Ekphrasis: Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters [Reprint 2012 ed.] 9783110896275, 9783110179385

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Ekphrasis: Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters [Reprint 2012 ed.]
 9783110896275, 9783110179385

Table of contents :
Einleitung: Ekphrasis und visuelle Imagination im Mittelalter
I. Ekphrasis – Positionen der Forschung
Intermedialität: Ekphrasis als Schnittstelle auditiver und visueller Medialität
Narratologie: Ekphrasis als spiegelnde Erzählung in der Erzählung
Ekphrasis als Repräsentationstheorie
II. gebildet und gebuochstabet – Kunstbeschreibungen im Mittelalter
Besonderheiten der mittelalterlichen Kunstbeschreibung
evidentia und imaginatio: Der rhetorische Ekphrasis-Begriff und die mittelalterliche Vorstellung vom ,inneren Sehen‘
Memorialbilder, Spiegelungen und virtuelle Räume: Zu Konzeption und Aufbau der Arbeit
Erstes Kapitel. Der Bild-Schirm des Schildes: Die antike Ekphrasis und ihre Überschreibungen im 12. Jahrhundert
I. Der Schild des Achilles als Urszene der antiken Ekphrasis
Kosmos-Schilde im Mittelalter
II. Die para-narrativen Ekphrasen des Hellenismus und die Kunstbeschreibungen Vergils
Die Ekphrasen der „Aeneis“
Bewegungsbilder: Das ,kinematographische‘ Moment antiker Kunstbeschreibungen
III. Vom flachen Bild-Schirm zum materiellen Artefakt: Die Schildbeschreibungen der Eneasromane
Die Rüstungsschilderung im „Roman d’Eneas“
Schild und Rüstung als dreidimensionales Gehäuse bei Heinrich von Veldeke
,Vergilische‘ Schildbeschreibungen in der lateinischen Epik des 12. Jahrhunderts
Zweites Kapitel. Schauräume des Todes: Die Besichtigung der antiken Welt in den Grabmalbeschreibungen der Eneasromane
I. Ekphrasis als architektonische Inszenierung des Todes: Der „Roman d’Eneas“
Poetik der Einkapselung: Die Entstehung des höfischen Romans als Epitaphium auf die unerlöste Welt der Antike
Monumentale Warnungen vor dem Sturz des Hohen: Grabbeschreibungen in der lateinischen Epik des 12. Jahrhunderts
II. Vertikalität und Transzendenz: Der Umbau der Grabarchitektur bei Heinrich von Veldeke
Der fromme Euander und die proto-christliche Erdbestattung des Pallas
Pallas – ein Ritter-Märtyrer?
Das Grabmal der Camilla als selbstgebaute Himmelsstadt
Der Raum zwischen Himmel und Erde: Die Öffnung der Grabmäler auf die Transzendenz des Heilsgeschehens
III. Architektur – Schrift – Gedächtnis: Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur
Drittes Kapitel. Der gespiegelte Kosmos im Text: Ekphrasis als nach Maß und Zahl geordnetes Welt-Bild des frühen Artusromans
I. Die vier Insignien des Königs und die kosmische Tektonik von Chretiens de Troyes „Erec et Enide“
Die Kunstbeschreibungen der Krönungszeremonie
Die Vierzahl als Operator des Bildaufbaus und die Schemabilder des Kosmos-Menschen
Mundus triplex und Septem artes liberales
Krone und Kreuz, Thron und Altar: Ein virtueller Gang vom Palast in Nantes zum Münster in Carnant
Zwei weitere königliche Schauräume: Die Hochzeit in Cardigan und die Wundheilung in Pointurie
Die pictura der Krönungsszene als Eingangsportal zum geometrischen Schauraum des Textes
Der neue Romanheld als neuer König und neuer Mensch oder die Spiegelung der Heilsgeschichte im Artusroman
Der Weltenmantel, die conjointure und Chrétiens ekphrastische Antwort auf den Antikenroman
II. Die ganze Welt auf einem Pferd: Der Umbau der kosmologischen Ekphrasis im „Erec“ Hartmanns von Aue
Enites neues Pferd und das ikonographische Motiv des Weltallbildes
3 – 4 – 12: Die Zahlenverhältnisse der Ekphrasis
Der handlungsferne Schauraum der Ekphrasis und der Dichter als Bild-Künstler
Die Umarbeitung des Weltenmantels zur Pferdedecke und der neue Kosmos des höfischen Rittertums
Hartmanns pictura des Wunderpferdes als inverse Spiegelung der Romanhandlung
Viertes Kapitel. Vorzeitschau in virtuellen Räumen: Das Troja-Bilddenkmal in der Literatur der Mittelalters
I. Einblicke in das kulturelle Gedächtnis des Laienadels: Der trojanische Krieg als Gründungsereignis des Rittertums
Trojanische Tele-Visionen
Vergil und die Folgen: Aeneas vor den Troja-Tempelbildern in Karthago
Der trojanische Krieg als Ursprung des Rittertums
Trojanische Bildräume als historisch-kulturelles Fundament der Artusgesellschaft
Von den virtuellen Memorialräumen der Literatur zur höfischen Wandmalerei
II. Gegen-Bilder von Liebesfuror und Ehebruch: Der trojanische Krieg im Kosmos der lateinischen Literatur des 12. Jahrhunderts
Baudri von Bourgueil und der trojanische Krieg im Schlafgemach der Adele von Blois
Literarische Raum-Führungen: Zu den „Eikones“ des Philostratos und zur Beschreibung von Kircheninnenräumen
Alanus ab Insulis und die antiken Exempelfiguren im Palast der Natura
Johannes von Hauvilla und das Troja-Bilddenkmal im Palast der Ehrgeizigen
Vom Mißverstehen der Bilder: Enites Pferd auf dem Mons Ambitionis
Ausblick: Virtuelle Troja-Räume im Spätmittelalter
Fünftes Kapitel. Bild-Eingänge: Ekphrasis als Portal des Textes
I. Bild-Eingänge in Antike und Mittelalter
Alanus ab Insulis und das kosmologische Eingangsbild in „De planctu Naturae“
II. Trojanische Bild-Eingänge in volkssprachigen Erzählungen des 13. Jahrhunderts
Pleiers „Meleranz“: Der locus amoenus als Gedächtnisort und Landkarte des Textes
Der Troja-Pokal als Eingangsbild in Konrad Flecks „Flore und Blanscheflur“
Helmbrechts Haube – eine ,Landkarte des Hirns‘? Ein bildkritischer Bild-Eingang bei Wernher dem Gartenaere
Die Ehrgeizigen mißverstehen die Kunst: Wernhers „Helmbrecht“ und das Vor-Bild des „Architrenius“
III. Der Gralstempel im „Jüngeren Titurel“ als heilsgeschichtliches Eingangsportal des Gralsromans
ergraben und ergozzen: Die Vorschau auf die Taten der Gralsritter an den Außenwänden des Tempels
Sechstes Kapitel. Selbst-Bilder: Die Spiegelung des Romanhelden im Kunstwerk und die medialen Funktionen von Bildnis und Inschrift
I. Die Gawein-Darstellung auf der Schüssel des Laniure und das trojanische Eingangsbild in der „Crône“ Heinrichs von dem Türlin
Die Überwindung der trojanischen Minne-Konzeption im Artusreich
II. Im Gefängnis der Imagination: Lancelots selbstgemalte Wandbilder und das Vor-Bild des Aeneas profugus
Die Vita als Bildkunstwerk und die visuelle Kunst als Therapeutikum
Ekphrastische Spiegeltechnik und mise en abyme im „Prosa-Lancelot“
Zur Funktion der Inschriften in den mittelalterlichen Selbst-Bildern
III. Flore vor dem Scheingrab Blanscheflurs: Zu den medialen Funktionen von Schrift und Bild in der epischen Totenmemoria
Blanscheflurs Scheingrab
Troja-Pokal und Scheingrab als zweiteiliger Bild-Eingang
Der unversehrte Leib des Toten als Auferstehungsversprechen: Zur Funktion des Grabbildes in der Totenmemoria
Animierende Bildmagie und tötende Schrift des Gesetzes
Ein inschriftliches Eingangsbild: Die Tafel des Gregorius
Die Inschrift und das Ende des Erzählens: Der „Prosa-Lancelot“ als Epitaphium auf den Artusroman
Schluß: Bewegte Bilder und virtuelle Räume zwischen Erinnerungs- und Projektionstechnik
Literatur als Pré-Cinema
Das Wandern durch die Topographien von Sprache und Literatur
Virtualität und Interaktivität im Cyberspace und in der mittelalterlichen Literatur
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Textausgaben
Forschungsliteratur
Namenregister

Citation preview

Haiko Wandhoff Ekphrasis

W DE G

Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 3

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Haiko Wandhoff

Ekphrasis Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-443X ISBN 3-11-017938-5 Bibliografische Information Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Das Fundament für die vorliegende Studie wurde zwischen April 1998 und Marz 1999 während eines Aufenthalts an der University of Washington in Seattle (USA) gelegt. Für die Verleihung eines Feodor Lynen-Forschungsstipendiums durch die Alexander von Humboldt-Stiftung, die diesen Aufenthalt möglich gemacht hat, möchte ich mich herzlich bedanken. Ebenso gilt mein Dank dem German Department der University of Washington, allen voran C. Stephen Jaeger, für die herzliche Aufnahme in Seattle. Die Wände, das Dach sowie die Ausschmückungen wurden schließlich in Berlin hinzugefügt. Für die fruchtbaren Gespräche und den technical support, die diesen Bau begleitet und ermöglicht haben, danke ich Christina Lechtermann, Carsten Morsch, Jörn Münkner, Moritz Wedell, Wiebke Elbe, Lena Behmenburg, Nicola Hauck, Astrid Heuer, Kathrin Kiesele, Silke Mestern, Julia Plappert, Brigitte Peters, Mario Klarer, Werner Röcke, Peter Strohschneider, den Kolleginnen und Kollegen im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen" und im HZK-Projekt „Bild-Schrift-Zahl", vor allem aber Horst Wenzel. Eine bedeutende finanzielle Unterstützung der Drucklegung hat das Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik geleistet. Dafür möchte ich mich ebenfalls bedanken. Von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin ist die vorliegende Studie im Wintersemester 2002/2003 als Habilitationsschrift angenommen worden.

Berlin, im September 2003

H.W.

Inhalt

Einleitung Ekphrasis und visuelle Imagination im Mittelalter

1

I. Ekphrasis - Positionen der Forschung Intermedialität: Ekphrasis als Schnittstelle auditiver und visueller Medialität

2

Narratologie: Ekphrasis als spiegelnde Erzählung in der Erzählung... Ekphrasis als Repräsentationstheorie II. gebildet und gebuochstabet - Kunstbeschreibungen im Mittelalter Besonderheiten der mittelalterlichen Kunstbeschreibung evidentia und imaginario: Der rhetorische Ekphrasis-Begriff und die mittelalterliche Vorstellung vom ,inneren Sehen' Memorialbilder, Spiegelungen und virtuelle Räume: Zu Konzeption und Aufbau der Arbeit

4 7 10 13 16 20 30

Erstes Kapitel Der Bild-Schirm des Schildes: Die antike Ekphrasis und ihre Überschreibungen im 12. Jahrhundert I. Der Schild des Achilles als Urszene der antiken Ekphrasis Kosmos-Schilde im Mittelalter II. Die para-narrativen Ekphrasen des Hellenismus und die Kunstbeschreibungen Vergils

37 39 43 48

Die Ekphrasen der „Aeneis"

49

Bewegungsbilder: Das ,kinematographische' Moment antiker Kunstbeschreibungen

54

III. Vom flachen Bild-Schirm zum materiellen Artefakt: Die Schildbeschreibungen der Eneasromane Die Rüstungsschilderung im „Roman d'Eneas"

58 58

VIII

Inhalt

Schild und Rüstung als dreidimensionales Gehäuse bei Heinrich von Veldeke .Vergilische' Schildbeschreibungen in der lateinischen Epik des 12. Jahrhunderts

60 64

Zweites Kapitel Schauräume des Todes: Die Besichtigung der antiken Welt in den Grabmalbeschreibungen der Eneasromane

69

I. Ekphrasis als architektonische Inszenierung des Todes: Der „Roman d'Eneas" 71 Poetik der Einkapselung: Die Entstehung des höfischen Romans als Epitaphium auf die unerlöste Welt der Antike 79 Monumentale Warnungen vor dem Sturz des Hohen: Grabbeschreibungen in der lateinischen Epik des 12. Jahrhunderts.... 85 II. Vertikalität und Transzendenz: Der Umbau der Grabarchitektur bei Heinrich von Veldeke Der fromme Euander und die proto-christliche Erdbestattung des Pallas Pallas - ein Ritter-Märtyrer? Das Grabmal der Camilla als selbstgebaute Himmelsstadt Der Raum zwischen Himmel und Erde: Die Öffnung der Grabmäler auf die Transzendenz des Heilsgeschehens

102

III. Architektur - Schrift - Gedächtnis: Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur

106

89 92 95 99

Drittes Kapitel Der gespiegelte Kosmos im Text: Ekphrasis als nach Maß und Zahl geordnetes Welt-Bild des frühen Artusromans I. Die vier Insignien des Königs und die kosmische Tektonik von Chrétiens de Troyes „Erec et Enide" Die Kunstbeschreibungen der Krönungszeremonie Die Vierzahl als Operator des Bildaufbaus und die Schemabilder des Kosmos-Menschen Mundus triplex und Septem artes liberales Krone und Kreuz, Thron und Altar: Ein virtueller Gang vom Palast in Nantes zum Münster in Carnant

117 119 120 122 130 134

Inhalt

Zwei weitere königliche Schauräume: Die Hochzeit in Cardigan und die Wundheilung in Pointurie Die pictura der Krônungsszène als Eingangsportal zum geometrischen Schauraum des Textes Der neue Romanheld als neuer König und neuer Mensch oder die Spiegelung der Heilsgeschichte im Artusroman Der Weltenmantel, die conjointure und Chrétiens ekphrastische Antwort auf den Antikenroman II. Die ganze Welt auf einem Pferd: Der Umbau der kosmologischen Ekphrasis im „Erec" Hartmanns von Aue Enites neues Pferd und das ikonographische Motiv des Weltallbildes 3 - 4 - 1 2 : Die Zahlenverhältnisse der Ekphrasis Der handlungsferne Schauraum der Ekphrasis und der Dichter als Bild-Künstler Die Umarbeitung des Weltenmantels zur Pferdedecke und der neue Kosmos des höfischen Rittertums Hartmanns pictura des Wunderpferdes als inverse Spiegelung der Romanhandlung



140 145 147 150 157 158 163 168 172 175

Viertes Kapitel Vorzeitschau in virtuellen Räumen: Das Troja-Bilddenkmal in der Literatur der Mittelalters I. Einblicke in das kulturelle Gedächtnis des Laienadels: Der trojanische Krieg als Gründungsereignis des Rittertums Trojanische Tele-Visionen Vergil und die Folgen: Aeneas vor den Troja-Tempelbildern in Karthago Der trojanische Krieg als Ursprung des Rittertums Trojanische Bildräume als historisch-kulturelles Fundament der Artusgesellschaft Von den virtuellen Memorialräumen der Literatur zur höfischen Wandmalerei Π. Gegen-Bilder von Liebesfuror und Ehebruch: Der trojanische Krieg im Kosmos der lateinischen Literatur des 12. Jahrhunderts Baudri von Bourgueil und der trojanische Krieg im Schlafgemach der Adele von Blois

181 183 184 188 191 196 199 203 203

Inhalt

χ

Literarische Raum-Führungen: Zu den „Eikones" des Philostratos und zur Beschreibung von Kircheninnenräumen Alanus ab Insulis und die antiken Exempelfiguren im Palast der Natura Johannes von Hauvilla und das Troja-Bilddenkmal im Palast der Ehrgeizigen Vom Mißverstehen der Bilder: Enites Pferd auf dem Möns Ambitionis Ausblick: Virtuelle Troja-Räume im Spätmittelalter

208 214 216 219 222

Fünftes Kapitel Bild-Eingänge: Ekphrasis als Portal des Textes

227

I. Bild-Eingänge in Antike und Mittelalter Alanus ab Insulis und das kosmologische Eingangsbild in „De pianeta Naturae"

229

II. Trojanische Bild-Eingänge in volkssprachigen Erzählungen des 13. Jahrhunderts Pleiers „Meieranz": Der locus amoenus als Gedächtnisort und Landkarte des Textes Der Troja-Pokal als Eingangsbild in Konrad Flecks „Flore und Blanscheflur" Helmbrechts Haube - eine .Landkarte des Hirns'? Ein bildkritischer Bild-Eingang bei Wernher dem Gartenaere Die Ehrgeizigen mißverstehen die Kunst: Wernhers „Helmbrecht" und das Vor-Bild des „Architrenius"

233 238 238 244 250 255

III. Der Gralstempel im „Jüngeren Titurel" als heilsgeschichtliches Eingangsportal des Gralsromans 259 ergraben und ergozzen: Die Vorschau auf die Taten der Gralsritter an den Außenwänden des Tempels 263 Sechstes Kapitel Selbst-Bilder: Die Spiegelung des Romanhelden im Kunstwerk und die medialen Funktionen von Bildnis

und Inschrift

271

I. Die Gawein-Darstellung auf der Schüssel des Laniure und das trojanische Eingangsbild in der „Cröne" Heinrichs von dem Türlin.... 273

Inhalt

Die Überwindung der trojanischen Minne-Konzeption im Artusreich

XI

279

II. Im Gefängnis der Imagination: Lancelots selbstgemalte Wandbilder und das Vor-Bild des Aeneas profugus

284

Die Vita als Bildkunstwerk und die visuelle Kunst als Therapeutikum 286 Ekphrastische Spiegeltechnik und mise en abyme im „Prosa-Lancelot" 292 Zur Funktion der Inschriften in den mittelalterlichen Selbst-Bildern.. 296 III. Flore vor dem Scheingrab Blanscheflurs: Zu den medialen Funktionen von Schrift und Bild in der epischen Totenmemoria Blanscheflurs Scheingrab Troja-Pokal und Scheingrab als zweiteiliger Bild-Eingang Der unversehrte Leib des Toten als Auferstehungsversprechen: Zur Funktion des Grabbildes in der Totenmemoria Animierende Bildmagie und tötende Schrift des Gesetzes Ein inschriftliches Eingangsbild: Die Tafel des Gregorius Die Inschrift und das Ende des Erzählens: Der „Prosa-Lancelot" als Epitaphium auf den Artusroman

301 302 304 309 314 316 321

Schluß Bewegte Bilder und virtuelle Räume zwischen Erinnerungs- und Projektionstechnik Literatur als Pré-Cinema Das Wandern durch die Topographien von Sprache und Literatur Virtualität und Interaktivität im Cyberspace und in der mittelalterlichen Literatur

325 326 330 333

Abbildungsverzeichnis

343

Literaturverzeichnis

345

Textausgaben Forschungsliteratur

345 351

Namenregister

373

Einleitung: Ekphrasis und visuelle Imagination im Mittelalter „The hybrid or meeting of two media is a moment of truth and revelation from which new form is born", so lautet eines der ,Mediengesetze' McLuhans. „For the parallel between two media holds us on the frontiers between forms that snap us out of the Narcissus-narcosis. The moment of the meeting of media is a moment of freedom and release from the ordinary trance and numbness imposed by them on our senses."1 Dieses beinahe schon klassisch zu nennende Diktum über den Moment der Einsicht und Klarheit, der daraus resultiert, daß zwei Medien sich wechselseitig beleuchten, läßt sich mit einigem Recht auch einer Arbeit über die Ekphrasis voranstellen. Versteht man diese als Beschreibung von Gemälden, Skulpturen, Filmen oder anderen visuellen Kunstwerken im Medium eines verbalen Textes, als „verbal representation of visual representation" 2 und nicht als Beschreibungskunst im weitesten Sinne,3 dann kommen genau die Grenz- und Übersetzungsphänomene in den Blick, die McLuhan benennt. Der Leser einer Kunstbeschreibung ist bei der Lektüre einem ständigen Oszillieren zwischen Text und Bild ausgesetzt, er verwandelt sich in einen Bildbetrachter und bleibt doch dabei stets auf Buchstaben und Worte verwiesen. Er bewegt sich - um nur einige Titel von Büchern zu zitieren, die sich in jüngerer Zeit der Ekphrasis angenommen haben - „Im Buchstabenbilde", in einem „Museum of Words" und nimmt Einblick in „Das visuelle Gedächtnis der Literatur".4 In der vorliegenden Untersuchung soll an verschiedenen Beispielen den Einsichten und Erfahrungen nachgespürt werden, die insbesondere die mittelalterliche Literatur ihren Lesern eröffnet, indem sie immer wieder Bild- und Architektuibeschreibungen in den linearen Fluß narrativer Texte einschaltet. Dabei versteht sich die Arbeit nicht als erschöpfende Darstellung der mittelalterlichen Kunstbeschreibung. Ich werde vielmehr eine Geschichte der Ekphra-

1 2

3 4

McLUHAN 1967,65f. HEFFERNAN 1993, 3 (im Anschluß an MITCHELL 1992/1994). Diese Ekphrasis-Definition, auf deren Probleme ich unten noch eingehen werde, scheint im anglo-amerikanischen Sprachraum heute weithin akzeptiert, s. die Obersicht bei BECKER 1995, 2; SCOTT 1991, 301; MITCHELL 1992/1994, 152; WAONER 1996,14; KLARER 2001,6ff. Vgl. zum Spannungsfeld der beiden Begriffe und Konzeptionen BOEHM/PFOTENHAUER 1995. So die Titel der Arbeiten von OSTERKAMP 1991, HEFFERNAN 1993 und SCHMELING/ SCHMITZ-EMANS 1999.

2

Einleitung

sis zu rekonstruieren versuchen, die sich vom antiken Epos bis zum .nachklassischen' höfischen Roman im ausgehenden 13. Jahrhundert erstreckt. Zunächst soll aber ein Blick auf die Forschungs- und Begriffsgeschichte der Ekphrasis geworfen werden.

I. Ekphrasis - Positionen der Forschung Zumindest im nordamerikanischen Raum ist die Ekphrasis etwa seit Beginn der neunziger Jahre „one of the most brilliant and popular new stars in the poetic and art historical firmament",5 wie es Raymond MacDonald formuliert hat. Lange Zeit ist ihr dagegen in der Forschung kaum Aufmerksamkeit zuteil geworden. Es finden sich lediglich einige noch heute wichtige Materialstudien aus der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nicht selten kunstgeschichtlich ausgerichtet sind und auf den Begriff,Ekphrasis' zur Bezeichnung ihres Gegenstands in der Regel verzichten.6 Erst seit den fünfziger Jahren wird der Terminus von seinen rhetorischen Ursprüngen abgelöst und taucht vermehrt im Zusammenhang mit der Kunstbeschreibung auf. Als pionierhaft können hier die Studien Leo Spitzers und Jean Hagstrums gelten, die großen Einfluß auf die weitere Forschungsdiskussion ausübten.7 Nach vereinzelten Ansätzen in den sechziger und siebziger Jahren ist seit dem Ende der achtziger Jahre unter dem Eindruck eines pictorial tum in den Geisteswissenschaften eine starke Zunahme von Ekphrasis-Studien zu registrieren,8 ein Trend, der sich bald in einer ganzen Reihe von großangelegten Monographien zum Thema niederschlägt.9 Seither ist die Ekphrasis in der anglo-amerikanischen Forschungsdiskussion zu einem zentralen Paradigma des Intermedialitätsdiskurses geworden. Gemessen daran hinkt die Diskussion in Deutschland etwas hinterher. Obgleich auch hier die Zahl der Studien zur Kunstbeschreibung in den neunziger Jahren ansteigt, hat sich der Ekphrasis-Begriff bislang nicht durchsetzen kön-

5

MACDONALD 1 9 9 3 , 8 5 .

6

S. v o r allem SÖHRINO 1900, FREDLANDER 1912, FARAL 1 9 1 3 u n d 1924, FREY-SALLMANN

7

SPITZER 1955, HAOSTRUM 1958. D e r n e u e Ekphrasis-Begriff -

1931, ROSENFELD 1935, HOCK 1958, VON ALBRECHT 1972, KRANZ 1973. „the poetic description of a

pictorial or sculptural w o r k of a r t " (SPITZER 1955, 2 0 7 ) - w i r d dann v o n ALPERS 1960, KRIEGER 1 9 6 7 u n d LEACH 1 9 7 4 aufgegriffen. Vgl. a u ß e r d e m PALM 1965/66, RAVENNA 1 9 7 4 8

u n d PERUTEIXI 1 9 7 8 sowie z u r Begriffsgeschichte WEBB 1 9 9 9 , 1 0 . s . e t w a DUBOIS 1982, LAND 1986, CARRIER 1987, ROSAND 1987, HOLLANDER

1988,

BARTSCH 1989, BRIGDES 1989, ROSAND 1990, SHAPIRO 1990, WOLF 1990, FOWLER 1991, HEFFERNAN 1991, MITCHELL 1 9 9 2 / 1 9 9 4 . 9

M r r s i 1991, KRIEGER 1992, CLEMENTE 1992, HEFFERNAN 1993, ALSENBERG 1995, BECKER 1995, SMITH 1995, HOLLANDER 1995, KLARER 2 0 0 1 . Vgl. a u c h WAGNER 1996, ROBILLARD/ JONGENEEL 1 9 9 8 sowie KLARER 1999a.

3

Ekphrasis - Positionen der Forschung 10

nen - zumindest nicht im Titel der einschlägigen Studien. Noch 1995 scheint es hierzulande nötig zu sein, mit dem wichtigen, von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer edierten und interdisziplinär konzipierten Sammelband „Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart" unter dem Schlüsselbegriff der Ekphrasis „eine Debatte in Gang zu bringen".11 Der Grund dafür, daß sich auch hierzulande allmählich ein Interesse an der alten, lange Zeit kaum beachteten poetischen Technik der Kunstbeschreibung regt, dürfte in ihrer engen Verknüpfung von Schrift und Bild, Literatur und Malerei, verbaler und visueller Repräsentation liegen. Dadurch gerät die Ekphrasis gerade im Zeitalter unserer Mediengesellschaft zu einem vielversprechenden Forschungsfeld. Weil sich Bildbeschreibungen in nahezu allen Epochen der Literaturgeschichte finden, von Homer bis in die Gegenwart, eignen sie sich als Modellfall für die Historisierung von Audiovisualität und Intermedialität und bieten Ansatzpunkte für eine transdisziplinäre Kulturwissenschaft, in der kunst-, literatur- und medienwissenschaftliche Kompetenzen gleichermaßen gefragt sind. Blickt man nun auf die neuere Forschungsdiskussion zur Ekphrasis, dann lassen sich wenigstens zwei Prämissen erkennen, unter denen diese sich von älteren Ansätzen unterscheidet. Zum einen befragt man die poetische Bildbeschreibung heute nur noch gelegentlich auf unmittelbare Vor-Bilder im Bereich der bildenden Künste, worin die ältere, positivistisch ausgerichtete Forschung ihr Hauptinteresse fand. Bildbeschreibungen wurden als historische Quellen ausgewertet, die Hinweise auf verlorene Kunstwerke der Antike geben sollten; die Perspektive auf die Ekphrasis war letztendlich eine kunsthistorische.12 In der neueren Diskussion hat sich demgegenüber die Einsicht weitgehend durchgesetzt, daß es sich bei der poetischen Kunstbeschreibung in der Regel - mit einem Begriff von John Hollander - um „notional ekphrasis" handelt,13 imaginierte sprachliche Bildkunstwerke, die zwar an kunstgeschichtlich dokumentierte Bildformeln anknüpfen, ihren originären Ort aber in der Literatur haben und durch die besondere Art ihrer Darstellung gerade in Konkurrenz zur visuellen Kirnst treten: „all ekphrasis is notional, and seeks to create a specific image that is to be found only in the text as its .resident alien'."14

10 S. etwa M A R E K 1985, D Œ T E R L E 1988, O S T E R K A M P 1991, R A T K O W I T S C H 1991, M A N A K I D O U 1993, S C H M E L I N G - E M A N S 1999, B E R N S D O R F F 2000, K L A R E R 2001, R E U L E C K E 2002. 11 B O E H M / P F O T E N H A U E R 1995, 11 (Einleitung). Dieser Band vereint Arbeiten verschiedener Disziplinen zur Ekphrasis-Thematik und richtet den Fokus auch auf die anglo-amerikanische Forschungsdiskussion, indem die wichtigen Beiträge von A L F E R S und K R Œ O E R nun endlich auch einem deutschen Publikum zuganglich gemacht werden. 1 2 Neuere kunsthistoriographische Ansätze finden sich bei H O L L A N D E R 1 9 8 8 , 1 9 9 5 sowie bei A R N U L F 2 0 0 3 , dessen Buch bei Drucklegung dieser Arbeit indes noch nicht erschienen war. 13

HOLLANDER 1 9 8 8 .

14

MITCHELL 1 9 9 2 / 1 9 9 4 , 1 5 7 A . 19. Vgl. WAGNER 1 9 9 6 (Einleitung).

4

Einleitung

Neben dieser Abkehr vom Primat einer positivistisch verstandenen Kunstgeschichte ist zum andern seit einiger Zeit die Tendenz der literaturwissenschaftlichen Forschung zu beobachten, sich von einem engen, rhetorischen Verständnis der Ekphrasis zu lösen. In der Bild- und Architekturbeschreibung wird nicht länger ein bloßes Ornament gesehen, das zwar die Spannung zu erhöhen vermag, im Grunde aber eine Art Fremdkörper des Wortkunstwerks darstellt, eine störende, äußerlich bleibende Interpolation, mit der man es nicht übertreiben sollte.15 Mit der Aufgabe auch dieser eingeschränkten Sichtweise auf die Kunstbeschreibung von Seiten der Literaturwissenschaft sind die Voraussetzungen geschaffen, daß endlich auch die verschiedenen poetologischen und intermedialen Aspekte der Ekphrasis in den Blick kommen können. Dabei lassen sich in der neueren Forschungsdiskussion grob zwei Konzeptionen unterscheiden, die die jeweilige Herangehensweise an die Ekphrasis bestimmen, nämlich das Konzept der Intermedialität auf der einen und die Fragestellungen der Narratologie auf der anderen Seite. Intermedialität: Ekphrasis als Schnittstelle auditiver und visueller Medialität Nicht erst in jüngerer Zeit ist die Ekphrasis zu einem bevorzugten Gegenstand der Intermedialitätsdiskussion geworden, verstanden als Schnittstelle von Literatur und Malerei, verbaler und visueller Darstellung,,Zeitkunst' und .Raumkunst'. Die Frage nach der wechselseitigen Durchlässigkeit oder gar Austauschbarkeit der beiden Kunstformen ist bereits seit der Antike immer wieder gestellt worden, wobei die Diskussion stets um dieselben berühmten Äußerungen kreist, um Horaz' ut picture poesis auf der einen und Simonides' von Keos Diktum, wonach die Literatur eine redende Malerei und die Malerei eine stumme Dichtung sei, auf der andern Seite.16 Die Frage nach dem Zusammenwirken, aber auch nach dem Konkurrieren der sister arts ist also keineswegs neu, wenngleich sie vor dem Hintergrund der audiovisuellen Medienrevolution am Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Relevanz erhält. Aktuelle Begriffe wie .Intermedialität' oder ,Transkriptivität' können ihrerseits insofern als Überschreibungen oder Umschreibungen von Konzepten verstanden werden, die früher ut pictura poesis oder paragone hießen.17 Im intermedialen Kontext rückt die Ekphrasis in die Nähe anderer TextBild-Hybridbildungen, wie sie etwa in den illustrierten Handschriften des Mit13 Zu dieser Behandlung der Ekphrasis als Fremdkörper s. SCOTT 1991 und MITCHELL 1992/ 1994. Durch die poststrukturalistische Wiederbelebung der Rhetorik ist diese Sichtweise zum Teil bis heute zu finden, etwa in den Erörterungen Roland Barthes' zur Rhetorik (BARTHES 1988, bes. 33). S. dazu DUBOIS 1982,5f. 16 Grundlegend behandelt wird dies bei HAOSTRUM 1958 und STEINER 1982. 17 Zur Intermedialität s. den ForschungsOberblick bei SCHRÖTER 1998 sowie zum Konzept der Transkriptivität JÄGER 2001b, 27f., und 2002. Vgl. KLARER 2001,12ff.

Ekphrasis - Positionen der Forschung

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telalters oder in Gemälden, die Schriñzeichen enthalten, vorliegen. Weitere Vergleichsmöglichkeiten bilden die Text-Bild-Kopplungen im Film oder auf dem Computeibildschirm. Peter Wagner faßt derartige Gebilde mit dem Begriff des ,Ikonotextes': „iconotext refers to an artefact in which the verbal and the visual signs mingle to produce rhetoric that depends on the co-presence of words and images".18 Es wird aber schon an diesen wenigen Beispielen deutlich, daß etwa eine illustrierte Handschrift eine völlig andere Form von Intermedialität verkörpert als eine Kunstbeschreibung. Während die Bilder in dem einen Fall neben dem Text stehen und auch unabhängig von ihm in einem Außenraum zu betrachten sind, konstituieren sie sich im andern Fall erst im Prozeß der Lektüre, um den Text gleichsam von innen auszuleuchten. Mit Jens Schröter wäre daher das Konzept der Intermedialität zu differenzieren, so daß sich etwa eine „synthetische Intermedialität" der illustrierten Handschrift, wie sie auch der Idee des Gesamtkunstwerks zugrunde liegt, von einer „transformationalen Intermedialität" der Kunstbeschreibung unterscheiden läßt.19 Hier geht es um die Transformation oder Übersetzung eines Mediums in ein anderes Medium, bei dem gerade der Bereich des .Dazwischen' kenntlich wird.20 Das Besondere an der Ekphrasis kann aus der intermedialen Perspektive darin gesehen werden, daß hier ein gemeinhin als nicht-visuell eingestuftes Medium, die Sprache, durch eine verbale Abbildung von räumlich-visuellen Kunstwerken selbst visuelle Bilder hervorbringen kann - wenn auch nur in der Imagination der Hörer oder Leser. Die wohl kohärenteste und einflußreichste Ekphrasis-Theorie, die sich dem Phänomen unter diesem Aspekt nähert, stammt von Murray Krieger, der in der Ekphrasis „the most extreme and telling instance of the visual and spatial potential of the literary medium" sieht.21 Im Anschluß an Lessings Unterscheidung von verbaler .Zeitkunst' und visueller .Raumkunst' und zugleich in Absetzung von dieser vertritt Krieger die These, daß die Literatur angesichts einer seit der Antike gültigen ,visuellen Epistemologie', die dem Bild eine größere Nähe zur Wirklichkeit bescheinige, gar nicht anders könne, als sich immer wieder der überschreibenden Anverwandlung visuell-räumlicher Objekte zu bedienen, um im Wettstreit der Künste konkurrenzfähig zu bleiben. Diesem seiner Meinung nach ebenso unumgänglichen wie letztlich illusionären Streben nach dem „natural sign", dem natürlichen, und das heißt für ihn: visuellen Zeichen, spürt er in seinen Studien 18 WAGNER 1996, 16. Zum Begriff „inteimediality" als „a sadly neglected but vastly important subdivision of intertextuality", wie zum Beispiel „the .intertextual' use of medium (painting) in another medium (prose fiction)", s. 17f. Vgl. MITCHELL 1994 und sein Konzept des „imagetext". 1 9 S C H R Ö T E R 1 9 9 8 . Die beiden anderen Typen, die er nennt, sind die „ontologische" und die ,/ormale oder trans-mediale Intermedialität". 20 Vgl. Schmeling/Schmhz-EmaNS 1999,8 passim (Vorbemerkung). 21 Krieger 1 9 9 2 , 6 .

Einleitung

6

nach, und zwar sowohl im Hinblick auf Kunstwerke wie auch hinsichtlich einfacher, nicht-darstellender Gegenstände.22 Krieger operiert also mit einem weiten Ekphrasis-Begriff, der im Prinzip jede Form der sprachlichen Visualisierung einschließt, doch stellt auch er Kunstbeschreibungen in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Hatte schon Leo Spitzer in den fünfziger Jahren in einer Abhandlung über Keats' „Ode on a Grecian Um" eher beiläufig darauf verwiesen, daß die antike Ekphrasis „often devoted to circular objects"23 sei, nämlich gerundete Dinge wie Schilde oder Trinkgefäße beschreibe, so baut Krieger diesen Aspekt zu einem zentralen Träger seiner Ekphrasis-Theorie aus. Denn nur durch die Orientierung an den plastischen Formen seines Anderen, dem dreidimensional ausgeprägten Bildkunstwerk könne letztendlich auch der poetische Text selbst .Plastizität', ,Rundheit' und schließlich eine immer schon visuell gedachte ,Form' erlangen.24 Dieses Streben nach einer plastischen ,Form', die dem poetischen Text überhaupt erst Dauer und Erinneibarkeit garantiere - Krieger spricht hier von einem universellen „ekphrastic principle" der Literatur - , werde durch die Inkorporierung von räumlich-visuellen Bildkunstwerken einerseits gefördert, zum andern aber auch symbolisiert: „in imitating a plastic object in language and time", so führt er mit Blick auf den Schild des Achilles bei Homer aus, „poems make that object in its spatial simultaneity a true emblem of itself and of poetry's ekphrastic principle."25 Während Krieger die Intermedialität der Ekphrasis weitgehend von der alten Kategorisierung ,Zeitkunst' versus ,Raumkunst' her denkt, hat etwa Thomas Mitchell diese Prämisse radikal in Frage gestellt. Mitchell bestreitet, daß es überhaupt wesensmäßige Unterschiede zwischen visuellen und verbalen Medien gebe und hält dagegen, „that the interaction of pictures and texts is constitutive of representation as such: all media are mixed media, and all representations are heterogenous".26 Er zeigt in erhellender Weise, daß Lessings vermeintliche .Naturgesetze' der Künste keineswegs universell sind, sondern vielmehr auf einer ganzen Reihe von ideologischen Setzungen basieren, die letztendlich im Kontext einer ikonoklastischen westlichen Denktradition zu verorten sind.27 Er plädiert für eine ideologiekritische Fundierung der Interme-

22 KRIEGER 1992 definiert die Ekphrasis also anders als HEFFERNAN als „the sought-for-equivalent in words of any visual image, in or out of art" (9). 23

SPITZER 1955, 2 0 7 A. 5.

24 KRIEOER 1967, weniger durchsichtig 1992. Vgl. zu der von ihm angeführten kulturellen Prämierung des Gesichtssinnes („visual epistemologi' [14]) auch STEINER 1982, xi, die vom „reality claim of painting" spricht, an dem sich die verbalen Künste zu orientieren gehabt hätten. 25 KRIEGER 1967, 267. Krieger spricht in diesem Zusammenhang neben Emblem auch von Metapher (265) und Symbol (265), was das Verständnis nicht eben erleichtert 26 MITCHELL 1994,5. s. auch 94f. sowie MITCHELL 1986,49. 27 MITCHELL 1986,95ff. ("Space and Time. Lessing's Laocoon and the Politics of Genre").

Ekphrasis - Positionen der Forschung

7

dialitätsforschung, da der Gegensatz von Text und Bild in allen Kulturen mit einer Reihe anderer Antithesen verquickt sei: „the paragone or debate of poetry and painting is never just a contest between two kinds of signs, but a struggle between body and soul, world and mind, nature and culture."28 Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, daß auch die Ekphrasis für Mitchell nicht eine Begegnung zweier ontologisch unterscheidbarer Künste ist, sondern Schauplatz eines unter ideologischen Vorzeichen stehenden Aufeinandertreffens des verbalen Textes mit seinem .Anderen', nämlich „those rival, alien modes of representation called the visual, graphic, plastic, or ,spatial' arts".29 In der Ekphrasis sieht er einen Ort der verbal inszenierten Begegnung des ,Selbst' mit seinem .Anderen', der als Raum für die Einschreibung kultureller Antithesen genutzt wird: „The ,otherness' of visual representation from the standpoint of textuality may be anything from a professional competition (the paragone of poet and painter) to a relation of political, disciplinary, or cultural domination in which the ,self is understood to be an active, speaking, seeing subject, while the ,other' is projected as a passive, seen, and (usually) silent object."30 Narratologie: Ekphrasis als spiegelnde Erzählung in der Erzählung Während beim intermedialen Zugang zur Kunstbeschreibung das Moment der Visualisierung und Verräumlichung von und durch Sprache, aber auch der paragonale Charakter von visueller und veibaler Repräsentation im Mittelpunkt steht, behandelt die Narratologie die Ekphrasis aus einem anderen Blickwinkel. Da die sprachlich generierten Bildkunstwerke oftmals selbst schon narrativ organisiert sind, kann die elaborierte Kunstbeschreibung auch als Erzählung in der Erzählung verstanden werden. Ekphrasen stellen in diesem Sinne „micro-narratives"31 oder „paranarratives" dar, die von der Rahmenerzählung sowohl getrennt sind, wie sie sich ihr auch einfügen, um sie mit zusätzlichen Registern und Bedeutungsdimensionen anzureichern.32 Die räumlich-visuelle Dimension der Kunstbeschreibung tritt in dieser Perspektive zurück zugunsten ihrer Funktion als inter- wie intratextueller Spiegel. Dieser narratologische Aspekt der Ekphrasis ist gerade für die Kulturen der Antike und des Mittelalters zentral, weil hier auch die bildende Kunst weit

28

29 30 31 32

M I T C H E L L 1986, 49. Er nennt seinen eigenen Ansatz, mit dem er den traditionellen .Vergleich der Künste' zugunsten einer integrativen Methode überwinden will, „iconology" (1986) und später „picture theory" (1994). Vgl. K L A R E R 2001, 21f. MITCHELL 1992/1994, 151ffi, Zitat 156. MITCHELL 1992/1994, 156f. BEAUJOUR 1981,33. Zum Konzept der „paranarratives" s. B L A N C H A R D 1978 und zur Ekphrasis als .narrazione nella narrazione", vor allem im antiken Epyllion, PERUTELLI1979,32ff.

Einleitung

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stärker als in der Moderne auf kulturelle Texte bezogen bleibt. Sei es die antike Mythologie oder die christliche Religion mit ihrem biblischen Schatz an Geschichten - jeweils haben Bild, Sprache und Schrift in den alteuropäischen Kulturen eine gemeinsame Stoffgrundlage, die es zu tradieren gilt und aus der die verschiedenen Kunstformen ihre Gegenstände beziehen. Von dieser gemeinsamen Tradition, diesen „Bedeutungswelten des tradierten Sprachhumanismus"33, so Boehm, hat sich erst die moderne Kunst im Zuge einer Forderung nach Reinigung und Reinheit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert radikal verabschiedet. „Beschreibungen solcher Bilder haben es nicht länger mit Stoffen zu tun, die sich erzählen oder doch wenigstens nachvollziehen lassen, sie treffen auf zunehmend uneinlösbare Imagination und selbstreflexive Gestaltungsverfahren."34 So ist es kein Zufall, daß Heffernan in erster Linie vormoderne Texte als Beispiele heranzieht, wenn er in der Auseinandersetzung mit Krieger darauf abhebt, daß es bei der literarischen Ekphrasis weniger darum gehe, die in ständigem Fluß befindliche Welt des Wortes stillzustellen, sie in Form von räumlichen Kunstwerken gleichsam einzufrieren, als vielmehr darum, das graphische Kunstwerk literarisch zu animieren, es in Bewegung zu versetzen und seine Figuren in narrative Handlung zu überfuhren: „Traditionally [...] ekphrasis is dynamic and obstetric, delivering from the pregnant moment of visual art the extended narrative which it embryonically signifies".35 Zwar sieht auch Heffernan in der Ekphrasis einen intermedialen Aspekt, nämlich einen Wettstreit der Künste, wie man ihn aus Antike und Renaissance kennt. Aber dieser werde allen auftretenden Ambivalenzen zum Trotz von der Literatur nur inszeniert, um ihn am Ende für sich zu entscheiden, indem sie die statischen Bilder ihrer eigenen narrativen Ordnung unterwerfe und sie in zeitlich strukturierte Handlung überführe. Gegen Kriegers auf Verräumlichung und Visualisierung abzielendes „ekphrastic principle" setzt Heffernan eine Unterordnung des Bildes unter den Primat des Narrativen und betont „the persistence of storytelling in ekphrastic literature".36 Im Hinblick auf die mittelalterliche Literatur, die bei Heffernan ebenso wie bei Krieger und Mitchell - mit Ausnahme von Dante - vollständig fehlt, kann die ebenso gründliche wie verdienstvolle Studie Christine Ratkowitschs über die Descriptio picturae in den lateinischen Epen des 12. Jahrhunderts als beispielhaft für diesen narratologischen Ansatz herangezogen werden.37 Während Ratkowitsch die jeweilige Einbindung der Kunstbeschreibungen in den größe-

33

BOEHM 1 9 9 5 , 2 4 .

34

BOEHM/PFOTENHAUER 1995, 9.

35 HEFFERNAN 1993, 113. Zum paragonalen Verhältnis der Künste in der Ekphasis s. 6f„ 14 passim. 36

HEFFERNAN 1 9 9 1 , 3 0 l f . , Zitat 302. Vgl. SHAPIRO 1 9 9 0 , 9 7 , u n d WANDHOFF 2 0 0 1 .

37

RATKOWITSCH 1991.

Ekphrasis - Positionen der Forschung

9

ren Handlungszusammenhang der Epen herausarbeitet und zeigt, in welcher Weise mit diesen spiegelnden Erzählungen in der Erzählung Deutungshilfen für den Leser installiert werden, verzichtet sie fast vollständig auf eine Diskussion der Ekphrasis als Visualisierungsstrategie. Verschiedene mittelalterliche Ekphrasen werden auch in einer jüngeren, von Harald Haferland und Michael Mecklenburg herausgegebenen Aufsatzsanunlung über „Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit" zumeist in dieser Hinsicht behandelt, nämlich als Paradigma für .eingebettete' Erzählungen oder „Hypoerzählungen": „Bilderzählungen und Erzählungen handelnder Figuren sind die zwei Haupttypen von Erzählungen in Erzählungen."38 Besonders aufschlußreich ist der narratologische Zugang zur Ekphrasis dort, wo er die Mikro-Erzählungen der Kunstbeschreibungen als Spiegelungen der Haupthandlung interpretieren kann. So finden sich in den verschiedensten Literaturen immer wieder in Form von Bildwerken inszenierte Binnenhandlungen, die zu der Rahmenhandlung der sie umschließenden Erzählung in einem Verhältnis der Analogie oder auch des {Contrasts stehen, so daß sich die eigentliche Erzählung über das spiegelnde Verhältnis zur Binnenerzählung gleichsam selbst reflektiert. In der Forschung werden für diese Struktur unterschiedliche Begriffe benutzt. Perutelli etwa spricht im Hinblick auf die Ekphrasis im antiken Epyllion von einer „inversion speculare".39 Page Dubois nennt als eine der wichtigsten Funktionen der Kunstbeschreibung die Synekdoche: „The ekphrasis at times stands for the whole of the epic poem which is made visible in the object. The whole is thus represented by the significant part, the embedded ekphrasis,"40 Und Linda demente benutzt in ihrer Studie über „Literary objets d 'art in der französischen Epik zwischen 1150 und 1210 den Term der mise en abyme und versteht darunter „a structure maintaining a relationship of similitude with the work in which it is found".41 Sie sieht die Ekphrasis in der neueren wie in der mittelalterlichen Literatur gleichermaßen eng mit diesem Darstellungsprinzip verbunden und definiert die Bildbeschreibung im Hinblick auf den sie inkorporierenden Text als „an analogy to and a constitutive symbol for its macro-structure".42 Haferland und Mecklenburg

38 HAFERLAND/MECKLENBURO 1996, 11. Daß dabei der Aspekt der Visualisierungsstrategien nicht vernachlässigt werden muß, zeigen etwa die Beiträge von KASTEN 1996 und WENZEL/ WENZEL 1996. 39

PERUTELLI 1 9 7 9 , 3 9 .

40

DUBOIS 1 9 8 2 , 7 .

41 CLEMENTE 1992, 4. Nach Lucien Dällenbach: Le récit speculaire. Essai sur la mise en abyme. Paris 1977, zitiert nach CLEMENTE 1992, 4, „est mise en abyme tout mirroir interne réfléchissant l'ensemble du récit par réduplication simple, répétée ou spécieuse (un fragment ceusé inclure l'œuvre qui l'inclut)." Ähnlich GRAFF 1987, 53, der mise en abyme definiert als „a miniature replica of a text embedded within that text; a textual part reduplicating, reflecting, or mirroring (one or more than one aspects of) the textual whole." 42

CLEMENTE 1 9 9 2 , 1 0 .

Einleitung

10

fassen derartig in die Rahmenhandlung eingebettete Erzählungen in der Erzählung schließlich als „Hypoerzählungen", die sich unter der Hand in übergreifende „Metaerzählungen" verwandeln können und die in dem Maße, wie ihre Selbständigkeit anwächst, auch einer „Selbstthematisierung des Erzählens" Vorschub leisten.43 Ob .spiegelnde Inversion', .Synekdoche', ,mise en abyme' oder die Verbindung von ,Hypo- und Meta-Erzählung', die narratologische Annäherung an die visuellen Kunstwerke der Literatur nimmt an diesen weniger das konkurrierende ,Andere' der Wortkunst wahr als vielmehr eine Erweiterung und schließlich auch Reflexion des .Eigenen'. Die Erzählung in der Erzählung wird als ein Fragment entdeckt, das paradoxerweise das Ganze des Werkes enthalten kann, von dem es doch zugleich eingeschlossen und begrenzt wird. Ekphrasis als Repräsentationstheorie Abschließend sei hier noch auf einen dritten Zugang zur Ekphrasis hingewiesen, der in jüngerer Zeit an Bedeutung gewinnt und Teile sowohl aus dem intermedialen wie aus dem narratologischen Ansatz aufnimmt, nämlich die Behandlung der Kunstbeschreibung als implizite Repräsentationstheorie des Textes. Als verbale Repräsentation einer visuellen Darstellung ist die Bildbeschreibung immer schon eine „Abbildung des Abgebildeten", eine „Beschreibung des schon Vorgeformten" oder auch eine „.Mimesis' in zweiter Potenz" und kann so, wie Gerhard Neumann formuliert, generell als eine „Kunst doppelter Vermittlung des Realen" angesehen werden.44 Besonders in den älteren Literaturen kommt oft sogar noch eine dritte Vermittlungsebene hinzu, da die im Text dargestellten Bildkunstwerke, wie gesehen, ihrerseits zumeist ikonographische Übersetzungen anderer poetischer Texte sind. Als eines der bekanntesten Beispiele können hier die „Eikones" des älteren Philostratos gelten, die eine ganze Galerie von mythologischen, also in verbalen Traditionen gründenden Bildern beschreiben und dabei auch explizit die Dichter benennen, deren Texte sie umsetzen. „Sieh", so heißt es gleich beim ersten Gemälde, das den Fluß Scamander aus der homerischen „Ilias" zeigt, „daß dies nach Homer gemalt ist" (l,lf.). 45 Das gemalte Bild ist hier „twice removed from reality the first time, through a dubious reference to a work of art (mostly a painting), whose existence cannot be ascertained, and the second time through an explicit reference to a literary text whose status remains legendary". Philostratos' Text beschreibt nicht, wie ein anderes, visuelles Kunstwerk Realität darstellt, sondern wie dieses die Art und Weise darstellt, wie ein drittes, wiederum poeti-

43

HAFERLAND/MECKLENBURG 1996, 16f.

44

NEUMANN 1 9 9 5 , 4 4 5 .

45

s . BLANCHARD 1 9 7 8 , 2 3 9 .

Ekphrasis - Positionen der Forschung

11

sches Kunstwerk Realität abbildet. In Anlehnung an Neumann kann man hier also von einer dreifachen Vermittlung des Realen durch die Ekphrasis reden. Diese Potenz „to incorporate the space of reference within the space of representation"46 macht die Kunstbeschreibung nun zu einem zentralen Paradigma für die Selbstreflexion ästhetischer Darstellungspraxis, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Konkurrenz verbaler und visueller Medien und ihrer Repräsentationsformen, sondern auch bezüglich der Differenz von Kunst und Natur. „By evoking an object rendered in visual art," so Mario Klarer, „ekphrasis implicitly differentiates between art and nature, i.e. it distinguishes between representation and non-representation. The intersection of competing media and classes of objects thus draws attention to the dichotomies of ,art' versus .nature' and ,word' versus ,image', which lie at the heart of representational theorizing."47 Als „hyper-conscious creation of art within art"48 hebt die Ekphrasis einerseits also die Gemachtheit ihrer Gegenstände, des beschriebenen Bildkunstwerks wie des beschreibenden Textes, ins Bewußtsein der Leser und lotet andererseits dabei die konkreten Grenzen zwischen Wort und Bild aus. Dadurch wird sie nicht nur als eine implizite Repräsentationstheorie des sie umgebenden Texts lesbar, sondern auch „as a quasi-archeological site preserving general representational concepts of the period."49 Vor allem im neuzeitlichen Realismus-Diskurs, aber auch in den älteren Literaturen läßt sich diese enge Verknüpfung von Bildbeschreibung und Darstellungstheorie als ein wesentliches Moment ekphrastischer Literatur beobachten. Mack Smith etwa hat an Texten vom „Don Quixote" über Tolstois „Anna Karenina" bis hin zu Pynchons „Gravity's Rainbow" gezeigt, daß es dort keineswegs darum geht, durch den Einbau von .realistisch' operierenden Bildnissen dem verbalen Kunstwerk einen gleichsam unverstellten Zugang zur Welt und zu den Dingen zu sichern - im Sinne etwa von Kriegers „natural sign". Vielmehr dient die Beschreibung von Kunstwerken immer wieder dazu, diese im Text von verschiedenen Personen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ansehen und interpretieren zu lassen, was zu widersprüchlichen Deutungen führt, an denen die Texte schließlich ihre eigenen Realismuskonzeptionen entwickeln.50 Aus dieser Perspektive wird dann auch deutlich, warum die Beschreibung von Kunstwerken in vielen poetischen Texten kaum den Effekt hat, dem Wortkunstwerk visuelle Qualitäten zu verleihen, sondern diese bisweilen geradezu ,undurchsichtig' macht. Matthias Völcker hat zurecht daraufhingewiesen, daß etwa der romantische Malerroman trotz seiner ausgiebigen Behandlung von

46

BLANCHARD 1 9 7 8 , 2 6 6 .

47 KLARER 1999a, 2 (Einleitung). Vgl. KLARER 2001 und BLANCHARD 1978,237. 48

CLEMENTE 1 9 9 2 , 5.

49

KLARER 1999a, 2 (Einleitung). Vgl. KLARER 2001.

50

SMITH 1 9 9 5 .

Einleitung

12

Bildkunstwerken „über weite Strecken geradezu unanschaulich" wirkt/ 1 und Gerhard Neumann hat an den Bildbeschreibungen C. F. Meyers gezeigt, daß diese eher als „poetischer Habitus der Maskierung und Verfremdung" funktionieren denn als ein Mittel zur verbalen Erzeugung visuell-räumlicher Präsenz.52 Ekphrasis wird in dieser Perspektive gerade nicht als ein .Fenster zum Realen' verstanden und nicht einmal vordringlich als Visualisierungsstrategie eingesetzt, sondern im Gegenteil, um noch einmal mit Neumann zu sprechen, als „Mittel der vielfach gebrochenen Wahrnehmung",53 als Multiplikator der Diskurse über Kunst und Repräsentation, an denen sich der literarische Text abarbeitet. Schon diese kurze Skizze der Haupttendenzen in der neueren EkphrasisForschung deutet die Vielzahl der Aspekte an, unter denen das Phänomen der Kunstbeschreibung Schlüsselfunktionen für das Textverständnis übernehmen kann. So weit die unterschiedlichen Zugänge der Forschung dabei im einzelnen auch voneinander abweichen, gemeinsam ist ihnen doch die Einsicht, daß die Kunstbeschreibung nicht bloß äußerliches Ornament eines Textes ist, sondern „daß die Ekphrasis die Zeigefähigkeit der Sprache aktiviert", daß sie Verbindungen herstellt und Bedeutungen setzt. „Im Zeigen", so Boehm, „konvergiert die bildgebende Leistung der Sprache mit der ursprünglichen Leistung des Bildes, hier läßt sich die Voraussetzung bestimmen, vermöge derer die Ekphrasen hoffen konnten, mit Worten das Bild zu treffen."54

51

VÖLCKER

52

NEUMANN

1996,28. 1995,445.

53

NEUMANN

1995,446.

54

BOEHM

1995,35.

II. gebildet und gebuochstabet: Kunstbeschreibungen im Mittelalter Fragt man nun nach dem Stellenwert der Ekphrasis in der mittelalterlichen Literatur, so erfahrt man darüber in den meisten neueren Darstellungen kaum etwas. Die einschlägigen jüngeren Arbeiten, die die Kunstbeschreibung wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt haben, beginnen in der Regel mit den antiken Klassikern Homer und Vergil, um von dort gleich in die Renaissance zu springen. Das Mittelalter kommt dagegen kaum vor, sondern erscheint einmal mehr als ein dunkles Zeitalter, in dem allenfalls noch Dante das Banner der Bildbeschreibung hochgehalten habe, ehe die Renaissance in ihrer Hinwendung zur Antike endlich auch diese poetische Technik wiederentdeckt habe. So verfährt beispielsweise Georges Kurman, in dessen ebenso knapper wie weit ausgreifender Studie zur Ekphrasis das Mittelalter fast ausschließlich von Dante repräsentiert wird. Dessen Bedeutung sieht Kurman darin, daß er die klassischen Ekphrasis-Traditionen wachgehalten und in den Mainstream der europäischen Literaturen überführt habe: „For centuries, Dante's Comedy was to stand alone as an instance of the employment of the topos of ecphrasis in a vernacular long poem which could be termed epic."55 Und noch in dem bereits erwähnten, 1995 erschienenen Sammelband „Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung" ist das Mittelalter stark unterrepräsentiert. Es scheint nicht recht klar, ob es in dieser Zeit überhaupt Ekphrasen gegeben habe. „Die Geschichte der Ekphrasis während des Mittelalters", so heißt es in der Einleitung, „ist unübersichtlich". Während sie sich im byzantinischen Raum auf der Grundlage der antiken Tradition fortgebildet habe, sei sie im Westen „unterbrochen" gewesen.56 Der einzige Beitrag in dem umfänglichen Band, der dem Mittelalter gewidmet ist, befaßt sich ausgerechnet mit der Beschreibung der Kirchenschätze durch Suger von St. Denis - also einem eher randständigen Phänomen der Ekphrasis - und drückt seine Ratlosigkeit mit dem Satz aus, im Mittelalter „habe der Impuls gefehlt, Augeneindrücke festzuhalten".57 Dem Fehlen des Mittelalters in jüngeren, historisch-systematischen Studien zur Ekphrasis steht indes eine Reihe von Einzelstudien gegenüber, die das Phänomen der mittelalterlichen Kunstbeschreibung während der letzten hundert Jahre aus verschiedenen Blickrichtungen behandelt haben. Angefangen mit Otto Söhrings umfassender Studie über „Werke bildender Kunst in altfranzösi-

53 KURMANN 1974, 10f., der aber zumindest die altnordische Literatur mit einem Seitenblick würdigt Auf Homer, Vergil und Dante als die zentralen Ekphrasis-Positionen Alteuropas beziehen sich auch DUBOIS 1982 und HEFFERNAN 1993; M i r a 1991 springt von Homer und Vergil zu Ariost, Tasso und Spenser. 56 BOEHM/PFOTENHAUER 1995,13 (Einleitung). 57 DIEMER 1995,177.

Einleitung

14

sehen Epen" 58 sind es vor allem Untersuchungen zu einzelnen thematischen Schwerpunkten wie der Architekturbeschreibung,59 der Darstellung plastischer Bildkunstwerke,60 der rhetorischen Poetik61 oder dem Fortleben antiker Gottheiten in mittelalterlicher Literatur,62 die das Phänomen der mittelalterlichen Ekphrasis thematisieren. Nach der Pionierarbeit von A. J. Kolve über die Bildlichkeit des Erzählens bei Chaucer,63 in der, soweit ich sehe, erstmals systematisch der wahrnehmungs- und erkenntnisleitenden Funktion von Ekphrasen und anderen Bildern in mittelalterlicher Literatur nachgegangen wird, wächst auch hinsichtlich der Kunstbeschreibung im Mittelalter das Interesse mit Beginn der neunziger Jahre an. In diesem Zusammenhang entstehen drei poetologisch ausgerichtete Monographien zur mittelalterlichen Ekphrasis, denen die vorliegende Studie vielfaltige Einsichten und Anregungen verdankt: Christine Ratkowitsch schließt mit ihrer bereits erwähnten Arbeit den bislang kaum bekannten Bereich der lateinischen Großepik des 12. Jahrhunderts für die Ekphrasis-Forschung auf und zeigt in einer äußerst akribischen Lektüre nicht nur die vielfältigen Zitate und Überschreibungen antiker Vor-Bilder auf, sondern demonstriert auch, wie eng die Ekphrasen jeweils mit den Deutungsangeboten der untersuchten Texte zusammenhängen.64 Linda M. demente geht in ihrer 1992 publizierten Dissertation mit dem Titel „Literary objet d'art ebenfalls davon aus, daß Bildbeschreibungen weit mehr sind als bloß ornamentale Schaustücke der Literatur und untersucht die Ekphrasen in der französischen Epik zwischen 1150 und 1210 vor allem unter dem Aspekt der mise en abyme. Auch mittelalterliche Bildbeschreibungen, so ihre These, lassen sich immer wieder als spiegelnde Reflexion der jeweiligen Rahmenhandlungen lesen.65 Anders als diese beiden narratologisch inspirierten Arbeiten zur hochmittelalterlichen Ekphrasis, die intermediale Aspekte nur ganz am Rande berühren und sich hauptsächlich der Relation von Bilderzählung und Rahmenerzählung widmen, stellt Mary Carruthers in ihrer 1998 erschienenen Studie zur ,monastischen Ekphrasis' des frühen Mittelalters unter dem Titel „The Craft of Thought" die kognitiven Funktionen räumlich-visueller Bild- und Architekturbeschreibungen in den Mittelpunkt. Sie beschreibt das sprachlich generierte, mentale Bild als ein grundlegendes Instrument des Denkens im Rahmen der frühmittelalterlichen Klosterkultur, die das Erbe der antiken ars memorativa 58

SÖHRING 1 9 0 0 .

59

TRIER 1 9 2 9 , LICHTENBERG 1 9 3 1 , GOEBEL 1 9 7 1 , HAUG 1 9 7 7 .

60

HOCK 1 9 5 8 .

61

FARAL 1 9 1 3 UND 1 9 2 4 , BRINKMANN 1 9 2 3 , FECHTER 1 9 6 3 .

62 FREY-SALLMANN 1931, die dabei allerdings auch die Ekphrasis-Tradition in ihrer ganzen Breite reflektiert 63

KOLVE 1 9 8 4 .

64

RATKOWITSCH 1 9 9 1 .

65

CLEMENTE 1 9 9 2 .

Kunstbeschreibungen im Mittelalter

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ihren eigenen Bedürfnissen angepaßt und aus der topographischen Gedächtniskunst eine Imaginations- und Lektüretechnik gemacht habe.66 Neben diesen größeren Untersuchungen zur Ekphrasis im Mittelalter gibt es eine Vielzahl von Studien, die sich einzelnen Beschreibungen visueller Kunstwerke in mittelalterlicher Literatur gewidmet haben, ohne das Phänomen jedoch systematisch zu behandeln.67 Die beliebtesten Beispiele aus der höfischen Epik sind wohl Erees bebilderter Krönungsmantel bei Chrétien der Troyes,68 Enites wunderbares Pferd bei Hartmann von Aue,69 die Grabmalbeschreibungen in den volkssprachigen Eneasromanen,70 Helmbrechts Haube71, die Wandbilder, mit denen Lancelot seine Gefängniszelle ausmalt,72 oder der Troja-Pokal und das Scheingrab der Blanscheflur bei Konrad Fleck.73 Schon dieser kurze Überblick zeigt, daß auch die volkssprachige Literatur des hohen Mittelalters voller faszinierender Kunstbeschreibungen ist, und es ist ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Arbeit, dieses Phänomen aus einer die Einzeltexte übergreifenden Perspektive zu behandeln und mit den neueren Theorie-Ansätzen der Ekphrasis-Forschung, aber auch der jüngeren mediävistischen Visualitätsforschung zu verbinden.74 Es wird zu zeigen sein, daß es ebenso wie in der Antike auch im Mittelalter eine poetische Praxis der Bildbeschreibung gibt, die im Rahmen der Rhetorik kaum reflektiert wird, sondern sich, „von der Poetik unbewacht, einfach topisch fortgeerbt zu haben" scheint.75 „Obwohl in den Poetiken des Hochmittelalters die Anweisungen für die Abfassung von Beschreibungen fast ausschließlich auf Äußeres beschränkt bleiben", so hat Ratkowitsch diesen Tatbestand unlängst für die lateinische Epik des 12. Jahrhunderts zusammengefaßt, „dient die descriptio von Kunst-

66 CARRUTHERS 1998. Vgl. CARRUTHERS 1990.

67 In einigen Aufsätzen werden auch weitere Zusammenhänge erörtert, s. etwa HAUO 1977, WANDHOFF 1996b, RIDDER 1997 sowie die verschiedenen Beiträge in HAFERLÄND/MECKLENBURO 1996.

68 S. schon BEZZOLA 1947 und zuletzt HAUPT 1999 (mit Nachweis der älteren Literatur). 69 TAX 1963, REINTTZER 1976, HAUO 1977, HAUPT 1989, HAAOE 1993 und 1998. 70 SCHIEB 1965, VÖOEL 1998.

71 Zuletzt BRACKERT 1974 und KLARER 1999b (mit der älteren Literatur). S. auch FECHTER 1964,64£T., der die Haubenbeschreibung in den Kontext antiker Ekphrasis-Tradition stellt 72 WENZEL 1995,302ff.; WANDHOFF 1996b, RIDDER 1997, RUBERÒ 1998. 73 BELKIN 1971, KASTEN 1996, RIDDER 1997.

74 Einen guten Oberblick Ober die mediävistische Visualitätsforschung gibt WENZEL 1999. Vgl. WENZEL 1995, WANDHOFF 1996a sowie jetzt auch BUMKE 2001. 75 GOEBEL 1971, 11 A. 11. Vgl. HAFERLAND/MECKLENBURO 1996, 12f. Vgl. 9. Gerade die Sub-

sumiening der literarischen Bildbeschreibung unter die rhetorische ekphrasis hat immer wieder dazu geführt, in ihr lediglich ein Ornament zu sehen, ein bloßes Schau-Stück zum Nachweis rhetorischer Fähigkeiten oder allenfalls ein retardierendes Moment zur Erhöhung der Spannung. Vgl. BALDWIN 1928. Kritisch dazu FOWLER 1991, GRAF 1995.

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werken nicht bloß der stilistischen Ausschmückung, sondern ist in die jeweilige Gesamtaussage integriert."76 Besonderheiten der mittelalterlichen Kunstbeschreibung Die regelrechte Explosion der Ekphrasis-Forschung in den letzten Jahren hat nun oft dazu geführt, daß die Prämissen postmoderner Theoriebildung unbesehen auf Texte älterer Epochen übertragen wurden. Gerade weil die Kunstbeschreibung ein so universelles Phänomen ist, bietet es sich an, die Literaturgeschichte als einen Motivfundus zu betrachten, wobei jedoch die Gefahr besteht, daß die kulturellen Rahmenbedingungen der einzelnen Texte zu wenig historisch spezifiziert werden. Sei es als zeitlos gültiges „ekphrastic principle" der Literatur oder als das paragonale Zusammentreffen der verbalen Kunst mit ihrer visuellen .Schwesterkunst' - die Ekphrasis wird in der aktuellen Diskussion immer wieder als eine transkulturell gültige Reflexionszone der Literatur gesehen. Aber gerade weil die Grenzen zwischen Wort und Bild, Hören und Sehen, Kunst und Natur zu allen Zeiten ein bevorzugter Gegenstand der literarischen Reflexion waren und sind, diese Grenzen aber epochenspezifisch auch sehr unterschiedlich verlaufen können, wird man die Ekphrasis doch stärker in ihrem spezifischen, historisch-kulturellen Rahmen betrachten müssen. Die Ekphrasis, so hat Klarer programmatisch formuliert, „as a seemingly postmodern word-and-image hybrid, therefore, needs to be wrenched away from the conceptual frameworks of late twentieth-century theorizing and examined, instead, as a vehicle through which we can reconstruct dominant concepts of representation in specific cultures and historical periods."77 Für das Mittelalter wären aus dieser Perspektive einige topoi der neueren Intermedialitätsforschung kritisch zu überprüfen. Insbesondere die stark betonten Gegensätze von Bild und Schrift, Sehen und Hören, Raum und Zeit sind nicht ohne weiteres auf die Vormoderne zu übertragen. Bereits die oben angesprochene Textverbundenheit der antiken und mittelalterlichen Bilder, ihre unlösbare Fixierung auf die kulturellen Texte ihrer Epoche, macht immittelbar einsichtig, daß etwa eine kategoriale Unterscheidung von ,Raumkunst' und ,Zeitkunst' hier gar nicht durchzuhalten ist. Die Bildkunstwerke des Mittelalters lassen sich eben nicht auf den von Lessing beschworenen „fruchtbaren Augenblick" reduzieren, sondern sind oftmals selbst schon narrativ organisiert.78 Linear erzählende Bilderfolgen finden sich in fast allen alten Kulturen an zentralen Stätten des Ritus und dienen in der Regel zur öffentlichen Vergegenwärtigung verbindlicher , Geschichtsüberlieferung' - man denke nur an die Cheopspyramide in Ägypten, die Trajansäule in Rom oder die typologischen

76 RATKOWrrscH 1991, 355.

77 Klaher 1999a, 2 (Einleitung). 78 Vgl. dazu KUCHENBUCH 1992, der allerdings auf das Mittelalter nicht eingeht

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Bilderreihen christlicher Kirchen. Diese Bilderfolgen müssen abgeschritten werden, oft im Vollzug eines Ritus, und ihre Einzelbilder geben sie dem Betrachter nur sukzessive preis. „Neben der Dimension des Raumes", so Horst Wenzel, „ist im Unterschied zu Lessings Bildauffassung für die mittelalterliche Bildwahrnehmung somit auch die Dimension der Zeit konstitutiv."79 Der Bildlichkeit mittelalterlicher Literatur entspricht eine allgegenwärtige Narrativik der Bilder, und die , Verräumlichung' der Literatur durch die Ekphrasis hat immer schon eine Entsprechung in der ,Verzeitlichung' der visuellen Kunst durch ihre Narrativität.80 Hinzu kommt, daß auch eine kategoriale Unterscheidung von Schrift und Bild, wie sie für die neuere Ekphrasis-Forschung zentral ist, für das Mittelalter kaum in Anschlag gebracht werden kann, da hier die Techniken des Malens und Schreibens noch nicht grundsätzlich unterschieden werden. So ist das griechische Verb graphein wie das lateinische scribere mehrdeutig: beide Begriffe können ein Malen, Zeichnen oder Einritzen ebenso meinen wie ein Schreiben von Buchstaben. Die Techniken des Schreibens, Malens, Gravierens etc. gründen letztendlich alle in der gleichen handwerklichen Tätigkeit, die dazu dient, eine Überlieferung vor dem Vergessen zu bewahren, und in dieser Hinsicht sind sie eng miteinander verwandt. Wenzel hat dies an vielen Beispielen gezeigt: „Sehrtben und mâlen, schrift und gemeld stehen in mittelalterli-

chen Texten für zwei verschiedene Tätigkeits- und Sachvorstellungen, die bei aller Eigenständigkeit nicht vollständig gegeneinander ausdifferenziert sind."81 Die für das Mittelalter charakteristische wechselseitige Durchlässigkeit von skriptographischen und ikonographischen Zeichen ist nun gerade im Hinblick auf die Ekphrasis ein eminentes Problem, da wir uns hier auf bloße Worte verlassen müssen, um zu entscheiden, ob wir etwa ein gemaltes Bild oder eine kunstvoll gestaltete Inschrift oder sogar eine Kombination aus beidem vor unserem .inneren Auge' haben. Schon das .sprechende Tuch' der Philomela, ein in der Ekphrasis-Debatte gern herangezogenes Beispiel aus Ovids „Metamorphosen", das im Mittelalter vielfach bearbeitet worden ist, gibt nicht eindeutig zu erkennen, welcher Art die purpurroten Zeichen sind, mit denen die ihrer Zunge beraubte Philomela die Geschichte ihrer Schändimg in ein weißes Tuch webt. Der Begriff notas (ν. 577) läßt offen, ob es sich um Bilder oder Buchstaben handelt. Auch wenn Philomelas Schwester Procne diese Zeichen auf dem Tuch später, liest' (legit; v. 582), ist damit immer noch nicht sicher gesagt, daß es sich um Schriftzeichen handelt, da auch der Begriff legere in der Antike mehrdeutig war.82

79

WENZEL 1999b, 550.

80 Beispielhafte Analysen zu diesem Themenbereich finden sich bei WENZEL/LECHTERMANN 2002. 81

WENZEL 1 9 9 5 , 2 9 2 , mit weiteren Beispielen (292ff.).

82 HEFFERNAN 1993,47; VON ALBRECHT übersetzt in seiner Ausgabe „Buchstaben".

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Im Mittelalter verhält es sich nicht anders. Im altenglischen „Beowulf' ist von einem kostbaren alten Schwert die Rede, auf dessen Knauf nicht nur mit Runen der Name desjenigen eingeritzt ist, für den die Waffe ursprünglich geschaffen wurde (v. 1694ff), sondern auf dem auch eine ganze Kosmogonie eingraviert ist: On thœm wœs or writen /jyrngewinnes (v. 1688Í). Auch das altenglische Verb writan läßt die konkrete Form des Eingravierten offen; es meint in diesem Fall, wie der Herausgeber vermerkt, „either a graphic illustration (which seems, on the whole, probable) or a runic inscription".83 Hinzu kommt, daß den Gegenständen der mittelalterlichen Ekphrasis auch dann, wenn es sich explizit um Buchstaben handelt, zumeist eine besondere Ikonizität eignet. Schon aufgrund der kostbaren Materialien, mit denen eine Inschrift nach Auskunft der Texte geformt ist - in der Regel handelt es sich um Gold oder Edelsteine - , bietet diese einen für den Gesichtssinn äußerst auffalligen und nicht selten auch plastisch vorzustellenden, taktil zu imaginierenden Gegenstand. Wenn der Held etwa im „Wilhelm von Österreich" eine Cupido-Figur auf Rüstung und Helm trägt, die durch eine Inschrift aus Edelsteinen gekennzeichnet ist, dann verschwimmen nicht nur die Grenzen von Körper und Kunst, Natur und Kultur, sondern auch die von Bild und Schrift. Die kostbaren Steine sind nämlich in einen aus Gold geflochtenen Kranz eingelassen, den die Kunst-Figur auf der Rüstung des Ritters ihrerseits auf dem Kopf trägt: sehs edel stain riche gefìhlt warn und ergraben maisterlich zu buochstaben, die lagen in dem schapellin. (v. 3948ff.)

Es handelt sich, wie man schließlich erfährt, um die Buchstaben C, U, P, I, D, O, die zuerst einzeln vorgestellt werden, bevor der Text sie zu einer phonetischen Einheit zusammenliest: ditz wort spricht Cupido (ν. 3974). Die Erscheinung des Ritters Wilhelm kann folglich als eine intermediale Hybridbildung gesehen werden, in der der Körper als Schauplatz eines Zusammenspiels von Buchstaben und Bildern fungiert, in der aber auch die Inschrift selbst zum 83 KLAEBER, Kommentar zur „Beowulf'-Ausgabe, 189. Was hier die Variante des Bildes sogar wahrscheinlicher macht, ist der Sachverhalt, daß in demselben Zusammenhang - und offenbar in Abgrenzung zum Code der Kosmogonie - der Name des Schwertbesitzers ausdrücklich durch eine Runeninschrift kenntlich gemacht wird. Beides zusammen, Runeninschrift neben Bildillustration, ist archäologisch in dieser Zeit gut belegt Ähnlich weit gefaBt wird der Begriff des Schreibens noch in „Salman und M o r o l f w o Affer, die Schwester des Königs Fore, den gefangenen Salman in eine Kemenate führt, von der es heißt: da uro vil wunders irme geschriben (Str. 463, 4). Damit ist jedoch auch hier keineswegs gesagt, daß der Raum ausschließlich mit Wandinschriften gefüllt sei, wie HENKEL 1992, 177, meint, sondern es kann sich ebenso gut um Wandbilder handeln oder - was wiederum am wahrscheinlichsten ist - um eine Kombination aus beidem.

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Bildkunstwerk wird, da jeder Buchstabe Züge einer visuell-taktil vorzustellenden Skulptur annimmt.84 Vor diesem Hintergrund ist es für das Mittelalter gar nicht durchführbar, den Ekphrasis-Begriff auf die verbale Darstellung von Bildern zu beschränken und die Beschreibung visueller Schriftzeichen kategorisch auszuschließen, wie es beispielsweise Heffeman fordert, um einer vermeintlich zeitlos gültigen Konkurrenz von Wort und Bild nachzugehen.85 Es wird sich vielmehr zeigen, daß die mittelalterlichen Kunstbeschreibungen äußerst .schrifthaltig' sind, daß häufig Tituli, Beischriften oder sogar längere Texte in Bilder eingelassen sind. Daher scheint es zwingend geboten, den Begriff der Ekphrasis auch für Buchstaben - und das heißt besonders: für alle Formen der Inskription - offen zu halten.86 Kennzeichnend für die mittelalterliche Kunstbeschreibung ist gerade auch in diesem Punkt ein Oszillieren zwischen Wort, Bild und Schrift, das eine ontologische Unterscheidbarkeit von ikonographischen und skriptographischen Medien und Kunstformen einerseits dementiert, das andererseits aber dort, wo Buchstaben und Bilder im Rahmen einer Ekphrasis explizit unterschieden werden, aufschlußreiche Zuweisungen medialen Fungierens erkennbar werden läßt. Diese vermeintliche Alterität der mittelalterlichen Text-Bild-Beziehungen läßt sich nun aus einer anderen Perspektive ebenso als eine verblüffende Modernität auffassen, dann nämlich, wenn man sie mit der multimedialen, im Kern audiovisuellen Struktur unserer gegenwärtigen Kommunikationslandschaft vergleicht. Vor allem die Weiterentwicklung von Fragestellungen aus dem Bereich der Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Forschimg, verbunden mit älteren Forschungstraditionen zur Text-Bild-Problematik, hat in den letzten Jahren dazu geführt, daß die mittelalterliche Kultur als eine körpergebundene Memorialkultur wahrgenommen wird, in der verschiedene Medien und Körpertechniken bei der Arbeit am kulturellen Gedächtnis zusammenwirken, ohne daß sich ein eindeutiges Leitmedium bestimmen ließe. Geschriebene Texte werden vokalisiert und von Miniaturen begleitet, gemalte oder gewebte Bilder sind von Schriftzügen durchsetzt und auf orale Erläuterungen angewiesen, das gesprochene Wort bezieht sich seinerseits auf gesehene Bilder und gehörte oder gelesene Schriften. Dieser multimediale Charakter der mittelalterlichen Kommunikationslandschaft, die Ähnlichkeit ihrer intermedialen Formationen 84 Zur Ikonizität von Inschriften im Blickfeld der Ekphrasis vgl. HEFFERNAN 1993, der auch die Schriftzeichen auf dem Tuch der Philomela in ihrer eindrucksvollen visuellen Gestalt als ein ikonisch wirkendes Bild beschreibt: „even if the purple marks woven by Philomela are letters, the stark contrast between purple and white graphically expresses the bloody violation of her innocence" (47). 85 HEFFERNAN 1993, 3. Diese Konstruktion eines paragonalen Verhältnisses von Schrift und Bild legt er dahingehend aus, daß im Wettstreit der Künste stets der (.männliche') Text das (.weibliche') Bild .unterdrücke'. 86 S. zu den literarischen Inschriften HENKEL 1992 und ERNST 1998.

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mit den heutigen Bildschirmmedien, hat Medientheoretiker schon früh dazu bewegt, Parallelen zu unserer gegenwärtigen Mediengesellschaft herzustellen. Pionierhaft hat Marshall McLuhan an zahlreichen Beispielen aus Antike und Mittelalter plausibel gemacht, daß die auf die Sinne zielenden Medien am Ende des Gutenberg-Zeitalters die .ursprünglichen', multisensorischen Wahrnehmungs- und Kommunikationsweisen vor dem Buchdruck gewissermaßen wiederherstellen.87 Vilém Flusser hat diesen Gedanken aufgenommen und die Verdrängung der linearen Codes typographischer Medien durch multimedial vermittelte „Technobilder" gar auf den Begriff der „Mediävalität" gegenwärtiger Kommunikationsstrukturen gebracht. Auch er sieht in der aktuellen Kommunikationsrevolution die Rückkehr „zu einer ursprünglichen Situation, welche durch den Buchdruck und die allgemeine Alphabetisierung unterbrochen wurde. Wir sind dabei, zu einem Normalzustand zurückzukehren, welcher nur 400 Jahre lang durch den Ausnahmezustand, genannt,Neuzeit', unterbrochen war."88 Was einer solchen Vergleichbarkeit zwischen ekphrastisch evozierten Vorstellungsbildern und durch Projektionsmedien erzeugten Technobildern im Sinne einer Frage nach der „Audiovisualität vor und nach Gutenberg"89 indes entgegenzustehen scheint, ist die Differenz von ,innerem' und ,äußerem' Sehen. Während die Projektionsmedien Bilder in einem Außenraum erzeugen, die wir mit unseren .äußeren' Augen aufnehmen, erzeugt das Imaginationsmedium Literatur Bilder in einem Innenraum, die wir mit unseren .inneren' Augen wahrnehmen können. evidentia und imaginatio: Der rhetorische Ekphrasis-Begriff und die mittelalterliche Vorstellung vom ,inneren Sehen' Daß die Funktionsweise der Kunstbeschreibung auf einem, inneren Sehen' basiert, bildet nun den Punkt, an dem sich die moderne, poetologische und die antike, rhetorische Bedeutung des Ekphrasis-Begriffs wieder zusammenführen lassen. Der griechische Begriff ekphrasis entstammt ursprünglich der Fachsprache der antiken Rhetorik und leitet sich von dem Veib ekphrazein ab, welches wiederum eine Weiterbildung von phrazein ist, das etwa .zeigen, bekannt machen, deutlich machen' bedeutet. Mit dem Präfix ek- ergibt sich daraus, so Fritz Graf, „ein Tun, das ohne Rest an sein Ziel gelangt. Eine ekphrasis ist mithin ein ,völlig und restlos deutlich Machen'".90 In diesem Sinne gehört ekphrasis zu den Progymnasmata der griechischen Kaiserzeit, sie stellt eine Art von Übung dar, mit der angehende Rhetoren auf ihre Tätigkeit vorbereitet wurden. Praktisch wird darunter jede Art der ausführlichen, detailreichen Be87 MCLUHAN 1962. 88 FLUSSER 1998,53. 89 WENZEL/SEIPBL/WUNBERO2001. 90 GRAF 1995,143. Vgl. KLARER 2001,2ff.

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Schreibung gefaßt; der entsprechende Terminus der lateinischen Rhetorik ist in der Antike wie im Mittelalter descriptio.91 In den griechischen Rhetorikhandbüchern wird ekphrasis immer wieder im Zusammenhang mit der Erzeugung von enargeia erwähnt, was sich etwa mit .Anschaulichkeit und Deutlichkeit' übersetzen läßt. Daran wird deutlich, daß die ekphrasis weniger auf eine bestimmte Art von Objekten festgelegt ist, als vielmehr auf eine bestimmte Technik der Darstellung, die den Hörer durch besondere Veranschaulichimg, durch ein Vor-Augen-Führen beeindrucken soll.92 In dieser Definition von ekphrasis sind sich die griechischen Rhetoren einig; „all define it as: a speech which leads one around (periegematikos), bringing the subject matter vividly (enargos) before the eyes."93 Das Ideal der enargeia bzw. - wie Cicero ins Lateinische übersetzt - der evidentia zielt im Kern also auf die Augenwahrnehmung der Hörer ab. Die ekphrasis wird damit als eine rhetorische Visualisierungsstrategie kenntlich, die das Mitgeteilte einem Hörer anschaulich vor Augen führen und ihn gewissermaßen zum Zuschauer machen soll.94 ,ßnargeia ist mithin die Eigenschaft der Rede, Vergangenes - oder allgemeiner: nicht Gegenwärtiges - innerlich präsent zu machen und dabei scheinbar den Wortcharakter des Textes aufzuheben: das eben meint die Formel ,aus Zuhörern Zuschauer machen': an die Stelle der äußeren tritt die innere Schau",95 so Graf, der daraufhinweist, daß dieser rhetorische ekphrasis-BcgnS gewissermaßen quer zur poetischen Praxis der Bildbeschreibung steht. „In dieser ganzen antiken Rhetoriktradition wird also Ekphrasis außerordentlich weit gefaßt: es ist jede Beschreibung. Bildbeschreibung ist keine Sonderkategorie, ja sie kommt als Möglichkeit der Ekphrasis in der Kategorisierung schon gar nicht vor."96 Hat die Bildbeschreibung also keinen festen Platz in der rhetorischen Theorie der Antike, so spielt sie doch in der literarischen Praxis seit frühesten Zeiten eine wichtige Rolle. Sie stellt einen Sonderfall der Beschreibung dar, wie Goebel zutreffend formuliert, „den 91 GRAF 1995, 143. 92 Nach WEBB 1999, 1 Iff., stellt die beschreibende ekphrasis daher auch keinen Gegensatz zur handlungsorientierten narratio dar - wie dies in der modernen Literaturwissenschaft vielfach gesehen wird. Entscheidend sind nicht die Gegenstände, sondern die Qualität der enargeia, und so kann ekphrasis auch die .anschauliche' Darstellung von Handlungen sein: „an ekphrasis in sum is a vivid form of narration" (13). 93 WEBB 1999, 11. 94 GRAF 199S, 144f. Auch in den anderen lateinischen Obersetzungsversuchen wie perspicuitas oder inlustratio steht der visuelle Aspekt im Mittelpunkt S. „Rhetorica ad Herennium" II, 49; IV, 68; IV, 69, und vgl. BECKER 1995,24ff. 95 GRAf 1995,145f. 96 GRAF 1995, 145. Nach BECKER 1995, 2 A. 1, wird die Bildbeschreibung als Gegenstand von ekphrasis zum erstenmal im 5. Jahrhundert explizit in den Progymnasmata erwähnt Vgl. GOEBEL 1971, I l A. 11. WEBB 1999, lOf., dagegen sieht überhaupt keine antiken oder spätantiken Belege für den rhetorischen Gebrauch des Terms im Sinn von ,Kunstbeschreibung', sondern datiert die Umdefinierung des Ekphrasis-Begriffs ins 20. Jahrhundert

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die Dichtung seit Homer praktizierte, den aber die Schulrhetorik und Poetik spät (und selten) zur Kenntnis nahm".97 Im Hinblick auf die Funktionen innerhalb eines literarischen Textgefüges sind die Unterschiede zwischen einer beliebigen, bloß veranschaulichenden ekphrasis bzw. descriptio und der Beschreibung eines Bildkunstwerks, das seinerseits etwas abbildet, jedoch beträchtlich. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß sich die Praxis der poetischen Ekphrasis gerade deshalb so nachhaltig in der Literatur von Homer zur Gegenwart festsetzt, weil sie sich besonders dazu eignet, die Aussagen literarischer Texte zu verdeutlichen. In dieser Funktion, nämlich „Brennpunkte der Deutung" bereitzustellen, sieht Graf einen Hauptgrund fur die „Privilegierung gerade der Ekphrasis von Kunstwerken" in der antiken Literatur.98 Das Faszinosum dieser Sonderform der Beschreibung kann im weitesten Sinn darin gesehen werden, daß sich der technisch-aQektive Aspekt der Visualisierung mit einem inhaltlich-poetologischen Aspekt der Ekphrasis verbindet, durch den räumlich markierte Zonen des Verweilens und der Meditation in poetische Texte eingebaut werden, die zur Reflexion über Sinn und Bedeutung des Wortkunstwerks aufgesucht werden können und sollen. Zwar gehen auch die griechischen Rhetoren auf dieses Phänomen - und insbesondere auf die Beschreibung des Achilles-Schildes bei Homer - gelegentlich ein, doch sehen sie darin keinen gesondert zu behandelnden Fall oder gar einen Widerspruch zu ihrer Theorie der ekphrasis. Denn ihnen geht es in erster Linie um Darstellungsverfahren, und dabei macht es keinen Unterschied, ob man eine Frau oder ein Bild von einer Frau beschreibt. Entscheidend ist die Erzeugung von Anschaulichkeit und die Stimulation visueller Wahrnehmung; die Gegenstände, die dazu benutzt werden, sind sekundär. Noch in der Spätantike, als die Bildbeschreibung mit den „Eikones" des älteren Philostratos als eine eigene literarische Gattung Formen anzunehmen scheint, bleibt der Ekphrasis-Begriff (mit dem der jüngere Philostratos das Werk seines Großvaters beschreibt), wie jüngst Graf und Webb übereinstimmend festgestellt haben, auf seine rhetorische Herkunft bezogen. Die Gemäldebeschreibungen des Rhetors Philostratos werden von diesem selbst als eine Sammlung von Mustertexten für seine Schüler verstanden, in denen es nicht um die konkreten Inhalte der Bilder, sondern vielmehr um die Technik des Vor-Augen-Stellens gehe. Die Verselbständigung von Bildbeschreibungen und ihre Verfestigung zu einer eigenen Textgattung scheint nur möglich zu sein, „weil der Verfasser sie als rhetorische Übungen tarnt."99

97

G O E B E L 1 9 7 1 , 1 1 . V g l . FRIEDLANDER 1 9 1 2 , 8 5 .

98 GRAT 1995,151. 99 GRAF 1995, 153. Vgl. WEBB 1999, 14ff. „Even when speakers are evoking works that, as far as we can tell, really existed, it is above all the subject-matter contained in the frame that they seek to .bring before the eyes'" (14).

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Die rhetorische ekphrasis als breit gefacherte Visualisierungsstrategie auf der einen und die literarische Ekphrasis von Kunstwerken auf der anderen Seite sind also als zwei unterschiedliche Phänomenbereiche methodisch zunächst auseinanderzuhalten.100 Dabei scheint es mir sinnvoll zu sein, auch für die mittelalterliche Kunstbeschreibung den modernen Ekphrasis-Begriff zu verwenden, obwohl er in der zeitgenössischen rhetorischen Theorie so nicht benutzt worden ist. Zu fassen ist mit dem Terminus nämlich ein spezifisch literarisches, von der Rhetorik kaum reflektiertes Verfahren der mittelalterlichen Dichtung, das sich durch den bereits eingeführten und international verständlichen Schlüsselbegriff der Ekphrasis zudem an die Kunstbeschreibungen anderer Epochen anschließen läßt. Im Zeitalter der elektronischen Suchmaschinen hat ein solcher Terminus überdies den Vorteil, daß er ein breites interdisziplinäres Forschungsinteresse zu bündeln und nicht zuletzt einen dringend nötigen transatlantischen Wissenschaftsdialog zu aktivieren vermag.101 Angesichts dieser Vorzüge kann eine gewisse historische Unschärfe des Ekphrasis-Begriffs, wie sie von Kritikern nicht zu Unrecht bemängelt worden ist,102 durchaus in Kauf genommen werden. Und doch darf der gemeinsame Ursprung von rhetorischer ekphrasis und poetischer Kunstbeschreibimg nicht aus dem Blick verloren werden, der vor allem in der verbalen Adressierung des,inneren Auges' liegt. „An ekphrasis", so Webb, „appeals to the mind's eye of the listener, making him or her ,see' the subject-matter, whatever it may be."103 Daß ein solches .inneres Sehen', das in Analogie zum ,äußeren Sehen' gedacht wird, nicht nur möglich ist, sondern eine grundlegende Voraussetzung für jede Art des Denkens bildet, war in der Antike ebenso unstrittig wie im Mittelalter. Im Anschluß an Cicero, Quintilian und die „Rhetorica ad Herennium" wird der Vorstellung einer rhetorisch zu erzeugenden Verwandlung von Zuhörern in Augenzeugen gerade im Mittelalter breiter Raum zugebilligt, und die visuellen descriptiones mittelalterlicher Texte scheinen sogar ihre antiken Vorbilder in den Schatten zu stellen.104

100 Zur besseren Unterscheidung werde ich die rhetorische ekphrasis - im Sinne von descriptio und evidentia - kursiv und die poetische Ekphrasis - im Sinne von Kunstbeschreibung - recte setzen. 101 S. dazu die stimulierenden Ausführungen von WAONER 1996 (Einleitung). 102 S. neben WEBB 1999 auch die Einwände, die MACDONALD 1993 gegen die Studie von KRIEGER 1992 anführt. WEBB schlägt vor, auf den Begriff der Ekphrasis im Sinne der Bildbeschreibung zugunsten des Vor-Augen-Stellens zu verzichten und „to invent a range of new terms, like Peter Wagner's .intermediality', to correspond to the range of connotations currently attached to .ekphrasis'." (17) 103 WEBB 1999, l l f . 104 BRINKMANN 1923 hat darin geradezu das Wesen des „mittelalterlichen Stils" gesehen. Vgl. auch WANDHOFF 1996a, 162ff. und 169ff., sowie zur descriptio als Schlüsselkategorie mittelalterlicher Bearbeitung (nicht nur) antiker Texte KELLY 1999.

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Neben den rhetorischen Konzepten der visuellen Imagination, die auf einer eher empirischen, nicht-platonischen Psychologie basieren,105 kommt in der mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie aber auch den platonischen Denktraditionen bezüglich des,inneren Sehens' eine große Bedeutung zu. Der ,inneren Schau' wird vor allem deshalb eine gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil, weil in ihr ein bevorzugter ,Kanal' der Gotteserkenntnis vermutet wird, dem gegenüber die äußeren Sinne - vor allem bei den Mystikern - an Bedeutung verlieren. Paradigmatisch ausgearbeitet findet sich diese Vorstellung bereits bei Augustinus, der „die sinnliche Wahrnehmung des Menschen und die Geistestätigkeit in einem Analogieverhältnis zueinander" sieht und infolgedessen äußere Sinne (sensus exteriores) und innere Sinne (sensus interiores) begrifflich unterscheidet.106 Seit dem Frühmittelalter differenziert man das Geistesvermögen des Menschen grundlegend in imaginatio, ratio und memoria, eine Gliederung, die schon in der aristotelischen Seelenlehre angelegt war,107 wobei die virtutes des Geistes den verschiedenen Ventrikeln des Gehirns zugeordnet werden, wie sie aus der physiologischen Theorie Galens bekannt waren. So wird ihnen ein genau zu lokalisierender Ort in der Hirntopographie zugewiesen: vorn die Kammer der imaginatio, in der Mitte die der ratio und im hinteren Teil des Gehirns schließlich die Kammer der memoria.108 Daraus erwächst ein Standardmodell der Kognition, das - mit geringen Variationen - bis in die irühe Neuzeit in Geltung steht und dessen Operationen Bumke wie folgt zusammenfaßt: „Was das Auge gesehen hat, wird von der imaginatio zu einem Bild geformt, und dieses Bild wird an die memoria weitergegeben. Die memoria vergleicht das Bild mit anderen Bildern, die sie bewahrt, und identifiziert das Bild mit einem ihr schon bekannten. So begreift der Mensch, wen oder was er gesehen hat. Dieses Begreifen setzt eine Tätigkeit der ratio in Gang: Ein Nachdenken über das Gesehene."109 Für unsere Frage nach dem Status des ,inneren Sehens' scheinen mir an diesem Kognitionsmodell zwei Aspekte zentral zu sein. Zum einen wird der Geist als ein Prozessor angesehen, der auf Sinnesdaten beruht und mit Sinnesdaten operiert, wobei das Hören und Fühlen, Schmecken und Riechen dem Se-

105 BUNDY 1923, 107. 106 Vgl. zum folgenden die Skizze bei BUMKE 2001, 35ff., Zitat 35, der auch auf eine Vielzahl einschlägiger Spezialstudien zum Thema verweist. „Vor Augustinus scheint der Begriff der .inneren Sinne' nicht bezeugt zu sein", so BUMKE (35), wohl aber, wie dargelegt, eine deutliche Vorstellung vom .inneren Sehen*. 107 BUNDY 1927, 179. Vgl. KLARER 1999b sowie CAMILLE 2000, der ein auf Avicenna zurückgehendes, f&nfgliedriges Hirnkammernmodell diskutiert S. dazu jetzt auch LECHTERMANN 2003,34ff. 108 Vgl. BUNDY 1927,179f. 109 BUMKE 2001, 36f., mit Beispielen aus der mittelalterlichen Psychologie und dem Hinweis, daß Augustinus den Terminus imaginatio gegenüber dem antiken Term phantasia durchgesetzt habe.

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hen gleichberechtigt zur Seite tritt. Zum andern wird die im vorderen Teil des Hirns lokalisierte imaginatio - gelegentlich auch als phantasia oder sensus communis bezeichnet - dafür verantwortlich gemacht, daß die über die äußeren Sinne erfaßten, multisensorischen Eindrücke im Inneren des Menschen überhaupt repräsentieibar sind, ja, daß sie erst dort zu konsistenten Bildern synthetisiert werden, die vom , inneren Auge' zu betrachten sind.110 Die imaginatio gilt als die eigentliche,„bildschaffende' Fähigkeit des Menschen", die aus der Vielzahl von unzusammenhängenden äußeren Eindrücken, aber auch aus dem Material der memoria innere Abbildungen schafft.111 Diese mentalen formae, figurae oder picturae werden dabei nicht als flache Bilder verstanden, sondern als ebenso dreidimensionale wie bewegte, lebensechte Bildnisse.112 Nimmt man hinzu, daß all dies unter Zuhilfenahme des Pneumas geschieht, das als materielles Substrat diese .Einbildungen' überträgt, transformiert und auch speichert, dann kann der imaginatio, so Christina Lechtermann, nachgerade ein „medialer Charakter" zugestanden werden.113 Sie stellt ein kraftvolles, räumlich lokalisierbares Vermögen des Menschen zur fortlaufenden Erzeugung innerer Bilder dar, die „die notwendige Grundlage für jeden gedanklichen Prozeß" darstellen." 4 Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, daß auch und gerade die Sprache mentale Bildnisse zu stimulieren vermag, wodurch die Literatur in der Lage ist, ihre Hörer und Leser in Augenzeugen zu verwandeln. Für die mittelalterliche Kognitionspsychologie „seeing and reading were part of the same bodily operation, involving perception and cognition in the search for knowlegde."115 Bereits bei Augustinus läßt sich die für die nachfolgenden Überle110 „The notion of the oculus imagination!!, or inner eye, where all mental images originate is intricately connected with standard anatomical beliefs in encyclopedic texts of the Middle Ages" (KLARER 1999b, 36). Vgl. BUNDY 1927, 177ff., sowie KOLVE 1984, 20ff. Breites Material zum inneren Auge im Mittelalter bei SCHLEUSENER-EICHHOLZ 1985, 953fF. Zu den Funktionsweisen der imaginatio jetzt LECHTERMANN 2003, 37ff. 111 LECHTERMANN 2003, 37. Die imaginatio kann also auch ohne unmittelbare Stimulation durch die Sinnesorgane tätig werden; sie ist ebenfalls der Ort, so KLARER 1999b, 36, „where new and original fantasies are created that do not derive from the outer senses, and the place, where older images from the cell of memory can be ,re-projected' on demand." Vgl. BUMKE 2001,38f.

112 LECHTERMANN 2003, 43. Sie verweist auf das vieldiskutierte Beispiel, daß „die einzelnen räumlichen Positionen eines fallenden Regentropfens von der Imaginatio zu einer kontinuierlichen Fallbewegung synthetisiert" werden. 113 LECHTERMANN 2 0 0 3 , 5 1 .

114 LECHTERMANN 2003, 44. Ähnlich CAKRUTHERS 2000, 26 (mit Blick auf Alcuins „De animae ratione"): „Die Produkte der Phantasie und des Gedächtnisses sind die Matrix und das Material für alles menschliche Denken." 115 CAMILLE 2000, 216, der zeigt, daß das von ihm diskutierte Himventrikel-Diagramm aus einer englischen Handschrift des 14. Jahrhunderts nicht zuletzt „a kind of internal reader of the text" darstellt: „The Cambridge diagram is not just an image of seeing then; it is also an image of reading."

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gungen zur Ekphrasis im Mittelalter zentrale Auffassungfinden,daß jeder, der einen Text hört oder liest oder auch selbst komponiert, lebendige Bilder der darin beschriebenen Dinge in seinem Geist malt.116 Sehr anschaulich ist dieser Prozeß in Alcuins Schrift „De animae ratione" dargelegt, in der das wunderbare Vermögen der Seele beschrieben wird, sogar in dem Fall Bilder zu modellieren, daß man von etwas gänzlich Unbekanntem hört oder liest: So hat möglicherweise jemand von uns in seinem Geist ein Bild von Jerusalem geformt, das, wenn es auch bei weitem anders beschaffen ist [als das tatsächliche Jerusalem], vom Geist doch so gesehen wird, wie er es sich vorstellt [fingit] [...]. Er stellt sich die Mauem und Häuser und Plätze nicht so vor [fingit], wie sie in Jerusalem [tatsächlich] gemacht sind, sondern so wie er sie in anderen Städten gesehen hat, die ihm bekannt sind. Diese stellt er so dar [fìngit], als seien sie möglicherweise wie die in Jerusalem. Aus den äußeren Merkmalen [der bekannten Dinge] formt [fingit[ er fürwahr die der unbekannten. So macht es der menschliche Geist mit allen Dingen, auf der Grundlage des Bekannten fingiert (oder formt) er das Unbekannte, alle nötigen Merkmale dazu in sich tragend. Durch diese Behendigkeit des Geistes, die es ihm ermöglicht, alles bildlich darzustellen [fingit], was er gehört oder gesehen, gefühlt, gerochen oder geschmeckt hat, und sich an diese seine (Er-) Findungen wiederum zu erinnern, [zudem] durch die wunderbare Macht Gottes und die Wirkmächtigkeit der Natur, vermag er aus allen Umständen Wissen zu gewinnen. (PL 101, 642 B-C)117

Wie Augustinus geht auch Alcuin davon aus, daß sich die Bilderproduktion der Seele bzw. des Geistes, dieses Formen und .Fingieren' von Vorstellungsbildern,118 bei der Lektüre eines Textes ebenso wie beim Anhören eines Vortrage unweigerlich einstellt - zwischen diesen beiden Rezeptionsformen wird in der Regel nicht unterschieden: „Immer wenn uns beim Hören oder Lesen

116 CARRUTHERS 1998,121; BUNDY 1927, 159ff. 1Π Sicut forte Jerusalem quisquam nostrum habet in anima sua formatam, qualis sit: quamvis longe aliter sit, quam sibi anima fingit, dum videtur [...], Muros et domos et plateas non fingit in eo, sicut in Jerusalem facit, [sed] quidquid in aliis civitatibus vidit sibi cognitis, hec fingit in Jerusalem esse posse; ex notis enim speciebus fingit ignota f...]. Sic de omni re facit animus hominis, ex cognitis fingit incognita, habern has omnes species in se [...]. Ex qua velocitate animae, quo in se sic omnia fingit audita vel visa, aut sensa, aut odorata, aut gustata, iterumque inventa recognoscovit, mira Dei potentia et naturae efficacia, utcunque cognosci potent. Die Obersetzung ist von mir. Eine englische Übersetzung findet sich bei CARRUTHERS 1998, 120f., der ich das Zitat entnommen habe; eine weitere deutsche Obersetzung bei CARRUTHERS 2000,26. 118 Das lateinische Verb fingere, das in dem Alcuin-Zitat sechsmal vorkommt, um die Produktion mentaler Bilder zu bezeichnen, bedeutet allgemein „eine Masse od[er] in einer Masse formen, gestalten, bilden, bildend schaffen"; als Nebenbedeutung findet sich „im Geist, in der Vorstellung sich ein Bild von etwas machen od[er] entwerfen", und dann erst „ersinnen, erdichten, erlügen, vorgeben" (GEORGES 1992, Bd. 1, Sp. 2764f.).

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[unbekannte Dinge] zu Ohren kommen, fertigt der Geist sofort eine Figur des unbekannten Dings an" (PL 101, 642A-B).119 Das Material, aus dem er dabei schöpft, liegt im Gedächtnis bereit, zusammengestellt aus vorangegangenen Wahrnehmungen und Lektüren. Die inneren Bilder, die bei der Lektüre entstehen und „die man hören, riechen, schmecken berühren und vor allem geistig sehen kann" 120 , sind „fashioned from materials familiar in one's memory".121 Diese seit dem frühen Mittelalter - und im Grunde seit den Kirchenvätern festgeschriebene Kognitionstheorie, wonach der Geist des Menschen gar nicht anders kann, als aus Gehörtem und Gelesenem umgehend multisensorische mentale Bildnisse zu modellieren und,fingieren', erfahrt seit dem 12. Jahrhundert eine umfassende neue Beachtung, die nicht zuletzt auch auf die Dichter der höfischen Literatur ausgestrahlt haben dürfte.122 In Verbindung mit der Übersetzung wichtiger Werke wie Aristoteles' „De anima" oder Avicennas „Liber de anima" entstehen nun zahlreiche neue Schriften über den inneren Menschen, die ein großes Interesse an den einzelnen Seelenkräften im Zusammenhang mit Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen offenbaren.123 Die Grundauffassung bleibt dabei unverändert: Der eigentliche Ort der Bildgenerierung liegt im Inneren des Menschen, und dabei ist es unerheblich, ob externe Stimuli (von den Sinnesorganen her) oder interne Stimuli (aus der memoria) den Ausgangspunkt für einen solchen Imaginationsprozeß bilden. Den verbal stimulierten Bildern der Literatur kommt daher prinzipiell die gleiche Relevanz zu wie den durch Malerei, Bildhauerei oder Webkunst verfertigten Bildern der visuellen Künste. Tendenziell, etwa bei den Mystikern, wird das ,innere Sehen' sogar besonders prämiert, da die Erkenntnis als ein stufenweise sich vollziehender Prozeß gedacht wird: „er beginnt mit der sinnlichen Wahrnehmung und reicht bis zur höchsten Stufe der Erkenntnis Gottes".124 Je weiter also die ,Verinnerlichung' des Erkenntnisprozesses fortgeschritten ist, desto näher kommt man der Erkenntnis Gottes. Das , innere Auge' der Imagination, dem Gott ein inneres Licht spendet, ohne das - analog zum Vorgang des äußeren Sehens - überhaupt keine visuelle Wahrnehmimg möglich wäre, hat nach dieser Auflassung einen höheren Stellenwert als das äußere Auge, eben weil es der höheren Erkenntnis näher steht. So legt etwa Hugo von St. Victor dar, daß das oculus

119 Et adhunc mirabilius est, quod incognitarum rerum, si lectae vel auditae erunt in auribus, anima statim format figurarti ignotae rei. Vgl. CARRUTHERS 1998, 121. 1 2 0 CARRUTHERS 2 0 0 0 , 2 7 . 1 2 1 CARRUTHERS 1 9 9 8 , 1 2 2 .

122 Hinweise dazu bei HUBER 1988 und BUMKE 2001. 123 LECHTKRMANN 2003, 34£f. gibt einen Überblick über dieses neue Interesse am .inneren Menschen'. 124 BUMKE 2001, 36, der auf ein Fünf-Stufen-Modell bei Isaac de Stella („De anima") verweist: „sinnliche Wahrnehmung (sensus corporeus), Vorstellungskraft (imaginatio), Verstand (ratio), höhere Einsicht (intellectus), höchste Einsicht (intelligentia)." Vgl. MEIER 1988.

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cordis dem ,fleischlichen Auge' (oculus carnis) an Deutlichkeit, Sehkraft und Weitsicht überlegen sei und daß es insbesondere darin seinen entscheidenden Vorzug habe, daß es das Ganze zu sehen imstande sei und sich daher von der perspektivischen Gebundenheit des fleischlichen Auges befreien könne.125 Die Existenz von .Bildern im Geiste' steht also für die mittelalterliche Kultur völlig außer Frage - und damit zugleich die Vorstellung, daß auch die Literatur letztendlich eine Art,Bildmedium' sei. Deshalb konnten die Dichter fraglos davon ausgehen, daß die poetischen Bildnisse, die sie zunächst in ihrer Imagination entwarfen, ehe sie sie aufs Pergament brachten, bei ihrem Publikum in ähnlicher Gestalt wieder abgerufen werden konnten. Auf einer vortheoretischen Ebene ist uns dies noch heute evident, doch haben weder ein Jahrhunderte langer philosophischer Diskurs über die Einbildungskraft noch die neuesten bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung bislang überzeugend darlegen können, wie dieses »innere Sehen' genau vorzustellen ist.126 Auch in der vorliegenden Arbeit kann dieses Problem nicht gelöst werden. Ich möchte aber zwei Tendenzen der jüngeren Forschung benennen, die zumindest Berührungspunkte mit dem mittelalterlichen Kognitionsmodell erkennen lassen und mögliche Perspektiven aufzeigen, wie sich das Problem der ,Bilder im Geiste' medienanthropologisch weiterdenken ließe. Die erste Tendenz betrifft die aktuelle Theoriebildung in den Neurowissenschaften. Hier scheint sich ein Konsens dahingehend abzuzeichnen, daß man von einer einfachen Repräsentationstheorie abrückt und die Generierung von Bildern im Prinzip ähnlich .konstruktivistisch' denkt wie die mittelalterliche Psychologie, allerdings ohne genau lokalisierbare .Kammern' der jeweiligen Geisteskräfte.127 Man geht davon aus, daß sich im Gehirn nicht einfach durch die Sinnesorgane vermittelte Eindrücke der Außenwelt abbilden, sondern daß diese in Erregungsmuster, gleichsam in die .Sprache' des Nervensystems, übersetzt werden, wo ihnen schon bald nicht mehr anzumerken ist, auf welche Art von Sinnesreiz sie zurückgehen.128 Die Erregungsmuster treffen vielmehr auf einen „stark binnenbestimmten Ereignisraum", so Olaf Breidbach, in dem die außeninduzierten Eingaben „gewichtet und auf den Binnenzustand des Hirnes hin .geeicht' werden."129 In diesem Innenraum des Hirns, wo nicht mehr „zwischen binneninduzierten und direkt durch einen Außenreiz angestoßenen

125 O H L Y 1 9 7 7 , 1 7 9 ; M E E R

1988.

126 Einen Aufiiß zur Theoriebildung über „Bilder im Geiste" von Piaton bis in die jüngste Kognitionspsychologie gibt S C H O L Z 1995, 41ff. Zur philosophischen Diskussion um Einbildungskraft und Imagination s. I S E R 1994, 292ff.; S C H U L T E - S A S S E 2001. 1 2 7 S . etwa die Beiträge in S A C H S - H O M B A C H 1 9 9 5 , B R E I D B A C H / C L A U S B E R O 1 9 9 9 und B R E I D B A C H 2000, auf den ich mich im folgenden stütze. 128 „Die letztlich auf Reizung der Lichtrezeptoren basierenden Reaktionen der Nervenzellen des Auges unterscheiden sich nicht von den Reaktionen anderer Nervenzellen des Hirnes" (BREIDBACH 2 0 0 0 , 3 3 ) . 1 2 9 BREIDBACH 2 0 0 0 , 8 0 .

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Erregungsteileinheiten" unterschieden wird, entstehen dann unsere Bilder von der Außenwelt. „Die Konstitution des Wirklichen ist also eine Produktion des Inneren",131 und unsere Welt-Bilder sind „keine Abziehbilder eines sich mehr oder minder unvermittelt im Hirn einstellenden Außen. Welt-Bilder sind zunächst und vor allem innere Bilder."132 Im Hinblick auf diesen von Breidbach umrissenen bildgenerierenden Innenraum des Menschen gibt es eine gewisse Übereinstimmung der gegenwärtigen mit der mittelalterlichen Kognitionstheorie. „Alle Bilder, jedweder medialen Verfassung", so läßt sich dieser epochenübergreifende Konsens mit Hartmut Böhme formulieren, „finden ihre Lokalität in der imaginatio nicht anders als diejenigen Bilder, welche Effekte eines nicht-bildnerischen Mediums sind wie im Fall der Sprache."133 Die andere Forschungstendenz betrifft die Sprachwissenschaften, die sich im Zeichen des pictorial turn zunehmend auch auf diejenigen Traditionen besinnen, die sich schon früh den ikonischen und deiktischen Momenten der Sprache gewidmet haben. Bereits in den dreißiger Jahren hat Karl Bühler erörtert, inwieweit sich das der Sprache inhärente „Zeigen auf Plätze" und insbesondere das in der Literatur zu findende „Führen und Geführtwerden am Abwesenden",134 als eine Verinnerlichung des,äußeren', vorsprachlichen Zeigens verstehen lasse. Er kommt zu dem Ergebnis, daß der Wahrnehmungsraum des Lesers, der visuell dominierte „Seh-Raum", den sich jeder Mensch durch ein (multisensorisches) „Körpertastbild" erschließe,135 bei der Lektüre gewissermaßen „versetzt" und „mit einer phantasierten optischen Szene verknüpft" werde. Der Leser nimmt bei seiner Reise durch den Text sein im Wachzustand präsentes „Körpertastbild samt seiner optischen Wahrnehmungsorientierung" gleichsam ,mit' „und ordnet das Phantasierte ein". Deshalb funktionieren „die Positionszeigwörter hier, da, dort (und die Richtungsangaben vorn, hinten, rechts, links) genau so am Phantasma wie in der primären Wahrnehmungssituation". Auch für Bühlers Auffassimg von der topographischen Medialität der Sprache ist die Bedeutung des Gedächtnisses konstitutiv, geht er doch wie Alcuin davon aus, daß man zur mentalen Visualisierung einer unbekannten Stadt, von der man liest, die Bilder einer bekannten einsetzt: „wer dort war, wandert mit und sieht die Dinge aus seiner Erinnerung. Wer nicht dort war, wandert in einer Ersatzstadt, die er kennt".136 Zentral scheint mir in diesem Konzept die Vorstellung einer sprachlich erzeugten ,Als-ob-Wahrnehmung' zu sein, die auch in der gegenwärtigen Dis130 131 132 133

BREIDBACH 2000, 17. BREIDBACH 2000, 81. BREIDBACH 2000,16. BÖHME 2000, 38. Vgl. MATUSSEK 2000, 87. Zu den Unterschieden zwischen den neuen kognitionswissenschaftlichen Konzepten und denen des Mittelalters s. BREIDBACH 2000, 120ff. 134 BOHLER 1934/1982, 121 und 125. 135 BOHLER 1934/1982,127ff. 136 BÜHLER 1934/1982, 137.

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kussion über .Bilder im Geiste' eine Rolle spielt.137 Unlängst hat Dietrich Krusche die Überlegungen Bühlers zum „Zeigfeld" der Sprache, aber auch andere linguistische Untersuchungen, die sich der Raum- und Leibbezogenheit von Sprache widmen,138 für die Literaturwissenschaften fruchtbar gemacht. Gerade literarische Texte, so seine These, präsentieren sich stets als sprachliche Modelle von Welt, die uns in „anschauliche Verhältnisse versetzen, in denen wir uns ebenso orientieren wie in der Wirklichkeit".139 Auch Krusche geht davon aus, daß bereits die Struktur der Sprache wesentliche Elemente unserer .bildhaften', grundlegend leibbezogenen Orientierung im Raum speichert, transformiert und überträgt. Seine Überlegungen treffen sich mit denen Ludwig Jägers, der die menschliche Sprache in diesem Sinne als „Archimedium" beschrieben hat, als ein „audiovisuelles Dispositiv des Medialen", in dem die vor-sprachliche, visuelle Orientierung des Menschen aufgehoben ist und das selbst noch in unserer gegenwärtigen Medienkultur alle anderen Kommunikationstechnologien grundlegend prägt.140 Memorialbilder, Spiegelungen und virtuelle Räume: Zu Konzeption und Aufbau der Arbeit Vor dem Hintergrund der skizzierten Konzepte mittelalterlicher und gegenwärtiger Kognitionswissenschaften scheint es mir durchaus statthaft zu sein, von ,innerer Wahrnehmung',,mentalen Bildern', sprachlich erzeugten ,Schauräumen' o.ä. zu reden - und zwar fortan ohne Anführungszeichen - , auch wenn vorerst offen bleiben muß, wie sich dies neurophysiologisch exakt beschreiben ließe. Die Literatur wird als ein Medium verstanden, das ebenso wie die Malerei oder die Projektionstechnologien unserer Zeit imstande ist, Bilder zu transportieren, das dabei aber wohl mehr noch als jene auf die aktive Mitwirkung seiner Benutzer angewiesen ist. Denn erst die imaginatio sorgt dafür, um noch einmal Hartmut Böhme zu zitieren, „daß wir uns vorstellen können, was Wörter oder Schriftzeichen überhaupt besagen. In jedem Lesen und Hören erzeu-

137 So etwa bei SCHOLZ 1995. Vgl. LECHTERMANN 2003, 53ff. 138 Zum Beispiel WEINRICH 1988 oder EHLICH 1982. 139 KRUSCHE 2001, 9. „Die anschaulichen Orientierungen im Text gewinnen ihre Verbindlichkeit daraus, daß sie durch dieselben Ausdrücke geschehen wie in der Sprachverwendung des Alltags." Krusches grundlegende Studie enthält auch eine eingehende Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen von Semiotik und Rezeptionstheorie (14ff.). 140 JÄGER 2001. Er geht davon aus, daß die verbale Sprachfähigkeit des Menschen phylogenetisch einer primären, gestischen Sprache aufhiht. „Aber auch nachdem sich die vokal-auditive Sprache phylogenetisch gegen eine gestisch-visuelle Sprache durchgesetzt hatte, war sie offenbar - bereits lange vor der Schrifterfindung - in ein Netzwerk audio-visueller symbolischer Praktiken eingewoben" (22).

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gen wir ununterbrochen Bilder; sie leisten die wesentliche Arbeit der Bedeutungsverwirklichung."141 Ausgehend von dieser Schlüsselstellung einer bildgenerierenden Instanz im Menschen, im folgenden ,Imagination' genannt, sind es vor allem drei Konzepte, die meinen Zugang zur mittelalterlichen Ekphrasis leiten. Zum einen wird zu zeigen sein, daß sich die Kunstbeschreibungen in der semi-oralen Erinnerungskultur des Mittelalters gleich in mehrfacher Hinsicht als Memorialbilder beschreiben lassen. Dies gilt bereits auf einer sehr allgemeinen, kognitiven Ebene, denn das innere Sehen scheint fundamental auf die Spuren angewiesen zu sein, die das äußere Sehen in den Nervenbahnen hinterlassen hat. Der Imagination liegt also immer schon eine Form der Erinnerung zugrunde ich habe dies mit der Traditionslinie Augustinus/Alcuin - Karl Bühler - Oliver Scholz oben anzudeuten versucht.142 Umgekehrt wurde gerade in der vor-scholastischen Kognitionspsychologie aber auch die memoria als ein äußerst kreatives Denkvermögen verstanden.143 Imagination und Gedächtnis sind deshalb eng zusammen zu denken, weil die Erinnerung - nicht nur im Mittelalter fundamental auf eine Re-Imagination der gespeicherten Wissensvorräte angewiesen ist: „Etwas erinnern heißt, es imaginativ inszenieren."144 Dieses aktive und produktive Konzept von memoria reicht im Mittelalter so weit, daß man sich sogar an transzendente Dinge .erinnern' kann und soll, wie Carruthers deutlich macht: „In common monastic idiom, one .remembers' the Last Things, death, Heaven, and Hell: that is, one makes a mental vision or .seeing' of invisible things from the matters in his memory."145 In diesem doppelten Sinn sind die Bildkunstwerke der mittelalterlichen Literatur als Memorialbilder zu verstehen: Einerseits setzen sie auf einer kognitiven Ebene beim Leser die Re-Inszenierung von Gedächtnisinhalten voraus und andererseits präsentieren sie das Neue, Spektakuläre und Besondere ihrer Entwürfe als eine .Erinnerung' an das immer schon Gültige, Verbindliche und also schon Gewußte. Bei den mittelalterlichen Ekphrasen und ihren mentalen Repräsentationen handelt es sich - mit einer schönen Formulierung von Mary Carruthers 141 BÖHME 2000, 38. - Daß dies für Hörer ebenso gilt wie für Leser, steht für die mittelalterlichen Autoren außer Frage. Im Zuge einer fortgeschrittenen mediävistischen Diskussion um Mündlichkeit und Schriftlichkeit ließe sich gleichwohl darauf reflektieren, ob und inwieweit sich eine (öffentlich) gehörte Kunstbeschreibung in ihrer Wirkung von einer (intim) gelesenen Kunstbeschreibung unterscheide. Diesen Aspekt möchte ich jedoch im folgenden nicht eigens thematisieren und verweise stattdessen auf die Überlegungen, die ich zu diesem Problemfeld an anderer Stelle geäußert habe: WANDHOFF 1996a, 305ff. 142 S. zum Verhältnis von inneren Bildern und Gedächtnis bes. SCHOLZ 1995, 60f., sowie BÖHME 2000,38. 143 Dies zeigen grundlegend die Arbeiten von CARRUTHERS 1998 und 2000. 144 MATUSSEK 2001,319. 145 CARRUTHERS 1998, 68. „The sources for such remembering are both literary and sensory: texts, commentaries, other literary works, sounds, smells, foods, paintings of all sorts, buildings and their parts, sculptures." (69)

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um „textually derived images that .remember things' one cannot actually see in nature".146 Memorialbilder sind die mittelalterlichen Ekphrasen aber nicht zuletzt auch in dem Sinn, daß die von ihnen in Szene gesetzten Bildkunstwerke oftmals kulturell prämierte Ereignisse einer vergangenen Zeit in Erinnerung rufen, also schon auf der Handlungsebene als Monumente kollektiver memoria fungieren. Dieser Aspekt wird im folgenden vor allem an zwei Gegenständen ausführlich zu behandeln sein: einerseits an den monumentalen Grabdenkmälern des höfischen Romans, die das textinteme Andenken an verstorbene Romanfiguren verwalten (im zweiten und sechsten Kapitel); andererseits - im vierten und fünften Kapitel - an den Troja-Bilddenkmälern, die bereits in Vergils „Aeneis" und dann besonders im Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts Akte einer kollektiven Geschichtserinnerung darstellen. Memorialbilder stellen die mittelalterlichen Ekphrasen schließlich in der Hinsicht dar, daß sie sich vielfach mit der Tradition der antiken ars memorativa verbunden zeigen, die in der monastischen Kultur des Frühmittelalters mit Blick auf die Bedürfnisse einer geistlichen Schriftkultur modifiziert wurde und von dort aus als eine topographisch operierende Imaginationstechnik in die Literatur einfließt. Besonders in der frappierenden Räumlichkeit mittelalterlicher Ekphrasen, die uns im folgenden immer wieder begegnen wird, läßt sich in Anlehnung an die architektonischen Vor-Bilder der ars memorativa eine poetische Imaginationsstrategie entdecken, die dem Textbenutzer die Navigation durch komplexe Romanwelten erleichtert. In diesem Sinne kann die Kunstbeschreibung, wie zu zeigen sein wird, auch als topographisches „Binnengedächtnis" eines Textes fungieren.147 Die skizzierten Operationen der Ekphrasis als Memorialbild lassen sich nun auf einer anderen Ebene auch als Spiegelungen fassen. Das Spiegelungskonzept hat nicht nur den Vorteil, daß es im Mittelalter als visuelles Erkenntnisund Wahrnehmungsmodell mindestens ebenso bekannt und verbreitet war wie heute, sondern daß es auch die unterschiedliche Materialität von Medien berücksichtigen kann. 148 So läßt sich etwa ein Computer ebenso als ein mikrokosmischer Spiegel beschreiben, der die Gesamtheit des makrokosmischen „Dokuversums"149 in verkleinerter Form zur Darstellung bringt, wie ein enzyklopädisch ausgerichteter Roman. Der Spiegel kann „ein ganzes Spektrum von großformatigen Objekten auf kleinster Fläche abbilden"; gerade diese Besonderheit „wurde im Mittelalter als bemerkenswertes optisches Phänomen emp-

146 CARRUTHERS 1 9 9 3 , 8 9 4 .

147 Vgl. OHLY 1984,54ff. 148 S. dazu GIESECKE 2000,363ff. 149 WINKLER 1997. Vgl. zum Computer als ,,interaktive[m] Spiegel symbolischer Wehen" die Überlegungen von KRÄMER 1998,32f.

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funden und häufig kommentiert." Daß die mittelalterlichen Dichter ihren Ekphrasen bisweilen selbst eine Spiegehingsfiinktion zuwiesen, ist schon daran ersichtlich, daß viele Kunst- und Architektuibeschreibungen der höfischen Literatur eingebaute Spiegelapparaturen aufweisen - Hohlspiegel, magische Wundersäulen und allerlei bildschirmartige Anzeigetafeln. Im Hinblick auf die oben skizzierten Forschungsansätze zur Ekphrasis läßt sich mit dem Konzept der Spiegelung aber auch der narratologische mit dem intermedialen Zugang zur Kunstbeschreibung verbinden. Denn die Ekphrasis spiegelt das Visuelle im Verbalen, und zugleich spiegelt sie die Makro-Erzählung in der Mikro-Erzählung. Sie stellt somit vergleichende Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Medien und Sinneswahrnehmungen ebenso her wie zwischen verschiedenen Texten und Textteilen. Im sechsten Kapitel wird zu zeigen sein, daß im Spiegel der Kunstbeschreibung außerdem die medialen Funktionen von Bild und Schrift aufeinander bezogen und zugleich unterschieden werden können. Hinzu kommt, daß die volkssprachigen Kunstbeschreibungen gerade im 12. Jahrhundert unter dem Einfluß einer Reaktivierung des kosmologischen Denkens der Antike stehen, mit dem auch die Spiegelmetaphorik einen bedeutenden Aufschwung zu verzeichnen hat: Der menschliche Mikrokosmos wird als ein Spiegel des Makrokosmos verstanden.'51 Doch spiegelt die Ekphrasis nicht nur die ,große Welt' des Kosmos in der ,kleinen Welt' des Textes wider. Vielmehr fungiert sie oftmals auch als Binnenspiegelung einer,großen' Erzählung, als mise en abyme, die sich mit dem Aspekt des textimmanenten Binnengedächtnisses verbindet. Im dritten Kapitel wird am Beispiel der Erecromane Chrétiens und Hartmanns zu zeigen sein, wie diese beiden ekphrastischen Spiegelungstypen ineinandergreifen. Das sechste Kapitel ist dann einer besonders interessanten Figur der Selbst-Reflexion gewidmet, die den Romanhelden mit seinem eigenen Abbild in einem visuellen Kunstwerk konfrontiert. Mit dem Konzept der Spiegelung verbunden ist schließlich der Begriff des virtuellen Raums, der als dritte Leitlinie der folgenden Untersuchungen dienen soll. Spiegelbilder sind nämlich von Grund auf virtuelle Bilder, „weil sie vortäuschen, die gespiegelten Objekte befänden sich hinter der Spiegelfläche."152 In diesem Sinne lassen sich Computer ebenso wie poetische Wortkunstwerke als Techniken beschreiben, um mehr oder weniger „interaktive Spiegelungen symbolischer Welten möglich zu machen".153 Der räumliche Charakter dieser Spiegelungen, den die Computertechnologie im Cyberspace zu realisieren sucht und dessen Vorgeschichte Oliver Grau in der ikonographischen Tradition

150 FINCKH 1999,428. 151 S. etwa FÏNCKH 1999, 427ff. 152 KRÄMER 1998, 32, die den Begriff ,virtuell' aus der Optik herleitet Demnach bezeichne er „lichtwellentäuschende Bildet". Vgl. dazu ESPOSITO 1998 und 2001. 153 KRÄMER 1998,33.

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von 360-Grad-Bildräumen bis hin zum Panorama untersucht hat,154 käme in der Literatur dann besonders in der Ekphrasis und dem von Krieger beschriebenen ekphrastic principle zum Tragen. Eine Vielzahl gerade der mittelalterlichen Kunst- und Architektuibeschreibungen zeichnet sich, wie bereits angedeutet, durch eine dreidimensionale Räumlichkeit aus, die man in den Ekphrasen des antiken Epos vergeblich sucht. Da in diesen Bildnissen immer wieder zentrale Beobachtungspositionen freigelassen werden, hat es den Anschein, als seien die Hörer und Leser aufgefordert, sich imaginativ in diese Schauräume hinein zu bewegen, um im Angesicht der darin deponierten Bilder und Zeichen über die Bedeutungsdimensionen des jeweiligen Textes - nicht zuletzt im Hinblick auf ihr eigenes Leben - zu reflektieren. Wenn ich diese literarisch generierte Plastizität unter den Suchbegriff des virtuellen Raums stelle, dann verstehe ich Virtualität als eine Kategorie von Wahrnehmung und Kommunikation, die nicht auf den Bereich der elektronischen Datenverarbeitung zu reduzieren ist. Auch etymologisch läßt sich dies begründen: Das Adjektiv virtuell geht ebenso wie das im Englischen recht gebräuchliche virtual (,fast völlig', ,so gut wie') zurück auf lateinisch virtus (.Tugend',,Kraft', .Vermögen'). Es bezeichnet einen Zustand, der nach Anlage oder Vermögen vorhanden ist, oder, wie Oliver Grau formuliert, „ein .dem Wesen nach Vorhandenes' - ein glaubhaftes ,Als-Ob"'. Faßt man als virtuellen Raum demnach nicht nur den computergestützten Cyberspace, sondern ganz allgemein jeden medial vermittelten, mehr oder weniger immersiven „Raum des Möglichen oder Unmöglichen"' 55 , in dem der Benutzer sich navigierend durch symbolische Welten bewegen kann, sei es mit Hilfe einer Tastatur, eines neuronalen Interface oder seiner Imagination, dann kann man danach fragen, ob und inwieweit bereits der mittelalterlichen Literatur Aspekte von Virtualität eigen sind. In einem zentralen Punkt .virtuell' sind aber nicht zuletzt die skizzierten mittelalterlichen Kognitionsmodelle. Sie konzeptionalisieren die virtus der imaginatio als eine Art Medium oder Maschine des Geistes (machina mentis) zur Produktion von .Als-ob-Wahrnehmungen', die im Innern des Menschen fortlaufend immersive, ständig sich verändernde ,Räume des Möglichen und Unmöglichen' erzeugt.156 Stimuliert werden diese virtuellen Schauräume nicht nur, aber auch durch die Literatur, die beim Zuhören und während der Lektüre eine imaginative Verlebendigung ihrer Worte verlangt. Dabei wird zunächst

1 5 4 GRAU 2 0 0 1 .

155 GRAU 2001, 22, der allerdings den Begriff des Virtuellen m.E. zu eng an eine ausschließlich durch visuelle Bildräume zu erzeugende Immersion bindet. 1 5 6 Z u r imaginatio

( u n d memoria)

a l s virtus

s. LECHTERMANN 2 0 0 3 , 3 8 ; CARRUTHERS 2 0 0 0 , 2 0 ;

zur machina mentis CARRUTHERS 1998, 81 passim. Die philosophische Konzeptionalisierung der Imagination als Vermögen erörtert ISER 1994, 316FF., der allerdings das Mittelalter nicht behandelt

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kein Unterschied gemacht zwischen .lebensechten' und .fiktiven' Bildern; die .Akte des Fingierens' 157 und Modellierens, von denen die Autoren stets sprechen, haben noch nichts mit Fiktionalität zu tun. Es ist vielmehr erst die Aufgabe der ratio, darüber zu entscheiden, welcher epistemologische Status den von der imaginatio modellierten Bildern zukommt. Auch diese Problematik hat Eingang in die epischen Ekphrasen des Mittelalters gefunden und wird uns vor allem im fünften und sechsten Kapitel beschäftigen. Gerade weil der Terminus .Virtualität' heute zu einem Schlüsselbegriff der computergesteuerten Medien geworden ist, dabei zugleich jedoch sehr weit gefaßt wird, kann seine metaphorische Unschärfe vielleicht dazu dienen, Ähnlichkeiten und Parallelen aufzudecken zwischen dem, was uns heute als das ganz Neue der Computertechnologie erscheint, und dem, was die Literatur mit ihren eigenen Mitteln bereits in der Vormoderne zu leisten vermochte. Im günstigsten Fall ließe sich so ein Beitrag zur Erhellung der Frage leisten, ob und in welchem Umfang die neuen Medientechnologien eine Vorgeschichte in den Erinnerungstechniken und Imaginationsmedien der alten Kulturen besitzen. Zum Schluß sei noch kurz die Auswahl der untersuchten Texte erläutert. Wie bereits angedeutet, versuche ich eine Geschichte der Ekphrasis zu rekonstruieren, die mit den antiken Klassikern beginnt, sich in der Vergil-Rezeption im volkssprachigen Antikenroman fortsetzt und über den frühen Artusroman bis in die sog. ,nachklassischen' Aventiureromane des 13. Jahrhunderts verfolgt werden soll. Es geht mir dabei neben den oben skizzierten systematischen Fragestellungen um die Fokussierung einer seit der Antike zu beobachtenden ekphrastic response, einer kontinuierlichen Aufnahme und Überschreibung narrativ präformierter Textmuster im Spiegel der Kunst- und Architekturbeschreibung, die für die Gattungsentwicklung des höfischen Romans von großer Bedeutung ist. Gelegentlich werden auch am Rande dieser Traditionslinie liegende Dichtungen herangezogen, sofern sie für die Argumentation relevant sind. Andere, fraglos gewichtige Monumente mittelalterlicher Ekphrasis, wie etwa die Tristanromane, können dagegen ebenso wenig systematisch behandelt werden wie etwa lyrische Textsorten. Ihre Untersuchung muß zukünftigen Studien vorbehalten bleiben.

157 Vgl. ISER 1983 und 1993.

Erstes Kapitel Der Bild-Schirm des Schildes: Die antike Ekphrasis und ihre Überschreibungen im 12. Jahrhundert

I. Der Schild des Achilles als Urszene der antiken Ekphrasis Auch eine Arbeit über die Ekphrasis im Mittelalter kommt kaum umhin, mit Homer zu beginnen, denn der Schild des Achilles im 18. Gesang der „Ilias" formuliert geradezu prototypisch die Konstituenten poetischer Kunstbeschreibungen, wie sie fur die nachfolgenden Jahrhunderte bis in die Gegenwart Gültigkeit besitzen. Der göttliche Schmied Hephaistos fertigt dort eine neue Rüstung für den griechischen Helden Achilles, in deren Mittelpunkt ein wunderbarer Kampfschild steht. Auf seiner Oberfläche ist in fünf verschiedenen Metallschichten das Bild einer ganzen Welt zu sehen (XVIII, 483-608): Auf ihm schuf er die Erde und auf ihm den Himmel und auf ihm das Meer Und die Sonne, die unermüdliche, und den vollen Mond, Und auf ihm die Sterne alle, mit denen der Himmel umkränzt ist: Die Pleiaden und die Hyaden und die Kraft des Orion Und die Bärin, die sie auch , Wagen ' mit Beinamen nennen, Die sich auf derselben Stelle dreht und nach dem Jäger Orion späht Und allein nicht teil hat an den Bädern im Okeanos. (XVIII, 483ff.)

Integriert in diesen kosmischen Rahmen und eingefaßt vom Okeanos-Strom auf dem äußersten Rand des Schildes, der unverkennbar die runde Form der Welt wiedergibt, finden sich die Darstellungen zweier Städte, in denen die Menschen in ihren alltäglichen Verrichtungen gezeigt werden, eingebunden in den zyklischen Ablauf der Jahreszeiten: bei Ernte und Viehzucht, in Krieg und Belagerung, bei Hochzeit und Tanz, aber auch bei der Rechtsfindung.1 An dieser Waffe, die der Held der „Ilias" vor seinem Eintritt in die Schlacht um Troja von seiner Mutter Thetis erhält, um in ihrem Schutz bald darauf Hektor zu töten und den Untergang Trojas zu besiegeln, fällt nun auf, daß ihre aufwendig bebilderte Oberfläche für militärische Zwecke eher ungeeignet zu sein scheint. Nicht nur dürfte der ganz aus Metall gefertigte Schild ungeheuer schwer gewesen sein - was auf die außerordentliche Kraft seines Trägers Achilles verweist - , sondern vor allem fehlt dem göttlichen Kunstwerk die sonst übliche apotropäische Schreckensfigur in der Schildmitte. Diese Figuren, wie etwa die Gorgo Medusa oder Löwenköpfe, blicken in der Regel, durch den Schildbuckel erhaben, aus der Schildmitte heraus den Betrachter an, 1

Grundlegend zur Textstelle BECKER 1995, mit Hinweisen auf die ältere Literatur.

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Die antike Ekphrasis und ihre Oberschreibungen im 12. Jahrhundert

um seinem Blick zu begegnen, ihn zu ängstigen und in letzter Konsequenz zum Abwenden seines Blickes zu veranlassen. Auf dem Schild Agamemnons etwa, an einer anderen Stelle der „Ilias", „rundete sich die Gorgo mit finsterem Antlitz, / Schrecklich blickend, umgeben von ,Furcht' und ,Schrecken'" (XI, 36f.). Bei dieser Art des Schildes hat neben dem Material auch das Bild selbst eine Schutzfunktion, wie wir sie noch in den Drachenbildern der Normannen und Sachsen oder anderen signa horribilia des Mittelalters finden: Nicht nur soll das schreckliche Antiltz des Schildes den Blick des Gegenübers bekämpfen, sondern man versprach sich davon wohl auch ein magisches Übergreifen der Kraft des dargestellten Schreckenswesens auf den Träger des Schildes.2 Obgleich derartige apotropäisch bemalte Schilde archäologisch gut belegt sind,3 stattet Homer die Waffe in seiner Ekphrasis mit anderen Bildelementen aus, wie sie etwa von Vasen, Schalen oder anderen häuslichen Gebrauchsgegenständen bekannt sind, und fügt diese zu einem umfassenden Bild der Welt zusammen. Da es keine Belege über außerliterarisch existierende KosmosSchilde dieser Art gibt, scheint es, als schaffe der griechische Epiker damit einen neuen, originär literarischen Bildtyp,4 der aus .friedlichen' Gebrauchszusammenhängen bekannte Bildmotive im Medium der Literatur auf die visuelle Oberfläche einer Waffe projiziert und so der runden Bildfläche des Schildes eine neue, dezidiert poetische Funktion zuweist. Denn verglichen mit der apotropäischen Schildbemalung stößt das Bildprogramm auf dem Schild des Achilles den Blick des (hörenden oder lesenden) Betrachters nicht zurück, sondern lädt ihn ganz im Gegenteil zum Verweilen ein. Das innere Auge des Hörers oder Lesers wird, gelenkt durch die einzelnen Handgriffe des Hephaistos, sukzessiv über die kosmische Landschaft des Schildes gefuhrt. Bild für Bild wird die erhabene Oberfläche der Waffe abgetastet, auf der in vielen Details wie in einem Spiegel die ganze Welt zu entdecken ist. Daß die Dekoration des Schildes dagegen kaum eine militärische Funktion hat, sondern ausschließlich an die Imagination des Textbenutzers adressiert ist,3 zeigt sich auch daran, daß Homers Epos von keinen nennenswerten textinternen Blicken auf das wunderbare Kunstwerk berichtet. Die Wirkung der Bilder auf die Trojaner wird nicht erwähnt, aber auch Achilles blickt nur kurz auf seine neue Rüstung und nimmt dabei den bebilderten Schild nicht gesondert wahr (XIX, 16ff.). Lediglich von seinen Leuten heißt es kurz, daß sie sich fürchteten, die göttliche Rüstung zu betrachten (XIX, 14f.). Nachdem Thetis

2 3 4 5

VON ULMENSTEIN 1941,18FF.; BRAULT 1997,23. SIMON 199S, 128f. „Die Hörer der homerischen Schildbeschreibung dürften diese Form gekannt haben" (129). SIMON 1995,128ff. (mit der alteren Literatur). Dagegen sieht KWEOER 1992, xv, in dem Schild ein „sanctified icon", das im Kampf nicht nur durch sein unzerstörbares Material, sondern auch durch seine emblematische Dekoration wirke. Eine apotropäische Wirkung des Weh-Bildes nimmt auch HEFFEKNAN 1993,22f., an.

Der Schild des Achilles

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ihrem Sohn den Schild übergeben hat, ward das Bildwerk der Waffe kein weiteres Mal in der „Ilias" erwähnt. So erfährt man auch nichts Genaueres über seine Bedeutung, deren Entzifferung vielmehr allein den Textbenutzern aufgegeben ist. Sie sind, geleitet durch die Blicke des Erzählers, die exklusiven Betrachter des Schildes „who are given time, by virtue of ekphrasis, to look at its production and appearance in detail".6 In der homerischen Kunstbeschreibimg wird der Erzähler somit nicht nur, wie Andrew Becker formuliert, „one of us, an audience",7 sondern er macht uns, die Leser, im Prozeß der Lektüre auch zu Augenzeugen dessen, was er selbst sieht. Er läßt uns teilhaben an seinem exklusiven, weitschweifenden Blick über das wunderbare Bildwerk des Schildes, dessen Bedeutungsdimensionen im Text weder kommentiert noch präzisiert werden, die der Rezipient vielmehr assoziativ erschließen muß. Dabei scheinen vor allem zwei Aspekte des auf die Schildoberfläche projizierten Welt-Bildes wichtig zu sein: zum einen der universale Anspruch der Darstellungen und zum andern die Schilderung der bebilderten Waffe unmittelbar vor der entscheidenden Schlacht um Troja. Homer schaltet die Schildbeschreibung genau an der Stelle in die Handlung der „Ilias" ein, als der gefürchtete Krieger Achilles sich, wie Erika Simon formuliert, „vom passiv Grollenden zum aktiv Rächenden"8 wandelt und damit den Untergang Trojas vorbereitet. Vor diesem Hintergrund hat man in der Ekphrasis eine Auszeichnung der besonderen Rolle des Achilles gesehen, der mit dem Schild, wie Eckart C. Lutz formuliert, „das Schicksal seiner Welt, der Welt des Epos" buchstäblich „in Händen" hält.9 Page DuBois dagegen liest die Ekphrasis des runden Schildes mit den zyklischen Tätigkeiten der Menschen als metahistorischen Verweis auf die .runde', zirkuläre Zeitkonzeption des Epos, als „a celebration of repetition, of endless creation and re-creation that give the heroic life meaning".10 Thomas Mitchell sieht in der Schildbeschreibung wiederum einen Durchblick gerade auf ,das Andere' des Epos, auf die überwiegend friedlichen Aspekte des Lebens, die Achilles selbst nie kennenlernen wird und die in Homers düsterer Erzählung keinen anderen Platz finden als auf einem Bildkunstwerk - dem .Anderen' der Wortkunst.11 Und Andrew Becker, um nur eine kleine Auswahl der möglichen Deutungen zu geben, liest die Schildbeschreibung „as a mise en abyme for the poetics, not just for the themes of the Iliad: in ekphrasis not only does the bard become one of us, an

6 MITCHELL 1994b, 176f. 7 BECKER 1 9 9 5 , 5 . Vgl. 153.

8 SIMON 1995, 123. 9 LUTZ 1996,32. Ähnlich DuBois 1982,7. 10

DUBOIS 1 9 8 2 , 9 0 .

11

MITCHELL 1 9 9 4 b , 180. Ä h n l i c h PUTNAM 1 9 9 8 , 2 3 8 A. 88.

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Die antike Ekphrasis und ihre Überschreibungen im 12. Jahrhundert

audience, but also the description itself, metonymically, becomes a model for the poem."12 Wie auch immer man die homerische Ekphrasis lesen mag, gemeinsam ist all diesen neueren Deutungsansätzen, daß sie in der Schildbeschreibung nicht mehr bloß ein retardierendes, bestenfalls spannungsförderndes Moment sehen, sondern das Verhältnis des dargestellten Bildes zum darstellenden Text im Hinblick auf seine poetologischen Dimensionen befragen.13 In dem bebilderten Schild läßt uns der Text wie in einem Hohlspiegel auf Dinge schauen, die scheinbar außerhalb des epischen Handlungsgeñiges stehen und doch zugleich auf dieses und seine Bedeutungsdimensionen paradigmatisch zu beziehen sind. Auch wenn bei Homer die Deutungen sehr weit auseinander gehen, die denkbaren Bezüge zwischen Ekphrasis und narrativer Handlung also ebenso lose wie vielfaltig zu sein scheinen, so ist doch der dominante Eindruck der einer universalen Dimension des Bildes im Verhältnis zur Erzählung. Auf den ersten Blick lediglich ein Fragment innerhalb des epischen Gefüges, gibt die Bildbeschreibung schließlich einen Blick auf das Ganze frei, der die Handlung der „Ilias" in umfassende, kosmische Zusammenhänge stellt. „The relation of epic to ekphrasis", so Thomas Mitchell, „is thus turned inside out: the entire action of the Iliad becomes a fragment in the totalizing vision provided by Achilles' shield."14 Die poetische Technik der Ekphrasis entsteht bei Homer somit aus dem Umbau der außerliterarisch vertrauten, den Körper schützenden Defensivwaffe zu einer textinternen Projektionsfläche. Dabei wird die apotropäische, den Betrachter-Blick abweisende Bildfläche des Schutzschildes zu einem äußerst attraktiven, die Aufmerksamkeit der Leser-Augen auf sich ziehenden mikrokosmischen Spiegel umfunktioniert, der nicht zuletzt deshalb das innere Auge des Lesers zum Verweilen einlädt, weil dort in visueller Form Informationen kodiert sind, die das Verständnis des gesamten Textes betreffen. Wie faszinierend Homers Versuch gewesen sein muß, dem Wortkunstwerk mit Hilfe der Ekphrasis ein visuelles Interface zu implementieren, zeigt sich an den zahlreichen Nachahmern, die seine Schildbeschreibung bereits in der Antike gefunden hat. Zuerst in der „Aspis" des Pseudo-Hesiod, dann aber auch bei Dramatikern wie Aischylos und Euripides und schließlich in den großen Epen Vergils

12 BECKER 1995,5. 13 Die genannten Positionen stehen im Gegensatz zu einer älteren Forschung, die - aus einem einseitig rhetorischen Blickwinkel - die Bildbeschreibung lediglich als ein retardierendes Moment in der Erzählung ansieht, mit dem vor dem großen Endkampf die Spannung erhöht werden soll. Vgl. etwa FRIEDLÄNDER 1912, 20f.; BALDWIN 1928, 18f., und noch RATKOWITSCH 1991,11. 14 MITCHELL 1994b, 180.

Der Schild des Achilles

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und Silius' finden sich jeweils bedeutende Schildbeschreibungen in der Tradition Homers.15

Kosmos-Schilde im Mittelalter Obgleich nun Homers Schildbeschreibung die poetische Technik der Ekphrasis fraglos auch fur das Mittelalter vorgeprägt hat, lassen sich hier nur undeutliche Spuren des Achilles-Schildes finden. Das hängt zum einen mit dem Status Homers als ,unzuverlässigem' Troja-Dichter zusammen, dem man andere Zeugnisse vorzog, die als historisch verbindlicher galten. Das außerordentlich große Interesse des Mittelalters an den Ereignissen des trojanischen Krieges, das uns im Verlauf dieser Arbeit noch oft begegnen wird, orientierte sich vor allem an den spätantiken Berichten von Dares Phiygius und Dictys Cretensis, die deshalb als zuverlässiger galten, weil ihre Autoren sich als Augenzeugen des Geschehens ausgaben, wohingegen der ,Lügner' Homer weit später gelebt habe.'6 Nichtsdestotrotz war auch die „Ilias" dem Mittelalter bekannt, wenn auch lange fast ausschließlich in der im ersten Jahrhundert entstandenen Kurzfassung der „Ilias latina" des Bebius Italicus, die jedoch im 11. und 12. Jahrhundert als Schultext recht weit verbreitet war.17 Hier wird der Schild des Achilles gerade in seinem kosmologischen Anfangsteil sogar noch erweitert, wohingegen der bei Homer sehr ausführliche Mittelteil über die Menschen und ihre Tätigkeiten im Ablauf der Jahreszeiten stark gekürzt ist.18 Vertrautheit mit der homerischen Schildbeschreibung belegt daneben eine Anspielung in „Phyllis und Flora", wo von kostbaren figürlichen Schnitzereien auf Sattel und Zaumzeug von Floras Pferd erzählt wird, für deren Verfertigung, wie es heißt, Vulcan sogar den Schild des Ritters Achilles aus der Hand gelegt habe (Str. 56). Schließlich ist noch Ovid zu nennen, dessen „Metamorphosen" eine weitere wichtige Quelle des Mittelalters für die Troja-Sage waren, in der ebenfalls auf den Kosmos-Schild Bezug genommen wird. Als Ovid von dem Streit der Griechen um die Rüstung des Achilles nach dessen Tod berichtet, ruft er noch einmal kurz das Bildprogramm des herrlichen Kunstwerks in Erinnerung: Oceanum et terras cumque alto sidera caelo Pleiadasque Hyadasque inmunemque aequoris Arcton diversasque urbes nitidumque Ononis ensem (ΧΙΠ, 292ÍF.).

15 Zur Schildbeschreibung und Ekphrasis im Anschluß an Homer vgl. FRIEDLANDER 1912, 7ff.; FREY-SALLMANN 1 9 3 1 , 2 f f . ; KURMAN 1974, 5f.; SIMON 1 9 9 5 , 1 3 3 f f . , u n d HEFFERNAN 1993.

16 Vgl. RATKOWITSCH 1991,9 Iff., mit weiterer Literatur, sowie ΟΡΓΓΖ 1998,15ff. 17 LUTZ 1996,33. Vgl. SCAFFAI, Einleitung der „Ilias latina"-Ausgabe, 29ff. 18

FECHTER 1 9 6 4 , 6 8 f „ LUTZ 1 9 9 6 , 3 3 .

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Die antike Ekphrasis und ihre Oberschreibungen im 12. Jahrhundert

Obwohl der homerische Kosmos-Schild also sicher bekannt war, ist das Motiv insbesondere bei den volkssprachigen Dichtern auf wenig Gegenliebe gestoßen. Jörg Wickram hat in seiner Bearbeitung der „Metamorphosen"-Übersetzung Albrechts von Halberstadt Ovids Reminiszenzen deutlich zurückgeschraubt und redet nur noch lapidar von einem Schild, Inn welchem [...] die weit gegraben (XIII, 165), auf dem Die gantze weit druff figuriert (XIII, 414) gewesen sei. Im „Göttweiger Trojanerkrieg", der ebenfalls von Ovid den Streit um Achilles' Waffen übernimmt, ihn sogar ausweitet und mehrfach unter Hinweis auf den Schöpfer Fulcanus die äußerst kostbare Rüstung erwähnt, bleibt die Bildfläche des Schildes merkwürdig leer. Zwar wird die Rüstung charakterisiert als daz richest waffen claid Daz dar an ritter ie ward gelaitt, Wan es mit richer cost alsus Machte der schmide Fulcanus (v. 19971ÍF.), doch von einem Bildprogramm ist hier keine Rede (v. 19608, 19974).19 In den anderen deutschsprachigen Troja-Erzählungen des Mittelalters verhält es sich nicht viel anders. Der Schild des Achilles wird entweder überhaupt nicht visuell dargestellt oder er erhält, ebenso wie die übrigen Helden des trojanischen Krieges, heraldische Wappen und Feldzeichen. So schmückt z.B. ein silberweißer Schwan auf braunem Grund den Schild des Achilles in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg", und auch von seinem Banner leuchtet dieser Schwan herab, als ob er lebende waere (v. 30865).20 Die unmittelbaren Spuren der homerischen Schildbeschreibung in der mittelalterlichen Literatur sind also eher schwach ausgeprägt. Es gibt, soweit ich sehe, in der deutschsprachigen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts keine einzige kosmologische Schildbeschreibung nach dem Vor-Bild Homers. Zumindest in der volkssprachigen Literatur werden die visuellen Oberflächen dieser Waffen, die Homer in folgenreicher Weise zu einem mikrokosmischen Spiegel inmitten des Wortkunstwerks umgebaut hatte, von nun an für eine andere Art von Bildlichkeit reserviert, die seit dem frühen 12. Jahrhundert in ganz Europa auf dem Vormarsch ist und Schritt für Schritt an Bedeutung gewinnt: die Zeichenwelt der Heraldik.21

19 Dabei bleibt die recht ausführliche Darstellung des Streits um die Rüstung gewissermaßen ein blindes Motiv, denn abgesehen von der Tatsache, daß mit Hilfe dieses Schildes Hektor getötet wurde, wird nicht recht klar, warum diese Waffen so kostbar sind, daß ihretwegen erst Aiax und später auch Ulixes sterben müssen. 20 Vgl. v. 30863ff. und 39316ff. Auch in Herborts von Fritzlar „Liet von Troye", wo sehr viel von Schilden die Rede ist, wird fast nie deren Bildfläche beschrieben oder auch nur benannt 21 S. dazu BRAULT 1997 und ZIPS 1966.

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Und wenn es in der höfischen Epik doch hier und da so etwas wie kosmologisch bebilderte Rüstungen gibt, dann handelt es sich dabei fast immer um heidnische Kämpfer, die nicht nur ihre Waffenkleider mit Götzenbildern ihrer Götter schmücken - das Spektrum reicht von Jupiter, Mars, Venus und anderen bis hin zu Machmet, Baligan oder Tervigant - , sondern bisweilen auch Himmelskörper und ganze Himmelsdarstellungen darauf abbilden.22 Fast immer verbindet sich die heraldische Verfügung über den Himmel dabei mit einem hybriden, am Ende zum Fall führenden Herrschaftsanspruch der Ungläubigen. Einen spektakulären Schild, auf dessen Feld die Himmelskörper Sonne und Mond abgebildet sind, darüber zahlreiche leuchtende und mit goltfellen überzogene Edelsteine als Sterne, führt etwa der schreckenerregende und auf einem Elefanten reitende Riese Mentwin im „Orendel", der als der heiden kempher über daz lant (v. 1195) gegen den Grauen Rock antritt.23 Bei ihm verbindet sich der Sternenschild mit einer anderen Besonderheit heidnischer Bild- und Baukunst, einem spektakulären Automaten, der hier als Helmzier fungiert. Über dem neunzehneckigen, mit Inschriften verzierten Helm schwebt, getragen von vier Stangen, eine goldene Krone, in die eine ebenfalls goldene Linde gegossen ist. An dieser Linde finden sich viele Blätter, an welchen je ein Vogel schwebt. Animiert wird diese mobile Wunderbaumkonstruktion durch einen in die Krone mit zouber eingebauten Blasebalg, der über sechs goldene Röhren die Vögel singen läßt, reht als ob si lebten / und in den lüften swebten (v. 124 lf.). In die Linde ist außerdem ein mit Schellen besetztes Rad eingelassen, das ebenfalls durch den Blasebalg angetrieben wird und Töne produziert. Unter der Linde liegen ein Löwe, ein Drache, ein Bär und ein Eber aus Gold; Daran stuond der wilde man för wâr ich iuch daz sagen kann von gold, reht als er lebte und gegen den lüften strebte, (v. 1257ff.)

Trotz dieser audiovisuellen Aufrüstung unterliegt das freislîch tier (v. 1347) gegen den Grauen Rock, der im Gegensatz zu seinem hochfahrenden Widersacher durch die Blutspuren der Marter gezeichnet ist, die sich nicht mehr aus dem Stoff entfernen lassen. Noch ausfuhrlicher werden die mit Himmelskörpern verzierten Waffenkleider des Zwerges Walberan im „Laurin" Κ beschrieben (v. 770ff.). Walberan ist der heidnische Onkel Laurins, der diesem im Kampf gegen Dietrich von Bern zu Hilfe kommt; bei der Wappnung wird seine prächtige Ausrüstung geschildert. Seine Waffen sind vollständig mit der grünen und unzerstörbaren 22 „Die heiden beten [...] auch zu sonne, mond und Sternen", so GALLE 1912, 236, „und wählen deshalb die himmelskörper zu ihren zeichen." 23 Vgl. FASBENDER 1999,53 und 60f.

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Haut des Salamanders überzogen, sein Sattel besteht aus zwei goldenen Löwen, die sich mit ihren Klauen umgreifen. Auf seinem Wappenrock sind aus Gold Sonne, Mond und Sterne abgebildet, wobei an den Sternen goldene Schellen hängen, die bei jeder Bewegung einen dem Vogelgesang ähnlichen Klang verbreiten. Als eine Art Wappen wiederholt sich das Bildmotiv der Himmelskörper auf Schild, Pferdedecke, Banner und schließlich auf dem Helm, wo es in eine plastische, dreidimensionale und sich automatisch bewegende Figur umgesetzt wird. So befindet sich auf dem Helm eine Krone, die von einem Ring umschlossen wird, der zu allen zeiten umbegienc (v. 838), auf welchem vorn die Sonne - dargestellt durch einen Karfunkel - und hinten der Mond - dargestellt durch einen Rubin - angebracht sind. Der Mechanismus ist so kunstvoll eingerichtet, daz ir gane also was als an dem firmament [ist] gerichtet: also was ez getichtet recht als der Zirkel affricus. (v. 842ff.)

Die quasi-göttliche Erscheinung Walberans wird schließlich durch ihren Eindruck auf die Zuschauer unterstrichen, denn jeder, der ihn gesehen hat, bestätigt, daß die Edelsteine wie die wirklichen Sterne leuchten - so sehr, daß man Walberan selbst nicht mehr anblicken kann. Er verwandelt sich in dieser mit Gold und Edelsteinen gespickten Rüstung in eine Lichtgestalt, die nur aus dem Himmel selbst kommen könne (v. 969ff., 1007f.): si jähen, daz vom himel klar engel waeren kumen dar. wenne die sunne rechte erschain, so gar leuchtic was daz gestain, daz man von der staine prehen die leute nicht wol mochte gesehen. si sprachen, daz si von himel waeren, daz mochte ir schoene wol pewaeren. (v. 957ff.)

Zwar wird Walberan deutlich positiver dargestellt als der,wilde Mann' Mentwin - er geht nicht unter, sondern wird sogar über das Institut der Patenschaft mit der Sippe Laurins verbunden - , und weit mehr als im legendenhaften „Orendel" zeigt sich die Beschreibimg des Dietrichepos von der prächtigen Ausstattung des Zwergenkönigs fasziniert, wohingegen die Betonung des .Hochfahrenden' eher abgeschwächt wird. Gleichwohl bleibt das Muster erkennbar, das den Trägern selbstgefertigter Himmelszeichen in der höfischen Epik zugrunde liegt. Es handelt sich um nicht-christliche, unhöfische Figuren wie Zwerge oder Riesen, denen mit der himmlischen Zeichenwelt zugleich ein hybrider Herrschaftsanspruch auf den Leib geschrieben ist. Sie halten sich in

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ihrem wunderbaren Reichtum und ihrer Verfügung über orientalische Wunderautomaten selbst für gottgleiche Gestalten und werden für diese Überhebung in der Regel mit dem Tod bestraft. Neben der neu entstehenden Zeichenwelt der Heraldik ist damit ein weiteres, nun eher ideologisches Problemfeld benannt, das dem Fortleben von Homers Kosmos-Schild im christlichen Mittelalter im Wege steht, nämlich der prekäre Status jedes künstlichen Nachbaus des göttlichen Kosmos außerhalb der christlichen Gotteshäuser. Daß gerade Heiden diese Einsicht in die notwendige Demut vor der göttlichen Schöpfung vermissen lassen und ihren immensen Reichtum dazu einsetzen, nicht zuletzt das christliche Jenseits schon im Diesseits nachzubauen, führen die Epen und Romane immer wieder mit den entsprechend fatalen Konsequenzen vor Augen. Dieser für die mittelalterliche Ekphrasis zentrale Widerspruch von christlich-demütigem und heidnischanmaßendem Kunstschaffen, wie er sich prototypisch im Himmelsbau des Perserkönigs Cosdras ausgestaltet findet, wird uns im folgenden noch öfter begegnen.24 Die dreidimensionale, taktil und akustisch unterfütterte sowie mechanisch animierte Himmels-Heraldik eines Mentwin oder Walberan weist aber noch auf eine weitere Besonderheit mittelalterlicher Ekphrasen hin, nämlich auf ihre spezifische Räumlichkeit und Dreidimensionalität, die man in den zumeist flächigen Kunstbeschreibungen des antiken Epos vergebens sucht. Um dies zu verdeutlichen, soll der Blickpunkt im folgenden auf einen anderen antiken Text und seine mittelalterlichen Überschreibungen gerichtet werden, nämlich Vergils „Aeneis". Dieses römische ,Nationalepos' bietet sich für eine vergleichende Untersuchung der Kunstbeschreibung in Antike und Mittelalter deshalb besonders an, weil es sich in seinen zahlreichen Ekphrasen einerseits unmittelbar auf das homerische Vor-Bild bezieht und mit seinen Umarbeitungen des Prototyps andererseits stark auf das Mittelalter gewirkt hat.

24 Auf den Himmelsbau des Cosdras gehe ich im fünften Kapitel ein.

II. Die para-narrativen Ekphrasen des Hellenismus und die Kunstbeschreibungen Vergils P. Vergilius Maro galt dem Mittelalter nicht nur als Dichter-Autorität, sondern geradezu als Prophet, der - wenn auch in verhüllter Form - die zentralen Heilswahrheiten des Christentums, wie man meinte, in seinen .heidnischen' Texten bereits vorwegnahm.25 In seiner zwischen 29 und 19 v. Chr. entstandenen „Aeneis", die erzählt, wie der aus dem untergehenden Troja flüchtende Aeneas auf Geheiß der Götter nach Italien zieht und nach einer Zwischenstation in Karthago dort schließlich ein ,neues Troja', das spätere Rom, errichtet, wodurch er zum Ahnherren des römischen Reiches wird, schuf Vergil ein Epos, das im Mittelalter schon bald zu einem der wichtigsten Bücher neben der Bibel avancierte. Für unsere Fragestellung nach den antiken Grundlagen der mittelalterlichen Ekphrasis ist die „Aeneis" nun zunächst deshalb interessant, weil sie über ihre Funktion als Schullektüre hinaus in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in die Volkssprachen übertragen wird. Wohl um 1160 entsteht der anonym überlieferte anglonormannische „Roman d'Eneas", der zwischen 1170 und 1190 dann durch Heinrich von Veldeke bearbeitet und ins Deutsche übertragen wird.26 Wie der „Roman d'Eneas" im französischen Sprachraum wird auch Veldekes „Eneas" nach Auskunft seiner Zeitgenossen in Deutschland als eigentliche Gründungsleistung des höfischen Romans gesehen. Neben Neuerungen in der Reimform finden sich hier maßgebliche antike Traditionen erstmals fìir ein volkssprachiges Laienpublikum aufbereitet; zudem werden neue Standards höfischer Erzählkunst gesetzt. Dies betrifft vor allem die Verbindung von Herrschaft und Minne, die fortan zum eigentlichen Thema des höfischen Romans werden wird, aber auch - und dies ist für die hier verfolgte Fragestellung besonders wichtig - eine bis dahin ungekannte Breite an Beschreibungen und Schilderungen materieller wie zeremonieller Hofkultur. Wenn ich im folgenden Vergils „Aeneis" samt ihren volkssprachigen Bearbeitungen aus dem 12. Jahrhundert an den Anfang meiner Studie über die Ekphrasis im Mittelalter stelle, dann soll damit in den Blick genommen werden, wie sich der höfische Roman gerade in seiner Gründungsphase zu den ekphrastischen Techniken und Vor-Bildern seiner antiken Quellen verhält. Dazu 25 Vgl. WORSTBROCK 1999. 26 Zu Datierung, Entstehung und möglichen Auftraggebern der Texte s. OPITZ 1998,37ff.

Die Kunstbeschreibungen VergiU

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wird es nötig sein, Vergils Gebrauch der Ekphrasis vorab kursorisch darzustellen, mit dem sich der römische Epiker in signifikanter Weise ebenso auf den homerischen Prototyp bezieht wie er diesen auch weiterentwickelt. Bekanntlich ist Vergils gesamter Text den homerischen Epen äußerst eng verbunden, da er als eine römische .Antwort' auf Homer und die griechische Mythologie angelegt ist. Von ihrer Struktur her ergibt die „Aeneis", so ist schon in der Vergil-Biographie des Aelius Donatus zu lesen, „gleichsam ein Abbild der beiden homerischen Epen".27 Der ebenfalls spätantike Autor Macrobius, der im Mittelalter in moralischen, philosophischen und wissenschaftlichen Fragen stark rezipiert wurde, faßt diese ,Überschreibung' mit einer Spiegelmetapher. In dem Teil seiner „Saturnalia", der sich Vergils poetischer Bearbeitungstechnik widmet, stellt er die (rhetorische) Frage, ob sich nicht dessen gesamtes Werk wie in einem Spiegel an Homers Modellen orientiere (quid quod et omne opus Vergilianum velut de quodam Homerici operis speculo formatum est?',

5,2,13).28 Heute ist es jedenfalls weitgehend unstrittig, daß Vergils Epos als eine typologische Überbietung von „Ilias" und „Odyssee" verstanden werden kann, die die von Homer in gültiger Form gestaltete Mythologie der Griechen in sich aufnimmt und zugleich übersteigt.29

Die Ekphrasen der „Aeneis" Insgesamt finden sich sechs größere Ekphrasen in Vergils „Aeneis": zuerst eine Bildererzählung vom trojanischen Krieg auf den Mauern des Junotempels in Karthago (I, 453-493); dann ein von Aeneas gestiftetes Gewand mit der Darstellung der Ganymedsage (V. 250-257); weiter ein von Daedalus verzierter Apollo-Tempel mit Bilderzählungen kretischer Sagen (VI, 20-33); der Kampfschild des Aeneas-Gegners Turnus mit Darstellungen von Io, Argus und Inachus (VII, 789-792); der Schild des Aeneas mit Szenen aus der zukünftigen Geschichte Roms (VIII, 626-728); und schließlich der Schwertgürtel des Pallas mit von Clonus gefertigten Darstellungen eines Massakers an jungen Männern in der Hochzeitsnacht (X, 497-499). Die beiden mit Abstand am ausführlichsten geschilderten sowie für die Literaturgeschichte der Ekphrasis folgenreich-

27 Zitiert und übersetzt nach: BINDER und BINDER, Kommentar zur „Aeneis"-Teilausgabe (Dido und Aeneas), 131. 28 Zitiert nach KELLY 1999, 67, der in der von Macrobius herausgestellten Adaptationstechnik Vergils das zentrale Vorbild für die mittelalterliche Kunst des „rewriting", des Adaptierens und Oberschreibens sieht 29 Nach HERZOO 1993, SS, „reproduziert Aeneas' Handeln die homerischen Szenen der Ilias und Odyssee in einer Ausschließlichkeit, daß es bis heute kontrovers ist, ob überhaupt .eigene' szenische Ensembles vorliegen."

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sten Bildwerke, Troja-Tempel und Aeneas-Schild, nehmen dabei besonders deutlich auf die Vorgaben von Homers „Ilias" Bezug.30 Gleich im ersten Buch der „Aeneis" findet sich die in Form einer Bilderreihe dargestellte Chronik der Ereignisse vor Troja, die Aeneas nach langer Irrfahrt bei seiner Strandung in Karthago auf einem zu Ehren der Juno errichteten Tempel entdeckt. Diese von der Herrscherin Dido gestifteten Tempelbilder, in denen Aeneas nicht allein seine Freunde und Verwandten, sondern auch sich selbst im Kampf betrachten kann, stellen die erste längere Beschreibung eines mythologischen Wandbildes in der antiken Literatur dar.31 Gleich zu Beginn der „Aeneis" postiert, eröffnet die Ekphrasis das Epos mit einer visuellen Erinnerung an die Vorgeschichte des trojanischen Krieges, wie sie durch Homer bekannt ist. In diesem intertextuellen Bezug auf das griechische Epos ist nun eine besonders faszinierende Form der ekphrastic response zu sehen, wie sie im Zitieren und Überschreiben intertextuell verfügbarer Ekphrasen nun immer wieder begegnet.32 Denn Vergil,antwortet' in diesem Bildkunstwerk nicht nur auf ein anderes, vorausgehendes Bildkunstwerk Homers, nämlich den Schild des Achilles als Ur-Bild aller Ekphrasen, sondern er transformiert darüber hinaus gleich den gesamten Text der „Ilias" in ein visuelles Kunstwerk. Das zitierte Epos als ganzes erhält somit ein visuelles Interface; die „Ilias" wird in Form eines Bildkunstwerks vom römischen Epos erinnert, aufgehoben und zugleich stillgestellt. Noch mehr Raum als die Troja-Ekphrasis nimmt schließlich die Beschreibung des Schildes ein, den Aeneas vor dem entscheidenden Kampf gegen Turnus von seiner Mutter Venus erhält.33 Während die Wandbilder zu Beginn des ersten Buches eine Rekapitulation der Geschehnisse des trojanischen Krieges einleiten und Aeneas dazu veranlassen, ausführlich vor Dido seine eigene Sicht auf die Ereignisse in einer langen Erzählung darzulegen, orientiert sich die Schildbeschreibung überdies motivisch unübersehbar am Schild des Achilles.34 Wie dieser ist auch die Waffe des Aeneas von ihrem göttlichen Schöpfer Vulcan mit einer äußerst komplexen Bilderzählung überzogen, auch Vergils Held trägt den prächtig dekorierten Schild in einem Moment in die Schlacht, der der

30 Daneben gibt es sehr kurze Ekphrasen wie die Erwähnung des Eßgeschirrs bei Dido, in das die heroischen Taten der Vorfahren, die glorreichen Ahnen von Karthago, eingraviert sind (I, 641f.). S. zur Ekphrasis in der „Aeneis" HEINZE 1976, 391ff., und jetzt die umfassende Studie von PUTNAM 1998. 31 Die Troja-Wandbilder werden ausillhrlich im vierten Kapitel behandelt 32 „After Homer, all ekphrasis becomes doubly paragonai: a contest staged not just between the word and the image but also between one poet and another" (HEFFEKNAN 1993, 23). DUBOIS 1982, 5f., spricht von „Citation" als herausragendem Merkmal poetischer Ekphrasis und geht dabei insbesondere auf Vergils Zitate der homerischen Schildbeschreibung ein. 33 Vgl. PUTNAM 1998,119ff. 34 S. jetzt auch BINDER und BINDER, Kommentar zur „Aeneis"-Teilausgabe (7. und 8. Buch), 207ff.

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Handlung eine entscheidende Wendung geben wird, und wie bei Homer spielen schließlich auch in dieser Rüstungsszene die anderen Waffenteile nur eine untergeordnete Rolle, wohingegen die Projektionsfläche des Schildes ganz in den Mittelpunkt rückt.35 Doch Vergil nimmt auch gravierende Veränderungen vor. So wird Aeneas im Gegensatz zu Achilles die Schlacht überleben und zu einem Ahnherrn des römischen Reiches werden, zu einer Präfiguration des Kaisers Augustus gar, der als Troianus origine Caesar (I, 286) erscheint. 36 Zur Unterstreichung die-

ser welthistorischen Mission seines Helden ersetzt Vergil die statisch-zirkuläre Kosmos-Schau auf dem Schild des Achilles durch Darstellungen historischer Ereignisse auf dem Schild des Aeneas: Illic res Italas Romanorumque triumphos haud vatum ignarus venturique inscius aeui fecerat ignipotens, illic genus omne futurae stirpis ab Ascanio pugnataque in ordine bella. (VIII, 626ÍT.)

Konnte Aeneas auf den Wandbildern des Tempels in Karthago die in der Vergangenheit liegenden Taten seiner trojanischen Freunde und Verwandten betrachten, so treten ihm auf dem Schild nun in einer Reihe von Einzelbildern die zukünftigen Errungenschaften seiner Nachfahren entgegen, die letztendlich in der Weltherrschaft des Imperium Romanum enden: Zuerst die Geschichte Italiens und, mit Romulus und Remus, die Vorgeschichte Roms, dann die Gründung des Reiches, seine Gefährdung durch den Bürgerkrieg und die Seeschlacht von Actium, in der Octavian seine Herrschaft mit dem Sieg über Antonius und Cleopatra endgültig durchsetzt - immer wieder sind es „kritische Momente der römischen Geschichte, die durch romfreundliche Gestalten und deren Taten bewältigt wurden".37 Am Ende schließlich nehmen die Errungenschaften der augusteischen Friedensordnung Gestalt an, die breit dargestellt werden. Anders als bei Achilles, von dessen Blicken auf das göttliche Kunstwerk die „Ilias" nur spärlich berichtet, nimmt hier nun die Reaktion des textinternen Bild-Betrachters breiten Raum ein. Aeneas steht mit einer Mischung aus Freude und Erstaunen vor dem Schild, fehlt ihm doch das Verständnis für die auf seiner Oberfläche dargestellten, erst in der Zukunft sich verwirklichenden Szenen und Ereignisse des fatum. Dem Publikum der „Aeneis" sind all die geschilderten Szenen hingegen sehr wohl bekannt, es handelt sich schließlich um Schlüsselereignisse seiner eigenen politischen Geschichte. Retrospektiv einge-

35 Dabei beschreibt Homer die anderen Waffenteile nach dem Schild, wahrend Vergil den Schild ans Ende seiner Waffenbeschreibung setzt. 36 BINDER 1971, s. auch HERZOO 1993, 84FF. (besonders zur Technik der typologischen Wiederholung). 37 BINDER und BINDER, Kommentar zur „Aeneis"-Teilausgabe (7. und 8. Buch), 208.

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rahmt durch die Erinnerung an den trojanischen Krieg und prospektiv eingerahmt durch die ,Erinnerung' an den - aus der Perspektive des Publikums selbst schon historischen Weg Roms zur weltbeherrschenden Macht, gerät auch die Handlung der „Aeneis" so zu einem Fragment in der großen geschichtlichen Schau, die die Bildbeschreibungen bei ihrem hörenden oder lesenden Betrachter stimulieren. Wie in einer Klammerstellung greifen dabei die beiden großen Ekphrasen des Textes ineinander, indem sie durch das eine Bildkunstwerk die trojanische Vorgeschichte in der Erzählung spiegeln und durch das andere die im Epos beschriebenen Ereignisse wie im Zeitraffer bis zur Jetzt-Zeit des Publikums fortführen. So verbindet die „Aeneis" zwei Epochen im Sinn einer translatio imperii miteinander, nämlich die Zeiträume des griechischen Mythos und der römischen Geschichte.38 Der Ekphrasis, wiewohl vom gerundeten Welt-Bild zur linear angeordneten Reihe von Geschichtsbildern transformiert, eignet bei Vergil also eine kaum weniger universale Dimension als bei Homer. Auf den bebilderten Projektionsflächen von Schild und Tempelmauer tritt den Hörern und Lesern die Zeitkonzeption des gesamten Epos entgegen.39 So ist denn auch eine wesentliche Innovation der Schildbeschreibung Vergile gegenüber dem homerischen Vor-Bild in der Ersetzung der statisch-runden Kosmos-Schau durch eine linear organisierte Reihe von Einzelbildern zu sehen, in denen historische Ereignisfolgen Gestalt annehmen. Die in der Ekphrasis des griechischen Epos herrschende Dimension des ,gerundeten Kosmos' und der zyklischen Zeitläufe40 wird von Vergil durch die lineare Dimension einer dynamischen .geschichtlichen' Zeit ersetzt. Für diesen Umbau der Ekphrasis zu einer zielgerichteten Bilderzählung innerhalb der eigentlichen Erzählung konnte Vergil auf andere, jüngere literarische Vor-Bilder zurückgreifen. Schon in der „Aspis" des Pseudo-Hesiod finden sich auf dem an Homer orientierten Kosmos-Schild des Herakles mythologische Figuren wie Theseus und die Gorgonen abgebildet, Personen also, die eine allgemein bekannte Geschichte in die Ekphrasis einbringen - auch wenn diese im Text selbst nicht auserzählt wird.41 Im Hellenismus wird die hier in Ansätzen bereits angelegte Narrativierung der ekphrastischen Bilder dann weiter entwickelt. So ist im

38

Vgl. HERZOO 1993.

39 Zum Verhältnis von Zeitkonzeption und Ekphrasis DUBOIS 1982, zu Vergil 28FF. „Die Botschaft des vergilischen Schildes ist letztlich, daß römische Macht, Roms Weite und Tugenden von den Anfängen bis zur Zeit des Augustus kontinuierlich unter göttlicher Begleitung errungen wurden und gegen anti-römische Mächte und Einflüsse verteidigt werden mußten. Die Bilder fassen somit die intendierte Aussage des ,Rom'-Buches wie der ganzen Aeneis zusammen und zeigen Aeneas das grandiose Telos des ihm auferlegten Handelns" (BINDER und BINDER, Kommentar zur „Aeneis'-Teilausgabe [7. und 8. Buch], 208). Vgl. PUTNAM 1998, 166.

40 Grundlegend dazu DUBOIS 1982,9ff. 41 Vgl. KURMAN 1974,3.

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Argonautenepos des Apollonios von Rhodos der Mantel des Jason beschrieben, auf dem, von Athena bestickt, Motive aus der griechischen Mythologie aufgereiht sind (I, 72 Iff.)· Auch in Theokrits „Thyrsis" finden sich mehrere Einzelbilder, die aber ebenfalls noch nicht streng linear im Sinne einer zusammenhängenden Bildergeschichte angeordnet sind (v. 27ff.). Erst Moschos fügt in seiner „ E u r o p a " die drei Einzelbilder auf dem goldenen Korb der Europa, der von Hephaistos gefertigt ist, zur einer fortlaufenden ,Erzählung in der Erzählung' zusammen (II, 37ff.). Sie stellen die Sage von Argus und Io dar, womit erstmals, soweit ich sehe, eine linear organisierte und in sich geschlossene Bilderzählung zum Gegenstand einer Ekphrasis wird, die hier überdies in Form eines ,Parallelmythos' zur Rahmenhandlung in einem kontrastierenden, spiegelnden Verhältnis steht.42 Genau an diese Tradition knüpft dann Catull an, wenn er in seinem Carmen 64 in ungewöhnlich breiter Form die AriadneSage beschreibt, die als Bilderzählung auf der purpurnen Hochzeitsdecke von Thetis und Peleus abgebildet ist (v. 50ff.)· Im Anschluß an Moschos schaltet auch er mit dieser „narrazione nella narrazione"43 der Haupthandlung eine Vorgeschichte vor, die jene aus einer bestimmten Perspektive spiegelt und sie so in einem anderen, nämlich tragischen Licht erscheinen läßt.44 In Vergils ekphrastic reponse auf Homer fließen also Einflüsse einer jüngeren, vornehmlich hellenistischen Tradition der Ekphrasis als .Erzählung in der Erzählung' ein, in der die eingelegte Bilderzählung zu der sie umgebenden Rahmenerzählung in einem Spiegelverhältnis steht. In einer Synthese aus diesen beiden Traditionen, hellenistischen „paranarratives"45 - die sich zumeist nicht mehr auf Schilden, sondern anderen tragbaren Gebrauchsgegenständen finden - einerseits und dem homerischen Kosmos-Schild andererseits, weist der römische Epiker der Ekphrasis eine neuartige Funktion zu. Inmitten eines epischen Textes fangt sie einen universalen Blick auf eine Welt ein, die nun dezidiert historisch konfiguriert ist. Dem Welt-Bild, in das die „Aeneis" durch ihre Ekphrasen eingerückt wird, liegt ein geschichtlicher, von linearer Zeitlichkeit geprägter Kosmos zugrunde.46

42 PERUTF.T.T.T 1979 spricht von einer „inversione speculare" (so der Titel seines Ekphrasis-Kapitels), vgl. zu Moschos 35ff. sowie FRIEDLÄNDER 1912, 15f.; FOWLER 1991, 30, und FREYSALLMANN 1931, 5. 43 PERUTELLI 1979, 39. Vgl. zur Ekphrasis als .Erzählung in der Erzählung' auch die einschlägigen Beiträge in HAFERLAND/MECKLENBURO 1996, sowie die Einleitung. 44 Vgl. VON ALBRECHT 1972,24ff.; HEFFERNAN 1993,31f; FRIEDLÄNDER 1912,16f. 45 BLANCHARD 1978, 246, sieht im hellenistischen Epos die Tendenz „that the whole work is made up of juxtaposed paranarratives, each attempting to present, as if under a magnifying glass, the solution to a passing problem." 46 Daß durch die runde Form des Schildes auch der Linearità! der historischen Perspektive ein zirkuläres Moment eingebaut wird, zeigt PUTNAM 1998, 121f., 154ff., der den Aeneas-Schild „as an icon not only for Roman splendor but of history's repetitiveness" liest (155), als „a visible icon of circularity" (154).

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Bewegungsbilder: Das ,kinematographische' Moment antiker Kunstbeschreibungen Lessing hat in einer vielfach aufgegriffenen Äußerung in seinem „Laokoon" Kritik daran geübt, daß Vergil mit seinen Kunstbeschreibungen dem Text einen Fremdkörper, „ein wahres Einschiebsel" einbaue, „ein fremdes Bächlein, das der Dichter in seinen Strom leitet", wodurch er den Fortlauf der Handlung über Gebühr unterbreche, weil er nicht, wie Homer, den Prozeß der Herstellung der Kunstwerke beschreibe, sondern ihr statisches Endprodukt.47 Nun schildert Vergil den Schild ebenso wie die Tempelbilder tatsächlich kaum im Akt ihrer Herstellung, doch dies bedeutet keineswegs, daß damit das prozeßhaft-dynamische Moment aus seinen Ekphrasen verschwindet. Vielmehr wird der bei Homer zu beobachtende Akt der Bildherstellung in der „Aeneis" durch eine andere Handlung, nämlich den Prozeß der Bildbetrachtung ersetzt „As Homer used verbs of making to bind up the description of the parts of Achilles' shield and to stress their maker", so Page DuBois, „Vergil uses verbs of perceiving to emphasize to the audience that they are seeing through Aeneas' eyes."48 Nicht die Hände des Künstlers Hephaistos lenken die Blicke der Textbenutzer, sondern die Augen des textinternen Bildbetrachters Aeneas. Handlung und Bewegung verschwinden damit nicht aus der vergilischen Ekphrasis, sondern die Performativität der Bildbeschreibung verlagert sich auf andere Ebenen. So sind nicht zuletzt die Bildinhalte bei Vergil weitaus stärker als bei Homer in Bewegung versetzt. Da ist zum einen die Historie selbst, die sich in der linearen Verkettung der Einzelbilder gleichsam durch diese hindurch ,bewegt'. Erst in ihrer Ordnung als eine sukzessiv zu lesende Reihe von chronologisch aufeinander folgenden Ereignissen ergeben die zahlreichen Szenen und Episoden auf Tempelwand und Schild historischen Sinn: videtlliaces ex ordine pugnas (I, 456), heißt es zu Aeneas' linear strukturierter ,Lektüre' der Tempelbilder; auf dem Schild sieht er in ordine bella (Vili, 629). Innerhalb eines homogenen Zeitkontinuums zeigt jedes Einzelbild eine neue, veränderte Szenerie und macht so den Lauf der Geschichte selbst anschaulich, bis sie am Ende in einer alle anderen Szenen überragenden, prophetischen Schlußeinstellung mündet, die den Friedensherrscher Augustus als gottgleichen Triumphator feiert.49

47

LESSING 1 9 8 8 , 1 2 6 .

48

DUBOIS 1 9 8 2 , 3 3 . Vgl. PUTNAM 1998, 168FF.

49 Vgl. zur Linearità! der „Aeneis" und ihrer Ekphrasen DUBOIS 1982,31 ff.

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Diese in der Ekphrasis sichtbar gemachte .Bewegung' der Geschichte, die sich genau genommen zwischen den Einzelbildern abspielt, findet nun ein Pendant in der Bewegtheit der einzelnen Bilder selbst. Diese bestehen aus Darstellungen von Schlachten und Kriegen, von rauschenden Wellen und durch das tosende Meer schwimmenden Delphinen, von menschlichen Körpern, die von Streitwagen in Stücke gerissen werden usf. - „alles mehr oder weniger skizzenhafte Szenen voller Bewegung", wie schon Alma Frey-Sallmann feststellt.50 Geradezu emblematisch zugespitzt wird diese kinetische Aufladung der Ekphrasen darin, daß Vergil den homerischen Okeanos, der den Kosmos der menschlichen Alltagstätigkeiten auf dem Schild des Achilles ruhig umschließt, durch die Darstellung der heftig tobenden Seeschlacht von Actium in der Schildmitte ersetzt.51 Diese dynamisch-performative Dimension der Bilder wird dadurch weiter unterstützt, daß Vergil bei der Beschreibimg der Bilder und ihrer Szenen immer wieder vom epischen Präteritum ins Präsens überwechselt.52 Schließlich hat diese Kumulation von bewegten Einzelbildern zum Gesamtbild einer bewegten Geschichte aber auch einen stark .bewegenden' Effekt auf den Betrachter. Die historischen Bilderfolgen wecken Emotionen, zuerst bei Aeneas und dann auch bei den Lesern, die die Tempelbilder ebenso wie den Schild durch die tränenverhangenen bzw. freudestrahlenden Augen des Protagonisten überhaupt erst,sehen' können. Dabei sind die Einzelbilder nicht eigentlich informativ, sondern sie erinnern das Publikum an wohlbekannte, kritische Phasen der eigenen Geschichte, an kulturprägende Ereignisse des kollektiven Gedächtnisses, die wohl emotional stark besetzt waren. Die einzelnen Szenen ähneln daher in gewisser Weise den imagines agentes der antiken Gedächtniskunst, bei denen es ebenfalls darum ging, mit Hilfe von aktiven, eben handelnden', aber auch emotional wirksamen Bildeinheiten komplexe Gedächtnisinhalte zu speichern und abzurufen.53 Vergegenwärtigt man sich nun das in der vergilischen Ekphrasis zu beobachtende Zusammenspiel von materiell fixierten und linear angeordneten Bilderfolgen, die durch den Zeitstrom der Erzählung vor dem inneren Auge des Lesers in Bewegung versetzt werden, dann fühlt man sich an das Grundprinzip der bewegten Bilder in Kino, TV oder Computer erinnert. Auf diese ,kinematographische' Dimension der para-narrativen Ekphrasis hat etwa 50 FREY-SALLMANN 1931, 7. Ausführlich zum Bewegungsaspekt vor allem der Schildbeschreibung nun PUTNAM 1998, 119ff. 51

DUBOIS 1982, S. 43. Vgl. PUTNAM 1998, 136ff.

52 PUTNAM 1998, 120. „This change gives texture to ekphrastic time by reflecting how the action of the shield, unlike Vulcan's spate of crafting, is to be perceived as continuous, which is to say unfinished or ongoing." 53 Vgl. CARRUTHERS 1998, 196: „The action is presented by Virgil as an actual event, but it mirrors the practice, commonplace to Virgil and his audience, of rhetorical composition located in the pictures of memoria."

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Michel Beaujour hingewiesen: „Static .figures' spring into action: this effect is analogous to the animation of a motion-picture freeze shot."54 Vor dem Hintergrund einer sich erweiternden Pré-Cinema-Forschung, die einer Vorgeschichte der kinematographischen Wahrnehmung nicht mehr nur im Hinblick auf die Apparate der Bewegungsbilder nachspürt, sondern auch hinsichtlich der kognitiven Dimensionen eines .inneren Films' vor dem Film,55 hat Horst Wenzel unlängst das Wandbild der alten Kulturen mit dem Kino verglichen und so zwei historische Realisationen des Bewegungsbildes gegenübergestellt: „Die Bildwahrnehmung eines Tempelreliefs oder eines Freskos mit seinen verschiedenen Teilbildem, die man abschreiten muß, um die Geschichte ganz zu sehen, unterscheidet sich einerseits fundamental vom Kino, ist andererseits aber auch damit verwandt, weil sie eine dynamische, bewegungsorientierte Perzeption verlangt. [...] Während der moderne Film charakterisiert ist durch den festen Standort des Betrachters, vor dessen Auge sich das Bild bewegt, ist die Unästhetische Wahrnehmung des Mittelalters charakterisiert durch das fixierte Bild oder die Bildfolge, an der sich die Person des Betrachters entlang bewegt."56 In diesem Szenario könnte man nun Vergils Kunstbeschreibungen - und letztendlich der visualisierenden Literatur überhaupt57 - eine Art Zwischenstellung zwischen Wandbild und Kinoleinwand zuweisen. Auch die Ekphrasen der „Aeneis" verlangen eine .bewegungsorientierte Perzeption', doch ist die körperliche Bewegung, die ein leibhaftiger Betrachter zum Abschreiten eines Wandbildes aufwenden muß, im literarischen Medium aufgehoben, gleichsam virtualisiert. Wie die Bewegung kinematographisch animierter Bilder im Apparat des Kinematographen steckt - ähnliches gilt für computeranimierte BilBEAUJOUR 1 9 8 1 , 3 3 . EBERSBACH, Kommentar zur CatuU-Ausgabe, 1 1 9 , sieht in der erwähnten Einblendung der Ariadne-Sage in Catulls Carmen 64 „Rückblenden mit beinahe filmischem Eindruck". 55 Vgl. die verschiedenen Ansitze bei LEOLISE 1958, I D O L I S E 1960, SETTEKORN 1996 und B E R N S 2000 sowie zum Apparate-orientierten Ansatz H E C H T 1993. 56 WENZEL 1999b, 549. 57 In der französischen Ρτέ-Cinema-Forschung der ausgehenden fünfziger Jahre ist der gesamte Text der „Aeneis" - und nicht nur die Ekphrasen - als Paradebeispiel für besonders ,filmisches Erzählen' herangezogen worden. Insbesondere LEOLISE 1958 hat auf „l'art visuel de Virgile" verwiesen und darin „un art filmique" gesehen (23). Er bescheinigt dem Epos eine „découpage technique", unter der er etwa das .Malen' von Tableaus und ihre anschließende Animation versteht, weiter das Ausnutzen aller möglichen Spielarten der Vision und des Sehens, etwa die Differenzierung von Beobachterpositionen in Räumen und Landschaften sowie das Vernetzen solcher Einzelszenen zu einem kontinuierlichen .visuellen' Handlungsverlauf. Auf diese Weise entstehe eine Ait visueller Rhythmus, „un rhythme agréable à l'imagination visuelle du lecteur" (24). LEOLISE führt seine „analyse filmique" beispielhaft - und Bild für Bild - am ersten Buch der „Aeneis" durch, wobei er mit einer Unterscheidung von Bildern auf der einen und Dialogen bzw. Monologen auf der anderen Seite arbeitet Vgl. A O E L 1960 sowie EDOEWORTH 1992, der in Obereinstimmung mit Leglise darauf abhebt, daß Vergil im Gegensatz zu seinen Vorgängern „an intensely visual poet" (1) sei.

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der - , so steckt die Bewegung der ekphrastischen Bilder in der materiellen Spur des Textes. Sie wird aktiviert durch den sich in der Zeit vollziehenden Prozeß der Lektüre und als eine Art ,Kino im Kopf in der Imagination des Textbenutzers realisiert. Insofern der hörende oder lesende Betrachter von Vergils Tempelbildern in eine Situation versetzt wird, in der er von einem unbewegten, „crucial vantage point"58 aus eine stark bewegte Szene nach der anderen vor seinem .inneren Auge' vorbeilaufen sieht, ähnelt er dem Kinobesucher eher als dem leibhaftig sich bewegenden Betrachter eines Wandbildes. Von der vermeintlichen Statik der Kunstbeschreibung bei Vergil bleibt so am Ende wenig übrig. „The work of art", so James Heffernan über die Ekphrasen der „Aeneis", „has entered so deeply into the rhythm and texture of the narrative - has been so fully converted from the fixity of its poses to the dynamism of its kinetic effect - that it ceases to be interruptive, ornamental, or even antithetical to the poetic world."59

58

PUTNAM 1998, 122.

59 HEFFERNAN 1993, 36. Auf diese enge Verbindung von Bildmedium und Bewegung in Vergils Ekphrasen haben unlängst auch BINDER und BINDER, Kommentar zur „Aeneis"-Teilausgabe (7. und 8. Buch), 208, hingewiesen: „Vergil vermittelt durch Verben und Positionsangaben ständig den Eindruck, er beschreibe ein Bild [...]. Zugleich aber gewinnen die Bilder Leben, verselbständigen sich zu eigenen Handlungseinheiten, in denen sich Personen, Tiere, Sachen bewegen."

ΠΙ. Vom flachen Bild-Schirm zum materiellen Artefakt: Die Schildbeschreibungen der Eneasromane Blickt man nun von Vergils ,kinematographischen' Ekphrasen auf ihre Rezeption in den Eneasromanen des 12. Jahrhunderts, dann stößt man auf einen ähnlichen Befund, wie er oben für die mittelalterlichen Troja-Epen skizziert worden ist. Auch die volkssprachigen Adaptationen der „Aeneis" verzichten fast vollständig auf die Bildbeschreibungen ihrer antiken Vorlage. Weder im „Roman d'Eneas" noch in Veldekes „Eneas" ist auch nur eine der zahlreichen Bildbeschreibungen der „Aeneis" annähernd erhalten geblieben.60 Stattdessen werden in den mittelalterlichen Adaptationen äußerst kunstvoll gebaute, raumgreifende und prächtig geschmückte Grabmäler errichtet, die man wiederum in der antiken Vorlage vergebens sucht. Eine analoge Verschiebung vom Schild zum Grab läßt sich übrigens auch für die frühen mittelalterlichen Trojaromane zeigen, wo neben Hektor auch Achilles - gleichsam als Ersatz für den Verlust seines Kosmos-Schildes - ein prächtiges Grabmonument erhält.61 Die Rezeption der antiken Ekphrasis in der volkssprachigen Antikenepik des 12. Jahrhunderts geht also mit einer gezielten Überschreibimg einher, der ich mich im Hinblick auf die Eneasromane im folgenden in zwei Schritten annähern möchte. Zunächst gilt es, diejenigen Kunstbeschreibungen in den Blick zu nehmen, die noch am ehesten mit den Vor-Bildern der „Aeneis" zu vergleichen sind, nämlich die ausführlichen Darstellungen von Schild und Rüstung des Eneas. Sodann sind die neu errichteten Grabbauten als die im eigentlichen Wortsinn herausragenden Ekphrasen der mittelalterlichen Eneasromane in Augenschein zu nehmen und im Licht der antiken Ekphrasis-Tradition zu betrachten.

Die Rüstungsschilderung im „Roman d'Eneas" Die Schilderung der Waffen, die Eneas von seiner Mutter Venus nach der Landung in Italien erhält, ist die einzige Ekphrasis Vergils, die in den Adaptationen seiner „Aeneis" aus dem 12. Jahrhundert eine deutliche Entsprechung hat. Von der Bildfläche des Schildes verschwindet hier jedoch nicht nur die 60 S. den Oberblick bei CLEMENTE 1992, 20f. 61 S. „Roman de Troie" v. 16600ff. (Hektor) und v. 22343ff. (Achilles) sowie Herborts von Fritzlar „Liet von Troye" v. 10735ff. (Hektor) und v. 13753ff. (Achilles).

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große, in die Zukunft weisende Geschichtsvision Vergils, sondern mit ihr auch jegliche Form der Bilderzählung. Der anonyme Verfasser des „Roman d'Eneas" rüstet seinen Protagonisten mit einem Schild aus der Rippe eines Meerungeheuers aus, der zwar ebenfalls von Vulcan hergestellt ist, hier aber vor allem durch seine kostbaren Materialien auffällt, die ihn ebenso hart wie leicht machen (forz et legiers; v. 4449). Der Halsriemen besteht aus Goldbrokat (v. 4467), und auf der Schildoberfläche ersetzt ein Musterstück früher epischer Heraldik die ,kinematographische' Bilderzählung Vergils. Das Feld des Schildes ist ganz rot (la targe en ert tote vermeille; v. 4450) und trägt einen goldenen Rand, durch die Mitte ziehen sich drei goldene Schrägrechtsbalken.62 Darüber hinaus werden feine Reliefs auf dem Schild erwähnt, außerdem Edelsteine, die hier und dort aufgesetzt sind. Die Beschreibung gipfelt in der Darstellung des Schildbuckels, der topasgrün ist und auf dem ein eingefaßter Karfunkelstein sitzt, „der bei Nacht eine solche Helligkeit verbreitete, als wäre es ein Sommertag" (ki par nuit getot tel clarté, / com se ce fust un jor d'esté; v. 4465f.).63 Bestand die visuelle Qualität des Schildes bei Vergil in der auf seiner Oberfläche angebrachten Bilderzählung, so rückt der „Roman d'Eneas" zwei andere Aspekte in den Vordergrund: zum einen die nicht nur visuell, sondern auch taktil zu erschließende Kostbarkeit seiner wunderbaren Materialien, zum andern das festgestellte, auf einen Blick zu erfassende heraldische Zeichen auf der Schildoberfläche, das keine Spuren von Bewegung mehr aufweist. Außerdem wird das Strahlen der Waffen, in der „Aeneis" Folge der glänzenden Metalle, ersetzt durch einen aus sich heraus leuchtenden Edelstein, den roten Karfunkel, der als der wichtigste der an Gemmen ohnehin reichen mittelalterlichen Ekphrasen angesehen werden kann.64 Mit der Konzentration auf das Material geht überdies eine gewachsene Bedeutung der übrigen Waffenteile einher. Während bei Vergil dem über hundert Verse einnehmenden Bildprogramm auf dem Schild, ähnlich wie schon bei Homer, lediglich 5 Verse über die anderen Waffen (Helm, Schwert, Panzer,

62 Vgl. zur heraldischen Teiminologie insbesondere von bende und targe BRAULT 1997, 120fF., 277 und llSf., der allerdings den Schild des Eneas nicht behandelt In der Obersetzung von SCHÖLER-BEINHAUER kommt die heraldische Dimension des Schildes m.E. nicht adäquat zum Ausdruck. 63 Die Obersetzung folgt hier wie auch sonst, wenn nicht anders angegeben, der zweisprachigen Ausgabe von Monika SCHÖLER-BEINHAUER. - Der gemeinhin als gelb-gold-blau schimmernd wahrgenommene Topaz repräsentiert in der späteren Kodifiziemng der Heraldik die Farbe Gold, s. ROTHERTY 1994, xv.

64 Schon in der „Chanson de Roland" schmücken Amethyst, Topaz und Karfunkel einen Schildbuckel (v. 1499ffi), s. ENGELEN 1978, 142f. Dort auch zahlreiche Beispiele von mit Edelsteinen besetzten Ritterrüstungen (139ff.) und Schilden (142ff.). Zum Karfiinkelstein, der im Mittelalter gleichbedeutend auch als Rubin begegnet, s. zusammenfassend ZIOLKOWSKI 1961. Ich werde auf den selbstleuchtenden KarfUnkelstein noch öfter zurückkommen.

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Die antike Ekphrasis und ihre Oberschreibungen im 12. Jahrhundert

Beinschienen, Speer) gegenüberstehen (VIII, 620-624), widmet der „Roman d'Eneas" jeder Einzelwaffe einen eigenen Abschnitt.65 Angefangen mit dem Kettenpanzer, setzt sich die Beschreibimg über Knieschienen, Helm, Schild, Schwert und Lanze fort (v. 4415-4523),66 wobei nun auch die Sonderstellung des Schildes aufgegeben ist, die bei Homer Auftakt und bei Vergil Schlußpunkt der Waffenschilderung war. Hier wird dem Schwert quantitativ der weitaus größte Raum zugemessen; zudem hebt Vulkan diese Waffe dadurch besonders hervor, daß er mit goldenen Lettern Merkzeichen sowie seinen Namen in die Klinge einschreibt (v. 448 Ii). Wie bei Vergil gehört also auch im „Roman d'Eneas" die ausführliche Beschreibung von Schild und Rüstung des Eneas zu den anschaulich dargestellten Schaustücken der Erzählung, und mit etwa hundert Versen nimmt sie fast den gleichen Raum ein wie die Ekphrasis des antiken Epikers. Doch als Blickfang fungiert hier nicht mehr eine visuelle, linear angelegte und mit Bewegungsmomenten aufgeladene,Erzählung in der Erzählung', sondern ein mehrteiliges und überdies räumlich organisiertes Waffen-Ensemble ohne Anfang und Ende, dessen Einzelteile ihrerseits aus verschiedenen Materialien zusammengesetzt sind.

Schild und Rüstung als dreidimensionales Gehäuse bei Heinrich von Veldeke Heinrich von Veldeke übernimmt in seiner Bearbeitung des „Roman d'Eneas" die dort zu findende, materialorientierte Umarbeitung des EneasSchildes, setzt aber eine Reihe neuer Schwerpunkte. Zwar bildet die Schildbeschreibung auch bei ihm lediglich einen Teil der weit umfassenderen Waffenschau, doch wertet Veldeke die Rolle des Schildes dadurch (wieder) auf, daß er seiner Darstellung nun den mit Abstand breitesten Raum zubilligt (v. 161,5162, 13). War im „Roman d'Eneas" das Schwert die vom Erzähler besonders hervorgehobene Hauptwaffe des Trojaners, so kommt diese Position im deutschen „Eneas" dem Schild zu, wenngleich Veldeke das Schwert dadurch besonders betont, daß er es überbietend den berühmten Schwertern aus der Heldenepik gegenüberstellt (v. 160, 20ff.). Diese Hervorhebung des Schildes zeigt sich schon daran, daß Veldeke seine Beschreibung wie Vergil wieder an den Schluß der Rüstungsschilderung setzt.67 Der die descriptio dynamisierende

65

Vgl. STEBBINS 1977, 155ff.

66 Auch Schwertscheide und Helm bestehen aus den Knochen oder Zähnen von Meerestieren. 67 Die Reihenfolge ist hier: Kettenhemd, hosen, Helm, Schwert, Schild und abschließend die nicht näher beschriebene Fahne - gewebt von Pallas im Wettstreit mit Arachne (v. 162, 18ff.) - , die insofern eng mit dem Schild zusammenrückt, als Veldeke die Lanze, an der das Zeichen im „Roman d'Eneas" befestigt ist, unerwähnt läßt.

Die Schildbeschreibungen der Eneasromane

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Prozeß der Waffenherstellung durch Vulcan wird im „Roman d'Eneas" und bei Veldeke noch weiter zurückgedrängt als bei Vergil, die Waffen werden gleich als fertige Gegenstände präsentiert. Anders als in seiner französischen Vorlage bestehen die Waffenteile im deutschen Text nun wieder aus Gold, Silber und Eisen.68 Völlig verändert gegenüber dem „Roman d'Eneas" ist nun die Dekoration der Waffe, auf deren goldenem Feld ein roter Löwe zu sehen ist (v. 162, 12f.). Veldeke ersetzt also die - im deutschen Sprachraum damals noch ungebräuchliche - Heroldsfigur des „Roman d'Eneas" durch eine gemeine Figur und verändert außerdem die Tinkturen. Zwar ist fraglich, ob der Löwe zu jener Zeit schon als heraldisches Zeichen im engeren Sinn gelten kann, oder ob er nicht eher „in Anspielung auf den König der Tiere ein abstraktes Herrschaftszeichen"69 darstellt, das sehr oft als Schildzeichen benutzt wird. Bemerkenswert ist jedoch, daß beide Eneasromane sich in der Blasonierung ihrer Schilde offenkundig an eine heraldische Regel halten, die erst später als schriftlich kodifizierte begegnet: Danach darf Farbe nur auf Metall und Metall nur auf Farbe gesetzt werden.70 Heraldisch interessant ist aber bei Veldeke noch eine weitere Neuerung, nämlich der unzerstörbare, dunkel glänzende Helm des Eneas (ν. 159, 3 Iff.), auf dem ebenfalls ein figürliches Zeichen angebracht ist: dà stunt ein blûme obene von dorchslagenem golde, alsez Volcán wolde, dar inne ein röterjachant. (v. 160, 4ff.)

Mit der goldenen Blume, in die ein roter Leuchtstein eingelassen ist, wie er sich im „Roman d'Eneas" auf dem Schildbuckel fand,71 liefert der „Eneas" einen sehr frühen, nach Ansicht von Zips sogar den ältesten Beleg für einen heraldisch verwandten Helmschmuck in der mittelhochdeutschen Literatur.72 Für die hier verfolgte Fragestellung ist dabei nebensächlich, ob die genannten Schild- und Helmabzeichen bereits heraldischen Charakter im engeren Sinn tragen, also feste, erbliche Zeichen eines Adelshauses sind, oder ob sie als noch unfeste, proto-heraldische Zeichen einer Schwellenzeit aufzufassen sind, in der sich eine Wappenkunst mit festen Regeln erst allmählich herausbildet.73 Entscheidend ist vielmehr, daß die auf die Schildoberflächen bzw. auf den 68

STEBBINS 1977, 155ff.

69 VON ULMENSTEIN 1941, S. 21. Der Löwe war zu dieser Zeit „das in Deutschland am weitesten verbreitete Wappenbild" (20). Vgl. ZIPS 1966,71ff., und FENSKE 1986,95ff. 70 Vgl. BRAULT 1997,18.

71 Jachant scheint bei HvV immer den .orientalischen Rubin' zu bezeichnen" (Kartschoke, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 791). 72 ZIPS 1966, 99; STEBBINS 1977, 163f.

73 Zu dieser Frilhphase der Heraldik vgl. die Studien von BRAULT 1997 und FENSKE 1986.

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Die antike Ekphrasis und ihre Oberschreibungen im 12. Jahrhundert

Helm projizierten Zeichen fraglos schon das ikonographische Prinzip vorwegnehmen, das man später auch in den Wappenbildern der klassischen Heraldik wiederfindet. An diese Zeichen werden zwei Anforderungen gestellt: Zum einen müssen sie möglichst schnell, nämlich auf einen Blick für einen Betrachter zu erfassen sein, um die wappentragende Person adäquat zu erkennen. Zum andern muß durch eine Begrenzung der Farben und Formen sowie eine festgelegte Terminologie sichergestellt sein, daß das gesehene Bild ohne Umschweife in eine exakte verbale Beschreibimg umgesetzt werden kann, die ihrerseits wiederum so eindeutig ist, „that an accurate drawing may be made from the description".74 Im Gegensatz zur klassischen Ekphrasis im Stile Homers oder Vergils, deren ebenso komplexe wie unscharfe sprachliche Bilder sich einer adäquaten ikonographischen Umsetzung schlichtweg entziehen,75 stellt die Heraldik eine Form der Text-Bild-Beziehung dar, in der die gestaltförmigen Inhalte der Medien Wort, Schrift und Malerei präzise aufeinander abzubilden sind. Ohne größere Probleme in eine heraldische Zeichnung überführen ließen sich nun auch die Schildzeichen der mittelalterlichen Vergil-Adaptationen: drei goldene Schrägrechtsbalken auf rotem Feld bzw. ein roter Löwe auf goldenem Feld sind einschlägige Wappenfiguren. Schwierigkeiten bekäme ein Zeichner indes schon mit den zahlreichen Edelsteinen, die auf der Schildoberfläche verstreut sind - und erst recht mit der Vielzahl der taktilen Informationen, die Heinrich von Veldeke nun gegenüber seiner Vorlage noch deutlich ausweitet. So beschreibt er den goldenen Schild zuerst ausfuhrlich von seiner Innenseite; es werden die Bänder und Halteriemen sowie die Seidenstoffe und Samtstreifen geschildert, die die Waffe nicht nur elegant aussehen lassen, sondern auch verhindern, daß die Lederriemen am Hals des Trägers scheuern und seine Haut verletzen (v. 161, 6ff.). Neben all dem visuellen Glanz ist es die besondere , Greifbarkeit' des Schildes, die im „Eneas" dessen eigentliche Sensation darstellt: dorch hovescheit und dorch wunder (v. 161, 27) werden sogar noch die vornehmen Riemen aus spanischem Ziegenleder durch Samtstreifen abgefedert. Von dem halsperch heißt es entsprechend, daß sich ein Mann darin so behende bewegen könne als in [einem] lînînem gewant (v. 159, 15). Erst im Anschluß daran wird die üblicherweise den Fokus einer Schildbeschreibung bildende, dem Gegner zugewandte Außenseite beschrieben, von der es heißt, daß der Schildbuckel alwlz silberin (v. 161, 40) und darüber hinaus gezieret mit gesteine (v. 162, 2) gewesen sei:

74

PARKER 1 9 7 0 , 6 4 .

75 Dies zeigt sich schon an der Vielzahl der grundverschiedenen Bilder, die bei dem Versuch entstanden sind, den homerischen Schild des Achilles zu malen. Verschiedene Beispiele finden sich bei KRIEGER 1992 und HEFFERNAN 1993, IS, abgebildet

Die Schildbeschreibungen der Eneasromane

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Smaragde und rubine topazîe und sardine, crisolite und amatisten, die wären mit listen gesetzet drin genüge. dà stunden inne mit füge granóte und saphiere. (v. 162, 3ff.)

Das zweidimensionale, auf einen Blick zu erfassende heraldische Zeichen auf der Schildfläche wird auf diese Weise in eine erhabene, dreidimensionale Körperlichkeit des Schildes eingebunden, bei der besonders der Perspektivenwechsel von der Innen- zur Außenseite auffällt. Nachdem die Waffe zunächst von innen, also aus der Perspektive eines potentiellen Benutzers beschrieben wurde, der ihre spektakulären Halterungen und Polster nahezu greifen konnte, wird sie vor den Augen der Textbenutzer um ihre eigene Achse gedreht, um anschließend auch von der dem Gegner zugewandten Außenseite betrachtet werden zu können. Damit liegt eine Form der Schildbeschreibung vor, die sich deutlich von ihren antiken Vor-Bildern abhebt. Weder wird der Blick des Betrachters durch eine Schreckensfigur von der Schildoberfläche abgewendet, noch wird er zum Verweilen auf einem flächigen, mehr oder weniger bewegten Bilder-Kosmos eingeladen. Konnte der Leser der „Aeneis" die bewegte Oberfläche des Schildes von einem festen Beobachterstandpunkt aus als lineare Abfolge einzelner imagines agentes an seinem inneren Auge vorbeiziehen sehen, so öflnet Veldeke mit der Innenansicht der Rüstung einen virtuellen Raum, in den der Textbenutzer gleichsam eintreten kann, um sich den Schild probehalber selbst anzulegen, ihn mit seinen Händen zu betasten und an seiner eigenen Mt (v. 161, 36) zu spüren.76 Dieser multifokalen und multisensorischen Wahrnehmungsdisposition fiigt sich auch das aufgemalte Wappenzeichen ein, das sich die Materialität des Schildes eben noch nicht, wie in der klassischen Heraldik, ,unterwirft'. Der heraldische Blick auf den Schild kommt hier allenfalls punktuell zur Geltung, da er in eine plastische, die Stofflichkeit des Artefakts betonende Beschreibung

76 Zwar läßt auch Vergils Aeneas seinen Blick über alle Waffenteile schweifen (oculos per singula uoluit, VIII, 6IS) und wendet sie mit den Armen, um sie von allen Seiten zu betrachten, aber dies nimmt nur wenige Verse ein. In dem Moment, als das Bildprogramm in den Blick kommt, non enarrabile textum (VIII, 625), wandelt sich die Bewegung der Waffenteile vollständig zu einer Bewegung der Bildinhalte. Der multifokale Blick auf das unzerstörbare Kunstwerk kommt bei Veldeke auch darin zum Ausdruck, daß es gleich von mehreren Personen betrachtet wird: zunächst von Venus (v. 163, 4), dann von Eneas selbst (v. 164, 9) und schließlich von seinen Leuten (v. 164, 14). Dieser Mehransichtigkeit des Schildes steht bei Vergil die subjektive Wahrnehmung des Protagonisten gegenüber, die mit dem sinnbezogenen Wissensvorspmng des Publikums kontrastiert wird.

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Die antike Ekphrasis und ihre Oberschreibungen im 12. Jahrhundert

integriert ist, die additiv und aus verschiedenen Blickwinkeln die einzelnen Materialien samt ihren sinnlich erfahrbaren Eigenschaften zusammensucht.77 Diese materiale Dimension ist der poetischen Tradition der Ekphrasis von Beginn an eingeschrieben. So ruft Vergil - wie vor ihm bereits Homer - im Verlauf seiner Kunstbeschreibungen immer wieder die glänzenden, kostbaren Stoffe in Erinnerung, in die die bildlichen Darstellungen eingegraben sind, indem er Formulierungen wie „das goldfarbene Bild des aufgewühlten Meeres" einstreut, in dem „in Silber helle Delphine" schwimmen (VIII, 67 Iff.). Durch derartige „representational frictions" wird zumindest punktuell der Medialität des Artefakts gegenüber seiner umfassenden In-Formierung Geltung verschafft und der lesende Betrachter daran erinnert, daß er nicht auf die Dinge selbst blickt, sondern auf eine gemachte Repräsentation im Medium der visuellen Kirnst.78 Doch während das Material in den antiken Epen letztendlich seiner Bebilderung untergeordnet bleibt, beginnen die dinglichen Aspekte der Ekphrasen, die edlen Stoffe, wertvollen Gemmen und leuchtenden Farben, in der allegorischen Zeichenwelt des christlichen Mittelalters selbst zu ,sprechen'.

, Vergilische' Schildbeschreibungen in der lateinischen Epik des 12. Jahrhunderts Bevor ich diesem materialen Aspekt der mittelalterlichen Ekphrasen im Hinblick auf die Grabmalbeschreibungen der Eneasromane weiter nachgehe, ist zunächst ein kurzer Seitenblick auf die Schildbeschreibungen der etwa zeitgleich entstehenden lateinischen Epen zu werfen. Daß hier von der Ekphrasis als einem Bildergedächtnis erzählender Texte ausgiebig Gebrauch gemacht wird, hat Christine Ratkowitsch in ihrer umfassenden Studie zur „Descriptio picturae" bei Baudri von Bourgueil, Walther von Châtillon, Alanus ab Insulis, Johannes von Hauvilla, Joseph von Exeter und anderen unlängst beeindrukkend aufgezeigt.79 Dabei findet sich auch eine Reihe von Schildbeschreibungen, mit denen in Anlehnung an die para-narrativen Ekphrasen der Antike historisch-mythologische Bilderzählungen in die Handlungen der Epen eingeblendet werden, um, wie Ratkowitsch die Ergebnisse ihrer Studie resümiert, „die Intention und eigentliche Aussage anhand einer bildlichen Darstellung zu intensivieren".80 Die Vorbildfunktion insbesondere der „Aeneis" liegt in diesen Ekphrasen zumeist offen auf der Hand, sei es durch wörtliche Zitate oder andere Formen der Anspielung. Eine zentrale Rolle scheint hier dem um 1100 entstandenen, 77 DLTTRICH 1966,517, hat dies treffend die „prachtvolle Formung der Materie" genannt. 78

HEFFERNAN 1 9 9 3 , 1 9 passim. Vgl. RATKOWITSCH 1 9 9 1 , 3 1 .

79

RATKOWITSCH 1991.

80

RATKOWITSCH 1 9 9 1 , 3 5 3 .

Die Schildbeschreibungen der Eneasromane

65

fast ganz von einer Ekphrasis ausgefüllten Carmen 134 des Bischofs Baudri de Bourgueil zuzukommen, mit dem ich beginnen möchte, obgleich Baudri keinen Schild beschreibt. In seinem Adele von Blois, einer Tochter Wilhelms des Eroberers, gewidmeten Gedicht nimmt vielmehr ein vollständig mit Bildteppichen und Schnitzereien ausgefülltes Schlafgemach Gestalt an, welches sich als eine bildliche Repräsentation der christlichen Heilsgeschichte in ihren räumlichen Dimensionen lesen läßt: „a microcosm of the knowable world".81 Während die Decke des Zimmers den Himmel und die Gestirne zeigt und der Boden eine Weltkarte darstellt, sind die Wände von vier Teppichen bedeckt, die je einen wichtigen Abschnitt der Welt-Heilsgeschichte in Form von Bilderfolgen visualisieren: zuerst die Weltschöpfung bis zur Sintflut, dann die Phase von Noe bis zu den jüdischen Königen, drittens die griechisch-römische Geschichte vom Untergang Trojas über die Gründung von Alba Longa bis zu den römischen Königen und viertens schließlich, in einem Alkoven um Adeles Bett herum, die Schlacht von Hastings und die Eroberung Englands durch ihren Vater Wilhelm. Nimmt man nun den an der dritten Wand hängenden Teppich genauer in den Blick, dann zeigt sich, daß die Szenen aus der römischen Geschichte dort genau an dem Punkt aufhören, wo bei Vergil die in die Zukunft weisende Bildergeschichte auf dem Aeneas-Schild beginnt.82 Es ist der christliche König Wilhelm, der in dieser Bildanordnung auf der vierten Wand die antiken Könige überbietet und - anstelle von Augustus - ihre historische Mission erfüllt. Baudris Ekphrasis, die in ihrem vierten Teil möglicherweise auch vom VorBild des berühmten Teppichs von Bayeux beeinflußt ist,83 übernimmt also nicht nur von Vergils Schildbeschreibung das dort zu findende Modell der historisch-linearen Bilderzählung. Sie stellt auch eine zeit- und kulturspezifische ekphrastic response auf die antike Ekphrasis dar, indem sie an entscheidender Stelle die überkommenen, nationalrömisch geprägten Inhalte der vergilischen Kunstwerke durch aktuelle, nämlich mittelalterlich-christliche Geschichte(n) ersetzt. Hatte Vergil die homerische Kosmos-Schau auf dem Schild des Achilles zu einer teleologischen Vision römischer Reichsgeschichte umgebaut, so läßt Baudri diese einmünden in den Hafen der alle säkulare Historie überwölbenden christlichen Heilsgeschichte. Handelt es sich hier um großformatige Wandbilder in einem Wohnraum auf die ich im übrigen noch zurückkommen werde - , so lassen sich in der lateinischen Epik nun auch Schildbeschreibungen finden, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren. In dem etwa zur selben Zeit wie Baudris Carmen 134

81 OTTER 2001, Einleitung und Kommentar zur Baudri-Obersetzung, 62. Zur Ekphrasis s. RATKOWITSCH 1991, 17ff., mit Angaben zur Datierung sowie einem Teilabdruck des Textes. 82

RATKOWITSCH 1 9 9 1 , 52f.

83 Argumente für und wider bei RATKOWITSCH 1991, 62ff., und OTTER 2001, Einleitung und Kommentar zur Baudri-Obersetzung, 6Iff.

56

Die antike Ekphrasis und ihre Oberschreibungen im 12. Jahrhundert

entstandenen Bibelepos des Eupolemius wird in einer auf eine Generation zusammengedrängten Heilsgeschichte von Adam bis Christus vom Kampf Gottes gegen das Böse erzählt.84 Im Mittelpunkt steht dabei die Beschreibung der Schlachten zwischen den Anhängern beider Parteien, in denen jeweils in Einzelkämpfen etwa zur Hälfte biblisches Personal und zur anderen Hälfte allegorische Figuren gegeneinander antreten. Einigen der Kämpfer, die in diesem allegorischen Text zwangsläufig gegenüber den konkreten Bibelgestalten verändert sind, werden dabei auf ihren Kampfschilden alttestamentarische Bibelerzählungen zugeordnet, durch welche sie heilsgeschichtlich einzuordnen sind. Damit schaffen die Schilde die Möglichkeit, so Ratkowitsch, „den Inhalt der Bibel in die Fabel des Gedichts einzugliedern, und zwar mit deutlichem Bezug auf den jeweiligen Träger, der eine konkrete Bibelgestalt vertritt."85 Der direkte Bezug auf die „Aeneis" ist auch hier allenthalben spürbar. „Wie Vergil die Schilde des Turnus und des Aeneas beschrieb", so Karl Manitius, „führt auch Eupolemius die kunstvollen Bilder auf den Schilden seiner Helden [...] dem Leser vor Augen"86, und wie in Vergils Schildbeschreibungen, so möchte man hinzufügen, spiegeln die Figuren in ihrer eigenen Geschichte zugleich die Welt-Heilsgeschichte der Menschheit wider.87 Wie bei Baudri zeigt sich auch hier, daß es ein Leichtes ist, die bei Vergil vorgegebenen nationalrömischen Bildinhalte durch biblische Bildprogramme zu ersetzen. Während jener in seinem Panegyrikus jedoch die Taten des Königs Wilhelm I. von England als Erfüllung heidnischer wie alttestamentarischer Vorgeschichte(n) ekphrastisch in Szene setzt, fungiert die auf den Schilden visualisierte Heilsgeschichte des Eupolemius als biblische Fundierung der allegorischen Epenhandlung. Ebenfalls eng an Vergils Vor-Bilder angelehnt sind die Ekphrasen in Walters von Châtillon „Alexandreis", einem vor 1184 - also etwa zur gleichen Zeit wie Veldekes „Eneas" - entstandenen Hexameterepos, das schon bald weithin gerühmt und in den Kanon der Schullektüre aufgenommen wurde.88 Es handelt sich hierbei weder um eine panegyrische Dichtung, wie bei Baudri, noch um ein allegorisches Gedicht, wie bei Eupolemius, sondern um ein historisches Epos, in dem Walter vom Stoff her weitgehend der Alexanderdichtung des

84 S. zu Text und Datierung MANITtUS, Einleitung zur Eupolemius-Ausgabe. 85 RATKOWITSCH 1991, 15 A. 12. So ist auf dem Schild des Moyses die Geschichte von der Schöpfiing bis zur Arche Noes abgebildet (II, 67ff.), auf dem Schild Sothers sind die biblischen Taten des Iosue (= Sother) zu sehen (II, 82ff.) zu sehen, auf dem Schild des Criton die Taten Gedeons und Samsons (II, 271ff.) und auf dem Schild des Pistena findet sich schließlich der Feuerregen dargestellt, den Elias verursacht hat (II, 605fif.). 86 MANITIUS, Einleitung zur Eupolemis-Ausgabe, 17. Zu den wörtlichen Zitaten aus Vergils Schildbeschreibung s. den Kommentar zu den entsprechenden Stellen (68fF., 80f., lOOf.). 87 Daneben finden sich auf zwei Trinkgefäßen Bilddarstellungen aus der alttestamentarischen Geschichte (II, 617ff. und II, 623ff.) 88

RATKOWITSCH 1991,129FF.

Die Schildbeschreibungen der Eneasromane

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Curtius folgt, diese materia aber nach Maßgabe verschiedener antiker Schulautoren umarbeitet.89 Dabei sind auch drei breit ausgeführte Kunstbeschreibungen zu finden, die Walter offenbar selbständig eingefügt hat und die allesamt den Hauptgegner Alexanders, den Perserkönig Darius, betreffen. Beschrieben wird sein Schild (II, 494-539), sein Grabmal (VII, 379-430) sowie - dazwischen - das von Alexander gestiftete Grab der Darius-Gattin Stateira (IV, 176274). Auch auf diesen Kunstwerken sind nun Szenenfolgen und Motive aus dem Alten Testament zu finden. So zeigt Darius' prächtiger Schild die Taten seiner Vorfahren, das ist die persische Geschichte bis zum Weltherrscher Cyrus, die hier aus der Perspektive des Alten Testamentes erzählt wird. Auf dem Grab der Stateira ist die biblische Kosmogonie nach dem Buch Genesis (IV, 181) zu sehen, daneben die Geschichte des jüdischen Volkes bis hin zu Esra. Das Grab des Darius selbst schließlich wird durch eine mappa mundi geschmückt, die auf einer Kuppel über dem Grab der christlichen Heilsgeschichte ihre räumlich-geographischen Koordinaten zuweist. Die alttestamentarischen Bildprogramme dieser Ekphrasen ähneln zwar den Schildbeschreibungen des Eupolemius, doch sind die Darstellungen Walters weit ausführlicher. Sie haben nicht, wie dort, einen unscharfen Bezug des epischen Personals zu biblischen Ereignissen zu verdeutlichen, sondern durch sie wird in der „Alexandreis" der Bezug zur christlichen Heilsgeschichte überhaupt erst hergestellt. Mit den Bilderzählungen aus der biblischen Geschichte, die auf die historischen Figuren Darius und Stateira projiziert werden, erhalten diese - und mit ihnen Alexander - ein biblisches Fundament und können so vom Leser in der alles umfassenden christlichen Heilsgeschichte verortet werden.90 Ihre in vorchristlicher Zeit angesiedelten Taten sind somit, dank der von Vergil entwickelten para-narrativen Ekphrasis, implizit einer christlichen Deutungsperspektive unterstellt. Der persische Großherrscher Cyrus etwa, dessen Errungenschaften auf Darius' Schild verherrlicht werden, geht, wie man aus der Bibel weiß, schmählich unter. Sein eigenes, als Erzählung in der Erzählung eingeblendetes Schicksal weist so auch auf das Ende des Schild-Trägers Darius voraus; „die von Darius voll Stolz gerühmte Geschichte seiner Vorfahren zeigt in Wirklichkeit deren Hybris",91 die in der späteren Beschreibung seines Grabmals noch einmal ekphrastisch in Szene gesetzt wird. Christine Ratkowitsch hat daher in Walters Schildbeschreibung geradezu ein ,„christliche[s]' Gegenstück" zum Aeneas-Schild Vergils gesehen, eine spezifisch mittelalterliche ekphrastic response auf die das weltliche Imperium Romanum verherrli-

89 RATKOWITSCH 1991, 131, benennt Lukan als „Hauptbezugsdichter für Walter", der den Gegensatz von Alexander und Darius dem von Caesar und Pompeius nachempfinde. 90

V g l . RATKOWITSCH 1 9 9 1 , 1 4 1 u n d 1 5 2 .

91 Zu dieser Lesart RATKOWITSCH 1991,140FF., Zitat 142.

5g

Die antike Ekphrasis und ihre Oberschreibungen im 12. Jahrhundert

chende „Aeneis", mit der Hervorhebung des Weltherrschers Cyrus als „warnende[m] Gegenstück zu Octavian in Vergils Schildbeschreibung".92 Auch Walter ersetzt also in seinen para-narrativen Ekphrasen Vergils nationalrömische Geschichtsphilosophie durch eine biblisch-heilsgeschichtliche Teleologie und dokumentiert damit, daß das vergilische Ekphrasis-Modell im 12. Jahrhundert als vorbildhaft wahrgenommen wurde, gerade weil es sich äußerst flexibel an veränderte historisch-kulturelle Horizonte anpassen und problemlos in den Dienst der interpretatio Christiana stellen ließ. Der anonyme Dichter des „Roman d'Eneas" hat sich indes derartigen Formen der geschichtsphilosophischen Einbindung seines Wortkunstwerks verweigert. Er drängt mit dem Umbau der historisierenden Ekphrasen den für Vergils Nationalepos so wichtigen Mythos von der trojanischen Zivilisationsgründung ebenso zurück wie die Zukunftsvision des augusteischen Friedenreiches, und er verzichtet zugleich darauf, dieses .heidnische' translatio-Modell mit christlich-heilsgeschichtlichen Inhalten neu zu füllen. Stattdessen verkleinert er die bei Vergil geradezu Ubermächtigen historischen Dimensionen der Handlung auf biographisches Format - „Troy is no longer a city that stands as the first human foundation - the very basis of secular history itself - but merely one event in the protagonist's biography" 93 - und läßt in seinen neu errichteten, monumentalen Grabmälera ein anderes Licht auf die antike Welt fallen.

92 RATKOWITSCH 1991, 145. Ähnliches gilt für das Bildprogramm auf dem Stateira-Grab, auf dem der Künstler, Hebreus Apelles, das Thema der Schildbeschreibung - „hybride SelbstOberhebung und Sturz als Strafe" (ebd. 164) - an Beispielen aus der jüdischen Geschichte fortschreibt, bei der nun auch die prophetische Vorausschau auf Christus in das Bild mit aufgenommen ist. Vgl. ebd., 152FF. Diese Ekphrasis baut der deutsche Bearbeiter der „Alexandreis", Ulrich von Etzenbach, später zu einer der umfangreichsten Kunstbeschreibung der höfischen Epik des 1 2 . und 1 3 . Jahrhunderts aus (v. 1 1 1 1 8 - 1 1 8 2 0 ) . S. dazu W U N D E R L I C H 1 9 9 6 . 9 3 PATTERSON 1 9 8 7 , 1 7 6 . Ähnlich KARTSCHOKE 1 9 8 6 , 8 7 0 .

Zweites Kapitel Schauräume des Todes: Die Besichtigung der antiken Welt in den Grabmalbeschreibungen der Eneasromane

I. Ekphrasis als architektonische Inszenierung des Todes: Der „Roman d'Eneas" Ähnlich wie die mittelalterlichen Adaptationen der „Aeneis" den berühmten Aeneas-Schild vollständig umbauen, indem sie ihn zugleich .materialisieren' und ,heraldisieren', verhalten sie sich auch gegenüber den trojanischen Wandbildern des Juno-Tempels in Karthago. Das narrative Bildprogramm wird getilgt, Tempel und Stadt werden stattdessen in ihrer baulichen Materialität vorgeführt.1 Wurden im antiken Epos nicht nur die Tempelbilder in Bewegung aufgelöst, sondern auch Burg und Häuser, Straßen und Tore Karthagos aus der Sicht des umherblickenden Aeneas beschrieben, so nimmt in den Eneasromanen des 12. Jahrhunderts eine statische, mit genauen Positionsbezeichnungen sowie Angaben über die Stofflichkeit der Bauwerke angereicherte Stadtbeschreibung Konturen an. Im „Roman d'Eneas" ist dies besonders detailliert ausgeführt. Der anonyme Dichter ersetzt Vergils Projektionsfläche der Tempelwand durch eine äußerst feste, aus mehrfarbigem Marmor gefertigte Stadtmauer, die einerseits in ihrer Konstruktion und ihren Bestandteilen dargelegt wird, andererseits aber auch ornamentale Schmuckmotive und schließlich wunderbare Magnetsteine aufweist (v. 433ff.). Immer bleiben dabei jedoch die Schmuckelemente der Mauer auf ihre technische Konstruktion und auf das darin verbaute Material bezogen. „Anders als die Tempelwand der , Aeneis'", so Hartmut Kugler, „deren Oberfläche sich gleichsam in bewegte Bilder, in Figuren- und Handlungskonstellationen aufgelöst hatte, bleibt die Stadtmauer des ,Roman d'Eneas' in ihrer Stofflichkeit also stabil und gegenwärtig. An keiner Stelle löst sich die Darstellung des Wandschmuckes aus dem funktionalen Verbund der Festungsmauer heraus."2 Auch bei Heinrich von Veldeke werden die figürlichen Bilder von der Materialität des Artefakts zurückgedrängt, wobei er jedoch die Beschreibung Karthagos gegenüber seiner Vorlage stark kürzt. Wenn ich im folgenden mit den ausführlichen Beschreibungen der Grabmäler von Dido, Pallas und Camilla die herausragenden Architektur-Monumente der Eneasromane in den Blick nehme, dann ist damit ein Grenzfall der Kunstbeschreibung berührt. Denn die bloße Architekturdarstellung, so könnte man einwenden, stellt noch nicht notwendig eine verbal representation of vi1 2

Dies ist herausgearbeitet bei KUGLER 1986,48ff. KUGLER 1986, 56f.

Schauräume des Todes

72

sual representation dar. Es wird sich jedoch zeigen, daß gerade architektonische Bauwerke eine Schlüsselrolle in der mittelalterlichen Kunstbeschreibung spielen und vielleicht die wichtigste Antwort dieser Epoche auf die EkphrasisTradition des antiken Epos darstellen. Die Tendenz mittelalterlicher Beschreibungskunst zur Inszenierung architektonischer Räume, die von Stofflichkeit und Kontinuität gekennzeichnet sind, setzt sich nun in den spektakulären Grabmälern fur Dido, Pallas und Camilla fort, die in Vergils „Aeneis" keine Entsprechung haben. Zwar werden bereits dort mit der Karthagerkönigin, dem jungen italischen Thronfolger und Aeneas-Verbündeten sowie der amazonenhaften Volskerkönigin drei prominente Tote beklagt, doch eine breite Schilderung von mit Reliefs oder anderen Kunstformen verzierten Grabmälern kennt die „Aeneis" nicht, wie sie auch sonst im antiken Epos kaum vorkommen.3 Erst im „Roman d'Eneas" werden den Toten zu Ehren aufwendige Grabstätten errichtet, die Heinrich von Veldeke in seiner Adaptation übernimmt, aber auch modifiziert. Der „Roman de Troie" berichtet ebenfalls von spektakulären Grabbauten, in denen die Heroen des trojanischen Krieges bestattet werden, und unter Rückbezug auf diese VorBilder wird die Grabmalbeschreibung zu einem der wichtigsten EkphrasisMotive der höfischen Literatur.4 Die erste Tote, der im „Roman d'Eneas" ein Grabmal errichtet wird, ist die Königin Dido, die sich, von Eneas schütz- und ehrlos zurückgelassen, auf einem Scheiterhaufen selbst getötet und dabei auch die von Eneas erhaltenen Geschenke samt gemeinsamem Bett den Flammen übergeben hat. Während Vergil auf den Verbleib ihres irdischen Körpers nicht weiter eingeht, sondern lediglich erwähnt, wie die Seele sich mit Hilfe der Iris, die ihr zuvor das Haar abschneidet, vom Körper löst (IV, 693ff.), beobachten die mittelalterlichen Romane mit großer Aufmerksamkeit die Verwandlung ihres Leibes zu Asche. Im „Roman d'Eneas" müssen dies sogar die umstehenden, aber zur Tatenlosigkeit verdammten Damen und Barone mitansehen (v. 2125ff.). Heinrich von Veldeke hebt dann das , Schrumpfen' und Vergehen ihrer Gliedmaßen besonders hervor: von allem ir libe, von fleische und von dô was si worden

gebeine.

kleine

doch si dà vor wäre

grôz,

ê si der minne missenôz.

(v. 79, 32fT).

Die Asche wird in einer sehr kleinen Urne (une asez petite charte-, v. 2131) gesammelt, und in dieser Form wird Dido im „Roman d'Eneas" schließlich in 3 4

RATKOWITSCH 1991,151. S. aber Statius' „Thebais" VI, 239ff., dazu SÔHRING 1900,35. S. (auch zum „Roman de Troie") SÖHRMO 1900, 30ff., HOCK 1958, 202ff.: „Dieser Komplex ergab die größte Ausbeute an Schilderungen" (202). Vgl. UCHTENBERO 1931, 58ff.

Roman d'Eneas

73

einem im Tempel errichteten Grabmal aus emaillierten Metallplatten und Niello a grant enor (v. 2134) bestattet. Ein Epitaph erinnert an den Namen und das große Ansehen der Heidin (paaine\ v. 2141), benennt aber auch den Umstand ihres Freitodes aus unerwiderter Liebe, gegen den selbst ihre Klugheit machtlos gewesen sei (v. 2139-2144). Heinrich von Veldeke erweitert die Szene, indem er ausfuhrlichere Informationen hinsichtlich der Beschaffenheit einzelner Bestandteile gibt. So ist die Urne bei ihm aus Gold, und sie wird in einen Sarg aus grünem Edelstein gelegt. Mit der Grabinschrift, die mit goldenen Buchstaben direkt auf diesen Sarg geschrieben ist, hält er sich weitgehend an die Vorgaben des „Roman d'Eneas", unterläßt aber ihre Titulierung als Heidin: ,hie liget vrouwe Dtdô, diu märe und diu riche, diu sich sô jamerlîche dorch minne zû tôde erslûch. daz waz wunderlich genäch, sô wise só si was. ' (v. 80,10ff.)

Auch die Anregung für die Grabinschrift konnten die mittelalterlichen Eneasromane kaum im antiken Epos finden. Lediglich in Lukans „Pharsalia" findet sich die Darstellung eines erbärmlichen Grabes, in dem der ermordete Pompeáis liegt. Die darauf zu lesende, äußerst knappe Inschrift - Hie situs est Magnus (VIII, 793) - wird indes vom Erzähler mit der langen Aufzählung all seiner großen Taten kontrastiert, die eigentlich auf dem Grab hätten genannt werden müssen. Zwar scheint diese Stelle verschiedene Grabinschriften vor allem im lateinischen Epos des Mittelalters inspiriert zu haben,5 doch kommt für die Eneasromane wohl eher der siebte Brief in Ovids „Heroides" (VII, 195f.) als Anregung in Frage, in dem sich die des Lebens überdrüssige Dido dahingehend äußert, die Inschrift auf ihrem Marmorgrab solle Aeneas als den Grund ihres Todes und sie selbst als Vollstreckerin nennen.6 Der zweite Tote, dem im „Roman d'Eneas" ein Grabmal errichtet wird, ist Pallas, der junge Sohn von König Euander aus Pallanteum, der von Turnus im Zweikampf getötet wurde. Pallas war von seinem Vater dem Eneas zur Seite gestellt worden, um den gemeinsamen Feind Turnus zu bekämpfen. Bereits in der „Aeneis" löst der Tod des jungen Pallas, dessen Leichnam seinem Vater zur Bestattung überlassen wird (X, 49 Iff.), große Bestürzung im Lager der Trojaner aus. Mit der Trauerrede des Euander wird das Thema dann jedoch rasch abgeschlossen - über die Art der Bestattung erfährt man nichts. Ledig-

5 6

RATKOWTTSCH 1991,151; ERNST 1997,284. S. dazu FARAL 1913, 114f.; KARTSCHOKE, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 776; HENKEL 1992, 172 A. 26,177; ERNST 1997,285; KELLY 1999,127.

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lieh von anderen Toten hört man, daß ihre Leichname verbrannt werden (XI, 184ff.).7 Im „Roman d'Eneas" wird dagegen detailliert gezeigt, wie Pallas zunächst in seine Heimat überführt und dort von seinem Vater nach den Regeln des Kultes bestattet wird (a la costume de lor lei, / com l'en deit faire fil de rei\ v. 6377Í). Dabei ist schon die Beschreibung der von Eneas gestifteten kostbaren Bahre sowie der Beigaben und Kleider, in die der Tote gekleidet wird, gegenüber Vergil stark erweitert und gleicht in ihrer detailreichen, auf Plastizität und Taktilität abzielenden Materialität der Schildbeschreibung. Spektakulär ist aber vor allem, auf welche Weise man den Leichnam herrichtet: Er wird eingekleidet, durch ein Dach vor der Sonne geschützt und auf weichen Stoffen gebettet, als handele es sich um eine lebende Person (v. 6107ff.). Daneben erweitert der Text die Totenklagen sowohl des Eneas (v. 6147ff.) wie auch der Eltern des Pallas (ν. 6252ff.) ganz erheblich, von denen der aufgebahrte Leichnam mit seiner tödlichen Wunde genau in Augenschein genommen wird (v. 6288ff.). Schließlich wird die nach der Überführung in Pallanteum vorgenommene Einbalsamierung des jungen Körpers besonders detailreich beschrieben, wobei sich die Hinweise auf seine todesbedingte Verfärbung und Entstellung verdichten. So beklagt Eneas ausführlich die Hinfälligkeit des Lebens und den mit dem Tod einsetzenden Wandel von strahlender Schönheit zu stumpfer Farblosigkeit (v. 6186ff.), dem im Fall des Pallas nun aber mit allerlei Essenzen entgegengearbeitet wird. Man behandelt seinen Leichnam so intensiv, daß die glänzende Schönheit des Leibes am Ende kunstvoll wiederhergestellt ist (v. 6379ff.). In diesem Zustand wird der Tote mit den Herrschañsinsignien des noch lebenden Königs ausgestattet, mit kostbaren Kleidern und Sporen, einem Ring, einer Tunika, sowie mit Krone und Zepter seines alten Vaters (v. 63 9 Iff.). Der junge, noch bartlose Pallas, mit dem der herrschende König seinen einzigen Erben verliert, wird somit nicht nur wie ein König (come rei\ v. 6399) beigesetzt, sondern mit ihm wird zugleich das Königtum von Pallanteum zu Grabe getragen. Dieser Umstand läßt sich auch an dem kostbaren Grabbau ablesen, in den der Leichnam des Pallas schließlich gebracht wird - es handelt sich um eine Grabstätte, die sein Vater eigentlich für sich selbst hatte anlegen lassen. Dieser Bau weist ein völlig rundes Gewölbe auf und hat nur auf der Hinterwand ein einziges, kostbar gerahmtes Fenster. Von außen besteht die Mauer aus Marmor, und in die hundertfarbigen Quadersteine sind zahlreiche Tiere und Blumen eingeschnitten. Die Decke ist aus Ebenholz; auf ihrem Dach befindet sich eine mit Kupfer überzogene Spitze, auf der ein unbeweglicher 7

Daß die Einäscherung hier die übliche Bestattungsform darstellt, zeigt sich schon daran, daß kurz vor Didos Selbstverbrennung die Asche ihres verstorbenen Mannes Sychaeus erwähnt wird, die sie in einem Schrein aufbewahrt (IV, 457f. und 552). Daneben wird auch die Asche des Anchises erwähnt (IV, 427).

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goldener Vogel sitzt. Das Gewölbe, das innen mit Musivgold ausgemalt ist, ruht auf einigen Pfeilern, daneben finden sich kleinere Pfeiler mit Tabernakeln und Gewölbebögen sowie uevres en peintures / et molt buenes entailleüres (v. 6441f.). Weitere kostbare Baumaterialien wie Gold, emaillierte Metallplatten und Messing werden genannt, und das Pflaster besteht aus Irisstein und Kristall (v. 6409ff.). Ein besonderes Prunkstück inmitten dieser Pracht bildet der ursprünglich für Euander bestimmte königliche Sarg, der unter das Gewölbe gestellt wird: N'estut guerre meillor a rei, moltfu riches et moltfu chiers, de vert prasme trestoz entiers. Asez fu granz et clers et bels et sist sor quatre lioncels; de fin orfurent tresgeté, bien sont poli et neelé, asis furent as quatre cors. Iluec dedenz fu mis li cors, libels, ligenz, liprozPallas, toz conreez de reíais dras et o l'esceptre et o l'espee. (v. 6453ff.) Es war verlorene Mühe, einen besseren für einen König ausfindig zu machen, er war sehr prächtig und sehr kostbar, durch lind durch aus einem wertvollen grünen Gestein. Er war sehr groß und glänzend und schön und ruhte auf vier jungen Löwen; sie waren aus feinem Gold gegossen, sie waren gut aufpoliert und mit schwarzen Verzierungen geschmückt, sie saßen an den vier Ecken. Dort wurde der Leichnam hineingelegt, der schöne, der edle, der tapfere Pallas, ganz ausgestattet mit königlichen Gewändern und mit dem Zepter und mit dem Schwert.

Pallas' Haupt wird auf ein Kissen gelegt, und in seine Nasenlöcher steckt man ihm goldene Röhrchen, die sein Körperinneres mit Balsam und Terpentin versorgen, um es auf diese Weise vor Verwesung zu schützen. So würde sich sein Körper niemals zersetzen (v. 6464ff.). Auf das Grab wird schließlich eine Platte aus Amethist gelegt, auf der sich eine goldene Gedenktafel mit einem Epitaph befindet: „En cest tombel gist ci dedenz Pallas Ii proz, Ii bels, Ii genz, M fu fiz Euander le rei: Turnus I 'ocist en un tornei. " (v. 649Iff.) „Hier innen in diesem Grab ruht Pallas, der Tapfere, der Schöne, der Edle, der der Sohn des Königs Euander war: Turnus tötete ihn in einem Zweikampf."

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Bevor das Grab auf immer verschlossen wird, erwähnt der Erzähler noch eine wundersame, mit Balsam gefüllte Lampe, die, an einer Goldkette aufgehängt, die Kammer erleuchtet und mit ihrem Docht aus Asbest niemals erlöschen würde (v. 6509ÉF.). Ähnlich wie in der Dido-Szene, aber weit Uber diese hinausgehend, ist auch bei der Bestattung des Pallas das große Interesse frappierend, das der „Roman d'Eneas" dem sichtbaren Leib des Toten entgegenbringt - und dies gilt um so mehr, als in der „Aeneis" beim Eintritt des Todes auch hier lediglich die Seele kurz erwähnt wird, die schnell den Körper verläßt.8 Damit holt die mittelalterliche Beschreibungskunst etwas in den Text hinein, das bei Vergil kaum einen Platz hatte, nämlich das Faktum des Todes und die Folgen, die dieses für die sterblichen Überreste der Toten bereithält, die abrupte Verwandlung von Kraft und Schönheit in Verwesung und Gestank. Dieser Aspekt der Hinfälligkeit alles Weltlichen angesichts desTodes steht auch im Zentrum der dritten Grabbeschreibung, die der auf Seiten des Turnus kämpfenden Volskerkönigin Camilla gewidmet ist. Während sich Vergil bei ihrem Tod noch kürzer faßt als bei Pallas - wie Dido steht auch sie ,auf der anderen Seite' der römischen Geschichtsteleologie - , Uberbietet der „Roman d'Eneas" in der architektonischen Inszenierung ihres Grabmals sogar noch das des Pallas. Die Sterbende, die vom Trojaner Arruns bei dem Versuch getötet wurde, einem Toten seinen kostbaren Helm zu rauben, wird im antiken Epos von niemandem ausdrücklich beklagt, und auch über den Verbleib ihrer Leiche erfährt man nichts. Lediglich auf den Aufruhr des Turnus beim Hören der Nachricht wird kurz verwiesen, bevor die Erzählung über die Tote hinweggeht, um sich der durch ihr Ableben verschlechterten militärischen Lage des Turnus zuzuwenden. Im „Roman d'Eneas" wird die als höfische Kriegerin vorgestellte Camilla von Turnus ebenso ausgiebig betrauert wie Pallas von Eneas, bevor auch ihre Leiche auf eine äußerst kostbare Bahre gebettet wird, deren weiche Stoffe und Polster noch ausführlicher beschrieben werden als bei Pallas (v. 7432ff.).9 Auffällig sind dabei die Parallelen zu jenem Toten auf der anderen Seite, und Turnus selbst sieht im Tod der Gefahrtin ein schmerzliches Entgelt für die Tötung des Pallas (v. 7388f.). Auch Camilla wird schließlich in ihre Heimat überführt, wo die Großen ihres Landes sie drei Monate lang bewachen, bis eine kostbare Grabstätte für sie bereitet ist. Es entsteht dabei ein architektonisches Wunderwerk, das an Größe und Seltsamkeit mit den sieben Weltwundern auf eine Stufe gestellt (v. 7532ff.) und im folgenden über fast 200 Verse ausführlich beschrieben wird (v. 7531-7724). 8 9

Und mit einer solchen Szene endet dann auch abrupt Vergils Epos: mit dem Tod des Turnus und dem Entschwinden seiner Seele zu den Schatten. Vgl. SCHIEB 1965, 201f. Dagegen wird der Präpariening des blutüberströmten Körpers deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteil als bei Pallas (v. 7430ff.).

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Es handelt sich bei dem Grabmonument der Camilla um eine der spektakulärsten Architekturbeschreibungen des höfischen Mittelalters überhaupt, die wohl lediglich von der Schilderung des Gralstempels im „Jüngeren Titurel" in den Schatten gestellt wird, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Camillas Mausoleum zeichnet sich nicht nur durch eine Vielzahl phantastischkostbarer Details aus, sondern vor allem dadurch, daß es vil höhe enboven der erden (v. 251, 30) steht, wie es bei Veldeke heißt. In der Nähe des Tempels, über einer kreisrunden, von einer Mauer umschlossenen Fläche, die durch vier steinerne Löwen quadriert wird, erheben sich zwei Gewölbebögen, die oben kreuzförmig zusammenlaufen. Auf dem Schlußstein des Kreuzgewölbes ist ein sieben Klafter hoher und aus mehrfarbigem Marmor bestehender Pfeiler errichtet, der ebenso wie sein Sockel mit verschiedenen Tierbildern geschmückt ist. Darauf sitzen drei rund gebaute, sich nach oben stetig verbreiternde Stockwerke, verziert mit Gewölbebögen und Pfeilern, die in ihren genauen Ausmaßen angegeben werden. Im obersten, dem dritten und mit sechzig Fuß Durchmesser breitesten Turmstockwerk befindet sich die eigentliche Grabkammer. Über dieser erhebt sich ein über hundert Fuß hohes, vielfach verziertes Dach, auf dessen Spitze eine Nadel mit drei goldenen Kugeln angebracht ist. Darauf wiederum befindet sich ein Spiegel, der als eine Art militärisches Frühwarnsystem beschrieben wird: Schon von weitem verrät er Angreifer, so daß man sich rechtzeitig wappnen kann und niemals im Krieg besiegt werden wird (v. 7535ff.).10 Während die einen den Spiegel als das eigentliche Wunder dieses Bauwerks ansehen, so heißt es, rühmen andere zuerst die Statik des Gebäudes. Darin, daß zwei schlanke Bögen und ein Pfeiler ein solches Bauwerk tragen können, das sich nach oben hin stetig weiter ausdehnt, sei das eigentliche Wunderwerk des Turmgrabes zu sehen (v. 7615fF.). Erst nach der Darstellung der Außenansicht samt statischer Besonderheiten wird der Blick ins Innere gelenkt, in das fensterlose, bunt ausgemalte sowie mit Gold und Edelsteinen verzierte Grabgewölbe im obersten, dem am weitesten ausladenden Stockwerk, in das man den Sarg der Camilla stellt. Dieser ist aus gelbem Amber gefertigt und ruht auf vier Figuren aus Gold (v. 7843ff.). Seinen Deckel bildet ein Chalzedon (v. 7653) u Ebenso wie Pallas wird auch sie eingekleidet und mit Krone und Zepter beigesetzt, den Insignien ihrer Königsherrschaft; und auch mit ihr, der jungfräulichen Königin, die sich ganz dem Rittertum hingegeben hat und folglich ohne Erben ist, versiegt im gigantischen Grabturm nicht nur ein einzelnes Leben, sondern mit diesem zugleich eine Herrschaft.

10 Grundlegend auch zu dieser Grabmalbeschreibung ist noch immer SCHIEB 1965. Vgl. SÖHRING 1900,44ff. 11 Durch eine gegenüber der Ausgabe veränderte Interpunktion lassen sich die dort auftretenden Widersprüche - der Deckel ist aus einem Stein, aber dann werden drei genannt - auflösen.

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Auch Camilla schließlich werden Behälter mit Balsam und anderen Flüssigkeiten beigegeben, um den schlechten Geruch zu vertreiben, der bei der Fäulnis des Körpers entsteht (v. 7640ff.). In dem Grabmal befindet sich eine goldene Tafel, in die mit Buchstaben aus Niello folgendes Epitaph eingeschrieben ist: „Ci gist Cantile lapucele, ki molt fu proz et moltfu bete et molt ama chevalerie et maintint la tote sa vie. En porter armes mist s 'entente, ocise fu desoz Laurente. " (v. 7663ff.)

„Hier ruht Camilla, die Jungfrau, die sehr tapfer und sehr schön war und das Rittertum außerordentlich liebte und es ihr ganzes Leben lang hochhielt. Nach Waffentragen stand ihr der Sinn, unterhalb von Laurentum wurde sie getötet." Den Abschluß der Grabdarstellung bildet die Beschreibung eines seltsamen Mechanismus innerhalb der Grabkammer. Auch über Camillas Sarg hängt eine sehr helle Lampe, die hier aus einem rotleuchtenden Granathyazinthstein (jagonce grenat; v. 7682) gefertigt ist. Sie brannte immer, heißt es, und sie wird immer brennen - es sei denn, sie wird zerschlagen (v. 7677£f.). Und diese Gefahr besteht nun durchaus, denn die Lampe hängt an einer goldenen Kette, die, vermittelt über eine Zugrolle, im Schnabel einer künstlichen goldenen Taube endet. Der Taube gegenüber steht ein eherner Bogenschütze, der auf die Taube angelegt hat und seinen Pfeil in dem Moment abschießen wird, wenn ein kleiner Windhauch die Spannvorrichtung löst. Dann würde die Taube getroffen, die Kette zerstört und das Öl der Lampe vergossen werden (v. 7712ff.). Nachdem Camilla ins Grab gelegt worden ist, wird die Grabstätte geräumt, Galerien in der Grabkammer, auf denen man den Leichnam nach oben getragen hat, werden abgerissen. Der Eingang wird zugemauert, so daß niemand mehr Zutritt zu der Toten hat. Auch in der Darstellung der drei Grabmäler im „Roman d'Eneas" setzt sich also die an anderer Stelle beobachtete, einerseits materialorientierte und andererseits raumkonstituierende Beschreibungskunst des Mittelalters fort. Zwar mutet insbesondere das Turmgrab Camillas phantastisch an, doch legt der Erzähler großen Wert darauf, es in seinen Ausmaßen präzise zu beschreiben. Er schildert einen festen, kontinuierlichen Raum ohne Lücken, der dem lesenden Betrachter als ganzer gegenübertritt und insbesondere in seiner phantastischen Statik thematisiert wird. Rekonstruierbar ist der Bau für den Leser vor allem durch seine in genauen Zahlen angegebenen Ausmaße. Aufgrund der nach

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Maß und Zahl festgelegten Ausdehnung des architektonischen Wunderwerks läßt sich sogar eine Skizze des Gebäudes anfertigen. 12

Poetik der Einkapselung: Die Entstehung des höfischen Romans als Epitaphium auf die unerlöste Welt der Antike Man hat nun in den Grabmalbeschreibungen der Eneasromane von jeher Beispiele orientalischer mirabilia gesehen, die weitgehend über literarische Quellen zu beziehen waren, und bereits Edmond Farai hat neben einem Bericht über die sieben Weltwunder - mit dem Tempel der Diana in Ephesus und dem Leuchtturm von Alexandria - den berühmten Brief des Priesters Johannes als Vor-Bild für den Grabturm der Camilla angeführt. 13 Vor dem dort in aller Ausführlichkeit beschriebenen Palast des in Indien residierenden christlichen Priesterkönigs steht eine gigantische Säule, die ihrerseits ein nach oben stetig sich verbreiterndes Säulen-Bauwerk trägt, das sich dann zur Spitze hin ebenso wieder veijüngt - bis zu einer Säule, auf der ein Wunderspiegel angebracht ist. Dieser Spiegel zeigt an, wo immer in den Reichen des Königs sich Mißstände erheben. 14 Welche Funktion aber kommt dem Nachbau dieses Wunderbauwerks im französischen Eneasroman zu? In der Forschung wird diese Frage zumeist mit dem großen Interesse an wunderbaren orientalischen Sehenswürdigkeiten beantwortet, das insbesondere die Antikenromane bedienten.15 Udo Schöning hat in seiner neueren Untersuchung zum „Roman de Troie", „Roman de Thèbes" und „Roman d'Eneas" diese Position noch einmal erhärtet und darauf hingewiesen, daß die in den Antikenepen zu findenden Beschreibungen architektonischer und mechanischer Wimderwerke in erster Linie die Leser in Staunen versetzen sollten. Alle diese Romane wollten „ein Bild von der Welt der Personen vermitteln, in der es eine architektonische und technische Raffinesse sowie exorbitanten Reichtum gibt. Diese Schilderungen", so Schönings Fazit, „sollen beeindrucken, auch literarisch beeindrucken und das Staunen vor dieser Welt hervorrufen". Zugleich seien hyperbolische Schilderungen solcher Sehenswürdigkeiten - insbesondere im „Roman d'Eneas" - als Mittel der ironischen Distanzierung vom Dargestellten zu verstehen. 16 Den Mauern Kartha-

12 S. die Skizze bei SCHIEB 1965,238f. Vgl. CLEMENTE 1992,8. 13 FARAL 1913, 164ff. S. zu dem legendären Brief und seinen Folgen ZARNCKE 1879 und WAONER 2000. Auf ein weiteres mögliches Vorbild, nämlich „De Septem miraculis mundi" des Beda Venerabiiis, verweist GOEBEL 1971, 26 A. 65. TRIER 1929, 16ff., sieht in dem Mausoleum ein phantastisch vergrößertes Ciborium. 14 Vgl. auch WOLF 1954 und SCHIEB 1965. 15 So bereits SÖHRINO 1900, 5. 16 SCHÖNING 1991,219ff., Zitat 220. Zur Hyperbolik als Mittel der Distanziening ebd. 232ff.

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gos beispielsweise, aber auch dem sonderbar vielfarbigen Pferd Camillas attestiert er eine „Steigerung der Hyperbolik ins Phantastische, wenn nicht ins Komisch-Phantastische", die dem Amüsement des Publikums diene und nicht eigentlich ernst genommen werden solle.17 Schöning sieht das Ziel derartiger Beschreibungen darin, die antike Erzählung als fabula zu kennzeichnen und damit letztendlich auch Vergils „Aeneis" ihre historische Relevanz abzusprechen. In der Art, wie der „Roman d'Eneas" Vergils Epos nacherzähle, komme das Bewußtsein zum Ausdruck, diesem allenfalls eine allegorische Wahrheit zuzugestehen.18 Auch Linda demente hat eine wesentliche Funktion der architektonischen Wunderwerke im „Roman d'Eneas" in einer poetologischen Absetzbewegung gegenüber Vergil gesehen, aber anders als Schöning analysiert sie die Bauwerke dabei konsequent auf der Folie der antiken Ekphrasis-Tradition. Ausgehend von der Prämisse, daß die in epischen Texten beschriebenen Kunstwerke oftmals im Sinne einer die Rahmenhandlung spiegelnden mise en aàyme-Relation zu verstehen seien, zieht sie die Stadt- und Grabbeschreibungen an zentraler Stelle zur Aufschlüsselung der Poetik des „Roman d'Eneas" heran.19 Vor allem an den Gräbern des Pallas und der Camilla nimmt sie auffällige Momente von Symmetrie, Dopplung und Zirkularität wahr, und diese echohafte Selbstbezüglichkeit der Gebäude dient ihr als Zugang zu der selbstreflexiv-zirkulären Anlage des gesamten Romans, demente versteht die Ekphrasis des Camillagrabes mit seinen in konzentrischen Kreisen um die Säule laufenden Plattformen nicht mehr bloß als ausschmückende amplificatio, sondern als ein bewußt gewähltes Mittel, um die vom antiken Epos sich absetzende Poetik des Romans mit Hilfe einer mise en aôy/we-Technik zu verdeutlichen: „Its intrinsic principles of circularity and internal duplication serve as analogues to the structure of the Roman d'Eneas as a whole."20 In Weiterentwicklung des Ansatzes von Murray Krieger, der die zentrale Funktion der Ekphrasis darin sieht, das Streben eines poetischen Textes nach Plastizität und, Rundheit' nicht nur zu fördern, sondern durch seine Spiegelung in visuellen Kunstwerken auch zu symbolisieren,21 arbeitet demente heraus, auf welche Weise die architektonische Symmetrie und „roundness of ekphrasis" im „Roman d'Eneas" mit anderen zirkulären Textstrukturen verwoben ist.

17 SCHÖNING 1991, 237. „Komik und Hyperbolik sind im RE. Mittel der Distanzierung und Signale dafür, daß die Erzählung nicht littéral zu verstehen ist" (243). 18 SCHÖNING 1991,243ff.

19 CLEMENTE 1992. Zu ihren - die Ekphrasis als mise en abyme allerdings einseitig verabsolutierenden - methodologischen Ausgangspunkten s. S. Iff. Zum „Roman d'Eneas" 25ff. 20

CLEMENTE 1 9 9 2 , 3 4 .

21

KRIEGER 1967.

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Dabei kommen vor allem die „Beziehungsfäden"22 und Motivspiegelungen in den Blick, die die Beschreibungen der Gräber von Pallas und Camilla miteinander in Berührung bringen.23 Neben der parallelen Aufbahrung, Überfuhrung und Einbalsamierung werden beide Leichname mit allen königlichen Insignien bestattet; beide Gräber werden zugemauert und dauerhaft abgeschlossen, und in beiden finden sich immerwährende Lampen. Auch sind beide Toten in ihrer Ritterlichkeit von besonderer Art. Pallas ist eigentlich noch zu jung, er ist ein Kind, das wie ein Mann kämpft; Camilla dagegen ist eine Frau, die wie ein Mann kämpft - beide sind daher in gewisser Weise ebenso ungewöhnliche wie .unschuldige' Ritter, die verfrüht sterben. Diese weit über Vergil hinausgehende Parallelfuhrung beider Figuren im „Roman d'Eneas" setzt Pallas und Camilla in ein spiegelbildliches Verhältnis, worauf bereits Jean-Charles Huchet hingewiesen hat: „Pallas et Camille contemplent l'un dans l'autre leur image inversée dans le miroir du texte construit par l'auteur médiéval qui, là, s'écarte délibérément de Vergile."24 Im Text werden darüber hinaus Motivparallelen zwischen dem CamillaGrab und anderen Bauwerken sichtbar, so etwa der ausführlichen Beschreibung Karthagos am Anfang des Romans. Ebenso wie das wunderbare Grab der Volskerkönigin wird auch die Stadt der anderen weiblichen Herrscherin des „Roman d'Eneas" als wunderbares Bauwerk beschrieben, das sich neben dem großen Reichtum an Türmen vor allem durch ihre Uneinnehmbarkeit auszeichnet. Wie das Grab der Camilla durch den Hohlspiegel auf dem Dach jeden Angreifer im Umkreis von einer Meile erkennen läßt, damit man sich rechtzeitig wappnen kann, so ist Karthago durch magnetische Mauern geschützt, die jeden mit Eisenwaffen ausgerüsteten Krieger unweigerlich anziehen und ausschalten.25 „Camille's tomb not only echoes and repeats itself from platform to platform", so demente, „it also echoes and repeats aspects found in other constructions throughout the work, forging significant links between Carthage, Montauban, Eneas' tent city, and the two tombs."26 Angesichts dieser vielfältigen Motivspiegelungen innerhalb des Romans weist Huchet dem Hohlspiegel auf Camillas Turmgrab schließlich „une valeur

22 23 24 25 26

SCHIEB 1965,206. Vgl. vor allem HUCHET 1988. HUCHET 1988,66ff, Zitat 71. CLEMENTE 1992,30FF. CLEMENTE 1992, 34. Zu weiteren spiegelbildlichen Personenpaaren s. HUCHET 1988, 7Iff., und CLEMENTE 1992, 39ff. „Like a palimpsest", so könnte man hier eine bei Johannes Chrysostomos gemachte Beobachtung von Mary CARRUTHERS 1998, 54, abwandeln, sind die beiden Gräber miteinander verbunden. Bei der lesenden Betrachtung des Camilla-Grabes erinnert man sich zugleich an das Grabmal des Pallas. Die vorausgehende Totenbestattung ,,'bleeds through'" in der Lektüre der nachfolgenden. „One cannot remember the one without the other." So ist die Erinnerung an Pallas „appropriated cognitively (a-propria, .from its place') from one network into a network of other .places' [...]".

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emblématique" zu und versteht ihn als visuellen Schlüssel, der den Textbenutzer auf die Spiegelpoetik der gesamten Erzählung hinweise: „il métaphorisera le travail de l'auteur réordonnant la matière virgüienne suivant le principe du dédoublement et de l'inversion spéculaires des éléments narratifs, ainsi que le travail de ,réflexion' (de retour sur soi et d'intelligence) de l'écriture trouvant dans la spécularité la clef d'ime .poétique' incluse au récit."27 Ein zentraler Unterschied zwischen der „Aeneis" und ihrer anglonormannischen Bearbeitung betrifft also die Ausrichtung der ekphrastischen Spiegelungen und damit letztendlich die Zeitkonzeption der beiden Erzählungen. Vergil setzte mit der Bilderzählung auf den Wänden des Tempels in Karthago epische Personen aus der homerischen „Ilias" visuell in Szene, um diese Figuren präfigurierend auf seine eigenen Protagonisten zu beziehen. So spiegelt das Bildnis der Penthesilea das spätere Schicksal von Dido und Camilla, und der im Bild dargestellte griechische Hauptheld Achilles wird zu einer Präfiguration des Rom-Gründers Aeneas, ebenso wie Aeneas später im Spiegelbild des Schildes als eine Präfiguration des Augustus kenntlich gemacht wird.28 So konnte der Leser den Kunstbeschreibungen Vergils die lineare Zeitkonzeption des Epos entnehmen, das derart auf die Meta-Erzählung der Weltgeschichte transparent gemacht wurde. Der „Roman d'Eneas" dagegen verzichtet auf die Folie einer umfassenden Meta-Erzählung, um demgegenüber durch eine enge ekphrastische Verzahnung von Dido, Pallas und Camilla das epeneigene Personal ineinander zu spiegeln. Dadurch schottet er sich von der ,großen Erzählung' der Welt-Heilsgeschichte ab und betont stattdessen die Kohärenz des in sich geschlossenen Kosmos des Romans. Eine zentrale Rolle kommt dabei den Grabinschriften zu. Durch diese, so könnte man einwenden, kommt den zwar materialorientierten und räumlich strukturierten Ekphrasen erneut ein narratives Moment zu, eine Form von Mikro-Erzählung, mit der sich die Grabmalbeschreibungen wieder ein Stück der para-narrativen Ekphrasis der antiken Tradition annähern. Doch handelt es sich im Unterschied zu Vergil bei den Epitaphien um paranarratives, die den Roman nicht auf andere, intertextuell verfügbare Erzählungen öffnen, sondern die eigenen Handlungssegmente in Erinnerung rufen, die in der Rahmenhandlung bereits auserzählt worden sind. Die Inschriften rufen zuvor erzählte Binnengeschichten wie im Zeitraffer noch einmal ins Gedächtnis und schreiben sie zugleich in ebenso dauerhafte wie wertvolle Materialien ein. Die dabei erinnerte und materiell verfestigte Dauer ist also keine historische oder mythologische Zeit, die Ekphrasis überbrückt nicht mehr Jahrhunderte der säkularen Weltgeschichte, sondern sie verdichtet die interne Zeitlichkeit des Romans selbst und fordert damit seine Abkopplung von der Historie und die Einkapselung des 27 HUCHET 1988, 65ff„ Zitat 66. Ähnlich CLEMENTE 1992, 11, die indes HUCHET in ihrer Arbeit nicht erwähnt. 28 S. dazu PUTNAM 1998,34ff.

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Romangeschehens in einem nach innen kohärenten und nach außen abgeschlossenen, narrativen Kosmos. Genau in diesem Streben nach Abgeschlossenheit und „ekphrastic completeness"29 sehen Huchet und demente denn auch den Impetus des anonymen Dichters, der volkssprachigen Nacherzählung der „Aeneis" eine neue, spezifisch literarische Form zu geben, mit der sie sich von dem welthistorischen Geschichtsdenken Vergile ebenso abhebt wie von der kumulativ-reihenden, prinzipiell nie abschließbaren Episodenstruktur der Chanson de geste-Dichtung.30 Umgebaut von einer intertextuell operierenden Mikro-Erzählung, in der das antike Epos die Meta-Erzählung der Weltgeschichte spiegelt, zu einem architektonischen Binnengedächtnis, das dem Roman eine eigene Erzählwelt mit interner Zeitlichkeit erschließt und dem Wortkunstwerk auf diese Weise „a new dimension of internal cohesiveness"31 verschafft, stehen die Ekphrasen des „Roman d'Eneas" am Anfang einer volkssprachigen Romantradition.32 Bei einer solchen Lesart ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Handlung des „Roman d'Eneas" nicht vollständig in einer ebenso fernen wie fiktiven Vorzeit eingekapselt ist, denn zumindest Eneas geht ja unbeschadet aus dieser Romanwelt hervor und läßt sich vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Geschichtsverständnisses - wie sehr die Handlung auch allegorisiert oder fiktionalisiert sei - kaum anders denn als Agent der Heilsgeschichte sehen. Daß das welthistorische Geschichtsdenken Vergils, wenngleich abgeschwächt, hier noch immer seinen Platz hat, zeigt nicht zuletzt das bis auf Romulus und Remus gehende Register der von Eneas abstammenden Geschlechter am Ende des Romans (v. 10142ff.). Auffällig ist aber, daß nicht mehr, wie bei Homer und Vergil, der Held des Romans, der Agent von kosmischer Ordnung und heilsgeschichtlicher Sendung, ekphrastisch besonders herausgehoben wird. Seine göttlichen Waffen sind ja eher bescheiden angesichts der spektakulären Grabbauten eines Pallas oder einer Camilla. Vielmehr betrifft die architektonische Inszenierung allesamt Nebenfiguren, und zwar solche, die Eneas' Sendung zumindest potentiell im Weg stehen und durch ihren Tod diesen Weg erst freimachen. So wird durch Didos Selbstmord Karthago als welthistorische Gegenspielerin Roms ausgeschaltet und zugleich der unvollkommene erste Teil der Irrfahrt des Eneas abgeschlossen. Mit dem Tod des jungen Pallas stirbt ein weiteres, potentiell konkurrierendes Herrschergeschlecht aus, wodurch der Weg frei ist für Eneas' Herrschaft über Italien. Und durch Camillas Tod wendet sich nicht nur das Blatt auf dem Schlachtfeld grundlegend - die ehemals belagerten Tro-

29

KRFFIOER 1 9 6 7 , 2 8 7 .

30

Vgl. HUCHET 1988, 79FF. (zu Vergil) u n d CLEMENTE 1992, 34f. passim (zur Chanson

de ge-

ste- Dichtung). 31

CLEMENTE 1 9 9 2 , 34.

32 HUCHET 1988, 81, sieht im „Roman d'Eneas" „[le] premier vrai roman en langue vulgaire".

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janer sind plötzlich zu Belagerern geworden - , sondern durch ihn wird auch der hybride Typus der mächtigen, autochthonen Herrscherin endgültig aus der Romanhandlung .entsorgt', den zuvor schon die vom Liebesñiror ergriffene Dido repräsentierte. An ihrer Statt gibt der „Roman d'Eneas" sodann einer neuen, der Minne-Kasuistik Ovids verpflichteten Liebe zwischen Eneas und Lavinia breiten Raum, die als einzige mit Nachkommen gesegnet ist und beispielhaft für die Minnekonzeption der nachfolgenden höfischen Romane werden wird.33 Gerade weil nun - mit Ausnahme der Minne - all dies im wesentlichen schon für Vergil gilt, ist es bemerkenswert, daß der anglonormannische Bearbeiter der „Aeneis" gerade die zum Tode Verdammten und aus der Weltheilsgeschichte Ausgeschlossenen mit ausfuhrlichen Grabbauten ,würdigt'. Ihre spektakuläre Beisetzung scheint mir im wesentlichen dazu zu dienen, sie auf ewig in der fernen vorchristlichen Welt der Antike einzuschließen und dadurch dasjenige kontrastiv herauszustellen, was Zukunft hat, und dies ist neben dem Fortleben des Eneas in seinen Nachkommen vor allem die zwischen ihm und Lavinia entwickelte, .moderne' Minnekonzeption. Dazu muß zunächst das ,falsche' Minneverständnis einer Dido und Camilla spektakulär zu Grabe getragen werden. Die aufwendige Bautätigkeit des „Roman d'Eneas" zielt somit auf eine ekphrastische Inszenierung des Todes ab, und das heißt für mittelalterliche Leser: eines unerlösten, endgültigen Todes in einer zwar durch architektonische und technische Wunderwerke sowie exorbitanten Reichtum gekennzeichneten, letztendlich aber trostlosen, weil nicht-christlichen Vorzeit. Das brutale Faktum eines Todes ohne Aussicht auf Erlösung wird in den Grabszenen immer wieder mit den großen, letztendlich jedoch vergeblichen Anstrengungen kontrastiert, die sterblichen Überreste vor dem Verfall zu schützen sowie ein möglichst prunkvolles Grab als ,Haus' der Toten zu errichten. Und daß dieser Tod gerade die Reichen und Mächtigen trifft, das Hybride und Hypeibolische vernichtet, findet sich geradezu allegorisch verdichtet in der gleich mehrfach hybriden Figur der Camilla.34 An ihr zeigt sich exemplarisch der Sturz des Hohen und die Todesverfallenheit alles Weltlichen, die in krassem Gegensatz steht zu ihrem Reichtum und ihrer Überfülle an Wunderbarkeiten einerseits, andererseits aber auch mit dem göttlich gesandten Eneas und seinen unbezwingbaren, sein Leben schützenden Waffen kontrastiert wird. Daß die ekphrastische Inszenierung der drei prominenten Toten, die allesamt keine Nachkommen haben und folglich keine weiteren Spuren in der Geschichte hinterlassen, diese in ihren Grabmonumenten auf ewig ein- und so zugleich aus der Historie ausschließt, kommt geradezu emblematisch darin zum Ausdruck, daß die Gräber versiegelt und unzugänglich gemacht werden. 33 Vgl. CLEMENTE 1992,35FF, und KELLY 1999,18lff. 34 Zur allegorischen Deutung der Camilla vgl. SCHÖNING 1991,243ff.

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In ihnen sind somit nicht nur die sterblichen Überreste der Toten samt ihren Herrschaftsinsignien eingelagert, sondern auch die Epitaphien, und das heißt: die Geschichten der verstorbenen Heroen dieser noch unerlösten Vorzeit. Die Grabinschriften werden ja nicht außen sichtbar am Grabmonument angebracht, so daß eine Totenmemoria der familia oder gar der Nachwelt möglich wäre, sondern im Grab auf ewig eingeschlossen und unzugänglich gemacht. Lediglich der Leser des „Roman d'Eneas" erhält die Möglichkeit, sie jederzeit durch das Okular der architektonischen Ekphrasen in Augenschein zu nehmen. In visuellen Artefakten gleich mehrfach gespiegelt, tritt ihm dort, in den Grabbauten, der Sinn des gesamten Romans in einer bildkünstlerisch gestalteten mise en abyme entgegen, nämlich das Absterben einer hybriden, erlösungsbedürftigen Vorzeit als Vorbedingung für das Neue. So wird das Faktum des Todes zuerst in der narratio auserzählt, dann in spektakulären architektonischen Monumenten topographisch inszeniert, um in deren Zentrum auf goldenen Tafeln schließlich noch einmal in Form eines schriftlichen Textes zu erscheinen. In diesen Inskriptionen, den einzigen Teilen eines visuellen Kunstwerks, „that can be transcribed exactly by the poet",35 wird die Schriftlichkeit des Epitaphiums mit der Schriftlichkeit des Romans kurzgeschlossen. Die Schrift der Epitaphien ist die ureigene Schrift des „Roman d'Eneas"; hier kommt der volkssprachige Roman zu sich selbst, um sich als Grabmonument, als Epitaphium einer hybriden, unerlösten Welt der vorchristlichen Antike zu inszenieren.

Monumentale Warnungen vor dem Sturz des Hohen: Grabbeschreibungen in der lateinischen Epik des 12. Jahrhunderts Bevor ich mich nun dem Umbau der Grabarchitektur in der deutschen Bearbeitung des „Roman d'Eneas" durch Heinrich von Veldeke widme, sei noch ein kurzer Seitenblick auf die lateinische Epik des 12. Jahrhunderts erlaubt, denn auch hier finden sich aufwendige Darstellungen von Grabmälern. Diese werden jedoch anders als im „Roman d'Eneas" zumeist unter Anknüpfung an die antike Ekphrasis-Tradition mit intertextuell operierenden Mikro-Erzählungen nach Art Vergils versehen. Auf dem bereits erwähnten Grab des Perserkönigs Darius in Walters „Alexandreis" ist zum einen eine mappa mundi mit den drei Kontinenten Asien, Europa und Afrika sowie den Flüssen und Ländern und dem alles umgebenden Oceanus zu sehen (VII, 379ff.).36 Mit der Rahmenhandlung der „Alexandreis" wird dieses Welt-Bild dadurch verbunden, daß, wie Christine Ratkowitsch gezeigt hat, diejenigen Länder besonders hervorgehoben werden, „deren Besitz

35

BERGMANN 1 9 7 9 , 3 1 2 .

36 Zur Ekphrasis RATKOWITSCH 1991, 164ff.

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Alexander bereits in 1, 533 von der Traumerscheinung des Hohepriesters verheißen, in 7, 296f. von Darius vor seinem Tod als letzter Wunsch übermittelt wurde und den Alexander selbst in 7, 373ff. in Anspruch nimmt."37 Wie das Grab der Stateira mit seiner biblischen Kosmogonie wird aber auch die mappa mundi zusätzlich heilsgeschichtlich eingebunden, indem der berühmte Baumeister und Maler Apelles daneben die biblische Geschichte der Menschheit von den Anfängen bis zu Alexander darstellt, und zwar Hebreos et eorum scripta secutus (VII, 425). Wie beim Anblick des Darius-Schildes wird dem lesenden Betrachter auch am Ort seines Grabes eine andere als die gerade erzählte Hauptgeschichte gezeigt, die sich wie die Mikro-Erzählung des Schildes aufgnind ihrer biblischheilsgeschichtlichen Herkunft für den mittelalterlichen Leser in eine umfassende Meta-Erzählung verwandelt. Die schon in der Schildbeschreibung deutlich sichtbaren Zeichen der Warnung vor Anmaßung und Überhebung finden sich nun, durch den Tod als Sturz des Hohen, bestätigt. Der Leser wird mit der Betrachtung seines prächtigen Grabdenkmals erneut zu einer Meditation über den Perserkönig Darius als Exempel der Hybris eingeladen. Eine etwas andere epische Inszenierung monumentaler Totenmemoria begegnet in Josephs von Exeter „Frigii Daretis Ylias", einer wohl ebenfalls in den 1180er Jahren entstandenen lateinischen Bearbeitung des spätantiken Trojaberichts des Dares Phrygius.38 Hier wird auf breitem Raum das Grab des von Achilles getöteten Teuthras mit seinemfigürlichenBildprogramm beschrieben, welches das Leben des alten Königs Revue passieren läßt. Wie Walter konnte auch Joseph fur diese Grabmalbeschreibung keine Vorbilder in seinen spätantiken Vorlagen finden, denn bei Dares ebenso wie in einer anonymen DaresBearbeitung des 12. Jahrhunderts, die Joseph wohl ebenfalls benutzte, wird nur knapp vermerkt, daß Teuthras überhaupt gebührend bestattet worden sei.39 An dem auf sechs Säulen ruhenden, goldglänzenden Grabmal, das Joseph von Exeter in seinem Text errichtet, um an den gefallenen König Teuthras zu erinnern, fällt zunächst auf, daß wie in den anderen Wandbeschreibungen auch hier enzyklopädisches Wissen in architektonischer Form aufbereitet wird. Auf dem Grab ist unter Aufwendung kostbarer Materialien das ganze Leben des Teuthras in Szene gesetzt, und zwar aufgeteilt in vier Bilderzyklen, die sich an den vier Lebensaltern Kindheit, Jünglingsalter, Mannesalter sowie Greisenalter und Tod orientieren (IV, 451-492).40 Den weitaus größten Teil nimmt dabei der letzte Zyklus mit der Darstellung von Alter und Niedergang ein, und im Anschluß an die vier Lebensalter wird Teuthras' Tod in einem Schlußbild so-

37 38 39 40

R a t k o w i t s c h 1991,171. Zu Text, Datierung und Interpretation RATKOWITSCH 1991,318ffi, und KELLY 1999,12Iff. Vergleich der Stellen bei RATKOWITSCH 1991,326. Zur Tradition der Lebensalter, die schon in der Antike mit Tod und Vergänglichkeit in Verbindung gebracht wurden, vgl. RATKOWITSCH 1991,327f.

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gar noch einmal szenisch nachgestellt.41 Der zornige Achilles ist dort zu sehen, daneben Telephus, der um das Leben des Teuthras bittet, und schließlich dieser selbst im Augenblick seines Todes, inmitten von spritzendem Blut. Abschließend faßt ein Epitaphium kurz die wichtigsten Informationen über den Toten zusammen:, dux Teutras, Mesis decus arvis, passus Achillem /ense necem sensit sceptri defensor aviti ' (IV, 49 If.). Den Inhalt der Ekphrasis bildet also wie bei Vergil und Walter eine in Bildern erzählte, ebenso bewegte wie bewegende Geschichte, die auf den Wänden des Grabbaus zu sehen ist. Anders als dort handelt es sich in Josephs Ekphrasis jedoch um die Lebensgeschichte einer Figur des Epos selbst, so daß sich in den Bildern des Kunstwerks, ähnlich wie im „Roman d'Eneas", ein Handlungssegment der Rahmenerzählung wiederfindet. Bis in wörtliche Wiederholungen hinein werden Details der in der narratio auserzählten Todesumstände des alten Königs in der Ekphrasis wieder aufgenommen und in der räumlichvisuellen, nach symbolischen Zahlenrelationen strukturierten Form eines Bauwerks gespiegelt. Die Kunstbeschreibung dient also auch hier zur Erinnerung an ein intratextuelles Ereignis, das dem Textbenutzer noch einmal vor Augen gefuhrt wird, und wie im „Roman d'Eneas" ist die solcherart markierte Person in Josephs Troja-Epos lediglich eine vermeintlich unbedeutende Randfigur des Geschehens. Daß jedoch gerade auch an einer solchen Figur mittels einer Ekphrasis Bedeutung gesetzt werden kann, die für das gesamte Epos Relevanz beansprucht, hat Ratkowitsch in ihrer Interpretation der Ekphrasis gezeigt. Mit der auf den schmählichen Tod zulaufenden Lebensgeschichte des alten Königs, die der Leser im Schauraum des Grabbauwerks noch einmal eingehend betrachten kann, wird demnach eine tragische Binnenerzählung hervorgehoben, die eine Art Gegenmodell zu der optimistisch anmutenden Haupthandlung in Stellung bringt. Ähnlich wie im „Roman d'Eneas" ist es dabei das Faktum des Todes, das - gleich mehrfach gespiegelt - im Fokus der Ekphrasis steht: Zuerst in der narratio berichtet, dann im Grabdenkmal verräumlicht und in der Inschrift besiegelt, tritt das schmähliche Ableben des Königs in einer Lache von Blut dem Leser sogar noch ein weiteres Mal in der Schlußszene des Bilderzyklus eindringlich entgegen. Die scheinbar heroischen Handlungen der Krieger vor Troja werden auf diese Weise mit der Nichtigkeit der irdischen Werte und dem durch Überhebung bedingten Sturz des Hohen kontrastiert.42 In dieser Lesart öffnet sich die vermeintlich nur intratextuell operierende Ekphrasis am Ende doch wieder auf das große Ganze, indem sie dem heroisch

41 Ein antikes Vorbild für die Wiederholung der Todesumstände in den Bildern - wohl Reliefs eines Grabmals bietet die „Thebais" des Statius (VI, 242ff.). Das Motiv findet sich dann auch im „Roman de Thèbes" ν. 2625ff. S. SÖHRING 1900,35. 42 RATKOWITSCH 1991, 323. KELLY 1999, 127, sieht in der Ekphrasis „a virtual mise en abyme of future events".

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inszenierten antiken Stoff durch Kontrastiemng mit der christlichen Auffassung von der Hinfälligkeit alles Weltlichen implizit eine kritische Sichtweise unterlegt. Obgleich nur ein kleines Teil des epischen Gefiiges, fließt in die Beschreibung des Theutras-Grabmals doch ein Angebot für eine Gesamtdeutung des Epos ein. Während also die Technik der para-narrativen Ekphrasis einmal mehr auf Vergil zurückweist, befindet sich der Gegenstand der Kunstbeschreibung, das architektonische Grabdenkmal eines vorchristlichen Herrschers, im Einklang mit den Ekphrasen des „Roman d'Eneas". Bei allen Unterschieden im Detail wird der Blick des Lesers hier wie dort auf das Faktum des unerlösten Todes gelenkt, und genau darin scheint so etwas wie eine kollektive ekphrastic response der volkssprachigen wie lateinischen Epen des 12. Jahrhunderts auf die antiken Kunstbeschreibungen zu liegen. Im folgenden wird zu untersuchen sein, inwieweit sich Heinrich von Veldeke in diese Tradition einschreibt.

II. Vertikalität und Transzendenz: Der Umbau der Grabarchitektur bei Heinrich von Veldeke Wenn es auch auf den ersten Blick scheint, als behalte Heinrich von Veldeke in seiner Bearbeitung des „Roman d'Eneas" die Grabmalbeschreibungen seiner Vorlage weitgehend bei, so nimmt er doch signifikante Veränderungen an Details vor, die letztendlich den gesamten Roman auf neue Sinndimensionen öffnen. Wie der „Roman d'Eneas" sich durch den Umbau der Ekphrasen von der Poetik der „Aeneis" absetzte und zu einer eigenen literarischen Form fand, so wird kurze Zeit später Heinrich von Veldeke durch eine abermalige .Korrektur' der ekphrastischen Indikatoren den Standort seines „Eneas" wiederum neu bestimmen. Zunächst aber zu den drei Toten und den Formen ihrer Bestattung im einzelnen. Im Hinblick auf Dido ist schon erwähnt worden, daß Veldeke die Beschreibung der Stadt Karthago gegenüber seiner Vorlage stark kürzt. Dies hat zur Folge, daß die Stadt selbst als architektonischer Referenzraum für das Camilla-Grab an Bedeutung zurücktritt. Stattdessen wird das Grab aufgewertet, indem der deutsche Bearbeiter die Urne mit der Asche der Dido in einem Sarg beisetzen läßt, der ein prasem grüne als ein gras (v. 80,4) ist. Ein eigenes Bauwerk wird zu ihrer Beisetzung ebenso wie im „Roman d'Eneas" nicht errichtet. Dido bleibt dadurch den Textbenutzern weniger mir ihrer großartigen Stadtarchitektur im Gedächtnis, als vielmehr mit ihrem wunderbaren Edelsteinsarg, der hier zum ersten Mal an zentraler Stelle in der deutschen Literatur auftaucht.43 Dadurch, daß dieser Sarg in Material und Farbe überdies den Sarg des Pallas vorwegnimmt (ein prasîn grüne; v. 224, 28), wird ein weiterer spiegelbildlicher Bezug zwischen diesen beiden Toten eingefugt. In dem Moment, da der Leser auf den grünen Edelsteinsarg des Pallas stößt, wird er unweigerlich an Dido erinnert und ist aufgefordert, über die Vergleichbarkeit beider Figuren nachzudenken. Anders als im „Roman d'Eneas", wo starke Beziehungs-

43 Allerdings berichtet zuvor der „Straßburger Alexander" des Pfaffen Lamprecht von der Öffnung eines Grabes in Persien durch Alexanders Soldaten, in dem diese neben goldenen Gefäßen einen diaphanen Sarg finden, durch den man deutlich den Toten erkennen kann und der eine Inschrift mit seinem Namen trägt: der sarc was grüne alse ein gras. [!] / des seibin töten mannis name / was gegraben dar ane: / er htz Evilmerodach. / der kuninc in Babilonia was (v. 3563flf.). Vgl. HOCK 1958, 2 0 4 , u n d ERNST 1 9 9 7 , 2 8 4 .

ÇQ

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fáden zwischen den Herrscherinnen Dido und Camilla vor allem über ihr .falsches' Minneverständnis ebenso wie über ihre uneinnehmbaren Wimderbauwerke hergestellt wurden, soll sich der Leser in Veldekes Roman offenbar vom tragischen Tod des Pallas her an die nicht weniger tragischen Todesumstände Didos erinnern. Zum Grabmal des Pallas wird bei Veldeke ausdrücklich vermerkt, daß es niht hôge (ν. 224, 2) ist, sondern ein Rundbau; dabei wird ausdrücklich erwähnt, daß sich das Grab des Pallas in der Erde befindet. Auch sonst wird das Grabmonument des Euander-Sohnes bei all seinen Kostbarkeiten - wie etwa Wänden aus Elfenbein, das dem Mittelalter als besonders .unverweslich' galt44 - doch als wesentlich bescheidener, weniger pompös beschrieben als im „Roman d'Eneas". So fallen fast alle bildlichen und plastischen Darstellungen weg, und statt auf vier Löwen ruht der Sarg bei Veldeke auf vier Pfeilern aus gesprenkeltem Porphyr (v. 223, 37£F.). Auch fehlt die Bedachung mitsamt ihrer Spitzenbekrönung und dem goldenen Vogel in der deutschen Bearbeitung. Neu ist hier schließlich die zur Erdbestattung passende Abdunkelung der Grabkammer, denn das einzige Fenster, das der „Roman d'Eneas" darin vorsah, ist bei Veldeke getilgt. Hier gelangt in die Grabkammer keinerlei Tageslicht: die sunne niender drin noch neheines tages

schein

lieht,

wan da ne was vinster inne nieht. (v. 2 2 4 , 12ÍT.)

Um so größer ist die Bedeutung der Grablampe, die fiir Licht sorgt, und diese wird nun in Analogie zur ewigen Lampe im Camilla-Grab bereits bei Pallas als ein jachant rôt als ein blût (ν. 226, 2) beschrieben, wohingegen die farblichen und materiellen Eigenschaften der Lampe im „Roman d'Eneas" an dieser Stelle nicht konkretisiert wurden.45 Die neben der Erdbestattung wichtigste Neuerung Veldekes hinsichtlich des Pallas-Grabes dürfte aber in dem gegen Ende der Schilderung eingefügten Bericht von der mehr als 2000 Jahre später erfolgenden Auffindung und Öffnung des Grabes während der Italienfahrt Kaiser Friedrichs Barabarossa liegen (v. 226,16ff.). Durch den Einschub dieser ,Stauferpartie' wird Pallas' Bestattung und mit ihr die gesamte Romanhandlung ähnlich wie durch das prophetische Bildprogramm auf dem vergilischen Schild des Aeneas - mit der „Gegenwartswirklichkeit" der Leser verbunden.46 Das Grab der Camilla schließlich wird in seinen Ausmaßen etwas reduziert, und es fehlt die Verbindung mit den sieben Weltwundern. Die drei Plattformen auf der Säule werden zu einer zusammengefaßt, die Maße verkleinert

44 FROMM, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 856f. 45 Zum Motiv der Grablampe SCHIEB 1965, 234f., und FROMM, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 869. 46 SCHIEB 1965,213.

Der Umbau der Grabarchitektur bei Heinrich von Veldeke

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und die insgesamt sechs Bauteile im „Roman d'Eneas" auf vier reduziert.47 Von der aufwendigen Bedachung übernimmt Veldeke lediglich den Spiegel auf der Spitze. Und während er das Fenster in Pallas' Grabkammer getilgt hat, läßt er bei Camilla nun - gegen seine Vorlage - ausdrücklich das Tageslicht in die Grabcella hineinscheinen. Erwähnt werden guter venster viere (v. 253,25), jeweils eines an jeder Wand und aus acht Arten von Edelsteinen gefertigt: von granâte und von saphiere, von smaragden und rubînen, von crisolîten und von sardînen topazien und berillen. (v. 253,26ff.) Der Raum ist also in deutlichem Gegensatz zum Pallas-Grab am Tage als lichtdurchflutet vorzustellen, erfüllt von dem bunten Licht der Edelsteine, welche Camilla schon vor dem Bau des Mausoleums selbst erworben hat. Außerdem ist Camillas Edelsteinsarg hier nicht aus gelbem Amber, sondern aus Chalzedon mit einem Deckel aus Sardonix (v. 253, 38ff.), und sie wird - anders als Pallas - bei Veldeke ohne die Insignien einer Königin beigesetzt. Eine zentrale Neuerung Veldekes betrifft darüber hinaus den Baumeister Geómetras, der die Grabkonstruktion im Auftrag Camillas schon zu ihren Lebzeiten angefertigt hat. Durch diesen offenbar von Veldeke erfundenen und nach dem Fach des Quadriviums benannten Künstler, der des werkes meister was (v. 252, 24) und von Camilla dafür ausdrücklich entlohnt wird, werden verschiedene Beziehungsfäden zwischen einzelnen Figuren und Bauwerken neu gewichtet. So verändert Camillas schon zu Lebzeiten fertiggestelltes Grab den Charakter ihres Todes, der nun Züge eines erwartbaren und mithin ^echtzeitigen' Ablebens erhält - dagegen dauert es im „Roman d'Eneas" noch einmal drei Monate, bis das spontan errichtete Mausoleum fertig ist. Dieser rechtzeitige' Tod bildet nun einen deutlichen Kontrast zum .vorzeitigen' Ableben einer Dido oder eines Pallas. Zwar ist auch Pallas in einem bereits fertiggestellten Grab bestattet worden, doch war dieses für seinen alten Vater gedacht. Für Dido stand dagegen noch überhaupt kein Grab bereit.48 Nimmt man alle drei Grabmalbeschreibungen Veldekes gemeinsam in den Blick, dann gewinnt man den Eindruck einer fast ethnologisch anmutenden Typologie der Bestattungsarten: Der Kremation der Dido steht die Erdbestattung des Pallas gegenüber und dieser das Hochgrab der Camilla. Diese Reihe wird mit einer Figur der Steigerung verbunden, denn wie schon in der Vorlage nehmen die Pracht und der materielle Aufwand der Beisetzungen von Dido

47 SCHIEB 1965, 215ÍF., die auch auf die starke Varianz in der Überlieferung dieser Passage eingeht Insbesondere die jüngeren Handschriften haben das Camilla-Grab beträchtlich verändert, worauf hier allerdings nicht eingegangen werden kann. 48 Zu diesen Motivparallelen s. KARTSCHOKE, Kommentar zur „Eneas'VAusgabe, 804, und SCHIEB 1965,225f.

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über Pallas bis hin zu Camilla stetig zu, und auch die Epitaphien werden dabei immer länger.49 Auch eine Typologie der Todesumstände läßt sich erkennen. Tötet sich die trotz ihrer großen Weisheit am Ende in einer ausweglosen Situation gefangene Dido selbst aufgrund der verhängnisvollen Folgen ihrer Liebeskrankheit, genauer: aus Rache an ihrem Herzen (v. 77, 20f.), so stirbt der junge Pallas am ersten Tag seiner Ritterschaft einen tragischen Tod aus feudaler Treue zu seinem Verbündeten Eneas. Lediglich Camillas Ableben wird eindeutig negativ konnotiert - nicht nur, weil sie als einzige ,zur rechten Zeit' stirbt, sondern auch, weil sie aus einem Hinterhalt getötet wird, als sie dabei ist, einem von ihr erschlagenen Trojaner aus Habgier den kostbaren, mit Edelsteinen verzierten Helm zu rauben. In der aus seiner Vorlage übernommenen Steigerung der immer aufwendiger werdenden Bestattungen stellt Veldeke also einzelne Bildelemente um und wirft so ein neues Licht auf die drei Toten. Neben der Aufwertung Didos zu einem tragischen Opfer überwältigender Minne fällt hier vor allem die signifikante Nobilitierung des jungen Pallas auf.

Der fromme Euander und die proto-christliche Erdbestattung des Pallas Die besondere Auszeichnung, die dem jungen Eneas-Verbündeten zukommt, der als einziger einen vollkommen unschuldigen Tod stirbt, läßt sich zunächst an der Form seines Grabes ablesen. Dieses unterscheidet sich sowohl von der Urnenbestattung der Dido wie vom Hochgrab der Camilla dadurch, daß es die größte Nähe zur christlichen Bestattungspraxis aufweist.50 So wird im Text mehrfach ausdrücklich erwähnt, daß Pallas eine Erdbestattung zuteil wird, wohingegen der „Roman d'Eneas" ein oberirdisches Gewölbe mit Spitzenbekrönung vorstellt (v. 643 Iff.): do bestatte man in zer erden harde hêrlîche. dô hete der kunich riche ein grab geheizen machen mit zierlichen sachen in einem gewelbe (v. 223, 26).

49

50

S C H I E B 1 9 6 5 , 2 3 2 . H U C H E T 1 9 8 8 , 68FF. Lediglich das Epitaph des Pallas wird bei Veldeke in indirekter Rede wiedergegeben. F R O M M , Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 8 5 6 , hat geltend gemacht, daß es sich bei der Grabkammer des Pallas um einen gewölbten Rundbau handele, „wie er dem mittelalterlichen Christen durch die Grabeskirche in Jerusalem mit ihren zahlreichen abendländischen Nachbildungen [...] bekannt war."

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Es scheint hier an ein unterirdisches Gewölbe gedacht zu sein, eine Art Krypta, womit auch die Dunkelheit der Grabkammer in Übereinstimmung zu bringen wäre.51 Später wird es dann als ein großes Wunder bezeichnet, daß bei der erwähnten Öffiiung des Grabes noch immer daz lieht werde / bran under der erde (v. 226, 36). Neben der Nähe zur christlichen Erdbestattung, die historisch auf die Beisetzung Christi in einem Felsengrab zurückgeht, das der reiche Jünger Joseph von Arimathäa eigentlich für sich selbst hatte anfertigen lassen (Matth. 27, 57ff.), ist aber auch die besondere Pietät des Euander auffällig. Stellt diese bei Vergil eine Mahnung an die Römer dar, sich an der einfachen Frömmigkeit ihrer Ahnen zu orientieren,52 so kann sie bei Veldeke, der alles Nationalrömische aus seinem Text streicht, durchaus als eine Präfiguration christlicher pietas gelesen werden.S3 Zumindest wird Euander als jemand gezeigt, der die kulturell-rituellen Traditionen seines Geschlechts hochhält, indem er überaus viele Gebete, Opfer und Gedächtnisfeiern veranlaßt und so seine große Fürsorge für das Seelenheil seines toten Sohnes zum Ausdruck bringt.54 Diese äußerst pietätvolle Bestattung des Pallas durch seine familia wird von Veldeke wiederum in starkem Kontrast mit der Selbstinszenierung Camillas gezeigt, deren Grab eher einem Ruhmestempel gleicht. Die Totenmemoria, folgt man Aleida Assmann, setzt sich von jeher aus zwei Komponenten zusammen, einer religiösen Dimension (pietas) und einer weltlichen Dimension (fama): „Pietät können immer nur die anderen, die Lebenden für die Toten aufbringen. Für Fama, d.h. für ein ruhmreiches Andenken, kann dagegen jeder zu einem gewissen Grade selber zu Lebzeiten Vorsorge treffen. Fama ist eine säkulare Form der Selbstverewigung, die viel mit Selbstinszenierung zu tun hat."55 In der Gegenüberstellung von Pallas und Camilla treten diese beiden Komponenten nun in aller Klarheit auseinander.56 Sorgt im einen Fall die familia des Toten für sein Andenken, so ist es im anderen Fall die Königin selbst, die ihre Memoria mit allem Prunk inszeniert, wozu sie den Baumeister Geómetras bezahlt und ihre eigenen Edelsteine verbauen

51 Vgl.

LICHTENBERG

1931,62.

52 DITTRICH 1966,515f. 53 Anders WENZELBUROER 1974,273. 54 S. v. 1 6 8 , 1 4 f f ; 172, lOff.; 172,37ff. sowie v. 2 2 0 , 1 6 f f ; 224,38ff.; 225,27ff. 55 ASSMANN 1999,33. 56 Bereits die Totenklage, die Turnus am Leichnam der Camilla hält, weist kaum Aspekte von pietas auf, vielmehr verweist Turnus allein auf den großen Ruhm der Königin und ihre Einzigartigkeit, die der Welt in Zukunft fehlen wird. Die zahlreichen Gebärden der Trauer, die der „Roman d'Eneas" Turnus zuschreibt - hundertmal küßt er die Bahre, dreißigmal fällt er dabei in Ohnmacht (v. 7509ff.) - , übergeht Veldeke fast völlig. Turnus lobt hier lediglich ihre weltlichen Vorzüge, ihren schönen Körper und ihren Reichtum, er beschuldigt die Götter, daß sie sie nicht beschützt haben und beklagt, daß sie fortan nicht mehr an seiner Seite kämpfen könne (v. 2 4 9 , 4 0 f f ) .

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läßt. All dies dient allein der fama, der säkularen Verewigung ihres Namens; der Aspekt der pietas fehlt dagegen - anders als im „Roman d'Eneas" - fast völlig. Schon bei Vergil ist Pallas als Thronfolger von Pallanteum eine zentrale Figur, weil er als Herrscher über genau den Landstrich vorgesehen ist, auf dem später Rom errichtet werden wird (v. 173, 16f.);57sein Vater Euander galt seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. als erster Siedler auf römischem Boden.58 Die Verbindung von Eneas mit Euander und Pallas führt also den ersten römischen Siedler mit dem Urahnen des römischen Reiches zusammen. Durch ihre Waffenbrüderschaft gewinnt Eneas' Kampf zusätzlich an Legitimität, und mit dem Tod des einzigen Thronfolgers fallt ihm die Herrschaft über Pallanteum wie ein legitimes Erbe zu.59 Diese Position des Pallas in der Translation des römischen Reiches, dem .rechten' Pfad der Geschichte, hebt nun Veldeke dadurch hervor, daß er den jungen Thronfolger als einzigen der drei Toten mit königlichem Ornat beisetzt. Er wird im Grab geradezu gekrönt und trägt mit den Insignien seines Vaters die Herrschaft über Pallanteum weiter in der Zeit - und zwar dorthin, wo sie im christlichen Zeitalter sub gratia unter Barbarossa, dem Erneuerer des römischen Reiches, wieder aufgefunden werden wird. In einer eigens eingefügten Binnenerzählung im Anschluß an die Beschreibung der blutroten Grablampe weist Veldeke darauf hin, daß das Grab des Pallas genau zu der Zeit geöffnet worden sei, als Friedrich Barbarossa in Rom vom Papst zum Kaisers gekrönt wurde (v. 226, 18ff.):60 sint vant man den wigant Pallantem in deme grabe, dà wir haben gesaget abe. daz enis gelogen nieht. dannoch bran daz lieht, daz sin vater dar in gab, dô geleget wart in daz grab derjunge kunich Pallas, (v. 226, 26ff.)

Es ist bisher kaum beachtet worden, daß Heinrich von Veldeke mit der Einfügimg dieser Passage zunächst einmal die spiegelbildliche Anlage der Gräber von Pallas und Camilla weiter verstärkt. Im engeren Sinn handelt es sich bei dieser ,Stauferpartie' nämlich um die Geschichte der roten Lampe über dem 57

Vgl. VÖGEL 1 9 9 8 , 7 2 f f .

58 FROMM, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 838. 59 „Durch Pallas' Tod ist die Erbfolge in Pallanteum, wo einst Rom gebaut werden wird, abgebrochen. Nach Euanders Tod ist das zweite Königsgeschlecht in Italien erloschen" (VÖOEL 1998, 73). 60 KARTSCHOKE, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 801, verweist auf die erste Italienfahrt des Staufers in die Lombardei 1154, der 1155 in Rom die Kaiserkrönung folgte. Vgl. SCHIEB 1965,213; DLTTRICH 1966, 573ff.

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Sarg des Pallas, die hier ebenso bis zu ihrem Erlöschen verfolgt wird, wie bereits seine Vorlage das Verlöschen der roten Lampe über dem Grab Camillas vorwegnahm. Bei Veldeke weisen nun beide Gräber eine solche immerwährende Lampe aus roten jachant auf, doch während bei Camilla ein absichtsvoll eingebauter Mechanismus dafür sorgt, daß die Lampe sofort gelöscht wird, sobald jemand die Grabkammer betritt, erzählt Heinrich von Veldeke von dem tatsächlichen Verlöschen der Pallas-Lampe durch die historisch genau zu datierende Graböffnung.61 Dem mechanischen Wunderwerk des Camilla-Grabes wird hier ein anderes wunder (v. 226, 34) gegenübergestellt, nämlich daß die Lampe nebst dem Leichnam des Pallas die große Zeitspanne aus vorchristlicher Zeit in das Zeitalter der Gnade überstanden hat. Mit dieser Passage huldigt Veldeke nicht nur möglichen staufischen Auftraggebern, indem er eine historische Linie von dem Ur-Römer und Eneas-Verbündeten Pallas bis zu Friedrich Barbarossa, dem großen christlichen Erneuerer des römischen Reiches in der Gegenwart seines Publikums zieht.62 Er ,rettet' damit zugleich auch den Leichnam des jungen Pallas und überführt ihn in die neue, christliche Zeit des Heils. Um die Dimensionen dieses .Wunders' zu erfassen, muß man sich den Urgrund vergegenwärtigen, dem alle literarische Rede über Graböffnungen im christlichen Mittelalter entspringt: den weit verbreiteten Diskurs der Heiligenverehrung.

Pallas - ein Ritter-Märtyrer? Es versteht sich von selbst, daß Pallas kein Heiliger im eigentlichen Sinne sein kann. Denn weder wird er als ein solcher verehrt, noch tritt er wundertätig in Erscheinung. Außerdem ist die Handlung des „Eneas" gänzlich in vorchristlicher Zeit angesiedelt, was die Existenz von Heiligen per se ausschließt. Und doch weist sein märtyrerhafter Tod am ersten Tag seines Kampfes für die , gerechte' römische Sache, die pietätvolle Memoria seiner familia und schließlich sein Erdgrab mitsamt der späteren Öffnung Merkmale auf, die zumindest auf analoge Momente zur Darstellung eines Heiligen verweisen. Daß die Praxis der Heiligenverehrung die Folie abgibt für die Charakterisierung des Pallas, hat bereits Marie-Luise Dittrich vermerkt, wenngleich sie zu dem Ergebnis

61 Vgl. MÜLLER 1995, 244: „Als Äquivalent zur Öflnung des Pallasgrabes, die zugleich das ewige Licht zum Verlöschen bringt (V. 227,3ff.), erscheint bei Camilla der Taube-SchützeAutomat" 62 DITTRICH 1966 sieht einen „typologischen Bezug zwischen der Gestalt des antik-heidnischen Königs Pallas und der Persönlichkeit des mittelalterlich-christlichen Kaisers Friedrich": „Mit der Erzählung vom Erlöschen der Flamme im Grabmal des Pallas kann in Veldekes Eneide typologisch letztlich nichts anderes gemeint sein als die Überhöhung des Wertes der Antike durch das Christentum." (585)

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kommt, daß die Graböffnung hier eher im Kontrast zu der Auffindung des in der Regel unverwesten Leichnams eines Heiligen zu sehen sei: „Das Geschick des Leichnams eines heidnischen Helden bei dessen Auffindimg im Grab Zerfall zu Staub und Asche - wirkt innerhalb Veldekes Gesamtschaffen als Gegenbild und wahrhaft als Antitypus zu dem des Heiligen".63 Doch ist bezeichnenderweise von diesem Zerfall des Leichnams bei Veldeke gar keine Rede. Darin unterscheidet er sich signifikant von dem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen Bericht Wilhelms von Malmesbury in den „Gesta regum Anglorum", der die Öffnung des Pallas-Grabes allerdings in die Zeit Heinrichs II. oder III. setzt.64 Auch Wilhelm, den vor Veldeke wohl schon der anonyme Dichter des „Roman d'Eneas" kannte, berichtet von der Einbalsamierung des Leichnams, ebenso von Grablampe und Epitaphium, bevor er auf den Zustand des Leichnams zu sprechen kommt. Mit der durch die Öffnung der Gruft eintretenden Luft sei nämlich nicht nur die Lampe gelöscht worden, sondern auch der bis dahin inkorrupte riesenhafte Leichnam des Pallas in sich zusammengefallen.65 Bei Veldeke heißt es dagegen nur, daß man den wigant Pallantem wiedergefunden habe, als man die Gruft ausgrub, und daß der Leser das fehlende, nicht unbedeutende Detail seines körperlichen Zerfalls hier aus der Kenntnis von Wilhelms „Gesta regum Anglorum" zu ergänzen habe, wie Dittrich meint, scheint mir eher unwahrscheinlich.66 Denn der Zustand der Lampe wird im „Eneas" ebenfalls abgewandelt. Obgleich auch hier die Flamme durch den Wind gelöscht wird, strahlt der selbstleuchtende rote jachant, aus dem die Lampe selbst besteht, noch nach der Graböffnung weiter: man sach an dem ende den rouch und den aschen und den stein unverlaschen.67 (v. 227, 8ff.)

Bedenkt man nun, daß neben der incorruptio des Leichnams oft auch das farbige Leuchten der sterblichen Überreste eines Toten Attribute sind, die bei der Graböffnung einen Heiligen zu erkennen geben,68 dann ist es denkbar, daß Veldeke hier gezielt einzelne Hinweise einstreut, die den Leser an den ihm

63 DITTRICH 1966,585. 64 S. dazu DITTRICH 1966, 576ff„ und KARTSCHOKE, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 800f. (mit Vergleich der Textstellen). 65 Tunc corpus Pallantis filii Evandri, de quo Virgilius narrai, Romae repertum est illibatum [...]; introducto aere, ignis evanuit; corpus [...] communem mortalium corruptionem agnovit. MGH Script X 472,32ff.; 43ff., hier zitiert nach DITTRICH 1966, 576f. 66 DITTRICH 1966,584f. 67 Vgl. KARTSCHOKE, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 801, der sich ebenfalls gegen die Verbesserung zu verloschen wendet. 68 „Das corpus incorruptum war Zeichen der Heiligkeit ebenso wie das Leuchten, die lebensähnliche Farbigkeit des frommen Toten." (HAUBRICHS 1996, 148)

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wohlvertrauten Kontext der Heiligenverehrung erinnern sollen. An diesen gemahnt schon das Motiv der Graböffiiung an sich, das seinen zentralen diskursiven Ort in den zahlreichen Heiligenviten und Mirakelerzählungen hat, aber auch die durch Grabbeigaben evozierte Vorstellung eines Weiterlebens der Toten im Grab findet sich an zentraler Stelle in der mittelalterlichen Heiligenverehrung wieder.69 Diese Sichtweise stützt sich nicht nur auf die wiederholt betonte Reinheit und Makellosigkeit des jungen Pallas, die gerade durch den Kontrast mit der hybriden ,Reinheit' Camillas, welche ausschließlich ihre Jungfräulichkeit bezeichnet, besonders hervorgehoben wird.70 Sie kann auch durch ein Zusammenlesen der allegorischen Bedeutungsaspekte der einzelnen, in die Grabkammer eingelagerten Gegenstände plausibilisiert werden. Da ist zum einen das Material und insbesondere die Farbe der Grablampen, die bei Pallas und Camilla übereinstimmend als rôt als ein blût (ν. 226, 2; v. 255,16) bezeichnet wird. In der geistlichen Auslegung werden rote Steine im Anschluß an den biblischen Steinkatalog der Himmelstadt (Ape. 21, 19) in der Regel auf das Blut und auch die Liebe der Märtyrer ausgelegt.71 Neben der blutroten Grablampe kommen in Pallas' Grabkammer noch weitere Steine vor, neben dem Sarg aus grünem Prasem eine Sargplatte aus Amethist und ein Balsamgefäß aus Sarder - beides ebenfalls rote, das Blut der Märtyrer bezeichnende Steine. Die Sargplatte, mit der das ,Haus' des Toten verschlossen und in den das Epitaph eingeschrieben wird, erinnert zudem an die Position des Amethisten im volkssprachigen „Himmlischen Jerusalem", wo dieser rote Stein - abweichend

69 S. ANGENENDT 1999. „In seinem Grab blieb der Heilige auf Erden weiterhin präsent; denn mochte auch seine Seele bereits im Himmel weilen, so hielt sie doch Verbindung mit dem Leib auf Erden und zeigte gerade hier ihre Heiligkeit" (10). Zur frühmittelalterlichen Vorstellung vom Grab als „Haus der Toten", die später auf den Heiligen konzentriert wird, s. 20. Und daß auch Fürsten an der sakralen Aura des corpus incorruptum teilhaben konnten, war an Karl dem Großen zu erfahren: „Als Otto III. das Aachener Karls-Grab öflhete, traf er den Körper des Kaisers unverwest an." (HAUBRICHS 1996,148) 70 S. zu Pallas v. 218, 20 (reiner degen)\ v. 218, 29 (reinm&te); v. 222, 31 (die Mutter gedenkt seiner reinen jugende)\ v. 331,37 (der reiner fugende hete genäch). Vgl. MÜLLER 1995,243. 71 MEER 1976, 148ff; ENOELEN 1978, 277f. (Amethist), 329ff. (Rubin und Karfunkel), 366f. (Sarder). So auch im „Himmlischen Jemalem", wo der Sardius bezaihent dî marterêre guot, / di mit ir tôde / dì êwigen genâde / habent erworven umbe got (v. 282ff.); der Amethist wird hier ebenfalls auf die Märtyrer bezogen (v. 407ff). In Herborts von Fritzlar „Liet von Troie" steht am Grab des Achilleus eine Statue der Polyxena, die ein besonderes Gefäß in der Hand hält. Es ist Von eime rubine / Glich der sunneη schine/Als ein blut also rot (v. 13765ff.). Der Erzähler beläßt es aber nicht bei der Beschreibung, sondern deutet das Rubinfaß sogleich aus: Daz vaz bezeichente sinen tot / Wenne er hette sin blut und sin leben / Um ir minne gegeben (v. 13768ÊF.). WALKER BYNUM 1995, 209, verweist auf das Reliqiuar Thomas Becketts, ein hausförmiges Behältnis, „which contains the blood of the saint and bears on its roof a large red stone [...]. The shining stone - not a priceless ruby both at all but simply glass and foil assembled to present sparkling yet frozen redness - signals the blood, but in heavenly form."

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vom biblischen Vorbild - das Gewölbe der göttlichen purge in Form eines Schlußsteins nach oben abschließt (v. 420ff.). Der Jaspis, ein grüner Stein, der neben Kristall und Korallen den Boden des Grabbaus bildet (v. 224, 6), wird auch im „Himmlischen Jerusalem" als Fundament des Bauwerks eingesetzt, da er den Glauben repräsentiert (v. 132ÉF.). Grün ist in der geistlichen Allegorese daneben zumeist die Farbe des Paradieses, so daß der grüne Edelstein als Fundament des gesamten Bauwerkes wie des Sarges als Indiz für die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, ein ewiges Leben im Paradies gelesen werden kann. 72 Schon zu Lebzeiten war Pallas als Ritter durch die Farbe Grün gekennzeichnet: durch Schild und Feldzeichen (v. 200, 23ÉF.), aber auch in den Ring, den er von Eneas erhielt, war ein grüner Smaragd eingelassen (v. 207, 20f.). Diese auffällige Verdichtung von roten Steinen, die mit dem Grün des Sarges kontrastiert werden und so bildlich den Märtyrertod und zugleich die Hoffnung auf ein ewiges Leben zum Ausdruck bringen können - Wolfram wird später diese rot-grüne Edelsteinkombination für das Grab seines .Ritterheiligen' Gahmuret übernehmen73 - , verbindet sich schließlich mit der Einbalsamierung des Leichnams, die den Körper des Toten für ein unbeschädigtes Überdauern der Zeit präpariert. Auch dieser heidnische Brauch wird einen christlichen Leser in dem oben skizzierten Kontext an die Auferstehung des unversehrten Körpers erinnern,74 zumal Veldeke bei Pallas - anders als bei Camilla - auffällig darauf verzichtet, die Gefahr der Verwesung oder der üblen Geruchsentwicklung zu erwähnen. Die vorgeschlagene Lesart der Veränderungen, die Heinrich von Veldeke am Grab des Pallas vornimmt, basiert auf der Realisierung einer Vielzahl von assoziativ herzustellenden Deutungsangeboten, auf dem vieldeutigen .Sprechen' der verbauten Materialien selbst, und nicht etwa auf einer stringent durchgehaltenen und linear ausgefalteten Darstellung eines Heiligen avant la lettre. Einen wesentlichen Unterschied zu den para-narrativen Ekphrasen der Antike offenbaren die Architekturbeschreibungen der Eneasromane darin, daß sie dem Leser gerade nicht eindeutig lesbare Bilderzählungen präsentieren, sondern ihn zum Eintritt in nicht-lineare, dreidimensionale Schauräume einladen, um über die dort ausgebreiteten Ensembles von Dingen und Zeichen schauend zu meditieren. Der Textbenutzer selbst ist aufgerufen, unter Zuhilfe72 Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Art. Farbensymbolik, 10, unter Hinweis auf Richard von St Victor PL 196, 746 und mit weiteren Belegen. „Grün als ant[ike] Landschaftsfarbe wird vornehmlich zur F.[arbe] des Paradieses [...] und damit der Hoflnung auf Unsterblichkeit" Vgl. E N G E L E N 1978,285ff. 73 Ich werde darauf im sechsten Kapitel zurückkommen. 74 Zu den unversehrten Körpern der Heiligen als „reminders of the glorified bodies we will receive in heaven" s. auch W A L K E R B Y N U M 1 9 9 5 , 2 0 9 . Der unverweste Leib zeigt dabei an, wie A N G E N E N D T ausführt, „daß Gott seine Heiligen nicht die Verwesung schauen lasse und deren Leiber bereits im vorhinein für die Herrlichkeit vorbereitet habe." ( A N G E N E N D T 1 9 9 1 , 3 4 8 )

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nähme der kombinatorischen Möglichkeiten seines Gedächtnisses die vielgestaltige allegorische , Sprache' der Dinge assoziativ in eine bedeutungsvolle Ordnung zu bringen. In diesem Sinne können die Grabdenkmäler als virtuelle Meditationsräume innerhalb der narrativen Linearität des Romans verstanden werden, durch die der Leser während verschiedener Kampfpausen geführt wird, um sich ein inneres ,Bild' zu machen von den Bedeutungsdimensionen der dort bestatteten Figuren.

Das Grabmal der Camilla als selbstgebaute Himmelsstadt Daß es Veldeke tatsächlich darum gegangen sein könnte, den jungen und reinen Pallas, der von seinem frommen Vater Euander aus Verbundenheit mit dem Rom-Ahnen Eneas geopfert wird, zumindest in Ansätzen als eine Art Märtyrer des römischen Reiches und somit auch der christlichen Heilsgeschichte zu konturieren, läßt sich weiter plausibilisieren, wenn man das als Gegen-Bild konzipierte Grabmonument der Camilla vergleichend heranzieht. Camillas Mausoleum, das schon im „Roman d'Eneas" als auffälligstes Charakteristikum eine unglaublich scheinende vertikale Ausdehnung besaß, ist nun auch bei Veldeke als ein selbsterbautes Himmelsgrab angelegt, eine Form der ethnologisch bezeugten „erhöhten Bestattung", mit dem offenbar bezweckt wird, durch eigenmächtige Annäherung der Grabstätte an den Himmel den Leichnam einer Wiederbelebung näherzubringen.75 Man kann sogar noch weiter gehen und das Bauwerk als die architektonische Repräsentation eines Kosmos lesen, der diesseitige und jenseitige Welt gleichermaßen umschließt. Der kreisrunde, durch vier behauene Steine gevierteilte Platz, auf dem sich das Kreuzgewölbe erhebt, läßt sich als bauliche Repräsentation des orbis quadratus mit dem Himmelsgewölbe verstehen. Der Schlußstein, der die Schwibbogen zusammenfuhrt, wird in der christlichen Architekturallegorese zumeist auf Christus ausgelegt;76 im Grabbau der hybriden Volskerkönigin bildet er stattdessen erst die Basis für einen steil aufragenden Pfeiler, der die Immanenz des irdischen Lebensbereichs nach oben durchstößt und den , Wohnraum' der Toten jenseits der Himmelssphären situiert. Die Grabkammer auf diesem Turm wird so in einen zwar selbst gebauten, aber transzendent gedachten Raum entrückt, der der Wohnstätte Gottes und der Heiligen nachempfunden ist. Daß Camilla sich hier von der leibhaftigen Verkörperung der Geometrie ihren eigenen Himmel bauen läßt, in dem durch Beleuchtung, wohlriechende Essenzen und mechanisch inszeniertes ,Leben' ein Weiterleben nach dem Tod 75 FROMM, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 867, mit Bezug auf ethnologische Studien zur .erhöhten Bestattung': „Der Leichnam wird dem Himmel näher gebracht, gewinnt so die Möglichkeit der Wiederbelebung und kann dadurch tapferer werden als vor der Bestattung." 76

BANDMANN 1 9 9 0 , 7 3 f .

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simuliert wird,77 unterstreicht Veldeke aber auch durch den Einbau der acht Fenster in die Grabkammer. Die von jeher lebendige Vorstellung vom Grab als einem Haus der Toten wird dadurch überspannt und auf die Intention eines aus eigener Kraft erreichten Weiterlebens im Himmelsgrab transparent gemacht. Damit ruft Veldeke ein weiteres, ebenfalls literarisch vermitteltes Vor-Bild auf, nämlich die göttliche Himmelsstadt, die ebenfalls als auf Säulen ruhend gedacht wird.78 An das Himmlische Jerusalem der Johannes-Apokalypse (Ape. 21, 19f.) erinnern aber auch die acht verschiedenen Edelsteine, aus denen die nach vier Seiten gehenden Fenster der Grabkammer gemacht sind. Denn sechs der bei Veldeke genannten Edelsteine finden sich bereits in dem aus zwölf Steinen bestehenden Fundament der biblischen Himmelsstadt. Darüber hinaus ähnelt die vierseitige Ausrichtung der Fenster den in alle vier Himmelsrichtungen gehenden Portalen des Himmlischen Jerusalem, worauf Ulrich Engelen hingewiesen hat. Den drei Toren aufjeder der vier Seiten dort entsprechen hier die zwei Edelsteinarten in jedem der vier Fenster. „Veldeke mochte also an die Darstellung der Himmelsstadt gedacht haben, als er die Edelsteine aus deren Fundament an die Fenster versetzte."79 Ebenso wie in mittelalterlichen Kirchen und Kathedralen versucht wird, durch farbige Scheiben die Vorstellung des Himmlischen Jerusalem zu erwecken, kann in den Edelsteinfenstern der Camilla der Versuch gesehen werden, in ihrer Grabkammer „den Eindruck eines überirdischen Glanzes und des Lichts [zu erwecken], das die Himmelsstadt erleuchtet".80 Die Einfuhrung des berühmten griechischen Baumeisters Geómetras, der mit seinem Namen den die Welt vermessende list von geometrìe» (ν. 252, 5) 77 Ähnlich SCHIEB 1965, 228, die hier „die Vorstellung von Welt und Kosmos als einem Bau auf vier Eckpfeilern" geltend macht, „überragt von einer fünften Säule, auf der das Himmelsgewölbe ruht." OHLY 1977b, 188f., weist daraufhin, daß in der mittelalterlichen Auslegung des architektonischen Raumes die Höhe als „ewig währende Heiligkeit" verstanden wird. FROMM, Kommentar zur „Eneas"-Ausgabe, 867, sieht dabei die Baumstmktur der oberen Gebäudeteile betont und deutet das Säulengrab auf die alte kosmologische Figur des Weltenbaumes hin: „Die Säule ist, ebenso wie die Irminsul oder Weltesche, Abbild des Weltenbaumes, der den Kosmos trägt". Den Spiegel auf dem Dach des Gebäudes sieht er als eine Art „zentrales .Weltauge'", wie es beispielsweise auch der dem Palast benachbarte Turm des Priesters Johannes aufweist (870). Auf einer irmemul wird auch Caesar in der „Kaiserchronik" bestattet (v. 602). 78 BANDMANN 1990, 63 und 78, der auch auf die Nähe einzelner, herausgehobener Grabsäulen zur Göttersäule hinweist. „Die Säule als Mal berührt die Gestaltbedeutung in der Göttersäule, die das vollentwickelte Kultbild oder später als Ehrensäule den erhöhten Menschen trägt." (80) - Der Himmelsturm mag außerdem die Erinnerung an den Turmbau zu Babel (Gen. 11, Iff.) geweckt haben. 79 ENOELEN 1978, 202, verweist darauf, daß auch das „Himmlische Jerusalem" (v. 402FF.) entgegen dem Bibelwort den Hyazinth des Fundaments an die Fenster setzt und daß der Palast des Priesters Johannes ebenfalls Kristallfenster besitzt (§ 58). 80 ENOELEN 1978, 202. „Veldeke schöpft deutlich anders als seine altfranzösische Vorlage aus dem biblischen Edelsteinrepertoire" (182 A 9).

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repräsentiert, verbindet das Grabmonument bei Veldeke aber noch mit einem anderen .Bauwerk', dessen verblüffende Räumlichkeit oben vermerkt worden ist. Bei diesem ebenfalls von einem namentlich genannten und weithin berühmten meister gefertigten Kunstwerk handelt es sich um die von Vulcan geschaffene Rüstung des Eneas. Spiegelte Camillas Turm im „Roman d'Eneas" vor allem das uneinnehmbare, turmreiche Karthago wider, so findet das wunder (v. 251, 26) des uneinnehmbaren Grabes der Königin von Volcane (!) im deutschen „Eneas" sein Pendant in dem göttlich gewirkten wunder (v. 161,27) der unzerstörbaren Rüstung des Protagonisten. Dieser Bezug wird durch weitere Motivparallelen untermauert, denn auch die in den vier Fenstern der Grabkammer verbauten acht Edelsteinarten finden sich - mit nur einer Abweichung: berillen statt amatisten - in der gleichen Konstellation auf dem Buckel von Eneas' Schild wieder (v. 162, 3ff.). Und schließlich spiegelt sich auch der in Gold eingefaßte rote Rubin in Eneas' Helmzimier, also hoch oben über der lebenserhaltenden Rüstung, alsez Volcán wolde (v. 160, 6), in der blutroten jachant-Lampe wider, die Geómetras an einer goldenen Kette über Camillas Sarg aufhängen läßt. Veldeke baut also nicht nur die Rüstung seines Protagonisten zu einem Gehäuse mit dezidiert räumlichen Ausmaßen aus, sondern setzt darüber hinaus den weltlichen meister Geómetras genau auf die Position, die schon in der antiken Ekphrasis-Tradition seit Homer dem göttlichen Schöpfer wunderbarer Kunstwerke zukommt.81 Damit führt er einen Kontrast zwischen Eneas und Camilla ein, der einmal mehr mit der Opposition von Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz operiert. Ist der meister auf Seiten des Eneas ein Gott, der die Rüstung aus eigener Kraft erschafft, und zwar auf Veranlassung der Venus, die ihn ihrerseits dafür entlohnt und die aus mütterlicher Fürsorge handelt, so steht dem bei Camilla ein weltlicher Bauherr gegenüber, der im Auftrag der Königin selbst und mit ihren eigenen Mitteln das Mausoleum eibaut. Es fehlt diesem Gebäude das göttliche Moment ebenso wie der Aspekt der fürsorglichen familia, und so steht dem übernatürlichen wunder des Volcan, das die historische Mission des Eneas weiter auf ihr Ziel zutreibt, das rein technisch-immanente wunder des Geómetras gegenüber, das einen schmählichen Tod lediglich monumental zu verbrämen vermag. Camilla und ihre Edelfrauen wurden nicht nur auf dem Schlachtfeld von den Trojanern lange Zeit fälschlicherweise für Göttinnen gehalten, die ersterben niene mohten (v. 239, 27),82 sondern die Königin unterliegt auch selbst dem anmaßenden Irrglauben, mit Hilfe ihres großen Reichtums einen ,Himmel' erbauen zu können, der ihr ein ewiges Leben verspricht. Daß es sich hierbei zwar um einen kunstvollen, aber eben doch nur künstlichen Himmel handelt, ruft der Erzähler nicht zuletzt dadurch in Erinnerung, daß er ausdrücklich den üblen Geruch des 81 S. zu diesem Motiv TRIER 1929,13, und BELKIN 1971,328ff. 82 S. auch v. 230,36ff.

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Leichnams erwähnt, dem Geómetras mühsam mit duftenden Balsamen entgegenwirken muß (v. 254, 2). Wo also das uneinnehmbare Wimderwerk des Camilla-Grabmals doch nur ihren Tod und die Verwesung ihres Körpers besiegelt - und dieses Faktum des Todes wird in dem Taube-Schütze-Automatismus der Grabkammer noch einmal gespiegelt, wo selbst das wunderbare, mechanisch erzeugte .Leben' am Ende unweigerlich zum ,Tode' führen muß83 -, dort begründet das uneinnehmbare Wimderwerk von Schild und Rüstung die Unverwundbarkeit des Eneas und sichert mit seinem Überleben zugleich die Gründung Roms und den Fortgang der Heilsgeschichte. Im linearen und zeitlich gedehnten Lektüreprozeß ruft das in Selbstüberhebung errichtete ,Gehäuse des Todes', das Camilla um ihren Leichnam erbauen läßt, somit nicht nur das demütig in die Erde eingelassene Pallas-Grab, sondern auch das göttlich gewirkte .Gehäuse des Lebens', das Eneas um seinen Körper trägt, kontrastiv in Erinnerung. Mit ihrem hybriden Himmelsbau repräsentiert Camilla den Typus des vermessenen Heidenfürsten, der in der Literatur des Mittelalters immer wieder durch die Verbindung mit prachtvollen Kosmos- und Paradiesbauten charakterisiert wird, die Elemente der himmlischen Gottesstadt enthalten. Damit wird gezeigt, so Engelen, „daß heidnische Verblendung schon im Irdischen darauf hofft, was dem Christen erst als Lohn eines Lebens im Glauben verheißen ist. [...] Heiden statten in mittelalterlicher deutscher Dichtung ihre Paläste, Grabmäler und Gebetshäuser nach dem Vorbild christlicher Jenseitsvorstellungen paradiesisch aus. Da sie in ihrer Verblendung das Abbild für das Urbild halten, glauben sie, das Paradies bereits zu besitzen. Dies führt sie zu einer Selbstüberschätzung und einem Gottgleichheitsanspruch, der sie in die Verdammnis stürzt."84

Der Raum zwischen Himmel und Erde: Die Öffnung der Grabmäler auf die Transzendenz des Heilsgeschehens Indem Heinrich von Veldeke nun den Gegensatz von christlicher und heidnischer Jenseitsvorstellung heranzieht, um seine Figuren gegenüber dem „Roman d'Eneas" neu auszurichten, öffnet er seinen Text stärker als seine Vorlage 83 „Der Schütze symbolisiert den Speerwurf des Amins. Die Taube als Signum der castitas bezeichnet die keusche Camilla" (VÖGEL 1998, 75). Auch MOLLER 1995, 244, sieht in der Taube die proprietas der Unschuld assoziiert „Die profane Literatur der Folgezeit wird, als sei auch hier ein geheimer Automatismus am Werk, den Mechanismus in Gang setzen. Sie wird den jungfräulichen Glanz der virgo militans unnachsichtig zerstören." 84 ENGELEN 1978, 193. Er geht aber fehl, wenn er diese - für Camilla zutreffende - Charakteristik auch auf das Grab des Pallas überträgt

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auf die Transzendenz des Heilsgeschehens. Dazu nutzt er vor allem die vertikalen Dimensionen der sepulchralen Bauwerke. So vergrößert er buchstäblich die Kluft zwischen dem Pallas-Grab und dem in den Himmel ragenden Turm Camillas, indem er die Ruhestätte des Euander-Sohnes unter die Erde verlegt. Ungeachtet aller anderen Veränderungen ist schon dadurch ein spannungsvoller Gegensatz erzeugt, den ein mittelalterlicher Leser wohl kaum übersehen konnte. Wie Vektoren, die auf das Transzendente als Deutungsfolie des Textes verweisen, ragt der eine Bau in den Himmel, der andere in die Erde. Vermessen wird mit Hilfe der architektonischen Ekphrasen dabei nichts weniger als der irdische Raum des Diesseits bis an seine Grenzen zum Jenseits. Damit gewinnt der Raum an sich eine zentrale Bedeutungsdimension in Veldekes Ekphrasen, die zwar im „Roman d'Eneas" schon angelegt ist, aber in der deutschen Bearbeitung nun weitaus stärker über den geschlossenen Kosmos des Textes hinaus auf das christliche Heilsgeschehen verweist. Dadurch, daß Veldeke den Typus des frommen, märtyrerhaft gefallenen Christen, dessen Leib bis in das Zeitalter der christlichen Gnade überdauert, dem Typus der vermessenen, sich selbst für eine Göttin haltenden Heidin gegenüberstellt, setzt er schließlich auch die beiden anderen ekphrastisch ausgezeichneten Figuren seines Romans, nämlich Dido und Eneas, in eine neue Ordnung, die gewissermaßen quer zum linearen Ablauf der Erzählung steht. Wie Eneas als unumstrittener Agent der römisch-christlichen Heilsgeschichte in seiner göttlichen Rüstung das Romangeschehen unbeschadet überlebt und genealogisch bis in das Zeitalter des Kaisers Augustus fortlebt, in dem mit der Geburt Christi die göttliche Gnade in die Welt kommt, gelangt auch der reine Pallas in seinem grünen Edelsteinsarg zumindest mit seinem Körper bis in diese Zeit der christlichen Heilserwartung und kann damit wohl, verdeutlicht in der für Heiligengräber typischen, wundersamen Auffindung seiner sterblichen Überreste,85 auf eine göttliche Rettung auch seiner Seele zumindest hoffen. Eine göttliche Fürsorge wird aber auch der Dido zuteil, die ebenso wie Pallas tragisch und unverschuldet gestorben ist und wie dieser in einem grünen Edelsteinsarg beigesetzt wird. Sie erfahrt nicht nur die pietas ihrerfamilia, sondern wie der fromme Sohn des Euander bleibt auch sie nach ihrem irdischen Ableben weiterhin im Blickfeld der Erzählung. Wenn Eneas später ihrer Seele in der Unterwelt begegnet, wird gezeigt, daß auch sie ihren angemessenen Platz im Jenseits gefunden hat - nämlich nicht bei den Selbstmördern, sondern bei denen, die tôt wârn von minnen (v. 99, 29). So wird selbst noch der Karthagerkönigin eine transzendent gedachte, von Veldeke stärker als im „Roman d'Eneas" nach christlichen Vorstellungen modellierte Ruhestätte zugewiesen. Lediglich der hybriden Camilla wird eine solche Öffnung ins Transzendente nicht zuteil. Zwar dem Himmel topographisch am nächsten, ist doch ihr selbst85 ANOENENDT 1999, 10: „vergessene Gräber wurden oft dank himmlischer Zeichen wiederentdeckt".

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erbautes Mausoleum das einzige Grabmal, das keinen Zugang zum Jenseits aufweist. In der splendid isolation ihres Himmelsbaus nur notdürftig mit menschlichen Mitteln gegen die Verwesung geschützt, wird ihr Leichnam aus der Geschichte .entsorgt' und ihr Name im Roman nicht wieder erwähnt.86 Mit dieser Orientierung seines Romangeschehens an den Parametern der Heilsgeschichte nähert sich Veldeke wieder Vergils Ekphrasis-Modell an, von dem sich der „Roman d'Eneas" in so eindrucksvoller Weise abgestoßen hatte. Die von diesem verstärkte Binnenspiegelung des Textes mit ihrem ,ekphrastischen Prinzip' einer rundenden Einkapselung des Wortkunstwerks wird vom deutschen Bearbeiter durch den signifikanten Umbau der Grabbauten wieder stärker transparent gemacht auf die Meta-Erzählung der - nun christlich verstandenen - Heilsgeschichte, ohne daß dabei jedoch die Innovationen des „Roman d'Eneas" verloren gehen. Dieser Text hatte gerade in der Errichtung der spektakulären Grabmäler eine Form der Kunstbeschreibung gefunden, die die antike Ekphrasis-Tradition einerseits fortschreibt, um sie andererseits bedeutend zu modifizieren. Denn wo die antiken Schildbeschreibungen dazu eingesetzt wurden, die göttlichen Waffen vor dem Kampf zu schildern und damit den Protagonisten einen Platz in der über den Text hinausweisenden kosmischen Ordnung zuzuweisen, verlagert der „Roman d'Eneas" eben diesen Aspekt auf die Phase nach dem Kampf. Dadurch verschiebt sich der Fokus der Ekphrasen auf die Folgen der Schlacht und schließlich auf die Schwelle allen irdischen Lebens, den Tod. Die ekphrastic response des „Roman d'Eneas" auf das antike Epos besteht in dieser Perspektive gerade in der prunkhaften Inszenierung des Todes als einer fundamentalen Grenze, an der die noch so mächtigen und in ihrer Prachtentfaltung unübertroffenen Heroen der .heidnischen' Antike stets scheitern müssen. Die spektakulären Kunst- und Architekturbeschreibungen der französischen Antikenepen lenken den Blick auf die Todesverfallenheit einer unerlösten, nicht-christlichen Vorzeit. Genau an dieser Stelle setzt Veldekes „Eneas" an, wenn er die in seiner Vorlage zur hyperbolisch-ironischen Kennzeichnung des .Anderen', zur distanzierenden Darstellung des .Heidnisch'-Wundeibaren errichteten Gebäude durch den Umbau einzelner Bauelemente auf das .Eigene' des christlichen Heilsgeschehen durchsichtig macht. Dadurch schafft er eine Synthese aus der antiken, von Vergil übernommenen intertextuellen Ekphrasis-Tradition und der intratextuell spiegelnden Bautätigkeit des französischen Textes. So arbeitet 86 FROMM 1978, 84, hat gezeigt, daß Veldeke die Unterwelt nach mittelalterlichen Vorstellungen überarbeitet, wohingegen der „Roman d'Eneas" bemüht sei, die Distanz zwischen Einst und Jetzt nicht zu verwischen und das antike Geschehen weitgehend in seinem Anderssein zu belassen. Indem Veldeke beispielsweise die Reinkarnationsidee streicht, die der „Roman d'Eneas" noch von Vergil übernimmt, erscheint Anchises dort „nicht anders als der biblische Prophet, der charismatische Gottessprecher, der in visionärer Souveränität die Zukunft verkündet" „Die vom Reinkarnationsgedanken gelöste Prophetie verweist den Hörer auf die Heilsgeschichte als Bezugssystem" (89).

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der deutsche „Eneas" das im „Roman d'Eneas" ekphrastisch inszenierte Paradigma des Todes weiter heraus, um daran jedoch nach dem Muster Vergils die Verbindung zwischen der Immanenz des Wortkunstwerks und der Transzendenz des übergeordneten Heilsgeschehens erkennbar werden zu lassen. Diese Perspektivierung wird durch das zweite Geschlechtsregister am Ende des Textes gestützt, das über die Prophezeiimg des Anchises hinaus die Reihe der Eneas-Nachkommen bis hin zur Herrschaft des Augustus verlängert (v. 349, 33ff.) und so die Handlung bis in die Zeit weiter fuhrt, in der der gotes sun geboren [wart] ze Bethelehêm (ν. 352, 2f.).87 Mit dieser Verlängerung des Geschlechtsregisters geht Veldeke über den „Roman d'Eneas" hinaus und kommt dadurch am Ende wieder zu Vergil zurück, der den historischen Fluchtpunkt seines Epos ja ebenfalls in der Friedensordnung des Augustus fand, aber nur um dessen „universalgeschichtlichen Entwurf gleichsam von einem noch universaleren, noch höheren Standpunkt aus" zu korrigieren.88 Den ,höheren Standpunkt', von dem Wenzelburger hier spricht, kann man dabei durchaus wörtlich nehmen, insofern Veldeke den horizontalen Blick nach vorn, auf den Fortgang der Geschichte, erweitert um den vertikalen Blick nach oben, auf den transzendenten Urgrund jeglichen Heilsgeschehens. Wie schon die antiken Epen Homers und Vergils verwandelt sich auf diese Weise auch sein Roman zu einem kleinen Fragment in der totalen, durch die Ekphrasen gespiegelten Vision der Heilsgeschichte.

87 Weitere Überlegungen zu dieser Problematik sowie weitere Textstellen, in denen Veldeke die Zeit des Epos mit seiner Jetzt-Zeit kurzschließt, bei WENZELBUROER 1974,270ff. 88 WENZELBUROER 1974, 271. „Ober den französischen Roman hinweg ist Veldeke und Vergil das Bewußtsein einer Kontinuität, die die eigene Gegenwart mit der epischen Vergangenheit verbindet, gemeinsam" (270).

III. Architektur - Schrift - Gedächtnis: Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur Versucht man die signifikante Bautätigkeit der Eneasromane in einen weiteren Rahmen zu stellen, so stößt man auf die zentrale Bedeutung, die die Metaphorik des Konstruierens und Errichtens von Bauwerken in den gelehrten Diskursen des Mittelalters einnimmt. „Die Vorstellung vom Bauen beherrscht das Mittelalter,"89 so Hennig Brinkmann, denn schon seit den Kirchenvätern wird die „Auslegung der Heiligen Schrift nach dem mehrfachen Schriftsinn als die Aufrichtung eines Gebäudes verstanden."90 Das Ziel ist dabei, über die „Gestalt einer geistigen Architektur", die dem Hörer oder Leser in ihren konkreten Farben und Formen, Linien und Räumen vor Augen gestellt wird, eine geschlossene, „ganzheitliche Sicht in der Auslegung eines Werks zu realisieren".91 Im 12. Jahrhundert erlebt diese Form der .konstruktiven Exegese' einen bedeutenden Aufschwung, der besonders mit dem Namen Hugos von St. Victor verbunden ist.92 Hugo errichtet beispielsweise in seiner Schrift „De arca Noe morali" mit Worten ein mentales Gebäude, das sich an dem biblischen Vorbild und den genauen Maßen der Arche Noah orientiert - die Arche ist fünfhundert Ellen lang, fünfzig Ellen breit, dreißig Ellen hoch und besitzt drei Stockwerke (Gen. 6, 13fF.). Dieses spirituelle Gebäude (spirituaüs aedificii exemplar) ist so geräumig, daß alle Elemente des Glaubens darin einzustellen sind. Hugo bietet dem Leser seine virtuelle Arche als ein räumlich-visuelles Hilfsmittel an, mit dem dieser die Vielzahl der biblischen und heilsgeschichtlich relevanten Wissenspartitionen in seinem Gedächtnis organisieren kann: „Ich gebe dir die Arche Noah als Modell geistiger Erbauung. An ihr kann sich dein Auge äußerlich orientieren, während die Seele innerlich nach ihrem Bilde gezimmert wird."93

89 90 91 92 93

BRINKMANN 1980, 125. BRINKMANN 1980,132. OHLY 1977b, 173. S. KUGLER 1986, LLOFF. PL 176, 622 B, übersetzt nach ASSMANN 1999, 117. Vgl. DE LUBAC 1961, II, 1, 321ff.; BRONDER 1972, 188ff.; BRINKMANN 1980, 132ÉF.; MEIER 1988, bes. 51ff.; CARRUTHERS 1998,243ff.

Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur

107

Ähnlich verfährt Adamus Scotus, der in seiner 1176 entstandenen Schrift „De tripartito tabernáculo una cum pictura" ein imaginäres Gebäude nach dem Vorbild der dreigeteilten Stiftshütte des Moses entwirft, die in der Bibel noch weit ausführlicher und detaillierter beschrieben wird als Noahs Arche (Ex. 26, Iff.). Er skizziert dabei „vor den Augen des Lesers Linien, Räume, Gestalten und Farben. So entsteht ein Gesamtbild, das die Heilsgeschichte vom Alten Testament über das Neue Testament und die Kirche bis zur Geschichte Englands umfaßt, ausgesprochen durch Maße, Zahlen und Farben, die er erklärt."94 Mary Carruthers hat nun an einer Vielzahl von Beispielen gezeigt, daß die Grundlagen dieser Form des Denkens, das enzyklopädisches Heilswissen mit Hilfe von Bauwerken sowie anderen picturae und formae räumlich-visuell inszeniert, um es kognitiv besser weiterverarbeiten zu können, in der monastischen Kultur des Frühmittelalters zu finden sind und daß darin wesentliche Elemente der antiken ars memorativa aufgehoben und weiterentwickelt werden. Schon lange bevor die ursprünglich zum schriftlosen Memorieren entwikkelte Gedächtniskunst im Spätmittelalter gleichsam offiziell ,wiederentdeckt' wird, ist sie in die Schrift- und Lektürepraktiken der Mönche eingeflossen und hat eine raumbezogene Form des Denkens und Imaginierens hervorgebracht, die mir auch fur das Verständnis der hochmittelalterlichen Literatur grundlegend zu sein scheint.95 Der ars memorativa mit ihrer Platzierung von imagines agentes in architektonische loci, wie sie dem Mittelalter vor allem durch Cicero und die diesem zugeschriebene „Rhetorica ad Herennium" zugänglich war, liegt ebenso wie der darauf aufbauenden monastischen Meditation bis hin zur .konstruktiven Allegorese' ein räumlich-visuelles Modell von Gedächtnis und memoria zugrunde, das sich mit einem Begriff von Carruthers als „locational memory system" bezeichnen läßt. Die Erinnerung an und die Verfügung über komplexe verbale Sachverhalte wird dadurch operationalisiert, daß man sie an (mental zu realisierende) architektonische Schauräume und in diese einzustellende Bilder von Dingen bindet. Ein „locational memory system" ist demnach „any scheme that establishes a set of ordered, clearly articulated, and readily recoverable background locations into which memory images are consciously placed. These images, often called agent images for they are ,active', function like the icons in a computer program in that they set in motion a task, the associative procedure of recollection."96

94

BRINKMANN 1980, 134. Vgl. DE LUBAC 1961, Ι ΐ , ι , 4 1 0 f f „ u n d CARRUTHERS 1 9 9 8 , 2 4 6 f f .

95 Grundlegend sind die Arbeiten von CARRUTHERS 1993 und 1998: „when the ancient art of memory described by Cicero made its reappearance it did so within the context of these longsstanding monastic practices" (CARRUTHERS 1993, 882.). Vgl. auch CARRUTHERS 2000 und KUOLER 1 9 8 6 , 1 0 8 f

96 CARRUTHERS 1993, 882. Vgl. CARRUTHERS 1998, lOff. „Monastic memoria, like the Roman art, is a locational memory; it also cultivates the making of mental images for the mind to work with as a fundamental procedure of human thinking" (10).

108

Schauräume des Todes

Wenn nun im frühmittelalterlichen Kloster „die Grundprinzipien der antiken Mnemotechnik auf den Vorgang des Lesens" übertragen werden,97 dann bedeutet dies eine äußerst folgenreiche Amalgamierung der „Gedächtnisprozessoren" Raum und Schrift, mithin eine „Kollision der Architektur mit der Schrift", wie sie Elisabeth von Samsonow unlängst als originäres Kennzeichen der „Gedächtnisrevolution der Renaissance" dargestellt hat.98 Diese in der Renaissance aufgespürte „Überschreibung des älteren Raumgefühls mit der Leseperspektive", der von Samsonow zufolge „die Gewinnung des virtuellen Raumes" entspringt,99 findet im mittelalterlichen Denken zumindest einen bedeutenden Vorläufer. Denn bereits bei der monastischen Anverwandlung der raumbasierten Gedächtniskunst geht es nicht mehr - wie beim antiken Redner - um ein schriftunabhängiges Abrufen von im Gedächtnis in Form von imagines agentes deponierten Wissenspartitionen, sondern um einen Prozeß der (wiederholten) Bedeutungs(auf)findung bei der Lektüre. Die monastische memoria ist „a device for .finding' out meanings, rather than one that, imparts' knowledge or (worse yet) information".100 Die von den jungen Mönchen beim Lesen der Bibel aufgenommenen, linear strukturierten Texte werden in ein mentales Gebäude eingestellt, um dort im Geist jederzeit wieder durchwandert werden zu können. Dabei sind mit den einzelnen Textteilen zugleich ihre durch die Stellung im Raum angezeigten Bedeutungen .einzusammeln' (legere) und meditierend auf ihre heilsgeschichtlichen wie ethischen Dimensionen zu beziehen. Entscheidend ist hierbei nun die Auswahl der benutzten mentalen Architekturen. Denn während die antike ars memorativa reale, empirisch vertraute Gebäude vorzog, die man gewohnheitsmäßig kannte, und so das imaginäre .Herumgehen' in einem leibhaftig erfahrenen Herumgehen gründete, bestehen die Gedächtnisbauten schon seit dem frühen Mittelalter - und nicht erst in der Renaissance - in der Regel aus imaginären, nämlich literarisch generierten Räumen, die vor allem der Bibel entnommen werden.'01 In der Heiligen Schrift finden sich fünf mit genauen Maßangaben versehene Architekturbeschreibungen, die für die mittelalterlichen Benutzer allesamt den Vorteil haben, daß sie selbst wiederum Teil des biblisch offenbarten Heilsgeschehens sind: die Arche Noah (Gen. 6, 13ff.), das Tabernakel des Moses (Ex. 26, Iff. und 27, Iff), der Tempel Salomons (1 Kön. 5, 15ff; 6, Iff; 7, 13ff; 8, Iff), die Vision Ezechiels vom neuen Gottesreich (Ez. 40, Iff. und 43, 13ff ) und das neue Jerusalem der Apokalypse (Ape. 21, lOfi). „Alle diese Bauten waren dadurch gehei-

97

ASSMANN 1 9 9 9 , 1 1 6 .

98

VON SAMSONOW 2 0 0 1 .

99

VON SAMSONOW 2 0 0 1 , 3 0 .

100 CARRUTHERS 1993, 8 9 1 .

101 VON SAMSONOW 2001, 33FF„ sieht auch diese Orientierung auf „imaginäre oder geradezu fiktive" (33) Räume als Charakteristikum der Renaissance-Mnemonik an.

Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur

109

ligt, daß sie dem Willen Gottes entsprachen; so konnten sie zu legitimer Nachfolge aufrufen."102 Indem der Leser solche Bauwerke vor seinem inneren Auge nachbaut - „as an ordered structure of background scenes, in which to gather all the bits of his subsequent learning"103 - transformiert er die Bibel, so Aleida Assmann, in einen „dreidimensionalen Hypertext, dessen Einträge nicht nur in Kolumnen sortiert und mnemotechnisch miteinander vernetzt sind, sondern auch mit jeglichem heilsrelevanten Wissen aufgefüllt sind, so daß der Zugriff auf jedes Element anderes Wichtige in kontrollierter Form mit aufruft."104 Es ist nun faszinierend zu sehen, daß diese architektonische Inszenierung der linear ausgefalteten biblischen Geschichte(n), ihre Verwaltung mit Hilfe von Bauwerken im Sinne .kognitiver Fiktionen'105, im Kern schon in der Heiligen Schrift selbst angelegt ist. Die genannten fünf großen Gebäudebeschreibungen der Bibel konstitutieren mit ihren präzisen Maßangaben kontinuierliche und statische, nach Maß und Zahl genau verzeichnete Räume, die man mühelos zeichnen oder nachbauen könnte. Diese lassen sich in zwei Klassen unterscheiden. Während dem Bau der Arche Noah, der Stiftshütte und des Tempels Salomons ein von Gott gelieferter Bauplan zugrundeliegt, der erst noch zu realisieren ist und folglich - ähnlich wie die Herstellung des AchillesSchildes durch Hephaistos - der Bauprozeß beschrieben wird, stellen die eher am Ende der Bibel zu findenden Visionen des Ezechiel und Johannes mit dem himmlischen Tempel und dem himmlischen Jerusalem den zuvor beschriebenen irdischen Bauwerken gewissermaßen ihre caelestischen Spiegelbilder entgegen.106 Auch diese werden genau vermessen, nicht jedoch im Prozeß des Bauens, sondern indem sie von einem textinternen Beobachter - einem Mann aus Bronze bei Ezechiel (Ez. 40, 3ff.) und einem Engel in der Johannes-Vision (Ape. 21, 9ff.) - als fertige, von Gott selbst errichtete Bauwerke betrachtet, durchschritten und mit Schnur und Meßstab exakt vermessen werden.107

102 BRINKMANN 1980, 123f. Bei ihrer mentalen Bautätigkeit konnten sich die Mönche außerdem auf eine Äußerung des Paulus berufen, in der dieser das Innere des Menschen als aedifleium oder civitas beschreibt, zu errichten auf Christus als einzigem Grund, und sich selbst als einen Baumeister preist (1. Kor 3, lOfif.): „In medieval Christianity, this Pauline text soon became the authority for a fully developed mnemonic technique, using the planus (and sometimes also the elevatici) of a building laid out in one's mind as the structure for allegorical and moral meditation, the .superstructures' (superaedificationes) of sacra pagina." (CARRUTHERS 1998, 17) 103 CARRUTHERS 1993, 8 8 8 . 104 ASSMANN 1 9 9 9 , 1 1 7 .

105 CARRUTHERS 1998, 120 passim („cognitive fictions"). 106 MANN 1994, 194, weist ferner darauf hin, daß auch die beiden visionären Bauten der Bibel spiegelbildlich-kontrastiv aufeinander bezogen sind, nämlich die nur aus Tempel bestehende Stadt der Ezechiel-Vision einerseits und die tempellose Stadt der Johannes-Apokalypse andererseits. 107 Vgl. zum Verhältnis von Statik und Vermessung MANN 1994,192ff.

110

Schauräume des Todes

Wie in der klassisch-antiken Ekphrasis wird also auch in den biblischen Ekphrasen das statisch-räumliche Objekt in Handlung und Bewegung überführt, aber im Unterschied zu Homer sorgen in den biblischen Ekphrasen nun vor allem die mitgelieferten Zahlen und Maße dafür, daß die architektonischen Räume eben nicht in Handlung aufgelöst werden, sondern trotz aller Animation ihre objektivierte, materialorientierte Statik beibehalten. Dadurch gewinnen die biblischen Bauwerke eine Körperlichkeit und räumliche Kontinuität, die eine notwendige Voraussetzung für ihre Verwendimg als inventarisierende Gebäude des Geistes zu sein scheint und ohne die ihre Funktion als „machines of the mind" (machinae mentis)108 in der konstruktiven Imaginationstechnik des Mittelalters kaum denkbar wäre. Um in einen virtuellen Raum signifikante imagines agentes oder Textteile einzulagern, muß dieser Raum fest und unbeweglich sein, weil man sonst nichts wiederfinden würde. So betrachten schon die Kommentatoren der biblischen Ekphrasen im 4. und 5. Jahrhundert die Bauwerke der Heiligen Schrift nicht so sehr als historische, physisch realisierte Objekte, „but as a cognitively important device to be painted in the mind for purposes of further meditation and prayer,"109 und dabei konnten sie sich auf die Bibel selbst stützen. Wenn nämlich auf den zwölf Toren des Himmlischen Jerusalem „die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels" (Ape. 21, 12) und auf dem aus zwölf Edelsteinen gefertigten Fundament der Stadt „die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes" (Ape. 21, 14) eingetragen sind, dann wird der virtuelle Raum der visionären Stadt bereits in der Heiligen Schrift selbst als ein kognitiv nutzbares Memorialgebäude verstanden. In der pictura der Himmelsstadt ganz am Ende der Heiligen Schrift werden wichtige Protagonisten dieses enzyklopädischen Erzählungskonvoluts in eine räumlich-visuelle Struktur gebracht, die als ein „loctional memory system" angelegt ist. „Twelve gates, twelve tribes of Israel, twelve apostles: biblical history", so Jill Mann, „is sublimated into the timeless symmetry of number and then frozen into the eternal radiance of the jewels that compose the twelve foundations".110 Mit der zeitlosen Statik der himmlischen Stadtarchitektur am Ende aller Zeit bietet die Bibel ihren Lesern in ihrer Schlußeinstellung also selbst schon ein räumlich-visuelles Modell für die Inventarisierung und kognitive Verarbeitung der Personen und Ereignisse an, die sie

108 CARRUTHERS 1998, 81. Sie weist auf den engen Zusammenhang von lat machina mit dem Bauwesen hin: „Any structure that lifts things up or helps to construct things is a machina" (23). Bei dem wohl im ersten Jahrhundert schreibenden Clemens Romanus heißt es über Christus: „Ihr habt den Irrlehren widerstanden und als Steine des Tempels des Vaters, bereitet zum Bau Gottes, in die Höhe gehoben durch die Maschine Jesu Christi." (Zitiert und Obsersetzt n a c h BANDMANN 1 9 9 0 , 7 3 . )

109 CARRUTHERS 1998, 222, ähnlich BRINKMANN 1980, 138. Siehe zur Vorbildfunktion der biblis c h e n B a u t e n a u c h ENGELEN 1 9 7 8 , 2 0 2 , u n d bes. 185FF. LICHTENBERG 1 9 3 1 , 1 I f f .

110 „The description of the heavenly Jerusalem uses the static quality of the building to suggest the stillness of a world beyond time" (MANN 1994, 194).

Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur

111

zuvor narrativ-linear ausgefaltet hat. Bereits in der Bibel werden Architekturund Schriftgedächtnis miteinander amalgamiert.111 Besonders wirkungsvoll weiterentwickelt wird dieses Modell des SchriftRaum-Gedächtnisses dann bei Prudentius, einem der ersten christlichen Dichter, der zu Beginn des fünften Jahrhunderts mit seiner „Psychomachia" ein „Lieblingsbuch des Mittelalters bis auf Dante"112 verfaßt. In diesem Hexameter-Epos werden die Schlachten geschildert, die die sieben Tugenden in der Seele des Menschen gegen die Laster austragen. Am Ende bauen die siegreichen Tugenden zur Verewigung ihres Triumphs auf dem Schlachtfeld einen Tempel, der explizit auf die Bauwerke der Bibel zurückverweist. Wie einst Salomon nach dem Ende der Kämpfe in Jerusalem einen Tempel mit Altar und goldenem Dach als Haus Gottes bauen ließ, so soll auch in der Seele nach dem Ende des Krieges ein architektonischer „Ort des Heiligen" errichtet werden (v. 805ff.). Der Bauplan dieses Gebäudes folgt dem des Himmlischen Jerusalems der Johannes-Apokalypse: Zunächst wird der neue Tempel von Fides und Concordia mit einem goldenen Rohr vermessen, so daß ein quadratisches Fundament entsteht (v. 823ff.). Nach Osten, Süden, Westen und Norden gehen jeweils drei Tore aus Edelstein, an denen oben in Gold geschrieben die Namen der zwölf Apostel leuchten (v. 830fif.). Bedeutsam ist dabei - wie schon in der Bibel - die Zahlensymbolik: Die Vierzahl als Chiffre für die Welt, repräsentiert durch vier Himmelsrichtungen und vier Lebensalter (v. 845ff.), wird harmonisch mit der Drei als Zahl der göttlichen Trinität .verbaut', was sich wiederum in der Zwölfzahl der Apostel spiegelt. Deren Namen sollen den Menschen - beim imaginären Eintreten in den Tempel - wie imagines agentes im Innersten bewegen (spiritus his titulis arcana recondita mentis ambit, et electos uocat in praecordia sensus\ v. 840f.) Auf das Fundament und die Tore folgt die Beschreibung der hohen Mauern, die - wie die Himmelsstadt - mit zwölf verschiedenen Edelsteinen geschmückt sind und von oben herab in allen Farben leuchten.113 „In schweren Ketten knirschte die Winde [machina-, ν. 866]", heißt es zum Abschluß der Mauerbeschreibung, „welche die riesigen Edelsteine zum First hinaufzog" (v. 866f.). Auf diese anschauliche Beschreibung der beträchtlichen Höhe des architektonischen Raums folgt dann ein Blick ins Innere des Tempels. Hier stützen

111 Auch die Verbindung von (fiktiven) Gebäuden mit darin eingetragenen Inschriften sieht VON SAMSONOW 2001 als „Symptom" der „Gedächtnisrevolution der Renaissance". „Die Schrift in ihrer neuen universalen symbolischen Funktion als Gedächtnisprozessor gewinnt in ihrer Aufgabe erst allmählich Terrain, und zwar gerade dadurch, daß sie zunehmend in die architektonische, ortsbezogene Imaginationsleistung eindringt und von innen her ihre Struktur usurpiert." (37) 112 FREY-SALLMANN 1931, 22. 113 Mit Chrysolith, Saphir, Beryll, Chalcedon, Hyazinth, Sardonix, Amethist, S arder, Jaspis, Topas, Smaragd und Chrysopras sind es die gleichen Edelsteine, die auch die Mauern des Himmlischen Jerusalem schmücken (v. 85 Iff.; vgl. Ape. 21,18).

112

Schauräume des Todes

sieben Säulen aus Kristall das Bauwerk, die in einer einzigen weißen, muschelförmig zugeschnittenen Perle zusammenlaufen. Darunter thront die Sapientia als Herrscherin der Seele, in der Hand ein lebendiges Zepter aus grünem Holz, das, obgleich es an der Wurzel abgeschnitten ist, doch grünt und rote Rosen sowie weiße Lilien austreibt. Dieses dem Aaron-Stab (v. 884f.) nachgbildete Zepter bringt mit der Auswahl der Blumen weitere Marien- und Christussymbole hervor, die als heilsgeschichtliche imagines ins Zentrum des architektonischen locus gestellt werden (v. 858fF.).114 Dieses statische Bauwerk steht nun in einem aufialligen Gegensatz zu der Bewegtheit der vorausgehenden Kriegshandlung. Die dynamische narratio mündet in ein stillgestelltes, dreidimensionales Herrscherbild, das die siegreichen Protagonisten, die sieben Tugenden, in den sieben tragenden Säulen des Seelentempels zu Stein werden läßt. In der ewigwährenden Friedensordnung des Bauwerks kommt auf diese Weise die zeitlose Harmonie der Seele in einem ,gereinigten' Körper zum Ausdruck.115 Zugleich entsteht damit ein architektonischer Schauraum des Textes, den der Leser am Ende seiner bewegten Lektüre in seinem eigenen Inneren ,nachbauen' soll, um sich darin fortan zu bewegen und über die zeitlose Friedensordnung einer gottgefälligen christlichen Seele zu meditieren. Durch das Einstellen zahlreicher biblisch-heilsgeschichtlicher Wissenspartitionen in den Tempel - die kosmische Ordnung, Christus- und Mariensymbole, die visionäre Himmelsstadt etc. - vermag er zudem die vorab geschilderten Tugendkämpfe in einem universellen Rahmen zu verorten. Angesichts dieser prominenten Stellung architektonischer Denkmodelle im Imaginarium des frühen und hohen Mittelalters kann es kaum überraschen, wenn die „schauende und bauende Phantasie"116 auch Eingang in die höfische Literatur findet. Dies gilt zumal, wenn man bedenkt, daß sich in dieser Zeit die Vorstellung vom himmlischen Jenseits bereits vom Modell des paradiesischen Gartens auf das Modell eines gebauten Gottesstaates verschoben hat.117 So weist der signifikante Bruch der Eneasromane mit der zweidimensionalen, para-narrativen Ekphrasis Vergils, ihre Überschreibung durch materialorientierte, topographisch strukturierte und architektonisch realisierte Schauräume auf die Teilhabe an einer zweiten großen Traditionslinie von Kunstbeschreibungen hin, die ihren Ursprung in der Heiligen Schrift hat. Über die ,monasti114 Vgl. MANN 1994, 196ff., und GOEBBL 1971, 22f., der von einer „Synthese aus epischer Ekphrasis und biblischer Tempelvision" (23) spricht Auch CARRUTHERS 1998, 143ffi, miflt Pnidentius eine zentrale Bedeutung bei und nennt den Text „a visible epic". 115 ,,[T]he stasis of the building images the timeless harmony of eternity" (MANN 1994, 197). Daß bereits die narratio der „Psychomachia" nach mnemonischen Gesichtspunkten angelegt ist, z e i g t CARRUTHERS 1 9 9 8 , 1 4 3 F F . 1 1 6 BRINKMANN 1 9 8 0 , 1 3 3 .

117 KUOLER 1986, 84FF., zeigt, daß sich etwa bei Otfrid von Weißenburg noch die Vorstellung vom Jenseits als einem Paradiesgarten findet

Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur

113

118

sehe Ekphrasis' ebenso wie die konstruktive Exegese' ist sie tief im Denken des Mittelalters verankert und gehört über den Weg der Schulbildung zweifellos auch zum Instrumentarium der höfischen Dichter. Während das dem hohen, bewegten und bisweilen geradezu ,kinematographischen' Stil verpflichtete antike Epos von dem architektonischen „Gedächtnisprozessor" der ars memorativa weitgehend freigehalten wurde, unterliegen die höfischen Romane des Mittelalters derartigen Stilbindungen nicht länger.119 Sie können auf eine seit der Spätantike - und letztlich bereits in der Bibel selbst - vorliegende Hybridbildung von Raum- und Schriftgedächtnis zurückgreifen und die dabei entworfenen Modelle virtueller Schrift-Räume ihren literarischen Entwürfen einbauen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß jede Architekturbeschreibung der höfischen Dichtung als eine exakte Nachbildung der Arche Noah oder des Himmlischen Jerusalem aufzufassen wäre. Vielmehr ist die biblische Ekphrasis-Tradition vielfaltig modellierbar und kann sich in der volkssprachigen Dichtung auf unterschiedliche Weise manifestieren. Bisweilen werden die Vorbilder der Heiligen Schrift in den epischen Ekphrasen explizit benannt, wie etwa in der Beschreibung des Gralstempels im „Jüngeren Titurel"120. Oft sind sie jedoch nur anhand von einzelnen Motivanleihen in poetischen Architekturbeschreibungen zu entdecken, etwa durch eine Vielzahl verbauter Edelsteine und anderer kostbarer Materialien oder durch die Anlage nach einer idealen, symbolischen Geometrie.121 Aber bereits die Darstellung eines jeden kontinuierlichen, statisch-festen Raumgefüges, wie man es im antiken Epos vergebens sucht, scheint letztendlich von den biblischen Architekturmodellen und ihrer Raumkonzeption geprägt zu sein. Das Mausoleum der Camilla wird in seiner konkreten Ausdehnung exakt vermessen und dem Leser somit als ein unbewegtes, lückenlos zusammengefügtes, statisches Objekt vor Augen gestellt, das in seiner Stofflichkeit besonders betont und ausfuhrlich inventarisiert wird.122 Diese statischfixierte Räumlichkeit, wie sie auch für zahlreiche Architekturallegorien der mittelalterlichen Literatur charakteristisch ist,123 fügt sich in die von Kugler gemachte Beobachtung ein, der die zentrale Innovation der mittelalterlichen

118 CARRUTHERS 1998,222 passim („monastic ekphrasis"). 119 Vgl. AUERBACH 1958, 135FF. Die lateinischen Epen des 12. Jahrhunderts, die ja immer auch an der Antike orientierte Stilübungen sind, vermischen dagegen Elemente des hohen Stils mit solchen der monastischen Schrift-Räume. 120 S. dazu das fünfte Kapitel. Weitere Beispiele bei MANN 1994,195FF. 121 Vgl. CARRUTHERS 1993, 893. Zur .symbolischen Geometrie' der biblischen Bauten GOEBEL 1971, 21FFI, und zu den Edelsteinen als Motivzitaten des Himmlischen Jerusalem grundlegend ENGELEN 1 9 7 8 .

122 So auch TRIER 1929,16ff„ und GOEBEL 1971,26f. 123 S. dazu MANN 1994.. „The emphasis is on stability, closure, the solidification of perishable and unstable humanity into the petrified immobilty of perfection" (198).

114

Schauräume des Todes

Stadt- und Architekturbeschreibung gegenüber ihren antiken Vorbildern nicht nur in einer signifikanten „Aufmerksamkeit für besondere materielle Eigenschaften und für technische Kunstfertigkeiten"124 sieht, sondern dabei auch auf die Emergenz eines kontinuierlichen, lückenlos aus Einzelelementen zusammengesetzten und in seiner Körperlichkeit betonten Raumes hinweist.125 Im Gegensatz zu dem bewegten, in Handlung aufgelösten und letztendlich diskontinuierlichen „Aggregatraum" der antiken Kunst sucht die mittelalterliche Raumdarstellung keineswegs überall, wohl aber in zahlreichen literarischen Architektur- und Kunstbeschreibungen „die geschlossene Fläche und duldet keine Lücke."126 Somit dürfte es auch bei den untersuchten Grabmalbeschreibungen kaum um den empirischen Abbildcharakter der Bild- und Bauwerke gehen und auch nicht ausschließlich um die staunenerregende Darstellung des OrientalischWunderbaren. Vielmehr werden den Hörern und Lesern der Eneasromane insbesondere bei Heinrich von Veldeke - die gebauten Formen mentaler Architekturen als kognitive Hilfsmittel zur Texterschließung angeboten. Diese „geistige Topographie"127 erleichtert ihnen die Navigation durch die umfangreichen neuen Text-Welten - und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie einer vorgängigen leiblichen Orientierung im Raum aufruht, mit der jedermann vertraut ist. Die Hörer und Leser können die genau beschriebenen Ausmaße der Bauwerke - und insbesondere ihre signifikanten unten/oben-Relationen - auch motorisch mitvollziehen, weil sie aufgrund ihrer eigenen Leiblichkeit wissen, wie man sich in architektonischen Wahrnehmungsräumen bewegt. Sie sind folglich zu einer ,,leibbezogene[n] Orientierung im Textraum"128 befähigt, wie Dietrich Krusche es nennt, und können den Tempel der „Psychomachia" ebenso wie die Grabmäler der Eneasromane als Ruheräume am Ende bzw. inmitten einer bewegten (Kriegs-)Handlung .aufsuchen', „as an invention site, a site for meditation", um mit den , Augen der Imagination' die Bedeutungsdimensionen vorab erzählter Personen und Ereignisse noch einmal zu betrachten und von

124 KUGLER 1986, 57.

125 KUGLER 1986, 50fF. Ich werde unten darauf noch einmal zurückkommen. 126 KUGLER 1986, 54, der das Vor-Bild des Himmlischen Jerusalem dabei am Rande erwähnt (57 A. 37). Zur Diskussion der Gegenüberstellung von antikem Aggregatraum und neuzeitlichem Systemraum s. 52ff., sowie PANOFSKY 1998. Für die These, dafi der mittelalterliche Zwischenschritt vom Aggregatraum der Antike zum zentralperspektivisch vollendeten Systemraum der Neuzeit nicht unwesentlich von der Rezeption der biblischen Ekphrasen her zu denken ist, spricht schließlich auch, daß sich die mittelalterlichen Darstellungen eines kontinuierlichen, körperlichen und vom Betrachter unabhängigen Raumes zuerst im Medium der Literatur finden, und zwar „längst bevor die Geschlossenheit des Stadtprospektes in der spätmittelalterlichen Bildkunst ihre beeindruckendsten Formen gefunden und im spätmittelalterlichen Städtebau ihre volle realgeschichtliche Gestalt erhalten hat" (KUGLER 1986, 54). 127 ASSMANN 1999,116. 128 KRUSCHE 2 0 0 1 , 1 2 0 f f .

Mentale Bauwerke in Bibel, Gedächtniskunst und Literatur

115

129

ihrem Ende her zu ergründen. Wie der Tempel der „Psychomachia" eröfltaen die mikrokosmisch angelegten Grabmäler der Eneasromane dabei einen Blick aufs Ganze, auf die makrokosmischen Rahmungen des Erzählten und insbesondere auf die Meta-Erzählung der christlichen Heilsgeschichte, von der sich die Todesverfallenheit der antiken Welt kontrastiv abhebt. Auf diese Weise bilden die Grabmonumente besonders markierte Orte des Textes „to imagine and to hold in mind as we experience the poem, and which later serve as memorial centers around which we are able to reconstruct the story and think appropriately about its meaning."130

129

Carruthers

1 9 9 8 , 1 5 1 . „From the beginning of Christianity, the architecture trope is associated with invention in the sense of .discovery', as well as in the sense of .inventory'" (17). Das Gedächtnis wird in diesem Zusammenhang verstanden als „a machine for performing the tasks of invention" (22).

1 3 0 KOLVE 1 9 8 4 , 2 .

Drittes Kapitel Der gespiegelte Kosmos im Text: Ekphrasis als nach Maß und Zahl geordnetes Welt-Bild des frühen Artusromans

I. Die vier Insignien des Königs und die kosmische Tektonik von Chrétiens de Troyes „ E r e c e t Enide" Als Chrétien de Troyes wohl nur wenige Jahre nach dem „Roman d'Eneas" mit seiner Erzählung von „Erec et Enide" die Gattung des Artusromans begründet,1 die in der Folgezeit zu einem zentralen Weltdeutungsmodell des Adels in ganz Europa werden wird, stützt er sich nicht mehr auf ein lateinisches Epos als Vorlage. Auch löst er sich von dem in Antikenepik und Chanson de garfe-Dichtung noch fraglos vorausgesetzten ,historischen' Erzählen und gestaltet statt dessen einen bretonischen Stoff, der in mündlicher Überlieferung lebt. Im Prolog seines Textes beklagt Chrétien, daß die Geschichte von Erec durch die Geschichtenerzähler an den Höfen allerdings verderbt (corronpre) und zerstückelt (depecier; v. 21) vorgetragen wird. Diesen Reduktionsformen will er im Medium der Schrift nun eine Fassung entgegenstellen, die deshalb Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Christenheit erlangen und sich dort behaupten werde, wie es heißt, weil darin die Reihe der erzählten Ereignisse (un conte d'avanture) in eine molt bele conjointure, eine ,sehr schöne Verbindung' gebracht wird (v. 14ff.). Erst durch diese neue Form scheint sich die Erzählung von Erec in eine „Quelle des Wissens" zu verwandeln, die man auch in der Zukunft noch aufsuchen wird.2 Diese zwar vielumrätselte, fraglos jedoch eine innovative Formgebung indizierende Äußerung hat bis heute eine Vielzahl von Deutungen hervorgerufen, die den Artusroman Chrétiens ebenso für den .Ursprung des Romans' wie für die .Entdeckung der Fiktionalität' reklamieren.3 Der Sinn entstehe in diesem Romantyp nicht mehr .historisch', also durch den Rekurs auf ein wichtiges Ereignis der kollektiv verbindlichen Geschichtsüberlieferung, sondern werde, so Walter Haug, mittels einer komplexen, auf einem „Doppelkreisschema" aufruhenden Symbolstruktur „innerliterarisch" erzeugt.4 Darüber, welche Art von literarischer Formgebung Chrétien mit dem ansonsten nicht

1

Die Datierung des „Erec" auf etwa 1165 ist allerdings umstritten, zu einer Spätdatierung zuletzt LUTRELL 1 9 7 4 , bes. 14ffi, u n d HUNT 1 9 7 8 .

2

KÖHLER 1 9 7 0 , 5 1 .

3

S. d e n O b e r b l i c k bei GREINER 1 9 9 2 .

4

Zusammenfassend HAUO 1992, 91if. (mit Nachweis der älteren Literatur).

22q

Der gespiegelte Kosmos im Text

weiter belegten Terminus der conjointure genau meint, gehen die Meinungen indes bis heute auseinander.

Die Kunstbeschreibungen der Krönungszeremonie Aus der Perspektive der Ekphrasis-Forschung fällt nun eine herausragende ,Form' dieser Erzählung gleich ins Auge, nämlich die Fülle von Kunstbeschreibungen am Ende des Textes. Die lange Reihe der avanture-Fahrten, die der Königssohn Erec mit seiner Frau Enide unternehmen muß und an deren Ende die prunkvolle Königskrönung durch Artus steht, wird zu ihrem Abschluß unter Einsatz vielfältiger picturae eindrucksvoll visuell in Szene gesetzt. Nachdem zuvor bereits Enide am Hof des Irenkönigs Givret einen wunderbaren Zelter als Ersatz für ihr auf der avanture verlorenes Pferd bekommen hatte, der in ganz ungewöhnlichen Farben glänzt - der Rumpf rotbraun, die eine Kopfhälfte schwarz, die andere weiß, dazwischen eine grüne Trennlinie und zudem einen überaus kostbaren Sattel trägt, auf dessen Bögen die EneasSage als Elfenbeinschnitzerei zu sehen ist (v. 527 Iff.), gilt die ekphrastische Auszeichnung am Romanende dem neuen König Erec. Dessen Krönung, die am Weihnachtstag in der Artusresidenz zu Nantes stattfindet, wird von Artus zusammen mit dem Bischof von Nantes durchgeführt. In ihrem Mittelpunkt stehen vier aufsehenerregende, mit Bildern reich verzierte Insignien. Zum einen stellt Artus für das Paar zwei identisch aussehende Thronsessel (faudestués) aus Gold und Elfenbein bereit, deren Beine die Formen von Leoparden und Krokodilen aufweisen (v. 665 Iff.). Erec, der in einem der Stühle zunächst neben Artus sitzt, bevor dieser für Enide Platz macht,5 trägt zum andern ein kostbares Gewand, auf dem allegorische Darstellungen der vier Künste des quadriviums abgebildet sind. Dieses Kleidungsstück, für dessen Beschreibung Chrétien Macrobius als Quelle angibt (v. 6676, 6679), ist von vier Feen gewebt, die sich jeweils einer Kunst angenommen haben. Die Figur der Geometrie schätzt und mißt die Ausmaße von Himmel, Erde und Meer und erfaßt damit tot le monde (v. 6684fif.); die Arithmetik zählt alle Entitäten der Welt, Sandkörner und Baumblätter, Wassertropfen und Sterne (v. 669411); vor der Musik liegen alle Instrumente und Ergötzlichkeiten ausgebreitet (v. 6708ff.); la meillor des arz (v. 6717) schließlich, die Astronomie, wirkt Wunder, indem sie sich bei Sternen, Mond und Sonne Rat holt. Dort erfahre sie alles, was war und was sein wird (v. 6715ff.). Verbrämt ist das Gewand mit dem Fell merkwürdiger Tiere (d'unes contrefetes bestes-, v. 6733), der Barbio5

Die Thronsessel sind nicht, wie in der Forschung bisweilen behauptet (HURST 1979, 58f.; LUTZ 1996, 45 A 124, und HAUPT 1999, 559), für Artus und Erec bestimmt, sondern für Erec und Enide. Dies ist schon daran ersichtlich, daß es sich um ein Geschenk handelt, das zuvor Artus und seine Frau erhalten hatten, also für ein Herrscherpaar bestimmt ist.

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letten aus Indien. Die Verschlüsse des Umhangs sind aus Edelsteinen geformt, zwei Chrysolithe auf der einen und zwei Amethiste auf der anderen Seite (v. 6729ff.). Als drittes Herrschaftszeichen läßt Artus für Erec und Enide zwei ganz aus Gold gefertigte Kronen aus seiner Schatzkammer holen. Auf ihnen befinden sich selbstleuchtende rote Karfunkelsteine, die so sehr strahlen, daß sie die gesamte Hofgesellschaft blenden (v. 6774£f.). Und viertens schließlich erhält Erec zum Zeichen seiner neuen Königsherrschaft ein Zepter, das allseits bestaunt wird: del ceptre la façon oëz, qui fu plus clers c 'une verrine, toz d'une esmeraude antenne, et si avait bien plain poing de gros. La vérité dire vos os qu 'an tot le monde η 'a meniere de poisson, ne de beste fiere, ned'ome, ne d'oisel volage, que chascuns lone sa propre ymage n'ifust ovrez etantailliez. (v. 681 Off.) Hört, wie es aussah! Es war klarer als eine Glasscheibe, ganz aus einem Smaragd, aus einem Stück, und füllte die Hand mit Leichtigkeit aus. Ich wage es, euch die Wahrheit zu sagen, daß es auf der Welt keine Art von Fischen oder wilden Tieren, Menschen oder fliegenden Vögeln gibt, die da nicht, eine wie die andere, nach ihrem Aussehen gearbeitet und eingeschnitten waren.6

Thronstuhl, Mantel, Krone und Zepter zusammen transformieren den Körper des neuen Königs Erec „into a pictorial representation of the cosmos - heaven and earth, man and beast, fish and fowl, space, and time past, present, and future".7 Am Körper des neuen Königs nimmt im Palast von Nantes ein komplexes Welt-Bild Konturen an, das sich im narrativen Vollzug der Lektüre, dem der Sprache inhärenten linearen Prozessieren von Sinn entsprechend, sukzessive aufbaut. Zuerst wird der Thronstuhl beschrieben, dann der Mantel, darauf die Krone und schließlich das Zepter. Da es sich bei allen vier Insignien jedoch um gerundete, zirkuläre Objekte handelt, die sich zudem den jeweiligen Rundungen des Körpers anschmiegen, dem Gesäß, dem Rumpf, dem Kopf sowie der Innenfläche der Hand, stimuliert die Beschreibung zugleich eine dezidiert räumliche Imagination. Von den völlig gleichartig gearbeiteten Sesseln heißt es sogar, daß man sie noch so lange von allen Seiten (an tor, ν. 6658) betrachten könne, ohne einen Unterschied zu bemerken.

6 7

Die Obersetzung folgt, soweit nicht anders angegeben, der zweisprachigen Ausgabe von GIER. MADDOX 1978, 170. Vgl. zur Stelle allgemein HAUPT 1999 (mit der älteren Literatur).

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Was sich in der Abfolge der Wörter und Sätze zunächst als ein sprachliches Nacheinander darstellt, nimmt auf der Ebene der mentalen Repräsentation, in dem Moment, da der Leser dem Text alle Informationen für den Bildaufbau entnommen hat, räumliche Dimensionen an - und zwar ohne daß dazu eine elaborierte Beschreibung der architektonischen Anlage des Palastes nötig wäre. Es ist hier vielmehr das Schema des menschlichen Körpers, das als Hintergrundstruktur fungiert, in die einzelne Gedächtnisbilder eingestellt werden. Der lineare Fluß der Erzählung, bestehend aus einer langen Reihe von Einzelepisoden, findet sein Ende also im Schauraum eines festlich hergerichteten Palastgebäudes, in den der Leser einzutreten aufgefordert ist, um sich um den Körper des neuen Königs Erec herumzubewegen und über die dort aufzufindenden Bilder und Insignien schauend zu meditieren.

Die Vierzahl als Operator des Bildaufbaus und die Schemabilder des Kosmos-Menschen Eine wichtige Funktion beim Aufbau dieses verbal generierten Welt-Bildes kommt nun den im Text teils genannten, teils versteckten Zahlen zu. Neben den zahlreichen Dopplungen und Symmetrien, die auf das Herrscher/raw/· verweisen - zwei Thronstühle mit je zwei eingravierten Tierarten, zwei Kronen, zwei Arten von Edelsteinen auf den Mantelschließen, zwei Mädchen und zwei Barone, die die Kronen tragen - , wird die Krönungsszene von der Zahl Vier dominiert. Die Bilder der Zweizahl, die die am Ende auch kommunikativ realisierte Harmonie zwischen Erec und Enide in Szene setzen,8 werden aufgehoben in der Vierzahl der Insignien, die ihrerseits wiederum meist viergliedrig sind: zwei mal zwei Tierabbildungen auf den Thronstühlen; auf dem Mantel die vier mathematischen artes, deren Produzenten, die vier Feen, geradezu signalhaft mit Hilfe von Ordnungszahlen aufgereiht werden: L'une (ν. 6684), la seconde (v. 6694), La tierce (ν. 6708) und La quarte (ν. 6715). Die Zahl Quatre (v. 6682) schließt endlich die Beschreibung des Umhangs auch ab. So wird zum einen der Pelzbesatz des Mantels als vierfarbig beschrieben, das Fell der Barbioletten sei nämlich blond, schwarz, rot und blau.9 Zum andern finden sich catre pierres (v. 6744), in Gold eingefaßt, auf den Schließen des Mantels. Auf jeder der beiden Kronen, die Artus aus dem Schatz holen läßt, finden sich außerdem vier Karfiinkelsteine. Schließlich wiederholt sich die Vierzahl in der Beschreibung des Zepters, wo vier Arten von Lebewesen aufgezählt werden,

8 9

Auch „in der Korrespondenz der Lautgestalt ihres Namens", so SlTERLE 1994, 260, bilden Erec und Enide „das vollkommene Paar". In der FOERSTER-Edition sind es fünf Farben: die Köpfe sind weiß, die Hälse schwarz, die Rücken blutrot, die Bäuche grün und die Schwänze indigoblau (v. 6794ff.)

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die die Erde bevölkern, nämlich Fische, wilde Vierbeiner des Landes, Menschen und Vögel.10 Nun ist die Vier nicht irgendeine Zahl, sondern sie zeichnet sich vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Zahlensymbolik vor allem durch ihren Bezug zur grundlegenden Ordnung des Kosmos aus. Die Vier enthält gleichsam das Grundgerüst eines Welt-Bildes, galt sie doch dem Mittelalter als „Zahl der Weltharmonie"11, da man sich die Ordnung des Kosmos - in antiker Tradition stehend - vierseitig vorstellte: „Vier ist die Zahl des als orbis quadratus geordneten Kosmos"12, weswegen sie vielen Theoretikern von den Kirchenvätern bis zu Radulf Glaber als heilige Zahl galt. Sie ist geradezu als eine „hieroglyphe du monde"13 zu verstehen, eine numerische Weltformel, die in allen Gegebenheiten der Schöpfimg zum Ausdruck kommt und diesen Transparenz verleiht. Man denke etwa an die vier Elemente, vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten, vier Winde, vier Temperamente, vier Körpersäfte oder vier Lebensalter. Dadurch, daß mit der Vierzahl eine weithin bekannte und im kulturellen Gedächtnis der Zeit tief verwurzelte Symbolzahl für den in seiner unüberschaubaren Vielheit doch harmonisch geordneten Kosmos die „Schlüsselzahl" der Krönungsszene bildet,14 werden die vier Insignien am Körper des Königs transparent auf andere, nicht explizit erwähnte kosmologisch-heilsgeschichtliche Vierergruppen. Charakteristisch war nämlich besonders für die Behandlung der Vierzahl in Exegese und ikonographischen Quellen, daß man Bezugsketten zwischen den vielen verschiedenen Vierergruppen herstellte. Das „in der Vier implizierte Weltgefuge", so Barbara Maurmann, ist „beliebig zu variieren"; die Kombinationsmöglichkeiten von kosmologischen, moralischen und heilsgeschichtlichen Vierergruppen sind nahezu unendlich.15 So vermag die Vierzahl eine ganze Reihe weiterer kosmologischer Bilder aufzurufen, die vom Text nicht eigens ,ausgemalt' werden müssen, sondern allein über die wiederholte Nennung der Symbolzahl assoziativ vergegenwärtigt werden können. Von den vier mathematischen artes auf dem Mantel und den vier Arten von 10 Angefangen von BEZZOLA 1947 ist immer wieder auf die Bedeutung der Zahlenverhältnisse in der Krönungsszene hingewiesen worden, jedoch ohne konsensfähige Ergebnisse. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann wohl die Feststellung gelten, daß die Konzentration auf die vier mathematischen Künste eine „Festlegung auf die Kosmologie" bedeutet (LUTZ 1996, 43). Sehr weitreichende Spekulationen dagegen bei HART 1981 und HELM 1993. 11

MAURMANN 1 9 7 6 , 1 9 1 .

12

MEYER/ SUNTRUP 1 9 8 7 , 3 2 3 .

13

MAURMANN 1 9 7 6 , 1 9 1 .

14 S. zum Begriff der .Schlüsselzahl' TSCHIRCH 1958. HART 1981 stellt ausgehend von der Vierzahl weitreichende Überlegungen zur zahlenkompositorischen Anlage des gesamten Textes an. 15 MAURMANN 1976, 196. „Die Gleichrangigkeit der einzelnen Vierereinheiten schließt die potentielle Bedeutungsfülle aller denkbaren Zuordnungen ein. Jeder Einzelkomplex konnte die Fülle der Möglichkeiten vertreten" (199).

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Lebewesen auf dem Zepter ausgehend, mag der Leser ergänzend etwa an die vier Elemente, die vier Himmelsrichtungen und die vier Paradiesflüsse denken, möglicherweise aber auch an die vier Kardinaltugenden, auf die das quadrivium im Mittelalter immer wieder ausgelegt wurde.16 Gesteuert durch die Vierzahl, kann die pictura des gekrönten Königs also vom Leser assoziativ ,aufgefüllt' und auf andere, aus dem Gedächtnis zu ergänzende kosmologischheilsgeschichtliche Wissenspartitionen transparent gemacht werden. Was Ruth Webb über die antike Technik der verbalen Bildgenerierung sagt, steht hier gleichermaßen in Geltung: ,ßkphrasis was an evocation of a scene [...]. The impact derived from the judicious choice of details that correspond to the audience's prior knowledge and expectations, calling up the mental images already stocked in the store-house of memory."17 Außerdem verbindet sich die Vierzahl mit den Figuren von Kreis, Kugel und Quadrat, die dem Mittelalter - in der Tradition Piatons und Vitruvs - als ausgewogene, vollkommene geometrische Figuren galten. Diese Formen scheinen einerseits in den vierbeinigen Thronstühlen, den kreisrunden, jeweils durch vier Steine quadrierten Kronen sowie dem kugelrunden Zepter auf. Zum andern spielen sie eine zentrale Rolle in der kosmologischen Ikonographie des hohen Mittelalters, bilden sie doch die geometrische Grundstruktur des Kosmos-Menschen, der in der Regel als homo ad circulum bzw. homo ad quadratum dargestellt wird.18 In den Diagrammen zur Darstellung des Menschen als Mikrokosmos, der zu den Bestandteilen des Makrokosmos in Beziehung gesetzt wird, erscheint ein menschlicher Körper im Mittelpunkt eines quadratischen Bildfeldes, um dessen ausgestreckte Gliedmaßen - oder auch nur um den Kopf (Abb. 1) - ein Kreis gezeichnet wird. Um den Mikrokosmos des Körpers herum werden dann verschiedene, weithin austauschbare, stets aber viergliedrige Gegebenheiten des Makrokosmos angeordnet.19

16 Zu den Kardinaltugenden BEZZOLA 1947, 265 A. 88, der außerdem daraufhinweist, daß Macrobius der zentrale Vermittler der Lehre von den Kardinaltugenden im Mittelalter war. Vgl. MEYER/SUNTRUP 1978, 333. MAURMANN 1976, 199, weist daraufhin, daß durch die Zahlengleichheit Modelle entstehen, „die stets einen vergleichbar assoziativ zu entwickelnden Viererkomplex oder eine ausdrücklich als Significatami benannte Vierergruppe erschließen." 17 WEBB 1999, 14. Dem entspricht dann eine von LUTZ 1996, 17, angesprochene „hochentwikkelte[.] Fähigkeit zur Bildergänzung" beim mittelalterlichen Leser. „Einzelne Elemente genügten, um das Bildganze zu ,sehen', unstimmige Details glich das (geistige) Auge aus." 18 Auf das Phänomen der im Text .verborgenen' neoplatonischen Kosmos-Bilder und -Diagramme, die sich mit der antiken Tradition der Ekphrasis verbinden, hat LUTZ 1996, bes. 36, hingewiesen. 19 Abbildungen und Erläuterungen zu diesem ikonographischen Motiv bei FINCKH 1999, 88ff., sowie im Abbildungsteil bei Zahlten 1979. Vgl. MEIER 1988 und BRONDER 1972 (mit weiteren Abbildungen).

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Abb. 1: Thomas von Cantimpré: De naturis rerum (13. Jh.), Darstellung des Kosmos-Menschen.

Auch bei der schematischen Darstellung des Makrokosmos ohne den menschlichen Mikrokosmos sind Kreis und Quadrat als die geometrischen Grundbausteine eines vierteiligen Welt-Bildes zu erkennen (Abb. 2).

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Abb. 2: Thomas von Cantimpré: De naturis rerum, Darstellung des Makrokosmos. Eng verbunden ist diese Bildformel mit Darstellungen der göttlichen majestas, die zeigen, wie Gott die Welt mit seinen Händen erschafft, sie mit seinen Armen umspannt oder mit Zepter und Krone bzw. Schriftrolle besitzt.20 Hugo von St. Victor gibt in seinem Traktat „De arca Noe mystica" genaue Anwei-

20 BRONDER 1972 (mit zahlreichen Beispielen). Vgl. MEIER 1988, die einen „enormen Zuwachs solcher komplexer Schemabilder" und „ihre zunehmende Elaboriertheit" im 12. Jahrhundert verzeichnet (38). „Mit ihrer kompositionellen und konzeptionellen Bestimmtheit durch geometrische Formen wie Kreis, Kreuz, Viereck, Raute, Rad und deren Kombinationen stehen sie im Gegensatz zum narrativen Bild, das eine Handlung, Szene, Situation visualisiert" (37).

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sungen fîir das Malen - sei es auf dem Pergament oder vor dem inneren Auge - eines umfassenden Welt-Bildes, das die Arche eingebunden zeigt in einen Kosmoskreis mit einer Vielzahl symbolisch-geometrisch dargestellter Gegebenheiten wie Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Tierkreiszeichen etc. „Diesem Kosmosmodell ist im Erdkreis das Rechteck der Arche eingeschrieben, die die Kirche, doch zugleich tropologisch auch den inneren Menschen (auf dem Weg des Heils) darstellt."21 Außerhalb des Kreises ist eine göttliche majestas-Figai zu sehen, die den Kosmos hält, ausgestattet „mit den Herrscher- und Richterattributen Zepter und Schriftrolle".22 In anderen Schemabildern ist Gott dabei zu sehen, wie er, auf einem Thron sitzend, die Welt in seinem Schoß hält und sie zugleich nach Maß, Zahl und Gewicht einrichtet (Abb. 3). Dieses spiegelbildliche, gleichsam durchlässige Verhältnis zwischen Gott und Mensch in den Kosmosbildern kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß in die Mitte eines solchen Diagrammes auch der gekreuzigte Christus gestellt werden kann, der dann den neuen Menschen bezeichnet, die Neuschöpfung der Welt, die beispielsweise dadurch mit der Urschöpfung in Einklang gebracht wird, daß die vier Arme des Kreuzes durch die Paradiesflüsse gebildet werden (Abb. 4). Dem Kreis als Zeichen der Schöpfung entspricht in diesen Bildern das Kreuz, das die Neuschöpfung der Welt nach dem Sündenfall repräsentiert - und zugleich den Kreis in vier Teile gliedert. Kreis und Kreuz sind daher keine zufalligen Figuren, sondern das durch Kreis und Kreuz, Schöpfimg und Neuschöpfimg gekennzeichnete Bild von der Welt „ist auch ein Bild von Gott. Der gekreuzigte Christus hat die Welt in Händen wie der thronende Pantokrator, indem er sie regierend erhält." 23 Es hat nun den Anschein, als sei genau dieses populäre Bildschema mit seiner charakteristischen Spannung zwischen dem (neuen) Menschen in der Welt und dem göttlichen Herrscher über die Welt auch in Chrétiens Ekphrasis .verborgen'. 24 Denn der Körper des neuen Königs bildet nicht nur den mikrokosmischen Mittelpunkt einer viergliedrigen, mehrschichtig ausgefalteten Darstellung des Makrokosmos, sondern Erec wird im Schlußbild des Romans mit all seinen Insignien zugleich als christusgleicher Weltenherrscher gezeigt.

21

MEIER 1988, 51.

22 MEIER 1988, 51. Vgl. BRONDER 1972, 188ff„ die auch eine Krone dargestellt sieht (189). Aber auch auf dem bekannten Mikrokosmos-Bild im Lucca-Kodex Hildegards von Bingen (Lucca, Biblioteca Statale, Cod. lat. 1942, fol. 9r., Abbildung im Vorsatz des Buches von FLNCKH 1999) ist zu sehen, daß dem Menschen inmitten des Weltkreises eine Figur außerhalb desselben entspricht, die die Welt umspannt „Mit den geschlossenen nebeneinander stehenden FQßen und den ausgespannten Armen bildet der Mensch die Haltung der Figur Gottes hinter dem Kosmosrad nach." (BRONDER 1972, 200) 23

BRONDER 1 9 7 2 , 2 0 7 .

24 LUTZ 1996 arbeitet systematisch heraus, auf welche Weise „verborgene Bilder" einen Text „ordnen" können.

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Abb. 3: Bible moralisée (13. Jh.), Gott als Architekt und Baumeister der Welt.

Besonders augenfällig wird dies an dem grünen Zepter in seiner Hand, das von allen Arten von Lebewesen bevölkert wird. Chrétiens Krönungsszene ließe sich dann als eine in den Schauraum der Literatur übertragene und dort dreidimensional inszenierte Version der im 12. Jahrhundert weit verbreiteten kosmologischen Schemabilder lesen. Es wird sich im folgenden zeigen, daß eine solche Deutung auch von der Romanhandlung her zu stützen ist.

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Abb. 4: Kollektor (11. Jh.), Kreuzigungsdarstellung mit Agnus Dei, Paradiesflüssen, Evangelisten und Kardinaltugenden.

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Mundus triplex und Septem artes liberales So plausibel nun die Heranziehung der Vierzahl für den Aufbau eines mikrokosmischen Schlußbildes ist, das den neuen König zu den Grundgebenheiten der Welt in Beziehung setzt, so irritierend ist es zugleich, daß Chrétien dabei an zentraler Stelle Dinge einbezieht, die gemeinhin wenig mit der Vierzahl zu tun haben. Zum einen betrifft dies die Gruppe der Lebewesen, die auf dem Zepter abgebildet ist. Sie besteht aus den drei Tierarten des in der biblischen Schöpfungsgeschichte entworfenen mundus triplex, der die drei Lebensräume der sublimaren Welt repräsentiert: Tiere der Luft, des Wassers und der Erde.25 Diese häufig zu findende Dreiergruppe ist auch auf dem Purpurgewand der Königin Camilla im „Roman d'Eneas" abgebildet, in dem man schon früh ein mögliches Vor-Bild fur Chrétiens Mantel-descriptio gesehen hat.26 Ebenso besitzt die Amazonenkönigin ein sonderbar gefärbtes Pferd, dessen Kopf weiß ist, das Stirnhaar schwarz und die Ohren rot; die Mähne ist indigoblau und in einigen Büscheln grün, die rechte Schulter graublau, die linke grau (v. 4047ff.). Auch das Zaumzeug ist von unvorstellbarer Kostbarkeit, es besteht ganz aus Gold, Silber, Elfenbein und emaillierten Metallplatten, weist jedoch keine nennenswerten figürlichen Gravuren auf (v. 407 Iff.).27 Auf diesem Zelter reitend, trägt Camilla das besagte Purpurgewand, das mit Gold bestickt ist und das wie Erees Krönungsmantel eine Verbrämung aufweist, die von wunderbaren Tieren herrührt, hier allerdings von den Kehlen seltsamer Vögel, die ihre Eier auf den Wellen des Meeres ausbrüten. Außerdem ist auch dieses vielfarbige Gewand von Feen (faees) gewebt worden, deren Anzahl deijenigen der eingewebten figürlichen Darstellungen entspricht. Es handelt sich um drei Feen, die drei verschiedene Gruppen von Lebewesen in das Gewand gewebt haben, nämlich peissons marages, / oisels volanz, bestes salvages (v. 4019f.). Diese drei Gruppen von Lebewesen sind eine häufig auftretende „Formel für die Ganzheit der belebten Natur"28, und in dieser Funktion als Repräsentation der kreatürlichen Welt werden sie hier einer mächtigen Königin als sichtbares Zeichen ihres Herrschaftsanspruchs auf den Leib projiziert. In ihrer Abfolge geben sie genau die Reihenfolge wieder, in der sie auch der biblische Schöpfungsbericht aufzählt: Bekanntlich erschafft Gott zuerst die Tiere des Wassers, dann die der Luft und schließlich die Landtiere (Gen. 1,20ff), ehe der Mensch den Reigen komplettiert, der sich die drei Lebensbereiche Untertan machen solle (Gen. I, 28). Dadurch, daß der „Roman d'Eneas" die drei kreatürlichen Lebewesen in der gleichen Reihenfolge wie der Schöpfungsbericht aufzählt,

25 S. zum mundus triplex KRAYER 1960,54FFI, und WANDHOFF 2003 (mit weiteren Beispielen). 26 FARAL 1913,346f.; BEZZOLA 1947,265 A. 89; HAUPT 1999, 567ff. 27 Lediglich die Ziselierung der Sattelbögen zeigt die Form einer trifoire (v. 4078). 28

KRAYER 1 9 6 0 , 55.

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entwirft er, wie Barbara Haupt feststellt, auf dem Mantel der Camilla „ein Bild der paradiesischen Schöpfungsordnung"29. Der in dem Bildprogramm fehlende Mensch kann dabei in der Mantelträgerin selbst gesehen werden, die als eine menschliche Königin zugleich Herrscherin über die dreigeteilte Natur ist. Wenn Chrétien nun dieses Bild einer von Gott geschaffenen Ur-Ordnung auf Erees smaragdgrünem Zepter, das auch durch seine Farbe an das Paradies erinnert,30 durch die Hinzunahme des Menschen in eine Viererordnung überführt und dabei zudem die Reihenfolge verändert: Fische, Landtiere, Mensch, Vögel, dann läßt sich auch dieses Bild zwar noch mit der Genesis in Einklang bringen, doch ist es, soweit ich sehe, ungleich weniger weit verbreitet als das klassische Dreiermodell des mundus triplex,31 Es scheint demnach, als baue Chrétien hier gezielt ein ,Standardmodell' um, damit es in eine viergliedrige Makrostruktur hineinpasse, um, wie Barbara Haupt bemerkt, „eine Korrespondenz zur Vierzahl der Mantel-Schilderung" zu erreichen.32 Das Problem ist nur, daß auch die dort zu findende Reduktion der sieben artes auf ihre Teilgruppe des quadriviums äußerst ungewöhnlich ist. Seit der Darstellung der sieben freien Künste in Form von Personifikationsallegorien durch den im Mittelalter als Schulautor weit verbreiteten Martianus Capeila werden die artes immer wieder personifiziert, in der Literatur wie in der bildenden Kunst.33 In karolingischer Zeit beschreibt etwa Theodulf von Orléans in seinem Carmen 46 unter dem Titel „De Septem literalibus artibus in quadam pictura depictis" eine kunstvoll gearbeitete Tischplatte, auf der die sieben Künste an einem Baum in aufsteigender Linie abgebildet sind: von der Grammatik an der Wurzel bis zur Astronomie im Wipfel, deren Haupt zum Himmel aufragt und mit einem circulus geschmückt ist, der die Sternbilder trägt.34 Fulcovius von Beauvais erzählt um 1069 in seinem „De Nuptiis Christi et Ecclesiae" von einem Umhang, den Pallas zusammen mit den sieben artes für homo anfertigt und den die einzelnen Künste mit ihren eigenen Emblemen schmücken. So webt die Grammatik Buchstaben in den Saum, die Musik fügt 29 HAUPT 1999, 579. Auch CLEMENTE 1992, 87, spricht von einer „prelapsarian vision of an integrated universe". Vgl. WETHERBEE 1 9 7 2 , 2 3 9 .

30 BEZZOLA 1961, 246. HAUPT 1999 verzichtet generell auf eine symbolische Ausdeutung der Farben. 31 Auf dem Kleid der Natura in „De planctu Naturae" des Alanus ab Insulis finden sich zwar Vögel, Fische, Mensch und Landtiere, wobei der Mensch aber dem Land zugeordnet ist und so in das gängige Bild des mundus triplex eingepaßt wird (II, 230fF.). S. aber „Sankt Brandan" nach dem Augsburger Druck Anton Sorgs, wo auf den vier Wänden einer Burg Landtiere, Vögel, Fische sowie allerlay hand menschen pilde (46, 8f.) zu sehen sind. 32

HAUPT 1 9 9 9 , 5 7 8 .

33 S. die Obersicht bei HAUPT 1999 (mit der älteren Literatur). Martianus als mögliche Anregung für die personifizierten artes bei Chrétien erwägen BURQESS 1984, 101, und GIER, Anmerkungen zur „Erec et Enide"-Ausgabe, 410. 34 Mit auf diesem Baum .sitzen' auch die vier Kardinaltugenden! Vgl. RATKOWITSCH 1991, 1071Γ., u n d CARRUTHERS 1 9 9 8 , 2 0 9 F F .

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Melodien hinzu, die Astronomie Himmelszeichen etc. (v. 320ff.).35 Zu Beginn des 12. Jahrhunderts stellt der bereits erwähnte Baudri von Bourgueil im virtuellen Schlafgemach der Adele von Blois die sieben Künste in Form von Elfenbeinschnitzereien dar, und zwar an herausgehobener Stelle: Die Bildnisse finden sich am Bett der Comtesse, das trivium zusammen mit der Medizin am Fußende und das quadrivium samt der Philosophie am Kopfende des Bettes (v. 965ff.).36 Im „Anticlaudianus" des Alanus ab Insulis sind die artes dann wiederum als handelnde Figuren dargestellt, die einerseits gemeinsam den Wagen der Prudentia bauen und ihn mit den ihnen eigenen Emblemen schmücken. Andererseits tragen diese Personifikationen aber auch selbst Gewänder, in die berühmte Vertreter ihrer jeweiligen Disziplin eingewebt sind. Das quadrivium ist dabei für die Räder zuständig. Wie bei Baudri werden trivium und quadrivium zwar auch hier räumlich getrennt, doch sind wie dort beide Abteilungen in einem Bildentwurf vereint.37 Auch in der volkssprachigen Literatur vor Chrétien sind mir keine Ekphrasen bekannt, in denen weniger als alle sieben Künste abgebildet würden. Im „Roman de Thèbes", einer Bearbeitung von Statius' „Thebais", finden sich auf dem von Vulcan gefertigten Streitwagen des Amphiaras neben anderen Abbildungen auch Darstellungen der personifizierten artes, die vielfach als Vorbilder für Erees Krönungsmantel gesehen wurden.38 Auch hier jedoch sind alle sieben Künste abgebildet: Gramaire y est painte o ses parz, Dyalectique o argumenz Et Rethorique o jugemenz. L'abaque i tient Arismetique, par la gamme chante Musique.

[...] Unne verge ot Geometrie, un astreleibe. Astronomie; l'une en terre met sa mesure, l'autre es estoiles met sa cure. (v. 4990ÍF.) 35 Vgl. HUNT 1978, 231, der auch auf Petrus' von Compostela „De consolatone rationis" verweist, einer boethianischen Traumvision, die direkt auf Alanus und möglicherweise auch Chrétien gewirkt habe. 36 Vgl. RATKOWITSCH 1991, 106ff.

37 LUTRELL 1974, 20FF., hat diesen Text als unmittelbare Anregung für Chrétien geltend gemacht, was sich wegen der späten Datierung in der Forschung nicht durchsetzen konnte. Daß derartige Bilder aber schon früher ,in der Luft lagen', zeigt allerdings auch das weitere Material bei HUNT 1978, der sich im übrigen ebenso wie Lutrell - allerdings mit anderen Argumenten - für eine Spätdatierung Chrétiens ausspricht. 38 So OKKEN 1993, 186. Vgl. SÖHR1NG 1900, 565ff. Ahnliche Darstellungen der sieben Künste kommen auch in verschiedenen Handschriften des „Roman d'Eneas" vor, gelten aber als spätere Interpolationen. S. SÖHMNO 1900,605f.; HAUPT 1999, 567.

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Grammatik ist dort mit ihren Unterteilungen dargestellt, Dialektik mit ihren Argumenten, und Rhetorik mit ihren Urteilen. Arithmetik hält den Abakus, und Musik singt nach der Tonleiter. [...] Eine Meßlatte hat Geometrie, und Astronomie ein 39 Astrolab; die eine übt ihre Messungen auf der Erde aus, die andere in den Sternen.

Nimmt man hinzu, daß die sieben Künste als einprägsames Bild für die enzyklopädische Gesamtheit des menschlichen Wissens im 12. Jahrhundert auch großen Anteil an der plastischen Ausgestaltung französischer Kirchen und Kathedralen hatten - insbesondere dort, wo die Gotteshäuser mit wichtigen Bildungszentren verbunden sind, wie in Cluny, Chartres, Laon, Auxerre, Paris, Reims oder Rouen40 - , dann läßt sich feststellen, daß eine wie auch immer geartete Tradition einer gesonderten Darstellung des quadriviums kaum nachweisbar ist. Das bedeutet, daß Chrétien vom allgemein üblichen Schema aller sieben Künste gezielt abweicht.41 Wie ungewöhnlich dies war, zeigt noch die norwegische „Erexsaga", eine Bearbeitung von Chrétiens Roman, die wohl noch ins 13. Jahrhundert fällt. Hier ist es Evida (Enide), die anläßlich der Schlußkrönung einen kostbar geschmückten Mantel bekommt, und auch auf diesem wird das quadrivium durch das vollständige Repertoire aller sieben Künste ersetzt, obwohl weiterhin von vier Feen als Produzentinnen die Rede ist (XIV, 70).42 Chrétien hat in seiner Krönungsszene also nicht bloß traditionelle Bilder benutzt, sondern diese auch neu arrangiert. Indem er das mundus triplex-Maûv ebenso wie das siebenteilige arfes-Schema in eine vierteilige Struktur bringt, um sie in die quadrierte pictura des Kosmos-Menschen einzupassen, hebt er die Vier als Schlüsselzahl seines Textes besonders hervor.43

39 Meine Obersetzung. 40 S. den Artikel .Künste, sieben freie'. In: Lexikon der Kunst 1992, Bd. 4,123. 41 MUSSETER 1982 gehört zu den wenigen, die sich mit der Darstellung des quadriviums nicht zufrieden geben und nach einer ,Ergänzung' durch das trivium suchen. Sie findet dieses in der Ausbildung Enides, die, indem sie den Gebrauch ihrer Stimme im Verlauf der Handlung erlernen müsse, implizit auch zu einer Meisterin der Wort-Künste werde und als solche dann neben Erec, dem neuen Meister der messenden Künste, gekrönt werde - und so die Einheit der Septem artes liberales herstelle. Musseters These läßt sich indes vom Text her kaum halten, denn während das Bild des quadriviums explizit und .sichtbar' auf Erees Körper projiziert wird, ist von den Künsten des triviums nirgends wirklich die Rede. 42 S. RUBERÒ 1995,77. 43 Dieses große Interesse an der Vierzahl wird in der Forschung zumeist als Indikator dafür gesehen, daß Chrétien von der Schule von Chartres mit ihrer Reaktivierung der antiken Kosmologie beeinflußt war. S. CLEMENTE 1992, 75ff.; VON GRAEVENITZ 1992, 233, sowie allgemeiner zum Einfluß von Chartres auf die Literatur WETHERBEE 1972, 220ff.; HURST 1979; HART 1981 und TOPSFIELD 1981, 60ff.

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Krone und Kreuz, Thron und Altar: Ein virtueller Gang vom Palast in Nantes zum Münster in Carnant Die finale Krönungsszene eröffnet nun eine Vielzahl weiterer Bedeutungsdimensionen, wenn man sie nicht länger, wie in der Forschung zumeist geschehen, als einen „self-contained excursus" ansieht,44 sondern als meditation site im oben skizzierten Sinne, von wo aus Rück- und Ausblicke in die Romanhandlung nicht nur möglich, sondern sogar erwünscht sind. Sucht man nach möglichen Spiegelungen des vierteiligen Schlußbildes in den vorausgegangenen Abschnitten der Erzählung, dann stößt man auf eine andere Ekphrasis, in der ausfuhrlich die kostbaren Stiftungen beschrieben werden, die Erec und Enide im Münster von Carnant der Kirche überlassen. Diese Stelle ist bislang vor allem deshalb kaum zur Klärung der Krönungsszene herangezogen worden, weil sie sich nur im sogenannten Guiot-Manuskript (Paris, Bibl. Nat., fr. 794) findet und in der lange maßgeblichen, kritischen Ausgabe Wendelin Foersters als Interpolation behandelt und lediglich - dies auch nur in der S o fien' Ausgabe - im Lesartenapparat mitgeteilt wird. Mario Roques hat seiner Neuedition von „Erec et Enide" dann das GuiotManuskript zugrunde gelegt, weil es sehr nah an die vermutliche Schaffenszeit Chrétiens heranreicht und außerdem einen guten, historisch authentischen Text bietet, der offenbar von einem sorgfältigen Schreiber auf der Grundlage guter Vorlagen zustande gekommen ist. In dieser weitgehend diplomatischen Ausgabe ist die besagte, aus zwei Teilen bestehende Ekphrasis enthalten, doch sehen die Verfechter der Textkritik, wie etwa Tony Hunt, darin bis heute „two large interpolations of a religious nature"45, obwohl es nach wie vor keine stichhaltigen Argumente gegen ihre Authentizität gibt. Ohne daß ich mich hier auf die Probleme der Chrétien-Edition näher einlassen kann, 46 lege ich meiner Untersuchung die Guiot-Ausgabe zugrunde, und es wird sich im folgenden zeigen, daß gerade die vermeintlichen Interpolationen einen faszinierenden Resonanzraum für die pictura der Krönungsszene darstellen. Worum handelt es sich nun im einzelnen? Nach dem Gelingen seiner ersten aventure war Erec zusammen mit seiner neuen Freundin Enide zum Artushof zurückgekehrt, wo das junge Paar gefeiert und schließlich verheiratet wurde.

44 HART 1981,252. 45 HUNT 1993, 31. Vgl. POIRON, Anmerkungen zur Chrétien-Ausgabe, 1088, wo ebenfalls von vermutlich auf Guiot zurückgehenden Interpolationen die Rede ist, die Stellen gleichwohl in den Text der Ausgabe übernommen werden, „car elles sont fort interessantes." Vgl. zur Frage nach der Authentizität auch ROQUES, Einleitung zur „Erec"-Ausgabe, xlix. 46 S. dazu HUNT 1993 sowie zu der Tendenz der Textkritik, gerade Ekphrasen immer wieder als Interpolationen zu behandeln, SCOTT 1991. - Anders als der Großteil der Forschung bezieht LUTZ 1996,39ff., die inkriminierten Stellen in seine Deutung des Krönungsgewands ein.

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Nachdem Erec außerdem in einem eigens anberaumten Turnier großen Ruhm als Ritter erlangt hat, verlassen die beiden auf dem Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Ansehens König Artus und fahren in Erees Heimatland Südwales (son rëaume d'Estre-Gales\ ν. 1826). Als sie nach vollen vier Tagen in Carnant, der Residenz von Erees Vater, König Lac, ankommen, werden sie dort mit großem Zeremoniell nicht nur vom König, sondern auch vom Volk empfangen: tote la gente est aünee / por veoir lor novel seignor (v. 2314f.). Bevor Erec von den Adligen und Bürgern wie ein König im Palast reich beschenkt wird, führt man ihn und Enide ins Münster, wo man ihnen zu Ehren eine Prozession abhält. Erec verrichtet sein Gebet vor dem Altar mit dem Kruzifix {devant l'autel del Crocefìs\ v. 2321), und Enide wird von zwei Baronen vor den Altar der Heiligen Jungfrau geleitet {Devant l'autel de Nostre Dame·, v. 2347). Soweit stimmen die meisten Handschriften überein. Im Guiot-Manuskript werden darüber hinaus nun die vier Gaben beschrieben, die Erec und Enide an ihren jeweiligen Altären der Kirche opfern. Erec stiftet neben 60 Mark Silber ein äußerst wertvolles Kreuz aus massivem Gold, das einst roi Constantin (v. 2326) gehörte, dem ersten christlichen Herrscher des römischen Reiches. Doch damit nicht genug: de la voire croiz i avoit, ou Dame Dex por nos s'estoit croceftez et tormantez, qui de prison nos a gitez ou nos estïens trestuit pris par le pechié quefistjadis Adanz par consoli d'aversier. (v. 2327ff.) Darin war ein Splitter des wahren Kreuzes eingefügt, an dem sich Gott der Herr filr uns hatte peinigen und kreuzigen lassen, als er uns aus dem Gefängnis rettete, in dem wir alle wegen der Sünde gefangen waren, die einst Adam auf den Rat des Bösen hin verübte. Neben dem eingelassenen Splitter des echten Kreuzes, an dem Jesus sich zur Erlösung der Menschen martern ließ und durch den das goldene Kreuz zu einer besonders wertvollen Reliquie wird, ist aber auch der Edelsteinbesatz von Bedeutung: el mi leu, et a chascun cor, avoit uns escharbocle d'or, assises furent par merveille, nun ne vit onques sa paroille; chascune tel clarté gitoit de nuiz, con se il jorz estoit au matin quant li solata luist;

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si grant clarté randoitpar nuit que ardoir η 'estuet el mostier lampe, cierge, ne chandelier, (v. 2337ff.)47 In der Mitte und am Ende jedes Kreuzaims prunkte ein Karfunkel in wundervoller goldener Fassung, und keiner von ihnen erblickte jemals seinesgleichen. Jeder strahlte nachts eine solche Helle aus, als ob es Tag wäre, morgens, wenn die Sonne scheint; bei Nacht verbreitete das Kreuz eine derartige Helligkeit, daß man in dem Münster keine Lampen, Kerzen oder Leuchter brennen lassen mußte.

Enide stiftet an ihrem Altar neben einem grünen Seidenstoff (un paisle vert, ν. 2354) ein mit Gold besticktes seidenes Meßgewand, das einst die Fee Morgain im Val Perilleus gearbeitet hat, um es ihrem Freund für einen Anzug zu schenken. Erst Guenièvere, die Frau von König Artus, erwarb es später von Kaiser Gassa, um daraus ein Meßgewand fertigen zu lassen. Nachdem sie es lange in ihrer Kapelle benutzt hatte, schenkte sie es Enide bei ihrem Weggang vom Artushof (v. 2355ff.). Vergleicht man nun die vier Opfergaben des neuen Herrscherpaares im Münster von Carnant mit den Insignien des neuen Königspaares im Palast von Nantes, dann fallt nicht bloß die Ähnlichkeit der Ortsnamen ins Auge.48 Auch die einzelnen Gegenstände des kirchlichen Zeremoniells weisen vielfache ,Beziehungsfaden' zu denen des Krönungszeremoniells auf. So finden sich Karfunkelsteine, die durch ihre endogene Leuchtkraft die Nacht zum Tag machen, auch auf den ebenfalls goldenen Kronen, die Erec und Enide am Ende von Artus erhalten. Dabei stimmt überdies die Anzahl der Steine auffällig überein: Befinden sich auf den beiden Kronen der Krönungsszene je vier Karfunkel, so sind auf jedem der vier Arme des Kreuzes im Münster von Carnant zwei Steine angebracht. In beiden Fällen ergibt sich also eine Summe von acht Karfunkelsteinen auf goldenen Herrschaftszeichen, die sich jeweils aus den Faktoren Zwei und Vier zusammensetzen und die numerische Größe des Herrscherpaares auf diese Weise mit der kosmischen Zahl der Welt multiplizieren. 49

47 Mit Edelsteinen besetzte Kreuze werden in der deutschen Literatur des Mittelalters selten beschrieben. ENGELEN 1978, 178 A. 2, verweist aber auf die Braunschweigische Reimchronik, derzufolge Heinrich der Löwe dem Johannes dem Täufer und dem Heiligen Blasius geweihten Gotteshaus ein mit Gold und Edelsteinen reich geschmücktes Kreuz im Wert von tausend Mark gestiftet habe. Vgl. auch LICHTENBERG 1931, 34. 48

Vgl. BEZZOLA 1961, 230.

49 Insgesamt finden sich außerdem vier unterschiedliche Kreuz-Darstellungen in der MünsterSzene: Einmal das Kruzifix über dem Altar, dann das Goldkreuz Konstantins, drittens das darin eingelassene Holzkreuz Christi, dessen Splitter im Sinne der pars pro toio-Repräsentation für das ganze .wahre' Kreuz steht, und viertens schließlich die Gebärde der Bekreuzigung, mit der Enide vom Altar zurücktritt (v. 2379f.).

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Die Vier ist jedoch im Mittelalter nicht nur die Zahl der Welt, sondern auch der Zahlencode für das Kreuz, das wegen der Anzahl seiner Arme ebenfalls auf die Vierzahl ausgelegt und dabei mit den anderen, kosmologischen Vierergruppe in Verbindung gebracht wird. Ebenso wie die Zahl Vier „die mittelalterliche Chiffre für den totus orbis" ist, bezeichnet sie auch „die durch das Kreuz bestimmte Schöpfung, indem die quatuor cornua crusis ,die irdische und göttliche Welt zu einer wunderbaren Einheit verbinden"'. 50 Dabei werden die vier Enden des Kreuzes „auf die Kreuzeshaltung Christi bezogen. Ausgestreckt am Kreuz hängend, hat er die vier Weltgegenden erlöst."51 Genau diese in der Statik des vierteiligen Kreuz-Bildes aufgehobene Urlösangshandlung wird im Text kurz aufgerufen, wenn es heißt, das Gott selbst durch seine Kreuzigung die Menschen aus dem Gefängnis gerettet habe, in dem sie wegen der Sünde gefangen waren, die Adam einst verübt hatte (v. 2328ff.). So kann das Kreuz als Leidenszeichen gesehen werden, das sich aber in dem Moment zu einem Herrschaftszeichen Christi verwandelt, da dieser alle Weltteile und Himmelsrichtungen mit seiner weltumspannenden Erlösimgstat durchdringt.52 Aus dieser Perspektive liest sich das kostbare Kreuz im Münster von Carnant als geistliches, die Heilsgeschichte als Deutungsfolie für den neuen König aufrufendes Herrschaftszeichen, das auf die in der Krönungsszene am Ende des Textes präsentierten weltlichen Herrschaftszeichen vorausweist. Und dabei sind die goldenen Kronen mit ihren Karfunkelsteinen keineswegs die einzigen Bezüge. Die der Vierteilung des Kreuzes nach mittelalterlicher Auffassung entsprechende Vierteilung der Welt spiegelt sich bei Chrétien auch in den vier Arten von Lebewesen auf dem Zepter. Vor allem aber durchdringen auch die vier personifizierten Künste des quadriviums auf dem Mantel die göttlich geordnete Welt und nutzen sie zur Gewinnung von Wissen und Weisheit. Dadurch stellen sie ein ebenfalls performatives Gegen-Bild zu dem in der Form des Kreuzes aufgehobenen Erlösungstat Christi dar. Die .vierarmige', in ihrer Körperlichkeit betonte Figur am Kreuz, die, wie Rathofer formuliert, „über die ganze Welt aufgerichtet wurde und nach Höhe und Tiefe, Länge und Breite alle Örter umspannt", 53 steht hier den vier ebenfalls körperlich-konkreten Figuren auf dem Mantel gegenüber, die durch ihre Tätigkeiten des Messens und

50 BELKIN 1968, 40, RATHOFER 1962 zitierend. Vgl. MEYER/SUNTRUP 1987, 332f.: „Die als orbis quadratus geschaffene viergeteilte' Welt wird durch das vierarmige Kreuz erlöst, so daß in der Erschaflung der Welt die Art der Erlösung schon vorgezeichnet ist". Weiteres Material zu dieser Verkettung 339ffi, 399. - S. Abb. 4. 51 MEYER/SUNTRUP 1987,399. Vgl. BRONDER 1972,200ff. 52 MEYER/SUNTRUP 1987,339f. 53 RATHOFER 1962, 559. Ähnlich BELKIN 1968, 40: „Die irdische Welt, aufgebaut auf dem Ordnungsprinzip der Zahl ,Vier' - mit ihren vier Enden, vier Himmelsrichtungen, vier Winden, vier Elementen, vier Jahreszeiten und den vier Paradiesflüssen - wird zu einer geheiligten Welt, deren Grundlage die vier Enden des Kreuzes, die vier Evangelien und die Kirche sind, die sich in den vier Teilen der Welt sammelt und in die vier Himmelsrichtungen ausbreitet"

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Zählens den harmonisch geordneten Kosmos ebenfalls aktiv durchdringen und umfassen.54 Neben dem Kreuz spiegeln sich noch andere der vier Opfergaben in Carnant in den Insignien von Nantes. Auch der Altar wird in der mittelalterlichen Exegese auf die Vierzahl ausgelegt,55 und die beiden Altäre in Carnant weisen zudem durch ihre Dopplung erkennbar auf die beiden vierbeinigen Thronstühle in Nantes voraus, die von Erec und Enide besessen werden. Dabei sind es dui baron (v. 2348), die Enide an den Altar führen, und später, in der Krönungsszene, werden die Kronen jeweils von deus puceles und deus barons gehalten (v. 6792f.). Die im Münster noch deutlich markierte Differenzierung der Opferstätten nach Christus und der Jungfrau Maria, Mann und Frau, findet sich am Ende, nach gelungener avanture-Fahrt und erfolgtem Ausgleich aller Differenzen innerhalb des Herrscherpaares, aufgehoben in der vollkommenen Identität der beiden von Artus gestifteten Thronstühle. Darüber hinaus deutet das kostbare grüne Tuch, welches Enide im Münster von Carnant stiftet, auf das leuchtende Grün des Zepters voraus, und schließlich kann in dem von einer Fee gearbeiteten Meßgewand unschwer eine weitere Präfiguration von Erees Krönungsgewand gesehen werden. Beide Gewänder stammen von Vertreterinnen der Anderwelt, und in beiden Fällen wird dieser ,magische' Ursprung mittels translatio und .rechtem Gebrauch' eingebunden in die höfisch-christliche Welt. Die liturgischen Geräte, die im Münster von Carnant in Szene gesetzt werden, lassen sich also im einzelnen auf die weltlichen Herrschaftszeichen beziehen, die man im Palast von Nantes betrachten kann. Mit Kreuz und Krone, Altar und Thron, Meßgewand und Herrschermantel, Kirche und Palast werden somit geistliche und weltliche Herrschaftsbereiche mitsamt ihren wohlbekannten Zeichen spiegelbildlich zueinander in Beziehung gesetzt.56 Daß der Schauraum des Münsters und der Schauraum des Artus-Palastes direkt aufeinander bezogen sind, wird aber nicht nur an den einzelnen imagines augenfällig, die in die jeweiligen loci eingestellt sind, sondern auch an der analogen Gestaltung der beiden Szenen. Wenn nämlich Erec als gefeierter Artusritter und frisch verheirateter Königssohn in sein Heimatland zurückkehrt, dann erwartet man wohl, daß er dies tut, um dort die Krone zu übernehmen. Und so wird er 54 In dem seit dem frühen Mittelalter immer wieder zu beobachtenden Versuch, das alte Bild von der viereckigen Welt mit der biblischen Kugelform zu harmonisieren, wird u.a. die Lösung gefunden, die überlieferte Quadratform symbolisch auf das Kreuz hin auszulegen, das entsteht, wenn man die Kardinalpunkte miteinander verbindet: „Das Kreuz, das durch die Verbindung der vier Kardinalpunkte entsteht, ist das Kreuz Christi, nach Länge und Breite, Höhe und Tiefe die vier Dimensionen des Universums umfassend", so BELKIN 1968, 46, die zahlreiche Beispiele für diese oder ähnliche Auffassungen aus der lateinischen und deutschen Literatur des früheren Mittelalters nennt. 55 MEYER/SUNTRUP 1987,334. 56 Vgl. LUTZ 1996,39ff.

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auch in Carnant vom alten König Lac ebenso wie von der Bevölkerung als novel seignor (v. 2315) gefeiert. Außerdem vergleicht ihn der Text mit einem König, wenn es heißt es, daß nie ein roi (ν. 2394) reicher beschenkt worden sei als er. Erec wird also fraglos als Thronfolger empfangen, worauf auch das ausladende kirchliche wie weltliche Zeremoniell hindeutet, aber, wie Uwe Ruberg zurecht feststellt, „von Königstiteln, Krönungsakten oder gar rechtlich vollzogener Herrschaftsbeteiligung redet Chrétien nicht".57 So ist weiterhin von seinem Vater als rois (ν. 2682,2692) die Rede, während Erec filz de roi (ν. 2706; vgl. 3858ff.) bleibt. Hartmann von Aue wird dies in seiner deutschen Bearbeitung ändern, wo Erec bei seiner Rückkehr nach Karnant sogleich Herrscherpflichten und Krone von seinem Vater übertragen bekommt.58 Aufgrund der nicht erfolgten Krönung Erees durch seinen Vater werden nun bei Chrétien die zeremoniellen Szenen in Carnant und Nantes auch handlungslogisch direkt miteinander verbunden. Wenn Artus nämlich Erec in dem Moment an seinem Hof krönt, als sein Vater, König Lac, verstorben ist, vollendet er einen von Beginn an vorgezeichneten Weg zur Königsherrschaft, der in Carnant nur aufgeschoben und danach - durch die dort einsetzende Krise der recreantise - für längere Zeit unterbrochen war. Wird Erec in Carnant als Kronprätendent begrüßt und gefeiert, als „virtueller, potentieller Herrscher"59, so wandelt sich erst bei und durch Artus sein Status zu dem eines regierenden Königs. In Nantes wird somit eine Promotion vollzogen, die in Carnant bereits präfiguriert war, so daß sich beide Szenen unter dem Generalthema ,Königskrönimg' im Sinne von Verheißung und Erfüllung, von novel seignor und novel roi (v. 6797), aufeinander beziehen lassen.60 Der ,kosmologische' Meditationsraum im königlichen Palast von Nantes am Ende des Textes öffnet den Blick des Lesers also nicht nur auf eine geometrisch geordnete Bildergalerie, mit deren Hilfe er den Körper des neuen Königs in ein wissenschaftliches Welt-Bild einordnen und so in der Handlung des Romans zugleich ein umfassendes kosmologisches Koordinatensystem gespiegelt sehen kann. Der geschlossene Raum der Krönungszeremonie geleitet den 57 58 59 60

RUBERÒ 1995,74. Vgl. RUBERÒ 1995,74ff. Barbara Nelson Sargent-Baur, zitiert nach RUBERÒ 1995,74. Wenn die Opfergaben in Carnant also tatsächlich eine Interpolation des Schreibers Guiot sein sollten, dann wäre es zumindest eine außerordentlich gelungene. Im Guiot-Manuskript korrespondiert die textimmanente Bildlichkeit mit einer weiteren räumlich-tektonischen Form des Textes, der mise en page. Die sorgfältig eingerichtete Handschrift, die insgesamt vier (!) Epen Chrétiens enthält, weist offenbar auch im Layout numerische Ordnungsstmkturen auf (HELM 1993, 54). So enthält jede Seite des „Erec" - mit Ausnahme der letzten - drei Spalten zu je 11 Versen. Die letzte Seite umfasst 16 Verse in nur noch einer Spalte. Auch im Schriftbild des Textes begegnet somit die Vierzahl an prominenter Stelle: zweimal in der Ziffer 44, limai pro Spalte und 33mal pro Seite (was addiert wieder 44 ergibt!) sowie viermal auf der letzten Seite. Alle diese numerischen Dimensionen des Schriftbildes - auch die Verszahl pro Seite: 132 kommen mit den Ziffern 1,2,3 und 4 aus, den ersten vier Zahlen also.

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Leser im gleichen Moment auch in einen anderen, ebenfalls architektonisch inszenierten, jedoch ,heilsgeschichtlich' ausgerichteten Meditationsraum im vorderen Teil derselben Erzählung. Vom Artus-Palast in Nantes führt gleichsam ein virtueller Verbindungsgang direkt in die Kirche von Carnant, den der Leser unter Einsatz seines Bildgedächtnisses imaginativ öfihen und durchschreiten kann.

Zwei weitere königliche Schauräume: Die Hochzeit in Cardigan und die Wundheilung in Pointurie Folgt man weiter der retrospektiven, von der Krönungsszene in die vorderen Partien der Erzählung führenden Blickrichtung, dann fallen noch weitere Motivspiegelungen ins Auge. Die .„geometrische' Ebene der Korrespondenzen"61, die sich zwischen einzelnen, über den Text verstreuten Insignien- und Kleinodienbeschreibungen einstellt, ruft vom Ende her nämlich auch Enites erste Einkehr am Artushof in Erinnerung, bei der die ärmlich Bekleidete von der Königin mit einem aufwendig beschriebenen Mantel ausgestattet und überdies von Artus zur .Schönheitskönigin' gekrönt wird. Der Mantel ähnelt zum einen in der Art seiner Verarbeitung dem späteren Krönungsmantel Erees,62 zum andern ist er mit Kreuzen in verschiedenen Farben bestickt. Diese Ornamentik des Gewandes, das als robe croisilliee (v. 1571) beschrieben wird, übersät mit croisetes totes diverses (v. 1599), findet sich im 12. Jahrhundert auch als Wappenzeichen auf Schilden und verweist mithin auf das Kreuz als wichtigstes Schildzeichen des mittelalterlichen Adels, das nicht erst von den Kreuzfahrern .erfunden' wurde, sondern bereits seit der Zeit Kaiser Konstantins Verbreitung fand. 63 So spiegelt sich in dem kostbaren Gewand, das die Königin Guenièvre Enide bei ihrer ersten Einkehr am Artushof stiftet, nicht nur der Mantel des späteren Königs Erec wider, dessen vier artes hier in den vierarmigen Kreuzornamenten vorweggenommen werden, sondern es findet sich darin auch das Kreuz-Motiv bereits vorbereitet, das bald darauf im Münster von Carnant bedeutungsvoll in Szene gesetzt werden wird. Besonders auffallig ist aber nun die Art, wie Enide schon in Cardigan zum erstenmal festlich ,gekrönt' wird, nämlich mit einem Blumenkranz aus Gold (Un cercle d'or ovré a flors\ v. 1639), den ihr deuspuceles aufsetzen, um ihre

61 VON GRAEVENITZ 1992, 238 A. 13. „Gerade die Kleider-, Ausrüstungs- und Kleinodienbeschreibungen, unter denen der Krönungsmantel nur das exponierteste Beispiel ist, erzeugen einen Uberschuß an Korrespondenzen, den die Logik der Episodenstruktur nicht mehr einholt" (237f.). 62 Vgl HART 1981,279f.; CLEMENTE 1992, 73f. 63 BRATJLT 1997, 24. Zur (proto)heraldischen Form croisillié innerhalb der im 12. Jahrhundert großen Bandbreite an heraldischen Kreuzformen vgl. ebd. 153ff. und bes. 159f. mit Fig. 35.

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bereits durch die neuen Kleider hervorgehobene Schönheit noch weiter zu steigern (v. 1639ÊF.). Hand in Hand mit der Königin tritt Enide schließlich vor den König und all die an der Tafel versammelten Artusritter, wo ihr nicht nur die Ehre zuteil wird, zur Rechten des Königs zu sitzen, sondern von diesem auch den Kuß als Preis für die Schönste aller Frauen zu erhalten. Einstimmig sprechen Artus und seine Ritter ihr diesen Preis zu, und zwar „bei Gott und bei seinem Kreuz!", wie es heißt.64 Und wenn Artus weiter ausfuhrt, daß Enides Schönheit so groß sei, daß sie von hier bis zu dem Ort als die Schönste gelten müsse, wo Himmel und Erde zusammenstoßen (ou li ciax et la terre ansanble; ν. 1742),65 dann wird „the ,coronation' of Enide as la plus bele"66 zumindest verbal nicht nur mit dem Heilszeichen des Kreuzes, sondern auch mit den kosmischen Dimensionen in Verbindung gebracht, die am Ende des Textes in Erees Insignien in bildhafter Form manifest werden. Aber auch der am Ende des Romans vor Augen gestellte feierliche Einzug Enides an der Hand der Königin in den Palast von Nantes, wo Artus mit Erec und den andern Rittern bereits wartet, ist erkennbar als Steigerung ihres Einzugs in den Palast von Cardigan konzipiert. Wie dort erhebt sich Artus zu ihrer Begrüßimg, aber anders als in Cardigan macht er ihr in Nantes nun denjenigen Thronstuhl frei, auf dem er selbst zuvor gesessen hat; auch krönt er sie zur Königin und nicht nur zur schönsten Frau, und schließlich ist jetzt auch Erec nicht mehr einer unter vielen Artusrittern - der zweite hinter Gauvain, um genau zu sein (v. 1673) - , sondern der durch seinen Thronstuhl und seine Insignien besonders hervorgehobene neue König von Artus' Gnaden. Die Zeremonie am Artushof zu Cardigan ist also nicht nur über das Kreuzmotiv mit der Prozession in der Lac-Residenz in Carnant verbunden, sondern sie kann unter dem Aspekt ,Adventus und Krönung' als eine weitere Präfiguration der finalen Krönungszeremonie in Nantes gelesen werden. Dies macht auch die Hochzeit des Paares, die auf Wunsch Erees zu Pfingsten am Artushof stattfindet, deutlich. Unter Anwesenheit zahlreicher illustrer Gäste wird das Paar vom Erzbischof von Canterbury gesegnet - die Salbung bei der Krönung wird später der Bischof von Nantes vollziehen. Außerdem bekommt das bis dahin namenlose Mädchen an Erees Seite hier erstmals einen Namen: Ancor ne savoit l 'an son non, mes ore primes le set l'on: Enyde otnon au baptestire. (v. 1977ÍF.)

64 Par Deu, sire, ne par sa croiz, /vos poëz bien jugier par droit, /que ceste la plus bele soit (v. 1778ff.). Das visuelle Kreuzmotiv auf dem Stoff wird so durch die Worte der Augenzeugen reflektiert 65 Vgl. HELM 1993,63ff. 66

MADDOX 1978, 68.

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Man kannte ihren Namen noch nicht, jetzt aber vernahm man ihn zum ersten Mal, bei der Taufe hatte sie den Namen Emde erhalten. Und schließlich wird ausführlich vom Vollzug der Ehe durch Erec und Enide berichtet, die breit dargestellte Hochzeitsnacht verwandelt Enide von einem Mädchen in eine Frau: au matin fu dame novele (v. 2054). Schon hier, im Palast von Cardigan, vollzieht sich also ein Statuswandel, der auf die finale Promotion zum neuen Königspaar vorausweist. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg, der bald durch eine fundamentale Krise im Leben des Paares erschwert wird. Nachdem Erec auch in einem großen Turnier, zu dem sich das Artusgefolge einen Monat später zwischen York und Edinburgh versammelt hat, größte Auszeichnungen erworben hat und in höchstem Ansehen steht (v. 2207ff.), ist für ihn die Zeit gekommen, als Thronfolger in sein Heimatland zurückzugehen. Doch bereits kurz nach seiner Ankunft in der väterlichen Residenz zu Carnant beginnt der novel seignor, seine ritterlichen Pflichten zu vernachlässigen, da er sich nur noch der Liebe zu Enide widmet. Er verliert schnell an Ansehen, und als Enide ihn auf diesen Umstand hinweist, veranlaßt er einen gemeinsamen Ausritt mit seiner Frau, um sein Ansehen wiederherzustellen und ihre Treue einer Prüfung zu unterziehen. Sie reiten in die Wildnis, ohne genaues Ziel, mes en avanture (ν. 2763), wobei Enide, die ihre schönsten Kleider tragen muß, ein striktes Redeverbot auferlegt ist. Eine ganze Reihe von gefahrlichen Situationen meistert das Paar fortan aber nur, weil Enide sich immer wieder aus Sorge um das Leben ihres Mannes über das Verbot hinwegsetzt und Erec warnt, der sich nur dadurch erfolgreich gegen zudringliche Raubritter, Grafen und schließlich den ebenfalls auf avanture befindlichen Irenkönig Givret zur Wehr setzen kann. Dieser fügt ihm aber eine schwere Verwundung zu, die ihn bald darauf in einen todesähnlichen Zustand verfallen läßt, was Enide wiederum so sehr beklagt, daß sie ihrerseits kurz davor ist, sich das Leben zu nehmen. Doch wird auch diese Situation überwunden, und nach Erees Wiedererwachen sowie der Flucht aus Lymors, dem symbolischen Ort des Todes, kommt es zu einer Wiederbegegnung mit König Givret, der seinen Freund Erec gerade noch rechtzeitig erkennt und ihn nach dem Kampf zur Heilung seiner Wunden auf seine Burg Pointurie einlädt. Schon kurz zuvor hatten Erec und Enide sich ausgesöhnt, und dieser neue Zustand der wiedergewonnenen Liebe wird in dem nun folgenden Aufenthalt bei König Givret in einem weiteren königlichen Palast anschaulich in Szene gesetzt. Es ist dies nun die dritte Einkehr bei einem König, die nicht nur Erec und Enide eine Ruhephase nach avanture und ritterlicher Bewährung bietet, sondern auch dem Leser bei seiner Reise durch die lineare Episodenfolge einen Platz zum schauenden Verweilen verschafft. Nach der Hochzeit bei Artus in Cardigan und dem zeremoniellen Empfang bei Lac in Carnant stellt die ,Rast' bei Givret in Pointurie die dritte ,Königsszene' des Textes dar, in der dem

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Textbenutzer ein Schauraum errichtet wird, in dem er angesichts des Zeremoniells und der dabei in Szene gesetzten kostbaren Geschenke über den aktuellen Zustand des Paares auf dem Weg zur Königsherrschaft meditieren kann. Wurde Enide unter der Schirmherrschaft von König Artus in Cardigan zur dame novele an Erees Seite promoviert und in Carnant dann der mittlerweile auch im Turnier ausgezeichnete Erec als novel seignor von Vater und Volk empfangen, so verleiht ihm der von seinem königlichen Freund Givret gestiftete Aufenthalt in Pointurie zur Heilung seiner schweren Wunden nichts weniger als ein neues Leben. Nachdem Givret Erec im nächtlichen Kampf nicht getötet, sondern rechtzeitig erkannt und verschont hat, pflegen ihn die beiden Schwestern des Königs - einmal mehr deus puceles - und versorgen seine Wunden, bis er nach vierzehn Tagen vollständig geheilt ist. Beim Abschied wird Erec sich später bei den puceles für seine Gesundheit und sein Leben bedanken (de sa santé et de sa v/'e; v. 5256). Er wird gebadet und gepflegt und zusammen mit Enide von König Givret schließlich mit prächtigen Kleidern beschenkt, deus robes (v. 5185), die dieser eigens für sie hat anfertigen lassen, den einen mit Hermelin und den anderen mit Buntpelz besetzt. Schließlich ist das neue Leben des Paares nach der Überwindung des symbolischen Todes aber auch eng verbunden mit einer Erneuerung ihrer Liebe.67 In Pointurie sehen wir Erec und Enide endlich wieder in Liebe vereint in einem Bett: Ansanble jurent a un lit (v. 5200). Hatte die Schlafzimmerszene in Cardigan dereinst Enide zur neuen Dame an Erees Seite gemacht, ehe dann später in der Kemenate von Carnant die Liebe überhand nahm und das Bett dem neuen Herrn zum Verhängnis wurde, so zeigt sich die Liebe zwischen Erec und Enide nach dem erfolgreichen Abschluß ihres mühevollen und lebensgefährlichen avanture-Ausútts im Bett auf der Burg Pointurie erneuert und gefestigt: Or ont lor dolor obliee / et lor grant amor afermee (v. 5209f.). Bildlich in Szene gesetzt werden das neues Leben und die neue Liebe des Paares schließlich in dem bereits erwähnten wunderbaren neuen Zelter, den Enide bei der Abfahrt von Pointurie vom König als Ersatz für ihr in Lymors verlorenes Reitpferd erhält. Mit diesem kostbar geschmückten Geschenk wird zum einen ein weiterer spiegelnder Bezug zur Königsszene in Cardigan hergestellt, wo die ärmlich gekleidete Enide von der Königin prächtig ausstaffiert und ihrer Schönheit entsprechend geschmückt wurde. Zum andern weist das Pferd mit seinen sonderbaren vier Farben (rotbraun, schwarz, weiß und grün) auf das vierfarbige Fell der Barbioleten voraus, mit dem Erees Krönungsmantel verbrämt ist. Und schließlich setzt der Text mit der in Elfenbein geschnitzten Bilderzählung von Dido und Eneas auf dem Sattel des Pferdes den neuen Zustand Enides in Bezug zur tragischen Liebe der Dido, wie Chrétien sie von Vergil, vor allem aber aus dem „Roman d'Eneas" gekannt haben dürfte:

67 Vgl. HAUO 1992,96.

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Ii arçon estaient d'ivoire, s 'i fu antailliee l'estoire cornant Eneas vint de Troye, cornant a Cartaige a grant joie Dido an son leu le reçut, cornant Eneas la decçut, cornant eie por lui s'ocist, cornant Eneas puis conquisi Laurente et tote Lonbardie, dom il fu rois tote sa vie. (v. 5289ff.) Die Sattelbögen [waren] aus Elfenbein, und die Schnitzereien zeigten die Geschichte, wie Eneas von Troja anlangte und Dido ihn zu Karthago mit großer Freude in ihrer Stadt empfing, wie er sie dann enttäuschte, wie sie sich seinetwegen tötete und wie Eneas Laurente und die ganze Lombardei eroberte, über die er fur den Rest seines Lebens als König herrschte.

Didos im Selbstmord endende Liebe zu Eneas, dem späteren König (row!), steht im Zentrum dieser Bilddarstellung, für deren Verfertigung ein bretonischer Meister (tailliere) sieben Jahre gebraucht hat (v. 530 Iff.). Dem Leser wird damit ein aus der matière de Rome bezogenes, tragisches Vor-Bild vor Augen gestellt, das von den Protagonisten des neuen Romans der matière de Bretagne überwunden wird.68 Denn während Didos unglückliche Liebe zu Eneas sich nicht mit ihrer Herrschaft harmonisieren ließ und schließlich mit ihrem Freitod endete, hat Enide genau diese Konsequenz in Lymors zwar ebenfalls angedacht - auch sie will sich mit dem Schwert ihres Mannes töten (v. 4632fif.) - , aber dann eben doch nicht ausgeführt. Während Dido also an ihrer tragischen Minne zugrunde geht und Eneas in einem anderen Land und an der Seite einer anderen Frau König wird, überwinden Erec und Enide ihre existenzielle Krise und finden zueinander und zu einer neuen Liebe zurück. So wird das Faktum des Todes, das der mittelalterliche „Roman d'Eneas" mit seinen spektakulären Grabbauten so eindrucksvoll ekphrastisch in Szene gesetzt hat, in der neuen Gattung des Artusromans aufgerufen und zugleich in einen symbolischen Durchgang durch ein todesähnliches Stadium umgewandelt, an dessen Ende ein neues Leben mit einer erneuerten, geläuterten Liebe zwischen denselben Personen steht, die auch zuvor schon einander gehörten.69

68 Nach CLEMENTE 1992, 71, geht es darum „to consider Enide in terms of Dido and Lavinie". Vgl. W r m o 1970 und WETHERBEE 1972,236ff. 69 „Enide is, in a sense, the Lavinia as well as the Dido of Erec's career" (WETHERBEE 1972, 237). Vgl. KELLY 1999, 196ff.

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Die pictura der Krönungsszene als Eingangsportal zum geometrischen Schauraum des Textes Wenn nun der Weg von Pointurie über eine letzte avanture, die von Erec durch einen letzten ritterlichen Zweikampf wiederherzustellende Joie de la Cour in Brandigant, zurück zum Artushof führt, dann läßt sich festhalten, daß der lange Weg des jungen Ritters zur Königskrönung von drei anderen Königen begleitet wird, die jeweils in einem besonders engen Verhältnis zu ihm stehen und an deren Höfen er sich mit Enide längere Zeit aufhält. Da ist erstens König Artus, der .Ausbilder' und spätere Lehnsherr Erees, der ihn in Cardigan mit Enide verheiratet; da ist zweitens König Lac, der Vater Erees, der seinen Sohn nach der Hochzeit am Artushof als designierten Thronfolger im Heimatland SüdWales empfangt; und da ist drittens schließlich der Irenkönig Givret, der ritterliche Kontrahent und Freund Erees, der ihm im Kampf das Leben schenkt und ihm auf seiner Burg durch die Heilung seiner Wunden zu einer Erneuerung seiner Liebe zu Enide verhilft. Alle drei Königsszenen fungieren dabei als ausgedehnte Zwischenstationen auf dem Weg der Protagonisten, als repräsentative Ruhephasen zwischen den Abenteuersequenzen, und markieren jeweils eine wichtige Investitur bzw. einen Statuswandel des Heldenpaares, der visuell vor allem über den Austausch signifikanter Gegenstände dargestellt wird.70 Über Motivspiegelungen sind diese drei architektonisch gerahmten Königsszenen untereinander vernetzt, so daß der Leser sich beim Eintritt in den einen zugleich an die anderen, vorausgegangenen Schauräume erinnern kann. Und gemeinsam ist ihnen vor allem, daß sie eine weitere, die vierte und letzte Königsszene des Romans vorbereiten, nämlich die Schlußkrönung Erees in Nantes. Der Weg Erees zur Krone nimmt vor diesem Hintergrund selbst eine vierteilige Struktur an, indem er den Leser über vier signifikante Orte führt. Nach dem Erwerb Enides als novele dame in Cardigan (1) und dem Empfang als novel seignor in Carnant (2) muß Erec nach der Krise seiner Herrschaftsfähigkeit erst in Pointurie (3) zu einem neuen Menschen werden, ehe er von Artus in Nantes (4) zum novel roi (v. 6797) gekrönt werden kann. Vor jeder dieser vier 70 Darin unterscheiden sie sich grundlegend von der Begegnung mit König Evrain auf der Burg Brandigant, einer weiteren Königsszene des Romans - der einzigen übrigens, in der die bauliche Anlage der Burg eingehender beschrieben wird (v. 5322ff.). Hier erhält das Paar keine Geschenke vom König, und es findet auch keine Art von Investitur oder Initiation statt. Die Episode gehört vielmehr dem Bereich der ritterlichen Bewährung an, denn Erec muß den Hof befreien und so seine Freude wiederherstellen. Darin weist die Episode Analogien zum Sperberkampf ebenso auf wie auch zum Turnier bei Edinburgh, wo Erec nach seiner Hochzeit seine Herrschaftstauglichkeit in einem öffentlich Schaukampf unter Beweis stellen mußte, ehe er als novel seignor nach Carnant zurückkehren konnte. In Brandigant muß Erec sein in Pointurie erhaltenes neues Leben im ritterlichen Zweikampf unter Beweis stellen, ehe er zum neuen König gekrönt werden kann.

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zeremoniellen Initiationsakte in königlichen Palästen und Kirchen findet sich jeweils eine Phase der ritterlichen Bewährung, in der die Voraussetzungen für den nachfolgenden Statuswandel von Erec im Kampf erst erworben werden müssen. Der Sperberkampf und die damit verbundene Wiederherstellung seines eingangs verletzten Ansehens ist die Voraussetzung für die Hochzeit mit Enide am Artushof ( 1); das Turnier bei Edinburgh mit der dabei akkumulierten Ehre führt ihn auf einen Höhepunkt seines gesellschaftlichen Ansehens, signalisiert somit das Ende seiner .Ausbildung' bei Artus und erlaubt ihm die Rückkehr als Thronfolger nach Carnant (2); der gemeinsam mit Enide unternommene avanture-kasúti nach der recreantise und die dabei gemeinsam durchlittenen, am Ende jedoch erfolgreich bewältigten todesnahen Situationen schaffen die Voraussetzung für die Heilung und Erneuerung ihres beschädigten Lebens in Pointurie (3); und die Βrandigant-ovaníun; mit ihrer Erlösung eines der Trauer verfallenen königlichen Hofes stellt abschließend den gesellschaftlichen Nutzen des,geheilten' Erec unter Beweis, der mitMaboagrin einen sich von der Gesellschaft separierenden Ritter auf den rechten Weg zurückführt, der denselben Fehler macht, den er selbst einst mit Enide beging. Mit dieser uneigennützigen ritterlichen Erlösungstat erbringt Erec die nötige Voraussetzung, um selbst zum König erhoben zu werden (4). Die Krönungsszene am Ende des Textes läßt somit nicht nur am Körper des neuen Königs die bekannte Kosmos-Bildformel aufscheinen, in der der durch das Kreuz gezeichnete neue Mensch (Christus) in der Welt auf den göttlichen Herrscher außerhalb der Welt abgebildet wird, der den kreisförmigen Kosmos in seinen Händen hält. Sie fungiert in ihrer herausgehobenen Position als letzte von vier Königsszenen darüber hinaus auch als eine Art Eingangsportal in den geometrisch angelegten Handlungsraum des Romans. Durch die ebenso unwahrscheinliche wie aufdringliche Häufung der Vierzahl aufmerksam geworden, vermag der Leser von hier aus die drei anderen königlichen Schauräume zu betreten, um auf diese Weise retrospektiv zugleich die viergliederige Struktur der gesamten, überdies zyklisch angelegten Erzählung - sie beginnt und endet am Artushof - zu erkennen. Erst das Schlußbild liefert also den numerischen Code, die Schlüsselzahl Vier, deren kosmische Tektonik den Roman als ein nach geometrischen Prinzipien erbautes ,Textgebäude' wahrnehmbar werden läßt. Mit Hilfe der vier untereinander vernetzten Königsszenen, die jeweils ein Entwicklungsstadium des neuen Herrscherpaares architektonisch-zeremoniell markieren, wird das umfangreiche Wortkunstwerk von seinem Ende her einer räumlichen Imagination zugänglich gemacht. Ist der Leser erst auf diese kosmische Tektonik des Romans aufmerksam geworden, so kann er, orientiert an den loci der vier königlichen Schauräume und den in sie eingestellten imagines, den gesamten Roman samt seinen zentralen Bedeutungsdimensionen topographisch memorieren und auf diese Weise in seinem Gedächtnis immer wieder durchwandern.

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Die Rede vom Durchwandern des Textes ist dabei keine nur modernistische, etwa der Raummetaphorik des Cyberspace entliehene Bildlichkeit, und man braucht zu ihrer Rechtfertigung nicht einmal die alte, mit der rhetorischen Übung der ekphrasis schon in der Antike eng verbundene Vorstellung des sprachlichen ,Herumführens' (periegematikos) zu bemühen. Sie findet sich vielmehr im Denken der Zeit selbst. Der Benediktiner Peter von Celle etwa beschreibt in seinem Traktat „De afflictione et lectione" das votbildliche Lesen der Heiligen Schrift im 12. Jahrhundert als ein eben solches .Wandern' durch die ,Orte' ihrer Handlung (236,24ff.). So wird die Genesis zu einer Landkarte, das Lesen zu einer virtuellen Reise, „a sight-seeing pilgrimage":71 Zuerst kommt man ins Paradies, später betritt man die Arche, beobachtet und betrauert den Exodus, sieht, wie Moses die Gesetzestafel auf dem Berg Sinai erhält, und baut schließlich im Geist das Tabernakel mit all seinen Zeremonien nach, so wie man es im Text gesehen hat. Dabei wird der Leser nicht nur ständig aufgefordert, zu ,gehen', zu ,betreten' oder zu .reisen', sondern auch zu .berühren', zu .fühlen' und zu .hören'. 72 Dabei variiert die Geschwindigkeit der virtuellen Reise durch den Text, denn mal gilt es zu verweilen und dunkle Passagen zu interpretieren, dann wieder das Tempo zu beschleunigen, um das Klare und Eindeutige zusammenzulesen. „Thus one ,sees' one's reading", so Maiy Carruthers, „and one .walks' through it, not just to store it away conveniently and safely, in order to be able to reconstruct it as it was, but also in order to meditate on it, digest it, interpret it, and make it fully useful, ethically and compositionally. A reader is constantly in motion, all senses continually in play, slowing down and speeding up, like a craftsman using his various instruments."73

Der neue Romanheld als neuer König und neuer Mensch oder die Spiegelung der Heilsgeschichte im Artusroman Wenn der Leser sich am Schluß von Chrétiens Artusroman nun wie der von Peter von Celle konzipierte Leser der Genesis im Palast von Nantes um den neuen König auf seinem Thron herumbewegt und ihn von allen Seiten betrachtet, dann kann er - am Ende seiner,Lesereise' angekommen - mit Hilfe seines Gedächtnisses weit mehr sehen, als er unmittelbar vor Augen hat. Unter Verwendung seiner bei der Lektüre gesammelten Eindrücke sieht er in den Kronen zugleich das goldene Kreuz, sieht er im Krönungsmantel das Meßgewand und in den Thronstühlen die Altäre, sieht er aber auch Enide mit goldenem Haar71 CARRUTHERS 1998, 109ff., Zitat 109. Dort auch Abdruck und englische Obersetzung der Textstelle (110 und 310). 72

CARRUTHERS 1 9 9 8 , 1 0 9 .

73

CARRUTHERS 1 9 9 8 , 1 1 0 .

j^g

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kränz und Mantel mit Kreuzornamenten an der Hand Guenièvres den Palast betreten. Er sieht sie auf dem wunderbaren vierfaibigen Zelter reiten, er sieht das Paar nicht nur auf den Thronstühlen, sondern auch in den königlichen Schlafzimmern von Cardigan, Carnant und Pointurie. Daß es bei diesem vergleichenden Zusammenlesen verschiedener Bilder und Gegenstände aus den unterschiedlichen Schauräumen des Textes vor allem darum geht, weltliche und geistliche Herrschaftsfelder einander zuzuordnen, wird schon daran deutlich, daß Artus die Krönung des Paares gemeinsam mit dem Bischof von Nantes vornimmt. Weltliches und geistliches Oberhaupt fügen so am Körper des neuen Königs „die Beschreibungen der Gegenstände selbst zu .einem Bild der Welt' zusammen".74 Nach der Krönimg geht man zur Messe, wo man - wie einst in Carnant von einer Prozession der Geistlichen empfangen wird. Vor allem aber ist es bedeutsam, daß die Krönungszeremonie zu Weihnachten stattfindet, denn dadurch wird die Promotion des romaninternen neuen Menschen Erec zum König in eine Perspektive der imitatio Christi gerückt und mit der Geburt des homo novus in der ,großen' Welt-Heilsgeschichte korreliert. Inmitten der neuen, auf den ersten Blick profanen Erzählung vom Königssohn Erec .findet' der Leser somit, verstreut über verschiedene Orte des Textes und jeweils konzentriert in den königlichen Schauräumen, eine Vielzahl von Bildern und symbolischen Gegenständen, mit deren Hilfe er - im Sinne der topischen inventio eine andere, ihm wohlbekannte Erzählung komponieren kann, nämlich die Heilsgeschichte der Menschheit. Angefangen von der paradiesischen UrOrdnung des mundus triplex mit den drei Gattungen von Tieren sowie dem Menschen (auf dem grünen Zepter), über die Sünde Adams, von der erst Christus die Menschen durch seine Marter erlösen wird (der Splitter des ,wahren' Kreuzes), die Translation von Reich und chevalerie des aus Troja stammenden Zivilisationsgründers roi Eneas mit der noch unvollkommenen und tragisch endenden Liebe zu Dido (Enides Sattel), die Geburt des Heilands (Weihnachten als Termin der Krönungsszene), die Taufe als neuer Initiationsritus der Menschen, die sich zu Christus bekennen und seinen Namen tragen (Enides Namensgebung vor der Hochzeit), die Auferstehung Christi (der Ostertag, an dem die Handlung einsetzt), die Ausschüttung des Heiligen Geistes (Pfingsten als Termin des Turniers bei Edinburgh), Kaiser Konstantin, den ersten christlichen Herrscher, der das Erlösungszeichen des Kreuzes in ein Herrschaftszeichen verwandelt (das Gold-Kreuz), bis hin zum novel roi am Artushof läßt sich diese Geschichte ausspannen. Erees Herrschaft wird durch sie „als Erneuerung

74 LUTZ 1996, 44, der jedoch das Kreuz dabei nicht berücksichtigt. „Insofern greifen schon bei Chrétien weit auseinanderliegende Bilder ineinander: Zwischen dem Meßgewand, das Emde im Rahmen des Adventus im Reich Lacs gestiftet hat, und dem Krönungsmantel Erees, zwischen der vorläufigen und der endgültigen Überhöhung des Paares, spannt sich der Bogen der Eizählung".

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(und Vollendung) der mit ,roi' (wie Erec!) Konstantin beginnenden christlichen Herrschaft" markiert, „die über die (in der Reliquie .gegenwärtige') Kreuzauffindung durch Konstantin unmittelbar an Tod und Erlösungstat Christi als die große heilsgeschichtliche Wende anschließt und über sie auf den Beginn der Geschichte, auf den ,vetus' Adam zurückweist."75 All diese Handlungs- und Bildfaden werden in dem prunkvollen Schlußbild der Königskrönung zusammengeführt und können vom Leser von dort aus unter Einsatz seiner Erinnerung zusammengelesen und meditativ ausgekostet werden.76 Von zentraler Bedeutung ist dabei die Vierzahl, mit deren Hilfe Chrétien seinem Roman einen „heilsgeschichtlichen Weltnexus"77 einbaut, der die kosmische Beschaffenheit der Welt mit ihrer heilsgeschichtlichen Durchdringung in eins setzt und so den Gegensatz von Weltlichem und Geistlichem, Raum und Zeit, Erschaffung und Erlösung, Anfang und Ende auflöst. Lineare Zeitlichkeit wird in zyklisch erneuerte Gegenwärtigkeit überführt, und so beginnt und endet die Handlung nicht nur am Artushof, sondern das Romanende zu Weihnachten, dem Geburtstag Christi, fallt überdies mit dem Romananfang zu Ostern, dem Tag seiner Auferstehung, zusammen. Angesichts dieser den gesamten Roman unterfütteraden, vom Leser meditativ zu komponierenden Meta-Erzählung der Heilsgeschichte ist dann auch der Umstand nicht mehr so irritierend, daß das Bild des Kosmokrators ausgerechnet einem Menschen auf den Leib projiziert wird, der selbst lediglich ein Vasall des Großkönigs Artus ist. Das seltsame Mißverhältnis zwischen dem untergeordneten Status und seiner Inszenierung als christusähnlicher Weltenherrscher läßt sich nämlich auflösen, wenn man den neuen König der neuen Romangattung nicht (nur) als ,historisches' Individuum versteht, sondern (zugleich auch) als Typus des neuen Menschen. Sein .kleiner' Weg zur Königskrone ist so angelegt, daß der Textbenutzer in ihm zugleich zeichenhaft den .großen', überindividuellen Gang der Heilsgeschichte aufgehoben findet. Das beginnt schon mit dem Namen des Helden in Chrétiens mikrokosmischer (Roman-)Schöpfung, EREC, der in seinen Bestandteilen - vier Buchsta75

LUTZ 1 9 9 6 , 4 0 A. 110.

76 Auf vergleichbare visuelle Mnemotechniken in illiteralen Gesellschaften verweist GOODY 2000, 30f., der mit dem goldenen Thronstuhl der Asante sogar ein Beispiel anführt, das der textgestützten Mnemonik Chrétiens verblüffend nahe kommt Bei den Asante gibt es einen .Sprecher', der die Aufgabe hat, die Geschichte der Gemeinschaft zu erinnern und zu erzählen. Er tut dies, indem er meditierend den vielfach verzierten Thronstuhl der Häuptlinge betrachtet „He is the one who knows the history of the chiefdom's stool, or throne, which he recounts on ceremonial occasions. Its history is largely a dynastic one, and of this he is reminded by the blackened stool each king leaves behind as an ancestral shrine to which sacrifices can be made. Associated with the stool may be various objects linked to events that took place during the reign of that king. Together with the marks on the shrine, including the remnants of the sacrifices that have been performed there, these objects give the Spokesman mnemonic clues about the history itself." Für den Hinweis danke ich Carsten Morsch. 77

MAURMANN 1 9 7 6 , 1 9 1 .

Der gespiegelte Kosmos im Text 150 ben, davon zwei identische Vokale und zwei unterschiedliche Konsonanten wohl nicht zufällig dem Namen des Menschen in Gottes .großer' Schöpfung verblüffend ähnlich ist: ADAM, in dessen vier Buchstaben man im Mittelalter im Sinne einer universalen „Mensch-Welt-Formel" die vier Weltgegenden repräsentiert sah.78 Diesem .Menschen' EREC wird in der paradiesischen ,Welt' des Artushofes zuerst eine Frau an die Seite gestellt, die schönste, die Nature (ν. 1652) je geschaffen hat und die erst anläßlich ihrer Hochzeit vom Romanschöpfer einen Namen bekommt: ENIDE. Diese novele dame ist es dann, die durch ihre Schönheit die Krise der recreantise auslöst, den Abfall des,Menschen' Erec vom Gebot derritterlich-herrschaftlichenLebensführung. Dieser Sündenfall des zukünftigen Herrschers muß erst durch eine entbehrungsreiche und leidvolle gemeinsame Ausfahrt in das Reich des Todes, Lymors, gebüßt und vergolten werden, ehe mit der Auferstehimg Erees von den Toten, in Szene gesetzt mit seiner Heilung und Waschung durch zwei Frauen, die Erneuerung des ,alten Menschen' zu einem ,neuen Menschen' zu beobachen ist. Dieser ,neue' Erec präsentiert sich fortan als mutiger und selbstloser Erlöser in Brandigant, um nach seiner Rückkehr zum Artushof schließlich genau am Weihnachtstag - und zwar in Vertretung seines Vaters! als christusgleicher Kosmokrator-König ins Bild gesetzt zu werden. Mit dem Erscheinen des neuen Menschen ist das Bild Gottes am Schluß des Romans wiederhergestellt. Im neuen König Erec, dessen Leidensgeschichte am Ende zum Heil in der Welt geführt hat, scheint zugleich der ,ewige König' Christus durch, der über die Welt und den Kosmos herrscht.79

Der Weltenmantel, die conjointure und Chrétiens ekphrastische Antwort auf den Antikenroman Chrétiens ,sehr schöne Verbindung' ist nach dem Gesagten nicht zuletzt darin zu sehen, daß der Leser in den Schauräumen seiner profanen Artuserzählung Stück für Stück die heilsgeschichtlich fundierte Erzählung von der Erschaffung eines neuen Menschen auffinden und am Ende vollständig zusammenlesen kann, wie sie zur gleichen Zeit in den gelehrten Diskursen im Umkreis der 78 S. BRONDER 1972, 199. Vgl. MAURMANN 1976, 192. 79 LUTRELL 1974, 76f.; HURST 1979, 58. Während hierzulande einseitig die Fiktionalitätsproblematik des Textes diskutiert wird, stellt vor allem die anglo-amerikanische Forschung Chrétiens „Erec und Enide" - „by far the most bookish of Chrétiens works" (WETHERBEE 1972, 26) - stärker in den Kontext der lateinischen Epen eines Alanus ab Insulis oder Johannes de Hauvilla, in denen ebenfalls die Schaffung eines novus homo durch Natura im Verein mit den Artes im Mittelpunkt steht. S. dazu die konzise Skizze von HURST 1979 und die ausführliche „Erec"-Interpretation des Romans auf dieser Folie durch LUTRELL 1974 sowie WETHERBEE 1972, 220ff. Zu den möglichen Umständen der Entstehung des Romans im Umfeld Heinrichs II. s. TopsFIELD 1981,57ffi, und SCHMOLKE-HASSELMANN 1981,241ff.

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Schule von Chartres virulent war. Durch eine meisterhafte Verknüpfimg von Erzählung, Kunstbeschreibungen und Zahlen zu einem wohlgeordneten Ganzen wird der Roman dabei in ein dreidimensionales, geometrisch geordnetes Text-Gebäude überführt, das topographisch zu imaginieren und im Gedächtnis zu verankern ist. Damit überwindet Chrétien gleich in zweifacher Hinsicht die Defizite der mündlichen Erzählungen von Erec und bringt diese in eine dauerhafte Form, die sie auch für das kulturelle Gedächtnis der Christenheit informativ erscheinen läßt. War der „Roman d'Eneas" wie die anderen Antikenepen schon von seinem Stoff her ein legitimer Gegenstand der Memoria und des schriftlichen Erzählens, so muß die matière de Bretagne erst durch eine besondere Formgebung literaturfähig gemacht werden. Insofern kann in der heilsgeschichtlich-kosmologischen Unterfütterung der Erec-Geschichte wohl nicht zuletzt eine Art,Immunsystem' des Artusstoffes gesehen werden, das ihn gegen potentielle Kritik aus den Reihen der Geistlichkeit schützen soll.80 In diese Richtung weist mm auch eine in jüngerer Zeit favorisierte Auslegung des Macrobius-Zitats (v. 6738, 6741) der Mantelbeschreibung auf das von diesem entworfene Konzept der narratio fabulosa,81 Geht man davon aus, daß Macrobius damit nicht zuletzt „das scheinbar mißgestaltete Zusammensetzen von wahrheitsorientiertem Philosophieren und phantasiegelenkter Erfindung in einem Text" reflektiert, dann läßt sich der Mantel des neuen Königs mit Gerhart von Graevenitz auch als poetologisches Bild für die oben herausgearbeitete .Zusammensetzung' des Romans lesen. Indem er Chrétiens Begriffserfindung der conjointure auf Macrobius' Schlüsselterminus der contextio bezieht, liest von Graevenitz die Synthese des Mantels aus arfes-Stoff und Barbioleten-Pelz als textiles Bild für die ,Zusammengesetztheit' des Textes aus relevantem philosophischen' und niederem .poetischen Gewebe' und deutet die Stelle so als eine ekphrastische „Selbstthematisierung und Selbstinszenierung von Literatur": „die Beschreibung der vier macrobischen Künste des Zählens und Messens zitiert die ontologische contextio. Doch erst zusammengenäht mit dem Pelzwerk wird aus dem .philosophischen' Stoff ein Mantel, der den König einkleiden kann. Erst zusammen mit der .niederen' contextio der contrefeites bestes wird das philosophische Gewebe zum velamen,"82 Mit der Wahl einer gewebten Kosmosdarstellung am Körper des neuen Königs zielt Chrétien aber nicht nur auf die textile Metaphorik der Integumentum-Theorie seiner Zeit, sondern er ruft überdies eine uralte Tradition stoff80

L U T Z 1 9 9 6 , 4 6 , sieht die Ekphrasen im Kontext von „Chrétiens Bemühen um die Legitimierung seines neuen Romans". Ähnlich H U R S T 1 9 7 9 , 6 5 : „Chrétien verifies his poetic representation in sacramental as well as mythographic terms, and vindicates the claim of the Arthurian romance to full literary status."

81

V O N GRAEVENTTZ 1 9 9 2 , H A U P T 1 9 9 9 .

82

V O N G R A E V E N I T Z 1 9 9 2 , 2 3 7 , die vorhergehenden Zitate 2 3 4 und 2 3 2 . Sein Hinweis, daß die gesamte platonische Rhetorik der (poetischen) Verhüllung und Verschleierung (integumentum) von (philosophischer) Wahrheit mit Textilmetaphern operiert, stützt diese Lesart.

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licher Welt-Bilder auf, die weit in die Antike zurückreicht und von Robert Eisler unter dem Titel „Weltenmantel und Himmelszelt" grundlegend aufgearbeitet worden ist.83 Eisler zeigt, daß die sowohl kultische wie herrschaftliche Verwendung von textilen Welt-Darstellungen in nahezu allen frühen Hochkulturen eine wichtige Rolle spielt und noch in den , Sternenmänteln' mittelalterlicher Könige zu fassen ist. Ein solcher Mantel Kaiser Heinrichs II. (10141020) ist noch heute im Diözesanmuseum in Bamberg zu betrachten, auf dem in einer DESCRIPCIO TOCIUS ORBIC, wie es in eingestickten Buchstaben heißt, der von Christus regierte Weltkreis dargestellt ist.84 In der Mitte des Mantels sieht man die göttliche Majestas als A und Ω zwischen den Evangelistensymbolen, zwischen Cherubim und Seraphim, umgeben von Maria und Johannes dem Täufer sowie vielen Heiligen, aber auch von dem gesamten Firmament mit 43 Planeten und Sternenkonstellationen, jeweils begleitet von Beischriften. Eine durch ungeschickte Restaurierung heute leicht verstümmelte Inschrift läßt außerdem das Anliegen des Stifters erkennen: O DECUS EUROPAE, CESAR HENRICE, BEARE AUGEAT IMPERIUM TIBI REX QUI REGNAT IN EVUM. Peter Dronke hat nun diesen kaiserlichen Kosmos-Mantel nicht nur mit Erees Umhang in Verbindung gebracht, sondern auch mit dem anderen großen Weltenmantel' in der Literatur des 12. Jahrhunderts, nämlich dem Kleid der Natura im „Planctus Naturae" des Alanus ab Insulis.85 In diesem etwa zur gleichen Zeit wie Chrétiens „Erec et Enide" entstandenen allegorischen Epos begegnet die personifizierte Natur dem Erzähler in einer Traumvision, klagend über die Verderbnis des ,alten' Menschen und im Inbegriff, einen .neuen' Menschen zu schaffen. Dabei sind auf ihrem selbstgenähten Gewand in verschiedenen Stoffschichten alle Lebewesen des Kosmos, die Elemente samt Planeten und Tierkreiszeichen abgebildet (II, Iff.).86 Inwieweit nun der äußerst einflußreiche Weltenmantel der Natura bei Alanus als Vorbild für Chrétiens Krönungsmantel in Anspruch genommen werden kann, läßt sich kaum sicher feststellen.87 Er zeigt aber, daß das uralte Motiv des gewebten Welt-Bildes im 12. Jahrhundert 83

EISLER 1910. Vgl. GOTHEIN 1906, VON ALBRECHT 1972, GRUZELIER, K o m m e n t a r z u r C l a u -

dianus-Ausgabe, 142. 84 Abbildungen und Erläuterungen bei VON PÔLNITZ 1973. 85 DRONKE, Einleitung zur „Cosmographia"-Ausgabe, 26ff. Vgl. EISLER 1910, 6ff., und HAUPT 1999,583.

86 Das Motiv der Natur, die ein von ihr selbst gewebtes Bild der Welt auf ihrem Körper trägt „der Gottheit lebendiges Kleid", wie es noch im „Faust" heißt (vgl. GOTHEIN 1906) - , ist dem orphischen Mythos des Weltengewebes so ähnlich, daß ELSLER 1910, 229 A. 2, meint, ,,[d]ie Annahme einer spätorphischen Vorlage - etwa einer verlorenen Dichtung des Claudian - für diese Schilderung" des Alanus lasse sich „kaum vermeiden". Zu den konkreten Quellen RATKOWITSCH 1991, 215, und GOTHEIN 1906, 346. Zur Wirkung der Natura des Alanus vgl. KRAYER 1960, 23ff., 49fif„ und HUBER 1988. - Ich komme auf das Kleid der Natura noch zurück. 87 S. die Diskussion bei LTJTREIX 1974,3ff.

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unter dem Einfluß der kosmologischen Renaissance von Chartres reaktiviert und mit der antiken Ekphrasis-Tradition kurzgeschlossen wird. Damit ist ein poetisches Verfahren gewonnen, mit dem sich der .große' Kosmos der Welt im .kleinen' Kosmos des Wortkunstwerks widerspiegeln läßt. Auf diese Weise wird es möglich, dem literarischen Werk die Aura einer mikrokosmischen Analogie zur göttlichen Schöpfung zuteil werden zu lassen, wovon Chrétien, wie gesehen, durchaus selbstbewußt Gebrauch macht.88 Weit deutlicher als der Bezug auf Alanus scheint mir nun aber zu sein, daß Chrétien für seine Krönungsszene wichtige Vorbilder aus den volkssprachigen Antikenepen übernimmt und sie in seinem Schlußbild neu zusammensetzt. Die Darstellungen der sieben personifizierten artes auf dem Streitwagen des Amphiaras im „Roman de Thèbes" sind bereits erwähnt worden, ebenso Camillas wunderbarer bunter Zelter und ihr von drei Feen gewebter Purpurmantel mit dem mundus triplex-Motiv im „Roman d'Eneas". In dem smaragdgrünen Zepter spiegelt sich aber auch der grüne Edelsteinsarg des Pallas, und diesem war ebenfalls von drei Feen ein Kleid gefertigt worden - nämlich ein Totengewand (v. 6394).89 Hinzu kommt, daß der Barbioleten-Pelzbesatz von Erees Mantel nicht nur die Verbrämung des Camilla-Mantels, sondern außerdem den spektakulären Umhang der Briseïda aus dem „Roman de Troie" aufruft, der von dem Wundertier dindialos stammt, das im Orient von hundsköpfigen Menschen gefangen wird und unbeschreiblich schöne Farben aufweist (v. 13364ff.).90 Indem Chrétien nun die Ekphrasen des Orientalisch-Wunderbaren der,alten' Romangattung aufnimmt, um sie zu modifizieren und den Protagonisten seines , neuen' Romans zuzuordnen, nutzt er diese picturae zugleich als Orte der poetologischen Auseinandersetzung mit der bis dato vorherrschenden, nun aber zu überwindenden matière de Rome. Er praktiziert dabei eine Technik des imitierenden und zugleich modifizierenden „rewriting", die, wie Douglas Kelly gezeigt hat, insbesondere von Macrobius in den Büchern IV bis VI seiner „Saturnalia" entwickelt worden ist und für die Kunst des mittelalterlichen Adaptierens von großer Bedeutung zu sein scheint.91 Da der spätantike Autor das Aufnehmen und Überschreiben vorgefundener Stoffe im Rahmen der topischen inventio unter dem Schlüsselbegriff der descriptio faßt, kann Kelly eine weitere Erklärung für Chrétiens umrätseltes Macrobius-Zitat vorlegen: Wenn er sich bei der Schilderung von Erees Krönungsmantel explizit auf Macrobius als seinen Lehrer beruft, der ihm das kunstvolle Beschreiben (descrivre; v.

88 Zu der in diesem Zusammenhang - etwa bei Bernardus Silvestris - aufkommenden Konzeption des Dichters als Schöpfer s. FlNCKH 1999, 150ff. 89 HAUPT 1999, 578 A. 90 (zum Sarg) und 568 A. 42 (zum Totengewand). 90 HAUPT 1999, 569f., OKKEN 1993,186. 91 KELLY 1999.

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6741) beigebracht habe, dann sei damit nichts anderes als eben jene Theorie 92

der adaptierenden descriptio gemeint. Eine solche umarbeitende Beschreibung, die imitatio und emulatio zugleich ist, liegt nun offenkundig vor, wenn Chrétien aus den drei Feen und Lebewesen des „Roman d'Eneas" und den sieben Künsten des „Roman de Thèbes" vier Feen, vier Lebewesen und vier artes auf Erees Mantel modelliert. Dies kann als poetologischer Hinweis darauf gelesen werden, daß Chrétien den ,alten' Romantyp in eine neue, nach der Tektonik des christlichen Kosmos gearbeitete Form zu bringen gedenkt. Daß er genau an dieser Stelle auf Macrobius und dessen Kunst der umdeutenden descriptio verweist, unterstreicht zusätzlich die poetologische Aussagekraft der Ekphrasis. Der Umbau der Kunstbeschreibungen zielt nun vor allem auf eine Ersetzung der todgeweihten Nebenfiguren des Antikenromans durch die ein neues Leben gewinnenden Hauptfiguren des Artusromans. Die bildhaft ausgezeichneten Figuren der matière de Rome waren, wie gesehen, zumeist Randfiguren des Geschehens, mächtige, bisweilen auch magisch konnotierte Gestalten, deren Herrschafts- und Lebenswandel Staunen erregen sollte, die nicht zuletzt durch ihre wunderbaren Bild- und Bauwerke aber immer auch in die Nähe des Hyperbolischen und Hybriden gerückt wurden. Im Hinblick auf die Camilla des „Roman d'Eneas" ist dies oben detailliert aufgezeigt worden, und für den Priester und Magier Amphiaras im „Roman de Thèbes" ließe sich ähnliches darlegen. Er ist ein großer Gelehrter und Zauberer, der die Geheimnisse des Himmels kennt, Tote lebendig machen kann und seinen eigenen Untergang vorausgesagt hat.93 Was diese Personen vor allem gemeinsam haben, ist ihr vorzeitiger Tod. Ihr sagenhafter Herrschaftsanspruch wird immer wieder kontrastiert mit ihrem schmählichen Ableben, und noch dieses verweist auf ihr hybrides Leben zurück. Amphiaras wird mitsamt seinem Streitwagen von der Erde verschlungen und nimmt das darauf angebrachte Bild der artes nebst dem Sturm der Giganten auf den Himmel - die antike Parallelmythologie zum Turmbau zu Babel - mit in die Tiefe; und der anonyme Dichter des „Roman d'Eneas" hat die Todesverfallenheit der mächtigen Königinnen Dido und Camilla sowie des Königs Pallas in seinen Architekturbeschreibungen eindrucksvoll markiert. Diese Verbindung von Ekphrasis und Tod, von bildhaftem Herrschaftsanspruch und unerlöster heidnischer Welt wird nun in Chrétiens ekphrastic response auf den „Roman d'Eneas" - und auf den Antikenroman schlechthin -

92 KELLY 1999, xiff. „For Macrobius, to describe is to draw out of an extant matter a model which can serve to reshape the same matter or a new matter. Reading Macrobius on description, Chrétien would have discovered the usefulness of recognizable paradigms for imitation and emulation." (51) 93 Zur Figur LUTZ 1996, 33f. (mit der älteren Literatur sowie Hinweisen zur Verbindung der sieben Künste mit magischen Praktiken).

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zeichenhaft überwunden. Indem er die Ekphrasen von Amphiaras, Pallas, Camilla und Briseida auf seine Protagonisten Erec und Enide überträgt, die auf ihrem Weg zum Königtum zwar ebenfalls in eine lebensbedrohende Situation geraten, diese durch ihre Liebe aber meistern und so den Tod demonstrativ überwinden, verschiebt er die Kunstbeschreibungen vom Rand ins Zentrum, von den magisch-hybriden Außenseitern zum höfisch-christlichen Königspaar, vom Tod zum Leben - und behält durch die Bildzitate doch auch die Todesverfallenheit des ,alten' Romans, die es im ,neuen' Erzählen gerade zu überwinden gilt, im Gedächtnis seines Textes. Geradezu signalhaft kommt dieser Wandel von der ekphrastischen Inszenierung des Todes zur ekphrastischen Inszenierung des neuen Lebens in einer christlichen Welt in dem Sattelbild zum Ausdruck, das auf dem wunderbaren Zelter der Enide genau in dem Moment eingeblendet wird, als das Paar den Ort Lymors hinter sich gelassen hat und sich als erneuertes und gefestigtes Liebesund Herrscherpaar auf den Heimweg macht. Mit dem tragischen Selbstmord Didos und dem bunten Zelter, der einen kundigen Leser auf Camilla verweist, werden just in dem Moment zwei unerlöste Tote des „Roman d'Eneas" in Erinnerung gerufen, da Erec und Enide den Tod überwunden haben. Das neue Pferd steht somit nicht nur textimmanent für einen neuen Anfang des Königspaares im Roman, ein neues Leben und zugleich eine erneuerte Liebe, sondern es kennzeichnet als poetologisches Bild darüber hinaus auch einen neuen Romantyp, der sich von der tragischen Todesverfallenheit des Antikenromans löst. Die Form der intertextuell operierenden und narrativ auserzählten Ekphrasis des Sattels erinnert dabei an Vergils Kunstbeschreibungen, von denen sich der „Roman d'Eneas" gerade abgestoßen hatte. Ebenso wie der römische Epiker einst das andere Epos, von dem er sich absetzte und auf das er in seiner Absetzbewegung zugleich bezogen blieb, nämlich Homers „Ilias", als Ganzes in ein visuelles Kunstwerk verwandelte, verfahrt nun auch Chrétien. Er setzt die aus dem „Roman d'Eneas" entnommene Geschichte des aus Troja flüchtenden Eneas komplett in ein Bildkunstwerk um und baut sie seinem Text somit als ein ebenso fundierendes wie unvollkommenes Vor-Bild ein, das von der Handlung des neuen Romans zugleich überwunden wird.94 Indem Chrétien nun die Bild- und Bauwerke wieder den positiv bewerteten Protagonisten seines Romans zuordnet, sie nicht mehr als Monumente des 94 Auch der Aspekt des vom .neuen' Helden im .neuen' Epos zu überwindenden Todes findet sich schon in Vergils ekphrastic response auf Homers „Ilias" vorgebildet, wo Achilles, der dem Tod geweihte Held des griechischen Epos, gleich zweimal als unvollkommener Typus des überlebenden, gleichsam .erlösten' Helden im römischen Epos in Erinnerung gerufen wird: zum einen taucht er in den Bildern des Juno-Tempels auf, zum andern wird er mit seinem Kosmos-Schild durch den Schild des Aeneas zitiert. Es ist in diesem Zusammenhang nicht wenig aufschlußreich, daß das zentrale Paradigma, an dem Macrobius seine Theorie der descriptio entwickelt, die imitatio und emulatio der Epen Homers in Vergils „Aeneis" ist. S. KELLY 1999, 42ff.

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Todes, sondern als Zeichen des Lebens einsetzt und mit ihnen inmitten der mikrokosmischen Romanschöpfung wieder - wie in der antiken Tradition die (göttliche) Schöpfung des Makrokosmos spiegelt, offenbart er schließlich einen Umgang mit dem „Roman d'Eneas", der demjenigen Heinrichs von Veldeke nicht unähnlich ist. Beide Dichter, die vor gänzlich unterschiedlichen Aufgaben stehen, suchen offenbar nach Möglichkeiten, durch einen Umbau der Architektur- und Kunstbeschreibungen das im „Roman d'Eneas" so prachtvoll wie trostlos in Szene gesetzte Faktum des Todes zu überwinden und die in der fernen antiken Vorzeit eingekapselte Romanhandlung auf die Gegenwärtigkeit der Heilsgeschichte zu öffnen. Beide tun dies freilich auf ganz eigene Art und Weise: Chrétien de Troyes, indem er die Handlung seiner Romanschöpfimg in eine imaginäre Märchenwelt verlegt und dort den ,historischen' Tod in ein symbolisches Todesstadium verwandelt, das seine Romanhelden durchqueren müssen, um daraus am Ende geläutert wieder aufzusteigen. Heinrich von Veldeke, der Übersetzer und Bearbeiter, indem er die irdischen loci des Todes in seinem Antikenroman mit imagines der christlichen Erlösungshoffnung anreichert und den irdischen Tod ebenfalls als ein vorläufiges Stadium kenntlich macht, das im Zeichen der göttlichen Gnade überwunden werden kann.

Π. Die ganze Welt auf einem Pferd: Der Umbau der kosmologischen Ekphrasis im „Erec" Hartmanns von Aue Schaut man von Chrétiens „Erec et Enide" auf die Übersetzung und Adaptation des ersten Artusromans durch Hartmann von Aue, dann fällt auf, daß im deutschen „Erec" auf eine vergleichbare ekphrastische Inszenierung des Königtums verzichtet wird. Hier übernimmt Erec bereits bei seiner ersten Rückkehr nach Karnant von seinem Vater, König Lac, die Krone, ohne daß diese Investitur im Text breiteren Raum einnimmt. Lediglich am Ende des Romans, als Erec nach Destregales zurückkehrt, wird - wiederum nur kursorisch - eine solche Zeremonie erwähnt, die indes völlig ohne Artus auskommt. Die Krise des verligens in Karnant trifft bei Hartmann also einen bereits herrschenden König, und dieser kehrt nach seiner erfolgreichen Bewährung an der Seite von Enite in sein Land zurück, worin der Roman sein Ende findet. Uwe Ruberg hat den Verzicht auf die spektakuläre Schlußkrönung durch König Artus mit einer veränderten Bedeutung feudalrechtlicher Aspekte erklärt. Während in Chrétiens Text die Verpflichtung des neuen Königs „im vasallitischen Verhältnis" zu Artus den Romanschluß präge, baue Hartmann diese Züge ab „zugunsten einer eigenständigen Herrschaft Erees als rex iustus et pacificus im eigenen Reich".95 Der Artushof, bei Chrétien Anfang und Ende der Handlung, verwandelt sich in eine Durchgangsstation auf dem Weg Erees zu einer souveränen Herrschaft außerhalb der Artussphäre.96 Nun ist es aber keineswegs so, daß Hartmann mit dem Verzicht auf die pictura der finalen Krönungsszene die von Chrétien vorgegebenen „Paradestücke mehrschichtiger