht darauf verzichten, seine Frau ze knehte zu haben (v. 3272ff.). Auf den Reim reht(e): kneht(e) achten wir, seit Enites Vater Koralus ihn verwendet (s.o.) und der Erzähler ihn aufgenommen hat: Unversehens hat sich der strenge Unterton im knehte: rehte-Reim des Vaters gewandelt zu einem harmonischen Einverständnis im Zeichen der senftekeit, wenn es vom Pferd heißt: im zam von selhem knehte/ sin vuoter wol mit rehte (v. 364f.), was kaum wundernimmt, da sogar Gott von selhem knehte angetan gewesen wäre. Ist auf einen Reim aber überhaupt etwas zu geben, der sich nahezu zwangsläufig einstellt? Es wird sich zeigen, daß das Wortpaar an nahezu allen Stellen, an denen es im Reim oder im Innern der Verse begegnet, interpretatorisch nutzbar zu machen ist.5 Der >Rechtsknabe, ir suit von rehte/ etelichen lön emphän< (v. 3558 ff.), und er zeigt dadurch mit unfreiwilliger Selbstironie, daß sein Rechtsempfinden anderen als Enite gegenüber durchaus intakt ist. Die Belohnung besteht darin, daß der Knappe sich eines der acht Pferde aussuchen darf. Gern hätte Erec ihm alle Pferde überlassen, wan daz der vrouwen leben/ da mite gesenftet wcere (v. 3576 ff.). Daß Erec diese Erleichterung für Enite nicht will, bekundet er mit seiner Antwort auf das Anerbieten des Knappen, den dienest, die Pferde zu führen, selbst zu übernehmen (v. 3583 ff.): si muoz mit ungemache/ leben ze disen ziten (v. 3593 f.). 8 Mit gesenftet und ungemache sind zwei weitere im Kontext Enite und die Pferde wichtige Leitwörter genannt. Seit der Katastrophe von Karnant, ausgelöst durch das Gerede des Hofes über Erecs verligen im Zeichen des gemaches (v. 2966 ff.), hat Erec für sich und seine Frau den ungemach als Existenzform gewählt.9 Gegenüber Koralus war seine Reaktion darauf, daß Enite sich seines Pferdes annehmen sollte, noch diametral entgegengesetzt: Erecken muote ir ungemach (v. 342). Von dieser Rücksicht zeigt er nichts mehr, als er ihr den ersten Pferdedienst auferlegt; Enite aber beweist, daß dies si niht muote und daß sie es mit allem, was noch ir geschach/ an ir herzen ungemach, getreulich erträgt (v. 3277ff.). 10 7

Rolf Endres, Studien zum Stil von Hartmanns Erec, Diss. München 1961, S. 74f., erkennt, daß die ganze Passage v. 3445-3471 vom »Gesichtspunkt des Gegensatzes« bestimmt ist, insofern als die sich bei einem solchen Pferdedienst natürlicherweise einstellenden Folgen - swcere, kumber, ungemach - für Enite sämtlich negiert sind. Peter William Hurst, Enite's Dominion over the Horses: Notes on the Coalescence of Platonic and Hagiographic Elements in an Episode from Hartmann's Erec, Medium Aevum 63 (1994), S. 211-221, hier S. 218, hält es für vielleicht nicht zufällig, daß reht in diesem Passus gehäuft auftaucht, zudem kombiniert mit aht (die Zahl meine die Kardinaltugend der Gerechtigkeit; er verweist auch auf das Wortspiel rehte ahten v. 3454).

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Wie Hartmann »die erlebnismäßige Härte dieses Roßdienstes« betont, zeigt schon Ernst Scheunemann, Artushof und Abenteuer. Zeichnung höfischen Daseins in Hartmanns Erec, Breslau 1937 (Deutschkundliche Arbeiten, Allg. Reihe, 8), S. 44 f. Zum Kontrast zwischen Erecs Verhalten gegenüber dem Knappen und seiner Behandlung Enites vgl. auch H. Bernard Willson, Triuwe and untriuwe in Hartmann's Erec, German Quarterly 43 (1970), S. 5-23, hier S. 9. Während Erec bei Chretien cortois et larges ist (v. 3174), hat Hartmann den Gedanken der milte eliminiert (vgl. Scheunemann, S. 49). Chretiens Text wird zitiert nach der folgenden Ausgabe: Les romans de Chretien de Troyes, ed. d'apres la copie de Guiot (Bibl. nat., fr. 794), I: Erec et Enide, publie par Mario Roques, Paris 1990 (Les classiques fran^ais du moyen äge). 9 Eine Belegsammlung für ungemach und verwandte Ausdrücke in der Darstellung der ersten beiden Episoden nach dem Auszug von Karnant findet sich bei Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. I. Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, 2., verb. Aufl. Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik 7), S. 131 f. 10 Enite selbst nimmt in ihrer Antwort auf die Avancen des ersten Grafen den Reim auf

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Auf dem Höhepunkt von Enites Mühsal, dort wo Hartmann erzählt, wie sie mit den acht Pferden zurechtkommen muß, finden die genannten Leitwörter zusammen: Wundersamerweise widerfahrt Enite durch die Pferde dehein gröz ungemach (v. 3464), denn es muosten durch einen seihen kneht/ diu ros gerne und durch reht/ ir ungestüemez streben län/ und senfiecltchen mite gän" (v. 3468ff., wodurch der Reim knehte : rehte der schon zitierten Verse 3456f. wiederaufgenommen wird).12 Enite hat zwei Helfer bei ihrem Pferdedienst: vrou Scelde und diu gotes hövescheit (v. 3460f.). 13 Bei vrou Saide handelt es sich wohl nicht um die »capricious Fortuna« des Boethius, sondern um »the concept of a divinely appointed felicitas that, on the contrary, preserves its beneficiary from the waywardness of Fortune.«14 Zwar hat sie als Personifikation formal die »Funktion einer selbständigen Schicksalsmacht«,15 doch sollte sie nicht (wie von Hurst, S. 213) als Göttin bezeichnet werden. Denn Schouwink, auf den sich Hurst bezieht, zitiert Augustinus, der (De civ. Dei IV, 18) Fortuna und Felicitas voneinander abgrenzt, der zum Verhältnis von Virtus und Felicitas zu erwägen gibt (IV,21), daß, wenn das Glück der Lohn der Tugend sei, es keine Göttin, sondern Gottes Gabe sei (dezidiert dann IV,23), und der bemerkt (IV,23), daß dort, wo Felicitas sei, alle Furcht und aller Schrecken sich davonmachten.16 Es wird deutlich, daß vrou Scelde, unter deren Schutz Enite steht, eine Instanz ist, die charakteristische Züge dieser Felicitas trägt.

(v. 381 Iff.), in aller Demut, wie es ihre Art ist, die Handlungsweise bejahend (mit rehte), mit der Erec sie ze knehte macht. ' 1 Die Korrespondenz zwischen dem sanften Wesen Enites, dem sanfte-Werden dieser Pferde und dem sanfte-Sein der beiden von ihr gerittenen Zelter ist schon bemerkt worden von Ingrid Hahn, Die Frauenrolle in Hartmanns 'Erec', in: Karl Hauck u.a. (Hgg.), Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters (FS Ruth Schmidt-Wiegand), Berlin/New York 1986, S. 172-190, hier S. 183. 12 Zum Motiv des gehorsamen und hilfreichen Tiers, wie es z.B. im Märchen begegnet, vgl. Hurst [Anm. 7], S. 214f. Sein Hinweis auf das in Heiligenviten anzutreffende Motiv, wie wilde Tiere angesichts des Heiligen friedlich werden (S. 215ff.), überzeugt weniger, da es sich im 'Erec' um Reitpferde, also um gezähmte Tiere handelt; dasselbe gilt für die von Hahn [Anm. 11], S. 177 ff., diskutierte Belegreihe für die Bändigung sich wild gebärdender Pferde. 13 Wohl mit Recht hat Haupt die durch Α überlieferte hofweyshait so gebessert: Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. v. Moriz Haupt, Leipzig 1839. 14 Hurst [Anm. 7], S. 213. 15 Gisela Emrich-Müller, Der Schicksalsbegriff in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach im Vergleich zu den Werken Hartmanns von Aue, Gottfrieds von Straßburg und des Nibelungenliedes, Diss. Frankfurt a.M. 1978, S. 71. 16 Vgl. Wilfried Schouwink, Fortuna im Alexanderroman Rudolfs von Ems. Studien zum Verhältnis von Fortuna und Virtus bei einem Autor der späten Stauferzeit, Göppingen 1977 (GAG 212), S. 21f. 138

Der hövesche got und der Scelden wec

Die Art und Weise, wie die beiden Instanzen sich in das Geschehen einmischen, »the dramatic style«, nimmt Hurst als Indiz dafür, vrou Scelde und gotes hövescheit »the status of goddesses« zuzusprechen, sie seien »deae ex machina virtually« (S. 213). Wäre dies für vrou Scelde immerhin noch diskutabel, so verbietet sich eine solche Festlegung für gotes hövescheit. Darunter ist vielmehr eine Handlungsweise Gottes zu verstehen, die der Mißachtung höfischer Werte im Sinne von »edler Gesinnung, feinem Benehmen, ritterlicher Tugend und Frömmigkeit«17 Einhalt gebietet und hier konkret den unhöfischen Pferdedienst für Enite erträglich macht.18 Gerade dadurch aber, daß vrou Scelde und gotes hövescheit »dem Willen Erecs entgegenzuwirken scheinen«19 - sie scheinen es nicht nur, sie tun es, denn sie nehmen Enite den ungemach, den Erec ihr entschieden zugedacht hat (v. 3593 f.) wird Erec als Unhöfischer dekuvriert und gotes hövescheit als eine gegen Erec eingesetzte Qualität wirksam.20 Zwischen Enite und den Pferden erschafft die Intervention der beiden Instanzen »eine Erinnerung und Vorahnung eines paradiesischen Zustandes«,21 »from which Erec is still pointedly excluded.« 22 Der ernste Hintergrund dieser Verse läßt einen zögern, Endres' Urteil, Hartmann habe vrou Scelde und gotes hövescheit »sicherlich augenzwinkernd« bemüht,23 zuzustimmen.

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Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Bd. 1, München 1986 (dtv 4442), S. 80. 18 Vgl. die Definitionen bei Herbert Kolb, Der Hof und die Höfischen. Bemerkungen zu Gottfried von Straßburg, ZfdA 106 (1977), S. 236-252, hier S. 251: gotes hövescheit bedeute »seine Schutzwirkung für den Bedrängten und in Not Geratenen, dem menschliche Hilfe nicht zuteil wird«; ähnlich Peter Ganz, curialis/hövesch, in: Gert Kaiser u. Jan-Dirk Müller (Hgg.), Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983), Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 39-65, hier S. 50; ders., >höveschhövescheit< im Mittelhochdeutschen, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, Göttingen 1990 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), S. 39-54, hier S. 44: »hilfsbereite Gnade«; Hurst [Anm. 7], S. 213. 19

Rodney Fisher, Räuber, Riesen und die Stimme der Vernunft in Hartmanns und Chretiens Erec, DVjs 60 (1986), S. 353-374, hier S. 363. 20 Vgl. Bernard Willson, The Heroine's Loyalty in Hartmann's and Chretien's Erec, in: Martin H. Jones u. Roy Wisbey (Hgg.), Chretien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, Cambridge/London 1993 (Arthurian Studies 26; Publications of the Institute of Germanic Studies 53), S. 57-65, hier S. 60. 21 Eva Tobler, Ancilla Domini. Marianische Aspekte in Hartmanns Erec, Euph. 80 (1986), S. 427438, hier S. 435. 22 Hurst [Anm. 7], S. 217. 23 [Anm. 7], S. 75; ähnlich Hendricus Sparnaay, Brauchen wir ein neues Hartmannbild?, DVjs 39 (1965), S. 639-649, hier S. 640; Ursula Kuttner, Das Erzählen des Erzählten. Eine Studie zum Stil in Hartmanns 'Erec' und 'Iwein', Bonn 1978, S. 189.

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Ein zweiter Beleg für gotes hövescheit findet sich in Gottfrieds 'Tristan', und zwar dort, wo sich Isold dem Gottesurteil zu stellen hat: Ihre zwei sorge, die um ihre ere und die, dazs ir unwarheit/ solte warbeeren, übergibt sie an den gencedigen Crist,/ der gehülfic in den nceten ist (v. 15544 ff.). Und sie hat sich eine List ausgedacht in unbedingtem Vertrauen uf gotes höfscheit (v. 15550f.): Tristan solle kommen und sie am Ufer treffen. Wie Enite, befindet sich auch Isold in Not, und noch einmal vertraut sie sich gotes güete an (v. 15674). Wie hier ist auch bei gotes höfscheit die Perspektive zu beachten: Es ist eine »menschliche Vorstellung«, und nirgends, auch nicht später im ironischen Erzählerkommentar zur Rolle Gottes beim Ordal (v. 15733 ff.), ist davon die Rede, daß Gott seine höfscheit bewährt habe, indem er den Liebenden »lügen und trügen hilft, um den Schein ihrer Ehre zu retten.«24 Die beiden, wie es scheint, einzigen Belege für gotes hövescheit in der mhd. Literatur zeigen die Bewährung dieser Eigenschaft Gottes (oder die Hoffnung darauf) gegenüber Frauen, die sich in einer Notlage befinden. Daß die Frau besondere Gnade von Gott erfährt, betont in Zusammenhang mit der 'Erec'Stelle schon Bertha Schwarz,25 deren Arbeit im übrigen für unser Thema nicht hilfreich ist. In ihrer größten Not, als sie vor dem Selbstmord steht, wird Gottes Beistand noch einmal für Enite wirksam. Ein gottgesandter Graf (vgl. v. 6117, 6123 f.) ist ihr Retter. So erweist sich Gott in entscheidenden Situationen als »der Heldin bester Freund«.26

II Die Befreiung des gepeinigten Cadoc aus der Gewalt zweier Riesen gilt in der 'Erec'-Forschung als die erste soziale Tat des Helden nach der Krise von Kamant, als Akt der erbermde. Mit dem Leben kommt Erec nur deshalb davon, weil ihm der beisteht, der auch David gegen Goliath die Kraft zum Sieg verliehen hat (v. 556Iff.). So kann Erec dem zweiten Riesen schließlich den 24

Vgl. Kolb [Anm. 18], S. 250f., gegen Julius Schwietering, Die deutsche Dichtung des Mittelalters, Potsdam o.J. (Handbuch der Literaturwissenschaft), S. 190, von dem das zweite Zitat stammt. Zur Gottesvorstellung in dieser Szene vgl. neuerdings den Abschnitt »Der unerforschliche Gott (Isolds Gottesurteil)« bei Rüdiger Schnell, Suche nach Wahrheit. Gottfrieds 'Tristan und Isold' als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992 (Hermaea N.F. 67), S. 59-80. Die 'Tristan'-Zitate sind der folgenden Ausgabe entnommen: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Friedrich Ranke, 3. Aufl. Berlin 1958. 25 Das Gottesbild in höfischer Dichtung, Diss. Frankfurt a.M. 1933, S. 28. 26 In Variation des Titels von Joachim Theisens Beitrag in diesem Band.

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Kopf abschlagen. Gegen diesen Kampf war der gegen den ersten Riesen geradezu ein Kinderspiel. Nachdem er hat mit ansehen müssen, wie die Riesen den gefesselten und gedemütigten Ritter Cadoc weiter mißhandeln, und er mit Worten bei ihnen nichts erreichen kann, stürzt sich Erec voller zorn (v. 5505) in den Kampf. Dem ersten Riesen, der noch nicht recht bei der Sache zu sein scheint (v. 5508: versümte sich), kommt unversehens ein sperstich/ engegen in sin houbet (v. 5509f.). Der Hinweis auf die Unachtsamkeit des Riesen erhält erst dann sein besonderes Gewicht, wenn man annimmt, daß ihn Erec von hinten (engegen) überrumpelt, eine Vermutung, die wenige Verse später gestützt wird durch die Angabe, Erec habe den Speer mit solcher Gewalt geschleudert, daß dem Riesen wol ellenlanc der schaft/ üz gienc vor den ougen27 (v. 5513 f.). Da braucht es nicht mehr viel, bis ihn Erec vollends erledigt, zumal der Riese den Ernst der Lage anscheinend noch immer nicht wahrhaben will - oder, wie es in nahezu unübersetzbarem, brutal-sarkastischem Wortspiel über den Einäugigen heißt: swie kleine erz wolde erougen,28/ er stach in zuo der erde tot (v. 5515 f.). Wer immer Hartmann zum Dichter der mäze berufen hat, als der er in unseren Literaturgeschichten lange Zeit firmieren durfte, muß Passagen wie diese übersehen haben. Der erste Kampf ist zu Ende, der unbarmherzige Folterknecht hat kein besseres verdient. Doch bevor der zweite beginnt, bekommen wir als Begründung für Erecs Sieg noch einen Vers zu lesen: als ez der hövesche got gebot. Eine schöne Parallelität: Daß Erec den ersten Riesen erledigt, ist der Wille des höfischen Gottes; daß er über den anderen die Oberhand gewinnt, verdankt er dem, der aus ihm einen zweiten David hat werden lassen. Was einen an der Parallele aber irritiert, ist die Tatsache, daß die beiden Kämpfe in bemerkenswerter Weise differieren, wie es schon die unterschiedliche Länge der Schilderung deutlich macht. Beim zweiten stößt Erec trotz seiner Behendigkeit auf so erbitterte Gegenwehr des Riesen, daz uns wol wundern mac/ daz Erec vor im genas (v. 5559f.); es ist ein harter, lang andauernder Kampf, und der Vergleich mit David und Goliath und der Hinweis auf Gottes Hilfe für jenen war für Hartmann und ist für den Leser naheliegend. Der erste Kampf dagegen ist für 27

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So kann man mit der Hs. lesen; vgl. Lambertus Okken, Zu Hartmanns Erec, ABäG 34 (1991), S. 77-109, hier S. 97: »Ritter Erec hat den Riesen hinterrücks erstochen.« In einem Aufsatz zum Thema >Konjekturen< darf natürlich nicht verschwiegen werden, daß es sich bei erougen um eine Konjektur, nämlich eine Besserung des den Reim zerstörenden trawen handelt (Hartmann von Aue, hg. v. Fedor Bech, 1. Teil: Erec der wunderaere, Leipzig 1867 [Deutsche Klassiker des Mittelalters 4]). In der 1. [Anm. 13] wie in der 2. Aufl. (Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, 2. Ausg. v. Moriz Haupt, Leipzig 1871) schreibt Haupt ers wolde lougen.

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Erec völlig unproblematisch, er ist einseitig, und er ist sehr kurz: Mit zwei Aktionen, einem Lanzenstoß und einem Schwertstich - vielleicht auch mit nur einer einzigen? - , hat er seinen Gegner gefällt. Wozu bedurfte es da des höfischen Gottes? Mußte er Erec beim Überrumpeln eines unaufmerksamen Gegners unterstützen? »Der hilfsbereite Gott wollte es so«, übersetzt Okken.29 Es war zorn, berechtigter zorn, der Erec in diesen Kampf getrieben und zu solch rüdem Verhalten bewogen hat. Und es mag sein, daß der ritterliche Code im Kampf gegen Riesen nicht befolgt zu werden brauchte.30 Doch was hat Gott, und gar der höfische, in diesem Kontext grausamster Metzelei verloren? Wir erinnern uns, wie eine in mildes Licht getauchte hövescheit Gottes der sanften Enite jede Kümmernis nahm - und jetzt dies! Die beiden miteinander unvereinbaren Stellen werden fast immer zusammen genannt,31 und ganze Kapitel von Büchern, alten und neuen, tragen die Überschrift »Der höfische Gott«.32 Wenn der Lehrer schreibt: »Und so wie der höfische Gott seinem höfischen Ritter im Kampf hilft gegen unhöfische Bösewichter [...], so steht er auch der höfischen Dame gegen unhöfische Zumutungen und Verdächtigungen bei«,33 dann formuliert der Schüler: »So wie Gott die Dame vor unhöfischer Behandlung schützt, so bietet er auch dem höfischen Ritter seine Hilfe im Kampfe gegen unhöfische Gesellen.«34 Schwergewichtig und bedeutungsschwanger schreiten die Sätze einher: »Der hövesche got ist ein Garant der sittlichen Weltordnung und der Schlußstein des ritterlichen Weltgebäudes.«35 Prekär wird es, wenn man die Stelle vom höveschen got »typisch hartmannisch« nennt36 29

Hartmann von Aue erzählt. Erec. Iwein oder Der Löwenritter. Gregorius oder Der gute Sünder. Der arme Heinrich. Aus dem Mittelhochdeutschen von Lambertus Okken, Frankfurt a.M./ Leipzig 1992 (it 1417), S. 102. 30 Vgl. Karl Grundmann, Studien zur Speerkampfschilderung im Mittelhochdeutschen. Ein Beitrag zur Entwicklung des höfischen Stil- und Lebensgefühls, Warschau 1939 (Universitas Josephi Pitsudski Varsoviensis, Acta Facultatis Litterarum 3), S. 82. 31 Einige Beispiele aus neuerer Zeit: Bumke [Anm. 17], S. 80; Fisher, Räuber [Anm. 19], S. 357; Ganz, >höveschhövescheit< [Anm. 18], S. 44 mit Anm. 22. 32 Vgl. z.B. Hans Naumann, Ritterliche Standeskultur um 1200, in: H.N. u. Günther Müller, Höfische Kultur, Halle 1929 (DVjs, Buchreihe, 17), S. 1-77, hier S. 45ff.; Schwarz [Anm. 25], S. 28ff.; Kuttner [Anm. 23], S. 189ff. 33 Naumann [Anm. 32], S. 47. 34 Werner Schräder, Studien über das Wort »höfisch« in der mittelhochdeutschen Dichtung, Würzburg 1935, S. 34f. 35 Uwe Pörksen, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs Willehalm und in den »Spielmannsepen«, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 58), S. 209. Vgl. auch Rudolf Voß, Die Artusepik Hartmanns von Aue. Untersuchungen zum Wirklichkeitsbegriff und zur Ästhetik eines literarischen Genres im Kräftefeld von soziokulturellen Normen und christlicher Anthropologie, Köln 1983, S. 121, der in diesem Zusammenhang vom »Begriff des Höfischen, welcher das epochale Leitbild zivilisierten Daseins bezeichnet«, spricht. 36

Schräder [Anm. 34], S. 35.

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oder wenn man, den engeren Kontext großzügig übersehend und soziales und brutales Handeln in eins nehmend, konstatiert: »Später handelt Erec wie es >der hövesche got geböt< (5517), es ist seine erste altruistische Tat, mit der sein symbolischer, über das normal-menschliche Dasein hinausgehender Auftrag beginnt (Sieg über den Riesen).«37 Dankbar registriert man, wenn jemand den Kontext berücksichtigt und sich über die Formulierung des Verses irritiert zeigt. Hans Bayer38 akzentuiert verwundert: »der [erbarmungslose] hövesche [!] got«, er rückt die Bezeichnung in die Nähe der 'Tristan'-Stelle von gotes höfscheit und damit, wie er meint, der »blasphemischen Vorstellung, die die ritterlich-höfische Welt von einem ihrer Interessenlage angepaßten sozial-anthropomorphen Gott hat«. Und Susann Samples39 spürt zwar die Inkongruenz zwischen der Bezeichnung und den ihr vorangegangenen Versen, folgert aber dennoch, daß »Hartmann is confirming God's complete integration in the courtly world and hence his approval of the harsh punishment for this serious transgression.« Es handelte sich in der Tat um Blasphemie, hätte Hartmann den höfischen Gott als Helfer bei Erecs unhöfischer Handlung in Anspruch genommen. Hartmann aber trifft keine Schuld. Allen bisher Genannten, die über den höveschen got geschrieben haben, ist entgangen, daß er sich einer Konjektur Moriz Haupts verdankt, oder sie haben diese stillschweigend gebilligt. Eine Konjektur, die nicht begründet, aber mit einem vielsagenden Hinweis versehen wird: »got fehlt, vergl. 3461.«40 Daß Haupt die Überlieferung nicht verstanden und für verderbt erachtet habe, hält Sparnaay41 für kaum glaublich, vielmehr sei er durch v. 3461 irregeführt worden. Es mag durchaus sein, daß Haupt die Kluft zwischen der Tat Erecs und seiner Qualifizierung als hövesch gespürt und aus dem späteren David-Vergleich auch für diese Stelle ein Handeln Gottes im Sinne der Enite beistehenden gotes hövescheit gefolgert hat. Seine Konjektur ist aber keineswegs immer übernommen worden, wie es nach den bisherigen Ausführungen den Anschein haben könnte; einige wenige Forscher 37

Otfrid Ehrismann, Enite. Handlungsbegründungen in Hartmanns von Aue 'Erec', ZfdPh 98 (1979), S. 321-344, hier Anm. 15. Auch Helmut de Boor, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170-1250, 7. Aufl. München 1966 (Helmut de Boor u. Richard Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), S. 73, beachtet den Kontext nicht, wenn er schreibt: »Mit dem vollkommenen sittlichen Verhalten des höfischen Menschen ist Gott genug getan. Von hier aus konnte Hartmann die scheinbar so kühne Wendung vom >höfischen Gott< wagen.« 38 bt den liuten ist so guot. Die meine des Erec Hartmanns von Aue, Euph. 73 (1979), S. 272285, hier Anm. 8. 39 The Courtly God in Hartmann's Erec, Proceedings of the PMR Conference 11 (1986), S. 151158, hier S. 153. 40 [Anm. 28], Anm. z. St. In der 1. Aufl. [Anm. 13] war Haupt noch Α gefolgt. 41 [Anm. 23], S. 639.

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außer Sparnaay Bech, Schmuhl, Hausen, Denecke und v. Nayhauss-CormonsHolub42 - sind beim überlieferten Text geblieben: als ez der hövesche gebot. Bech übersetzt der hövesche mit »der fein gebildete, gesittete, edele Ritter im Gegensatz zu dem ungeschlachten Riesen«, und für Hausen geht durch die Konjektur »der schöne Gegensatz verloren, dass der tölpelhafte, ungeschlachte Riese nach des feinen, höfischen Ritters Gebot in den Tod gehen muss«. Freilich sollte man gebieten nhd. nicht wörtlich wiedergeben, sondern in Anlehnung an Bech (»wie er es haben wollte«) übersetzen: »wie es dem Höfischen (d.h. Erec) beliebte«.43 Nimmt man außerdem auf den engeren Kontext des Verses Rücksicht, muß man mit Sparnaay - der gebieten im Wortsinn versteht feststellen: »ein solcher Auftrag [Gottes] ist eher unwürdig als höfisch«.44 Wenn Hartmann an dieser Stelle also nicht Gott, sondern Erec mit dem Epitheton hövesch versieht, kann es sich um nichts anderes als um Ironie handeln, eine Interpretation, die auch von der anderen Stelle her, wo gotes hövescheit für Enite gegen Erecs unhövescheit eingesetzt wurde, eine Stütze erhält. Mit jener Stelle werden bisweilen jene andere, an der Gott hypothetisch als auf Erden reitend evoziert wird, und eine dritte, an der gotes wille Erec sein Pferd wiederbeschafft (v. 6723 ff.), als Belege für das Walten von gotes hövescheit im 'Erec' verbunden.45 Nur ein kurzer Schritt ist es von da bis zur Erkenntnis, der Gott der Hartmann-Romane sei »ein Gott von ritterlichem Zuschnitt«.46 Für diskutierenswert wird höchstens noch erachtet, ob die Belegstellen nicht weniger eine »Verweltlichung Gottes« als »eher eine Vergöttlichung der höfischen Kultur«47 beweisen. Wenn aber hövescheit »den Inbegriff der Vollkommenheit« bedeutet, dann liegt es nur nahe, daß auch Gott diese Qualität eignet.48 Niemand würde auf den Gedanken kommen, von einem kaufmännischen Gott< zu sprechen, nur weil er dem Kaufmann in Rudolfs von Ems 'Gutem Gerhard' seine Hilfe angedeihen läßt. Die Überzeugung von Got42

Bech [Anm. 28]; Carl Schmuhl, Beiträge zur Würdigung des Stiles Hartmanns von Aue, Progr. Halle 1881, S. 28; Friedrich Hausen, Die Kampfschilderungen bei Hartmann von Aue und Wimt von Gravenberg, Halle 1885, S. 89 mit Anm. 1; Ludwig Denecke, Rez. Bertha Schwarz, Gottesbild [Anm. 25], AfdA 54 (1935), S. 4 7 ^ 9 , hier S. 48; Hans-Christoph v. NayhaussCormons-Holub, Die Bedeutung und Funktion der Kampfszenen für den Abenteuerweg des Helden im 'Erec' und 'Iwein' Hartmanns von Aue, Diss. Freiburg i.Br. 1967, S. 96. 43 Vgl. die im Mhd. Wörterbuch, I, S. 187, angeführte Bedeutung >beliebenhöfisch< trage«, wie Bertha Schwarz von ihrem Rezensenten Ludwig Denecke zu Recht vorgehalten wird.49 Und blickt man über die Grenzen der deutschsprachigen Literatur hinaus, so trifft man auch nur auf vereinzelte Belege, in denen von der curia caelestis oder der divina curialitas50 oder von Gott als Sire della cortesia51 die Rede ist. Für die mhd. Literatur jedenfalls ist — zumal der hövesche got wieder zu eliminieren war - die Beleglage zu dürftig, als daß damit ein Kapitel >Der höfische Gott< hätte eröffnet werden dürfen.

III Daß die Enite zu Hilfe kommende vrou Scelde gegen Erec eingesetzt wurde, ist nur punktuell von Bedeutung. Denn - wie es der Zufall der Überlieferung will auch Erec ist von Anfang an der scelde teilhaftig (vgl. v. 3: der vrümekeit und salden pflac). Er weiß sich selbst als von Gott mit scelde beschenkt (v. 973), die ihm auch beim Turnier zustatten kommt (v. 2438 f.) - freilich ist scelde hier eine Konjektur Haupts, die er selbst als »unsicher« bezeichnet52 und über die auch für Leitzmann 1935 »die acten noch nicht geschlossen« waren.53 Sin groziu scelekeit ist es, daß ihn die Leute des ersten Grafen nicht verfolgen (v. 4242), und daß Gott ihm auf Bitten des Erzählers ein Pferd schickt, damit er von Limors entkommen kann, wird gleichfalls seiner scelikeit zugeschrieben (v. 6713). Am Ende preist ihn Mabonagrin, daß er dem bedrückten Hof wieder ze grözer scelikeit verholfen habe (v. 9591 f.), und er kehrt in sein Reich zurück als einer, der scelicliche das allerhöchste lop erworben hat (v. 10037 ff.). Der 49

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[Anm. 42], S. 48. Denecke bemerkt in diesem Zusammenhang auch, daß Haupts Konjektur v. 5517 bei Schwarz »eine Erwägung oder wenigstens eine Erwähnung verdient« hätte. Vgl. Ganz, curialis/hövesch [Anm. 18], S. 49f.; Stellen aus dem Mittelenglischen, dem Altfranzösischen und dem Italienischen S. 50f. Vgl. Maria Bindschedler, Gottfried von Straßburg und die höfische Ethik, Beitr. 76 (1955), S. 1-38, hier S. 31 mit Anm. 2. 2. Aufl. [Anm. 28], Anm. z. St. Vgl. schon die Anm. in der 1. Aufl. [Anm. 13]: »nach 2436. scheint etwas ausgefallen zu sein oder diese zeile selbst ist entstellt.« Albert Leitzmann, Die Ambraser Erecüberlieferung, Beitr. 59 (1935), S. 143-234, hier S. 225 f. Fedor Bech, Zu Hartmanns Erek, Germ. 7 (1862), S. 429-469, hier S. 442, schlägt vor, v. 2436ff. so zu lesen: also daz nie ritter baz/zuo genande: im fuogte daz/alsö grdze werdekeit. Im Gegensatz zu Leitzmann halte ich das für durchaus diskutierenswert, zumal die Konjektur nicht so weit geht wie diejenige Haupts.

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Beistand der vrou Saide verteilt sich in gleicher Weise auf das Paar: Auch wenn sie seine Versuche, Enite ungemach zuzufügen, einmal durchkreuzt, waltete sie doch schon über Erecs Amme, als der noch in der Wiege lag (v. 9899ff.)· Alles in allem ist das kein außergewöhnlicher Befund, der sich von der sic/de-Teilhabe des Helden irgendeines höfischen Romans unterschiede. Erecs scelde wird nicht gemindert, wenn man sich entschließt, eine zweite Konjektur rückgängig zu machen: Kurz vor der oben angeführten Stelle, an der Erecs erster Turniererfolg seiner scelde - falls die Konjektur zutrifft - zugeschrieben wird, findet sich der tadellos überlieferte und inhaltlich stimmige Vers er tete alsam der scelige sol (ν. 2402), an dem Lachmann Anstand nehmen zu müssen glaubte und der in dessen Version in den 'Erec'-Ausgaben seit Haupts 2. Aufl. steht: er tete alsam der Scelden schol.54 »Kind der Fortuna« heißt Erec bei Cramer, 55 eine Übersetzung, bei der vermutlich die von vrou Scelde beschützte Amme Erecs Pate gestanden hat. Waren die zwei bisherigen >Emendationen< (v. 5517, 2402) als unnötig - die erste zudem noch als ein in der Vorstellung von der höfischen Kultur trügerisch und gefährlich irrlichterndes Phantom - zu verwerfen, so gilt die dritte zu Recht als »glänzende Konjektur«. 56 Nachdem der letzte Versuch gescheitert ist, Erec davon abzuhalten, seine krönende äventiure, die Joie de la curt, zu wagen, vergewissert sich der Held seines Standorts: ich weste wol, der Saelden wec gienge in der werlde eteswä, rehte enweste ich aber wä, wan daz ich in suochende reit in grözer ungewisheit, unz daz ich in nü vunden hän. (v. 8521 ff.)

Die Ambraser Hs. überliefert der selbig weg, in Haupts Erstausgabe konnte man folglich lesen der selbe wec. Dies schien Bech, dem Schöpfer der Konjektur, »unverständlich«, denn: »Es fehlt alle Beziehung dazu im Vorhergehenden.« Nach einer Reflexion darüber, was Erec meint, und nach Anführung einiger Vergleichsstellen, die die Konjektur stützen sollen, teilte Bech diese mit: »Daher wage ich zu schreiben: der Scelden wec.«51

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F.P. Pickering, The >Fortune< of Hartmann's Erec, GLL 30 (1976/77), S. 9 4 - 1 0 9 , hier S. 99, nimmt diese Konjektur wie auch die v. 2438 für authentischen Hartmann-Wortlaut. Im übrigen dominiert die Vorstellung vom »>courtly< God« (z.B. S. 107) seine ganze Darstellung. Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung v. Thomas Cramer, Frankfurt a. M. 1972 (Fischer TB 6017). Cormeau/Gärtner, Einleitung zur Ausg. [Anm. 1], S. XVII. [Anm. 53], S. 466.

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Der hövesche got und der Scelden wec

Außer Haupt (zu ihm gleich unten) übernahmen die Editoren des 'Erec' und seine Interpreten den Wortlaut Bechs.58 Im Jahre 1976 schien sein genialer Einfall eine glänzende Bestätigung durch die Überlieferung zu finden: Im Textabdruck des neu aufgefundenen Fragments Κ begegnet v. 8521 in der Gestalt Ich wisete wol der selde wech.59 Hinzu kam wenige Verse später eine Lesart, durch die die scelde anscheinend gestützt wurde: daz ich vinde ein scelic spil (v. 8538). Sie wurde, nachdem die früheren Editionen der A-Überlieferung (sölich spil) gefolgt waren, auch - mit dem aus Α stammenden Zusatz (daz ich) hie - von der neuen 'Erec'-Ausgabe übernommen. Als Verfechter des Leithandschriftenprinzips mag man mit Neilmann jedoch »zögern, [...] die passable Α-Version gegen die bessere K-Version auszutauschen«.60 Gewichtiger als die Frage, was als Beiwort zu spil zu wählen sei, ist aber die nach der Art des von Erec gefundenen Weges: der Scelden wec oder der selbe wec? Unseligerweise hatte die von Brommer präsentierte K-Lesart nur neun Jahre Bestand. Denn sein Textabdruck des Fragments wurde für »nicht ganz zuverlässig« befunden,61 und Gärtners Nachkollation von Κ ergab für die in Frage kommende Stelle die Lesart der selb(e) wech. An der von Haupt und Bech vorgefundenen Sachlage hatte sich also durch das Auftauchen von Κ nichts geändert. Da aus der Schule der Anti-Lachmannianer nichts Gutes kommen konnte, nahm Haupt in der zweiten Auflage Bechs Konjektur - wie das allermeiste, was von diesem stammte - nicht auf, obwohl er es nach Ansicht Leitzmanns62 hätte tun sollen, änderte den überlieferten Text aber trotzdem, dies freilich in eine Richtung, die allen, die seitdem mit der Konjektur leben, hätte zu denken geben können: In insgesamt sieben Fällen war für ihn »das einfache pronomen durch entfernung von selbig selbe selben herzustellen« (Anm. zu v. 8521), und sechsmal glättet diese Operation den Vers. Im siebten Fall, dem vorliegenden, wollte Haupt lesen: ich weste wol, der wec. Metrisch läßt sich dieser Vers nur realisieren, wenn man eine beschwerte Hebung auf der annimmt. Das heißt aber nicht weniger, als daß immer noch »alle Beziehung dazu im Vorher58

Nur selten wird die Konjektur als solche zur Kenntnis genommen, so z.B. bei Emst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 50), S. 200 Anm. 22. Bedenken äußert einzig Gert Kaiser, Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung. Die Artusromane Hartmanns von Aue, 2., neubearb. Aufl. Wiesbaden 1978 (Schwerpunkte Germanistik), S. 118, der vom überlieferten Wortlaut als von »einer Korruptele - wenn es denn eine ist« spricht.

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Vgl. Peter Brommer, Ein unbekanntes 'Erec'-Fragment in Koblenz, ZfdA 105 (1976), S. 188194. Eberhard Nellmann, Rez. Cormeau/Gärtner [Anm. 1], ZfdA 119 (1990), S. 239-248, hier S. 244. Cormeau/Gärtner, Einleitung zur Ausg. [Anm. 1], S. XI. Vgl. Leitzmann [Anm. 53], S. 225.

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gehenden« fehlt. Offenbar hat Haupt eine solche Beziehung nicht vermißt. Fragen wir uns also im Gefolge seiner Autorität, ob es dieser Beziehung überhaupt bedarf. Eines der für die Sinnstruktur des 'Erec' wie des Artusromans überhaupt relevantesten Motive ist das des Weges, zu dem Ernst Trachsler eine beachtenswerte Darstellung vorgelegt hat.63 In unserem Zusammenhang interessiert nur der letzte Teil von Erecs Aventiureweg vom Aufbruch von Schloß Penefrec bis zum Eintreffen im Baumgarten. Enite, Erec und Guivreiz - ihre Absicht ist es, den Artushof aufzusuchen - gelangen an eine wegescheide (v. 7813), stoßen also auf »eine deutlich ausgeprägte, alternative bivium-Situation mit zwei klar erkennbaren Zielmöglichkeiten«.64 Die Entscheidung wird getroffen: die rehten sträze si vermiten:/ die baz gebüwen si riten (v. 7816 f.). Das heißt, auf diesem Weg werden sie nicht an ihr Ziel, den Artushof, kommen. Es heißt aber noch mehr: Anzitiert und variiert wird hier die christliche, auf Mt 13,7 f. fußende Symbolik vom breiten, im Verderben mündenden und vom schmalen, zum Heil führenden Weg. Aus Guivreiz' Sicht muß der gewählte Weg tatsächlich ins Unglück führen, wie er beim Anblick der Burg bestürzt erkennt (v. 7822ff.; vgl. v. 7899ff.), und er selbst, nicht Erec, war es, der sich für den einen der beiden Wege entschieden hat: er hat gezeiget zuo der winstern hant (v. 7906).65 Zum Symbol des breiten Weges tritt das des Weges nach links, und beide Wege sind verderbenbringend. Dieser Überzeugung verleiht Guivreiz in seinem Dialog mit Erec beredt Ausdruck, und inständig mahnt er den Gefährten zur Umkehr (v. 7899ff., 7926ff., 7952ff.). Erec, fasziniert vom schönen Äußeren der Burg und erfüllt von unerschütter63

[Anm. 58]; zum 'Erec' vgl. v.a. S. 194-208, 213-217. In unserem Zusammenhang vgl. auch Dennis H. Green, Der Weg zum Abenteuer im höfischen Roman des deutschen Mittelalters. Als öffentlicher Vortrag der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften gehalten am 25.6.1974 in Hamburg, Göttingen 1974 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften), S. 6. 64 Trachsler [Anm. 58], S. 16. Eine umfangreiche Belegsammlung zu den Motiven der Wegscheide, des richtigen und des falschen Weges und ähnlichem mehr bietet Lambertus Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue. Im Anhang: Die Heilkunde und Der Ouroboros v. Bernhard Dietrich Haage, Amsterdam/Atlanta, GA 1993 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 103), S. 196-218. 65 Es handelt sich hier um eine Konjektur Wackemagels (A schreibt vinstern want), ohne Begründung mitgeteilt von [Moriz] Haupt, Zu Hartmann von Aue. Berichtigungen und Nachträge, ZfdA 3 (1843), S. 266-275, hier S. 270, die aber weder dieser noch Bech in ihre Ausgaben aufgenommen haben. Erst Anton E. Schönbach, Über Hartmann von Aue. Drei Bücher Untersuchungen, Graz 1894, S. 334ff., und Anton Wallner, Erec 7906, ZfdA 40 (1896), S. 60-62, haben die von Haupt bestrittene Relevanz der Richtung links oder rechts hervorgehoben. Seit Leitzmann [Anm. 53], S. 232f., hat sich die Konjektur endgültig durchgesetzt, angesichts der weit hergeholten Versuche, die handschriftliche Lesung zu verteidigen, und besonders angesichts der Signifikanz der Wegsignale im 'Erec' wohl zu Recht.

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Der hövesche got und der Scelden wec

lichem Wissensdrang, schlägt alle Warnungen heiter in den Wind und ist entschlossen, die äventiure zu wagen. Er tut dies nicht in blindem Vertrauen auf seine Stärke, weiß vielmehr, daß das Gelingen von Gott abhängt: ob es got geruochet (v. 8044; vgl. v. 8147ff., 835Iff.). 66 Nachdem König Ivreins als letzter versucht hat, Erec vom Kampf gegen Mabonagrin abzubringen (v. 8474ff.), folgt Erecs oben zitierte Reflexion über seinen Weg. Der selbe wec oder der Scelden wecl Die der Konjektur folgen, können sich, was Hartmannschen Sprachgebrauch angeht, auf der scelden sträze im 'Gregorius' berufen (v. 63, 87), der als Gegensatz zum wec der helle (v. 59) beide rüch und enge ist (v. 89).67 Das Prekäre an der 'Erec'-Stelle aber liegt darin, daß die traditionelle christliche Wegsymbolik hier umgekehrt ist, wohlgemerkt: aus Erecs Perspektive. Guivreiz, der die baz gebüwen, nach links führende sträze alsbald als die ins Unheil führende erkannt hatte, wäre sozusagen der Vertreter der klassischen Anschauung, Erec der Renegat. Kann Hartmann so etwas intendiert haben? Gelegentlich hat man die Diskrepanz durchaus bemerkt.68 Siefken vertritt die Ansicht, daß im Bereich von Brandigan die Gesetze einer »verkehrten Welt« gelten, daher kehre sich die Richtungssymbolik um.69 Zu Recht meldet Trachsler Zweifel an dieser Deutung an; er sieht die Umkehrung der Weg-Attribute in Zusammenhang mit dem Wesen der äventiure, zu der das Unerwartete, Ungewöhnliche gehöre und die ihre eigenen, nicht ohne weiteres aus christlicher Tradition ableitbaren Gesetze habe.70 Später wird Erec ein engez phat (v. 8713; vgl. v. 8881ff.) in den Baumgarten führen. Allen Problemen aus dem Weg gehen Ohly und Tax, die diesen Pfad für identisch mit dem Scelden wec halten und so das Unstimmige stimmig machen.71 Zu kurz greift Siefken, für den ein engez phat wieder Zeichen der verkehrten Welt ist: »diesmal der richtige Weg des Auserwählten, der aber in eine Falle zu führen

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Jeff Rider, De l'enigme ä l'allegorie: l'adaptation du »merveilleux« de Chretien de Troyes par Hartmann von Aue, Romania 112 (1991), S. 100-128, hier S. 125 mit Anm. 32, notiert in der Brandigan-Episode 34 Stellen, an denen Gott genannt ist, und drei, an denen die scelde erwähnt wird. Chretiens joie werde durch diese beiden Leitwörter ersetzt, ein Befund, der angesichts der wenigen sieMe-Belege (darunter der eine fragliche) zu relativieren ist.

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Vgl. hierzu Hinrich Siefken, Der seiden sträze. Zum Motiv der Zwei Wege bei Hartmann von Aue, Euph. 61 (1967), S. 1-21. Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a.M./New York 1989, S. 431, beläßt es bei der Konstatierung des Dilemmas: »erstaunlich durchaus angesichts der christlichen Verkehrung des rechten zum schlechten, daß es hier der bequemere Weg ist«.

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[Anm. 67], S. 15 f. [Anm. 58], S. 215f. Walter Ohly, Die heilsgeschichtliche Struktur der Epen Hartmanns von Aue, Diss. FU Berlin 1958, S. 93; Petrus W. Tax, Studien zum Symbolischen in Hartmanns 'Erec'. Enites Pferd, ZfdPh 82 (1963), S. 2 9 ^ 4 , hier S. 33.

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scheint.«72 In Wirklichkeit jedoch ist dies ja, indem Erec die Erlösung bringt, der Weg zum Heil. Trachsler sieht die Stelle im angesprochenen äventiure Zusammenhang und meint, daß »Hartmann in diesem Fall die Spannung zwischen der ehemals mythischen, märchenhaften Schicht und dem Bedeutungshorizont christlicher Symbolik bewußt ins Spiel bringt«.73 Das mag am ehesten angehen. Zweifel habe ich allerdings daran, daß Erecs Deutung der nach links führenden, baz gebüwen sträze als seines Scelden weges durch die Eigengesetzlichkeit der ritterlichen äventiure hinreichend erklärt ist. Eine Berücksichtigung der Figurenperspektive vermag dem Problem freilich nicht abzuhelfen. Es wäre möglich, daß Erec nicht wahrgenommen hat, daß es sich bei dem eingeschlagenen Weg um den baz gebüwen handelt (dies ist Erzählerbemerkung), Guivreiz' Wort von der winstern hant hat er aber gehört. Darf man so weit gehen, seine Mißachtung dieses Zeichens in einer Reihe zu sehen mit seiner Immunität gegen alle Arten von >AberglaubenDer Saelden wec< ist der Weg des gottgesegneten Dienstes in und an der Welt, der Weg zum >ewigen libesaelden weges< einen Akt der Selbstbegegnung 72 73 74

[Anm. 67], S. 16. [Anm. 58], S. 189, ähnlich 214. Ohly [Anm. 71], S. 94; ähnlich schon S. 89.

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und der Bewußtwerdung metaphorisch zu umschreiben.«75 Wenn das zutrifft, entgeht man der Notwendigkeit, die baz gebüwen sträze mit dem Scelden wec gleichzusetzen. Der Wegsymbolik wäre ein Gutteil provokativer Sprengkraft genommen. Noch weniger an Provokation wohnte ihr inne, würde man sich der Konjektur entledigen. Anders als der hövesche got ist es - dies sei nochmals gewürdigt - eine Konjektur, die das Erec-Bild nicht verfälscht, die einen aber je nachdem, ob man wec deiktisch-akzentuierend oder umfassend-metaphorisch versteht - mehr oder minder dezidiert zu der interpretatorischen Erkenntnis nötigen müßte, daß Gottes Wege nicht immer die der Exegeten sind. »Diesen meinen Weg«, meint Erec, und das, denke ich, ist mit der selbe wec hinreichend ausgedrückt. In Erecs Reflexion darüber, daß Gott ihn hierher geführt hat, an den Punkt, von dem aus er sich seiner größten Bewährungsprobe stellen kann, in seinem in das Hier und Jetzt mündenden Gedankengang kann er seine Bestimmung mit der selbe wec umschreiben. Daß vom wec in den Worten des Erzählers oder des Königs Ivreins lange nicht mehr die Rede war, tut nichts zur Sache. »Es fehlt alle Beziehung dazu im Vorhergehenden« das gilt für den Text, aber nicht für Erecs Gedanken.

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Trachsler [Anm. 58], S. 201. 151

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Des Helden bester Freund Zur Rolle Gottes bei Hartmann, Wolfram und Gottfried

Die folgenden Anmerkungen und Brückenschläge wollen nicht mehr sein als das, was sie sind: vorläufige Bemerkungen zu einem der zentralen Themen der mittelalterlichen - und nicht nur der mittelalterlichen - Literatur. Angesichts der Bedeutung dieses Themas mag es um so frecher erscheinen, daß ich (mit Ausnahme der gleich folgenden) völlig auf Fußnoten und die Nennung von Forschungsliteratur verzichte.1 Stattdessen verlasse ich mich ganz auf die Texte, sehr stark auf den einen, mich interessierenden Aspekt fokussierend, damit, wie mir durchaus bewußt ist, vieles vereinfachend; Unscharfen an den Rändern sind kaum zu vermeiden. Wenn ich es dennoch wage, eine konzise Entwicklungslinie aufzuzeigen, so soll damit - trotz dieser methodischen Einschränkungen - allerdings behauptet werden, daß Hartmann, Wolfram und Gottfried jenseits aller anderen Themen - die Rolle Gottes im narrativen Text als Problem sehr wohl erkannt und mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt haben. Gott mischt sich bekanntlich nur selten in weltliche Händel ein, auch wenn er noch so oft darum gebeten wird. Dennoch führen wir ihn ständig auf den Lippen, um ihm dafür zu danken. Gott sei Dank brauche ich aber nicht vom Wirken Gottes in der Welt zu handeln, sondern von Gott in der mittelalterlichen weltlichen Literatur, bei Hartmann, Wolfram und Gottfried. Das Problem ist dabei - weiß Gott - nicht geringer. Die Grundfrage lautet: Wie kann Gott zu einem Handlungspartner in einer Erzählung gemacht werden? Da sind zunächst die auftretenden Personen, die von Gott reden und »Gott sei Dank« und »weiß Gott« sagen, »mit Gottes Hilfe« und »leider Gottes«. Was s i e alles auf Gottes Hilfe zurückführen, das ist aber ihre Sache, und noch längst kein Beleg dafür, daß Gott tatsächlich gehandelt hat. ' Daß ich in einigen Gedankengängen Überlegungen Walter Haugs aufgreife, ist wohl nicht zu übersehen. Die Texte werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hg. von Ursula Rautenberg, übersetzt von Siegfried Grosse, Stuttgart 1993. Hartmann von Aue: Erec. Hg. und übersetzt von Thomas Cramer, Frankfurt a.M. 1979. Hartmann von Aue: Iwein. Mit Anmerkungen von G.F. Benecke und K. Lachmann. 6. Ausgabe = unveränderter Nachdruck der 5., von Ludwig Wolff durchgesehenen Ausgabe, Berlin 1964. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe von Karl Lachmann, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Spiewok, Stuttgart 1981. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Stuttgart 1981-1985.

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Der 'Arme Heinrich' - um gleich zu einem Text zu kommen - ist ein wunderschönes Lehrstück davon, wie strikt man das eine und das andere auseinanderhalten muß, das Sprechen von Gott durch die auftretenden Personen und das tatsächliche Wirken Gottes. Heinrich, ein Ausbund an Ritterlichkeit und Tugendhaftigkeit, ist ein allgemein geachteter und hoch beliebter Herr. Eines Tages wird er krank, aussätzig. Kein Arzt kann ihm helfen, nur eine Jungfrau - so hört er - , die bereit ist, freiwillig für ihn ihr Herzblut zu opfern - ein ziemlich hoffnungsloser Fall. Heinrich zieht sich auf einen Bauernhof zurück, wo er vor allem von der Tochter des Bauern liebevoll gepflegt wird. Nach drei Jahren - die Tochter ist mittlerweile 1 1 - , erkundigt sich der Bauer nach den Heilungsaussichten seines Herrn, und Heinrich bricht erst einmal ein umfangreiches Geständnis aus der Seele: seine Krankheit sei die Strafe Gottes für ein Leben, das allzusehr der Welt zugewandt gewesen war und von Gott nichts wissen wollte. Es geschehe ihm ganz recht. Ja, gut, meint der Bauer, ob es nicht trotzdem ein Mittel dagegen gäbe? Natürlich gibt es das, direkt zu Füßen des Kranken. Dem Mädchen, der maget, steigt die Möglichkeit, sich für ihren Herrn opfern zu können, augenblicklich zu Kopf. Drei Nächte lang hält sie ihre Eltern mit langen, rhetorisch brillanten Reden wach, in denen sie ihnen darlegt, welch einmalige Chance das für sie sei, sich eine hundertprozentig gültige Eintrittskarte in den Himmel zu sichern. Die Eltern, beeindruckt von so viel Frömmigkeit und Hartnäckigkeit, geben schließlich ihren Segen dazu, und auch Heinrich, wenn's die Eltern schon erlauben, ist einverstanden. Auf schnellstem Wege geht's zum Arzt. Ihr selbst kann es gar nicht rasch genug gehen: sie reißt sich die Kleider vom Leib und schwingt sich nackt auf den Operationstisch. Beide - Heinrich und die maget - haben Gott fest im Griff. Heinrich ist sich bewußt, daß er selbst schuld ist an seiner Krankheit, ganz klar: Gott hat ihn bestraft für sein gar zu weltliches Leben, das wird auch jeder Hörer so akzeptieren können. Und es wird auch kaum auf Kritik stoßen, wenn die maget sich als Opfer anbietet, denn die Hingabe für den anderen, die Nächstenliebe über den Tod hinaus, das ist doch so richtig christlich, das ist der Gipfel des Christlichen: der eine steht für den anderen ein und gibt sein Leben hin, damit ein anderer leben kann. Beide brauchen nur eins und eins zusammenzuzählen, der Hörer auch, und es ist wenig zweifelhaft, was dabei herauskommt. Deshalb sind ja auch die Sympathien eindeutig verteilt: die gute maget und der weltverfallene Heinrich, der auch noch gegen bessere Einsicht den Tod des Mädchens hinzunehmen bereit ist. Beide, am meisten aber der Hörer, der sich diese Wertung zu eigen gemacht hat, werden am Ende heftig vor den Kopf gestoßen. Als erster kapiert es jedoch Heinrich, in dem Moment, in dem er das nackte Mädchen auf dem Operationstisch sieht. Die maget, die heftig Zeter und Mordio kreischt, weil sie nun doch nicht in den Himmel darf, erhält ordentlich eins auf ihren göttlichen Mund, aus dem man hören konnte und kann: >triuwe und liebe, die muß man vor allem zu 154

Des Helden bester Freund

sich selbst haben, deine triuwe, mein lieber Heinrich, wenn du meinst, mich retten zu müssen, das ist - weiß Gott - zu viel.< Nicht nur Heinrich, sondern auch sie wird geheilt: 1365

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dö erzeicte der heilic Krist, wie liep im t r i u w e und bärmde ist, und schiet si dö beide von allem ir leide

Sie werden beide gesund, und schließlich heiraten sie - die größte Mesalliance der deutschen Literatur des Mittelalters, und natürlich auch die aussagekräftigste. Es muß deutlich unterschieden werden: die Personen, von denen erzählt wird, können sich alles Mögliche unter Gott und dem Wirken Gottes und den Regeln des Wirken Gottes vorstellen - all das sagt nur etwas über die Personen aus, aber noch nichts über den Erzähler, der eine eigene Position zu beziehen hat: im 'Armen Heinrich' die Brüskierung derer, die meinen, ihre eigenen Vorstellungen stünden so ohne weiteres im Einklang mit dem Willen Gottes, ihre Interpretationen seien selbstverständlich von Gott sanktioniert. Das Paradebeispiel, das ja nicht zufällig fleißig zitiert wird im 'Armen Heinrich', ist das Buch Ijob. Ijob sitzt auf dem Misthaufen und ist auf Gott böse, weil der ihm alles genommen hat, was ihm lieb und teuer war. Da kommen seine Freunde und wissen gleich über alles haargenau Bescheid, irgend etwas, meinen sie, habe er wohl falsch gemacht, m ü s s e er falsch gemacht haben, denn Gott hat schon seine Gründe. - Nur Ijob bleibt starrsinnig, uneinsichtig, verstockt. Und doch erhalten am Ende die Freunde den göttlichen Rüffel, und Ijob nur einen Verweis, denn natürlich hat auch er es sich zu einfach gemacht mit dem Verständnis des Wirkens Gottes: Es ist, was immer man auch versucht, unbegreiflich. Damit - mit diesem Eingreifen Gottes, der mit Ijob und den Freunden spricht - ist die Grenze markiert, über die man beim Sprechen über Gott in der Literatur schlechterdings nicht hinauskommt: Das Buch Ijob kann man immerhin als Wort Gottes lesen; wenn man will - das ist kirchlich erlaubt, ja geboten - , kann man demnach die Korrektur als wirklichen Eingriff Gottes verstehen. Hartmanns Korrektur der Vorstellungen seiner beiden Protagonisten jedoch wäre selbst wieder korrekturbedürftig, denn was Gott von Hartmanns Ansichten hält, wissen wir nicht, doch braucht uns das als Literaturwissenschaftler und Historiker natürlich auch nicht zu interessieren. Dennoch gibt es einen Aspekt, der durchaus interessieren sollte. Denn die Folge ist, daß Gott in der Literatur - egal wie ich von ihm spreche, sobald ich von ihm spreche - völlig hilflos ist, es kann aller mögliche Schindluder mit ihm getrieben werden, und auch wenn man etwa so vernünftig ist wie Hart155

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mann im 'Armen Heinrich': Gott kann sich niemals wehren. Es sei denn, er erscheint dem Autor irgendwann im Traum und weist ihn an, sein Buch zu vernichten - doch davon erfahren wir nichts, und wenn er ihm befiehlt, es genau so zu veröffentlichen, ist es wieder nur ein literarisches Spiel. Diese Hilflosigkeit haftet freilich allen Personen an, von denen erzählt wird, erfunden oder nicht; selbst in autorisierten Biographien treten wohl eine ganze Menge Leute auf, die das lieber nicht täten, jedenfalls nicht so. Allerdings ist es mit Gott doch noch um eine wichtige Kleinigkeit anders, da man von ihm rechnen wir plötzlich auftretende Feuer durch Blitzschläge nicht dazu - in keinem Fall eine Autorisierung einholen kann. Das führt mich zu meiner Ausgangsfrage zurück: Wie kann Gott als Handlungspartner auftreten? Die Antwort ist eigentlich recht einfach: Im abendländischen nachantiken Kontext kann er das nicht. Gott ist nur da, wo Zufall, Glück oder Schicksal - aus welchem Grund auch immer - versagen. Er füllt eine Leerstelle aus, er ist ein Interpretament. Aber ein solches Interpretament bedeutet selbstverständlich immer auch eine Wertung und läßt selbstverständlich Rückschlüsse zu auf den Erzähler. Wenn ich sage: »Gott sei Dank, daß ich nicht hingefallen bin und mir den Kopf angeschlagen habe«, kann man ohne weiteres dagegen halten, das sei einfach nur Glück gewesen, denn so viel würde Gott an meinem Kopf ja auch wieder nicht liegen. Wenn der Erzähler behauptet, es sei Gottes Wille gewesen, daß sein Held nicht hingefallen ist und sich den Kopf angeschlagen hat, dann sagt das viel über ihn, den Erzähler, aus, und wenn er sich mehrere solcher Erklärungen leistet, lege ich vermutlich das Buch weg, weil mir das doch zu blöd ist. Die Frage, die wirklich zu diskutieren ist, kann also nur sein, welchen Platz die Erzähler Gott einräumen, welche Ereignisse und Vorfälle sie ihm zuschreiben. Ich beginne mit dem 'Erec' und mit dem Teufel.

'Erec' Nachdem Erec mit Enite ausgeritten ist, hat er die Räuber besiegt, ist dem verliebten Grafen entkommen und auf Guivreiz gestoßen, der ihm im Kampf eine schwere Wunde beigebracht hat. Er läßt sich davon jedoch nicht abhalten weiterzureiten und gelangt - unfreiwillig - an den Artushof. Am Artushof ist man eigenartig passiv: Niemand fragt, was denn los sei, niemand tadelt ihn wegen seines Verhaltens Enite gegenüber, man empfängt ihn vielmehr - ungeachtet der Vorfälle in Karnant - als den Helden, als den man ihn nach der 156

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Hochzeit verabschiedet hat. Nur ein Pflaster bietet man ihm an, gegen seine Wunde. Dieses Pflaster stammt von des Königs Schwester Feimurgän. Feimurgän ist Zauberin, sie führt ein gottloses Leben, das Pflaster ist pures Teufelszeug, direkt aus der Hölle. Nachdem das in verblüffender Ausführlichkeit klargestellt ist (vv. 5153-5231, z.B.: si lebete vaste wider gote [v. 5190], der tiuvel was ir geselle [v. 5205]), reagiert der Erzähler auf mögliche Einwände gegen einen Gebrauch dieser doch eigentlich unerlaubten Medizin: Man wäre nicht recht gescheit, sagt er, ein solches Pflaster abzulehnen, noch einmal: das die Zauberin wider Kriste (v. 5241) angefertigt hat, man wäre nicht recht gescheit, es abzulehnen, da es das einzige ist, was helfen kann. Wenn's um die Rettung des Helden geht, heiligt selbstverständlich der Zweck die Mittel und da kann man schon mal die engen Pfade der >Schulmedizin< verlassen. Doch der Teufel hat wie immer auch hier einen Hinkefuß. Gerade hat Erec den Artushof wieder verlassen, da hört er das Schreien einer Frau im Wald, und sofort ist er zur Stelle, um deren Gatten aus den Händen zweier Riesen zu befreien. Das klappt, er findet auch noch einige tröstende Worte für den Ritter Cadoc, der es nicht verwinden kann, sich nicht aus eigener Kraft gerettet haben zu können, und dann fällt Erec tot vom Pferd. Enite weint, Enite klagt, Enite will sterben. Sie kommt nicht dazu. Das Schwert hat sie sich schon an die Brust gesetzt, da reitet ein Graf des Wegs. So erzählt würde das nicht weiter auffallen. Es m u ß jemand vorbeikommen, denn daß Erec nicht tot ist, ist ja klar, und Enite darf selbstverständlich auch nicht sterben. Und zuvor sind schon so viele Leute zufällig des Wegs gekommen, daß ein weiterer Graf zwar ein wenig unwahrscheinlich würde, aber die Geschichte ist zweifellos spannend, und dann nimmt man die eine oder andere Unwahrscheinlichkeit schon mal in Kauf. Aber Hartmann (wie schon Chretien) macht es sich nicht so einfach. Diese Stelle ist äußerst aufschlußreich.

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vil wol bewärte si daz wort unde kerte daz ort engegen ir brüsten, nach tödes gelüsten, als si sich wolde ervallen dran, nu kam geriten ein man der si es erwande, den got dar gesande. diz was ein edel herre, ein grave: vil unverre so stuont sin wesen von dan. Oringles hiez der riche man, 157

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von Limors geborn. den hate got dar zuo erkorn daz er si solde bewarn. [er kam von sinem hüs gevarn,] ir ze heile reit er durch den wait: nach wiu, des enist mir niht gezalt, wan daz ich betrahte in mines herzen ahte, ez kam von ir saelikeit daz er des tages ie üz gereit. er vuorte mit im ritter genuoc.

Warum befindet der Graf sich nicht auf dem Weg zu einem Verwandten, auf der Jagd, auf dem Weg zu einem Turnier? Das alles wäre doch möglich. Nein, Hartmann legt Wert auf die Feststellung, keine Ahnung zu haben, warum der Graf ausgeritten ist, damit er als einzigen Grund >ir saelikeitAußenseitern< der Gesellschaft (Räuber-Riese) über den identischen gesellschaftlichen Status (Graf) zur Identität der Person (Guivreiz). Das hat zur Folge, daß der Riese als narrative Entsprechung zu den beiden Räuberbanden noch nicht unbedingt auffällt. Erst der zweite Graf ist nicht mehr mißzuverstehen. Und gerade er wird von Gott ermöglicht, an dieser Stelle greift Gott ein, genauer: behauptet der Erzähler, daß Gott eingreift. Warum läßt der Erzähler es nicht einfach geschehen, wie zuvor auch alles einfach geschah, ohne daß nach Wahrscheinlichkeit und Motivation gefragt wurde? Eine Antwort ergibt sich aus dem gerade Gesagten, daß im ersten Umlauf noch keine Entsprechungen sichtbar waren und auch der Riese nicht unbedingt als narrativer Bruder der Räuber zu erkennen ist, das heißt die Unwahrscheinlichkeit einer Duplizität der Ereignisabfolge kann noch gar nicht störend ins Auge springen. Um dieser Duplizität einen Teil ihrer Ärgerlichkeit zu nehmen, kann sich der Erzähler veranlaßt sehen, nach einer anderen Legitimation zu suchen. 158

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Wenn er dazu jedoch Gott ins Spiel bringt, schlägt er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Enite wird gerettet, aber die Folgen dieser Rettung sind weniger schön und dann wieder schöner und dann wieder weniger schön und dann wieder schöner. Im einzelnen: Der Graf will mehr von Enite als ihr nur das Leben retten. Er bedrängt sie, sie wehrt sich. Weil er sie immer mehr bedrängt, schreit sie immer lauter. Weil sie immer lauter schreit, wacht Erec auf. Weil Erec aufwacht, kann der Graf für seine versuchte Vergewaltigung in die Ehe bestraft werden. Weil Erec den Grafen getötet hat, muß er mit Enite fliehen, und jemand aus des Grafen Gefolgschaft ruft Guivreiz um Hilfe. Weil Guivreiz dem Hilferuf Folge leistet und weil zugleich Erec sich nun von allem und jedem bedroht fühlt, greift er sofort an. Aber weil die Wunde immer noch nicht ganz verheilt ist, behält Guivreiz die Oberhand und ist nahe daran, ihn zu töten: deshalb greift Enite ein, und die beiden Freunde erkennen sich. So geht das weiter. Das alles, mindestens das alles zieht das Eingreifen Gottes nach sich. Er löst eine Ereigniskette aus, die keineswegs von Anfang an zu durchschauen ist. Der Wechsel von Sicherheit und Gefahr, von Rettung und drohendem Tod im Anschluß an Gottes Eingreifen ist derart auffallend, daß man wohl behaupten kann: Chretien und Hartmann inszenieren hier das unerforschliche Wirken Gottes in der Welt. Aber nicht nur das: ich möchte gerne annehmen, daß sie hier auch viel für die Legitimation des fiktionalen Romans tun. Es wird eine Situation inszeniert, die aber derart komplex angelegt ist, daß der Roman von hier an immerhin ein ganzes Stück allein weiterläuft, bis hin zum zweiten Auftritt Guivreiz'. Erst mit dessen überraschender Unkenntnis des Weges zum Artushof, einer puren Unachtsamkeit auf der Handlungsebene, schert der Roman dann wieder aus dem Doppelzyklus aus. Nicht nur rettet der Graf auf Gottes Veranlassung das Leben der Protagonisten, sondern Gott ist es letztlich, der den Doppelzyklus des arthurischen Romans begründet. Oder anders, wenn auch nicht weniger überspitzt: Der Erzähler läßt sich von Gott den Doppelzyklus begründen. Damit ist jedoch auch ein Ärgernis benannt: Die Rückführung der eigenen poetischen Position auf das Wirken Gottes. Das ist eine Vereinnahmung, mit der man sich nicht so leicht wird abfinden können. Der 'Erec' bedeutet zwar einen gewaltigen Schritt in narratives Neuland, aber eben nur einen ersten Schritt. Einmal dort angekommen, muß es freilich weitergehen. Und zwar geht es vom 'Erec' über den 'Iwein' und den 'Parzival' zum 'Tristan' immer geradeaus. E i n Ziel zeichnet sich jetzt schon ab: die Befreiung Gottes aus dem Zugriff des Erzählers. Hartmann hat dieses Ziel schon selbst vor Augen, wie der 'Iwein' deutlich macht. 159

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'Iwein' Die Hilfe Gottes im 'Erec' wird heraufbeschworen durch die absolute Unfähigkeit der beiden Protagonisten, selbst zu handeln: Erec ist tot, Enite gefangen in ihrer Trauer und dem Wunsch, selbst zu sterben. Eine ähnliche Situation gibt es im zweiten Artusroman Hartmanns. Iwein rennt nach der Verfluchung durch Lunete, irrsinnig und nackt, in den Wald. Auch er ist völlig isoliert von der Außenwelt, auch hier muß Gott eingreifen. 3261

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nu gap im got der guote, der in üz siner huote dannoch niht volleclichen liez, daz im ein garzün widerstiez, der einen guoten bogen truoc.

Gott hilft, wenn der Held selbst nichts mehr tun kann; wieder genauer: der Erzähler schiebt, was dem Helden in der Situation völligen Ausgeliefertseins geschieht, Gott zu. Allerdings gibt es zwischen den beiden Szenen im 'Erec' und im 'Iwein' doch gravierende Unterschiede: Zunächst ist der strukturelle Ort ein anderer; das Eingreifen Gottes ist vorverlegt, es weist Iwein im unmittelbaren Anschluß an die Krise den Weg zurück in die Gesellschaft, auch hier jedoch über Umwege, als erstes, im Zusammenleben mit dem Einsiedler, über eine ganz ungewöhnliche zwischenmenschliche Gemeinschaft außerhalb der Gesellschaft. Außerdem geschieht hier, was im 'Erec' noch mit hohem Aufwand inszeniert wurde, eher nebenbei; wenn Gott im 'Erec' noch eine Schlüsselstelle einnimmt, ist er im 'Iwein' zwar noch nicht zur Floskel geworden, aber er ist doch auf dem Weg dorthin, got der guote - da scheint mir zudem die Ironie nicht zu überhören zu sein. Der 'Erec' hatte noch mit einem weiten Ausblick geendet:

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wan er nach eren lebete und so daz im got gebete mit veterlichem löne nach der werlde krone, im und sinem wibe, mit dem ewigen libe.

Der 'Iwein' hat, trotz seiner zahlreichen Märchenmotive, keinen solchen Märchenschluß mehr, er bricht da ab, wo die Geschichte zu Ende ist, Punkt. Der Rest, der Rest des Lebens derer, die in der Geschichte als Personen entworfen wurden, wird nicht mehr in einer Formel zusammengefaßt: 160

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ichn weiz ab waz ode wie in sit geschähe beiden, ezn wart mir niht bescheiden von dem ich die rede habe: durch daz enkan ouch ich dar abe iu niht gesagen mere, wan got gebe uns saelde und ere.

Man kann es einfach formulieren: Gott wird entlassen, aber diese Abkehr von Gott ist nicht deshalb so modern, weil weltliche Literatur nun erst wirklich weltlich wird, sondern weil sie sich bewußt geworden ist, daß sie erzählend grundsätzlich nicht über Gott verfügen kann.

'Parzival' Mein glaubwürdigster, mein überzeugendster Zeuge für das Verständnis des 'Erec', wie ich es vorgestellt habe, ist Chretien selbst, oder in Deutschland Wolfram von Eschenbach und der Parzivalroman. Der 'Parzival', aber auch der 'Tristan', wenn auch von einer ganz anderen Tradition herkommend: beide Romane sind leidenschaftliche Plädoyers für die Freiheit Gottes. - Zunächst zum 'Parzival'. Er ist derjenige unter meinen Texten, in dem das Wort >Gott< am seltensten vorkommt. Worauf deutet das hin? Darauf, daß Gott >entfloskelt< ist. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch im 'Parzival' ausgesprochen problematisch. Es ist ein ziemlich schwieriger Gott, von dem hier die Rede ist, er macht es den Leuten nicht leicht, besonders den Frommen nicht, was ja auch nicht verwundert, da natürlich nur sie es sind, die Gott für alles verantwortlich machen. Das beginnt schon mit Gahmurets Mutter, die Gott wegen des Todes ihres Mannes anklagt; Sigune, Parzivals Kusine, flüchtet sich in die Isolation mit dem Leichnam ihres Geliebten; Herzeloyde mischt sich in unzulässiger Weise in die Natur ein, um ihren Sohn vor den Gefahren der Welt zu bewahren; Trevrizent wählt das Leben als Einsiedler, um für die Sünde seines Bruders Anfortas zu büßen. Ich will die Szenen nicht alle aufzählen, sondern sollte schleunigst zum Plimizoel, zur Schlüsselszene kommen. Parzival wird von Cundrie verflucht, und als Gawan ihm Gottes Hilfe wünscht, sagt er sich von Gott los. Er fühlt sich von ihm verlassen und verraten, und er zieht allein, ohne Gott im Rücken, aus, um den Gral zu suchen. Der strukturelle Ort dieser Absage von Gott ist derselbe wie der Seufzer Enites im Ehebett von Karnant, der Erec zum Ausritt, und derselbe wie die 161

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Verfluchung Iweins durch Lunete am Artushof, die Iwein in den Wahnsinn treibt. In den beiden Romanen Hartmanns beginnt danach der Doppelzyklus, das Gerüst wird errichtet, das die Erzählung erst zu dem macht, was sie ist. Bei Wolfram kommt danach eigentlich gar nichts mehr, was man einigermaßen strukturiert nennen könnte; keine Spur von einem Gerüst. Gott ist vom Helden suspendiert, er und die Wirklichkeit müssen nun allein klar kommen. Parzival löst sich von Gott und wird frei, sich frei zu bewegen, aber nicht nur er, auch die Erzählung wird frei, sie ist nicht mehr an ein Muster gebunden. Und schließlich drittens: Auch Gott wird frei. Nimmt man Parzivals Trotz ernst, so hat er nichts mehr zu tun. (In Klammern: Würde der Erzähler darauf beharren, daß Gott Parzival weiterführt, wäre ein äußerst belangloser Roman daraus geworden. Er wäre das genaue Gegenteil des 'Parzival', ein frommer Beleg für das Gefangensein des Menschen im Willen Gottes.) Parzival wird frei und Gott auch - aber das fiktionale Erzählen ist sich seiner selbst noch nicht voll bewußt geworden. Es ist auffallend, daß Parzival, sobald er sich von Gott losgesagt hat, auch dem Zugriff des Erzählers entzogen ist. Die Fortsetzung des Romans widmet sich ausführlich Gawan; darin wird die arthurische Ebene fortgeführt. Die Erzählung bleibt in den traditionellen Koordinaten, jedoch werden die bisher geltenden Regeln nicht mehr eingehalten, sondern geradezu systematisch zertrümmert. Das Stichwort ist >Gawan der Frauenhelddwe, muoter, waz ist got?< (v. 119,17), und dann die vorbeiziehenden Ritter für Götter hielt, weil deren Rüstungen so hell glänzten. Was meint er also? Doch offensichtlich, daß er ein Leben geführt hat, von dem er annahm, es sei so richtig, weil man es ihm ja so beigebracht hatte, richtig aber sei das, was gottwohlgefällig ist, gottwohlgefällig das, was ihm als richtig beigebracht wurde. Von diesem Leben nahm er an, Gott habe ihm die Regeln gegeben. Er hatte sich einer Idee untergeordnet, die ihm so selbstverständlich war, daß er nie einen Anlaß sah, sie zu hinterfragen, die Idee des arthurischen Ritters, oder, in Anlehnung an Augustinus: daß das Ideal des arthurischen Ritters - der Allgemeinbegriff - als Idee >ex divino intellects, von Gott her seine Wahrheit hat. Cundries Fluch entzieht seinem bisherigen Weltbild die Grundlage, seinem und dem der traditionellen arthurischen Gesellschaft. Parzivals Überzeugung, 162

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seine Identität im Allgemeinen zu finden, und sich nicht als historisches, einmaliges Individuum zu sich selbst bekennen zu müssen, wird radikal als Irrtum entlarvt. Parzival ist der, der er ist, und er kann diese Identität nicht dadurch verleugnen, daß er im Artushof aufgeht, er entkommt seiner Individualität nicht, indem er sich ins Allgemeine flüchtet, das die Wahrheit auf seiner Seite zu haben scheint. In diesem Weltbild hatte Gott eine sehr spezifische und zugleich eine ungeheuer vage Funktion, die man sich am einfachsten vom Volksmund beschreiben läßt: »Alles Gute kommt von oben.« In diesem Weltbild läßt sich ohne weiteres alles auf Gottes Wirken zurückführen. Hartmann hat dies in der Nachfolge Chretiens noch getan, als er den Grafen auf Gottes Veranlassung als Retter Enites und Erecs auftreten ließ. Die Welt steht unmittelbar zu Gott, sie verliert ihre Eigengesetzlichkeit. Wer aber auf der Eigengesetzlichkeit der Welt beharrt, der erst setzt den Menschen in Freiheit, und der gibt auch Gott seine Freiheit zurück, indem er nicht mehr leichtfertig interpretierend mit ihm jongliert, er rückt Gott aus der Perspektive heraus, in dem er für alles verantwortlich gemacht werden kann. (Das heißt nicht, daß Gott und Welt vollkommen getrennt wären, es bleibt die Dimension der Heilsgeschichte, allerdings dezidiert >Heilsgeschichteist es mir guot vür ungemach ich gloube swes ir gebietet, ob mich ir minne mietet, so leiste ich gerne sin gebot. bruoder, hat din muome got, an den geloube ich unt an sie