Meisterschaft im Prozess: Der Lange Ton Frauenlobs - Texte und Studien. Mit einem Beitrag zu vormoderner Textualität und Autorschaft 9783050060620, 9783050058382

Die Wertschätzung des mittelalterlichen Textes an seinem historischen Ort, den Handschriften, steigt beständig. Der Ton

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Meisterschaft im Prozess: Der Lange Ton Frauenlobs - Texte und Studien. Mit einem Beitrag zu vormoderner Textualität und Autorschaft
 9783050060620, 9783050058382

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Meisterschaft im Prozess

Deutsche Literatur. Studien und Quellen Band 10 Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Franziska Wenzel

Meisterschaft im Prozess Der Lange Ton Frauenlobs – Texte und Studien Mit einem Beitrag zu vormoderner Textualität und Autorschaft

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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978-3-05-005838-2 978-3-05-006062-0

Vorwort

Nach vier Jahren lege ich die Arbeit am Langen Ton Frauenlobs vorerst aus der Hand, eine Arbeit, die gerade erst begonnen hat. Dieser beinahe paradoxe Eindruck schließt die für mich fundamentale Erfahrung ein, dass jede meiner Auseinandersetzungen mit dem überlieferten Material immer wieder am Anfang stand und stehen wird. Ich kann nicht sagen, dass die vorliegenden Studien das Spruchmaterial Frauenlobs letztgültig erschlossen haben. Es sind Interpretamente, die Gültigkeit im Horizont meiner Erfahrungen beanspruchen dürfen. Dass sie jedem einzelnen Leser schlüssig erscheinen, wäre eine falsche Erwartung. Dass sie genügend Interesse wecken für einen Gegenstand, der weder episch noch liedlyrisch zu nennen ist, hoffe ich dennoch. Die Strophen im Langen Ton Frauenlobs bergen in ihrer Breite mehr in sich, als man dem Sangspruch zugestehen möchte. Mein Interesse an den Überlieferungsträgern, dem Ton, seinen frühen und späten Strophenverbünden entsprang dem Wunsch, den Zusammenhang spruchmeisterlicher Äußerungen an ihrem materiell fassbaren Anfang zu ergründen. Der Einzelstrophe ist im mittelalterlichen Gattungsgefüge nie die Aufmerksamkeit verwehrt gewesen. Das tonale Gefüge der Spruchdichtung steht dagegen noch immer nicht im Recht. Diese Einsicht ist prozessual so wie das Projekt selbst, das ebenso wie das Buch Ausdruck eines Wandels meiner wissenschaftlichen Erkenntnis ist. War es in den Anfängen das Frauenlobbild, das unter dem Eindruck der Autorschaftsdebatten erörtert werden sollte, so war es später das meisterliche Frauenlobbild als Idee, der sich die Analyse der bildkünstlerischen und literarischen Aussagen nähern konnte. Dass der rezeptionsästhetische Ansatz mit den erörterten Meisterschaftsdebatten produktionsästhetisch eingeholt wurde, ist ein liebgewordener Effekt, der die Bindung kategorialer Differenzen an die jeweilige hermeneutische Perspektive nur allzu deutlich ausstellt. Der Ton als textuelle Formation ist zum analytischen Gegenstand avanciert. Doch zeigt der oftmals deskriptive, das Material reihende Zugriff auch die Nöte eines wissenschaftlichen Umgehens mit einem ungewohnten textuellen Gefüge, dem liedlyrische Ganzheit und epischer Anfang, Schluss sowie narrativer Faden fehlen. Eine fortlaufende Lektüre der Studien erfordert Geduld und das in einer Zeit, der der Langmut abhanden gekommen ist. Doch liegt es beim Betrachter, unmüezekeit und Ertrag für potentielle Studien zu wägen.

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Vorwort

„Wer immer etwas will, sich für etwas entscheidet, etwas so oder eben anders sieht und bewertet als ein anderer, kann dies nur tun, weil dies oder jenes ihm etwas bedeutet, weil es für ihn bedeutsam ist.“1 München, im April 2012

1

Jochen Hörisch, Bedeutsamkeit (2009), S. 33.

Franziska Wenzel

Inhalt Inhalt

1. Teil: Studien ................................................................................................

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I.

Texttheoretische Prämissen .........................................................................

13

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Sangspruchdichtung und Mehrstrophigkeit ................................................ Mittelalterliche Textualität ......................................................................... Textuelle Einheit, Sangspruchton und Wissen ........................................... Prozessierung des Wissens ......................................................................... Autor-Werk-Konzept und die texuelle Formation des Langen Tons ........... (Ton-)Autorschaft und Meisterschaft .........................................................

13 18 21 29 35 39

II. Textuelle Formation .......................................................................................

53

1.

2.

3.

Manessische Liederhandschrift C – Langer Ton ........................................ 1.1 Inhaltliches Referat .......................................................................... 1.2 Gliederung der Strophen nach formalen und thematischen Kriterien .......................................................................................... 1.3 Beschreibung der Strophen in ihrer Anordnung im Textcorpus ...... 1.4 Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung .............................. Jenaer Liederhandschrift J – Langer Ton ................................................... 2.1 Inhaltliches Referat .......................................................................... 2.2 Gliederung der Strophen nach formalen und thematischen Kriterien ........................................................................................... 2.3 Beschreibung der Strophen in ihrer Anordnung im Textcorpus ....... 2.4 Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung .............................. Weimarer Meisterliederhandschrift F – Langer Ton .................................. 3.1 Inhaltliches Referat .......................................................................... 3.2 Gliederung der Bare und Strophengruppen nach formalen und thematischen Kriterien .....................................................................

53 53 55 56 57 57 57 61 63 65 65 65 67

8

Inhalt

3.3

4.

Beschreibung der Bare und Strophengruppen in ihrer Anordnung im Textcorpus ............................................................... 3.4 Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung .............................. Kolmarer Meisterliederhandschrift k – Langer Ton ................................... 4.1 Inhaltliches Referat .......................................................................... 4.2 Gliederung der Bare und Strophengruppen nach formalen und thematischen Kriterien ..................................................................... 4.3 Beschreibung der Bare und Strophengruppen in ihrer Anordnung im Textcorpus ................................................... 4.4 Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung ..............................

III. Wissen und Meisterschaft ............................................................................ 1.

2.

3.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie in der älteren Überlieferung .................................................................................. 1.1 Meisterschaftsansprüche und ihre Begründung im Wissen .............. 1.2 Die Formen des Wissens und ihre Bearbeitung in C 31–47 ............. 1.3 Auslegungsverpflichtung, Vernunft und Deutungskompetenz (Resümee) ......................................................................................... Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von J ............ 2.1 Verhaltenssteuerung durch Wissen, Unterweisung und Deutung (J 1–9) ............................................................................................... 2.2 Meisterschaft als sprachtheoretische Reflexion des Namens (J 10–12) ........................................................................................... 2.3 Fiktive Gegnerschaft als Folie des Meisterschaftsanspruchs (J 13–17) ........................................................................................... 2.4 Selbstbezüglichkeit des Lobs als Ausdruck der Meisterschaft (J 18–23) ........................................................................................... 2.5 Die Arbeit am Wissen zwischen religiöser und literarischer Rede (J 24) ................................................................... 2.6 Wissensgeschichte und die Wahrheit des vrouwen-Lobs (J 25–33) ........................................................................................... 2.7 Meisterliche Reflexionen und feudalhöfische Kulturmuster (J 34–53) ........................................................................................... 2.8 Die Formen des Wissens und ihre Bearbeitung in J 1–53 ................ 2.9 Verfahren der Deutung und Verhaltensbildung (Resümee) ............. Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von F............ 3.1 Herrscherlob, Eigenlob und der Redemodus des Lobens (F 90–94) .......................................................................................... 3.2 Weltlicher Wandel, menschliche Gesinnung und freier Wille (F 95–97) ..........................................................................................

68 70 70 70 79 82 84 85 85 85 121 122 125 127 137 141 145 152 161 170 181 183 187 189 193

9

Inhalt

3.3 3.4 3.5 3.6

4.

5.

Die bedingte Freiheit des Willens (F 98–100) ................................. Weltlicher Wandel und Gesinnungsstabilität (F 101–104) .............. Die Moralisierung des freien Willens (F 105–110) .......................... Instabilität und Situativität von Wahrheit und Wissen (F 111–114) ...................................................................................... 3.7 Gesinnungslenkung, staeter wandel, Ratgeben und Ratnehmen (F 115–119) ...................................................................................... 3.8 Rat und Lob als Redeformen der Gesinnungsbildung (F 120–126) ...................................................................................... 3.9 Gesinnungslenkung, Gesinnungsstabilität und Morallehre (F 127–143) ...................................................................................... 3.10 Mâze, minne, vuoge und triuwe als a priori des Verhaltens (F 144–153) ...................................................................................... 3.11 Der Nachtrag: F 166–172 ................................................................. 3.12 Die Formen des Wissens und ihre Bearbeitung in F 90–172 ........... 3.13 Pseudophilosophische Reflexionen, Entwerfen, Rat und Lob (Resümee) ......................................................................................... Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von k ........... 4.1 Der Barverbund in k (Bartsch, k 47– 84, 91–108) ........................... 4.2 Religiosität, Wissen und Meisterschaft in k ..................................... 4.3 Biblisches und frömmigkeitspraktisches Wissen als Funktion des Lobs (Resümee)...................................................... Versuch einer Typologie der poetischen Formung des Wissens im Langen Ton ...........................................................................................

196 198 200 203 205 209 212 220 224 225 226 232 232 233 278 282

IV. Meisterschaft und Überlieferung ................................................................ 288 1.

Der Meisterschaftsentwurf in der älteren und in der jüngeren Überlieferung ............................................................................... 2. Meisterschaftsentwürfe im Langen Ton von C ........................................... 3. Meisterschaft im Langen Ton von J............................................................ 4. Meisterschaft im Langen Ton von F ........................................................... 5. Der Meisterschaftsentwurf im Langen Ton von k ...................................... 6. Meisterschaft und Kontinuität .................................................................... 7. Erneuern und Tradieren .............................................................................. 8. Traditionalität und Identität ........................................................................ 9. Parallelität, Stabilität und Wandel .............................................................. 10. Meisterschaft im Prozess: Stabilität und Wandel des Frauenlobs ..............

288 289 293 296 300 304 307 310 313 320

10

Inhalt

2. Teil: Materialien .......................................................................................... I.

325

Überlieferung .................................................................................................. 327 1. 2.

Vorbemerkungen ........................................................................................ Handschriftenbeschreibungen .................................................................... 2.1 Die Corpushandschriften C, J, F, k .................................................. 2.2 Die Streuüberlieferung und die Fragmente ......................................

327 327 327 332

II. Richtlinien der Textpräsentation ................................................................. 340 1. 2.

Einrichtung der Texte ................................................................................. 341 Handschriftenspezifische Normalisierungsregeln ...................................... 342

III. Edition: Der Lange Ton Frauenlobs als textuelle Formation ............... 343 Der Lange Ton nach der Manessischen Liederhandschrift ................................ Der Lange Ton nach der Jenaer Liederhandschrift ............................................ Der Lange Ton nach der Weimarer Liederhandschrift ...................................... Der Lange Ton nach der Kolmarer Liederhandschrift .......................................

343 354 386 429

IV. Konkordanzen ................................................................................................ 551 Konkordanz nach C ............................................................................................ Konkordanz nach J ............................................................................................. Konkordanz nach F ............................................................................................ Konkordanz nach k ............................................................................................

551 552 553 556

V. Literaturverzeichnis ........................................................................................ 563 1. 2.

Textausgaben .............................................................................................. 563 Forschungsbeiträge ..................................................................................... 565

VI. Register ............................................................................................................. 586

1. Teil: Studien

I. Texttheoretische Prämissen

1.

Sangspruchdichtung und Mehrstrophigkeit

Die Altgermanistik ist seit etwas mehr als 30 Jahren verstärkt an Fragen der Sangspruchdichtung interessiert, ohne dass der Aufmerksamkeit für epische und minnelyrische Texte der Rang streitig gemacht worden wäre. Das fachliche Interesse am Sangspruch wurde maßgeblich durch die Überlieferungsheuristik des Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder2 geweckt, mit dem das gesamte Material empirisch umfassend aufbereitet vorliegt.3 Doch wurde durch dieses Gesamtverzeichnis zugleich sichtbar, dass das Material aufgrund seiner Fülle und Weitläufigkeit vergleichsweise schlecht erschlossen ist und wohl aus diesem Grunde editorische und analytische Bemühungen lange Zeit auf einzelne Autoren gerichtet blieben.4 Doch waren es gerade die Arbeiten von Karl Stackmann5 und die von Burghart Wachinger6, die im Blick auf die komplizierte Überlieferungslage den Weg für eine methodisch neu fundierte Forschung zu dieser Gattung und zu Frauenlob als einem Sangspruchautor prägten. Mit den jüngeren Arbeiten von Christoph Huber, Ralf-Henning Steinmetz, Jens Haustein, Helmut Tervooren, Michael Stolz, Gert Hübner, dem ZfdPhSonderheft von Horst Brunner und Helmut Tervooren oder aber den Untersuchungen von Margreth Egidi, Nine Miedema, Karin Brem, Susanne Köbele, Dietlind Gade und 2 3 4 5

6

Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12.–18. Jahrhunderts, hg. v. Horst Brunner u. Burghart Wachinger, Bd. 1–13, Tübingen 1986–1994. Eine Beschreibung des gesamten repertorisierten Materials in Zahlen bei Johannes Janota, Forschungsaufgaben (2007), S. 3–16. Sangspruchtradition (Egidi / Mertens / Miedema 2004), hier S. 1. Stackmann, Bild (1972); Stackmann, Redebluomen (1975); Stackmann, Probleme der FrauenlobÜberlieferung (1976); Stackmann, Kleinere Anmerkungen (1977); Stackmann, Tarsillas Rat (1980); Stackmann, Über die wechselseitige Abhängigkeit (1983); Stackmann, Frauenlob Verführer (1988); Stackmann, Frauenlob und Wolfram (1989); Stackmann, Frauenlob Bilanz (1992); Stackmann, Wiederverwerteter Frauenlob (1998); Stackmann, Quaedam Poetica (1995); Stackmann, Minne (1995); Stackmann, Varianz (1997); Stackmann, Das anonyme meisterliche Lied (1999). Wachinger, Bedeutung der Meistersingerhandschriften (1968); Wachinger, Sängerkrieg (1973); Wachinger, Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift (1987); Wachinger, Sängerstreit (2004).

14

Texttheoretische Prämissen

Claudia Lauer ist diese Umorientierung dann namentlich geworden.7 Ohne die philologische Aufarbeitung des Materials von Frieder Schanze8 und ohne das Repertorium wären neuere methodische Ansätze kaum realisierbar gewesen.9 Deren Anstöße wiederum regten Untersuchungen an wie die von Michael Baldzuhn zur Kolmarer Liederhandschrift10 oder den Sammelband von Dorothea Klein, Trude Ehlert und Elisabeth Schmid, der nach Abschluss der Arbeiten zum Repertorium neue Perspektiven für die Sangspruchdichtung aufzuzeigen sucht und der in der Zusammenschau die Gattung als solche neu ausschreitet, um sie als eine mit anderen Texttypen interferierende ‚offene‘ Gattung zu konturieren.11 In den Anfängen der Forschung wurde ein zusammenschauender Umgang mit dem Material durch eine Schieflage im Bereich der Forschungsprämissen erschwert, die u. a. durch die Gattungsbestimmung hervorgerufen wurde. In einem normativen Sinne bezeichnete man mit dem Begriff der Sangspruchdichtung diejenige lyrisch-strophische Dichtung seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, die nicht der Minne- oder Liedlyrik zuzurechnen ist und die dem Prinzip der Einstrophigkeit folgt, obgleich bereits Hugo Moser die Einstrophigkeit als ein primäres Merkmal der Spruchdichtung nicht aufrechterhalten wollte.12 Die diese Bestimmung 17

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12

Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977); Huber, Alanus (1988); Steinmetz, Liebe als universales Prinzip (1994); Haustein, Marner-Studien (1995); Tervooren, Einzelstrophe oder Strophenbindung? (1967); Tervooren, Sangspruchdichtung (22001); Stolz, ‚Tum‘-Studien (1996); Hübner, Lobblumen (2000); Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung (Brunner / Tervooren 2002); Egidi, Höfische Liebe (2002); Miedema, Konrad von Würzburg (2002); Brem, Gattungsinterferenzen (2003); Köbele, Lieder (2003); Gade, Wissen – Glaube – Dichtung (2005); Lauer, Ästhetik der Identität (2008). Schanze, Meisterliche Liedkunst (1983/84). Weitere Arbeiten, die sich thematischen Fragestellungen widmen, die u. a. die Gattung und Gattungsinterferenzen diskutieren, sind etwa: Sabine Obermaier, Nachtigallen (1995); Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Fs. für Karl Stackmann (Haustein / Steinmetz 2002); Stackmann, Frauenlob, Heinrich von Mügeln (Haustein 2002). Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied (2002). Wegweisend sind neben einer neuen Perspektivierung der Forschung durch Janota, Forschungsaufgaben (2007) insbesondere die Beiträge von Burghart Wachinger, Sangspruchdichtung (2007), und Freimut Löser, Von kleinen und von großen Meistern (2007). Hugo Moser, Minnesang und Spruchdichtung?, hier S. 377; ders., Mittelhochdeutsche Spruchdichtung (1972), S. 26–30, im Verweis auf Simrocks alte Bestimmung von ‚Spruch‘ in Abgrenzung zum Terminus ‚Lied‘; Hermann Schneider, Mittelhochdeutsche Spruchdichtung (1972), S. 134– 145, weist bereits auf mehrstrophige Komplexe im Sangspruch Walthers hin (S. 135); einen Überblick über die Debatte um ‚Lied‘ vs. ‚Spruch‘ bietet Helmut Tervooren, Spruch und Lied (1972), S. 1–15. Karl Stackmann, Heinrich von Mügeln (1958), S. 30, diskutiert frühe Ansätze von in der alten Forschung erkannter Mehrstrophigkeit, die aber nie das Diktum Simrocks ablösen konnten. Frieder Schanze, Meisterliche Liedkunst (1983/84), Bd. 1, S. 1, nimmt als Vorreiter einer prozessual orientierten Forschung eine offene Perspektivierung vor. Er überblickt einen weiten Zeitraum, sieht ein Gattungskontinuum vom Ende des 12. Jhs. bis ins 18. Jh. hinein, zu dem er Sangspruch und Meistergesang gleichermaßen rechnet, und dessen zentrales Konstituens er im spezifischen Strophentyp, der gesungenen Spruchstrophe, sieht sowie in der jahrhundertelangen Weiterverwen-

Sangspruchdichtung und Mehrstrophigkeit

15

fundierende formale Abgrenzung von Minnelied und Sangspruch, die sich in den Gattungsbezeichnungen niederschlägt, ist in ihrer frühen Dogmatik der prinzipiellen Einstrophigkeit des Sangspruchs gegenüber der Mehrstrophigkeit des Minnelieds nicht haltbar gewesen.13 Helmut Tervooren generalisiert diese Einsicht, insofern er der Spruchstrophe zwar eine relative Geschlossenheit attestiert, zugleich aber ihre mehrstrophige Anlage betont,14 strophige Zusammenhänge etwa (vor der Durchsetzung der Mehrstrophigkeit im Meisterlied)15, die durch die Überlieferung selbst vorgegeben sind. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass es schon von Beginn an im Bereich des Sangspruchs mehrstrophige Gebilde gibt,16 von der lockeren Sangspruchreihe bei Walther von der Vogelweide über dialogisch verknüpfte Strophen wie Rätsel und Lösung etwa im vierstrophigen Streit zwischen Singûf und Rumelant (J 44rv)17 bis hin zu komplexeren Gebilden: Hier ist z. B. an das Streitgedicht „Minne und Welt“ Frauenlobs (GA IV,1–21) zu denken18 oder an die in C und J überlieferten Strophenge-

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dung einer einmal gefundenen Form und einer einmal gefundenen Melodie (Tongebrauch). Schanze konstatiert Kontinuität und zugleich tiefgreifende Wandlungen der Gattung, die er unter anderem am divergierenden Gebrauch und der unterschiedlichen Interessenlage festmacht. Daneben grenzt er den frühen Sangspruch des 13. Jahrhunderts als mehrteils und konzeptionell einstrophige Dichtung vom Bar, als der Basiseinheit ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, ab, ebd., S. 2. Er diskutiert die Problematik der Begriffsbildungen ‚Spruch‘, ‚Spruchlied‘ im Bezug zum Terminus ‚Lied‘ und zur Durchsetzung der Mehrstrophigkeit, ebd., S. 8f.; Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 37–70, bietet den reflektiertesten Beitrag zur Relation von Sangspruchdichtung und Minnesang und plädiert für einen historisierten Gattungsbegriff im Rekurs auf Kurt Ruh, Mittelhochdeutsche Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem (1968); vgl. zuletzt Brem, Gattungsinterferenzen (2003), S. 9–46, zur Auseinandersetzung mit den Überlegungen Kurt Ruhs, S. 26f. Vgl. Stackmann, Heinrich von Mügeln (1958), S. 29f.; Schanze, Meisterliche Liedkunst (1983/84); Holger Runow u. Franziska Wenzel, Art. „Spruch, Spruchdichtung“, in: EM 12 (2007), Sp. 1116– 1123, hier Sp. 1116f. Helmut Tervooren, Art. „Mittelhochdeutsche Spruchdichtung“, in: 2RL 4 (1984), Sp. 160b–169b, hier Sp. 161b, ähnlich in: Tervooren, Sangspruchdichtung (22001), S. 81–89. Vgl. dazu die jungen Beiträge von Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied (2002), hier S. 55– 68, und Wachinger, Sangspruchdichtung (2007), hier S. 19. Die Monografie von Brem, Gattungsinterferenzen (2003), ist ein Beleghort für die Fülle der Interferenzen zwischen den lyrischen Formen, die dem mittelalterlichen lyrischen System seit seinen Anfängen eignet. Freimut Löser, Rätsel lösen (1998); ders., Feind (2002); Texte und kurzer Kommentar in: Kleinere Spruchdichter, Collmann-Weiß (2005), S. 131, 138–140, 142f.; s. auch den Kommentar zu den Rumelant-Streitstrophen bei Holger Runow, Rumelant (2011), S. 265–267 (1Rum/8/2–3) u. S. 277– 280 (1Rum/11/1–2). Die in der Göttinger Frauenlobausgabe (GA) edierte Reihenfolge der Strophen weicht im Mittelteil des Streitgedichts von der überlieferten Strophenreihenfolge (Weimarer Liederhandschrift F) wie folgt ab: GA IV, 1–8 = F 231–238, GA IV, 9f. = F 243f., GA IV, 11–13 = F 240–242; GA IV, 14 = F 239, GA IV, 15 = F 245; GA IV, 16–21 = F 246–251 und präsentiert damit ein eigenes Sinngefüge neben dem der Handschrift. Zum Streitgedicht bzw. zum Sängerstreit vgl. grundlegend Hermann Jantzen, Geschichte (1896); Ingrid Kasten, Studien Streitgedicht (1973); Gustav Bebermeyer, Art. „Streitgedicht / Streitge-

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Texttheoretische Prämissen

füge „Fürstenlob“ und „Rätselspiel“ (C 1–25, 26–66; J 1–24, 27–77, 77k-u, 78–119)19 oder an die in C und J überlieferte Wechselrede zwischen Keie und Gawan über das Verhalten bei Hofe.20 Solche Textgebilde mehrteils dialogisch verknüpfter Strophen, die Michael Baldzuhn unter der Rubrik ‚fingierte Sängerkriege‘ erfasst, ebnen den Weg der Herausbildung mehrstrophiger Lieder im 14. Jahrhundert.21 Beate Kellner und Peter Strohschneider führen mit ihren Forschungen zur Poetik des Krieges ins Zentrum des von mir verfolgten Ansatzes: Die Metapher des krieg[es] ist für sie eine im „Wartburgkrieg“-Komplex zentrale Metapher der Selbstbeschreibung. Sie verstehen sie zum einen als produktionsästhetisch rekurrente Formel im Bereich des Sangspruchs und im Übergangsfeld zum Meisterlied und zum anderen als ein Textmuster, das durch die „Prinzipien des Agonalen und des Dialogischen“ auf „Textgenerierung“ angelegt ist und damit per se Mehrstrophigkeit produziert.22 Dass Agonalität, formal umgesetzt im Gegeneinander der Meinungen, auch ohne die direkte Rede eines Gegners funktionieren kann, zeigen exemplarisch die Selbstdarstellungen meisterlichen Vermögens im Frauenlobcorpus von C nach dem Frauenlob-Regenbogen-Streit (Meister: C 40–47). Das Sprecher-Ich geriert sich im Gefüge dieser 17 Strophen durchgängig im Blick und im Bezug auf die Tradition der alten Meister, so dass eine eigenständige Position zur literarischen Arbeit mit dem Fortschreiten der aufgenommenen Aspekte der anderen Arten von Meisterschaft Kontur gewinnt. Eine solche Form des Dialogischen im Bachtin’schen Sinne, gemeint ist das Verweben unterschiedlicher Stimmen auf der Ebene des Wortes, auf der der gebotenen Perspektiven und auf der der Relationierung des Verschiedenen,23 erweist sich als Modus der Textgenerierung. Diese Form des Aufgreifens und Inbezugsetzens von Vorausliegendem und Nachfolgendem zeigen vor allem die relativ umfänglichen Strophengefüge des Langen Tons der Weimarer Liederhandschrift F und der Kolmarer Liederhandschrift k. Dort sind es die spräch“, in: 2RL 4 (1984), Sp. 228–242, und zuletzt Christian Kiening, Art. „Streitgespräch“, in: RL 3 (2003), S. 525–528; daneben Löser, Feind (2002); ders., Rätsel lösen (1989). Die verschiedenen Überlieferungsgefüge, gerade des sogenannten „Rätselspiels“, sind in ihrer Disparatheit seit den frühen Forschungen zum „Wartburgkrieg“ reflektiert, ohne dass ein strophiger Zusammenhang je Rätsel in Abrede gestellt wurde, Burghart Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 83–89. Das Streitgespräch zwischen Gawein und Keie ist in C in der Alment, einem Ton Stolles, jedoch im Autorcorpus des Tugendhaften Schreibers überliefert (307r). In J steht es unter dem Tonautor (7rv). Vgl. Gisela Kornrumpf, Art. „Tugendhafter Schreiber“, in: VL2 9 (1995), Sp. 1138–1141; dies., Art. „Stolle“, in: ebd., Sp. 356–359. Vgl. auch „Disput zwischen Gawan und Keie“ (Mittelalter. Texte und Zeugnisse, 21988), S. 829–831; Kasten, Studien Streitgedicht (1973), S. 68–73; Franziska Wenzel, Keie und Kalogrenant (2001), hier S. 93. Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied (2002), S. 137–141, besonders S. 140. Kellner / Strohschneider, Poetik des Krieges (2007), hier S. 340. Das Dialogische in einem weiten Sinn umfasst die Mehrdeutigkeit des Wortes ebenso wie intratextuelle und intertextuelle Bezüge. Hingewiesen sei hier allein auf den die Bachtin’sche Theorie und dabei auch die dehnbare Kategorie der Dialogizität resümierenden Beitrag von Ingrid Kasten, Bachtin und der höfische Roman (1995), hier S. 54 u. passim. 3

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Sangspruchdichtung und Mehrstrophigkeit

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Schreiber, die durch die Anordnung der Strophen im frauenlobschen Langen Ton Kohärenzsignale aufgenommen und umgesetzt haben. Wobei ich mit Kohärenz nicht literarisch intendierte Textkohärenz im engen Sinn meine. Vielmehr ist damit die Zusammengehörigkeit durch den Ton und durch strophenübergreifende Ideen gemeint, die auch ganz punktueller, assoziativer Art sein können. Gemeint ist nicht ein inhaltliches Zusammenwachsen zu einer Ganzheit. Wie dies geschehen ist und welches ‚frauenlobsche Bild‘ sich auf diese Weise formt, muss eine Erschließung der Strophengefüge, die über die Interpretation der Einzelstrophe hinausreicht, herausarbeiten. Eine weitere Form der Strophenverknüpfung liegt mit dem narrativen Sangspruch24 vor, der der Barbildung vorausgehend mehrstrophige Gebilde bezeichnet, wie etwa „Zabulons Buch“ im Rahmen der „Wartburgkrieg“-Überlieferung der Manessischen Liederhandschrift und der Kolmarer Liederhandschrift zeigt.25 Man hat es hierbei mit einer Strophengruppe zu tun, die durch eine erzählte Geschichte zum Verbund zusammenrückt, auch wenn der Plot durch eine Fülle von nicht immer eindeutig integriertem ‚Zusatz‘-Wissen im Sinne der dilatatio materiae aufgefüllt ist.26 Mehrstrophigkeit ist damit von Anfang an im Bereich der Sangspruchdichtung ein produktions- und im Sinne des Strophengefüges eben auch ein rezeptionsästhetischer Modus – begreift man die Schreibertätigkeit als eine rezipierende Tätigkeit –, und das auch, wenn die Strophen nicht in Lieder, Zyklen oder Bare eingebunden sind. Arbeiten, die sich nun einerseits von der Prämisse autorgebundener konzeptioneller Einheitlichkeit leiten lassen – deren Berechtigung nicht in Frage steht – und andererseits von der Einstrophigkeit der Sangspruchdichtung, rücken immer von der Überlieferung ab und können nicht anders, als die Uneinheitlichkeit des überlieferten Materials zu bestätigen. Selektionskriterien wie diese treffen eine Auswahl, die das Material in der Regel wertend differenziert. Das Phänomen der Mehrstrophigkeit und die Wahrnehmung des Tons als Strophengefüge bleiben bei einem derartigen Ansatz zumeist unberücksichtigt, da Tonautorschaft nicht als sinnvolles Selektionskriterium aufgefasst wird. Wenn ich hier Strophenverknüpfungen und Einzelstrophen als voneinander geschiedene Gegenstände auffasse, dann unterscheide ich abhängig vom Autor-Werk-Verständnis zwei analytische Perspektiven, welche Texte bzw. textuelle Gefüge anders wahrnehmen. Mit dem unterschiedlich gewählten Ausgangspunkt ist ein jeweils anderes Text24

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Zum Begriff, zur Beschreibung und zur Analyse dieses Phänomens vgl. Franziska Wenzel, Textkohärenz und Erzählprinzip (2005). Schanze, Meisterliche Liedkunst (1983/84), Bd. 1, S. 24, differenziert einen ähnlich gelagerten Fall für den Bereich der Meisterliedüberlieferung, einen Texttyp, der „fast vollständig untergegangen ist, obwohl er gang und gäbe gewesen sein muss: als Einzelüberlieferung von längeren, meist narrativen Liedtexten“. Auf dieses Phänomen der Strophenverknüpfung zielt auch die Bezeichnung ‚Sangspruchdichtung im Erzählton‘ von Michael Baldzuhn, Wege ins Meisterlied (2002), S. 252–277, hier S. 256. Zum „Wartburgkrieg“-Komplex verweise ich nur auf den Überblick bei Burghart Wachinger, Art. „Wartburgkrieg“, in: VL2 10 (1999), Sp. 740–766, sowie auf Kellner / Strohschneider, Geltung des Sangs (1998) und Kellner / Strohschneider, Wartburgkriege (2004). Zu „Zabulons Buch“ in C und k Peter Strohschneider, Oberkrieg (2001), S. 482–505.

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Texttheoretische Prämissen

verständnis verbunden: Zum einen fasst man die vom Autor verantwortete und an diesen gebundene Strophe als einen inhaltlich stimmigen Text auf, der sich, den Wertmaßstäben entsprechend, mit anderen Strophen zu einem relativ kohärenten Autor-Œuvre zusammenfügt. Zum anderen erfasst man das durch den Ton bzw. die Tonautorschaft hervorgerufene und vom Schreiber geordnete Strophengefüge als eine textuelle Formation, deren Kohärenzsignale deutlich schwächer sind und deren textuelle Struktur zuallererst bestimmt werden muss. Doch die Differenzierung des überlieferten Strophenmaterials ist in der Orientierung am überlieferten Befund nicht sekundär getroffen, und hierin liegt der entscheidende Unterschied, nämlich dass textuelle Fügungen aus der historischen Distanz heraus mit weniger Vorannahmen und weniger forciert konstruiert werden.

2.

Mittelalterliche Textualität

Um die Identität des Tons und dessen Strophengefüge als textuelle Formationen genauer bestimmen zu können, greife ich etwas weiter aus, zunächst mit Blick auf die rezente Forschung zum mittelalterlichen Text. Die kulturwissenschaftliche Orientierung auch der Germanistischen Mediävistik führte in den vergangenen Jahrzehnten zu einer intensiven Beteiligung an fachüberschreitenden Diskussionsforen. Im Rahmen der jüngeren Debatten, v. a. im Anschluss an New Philology, New Historicism, Gender Studies und die Historische Anthropologie,27 beginnen sich bestimmte Perspektiven des Faches ein weiteres Mal zu verschieben. Der anfängliche Enthusiasmus weicht mehr und mehr einer nüchternen Überprüfung und einer Historisierung der für die Statusbestimmung mittelhochdeutscher Literatur maßgeblichen Termini.28 Dabei wird die Erprobung der 27

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Zur Dokumentation der altgermanistischen Beteiligung an diesen Debatten sollen hier genügen: Jan-Dirk Müller, Neue Altgermanistik (1995); Alte und neue Philologie (Gleßgen / Lebsanft 1997); Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte (Tervooren / Wenzel 1997); Text und Kultur (Peters 2001), hier die Beiträge der Sektion „I. Textkonstitution und Vermittlung“, S. 1– 188; Freimut Löser, Postmodernes Mittelalter? ‚New Philology‘ und Überlieferungsgeschichte 2004; Ursula Peters, Zwischen New Historicism und Gender-Forschung. Neuere Wege der älteren Germanistik (1997); Der unfeste Text (Sabel / Bucher 2001) mit einem Beitrag von Mireille Schnyder zum ‚unfesten Text‘; Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter (Bennewitz / Kasten 2001); Judith Klinger, Gender-Theorien (2002); Queer denken (Krass 2003); sowie Ursula Peters, Historische Anthropologie (2004); Christian Kiening, Anthropologische Zugänge (1996); ders., Zwischen Körper und Schrift (2003). Vgl. exemplarisch für die im Rahmen dieser Arbeit relevanten Begriffe Burghart Wachinger, Autorschaft und Überlieferung (1991); Peter Strohschneider, Situationen des Textes (1997); Joachim Bumke, Autor und Werk (1997); Rüdiger Schnell, Autor und Werk (1998); Thomas Bein, Zum ‚Autor‘ (1999); Jan-Dirk Müller, Aufführung – Autor – Werk. (1999); Klaus Grubmüller, Überlieferung – Text – Autor (2002); Text und Kontext (Peters 2000); Bruno Quast, Der feste Text (2001); Der unfeste Text (Sabel / Bucher 2001); Udo Friedrich, Ordnungen des Wissens (2002); ders.,

Mittelalterliche Textualität

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großen kulturtheoretischen Paradigmen von einer Besinnung auf den eigentlichen, den historischen Gegenstand des Faches überlagert, von einer Besinnung auf den überlieferten Text.29 Und obgleich die Vielschichtigkeit des Zugangs zum literarischen Text nach wie vor das Bild des Faches prägt, steigt der Stellenwert des Textes an seinem historischen, seinem datierbaren und lokalisierbaren Ort, nämlich den Handschriften, beständig. Diese Tendenz geht einher mit methodisch-theoretischer Reflektiertheit und einer fachlichen Sensibilität für die Texte selbst. Ihren Ausdruck finden diese Veränderungen in einer Vielzahl von Editionsprojekten30 und in einer Fülle von hermeneutischen Studien, die vom überlieferten Material ausgehen.31 Der Text wird als Träger eines literarisch geformten historischen Wissens wahrgenommen, als poetisches Tableau vivant kultureller Erfahrungen. Eine solch ethischästhetische Bearbeitung vorgegebener Botschaften aus Natur, Geschichte und Gesellschaft lässt sich auch als literarische Bearbeitung historisch konkreter Verstehensmodelle und Deutungsmuster erfassen. Will man diese erschließen, ist der Versuch, die literarischen, kulturhistorischen und gesellschaftlich-ideologischen Referenzbereiche zu verstehen, unerlässlich. Jan-Dirk Müller erfasst derlei kulturelle Vorgaben begrifflich als ‚Kulturmuster‘, die literarisch produktiv werden und zugleich eine grenzziehende Funktion innehaben können.32 Dass immer wieder eine partielle Befreiung literarischer Texte auch der Vormoderne aus heteronomen Zwängen der Kultur zu beobachten ist, ist zugleich ein Hinweis auf die eigenen, nämlich spezifisch literarischen Regeln, nach denen die kulturellen Vorgaben konfiguriert sind.33 Sucht man die Kulturmuster im Rahmen einer Kulturgeschichte vom Text gleichermaßen als kulturelle Vorgaben und als literarisch konfigurierte Muster auf, richtet sich das Augenmerk ganz zentral auf die

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Wandel der Wissensordnungen (2004); Retextualisierung (Bumke / Peters 2005); Text und Kontext (Müller 2007), bes. die Einleitung, S. VII–XI. Dass diese Wende methodisch und theoretisch reflektiert wird, darauf verweisen die Sammelbände von Ursula Peters, Text und Kultur (2001); Text und Kontext (2000) sowie der gleichnamige Band von Jan-Dirk Müller, Text und Kontext (2007), ebenso wie die umsichtige Standortbestimmung gegenwärtiger altgermanistischer Forschungen von Ursula Peters, Texte vor der Literatur? (2007). Peter Strohschneider, Reden und Schreiben (2005), spricht auf S. 310 davon, dass diskutabel geworden ist, was „ein Text sei; wie sich seine Identität und seine sprachliche Integrität zueinander verhielten; wie Varianz und Konstanz von Schriftgestalt, Sprachgestalt oder Sinngehalt gewichtet werden könnten; wie überhaupt Kodikalität, Skripturalität, Textualität und Literarizität in mittelalterlichen Überlieferungen gekoppelt seien; und wie sich derartige Fragen diskurstraditionell und kommunikationsoziologisch spezifizieren ließen“. In den letzten Jahren ist eine Fülle von Textausgaben zur Epik, Lyrik, Sangspruchdichtung und zum geistlichen sowie weltlichen Spiel erschienen, die hier nicht eigens summiert werden müssen. Allein die auf Mediävum angezeigten Editionsprojekte sind dafür ein beredtes Zeugnis. Bei Peters, Texte vor der Literatur (2007), S. 86f. Anm. 88–91, ist ein Überblick über materialphilologische Arbeiten, die die Handschrift in der Verschränkung von Text und Kontext als mise-enpage-Phänomen erfassen, zu finden sowie Arbeiten, die die Textumschreibung in den Blick rücken, und solche, die Textprozesse der Corpusbildung beleuchten. Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse (2007), hier S. 6. Ebd., S. 7.

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Texttheoretische Prämissen

sinnhafte ‚Besetzung‘ der Kulturmuster und auf deren Literarisierung.34 Jan-Dirk Müller spezifiziert diese vorgängigen sinnhaften Besetzungen, wenn er von ‚gedachten Ordnungen‘ spricht und sie als Einstellungen, Selbst- und Fremdbilder, Wertungen, Hierarchien, Wünsche, Begehrlichkeiten usf. umreißt,35 die als Habitus, Muster, Ritual, Rolle oder Routine auch in den Texten greifbar werden.36 Das Interesse für die referentielle Verbindung zwischen den gedachten Ordnungen und den literarischen Imaginationen ist in der mediävistischen Forschung ungebrochen, wie gerade jüngere intertextuelle und diskursanalytische Ansätze demonstrieren.37 Mit einem solchen methodischen Zugriff wird die binäre Text-Kontext-Relation geöffnet hin zu einer Vorstellung vom inkohärenten, nicht homogenen, nicht geschlossenen Text. Texte, und das trifft auch für poetische Texte zu, werden als Teil zeitgenössischer Diskurse verstanden. Ja sie selbst werden – eingedenk ihrer Besonderheit, ihrer Literarizität – als Funktion diskursiver Vernetzungen begriffen. So gesehen sind sie im Blick auf die mittelalterliche Textualität interdiskursiv,38 doch formen sie die dispersen Wissenselemente, die von Brauchtum, Magie und Literatur bis zu Heilsgeschichte und As34

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Sozialphilosophische Ansätze wie die von Cornelius Castoriades bemühen eine Perspektive, die hinter diese Schnittstelle der Text-Kontext-Relation zurückgreift. Wie weit die Adaptation eines solchen Ansatzes zur Erklärung der Text-Kontext-Relation trägt (Müller greift den Begriff des gesellschaftlich Imaginären auf), weiß ich nicht zu sagen. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution (1990). Nachvollziehbar ist, dass das Imaginäre im Sinne einer vorinstitutionellen Begehrensdynamik ein Vorausliegendes ist, das als Motor der Gestaltwerdung gedachter Ordnungen fungiert. Erörtert man jedoch in dieser Richtung weiter, wird die eigene Rede metaphorisch. Castoriadis, ebd., S. 221, zielt mit seiner Idee von der ‚ursprünglichen Besetzung der Welt‘ tiefer in die Geschichte, er zielt auf das ‚Wie‘ und das ‚Warum‘, die die, jedes christlichmenschliche Tun (unbewusst) bedingenden, fundamentalen Ordnungen / Gesetze, die monotheistische Religion und das römische Recht, Gestalt werden ließen. Und er greift in diesen Bereich des Unbestimmten, Ungeformten aus mit der Metapher vom Magma, die er nicht als „Bild von“ etwas, sondern als Schöpfung ex nihilo verstehen möchte. Aber: Mag der Bildspenderbereich dieser Metapher Evolutionsgeschichte oder Vulkanologie sein, immer ist das vorausliegende Fließende, Geschmeidige, Instabile, Formlose bereits stofflich gedacht, auch wenn es, so Rainer Warning, identitäts- und mengenlogisch unbestimmt ist: Warning, Fiktion und Transgression (2009), hier S. 43. Müllers Ansatz auf einer Ebene nach der des gesellschaftlich Imaginären ist sinnvoll, weil dieser Ansatz analytisch ertragreich zu sein verspricht: Die literarischen Entwürfe werden so als Bearbeitungen von etwas Vorausliegendem kenntlich. Die Tradition dieser ‚weichen‘ Ordnungen ist mit der Mentalitätsgeschichte seit der Annales-Schule vorgegeben, doch liest Müller sie nicht im Sinne einer ergänzenden Geschichte, sondern betont die Verklammerung von ‚Realem‘ und ‚Imaginärem‘, Müller, Höfische Kompromisse (2007), S. 12. Zur Geschichte der Mentalitätsforschung vgl. Schrift und Materie (Honegger 1977); Rolf Reichardt, Histoire des Mentalités (1978); Ernst Hinrichs, Zum Stand der historischen Mentalitätsforschung (1979/80); Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte (1985); Mentalitäten-Geschichte (Raulff 1989); Annette Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte (1989). Vgl. auch Müller, Imaginäre Ordnungen (2003). Ulrike Draesner, Wege (1993), S. 26–68; Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität (2004), S. 92– 104; Udo Friedrich, Menschentier und Tiermensch (2009), S. 9–39. Manfred Frank, Zum Diskursbegriff bei Foucault (2001).

Textuelle Einheit, Sangspruchton und Wissen

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tronomie reichen können, auf ganz eigene poetische Weise.39 Das Spezifische mittelalterlicher Texte liegt für mich darin, dass sie nicht in erster Instanz Produkt ihrer Kontexte oder deren Fortschreibungen sind. Da sie in einer selektiven Differenz zum kontextuellen ‚Umfeld‘ stehen, treten sie im Rahmen der handschriftlichen Überlieferung immer auch in Differenz zum kotextuellen ‚Textfeld‘.40 Aus dieser Differenz heraus stehen sie in Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Anderen und sind zugleich mit diesem (textuell) verflochten.

3.

Textuelle Einheit, Sangspruchton und Wissen

Betrachtet man zum Beispiel die Strophenteile in ihrem Bezug zueinander, die Bezüge zwischen den Strophen, diejenigen zum Strophengefüge des Tons und diejenigen zwischen den Strophengefügen verschiedener Überlieferungsträger, dann erhellen solche intertextuellen Verflechtungen die Überlieferungssituation gerade des spätmittelalterlichen, in Tönen überlieferten Sangspruchs.41 Das intertextuelle Geflecht der Sangspruchstrophen in den Handschriften weist deren Textualität in einer Weise als dynamische aus, die jede Vorstellung vom in sich kohärenten Text ausschließt. Die Verschiebung des Textverständnisses, die dem vorausgeht, ist jene, die ich bereits beschrieben habe; es ist das über die Einzelstrophe hinaus zusammenstehende Strophen-

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Michel Foucault, Das Denken des Draußen (1988); vgl. zur Idee der Literatur als einem ‚Gegendiskurs‘ auch Rainer Warning, Poetische Konterdiskursivität (1999). Die beiden Begriffe Umfeld und Textfeld sind hier vorterminologisch gemeint und beziehen sich zum einen auf jene Referenzen, die über die handschriftliche Überlieferung hinausweisen, und andererseits auf diejenigen innerhalb der handschriftlichen Überlieferung. Die Bezüge lassen sich differenziert benennen: Zwischen Textteilen, zwischen den Stollen einer Strophe oder zwischen den Strophen einer Strophengruppe etc. besteht eine intratextuelle Relation. Das Verhältnis bestimmter Textteile zum Textganzen ist infratextuell und meint die Relation der Stollen zur Strophe oder der Strophen zur Strophengruppe oder der Strophengruppen zum gesamten Strophenzusammenhang eines Tons einer Handschrift. Gattungsbedingte, literarische und gesellschaftliche Bezüge sind intertextuell und extratextuell. Sie lassen sich als Bezüge zu epischen Erzählkomplexen und Relationen zwischen den hier in Rede stehenden Hauptüberlieferungszeugen C, J, F und k erfassen oder als Bezüge zu kulturspezifischen Diskursen. Vgl. Dorothea Franck, Art.: „Kontext und Kotext“, in: Sprachphilosophie. Ein interdisziplinäres Handbuch zeitgenössischer Forschung, hg. v. M. Dascal u. a. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 7,2), Berlin / New York 1996, S. 1323–1335, hier S. 1325. In ihrer Einleitung, Text und Kontext (Peters 2000), S. 11, unterscheidet Ursula Peters im Bereich extratextueller Referenzen (und damit meint sie Deutungsmuster, Sinnstrukturen, Denkmodelle, kollektive Bilder und Symbole) eine faktische und eine imaginäre Seite. Möglicherweise lässt sich hier der Gedanke Jan-Dirk Müllers analogisieren mit der Differenz zwischen Kulturmuster und gedachter Ordnung. Verständlich wird dann, dass die literarischen Entwürfe Imaginationen zweiter Ordnung sind und der Abstand zur faktischen Seite ein zweites Mal gebrochen ist.

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Texttheoretische Prämissen

gefüge des Tons, das in den Blick geraten ist und das auch mit einem anderen Kohärenzverständnis verknüpft werden muss. Das, was man im Rahmen der Sangspruchüberlieferung unter einem Text verstehen kann, verlangt, wie ich meine, eine andere Sichtweise als die der einmaligen, in sich geschlossenen und also auch festen Einheit. Bereits die Textgrenze spielt in diesem Rahmen eine eher untergeordnete Rolle, denn anstelle eines Textes im oben genannten Sinne sind es Strophenteile und Strophen, die aufeinander referieren, sind es Strophen im Strophengefüge eines Tons, die sich aufeinander beziehen. Darüber hinaus sind intertextuelle und extratextuelle Referenzen sowohl synchron als auch diachron vorhanden, was bedeutet, dass Strophen mehrfach überliefert worden sind. Was auch bedeutet, dass textuelle Einheiten im Langen Ton Frauenlobs in den frühen und späten Handschriften in Beziehung treten. Insofern können sie vergleichend bearbeitet werden, ohne den Einwänden eines klassischen Textverständnisses legitimierend begegnen zu müssen.42 An die Stelle der vom Autor-Werk-Konzept geprägten Größe Text rücke ich deshalb die kleinere, unspezifischere, dabei aber im Bereich des Lyrischen, wie mir scheint, historisch relevante Größe der textuellen Einheit. Textuelle Einheiten werden für den Analytiker konkret, folgt er den handschrifteninternen Gliederungsmerkmalen. Autornamen respektive Autorenbilder, Tonnamen, Barbezeichnungen, Initialen, metasprachliche Markierungen, nota-Zeichen, Leerspalten etc. markieren eine textuelle Formation in ihrer Begrenztheit und heben sie aus ihrer textuellen Umgebung heraus. Sie grenzen Strophengruppen, Strophen und Strophenteile zuerst einmal optisch voneinander ab.43 Die Notwendigkeit der textuellen Gliederung und der Abgrenzung textueller Einheiten voneinander war offensichtlich vorhanden, doch eine hierarchische Graduierung der Gliederungsgrößen liegt nicht vor. Mithin muss für alle Gliederungsgrößen eine mehr oder weniger starke identitätsstiftende Funktion angenommen werden. Ist eine textuelle Einheit wie die Strophe eine identitätsstiftende Größe, ist sie überlieferungsfähig. Sie ist als textuelle Einheit erkennbar und übertragbar.44 Die Parameter, die hier ins Licht rücken, Identität, Varianz und Festigkeit, sind für das Verständnis mittelalterlicher Textualität auf ihre historische Relevanz für die Sangspruchdichtung im Langen Ton zu überprüfen. Im Rahmen der Sangspruchdichtung 42

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Ein so gelagertes dynamisches Textverständnis kommt mittelalterlicher Textualität entgegen, dem auch die Verschiebung des Blicks bei Jan-Dirk Müller entspricht, der narrative Scripts, Erzählmuster und Erzählkerne im diskursiven Netzwerk mittelalterlicher Textualität fokussiert. Müller, Höfische Kompromisse (2007), S. 17–41. Zum Problemfeld vormoderner Textualität vgl. den die Perspektiven bündelnden Überblick bei Peter Strohschneider, Reden und Schreiben (2005), S. 309– 314. Virgel und Punkt als syntaktische Gliederungsmittel sind in diesem Zusammenhang zu vernachlässigende Größen. Eben diesen Prozess der Übertragung beschreibt Konrad Ehlich, Text und sprachliches Handeln (21993), S. 32, handlungstheoretisch: Wird eine Sprachhandlung über eine Sprechsituation eins hinaus für eine weitere Sprechsituation bewahrt, wird sie zum Text.

Textuelle Einheit, Sangspruchton und Wissen

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sind Parallel- und Mehrfachüberlieferungen von Strophen, Strophengruppen und Strophenteilen, auch im Rahmen einer Handschrift, keine Seltenheit. Aus analytischer Sicht spricht man in Fällen der Mehrfachüberlieferung davon, dass der Text nur im Plural existiere.45 Mit dieser Annahme befindet man sich dann im Erklärungsnotstand, wenn man verdeutlichen möchte, was den Text trotz seiner Varianz erkennbar macht, so dass er, mit einer bestimmten Stabilität ausgerüstet, überliefert werden kann. Schaut man auf den Überlieferungsvorgang, dann konnte der Schreiber einer Handschrift die analytische Perspektive des pluralen Textes in der Regel nicht einnehmen. Er übertrug eine textuelle Einheit aus einer Handschrift A in eine Handschrift B. Dass sich das Interesse an dieser textuellen Einheit wiederholen konnte und sie in einer anderen Überlieferungssituation ein weiteres Mal abgeschrieben werden konnte, spielt für das Textualitätsverständnis der Schreiber und der Rezipienten der jeweiligen Handschrift keine Rolle. Ihnen lag in der Regel nur eine textuelle Einheit vor. Möglicherweise, falls die Handschrift vollständig rezipiert wurde, konnte die Aufmerksamkeit auf eine handschriftenintern parallel überlieferte Strophe fallen, doch mir scheint, dass dieser Aufmerksamkeit in den seltensten Fällen ein analytischer Impetus eigen war. Varianz und Festigkeit spielen im Vorgang der Überlieferung eine marginale Rolle. Insofern sind Varianz und Festigkeit keine pragmatischen, sondern analytische Größen. Es sind die bereits genannten handschrifteninternen Gliederungsgrößen, die textuelle Einheiten voneinander abgrenzen und ihre Überlieferung, bzw. ihre Übertragung in einen anderen handschriftlichen Kontext ermöglichen. Vergleichbares lässt sich für das dritte Kriterium, das der Textidentität, sagen: Für die Textualität im Bereich der Sangspruchdichtung ist es konstitutiv, dass die Abweichungen auf morphologischer, syntaktischer und semantisch-stilistischer Ebene in der Regel nicht unerheblich waren, so dass Alteritätserfahrungen bei der Bestimmung der Identität einer textuellen Einheit relativ groß sind, auch weil eine solche Bestimmung nur allzu gerne an die vertraute analytische Größe der Festigkeit gebunden wird. Die textuelle Einheit an ihrem historischen Ort, der Handschrift, zeigt hingegen, dass es pragmatische Kriterien waren, die eine textuelle Einheit in den Prozess der Überlieferung gestellt haben. Angesichts dieser Überlieferungssituation ist es müßig, im Rahmen der Sangspruchdichtung nach Kriterien für die Wiedererkennung eines Textes zu suchen.46 Das überlieferte Material ist hinsichtlich moderner textueller Kriterien wie Ganzheit und Identität so unspezifisch, dass es für die Analysen angebracht ist, sich im Rahmen der formalen Abschnitte Ton, Bar, Strophengruppe, Strophe und Strophenteil zu bewegen. Das Stro45 46

Müller, Aufführung – Autor – Werk (1999), hier S. 150. Wiedererkennung, Wiederholung und Wiedergebrauch haben im Bezug auf die Vorstellung von der mittelalterlichen Textualität in der Altgermanistik in den letzten Jahrzehnten Furore gemacht, gemeinsam mit dem wechselnden Interesse für die Fassungen und Varianten eines Textes, für v. a. epische Muster / Erzählmuster und Schemata. Verweisen möchte ich stellvertretend auf Grubmüller, Überlieferung (2002); Lieb, Potenz des Stoffes (2005); ders., Poetik der Wiederholung (2001); Strohschneider, Rezension Bumke (1998); ders., Situationen des Textes (1997); ders., Textualität (1999); Worstbrock, Wiedererzählen (1999), ders., Erfindung (2009).

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Texttheoretische Prämissen

phenmodell des Tons ist die für meine Studien relevante identitätsstiftende Größe, die Strophen und Strophengruppen unterschiedlicher Thematik vereint. Da die Sortierung der Strophen im Formmodell des Tons, hier des Langen Tons, als einheitsstiftend begriffen wird, rückt die von Handschrift zu Handschrift je andere Strophenreihenfolge und die je andere Auswahl, Organisation und Literarisierung des diskursiven Wissens in den Blick. Obgleich die Strophen des Langen Tons weder thematisch noch durch eine übergreifende semantische Aussage zusammengehalten werden und Ganzheitlichkeit sowie Einheitlichkeit nicht als konstitutive Kriterien zu veranschlagen sind, ist das Strophengefüge des Tons eine begrenzte und geordnete, also auch strukturierte Formation textueller Einheiten. Es lässt sich als Summe textueller Formationen zwischen zwei formalen Grenzen, die der Ton vorgibt, beschreiben. Das dynamische, prozessuale Textualitätsverständnis ermöglicht es, die Strophengefüge eines Tons verschiedener Handschriften vergleichend zu handhaben, ohne mit Kriterien der Werkhaftigkeit oder Originalität umgehen zu müssen. Der Ton schafft symmetrische bzw. egale Bedingungen für einen solchen Vergleich, bei dem die unterhalb des Tones liegenden textuellen Einheiten der Strophengruppe und Strophe die formalen Träger des literarisch geformten Wissens sind. Eine solche Behauptung unterstellt, dass es einen Unterschied zwischen dem Wissen und dem Literarischen gibt, dass das Literarische im Mittelalter nicht nur ein Diskurs neben anderen Diskursen ist, sondern dass es eine Sonderstellung innehat, aus der heraus sich sein Status durch eben jene Unterscheidung bestimmt. Gemeint ist hier nicht die Unterscheidung von Wirklichkeit und Literatur, wie das vor vielen Jahren von Gerhard Oexle formuliert wurde, der für die Geschichts- und Literaturwissenschaft forderte, dass sie zu einer Geschichte des Wissens werden müsste, da nie die Wirklichkeit, sondern immer nur das Wissen in den ‚Texten‘ sedimentiert sei.47 Was demgegenüber beschrieben werden muss, sind die verschiedenen Wissenspartikel, ihre Vernetzungen und ihre Bearbeitung im jeweils konkreten Text.

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Eine solche Wissensgeschichte hätte verschiedene Perspektiven; sie ließe sich erkenntnistheoretisch als Spannung zwischen gelehrtem Wissen, abstraktem Weltwissen und episodischem Alltagswissen beschreiben; sozialgeschichtlich wäre der je spezifische historisch-kulturelle Kontext aufschlussreich für die Formen der Wissenspräsentation und kommunikationsgeschichtlich ließe sich nach der Verfügbarkeit des Wissens, nach impliziter oder expliziter Form und nach der Art der Verbalisierung fragen. Auf sprachgeschichtlicher Ebene würde sie die großteils implizit verfügbaren grammatikalischen, semantischen und syntaktischen Regeln des Sprachgebrauchs in ihrer literarischen Umsetzung erörtern. Ein solches apriorisch zu nennendes Wissen ist für die sprachtheoretischen Reflexionen im Rahmen des Frauenlob-Corpus relevant, da der demonstrative und forcierte Gestus der Sprecher in beinahe jedem Fall an die Bedeutung kulturspezifischer Begriffe bzw. adliger Qualifikationen gebunden ist. Immer ist jedoch der je spezifische Gebrauch des Wissens in den Blick zu rücken und die Frage nach den Formen der Wissensumsetzung, nach der analytischen und imaginativen Dimension ihrer literarischen Bearbeitung, lässt sich sinnvoll nur vom Gegenstand her, über eingehende Textstudien und -analysen, beantworten.

Textuelle Einheit, Sangspruchton und Wissen

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Statische Vorstellungen vom kulturellen Wissen als dem gesellschaftlichen Hintergrund der Literatur tragen bei einem intertextuellen und diskursanalytischen Ansatz nicht mehr, auch nicht die Vorstellungen kausaler Abhängigkeiten und personal zurechenbarer Einflüsse zwischen Literatur und Wissen. Das literarisierte Wissen bestimmter Textformationen und jenes, das sich als inter- und extratextuelles Wissen beschreiben lässt, sind nicht unmittelbar aufeinander abbildbar.48 Versucht man hingegen, die Verflechtungen zwischen den mittelalterlichen Diskursen etwas genauer zu bestimmen, dann ist von einer Differenz auszugehen zwischen stabilen und instabilen Diskursen. Einerseits haben wir die konturierten, relativ festen diskursiven Formationen, die offiziell institutionalisiert sind, wie die Diskurse der Kirche, der Schule und der Universität (Artes-Wissen, Geographie, Geschichte, Medizin, Recht usf.), andererseits sind es sozial instabilere diskursive Formationen, wie eben jene der volkssprachlichen Literatur, die mit den sie flankierenden diskursiven Formationen des Ethisch-Didaktischen, des Anthropologischen, des Höfischen, des Künstlerischen stark vernetzt sind. Diese Mischung volkssprachlichen Wissens kann man sich als ein Netzwerk flexibler Einheiten vorstellen, das mehr oder weniger stark in den Texten zum Tragen kommen kann, und das zugleich geformt wird, aber auch formend wirken kann, wenn der literarische Diskurs an stabileren diskursiven Formationen partizipiert, aus denen er für den eigenen Diskurs relevantes Wissen entnimmt. Mittelalterliche literarische Texte ziehen ihre Geltung aus dem Verweis auf historische Exempla, doch auch wissenschaftliche Texte rechtfertigen ihre Ansichten anhand von literarischen Figuren. Dieser Umstand, dass der literarische Diskurs kaum als eigenständige mittelalterliche Wissensordnung konturiert ist und die Diskurse offenbar gegeneinander durchlässig waren, markiert, dass die Sonderstellung, die für die Literatur behauptet wird, nur in der Art der anderen Bearbeitung des unterschiedlichen Wissens liegen kann. Literarische Texte gehen nicht mit einem, im engen Sinne, spezifischen Wissen um, so dass man ebenso vom literarischen Wissen sprechen könnte wie vom medizinischen Wissen des medizinischen Diskurses oder vom Rechtswissen des Rechtsdiskurses. Literarische Texte haben an literarischen Geschichten, Erzählmustern und rhetorischen Redeformen ebenso Anteil wie an ethischem, dynastischem, juridischem, naturwissenschaftlichem oder religiösem Wissen. Eine Sonderstellung des literarischen Wissens ist hier nicht auszumachen. Die deutlich körper- und sinnesorientierte Darstellung bzw. Vermittlung des Wissens spricht hingegen für die Sonderstellung der höfischen Literatur, respektive der Sangspruchdichtung. Die etymologische Seite des Wissensbegriffs verdeutlicht eindringlich, dass das Wissen im Sinne eines ‚erblickt, gesehen haben‘ eine genuin sinnliche Bedeu-

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Vgl. die Beschreibung der Relation von Text und Kontext sowie ihre diskursgeschichtliche Reformulierung bei Beate Kellner, Melusinengeschichten im Mittelalter (2001), S. 268–295, hier S. 268– 274.

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Texttheoretische Prämissen

tung trug.49 So zeichnen sich körperhafte Brechungen abstrakter Inhalte beispielsweise auf den Bildfeldern der Spruchdichtung Frauenlobs ab.50 Doch auch die gelehrte Vermittlung des Artes-Wissens im Mittelalter ist in ihrer Darstellung oftmals körpergebundene Vermittlung, wenn sie über bildhafte Unterweisungen und allegorische Darstellungen funktioniert.51 Die Schriften der Chartrenser z. B., allen voran der „Anticlaudianus“ des Alanus ab Insulis, sind in ihren Grundzügen mit den Vermittlungsformen der frauenlobschen Sangspruchdichtung verglichen worden,52 gerade weil diese Schule zur Verbindung von wissenschaftlicher Theorie und Poesie neigt.53 Gelehrte und literarische Texte können also dieselben Formen der Wissensvermittlung nutzen, so dass sich die Sonderstellung literarischer Wissensverarbeitung, ich betonte es bereits, immer nur vom konkreten Textmaterial und der transgredierenden Bearbeitung her erschließen lässt. Worin demnach das Besondere des Literarischen gesehen werden muss, ist mit dem Begriff des ‚Konterdiskurses‘ von Rainer Warning bildhaft ausgedrückt. Das textübergreifende Spezifikum des Literarischen liegt in der ganz anderen Organisation des Wissens.54 Die gelehrten lateinischen Bemühungen um die Organisation des Wissens basieren auf dem antiken System der artes liberales mit ihren sieben Fächern55 und die hierarchische Organisation des Wissen spiegelt sich in klassischen Ordnungssystemen

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Alois Walde u. Julius Pokorny, Vergleichendes Wörterbuch der Indogermanischen Sprachen, 3 Bde., Berlin 1973 [ND der Ausgabe Berlin / Leipzig 1927–30], Bd. 1, S. 236f. Für die bildhafte Vergegenwärtigung, die bildhafte Erinnerung des Wissens, finden sich im Rahmen der frauenlobschen Spruchdichtung u. a. Bilder wie Baum, See, Fluss, Weg und Wettstreit. Stolz, Artes-liberales-Zyklen (2004), weist daneben auf die Bilder Haus, Stufen, Reise hin, S. 85, 88, 94, 109. Die den Metaphern inhärente sinnlich-räumliche Komponente ist Ausdruck der Spezifik mittelalterlicher Wissensträger, ist doch die mittelalterliche Kultur eine der Bewahrung und Erinnerung des Wissens, eine Memorialkultur, nicht aber schon eine Kultur der (Neu-)Entdeckung. Eine Beschreibung der Erinnerungstechniken handschriftlicher Textproduktion, die mit Metrum, Vers und Reim arbeiten, ebenso wie mit Metaphern, Isotopienketten und Erinnerungsörtern (loci communes) bietet Friedrich, Ordnungen des Wissens (2002), S. 93. Bei Stolz, Artes-liberales-Zyklen (2004), S. 20, 27, finden sich Hinweise auf antike Modelle, die dieser Vermittlungsform vorgängig sind. Vgl. hier Huber, Alanus (1988), S. 136–199. Stolz, Artes-liberales-Zyklen (2004), S. 36. Warning, Poetische Konterdiskursivität (1999). Stolz, Artes-liberales-Zyklen (2004); vgl. auch Artes im Mittelalter (1999). Vgl. auch Schäfer, Artes im Mittelalter. Eine Einleitung (1999), Sarnowsky, artes (1999); Steer, Imagines mundiTexte (1987). Wenn Stolz mit der metaphorischen und allegorischen Darstellungsweise Analogien zwischen laikaler und klerikaler Wissensliteratur beschreibt, sieht Steer darin einen Gegensatz von rationaler und prä- bzw. parascholastischer Wissenschaftlichkeit. Vgl. auch Burghart Wachinger, Wissen und Wissenschaft als Faszinosum für Laien (2002), der ähnlich wie Stolz auf die allegorischen und moralischen bzw. geistlichen Deutungen der abstrakt-sachlichen Wissensinhalte hinweist.

Textuelle Einheit, Sangspruchton und Wissen

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wie dem des Wissensbaums wider.56 Dieses System reicht in seinen Grundzügen bis zu Denis Diderots „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“. Das gelehrte Wissen als ein an Schule und Universität gebundenes traditionelles Wissen zielt auf Hierarchisierung und Vermittlung des Wissens. Die literarischen Bearbeitungen zeitgenössischer Wissensgehalte im Bereich der Sangspruchdichtung sind damit nicht zu vergleichen, weil sie in aller Regel Facetten, Ausschnitte oder eine Mischung disperser Wissenspartikel für die Präsentation eines poetologischen Anspruchs nutzen.57 Sie folgen nicht einem enzyklopädischen Interesse im Sinne einer summierenden und hierarchisierenden Ordnung, und sie können ihm wegen der textuellen Verfasstheit des Sangspruchs auch gar nicht folgen, denn es sind gerade keine die Tradition bewahrenden und ausgewiesenes Wissen transportierenden Texte.58 Bezieht 56

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Hermann Schadt, Arbores (1982), zu den mittelalterlichen Darstellungen S. 61–107; zu den Formen ‚enzyklischer‘ Wissensordnung im Sinne der Auswahl und der bewussten ‚kettenförmigen‘ Anordnung Klaus Vogelsang, Begriff Enzyklopädie (2004), S. 15–23. Die Strophen und Strophengruppen des Langen Tons weisen disperse Wissenselemente auf, die im Sinne der Abgrenzung, der textuellen Annäherung und der Überschreitung verarbeitet sind. Die Studien gehen nicht ahistorisch vor, wenn sie davon absehen, solch ein historisches Wissensfeld umfassend aufzuarbeiten, das für den Überlieferungskomplex der Strophen im Langen Ton Frauenlobs etwa Wissen aus den Bereichen Ethik und Herrschaft oder religiöses Wissen aus dem Bereich der Marienfrömmigkeit umgreift. Diese historisch noch wenig ausdifferenzierten und extrem weitläufigen Wissensformationen lassen sich kategorial nur unscharf umreißen. Ihre Aufarbeitung böte im Ergebnis zwar eine umfangreiche Materialsammlung, mit der aber nicht viel mehr als eben die Präsentation dieses Materials gewonnen wäre, weil, und das gilt für den gesamten Komplex der Frauenlob-Überlieferung im Langen Ton, die Teilhabe an diesem Wissen partikular und reduktiv ist. Ich möchte die Arbeiten von Rudolf Krayer, Frauenlob und die Natur-Allegorese (1960), Christoph Huber, Alanus (1988), zur Aufnahme und Verarbeitung des Alanus von Lille, und die Dissertation von Ralf Henning Steinmetz, Liebe als universales Prinzip (1994), in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen, die alle drei wegweisend sind für meine Studien. Sie zeigen jedoch auch, dass es gerade keiner umfassenden motivgeschichtlichen Aufarbeitung möglicher gelehrter Wissensformen bedarf, dass es vielmehr darauf ankommt, historisches Wissen im Sinne einer Sachgeschichte für die Interpretation zu nutzen und auf die Frage nach möglichen Einflüssen zu verzichten. Ein Motivkatalog etwa im Sinne der Salzer’schen Sinnbilder und Beiworte Mariens, vgl. Anselm Salzer, Sinnbilder (1964), wäre einer analytischen Aufarbeitung der Texte im Langen Ton in gewissem Umfang zuträglich. Jedoch würde der Strophenzusammenhang der vier Corpushandschriften motivgeschichtlich parzelliert. Ein Effekt, der nicht nur den Prämissen dieser Studien widerspräche, sondern auch den Forderungen der Forschung, etwa das mit den Ausgaben präsentierte Frauenlob-Material auch analytisch zu erhellen; vgl. Christoph Huber, Rezension zur GA, in: PBB 109 (1987), S. 128–136, hier S. 133. Die Art der gelehrten Wissensvermittlung allerdings, die Formen der quaestio und disputatio, reichen bis zur Gestaltung lehrender Rollen und der entsprechenden Lehrsituationen in der Sangspruchdichtung. Vgl. Stolz, Artes-liberales-Zyklen (2004), S. 3. Gleichermaßen sind auch erkenntnistheoretische Parallelen nicht von der Hand zu weisen, insofern die Vermittlung des Wissens beiderseits den Weg von der Erkenntnis der sinnlichen zur intelligiblen Welt nimmt, der zuletzt in die Erkenntnis des Einen mündet. Stolz, Artes-liberales-Zyklen (2004), S. 11. Das ist nicht unbedingt bemerkenswert, sind doch die Bibelauslegung und die Ordnung des Wissens seit „De doctrina christiana“ miteinander verbunden. Eine Fülle der Demonstrationen gelehrten Wissens, der begriff-

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Texttheoretische Prämissen

man daneben die textuelle Formation des Tons in das Fragen nach dem Spezifischen der Sangspruchdichtung ein, muss von verschiedenen und verschieden funktionalisierten, aber vergleichbaren Gemengelagen des Wissens in den Strophengefügen der unterschiedlichen Handschriften ausgegangen werden, nicht aber von einem spezifischen und ausgewiesenen Wissen. Disperse, nicht eindeutig ausgewiesene Wissenselemente und die Vermittlungsfunktion, die der Sangspruchdichtung von Anfang an zugewiesen wurde, sperren sich gegeneinander. Gerade deshalb nutzt vor allem der spätmittelalterliche Sangspruch, der als Textform der Vermittlung, Mahnung und des Erkenntnisgewinns verstanden werden kann, verstärkt diskursübergreifende Darstellungsformen, an deren Geltung er teilhaben kann. Zu diesen elementaren Formen der Rede,59 die Kirche, Schule, Universität und Sangspruchdichtung mehr oder weniger stark gefestigt betreffen, und die zuletzt als Medien der Wissenskonstituierung und -vermittlung bezeichnet wurden60, gehören lectio und oratio, predicatio sowie quaestio und disputatio61, die ihren Niederschlag in literarisierten Formen etwa der Auslegung, der Erörterung, des Gebets / der Bitte, der Ermahnung, des Wettstreits und der Unterweisung gefunden haben.62 Die Anschaulichkeit der Vermittlung ist weithin einer metaphorischen und allegorischen Darstellungsweise verpflichtet, die wiederum Schule und Sangspruchdichtung gleichermaßen nutzen. Der konterdiskursive Charakter des literarischen Diskurses umfasst nun sowohl die Einbettung solch elementarer Darstellungsformen als auch die Einbettung externer Wissenspartikel und deren literarische Bearbeitung. Er umgreift daneben die Überschreitung diskursiver Formationen63 im Sinne poetologischer Ansprüche, mit denen ich v. a. das Be- und Hinterfragen, desgleichen die Argumentation des vermittelten, in Rede gestellten Wissens meine. Bezogen auf die Sangspruchdichtung im Langen Ton Frauenlobs reichen die Modi der literarischen Argumentation weit, denn sie umfassen neben der Selektion, der Verknappung und der Reduktion des diskursiven Wissens, etwa auf

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lichen Reflexionen, der Lehrsituationen im Rahmen des Langen Tons stehen entweder im Horizont mittelalterlicher Religiosität oder sie sind orientiert auf religiöse und transzendente Erkenntnis. Vgl. zu den diskurstransgredierenden ‚elementaren Formen‘ die Arbeiten von Jürgen Link, Elementare Literatur (1983), S. 9–24, S. 170; Michael Titzmann, Textanalyse (21989); ders., Kulturelles Wissen (1989), hier S. 51–53, und Fohrmann, Textzugänge (1997). Bezogen auf die disputatio als einem Leitmedium des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitätsbetriebs vgl. die Einleitung in den Tagungsband: Disputatio (Gindhart / Kundert 2010), S. 1–20. Olga Weijters, The various kinds of disputation in the faculties of arts, theology and law (2010). Es muss als Tatsache begriffen werden, dass diese Redeformen in den verschiedenen Diskursen jeweils anders etabliert, konturiert, gefestigt und instrumentalisiert waren. Wenn lectio (Lesung) und oratio (Gebet) als basale Abfolge des Wortgottesdienstes fungierten, wenn lectio und quaestio disputata im universitären Gebrauch registrare Redeformen mit typischer Argumentationsstruktur waren, so darf Gleiches nicht für die in der Spruchdichtung literarisierten Formen der Bitte, der Unterweisung und des Wettstreits unterstellt werden. Dazu Gerhard Neumann, Einleitung (2003), S. 11.

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Schlüsselwörter im Sinne der Stackmann’schen Gerüstwörter,64 auch Formen der Modifikation, der Umbesetzung und der Umkodierung sowie die Ausweitung und formale sowie semantische Umarbeitungen. So lassen sich die Strophen im Langen Ton, die das Material für diese Studien liefern, als literarisch geformtes, komplexes Beziehungsgefüge eines facettenreichen, wenngleich punktuellen Wissens beschreiben. Das poetische Wissen schließt die Selbstdarstellung und sprachtheoretisch bestimmte Selbstreflexion des Sangspruchdichters ebenso ein wie den Anspruch auf Meisterschaft und das Eingeständnis der Abhängigkeit im Herrscherlob. Dieses Wissen steht in Spannung zu anverwandelten Formen religiösen Wissens (Marienpreis, Gebet, Gotteslob, Predigt), zu Formen heils- und naturgeschichtlichen Wissens, zu Formen literaturgeschichtlichen Wissens (Heldenepik, Minnelyrik) sowie zu Formen ethischen Wissens im weitesten Sinne, welche von der Unterweisung des Jünglings (Tugendlehre) über die (politische) Unterweisung des Fürsten und Klerikers bis zur Unterweisung der Mutter Gottes reichen. Inwiefern sich dieses komplexe Beziehungsgefüge ertragreich erörtern lässt, wird sich bei der Analyse vor allem der oben genannten Darstellungsformen zeigen, in denen ich die literarisierten Träger poetischer Wissensverarbeitung sehe.

4.

Prozessierung des Wissens

Herausgegriffen sei nochmals der Punkt des Erneuerns, der zugleich Vorstellungen der Wiederholung und des Wiedergebrauchs betrifft. Bislang fielen vor allem die Relationen zwischen dem Stoff und seiner literarischen Reaktivierung im Sinne des Aufgreifens, Bearbeitens und Transgredierens ins Auge. Unter derselben Perspektive ist gleichermaßen nach dem Verhältnis der vier Hauptüberlieferungszeugen zueinander zu fragen, um die Art und Weise der Weitergabe des Wissens zwischen den frühen und späten Trägermedien und des in ihnen sedimentierten Wissens bestimmen zu können. Damit verbunden soll dasjenige neu bestimmt werden, was man die Tradierung des Wissens nennt. Die implizite Zeitlichkeit des Erneuerungsprozesses lässt nach sozialgeschichtlichen Formen der Wissenweitergabe fragen, nach dem, was man gemeinhin Tradierung nennt. Hat man mit dem Stichwort des Erneuerns vor allem die Rezeption des Stoffes fokussiert, lenken die Stichwörter ‚Überliefern‘ und ‚Übergeben‘ die Aufmerksamkeit auf den Vollzug, nämlich auf den Akt der Tradierung in seiner strukturellen und temporalen Dimension, der sowohl synchrone als auch diachrone Wissensweitergabe umschließt. Als actus tradendi geht jede Überlieferung auf die archaische Übergabesemantik des Gebens und Nehmens zurück, die sich bereits in der Antike im gemeinschaftlichen,

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Stackmann, Bild (1972).

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politischen und wirtschaftlichen Bereich ausdifferenziert hat.65 Gemeint ist der kommunikative Akt der Weitergabe, der Wissenstransfer und -bewahrung in der Zeit gleichermaßen meint und der mit Alaida und Jan Assmann als lebendige Form der Wissenssicherung und -speicherung im kommunikativen Gedächtnis einer kulturellen Gemeinschaft zu denken ist.66 Bis in die Neuzeit hinein haben sich insbesondere der verpflichtende und der werthafte Charakter der Übergabesemantik bewahrt. Die Vielfalt kultureller Bereiche und ideologischer Ausrichtungen, die Fülle möglicher Vermittlungsinstanzen ebenso wie die Differenz von mündlicher und schriftlicher Überlieferung weist die Tradierung als einen kulturell prozessualen und dynamischen Vorgang aus. Greift man nicht den normativen Traditionsbegriff auf, der das Wissen einer Kultur rückwärtsgewandt fixiert, sondern verwendet den dynamischen Begriff der Tradierung, durch den die Formen der Traditionsbildung – die Betonung liegt auf dem Modus des Bildens – umgriffen sind, dann treten die überlieferten Inhalte im Sinne dokumentierter Wissenseinheiten zurück zugunsten der Bedingungen und Modalitäten der Überlieferung von Wissen. So verstanden ist Traditionsbildung zuerst ein Vorgang der Übertragung des Wissens von einer Situation A in eine Situation B.67 Nicht die Geschichtlichkeit des Wissens, nicht ihr schierer Positivismus prägt das Selbstverständnis einer Gemeinschaft, sondern der Akt der Weitergabe des Wissens und, um einen weiteren dynamischen Begriff zu nennen, der Vorgang der Traditions-

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Ganz grundsätzlich gehören ‚Tradieren‘ bzw. ‚Überliefern‘ zur Gruppe der Verben des Gebens und Nehmens, die für ein fundamentales Handlungsmodell stehen, für die Interaktion von Handlungsträgern im Zusammenhang der Übermittlung einer Sache. Siegfried Wiedenhofer, Art. „Tradition, Traditionalismus“, in: Geschichtliche Grundbegriffe 6 (1990), S. 607–650, hier S. 607f.; Walter Magaß, Klassik (1980), S. 20–23, 52–54, erweitert den Zusammenhang von Geben und Nehmen auf die Quadriga von Geben-Nehmen-Bewahren-Weitergeben und betont damit den Aspekt des Lernens als einen traditionsimmanenten Aspekt. Vgl. auch Volker Steenblock, Art. „Tradition“, in: HWbPh 10 (1998), Sp. 1315–1329. Zur Unterscheidung zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis bezogen auf kommunikative bzw. soziale Aspekte und ihre je eigene Zeitstruktur vgl. Jan Assmann, Religion (2000), S. 11–20, 28–44. Assmann führt den Kommunikationsbegriff und das kommunikative, etwa drei Generationen andauernde Gedächtnis zusammen – er spricht auch von verkörperter Erinnerung – und bindet analog dazu den Traditionsbegriff an das kulturelle Gedächtnis, betont jedoch einerseits die wechselseitige und andererseits die vertikale Vermittlung des Wissen. Vgl. dazu die einleitenden Ausführungen zu vier verschiedenen Traditionsmodellen von Aleida Assmann, Zeit und Tradition (1999), S. 63–66. Der Vorgang der Überlieferung, wie ihn Konrad Ehlich, Text und sprachliches Handeln (21993), beschrieben hat, klingt hier an und er ist kommunikationsgeschichtlich und handlungstheoretisch ebenso vielversprechend wie weitreichend für jene Formen der Tradierung im Bereich mittelalterlicher Sangspruchdichtung, die im Zentrum dieser Studien stehen. Es ist mit der Idee der zerdehnten Kommunikationssituation ein Verständnis, dass die aktive und körpergebundene Übermittlung des Wissens im Raum wechselseitiger Wahrnehmung und zugleich die Übermittlung in der Zeit betont.

Prozessierung des Wissens

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pflege.68 Niemals drückt sich Traditionspflege allein in der Stetigkeit des Immergleichen aus, niemals ruht sie in der Konstanz des Vorgegebenen und dessen zyklischer Wiederkehr. Immer ist Erinnerung den gemeinschaftlichen Rahmenbedingungen entsprechend angepasst, wird idealisiert, verändert, imaginiert, gar entworfen, ohne dass diese Formen des Sich-Wandelns in jedem Falle sichtbar werden.69 Traditionalität und Prozessualität sind damit keine gegenläufigen Prinzipien, sondern sie umreißen interferierend Stabilität und Wandel epistemischer Ordnungen. Mittelalterliche, nichtliterarische Wissensordnungen, etwa rechtliche, religiöse oder handwerkliche, sind vornehmlich traditional organisiert. Ihren Wahrheitsanspruch, ihre Legitimität und Identität beziehen sie rückwärtsgewandt, aus der Orientierung hin auf die Autorität eines Ursprungs70 (Bibel, römisches Recht, Zunftordnung) und aus der Praxis gewohnten Handelns (kirchlicher Ritus, Gewohnheitsrecht, handwerkliche Abläufe).71 Ein solches, normatives Traditionsverständnis sieht den Tradenten in der Verpflichtung hin auf ein werthaftes Vorgegebenes, das es für die folgenden Generationen als normative Orientierung zu bewahren gilt. Die dafür eingesetzten Wissensorganisationsformen, die etwa mit den Begriffen der Genealogie und auch des Herkommens72

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Gelebte Tradition ist in Form des kommunikativen Gedächtnisses zu denken. Tritt die Kommunikationsgemeinschaft in zeitliche Distanz zum erinnerten Wissen, wird Tradition reflexiv, gerät sie in den Fokus der Traditionskritik oder der Traditionspflege. Das kollektive und das kommunikative Gedächtnis rücken auseinander ebenso wie die normative und die gelebte Tradition. Das eine wird zum Prüfstein des anderen. Vgl. Steenblock, Art. „Tradition“ (wie Anm. 65), Sp. 1315. Doch ist Traditionspflege nicht schlicht affirmativ zu denken. Allein die reflexive Distanz, die ein ‚Nachdenken über‘ impliziert, lädt den Vorgang der Pflege dynamisch auf, bezieht Bewahrung und Bearbeitung entsprechend den je aktuellen situativen Bedingungen der Gemeinschaft ein. Vgl. HansJoachim Gehrke, Gepflegte Erinnerung (1996), S. 383–387. Dass hier graduelle Unterschiede zwischen etwa der Weitergabe religiösen und juridischen Wissens und der Weitergabe von Fachwissen zu kalkulieren sind, ist dem Status und dem Gebrauch der jeweiligen Wissensformen geschuldet. Kellner, Ursprung und Kontinuität (2004), S. 92. Damit ist nicht gesagt, dass Gewohnheit und Tradition in eins zu setzen wären. Gewohnheiten funktionieren ungefragt in ihrem lebensweltlichen Kontext. Der Tradition ist funktionale Evidenz gerade abzusprechen. Traditionen lassen sich im Angesicht sozialen und historischen Wandels als aus lebensweltlichen Zusammenhängen gelöste, reflexiv gewordene und normativ überhöhte Gewohnheiten, Werte und Ordnungen verstehen. In meinen Beispielen arbeiten beide Formen des Verhaltens zusammen, indem die Handlungen die normativen Vorgaben adaptieren, diese bestätigen und in der Nachahmung der gemeinschaftlichen Identität Gewissheit, Selbstsicherheit und Orientierung verschaffen. Vgl. Aleida Assmann, Zeit und Tradition (1999), S. 71–73. Gerhard Wolf, Von der Chronik zum Weltbuch (2002), S. 467f., betont den konstruktivistischen Charakter der von ihm untersuchten dynastischen Eigengeschichten, wie sie beispielhaft mit der „Zimmerischen Chronik“ vorliegt, die angesichts der Komplexität der Geschichte historische Wirklichkeit erzeuge.

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Texttheoretische Prämissen

erfasst wurden, sichern strukturell die Kontinuität des Wissens und ein entsprechendes Handeln.73 Ein wertneutrales Verständnis negiert nicht den Bezug zu normativen Vorgaben, versteht diese aber als (situativ zu prüfende) Orientierung, als einen „Ermöglichungsrahmen“ für den Tradenten. Ein solches Verständnis erfasst den Akt der Überlieferung als Arbeit an der Tradition.74 Traditionalität lässt sich damit handlungsbezogen als Dreischritt bestimmen aus aufgenommener und partiell auch konstruierter Erinnerung, der Weitergabe von beglaubigtem Wissen und dessen produktiver Umsetzung.75 Produktiv meint im Rahmen der Sangspruchdichtung immer schon eine Analogie zur Typologie, insofern das Neue sich das Alte nicht nur aktualisierend aneignete, sondern vielmehr die Verheißungen des Alten im Moment seiner Erfüllung zugleich überbietet. Auch für den Bereich literarischer Traditionalität ist das Vorgegebene als ein Erinnerungsreservoire, das der Aktualisierung und Erfüllung bedarf, zu bestimmen. Das Arsenal des zu Erinnernden wurde hinlänglich oft mit dem Begriff der materia erfasst.76 Dieser Terminus konkretisiert sich im weiten Feld diskursgeschichtlicher Vorgaben. Inwiefern diese Vorgaben einen normativen Status haben, ist vom jeweiligen Kommunikationszusammenhang abhängig. Die Leitdifferenz für die Bearbeitung vorgegebenen Wissens liegt zwischen Autorität und Vernunft,77 wobei die Autorität des Wissens aus dem kollektiven Gedächtnis der im Fall der Sangspruchdichtung höfischen Gemein-

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Kellner, Ursprung und Kontinuität (2004), S. 45. Beate Kellner hat das genealogische Modell als eines der dominanten mittelalterlichen Organisationmodelle des Wissens analytisch umgreifend erschlossen und theoretisch aufbereitet. Der Hiat zwischen der Stabilität und dem Wandel epistemischer Ordnungen wurde dabei als ein Katalysator solcher Modelle kenntlich. Ihre zentralen genealogischen Kategorien Ursprung und Kontinuität markieren die Eckpunkte im Feld der Sicherungsmaßnahmen, um dem gesellschaftlichen bzw. gemeinschaftlichen Wandel mit der Stabilität des Wissens zu begegnen. Vgl. dazu auch Aleida Assmann, Genealogie als Modell für Kontinuität (1999), S. 91, die das Genealogische als eine spezifische Vorkehrung bestimmt, mit der sich per se unwahrscheinliche Kontinuität erzeugen und stabilisieren lässt. Renate Lachmann / Caroline Schramm, Art. „Tradition“, in: 3RL (2003), S. 660–663, hier S. 661. Für die Strophenfolgen im Langen Ton gilt es, das Bild ‚frauenlobischer‘ Meisterschaft im Vergleich auszuziehen, um die traditionsbildenden Größen zu erfassen, das was der Vorstellung von Meisterschaft Kontinuität zusichert, so viel sei vorweggeschickt. In F und k wandelt sich das Verständnis von Meisterschaft. Tradiert wird in den F-Strophen vorderhand der gnomische Gestus einer Meisterschaft, insbesondere Verhaltens- sowie Tugendlehre, die auf einem vulgarisierten ethischen Wissen beruhen. In den k-Strophen ist es der Texttyp des Frauenlobs, vor allem als Marienlob, der weitergeführt wird. Vgl. den Überblick bei Bumke / Peters, Einleitung (2005), S. 1–5. Ein normatives Verständnis der Weitergabe von Wissen, das auf universitas, antiquitas und consensio gründet, ist durch die Überlieferung und deren Autorität bestimmt. Ein prozessuales Verständnis der Tradition hat die Vernunft als den bestimmenden Handlungsfaktor zu kalkulieren. Vgl. zu dieser Opposition den Sammelband „Antiqui und Moderni“ (1974), besonders die Beiträge von Wilfried Hartmann, Elisabeth Gössmann und Joachim Ehlers, S. 21–79, die die Spannungen zwischen Tradition und Neuerung vor allem bezogen auf das 12. Jahrhundert in den Blick nehmen.

Prozessierung des Wissens

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schaft heraus gesichert wird, und es Entscheidungen der Vernunft im Rahmen des jeweiligen Gebrauchszusammenhangs sind, die für eine situational angepasste Aufbereitung des Wissens sorgen. Befragt man die bislang entfalteten Vorstellungen zu Prozessualität und Traditionalität literarischen Wissens im Rahmen der aktuellen Forschungsdebatten zur mittelalterlichen Textualität, fällt neben den Begriffen des Wiedergebrauchs bzw. der Wiedergebrauchsrede78 auch der Begriff der Retextualisierung auf.79 Konnotiert wird mit diesem Begriff zuerst, dass der Text als literarische Formation immer ein retextualisierter ist, insofern er sich immer zu einem alten Text verhält, diesen aufgreift und auf verschiedene Weisen fortschreibt. Es sind ganz unterschiedliche Sachverhalte, angefangen von der Übernahme, vom Kompilieren, Aus-, Um- und Fortschreiben über die Kontrafaktur und die Parodie bis hin zur Übersetzung, die das Phänomen des Retextualisierens umschreiben und die in der Summe als Formen der Bearbeitung und noch vorläufiger als Formen produktiver Rezeption80 bezeichnet werden sollen. Angesprochen ist damit ein Verhältnis zweier Terme, die in der Fachdiskussion als Relation von Text und Retext umrissen werden. Vorausgesetzt wird dabei, dass der Text eine relativ stabile Einheit ist, von der aus eine „Arbeit am Text“81 erst gedacht werden kann. Für die Beschreibung literarischer Prozessualität reicht der Gedanke der Arbeit oder Bearbeitung über den Retext-Begriff hinaus, wenn man das Verhältnis der beiden Terme in ihrer Dynamik erfasst: Veränderung muss rekursiv und prospektiv zugleich gedacht werden. Man könnte die Text-Retext-Vorstellung mit gleichem Recht die intertextuellgenealogische Dimension des mittelaltertlichen Textes nennen, um für die Beschreibungssprache mittelalterlicher Textualität die Idee der Kontinuität in ihrer Paradoxie einzublenden, insofern Überlieferung nicht ohne Ausgangspunkt gedacht werden kann, der Ausgangspunkt jedoch immer selbst Produkt eines anderen Ausgangspunktes und Teil intertextueller Relationen ist.

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Peter Strohschneider, Textualität (1999), S. 21f., 28; Worstbrock, Wiedererzählen (1999). Bumke / Peters, Einleitung (2005), S. 1–5, stellen die unterschiedlichen Konzepte einer Beschreibung mittelalterlicher Traditionalität und ihre jeweilige Terminologie vor. Ihre Beschreibung des Phänomens, der Differenz von Prä- und Retext, geht dabei aus vom Späteren, durch das bzw. von dem her das Frühere sich bestimme und arbeitet sich damit ab an der Vorstellung einer Kontinuität, – die Vorstellung einer „kontinuierlichen Unschreibepraxis“, S. 2, wird laut –, die jedoch die Dynamik der Traditionsbildung, weiter perspektiviert auch die Geschichtsdynamik begrifflich nicht zu erfassen vermag. Der Begriff der Rezeption ist ein für das Aufführungsparadigma zentraler Begriff, der auf das passive oder reaktive Hören bzw. Lesen bezogen wird. Er erfährt eine rezeptionsästhetische Dynamisierung mit dem Blick auf die literarische Arbeit, die mit dem Dreischritt von imitatio, exercitatio und aemulatio als rezeptive Arbeit kenntlich wird. Bumke, Retextualisierungen (2005), S. 46, benutzt diesen Begriff, um die Erprobung und Diskussion des Vorhandenen zu betonen. Bumke / Peters, Einleitung (2005), S. 2.

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Texttheoretische Prämissen

Dieser prozessuale Vorgang literarischer Überlieferung lässt sich für die Sangspruchdichtung anhand der allgegenwärtigen Schritte rhetorischer Praxis beschreiben.82 Imitatio, exercitatio und aemulatio markieren das Dazwischen83 der beiden Terme Text und Retext und damit die Permanenz des Übergangs und der Veränderung. Es ist von nur sekundärer Bedeutung, ob die beiden Terme synchron oder diachron zueinander stehen, ob der eine Term ein Text, eine Wissensform, eine diskursive Formation oder ein kulturelles Denkmodell ist. Eine kommunikationsgeschichtlich erhellende Erklärung ihrer Relationierung gibt weder ein elaboriertes Text-Kontext-Modell noch auch ein binäres Modell, das mit den Begriffen Tradition vs. Innovation, alt vs. neu, Norm vs. Verstand oder Traditions- vs. Erfahrungswissens umrissen wäre.84 Ausschlaggebend für die Beschreibung des Verhältnisses der beiden Terme ist der Sachverhalt des Übens. Jede Form literarischer Tradierung ist eine Form der Übung mit dem Ziel, das Nachgeahmte (imitatio) im Wettstreit zu übertreffen (aemulatio).85 Der Gedanke des Fertigstellens oder der Vervollkommnung eines Vorgegebenen erklärt die Fülle an Variationen, Mehrfachüberlieferungen und Mouvance (noch) nicht hinreichend. Entscheidender Anstoß dafür ist nicht allein die Verpflichtung auf eine Besserung, sondern das Übertreffen der Fertigkeiten des Anderen / der alten Meister. Bezogen auf den Sangspruch liegt in diesem Argument die Ursache meisterlicher Auseinandersetzung. Der Reichtum dieser 82

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Siegfried Wiedenhofer, Art. „Tradition, Traditionalismus“ (wie Anm. 65), S. 612, weist darauf hin, dass im von der Rhetorik gelenkten Bereich antiker Bildung und Erziehung tradere und docere synonym gebraucht wurden, sich im Lehren ein Überliefern findet und im Lernen ein Empfangen. Die Figur des Dritten ist Teil einer philosophischen, soziologischen und literaturwissenschaftlichen Debatte, die hier ausgeblendet bleibt. Ich wende mich dem Phänomen induktiv zu, ohne es zu theoretisieren. Die Begegnung des Alten und Neuen für die Frühe Neuzeit in Bezug auf die Verbreitung des Wissens ist beispielhaft beschrieben bei Jan-Dirk Müller, ‚Alt‘ und ‚neu‘ (1991). Knapp zehn Jahre zuvor ist Horst Brunner, Tradition und Innovation (1983), noch genötigt, den Vorwurf der Epigonalität für jede Neuerung, die dem traditionellen System entwächst, abzuwenden. In diesen Zusammenhang gehören Überlegungen zum Minnesang als Variationskunst, die die Varianz der Lieder auf die Fülle der Vorträge zurückführen oder Mouvance als eine Arbeit am geschriebenen Text erfassen: Max Schiendorfer, Mehrfachzuweisungen (1985), S. 66–94; Thomas Cramer, Was hilfet (1998), S. 50, beschreibt die Arbeit am Text als ein planvolles Vorgehen, das eine Literaturästhetik dokumentiere, „die das Werk des Autors prinzipiell offenhält für Veränderungen“. Cramer spricht vom „Spiel mit dem vom Autor bereitgestellten Wort- und Formmaterial“, postuliert dabei eine feste Größe, einen Ursprungstext, von dem aus die Bearbeitungen zu beginnen haben. Ohne die Prämissen des klassischen Autor-Werk-Konzepts ist jede textuelle Form der Bearbeitung als Arbeit an einem vorgegebenen „Wort- und Formmaterial“ zu erfassen, rückt auch der Text eines ‚Autors‘ als Bearbeitung vorausliegender materia in den Prozess der Traditionsbildung ein. Die Varianten eines Textes sind, bezogen auf den Minnesang, Zeugen eines exercitatioProzesses, der sich sehr gut auf die Situation verschiedener Sängervorträge beziehen lässt. Genauso überzeugend lassen sich Mehrfachüberlieferungen als die Varianten eines übenden Autors verstehen oder als Bearbeitungen eines dem rhetorischen Dreischritt von imitatio, exercitatio und aemulatio verpflichteten Dritten. Cramer, ebd., S. 184, bestimmt Reproduzieren und Wiederholen in der Konsequenz als „eine Auseinandersetzung mit der Konventionalität der Sprache“.

Autor-Werk-Konzept und die texuelle Formation des Langen Tons

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Vorstellung des Übertreffens erstreckt sich vom agonalen Überbieten der eigenen und der anderen Rede über die schmückende Einkleidung und Erhöhung des Alten bis hin zu dessen übersteigender Erfüllung.

5.

Autor-Werk-Konzept und die texuelle Formation des Langen Tons

Im Rahmen der Frauenlob-Forschung wird die Arbeit des Erneuerns mehrheitlich an die Vorstellung vom Autor Frauenlob als einer textvorgängigen Instanz zurückgebunden. Dies geschieht auf der Grundlage der Vermittlungsleistung textueller Spuren. Die Frauenlob-Forschung wird durch die editionsphilologischen (Vor-)Arbeiten von Helmuth Thomas, die Ausgaben und Forschungen Jens Hausteins und Karl Stackmanns86 sowie die Arbeiten von Egidi, Huber, Köbele und Wachinger87 konturiert. Sie basiert auf dem klassischen Autor-Werk-Konzept. Angesichts einer weit zerstreuten Überlieferung von Tönen und Strophen, die Frauenlob zugeschrieben werden, und einer kruden Überlieferung, die vom 14. Jahrhundert bis in die Barockzeit reicht, ist das klassische Autorkonzept eine der Möglichkeiten, um die Zahl der überlieferten Strophen durch das Selektionskriterium der Echtheit handhabbar zu bekommen. Auf diesem Kriterium basierte bereits die Ausgabe von Ludwig Ettmüller88 und auf ihm basieren die beiden für die Frauenlob-Forschung zentralen Editionen, die Göttinger Frauenlob-Ausgabe (GA) und ihr Supplement (GA-S). Die Herausgeber sind sich der Probleme ihres Selektionskriteriums durchaus bewusst, doch sind sie den Vorarbeiten von Helmuth Thomas und seinen Echtheitsentscheidungen verpflichtet.89 Die konzeptionelle Schwierigkeit einer damit verbundenen Unterscheidung zwischen ‚Frauenlob‘ und ‚Pseudo-Frauenlob‘ tritt darin zutage, dass der Punkt der Ablösung des einen Textensembles vom anderen in der

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Helmuth Thomas, Untersuchungen (1939); Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche, Lieder, 2 Bde., aufgrund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. v. Karl Stackmann und Karl Bertau (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologischhistorische Klasse III, 119 / 120), Göttingen 1981 (zitiert: GA); Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, 2 Bde., unter Mitarbeit v. Thomas Riebe u. Christoph Fasbender, hg. v. Jens Haustein u. Karl Stackmann (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse III, 232), Göttingen 2000 (zitiert: GA-S); vgl. die Arbeiten von Karl Stackmann (Anm 5). Egidi, Höfische Liebe (2002); Huber, Alanus (1988); Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977); Köbele, Liedautor (1998); dies., Lieder (2003); Wachinger, Sängerkrieg (1973). Heinrich von Meissen, des Frauenlobes Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder, erl. u. hg. v. Ludwig Ettmüller, Amsterdam 1966 [ND der Ausgabe Quedlinburg / Leipzig 1843]. Echtheitsfragen haben für ein ‚Frauenlob-Œuvre‘ keine letztgültigen Antworten; Karl Stackmann, Über die wechselseitige Abhängigkeit (1983), S. 48.

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Texttheoretische Prämissen

Überlieferung nicht genau bestimmt werden, weshalb klassisches Autorschafts-Konzept und Überlieferung damit unvereinbar scheinen.90 Die innerhalb des Faches fundamentale und viel diskutierte Autor-Werk-Kategorie, gleichermaßen das umstrittene Verhältnis von Überlieferung und Autorschaft, ist in der Arbeit von Albrecht Hausmann zur Lyrik Reinmars des Alten zentral bearbeitet worden.91 Hausmann versucht zwischen der Autorschaft als einer unverzichtbaren Kategorie der Literaturwissenschaft und der Fülle der Überlieferungsträger zu vermitteln. Nicht im Verzicht auf Handschriftennähe, sondern aufbauend auf den Überlieferungszeugen, und zwar als solchen der Rezeption, wird für ihn der Autor in den Konkretisationen der Handschriften greifbar. Maßgeblich ist nicht die Echtheit der Überlieferung, sondern ihre ‚gestufte historische Relevanz‘. Wobei Hausmann historische Relevanz aus der Überlieferungsdichte ableitet und an die Stelle der Echtheit zunächst ein quantifizierendes Kriterium rückt, das in einem zweiten Schritt durch inhaltliche Argumente gestützt wird. Um der historisch relevanten Autorkonkretisation nahe zu kommen, sind es wiederum stemmatologische Konstrukte, die die historisch relevanten Überlieferungsreihen organisieren, um die eigene Autorvorstellung mit der historischen Autorkonkretisation zur Deckung zu bringen.92 Der Zugang zum historischen Material, den die Forschung jeweils sucht, könnte nicht unterschiedlicher sein. Neben dem vom klassischen Autorkonzept her gedachten produktionsgeschichtlichen Rekonstruktionsversuch, der den Hiat wertend überschreitet und auf diese Weise Differenzierungen vornimmt, stellt Hausmann einen rezeptionsgeschichtlichen Zugriff, um die Differenz zwischen Materialcorpus und Autor-Œuvre zu überbrücken und hermeneutisch reflektiert zu meistern. Auch bei Susanne Köbele bleiben die Überlieferung und das Verhältnis zum Autor im Blick. Sie behält den Standpunkt mittelalterlicher Autorschaft bei, genauerhin fragt sie nach einer „autorspezifischen Stilhaltung“, einem „individuellen Sprach- und Formverhalten“ des Liedautors im gattungsgeschichtlichen, intertextuellen und diskursgeschichtlichen Zugriff.93 Mit ihrem Ansatz kann sie die Lieder Frauenlobs in den unter90

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Karl Stackmann führt in der Einleitung zur GA, S. 167 aus, dass „nicht genau festzustellen ist, wann und wo sich in unserer Überlieferung die Ablösung der Dichtung in frauenlobscher Manier vom Dichter Frauenlob vollzieht“. Das ist einer der Gründe, warum ich den Begriff ‚Meisterliche Dichtung‘ bevorzuge. Eine solche Perspektive ist nicht auf Punkte der Ablösung oder Abgrenzung der Textcorpora gerichtet, sondern auf Formen der Prozessualität im Rahmen der Überlieferung. Hausmann, Reinmar als Autor (1999). Vgl. ebd., S. 60f. Genau referierend, Argumentum und Zirkel ausziehend, Susanne Köbele, Lieder (2003), S. 28–33. Köbele, Lieder (2003), S. 20, sucht die Lieder Frauenlobs „in den Kontexten ihrer Überlieferung und Rezeption“ auf, vor allem im Blick auf Heinrich von Mügeln; Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), stellt sich in ihrer Arbeit zum höfischen Liebesdiskurs im Sangspruch dem Problem der Materialfülle durch gattungsgeschichtliche Selektion: Sie liest die literarischen Liebesentwürfe der Sangspruchdichter vor dem Hintergrund jener Entwürfe des Minnesangs und der Gattungstraditionen des Sangspruchs. Doch rückt sie mit diesem Ansatz von den Überlieferungszeugen ab und fokussiert im Falle Frauenlobs die Spruchstrophen des in der GA gebotenen Autor-Œuvres.

Autor-Werk-Konzept und die texuelle Formation des Langen Tons

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schiedlichen ‚Kontextbeziehungen‘ beleuchten. Da der „Hiat zwischen Autor und Überlieferung […] für den Liedautor Frauenlob außerordentlich weit“ klafft,94 bestimmt Köbele die Überlieferung – dasjenige, was „als ‚frauenlobisch‘ wahrgenommen worden“ ist – als hermeneutisch relevant für das historische Verständnis des Liedautors. Auf diese Weise möchte sie im Vergleich und in der Abgrenzung von den überlieferten Aussagen, die das ‚Frauenlobische‘ ausmachen, zu einer „hypothetischen Autoridentität“ gelangen, einer „Merkmalsebene“ des Besonderen, die „vor der Überlieferung“ liegt.95 Der Autor als „Funktion der Überlieferung“ ist damit nur als rezipierte Größe zu erreichen.96 Da die Corpora in der Sangspruchdichtung, um die es mir geht, in der Regel nach Tönen geordnet sind und der Punkt der Ablösung von ‚originärem‘ Frauenlob und Nachfolgern nicht exakt zu bestimmen ist, bleibt die Interpretation dessen, was den Autor Frauenlob in seiner Besonderheit ausgemacht habe, immer dem Vorwurf ausgesetzt, historisch Uneinholbares zu rekonstruieren.97 Mir scheint nun, dass das Kriterium der Tonautorschaft gegenüber der Autorschaft in historischer Perspektive ein Ordnungskriterium besonderer Relevanz gewesen ist. Ich nehme diese Perspektive ein, auch wenn ich damit den „philologischen (editorischen und interpretatorischen) Anstrengungen“98 einer Rekonstruktion des Autors ‚vor der Überlieferung‘ ausweiche und im Blick

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Köbele, Lieder (2003), S. 15, S. 33. Susanne Köbele geht nicht in jedem Fall zu den Handschriften zurück, sondern akzeptiert die Aporien der GA, etwa dass die in der späten (!) Weimarer Liederhandschrift F überlieferten ‚Lieder Frauenlobs‘ aufgrund der textkritisch rekonstruierenden Erwägungen (F gilt als Abschrift einer verlorenen niederdeutschen Sammlung *F) von den sogenannten späten ‚Anlagerungen‘ in ‚frauenlobischer Manier‘ geschieden wurden. Damit wird der „Erschließungswert“ dieser Lieder „für das historische Verständnis des Liedautors Frauenlob“ ausgeblendet; ebd., S. 34, S. 38. Ebd., S. 33. Für einen überlieferungsgeschichtlichen und gattungstypologischen Zugriff auf das Material treten Autorschaftsfragen in den Hintergrund. Ein solcher Zugriff, wie ihn Frieder Schanze und Michael Baldzuhn für die Meisterliederhandschriften wählen, ist in systematischer Hinsicht für die Forschung ein großer Gewinn: Das Material ist heuristisch hervorragend erfasst und beschrieben, so dass sich die Strophen und ihr textuelles Umfeld in den Handschriften aufeinander beziehen lassen. Eine solche philologisch genaue und umfassende Erschließung der Handschriften vom Sangspruch bis zu den Grenzen des Meistergesangs steht entweder als Materialheuristik für sich oder sie bietet daneben, unverbunden und ausschnitthaft, eine theoretisch reflektierte, literaturwissenschaftliche Analyse der Strophen. Schanze, Meisterliche Liedkunst (1983/84); Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied (2002). Horst Brunner, Die alten Meister (1975), S. 32, unterstrich mit Nachdruck, dass die Rezeption der sogenannten echten Töne unkritisch und ahistorisch gewesen sei, insofern die alten Töne, einmal von ihrem historischen Datum entkoppelt, Muster bis in die Neuzeit blieben, damit die „Geschichtlichkeit der alten Meister“ verwischt sei. Brunner betont den unüberschreitbaren Hiat zwischen den sogenannten echten Tönen und ihrer Rezeption, der eines verdeutlicht, dass nicht die Autoren, sondern die Töne, in einer, die Zeit transgredierenden Form relevant waren. Was geschieht, so Brunner, ist ein „Bewahren der literarischen Tradition“ im Wiedergebrauch. Köbele, Lieder (2003), S. 32.

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Texttheoretische Prämissen

auf die frühe und späte Überlieferung von Strophengefügen im Langen Ton auch ausweichen muss. Die historisch überlieferte Sortierung der Strophen nach Tönen ist die Maßgabe für die hier favorisierte Materialauswahl.99 Und zunächst geht es mir auch darum, wie Burghart Wachinger forderte, den ‚Ton als Ganzen‘, in seiner diachronen Ausdehnung, in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise steht meinem Interesse an exemplarischen Erkenntnissen ein Auswahlkriterium zur Seite, das als historisches Kriterium angemessen erscheint und in den Handschriften selbst als distinktives Signal genutzt wird.100 Es geht mir nicht darum, die Kategorie der Tonautorschaft gegenüber der der Autorschaft aufzuwerten oder Autorschaft als literaturwissenschaftlich relevante Kategorie für die Sangspruchdichtung abzuweisen. Ich möchte mit dieser Entscheidung allein das in einem bestimmten Ton vorliegende Strophenmaterial als rezeptiv erzeugtes Strophengefüge bewusst halten, das darüber hinaus im Vergleich der Handschriften ein jeweils anderes ist, sowohl im Umfang als auch nach der Sortierung der Strophen. Diese historisch vorliegende Differenzierung innerhalb der Überlieferung verstehe ich als Ergebnis eines gelenkten Zugriffs auf das Strophenmaterial. Willkür und Zufall sind in diesem Rahmen keine tragenden Argumente, da sie Teil jeder Ordnungsleistung und nicht auszublenden sind. Der rezeptive Zugriff ist vom Ton und zugleich von einer spezifischen Vorstellung ‚frauenlobscher Manier‘ geleitet. Er schlägt sich in der Strophenfügung als gelenkter Fügung nieder. Entscheidend ist das jeweilig zeitgenössische Verständnis dieser ‚frauenlobschen Manier‘, das sich, wie ich meine, aus der Beschreibung der Strophengefüge und der Analyse der darin aufgehobenen Verschränkung von Poesie und Wissen erschließen lässt. Nicht der Autor und dessen künstlerische Manier vor der Überlieferung rückt in den Blick, vielmehr ist es ein sich in den Strophenfügungen abzeichnender, sich diachron wandelnder Meisterschaftsanspruch, der in der je spezifischen Verschränkung von Episteme und Poesis zum Ausdruck kommt und analysiert werden soll. Überlieferungsnahe Studien zur Sangspruchdichtung, die eine solche Verschränkung in ihrer Prozesshaftigkeit untersuchen und damit die Bearbeitung diskursiven Wissens in einem Ton durch die Jahrhunderte hindurch verfolgen, sind eher die Ausnahme.101 199

Burghart Wachinger forderte in seinem wegweisenden Beitrag zur Editionstagung von 1966 in Marbach am Neckar, dass Editionsprojekte zur Sangspruchdichtung des 13. Jhs. und zum meisterlichen Sangspruch des 14. und 15. Jhs. die Textpräsentation nach Tönen und Baren organisieren sollten; vgl. Wachinger, Bedeutung der Meistersingerhandschriften (1968), S. 117 und 121: „Es ist für Spruchdichtung und frühen Meistersang […] wichtig, daß man den Ton vom 13. bis zum 15. Jahrhundert als Ganzen überblicken […] kann.“ 100 In welcher Weise dies ein Effekt von Rezeptionsprozessen ist, kann ich hier noch nicht beantworten, und es ist für das Problem der Operationalisierbarkeit des Materials vorerst auch nicht belangvoll. 101 Verweisen möchte ich auf zwei ähnlich gelagerte, methodisch aber anders ausgerichtete Forschungsbeiträge: Wachinger, Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift (1987); Haustein, Formen (2005). Wachinger zeigt im Horizont der sich ändernden Überlieferungssituation den Weg

(Ton-)Autorschaft und Meisterschaft

6.

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(Ton-)Autorschaft und Meisterschaft

Was der Autor für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters gewesen ist, lässt sich aus heutiger Perspektive nur unzureichend beantworten. Für uns, so Burghart Wachinger, wird „ein Autor […] erst durch die Überlieferung konstituiert.“102 Andere, teils bereits wieder obsolete Überlegungen im Bereich mediävistischer Diskussionen um die Kategorien Autor und Autorschaft gehen diesem Diktum voraus. Das frühe Interesse an einem biografischen Autor ist einem weiten Feld textgeleiteter Fragen nach Autor auf, den die Texte „des jungen und mittleren Frauenlob[s]“ und ihre Inhalte in J zum „späteren Frauenlob und seine[n] Schüler[n]“ in F genommen haben. Haustein untersucht dagegen ‚stoffliche Konstanz und Varianz‘ zwischen dem Sangspruch des 13. und der meisterlichen Dichtung des 14. und 15. Jhs. auf der einen Seite und dem institutionalisierten Meistergesang des 16. und 17. Jhs. auf der anderen Seite am Beispiel ausgewählter Stichwörter des RSM-Registers. Er vermag auf diesem Wege sehr überzeugend unterschiedliche Formen der Bearbeitung des Wissens zwischen Sangspruch und Meisersang zu beschreiben. Burghart Wachinger hat in jüngerer Zeit in einem Beitrag zur Gattungsgeschichte der Sangspruchdichtung drei Entwicklungslinien aufgezeigt, die auf weitere Bearbeitung warten und für meinen Ansatz relevante Schwerpunkte markieren: Barbildung, Sprachartistik und Meistertum sowie Wissensverarbeitung und Diskurszusammenhänge. Wachinger, Sangspruchdichtung (2007), S. 19. Töne sind noch kaum als textuelle Formation in den Blick gerückt. Allein Helmut Tervooren, Einzelstrophe oder Strophenbindung? (1967), S. 110–121, untersucht den Ton als formale Einheit und kann so perspektiviert verschiedene Formen der Strophenverknüpfung beschreiben. Ich vernachlässige für meinen Ansatz die formgeschichtliche Seite des Langen Tons, für die Horst Brunner immer wieder Aufmerksamkeit eingefordert hat, vgl. zuletzt: Horst Brunner, Spruchtöne Frauenlobs (2002), S. 61–80. Zur Bindung der Interpretation an die Melodieführung Shields, Zum melodischen Aufbau (1988). 102 Wachinger, Autorschaft und Überlieferung (1991), hier S. 1. Ähnlich auch Karl Stackmann, Autor – Überlieferung – Editor (1998), hier S. 28f., in Auseinandersetzung mit Überlegungen zu mittelalterlicher Textualität von Peter Strohschneider, Situationen des Textes (1997), hier S. 65–82. Für den Editor ist die Rekonstruktion des Autortextes bzw. eines autornahen Textes der Arbeitsgegenstand. Er bietet der Forschung damit i. d. R. eine textuelle Form, die die beiden Terme Autor und Text eng führt, so dass die textanalytische und wissensgeschichtliche Arbeit kanalisiert ist und mit einem zu bedenkenden (Vor-)Urteil zu beginnen hat. Eine Kopplung der Terme Autorschaft und Überlieferung im Rahmen der Interpretation umgeht mögliche Untiefen subjektzentrierter Prämissen, weil sie einen textanalytischen Ansatz mit dem Blick auf die Materialität der Handschrift und ihre historisch spezifischen Signaturen verknüpft, damit Autorschaftsentwürfe und ihre materiellen Imaginationen zusammenführt. Rüdiger Schnell kritisiert einen solchen Fokus dann, wenn dieser postmoderne Theorien adaptiert und eine auf das Mittelalter übertragene Abschaffung des Autors postuliert. Seine Kritik zielt vor allem auf Pauschalurteile der Mediävisten bezogen auf die Überlieferung, Schnell, Autor und Werk (1998), S. 15. In seinem Plädoyer für einen mittelalterlichen Autorbegriff nimmt Schnell mit seinem Gewährsmann Petrarca selbst eine unbedachte Glättung nicht nur der epochalen Differenzen, sondern auch der historisch spezifischen, etwa gattungsbedingten Unterschiede vor. „Individualität“ und „Originalität“ (ebd., S. 20) sind Kategorien, die in den epischen und lyrischen Gattungen des hohen und späten Mittelalters sowie der frühen Neuzeit einen je anderen Stellenwert aufgrund der ambigen Referentialisierung haben, und sie sind wiederum anders zu bewerten etwa in einem Autograf Petrarcas oder einem deutschen Autograf von Hans Sachs.

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Texttheoretische Prämissen

(re-)konstruktionen und nach Ich-Rollen in Aufführung, Schrift und Bild gewichen.103 Überlieferungsgeschichtliche Ansätze gehen noch einen Schritt hinter diese Perspektive zurück und suchen die Autorkonstruktionen handschriftennah auf. Sie öffnen dabei, die Materialität der Handschriften bedenkend, den Textbegriff für das unmittelbare textuelle Umfeld.104 Rezeptionsgeschichtliche Interessen führten dazu, dass die Ergebnisse dieses Ansatzes partiell generalisiert wurden, um handschriftenübergreifend ein historisch relevantes Autorbild zu rekonstruieren.105 Alle diese Ansätze arbeiten sich mehr oder weniger systematisch am Problemfeld der Text-Kontext-Relation ab und damit auch am Begriff der Repräsentation. Eine der Schwachstellen bei der Bestimmung mittelalterlicher Autorschaft nimmt Ursula Peters in den Blick, wenn sie auf die Text-Bild-Relationen der Manessischen Liederhandschrift eingeht. Es sind gerade die referentiellen Vernetzungen figurierter Autorschaft und Formen der Repräsentation, die sich in ihrer Ambiguität als eine solche Schwachstelle erweisen. Die uneindeutige Verweiskonstellation der Miniaturen, daneben die klassische Vorstellung eines Autor-Urhebers, führen zu jenen Irritationen und Referentialisierungsversuchen, die die mediävistischen Erörterungen der C-Miniaturen weithin bestimmen.106 Die Vielfalt der bildkünstlerischen Darstellungen von der Schreibszene, 103

Die jüngeren Beiträge seien hier stellvertretend angezeigt: Brem, Gattungsinterferenzen (2003); Albrecht Hausmann, Wer spricht? (2007); Jens Haustein, Gattungsinterferenzen (2007); Volker Mertens, Meisterlied (2004); Lauer, Ästhetik der Identität (2008) sowie die reflektierten und weitreichenden Arbeiten von Margreth Egidi, Dissoziation (2000); dies., Text, Geste, Performanz (2000); dies., Sängerpolemik (2002); dies., Performativer Prozess (2004). Alle diese Beiträge stehen im Horizont der mediävistischen Performanzdebatte zur Lyrik: vgl. Peter Strohschneider, Aufführungssituation (1993); ders., nu sehent (1996); Helmut Tervooren, Aufführung (1996); Jan-Dirk Müller, ir sult sprechen (1994); ders., Aufführung – Autor – Werk (1999), hier S. 152–156; Thomas Cramer, Was hilfet (1998), S. 7–20. 104 Ursula Peters, Autorbilder (2000), hier S. 322, weist darauf hin, dass gerade die literarturwissenschaftlichen Debatten um Autorbegriff und Autorschaft zur „Rückbesinnung auf die alte Frage“ nach dem Verhältnis von Autorschaft und Überlieferung führen. Hier sieht sie eine starke Differenzierung der Profilierung der Autorkonzepte nach Texttypen, wenn sie zwischen „prägnantem Autorbewußtsein“ einer „Anonymität der Überlieferung“, „fehlender Autorprofilierung“ und „strikt autorbezogener Tradierung“ unterscheidet. In ihren Reflexionen differenziert sie einen mittelalterlichen Autorbegriff und historisiert ihn texttypspezifisch bzw. gattungs- sowie überlieferungsgeschichtlich. 105 Ohne die weitläufige Debatte um die Kategorien Autor und Autorschaft detailliert zu belegen, möchte ich auf wenige, in ihrer Art systematische bzw. thesenhaft prägnante oder überlieferungsgeschichtlich relevante Beiträge hinweisen: Wachinger, Autorschaft und Überlieferung (1991); Jan-Dirk Müller, Auctor – actor – author (1992); ders., Aufführung – Autor – Werk (1999), hier S. 156–161; Stackmann, Autor (1998); Schnell, Autor und Werk (1998); Bein, Zum Autor (1999); Hausmann, Reinmar als Autor (1999); Helmut Teervooren, Die Frage nach dem Autor (2000), und auf die sich mit der Manessischen Liederhandschrift und den Autorprofilen beschäftigenden Beiträge von Ursula Peters, Autorbilder (2000); dies., Ordnungsfunktion (2001); vgl. auch Sebastian Coxon, Authorship (2001); Michael Stolz, Aura der Autorschaft (2005); Freimut Löser, Postmoderne Theorie (2005). 106 Peters, Autorbilder (2000), S. 323f.

(Ton-)Autorschaft und Meisterschaft

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der Dedikation, der Belehrung, über die Repräsentanten von Macht bis hin zu sujethaften Illuminationen ruft in den wenigsten Fällen die Vorstellung eines Autors hervor. Eher zeigen die Miniaturen ein mangelndes Interesse am eigentlichen Urheber der Texte. Sie sind in ihrer unspezifischen Fülle Ausdruck einer auctoritas, die unsystematisch mit den ihr folgenden Strophenverbünden verknüpft ist. Und auch die Namen, die immer auf eine Ordnung der Handschrift nach Ständen gedeutet werden, sind in erster Instanz Indikator mittelalterlicher Repräsentationsbestrebungen denn Ausweis einer Autorenhierarchie. Die Ordnungsleistung der Namen scheint mir noch nicht verkoppelt zu sein mit einem Interesse für die Urheber, für den Text als personalisiertes Eigentum und sich daraus ableitender Verantwortung. Sicher geht es um die Darstellung von auctoritas, doch nicht bezogen auf einen Urheber, sondern bezogen auf die Vorbildwirkung, die mit den Namen, den Figurationen der Macht, des Glaubens, der Lehre und Unterweisung, der Minne und des Rittertums verbunden ist, und die neben ihrem repräsentativen Duktus die Glaubwürdigkeit der Stropheninhalte zu stärken vermochte.107 Namen als Ordnungsinstrument einer Handschrift, als Siglen für ein Textcorpus und ihnen zugewiesene Miniaturen, aber auch Selbst- und Fremdsignaturen, Totenklagen, polemische Rede, die poetologischen Entwürfe selbst, all diese Indizien erschließen nicht den Zugang zum Urheber eines Textes, aber sie imaginieren etwas, das man, zunächst ganz abstrakt, eine historische Vorstellung von ‚Autorschaft‘ nennen könnte. Wenn ein Sprecher-Ich in einer Strophe der Heidelberger Liederhandschrift, in einem Textcorpus unter der Sigle Meister Heinrich Vrouwenlop als ein ich, vrouwenlob (C 32,5) inszeniert ist, liegt es nahe, hinter diesem sprechenden Namen eine poetologische Absicht zu vermuten, die auf das Lob der Frauen gerichtet ist.108 Dass dieser Gedanke bezogen auf die Manessische Liederhandschrift nicht gänzlich spekulativ ist, zeigt die Anlage des Frauenlob-Corpus. Zwei Eröffnungen, die Minatur als bildkünstlerische und der „Marienleich“ als textuelle, imaginieren diese Absicht in einer visuellen und einer sprachlichen Darstellung.109 Die Aufgabe des Meisters ist in seinem Namen Meister Heinrich Frauenlob programmatisch zum Ausdruck gebracht und sie ist heraldisch fixiert in Schild und identitätsmarkierender Helmzier, wie es die vor dem Corpus überlieferte Miniatur

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In diesem Sinne und mit Blick auf die Repräsentationshandschrift C ist die Frage nach der Ästhetizität des Literarischen im Mittelalter vorderhand keine Frage individueller Leistung, sondern eine Frage sinnlicher (klanglicher und visueller) Repräsentation. Hier berühre ich einen Fragekomplex, dem sich der noch junge Sammelband zum Ästhetischen widmet, vgl. dazu Das fremde Schöne (Braun / Young 2007). 108 Diese Beobachtung basiert auf einem Diktum Foucaults: Wenn das (mittelalterliche) Denken in Analogien dazu führt, dass die Regeln der Sprache auf die der Gesellschaft rekurrieren, dann ist die Betrachtung der Sprache eine Möglichkeit, zugleich die Welt der Dinge zu erfassen wie Abbild und Bild oder Schatten und Ursache. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (91990), S. 31–66. 109 Zu Text-Bild-Relationen in der Manessischen Liederhandschrift vgl. Franziska Wenzel, Vom Gestus des Zeigens (2006).

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Texttheoretische Prämissen

zeigt.110 Name, szenische Darstellung, Schild und Helmzier verweisen nicht zuerst auf den Urheber des Textcorpus, sondern sie repräsentieren eine künstlerische Vorstellung meisterlicher Darbietung. Sie imaginieren das Frauenlob in Wort und Bild: In der Fiktion der szenischen Darstellung nimmt der Meister, in Hermelin gekleidet und auf einem Thron sitzend, zusammen mit Schild und Helmzier die obere Hälfte der Bildfläche ein. Er ist damit räumlich über die Gemeinschaft der Musikanten gestellt und zugleich, durch Hermelinrobe und Thron, symbolisch erhöht. Die Darstellung imaginiert dreierlei: 1. In der spiegelbildlichen Bezogenheit von thronendem Meister und Helmzier, der Bezogenheit der dargestellten Körper des Meisters (Zeigegeste) und der gekrönten vrouwe sowie ihrer aufeinander gerichteten Blicke ist die Reziprozität von Meister und Gegenstand nur zu deutlich visualisiert. 2. Die Verdopplung der gekrönten Frauenbüste in Helmzier und Schild ist von zweifacher Funktion. Schildbilder verweisen in der Heraldik auf das Geschlecht und repräsentieren Adel und Besonderheit.111 Sprechende Schildfiguren, wie in eben diesem Fall die gekrönte vrouwe, verweisen zudem auf den Namen des Schildträgers. Und so sind hier Namen und Besonderheit des Meisters – seine Berufung – im Schildbild vor Augen gestellt. Die doppelte vrouwe, in Szene gesetzt als körperhaft anmutende und agierende Frau, bringt zum einen die Nähe von Meister und Gegenstand zum Ausdruck und weist zum anderen auf die Besonderheit des Meisters hin. Als Frauenbüste der Helmzier legitimiert sie den Meisterschaftsanspruch im Kommunikationsraum der Gesellschaft, als idealisierte statische Büste auf dem Schild adelt sie den Gegenstand der Kunst – das Frauenlob – und in der Funktion als Schildfigur adelt sie den Schildträger Meister Heinrich Frauenlob. 3. Die inszenierte Aufführung ist als multiple Handlung mehrerer Beteiligter entworfen: Der Meister selbst ist der, der sprechend oder singend und musikalisch begleitet das Lob der gekrönten (höchsten) vrouwe vorträgt. Das hier ein musikalisch untermalter Vortrag gemeint ist, hat seine Rechtfertigung neben dem Geige spielenden Musikanten in den beiden Zeigegesten des Thronenden, die auf die vrouwe des Wappens und die Musikanten weisen. Zeigegesten haben in der gesamten Liederhandschrift nicht nur Verweisfunktion, sondern sie sind immer wieder auch kommunikativ instrumentalisiert,

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Zum Autorenbild der volkssprachlichen Handschriften des Mittelalters sind seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Reihe motivgeschichtlicher, aber auch textanalytisch orientierter Arbeiten erschienen: Vgl. z. B. Siebert-Hotz, Bild des Minnesängers (1964); vgl. auch Peter Bloch, Art. „Autorenbild“, in: LCI 1 (1994), Sp. 232–234; zu den Miniaturen in C s. Hella FrühmorgenVoss, Bildtypen (1975); Vetter, Bilder (1981); ders., Bildmotive (1988); vgl. darüber hinaus Horst Wenzel, Autorenbilder (1998), und Ursula Peters, Autorbilder (2000); dies., Ordnungsfunktion (2001). 111 Schröder, Kleine Wappenkunst (1990), S. 91–114; Scheibelreiter, Heraldik (2006), S. 24–45 u. 96– 197. Vgl. auch Filip, Einführung in die Heraldik (2000); Hildebrandt, Handbuch der Heraldik (2007).

(Ton-)Autorschaft und Meisterschaft

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so dass sich wohl behaupten lässt: Hier wird höchstes Frauenlob interaktiv vorgeführt.112 Bereits die das Corpus eröffnende bildkünstlerische und szenisch arrangierte Imago meisterlichen Frauenlobs muss als ein erstes historisch relevantes Rezeptionszeugnis des folgenden literarischen Meisterschaftsentwurfs gelten, der mit dem Marienlob des „Marienleichs“ sofort exemplifiziert ist.113 Meisterschaft ist im Gefolge dieser Eröffnung vorgetragenes höchstes Frauenlob. Nicht Autor und Autorschaft, nicht naturrechtliche Kategorien wie Eigentum und Eigenheit, nicht die juridische Frage der Verantwortung sind die Basis dieser Imago. Es sind in Erstinstanz die Modalitäten der Überlieferung, streng genommen Modalitäten des Gebrauchs, die historisch aussagekräftig werden. C präsentiert mit den sekundär ausgeführten Miniaturen und der Strophenanordnung ein Rezeptionszeugnis. Unabhängig davon, welche Vorstellungen im Schöpfer jeder einzelnen Miniatur zusammenflossen, die Miniatur ist eine Form historischer Deutung, die der Sigle Meister Heinrich Vrouwenlop ein Gesicht gibt. Sie spiegelt eher ein historisches Interesse am Phänomen der Meisterschaft als an der Autorschaft im modernen Sinne von Urheberschaft und Verfügungsgewalt. Mit hoher Sicherheit ist davon auszugehen, dass durch die je anderen Gebrauchsinteressen, die die Handschriften repräsentieren, eine je andere Aussage zum Problemfeld von Autorschaft und Meisterschaft getroffen ist. Jeder analytische Versuch einer textuellen bzw. intratextuellen Rekonstruktion eines Autors präsupponiert neuzeitliche Subjektkategorien wie Eigentum, subjektive Schöpfung, Urheberschaft, Verantwortung, die sich in der weiteren Textarbeit nur schwer einlösen lassen. Kaum ein anderer Begriff ist semantisch so stark mit der Subjektvorstellung verbunden wie der des Autors. In der Konsequenz dieser beiden Beobachtungen möchte ich die historische Vorstellung und den Begriff Autorschaft von den Prämissen eines Autorsubjekts frei halten. Die terminologischen Unschärfen, die man sich dennoch mit diesem Begriff einhandeln würde, will man nicht an jedem Punkt der Argumentation erneut auf die geänderten Prämissen hinweisen, werden im Begriff der Meisterschaft neutralisiert. Mit diesem historisch konkreten, das heißt in den Handschriften genutzten und reflektierten Begriff, verschiebt sich der Blick von der Personalisierung der Kunst hin zu einer handwerklichen Funktionsbestimmung. Damit meine ich schlicht das Produzieren mit Hilfe eines Werkzeuges, eines Schmiedehammers oder Kochlöffels, oder auch, in einem unmittelbareren Sinne, mit Hilfe der Zunge und des

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Das neben der lectio difficilior gleichermaßen der Thronende allein im Sinne einer hierarchischen Vorrangstellung imaginierbar ist, weise ich nicht von der Hand. Mir scheint jedoch, dass das interaktive Potential der Zeigegesten noch zu wenig Beachtung findet. 113 Üblicherweise stehen Großtexte wie der Leich zu Beginn eines Corpus. Ungeachtet dieser strukturellen Tatsache sind die referentiellen Bezüge von bild- und wortkünstlerischer Eröffnung im Frauenlobcorpus von C deutlich und unbedingt zu beachten. Höchstes Frauenlob ist an diesem repräsentativen Ort mit Bild und Text doppelt inszeniert.

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Texttheoretische Prämissen

Verstandes.114 So kommt man nicht nur einer historischen Vorstellung hinter den IchAussagen und den poetologischen Entwürfen nahe, sondern konnotiert sind im semantisch weiten Feld dieses Terms Vorstellungen des Ausführens, des Bearbeitens, der Geschicklichkeit, des Könnens, des Ratgebens, Unterweisens und Belehrens. Alle diese Vorstellungen sind in der einen oder anderen Weise (im Bereich der hier relevanten Spruchüberlieferung) literarisiert und, das wäre eine wichtige Beobachtung, sie fließen zu einem in jeder Handschrift eigenständigen Bild zusammen. Dass die Metaphernsprache bezogen auf die Meisterschaftsentwürfe durch solche bildspendenden Bereiche geprägt ist, die die Unmittelbarkeit des Handelns imaginieren und Handwerk, Körper, körperliche Auseinandersetzung (Streit) und Natur umfassen, liegt eben in der handwerklichen Funktionsbestimmung des Meisterschaftsbegriffs begründet. Vielleicht sollte man vorsichtiger auch von wirkender Funktion sprechen; man ließe sich damit auf ein Bildfeld ein, dem die Nutzung und Veränderung eines Materials / Stoffes durch eine bestimmte Form des Einwirkens inhärent wäre. Man hätte so zum einen das Moment der Wiederholung erfasst, das im Rahmen der Vorstellung der Meisterschaft ein spezifisches Erneuern ist,115 und man hätte zum anderen das erfasst, was mit dem schillernden blüemen-Begriff umrissen wird.116 Meisterschaft lässt sich damit zum einen als eine historische, auf die Dichtkunst bezogene überindividuelle Vorstellung begreifen, die im Blick auf die Strophen im Langen Ton Frauenlobs und auf Konrad von Würzburg sowie Heinrich von Mügeln für poetische Darstellungsformen wie etwa die Erörterung, die Ermahnung oder den Streit einsteht.117 Diese Darstellungsformen, die heteronom bestimmt sind durch Kirche, 114

Vgl. den historischen Überblick von der Antike zur Postmoderne von Michael Wetzel, Art. „Autor / Künstler“, in: Ästhetische Grundbegriffe 1 (2000), S. 480–544, hier S. 480, der den handwerklichen Charakter künstlerischer Tätigkeit für das Mittelalter betont. Siehe zum Meisterbegriff die gattungsübergreifende Zusammenstellung (und Interpretation) der Belege bei Julius Schwietering, Demutsformel (1921), S. 183–199. Zuletzt Kurt Gärtner, Zu den mittelhochdeutschen Bezeichnungen für den Verfasser eines literarischen Werkes (1998), der nachweisen kann, dass in erster Generation die Bezeichnung meister gegenüber dem tihtære mit seinem semantischen Bezug zum tihten zunächst unspezifisch Verwendung fand. Dicke / Eikelmann / Hasebrink, Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung (2006), S. 9, rufen die (Um-)Semantisierung des meisterBegriffs in der Folgezeit auf und fragen nach einer möglichen Ausdifferenzierung des Verständnisses vom tihtære. Jan-Dirk Müller, schîn und Verwandtes (2006), S. 295, markiert, dass die Art des Handwerkszeuges zur Ausübung einer Kunst Rückschlüsse auf das Verständnis der Meisterschaft ermögliche, was (die Müller’sche Argumentation hier verkürzend) auch die Differenzen zwischen Konrad von Würzburg, Heinrich von Mügeln und Heinrich von Meissen bedinge, ebd., S. 303. 115 Die beiden Beiträge von Burkhard Hasebrink und Beate Kellner in der Festschrift für Jan-Dirk Müller, Fiktion und Fiktionalität markieren die Spielarten der literarischen Kunstform des Erneuerns: Hasebrink, Ambivalenz des Erneuerns (2009); Kellner, ein mære wil i’u niuwen (2009). 116 Dazu unlängst, alle Facetten ausziehend Müller, schîn und Verwandtes (2006). 117 Der Bezug von „Goldener Schmiede“ und „Marienleich“ Frauenlobs bei Freytag, Beobachtungen (1988/89) – mit Blick auf Konrad von Würzburg und Heinrich von Mügeln zuletzt Kellner, Meisterschaft (2009). V. a. der Vergleich mit Heinrich von Mügeln ist immer wieder ausgestellt worden, etwa durch Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 127–167, bes. S. 129–134; durch Köbe-

(Ton-)Autorschaft und Meisterschaft

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Schule, Universität und Spruchdichtung, habe ich als poetisch anverwandelte elementare und somit diskursübergreifende Redeformen (lectio, oratio, predicatio, quaestio, disputatio) bestimmt. Als Träger der Wissensvermittlung wird mit ihnen im Rahmen der Dichtung gelehrtes oder autoritativ118 beglaubigtes Wissen aufgegriffen, bejaht, im Für und Wider argumentativ ausgeschritten. Es wird zugleich, im Modus des poetischen Erneuerns, transgrediert,119 so dass Meisterschaft zum anderen, im Bezug auf den Textproduzenten, den Rüdiger Schnell einfordert,120 als ein literarischer Anspruch beschreibbar wäre, der in der „Tradition der Erneuerer“121 steht, zu denen die Epiker, allen voran Wolfram von Eschenbach und Konrad von Würzburg, zählen, und der sich, so möchte ich formulieren, aus einem wirkenden Erneuern zwischen Tradition und Artistik speist. Wobei Artistik gleichermaßen rhetorische Verfahren der Gestaltung umfasst als auch deren Diskussion und Erprobung.122 Bereits Julius Schwietering sah im Begriff des meisters einen Bezug zur kunst.123 Er betonte für die volkssprachlichen, v. a. epischen Texte, dass der Meistertitel in erster Linie für die „Kunst poetischer Diktion“ einstand, dass er weniger Ausweis der Gelehrsamkeit war, als vielmehr im Bezug auf die „Dichtung anderer“ zuerkannt wurde.124 le, Lieder (2003), v. a. S. 47–116, und zuletzt durch Gade, Wissen (2005), S. 321–330, im Rückgriff auf Stolz, ‚Tum‘-Studien (1996), S. 190–204. 118 Hierher zählen biblische Autoritäten, vor allen anderen Aristoteles und auch die alten Meister, die für die literarische Tradition einstehen. 119 Kibelka, meister (1963), S. 18, spricht vom kritischen Sondern, vom Neuordnen und Umdeuten. Vgl. den jungen Beitrag von Beate Kellner, Meisterschaft (2009), in dem Meisterschaft als eine Form des artistischen Selbstverständnisses spätmittelalterlicher Autoren begriffen wird und als ein Ort der Etablierung der Dichtkunst neben den anderen artes, sowie die rezenten Beiträge von Worstbrock, Erfinden (2009); Kellner, ein mære wil i’u niuwen (2009), und Hasebrink, Ambivalenz des Erneuerns (2009), die weniger den Aspekt der Meisterschaft denn den des Erneuerns hinterfragen im Sinne eines rekonstruierenden Erfindens (Worstbrock), des neuartig anordnenden und vielfältig perspektivierenden Wiedererzählens (Kellner) und im Sinne der Spannung zwischen Vorausliegendem und Neuem bezogen auf den literarischen Geltungsanspruch (Hasebrink). 120 Rüdiger Schnell, Autor und Werk (1998), S. 30. 121 Kibelka, meister (1963), S. 353. Zum Meister-Begriff vgl. zuletzt Dietlind Gade, Wissen (2005), S. 4f., 108f., 189–197, 319. Dort auch die Belegstellen aus dem ersten Spruchbuch Heinrichs von Mügeln. 122 Der Bearbeitung der Tradition durch die Werkzeuge der Poesie wohnt eine Spannung inne, die sich als Ambivalenz von Vergegenwärtigtem und Präsentiertem beschreiben lässt, wohl weil das Präsentierte immer ein Vergegenwärtigtes ist und das Vergegenwärtigte immer ein ‚Gewirktes‘. Wie dieses Wirken im Horizont des Blümens und des Schein(en)s bei Konrad von Würzburg umgesetzt ist, zeigt Jan-Dirk Müller ungemein eloquent, Müller, schîn und Verwandtes (2006). 123 Schwietering, Demutsformel (1921), S. 184–188; s. auch Stackmann, Heinrich von Mügeln (1958), S. 95. 124 Schwietering, Demutsformel (1921), hier S. 184, auch S. 192, 194. Schwietering zeigt, dass meister in der Epik mit dem wîsen synonym gebraucht wurde, dass aber der Begriff wîse unspezifisch Verwendung fand und nicht für Gelehrtheit, sondern für herausragende, vorbildhafte Machart der Dichtkunst einstand, ebd., S. 184. Gerade die Fülle an Handwerksmetaphern (z. B. Schmieden, Färben, Schneidern, Bauen) streicht den Umstand künstlerischen Fertigens bezogen auf das stilisti-

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Der Meistertitel wurde in den seltensten Fällen explizit selbst beansprucht, weder bei den Epikern noch bei den Spruchdichtern – einzige Ausnahme sei Frauenlob gewesen –, eher wurde das eigene Schaffen entweder im Gestus scholarer Bescheidenheit und Demut oder im Sinne der Behauptung ins Licht der alten Meister gerückt.125 Diese Dimensionen der Bezugnahme scheinen mir für das Verständnis von Meisterschaft eine zentrale Rolle zu spielen, insofern sich im Rahmen der Spruchdichtung die immer wieder herausgestellte Verbindung mit dem Vorausliegenden als eine vergegenwärtigende und ‚entbergende‘ Form der Sinnzuschreibung erweist. Und so erweist sich, mit dem Aspekt der Kunstfertigkeit, dem würken, Meisterschaft als ein zeitüberschreitender, dialogischrekursiver und zugleich sinnkonstituierender literarischer Anspruch.126 Die hier forcierten Überlegungen zu Meisterschaft und Überlieferung zielen nicht auf eine Entdifferenzierung des Bildes nach Handschriften bzw. Fassungen. Die weiterführende Prämisse meines Ansatzes liegt in der Idee einer überindividuellen Vorstellung frauenlobischer Meisterschaft, repräsentiert durch die Strophen eines Tons in frühen und späten Überlieferungszeugen. Meisterschaft in den genannten Formen wirkender Rede und in der Spannweite der tonalen Überlieferung ist als Vorstellung prozessual. Die Strophengefüge des Langen Tons in den Einzelhandschriften C, J, F und k sind für sich genommen Stationen eines Wandels, die an ihrem jeweils historischen Ort historisch spezifisches Wissen und historisch spezifisches, literarisches Können verbinden und repräsentieren. Die überindividuelle Vorstellung von Meisterschaft konkretisiert sich mit dem Ton, der den Transfer eines bestimmten Wissens und die Sukzession eines literarischen Vermögens, das unter dem sprechenden, repräsentativen und vorbildgebenden Label Frauenlob bekannt ist, in der Zeit sichert. Dabei ist meine Skepsis gegenüber dem auf die Spruchdichtung bezogenen Interpretament des dunklen, manierierten, sich über die Tradition erhebenden Blümers Frauenlob in ein methodisches Konzept geronnen, das sich an der metaphysischen Vorstellung vom Autor abarbeitet. Die Instanz hinter den in den Handschriften überlieferten Strophen ist multipel, umgreift Dichter, Sammler, Schreiber, Redaktor, Illuminator, Nutzer usf., so dass die vom Urheber der Strophen intendierte Bedeutung nicht rekonstruierbar ist. Das heißt jedoch nicht, dass damit die sche Vermögen heraus. Im Langen Ton sind beinahe alle Diskussionen um den Begriff des Meisters in Auseinandersetzung zweier Sprecher oder distanzierend im Nachdenken über die Kunst (der Meister) inszeniert. Dass dabei eine autopoietische Schleife zu kalkulieren ist, darauf hat Jens Haustein, Autopoietische Freiheit (1997), hingewiesen. 125 Die alten Meister wurden zum Vorbild erhoben im Sinne vorausliegender idealer Kunstfertigkeit; ihre Aufgabe war die des Lehrmeisters, wie das exemplarisch Rudolf von Ems im „Alexander“ zum Ausdruck gebracht hat (V.3063–3085). 126 Ich beziehe mich hier auf den Beitrag von Burkhard Hasebrink, Ambivalenz des Erneuerns (2009), der die typologische Dimension des Erneuerns im vervollkommnenden Überbieten des Alten, ebd., S. 206, erfasst, und der die ihr innewohnende Transgression, die dem Überschuss des Möglichen entwächst, S. 207, vor allem mit der Ästhetik (im Anschluss an Christian Kiening, S. 212) und mit der Schönheit (im Anschluss an Walter Haug, S. 207) in Beziehung setzt.

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„Vorstellung vom Autor als Schöpfer einer Bedeutung aufgegeben“ wäre. Eine solche Vorstellung, wenn sie beibehalten wird, arbeitet in jeder mediävistischen Rekonstruktion mit Vorurteilen, mit Setzungen und Vermutungen, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Rüdiger Schnell127 schlägt eine Adaptation postmoderner Theoreme der Dekonstruktion für mediävistisches Arbeiten aus, ob der Gefahr, dass der Autor als Schöpfer der Bedeutung negiert würde. Richtet sich der dekonstruktivistische Skeptizismus, wie ich meine, gegen eine absolut gesetzte vorschriftliche Autorität des Signifikats / Sinns und eine damit erzeugte Differenz sowie eine Abwertung der Signifikanten als nicht sinnbildende Derivate,128 so erhellt ein solcher Skeptizismus meinen Ansatz beim überlieferten Material eines Tons. Der Ton garantiert den Blick für den pluralistischen Produktionsprozess und dessen Niederschlag in den Handschriften, er garantiert den Blick für die Prozessualität und die Vorgänge des Wandels bezogen auf die Konstitution von Bedeutung in den Strophengefügen des Tons. Rüdiger Schnell, der den ‚Autor‘ als Urheberinstanz mit dem von biografischen Vorannahmen freigestellten ‚Textproduzenten‘ in seiner kritischen Schrift zur Autorfrage weiter denken möchte, hält die Bindung des Begriffs an die Verfasserschaft aufrecht.129 Im Sinne seines differentiellen Ansatzes bedeutet dies aber dennoch, dass nicht nur Unterschiede zwischen den Gattungen zu kalkulieren sind, sondern dass von Text zu Text – von Ton zu Ton, von Strophe zu Strophe – zu differenzieren ist, und dass es nicht um Verfasserschaft, sondern allein um eine, literarisch Gestalt gewordene, Idee davon gehen kann. Die Instanz des Textproduzenten ist, z. B. als vindaere, wildenaere, nahtegal […] oder meisterinne von der Vogelweide („Tristan“, V.4665–4801), eine fiktive Instanz, die im Falle des Tristan’schen Literaturexkurses reflexiv erzeugt und metaphorisch geformt ist. Von referenziellen Bezügen weitestgehend entlastet, wird ihr literarisches Potential in der Inszenierung zum Sprechen gebracht. Auch in dieser hochverdichteten „Tristan“Passage ist statt eines Urhebers eine auf vielfältige Weise kunstfertige Instanz imaginiert. Es ist eine plurale Instanz, die wiederfindet oder erfindet, die auf fremden Feldern wildert, die singt und eine Gruppe Gleichgesinnter anzuführen vermag. Nicht ‚verfügen über‘, sondern Passfähigkeit (vuoge, „Tristan“, V.4822) im Diskursraum der Künste ist

127

Rüdiger Schnell, Autor und Werk (1998), S. 30. Jacques Derrida, Grammatologie (51994), S. 23–48, hier S. 25. Derrida betont, dass der logozentrische christliche Schöpfungsglaube mit der Differenz von signans und signatum die Schrift als „Herausfallen aus der Innerlichkeit des Sinns“ (ebd., S. 27) als „Äußerlichkeit des sinnlichen Diesseits“ dem absoluten (göttlichen) Logos, dem unendlichen schöpferischen Subjekt gegenüberstelle: Die „intelligible Seite des Zeichens bleibt dem Wort und dem Antlitz Gottes zugewandt“, ebd., S. 28. Ohne eine dem Zeichen vorgängige, übergeordnete Wahrheit an einem Ort, an dem es keine Differenz mehr gibt, zu negieren, geht Derrida von einer „Bewegung der Bedeutungen“ (ebd., S. 29) aus, entdifferenziert sprachliches Zeichen und (endliche, sinnlich wahrnehmbare) Schrift, weist hin auf die Metaphorizität einer universalen Schrift der Seele (ebd., S. 30). 129 Rüdiger Schnell, Autor und Werk (1998), S. 72.

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anvisiert, und Kunstfertigkeit sowie Meisterschaft sind auch hier die Schlüssel für das historische Verständnis von Autorschaft. Die literarische Ich-Instanz, auf die von hier aus ein Blick fallen muss, ist für sich genommen eine Kategorie der Erkenntnis, die weder subjektzentriert noch referentiell zu nennen ist.130 Es ist eine Instanz, die zuallererst durch Benennung und Zuweisung konstituiert wird (etwa im Namen oder durch Qualifikationen, eine Geschichte, Rollen, Einordnung in ein kulturelles Muster). Man könnte auch sagen, dass im Ich ein Integrationspunkt von Erfahrungsgehalten gefunden ist, der dem Literarischen als Ort sekundärer Sinnstiftung gilt. Die Überlegungen Klaus Grubmüllers zur Etymologie,131 die auf der aristotelischen Unterscheidung von Dingbedeutung und durch den Menschen gesetzter Wortbedeutung aufbauen, bringen eines auf den Punkt: Das Ontologische ist immer schon ein Epistemologisches.132 Das Ich im Text ist immer ein Gewusstes, ein Konstrukt zugewiesener Bedeutungen. Für sich genommen ist das Ich referenzlos.133 Als grammatischer Ausdruck, als Pronomen, ist es referentialisierbar. Es trägt dieses Potential präsuppositiv mit sich. Geht man für die Ich-Instanz im Langen Ton nicht von einer per se gegebenen Referentialisierung im Sinne eines Autorbezugs aus, dann ist die gleiche Frage berechtigterweise auch für den Namen zu stellen, der mit den Signaturen und Nennungen aufgerufen wird. Dass die Bedeutung des Eigennamens vom Denotat entkoppelt ist, ist mit dem Verlust des Denotats, etwa durch Tod, deutlich. Oder anders formuliert, auch die Bedeutung des Namens wird sekundär erzeugt. „Eigennamen sind […] radikal arbiträr.“134 Demgegenüber suggeriert der Benennungsvorgang, der mit dem ich, Vrouwenlob (C 32,5) vorliegt, eine quasideiktische Beziehung zwischen Namen und Pronomen, die sich jedoch nicht auf jedes weitere Ich im Langen Ton übertragen lässt, die zudem aufgrund der sprechenden Form des Namens ambig ist und die sowohl eine Person imaginieren könnte als auch eine für die Sangspruchdichtung bereits früh etablierte Form der Rede, das Frauenlob. Im Falle einer Aufführung würden Pronomen und sprechende Person aufeinander bezogen sein, das Pronomen wäre eindeutig referen130

Gertrude E. Anscombe, The First Person (1975), argumentiert gegen Descartes’ Theorie, dass sich der Ausdruck ,Ich‘ unmittelbar auf eine singuläre Entität beziehe, insofern dieser Bezug immer erst gestiftet werden müsse. Da das Ich nicht immun gegen Irrtümer der Zuordnung sei, verweise es nicht per se auf ein Selbst. 131 Grubmüller, Etymologie (1975), S. 210. 132 Die Gestalten des Ichs. Castañedas ontologische Theorie der Reflexivität des Selbstbewußtseins (Frank 1994), S. 210. 133 So banal diese Aussage scheinen mag, so wichtig ist es doch, sie zu treffen. Ein Telefonat, bei dem sich der Angerufene mit einem ‚Ich bin es‘ meldet, bringt den Mangel an Referentialität auf den Punkt. Für distanzierte Formen der Kommunikation, wie es auch schriftliche Formen der Rede sind, gilt, wenn der Sprecher nicht anhand der Stimme oder anderweitig identifiziert werden kann, ist das Ich zunächst nicht referentialisierbar. Es muss benannt, erklärt oder mit einer Geschichte versehen werden. 134 Draesner, Wege (1993), S. 150.

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tialisierbar. Im Falle der Sigle Meister Heinrich Vrouwenlop in C und der sogenannten Selbstnennung werden der Name /Heinrich/ einerseits und das Pronomen /ich/ andererseits durch hinzutretende Kennzeichen bedeutsam. Heinrich Frauenlob ist Meister, und die Ich-Instanz ist Frauenlob. Eigennamen und Pronomina sind damit beide textuelle Orte der Merkmalsbündelung, ob mit oder ohne denotativen Bezug kann textanalytisch außer Acht bleiben.135 Das Ich und der Name sind befüllbare Gefäße, von denen nur der Name deskriptive Qualitäten in sich birgt, wie es z. B. Vrouwenlob, vrowe, wip, wipeon, damie und houchvart im Langen Ton zeigen.136 In der Konsequenz dieser Überlegungen kann die Idee einer überindividuellen Vorstellung von Meisterschaft nicht auf einen absolut gesetzten Autor zurückgeführt werden. Eine historische Vorstellung von Meisterschaft ist aber auch nicht linear aus den Textbeobachtungen und Analysen der Strophenverbünde von C, J, F und k ableitbar bzw. rekonstruierbar. Sicher wird sie als Wert aus den Beobachtungen und Untersuchungen gewonnen, doch geschieht dies nicht im Sinne linearer Ableitung. Die Vielfalt der Aussagen, die differierenden Meinungen, die Pluralität der Ich-Instanz, der Rollen und die diskursiven Verschränkungen ermöglichen es in ihrer Summe nicht, ein klar konturiertes, ganzheitliches, gar kohärentes Meisterschaftsbild zu bestimmen. Ich setze die Idee der Näherung, der Ähnlichkeit und der graduellen Zugehörigkeit, nicht aber die der Identität dagegen, mit der einer historischen Vorstellung von Meister135 136

Anders, ebd., S. 153f., die die Referenz zum Denotat durch Kennzeichnungen hergestellt sieht. Im Falle von Disputationen (das Sprecher-Ich und der Gegner im Sängerstreit) und dialogischen Inszenierungen zwischen dem Ich und einem transzendenten Du (Maria, Gottvater) wird das Ich zum Integrationspunkt aller dialogischen Erfahrungen. Zur Rolle des Gegners für die Konstitution des Ichs, Löser, Feind (2002), S. 513. Wo Löser von der Identifikation des Ichs mit dem Textproduzenten spricht (ebd., S. 515), etwa in Sprecherbeischriften, würde ich von Zuschreibungen sprechen. Unabhängig davon sind seine Beobachtungen zum sprechenden Namen Singûf treffend: „Singûf ist die Bezeichung einer Vertextungsinstanz. Sein Name hat eine intertextuelle Funktion, ist selbst Text und verweist auf seine Texte. Singûf ist als Ich nicht faßbar, er ist die Rolle, die eine textgenerierende Instanz in ihren Texten spielt.“, S. 516. Dass auch diese Beobachtungen von einem Referenzautor Singûf her gedacht sind, markieren die jeweiligen Satzsubjekte, vgl. „Sein Name […]. Singûf […], er […]“. Die Ansätze Lösers und Grubmüllers, die die persönliche Identität im Mittelalter vom ‚wir‘ der Gruppe her bestimmt sehen und sie nur deshalb von der Subjektposition abkoppeln, sind dem strukturell vergleichbar. Denn sowohl die Distanz zum Anderen (Person, ges. Norm) als auch die Unterschiede und Ähnlichkeiten sind Movens der Zuschreibungen und der Konstitution des textuellen Ichs, so wie ich es sehe. Ich würde nicht von persönlicher Identität sprechen, vgl. Löser, Feind (2002), S. 526, und ich blende real-historische Rekonstruktionsversuche aus, die literarischen Entwurf und reale Erfahrung denn doch aufeinander applizieren würden. Lösers Ergebnis, dass das Ich sich am geschaffenen Anderen reibe und so über das Text-Ich hinaus greifbar würde, ja dass die Rolle des Anderen es ermögliche, dass „die Rolle des Ich ihre eigene Rollenhaftigkeit im Text überschreitet und […] als wesenhaftes Ich faßbar werden kann“, ebd., S. 527f., scheint mir ins Metaphorische zu geraten. Das, was fassbar wird, ist eine Form der Meisterschaft, agonale Rede als spruchmeisterlicher Rede, für die unleugbar ein Ich steht, doch eine Entität dahinter oder darüber hinaus ist gewiss nicht zu fassen. Vgl. daneben Klaus Grubmüller, Ich als Rolle (1986), S. 390–396, und Niklas Largier, Rhetorik des Begehrens (2005), S. 255.

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schaft nachzuspüren ist, die durch Disparates ausgewiesen ist.137 Die überindividuelle Vorstellung einer durch das Frauenlob geprägten Meisterschaft ist, um ein Bild zu gebrauchen, eine Matrix miteinander verwandter, mehr oder weniger zusammengehöriger Elemente. So stellen die Strophenverbünde des Langen Tons der vier Hauptüberlieferungszeugen einander ähnliche, durch das Frauenlob geprägte Meisterschaftsentwürfe dar, lassen sich aber weder nivellieren noch auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die Überlieferungssituation jener Töne, die Frauenlob zugewiesen werden, legt es nahe, den Langen Ton herauszugreifen, weil dieser Ton synchron und diachron sehr breit überliefert ist; er ist mit 340 Strophen in den vier Hauptüberlieferungszeugen der Manessischen Liederhandschrift C, der Jenaer Liederhandschrift J, der Weimarer Meisterliederhandschrift F und der Kolmarer Meisterliederhandschrift k vertreten.138 Es ist ein Ton, der diskursiv verfügbares Wissen für poetologische Reflexionen und den Meisterschaftsdiskurs fruchtbar werden lässt. In den vier textuellen Formationen liegt Wissen aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie Ethik, Herrschaft, Recht, Religion, Kunst, Literatur, Sprachtheorie vor, das auf den ersten Blick thematisch schwer systematisierbar scheint – so wie dies auch für die anderen Töne Frauenlobs zutrifft. Im Feld der Frauenlobtöne ist der Lange Ton repräsentativ, er ist derjenige Ton unter den sogenannten echten Tönen, der über die Jahrhunderte hinweg am häufigsten genutzt und

137

Differenz und Identität schließen sich mit Niklas Luhmann zunächst aus. Erst in der Reorganisation des Differenten ergibt sich eine Einheit des Differenten. Vgl. Luhmann, Kommunikationsmedien (1975), S. 172: „Kommunikation setzt Nichtidentität der an ihr Beteiligten voraus, daher auch Differenz der Perspektiven“; ders., Wissenschaft (1990), S. 27f. Der Ansatz von Claudia Lauer, Ästhetik der Identität (2008), cap. 2 und 4, zur ‚ästhetischen Identität der Sänger-Rolle‘, zielt auf die Vielfalt der Ich-Rollen in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Von der Pluralität adaptierter Sozialrollen und ihrer literarischen Bearbeitung ausgehend, versucht Lauer, Vielfalt und Disperses in der analytischen Kategorie der Sänger-Identität zu bündeln, die sie als von Text zu Text bzw. von Lehrform zu Lehrform andere literarisch generierte ‚ästhetische Handlungsrolle‘ beschreibt (Spruchdichtung wird als Lehrdichtung verstanden und differenziert in religiöse, weltliche und politische Lehre sowie Kunstlehre). In der Konsequenz ihrer Überlegungen zeichnet sie eine plurale ‚Sänger-Identität‘ nach, die nicht als soziales, sondern als literarisches, als fiktives Rollenbündel ausgewiesen ist und auf die Idee einer idealen persona (im Sinne von Ciceros Rollenverständnis) bezogen bleibt. Die Differenzen werden auf dem Hintergrund der gedachten idealen personalen Einheit entdifferenziert, so dass auch die Spannungen zwischen den Rollen unberücksichtigt bleiben. 138 Als Arbeitsgrundlage dienen: Die Große Heidelberger ‚Manessische‘ Liederhandschrift, in Abbildung hg. v. Ulrich Müller mit einem Geleitwort v. Wilfried Werner (Litterae 1), Göppingen 1971; Die Jenaer Liederhandschrift, in Abbildung hg. v. Helmut Tervooren u. Ulrich Müller (Litterae 10), Göppingen 1972; ein Mikrofilm der Handschrift F, Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, cod. Q 564 sowie die Transkription v. Elisabeth Morgenstern-Werner, Die Weimarer Liederhandschrift Q 564. (Lyrik-Handschrift F), hg. v. ders., Göppingen 1990 (ein Faksimile [Litterae] ist seit 1985 von Ulrich Müller angekündigt). Die Kolmarer Liederhandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (cgm 4997), in Abbildung hg. v. Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler u. Horst Brunner, 2 Bde. (Litterae 35), Göppingen 1976.

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weiterverwendet wurde und der für die Vorstellung des Frauenlobischen historisch extrem relevant gewesen sein muss.139 Auch wenn die frühen Strophen, die unter dem Namen Frauenlobs überliefert sind, üblicherweise dem Bereich später Sangspruchdichtung zugerechnet werden, möchte ich den Terminus ‚meisterliche Dichtung‘ von Frieder Schanze für die Betrachtungen des Langen Tons präferieren, da er sowohl für die ältere als auch für die jüngere Überlieferung greift, weil der semantische Gehalt des Begriffs – obgleich er der Strophigkeit keine Aufmerksamkeit schenkt – ins Zentrum der früh und spät überlieferten Strophen des Langen Tons führt.140 Dieser Ton bietet im Sinne der meisterlichen Dichtung umfangreiches und zugleich überschaubares Material, um der Selbstbeschreibungsformel meisterliche kunst analytisch näherzukommen und im Überlieferungszeitraum vom Beginn des 14. bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts möglicherweise generalisierbare Beobachtungen zur Seite stellen zu können. Dabei markiert diese Formel ein bestimmtes und historisch variables Verständnis von Meisterschaft und zugleich konnotiert sie mit dem Begriff kunst Aspekte des Könnens und Bearbeitens, deren Relevanz für den Meisterschaftsanspruch in den Strophen des Langen Tons zu keinem Zeitpunkt der Überlieferung erlischt, so möchte ich behaupten. Ziel der Studien ist es, den in den Strophengefügen C, J, F, k des Langen Tons greifbaren Anspruch meisterlicher Dichtung einerseits in seinen Facetten (artifiziell in einem weiten Sinn, ethisch, höfisch, religiös) und andererseits in seinem Wandel zu beschreiben. Die Beschränkung der Untersuchung auf diesen sowohl in den frühen Liederhandschriften als auch in den späten Meisterliederhandschriften breit überlieferten Ton erlaubt es, präzise zu beschreiben, wie Meisterschaft als Verschränkung von Episteme und Poesis – und das ist eine zentrale These des Buches – literarisch tradiert wurde und

139

Die Beschränkung auf einen Ton ermöglicht keine hinlänglichen Aussagen darüber, ob dieser Ton diskursiv selektiv funktionierte, ob er bestimmte Themen zuließ und andere nicht. Im Kapitel zur Traditionalität des Langen Tons wird nach dem Status naturkundlichen und astronomischen Wissens gefragt, welches auf den ersten Blick im Langen Ton nicht bearbeitet zu sein scheint. Kurzer und Grüner Ton rücken vergleichend in den Blick, um die Beschränkung auf den Langen Ton für das bearbeitete Problemfeld rückblickend zu begründen. 140 Jens Haustein formuliert in einem seiner jüngeren Beiträge einen Hiat zwischen den drei Bezeichnungen Sangspruchdichtung (13. Jh.), meisterliche Dichtung (14., 15. Jh.) und institutionalisierter Meistergesang (16., 17. Jh.). Es sind Gattungsbegriffe, die jeweils einem anderen Zeitraum zugeordnet werden, und die die Veränderungen dieser Dichtungsform markieren, die aber dennoch einen Gattungszusammenhang und damit eine Gattungsgeschichte verschleiern. Jens Haustein behilft sich, indem er die etablierten beiden Gattungen Sangspruchdichtung und Meistergesang zusammensieht, „so als gäbe es eine zusammenhängende Gattungsgeschichte, um auf diese Weise stoffliche Konstanten und Wandlungen vor Augen stellen zu können.“ Haustein, Formen (2005), hier S. 86. Schanze, Meisterliche Liedkunst (1983/84), S. 9, der den Begriff ‚meisterliche Dichtung‘ prägte, favorisiert diesen Begriff in Anlehnung an Karl Stackmann, der auf die Selbstbeschreibung der Sangspruchdichtung als meisterliche kunst hinweist, bald nachdem sie in der Überlieferung auszumachen sei; Stackmann, Heinrich von Mügeln (1958), S. 96.

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Texttheoretische Prämissen

wie sich diese Verschränkung wandelt.141 Insofern ermöglicht sie auch systematische Ausführungen zur literaturimmanenten Traditionsbildung unter den sich wandelnden formalen Anforderungen der handschriftlichen Überlieferung zu Beginn des 14. Jhs. und in der zweiten Hälfte des 15. Jhs.142, und zwar 1. anhand der frühen Überlieferung (C, J), 2. anhand der späten Überlieferung (F, k)143 und 3. anhand des in den Corpushandschriften mehrfach überlieferten Strophenmaterials.

141

Auch hierin ist der Ansatz von Susanne Köbele wegweisend, der die Verschränkung und die Veränderung des Verhältnisses von Wissen und Poesie im Spätmittelalter betont, Köbele, Lieder (2003), S. 16. 142 Vgl. die Prämissen der Edition der rund 360 Strophen im GA-S, welche „Traditionen – aber auch Traditionsbrüche – innerhalb der Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts am Beispiel der FrauenlobTöne“ dokumentieren soll: Jens Haustein u. Karl Stackmann, Sangspruchstrophen in Tönen Frauenlobs (1998), S. 76. 143 Das Bild ‚frauenlobischer‘ Meisterschaft kann in diesem Textcorpus gut verfolgt werden, da alle vier Corpushandschriften eine hinreichende Zahl an aufeinander folgenden Strophen in diesem Ton überliefern und man so frühe und späte Überlieferung überzeugend zu vergleichen vermag.

Manessische Liederhandschrift C – Langer Ton

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II. Textuelle Formation

Eine systematische Aufbereitung der vier Strophengefüge des Langen Tons nach den vier Corpushandschriften C, J, F und k soll zunächst einen ersten Eindruck ihrer thematischen Ausrichtung vermitteln. Auch Fragen nach der Zusammenstellung der Strophen, nach einem konzeptionellen Impetus und nach den Kohärenzsignalen und Brüchen im Überlieferungszusammenhang der Strophen werden zu stellen sein. Ein erster Schritt gilt der Differenzierung der Strophenfolgen nach thematischen und daneben – die Gegebenheiten der Überlieferung beachtend – nach formalen Kriterien. Der zweite Schritt führt zur jeweiligen Anordnung der Strophen, um auf diesem Weg Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung unterscheiden zu können, gerade auch im Blick auf das heterogene Strophenmaterial der späten Überlieferungszeugen F und k. Eine solche systematische Aufbereitung des Materials erfasst sowohl Strophen als auch Strophengefüge im Raum des Langen Tons thematisch und formal, ohne dass Kohärenzerwartungen von vornherein die Einzelstrophe hinter das Gefüge zurücktreten ließen.

1.

Manessische Liederhandschrift C – Langer Ton

1.1

Inhaltliches Referat

C 31 (Frau/2/54a) (F 111, k 61) Mariengebet: Erinnerung Marias an Verkündigung, Christi Geburt, Darbringung im Tempel, Christi Martyrium, Auferstehung und Himmelfahrt sowie Mariä Himmelfahrt. Bitte um Sündenvergebung. C 32 (Frau/2/55) Sogenannte „Selbstrühmung“ Frauenlobs: Das Sänger-Ich behauptet, 1) seine Kunst übertrifft die der alten Meister Reinmar, Wolfram und Walther, und 2) er ist Meister auch der zeitgenössischen Sänger. C 33 (Frau/2/56) Gegenstrophe: Diffamierung Frauenlobs. Regenbogen als Sangesgegner verteidigt die alten Meister.

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Textuelle Formation

C 34 (Frau/2/2b) (J 2) vanitas-Exempel: Erzählung vom König Alexander und dem Paradiesstein. Einem hoch gelopten degen wird die Vergänglichkeit allen irdischen Seins demonstriert. C 35 (Frau/2/57) Gegenstrophe: Polemik gegen Frauenlob. Seine Kunst, sein Stil werden diffamiert. Er wird herabgesetzt gegenüber den alten Meistern, an deren Wurzelkraft er nicht teilhat. C 36 (Frau/2/58a) (k 25) Rätselstrophe: Johannesvision von einem Tier mit zehn Hörnern und sieben Köpfen. Der Sprecher fordert zum Lösen des Knotens auf und behauptet, dass das Rätsel von derzeit lebendenden Sängern nicht lösbar sei. C 37 (Frau/2/59a) (k 26) Deutung: Das Tier bedeute den Antichrist, die Köpfe seien die Todsünden, die Hörner bedeuten das Brechen der zehn Gebote; der Kunstanspruch des meisterlis sei mit dieser Deutung gebrochen. C 38 (Frau/2/10b) (J 10) Strophe des „wîp-vrouwe-Streits“. Lob der vrouwe vor den wip. C 39 (Frau/2/60) Strophe des „wîp-vrouwe-Streits“. Gegenstrophe: Regenbogen tritt für das wip ein. Er nivelliert den Unterschied zur vrouwe im Mutter-Sein. C 40 (Frau/2/61a) (F 127, k 144) Eröffnungsstrophe der guot-muot-Reflexion. Mahnung an die Fürsten: Eine kühne Gesinnung und Besitz gehören zusammen. Ermahnung zur Freigebigkeit gegenüber dem Kühnen. C 41 (Frau/2/62a) (F 132) Erweiterung der guot-muot-Reflexion um den Aspekt der êre: Ansehen und Besitz verändern die Gesinnung; zu unterscheiden ist zwischen den Guten und den Schlechten; die Guten lassen trotz Ansehen nicht von alten Gewohnheiten ab; den Schlechten ist nicht zu helfen. C 42 (Frau/2/63) Jugendlehre: Die Jungen sollen nach ritterlicher Gesinnung und Minne streben (zur guot-muot-êre-Thematik gehörend). C 43 (Frau/2/64) Ein Rat, um Schande und schlechten Rat zu meiden und dem zu folgen, der Ansehen verkörpert, so wie Parzival, der bei den Fürsten und den Damen Lob erwarb (zur guot-muot-êre-Thematik gehörend). C 44 (Frau/2/39b) (J 39) Lob der Ritterschaft: Ritterschaft verkörpert Ansehen und höfisches Verhalten. Mahnung, das Recht des Hofes zu hüten. Dazu gehören Tapferkeit, Freigebigkeit und Frauendienst. (Die êre-Thematik wird auf den Hof hin geöffnet.)

55

Manessische Liederhandschrift C – Langer Ton

C 45 (Frau/2/45b) (J 45) Hofkritik, Sängerklage: Der Hof nimmt nur die Schmeichler wahr; er erkennt nicht den Unterschied zwischen Esel und edlem Ross; die Tüchtigen werden missachtet. C 46 (Frau/2/65) Kritik an der unbeständigen Gesinnung der Herren. Sie nehmen Hilfe an, lohnen jedoch schlecht. (Die Hofthematik wird mit der guot-muot-Thematik verbunden.) C 47 (Frau/2/66) Polemik gegen die schlechten kunstlosen Sänger. Der Kunstpfad in der Tradition der alten Meister ist übersät vom Rat der Dummen und vom törichten Gesang.

1.2

Gliederung der Strophen nach formalen und thematischen Kriterien

C 31 (F 111, k 61) Mariengebet

Gebet Frauenlobs

C 32

(erste) sogenannte „Selbstrühmung“ Frauenlobs, Erhebung über die alten Meister Dis ist der Regenbogen: Regenbogens Verteidigung der alten Meister vanitas-Exempel: Alexander und der Paradiesstein Polemik gegen Frauenlob Rätsel von der Vision des Johannes Deutung des Rätsels Lob der Frauen (Strophe aus dem „wîpvrouwe-Streit“) Regenbog: Lob des wibes (Strophe aus dem „wîp-vrouwe-Streit“)

C 32–39: Streit um kunst (Meisterschaft) sowie das richtige Lob der Frauen (vrouwe und wip), Frauenlob und Regenbogen zugewiesen

C 40 (F 127, k 144) Meister (von jüngerer Hand) guot-muot-Reflexion C 41 (F 132) guot-muot-Reflexion: êre, guot und muot C 42 guot-muot-Thematik: Rat zu minne und ritterlichem muot C 43 Parzivalexempel, êre, schanden und laster vri C 44 (J 39) Ritterlob (êre, zucht), Ritterlehre (hoverecht, frouwen gunst) C 45 (J 45) Hofkritik, Sängerklage: Hof nimmt nur Schmeichler wahr C 46 Wankel-muot der Herren, falsche Ratgeber

C 40–47: Reflexion des Meisters über Besitz und richtiges höfisches Verhalten

C 33 C 34 (J 2) C 35 C 36 (k 25) C 37 (k 26) C 38 (J 10) C 39

C 47

Sängerschelte, zweite Selbstrühmung

56

1.3

Textuelle Formation

Beschreibung der Strophen in ihrer Anordnung im Textcorpus

Zwei Strophenblöcke sind zu unterscheiden, C 31–39 und 40–47. Ein Mariengebet eröffnet die Strophenfolge im Langen Ton (C 31). Drei thematische Schwerpunkte kristallisieren sich danach heraus: ein zwischen dem Meister und Regenbogen inszenierter Sängerstreit um 1. die Meisterschaft des Singens (C 32–37) und 2. den Vorrang von Weib oder Frau (C 38–39) sowie 3. Überlegungen des Meisters zum Komplex richtigen höfischen Verhaltens (C 40–47). Die über den Strr. C 33, 39 und 40 eingetragenen Sprecherbeischriften (Dis ist der Regenbogen, Regenbog, Meister) gehören auf den ersten Blick zu den drei thematischen Feldern. Sie markieren regelmäßig einen thematischen Wechsel. Nicht regelmäßig zu Beginn des neuen Abschnitts, sondern bezogen auf den Sängerstreit (C 32–39) markieren sie für den ersten und zweiten Abschnitt die erste Strophe des Gegners und damit die zweite Strophe des thematischen Feldes. Der Wechsel des Sprechers im Streit der Sänger ist nicht regelmäßig durch eine Beischrift ausgewiesen. Der Wechsel zum dritten Themenfeld wird v o r der ersten Strophe durch die Sprecherbeischrift Meister hervorgehoben. Ein thematischer Übergang vom Sängerstreit zur Reflexion des Meisters ist nicht gestaltet. Diese dritte Strophengruppe zum rechten höfischen Verhalten fügt sich dem Sängerstreit kommentarlos an. Die Beischrift Meister markiert neben einem thematischen Wechsel auch und in erster Linie, wie ich meine, einen formalen Wechsel. Sie weist auf einen anderen Modus der Rede hin: Der Streit der Meister mit dem Wechsel der Sprecher (Dialog) wird von der Reflexion des Meisters (Monolog) abgelöst. Die letzte Strophe im thematischen Feld der Verhaltensreflexion ist ein Ausweis dafür, dass die Anordnung der Strophen im Langen Ton in C konzeptionell sein könnte. Mit dieser Strophe wird der Bogen zurückgeschlagen zur kunst (Meisterschaft) des Singens und damit zum Beginn des Frauenlobcorpus im Langen Ton. Die Beischrift Meister, die von jüngerer Hand eingetragen wurde, kann als ein Rezeptionszeugnis und damit als Deutung der Aussage des Strophenkomplexes verstanden werden. Thesenhaft formuliert hieße das, dass durch einen zeitgenössischen Rezipienten die Meisterschaft Frauenlobs behauptet würde; man dürfte vielleicht auch davon sprechen, dass die Beischrift ein Signal für die postulierte Vorrangstellung des Meisters vor Regenbogen respektive den von ihm vertretenen alten Meistern und damit der Tradition der Spruchdichter ist. Auf formaler Ebene gibt es – ich denke hier an die Rubrizierungspraxis nach 1430 – noch keine Verknüpfungen der Einzelstrophen. Eher fallen weite und enge thematische Ketten auf, etwa die Isotopienketten guot-muot-êre-Hof, welche die Strophen nach dem Sängerstreit, C 40–46, miteinander verbindet. Doch lassen sich die thematischen Kohärenzsignale beinahe in jedem Fall durch Gegenargumente kippen, insofern die Einzelstrophen in der Regel eine in sich geschlossene Aussage bieten. Fest gefügte Strophengruppen sind zumeist Strophenpaare wie C 32–33 („Selbstrühmung“ und Diffamierung); 36–37 (Rätsel und Deutung) und 38–39 (F: Lob der vrouwe, R: Lob der

Jenaer Liederhandschrift J – Langer Ton

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wip). C 34–35 (das vanitas-Exempel) und die darauf folgende Polemik sind nicht thematisch, jedoch durch den aufgegriffenen ungewöhnlichen Reim miteinander verbunden (sims: bims). Größere Strophengruppen sind eher variabel gefügt und könnten auch anders zusammengestellt sein wie C 40–43, die inhaltlich locker miteinander vernetzt sind durch eine guot-muot-êre-Isotopienkette. Thema und Redegestus von C 40f., Reflexion des Sänger-Ichs über Gesinnung, Besitz und Ansehen, wechselt zu zwei Ratgeberstrophen durch den Spruchdichter an Junge und Ratsuchende (C 42f.). C 45–46 (Lob der Ritterschaft und Hofkritik) sind über das Motiv des Hofes in eine Beziehung gesetzt.

1.4

Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung

kohärenzbildend

Beischriften, Darstellungsmodus: Sängerstreit, Bildung von Isotopienketten, semantische Brücken / Rahmungen

kohärenzvermeidend in der Strophenfolge

Themenwechsel, Wechsel im Redemodus: Rühmung, Polemik, Reflexion, Rat, Klage wechseln einander ab

2.

Jenaer Liederhandschrift J – Langer Ton

2.1

Inhaltliches Referat

J 1 (Frau/2/1) fragmentierte Strophe: Der Anfang fehlt: Tarsila rät [Kaiser Justinianus], die Vasallen nicht durch Zwang und Drohungen, sondern durch minne zu binden (historia 1). J 2 (Frau/2/2a) (C 34) vanitas-Exempel: Alexander und der Paradiesstein (historia 2). J 3 (Frau/2/3) Alexander-Exempel über den Zwang: Alexander wird von der Königin von Indien ein vergiftetes Mädchen geschickt, damit er durch ihren Anblick sterbe. Ein Meister bewahrt Alexander vor dem Tod. Mahnung an die Fürsten, nicht Zwang, sondern Klugheit, Freigebigkeit und Gnade walten zu lassen (historia 3). J 4 (Frau/2/4) Mein und Dein sind der Ursprung allen Rechts; es gibt drei Arten: natürliches Recht, Nächstenliebe und Gottesliebe. Recht ist nicht käuflich; es ist unparteiisch (Recht 1). J 5 (Frau/2/5) (F 170) Verhältnis von Recht und Gewalt. Recht bedarf der Gewalt zur Erziehung (Recht 2). J 6 (Frau/2/6) Verhältnis von Sein und Schein: Dem Äußeren soll die Gesinnung entsprechen (guotmuot-Debatte 1).

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Textuelle Formation

J 7 (Frau/2/7) Klage über die mangelnde Freigebigkeit der Herren, die nur nehmen statt zu geben. Ihnen wird es gehen wie [König] Korniol, der von einem ror als Esel gescholten wurde (guot-muot-Debatte 2). J 8 (Frau/2/8) Warnung des Adels vor Wankelmut, Ermahnung zu Anstand, Scham, Unterscheidungsvermögen, Treue, Minne, Keuschheit, guter Gesinnung (guot-muot-Debatte 3). J 9 (Frau/2/9) Die Amazonen (damye) verbannen ihre männlichen Nachkommen. Schlechte und gute Menschen soll man noch besser trennen. J 10 (Frau/2/10a) (C 38) Auftaktstrophe zum „wîp-vrouwe-Streit“: Lob der vrouwe. (1) J 11 (Frau/2/11) Gegenstrophe, am Rand von anderer Hand rvmelant: Lob des wibes, gegen vrouwenlob gerichtet; gehört zum „wîp-vrouwe-Streit“. (2) J 12 (Frau/2/12) Vorrang des Namens wip vor dem der vrouwe, wird heilsgeschichtlich belegt: Anrede Marias mit wib durch Jesus Christus auf der Hochzeit zu Kanaan; gehört zum „wîp-vrouwe-Streit“. (3) J 13 (Frau/2/13) Polemik: Streit um die Namen wip und vrouwe führt in die Hölle; es sind nur zwei Namen für ein und denselben Leib, Streit erübrigt sich deshalb; gehört zum „wîpvrouwe-Streit“. (4) J 14 (Frau/2/14) Gegenstrophe: Polemik gegen den Gesang Frauenlobs. Lob der alten Meister Walther, Reinmar; ihr Frauenlob ist dem Heinrichs vorzuziehen. (1) J 15 (Frau/2/15) Gegenstrophe: Polemik gegen Frauenlob; Spott über Stil; an Frauenlob gerichtete ironische Bitte um Unterweisung. (2) J 16 (Frau/2/16) Gegenstrophe. Gegner wird mit einem Betrüger verglichen. Der von Fulda wird als Verteidiger des Sprechers aufgestellt. (3) J 17 (Frau/2/17) Wechselrede zwischen einem Meister und einem ratsuchenden Schüler, der im Gesang unterrichtet werden möchte; Meister führt Regeln an bezüglich Kürze, Länge, Reim und sinne. J 18 (Frau/2/18) Fürstenpreis 1: Lob des Erzbischofs Giselbert von Bremen; er ist selbst dem Papst ein Vorbild.

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J 19 (Frau/2/19) Fürstenpreis 2: Lob des gottgefälligen und glücklichen Lebens des Grafen Otto von Ravensburg. J 20 (Frau/2/20) Fürstenpreis 3: Lob von mannheit, milte, zuht, scham, truwe, mut des Grafen Gerhard von Hoya. J 21 (Frau/2/21) Fürstenpreis 4: Lob der tugent Wizlavs von Rügen. J 22 (Frau/2/22) Fürstenpreis 5: Lob Herzogs Heinrich von Mecklenburg: Vorbildwirkung; im ersten Stollen Bezug auf die vier vorausgehenden Lobstrophen. J 23 (Frau/2/23) Fürstenpreis 6: Lob des Grafen Otto von Oldenburg (Altenburch): Exemplarisches Lob für alle, die es wert sind, gelobt zu werden. J 24 (Frau/2/24a) (Nachtragsstr. 1) (k 70) „Gebet zur Transsubstantiation“: Anrufung des Schöpfergottes; Bitte des Sängers um Gnade, Sündenvergebung und eine gutes Ende. J 25 (Frau/2/25) (Nachtragsstr. 2) Frauenlehre, gerichtet an vrouwen und wip. Spruchdichter ist Vermittler zwischen ihnen und Frau Minne. J 26 (Frau/2/26) (Nachtragsstr. 3) Überleitung im Minnediskurs zwischen Lehre (J 26) und Streit (ab J 27): Spruchdichter wendet sich direkt an Frau Minne; Differenzierung der drei Instanzen maget, wip und vrouwe. J 27 (Frau/2/27a) (Nachtragsstr. 4) (k 196) Differenzierung der drei weiblichen Instanzen: maget, wip und vrouwe (sogenannte Definitionsstrophe des „wîp-vrouwe-Streits“). J 28 (Frau/2/28) (Nachtragsstr. 5) Herleitung des Namens ‚vrouwe‘: heilsgeschichtlich – über Adam, den Namen ‚weychelmut‘ – und sprachhistorisch – über Mennor (wird zum „wîp-vrouwe-Streit“ gezählt). J 29 (Frau/2/29a) (Nachtragsstr. 6) Volksetymologische Herleitung des Namens wip durch König Wippeon (wird zum „wîp-vrouwe-Streit“ gezählt). J 30 (Frau/2/ 30) (Nachtragsstr. 7) Differenzierung von wip und vrouwe durch Kriterien wie Lohn, Schmerz, Freude, Nutzen (wird zum „wîp-vrouwe-Streit“ gezählt). J 31 (Frau/2/31a) (Nachtragsstr. 8) (F 112, k 194) 1. heilsgeschichtliche und etymologische Herleitung des Wortes vro-we (wird zum „wîp-vrouwe-Streit“ gezählt).

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Textuelle Formation

J 32 (Frau/2/32a) (Nachtragsstr. 9) (F 113, k 195) 2. heilsgeschichtliche und etymologische Herleitung des Wortes vro-we (wird zum „wîp-vrouwe-Streit“ gezählt). J 33 (Frau/2/33a) (Nachtragsstr. 10) (F 114) Zusammenfassung der drei weiblichen Seinsformen maget, wip und vrouwe (wird zum „wîp-vrouwe-Streit“ gezählt). J 34 (Frau/2/34) (Nachtragsstr. 11) Spruchdichter reflektiert über seinen Vorrat an künstlerischem Vermögen; kann zwischen dem ringen und dem tiuren wählen. J 35 (Frau/2/35) (Nachtragsstr. 12) Ratgeberstr., Herr Bart 1: Der Mann soll sich seinem Alter entsprechend klug und weise verhalten, nicht aber kindisch sein. J 36 (Frau/2/36) (Nachtragsstr. 13) Ratgeberstr., Herr Bart 2: Alter und kindlicher Verstand gehören nicht zusammen. J 37 (Frau/2/37) (Nachtragsstr. 14) Ratgeberstr. 3: Rat für den jungen Mann: Unvereinbarkeit von Alter und kindlicher Gesinnung, von Weiblichkeit und männlicher Gesinnung, Männlichkeit und weiblicher Gesinnung. J 38 (Frau/2/38a) (Nachtragsstr. 15) Ritterschaft 1: Ritterschaft als schwerster ordo. Ritterlehre allgemein (ordo 1). J 39 (Frau/2/39a) (Nachtragsstr. 16) (C 44) Ritterschaft 2: Belehrung des Ritters (ordo 2). J 40 (Frau/2/40a) (Nachtragsstr. 17) Ritterschaft 3: Klage des Spruchdichters gegenüber Frau Ritterschaft; Bauern wechseln ihren Stand; Ritterschaft soll sich an den Hof wenden, damit ihr Recht wiederhergestellt wird (ordo 3). J 41 (Frau/2/41) (Nachtragsstr. 18) Hofschelte: Ordosystem funktioniere nicht; Hof fördert den Klerus unzulässig anstelle der gerenden (ordo 4). J 42 (Frau/2/42) (Nachtragsstr. 19) Zusammenfassung der Aspekte zum ma. ordo: So wie Tier und Art, Fachmann und Beruf zusammengehören (priamelartige Aufzählung von Tiernamen und Berufen), so soll sich jeder seinem Stand entsprechend verhalten. Der Hof verhält sich nicht seiner Art entsprechend; duldet Mönche, die ins Kloster gehören (ordo 5). J 43 (Frau/2/43) (Nachtragsstr. 20) Abstraktion der fünf ordo-Strophen: Die Edlen sollen Unedles meiden (priamelartige Aufzählung von Beispielen für die Verderbnis der Edlen), (Verhalten 1). J 44 (Frau/2/44a) (Nachtragsstr. 21) (F 138) Ein Jeder soll sich seinem Amt, seinen Aufgaben entsprechend verhalten (priamelartige Aufzählung von Zweck und Nutzen bestimmter Personen und Sachen), (Verhalten 2).

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Jenaer Liederhandschrift J – Langer Ton

J 45 (Frau/2/45a) (Nachtragsstr. 22) (C 45) Hofklage: Der König schätzt nicht das Edle, sondern das Unedle (Verhalten 3). J 46 (Frau/2/46) (Nachtragsstr. 23) houchvart wird als Tugend nicht als Schande dargestellt; Überlegung basiert auf der Entsprechung von Tat und Name, Wort und Ding; im ersten Stollen Berufung auf den Meister (hoher muot 1). J 47 (Frau/2/47) (Nachtragsstr. 24) houchvart gehört zu einer hohen, nicht zu einer niederen Gesinnung; ist Teil edler Herzen (hoher muot 2). J 48 (Frau/2/48) (Nachtragsstr. 25) houchvart gehört zu den guten Dingen; Tugend und eine hohe Gesinnung gehören zusammen (hoher muot 3). J 49 (Frau/2/49) (Nachtragsstr. 26) Abgrenzung von houchvart und Übermut (hoher muot 4). J 50 (Frau/2/50a) (Nachtragsstr. 27) (F 121) Rat an die Edlen: Im richtigen Fragen hat die Klugheit ihren Ursprung. J 51 (Frau/2/51a) (Nachtragsstr. 28) (F 120) Der Sangspruchdichter reflektiert das Lob und dessen Ursprung. J 52 (Frau/2/52a) (Nachtragsstr. 29) Rat an die Fürsten: Eine edle Gesinnung basiert auf edler Tat; nur diese kann Lob erwerben. J 53 (Frau/2/53a) (Nachtragsstr. 30) Klage des Spruchdichters über Fürsten, die sich ihren Dienern gegenüber nicht freigebig zeigen; bester Schatz sind biderbe man.

2.2

Gliederung der Strophen nach formalen und thematischen Kriterien

J1 J 2 (C 34) J3

historia 1: minne – Tarsillas Rat historia 2: vanitas – Alexander und der Paradiesstein historia 3: twanc – Alexander und das Giftmädchen

J 1–3 historia: Exempla

J4

Recht 1: Mein und Dein; drei Arten des Rechts: Natur, Nächstenliebe, Gottesliebe Recht 2: Recht und Gewalt

J 4–5 Recht

J 5 (F 170) J6 J7 J8 J9

muot / guot 1: Äußeres soll der Gesinnung entJ 6–8 mut / guot sprechen muot / guot 2: mangelnde Freigebigkeit der Herren muot / guot 3: Fürstenermahnung zu guter Gesinnung historia 4: Amazonen / damye – Trennung von Gut und Böse

Übergangsstr.

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Textuelle Formation

J 10 (C 38) J 11 J 12 J 13

Lob der vrouwe, Trennung von vrouwe, wib – unwib Lob des wibes heilsgeschichtliche Herleitung des Namens wib vrouwen, wib sind ungeschieden, Streit erübrigt sich

J 10–13 „wîpvrouwe-Streit“

J 14 J 15 J 16

Polemik gegen Heynrichs vrouwenlob Polemik gegen Stil Polemik gegen Spruchdichter – Betrüger

J 14–16 Polemik gegen Frauenlob

J 17

Wechselrede zw. Lehrer-Schüler um guten Gesang

Übergangsstr.

J 18 J 19 J 20 J 21 J 22 J 23

Lob des Erzbischofs Giselbert von Bremen Lob des Grafen Otto von Ravensburg Lob des Grafen Gerhard von Hoya Lob Witzlavs von Rügen Lob des Herzogs Heinrich von Mecklenburg Lob des Grafen Otto von Oldenburg

J 18–23 Panegyrik

J 24 (k 70)

Gebet des Spruchdichters

Gelenkstr.

J 25 J 26

J 25–33 wîpUnterweisung der vrouwen und wib vrouweWendung des Spruchdichters an Frau Minne, erste Thematik Differenzierung der drei weiblichen Instanzen zweite Differenzierung der drei weiblichen Instanzen heils- und sprachgeschichtliche Herleitung von vrouwe volksetymologische Herleitung von wib Differenzierung wib – vrouwe heilsgeschichtliche und etymolog. Herleitung von vro-we heilsgeschichtliche und etymolog. Herleitung von vro-we Zusammenfassung zu den drei weiblichen Seinsformen

J 27 (k 196) J 28 J 29 J 30 J 31 (F 112, k 194) J 32 (F 113, k 195) J 33 (F 114) J 34

Spruchdichter reflektiert über künstl. Möglichkeiten

Übergangsstr.

J 35 J 36 J 37

Herr Bart 1 Herr Bart 2 Herr Bart 3

J 35–37 allg. Rat für Alte, Junge; Männer, Frauen

J 38 J 39 (C 44) J 40 J 41 J 42

ordo 1: Orden der Ritterschaft ordo 2: Belehrung des Ritters ordo 3: Klage über Ritterschaft und Bauernstand ordo 4: Klage über Hof (Ritter) und Priesterstand ordo 5: Zsfg. – dem Stand entsprechend handeln

J 38–42 zum Ordosystem

63

Jenaer Liederhandschrift J – Langer Ton

J 43 J 44 (F 138) J 45 (C 45)

Verhalten 1: Edle sollen Unedles meiden Verhalten 2: Amt / Aufgaben entsprechend handeln Verhalten 3: Hofklage: Unedles wird geschätzt

J 43–45 spezifische Verhaltensregeln, Verhaltensformen

J 46

houchvart 1: sprachphilosophische Reflexion über Wort und Ding houchvart 2: houchvart und edle Gesinnung houchvart 3: houchvart bestimmt alle tugent houchvart 4: houchvart widerspricht dem ubermuot Richtiges Fragen ist Ursprung von Klugheit, Tugend Reflexion des Spruchdichters über das Loben Fürstenrat: Entsprechung von Gesinnung und guter Tat Klage, dass Fürsten ihre Dienstleute zu wenig schätzen

J 46–49 hoher muot

J 47 J 48 J 49 J 50 (F 121) J 51 (F 120) J 52 J 53

2.3

J 50–53 Fragen, Lob, Rat und Schelte

Beschreibung der Strophen in ihrer Anordnung im Textcorpus

Eine Reihe systematischer Beobachtungen ermöglicht es, die 53 Strophen von J in ihrer handschriftlichen Reihenfolge zu lesen. Die Bestandsteilung in Hauptstrophen und Nachtragsstrophen ist zunächst einzuklammern, weil die beiden formal getrennten Strophenfolgen (Strr. 1–23 und 24–53) in ihren thematischen Aussagen kaum differieren. Sie werden hier im Nacheinander der Strophen von Haupteintrag und Nachtrag behandelt. Die ersten drei narrativen Strophen (J 1–3) umreißen mit ihren exemplarischen Geschichten (Tarsilla, der Kaiser Justinianus und seine Untertanen; Alexander und der Paradiesstein; Alexander, die Königin von Indien und das Giftmädchen) das thematische Spektrum der J-Strophen im Langen Ton. Es ist markiert durch die Themenbereiche Minne, Vergänglichkeit und Zwang. Minne als Verhaltensform ist dabei als Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse bzw. richtigem und falschem Verhalten dargestellt. Die Vergänglichkeit alles Irdischen ist mit der daraus resultierenden richtigen Gesinnung verknüpft und der Zwang ist auf das Verhältnis von Herr und Vasall hin perspektiviert, das durch Klugheit, Freigebigkeit, die richtige Gesinnung und Nachsicht bestimmt sein soll. Die beiden Strophen (J 4–5) modifizieren dieses thematische Spektrum aus der Perspektive des Rechts. In ihnen wird die Notwendigkeit der Unterscheidungsfähigkeit betont und die Orientierung menschlichen Handelns an Natur, Nächstem und Gott. Fixierte Verhaltensrichtlinien im Sinne rechtlicher Maxime sind damit, 1) dass der Mensch seiner Art entsprechend handelt, 2) dass er seinen Nächsten wie sich selbst behandelt und 3) dass er sein Tun in Gottes Hand legt. In dieser thematischen Matrix bewegen sich die Folgestrophen J 6–32, für die in der Summe Einzelstrophen und Strophengruppen unterschieden werden können: In J 6–8

64

Textuelle Formation

stehen die richtige Gesinnung mit einem entsprechenden richtigen Verhalten und die Freigebigkeit im Zentrum der Darstellung. J 9 formuliert in einer weiteren historia von den Amazonen die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Die Fähigkeit zur Unterscheidung wird in den drei sprachtheoretisch orientierten und etymologisch ausgerichteten Strophen J 10–13, die zum „wîp-vrouwe-Streit“ gehören, im Rahmen des Frauenlobs entfaltet, wenn es darum geht, die Namen wip und vrouwe bzw. unwip von wip und vrouwe zu unterscheiden. Die polemischen Strophen J 14–17 diffamieren im Anschluss daran den Anspruch des richtigen Frauenlobs. Mit J 18–23 schließen panegyrische Strophen an, die das ideale Verhalten verschiedener Herrscher preisen und dem Frauenlob ein Herrscherlob zur Seite stellen. Die erste Nachtragsstrophe, ein Gebet des Spruchdichters, in dem er um die Unterstützung Gottes bittet, steht vor einem zweiten Abschnitt zur wîp-vrouwe-Thematik, J 25–33, in dem es vor allem um die Unterscheidung der drei weiblichen Seinsformen maget, wip und vrouwe sowie um die etymologische und heilsgeschichtliche Herleitung der Namen wip und vrouwe geht. J 34, eine Reflexionsstrophe des Spruchdichters, fokussiert die eigenen künstlerischen Möglichkeiten in einer Spannweite zwischen dem Geringen und dem Wertvollen. J 35–49, ein zweiter, in kleinere Einheiten untergliederter Strophenblock, stellt die Entsprechung von Sein und Handeln ins Zentrum: J 35–37 nimmt Bezug auf die menschliche Art und das ihr entsprechende Verhalten; J 38–42 debattiert über das menschliche Handeln in den Grenzen des eigenen Standes; J 43–45 beschreibt diesen Aspekt ex negativo, nämlich zu meiden, was einem nicht entspricht; die Strophen J 46–49 reflektieren die Etymologie hoher Gesinnung und ihre Facetten auf empirischer Ebene. Vergleichbar locker verknüpft ist mit J 50–53 eine dritte Strophengruppe, die darstellt, wie man sich über richtiges und falsches Verhalten äußern kann, nämlich fragend (J 50), lobend (J 51), ratend (J 52) und klagend / scheltend (J 53). Die Bindungen zwischen den J-Strophen des Langen Tons sind 1) thematisch bedingt und damit relativ stabil wie bei den Strophen mit wîp-vrouwe-Thematik. Sie basieren 2) auf in den Strophen wiederholt aufgegriffenen Stichworten wie recht, muot / guot, her bart, ritter / ritterschaft, hof, houchvart. Sie gründen 3) auf Motivparallelen etwa auf Tiervergleichen. 4) Die Strophen, die als Strophengruppe zusammentreten, basieren immer auf einem narrativen, polemischen oder panegyrischen Redemodus. Bis auf das wîp-vrouwe-Thema sind die Strophenbindungen eher instabil. Einzelstrophen rücken zu den sieben beschriebenen Strophengruppen zusammen, die, ihrer jeweiligen Aussage entsprechend, auch für sich stehen können. Eine Ordnung innerhalb der handschriftlichen Strophenfolge ist zwar nicht in Abrede zu stellen, doch möglicherweise ist diese Ordnung nicht das Ergebnis konzeptioneller Überlegungen. Die Nachtragsstrophen ließen sich ebenso einem Sammlerinteresse bezogen auf Strophen im Langen Ton zuschreiben und die thematische Nähe könnte zufällig sein.144 Dass die Strophenzusam144

Vgl. dazu die Überlegungen von Burghart Wachinger, Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift (1987), S. 195, der aufgrund der Parallelüberlieferung des Soester Fragments A eine eigenständige Texttradition für den Nachtrag überdenkt.

Weimarer Meisterliederhandschrift F – Langer Ton

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menstellung wohl nicht ganz willkürlich ist, lässt sich anhand der thematischen Ausrichtung und der offenbar systematisierten Strophenfolge – die Tabelle zur Gliederung der Strophen (s. o.) gibt dies deutlich wieder – behaupten, wenn auch noch nicht verifizieren. Ob allerdings die Reihenfolge der Strophen und Strophengruppen vom Hauptschreiber und vom Nachtragschreiber kalkuliert ist, lässt sich allein aufgrund der thematischen Ordnung, Abgrenzung von Strophengruppen und Überbrückung der Strophenblöcke durch Gelenkstrophen wie J 9, J 24, J 34 nicht mit Sicherheit verifizieren.

2.4

Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung

kohärenzbildend

thematische Ausrichtung, Stichwortketten, Motivketten, gleichbleibender Redegestus, Gelenkstrophen

kohärenzvermeidend in der Strophenfolge

Themenwechsel, Wechsel des Redemodus (Narration, Reflexion, Panegyrik, Polemik, Unterweisung / Lehre)

3.

Weimarer Meisterliederhandschrift F – Langer Ton

3.1

Inhaltliches Referat

F 90–94 (1Frau/2/100) Ein Fünferbar überschrieben mit In des Frawenlobs lanngen don: Der Sangspruchdichter als Baumeister des Lobes (= Eigenlob); Lob des Markgrafen Waldemar von Brandenburg, der Rostocker Ritterschaft und der Ritterschaft als einem der Stände. F 95–97 (1Frau/2/101) Ein Dreierbar überschrieben mit In des Frauwenlobs langen don: Thematisiert wird a) die Abhängigkeit des Menschen von Zeit und Ort (Raum), b) die Notwendigkeit guter Gesinnung und ihre Bindung an die Zeit, c) die Wandelbarkeit der Gesinnung und d) der freie Wille, der zwischen gut und schlecht entscheiden, der Zeit und Ort beherrschen kann. F 98–100 (1Frau/2/102) Ein Dreierbar überschrieben mit In des Frawenlob langen don: narrative Strophen mit heilsgeschichtlicher Thematik. Adam, die drei von Gott verliehenen Würden (gewalt über die Schöpfung = Ebenbildlichkeit, ewiges Leben, materie) und ihre Auswirkungen auf die Menschheit; durch den Sündenfall verlor Adam die gewalt, ihm blieb der freie Wille, sich für oder gegen Tugend und Ehre zu entscheiden; heilsgeschichtliche Fundierung des freien Willens (s. F 95–97).

66

Textuelle Formation

F 101–104 (1Frau/2/103) (F 104 = k 80, F 105 = k 78/192, F 106 = k 79) Vier Strophen überschrieben mit In des Frawenlobs lanngen don: Themen dieser Strophen sind die Ausgewogenheit und das rechte Maß (Geschehenes und Ungeschehenes, Verlust und Gewinn, Mein und Dein, Jäger und Gejagter, hier und dort, mâze bei allem Tun, Gesinnung und Verhalten entsprechen einander, Situationen richtig einschätzen, Glück und Unglück, Liebe und Leid, mâze aller Dinge). F 105–106 (1Frau/2/104) Strophenpaar überschrieben mit In des Frawenlobs lanngen don: Vergänglichkeit alles Irdischen; Unausweichlichkeit des Todes. F 107–110 (1Frau/2/105) Vier Strophen überschrieben mit In des Frawenlobs lanngen don: Thematisiert wird das Verhältnis von Herr und Knecht (kein Rollentausch, wechselseitige Abhängigkeit, Vorbildwirkung des Herren, triuwe-Verhältnis). F 111 (1Frau/2/106) (C 31, k 61) Mariengebet überschrieben mit In des Frawenlobs lanngen don. F 112–114 (1Frau/2/107) (F 112 = J 31, k 194; F 113 = J 32, k 195; F 114 = J 33) Dreierbar überschrieben mit In des Frawenlobs lanngen don: zum „wîp-vrouweStreit“ gehörend (etymologische und heilsgeschichtliche Begründung für den Vorrang der vrouwe; Differenzierung der drei Seinsformen des Weiblichen). F 115–119 (1Frau/2/108) Fünferbar überschrieben mit In des Frawenlobs lanngen don: der Spruchdichter als Ratgeber (Warnung vor schlechten Ratgebern, zu einem guten Rat gehört ein verständiger Herr, Wirkung des tugendhaften Rats, Warnung vor untreuen Ratgebern, Warnung vor falschen Ratgebern). F 120–126 (1Frau/2/109) (F 120 = J 51, F 121 = J 50) Siebenerbar überschrieben mit In des Frawenlobs langen don: F 120 thematisiert das Lob des Spruchdichters; F 121 thematisiert das Fragen der Edlen; F 122–123 Allegorie von der Pflege des fremden Ackers: Die Herren sollen nicht Fremde den Eigenleuten vorziehen; F 124–126 laudatio i.w.S: Lob der (lebendigen) Toten vor den lasterbeladenen (toten) Lebenden, laudatio auf König Rudolf von Habsburg und Fürst Heinrich von Breslau. F 127–133 (1Frau/2/110) (F 127 = C 40, k 144; F128 = k 142; F 129 = k 148; F 130 = k 149; F 132 = C 41) Siebenerbar überschrieben mit In des Frawenlobes lanngen don: Debatte um das Verhältnis von Gesinnung und Besitz / Gut-Sein (Unbeständigkeit des Glücks, gutes und böses Glück, Begriffsbestimmung von gelucke, seld und êre, Ehre und Besitz verändern die Gesinnung, Verhältnis von Ansehen, Lob und Amt).

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F 134–138 (1Frau/2/111) (F 138 = J 44) Fünferbar überschrieben mit In des Frawenlobs langgem don: Thematisiert wird das Verhalten im Kampf gegen Feinde; so wie Gleiches zu Gleichem gehört, gehören Ernsthaftigkeit und Freigebigkeit gegenüber den Dienstleuten zum Kampf. Die fünfte Strophe, F 138, abstrahiert davon und verdeutlicht, dass bestimmte Aufgaben eines bestimmten Amtes bedürfen wie der Kampf des Ritters bedarf. F 139–143 (1Frau/2/112) (F 142 = k 150) Fünferbar überschrieben mit In des Frawenlobs langen don: Akkumulation von Hinweisen zu richtigem Verhalten (nicht zweifeln, keine Dummen in hohe Ämter einsetzen, Glück durch gute Taten, durch Dienst und Dank aufwägen). Die fünfte Strophe, F 143, handelt von mâze und tugent. Sie gehört thematisch mit F 144 und 145 zusammen. F 144–153 (1Frau/2/113) Zehn, respektive elf (mit F 143) Strophen, die unter der Barrubrik In des Frawenlobs langen don drei thematische Einheiten (mâze und tugent; heilsgeschichtliche Thematik um Gott, Moses und die Heidin Tarbis; triuwe und untriuwe) verbinden und möglicherweise durch das latent vorhandene triuwe-Motiv zusammengestellt worden sind. F 166–169 (1Frau/2/114) (F 166 = k 16, F 167 = k 17) Vier Strophen überschrieben mit In des Frawenlobs langen don: Priesterschaft als Stand und Aufgabe / Funktion wird überdacht (Lob der Priesterschaft, Priester als Mittler zwischen der Dreieinigkeit und der Christenheit, Verhältnis von Priester und Sünder, Priester als Verwalter der Sakramente und Warnung vor Simonie). F 170–172 (1Frau/2/115) (F 170 = J 5) Dreierbar überschrieben mit In des Frawenlobs langen don: Gegenstand der Strophen ist das Verhältnis von Recht und Gewalt.

3.2

Gliederung der Bare und Strophengruppen nach formalen und thematischen Kriterien145

F 90–94 Fünferbar F 95–97 Dreierbar F 98–100 Dreierbar F 101–104 vier Strr. F 105–106 Strophenpaar F 107–110 vier Strr.

Eigenlob des Spruchdichters und Herrscherpanegyrik Gesinnung und freier Wille in Zeit und Raum narratio: heilsgeschichtl. Fundierung des freien Willens Ausgewogenheit und rechtes Maß vanitas und Tod Herr und Knecht (Exempel)

F 111 Einzelstrophe

Gebet

145

Vgl. die nach Strophen detaillierte Übersicht bei Wachinger, Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift (1987), S. 196f.

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Textuelle Formation

F 112–114 Dreierbar

wîp-vrouwe-Thema, etymol. und heilsgeschichtl. Herleitung von vrouwe (frawe)

F 115–119 Fünferbar F 120–126 Siebenerbar

Spruchdichter als Ratgeber, Formen des Rats Spruchdichter und Herrscher (Loben, Fragen, Verhältnis, laudatio) muot / guot (mut / gut) Kampf und Ernst F 139–142 – vier Strr.: Hinweise zu richtigem Verhalten + F 143 – elf Strr.: mâze und tugent (drei Strr.) irdische und Gottesminne (vier Strr.), triuwe (trewe) (vier Strr., Exempel)

F 127–133 Siebenerbar F 134–138 Fünferbar F 139–143 Fünferbar F 144–153 zehn Strr. F 154–165

Einschnitt: acht Strr. im Langen Ton Regenbogens und vier Strr. im Würgendrüssel Frauenlobs

F 166–169 vier Strr.

Priesterschaft

F 170–172 Dreierbar

Recht

3.3

Beschreibung der Bare und Strophengruppen in ihrer Anordnung im Textcorpus

Die regelmäßig vorhandenen Barrubriken unterscheiden Strophengruppen von der Einzelstrophe über das Strophenpaar, das Dreier-, Fünfer- und Siebenerbar bis zur Zehnergruppe. Sie suggerieren allein die thematische Zusammengehörigkeit der unter ihrer Überschrift zusammengerückten Strophen. In der Summe sind die Strophen von F thematisch inkohärent. Es gibt jedoch auch den Fall, dass thematisch zusammengehörende Strophen durch eine Barrubrik auseinandertreten wie die Strophen F 143, 144, 145 zur mâze, deren erste Strophe die letzte eines Fünferbars ist und deren zweite und dritte Strophe eine Zehnergruppe eröffnet.146 Der Zusammenhalt der Strophen innerhalb einer Bareinheit beruht für die Dreierund Fünferbare und die Gruppen zu zwei und vier Strophen meist auf einer oder auf zwei Kernaussagen, die entfaltet werden (z. B. für den ersten Barblock: zeit / stat und mut / willekür; gewalt / ere und willekür; mut und masz; vanitas; her und knecht; rat; weyp und frawe). Für die größeren Einheiten ist es eher so, dass zwei oder drei Strophen zusammentreten und zwischen diesen kleineren Einheiten ein lockerer Zusammenhalt besteht, zum Beispiel durch aufgenommene Stichworte wie lob und frag oder mut / gut

146

Die Rubrizierung erfolgte in F „nicht selten ohne Rücksicht auf inhaltliche Zusammenhänge“, Gisela Kornrumpf, Art. „Weimarer Liederhandschrift“, in: 2VL 10 (1999), Sp. 803–807, Sp. 805f.; Wachinger, Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift (1987), S. 200, weist darauf hin, dass „das vorhandene Strophenmaterial“ „sich nicht ganz glatt in die Bargliederung gefügt habe […]“.

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und gelücke / ere. Ein solcher lockerer Zusammenhalt gründet zuweilen auch auf einem übergreifenden Thema wie dem der Treue. Eine thematische Segmentierung des Strophencorpus’ in Bare und geradzahlige Strophengruppen erfolgt durch die Rubrizierungen. Eine barübergreifende Ordnung lässt sich nur in einem Abstraktionsschritt erreichen. Gemeint sind eine Reduktion der perspektivreichen Inhaltsangaben der einzelnen Strophen auf die Kernaussage der Strophengruppen (s. Tabelle 3.2) und eine Fokussierung des Sprecher-Ichs. Ein möglicher Spannungsbogen reicht über 64 Strophen von der Strophe F 90 bis F 153, der letzten Strophe vor dem Einschnitt. Es kristallisieren sich drei Barblöcke heraus: Jeweils sechs Einheiten (F 90–110; F 115–153) rahmen eine Einzelstrophe, und zwar das Gebet des Spruchdichters (F 111) zusammen mit einem Dreierbar zur wîp-vrouwe-Thematik (F 112–114). Den ersten Block (F 90–110) bilden ein Fünfer- und zwei Dreierbare sowie drei Einheiten zu vier, zwei und vier Strophen. Den dritten Block (F 115–153) bilden ein Fünfer-, zwei Siebener- und zwei Fünferbare sowie eine Einheit zu zehn Strophen – in der Summe beinahe doppelt so viele Strophen wie F 90–110. Eröffnet wird das Corpus mit einer Reflexion des Spruchdichters über das Loben (Eigenlob) und einem exemplarischen Lob mehrerer Herrscher (F 90–94). In dieser Matrix zwischen Eigenlob und Herrscherpanegyrik werden die Gesinnung (muot) und der freie Wille (willekür) als die maßgeblichen Verhaltensmodule thematisiert (F 95– 97). Im Dreierbar F 98–100 ist dann von der heilsgeschichtlichen Gründung des freien Willens die Rede. In generalisierter Form führen die Strophen F 101–104 ein drittes Verhaltensmodul ein, das rechte Maß (mâze) aller Dinge und Handlungen, wobei das Handeln in F 105–106 unter der Perspektive der Vergänglichkeit steht. Die Strophen F 107–110 entfalten exemplarisch das richtige Handeln am Verhältnis von Herr und Knecht. Der dritte Block wird mit einer Reflexion des Spruchdichters und zwar über das Ratgeben eröffnet, mit einer Reihe von Warnungen vor schlechten bzw. falschen Ratgebern (F 115–119), mit Sentenzen über das Lob des Spruchdichters, das Fragen der Herren, mit Aussagen zum Verhältnis von Herr und Dienstmann und mit einer Laudatio mehrerer (verstorbener) Herrscher (F 120–126). Zwischen Eigenlob – der Spruchdichter geriert sich als der beste Ratgeber – und Panegyrik bewegt sich auch hier die Entfaltung eines Themas, die Entfaltung der Debatte um Gesinnung und materielles bzw. moralisches guot (F 127–133). Das richtige Verhalten von Dienstherr und Dienstmann wird in diesem Block exemplarisch anhand des Kampfes gegen Feinde entwickelt (F 134–138) und vom Spruchdichter perspektivisch erweitert durch die Hinweise zum richtigen Verhalten, das unter der Prämisse des dritten Verhaltensmoduls, der mâze aller tugent, steht (F 139–143). F 144–153 greift die triuwe als menschliches Beziehungsmuster heraus. Eine heilsgeschichtliche narratio von Moses, der Heidin Tarbis und Gott, die das triuwe-Motiv exemplarisch umsetzt, beschließt diesen Barblock. Die beschriebene barübergreifende Strophenordnung beruht auf einer Generalisierung des gebotenen Inhalts der Strophen. Sie zeigt, dass ihr vielleicht eine konzeptionell

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Textuelle Formation

ordnende Hand ursächlich gewesen sein könnte, doch lässt sich eine solche These am Material nicht letztgültig bestätigen. Vor einer Generalisierung und ohne abstrahierende Leistung sind die Bare eher locker und assoziativ verknüpft denn willentlich verbunden. Nachvollziehen lässt sich aber, dass für die Auswahl und Anordnung der Strophen bzw. Bare Kriterien eine Rolle gespielt haben, die auf Ähnlichkeitsrelationen zwischen den Baraussagen basieren. Bei der Fülle des strophigen Materials sind Auswahlkriterien, die auf kleineren Einheiten beruhten, etwa auf einer genauen Kenntnis der Stropheninhalte, sicher weniger relevant gewesen. Die gesamte Strophenfolge im Langen Ton Frauenlobs wird durch acht Strophen im Langen Ton Regenbogens und vier Strophen im Würgendrüssel Frauenlobs unterbrochen. Im Langen Ton Frauenlobs folgen im Anschluss an die Unterbrechung vier Strophen zur Priesterschaft und ein Dreierbar zum Recht. Diese Strophen sind dem Strophenblock vor dem Einschnitt nachgestellt und als Nachtrag zu werten, so dass ihre Relevanz für das Strophengefüge im Langen Ton gering scheint.

3.4

Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung

kohärenzbildend

innerhalb der Bare: thematische Ausrichtung, Stichwortketten; oberhalb der Barebene: Strukturhomologien in der Barfolge

kohärenzvermeidend

Barrubriken; innerhalb der Bare: Themenwechsel, Wechsel des Redegestus (Narration / Reflexion, Gnomik / Reflexion, Reflexion / Lehre / narratio / laudatio)

4.

Kolmarer Meisterliederhandschrift k – Langer Ton

4.1

Inhaltliches Referat

k 1–3 (1Frau/2/500a) Ein Dreierbar überschrieben mit Gesang im langen ton Frauwenlobes: Die Überschrift ist zugleich Corpusüberschrift. Das Marienlob wird vermittelt durch Mund und Hand des alttestamentlichen Propheten Jesaja: Marientitel (Wurzel Jesse, Glut, in der sich der Phönix verjüngt, Zeder, Rebe von Engadi, Harfenklang Davids, Minnesang Salomos, Stärke Samsons usf.), Umschreibung von Menschwerdung, Schwangerschaft, Geburt als Johannesvision, Bitte um Bewahrung vor der Hölle. k 4–6 (1Frau/2/501a) (k 4 = k 109, k 5 = k 108) Ein Dreierbar überschrieben mit Ein anders: ein ‚Ave Maria‘ mit der wiederholten Bitte um Hilfe und Schutz vor Sünde und Erlösung für den meisterlichen Spruchdichter und die gesamte Christenheit, Erinnerung Marias an ihr Leid.

Kolmarer Meisterliederhandschrift k – Langer Ton

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k 7–9 (1Frau/2/502a) (k 7–9 = k 67–69) Dreierbar unter der Überschrift Ein ander par: Anrufung Marias, Bitte um Bewahrung vor der Hölle, Marias löbliches Verhalten gegenüber den Juden, die Jesus verspottet haben, Jesu Grablegung und Auferstehung werden erwähnt, Bitte um Erlösung, Bewahrung vor dem Teufel. k 10–12 (1Frau/2/503) Ein Dreierbar überschrieben mit Ein ander ave Maria in dysem tone: Marienlob, Erinnerung an Verkündigung, Erwähltsein und Kreuzigung sowie Erlösung; Marienpräfigurationen (Baum, Feuer im Dornbusch, Blut des Pelikans, Arche Noahs, Zweig, Pforte, Eimer, Garten, Krone, Fell, Taube, Fisch). k 13–15 (1Frau/2/504) Dreierbar überschrieben mit Hie nach stet iiii pare von der priesterschaft: Aufgaben des Priesters als Verwalter des Sakraments, Ermahnung des Priesters, Würde und Reinheit zu wahren, Falschheit und Sünde zu unterlassen, Hilferuf des Sprecher-Ichs im Namen der Christen an den Schöpfergott. k 16–18 (1Frau/2/505a) (k 16 = F 166, k 17 = F 167, k 18 = k 169) Dreierbar überschrieben mit Ein anders vor der priesterschaft: Lob der Priesterschaft, zu lösen und zu binden, Wandlung und Messopfer zu vollziehen, den Sohn von Vater, Geist und Mutter zu lösen und in die Hand zu nehmen, Erinnerung an die Nährung des Volkes Israel in der Wüste durch das Manna, Erlösungstat und Eucharistie, Mahnung des Priesters, in Jesu Christi Sinn zu handeln. k 19–21 (1Frau/2/506) Dreierbar überschrieben mit Ein ander par von den priestern: Lob des Priesters, Lob Marias, Ermahnung des Priester zu tugendhaftem und würdigem Verhalten, Priesteramt und Sünde vertragen sich nicht, Ermahnung der Priester und der Frauen: Die einen sollen sich den Frauen gegenüber angemessen verhalten, die anderen diese nicht verführen, Frauenlob-Signatur im Abgesang: ich, Frauwenlob, daz nit verhil! k 22–24 (1Frau/2/507a) Dreierbar überschrieben mit Ein ander par usz Appockalipsim: Str. 1: Allegorie: apokalyptischer Engel mit Buch, Sprecher verlangt Deutung, Str. 2: Allegorese: der Engel ist Gott, das Buch sind die geoffenbarten Werke usf., Deutung auf Opfertod und Erlösung, Str. 3: Lob der göttlichen Wunder (Sphären, Sterne, Elemente, Tag und Nacht, Donner, Wind und Regen), Sprecher bittet Gott um Erlösung. k 25–26 (1Frau/2/508) (k 25f. = C 36f.) Strophenpaar: Rätsel und Lösung, überschrieben mit Daz vierde: auf diese Weise mit dem vorangehenden Dreierbar verbunden, Str. 1: Rätsel vom Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Häuptern (Johannesvision), Str. 2: Deutung durch Regenbogen, das Tier ist die hoffart (= Antichrist).

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Textuelle Formation

k 27–29 (1Frau/2/509a) Dreierbar überschrieben mit Ein byspyl und irat: Str. 1: Rätsel von der Schmiede, ihrem Meister, vom Amboss und der Feuersglut, Lob gilt dem, der Rätsel zu lösen versteht, Str. 2: Ein zweiter Sprecher will das Band lösen, in der Deutung wird der Amboss zur Welt, die Schmiede zum Himmel und der Meister zu Gott, die Glut ist die Hölle, Str. 3: Mahnung des Sünders, der Meister vergoss sein Blut für ihn. k 30–32 (1Frau/2/510a) Dreierbar überschrieben mit Ein and par von der zungen zwingen: Belehrung des Jünglings, die Zunge zu beherrschen, gute und schlechte Zungen, Priester zwingt Gottes Sohn mit der Zunge in ein Brot, Ermahnung des Priesters, Lob rein zu halten, Zunge zu hüten, weil sie Böses und Gutes verkünden kann. k 33–35 (1Frau/2/511) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von straffung der welt: Thematisiert wird der Zustand der Welt, von dem das Ich singen will, doch ist sein künstlerisches Vermögen zu gering, die einen spielen, die anderen lieben, andere sind trunken, wieder andere sind arm, wieder andere alt, der Tod ist allen gewiss, Wendung an Gott, Wendung an die Welt, dass trotz Hab und Gut alles vergänglich ist, dennoch trachtet der Mensch nach Besitz, obgleich dieser nicht vor der Hölle bewahren kann. k 36–38 (1Frau/2/512) (k 37 = k 134) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von der welt: Weltklage, Str. 1: Mahnung der Herren, Gutes (reine Frucht) und Böses (Unkraut) zu trennen, weil das Böse per se böse ist, Str. 2: innerweltlicher Zustand, Welt wird immer schlechter, wie die Propheten und Paulus gesagt haben, Verlust der Treue, Missachtung göttlicher Gebote, Unrecht und Untreue herrschen vor, Str. 3: Zeit-Weltklage, Zeit des Antichrist naht, Kind hasst den Vater, Habgier herrscht überall, weder Worte der Meister noch Lehre der Kleriker können helfen. k 39–41 (1Frau/2/513) Dreierbar überschrieben mit Ein strafliet gein eim tummen senger: Str. 1: Bîspel vom Spiegelaffen, entfaltet wird das Narzissmotiv, Str. 2: Deutung des Narzissmotivs, Narziss ist ein dummer Mann / Sänger, der nichts gelernt hat und es mit zweien aufnehmen möchte, er entehrt sich dabei, bleibt ohne Lob und kommt zur Strafe in die Hölle, Str. 3: Das Land ist voller Toren, die nicht singen können, der Sprecher will dem Schreier die Haare scheren, ihn mit seiner Kunst erschießen, manch einer meint, ein Meister zu sein und ist doch einem Raben gleich, dem sein Gekrächze süß erscheint. k 42–44 (1Frau/2/514a) (k 44 = k 129) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von falscher mynne: Str. 1: Klage über die Frauen, die nur denjenigen lieben, der über Besitz verfügt, Str. 2: Warnung des Jünglings vor bösen Frauen und falscher Minne, der es nur ums Geld geht, Str. 3: Exempla von den Minnesklaven: Adam, Samson, David, Absalom, Alexander, Vergil, Holofernes, Aristoteles, Konstantin, Parzival, Ismahel sind den Frauen genauso verfallen wie der Sprecher der Strophe.

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k 45–47 (1Frau/2/515) Dreierbar überschrieben mit Ein anders dru exempel Ysopy etc.: Fabeln, Str. 1: Krähe und kluge Jungen. Rat der Mutter, auf den zu achten, der sich nach einem Stein bückt, Frage der Jungen, was zu tun sei, wenn einer sich nicht bücke, den Stein aber bei sich trage; die Jungen finden Schlechtigkeiten eher heraus als die Alten, Str. 2: Der kluge Hahn und der falsche Fuchs, ein Hahn flüchtet sich vor dem Fuchs auf einen Baum, obwohl dieser den Landfrieden erwähnt, der Hahn weist auf frei laufende Hunde hin und der Fuchs flieht, Klugheit überlistet falsche Freundschaft, Str. 3: Listiger Fuchs und dummer Wolf, Fuchs überlistet den Wolf, ihn aus dem Brunnen zu holen und lässt ihn selbst darin sitzen, kluger findet leicht einen Dummen, der ihm zum Glück verhilft. k 48–50 (1Frau/2/516a) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von dem abc der oberst zyle: Rätsel vom griechischen Alphabet, Str. 1: Rätsel von den zwanzig bzw. zweiundzwanzig, die in einem Land leben, unter ihnen ein Schwacher und fünf Brüder, Str. 2 und 3 (Lösung): Es ist das ABC und die fünf Brüder sind die Vokale, die Konsonanten werden der Reihe nach genannt mit den zweien, dem y und dem z, und dann folgen die Vokale. k 51–55 (1Frau/2/517a) (k 51–55 = k 96–100) Fünferbar überschrieben mit Dis ist ein furwurff, daz ist ein reitzunge uff gesa〈n〉g: Fürwurf und Rätsel (Sängerstreit), Str. 1: Herausforderungsstrophe, Sänger sucht Gegner für Gesang vor Publikum, Str. 2: Herausforderer wendet sich an diejenigen, die singen und sprechen hören wollen, gegen ungezogene hofediet, wendet sich an die Merker, die seine Kunst, die aus dem Herzen kommt, bewerten sollen, der junge Mann soll seine Lehre weitertragen, Str. 3: Der junge Mann, ist er auf Lob aus, soll seine Zunge und sich vor Schandmäulern hüten, Str. 4: Herausforderung der anderen Sänger, sollen ihm Knoten lösen, Rätsel vom Tier mit den fünf Beinen und den drei Augen, das in der Erde wohnt, Str. 5 – Lösung: Beleidigung des Herausforderers (esel, tor, gauch, narre, kint), Tier ist die Seele mit den fünf Sinnen, die Augen sind die drei Glaubensrichtungen (Christen, Juden, Heiden). k 56–60 (1Frau/2/518) Fünferbar überschrieben mit Nu volget wyder geistlich gesang in dysem ton, funff liede die 13 liligen: Marienlob, die dreizehn Lilien werden nacheinander aufgezählt: reine Seele bei Verkündigung, Gegenwart der Engel im Himmel, Keuschheit Marias, Gruß des Verkündigungsengels, jungfräuliche Geburt, Speisung des Herren durch Maria, Ankündigung ihres Todes durch einen Engel, Marias Tod im Beisein Gottes, der Apostel und Engel, Verleihung des ewigen Lebens, Befreiung der Seelen aus Höllenpein, Marias Krönung im Himmel, Gott gab Maria Macht über sein Reich, Belohnung Marias mit den geretteten Sündern.

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k 61–63 (1Frau/2/519a) (k 61 = C 31, F 111; k 63 = k 138) Dreierbar überschrieben mit Aber drei von unser fra〈wen〉 und von dem sunder: Mariengebet, Mahnung Marias an ihre Aufgaben, Ermahnung der Christen zu beichten; Ermahnung des Sünders zur Reue. k 64–66 (1Frau/2/520a) (k 64–66 = k 93–95) Dreierbar überschrieben mit Ander dru von unser frauwen: Marienlob, Str. 1: Kein Meister kann ihr Lob begreifen, Str. 2: Lob durch die Engelschöre (Aufzählung), Erzengel und Apostel (Aufzählung), Str. 3: Lob durch den Heiligen Geist und Gottvater. k 67–69 (1Frau/2/521) s. 1Frau/2/502a (k 67–69 = k 7–9) Dreierbar überschrieben mit Von unser frauwen k 70–72 (1Frau/2/522a) (k 70 = J 24, k 71 = k 107) Dreierbar überschrieben mit Eyn anders ein bette zu got: „Gebet zur Transsubstantiation“, s. J 24. k 73–77 (1Frau/2/523) vgl. 1Gern/1 Fünferbar überschrieben mit Ein anders in dyssem von Hans Geznspeck ein ewig wort: Johannesvision (sieht Gott, Maria, Himmel; Engelsturz, Maria an der Seite Gottes, Verkündigung, Jüngstes Gericht; Gute, Sünder, Hilferuf der Christen) k 78–80 (1Frau/2/524a) (k 78 = k 192 = F 105, k 79 = F 106, k 80 = F 104) Dreierbar überschrieben mit Ein anders in dysem tone von dem tode: Herrscherklage, Klage über den Niedergang der weltlichen Macht, Klage über Unausweichlichkeit des Todes, Ermahnung zum rechten Maß in Freude und Leid. k 81–83 (1Frau/2/525) Dreierbar überschrieben mit Ein ander par zu eren vater und muter: Jugendunterweisung, 3. Gebot – Ehre Vater und Mutter, Schande gebührt dem, der seine Eltern missachtet, und Lob dem, der sie ehrt. k 84–92 (1Frau/2/526a) Neunerbar überschrieben mit Disz sint die XVII wunder in dysem ton: Die Wunder Gottes werden aufgezählt: Maria, die himmlische Jungfrau, Jungfrauengeburt, Erschaffung des Himmels, der Sterne, des Meeres, der Erde, der Tiere, dreieiniger Gott, Individualität der Menschen, Fließen des Meeres, Regen, Blitz, Hagel, Donner, Reif und Schnee, Nacht und Tag, Meerwunder (Geschichte von den ungehorsamen Töchtern Adams), Wiederkunft Gottes am Tag des Jüngsten Gerichts und Verdammung der Sünder (Juden, Heiden, Ketzer), Ermahnung, sechs Werke der Barmherzigkeit zu tun, um dem Jüngsten Gericht zu entgehen. k 93–95 (1Frau/2/527) s. 1Frau/2/520a (k 93–95 = k 64–66) Dreierbar überschrieben mit Dru lied in dysem ton von unser frauwen: Marienlob. k 96–100 (1Frau/2/528) s. 1Frau/2/517a (k 96–100 = k 51–55) Fünferbar überschrieben mit Ein furwort: Sängerstreit.

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k 101–103 (1Frau/2/529) Dreierbar überschrieben mit Eyn anders in dissem ton: Hort der Dreifaltigkeit – Existenz vor aller Schöpfung, höchster Schrein, verkörpert Kraft dreier Fürsten, ist höchste Krone, Maria ist an Gottes Seite vor der Erschaffung des Himmels, Berufung auf die Schrift und die Kleriker, Gottes Geheimnisse sind nicht ergründbar, Ursprung des Wortes (Gott sendet es aus der Dreifaltigkeit) – Menschwerdung des Wortes, Johannesvision: sah Wort den Himmel erleuchten, sah Wort von Gott zu Maria fließen, sah Wort durch Maria geboren werden. k 104–106 (1Frau/2/530) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von unser frauwen: Marienlob – dreifacher Stamm wurde in sie gegossen, Wurzel aller Seeligkeit ist in ihr verschlossen, leuchtet vor der Sonne, Maria die Gnadenreiche, Krönung Marias. k 107–109 (1Frau/2/531) s. 1Frau/2/501c (k 107 = k 71, k 108 = k 5, k 109 = k 4) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von unser frauwen: Marienlob – Anrufung Gottes und Marias, Bitte um Schutz und Vergebung, Anrufung Marias, Sünderklage, Bitte um Hilfe, Bewahrung des Sprecher-Ichs vor Sünde und Hölle. k 110–112 (1Frau/2/532) Dreierbar überschrieben mit Ein anders vom lyden etc.: Ermahnung, Gott zu loben und ihm zu danken, Passion Christi, Str. 1: Gebet am Berg Gethsemane, Warnung vor der Sünde, Str. 2: Martyrium, Str. 3: Kreuzigung und Kreuzestod. k 113–115 (1Frau/2/533a) Dreierbar überschrieben mit Von den richtern im langen frauwenl〈ob〉: Klage über verschwundenes Recht, Ermahnung der Richter, Schöffen und Amtleute, Recht gerecht zu sprechen, ohne zwischen Arm und Reich zu unterscheiden, rechtes Recht ist heilsgewisses Recht. k 116–120 (1Frau/2/534) Fünferbar überschrieben mit Ein anders in dem ton: Erzählt wird die Geschichte der Passion (Judaskuss, Festnahme Jesu, Verleugnung Petri, Geißelung, Händewaschung des Pilatus, Kreuzigung, Leid Marias, Heilung des blinden Longinus, Kreuzestod, Kreuzabnahme, Grablegung.) k 121–125 (1Frau/2/535) Fünferbar überschrieben mit Ander funff von unser fr〈auwen〉: Leben Marias – Traum Jesses, von der Wurzel Jesse, von Maria, der Jungfrau im Baum und der Vereinigung mit der Barmherzigkeit des wilden Falken, Herkunft Marias, Joachims Tochter, Jugend im Tempel bis zur Empfängnis des Wortes; Lob Marias und ihr Heilswirken, von dem die Propheten schreiben (Erwähltheit durch das ewige Wort, Empfängnis durch das ewige Wort, sie ist die Ursache dafür, dass Jesus Christus für die Menschen starb und so Evas Verrat sühnte.)

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Textuelle Formation

k 126–128 (1Frau/2/536) Dreierbar überschrieben mit Ein ander par in dysem ton: Johannesvision – allegorische Deutung von Offb 12,1, frauwe ist Maria, bekleidet mit der Himmelsscheibe, die ihr Sohn ist, der Mond unter ihren Füßen ist der Sünder, dessen Leben wie dieser zu- und abnimmt, sie behütet ihn vor der Hölle bewahrt ihn vor einer Trennung von Gott, Johannes, der Adler, sah in die Himmel und die Hölle und sah jeweils deren Geheimnisse, er sah die Dreifaltigkeit Gottes, sah, wie Maria gekrönt wurde. k 129–131 (1Frau/2/537a) (k 129 = k 44) Dreierbar überschrieben mit Ein anders in dysem: Drei exemplarische Strophen über den Betrug, Str. 1: Katalog der Minnesklaven, betrogenen Männer, Str. 2f.: Judas als Krämer, der Jesus Christus verrät. k 132–134 (1Frau/2/538) (k 134 = k 37) Dreierbar überschrieben mit Ein anders abenture: Drei Strophen über das Verhältnis von Sein und Schein, Str. 1: Priamelartige Reihung von Aussagen über die Entsprechung zwischen ordo / Amt / Beruf und Handeln, Str. 2: Aufzählung der Fälle, bei denen es keine Entsprechung gibt zwischen Schein und Sein, zuletzt nennt sich der Spruchdichter selbst einen Besitzlosen, Str. 3: Ermahnung, auf die Sprüche der Meister zu hören, Klage über den üblen Zustand der Welt (Unmäßigkeit, Untreue, Unrecht, Meineid, Mord, Unehre, Lüge). k 135–137 (1Frau/2/539) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von unser fr〈auwen〉: Str. 1: Thematisiert wird das Wunder der Menschwerdung, Mensch ist Gott durch dessen Gebot, er soll sich dieser Würde bewusst sein und nicht sündigen, Str. 2: Gegenstand ist das Wunder der Trinität, die drei sind drei und zugleich eins; Mensch gewordener Gott heilt durch Leid und Kreuzestod Wunden der Schlange, ohne Freude und Minne einzubüßen, Str. 3: Anrufung Marias, Bitte um Hilfe bei Jüngstem Gericht, Sprecher bezeichnet sich als sündigen Priester. k 138–141 (1Frau/2/540a) (k 138 = k 63, k 139 = k 18, k 141 = k 198) Einheit zu vier Strophen, überschrieben mit Ein anders vom sacrament: Str. 1: Vorbereitung der Eucharistie (Beichte, Ermahnung zu Gottes- und Nächstenliebe, damit Herz Tempel Gottes sein kann), Str. 2: Manna des AT als Vorbild für Eucharistie, Priester wiederholt in Eucharistie Erlösungstod Jesu Christi, Mahnung an Priester, sich daran zu orientieren, Str. 3: Ermahnung des Sünders, im Angesicht des Bildes von Jesu Christi Kreuztod zu beten (Gebet ist als performative Rede ausgeführt), Str. 4: Hilfebitte des Sprechers stellvertretend für Christen, Bitte um Gnade. k 142–144 (1Frau/2/541a) (k 142 = F 128, k 144 = C 40, F 127) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von abentur: Thema ist die Relation von Gesinnung, Besitz und Gut-Sein, Str. 1: Unterscheidung von moralischem und materiellem Gut. Gut ist wertlos, wenn die entsprechende Gesinnung fehlt, Str. 2: Ermahnung der Edlen, Besitz und Gesinnung, hier Tugend, einander entsprechen zu lassen, Warnung vor der Hölle, Str. 3: Besitzlosigkeit wird thematisiert, mutige Gesinnung ohne Besitz kann zu Unmut werden, Fürsten sollen hier ausgleichend wirken.

Kolmarer Meisterliederhandschrift k – Langer Ton

77

k 145–147 (1Frau/2/542) Dreierbar überschrieben mit Ein pryßlyet: Str. 1: Reihung lobender Passagen auf das wib, z. T. anaphorisch konstruiert, Str. 2: her frauwenlop warnt das wyp vor schlechten Männern, Str. 3: Sprecher rät den Männern am Beispiel Lamechs, der seine Ehe brach, von Unehrenhaftigkeit gegenüber den wiben Abstand zu nehmen (Legitimation durch ein Exempel, welches die Meister und David verschriftet haben und das mündlich tradiert wird). k 148–150 (1Frau/2/543a) (k 148 = F 129, k 149 = F 130, k 150 = F 142) Dreierbar überschrieben mit Ein ander par vom gluck: Str. 1: Glück und Beständigkeit gehören nicht zusammen, Str. 2: Zwei Facetten des Glücks – gut und bose, Str. 3: Das Glück ist nicht zu beeinflussen, deshalb soll sich ein Mann im Spiegel des Glücks prüfen und bessern. k 151–153 (1Frau/2/544) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von kunst: Str. 1: Zustand der Kunst, Kunst ist edel, die Dummen sind der Meinung, Gesang gehöre nicht dazu, doch Worte und Gesang sind der Grund aller Künste, drei Künste muss ein Meister des Gesanges beherrschen: Hofdichtung (Hoftöne), Tänze und Reihen (Str. 2), Str. 3: Lob Heinrichs von Veldeke und Machart des Hoftons (zwei abgesetz, ein steg, ein sloss, Melodie soll nicht zu hoch, zu tief sein, Schluss soll Anfang ebenlut sein). k 154–156 (1Frau/2/545a) Dreierbar überschrieben mit Ein anders von der trunckenheit: Str. 1: Erzählt wird die Legende von St. Urban, dem Gott die Wahl gab, zwischen Trunkenheit, Mord und Notzucht zu entscheiden, St. Urban wählte die Trunkenheit und beging die beiden anderen Verbrechen, Str. 2f.: St. Urban als Sprecher, reflektiert die Entscheidung, Klage und Reue, Trunkenheit als Pfuhl der Sünde, der zu überwinden ist. k 157–161 (1Frau/2/546a) Fünferbar überschrieben mit Der welt schtraffe: Str. 1: Weltklage, der Arme wird gegenüber dem Reichen ungerecht behandelt, Str. 2: Die Arbeitsleistung des Bauern wird vom Klerus unvergolten ausgenutzt, Mahnung der Mönche, Pfaffen und Nonnen, dies ist der Weg in die Hölle, Str. 3: Klage, Herren und Pfaffen sollen den ihnen dienenden Bauern schützen, leisten ihre Aufgaben nicht, sind prunksüchtig, Str. 4: Ermahnung des Priesters, soll schlichte Kleidung tragen wie Christus, ist Gottes Vertreter, Str. 5: gelobt wird der, der alle Kämpfe ohne Waffen besteht, der unheilbare Wunden schlägt, den niemand fesseln und der den Großen klein machen kann. k 162–164 (1Frau/2/547a) Dreierbar überschrieben mit Ein ander in frau〈wen〉l〈ob〉: An Gott gerichtete Bitte, seinen Zorn zu unterlassen und Trost zu spenden, verbunden mit Beispielen aus der Heilsgeschichte, aufgezählt werden Beispiele für Gottes Hilfe und Wirken (Erschaffung Adam, Noahs Rettung, Erscheinen vor Abraham, Isaak, Jacobs Traum, Rettung des Volkes Israel, David und Goliath, Daniel in der Löwengrube, Jünglinge im Feuerofen, jungfräuliche, von Propheten verkündete Geburt, vorgeprägt im brennenden Dornbusch, den Moses sah, und in Ezechiels Pforte).

78

Textuelle Formation

k 165–167 (1Frau/2/548) Dreierbar überschrieben mit Ein furwurff in dy〈sem〉: Str. 1: Meistergesang erhält göttliches Lob und ist damit legitimiert, der Sprecher fordert zur Teilnahme am gemeinsamen Singen auf, ermahnt zum rechten Singen, dann ist göttliche Anerkennung gewiss, Str. 2: Rechte Meisterkunst kommt aus dem Herzen, der Mantel soll nicht nach dem Wind gehängt werden, Str. 3: Die Sänger sollen aus frischer Gesinnung heraus und um der Freude der Frauen willen singen, er selbst möchte vom Sommer singen. k 168–170 (1Frau/2/549a), zwischen 1. und 2. Strophe des furwurff (s. o.), auf eigenem Blatt eingetragenes Dreierbar, k 168 = RSM 1JungMei/1/508a,2, k 170 = RSM 1 JungMei/1/506a,1 Überschrieben mit In frauwenlobs langem don: Str. 1: Unterweisung des Weisen, soll in Maßen loben und tadeln, Str. 2: Sprecher sucht Mann, der es aller Welt recht tun könne, wäre dann zu loben, Welt nimmt an jeglicher Art Verhalten Anstoß, anstatt jeden so wie er leben will, leben zu lassen, Str. 3: Besitz ist zwar schön, doch das Leben ist vergänglich. Zum Besitz gehört die rechte Gesinnung, sonst ist die Hölle gewiss. k 171–173 (1Frau/2/550a) Dreierbar überschrieben mit Ein anders iij: Str. 1: Der Sprecher würde, wäre er Herrscher über viele Länder, diese seine Herrschaft aufgeben, wenn niemand seine Reue bis ans Ende aufsparte, Str. 2 (vanitas): Der Sänger trauert, dass jede Art der Herausgehobenheit (Gaweins Minne, Absalons Schönheit, Samsons Stärke, Salomons Weisheit, Aristoteles Kunst, Virgils [Filius] Zauberei, Adams edle Abstammung, Alexanders Wissen) nicht vor dem Tod schützt, Str. 3: Alle Schönheit, alle Wonne, alle Macht, die gottgleiche Herrschaft über die Elemente und die Toten, die astronomische Kundigkeit und Voraussicht Zabulons [Sabolon], all diese Freuden verliert man, wenn man sterben muss. k 174–190 (1Frau/2/551) 17 Strophen überschrieben mit Vor an dem LXXXViii blat stent xvii wunder mit ix liedern in dysem ton Item aber xvii wunder in xvii lydern: 17 Wunder, die der Christ wahrnehmen und schätzen sollte (jedem Wunder ist eine Strophe gewidmet.): Verkündigung und Menschwerdung, Jesu Geburt und die Hl. drei Könige, Darbringung im Tempel und Weissagung Simeons, Jesu Taufe im Jordan und sein Leben auf Erden, Palmsonntag, 1. Abendmahl mit den Jüngern, Vorhersage der Verleugnung Petri, Gebet im Garten Gethsemane und Sündenschlaf der Jünger, Martyrium und Dornenkrone, Marias Leiden, Heilung des blinden Heiden durch Gekreuzigten und Marias Leid und Wegführung durch Johannes, Kreuztod als Erlösungstat, Begräbnis und Auferstehung, Höllenfahrt und Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena, Himmelfahrt und Ausgießung des Hl. Geistes, Marias Tod und Himmelfahrt, Jüngstes Gericht.

Kolmarer Meisterliederhandschrift k – Langer Ton

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k 191–193 (1Frau/2/552a) (k 192 = k 78) Dreierbar überschrieben mit In dysen tone frauwenlobs clageliet: Str. 1: Klage über Tod Frauenlobs, sein (langer) Ton ist nun verwaist, hat Maria und Jesus Christus viel Lob entgegengebracht, Sprecher wünscht dem auserwählten Meister Gottes Hilfe, Str. 2: Vergänglichkeit irdischer Macht, Str. 3: Auch Macht und Adel des Reichen sind vergänglich, Reiche und Arme stammen von Adam her. k 194–196 (1Frau/2/553a) (k 194 = J 31, F 112; k 195 = J 32, F 113; k 196 = J 27) Dreierbar überschrieben mit Ein anders in dysem ton: Strophen aus dem „wîpvrouwe-Streit“. k 197–199 (1Frau/2/554a) (k 198 = k 141) Dreierbar überschrieben mit Ein anders in dysem ton: Str. 1: Gottes Kraft und Trinität, Adams Fall und seine Erlösung, An Maria gerichtete Bitte um Hilfe und Reinigung von Sünden, Str. 2: Hilfebitte des Sprechers stellvertretend für Christen, Bitte um Schärfung der Sinne und um diesseitige Zeit für Lob Gottes, Str. 3: Paradox der Trinität wird im Sprachspiel umkreist.

4.2

Gliederung der Bare und Strophengruppen nach formalen und thematischen Kriterien

k 1–3 Dreierbar

Marienlob

k 4–6 Dreierbar

Ave Maria

k 7–9 Dreierbar

Ave Maria

k 10–12 Dreierbar

Marienlob

k 13–15 Dreierbar

Priester

k 16–18 Dreierbar

Priesterschaft

k 19–21 Dreierbar

Priesterschaft

k 22–24 Dreierbar

22–29: Sprecherwechsel im Sinne eines Sängerstreits, drei Rätsel und

k 25–26 Strophenpaar ihre Lösungen, 1.: Rätsel vom apokalyptischen Engel, 2.: Johannesvision, k 27–29 Dreierbar

Rätsel vom Tier mit den zehn Hörnern; 3.: Rätsel von Ambos und Schmied

k 30–32 Dreierbar

Lehrstr., an jungen Mann und Priester gerichtet: Bezwingen der Zunge

k 33–35 Dreierbar

vanitas: Vergänglichkeit trotz Besitz, Wendung an Gott und Welt

80

Textuelle Formation

k 36–38 Dreierbar

Klage über Schlechtigkeit der Welt (u. a. Missachtung göttl. Gebote), Endzeit naht

k 39–41 Dreierbar

39–44: Über falsche Formen der Minne: Narzissmotiv und Deutung auf schlechte Sänger (Eigenliebe)

k 42–44 Dreierbar

Klage über falsche Minne, geliebt wird, wer besitzt (Besitzesliebe)

k 45–47 Dreierbar

drei Äsop-Fabeln über das Erkennen schlechten Handelns

k 48–50 Dreierbar

48–55: Sprecherwechsel im Sinne eines Sängerstreits, zwei Rätsel und ihre

k 51–55 Fünferbar

Lösungen, 1.: Rätsel vom griechischen Alphabet, 2.: Rätsel vom Tier mit den fünf Beinen

k 56–60 Fünferbar

Marienlob (heilsgeschichtliche Stationen des Marienlebens von Reinheit über Krönung bis Hilfe für die Sünder)

k 61–63 Dreierbar

Mariengebet (Marias Aufgaben)

k 64–66 Dreierbar

Marienlob

k 67–69 Dreierbar

Ave Maria (Bitte um Bewahrung vor der Hölle)

k 70–72 Dreierbar

„Gebet zur Transsubstantiation“

k 73–77 Fünferbar

Johannesvision

k 78–80 Dreierbar

vanitas: Klage über Herrscher, Unausweichlichkeit des Todes

k 81–83 Dreierbar

Lehrstr.: 3. Gebot, Vater und Mutter zu ehren

k 84–92 Neunerbar

17 Wunder Gottes, münden in Ermahnung, sechs Werke der Barmherzigkeit zu tun

k 93–95 Dreierbar

Marienlob

k 96–100 Fünferbar

Sprecherwechsel im Sinne eines Sängerstreits: Rätsel vom Tier mit den fünf Beinen (Mensch mit fünf Sinnen, gibt drei Glaubensrichtungen)

k 101–103 Dreierbar

Hort der Dreifaltigkeit, Ursprung des Wortes, Johannesvision: sieht Wort Mensch werden

k 104–106 Dreierbar

Marienlob: dreifacher Stamm wird in Maria gegossen

k 107–109 Dreierbar

Marienlob, Gebet: Bitte um Schutz des Sprechers vor Sünde und Hölle

k 110–112 Dreierbar

Ermahnung der Christen, Gott zu loben, Erinnerung der Passion

k 113–115 Dreierbar

Ermahnung der Richter, rechtes Recht ist heilsgeschichtliches Recht

Kolmarer Meisterliederhandschrift k – Langer Ton

81

k 116–120 Fünferbar

Geschichte der Passion: Judaskuss bis Grablegung

k 121–125 Fünferbar

Leben Marias: Herkunft, Empfängnis, Heilswirken

k 126–128 Dreierbar

Johannesvision: Deutung Offb. 12,1 – frouwe = Maria

k 129–131 Dreierbar

Über den Betrug: weltlich – Minnesklaven, heilsgeschichtlich – Judaskuss

k 132–134 Dreierbar

Sein / Schein, Besitz / Besitzlosigkeit, Weltklage

k 135–137 Dreierbar

Wunder der Menschwerdung, Wunder der Trinität

k 138–141 vier Strr.

Sakrament der Eucharistie, Ermahnung der Priester und Sünder, Hilfebitte

k 142–144 Dreierbar

materieller und moralischer Besitz / Gesinnung, Ermahnung der Fürsten

k 145–147 Dreierbar

Lob des wibes und Warnung des Weibes und Mannes vor der Schlechtigkeit des jeweils anderen

k 148–150 Dreierbar

Glück vs. Beständigkeit

k 151–153 Dreierbar

Richtlinien der Sangeskunst, drei Künste machen den Meister des Gesanges aus: Hofdichtung, Tänze und Reihen; Machart des Hoftons

k 154–156 Dreierbar

Trunkenheit: Legende von Sankt Urban

k 157–161 Dreierbar

Weltklage: ungerechte Behandlung der Armen, hier Bauern

k 162–164 Dreierbar

Bitte um Trost und Gnade (Belege aus der Heilsgeschichte)

k 165–167 Dreierbar

Sängerlehre: Ermahnung zum rechten Singen (Folgebar k 68– 170 ist eingeschoben nach Str. 165)

k 168–170 Dreierbar

Unterweisung der Weisen bezüglich Lob und Tadel

k 171–173 Dreierbar

vanitas: Trauer des Sprechers über Vergänglichkeit des Irdischen

k 174–190 17 Strophen 17 Wunder Gottes: Verkündigung, Menschwerdung bis Kreuztod, Höllenfahrt, Himmelfahrt, Maria Himmelfahrt und Jüngstes Gericht k 191–193 Dreierbar

vanitas: Klage über Tod Frauenlobs, hat Maria und Sohn reichlich gelobt

k 194–196 Dreierbar

Strr. aus „wîp-vrouwe-Streit“ (heilsgeschichtliche Herleitung des Wortes vrouwe, Vorrang, Dreiheit der Frau: meit, wyp, frauwe)

k 197–199 Dreierbar

Lob der Trinität, der Jungfrau, Bitte Gottes um Hilfe, Wunsch des Sprechers, zur heiligen Familie zu gehören

82

4.3

Textuelle Formation

Beschreibung der Bare und Strophengruppen in ihrer Anordnung im Textcorpus

Die 199 Strophen im Langen Ton der Kolmarer Liederhandschrift sind in drei Blöcken eingetragen, 1. auf Bl. 94r–115v: Mit dem Blattende, fol. 115v, wird die 2. Strophe eines Dreierbars unterbrochen; ein Randvermerk, such aber VI bletter, stellt die Zusammengehörigkeit mit den Folgeversen, fol. 122r, her; eingeschoben sind Strophen im Würgendrüssel Frauenlobs. Der zweite Block ist auf Bl. 122r–127v eingetragen: 127v endet mit der 1. Strophe eines Dreierbars; ein Randvermerk weist auf den Anschluss hin, ker umb ii bl; auf Bl. 128rv sind Strophen im Dan-Ton Frauenlobs eingetragen und fol. 129r folgt ein Dreierbar im Langen Ton Frauenlobs; fol. 129v ist leer; fol. 130r schließt die unterbrochene Strophe von fol. 127v an; Randvermerk: VI blater hinder sich. Der dritte Block ist auf Bl. 130r–134v eingetragen; Bl. 135rv ist leer. Insgesamt sind 55 Barrubriken markiert. Die regelmäßig vorhandenen, fast ausnahmslos thematischen Barrubriken unterscheiden Bare und Strophengruppen, angefangen vom Strophenpaar über Dreier-, Fünfer- und Neunerbar bis hin zu einer Gruppe von vier und einer von 17 Strophen. Sie inszenieren die thematische Zusammengehörigkeit der unter ihrer Überschrift zusammengerückten Strophen. Die Barrubrik für das erste Bar Gesang im langen ton frauwenlobes ist zugleich Corpusüberschrift. Etwa ein Viertel der Rubriken ist inhaltlich asemantisch: Es finden sich Rubriken, die auf ein weiteres oder das kommende Bar im gleichen Ton, auf den Tonautor / den Ton und auf einen spannenden Inhalt verweisen: Ein anders, Ein ander par, Das vierde, Eyn anders in dysem ton, Ein ander in Frauwenlob, Ein anders abenture usf. Alle anderen Rubriken weisen stichpunktartig auf den Gegenstand des jeweiligen Bars hin, z. B.: Ein ander par vom gluck, Ein anders von der trunckenheit, Ein anders von unser frauwen, Ein anders von kunst, Ein pryßlyet, Ein anders vom sacrament. Für die 55 Einheiten trifft beinahe ausnahmslos zu, dass die Strophen der Bare nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zusammengehören. In einem Fall ist es möglich, dass eine geradzahlige Strophengruppe zum Bar aufgefüllt wurde (k 157–161) und in einem weiteren Fall könnte ein Bar aus Einzelstrophen zusammengestellt worden sein (k 132–134). Barübergreifend gibt es thematische Cluster, die mehrere Bare durch ein Thema miteinander vernetzen. Das gilt für zwei mal vier mariologische Bare, Strr. 1–12 und Strr. 56–69, zwei weitere mariologische Bare, Strr. 104–109, und drei Dreierbare zur Priesterschaft, Strr. 13–21. Drei andere Bare sind strukturhomolog und treten durch den Redegestus des Rätsels zusammen, Strr. 22–29, was für zwei weitere Bare, Strr. 48–55, ebenso zutrifft. Eine barübergreifende Systematik des Zugriffs lässt sich vielleicht aus der Perspektive des vorderhand präsentierten Wissens erkennen, insofern sich – heuristisch sehr vergröbert – die beiden zentralen Wissensfelder der Spruchdichtung unterscheiden lassen:

Kolmarer Meisterliederhandschrift k – Langer Ton

83

religiöses Wissen i. w. S. und weltliches Wissen i. w. S. Das Wissen dieser beiden Felder ist in den Strophen auf mannigfache Weise miteinander verwoben. Im Corpus wechseln Bargruppen vornehmlich religiöser oder heilsgeschichtlicher Thematik mit Bargruppen vornehmlich weltlicher oder panegyrischer Thematik ab, wie die folgende tabellarische Übersicht darstellt. Eine spezifische, gar konzeptionelle Ordnung ist aufgrund der Interdependenzen innerhalb der Bare nicht offensichtlich, etwa wenn die Rätsel im Sängerstreit religiöse Inhalte haben oder die Vergänglichkeit auf das Heil hin orientiert ist. Strr. 1–29, zehn Bare

religiöse Thematik: Mariengebete, Ave Marias (vier Bare) religiöse Thematik: Über die Priesterschaft (drei Bare) heilsgeschichtliche Thematik: Rätsel drei Bare)

Strr. 30–55, acht Bare

weltliche Thematik: Weltklage, vanitas, falsche Minne, falsches Verhalten (sechs Bare), Rätsel (zwei Bare)

Strr. 56–77, sechs Bare

religiöse, heilsgeschichtliche Thematik: Marienlob, Ave Maria, Gebet, Johannesvision

Strr. 78–80, ein Bar

weltliche Thematik: vanitas

Strr. 81–83

religiöse Thematik: 3. Gebot

Strr. 84–95, zwei Bare

religiöse, heilsgeschichtliche Thematik: Wunder Gottes, Marienlob

Strr. 96–100, ein Bar

weltliche Thematik: Rätsel

Strr. 101–128, acht Bare religiöse, heilsgeschichtliche Thematik: Johannesvisionen, Marienlob, Erinnerung an Kreuztod, an heilsgeschichtliches Recht, Geschichte der Passion, Leben Marias Strr. 129–134, zwei Bare weltliche Thematik: Über den Betrug, Sein / Schein Strr. 135–141, zwei Bare religiöse Thematik: Trinität, Eucharistie Strr. 142–153, vier Bare

weltliche Thematik: guot / muot, Weib / Mann, Glück, Kunst

Strr. 154–156, ein Bar

heilsgeschichtliche Thematik: Legende von St. Urban

Strr. 157–161, ein Bar

weltliche Thematik: Weltklage

Strr. 162–164, ein Bar

religiöse Thematik: Gebet

Strr. 165–173, drei Bare

weltliche Thematik: Sängerlehre, Belehrung der Weisen, vanitas

Strr. 174–190, ein Bar

heilsgeschichtliche Thematik: Wunder Gottes

Strr. 191–196, zwei Bare weltliche Thematik: Frauenlobs Totenklage, vanitas, „wîp-vrouwe-Streit“ Strr. 197–199, ein Bar

religiöse Thematik: Trinität, Gebet

84

Textuelle Formation

Ergreift man die diskursiven Fäden der Strophengruppen und Bare, ergeben sich eine Reihe von Folgefragen. Auf welche Weise Wissen aus den genannten Bereichen in den Strophen sedimentiert ist, wie dieses Wissen ver- und bearbeitet ist, wie es miteinander korreliert und welche Funktion das Wissen für die Aussagen zur Meisterschaft hat, das heißt, auf welche Weise es für den literarischen Diskurs überschritten wird, diese Fragen sind Leitfragen für die Analysen.

4.4

Formen der Kohärenzbildung und -vermeidung

kohärenzbildend

Barrubriken; innerhalb der Bare: thematische Ausrichtung, oberhalb der Barebene: Strukturhomologien in der Barfolge, Bargrenzen überschreitende Themen aus einem Wissensbereich, Wortwiederholungen

kohärenzvermeidend

innerhalb der Bare: Themenwechsel, relativ abgeschlossene Aussagen innerhalb einer Strophe (trifft für eine der 55 Bareinheiten zu)

Der Zusammenhalt der tongleichen Strophen in den vier Hauptüberlieferungszeugen C, J, F und k folgt nicht immer den gleichen Prinzipien. Die Strophen in C und J sind viel stärker separiert als jene in F und k. Dort bringt die Fülle des Materials gegenüber der alten Überlieferung eine konzeptionelle Umstellung im Bereich der Form mit sich, insofern es nun die Bare sind, die stärker separierte Einheiten ausbilden als Einzelstrophen. Einzelstrophen sind viel eher zu thematischen Ketten arrangiert als Bare. Ungeachtet dieser Differenzen bieten alle vier Corpora strophen- bzw. barübergreifende Ordnungskriterien, die die jeweilige Strophenfolge als textuelle Formationen hervortreten lassen. Die Frage nach dem Textstatus stellt sich immer wieder dort, wo auch die Relation von Ein- und Mehrstrophigkeit als Konstituens eines Zusammenhalts in den Blick rückt. Ganz grundsätzlich sind die Strophenketten auf eine Idee hin semantisiert, so dass sie als ein Gefüge kenntlich werden. Deren textuelle Prägnanz wird sich mit den folgenden Analysen erst ergeben müssen, in denen eine erste Annäherung an die epistemische und poetologische Orientierung des Tons versucht wird.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie in der älteren Überlieferung

85

III. Wissen und Meisterschaft

1.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie in der älteren Überlieferung

1.1

Meisterschaftsansprüche und ihre Begründung im Wissen

Das Frauenlobcorpus in der Großen Heidelberger Liederhandschrift ist durch eine Miniatur und die Sigle Meister Heinrich Vrouwenlop autorisiert. Es befindet sich im letzten Drittel der Handschrift und wird durch den „Marienleich“ (C 1–30) eröffnet.147 Dem Langen Ton (C 31–47) steht eine „geistliche Strophe“,148 eine Gebetsstrophe (C 31), voran, und der Strophenkomplex nach dem Gebet umfasst die sogenannte „Selbstrühmung“ (C 32), Strophen, die die Forschung zum „wîp-vrouwe-Streit“ zählt (C 33–39), sowie didaktische Strophen, die sich dem Themenkreis der guot-muot-Debatte zuordnen lassen (C 40–47). Ohne Zäsur, fortlaufend geschrieben, folgen zehn Strophen im Kurzen Ton und drei Strophen im Grünen Ton Frauenlobs.149 Klassifiziert man C 31 im Sinne der Forschung, fällt die Literarisierung, und das bedeutet auch immer die Inszeniertheit der mariologischen Implikationen, leicht aus dem Blick. Die Sinnzuschreibungen der Strophe laufen jedoch auf mindestens zwei Ebenen, auf der Ebene literarischer und auf der Ebene religiöser Rede. Da die Ordnung der Heidelberger Liederhandschrift nach Autoren den Gebrauchszusammenhang einer Gebetssammlung sicher ausschließt, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Gebetsmodus litera147

Zum „Marienleich“ vgl. Ludwig Pfannmüller, Frauenlobs Marienleich (1913); Christoph März, Frauenlobs Marienleich (1987), besprochen von Michael Shields, in: GRM 41 (1991/2), S. 141– 143; die Beiträge von Hartmut Freytag, Timothy R. Jackson, Nigel F. Palmer, Kurt Gärtner, Michael Shields in den WS X (1988), S. 71–124; Hartmut Freytag, Beobachtungen (1988/89); Tobias A. Kemper, Der smit von oberlande (1999); Christoph März, Canticum boemicale (2002); Libor Veselý, Das Bild der Jungfrau Maria in der deutschen und alttschechischen Mariendichtung (2004); Barbara Newman, Frauenlob’s Song of songs (2006); Marion Oswald, Vor miner augen anger (2007), S. 127–140; Deutsche Lyrik. Text und Kommentar (Wachinger 2010), S. 364–395, 823– 871. 148 Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 188. 149 Vgl. zur Erörterung des Corpusgefüges auch die Kapitel zu Autorschaft und Meisterschaft.

86

Wissen und Meisterschaft

risch bearbeitet und überformt ist, so dass religiöse und literarische Redeform interferieren. Der Begriff der Redeform, den ich hier verwende, bezieht sich zum einen auf traditionelle religiöse Formen der Rede wie Gebet und Predigt, ebenso wie auf literarische, hier typisch spruchdichterische Redeformen, wie Lob, Belehrung, Unterweisung, Wettstreit, die ich wiederum als Anverwandlungen rhetorischer Redeformen (quaestio, dispuatio) lese.150 Ich sehe in diesen Formen elementare Redeformen, die von der Kirche, von der Schule, von der Universität und von der Sangspruchdichtung genutzt werden. Ganz grundsätzlich verstehe ich die Redeform als eine Wissensorganisationsform, durch die die Textkonstitution gesteuert werden kann und die damit grundsätzlich ein auf spezifische Weise geformtes diskursives Wissen transportiert. Sie ist damit Medium der Wissenskonstitution ebenso wie der Wissensvermittlung. Die Adaptation geläufiger rhetorischer und religiöser Formen der Rede im Langen Ton bekräftigt ihre textgenerierende Funktion. Die literarisch geformte Rede ist wegen ihres diskursiven Bezugsfeldes interessant. Im Text ist die Redeform jener Ort, an dem epistemische Facetten nicht bloß eingespeist werden, sondern sie werden mit poetologische Facetten in eins gesetzt, so dass transgressive Phantasmen des Literarischen darstellbar werden, wie es in C 31 der Fall ist. Zunächst sei der Gegenstand dieser Strophe umrissen. Aus der Perspektive religiöser Rede, aus der Perspektive des Gebets, erbittet der Sprecher den Beistand Marias gegen die eigene Sündhaftigkeit.151 Er erinnert Marias Aufgabe im göttlichen Heilsplan, indem er ihre affektive Teilhabe an Christi Inkarnation, Martyrium und Auferstehung vergegenwärtigt. Erinnert werden Stationen der neutestamentlichen Heilsgeschichte von der Verkündigung (V.3ff.) über Geburt und Reinigung (V.7–10) bis zu Martyrium (V.11f.) und Auferstehung sowie Maria Himmelfahrt (V.14–18). Den biblischen Kontext aus der Perspektive der Mutter Gottes bilden die sieben Freuden Marias und ihre Schmerzen: Verkündigung (annuntiatio, V.3–5), Empfängnis (conceptio, V.5–6), Geburt (nativitas, V.7), Reinigung (purificatio, V.7–10), Auferstehung (ressurrectio, V.14), Himmelfahrt (ascensio, V.17) und Himmelfahrt Mariä (assumptio, V.18). Auf die Schmerzen Marias wird in V.11f. rekurriert.152

150

Der Begriff der Redeform findet sich bei Jürgen Fohrmann, Textzugänge (1997), S. 216f. Ich gebrauche ihn nicht handlungslogisch, sondern versuche, die diskursive Funktion elementarer Formen der Rede im historisch spezifischen Textgefüge der Sangspruchdichtung zu beleuchten. 151 Dass die Redeform des Gebets „seit den Anfängen der Sangspruchdichtung [v. a. als Bitte und Preis, d. V.] zum Repertoire der Spruchdichter“ gehört, führt zuletzt Klaus Grubmüller, Autorität und meisterschaft (2009), S. 692, aus. Er weist dies aus am Beispiel des Marners, Hergers, Walthers, Friedrichs von Sonnenburg, Reinmars von Zweter und Konrads von Würzburg. 152 Die sieben Freuden Marias umfassen Stationen aus dem Leben Marias zwischen Verkündigung und Aufnahme in den Himmel. Ihre Betrachtung gehört zu den beliebtesten Gegenständen der marianischen Dichtung. Sie wird oft, wie auch partiell in dieser Strophe, mit der Darstellung der Schmerzen verbunden; Bayer, Art. „Sieben Freuden“, in: Marienlexikon 6 (1994), S. 154f.

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Die literarische Arbeit an diesem parzellierten biblischen Wissen ließe sich, so eine erste These, als ein Gestalten im Grenzbereich von Transzendenz und Immanenz beschreiben: Maria als mediatrix, als biblische Vermittlerin zwischen dem sündhaften Menschen und dem zürnenden Gott und als Vermittlerin göttlichen Heils und göttlicher Gnade, wird in dieser traditionellen Funktion in C 31 bestätigt,153 und zwar in einer triadischen Konstellation von Spruchdichter-Ich, Mutter Gottes und Trinität. Vor dem Hintergrund der Trinitätsdogmatik und der theologischen Spekulationen um die Wesenseinheit der drei göttlichen Personen muss man hier sicher die Nähe der genannten Trias imaginiert und sogleich auch legitimiert sehen.154 Doch nicht nur rechtfertigt sich auf diese Weise die spruchdichterische Rede, auch rückt der Spruchdichter in eine zu Maria ähnliche Position: So wie Maria zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Bereich vermittelt, so vermittelt das Spruchdichter-Ich zwischen Maria und den Rezipienten. Ich nenne diese Position die Position der Grenzverwaltung. Es interessiert mich nun dreierlei: erstens, in welcher Weise die Redeform des Gebets literarisiert ist, und das bedeutet zugleich, einen Blick auf die Bearbeitung des biblischen Wissens zu werfen, zweitens, wodurch die Textbewegung zwischen den beiden Polen Transzendenz und Immanenz gelenkt wird, und drittens, wie der Eindruck einer zweifachen Relaisfunktion durch Maria und das Spruchdichter-Ich erzeugt wird. Der analytische Blick richtet sich dabei auf textuelle Grenzphänomene, auf den Vorgang der Grenzüberschreitung, auf mögliche Vermittlungsleistungen durch das textuelle Ich oder durch Maria und auf die sprachliche Gestaltung der Textbewegungen. Ob diese Strophe für die Strophen im Langen Ton paradigmatischen Wert besitzt, wird sich während des Fortschreitens der Analysen zeigen müssen. Maria als Mutter, Tochter und Braut (V.1) verkörpert drei Seinsformen, die hier, im Rahmen der Spruchdichtung, auf das Paradox göttlicher Trinität hinweisen könnten.155 Zugleich verweisen sie auf unterschiedliche Seinsstufen, die die Geschichtlichkeit auch 153

Im Sinne eines Überblicks über die Funktion Marias sind hilfreich: Erwin Panofsky, Imago Pietatis (1927); Gabriele Lenger, Virgo (1980), bes. S. 191–208; Klaus Schreiner, Maria (1994), und Jürgen Becker, Maria (2001). Zur Marienverehrung im Mittelalter Klaus Schreiner, Marienverehrung (1990), und ders., Nobilitas Mariae (1993), gleichermaßen heranzuziehen sind das Handbuch der Marienkunde und die einschlägigen Artikel im Marienlexikon, insbesondere zur Mittlerrolle Marias Müller, Art. „Mittlerin der Gnade“, in: Marienlexikon 4 (1992), S. 487–491. 154 Vgl. Peter Kern, Trinität (1971), S. 220–224. 155 Im Referenztext der „Goldenen Schmiede“ Konrads von Würzburg wird das Paradox der Jungfrauengeburt mit den Bezeichnungen Marias aufgerufen, wenn Maria gleichermaßen als Mutter und Magd bezeichnet wird (V.139). Doch ebenso ist bereits die trinitarische Konstellation vorgeprägt: V.284 wird Maria als Kind, Mutter und Braut der Trinität von Sohn, Vater und Geist verglichen. Stärker noch als in C 31 werden die Analogien ausgezogen anhand der Mutterschaft gegenüber dem Vater, ihrer Tochterschaft gegenüber dem Sohn und der Brautschaft gegenüber dem heiligen Geist (V.286–291). Dies scheint mir eine hochverdichtete Darstellung der einzigartigen Beziehung Marias zur Dreifaltigkeit zu sein, wie sie sich in den im Mittelalter üblichen Titeln, Tochter des Vaters, Mutter des Sohnes und Braut des Heiligen Geistes, zeigt. Vgl. Stöhr, Art. „Gnadenfülle“, in: Marienlexikon II (1989), S. 662–664.

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des irdischen Körpers von Maria vergegenwärtigen. Doch bleibt es ontologisch paradox, dass Maria zugleich als Mutter Gottes, als dessen Tochter und dessen Braut angesprochen wird. Doch im Wunderbaren bleibt auch das Paradoxe distanziert und umhüllt die Inkarnation auf der Ebene des Textes als ein ebenso Unergründbares. Das Ich, das sich an Maria wendet (V.2), erinnert sie: ich mane dich, trut (V.2).156 Dieser aktive Impetus eines Wissenden zusammen mit der Anredeformel trut stellt die Bearbeitung religiöser Gebetsrede und die literarische Textbewegung recht deutlich aus. Zunächst tritt in der Wendung an Maria nicht der Gestus eines passiv Bittenden zutage und auch nicht der priesterliche Gestus der Vermittlung zwischen sündhafter Diesseitigkeit und göttlichem Heil. Der Anspruch, Maria erinnern zu können durch sein Wissen um das Heilsgeschehen, hebt den Sprecher in eine auktoriale Position. So bedeutet das: ‚Ich erinnere dich!‘ immer ein: ‚Ich erinnere mich und euch.‘ Das Ich tritt, ausgezeichnet durch seinen Wissensanspruch, in eine dem epischen Erzähler analoge Rolle ein, und es wendet sich aus dem Text hinaus dem Rezipienten zu. Es ist zugleich eine der topischen Redeformen des Spruchdichters, die hier ausgeformt wird, nämlich die des Lehrenden und Mahnenden. Die Anredeformel trut imaginiert eine Nähe des Spruchdichter-Ichs zu Maria analog dem göttlichen Begehren nach der sponsa.157 Dieser literarisch erzeugte Kurzschluss zwischen dem Ich und Maria sowie der Vorgang des Erinnerns werden genutzt, um das, was Heilsgeschichte ist, im Sinne authentischer, und das bedeutet auch immer im Sinne wahrer Gegebenheiten in die Gegenwart des literarischen Textes zu holen. So funktioniert denn auch die anaphorische Konstruktion des Erinnerns in diesem Sinne. Die Doppelanapher je Stollen und das zweifache Erinnern im Abgesang verstärken im Moment der Wiederholung den Redegestus des Erinnerns, man könnte sagen im Sinne performativer Rede: Das Erinnerte drängt in der unausgesetzten Wiederholung, im imaginierten Immer-wieder, in die Gegenwart des Textes, und es drängt als ein Erinnertes auch in die Gegenwart des Rezipienten. Damit ist es dem Gebetsmodus gegeben, eine Annäherung an das Göttliche zu figurieren, indem die Paradoxie als eine dauerhafte imaginiert wird. Allein die figurierte mariologische Geschichte deutet auf das Paradox der Inkarnation, und nur im Sinne dieser Verschiebung vom Unsagbaren hin zu Maria kann man von einer Annäherung an das Mysterium sprechen. Zum anderen weist die anaphorische Konstruktion der Ich-Rede, die anaphorische Konstruktion des Erinnerns, auf die Grenze zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Transzendentem und Immanentem hin. Die Eindrücklichkeit der Grenze wird durch den wiederholten Verweis auf Verkündigung, Auferstehung und Himmel156

mane verweist auf die Apostrophierung Marias in lateinischen Hymnen, Karl Bertau, Untersuchungen (1954), S. 43–50 und 160f.; GA 2, S. 723; Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 240. 157 Diese Nähe gibt es in den entsprechenden Passagen der „Goldenen Schmiede“ nicht. Das Ich ist mehrteils ein deutender, ein erkennender und ein empfangender des Wunderbaren, der dieses Wunder sprachlich formt für den Rezipienten (etwa V.410–421). Vgl. zur sponsa die Belegstellen bei Peter Kern, Trinität (1971), S. 92–127.

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fahrt erzeugt: Nur der Erzengel Gabriel, Jesus Christus und Maria sind in der Lage, die Grenze zu überwinden. Maria hat körperlich teil an dem, was erinnert wird; sie vereinigt in sich die Erfahrung der Immanenz und der Transzendenz. Das Ich aber kann als irdische Person nur darüber sprechen: Das Erinnerte gehört zwar zum Wissen des Sprechers, doch bleibt es, trotz seiner textuellen Vergegenwärtigung, vermittelt. Für den Rezipienten der Strophe sind Inkarnation und Auferstehung ein erinnertes Geheimnis, wobei die Eindrücklichkeit des Erinnerten eine emphatische Teilhabe am Geheimnis während der Rezeption des Gebets ermöglichen könnte. Ich betonte zu Beginn der Analyse, dass Maria und – ihr vergleichbar – der Sprecher der Strophe Instanzen der Grenzverwaltung sind. Das lässt sich aus der Perspektive des göttlichen Mysteriums noch etwas prononcierter beschreiben. Maria ist am göttlichen Geheimnis beteiligt. Der Sprecher der Strophe wird dagegen als ein Teilhaber am Wissen um das Geheimnis imaginiert. Das geschieht durch das von ihm präsentierte heilsgeschichtliche Wissen, durch die von ihm postulierte Nähe zu Maria und durch den inszenierten Sprecherwechsel, der vom Sprecher der Strophe hervorgerufen wird: ich mane dich ouch an das antwürt büssen (V.5). Und dann heißt es (V.6): Ich bin ein dirn in gotes gunst […]. Maria affirmiert mit diesem Satz das ihr Verkündete. Sie ist, so scheint es, der zweite Sprecher in dieser Strophe. Doch möglicherweise ist Maria gar nicht in der Rolle einer Sprecherin imaginiert, sondern das Sprecher-Ich erinnert sowohl, dass Maria geantwortet hat, als auch – in direkter Rede – was sie geantwortet hat! Imaginiert ist in jedem Fall ein detailliertes Wissen des Sprechers über die Verkündigung.158 Der Sprecher ist demnach in der literarischen Konstruktion der Strophe, in ihrem poetologischen Entwurf auf zweifache Weise instrumentalisiert: Er tritt in die Rolle eines Verwalters der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, indem er in mehrfachen Erinnerungen diejenigen heilsgeschichtlichen Stationen betont, die an dieser Grenze handeln. Gleichzeitig weist er im Vorgang des Erinnerns von der Seite der Immanenz immer wieder auf die Seite der Transzendenz. Man könnte von einem wiederholten Versuch der Annäherung sprechen, ohne dass die Grenze überwunden werden könnte. Bei dieser Form religiöser Rede verbleibt der Körper des Sprechers diesseits der Grenze, darauf verweist das Ziel des Gebets, die Vergebung der Sünden: der aller fröiden bis gemant: hilf mir von sünden pine (V.19).159 Der Raum der Transzendenz ist ein notwendig leerer Raum, ein Geheimnis, über das gesprochen werden kann, über das im Kontext dieser Gattung und dieses Tons notwendigerweise aber auch gesprochen wer158

Eine Überblick über das dogmatische Verständnis der Verkündigung kann man sich immer noch verschaffen bei Elisabeth Gössmann, Verkündigung an Maria (1957); aus historischer und kunsthistorischer Sicht Lüken, Verkündigung (2000). 159 Jürgen Fohrmann, Textzugänge (1997), S. 217–221, möchte eine Form der Rede, die ein zeitliches ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ unterscheidet und über die Dichotomie von ‚Transzendenz‘ und ‚Immanenz‘ bestimmt ist, als prophetische Elementarform des Redens erfasst sehen. Die literarische Gestaltung eines solchen Redens in C 31 bleibt jedoch deutlich religiös, bleibt im Gebetsmodus, auch wenn die von Fohrmann beschriebene Arbeit an der Distanz zwischen Transzendenz und Immanenz sich deutlich zeigt.

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den muss als ein Ausweis spruchmeisterlichen Könnens. Das Sprechen über den ‚leeren‘ Jenseitsraum gelingt nur durch die Verschiebung der Figuration. Mit der Einführung Marias als dritter Figur zwischen Ich und Gott ist die heilsgeschichtliche Funktion der Vermittlung in die Figuration eingebunden. Die Annäherung an das Geheimnis ist damit nicht der Wiederholung des Verweisens anheimgegeben, sondern sie bekommt mit der Figur Marias eine konkret vorstellbare diesseits anverwandelte Handlungsträgerin. Der Akt der statischen Annäherung im permanenten Verweis auf die Differenz erhält mit der Betonung der einzig Maria eigenen Mittlerfunktion Ereignischarakter. Die gesamte Strophe ist der Redeform des Gebets verpflichtet, doch zugleich ist sie eine Form literarisch gestalteter, spruchmeisterlicher Erinnerung heilsgeschichtlichen Wissens. Den bedeutungstragenden Schlüssel zu diesem analytischen Ergebnis liefern das sechsfache ich mane dich (wis gemant), das die iterative Textbewegung des Verweisens von der Immanenz auf die Transzendenz zum Ausdruck bringt, und die direkte Rede Marias, die ihre Position, den Blick von der Seite der Transzendenz aus, imaginiert, sowie die Anrede Marias als Geliebte. Obgleich die Modifikationen religiöser Rede schlicht sind, stellen sie dennoch den poetologischen Anspruch der Strophe aus: Heilswissen ist auch meisterliches, laienfrömmiges – hier darf konjiziert werden – und nicht ausschließlich klerikales Wissen, das in der poetischen Bearbeitung präsentiert werden kann.160 Die Folgestrophe des Mariengebets, die sogenannte „Selbstrühmung“ C 32, ist unikal überliefert. Sie leitet einen Komplex von acht thematisch eng miteinander verbundenen Strophen ein, die szenisch arrangiert sind (C 32–39). Durch den regelmäßigen Wechsel der Beischriften Meister und Regenbogen wird, ähnlich dem „Fürstenlob“ des „Wartburgkrieg“-Komplexes in C, im Schwarzen Ton Klingsors, C 1–25, ein Sängerstreit inszeniert,161 der die sogenannte „Selbstrühmung“ mit polemischen Entgegnungen, mit einem Rätsel und mit Fragen aus dem wîp-vrouwe-Komplex verbindet. Der gesamte Strophenkomplex des Langen Tons in C wurde als Spruchdichterfehde, als Sängerstreit zwischen Frauenlob und Regenbogen wahrgenommen, wie es die rezeptiv hinzugefügten Sprecherbeischriften zeigen.162 Über C 33 findet sich: dis ist d’ Re160

Die Problematik von theologischem und laikalen Wissensanspruch beschreibt Kästner, Sermo vulgaris (1996); grundsätzlicher Schreiner, Laienbildung (1984). Diese C-Strophe ist wie die parallel überlieferte Strophe der Weimarer Liederhandschrift F 111 eine Gelenkstrophe und leitet zu einem Komplex von Strophen, die man zum sogenannten „wîp-vrouwe-Streit“ rechnet, über. Die parallel überlieferte Strophe der Kolmarer Meisterliederhandschrift k 61 ist als erste Strophe eines Dreierbars unter der Barüberschrift: aber drei von unser frauwen und von dem sunder überliefert – hat damit eine deutlich andere Funktionalisierung erfahren. Vgl. zur Parallelüberlieferung Kapitel IV.9. 161 Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 24–39; Kellner / Strohschneider, Geltung (1998). 162 Der Sängerstreit als Texttyp steht in der Tradition des Streitgesprächs, vgl. dazu Bebermeyer, Art. „Streitgedicht / Streitgespräch“ (wie Anm. 18); Kiening, Art. „Streitgespräch“ (wie Anm. 18). Kiening, umreißt das literarische Streitgespräch als Disputation um den Vorrang einer Aussage, wobei der Gegensatz und nicht ein Erkenntnisprozess im Vordergrund stehe. Die frühen Forschungen

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genbog; am Rand von C 35. 37: Regenbog; über C 39: Regenbog. Von jüngerer Hand wurde am Rand von C 34. 36. 38 und über C 40 jeweils Meister nachgetragen. C 40 steht zwar einem thematisch abweichenden Komplex von sieben Strophen vor, doch ist die Strophengruppe C 40–47 durch die gleichlautende Beischrift Meister mit der Strophengruppe C 33–39 zusammengedacht. Ob diese Strophen im Sinne des Sängerstreits als Replik des Meisters auf den bisherigen Streit funktionalisiert sind, muss die Analyse erst noch erweisen. Zunächst ist davon auszugehen, dass mit dem ersten konzeptionellen Eingriff – ausgewiesen durch die jüngere Hand – ein szenischer Zusammenhang aller Strophen im Langen Ton nach der Gebetsstrophe angenommen wurde und markiert werden sollte. Ich möchte diesen szenischen Zusammenhang der Strophen als einen historisch geformten Zusammenhang analysieren und prüfen, ob die dadurch hervorgerufene Kohärenzerwartung poetologisch eingeholt wird. Dass dabei mit Brüchen, Sprüngen, aber auch mit Vernetzungen im Sinne des Stichwortgebens zu rechnen ist, liegt bei einer textuellen Konstruktion wie der des Tones nahe.163 In welcher Weise die den Geltungsanspruch des Meisters prägenden Formen des Wissens zu einem spruchmeisterlichen Bild zusammentreten, ist eine für diese Studien wiederkehrende Frage, die im Strophengefüge von C auf die beiden thematisch inkohärenten Strophengruppen C 32–39 und C 40–47 und den Strophenzusammenhang aller Strophen im Langen Ton (C 31– C 47) bezogen werden muss. C 32 ist diejenige Strophe, die das in der Forschung kursierende Autorbild Frauenlobs maßgeblich geprägt hat. Die Kontroversen über ihre Echtheit möchte ich nicht aufrollen, weil sie die analytischen Überlegungen unnötig verstellen würden.164 Für den zum Streitgedicht werden repräsentiert von Jantzen, Geschichte (1896), Erich Köhler, Streitgedicht (1962), Ingrid Kasten, Studien (1973), Hans Walther, Streitgespräch (21984), darüber hinaus Beatrix Wallochny, Streitszenen (1992), Helmut Gruber, Streitgespräche (1996), S. 46–81, sowie Antje Schäfer, Vergils Eklogen (2001), S. 27–71, hier zur Tradition der Streitdichtung in mündlicher und schriftlicher Kommunikation von der sumerischen Streitdichtung bis zu den Schmähreden der lower class im Amerika des 20. Jahrhunderts. Schäfer weist Sieg und Niederlage als tertium comparationis aller dieser Streitformen aus: Der Gewinner ist der, der das letzte Wort habe. 163 Zu diesem Problemfeld Franziska Wenzel, Textkohärenz und Erzählprinzip (2005). 164 Johannes Rettelbach etwa geht für die „Selbstrühmung“ von einer Persiflage gegen die Dichtung Frauenlobs aus. Ettmüller zählte die Strophe mit den dann folgenden sieben Strophen C 33–39 zum „wîp-vrouwe-Streit“. Thomas schied die beiden Rätselstrophen C 36f. als unecht aus. Ettmüller, Thomas und ihren Nachfolgern ging es um die Echtheit der Strophen und um ihre Zugehörigkeit zu einem konzeptionell eindeutig Frauenlob zuordenbaren Text, den keine der Handschriften, das betrifft vor allem C und J, in Gänze überliefert. Vgl. zu dieser Strophe die eingehende Interpretation von Johannes Rettelbach, Abgefeimte Kunst (1996), dort auch die Angaben zu den wenigen Beiträgen vor 1996, die sich partiell mit dieser Strophe beschäftigt haben. Rettelbachs dichte und genaue Analyse geht vom klassischen Autor-Werk-Verständnis aus. Für ihn sind die Einheitlichkeit eines Werkes, die reimgrammatische und stilistische Stimmigkeit bezogen auf den Autor Heinrich von Meissen gültige Vorgaben einer Beschäftigung mit C 32, so dass er von ‚Fehlern‘ und ‚falsch verwendeten Metaphern‘ sprechen kann, die Frauenlob nie unterlaufen wären und genau deshalb Persiflage eines anderen sein müssen. Aus dem genannten Grund bleiben Überlegungen zur Rol-

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von mir zugrunde gelegten offenen und terminologisch weichen Textbegriff spielt das Echheitskriterium ohnehin eine untergeordnete Rolle. C 32 ist eine Strophe, in der sich das Sprecher-Ich einem Publikum üch (V.5) gegenüber in seiner Herausgehobenheit präsentiert, in der dieses Ich sich über die toten und die lebenden Sänger erhebt: wer je gesang und singet noch / […] / so bin ichs doch / ir meister noch.165 Dieser Meister ist es, dessen Kunst seinen Ursprung in der Tiefe hat, dessen Kunst Gewicht hat, wegsam, gerade und mit Verstand gemacht ist. Die Kontrastierungen legen nahe, dass die Kunst der anderen unwegsam und wild, leicht und substanzlos ist. Auf den ersten Blick geschieht vor allem eines: Gefeiert wird die Differenz, indem der andere Sänger zum universell schlechten Sänger und die Kunst des Sprechers zur eindeutig guten Kunst stilisiert wird. Diese ethische Kontrastierung basiert auf einer Grenze zwischen einst und jetzt (V.1f.) sowie auf einer Abgrenzung von oben und unten (V.5f.). Die Selbstbehauptung vor den anderen ist der rhetorische Modus, mit dem diese Grenze zur Sprache gebracht wird. Selbstnennung166 und Abgrenzung, die hier den Auftakt zum Streit bilden, sind der ideale Hintergrund für die Entfaltung des Meisterschaftsanspruchs, der mit dem Bild der Krönung (V.11) verstärkt wird im Sinne eines Sieganspruchs, und der in die Forderung nach umfassendem Lob mündet. Der sich ankündigende Streit ist als literarisierte Redeform der disputatio axiologisch besetzt, zielt er doch auf Niederlage einerseits und Sieg bzw. Krönung andererseits.167 Die thematisierten Grenzen und die axiologische Kontrastierung der Redeform fundieren die literarische Aussage dieser Strophe, die auf das Verhältnis des Sprechers zu den alten Meistern zielt. Doch wenn der Sprecher der Strophe sein Verhältnis zu den drei alten Meistern Wolfram, Reinmar und Walther (V.1–3) thematisiert, geht es nicht um die moderne Opposition von Tradition und Innovation mit den Implikationen von alt / schlecht und neu / gut. Vielmehr geht es um die Varianz von Meisterschaft; es geht lenhaftigkeit, dem Als-ob, dem Spiel mit den Sängerrollen sowie Überlegungen zur künstlerischen Bearbeitung bekannter Metaphern ausgespart. Für meine Analyse sind sie unbedingt zu kalkulieren, weil diese Strophe einem Meister Heinrich Frauenlob zugewiesen ist und damit die Inszenierungen von C 32 gleichermaßen wie alle anderen C-Strophen ein bestimmtes Frauenlob- und Meisterschaftsbild imaginieren. Auch vermag das Stichwort der Rollenpluralität besser als das des (Rollen-)Bruchs die zu beobachtenden Phänomene des Dispersen zu beschreiben. 165 Die Selbstennung: ich, Vrowenlob (V.5), im Zusammhang mit der Namensnennung dreier alter Meister, Reinmar (von Zweter), (Wolfram) von Eschenbach und (Walther) von der Vogelweide steht im intertextuellen Horizont des „Fürstenlobs“ aus dem „Wartburgkrieg“-Komplex. Vor dem Hintergrund des dort imaginierten Sängerstreits und der formalen Möglichkeit der Rollenunterscheidung durch Selbstnennung erklärt sich sicher die forcierte und für die Sangspruchdichtung eher unübliche Selbstbehauptung in der ersten Person; s. dazu Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 249. 166 Bei Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 249, eine Zusammenstellung mittelhochdeutscher Selbstnennung in lyrischen und epischen Texten. Vgl. auch die Literaturhinweise zu Formen des Dichterstolzes, ebd., S. 252 Anm. 23. 167 Für Jürgen Fohrmann, Textzugänge (1997), S. 221, zählt ein solcher Redemodus zur elementaren Redeformen heroischer Rede.

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um verschiedene Formen der Meisterschaft und deren Diskussion, so die These.168 Der in der Redeform des Streits implizite Kontrast bietet eine Matrix, in der die Pole alt und neu, oben und unten, gut und schlecht bzw. Natur und Kultur literarisch bearbeitet und in ihrer Relationierung hinterfragt werden. Nicht der Gegensatz, sondern der Übergang zwischen den Phänomenen steht im Zentrum der Debatte.169 Der Sprecher vergleicht die Kunst der alten Meister mit dem feim (V.6), dem Schaum an der Oberfläche, den grunt han sü verlassen (V.6). Möglicherweise hat man es hier mit der Behauptung zu tun, dass die Kunst der alten Meister den Bezug zum Ursprung verloren habe. Ihre Kunst wird im Verlauf der Strophe mit dem smalen stig (V.12) und mit einem fule[n] bloch (V.14) verglichen. Der pejorative Klang dieser Wertungen ist nicht zu überhören, insbesondere wenn die eigene Kunst herausgehoben wird, wenn sie vom Grund des Kessels (us kessels grunt, V.7) kommt, sich auf kunstreicher Straße (künsteriche[…] strasse[…], V.12) bewegt, wenn sie grünt (grüne[s] holtz, V.14), und wenn es Verstandeskunst (rechter sinne sassen, V.19) ist.170 Doch lebt diese Strophe nicht nur vom Redegestus starker Kontraste; daneben und damit verbunden ist sie von der Metaphorik der Rede geprägt, von weichen Kontrasten, fließenden Übergängen und Mehrdeutigkeiten. Grundsätzlich gilt, dass Metaphern das Gemeinte indirekt und uneindeutig zum Ausdruck bringen. Sie übertragen eine anschauliche anstelle einer semantisch scharfen Bedeutung auf den eigentlichen Begriff und haben damit Teil an der Bedeutungsbildung des ursprünglichen, eigentlichen Begriffs. In der Linguistik und in den modernen Metapherntheorien spricht man dann von einer Metapher, wenn die usuelle, konventionelle Bedeutung des Begriffs (Term 1) hinter die im Äußerungszusammenhang aktualisierte Bedeutung zurücktritt. Aufgrund einer Ähnlichkeitsbeziehung wird diese Bedeutung auf das Gemeinte (Term 2) übertragen und erweitert dessen konventionelle Bedeutung

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Mir scheint, dass der Horizont traditioneller Meisterschaft genau an diesem Punkt konkretisiert wird im Rekurs auf den Sängerstreit im „Fürstenlob“ des „Wartburgkrieg“-Komplexes, in dem in vergleichbarer Weise ein Streit der Sänger und ihrer Meisterschaftsansprüche inszeniert ist, allerdings mit einem anderen Gegenstand, dem Herrscherlob, nicht aber dem Frauenlob. Und genau vor dieser Folie wird der Kontrast sichtbar, die Demonstration und Diskussion varianter Meisterschaftsformen. Der Gedanke der Besserung vorliegender Ansprüche ist dem funktional untergeordnet. 169 Löser, Feind (2002), S. 513f., beschreibt die Rolle des Gegners auf dreifache Weise, 1. in ihrer Bedeutung für eine poetologische Auseinandersetzung mit einer Idee, 2. in ihrer strukturellen Funktion für den Handlungsgang und 3. in der Bedeutung für die textuelle Konstitution der IchRolle. Für die C-Strophe gelten v. a. der erste und zweite Punkt, insofern, so die These, Gegnerschaft ein Mittel der forcierten Darstellung der Meisterschaftsdebatte in ihrem Für und Wider ist. 170 Sabine Obermaier, Nachtigallen (2000), S. 237–240, spricht von ‚Vertiefung‘ und ‚Verbreitung‘ im Bezug auf die Kunst der alten Meister, wobei sie die Vertiefung im Bereich der Semantik sehen will und die Verbreitung auf die Ebene des rhetorischen und artistischen Vermögens bezieht, abgeleitet von den Metaphern grunt (V.6) und künsteriche straze (V.12). Ein Kommentar zu dieser Strophe im Anschluss an Obermaier findet sich bei Patricia Harant, Poeta Faber (1997), S. 92–101.

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durch eine uneigentliche, aber anschaulich-konkrete. Für die Metaphern im Bereich der mittelalterlichen Literatur kann man uneingeschränkt von einer im modernen Sinne konventionalisierten, abstrakten Bedeutung des eigentlichen Begriffs sprechen. Eher ist es so, dass im Rahmen der metaphorischen Rede uneigentliche Bedeutungen auf den ursprünglichen Begriff übertragen werden, um in der Anschaulichkeit der Metapher zu einer Vorstellung, einer Klärung zu gelangen. Es ist dies eine Vorstufe der Begriffsbildung, eine Suche erst nach einer eigentlichen, zum späteren Zeitpunkt möglicherweise konventionell werdenden abstrakten Bedeutung. Insofern unterscheidet sich die historische Metaphernpraxis deutlich von der modernen. Die Suche nach dem eigentlich Gemeinten muss als Suche nach der richtigen, passenden Bedeutung verstanden werden.171 Es sind mindestens vier nicht eindeutig geschiedene Bildfelder,172 die ineinanderspielen und sich wechselseitig befruchten, um die Kunst der alten Meister und die Kunst des Sprechers überhaupt erst einmal anzunähern, zu befragen, zu positionieren und in ein Verhältnis zu rücken: die Kleidermetaphorik, die Metaphorik des Vergoldens, die des Goldläuterns und die des Kochens. Auf diese Bildfelder wird mit wenigen Aussagen, gewissermaßen stichworthaft rekurriert. Die dabei eingesetzten Bildträger sind – in der

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Eckerhart Eggs, Art. „Metapher“, in: HWR 5 (2001), Sp. 1099–1183, betont den Übertragungscharakter der Metapher für die griechische und lateinische Rhetorik entgegen der Auffassung einer antiken Substitutionstheorie. Vgl. dazu auch Hans-Heinrich Lieb, Was bezeichnet der herkömmliche Begriff ‚Metapher‘? (1996), bes. S. 348f. Für die in C 32 literarisierte Form des Metapherngebrauchs möchte ich behaupten, dass eine Bedeutung zwar festgelegt wird, doch durch die Similarität von Bildempfänger und Bildspender ein kognitiver Zuwachs Spezifikum dieser Form metaphorischer Rede ist. Zur Similarität metaphorischer Rede vgl. Roman Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache (1996), hier S. 168. Theoretisch umfassend stellt Markus Buntfuss, Tradition und Innovation (1997), klassische und moderne Metapherntheorien im Bezug zur Relation von Substanzontologie und einer Materialität der Sprache auf den Prüfstein. Aus systematischer Sicht vgl. Hans-Heinrich Lieb, Metaphernbegriff (1964); aus mediävistischer Perspektive ist zu verweisen auf Ulrich Krewitt, Metapher und tropische Rede (1971). Kritisch zu einem eindeutigen Metaphernbegriff seit den antiken Anfängen einer Bestimmung Anders Jørgen Bjørndalen, Untersuchungen (1986), S. 7–45, dort auch weiterführende bibliographische Angaben zu linguistischen, rhetorischen, philosophischen und theologischen Begriffsbestimmungen und einem sich v. a. mit dem linguistischen Ansatz von Harald Weinreich auseinandersetzenden Gebrauch des Metaphernbegriffs, der Kontext und Wortbedeutung betont. Aus der Perspektive der Verfremdung Paul Michel, Alieniloqium (1987). Vgl. darüber hinaus Jörg Seelhorst, Autoreferentialität (2003), S. 51–67, der mit dem Analogiemodell und dem Differenzmodell zwei Formen historischen Metapherngebrauchs in der mystischen Rede unterscheidet. Ein noch junger Ansatz, der die imaginative (poetische) Kraft der Metapher von der Antike bis in die Neuzeit hinein betont und bei der kognitivsprachlichen Dimension metaphorischer Rede ansetzt, liegt vor mit der Arbeit von Katrin Kohl, Poetologische Metaphern (2007). 172 Trotz des theoretischen Disputs um die Begriffe Metapher und Bild verwende ich beide Begriffe synonym und meine Metapher. Gert Hübner, Überlegungen (2004), hier S. 117, beschreibt die Implikationen metaphorischer Rede aus den Perspektiven der Subsitutionstheorie, der Bildtheorie und der Interaktionstheorie, um ihr je historisch Spezifisches zu unterscheiden.

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Regel – mehrdeutig, so dass die textuellen Aussagen durch ein polyphones Spiel der Bedeutungen, nicht aber durch Eindeutigkeit bestimmt sind.173 Kleider- und Vergoldungsmetaphorik sind im ersten Stollen miteinander verbunden.174 Für Vers 4 gibt es drei alternative Lesarten. Burghart Wachinger verglich zwei Besserungen, einmal mit zoubergoltem kleide und mit […]vergoltem kleide. Die zweite war die von ihm und der Göttinger Ausgabe gewählte Konjektur. In dieser Lesart heißt es: ‚Ich, Frauenlob vergolde ihren Gesang mit einem vergoldeten Kleid.‘ Burghart Wachinger erschien dies nicht befriedigend, obgleich er sich dafür entschied, weil er vergultem kleide in der Folgestrophe (C 33,4) als Zitat dieser Stelle sah.175 Die erste Lesart „mit zou〈b〉ergoltem kleide“ bessert weniger, zieht Vers 4 zu den ersten drei Versen und plädiert für eine Abwertung der Kunst der alten Meister. Der Sinn des ersten Stollens wäre dann folgender: ‚Ich, Frauenlob vergolde das nur scheinbar goldene Kleid der alten Meister.‘ Bei einer dritten Lesart behält man den syntaktischen Bezug der Verse 1 bis 4 bei, belässt es bei der nicht pejorativen Besserung und versteht, dass Frauenlob das vergoldete Kleid der alten Meister vergoldet. Diese Lesart berücksichtigt das Zitat und bringt die Dynamik der Anbindung an die Kunst der alten Meister klarer zum Ausdruck: Es wird etwas Vorausliegendes, Vergoldetes nochmals vergoldet. Formal werden alt und neu konfrontiert, aber die metaphorische Aussage rückt den Bearbeitungsprozess in den Vordergrund, verbunden mit einer Wertung: Die Erneuerung ist eine Überhöhung im Sinne der Vollendung, ohne dass dabei das bereits Vorliegende abgewertet würde.176 Es ist signifikant für die metaphorische Rede dieser Strophe, dass die räumliche Dimension dieser Validierung im Bild des Vergoldens – das Darüberliegen (des goldenen Kleides) – in ein nächstes Bild von Schaum und Grund (V.6) hinübergespielt wird.177 Allerdings kehrt sich, bezogen auf die Relation der Meister, die Zuordnung um, insofern den alten Meistern der Schaum und Frauenlob der Grund zugeordnet sind. Wenn 173

Eine Debatte zur metaphorischen Rede, insbesondere zum mehrdeutigen Potential der Metapher, hat zuletzt Hübner, Überlegungen (2004), in Auseinandersetzung v. a. mit den Arbeiten von Susanne Köbele angestoßen. Im Bereich der metaphorischen Rede des Langen Tons ist in einer Reihe von Fällen eine Öffnung des Analogieverhältnisses von metaphorischem Zeichen und Bezeichnetem zu beobachten, so dass der Code der Metapher, von dem Hübner für den mittelalterlichen Metapherngebrauch spricht, vakant ist. Es sind also immer auch Fälle zu kalkulieren, bei denen der referentielle Bezug des metaphorischen Ausdrucks uneindeutig ist, etwa durch mehrere mögliche Spenderbereiche. 174 Zu diesem Metaphernfeld sehr überzeugend Beate Kellner, Vindelse (1998), S. 255–276. 175 Burghart Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 248. 176 Einen ähnlichen Prozess zeichnet Huber, Alanus (1988), S. 404–406, für die Rezeption der Texte des Alanus ab Insulis („Aniclaudianus“, „De planctu Naturae“) nach. Er spricht von einer „produktive[n] Umformung“, von Selektion und „Neueinbettung“, so dass die Vorgaben, auch die damit transportierten chartrensischen Ideen, als literarisch transformierte zu verstehen sind. 177 Die Metapher vom Grund beschreibt Jan-Dirk Müller, schîn und Verwandtes (2006), S. 297, für Konrads von Würzburg Trojaroman als Anspielung auf einen „Erkenntnisprozess“, der „das Ungeformte form“.

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vom Schaum in Opposition zum Grund die Rede ist, dann ist nicht sicher, ob eine Umbewertung der räumlichen Opposition vorliegt und was für eine Wertung impliziert wird. Gesagt werden soll damit, dass das Stichwort feim (V.6) nicht per se pejorativ verstanden werden muss, geht es doch wohl zunächst um die Anbindung an den Grund einerseits und die Trennung davon (feim / veimen, Abschöpfen des Schaums) andererseits.178 Der Möglichkeitsspielraum metaphorischer Rede im Rahmen der Strophe lässt es zunächst offen, ob eine bildimmanente Wertung von einem auf das nächste Bild übertragen wird oder nicht. Die im ersten Stollen ausgebaute räumliche Opposition wird dagegen über die Stollengrenze in einen nächsten Bildbereich, den des (Gold)Läuterns oder Kochens oder (Bier)Brauens hinübergeführt. Der Bildspenderbereich lässt sich hier nicht eindeutig bestimmen, da das Stichwort kessel (V.7) im Metaphernspiel der Strophe sowohl rückbezogen ist (V.6: sü hant gesungen von düm feim, den grunt han sü verlassen) als auch vorausbezogen (V.18: der künst ein koch). Das Stichwort ist in das semantische Feld von Läuterung, Reinigung und Erhöhung (des Gesangs der anderen Sänger) gestellt und in der semantischen Spannweite zwischen erstens ‚Kunst kochen‘ / ‚Kunst hervorbringen‘, zweitens ‚Gefäß der Kunst sein‘ / ‚in ihrem Dienst stehen‘ und drittens ‚Künste zusammen kochen‘ deutbar.179 Diese Offenheit der textuellen Bedeutungszuweisung führt zu einem Möglichkeitsraster rezeptiver Sinnzuweisung und es ist naheliegend, zu kalkulieren, dass mit dieser Strophe das Verhältnis zur Kunst der alten Meister hinterfragt bzw. thematisiert wurde, dass Alternativen für die Bearbeitung eines je Vorausliegenden (der traditionellen Meisterschaft) überdacht wurden. Möglicherweise verdeutlicht die Spannweite metaphorischen Sprechens zwischen Überhöhen und Durchgründen180 sowohl die formale Exzeptionalität des Meisters (im Vergolden des Goldenen) als auch seine Exzeptionalität im Bereich der Bearbeitung des traditionellen 178

Dass hier an den Vorgang des Abschöpfens zu denken ist, scheint recht sicher zu sein. Dass aber das Abgeschöpfte minderwertig ist, liegt nicht sofort nahe, denn für den lebensweltlichen Bereich des Kochens sind z. B. die Fettaugen auf der Suppe als feim bekannt gewesen. Gleiches gilt für das Schmalz. Vgl. Deutsches Wörterbuch, hg. v. Jacob u. Wilhelm Grimm, Leipzig 1862, Bd. 3, Sp. 1450f. Eine gegenteilige Argumentation lässt sich wohl vor dem Hintergrund des Bierbrauens und dergleichen Prozeduren führen, weil diese auf ein Klären von Flüssigem durch Erhitzen zielen, wobei die ausgeflockten Bestandteile abgeschöpft werden, s. Rettelbach, Abgefeimte Kunst (1996). 179 Darüber hinaus ist ein intertextueller Bezug zum Metaphernfeld des Bierbrauens nicht abwegig. Beim Marner etwa gibt es im Rahmen der Reinmarfehde (XI,3) eine Passage, in der der Gegner das selbstgebraute Bier selbst austrinken solle. Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 250, weist auf eine Stelle im Langen Ton und auf eine im Flugton hin, in der das Dichten mit dem Gären eines Getränkes verglichen wird. Dort ist der Schaum etwas Positives, eine Vorstufe der Klarheit. 180 Konrad von Würzburg erfasst sein Verhältnis zu Maria in der „Goldenen Schmiede“ zwischen einer möglichen Höhe des Überhöhens und einer möglichen Tiefe (V.14–43). Dieses Metaphernfeld, das bereits bei Konrad auf das Dichten übertragen wird, markiert eine enorme Spannweite meisterschaftlichen Könnens und doch kann Konrad seinem Gegenstand nicht gerecht werden. Müller, schîn und Verwandtes (2006), S. 292, spricht von Inkommensurabilität „von (geblümter) Rede und (heiligem) Gegenstand“.

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Stoffes181 (das Gold auf dem Grunde des Kessels). Die Kunst des Meisters ginge in dieser Lesart vom Grund aus, vom zu bearbeitenden Stoff, und die alten Meister hätten, so der Vorwurf, diesen Bezug verloren. Ein weiterer Bildbereich am Ende des zweiten Stollens baut im Rekurs auf das bivium eine nächste räumliche Differenz auf. Die traditionelle Vorstellung des Scheidewegs182 ist allerdings umgekehrt: Nicht der breite, gerade Weg, sondern der smale[…] stig (V.12) wird abgewertet in Opposition zu den künstenrichen strassen. Die in dieser Abgrenzung angedeutete Umcodierung des traditionellen Sinnbildes wird durch die im Abgesang explizierte Gegenüberstellung von fule[m] bloch und grünem holtz als Umcodierung und Umwertung verstärkt, referiert doch das morsche Brett auf alle anderen Sänger und auf den schmalen Weg. Das grüne Stück Holz verweist auf das Sprecher-Ich und auf die Straße der Kunst.183 Das Verhältnis des Meisters zur Kunst der alten Meister, das im Bildbereich von Wachsen und Vergehen eine weitere literarische Facette erhalten hat, wird im Abgesang mit einer nächsten Metapher semantisch aufgeladen. Das Stichwort ioch (V.17) ist im Bildspenderbereich des Ackerbaus zu erschließen: Der Verstand des Sprecher-Ichs wird als ein zu tragendes Joch bezeichnet. Das Wort Joch weist nicht nur auf das ‚Verbindungsstück zweier Brückenpfeiler‘ hin, sondern es ist konnotativ besetzt im Bild des Balkens, der zwei Ochsen ‚in ein Joch zwingt‘. Im infratextuellen Umfeld dieser Stelle ist hier sicherlich zu lesen, dass der Meister ‚seinen erhabenen Gedanken unterworfen‘

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Siehe dazu Ludger Lieb, Potenz des Stoffes (2005). Lieb betont im Anschluss an Franz Josef Worstbrock, Wiedererzählen (1999), dass der Begriff des Stoffes bzw. der materia terminologisch unscharf bleibe, weil das überlieferte Material in seiner je neuen künstlerischen Bearbeitung unangetastet sei. Mir scheint, dass hierin gerade das Spezifikum der materia zu fassen ist: ihre zugleich feste und flüssige Stofflichkeit. Diesen Gedanken entwickelt Cornelius Castoriadis, Gesellschaft (1990), S 218f., am Phänomen des radikal Imaginären, das metaphorisch umschrieben als ein vorausliegendes Magma verstanden wird, dessen Bestimmtheit in einer Relation des Festen und zugleich Flüssigen aufgeht. 182 Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 250f., beschreibt einen ex negativo-Bezug zum Bild von den zwei Wegen der Dichtkunst, das in den lateinischen Poetiken ausgeführt ist. Auch dort ist der schmale Weg der kunstvolle, die breite Straße steht für die einfachen und oft genutzten Möglichkeiten. 183 Durch die Umcodierung des tradtionellen Bildes im Horizont des Bildfeldes Natur / Kultur, welches den Abgesang prägt, gerät das künstlerische Vermögen des Sprecher-Ichs möglicherweise als eine kulturelle und zugleich produktive, sich ausbreitenden Leistung in den Blick. Nicht der Gegensatz von Natur und Kultur stünde im Fokus der Darstellung, sondern ein Zusammengehen. Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003), S. 56–63, erfasst Gegensatz, Asymmetrie und Schnittfeld dieser beiden großen Begriffe im Bereich der ethnologisch-anthropologischen Diskussionen und der mittelalterlichen Texte sowie im Bezug auf ein mittelalterlich gesellschaftliches Begründungsmodell. Dieses Modell bemüht, so Kiening, Naturvorstellungen im Sinne des Mangelhaften für das undifferenzierte Davor der Kultur.

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ist,184 doch darüber hinaus interferiert dieses Bild mit dem Bild vom Grund aus dem ersten Stollen. Folgende Konnotation baut sich auf: ‚Das Joch tragen‘ bedeutet im Sinne des Ackerbaus nutzbringend zu arbeiten, den Boden zu bearbeiten für die Saat. Auf den Bildempfängerbereich übertragen trägt der Meister den Verstand wie ein Regelkorsett – vgl. V.19, das es ihm ermöglicht, die Kunst aus dem Grund herauswachsen zu lassen. Der Meister steht im Dienste der ratio. Sie ermöglicht die künstlerische Entwicklung im Sinne eines natürlichen Wachsens.185 Als Koch ist er im Dienste seiner Kunst in der Lage, traditionelle und zeitgenössische Kunst zu verarbeiten. Als Vergolder ist er in der Lage, den traditionellen Gesang zu überhöhen. Bezogen auf den Bereich der Sprache ist es naheliegend, den Vorgang des Vergoldens auch auf den formalen, den sprachlichrhetorischen Vorgang des Blümens und auf die rhetorischen Fertigkeiten des Meisters zu beziehen.186 Die Kunst des Meisters aller Meister ist damit eine Kunst, die vom Verstand geleitet wird und den Künsten verpflichtet ist. Sie ist zudem eine Kunst, die auf einem im Begriff des Grundes nur metaphorisch präsenten Konglomerat traditioneller Ideen und traditionellen Wissens gründet und bis in die metaphorischen Höhen des Vergoldens reicht.187 Was bedeuten diese ersten Ergebnisse für den Meisterschaftsentwurf der Selbstrühmungsstrophe? Weil allerorten die Differenz zu den alten Meistern gefeiert wird, ist der Sprecher in der Lage, zwischen der Tradition und seiner eigenen Kunst im Sinne eines dynamischen Verhältnisses zu vermitteln.188 Die Differenz und damit die „Infragestellung traditioneller Selbstverständlichkeiten erlaubt es, neue Fragestellungen und Perspektiven zu entwickeln.“189 Die in C omnipräsente Streitsituation, die Inszenierung differenter Meinungen bzw. reflexiv verschiedener Positionen, ist jener Redemodus, der 184

Wörterbuch zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, unter Mitarbeit v. Jens Haustein redigiert v. Karl Stackmann (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse III, 186), Göttingen 1990 (= WtbGA), Lemma: JOCH, S. 177. 185 Vielleicht ist das Joch des Verstandes zwischen alter und eigener Kunst auch als Verbindungsstück zwischen den Meisterschaftsformen, zwischen den Künsten überhaupt zu denken. 186 Jan-Dirk Müller, schîn und Verwandtes (2006), S. 287–307, wies zuletzt darauf hin, dass der Vorgang des Blümens in der Regel zugleich Ornatus und Sinnbildung (Semantisierung) betrifft. Vgl. zu diesem Gegenstandsbereich ausführlich Hübner, Lobblumen (2000), S. 7–32. 187 Thomas Cramer, Was hilfet (1998), S. 184f., führt an einem ähnlich gelagerten Spruch Ulrichs von Singenberg vor, dass und wie die Bindung an das Vorgegebene zu einer Lösung davon führen kann. Cramer bestimmt das Vorgegebene als „poetische Autorität“ und zugleich als „Musterlieferant“, als „Musterkatalog zur beliebigen Auswahl“ sowie in der scheinbaren Wiederholung als „kunstvolle Überbietung“. 188 Die Inszenierung der Differenz von Alt und Neu polarisiert so stark, dass auch die Forschung zur Selbstrühmungsstrophe davon betroffen ist. Sie lässt sich in Anhänger und Gegner des inszenierten künstlerischen Anspruchs scheiden. Die Bedeutung der Differenz ist immer nur auf die eine Seite, die Selbstrühmung bezogen worden. Die semantische Kontur des Meisterschaftsentwurfs ist noch wenig beachtet, ist aber, und das wollte ich zeigen, gerade aus den kommunikationsspezifischen Gegenpositionen des Streits gewonnen. 189 Henk de Berg u. Jos Hoogeveen, Die Andersartigkeit der Vergangenheit (1995), S. 192.

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den Meisterschaftsentwurf vom Anderen, Differenten und Vertrauten abhebt, der Bedeutung nicht nur als Verlängerung der Tradition begreift, sondern vor allem als deren Bearbeitung und Veränderung im Prozess einer permanenten Relationierung. Man hat es hier mit einem Reflex der antiken Poetiken und der lateinischen Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts zu tun, ist es doch gerade die Bearbeitung der materia, die als Weg zur sich davon abhebenden Meisterschaft kenntlich wird.190 Der Modus dieser Bearbeitung ist die Auseinandersetzung mit dem Vorausliegenden, die hier als Streit der Meister bzw. Meinungen inszeniert ist. Erst im Sieg, in der Semantisierung des Vorausliegenden, kann dasselbe überschritten und vollendet werden. Diese Überschreitung bekommt in C 32 die sprechende Metapher des Vergoldens. Der Streit bezieht sich nicht auf die materia; nicht mit ihr wird eine Auseinandersetzung gesucht. Die Auseinandersetzung wird auf der Ebene der Bearbeiter geführt. Gegenstand sind auch die Bearbeitungen, nicht allein das allem Vorausliegende.191 In der Anbindung an jenes Vorausliegende, den Grund und dessen Bearbeitung durch den Verstand, tritt der Glanz des künstlerischen Vermögens zutage, der das Vergolden des Vergoldeten als poetologisches Vermögen, als ‚tiefgreifenden‘ Erkenntnisgewinn, markiert. In C 32, der Gebetsstrophe vergleichbar, wird der Sprecher in der Rolle eines Grenzverwalters konstruiert. Nur verläuft die Grenze, die imaginiert ist, zwischen Tradition und Bearbeitung oder, temporal ausgedrückt, zwischen einst und jetzt. Die Textbewegung über die Grenze hinweg gelingt durch das Spiel der metaphorischen Rede. In dieser Strophe wird die Metapher selbst, und damit ein rhetorisches Wissen um das Funktionieren einer Metapher, literarisch bearbeitet. Das geschieht, indem die traditionelle Bezüglichkeit von Bildspender und Bildempfänger erweitert wird durch die Verquickung ähnlicher Metaphern im Metaphernfeld der Strophe. Die Metaphorisierung eines bereits metaphorisch erzeugten Sinns führt – bleibt man im Bildfeld der Strophe – als Teil eines Erkenntnisprozesses zu einer Verfeinerung und vollendenden Überhöhung spruchmeisterlicher Rede im Horizont der Tradition. Die Form metaphorischer Rede in C 32 lebt von der Verbindung und Überblendung verschiedener Bildspenderbereiche 190

Joachim Bumke, Retextualisierungen (2005), zur Bearbeitung der materia in der Poetik und zur Spannweite des Vorgegebenen (materia), S. 10–13. Dort auch Hinweise auf weiterführende Literatur, etwa den Beitrag von Douglas Kelly zum Rewriting. Die Bedeutung des Vorgegebenen, der materia, ist zwischen einem stofflich Vorgegebenen und einem Fundus an rhetorischem Vermögen, das sich auf die Gestaltung des Stoffes bezieht, zu suchen. Thomas Cramer wies auf vergleichbare Bedeutungsschwankungen des materia-Begriffs in der Lyrik hin, die wohl einen Wandel der seit der antiken Rhetorik recht stabilen, auf den Inhalt bezogenen Bedeutung im 13. Jahrhundert anzeige. Thomas Cramer, Was hilfet (1998), S. 160–162, 171–173. 191 Jan-Dirk Müller, schîn und Verwandtes (2006), S. 295–297, erörtert mit einer Prologpassage aus dem „Trojanerkrieg“ Konrads von Würzburg einen sicher relevanten Referenztext eben jenes metaphorischen Verhältnisses von grunt und Oberfläche, wie es ähnlich in C 32 aufgebaut wird: „Mit der Metapher grund wird auf einen Erkenntnisprozess angespielt, der in die tiefsten Zusammenhänge eindringt und so das Ungeformte formt.“ „Die Rede soll strahlend sein, aber gerade nicht beim Glanz der Oberfläche verharren, vielmehr zu dem gelangen, was sich unter der Oberfläche verbirgt“, ebd. S. 297.

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sowie von deren Uneindeutigkeit aufgrund der elliptischen Konstruktion einzelner Metaphern (etwa kessel, V.7). Die von Gert Hübner für den mittelalterlichen Metapherngebrauch betonten Prinzipien Substitution und Analogie werden im Gebrauch selbst modifiziert, insofern das Prinzip der Similarität eine entscheidende Rolle übernimmt und konnotierte Bedeutungen sinnkonstitutiv werden. Die Textbewegung etabliert damit eine Grenze, führt über die Grenze hinweg, zeigt die Vermittlungsleistung des Grenzverwalters auf und leitet zuletzt auf die genuine Herausgehobenheit dieser Leistung hin: min wort, min döne getraten nie us rechter sinne sassen (V.19). Die formulierten Meisterschaftsansprüche scheinen in letzter Konsequenz zwar auf Stil (wort) und Ton (dön) bezogen, denn dieses sind die Bereiche der Sangspruchdichtung, in denen der Anspruch auf Eigenständigkeit und damit auf Urheberschaft konturiert wird.192 Dass sich der Anspruch aber nicht nur aus einer meisterhaften Fügung der Worte ableitet, darauf machen die Metaphern grunt, kessel und feim aufmerksam, die das Vermögen des Blümens als ein grundständiges Bearbeiten der materia durch den Verstand ausstellen193 und die diese Leistung neben das Ornat einer vergangenen Meisterschaft stellen, die ohne Verbindung zum Grund ist.194 Die metaphorische Redeform mit den genannten drei Schlagmetaphern lässt sich in der Konsequenz dieser Beobachtungen als eine offen angelegte, der Exegese analoge Bearbeitung des philosophischen Phänomens der materia lesen. Die Zerlegung in Sinnfacetten und damit die Vervielfältigung des Sinns ist methodisch wohl als ein intensiver Versuch der literarischen Annäherung an das Problem zu werten. Dass die Auswahl bei der Personalisierung der Tradition in C 32 auf Walther fällt, ist im Horizont seines vrouwe-Begriffs nicht erstaunlich; dass es aber drei Meister sind, die als Dreiklang auf das „Fürstenlob“ des „Wartburgkrieg“-Komplexes verweisen, insofern sie Heinrich von Ofterdingen übertrumpfen, konturiert den Meisterschaftsentwurf 192

Die Verfügungsmacht über ein Eigenes steht nicht im Vordergrund dieses Entwurfs und damit greift auch nicht die Idee vom Autor als dem Urheber eigener Texte. Diese Vorstellung würde implizieren, dass der Autor im Sinne eines Rechtsverhältnisses über das Erzeugte verfügt. Jan-Dirk Müller zeigt mit Bonaventura eine Facette mittelalterlich-theologischer Autorvorstellungen auf, die denjenigen als auctor zu bestimmen weiß, der Eigenes schreibt und Fremdes hinzufügt. Jan-Dirk Müller, Auctor – actor – author (1992), S. 24f. Doch ist eine solche Vorstellung der Urheberschaft mindestens in den Strophen des Langen Tons literarisch nicht umgesetzt. 193 Verweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf den breit angelegten Sammelband von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink zur historischen Semantik. Die Herausgeber umreißen in ihrer weitsichtigen Einleitung mittelalterliche literarische Produktion und Rezeption als Ensemble kultureller Praktiken und betonen damit das dynamisch-prozesshafte Moment. Vgl. Dicke / Eikelmann / Hasebrink, Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung (2006), hier S. 3. 194 Blümen ist damit mehr als eine Form der ‚Abweichungspoetik‘, vgl. Müller, schîn und Verwandtes (2006), S. 289. So wie bei Konrad von Würzburg die „Leistungsfähigkeit schmückender Rhetorik in Frage“ gestellt wird anhand der Aussage, dass das menschliche Sprachvermögen Maria von jeher nicht entsprechen konnte, ist das Blümen in C 32 ein In-Frage-Stellen der Endgültigkeit des Schmückens als unbefragt gültigem Stilprinzip.

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Frauenlobs vor dem des „Fürstenlobs“. Im „Fürstenlob“ lässt Walther seinen Gegner in eine Metaphernfalle tappen. Heinrich von Ofterdingen kalkuliert bei der Hierarchisierung der Gestirne nicht den göttlichen Schöpfungslauf, so dass Walther der Sonne den Tag überordnen kann. Wenn ich mit Burghart Wachinger von einem interdiskursiven Nexus ausgehen darf, dann nimmt das Metaphernspiel von C 32 auf die rhetorische und die wissensgeschichtliche Kompetenz Walthers Bezug. Und wenn der Meisterschaftsanspruch in der Bearbeitung und in der Aufbereitung eines Vorausliegenden zu finden ist, dann sind, so die These, mit dem Auftakt in C 32 sowohl die Versiertheit metaphorischer Rede als auch das dem Herrscherlob übergeordnete Frauenlob Ausweis eines künstlerischen Vermögens, das unter dem Namen ‚Meister Heinrich Frauenlob‘ firmiert. Nicht im Blümen (Sonne) liegt die Vollendung meisterlichen Vermögens, sondern in der sich in der göttlichen Schöpfung zeigenden Erkenntnis (Tag). Auf diesen Gedanken rekurriert wohl der in C 32 gezeichnete Meisterschaftsentwurf. Eine weitere Form des Umgangs mit der Tradition stellt die Gegenstrophe dar: Ein konservatives Bild der Traditionsbewahrung zeichnet sich ab, sowohl im heroischen Redegestus des kempfe[n]195 (V.7) als auch in der Metapher von der Kunstheide, auf der Rosen (V.6) und Veilchen (V.11) blühen. Die Herausforderung wird mehr als deutlich angenommen und der Sängerstreit ist damit als dialogische Redeform etabliert. Das belegen die Kampfmetaphorik (widersagen V.3, kempfe V.7, schilt V.14, gebünde V.19), die diffamierenden Beschimpfungen (gum, giemolf, narre, dore, V.1), und die Selbstbehauptungen des Sprechers (min munt, min gunst V.2; ich wil V.8; ich für V.14; min sang V.15; min kunst V.18). Die Rolle des Schildträgers für die alten Meister wird ergänzt von einem Meisterschaftsanspruch im Hier und Jetzt, indem die Person, die Kunst und der Gegenstand des Gegners diskreditiert werden: Als Maulaufreißer und Narr habe er kein Recht, über die Kunst der Toten zu urteilen, und in dieser Position könne er weder die Gunst noch die Stimme des Sprechers bekommen. Die Kleider- und Kesselmetaphern aus C 32 werden im Sinne einer Erwiderung aufgegriffen: Dem Vergolden als Kunstmetapher stehen die Metaphern der Kunstheide und des Blumenbrechens (V.4–6) gegenüber, und im Bild der klug / weitsichtig geschmückten Lieder (roser spechen fünde, V.6) wird gerade die Metapher vom Brechen der Blumen variiert, so dass das Blümen als natürliche Kunstform starkt aufgewertet scheint. Die metaphorische Rede von grunt, kessel, feim, vom Vergolden, von Heide und Blumen erlaubt es, ein diametral entgegengesetztes Kunstverständnis zu sehen, das sich am ehesten anhand der Raumsemantik umreißen lässt: Man hat es auf der einen Seite mit einer auf einem Ursprung basierenden aufwärtsstrebenden Bewegung und damit mit einem prinzipiell unabschließbaren Prozess der Überhöhung zu tun. Auf der anderen Seite ist eine horizontale, lineare Bewegung konnotiert, die Vorgegebenes aus einem definierten Bereich nutzt. Damit liegt ein Kunstverständnis vor, das im Raum traditioneller Muster und Themen zu suchen ist und in dem Kunst als natürlicher Vorgang des Erntens verstanden 195

Zum Begriff kempfe vgl. Peter Strohschneider, Fürst und Sänger (2002), S. 95f. und die Anm. 32f.

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wird.196 Im Meisterschaftsanspruch des einen Meisters (C 32) ragt die Kunst aus der Tradition heraus, weil sie überarbeitet und überhöht werden soll. Der andere Meister (C 33) stellt sich in die Reihe der Traditionalisten und er stellt sich zugleich schützend vor die toten und lebenden Meister etablierter, traditioneller Kunst. Auch in dieser Strophe wird mit einer Differenz gearbeitet, mit einer Differenz zwischen traditioneller Kunst und dem Kunstanspruch des Gegners. Aber: Der Sprecher betont diese Grenze nur im Bezug auf seinen Gegner. Er verweist auf die alte Kunst und deren Herausgehobenheit, er verteidigt das ‚alte Land‘, ohne selbst den Anspruch des Grenzübertritts zu erheben. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass für ihn im Unterschied zum Herausforderer eine ununterbrochene Linie und damit gerade keine Grenze zwischen den Meistern einst und jetzt besteht (V.6: gebrochen hant und brechent noch). Und eben in diesem Sinn bezieht sich sein Kunstanspruch auf die Kunst der alten Meister, indem er für die Beständigkeit und die fortdauernde Kunst gegen alle Veränderung eintritt.197 Insofern etabliert er eine ideologische Grenze; sein Eintreten macht einen qualitativen Unterschied zwischen gewesener guter und jetziger schlechter Kunst. Sein Anspruch auf Meisterschaft rührt aus seiner Vertreterrolle und nicht aus einem eigenen, eigens formulierten Kunstanspruch. Auf der Ebene des metaphorischen Kampfes stellt er sich seinem Gegner und behauptet dessen Niederlage (V.7, 19). Und ich behaupte, dass er diese Behauptung äußern kann aufgrund der eo ipso gesetzten ideologischen Unterordnung des Gegners. Wenn er beispielsweise die gegnerische Metapher des Kessels aufgreift (V.8f.), nicht aber deren Semantik bzw. die mit ihr konnotierte Raumvorstellung, dann deshalb, weil sie hier mit einer axiologisch bereits besetzten Form von Meisterschaft verbunden wird, mit der guten alten Kunst. Der Verteidiger der Tradition kann beanspruchen, den künstlerischen Raum seines Gegners mühelos durchqueren zu können (V.8f., 18), weil die räumliche Vorstellung seines Kunstverständnisses die einer linearen Bewegung ist, gegen deren Kraft es eben nur einen schlechten Widerstand gibt. Wenn man die metaphorische Ausformung der je eigenständigen Streitreden auf das punktuell applizierte Verständnis der Natur bezieht (ohne sogleich einen frauenlobischen natura-Begriff zu unterstellen)198, wird eines deutlich: Die Kunst des Herausforderers (C 32) ist als ein Prozess der Bearbeitung natürlicher Vorgaben und der tendenziellen Autonomisierung gestaltet, wobei im Bildbereich von Wachsen und Vergehen 196

Inwiefern das ‚Blumen brechen‘ das ‚Abbrechen‘, ‚Zerstückeln‘ und ‚Zusammenfügen‘ zu etwas Neuem (‚Strauß‘), aufgerufen wird, muss – auch im Gefüge der intertextuellen Verweise – offenbleiben. Vgl. Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 262, mit Hinweisen auf Gottfrieds „Tristan“, V.4747–4750, Konrad von Würzburg „Goldene Schmiede“, V.78 und den Marner XIV,18. 197 Diese Vorstellung einer ungebrochenen Fortführung der Meisterschaft lässt sich mit Beate Kellner kommunikationstheoretisch auch als „Generationenkette“ lesen, über die Tradition und Weitergabe des Wissens gesichert sind. Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität (2004), S. 32. In einem pejorativen Sinne könnte diese Art der Tradierung auch als (unreflektierte) Form der Traditionspflege verstanden werden, vgl. dazu die Überlegungen im Kapitel VI.1,2. 198 Vgl. die zentralen Arbeiten zum frauenlobschen natura-Begriff Krayer, Frauenlob und die NaturAllegorese (1960); Huber, Alanus (1988); Steinmetz, Liebe als universales Prinzip (1994).

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die Sinne zum natürlichen Ursprung und Regularium der Kunst des Herausforderers erklärt worden sind. C 32 ermöglicht den Schritt über die Grenze von vorher und nachher; sie arbeitet an der Differenz unterschiedener Meisterschaftsideen und überschreitet insbesondere im Bereich des Blümens die ornatus-Vorstellung auf ihren erkenntnishaften Grund.199 Dagegen ist für den Verteidiger der alten Meister die Vorfindlichkeit der Natur der Ausgangspunkt seiner Kunst. Stabilität und Wiederkehr sind dabei die Eckdaten einer Naturvorstellung, an deren Unabänderlichkeit der Verteidiger durch seine Verteidigung teilhat. Das imitatio-Modell als jede ars begründendes Verhaltensmodell motiviert die Verehrung der alten Meister und sichert deren Geltung ebenso wie die Wiederkehr ihres glänzenden Ruhmes. Die poetische Aussage ist mit diesen beiden Strophen nicht auf Einsinnigkeit gerichtet, denn es treten zwei Sinnfacetten nebeneinander, die zunächst einmal nichts aussagen über die Vermittelbarkeit der beiden scheinbar unvereinbaren Kunstansprüche. Vor diesem Ergebnis erscheint es mir sinnvoll, die nunmehr etablierte Idee mehrdimensionaler Sinnstiftung in die weitere Analyse des Streits (C 34–39) mitzunehmen. C 34 ist ein vanitas-Exempel. Was diese durch jüngere Hand dem Meister zugewiesene Strophe für die Entwicklung der Argumentation um meisterliches Kunstverständnis und den Umgang mit der Tradition beizubringen vermag, ist eine Frage, der die Forschung wenig abgewinnen kann, weil die Strophe thematisch gar nicht in den Strophenzusammenhang passt und nur der ungewöhnliche Reim sims: bims einen formalen Nexus von C34f. erzeugt.200 C 34 besitzt einen narrativen Kern. Angespeist durch intertextuelles Wissen der Alexanderepen wird in den ersten beiden Stollen die Geschichte Alexanders, der alle Länder bis hin zum Paradies erobert, erzählt: Alexander bekommt einen kleinen Edelstein, dessen Wert er auf einer Waage ermessen soll. Keine Last vermag den Stein aufzuwiegen. Erst ein Weiser wirft etwas Erde auf den Stein und bricht damit dessen Kraft. Der Abgesang, adressiert an einen hoch gelopte[…n] degen (V.14), ist der Deutung vorbehalten: Die Kraft des Helden ist wie die des Steines mit nichts aufzuwiegen, solange er lebt. Doch sobald er stirbt, werden Kraft und Macht belanglos. Alexander ist eine der zentralen Exempelfiguren der Profangeschichte, dessen Laster und Tugenden nicht nur im Rahmen der Sangspruchdichtung allegorisch gedeutet werden.201 Auf diese Tradition und auf die Vergänglichkeit allen irdischen Seins202 als einem theologisch traditionellen Thema bezieht sich die Darstellung in C 34 epistemologisch. Das intertextuelle Referenzfeld ist in der narrativen Kurzform der Strophe recht eindeutig bestimmt und das Motiv des Paradiessteins in seiner epischen Bedeutung 199

Nicht von ungefähr ist es gerade metaphorisches Reden, in das die Erkenntnissuche eingekleidet ist. Zu den verschiedenen Dimensionen der ‚Einkleidung‘ zwischen ornatus und „fürchterlichem“ Glanz zuletzt Jan-Dirk Müller, schîn und Verwandtes (2009), S. 298–303, hier S. 303. 200 Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 267. 201 Haustein, Formen (2005), S. 88–90. 202 Werner Schröder, Zum vanitas-Gedanken (1961/62); Josef Quint, Die Bedeutung des Paradiessteines (1964). Zum vanitas-Motiv – bezogen auf Walther von der Vogelweide – zuletzt Manfred Kern, Weltflucht (2009), S. 99–132.

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eindeutig. Warum jedoch ein so weites Referenzfeld wie die Alexanderepik gewählt ist, wenn letztlich das vanitas-Motiv im Fokus der Aussage steht, bedarf einer Erklärung. Sucht man im Rahmen des Sängerstreits nach einem Bezug zum Vorausgehenden, scheint das memento mori keine passende Reaktion auf die Diffamierungen, keine passende Verteidigung des meisterlichen Kunstanspruchs zu sein. Mir scheint, dass die bildhafte Begebenheit mit dem Paradiesstein (C 34) als Allegorie der beiden Kunstansprüche verstanden werden kann, und dann lässt sich auch die Funktion der Strophe im Strophenverbund anhand der Raumsemantik erhellen: Alexander, dem vollkommenen Helden, wird eine lineare Bewegung bis an die Grenzen der irdischen Welt zugeordnet. Dieser Linearität stehen die ethisch besetzte Vertikalität des Steins, der in hoher wise (V.4) übergeben wird, und die vertikal vollzogene Handlung des Weisen, der ein tach von erden uf den stein (V.12) warf, entgegen. Einerseits ist da eine raumausgreifende Bewegung, die bis zu den Grenzen der Welt gelangt, ohne diese jedoch zu überwinden. Andererseits gibt es am Ende der Bewegung nur deren Deutung, die in der vertikalen Bewegung des Steines und der daraufgeworfenen Erde bildhaft umgesetzt ist. Mit dieser narrativ entfalteten Raumsemantik, der linearen und der vertikalen Bewegung, wird, wie ich meine, die Relation der beiden Kunstkonzepte im intratextuellen Nexus der Strophen C 32–34 erhellt. So wie die vertikale Bewegung des Steins und die lineare Bewegung Alexanders nur scheinbar unvereinbar sind, so sind auch die beiden Kunstkonzepte nur scheinbar unvermittelbar. Denn wie das Ausschreiten an die Grenzen der Welt durch die vertikale Bewegung gedeutet wird, so erfahren die beiden Kunstansprüche gerade in ihrer Bezüglichkeit eine Deutung. Spruchdichterische Meisterschaft zeichnet sich damit wohl gerade durch das Wissen um die Notwendigkeit der Deutung vorausliegenden Wissens und deren produktive literarische Umsetzung aus. Das intertextuelle Wissen ist im intratextuellen Netz der Strophe auf eine Weise funktionalisiert, die sein semantisches Potential für die poetologische Aussage nutzbar macht.203 203

Konzeptionell könnte man hier von einer Symbiose des Konzepts der Intertextualität und der Dialogizität im Sinne Bachtins sprechen – Bachtin, Das Wort im Roman (41993), S. 169f. –, einer Symbiose, die den bei Bachtin im Metaphorischen belassenen Vorgang des schon immer ‚besprochen seins‘ der Wörter in die konkrete Abfolge referentieller Akte auseinanderlegt: Erinnertes Wissen vom Eroberer Alexander ist als fremdes Wissen jenes Instrument, das eine bestimmte Bedeutung des vanitas-Motivs als ‚fremder Rede‘ einbringt und artikuliert, mit der im intratextuellen Referenzraum der Strophe eine nächste Bedeutung korreliert, so dass es zu einem Dialog der Bedeutungen kommt, die in die Bearbeitung des zweifach Vorgegebenen (Alexander-vanitas-Motiv, Meisterschaftsvorstellungen) münden, um letztlich zu einer poetologischen Aussage zu führen. Der intertextuelle Bezug dimensioniert den Meisterschaftsdiskurs zusätzlich, doch geschieht dies, indem der abwesende Sprachzusammenhang der Intertexte (Alexanderepen) in der Kurzerzählung vergegenwärtigt ist, so dass zwei anwesende sprachliche Zeichenzusammenhänge referentiell verknüpft sind. Ähnlich der Funktion eines Fremdzitats im Text ist die Asymmetrie der Texteinheiten mit der Einordnung des Zitats in den Funktionszusammenhang des Textes zwar zu kalkulieren, doch scheint mir das intertextuelle Netzwerk der Alexanderepen mit der Fülle an Bedeutungs-

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Das Streitmotiv bleibt auch fortfolgend präsent: Eine stilistische Replik in C 35, durch Beischrift Regenbogen zugewiesen, verknüpft diese mit der vorausgehenden Strophe. Aufgegriffen wird der ungewöhnliche Reim sims: bims von C 34. Das Spiel mit diesem Reim in V.1: der wage sims, der künste bims, nims und gims, hebt die Sprachkompetenz des Sprechers heraus. Seine Kritik richtet sich gegen den Herausforderer. Er diffamiert dessen Kunst (künste bims, V.1; lichte kunst, V.6) und Stil: Es ist ein unverständliches Deutsch, das übersetzt werden muss, und es ist Wolkenkunst, nichtige Kunst, weil ihr die Basis fehle (V.5). Demgegenüber geht die Kunstauffassung des Traditionalisten auf die großen alten Meister Walther von der Vogelweide, Reinmar der Alte, Reinmar von Zweter und Wolfram von Eschenbach zurück. Diese Kunstform beansprucht Stabilität mit der Metapher vom Kunstbaum, die auf die traditionelle scholastische Baummetapher als einer Wissensorganisationsmetapher und auf das Kriterium der Organisiertheit verweist. Die alten Meister bilden die Wurzeln des Kunststamms, der noch immer laubt und Lob erwirbt. Dem Gegner attestiert der Sprecher der Strophe im Bildfeld der Wolkenmetapher gewolkern (V.14) und der Kleidermetapher (V.15–18) ein künstlerisches Vermögen ohne jegliche Basis und Struktur: Es ist eine Kunst, die in den Wolken herumfährt und in der Forschung mit ‚undeutlich reden‘ paraphrasiert wird. Es ist daneben eine fadenscheinige Kunst: Das Kleid ist löchrig und ohne Zierrat – eine deutliche Zurückweisung des Anspruchs, die Kunst der alten Meister vergolden zu können. Was geschieht hier im Rekurs auf die räumliche Dimension bisheriger metaphorischer Rede? Was wird assoziiert? Woran wird angeknüpft, was wird aufgegriffen und verstärkt? Nachdem die Validierung der beiden Kunstentwürfe (C 32) im Bildfeld des Goldläuterns von unten / positiv und oben / negativ in C 33 nicht fortgeführt, sondern die räumliche Dimension des Kunstverständnisses als lineare Bewegung beschrieben wurde, greift der Herausforderer (C 34) seine Kunstvorstellung wieder auf und baut deren räumliche Dimensionierung mit dem vanitas-Exempel um Alexander und den Paradiesstein aus. Der linearen Bewegung wird eine Grenze gesetzt und im übertragenen Sinn wird das traditionelle Kunstkonzept in seine Grenzen verwiesen. Im Raumentwurf der Paradiessteinepisode wird das Deuten als Fortführung und Überschreitung traditioneller Kunst herausgestellt. C 35 rekurriert nun mit den Metaphern vom Kunstbaum und der Wolkenkunst auf die Validierung der in der Herausforderungsstrophe entworfenen Raumvorstellung. Die Raumsemantik von C 33f. bleibt dabei unbeachtet. Im Rückgriff auf C 32 wird die Kunst, die verwurzelt ist, höher gewertet als jene Kunst, die durch die Wolken fährt. Sowohl die räumliche Dimensionierung der Metaphern als auch deren Wertung werden aufgegriffen, doch werden die Bildempfänger, und damit meine ich die beiden Kunstansprüche, vertauscht. Mit diesem Tausch geht eine semantische Erweiterung einher, bei der Verwurzelung vs. Ungebundenheit die Schlagworte sind, so dass sich eine Verschiebung in der Bewertung der Kunstkonzepte ergibt. Waren schichten kaum mehr relevant zu sein aufgrund der relativ geschlossenen Form der Kurzerzählung. Vgl. Karlheinz Stierle, Werk und Intertextualität (1984), S. 144–148.

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sie durch den Herausforderer als relationale und deutungsgebundene Konzepte bestimmt, sind sie in der Perspektive des Gegners statisch und adversativ gezeichnet. Dennoch, der Kunstanspruch des Traditionalisten bekommt im Kunstbaum jenen Grund zugesprochen, der ihm mit C 32 gerade abgesprochen wurde, so scheint es. Im Vergleich der beiden Grundlegungen stehen sich die Metapher vom Grund des Kessels und die von den Wurzeln des Baumes gegenüber. Mit dem Kesselgrund ist eine Form unspezifischer, ungeformter, bearbeitungsoffener Materie konnotiert. Die Wurzelkraft dagegen ist eindeutig adressiert mit Walther, den beiden Reinmaren und Wolfram, so dass die Linearität und eindeutige Referentialisierungen dieses Kunstanspruchs auch in der Vertikalen betont bleiben. Die ersten fünf Strophen bilden thematisch und kausallogisch keine Einheit, spricht man vom Mariengebet C 31, der Herausforderungsstrophe zum Sängerstreit C 32, der Gegenstrophe C 33, dem vanitas-Exempel C 34 und der zweiten Gegenstrophe C 35. Dennoch sind die ersten sieben Strophen des Langen Tons durch den Wechsel der Sprecherbeischriften formal zusammengebunden. Sieht man den poetologisch geknüpften Problemknoten des Strophengefüges darin, dass der Umgang mit traditionellem Wissen disputierend dargelegt ist, dann handelt es sich mit der Johannesvision (C 36f.) um einen weiteren Versuch des Herausforderers, die Facetten der Deutung traditionellen Wissens in bildhafter Form zu reflektieren und der adversativen Konstruktion der Kunstkonzepte eine weitere Sinndimension hinzuzufügen. Das in C 36f. stichworthaft referierte apokalyptische Wissen des Visionärs Johannes ist Teil der Offenbarungen des Johannes (Apc 13, 17).204 Durch seine Verrätselung, C 36,12: lost uf den strik,205 ist die eigentliche Bedeutung des geoffenbarten Wissens verschleiert, doch es geht mit dieser Form literarischer Darstellung auch um die Aufdeckung und die Deutung dieses Wissens. Das Rätsel bezieht sich auf die Vision vom siebenköpfigen Ungeheuer mit den zehn Hörnern, das aus dem Meer steigt. Johannes ist als Visionär zugleich ein Autor: Er schreibt seine Visionen auf und teilt sie mit; damit hat er Teil am göttlichen Geheimnis. Der Sprecher dieser Strophe partizipiert an dieser autoritativen Kraft, wenn es in V.7 heißt: das tier […] ist mir wol kunt. Er partizipiert am visionären und authentischen Wissen des Johannes und ist somit in diesem Sinne auch ein Geheimnisträger. Das Wissen des Visionärs Johannes ist in der biblischen Offenbarung an zwei Stellen entfaltet: In Apc 13 ist das Ungeheuer ein Gotteslästerer, dem Satan all seine Macht verlieh, und der mächtig war über die Menschen der Erde. An anderer Stelle der Apoka204

Annette Volfing, The authorship of John the Evangelist (1994), dies., Autopoietische Aussagen (1998); Stackmann, Das anonyme meisterliche Lied (1999), hier: 384f. 205 Vgl. zur Redeform des Rätsels im Mittelalter und zu dessen Tradition Fritz Loewenthal, Studien zum germanischen Rätsel (1914); Tomas Tomasek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter (1994); Burghart Wachinger, Rätsel (1969); Christoph Gerhard, Rätselallegorien (1983); s. darüber hinaus Claudia Schittek, Über Rätsel (1980); Jurij Iosifovič Levin, Die semantische Struktur des Rätsels (2002); Ryszard Tokarski, Das metaphorische Rätsel (2002); Jacques Sesiano, Art. „Rätsel“, in: LexMA 7 (1995), Sp. 463–468; Helmut Fischer, Art. „Rätsel“, in: EM 11 (2004), Sp. 267–275.

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lypse (Apc 17) wurde Johannes von einem Engel in die Wüste entrückt, wo er das Tier als Reittier sieht, auf dessen Rücken eine Frau in scharlachrotem Gewand sitzt. Es ist die Hure Babylon, so heißt es, und die sieben Köpfe des Tieres bedeuten sieben Berge (die sieben Hügel Roms), und sie bedeuten auch sieben Könige (die sieben römischen Kaiser), von denen fünf an der Macht waren, einer gerade an der Macht ist und einer noch an die Macht kommen wird. Das Tier bedeutet einen achten König, der doch einer von den sieben ist und untergehen wird.206 Auch die zehn Hörner bedeuten zehn Könige, die noch nicht an der Macht sind.207 Diese Deutung in Apc 17 ist im Rahmen der Offenbarung durch die Autorität des Geheimnisträgers Johannes mit einem Wahrheitsanspruch versehen. Doch bleibt das Wissen auratisch und als allegoretisches Wissen mehrdeutig, denn die historischen Hintergründe der Religionsverfolgung und des Kaiserkults zur Zeit Kaiser Domitians (81–96 n.Chr.) lassen es naheliegend erscheinen, dass die Hure Babylon auf die Weltmacht Rom verweist und die Hurerei auf die Abkehr von Gott rekurriert sowie auf die Hinwendung zum Kaiser als irdischem Gott. Die sieben Köpfe des Untiers würden, so gesehen, auf die sieben Gemeinden der Provinz Asien verweisen, die den Kaiserkult betrieben und repräsentierten. Die Literarisierung dieses Wissens in C 36 ist stark verkürzt; die Rätselfrage nennt nur drei Details der Vision: 1. Johannes sieht ein Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern aus dem Meer steigen. 2. Das Tier ist ungehorsam wider Gott (V.1–6). 3. Eine Frau wird es gebären, wie der Sprecher weiß (V.7). Es handelt sich um ein Tier, das ist und das sein wird. Der Sprecher wendet sich herausfordernd an seinen Gegner, den Grund [des Kessels] mit seinem Verstand zu berühren (V.8f.). Das Rätsel sei für jeden lebenden Dichter unlösbar (V.11f.). In einer zweiten Wendung im Abgesang richtet er das Wort an alle Rezipienten. Sie sollen die Deutung [durch den Gegner] vernehmen (er selbst habe gesät, was nun zu ernten sei, V.15f.). Er betont nochmals, dass kein Sänger den Pfad ebnen könne (V.18f). Im Strophengefüge des Langen Tons von C ist der Anspruch auf die Meisterschaft im Umgang mit dem diskursiven Wissen nie so forciert gewesen wie in dieser Strophe. Denn wenn kein lebender Sänger in der Lage ist, dieses hier aufgenommene und chiffrierte Wissen – ich bleibe vorerst im Bild – zu ernten und zu ebnen, dann ist der Anspruch darauf der alleinige des Rätselstellers. Obgleich die Disputation und mit ihr die Situation des Streits eine Hierarchie der Positionen zu verlangen scheint, ist es gerade die Negation jeglicher Deutungshierarchie, die hier dargestellt und herausgearbeitet ist. Im Horizont der Kunstkonzeptionen liegt in der Konsequenz dieser Darstellung ein Bekenntnis vor zum mehrdimensionalen Sinn, weil sich eine Annäherung an die der Kunst vorausliegenden Wissensfragen nur um den Preis der Vervielfältigung im Rahmen künstlerischer Umsetzung und der Sinnzergliederung erreichen lässt. 206

Gemeint ist Kaiser Domiatan, der als Nero wiedererstand. Zur Gleichsetzung des Antichrist mit politischen Mächten oder Personen Angenendt, Geschichte (2004), S. 717. 207 Gemeint sein können entweder die Verbündeten Roms oder die ‚Könige der Erde‘.

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Die Lösung des Rätsels bzw. die Allegorese erfolgt durch den Gegner: Das Tier bedeutet den Hochmut und der Hochmut bedeutet den Antichrist (V.1–3). Der Hochmut trägt die sieben Todsünden / die sieben Häupter des Tieres (V.7); er wird zur Ursache der Sündhaftigkeit und gebiert ein schamloses und unreines Tier, den Widersacher Christi (V.10f.). Die Hörner bedeuten die zehn Gebote, die ihre Kraft für die Christenheit verlieren durch den Übermut des Höllenhundes (V.13–18). Der Hochmut wird zur wiederkehrenden Ursache aller Sündhaftigkeit wider Gott und umgekehrt gebären die sieben Todsünden den Hochmut. Die Strophe bietet damit eine Allegorese des Tieres im Blick auf die genuin menschliche und immerwährende Sündhaftigkeit. Damit ist das in C 36 bearbeitete, diskursive Wissen der Johannesoffenbarung im heilsgeschichtlichen Kontext belassen und christlich-religiös ausgelegt worden. Wenn der Sprecher der Strophe mit dieser Auslegung des Tieres behauptet, die Kunst seines Widersachers gebrochen zu haben: sich, nu din kunst muos feigen (V.19), so ist es analytisch von Interesse, ob der Sängerstreit an dieser Stelle im Sinne des inszenierten Rätseldeuters Regenbogen entschieden ist – und das nicht allein deshalb, weil C 38f. mit dem lob der wip einen Themenwechsel vorstellt. Ludwig Ettmüller hat C 37 als eine Strophe Frauenlobs ediert und damit die Deutung der Strophe als stimmige Deutung interpretiert,208 vice versa hieße das für eine Analyse nach C, Regenbogen wäre der Sieger des Streits. Doch was ist mit der Johannesvision und der ihr inhärenten Deutung im interdiskursiven Horizont biblisch-apokalyptischen Wissens ausgesagt? Sowohl die Frau auf dem Rücken des Tieres als auch die sieben und die zehn Könige sind historisch mehrfach referentialisierbar, was wiederum impliziert, dass Deutungen selektiv und komplex zugleich sein können, dass sie entscheiden, was aus der Fülle des Wissens ausgelegt und was präzisiert wird.209 Die apokalyptische Exegese selbst (Apc 13, 17) ist bereits mehrdeutig, und es erscheint schlüssig, dass der exegetische Modus einer Annäherung an das Mysterium gerade in der Zerlegung des Sinns in allegoretische Figuren liegt.210 208

Ettmüller, Heinrich von Meissen (wie Anm. 88), Str. 171, S. 118. Eine Bedeutungszuweisung, und das scheint mir im Falle des Rätsels wichtig zu sein, ist ein hermeneutischer Akt des Entscheidens, der eine Auswahl aus dem Feld möglicher Referenzen trifft, neben anderen möglichen Entscheidungen. Auf eine weitere Form der Bedeutsamkeit, die die mit dem Zeichen verbundene, gewusste Bedeutung und Bedeutungszuweisung 2. Ordnung unterscheidet, verweist Gerhard Lauer, Einleitung (2003), S. 559–565. Peter Strohschneider, Unlesbarkeit von Schrift (2003), S. 618, spricht darüber hinaus von einer bedeutungsfernen Bedeutsamkeit etwa im Gebrauch von Reliquien. 210 Der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman, Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration (1995), S. 127, spricht bezogen auf das exegetische Denken davon, dass „keine exegetische Figur […] eine eigene, scharf abgegrenzte Bedeutung [hat]: nur in dem immensen Netz der Verweisungen […] konstituiert sich der figurale Sinn“. Augustinus unterscheidet zwischen einer Wahrheit Gottes und einer Wahrheit der Deutungen, die die erstere in der Annäherung zu ergründen versuchen. Der Zugang zur Wahrheit der Schrift könne nicht über die Suche nach der Intention des Autors (Mose) gesucht werden (Confessiones XII,23,32). In den Bekenntnissen XII,25,35 und 30,41–32,43 weist Augustinus darauf hin, dass angesichts der Fülle und Berechtigung möglicher

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Gert Hübner spricht, bezogen auf den Bereich des Metaphorischen, für diesen spezifischen Fall religiöser Rede davon, dass Bedeutung konstituiert würde, weil der Ausgangspunkt ob der Unähnlichkeitstheorie keine zu substituierende Bedeutung sein könne.211 Zum anderen impliziert die Literarisierung der ‚authentischen‘ (Johannes-)Vision als Rätsel, dass der heilsgeschichtliche oder historische Wahrheitsanspruch nicht ins literarische Medium überführt wurde: Die literarische Versprachlichung ist selbst selektiv und das in ihr geformte Wissen ist per se fiktional. Damit ist ein Deutungsspielraum eröffnet, der einer Mehrdeutigkeit des Wissens das Wort redet. Und das scheint mir der Grund für die Behauptung des Herausforderers zu sein, eine eben[e] (V.19), eine passende Deutung sei unmöglich: Der Blick zurück zum Beginn, die Bezeichnung des Anfangs, seine analoge Signatur ist nicht möglich, so dass Saatgut und Ernte einander unähnlich sein müssen (V.15f.), ebenso wie der Weg zum Ausgangspunkt zurück nicht dem Ausgangspunkt entsprechen kann (V.18f.). Wenn der Gegner mit seiner Deutung, die zu den möglichen Allegoresen zählt, die Kunst des Herausforderers zu stürzen meint, disqualifiziert er sich einerseits selbst, weil er implizit die Rechtmäßigkeit einer und die Unrechtmäßigkeit einer anderen Deutung behauptet. Andererseits ließe sich diese Deutung im heilsgeschichtlichen Horizont auf den anmaßenden Kunstanspruch des Herausforderers und Meisters beziehen und es ließe sich behaupten, dass sein Hochmut per se sündhaft und seine Kunst schon deshalb zum Scheitern verurteilt sei. Die Vervielfältigung des Sinns verstehe ich als Inszenierung einer kontextuell fundierten und ebenso bedingten Mehrdeutigkeit auch biblischen Wissens. So überschreitet das in C inszenierte Wortgefecht den Kampf um den Vorrang einer Aussage, sind doch die Aussagen hinter dem Streit erkenntnisvermittelnd orientiert. Nicht Sieg oder Niederlage der Streitenden, nicht Wahrheit oder Unwahrheit der adversativen Meinungen sind das eigentliche Ziel, es ist die Demonstration vielstimmiger Deutungen der aufgenommenen Wissenspartikel.212 Die Aussagen des Sängerstreits sind in der Konsequenz der Auslegungen auf einer ersten Sinnebene adversativ gebaut. Doch werden diese Aussagen auf einer zweiten Sinnebene überstiegen, gerichtet auf die Idee der Auslegungsverpflichtung gegenüber Deutungen, die sich aus den Worten der Schrift ergeben, sich die Behauptung der Richtigkeit einer Deutung nicht erlaube. 211 Siehe Gert Hübner, Überlegungen (2004), S. 138. In der Konsequenz liegt die einzige Möglichkeit einer Annäherung an den göttlichen Gegenstand im sich wiederholenden Versuch einer Bedeutungszuweisung. Die Varianz zwischen dieser Redeform und den elementaren Redeformen quaestio und disputatio könnte möglicherweise als ein speziell im Langen Ton von C geformter Anspruch auf Meisterschaft zu verstehen sein. 212 Damit läge der Streit analog zur agonalen Wechselrede, vgl. die terminologische Differenzierung der beiden Texttypen Wortgefecht und Wechselrede bei Christian Kiening, Art. „Streitgespräch“ (wie Anm. 18). Vielleicht sollte man eine teminologische Unterscheidung vor dem Hintergrund dieses Beispiels überdenken und eher Übergänge und Überschneidungen in diesem Bereich annehmen.

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jeder Form vorausliegenden Materials (biblischem, literarischem, historischem Material usf.). Der Aussagegehalt der Strophen im Langen Ton bis zu diesem Punkt wäre damit wie folgt zu umreißen: Das Verfahren der (literarischen) Auslegung traditionellen Wissens ist der zentrale Gegenstand der Kunst; es ist immer ein selektiver Vorgang, der etwas sagt und etwas anderes ungesagt lässt. Ob auf dieser Ebene des Sinns die aufgeworfenen Fragen nach der Wertigkeit der Meinungen, nach einer formalen, einer stilistisch-rhetorischen Hierarchie der Deutungen und damit nach einem Sieger des Streits überhaupt noch eine Rolle spielen, lässt sich erst aus der Perspektive des gesamten Strophenzusammenhangs sicher beantworten. C 38f. bietet im Rahmen des Sängerstreits weitere Aussagen des Meisters und Regenbogens, und zwar zum Vorrang von wip und vrouwe. Der Horizont für diese Aussagen ist der sogenannte „wîp-vrouwe-Streit“, wie ihn die Jenaer Liederhandschrift überliefert.213 J vereint zwölf Strophen zu dieser Thematik: J 10–14 und J 27–33, wobei J 25 und 26 mit den Stichworten wip, vrouwe und minne bereits als thematischer Auftakt in die Analyse integrierbar sind. C 38 ist nun parallel zur sogenannten Auftaktstrophe J 10 überliefert. Ich möchte für die C-Strophen einige überlieferungsgeschichtliche Anmerkungen vorwegschicken, um das Für und Wider handschriftennaher Interpretation exemplarisch vor Augen zu führen. Aus textkritischer Perspektive ist die Überlieferung von J der von C vorzuziehen. Metrum und Sinn sind stimmiger als das für C der Fall ist.214 Die Schwierigkeiten, die sich für eine Interpretation nach C ergeben, beruhen zum einen auf der chiastischen Anordnung der zentralen Worte / Namen wip, vrouwe gegenüber der Parallelstrophe, zum anderen bleiben mindestens C 38,17f. in den grammatikalischen Bezügen uneindeutig: da sich vrouwen unwankhaft hin / sich setzent zuo den künnen sin. Es liegt nahe zu vermuten, dass der Schreiber von C 38 an dieser Stelle keinen Sinn in seiner Vorlage gesehen hat. Andererseits aber darf ein konzeptioneller Entwurf für C nicht von vornherein ausgeschlossen werden, gerade weil die zentralen Worte / Namen wip und vrouwe in den argumentationsstarken Passagen vertauscht

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Die Analysen derjenigen Strophen, die sich dem „wîp-vrouwe-Streit“ zuordnen lassen, basieren in der Regel auf argumentativen Zusammenhängen zwischen den Strophen und einer polemischen Grundstruktur. Da Burghart Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 193, von einer chronologischen Rekonstruktion absehen musste, ging er von vier logischen Strophengruppen aus, die 1. die These Frauenlobs (J 27 = k 196 und J 0 = C 38), 2. die Strophen der Gegner (C 39, J 11–13), 3. die Antwort Frauenlobs darauf (J 31f. = F 112f. = k 194f.) und 4. den Ausbau der Gedanken durch Frauenlob (J 28–30. 33 = F 114) umfassen. Die zentralen Analysen für diese Strophen bieten Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 188–246, und Beate Kellner, Vindelse (1998), die Strophenfolge in C und J berücksichtigend, sowie Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 245–337. Bei ihr finden sich umfängliche und detaillierte Ausführungen zu allen jenen Strophen, die zum „wîp-vrouwe-Streit“ gezählt werden. Egidi folgt der Streit-Konstruktion der Göttinger Ausgabe. Eine detaillierte Analyse der Strophen, die den Streit konstituieren, erübrigt sich mit den bereits vorliegenden tiefgehenden Interpretationen. 214 Vgl. die Darstellung der Überlieferungssituation zuletzt bei Kellner, Vindelse (1998), S. 256–258.

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sind.215 Die Instrumente des Editors helfen hier nicht weiter; sie schneiden aus, was in C – anders als in J und trotz der Cruces – auf der Basis der mittelhochdeutschen Vorlage möglicherweise sinnstiftend rezipiert wurde. Ich nehme damit einen hermeneutischen Zirkel in Kauf, wenn ich Sinn unterstelle, wo vielleicht keiner gewesen ist. Dennoch, die Möglichkeit einer zu J alternativen Sinnsetzung möchte ich nicht unbeachtet lassen, so dass die C-Analyse vom Blick auf die Parallelstrophe begleitet wird. J 10 führt den Umgang mit der Tradition begrifflicher Reflexion im Rahmen der lyrischen Gattungen des Mittelalters vor Augen.216 Den interdiskursiven volkssprachlichen Horizont bildet das namen-Denken,217 das mit den metasprachlichen Aussagen von Reinmar dem Alten zum nam beginnt, MF 165,28, sich mit der Begriffsreflexion zu wîp und frowe bei Walther von der Vogelweide, L. 48,38, fortsetzt bis hin zum „wîp-vrouweStreit“.218 Der Preis des Namens frowe ist ein traditionelles Motiv im Hohen Minnesang und in der Sangspruchdichtung, der sich auf der Ebene des Texttyps in einen absolut gesetzten und einen ermahnenden Preis auseinanderlegen lässt.219 Vor diesem Hintergrund zielen die Minnesprüche Walthers auf eine ethische Umwertung der Namen wîp und frowe, weil der Standesbegriff frowe und die ethische Herausgehobenheit der Trägerin dieses Namens nicht mehr deckungsgleich sind: Under frowen sind unwîp / under wîben sind si tiure. (L. 48,42f.). Der wîp-Name wird zum umfassenden Namen; er steht für das typisch Weibliche und ist an die Physis gebunden. Zugleich wird er zum hôhste[n] name[n] (L. 48,38) und erfährt eine ethische Aufwertung, die bis dato dem frowe-nam zukam. In dieser Form der Sprachreflexion als einer ethischen Reflexion ermöglicht es der name, im Sinne eines allgemein gültigen Wertbegriffs, Bedeutungen zu vermitteln, anders als es die bezeichnete Sache selbst kann. Der Ausgangspunkt – bereits bei Reinmar – ist die Aufhebung der fraglosen Gleichsetzung von Bezeichnetem und Bezeichnung, so dass die Bezeichnung als solche in den Blick rückt und die Frage der Werthaf215

J 10 hat im Definitionsvers 6 vrouwe statt wip, daraus folgt dann zweimal ein (logischer) Begriffstausch, J 10,7 und J 10,11 gegenüber C. Vgl. zu dieser schwierigen Strophe Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 200–204, und den weitreichenden genauen Kommentar von J 10 (nach dem Text der GA) von Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 281–291. 216 Christoph Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 22, hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass ‚Begriff‘ im Sinne eines konkreten Sprachbegriffs (dictio) von ‚Begriff‘ im Sinne eines Gedankenkonzepts, einer Idee der bezeichneten Sache, zu unterscheiden ist. Wenn hier fortan vom Begriff und der Begriffsreflexion die Rede ist, wird die Differenz von Sprachzeichen und Wesen bzw. Idee mitgedacht. 217 Huber, ebd., S. 22–45. Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 251, weist auf die Begriffsreflexionen der mittellateinischen Bibelexegese und damit auf einen gelehrten Interdiskurs hin. 218 Zur Reflexion der Begriffe wîp und vrouwe vor dem Langen Ton vgl. Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 232–242. 219 Bei Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), eine Liste der Minnelyriker und Spruchdichter, die in dieser Tradtion stehen, ebd., S. 23 Anm. 4 und 5. Der Texttyp des Frauenpreises ist von Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 185–340, umfassend und analytisch ertragreich erarbeitet im Horizont des Gattungsnetzes von Minnesang und Sangspruch.

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tigkeit, orientiert an der Unterscheidung von Recht und Unrecht, getrennt diskutiert werden kann, sowohl für den Namen als auch für seinen Referenten. In den ersten beiden sprachanalytischen Strophen zur wîp-vrouwe-Thematik, C 38 und 39, werden die Namen wip, vrouwe, unwip, ihre Relation und ihre etymologischen und physiologischen Implikationen verhandelt. Folgt man der Argumentation des Sprechers werden im Gegensatz zu J wip und vrouwe auf zwei Ebenen hierarchisiert. Ethisch scheint die vrouwen den wip überlegen, insofern ihr Lob das der wip umgreift (V.1–4). Das ist auf den ersten Blick ganz traditionell im Rekurs auf die Minnelyrik und das Lob der hêren frowe konzipiert. Doch ist es vergleichsweise naheliegend, die Namen selbst relationiert zu sehen. So geht es im Rekurs auf das volkssprachliche NamenDenken vorderhand um das Lob der Namen. Dass der Name vrouwe das Lob des wipNamen umfasst, ist Forschungskonsens.220 In C ist jedoch der wip-nam als ein Oberbegriff zu verstehen, der die art221 aller bezeichnet (V.6). Die Differenzierung von wip und vrouwe knüpft zwar an Walthers physiologische Differenzierung an, ohne dass der Name wip mit der standes- bzw. statusdifferenzierenden Bedeutung des traditionellen frowe-Begriffs ausgestattet ist, erweitert das Argument aber sprachanalytisch. Der Name ist – in J ist es vrouwe – ein Begriff für das Weibliche an sich, insofern er geschlechtsdifferenzierend und gattungsanalog gesehen wird. Er meint das Weibliche im Sinne einer bildhaften Ähnlichkeitsbeziehung, die eine verwandtschaftsanaloge Gemeinsamkeit konstituiert.222 Die Ähnlichkeitsrelation von wort und dinc, die zugleich etabliert wird, bestimmt die sprachtheoretische Argumentation der gesamten Strophe, wenn immer wieder physiologische Erklärungen für die Bezeichnung eines weiblichen Seinszustandes herangezogen werden.223 220

Vgl. Kellner, Vindelse (1998), S. 265. Zum art-Begriff vgl. zuletzt Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 321–323. Sie unterscheidet zwischen einem sexualpsychologischen Begriff, der im engeren Sinne als ‚sexuelles Verlangen‘ verstanden wird, und einem Verständnis des art-Begriffs bezogen auf die Natur der Frau. Für C 38 bezieht sie den Begriff auf eine Lebenstufe der weiblichen Entwicklung. 222 Dass der art-Begriff in Relation zum Gattungsbegriff gedacht werden kann, darauf weist etwa Thomas Buchheim bezogen auf die aristotelischen Überlegungen zum Werden hin. Vgl. Thomas Buchheim, Genesis und substantielles Sein (1996), S. 107–116. 223 Obgleich hier der Aufhebung einer fraglosen Gleichsetzung von Bezeichnetem und Bezeichnendem das Wort geredet wird, ist zu unterstellen, dass der Zusammenhang von Wort und physischem Zustand gleichwohl kausal gedacht ist. Die Beziehung zwischen Ursache und dem von ihr Verursachten stellt keine äußerliche Beziehung dar, sondern eine der Ähnlichkeit. Doch ist diese Ähnlichkeitsrelation nicht eine der Spur, wie das etwas für das klassische Beispiel von Feuer und Rauch gilt, sondern sie ist im Sinne einer bedingten Abbildrelation gedacht, insofern sich im Wort die Form als Ursache zum Ausdruck bringt, sich aber Ursache und Wort wandeln können. Die Worte vro-we und wip sind im Rahmen der wîp-vrouwe-Strophen die eindrücklichsten Beispiele dafür. Unangetastet ist die den Streit zwischen Realisten und Nominalisten vor allem im 12. Jahrhundert fundierende Bedeutungsrelation von verbum, res significata und res, bei der die Begriffe das Wesen der Sachen zu erkennen geben. Deutlich wird eines, dass das Namen-Denken, das mit den C-Strophen anschaulich wird, sich ganz zuerst um die Worte und deren wirkliche Referenz in der physischen Disposition kümmert. Jan Pinborg, Entwicklung der Sprachtheorie (1967), S. 36;

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Bereits die Differenzierung in V.5 grenzt wip und vrouwe physiologisch voneinander ab: sind vrouwen wip, wip vrouwen nicht? ja, dur liep, dur leide. wip bezeichnet damit – anders als in J – die Gattung und zugleich eine physiologische Seinsform des Weiblichen. Die elliptische Satzkonstruktion erklärt sich retrospektiv vom Ende der Strophe her: wip und vrouwen sind zwar gleichzusetzen im Bereich der Geschlechterbeziehung, das Merkmal der Defloration ist für die C-Argumentation nicht explizit, doch sie unterscheiden sich durch die Erfahrung des (Geburts-)Schmerzes, die eine Erfahrung der vrouwen ist. Allein diese physiologische Differenz führt zur Differenz der namen wip und vrouwe und hat als Basis der namen-Reflexion zu gelten: Zunächst wird der Name wip auf männlicher Wahrnehmung basierend differenziert. Wenn man unwip unter den wip sieht, sollte ein Mann dies überprüfen (V.7). Wird hier gegen Walther L. 49,4 argumentiert, dass unwip unter wîben selten seien, insofern moralische Beständigkeit kein hinreichendes Argument für eine Hierarchisierung der Namen ist? Oder geht es möglicherweise im Horizont der wîp-vrouwe-Thematik des Langen Tons um die in J 27 genauestens ausgefaltete Differenzierung von maget und wip, welche hier in C auf diesen einen Vers beschränkt und zudem nur vorterminologisch zu verstehen wäre? In einer solchen Lesart wäre das unwip analog zur weiblichen Seinsstufe der Jungfrau zu denken. Die Jungfrau wäre ein wip im Status des ‚noch nicht‘, so wie V.11ff. die Schwangere als vrouwe im Status des ‚noch nicht‘ gesehen wird. Im Verlauf der Argumentation scheint mir, wird diese zweite physiologische Grenze auf der Ebene der Bezeichnungen genauer gezogen, denn solange eine Frau mit ihrem Geburtsschmerz noch nicht geboren hat, darf sie auch nicht vrouwe genannt werden (V.11). Der name vrouwe, der liep und leide in der expositio-Etymologie224 vro-we vereint, entspricht nicht dem Seinszustand der Schwangeren. Die sprachtheoretische Frage, die einer solchen lectio difficilior im Sinne einer Feindifferenzierung der Sache folgt, ist die nach dem passenden Namen, der die Ähnlichkeit von wort und dinc am besten wiedergibt: e das ein vrouwe mit bernder we vrouwe stuol besitze, / wi sol ir nam geheissen sin, der al ir wandel wecket? (V.11f.). Nicht die diversen Eigenschaften (proprietates) einer Sache / eines Dings sind für die Namengebung verantwortlich, sondern die physiologischen Unterschiede bezogen auf den Wandel einer Sache sind den verschiedenen, ihnen je entsprechenden Bezeichnungen ursächlich. So ist denn die Vorstellung von der weiblichen Seinsstufe einer Schwangeren im Abgesang der Strophe in eine physiologische Metapher gebannt, die sprachtheoretisch gefüllt wird. Es ist die Metapher vom schrin (V.16),225 die eine starke körperliche Vorders., Logik und Semantik (1972), S. 19–21. Vgl. Michael Fuchs, Zeichen und Wissen (1999), S. 220f. Siehe auch Henning Brinkmann, Zeichenhaftigkeit der Sprache (1974). 224 Zur expositio-Etymologie vgl. Roswitha Klinck, Lateinische Etymologie (1970), S. 22–40, 65–70, Uwe Ruberg, Verfahren und Funktionen des Etymologisierens (1975), Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 158f., Kellner, Vindelse (1998), S. 271. 225 Der Schrein ist eine dem Sarg und der Arche analoge Marienmetapher, die an anderer Stelle im Langen Ton im Bezug zur Gottesmutter genutzt ist (k 4–6 und k 101–103; im Bezug zur vrouwe steht sie ebenfalls in C 44 und J 10). Zu dieser Metapher Kern, Trinität (1971), S. 131f.

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stellung evoziert: In den schrin muss zunächst der namentliche Schmerz der Gebärenden – und das ist das we! –, zu dem sich dann der unwankhafte Anteil der vrouwen – nämlich das vro! – setzt. Die beiden physiologischen Zustände werden im Sinne eines Verwandtschaftsverhältnisses miteinander verbunden. Beiden zusammen wird der wandelname (V.19) aufgesteckt. Physiologische und sprachtheoretische Überlegungen gehen Hand in Hand: Die Wortbestandteile vro und we bringen den physiologischen Wandel vom wip zur vrouwe zum Ausdruck; sie markieren den Zustand der Schwangeren und zugleich jenen Wandel, der dem Namen vrouwe inhärent ist. Darüber hinaus, doch dies bleibt eine vage Vermutung, auch angesichts der cruces, wird mit C 38,19 auch der Name unwip, der das wip im Zustand des ‚noch nicht‘ bezeichnet, als wandelname ausgewiesen: in beiden wirt ein wandelname uf † und unwip † gestecket.226 Anders als bei Walther und anders als in der Jenaer Liederhandschrift geht es in C nicht um ethische, wohl aber um sprachtheoretische Begriffsreflexionen und -differenzierungen, die auf physiologischen Veränderungen aufruhen. Unwip und vrouwe sind in dieser Strophe bedeutungssetzende Sprachzeichen, wandelname[n], signa translata, die eine physiologische Veränderung von einem weiblichen in einen anderen weiblichen Seinszustand anzeigen bzw. markieren. Das wird exemplarisch am Wandel der Schwangeren zur vrouwe vorgeführt im Sinne einer bildhaften Volksetymologie. Die C-Strophe bringt damit zum Ausdruck, dass vorgeführtes Namen-Denken verbum und res entkoppelt, aber nur zu dem Zweck, Letztere in ihrem physiologischen Wandel – bezogen auf die weiblichen Seinszustände – zu überdenken. Das NamenDenken bezieht natürliche und körperliche Zustände ein, um sie adäquat zu versprachlichen. Die aristotelische Auffassung einer dem Wesen der Dinge entsprechenden Bezeichnung, die hier zugrunde liegt, ist um den Gedanken notwendiger Sprachdeutung im Angesicht des Wandels erweitert.227 Auch wenn die Interpretation des unwip-Namens in C unbestimmt bleiben muss, weil sich eine ethische Differenzierung von wip und unwip an dieser Stelle nicht ausschließen lässt und es damit zu einer Uneindeutigkeit des Sprachzeichens kommt, möchte ich von einer Sinnsetzung in C ausgehen. Der hinter der Darstellung stehende Gedanke 226

Diese Lesart blendet sicher das dominante, wertende Verständnis des Präfix un- aus und beschränkt sich auf die semantische Facette der einfachen Verneinung (Lexer II, Sp. 1748), setzt damit einen anderen Ausgangspunkt. Statt einer pejorativen Abgrenzung von Begriff und Gegenbegriff liegt der Begriffsdifferenzierung eine temporäre Grenze zwischen den Seinsformen voraus – ein analytischer Ansatz, der mir lohnend erschien, um der Lesart von C in ihrer Eingenständigkeit zu begegnen und der wohl auch der feingliedernden Begriffsdifferenzierung in den sprachtheoretischen Passagen des Langen Tons entgegenkommt. 227 Jan Pinborg, Logik (1972), S. 77–79, besonders S. 79, hat für die Scholastik des 13. Jahrhunderts, insbesondere für Tendenzen der Kausalitätsauffassung, darauf hingewiesen, dass aufgrund der „Kontingenz der geschaffenen Dinge“, der Instabilität der „natürlichen Ursachen“ und der Instabilität der „Natur als Ganzes“ bestimmte Aussagen nur „zu gewissen Zeitpunkten, wo die Ursachen“ Bestand haben, wahr sind. Für die in C explizierten Fälle des weiblichen Wandels trifft dies analog zu: Die Namen sind nur unter bestimmten Bedingungen wahr.

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der Mehrdeutigkeit der Namen scheint mir im Rekurs auf die bisher interpretierten C-Strophen beinahe programmatisch zu sein: Es gibt keine eindeutigen Sinnzuweisungen, so wie es die Doppeldeutigkeit des wip-Namens verdeutlicht, weil der wip-Name im Sinne eines Gattungsbegriffs die art bezeichnet und zugleich auf den physiologischen Zustand leidfreier Liebe verweist. Die Mehrfachverweise machen eines deutlich, argumentiert wird auf einem sprachanalytischen Reflexionsniveau, das für die Tradition des mittelalterlichen namen-Denkens eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Man muss, so möchte ich formulieren, für das mittelalterliche Begriffsdenken in seinem vorwissenschaftlichen Status eine Dynamik der Verweise und die Mehrdeutigkeit der Bezeichnungen kalkulieren. Unterlässt man diesen Schritt, unterstellt man die Vorfindlichkeit fixer Termini, deren Bedeutungsspielraum und deren Verweisfunktion doch gerade erst in den Blick gerückt sind.228 Die Erwiderung des Gegners, die Beischrift nennt ihn Regenbogen, unterstellt dem vrouwenlob in C 38,1–4 eine Wertehierarchie von vrouwe und wip: Der Herausforderer werte die wip ab und strafe sie. Die in C 39 befürwortete andere Beurteilung der wip, die auf den ersten Blick im Sinne einer Aufwertung zu funktionieren scheint, basiert auf dem proles-Argument: din selber lip, / der kam von wibes libe (V.2f). Auf den zweiten Blick wird der Name wip im Sinne eines übergreifenden Begriffs für die Mutter verwendet. Mit dem Interesse für die Sache selbst und der willkürlich anmutenden Zuordnung der Namen sind zwei Argumente gefunden, die die Idee der doppelten Verwendung des wip-Namens von C 38 fortsetzen. Für den Gegner scheint es dabei nichtig zu sein, ob man die Kindsmutter wip oder vrouwe nennt (V.7–9, 12f.). Worauf es ankommt, ist die Mutterschaft und dahinter das physiologische Argument der Blutsverwandtschaft, das hier als Verwandtschaft der Körper inszeniert ist.229 Dafür wird die gattungshafte Bezeichnung wip verwendet (C 38,6 und C 39,1–6). Wenn beide Namen als wahre Namen für die parens einstehen können (V.12f.), dann ist der vrouwe-nam auf die physiologische Seinsstufe bezogen und der wip-nam steht umgreifend für die weibliche art ein. Parens-Argument und Gattungsargument werden aus dem Zusammenhang der Überlegungen von C 38 isoliert, so dass gerade die Feindifferenzierung der Bezeichnungen ob der Differenzierung der Seinsstufen in ein kritisches Licht rückt. Mit dieser Selektion zweier Argumente (parens, art) geht eine Wertung der physiologischen Zustände und der daraus resultierenden Aussage einher, wenn der Sprecher argumentiert, dass allein die Mutterschaft Lob verdiene, der dafür gefundene Name aber 228

Mit Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 285f., möchte ich (auch für C) bekräftigen, dass die Suche nach physiologisch eindeutigen Begriffen von der Preisfrage und einer Hierarchisierung der Namen entkoppelt ist, dass ethische Differenzierungen in der Folge Walthers kein hinreichender Grund für die Zu- bzw. Aberkennung des Preises sein können. 229 Zum proles-Argument vgl. Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 253f. Egidi unterscheidet für Leich und Sangspruch einen sexualphysiologischen und naturphilosophischen Horizont. Für das generatio-Thema in den wîp-vrouwe-Strophen stellt sie diese zurück und sieht dort Analogien zum klerikalen Ehediskurs sowie intertextuelle Bezüge zu mittellateinischen Dichtungen, vgl., ebd., S. 254f. Anm. 882f.

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zweitrangig sei. Irrelevant seien sowohl der weibliche Seinszustand in den Wochen der Schwangerschaft (V.10f.)230 als auch die Zeit der Jungfräulichkeit (V.14–16). Der Frauenpreis ist in dieser Zuspitzung als Lob der Mutterschaft inszeniert, res, res significata, verbum-Reflexionen werden als nicht relevant für das Lob ausgegrenzt. Gedankenexperimente, bezogen auf das Verhältnis von Wort, Begriff und Sache, werden nicht als Teil des literarischen Lobs bestimmt, weil allein die Sache (Mutterschaft) Lob verdient.231 Im wîp-vrouwe-Disput von C sind Bezeichnungen und deren Differenzierungen an physiologische Zustände gebunden, um, durch das fraglos Gegebene legitimiert, eine Allgemeingültigkeit der Namen zu etablieren (C 38) und, aufgrund des fraglos Gegebenen, die Nichtigkeit einer Differenzierung zu betonen (C 39), da das Lob in den Sachen selbst ruht. Die pseudo-sprachphilosophische und die ontologische Perspektive verdeutlichen nur nochmals die Vieldeutigkeit der Sprachzeichen und die Abhängigkeit der Begriffsbildung vom jeweiligen Gebrauchszusammenhang, vom Kontext der jeweiligen Argumentation.232 Und auch für diese Passage gilt, dass der Streit jene Redeform ist, die das Für und Wider der Ideen des Namen-Denkens ausstellt. Nicht auf Sieg oder Niederlage der Kontrahenten zielt die Argumentation, sondern auf den Erkenntniszuwachs im Rahmen dieses literarischen Diskurses. Der Strophenkomplex, der mit C 40–46 anschließt und der von jüngerer Hand dem Meister (Frauenlob) zugewiesen wurde, vereint Strophen, die thematisch an der Debatte um eine gute Gesinnung und ihre Fundierung im Besitz teilhaben. Er wird von der Sängerschelte des Meisters beschlossen, einer zweiten Rühmungsstrophe, die die Argumentation möglicherweise zur sogenannten Selbstrühmungsstrophe C 32 zurückbindet. Anders als bislang ist diese Strophengruppe nur einem Sprecher in den Mund gelegt, so 230

Ich möchte die beiden Verse 10f.: ist dir icht gebrochen / an vrouwen art, dü schult ist din, alle dise wochen auf die Reflexion des Spruchdichter-Ichs über den Zustand der Schwangerschaft C 38,11–19 beziehen, nicht aber so sehr auf eine (reale) Situation des männlichen SpruchdichterIchs und dessen „männliche[…] ‚Schuld‘“. Dazu Egidi, ebd., S. 296. 231 Zugespitzt formuliert könnte man hier eine eher nominalistische (C 38) und eine realistische (C 39) Position im Gegeneinander entfaltet sehen. 232 Hugo Kuhn, Gattungsprobleme (21969), S. 45, wies darauf hin, dass man von mittelhochdeutschen poetologischen Termini nicht in einem modernen Sinne sprechen kann, weil ihr Gebrauch unfest, spontan und undefiniert sei. Dicke / Eikelmann / Hasebrink, Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung (2006), S. 4, legen dar, dass diesem Einwand gegen eine poetologische Terminologie des Mittelalters positiv zu begegnen sei, dass man jeden Einzelfall zu prüfen habe, wolle man das Augenmerk für die spezifischen Ausprägungen einer historischen Semantik schärfen. Sie schlagen vor (ebd, S. 5; vgl. dort auch Anm. 9), von einer „vor-definitorischen und vor-poetologischen Bedeutungskonstitution“, einer „nicht präskriptiv, nicht terminologisch und nicht metasprachlich verfahrenden Poetologie“ auszugehen, um der ‚Vagheit‘ der Begriffe auf die Spur zu kommen. Dass es ertragreich sein könnte, eine solche implizite, „nur von den Texten selbst repräsentierte[…] Poetik“ zu erforschen, sollte für die C-Argumentation bereits deutlich geworden sein. Der Ansatz, die Begriffsbestimmung vom Einzelfall her zu untersuchen, scheint mir deutlich ergiebiger zu sein, als die Fehlstellen gegenüber einem modernen Terminologieverständnis zu beschreiben.

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dass es keine opponierenden Behauptungen mehr gibt. C 40–46 respektive C 47 können damit im Horizont des Sängerstreits als (abschließendes) Plädoyer des Meisters gelten. Die erste dieser reflexiven Strophen ist typisch gnomisch. Sie handelt über das Verhältnis von Gebenden, Nehmenden und deren Gesinnung. Es ist eine Strophe, deren Aussage zunächst einen Zustand konstatiert, der art-abhängig (V.5) ist, dass nämlich die Kühnheit der Gesinnung ohne Besitz nicht beständig sein kann (1. Stollen). Zugleich ist es eine Strophe, die an die Fürsten appelliert, dieser Veränderung (wandel, V.7) der Gesinnung Einhalt zu gebieten, indem sie sich in Freigebigkeit gegenüber den Bedürftigen üben. Ihre eigene Gesinnung würde sich durch dieses Tun zum Positiven verkehren (2. Stollen).233 Darüber hinaus ist sprachtheoretisch ein Anschluss an die Reflexionen der wîp-vrouwe-Strophe C 38 gegeben, insofern die Differenzierung des Namens in muot (V.15) und unmuot (V.16) an einen existentiellen Seinszustand gebunden werden: Nur wo sich Besitz zur guten Gesinnung gesellt, ist sie beständig (Abgesang). Die Stichworte art, wandel und ihre Gegner muot / unmuot stiften eine sinnhafte Relation im Zusammenhang des gesamten Strophengefüges, und sie bestimmen die Argumentationslinie des sogenannten Meisters, denn was hier wohl auf der Ebene des Stichwortgebens konstruiert scheint, ist ein Bezug zur wîp-vrouwe-Strophe C 37. Gerade dort wurde ein argumentativer Nexus der art mit dem Wandel des Seins oder Tuns und der Differenzierung der Namen gestiftet und es waren drei Komponenten, die überdacht wurden: 1. Dem Wandel eines Zustandes können physiologische Umstände zugrunde liegen wie etwa bei der Schwangerschaft. 2. Der Wandel kann auch artspezifisch sein (wip – unwip). Und 3. führt der Wandel zu einer sprachlichen Differenzierung jenes Namens, der für den ursprünglichen Seinszustand steht (wip / unwip). Analog dazu liest man in C 40, 1. dass die Kühnheit artspezifisch an eine reiche Gesinnung gebunden ist und 2., dass eine Trennung dieser Relation durch ökonomische Umstände negative Folgen hat wie Kummer und Untätigkeit. Die ökonomische Schieflage wiederum rührt aus dem Fehlverhalten der Fürsten, welches anhand der sentenzhaften Formulierung muot ane guot / mus wesen unmuot! (V.15f.), dem Verweis auf das reziproke Verhalten von Gebenden und Nehmenden, erklärt wird: Eine negativ bewertete mangelhafte Gesinnung der Fürsten kann jedoch durch ihre Freigebigkeit, das guot-Sein, genauso aufgewertet werden wie die im existentiellen Kummer gefangene Gesinnung der Bedürftigen durch den Besitz. Dem Ausdruck art als einem zentralen Stichwort wird damit eine weitere Sinnfacette verliehen, die sprachtheoretisch mit der Ähnlichkeit von guot (Sein) und guot (Besitz) arbeitet. Denn wenn das lexematisch Äquivalente ein semantisch Ähnliches unterstellt, transportiert das ein eo ipso, mithin eine artspezifische Verknüpfung von kühner und

233

Interessant an dieser Argumentation ist die unterstellte Inversion der Relation von Handlung und Gesinnung. Nicht nur kann die Gesinnung handlungsrelevant sein, sondern auch das Handeln kann im Fall der freigebigen Fürsten gesinnungsbildend sein: ein handlungsorientierter Impetus, der das Handeln selbst zum Ausgangspunkt des Guten erklärt.

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besitzfundierter Gesinnung.234 In der Konsequenz kreisen diese Reflexionen zum guotmuot-Diskurs um die Gleichzeitigkeit physischer und ethischer Verfasstheit rechten und falschen Handelns und sie kreisen gleichermaßen um Anfälligkeit sowie Unbeständigkeit des Verhaltens schlechthin. An diesem Punkt führt die Argumentation im Strophengefüge weiter, so dass zuletzt die Beständigkeit der Tugenden und die Beständigkeit eines artspezifischen Verhaltens herausgestellt werden kann. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei die Tatsache, dass sich jedwede Gesinnung durch Besitz und Ansehen zum Guten wandelt, so wie ein Stein durch Steinwerkzeuge in Form und Gestalt verändert wird (C 41).235 Im Konnex des Strophenverbundes lässt sich das Positive des Bearbeitens hin zum artspezifischen Guten und Richtigen als Gegenargument zum raschen und deshalb flüchtigen Ruhm (der Sangspruchdichter) und wohl auch zur superbia (Alexanders) lesen. Der Assoziationsraum der Strophe wird durch die Stichworte wank, art, stein, verkeret zur wîpvrouwe-Strophe C 37 und zur Alexanderstrophe C 34 erweitert, denn dort und hier geht es um die Bearbeitung und Veränderung eines Vorgegebenen, die im Bild der Bearbeitung des Steines durch die Steinwerkzeuge anschaulich gemacht ist.236 Die Argumentation der beiden sich anschließenden Ratgeberstrophen geht dahinter zurück und streicht die richtige ethische Einstellung als nobilitierenden Motor des Verhaltens heraus. In C 42, einem Rat an die Jugend, werden die beiden positiven Qualifikationen manmuot und ritterlicher muot als Differenzierungen des bereits eingeführten muot-Namens herausgearbeitet. Es sind Qualifikationen, die im bekannten Bild des Goldläuterns (hier V.11) überhöht werden.237 Nicht der Überbietungstopos weist das Besondere dieses Bildgebrauchs aus, ungewöhnlich ist vielmehr, dass die Reinheit ethischer Qualifikationen auf einer adligen Gesinnung fußt (V.9). Nur die richtige (reine) Einstellung kann im Laufe eines Entwicklungsprozesses bestimmte Verhaltensweisen 234

Die Strophe entfaltet im Horizont der Relation von Gebenden und Nehmenden nicht nur einen Nexus von Handlung und Gesinnung, sondern sie fundiert den handlungsorientierten Ansatz im Besitz. Dabei eröffnet das Spiel mit dem guot-Begriff ein Bedeutungsspektrum, in dem sowohl die Gesinnung Ausgangspunkt guter und schlechter Handlungen als auch Folge guter Handlungen sein kann, in dem daneben der Besitz Ausgangspunkt einer mangelnden Gesinnung ist, aber zugleich zur Voraussetzung einer guten Gesinnung erklärt wird. 235 Eine positive Gesinnung kann gegen negativen Wandel, ein zu rasches ruhmheischendes Ansehen (V.6–8), geschützt werden, wenn das Streben nach Ansehen gewohnt ist. Wer genuin böse ist, dessen art ist durch keine guot-Tat zu verändern, so dass der Mangel an Ansehen bleibt. Zur Metapher des Steins Müller, Höfische Kompromisse (2007), S. 59. 236 Im Assoziationsraum des Strophenverbundes von C sind es die Veränderung des Steins in Form und Gestalt sowie die Stille, die dem Ruhm sehr oft folgt, die einen Rekurs auf die superbia Alexanders und das vanitas-Motiv hervorrufen. 237 Dieses metaphorische Feld lässt sich möglicherweise auch auf die Selbstrühmungsstrophe C 32 beziehen, liest man die Kesselmetapher auf den Vorgang des Goldläuterns hin. Der Läuterungsprozess dort stünde für eine Kunst, die dem reinen Gold am Grunde des Kessels verglichen würde. Im Horizont ethisch-feudaler Qualifikationen übertrifft die Reinheit der Läuterung von Mannheit und Ritterlichkeit jede Form des Goldläuterns in der Werkstatt des Goldschmieds.

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aufwerten. Dieser Gedankengang wurde im Strophengefüge des Langen Tons in vergleichbarer Weise schon einmal literarisiert, waren es doch C 32 die sinne, welche den Meister in die Lage versetzten, den Gesang der alten Meister zu überhöhen und die Vorrangstellung vor allen Meistern zu beanspruchen. In C 42 wird dieser Gedanke nicht nur ethisiert, das ritterliche Ethos selbst wird im Anspruch der Reinheit beinahe transzendiert.238 Adlige Gesinnung und Namen-Denken münden in ein Lob des ritterlichen Namens (C 44,1). Dem Begrüßungstopos der Mariendichtung analog wird der Name durch die topische Anbindung mit höchstem religiösen Lob versehen: Got grüesse, ritter (Maria), dinen hoch geherten namen!239 Betont wird so einerseits die wechselseitige Abhängigkeit von beständigem Verhalten und höchstem Namen und andererseits die Kraft des Willens gegenüber dem Verhalten, insofern der Wille auch unter widrigen Umständen in der Lage ist, dem Ritter Ansehen und Lob zu erwerben. Die Stichworte nam (V.1, 11), art (V.10) und schrin (V.15) stellen die strophische Aussage in den Kontext der wîp-vrouwe-Strophe C 38. Physiologische Veränderungen, im Bild des Schreins anschaulich geworden, sind artspezifisch bezogen auf das wip. Der art des Ritters scheint hingegen ein Wille inhärent zu sein, der einen unbeständigen Zustand verkehren kann! Im Blick auf C 38,7 könnte man an dieser Stelle abstrahieren, dass es dem herausragenden Manne – und damit auch dem Meister – im Gegensatz zum wip möglich ist, unbeständiges Verhalten und damit Veränderungen eines Seinszustandes zu erkennen und positiv zu beeinflussen. Dieser Anspruch des Meisters wird sofort umgesetzt, obgleich die Hofkritik (C 45) auf den ersten Blick kaum einen Zusammenhang aufweist mit dem Vorausliegenden. Aus der Perspektive des ritterlichen, des herausragenden Mannes, und das heißt eben auch des Meisters und seiner Fähigkeit, Verhalten und Wandel zu erkennen und zu beeinflussen, liegt der Nexus auf der Hand: Das meisterliche Ich beansprucht Unterscheidungsfähigkeit bezogen auf das Verhalten bei Hofe.240 Mit diesem impliziten Plä238

Die Folgestrophe C 43 dimensioniert diesen Gedanken aus der Gegenperspektive. Der Rat zielt darauf, Schande zu vermeiden und nur dem Wort ehrenhafter Männer zu folgen. Das Stichwort êre verweist auf den Gedankengang von C 41: nur beständige Bemühungen sichern das Ansehen dauerhaft. Dieses Wissen und der in C 41 entwickelte Gedankengang werden im Horizont der Negativqualifikation schande (C 43,1) neu überdacht. Die Schande, metaphorisch durch das scharlachrote Schandenkleid veranschaulicht, ist in der Lage, das Ansehen vieler edler Männer zu mindern (V.5). Denjenigen, die des Rates ehrenhafter Ratgeber bedürfen und Schande vermeiden sollen, wird das Lob Parzivals exemplarisch vor Augen geführt, weil auch er sich an diese beiden Ratschläge auf seinem Weg zum Gral hielt. 239 Das Lob des Namens rührt von einer Begriffsquadriga ritter (V.1) – selde (V.3) – êre (V.5) – zuht (V.5) her, die ein exemplarisch vorbildhaftes Verhalten evoziert. So rät das Spruchdichter-Ich einem jeden Ritter, auf seinen Namen zu achten (V.5f.). Das artspezifisch ideale und königsgleiche (V.9) Verhalten des Ritters wird dann bezogen auf die Taten, den Willen und das Wort (V.8) weiter ausdifferenziert. 240 Dies ganz im Gegensatz zum Hof selbst, der einen Esel für ein Pferd nimmt (V.13f.) und den Schmeichler dem biderben manne[ ] (V.17) vorzieht.

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doyer für die herausragenden Fähigkeiten des Meisters ist es jedoch nicht getan. Die Fähigkeit selbst wird sogleich unter Beweis gestellt (C 46), wenn Wandel und Gesinnung (wandelbere[r] muot (V.1)), zwei bekannte Stichworte, aufgegriffen und neu kontextualisiert werden: Die Rede ist vom Schaden einer unbeständigen, einer wandelbaren Gesinnung, hier im Bezug auf die Herren.241 Das Sprecher-Ich tritt nun in der Rolle des Deutenden auf. Das unbeständige Verhalten der Herren in Wort und Tat im Rahmen der vasallischen Verpflichtungen, gemeint ist die Annahme von Hilfe in der Situation der Not und die Abkehr vom Helfer danach, kann dazu führen, dass die Unterstützung in einer nächsten Notsituation ausbleibt. Obgleich hier eine eindeutige Position etabliert zu sein scheint, ist die Summe aller Argumente mehrdeutig, denn die Strophengruppe nach dem wîp-vrouwe-Strophenpaar greift aus sprachtheoretischer, pragmatischer und situativ-exemplarischer Sicht auf das Problem von Gesinnungswandel und -stabilität im Horizont der klassischen guot-muotThematik zu. Sauber geschieden sind diese drei Ebenen des Wissens dabei nicht. Pragmatische und situative Umstände bilden den Hintergrund für die sprachreflexiven Ausführungen in C 40–44, und die Ergebnisse dieser Überlegungen geben die Prämissen für den exemplarischen Gesinnungsfall (C 45–46) ab, bei dem der ethisch herausragende Meister – das ist eine Quintessenz der Darstellung – die nicht unwesentliche Rolle des Wissenden und Deutenden innehat. Den Abschluss dieses Komplexes bildet eine in der GA als Gegenstrophe der sogenannten „Selbstrühmung“ ausgewiesene Schelt- und Rühmungsstrophe, in der ein Meister seinen Verstand gegen die zeitgenössischen törichten Sänger ausspielt. Für den Strophenzusammenhang der C-Überlieferung scheint es mir klar zu sein, dass dem Meister mit C 47 das abschließende Wort im Rahmen des Sängerstreits in den Mund gelegt ist. Durch die Metapher des (Zusammen-)Nähens (V.11) und das Stichwort sin (V.12, 14) ist C 32 mit dem Verhältnis des Sprechers zur Tradition als intratextuelle Referenz aufgerufen. Dieser Bezug lässt eines deutlich hervortreten: Der Verstand (vernunft, V.2; sinne, V.12. 14) bildet die Basis künstlerischen Vermögens, denn nur durch ihn lassen sich Wort und Melodie im rechten Maß slichtent (V.5), und das bedeutet nicht nur ‚gerade machen‘, sondern immer auch ‚schleifen‘ im Sinne einer Bearbeitung des vorliegenden Materials! Die abschließende Strophengruppe der textuellen Formation in C mit der monologischen, reflexiven und belehrenden Rede des Meisters vernetzt ganz unterschiedliche Gedanken. Dennoch lassen sich diese Facetten unter der für das Meisterethos maßgebenden Perspektive des artspezifischen guot-Seins und der mannhaften Gesinnung bündeln. Man kann wohl resümieren, dass der auf das künstlerische Vermögen bezogene Meisterschaftsdiskurs zunächst dialogisch, im Gegeneinander der Argumente, erprobt 241

Den argumentativen Intertext bilden die sentenzhaften und situationsabstrakten Ausführungen von C 40: Das rechte Verhältnis von muot und guot entspricht einem reziproken Verhältnis von Herr und Vasall; Der unmuot des Nehmenden wird durch einen Mangel an Freigebigkeit hervorgerufen. Der pragmatische Kontext des Wissens wurde mit der Strophe C 45 angedeutet; es ist das Verhalten bei Hofe.

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wurde und dann in einen monologischen Nachklang mündete, welcher das Ethos des ratgebenden und lobenden Meisters in den Vordergrund rückte.

1.2

Die Formen des Wissens und ihre Bearbeitung in C 31–47

Für die monologisch (C 31, C 40–47) und dialogisch (C 32–39) orientierten Strophen bzw. Strophengruppen wird diskursives Wissen in den Redeformen des Gebets (oratio), des Streits (quaestio disputatio), der lehrhaften Auslegung und Erörterung (lectio) literarisiert, wobei man wohl sagen kann, dass die literarische Anverwandlung elementarer Redeformen der Kirche, Schule und der Universität dazu dient, die Art und Weise der Beurteilung vorhandenen religiösen, weltlichen und spezifisch literarischen Wissens argumentativ zu entfalten: Im Gebet (C 31) rücken Sprecher und Gottesmutter zusammen. Die neutestamentlich-heilsgeschichtlichen Wissenspartikel um die Freuden und Schmerzen Marias dokumentieren das Wissen des Sprechers, befördern die Nähe zur Gottesmutter und rechtfertigen den ermahnenden Gestus (Stichwort: ich mane) ihr gegenüber. Mit der Annäherung zwischen Maria und dem Sprecher-Ich auf verschiedenen Stufen (Möglichkeit der Ermahnung, Ansprechen als Geliebte) wird beider Funktion der Vermittlung analogisiert. Ohne dass der Sprecher das Wunderbare vollends verfügen könnte, scheint mir die Vermittlungsleistung des Sprechers analog zu der Marias zwischen Transzendenz und Immanenz inszeniert zu sein. In der konkreten Figuration der Gottesmutter als Gesprächspartnerin und zu Belehrende tritt die Leistung der Poesie als Anverwandlung religiösen Wissens deutlich hervor. Die strukturell auf Responsion fußende Redeform des Streits (C 32–39) erlaubt es, ausgehend von der Vermittlungsleistung des Sprecher-Ichs, unterschiedliche und auch konträre Positionen (einer Sache) klarer zu präsentieren. Partikel intertextuellen, rhetorischen und handwerklichen Wissens (C 32f.) erhalten im Spruchdichterstreit fundierende, autorisierende oder adversative Funktionen. Im Rekurs auf die Meister Walther, Reinmar und Wolfram wird der Gedanke einer linearen Fortführung vorhandener Kunst (Kunstheide, Blumen brechen) bzw. vorhandener Meisterschaft überschritten. Das geschieht durch die Präsentation alternativer Formen der Fortführung, die im Anbinden, Bearbeiten und vollendenden Überhöhen vorausliegenden Materials (kessel, grunt, vergultem kleide) zu finden sind. Exemplarischer Ausweis dafür ist die Arbeit am Metapherngebrauch mit der Erweiterung des traditionellen Bezugs von Bildspender und Bildempfänger. Verfremdung und Erwartungsbruch sind jene beiden Verfahren der Metaphorisierung, die die literarische Arbeit kenntlich machen und in der Inversion traditionellen Metapherngebrauchs eine ungewohnte Perspektivierung des Gegenstandes (Meisterschaft) ermöglichen. Im Akt des Bruchs und der Verschiebung wird er-

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wartbarer Sinn neu referentialisiert und im Blick auf den Meisterschaftsdiskurs (um)semantisiert.242 Exemplarischer Ausweis ist ebenso die Adaptation wiederum intertextuellen Wissens vom linearen zum vertikalen Deuten im Alexanderexempel, C 34. Als Allegorese der beiden Kunstkonzepte verstanden, ist damit das Nebeneinander linearen Fortsetzens bzw. vertikalen Bearbeitens vorausliegenden Materials fokussiert. Die Stilkritik (C 35) mit dem Schlüsselwort gewolkern spricht der vertikalen Anbindung an vorausliegende Kunstkonzepte den künstlerischen Anspruch ab. Eine weitere Literarisierung vorausliegenden, jedoch polyvalenten Wissens steht dem entgegen. Es ist biblisches Wissen der Offenbarung des Johannes, das im Modus des Rätsels literarisiert ist (C 36f.) und nach einer Auslegung verlangt, jedoch auf ein Feld möglicher Allegoresen verweist. Mit dem Stichwort der Mehrdeutigkeit verschiebt sich die Perspektive im Langen Ton von C in den sprachtheoretischen, den physiologischen und den ethischen Bereich. Durchquert werden Moraldidaxe, Zeichentradition, volkssprachliches Namen-Denken und der literarische wîp-Diskurs, um volkssprachliche Namendifferenzierungen zu reflektieren. Physiologische Seinszustände werden den sprachtheoretischen und traditionell-ethischen Differenzierungen vorgängig gedacht. Die Rechtfertigung von Differenzierung und Mehrdeutigkeit der Namen liegt in den verschiedenen Seinsformen (hier des Weiblichen) und in der jeweiligen Situation des Gebrauchs selbst. Sie bedürfen einer sprachlichen Deutung, weisen Bedeutungsspielräume aus, die wiederum literarisch ausgeschritten werden. Dass dem so ist, greift in der der lectio anverwandelten Redeform des didaktischen Rats (C 40–46) eindringlich. Der Bereich der Moraldidaxe wird im Begriffsfeld von art, wandel (Beständigkeit), muot / unmuot, guot, milte sowie êre durchschritten, literarischhöfisch geformt und auf verschiedene Deutungsperspektiven hin geöffnet: Die Deutung des Gesinnungsproblems erfolgt 1. auf der Ebene der Begriffsbildung, 2. auf der Ebene des Verhaltens und 3. auf der des Ratgebens, um zuletzt den menschlichen Verstand diskursübergreifend zum Grund der Deutungskompetenz zu erheben.

1.3

Auslegungsverpflichtung, Vernunft und Deutungskompetenz (Resümee)

Obgleich das Strophengefüge von der Einzelstrophe her betrachtet thematisch disparat erscheint, das Argumentieren dialogisch und monologisch im Nacheinander erfolgt, übergreift das Phänomen des Deutens als argumentativ auszuschreitender Gegenstand 242

Zur Unterscheidung von Sinn und Bedeutung im Bereich der Sprache bezogen auch auf den literarischen Diskurs Paul Ricoeur, Lebendige Metapher (21991), S. I–VII. Man kann auch im Anschluss an die von Hübner, Überlegungen (2004), forcierte Debatte um eine historische Metapherntheorie von einer erwartbaren Bedeutung und der durch Bruch oder Verschiebung erzeugten Überschreibung dieser Bedeutung sprechen.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie in der älteren Überlieferung

123

den gesamten Strophenzusammenhang. Das eröffnende Mariengebet (C 31) trägt dabei paradigmatische Züge: Vorgeführt wird die Literarisierung religiöser und heilsgeschichtlicher Wissenspartikel, die Grenzziehung und Grenzüberschreitung des Sprechers gegenüber dem Gegenstand (Maria) im Grenzbereich von Transzendenz und Immanenz und damit die anhand der modifizierten Redeform des Gebets mögliche Poetisierung des Sprechens über das Unverfügbare. Auf der Ebene der Streitrede (C 32–37) sind die Beiträge der Gegner im Grenzbereich von vorher und nachher, einst und jetzt, traditionaler / verwurzelter und bearbeitender Kunst angesiedelt. Die dabei gebrauchten Schlüsselwörter sind grunt, kessel, feim. Der agonale Modus der Rede forciert das Gegenüber der beiden Kunstansprüche, so dass dem Bearbeiten und Überarbeiten Beständigkeit und Fortdauer entgegenstehen. Die eine Perspektive ethisiert die Ansprüche und stellt der alten, guten und beständigen Kunst die schlechte, unbeständige und bodenlose Kunst gegenüber. In der inversen Perspektive erscheint die aktuelle Kunst als durch den Verstand gelenkte Kunst, die mit Variabilität und Unbeständigkeit umzugehen versteht. Zudem wird der evozierte Sinn des sich im Referenzbereich befindlichen literarischen Materials, hier ist es das über die Meister Walther, Wolfram und Reinmar aufgerufene Herrscherlob des „Wartburgkrieg“-Komplexes, modifiziert, so dass das Frauenlob dem Herrscherlob überbietend zur Seite steht. Es liegt nahe, darin eine künstlerische Form der Vollendung zu sehen. Ein Wechsel der Darstellungsmittel schafft dann einen weiteren, bedeutungskonstituierenden Raum, in dem die beiden Kunstansprüche auf der Ebene narrativer Rede (C 34) in einem allegorischen (Raum-)Entwurf relationiert werden. Dieser Entwurf verdeutlicht einmal mehr, dass es auf die produktive Umsetzung des vorhandenen Materials, des vorhandenen Wissens im Sinne des Auslegens ankommt. Wiederum im Modus agonaler Rede gelingt aus der Gegenposition anhand der Wurzel- und Wolkenmetapher (C 35) eine Umsemantisierung der durch das Bildfeld von grunt, kessel und feim bereits evozierten Raumvorstellung. Die Schlagworte für die aus inverser Perspektive adversativ gesetzten Kunstkonzepte sind Verwurzelung und Ungebundenheit, wobei Verwurzelung (C 35) und Bearbeitung des Grundes (C 32) als zwei mögliche Modi des Umgangs mit dem Vorausliegenden kenntlich wurden.243 Die Idee der Ungebundenheit wird mit einem erneuten Wechsel der Darstellungsmittel in C 36 konkretisiert. In narrativer Rede wird punktuell apokalyptisches Wissen des Meisters entfaltet, jedoch nicht in biblischer, sondern in verrätselter Form. Mit der Umformung des biblischen Wissens bietet der Strophenkomplex ein weiteres Verfahren für die Überschreitung vorausliegenden Wissens an, insofern Verrätselung und folgende Allegorese (C 37) die Chancen literarischer Auslegung ausstellen. Mir scheint, dass gerade die Vervielfältigung des Sinns in der Demonstration vielstimmiger Deutungen der aufgenommenen Wissenspartikel als Chance begriffen wird, sich dem Sinnpotential kultureller Vorgaben, kultureller 243

Die Wurzel- und Baummetapher zielt auf die lineare Fortführung der ‚alten‘ Meisterschaft, die Metapher vom Grund des Kessels hingegen auf die Bearbeitung des in Fülle und disparat Vorausliegenden.

124

Wissen und Meisterschaft

Denk- und Handlungsmuster anzunähern, eine Spur auszuziehen, die einen eigenen literarischen, dem kulturellen verwandten Sinn ostendiert. Der Konnex von poetologischer und epistemologischer Ebene liegt, dem Argumentationsgang folgend, in der Auslegungsverpflichtung gegenüber jedwedem vorgegebenen Material. Eine Leistung der literarischen Darstellung in C ist es, die Verfahren der literarischen Auslegung traditionellen (historischen, literarischen, heilsgeschichtlichen, anthropologischen) Wissens transparent werden zu lassen. Doch verbleibt diese Leistung nicht im Raum abstrakter Argumente. Sie ist im Gebet des Spruchdichters (C 31), im Streit der Meister (C 32–39) und im Plädoyer des Meisters (C 40–47) bildhaft anschaulich. Die Kombination von rhetorischen Redeformen (quaestio, disputatio, lectio, oratio) und metaphorischer Gestaltung erlaubt es, das Material im Schnittfeld regulierter und pluraler Deutungen zu bearbeiten, und sie ist ein Ausweis dafür, dass dieser literarische Entwurf im Langen Ton von C die elementaren Redeformen nutzt und metaphorisch ‚übersteigt‘.244 Man kann wohl von einem eigenständigen poetologischen Verfahren sprechen, dessen Basis nicht in der Repetition traditionellen Wissens zu sehen ist, sondern in der je situativen ‚Anverwandlung‘,245 die streckenweise eben von jenen ausgefeilten Formen metaphorischer Rede geleistet wird. Am Beispiel des volkssprachlichen Namen-Denkens, genutzt wird wieder die agonale Form der Rede, wird das Spektrum des bearbeiteten Wissens um eine sprachanalytische Perspektive erweitert. Diskursiviert wird die Relation von verbum und res significata (C 38) bzw. verbum und res, Bezeichnung und natürlichen, körperlichen Zuständen. Literarische Sprache ist nicht allein in einem definitorischen Sinn namengebend / bezeichnend, vielmehr wird sie als ein tentatives Instrument des Bedeutens kenntlich, wenn Bedeutungsspielräume und Verweisfunktion der Namen herausgearbeitet werden, wenn Namen differenziert werden und deren Bestimmtheit durch den jeweiligen Gebrauchszusammenhang markiert ist. 244

Zu den Eigentümlichkeiten ‚frauenlobischer Bildersprache‘ zuletzt Christoph Huber, gepartiret und geschrenket (2002). 245 Dicke / Eikelmann / Hasebrink, Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung (2006), S. 10f., betonen den Aufschlusswert solchen Wortmaterials, das sich im Schnittbereich von Rhetorik und Metaphorik befindet, für eine implizite Poetologie des Mittelalters. Metaphorische Rede in der Bezüglichkeit von Bildspender und Bildempfänger bzw. der Spannung denotierter und konnotierter Zeichenbedeutung ist religiöser Rede im Rahmen literarischer Formung vergleichbar – Redeformen der Annäherung an den fremden bzw. unerklärlichen Gegenstand, bei denen die substantielle Unähnlichkeit zum Motor des Bedeutens wird. Eingedenk der kritischen Überlegungen Hübners, Überlegungen (2004), sind metaphorische und religiöse Redeformen im Rahmen literarischer Bearbeitung auf einer Ebene zu sehen, insofern beide Redeformen auf die Ostentation des literarischen Deutungspotentials zielen. Metaphorische Rede im Langen Ton nutzt anders als religiöse Rede vorgegebene Bedeutungen; sie greift über den Zeichenträger / Bildempfänger auf uneindeutig referentialisierte Bildspenderbereiche zu. Religiöse Rede hingegen arbeitet sich an eingespeistem, biblisch bereits aufgeladenem Wissen ab, um eigener poetologischer Semantisierungen willen.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von J

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Wenn der Bereich der literarischen Auslegungsverpflichtung und die entsprechend demonstrierten literarischen Verfahren der Auslegung (C 40–47) auf die physiologischen Gegebenheiten befragt werden, dann geraten auch situatives Umfeld, kulturelle Einbettung und Handlungswirksamkeit in den Blick. Vielleicht darf man in einem heuristisch aufschlussreichen Sinne sagen, dass sich das Interesse von der Seite der vox auf die Seite der res verschiebt. Die diese Verschiebung steuernden Schlagworte sind art, wandel des Verhaltens und der Gesinnung, guot / Besitz, guot-Sein, muot mit den entsprechenden Derivaten sowie staete und êre und zuletzt sinne, witze und wille. Der Resonanzraum des Bedeuteten erweitert sich damit neben dem textuellen und versprachlichten Material um physiologische Vorgaben, die gleichermaßen eine Bedeutung erfahren und die einer Auslegung unterzogen werden müssen wegen ihrer anthropologischen und soziologischen Voraussetzungen. Auch hier wird der abstrakte Gedanke anschaulich am Beispiel von Gesinnungsstabilität und Gesinnungswandel und den sie bestimmenden mentalen Faktoren wie sinne, witze und wille (C 47). Es sind diese Stichworte, durch die der Gedanke der Auslegung vorausliegender kultureller bzw. textueller Bedingungsgefüge mit den streitbaren Kunstverständnissen und dem jeweiligen Meisterschaftsanspruch verbunden wird. So ist denn auch der Spruchdichter als normgebender Meister gezeichnet, der einen sozialen Anspruch verkörpert, indem er das menschliche Verhalten nicht nur als ein kulturell bestimmtes beschreibt, sondern es als ein artspezifisch positives, dem Verstand und dem Willen unterliegendes, handlungsorientiertes Verhalten kenntlich macht.246 Die Leistung dieser Argumentation besteht vor allem darin, dass der Unbeständigkeit und dem Wandel aufgrund der Deutungskompetenz die Stirn geboten werden kann. Die vernunftgesteuerte Auslegung kultureller Vorgaben und diskursiver Formationen markiert dabei den Meisterschaftsanspruch.

2.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von J

Das Frauenlobcorpus der Jenaer Liederhandschrift beginnt mit einer fragmentierten Strophe, weshalb die in J sonst übliche Nennung der Tonautorschaft fehlt.247 Die 53 Strophen im Langen Ton Frauenlobs sind in einen fortlaufenden Haupteintrag und in einen 246

Ein Gedanke, der weiter dimensioniert in der Handlungslehre des Thomas von Aquin, S. th. I–II q. 6–21 begegnet, wenn menschlicher Wille und Vernunft in einen Kausalzusammenhang gebracht werden, wenn die Rede vom vernunftgeleiteten Willen ist. Vgl. dazu Karl Mertens, Handlungslehre (2005). 247 Zur Frage der Fehlseiten vgl. Georg Holz, Jenaer Liederhandschrift I (1966), S. II, Erdmute Pickerodt-Uthleb, Jenaer Liederhandschrift (1975), S. 394f., Anm. 513, und Stackmann, GA 1, S. 62.

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Wissen und Meisterschaft

Nachtrag geschieden, welcher nicht an den Haupteintrag anschließt, sondern auf den Rändern der letzten drei Blätter (103r–106r) im unteren Drittel eingetragen ist. Insofern ist es formal unproblematisch, die beiden Strophengruppen im Nacheinander zu behandeln. Kohärente konzeptionelle Merkmale im Rahmen des gesamten Strophengefüges im Langen Ton auszumachen, wäre ein Wagnis, da man einen überindividuellen Entwurf unterstellen würde, der die zwar ungefähr zeitgleichen, aber dennoch von zwei Händen vorgenommenen Einträge,248 die ersten 23 Strophen des Hauptschreibers und die 30 Strophen des Nachtragsschreibers 4, zusammen sehen würde. Dem Komplex Einheitlichkeit abzulesen hieße, entweder eine Zusammenarbeit der beiden Schreiber oder herausragende analytische Fähigkeiten des Nachtragsschreibers zu unterstellen. Letzterer hätte rezipierend dem gesamten Strophengefüge ein einheitliches Bild gegeben. Sinnvollerweise sind deshalb zwei Strophengefüge im Langen Ton J 1–23 und J 24–53 zu analysieren, mit dem Ziel, die meisterschaftlichen Profile des Wissens zu erfassen.249 Die Bindungen zwischen den überlieferten Strophen sind thematisch und inhaltlich, bis auf die wîp-vrouwe-Strophen J 10–13 und J 27–33, überwiegend instabil.250 Erinnert seien zunächst die Themenbereiche, die in J zusammentreten: Es sind historische Beispielfälle, Debatten zum Recht, zu guot-muot, zur wîp-vrouwe-Thematik. Die Themenfelder der Polemik und der Panegyrik werden gestreift, ebenso der ordo-, der Verhaltensdiskurs und das Namen-Denken.251 Vier Einzelstrophen (J 9, 17, 24, 34) verbinden, im Sinne von Gelenkstrophen, unterschiedliche Strophengruppen miteinander, so dass sich fünf Abschnitte herauskristallisieren: Ein Block zur rechten Gesinnung (J 1–9), einer zu wîp-vrouwe-Thematik und Polemik gegen Frauenlob (J 10–17), einer mit panegyrischen Strophen (J 18–23), und im Bereich der Nachträge steht ein weiterer Block zur wîp-vrouwe-Thematik (J 25–33) vor einem fünften Block mit Ratschlägen und Reflexionen zum richtigen Verhalten (J 34–53). So durchquert denn auch das literarisierte explizite und implizite Wissen die Diskurse der Herrschaft, des Rechts, der Ethik, der Minne und der Kunst. Fragen der Relation 248

Die Schreiberverhältnisse erörtert eingehend Pickerodt-Uthleb, Jenaer Liederhandschrift (1995), S. 231–239. 249 Zu vier Strophen (J 2, 10, 39, 45) gibt es eine Parallele in C (C 34, 38, 44, 45); zu sieben Strophen (J 5, 31–33, 44, 50f.) eine in F (F 170, 112–114, 138, 121, 120) und zu vier Strophen (J 24, 27, 31f.) eine in k (k 70, 196, 194f.). Zu zwei Strophen, J 31 und J 32, gibt es sowohl in F als auch in k Parallelstrophen, die jeweils Teil eines Dreierbars sind (F 112–114 = J 31–33); (k 194, 195, 196 = J 31, 32, 27). Zum Vergleich der Parallelüberlieferung Kapitel IV.9. 250 Unter anderen Ausgangsbedingungen grenzen die GA und Beate Kellner, Vindelse (1998), S. 256, andere Strophengruppen bezogen auf die Strophen der wîp-vrouwe-Thematik ab. Kellner sieht J 14 zur ersten Überlieferungsgruppe J 10–13 gehörend und die GA ist bemüht, die Strophen der Manessischen Liederhandschrift in die Überlieferungsgruppen der Jenaer Liederhandschrift zur wîpvrouwe-Thematik zu integrieren, um das gesamte Material zusammenzustellen; sie bietet die Reihenfolge J 25–30; J 10–13; C 39; J 31–J 34; C 32, 33, 35, 47 und J 14–17. 251 Eine Übersicht zu den von mir entsprechend der Thematik geschiedenen Strophengruppen findet sich im Kapitel II.2.3.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von J

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von Gebenden und Nehmenden, Fragen der Weisheit, der Freigebigkeit und des Zwangs, der Treue und der Gewalt werden ebenso angesprochen wie das höfisch zentrale Problem der Gesinnungsstabilität, das schon in C eine Rolle spielte, und hier mit dem Wahrnehmungsproblem von Sein und Schein gekoppelt ist. Trotz thematischer Breite gibt es einen gemeinsamen Fokus für die beiden Strophengefüge J 1–23 und J 24–53: Entscheidungen für das richtige Verhalten, die richtige Gesinnung, das richtige Lob einerseits und andererseits das künstlerische Vermögen, alle diese Aspekte darzustellen, sind an die Bearbeitung und Deutung der aufgebotenen Wissensfacetten zwischen Real-, Literatur- und Heilsgeschichte gebunden. Wie diese semantische Orientierung der Strophengefüge mit der wîp-vrouwe-Thematik und der volksetymologischen, heilsgeschichtlichen Herleitung der drei weiblichen Namen maget, wip und vrouwe zusammenhängt, ist die Leitfrage für die Analyse des Strophengefüges im Langen Tons von J.

2.1

Verhaltenssteuerung durch Wissen, Unterweisung und Deutung (J 1–9)

Die drei zuerst überlieferten Strophen im Frauenlobcorpus von J partizipieren an einem intertextuellen historischen Wissen um Kaiser Justinian und Alexander den Großen, dessen Erzähltraditionen in der volkssprachlichen Chronistik und Epik ihren literarischen Ort haben.252 Drei Situationen exemplarischer Herrschaft werden neu kontextualisiert. Die erste Strophe bietet eine aus der deutschen „Kaiserchronik“ bekannte Episode zwischen Tarsilla und ihrem Mann, dem Kaiser Justinian.253 Inszeniert ist ein Gespräch, in dem Tarsilla rät, den Vasallen wohlgesonnen, freundschaftlich und ohne Zwang gegenüber zu treten.254 Die zweite narrative Strophe, das auf König Alexander und den Paradiesstein bezogene vanitas-Exempel, stellt die Klugheit (des weisen Mannes) als eine entscheidende Fähigkeit richtigen Handelns dar. Die dritte, ebenfalls narrative Strophe inszeniert eine Episode um die Königin von Indien, eine Giftmaid, König Alexander und einen klugen meister (J 3,11.19), welcher die Falschheit des Mädchens erkennt und Alexander hilft. Sie mündet in den Rat, sich klug, freigebig und freundschaftlich gegenüber den Vasallen zu verhalten. 252

Zu verweisen ist auf die „Kaiserchronik“, den „Alexanderroman“ des Pfaffen Lamprecht, den „Alexander“ Rudolfs von Ems und den „Alexander“ Ulrichs von Etzenbach. Vgl. zu den verschiedenen heteronomen Traditionssträngen der Alexanderdichtung zuletzt Marion Oswald, Gabe und Gewalt (2004), S. 57–59, dort auch die einschlägige Forschungsliteratur; s. daneben Florian Kragl, Die Weisheit des Fremden (2005). 253 „Kaiserchronik“, V.12813–12998; vgl dazu Friedrich Ohly, Sage und Legende (1968), S. 198–203. 254 Karl Stackmann, Tarsillas Rat (1980), analysiert diese Strophe im Vergleich mit der TarsillaEpisode der „Kaiserchronik“ und kommt zu dem Ergebnis, dass J 1 für ein elitäres Publikum bestimmt gewesen sein muss, für einen kleinen, mit einem literarischen Vorwissen ausgestatteten Kreis, der in der Lage gewesen ist, den Hiat zwischen dem verkürzt Gesagten und dem Gemeinten zu überbrücken, wobei Karl Stackmann voraussetzt, dass für die Rezeption von J die Kenntnis der „Kaiserchronik“ unabdingbare Voraussetzung des Verständnisses ist.

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Wissen und Meisterschaft

Narrativ meint, dass ein Ereignis in seinem Verlauf erinnert wird, wenn auch ein solches Erinnern im lyrischen Rahmen notwendig verkürzt ist. Das Epitheton „narrativ“ ist hier genau genommen eine Metapher für die ereignishafte Struktur des Strophigen. Gemeint ist aber zugleich auch ein eigenständiger Redetypus im Rahmen der Spruchdichtung, den eine Reihe von Strophen im „Wartburgkrieg“-Komplex aufweisen.255 Eine narrative Strophe wie J 1 erinnert eine literarische Erzählung, trägt diese als Subtext mit, doch wird der Plot auf wenige Sätze bzw. Einzelaussagen verkürzt. In jedem Fall transportiert eine Strophe dieses Typs ein Problem, einen situativen oder personalen Widerspruch, eine Alternative bzw. einen räumlichen, temporalen, ethischen oder anderweitig thematischen Gegensatz. Bei einer Einzelstrophe, die als relativ geschlossene Einheit lesbar ist, wird das Lösungsangebot im Abgesang sentenzhaft, imperativisch, mindestens aber appellierend formuliert. Ein epischer Handlungsgang ist nicht vorhanden, doch Stollen und Abgesang sind – anders als bei nichtnarrativen Spruchstrophen – bezüglich der Aussagelogik in ein Nacheinander geordnet. Im Blick auf diese drei ersten Strophen steht jeweils eine Herrschertugend im Brennpunkt der strophigen Aussagen: die Nächstenliebe (J 1), die Klugheit (J 2) und die Freigebigkeit (J 3 – milte[r] muot, V.19). Der Redegestus aller drei Strophen ist der der Unterweisung und des Rats. Tarsilla (J 1) und das Spruchdichter-Ich (J 2, J 3) werden in der Rolle des Ratgebers inszeniert, mit dem Unterschied, dass der Beratene jeweils ein anderer ist: eine literarische Figur in J 1 (der Kaiser Justinian), ein imaginierter Held in J 2 (hochgehegter dhegen, V.14) und die Fürsten in J 3. Das Unterweisen in seiner Linearität öffnet sich mehr und mehr auf ein zeitgenössisches Publikum hin, welches durch exemplarische Fälle aus der Geschichte in ein Einvernehmen mit dem Ratgeber gesetzt ist und so an den eigentlichen Gegenstand des Rats, den ich im idealen Verhalten sehe, herangeführt wird. Das mit diesen Strophen aufgerufene intertextuelle, chronikalische und epische Wissen um „Kaiserchronik“ und volkssprachliche Erzähltradition der Alexandervita ist, bedingt durch den Gattungswechsel, reduktionistisch, so dass die bedeutungstragenden narrativen Zusammenhänge im Rahmen der Prätexte nicht zu erkennen sind. Neu kontextualisiert sind Namen, Begriffe und ein episodisches Minimalprogramm aus Zustandsbeschreibung und -veränderung bzw. Zustandsbeschreibung und relativierendem Ratschlag. Karl Stackmann weist auf das Problem einer gattungsbedingten und möglicherweise stilistisch individuellen – frauenlobtypischen – Verkürzung epistemischer Aussagen hin, das ein adäquates Verständnis der Strophe unmöglich mache: Ohne das intertextuelle Wissen ließe sich der Sinn des Gemeinten aus der strophigen Gestalt nicht eruieren. Dem ist nichts hinzuzufügen.256 Doch ist mit dem Gattungswechsel eine Bear255

Vgl. zum Texttyp des narrativen Spruchs: Wenzel, Textkohärenz und Erzählprinzip (2005), zur Gattungsinterferenz von Epik und Lyrik erschien unlängst der Sammelband: Lyrische Narrationen, narrative Lyrik (Bleumer / Emmelius 2011). 256 Die Verfahren der Intertextualität, die in diesem Rahmen eine Rolle spielen, sind Selektion, Verkürzung, Neukontextualisierung und Umsemantisierung. Dazu einführend: Intertextualität

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beitung und, damit verbunden, eine (andere) textspezifische Semantisierung zu beobachten.257 Dem inszenierten Exempel vom Zwang ausübenden Tyrannen als einer extremen Verhaltensform – sogar der gut gemeinte Rat der Ehefrau erzürnt diesen Herrschertypus – steht der Rat entgegen, sich weise vor derlei Verhalten zu bewahren. Dieser allgemeingültige Rat zu klugem Verhalten im Umgang mit dem Nächsten wird durch das extreme Beispiel als ein sinnvoller Ratschlag kenntlich. Den intertextuellen und personellen Hintergrund für J 1 bildet der tyrannische Herrscher der „Kaiserchronik“, der sein Verhalten im epischen Rahmen dem Rat der Ehefrau folgend ändert. Als Ereignis im Sinne Lotmans258 wird die Bedeutung in einer für epische Texte typischen Form transportiert, insofern die Handlungsfigur im Verlauf der Narration der „Kaiserchronik“ über eine ideologische Grenze versetzt wird. Mit dem Gattungswechsel zur Spruchdichtung, speziell zum narrativen Spruch, erfolgt die Sinnsetzung auf andere Weise: Selten ändert der Handlungsträger sein Verhalten. Typischer sind alternative Aussagen, die von sentenzhaften Aussagen im Abgesang begleitet werden. Für J 1 gilt, dass die Figur des Tyrannen blass bleibt, das inszenierte Verhalten uneindeutig und der Ratschlag konsequenzlos. Die Sinnsetzung erfolgt auf anderem Wege: zum einen über den semantischen Kontrast der Figuren – Grimm und Zorn werden gegen die moralische Integrität der Ehefrau gesetzt – und zum anderen über die vier sentenzhaften Aussagen des Abgesangs – Die Minne verkehrt Hass und Neid! Der

(Broich / Pfister 1985), bes. S. 1–30, den Beitrag v. Manfred Pfister, Konzepte der Intertextualität; Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur (1990), S. 51–64. Vgl. auch Ulrike Draesner, Wege (1993), S. 26–65 u. S. 133–157; Jörg Helbig, Intertextualität (1996), S. 83–138, zu verschiedenen Arten intertextueller Markierung. Vgl. bezogen auf die Anwendbarkeit postmoderner Intertextualitätskonzepte für die mittelalterliche Literatur den kritischen Blick von Schnell, Autor und Werk (1998), S. 35–39. 257 In J 1 ist von einer grimmigen Hand die Rede. Sie wird so sehr gefürchtet, dass auf ihr Ansehen Anschläge verübt werden. Tarsilla gibt ihm [dem tyrannischen Herrscher] einen Rat, der diesen erzürnt: Die Angst [gemeint ist der, der Angst hat] will nicht [handeln], muss jedoch, wenn man [er oder der Dienstmann] Angst haben soll [gezwungen wird, Angst zu haben]. Der Sinn des siebten Verses und damit das angesprochene Verhältnis von Herrscher und Gefolgsmann wird retrospektiv mit dem Stichwort twanc (V.8) heller, weil sich erzwungenes Handeln gegen den Herrscher richten kann. Der biblische Spruch „Wer [andern] eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ (Spr. 26,27 [Qui fodit foveam incidet in eam. Prov. 26,27]) mag hier anklingen, erweitert aber den Sinn des Verses nicht wesentlich über das hinaus, was der Vers im Wortlaut zum Ausdruck bringt. Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Kettwig 1987–1880 [ND der Ausgabe Leipzig 1967], 5. Bde., Bd. 2, S. 153; Ignaz V. Zingerle, Die deutschen Sprichwörter im Mittelalter, Wien 1864, S. 60; Runow / Wenzel, Art. „Spruch, Spruchdichtung“ (wie Anm. 13), zu Spr. 26, 27, Sp. 1117. Freundschaft und Nächstenliebe dagegen, die Stichworte sind mynne (V.10), vriunt, holt (V.11), fördern ein gleichgeartetes Verhalten und verkehren Hass und Neid, denn die Gefahr in der Nähe ist größer als die in der Ferne. 258 Jurij M. Lotman, Struktur (1993), S. 330–337.

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Dienst ist immer hart! Der Zwang kehrt sich gegen den, der ihn ausübt! Die Gefahr in der Nähe ist größer als die in der Ferne!259 Im Bereich der Frauenlob zugeschriebenen Strophen muss man damit rechnen, dass die Verse bis hinunter zum Satz bedeutungstragende Einheiten sind und diese häufig im Sinne eines Denkens in Stichworten aggregativ aneinander gebunden sind, so dass Spruchstrophenreihen eher als Kette aggregierter Aussagen denn als kausallogische Ketten zu lesen sind. Den Rezipienten verunsichert dieser Darstellungs- und Aussagenmodus, da sich weder eine kausale Logik aller strophigen Aussagen nachbilden lässt, noch ein einhelliger Bezugspunkt der Aussagen transparent wird, noch ein auf den ersten Blick kohärenter Aussageentwurf der Strophe.260 Die zu erbringende Abstraktionsleistung ist nicht unerheblich, und sie ist sicherlich auch ein Freifahrtschein für das, was Umberto Eco mit Skepsis zu den Grenzen der Interpretation gesagt hat. Fragmentierte Strophen wie J 1 erfordern einen Wechsel des analytischen Ansatzes von der allzu schnellen Konnotation zu den Präsuppositionen auf der Ebene der Lexeme, um einer möglichen Überinterpretation vorzubeugen. Präsupposition und Konnotation beschreiben verschiedene semantische Phänomene, insofern der erste Begriff die mittransportierte Bedeutung eines Wortes meint, der andere Begriff aber die vom Kontext der lexikalischen Einheit bzw. der Äußerung abhängige Nebenbedeutung.261 Im Prozess der Literarisierung bekommen vorausliegende diskursdifferente Informationen eine bestimmte Bedeutung, und das möglicherweise in Abwandlung zur eigentlichen Bedeutung. Hier ist der Platz z. B. für Metaphern, die weiter von der denotativen Bedeutung des Einzelzeichens abrücken als präsupponierte und konnotierte Informationen. Es ist allerdings gerade dieser Bereich, der den Rezipienten wegen der alternativen Lesarten, der Polyphonie der Bedeutungen, verunsichert, der aber zugleich den Text / die Strophe in seiner / ihrer Literarizität ausstellt. Wortbedeutungen interferieren miteinander, treten in einen Dialog im Bachtin’schen Sinn. Für J 1 sei das exemplarisch verfolgt: Die Strophe beginnt als Fragment und so bleibt der, um den es geht, ungenannt: ein er (V.3), der mit grymer hant (V.2) […], zu ergänzen wäre wohl /regiert/. Dieser Mann war so sehr gefürchtet, dass gegen seine ere (V.4) dicke wart geraten (V.5). Es geht um die gegen sein Ansehen (Konnotat /Position/) gerichteten feindlichen Absichten. Präsupponiert ist die Information, dass die Furcht vor 259

Unterstützt wird diese Lesart von homologen Strukturen im Rahmen der Strophe, denn offensichtlich gibt es analog zum personalen Kontrast weitere bedeutungstragende Kontraste in den Stollen und im Abgesang: Grimmiges, furchteinflößendes Handeln und treuer Rat (erster Stollen) stehen einander genauso gegenüber wie Zwang, Drohungen und Minne (zweiter Stollen). Im Abgesang sind es Hass, Neid vs. Minne und erzwungener Dienst vs. ein Sich-davor-Bewahren. 260 Zu diesem stilistisch-semantischen Problembereich der Sangspruchdichtung vgl. Karl Stackmann, Heinrich von Mügeln (1958), S. 155–170. Jens Haustein, Autopoietische Freiheit (1997), S. 105f., spricht davon, dass die Fülle von scheinbar uneinheitlichen Elementen eine Welt jenseits vertrauter Relationen erzeugt, die das Unzusammenhängende stilistisch durch Vergleiche, Metaphern, Assoziationen und Konnotationen zusammenfügt. 261 Umberto Eco, Grenzen (1999), S. 360–397, besonders S. 367–369.

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einem Mann (Konnotat /Herrscher/) feindliche Absichten gegen ihn hervorruft. Gerade deswegen, es wäre zu ergänzen: Um ihm zu helfen, unterweist ihn seine Frau: […], doch gab ym eine lere / Tarsilla gGt syn eygen wip (V.5f.). Vorausgesetzt wird die Information, dass Tarsilla eine gute und damit auch eine treue Ehefrau ist, die in der Lage und klug genug ist, ihren Mann zu unterweisen. Der Ehemann reagiert zornig auf den Rat (V.6). Vorausgesetzt wird die Information, dass der Mann sich vom Affekt des Zorns leiten lässt. Der Rat Tarsillas schließt ohne Zäsur mit dem zweiten Stollen an: sie sprach: […]. Präsupponiert ist die Tatsache, dass Tarsilla zum Ratgeben befähigt ist, was in der Nebenbedeutung heißt, dass ihr Rat vom Tun und vom Willen des Beratenen unbeeinflusst ist. Folgt man den vorausgesetzten und den konnotierten Informationen, stellen diese wenigen Verse von J 1 das Lob des treuen, starken und klugen Ratgebers heraus, das mit dem expliziten Rat Tarsillas zu klugem und zwangfreiem Verhalten gegenüber den Untergebenen nochmals bestätigt wird. Allerdings ginge diese Facette der Interpretationen verloren, wenn die Analyse sich allein von der Figur des Protagonisten und dem Inhalt des Ratschlags leiten ließe und sich damit ausschließlich der Suche nach einem intertextuell codierten Sinn des Dargestellten zuwenden würde. Erhellen lässt sich zudem, warum das erste der drei Exempel eine Ehefrau in der Position des Ratgebers zeigt. Es ist ein Topos des mittelalterlichen Ehediskurses, dass eine gute Ehefrau immer auch eine treue Ehefrau ist.262 Mit diesem Wissen wird die Zugehörigkeit der Treue zum guten Ratgeben im Sinne präsuppositiven Wissens eingeführt, ohne dass es einer expliziten Begründung bedürfte. Das vanitas-Exempel (J 2) nimmt eine Episode aus der Alexander-Vita auf und verkürzt, bedingt durch den Gattungswechsel, deren narrative Aussage. Es bewahrt aber den narrativen Kern und den semantischen Gehalt. Exempel und Bewertung lassen sich analog zu den Intertexten beschreiben, ohne dass man für das Verständnis etwas assoziieren müsste: Alexander hat seine Macht bis an die Grenzen des Paradieses ausgebaut und bekommt dort einen Edelstein gereicht, den er aufwiegen soll. Es gibt keine Gegenlast, mit der dies zuwege zu bringen ist. Ein weiser Mann bedeckt den Stein mit Erde. Die moralisatio weist den dhegen (V.14) auf die Vergänglichkeit aller irdischen Güter hin. Im Strophenzusammenhang der Manessischen Liederhandschrift – C 34 ist parallel zu J 2 überliefert – sind es die dargestellten räumlichen Kontraste, die die Bedeutungssetzung lenken.263 Anderes gilt für J: Der strophige Konnex, gestiftet durch den narrati262

Zum Ehediskurs in der frühen Neuzeit vgl. exemplarisch die Monographien v. Manuel Braun, Ehe (2001), S. 121–157; Georges Duby, Frau (1990); Zu consesus und Treue der Ehegatten vgl. Rudolf Weigand, Liebe und Ehe (1993), bes. S. 59–61, 68f.; s. auch Karl Michaelis, Eherecht (1989); vgl. zur vormodernen Ehe Angenendt, Geschichte (2000), S. 269–288; für die Fülle an wichtigen Arbeiten zu dieser Thematik von Rüdiger Schnell, die zwischen 1982 und 2002 entstanden, verweise ich nur auf die jüngste Untersuchung: Schnell, Vormoderne Ehe (2002). 263 Vgl. die Interpretation von C 31–49 weiter oben. Im Rahmen der Forschung stand bislang C 34 im Schatten der sogenannten Selbstrühmungsstrophe C 32. Das vanitas-Exempel wurde von Ettmüller als Korrektur der Selbstrühmung gelesen. Wer sich hinter dem angesprochenen dhegen (J 2,14)

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ven Duktus der drei Exempelstrophen, der wiederkehrende belehrende Redegestus der jeweiligen Sprecher und die im Zentrum des Ratgebens stehenden Herrschertugenden legen eine andere (für den Strophenzusammenhang von J möglicherweise konzeptionelle) Stoßrichtung dieser zweiten Strophe nahe. Anstelle der loyalen Ehefrau ist es ein weiser Mann in der Nähe des Herrschers, der in der Rolle des Helfers und Ratgebers inszeniert ist und den Edelstein aufzuwiegen versteht. V.10–12 verdeutlichen, dass es allein der weise Mann ist, der die Aufgabe zu deuten und umzusetzen vermag. Er ist der kluge umsichtige Ratgeber, der den König (= dhegen (V.14–19)) belehrt, irdisches Dasein und Heilsgewissheit klug umzusetzen, da diesseitige Macht mit dem Tode vergeht. Und auch in der dritten Exempelstrophe wird einem Herrscher Hilfe zuteil. Es ist ein meyster (V.11), der die Gefahr für den Herrscher erkennt und ihn durch kluges Handeln davor bewahrt. Die Lehre im Abgesang schließt nahtlos an die narrative Situation um König Alexander und seinen geplanten Tod an; es ist ein Rat des Spruchdichters an die Fürsten, ihren Vasallen gegenüber Zwang zu meiden und sich klug vor feindlichen Absichten zu bewahren. Zielgerichtet im Sinne einer Aufforderung aller Herrscher ist mit Vers 19 ein Schluss der drei Exempelstrophen gefunden: Seid klug, freigebig und liebt euren Nächsten!, sam der meister larte. Dieser ostentative Verweis auf die (eigene) Fähigkeit des Spruchdichters in der Rolle des Weisheitslehrers verklammert retrospektiv die ersten drei Exempelstrophen von J im Sinne einer an alle Herrscher gerichteten Lehre des meisterlichen Spruchdichters. Auch wenn der Sprecher sich nicht selbst nennt, ist ein: sam ich, der meister, larte assoziierbar. Die beiden Folgestrophen (J 4, 5) zum Recht abstrahieren vom exemplarischen Fall; sie bieten Aussagen zu dem, was das Recht ist, und erklären die Fähigkeit des Unterscheidens zur Grundlage richtigen höfischen Verhaltens. Die Regeln richtigen Verhaltens speisen sich aus drei Referenzbereichen: aus dem natürlichen vorgegebenen Werden, aus der Liebe zum Nächsten und aus der Gottesliebe. Natur und Geist (in einem weiten Sinne), werden zu grundlegenden Rechtsbereichen erklärt, die in unhinterfragter Geltung jeder Rechtsentscheidung vorausliegen.264 Das Recht selbst entsteht in seinem verbirgt, blieb bei dieser Lesart unklar. Als Ironiesignal kann es im Horizont des Korrekturgedankens kaum verstanden werden. Kritisch dazu Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 267. 264 Udo Friedrich, Ordnungen (2002), S. 83–102, betont, dass für die Vormoderne nicht von einer Unterscheidung in Natur- und Geisteswissenschaften auszugehen ist, dass allenthalben versucht wird, einen dritten vermittelnden Bereich zwischen Natur und Geist auszumachen, um den Ort zu erfassen, an dem geistige und sachliche Faktoren des Wissens interferieren. Für die literarischen Meisterschaftsentwürfe im Bereich des Langen Tons treten neben die geistigen und sachlichen ethische Faktoren des Wissens, die vermittelnd, doch in erster Instanz relativierend funktionieren. Darüber hinaus sind es natürliche Maßstäbe, wie die Physis, die eine maßgebliche Rolle für jedwede Bewertung geistigen, sachlichen und ethischen Wissens spielen. Vgl. die weiter perspektivierten Ausführungen von Udo Friedrich, Weltmetaphorik und Wissensordnung (2009), S. 196, der u. a. auch den Vermittlungswegen nachgeht zwischen der frühneuzeitlichen Trennung eines Erfahrungswissens, das sich im Weltbild des Einzelnen sedimentiert, und einem allgemeinen Weltmodell, das Erklärungskonzepte der Wissenschaften integriert.

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Beginn aus dem Gegensatz von Eigenem und Fremdem, und es etabliert sich durch die Fähigkeit ethischen Unterscheidens.265 Recht ist somit Produkt einer agonalen Konstellation von Gewalt und Anstand. Dabei ist es nicht relevant, Eigenes gegenüber dem Fremden abzugrenzen. Das Fremde wird immer schon als Teil des Eigenen begriffen, und genau daher rührt die Notwendigkeit ethischen Unterscheidens. Das Stichwort der Gewalt ist ein Schlüsselwort der Rechtsstrophen. In J 5 sind es alternative Darstellungen, durch die die Begriffe Recht und Gewalt in ihrem Verhältnis genauer bestimmt werden:266 Zwei kulturell spezifische Situationen werden benannt, in denen Gewalt dem Recht entsprechend eingesetzt werden darf: in Situationen der Erziehung und der Rechtssorge – dort, wo das Unrecht überhandnimmt. Anarchische Gewalt und damit Unrecht kann durch die Fähigkeit der Unterscheidung erkannt und kanalisiert werden. Jedwede Rechtsentscheidung impliziert einen Machtanspruch, der legitimiert ist durch die Bindung an die natürliche, menschliche und göttliche Ordnung. Gewalt und Machtansprüche sind demnach rechtsfähig, wenn sie rational kanalisiert und auf die tzuht (J 5,7) durchsichtig bleiben. Rechtsentscheidungen sind hier als Entscheidungen richtigen Verhaltens dargestellt, nicht nur um zu legitimieren, dass zwischen Gutem und Schlechtem zu unterscheiden ist, sondern auch, um die Endgültigkeit einer Entscheidung gegen das Unrecht als eine machtvolle Rechtsentscheidung zu betonen. Die Rechtsstrophen verallgemeinern das Exemplarische der drei narrativen Strophen, insofern sie das ethisch richtige Verhalten als generalisierte Lebensregel ausstellen. Hier knüpfen J 6–8 an, indem sie das richtige als ein natürliches Verhalten explizieren. Sie thematisieren die Relation von Sein und Schein als ein konträres Innen und Außen.267 Es sieht so aus, als ob das objektiv Sichtbare nicht relevant sei, etwa der 265

Bei Thomas von Aquin, S. th. III suppl. 41,1 ad 3, etwa findet sich der Gedanke, dass das Naturrecht das durch die Sittlichkeit Vorgegebene meint, was wiederum gegenüber dem in der göttlichen Offenbarung gegebenen Gesetz positioniert ist. Damit kann sich das natürliche, situativ bedingte Recht zwar verändern, doch immer unter den Prämissen des positiv gesetzten (göttlichen) Rechts, vgl. Markus Gumann, Vom Ursprung der Erkenntnis (1999), S. 156–162, Ludger Oeing-Hanhoff, Mensch und Recht (1975), Naturgesetz und christliche Ethik (Henrich 1970), S. 26–36. 266 Recht und Gewalt sind in historischer Perspektive enggeführt. Vgl. H. Krause, Art. „Recht“, in: HRG IV (1990), Sp. 224–232; Konrad Dilger, Art. „Recht“ in: LexMA VII (1995), Sp. 510–518. Die positive Bewertung der Gewalt als einer im Sinne des Rechts eingesetzten Macht hat mit der nachparadiesischen Hybris des Menschen, dem Begehren von Herrschaft, nichts gemein. zur Gewaltherrschaft nach dem Sündenfall im Blick auf Augustinus, Schreiner, Sündenfall (1992), S. 44f. 267 Es ist natürlich, wenn die Frucht sich dem Stamm entsprechend bildet (J 4,6), doch im Sinne einer impliziten Gesellschaftsklage (J 6) ist dieses Verhältnis nicht in jedem Fall evident. Denn obgleich die Frucht nach ihrem edlen Ursprung gebildet wurde, können die Blätter welk sein (J 6,2f.). Das sich anschließende Bild vom ärmlichen Kleid der houch gernde[n] bruste greift diesen Hiat auf (J 6,6). Und noch mehr: Mit der Kleider- und der Baummetapher wird ein Bildfeld eröffnet, das die Diskrepanz von Sein und Schein thematisiert und zugleich die Bedingungen dieser Diskrepanz umschreibt. Denn das der Natur entlehnte Bild vom Baum, dem syn saf daz beste / myt vruchten vrumt (J 6,4f.), der gute Frucht erzeugt bei gleichzeitigem Rückgang des Blattwerks (J 6,3), weist den Ursprung herausragenden Verhaltens als fruchtbringenden Hort der Tugend aus. Die Linearität hinter

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graue Bart (V.7) oder die Lache Wasser (V.9), sondern einzig das, was von Innen herausstrebt: der junge Sinn (V.7) und das klare Wasser (V.8).268 In vergleichbarer Weise ist die Kleidermetaphorik funktionalisiert, und ihre Konnotationen des Verkleidens und Verdeckens ethischer Werte werden ein weiteres Mal bildhaft in einem Vergleich von Pfau und Kranich.269 Äußere Schönheit und Flugvermögen bei Pfau und Kranich sind chiastisch angelegt. Durch dieses Bild wird die Diskrepanz von Sein und Schein erneut anschaulich und das Können kann als ein nicht sichtbares Vermögen ausgewiesen werden, ebenso wie körperlicher Adel und adliges Können entkoppelt zu denken sind.270 Die Bildfelder der Strophe sind mit einem Fürstenrat verbunden, der einerseits auf die Unterscheidungsfähigkeit und andererseits darauf zielt, gute Gesinnung (muot, V.11/16) unabhängig von der äußeren Erscheinung des Einzelnen zu erkennen. So ist denn die weitere Reflexion zur Gesinnung sowohl durch die Idee der Gewalt, als einem legitimen Rechtsmittel, als und durch die Dominanz innerer Güte gegen den äußeren Schein bestimmt. Die mit den Rechtsstrophen ins Licht gerückte Grundhaltung ethischen Verhaltens ist damit auf ihren Ursprung, das dem Menschen inhärente Gute, durchsichtig. Die Strophe J 7 setzt den Fürstenrat bilderreich fort. Anhand von zwei Bildfeldern und einem narrativen Plot wird der Gedanke der guten Gesinnung aufgegriffen, der sich in der Freigebigkeit der Fürsten niederschlagen soll. Die Argumentation, die der Rat entfaltet, stellt vier Aussagen in ein Nacheinander, bevor sie in eine indirekte Schelte mündet: 1. Freigebigkeit des Elfenbeins,271 2. Freigebigkeit des Magnetsteins,272 3. den

der Baummetapher ist im Horizont der Metaphorik von C 33 zu sehen. Betont wird hier allerdings der verborgene Ursprung des strebsamen Guten. 268 In einer impliziten Wendung an die Fürsten ist diejenige Tat zu loben, die aus dem Herzen kommt und durch die Gesinnung geleitet wird (J 6,10–12). 269 Zur Relation von Sein und Schein bezogen auf den Pfau vgl. Die Fabeln des Mittelalters (Dicke / Grubmüller 1987), Nr. 362: Kranich und Pfau, S. 412–414, Walter Röll, Den phawen (1989), s. auch Bernd Steinbauer, Art. „Kranich“, in: EM 8 (1996), Sp. 326–329. Traditionelle Darstellungen des Pfaus seit der Antike betonen die Selbstdarstellung des Pfaus, vgl. Plinius, Historia naturalis, Bd. 10, 43f.; daneben gilt der Pfau als Symbol der Unsterblichkeit. Der Physiologus (Seel, 2005), Art. 53, hebt den Gegensatz von schönem Kleid und hässlichen Füßen hervor; das Motiv der hässlichen Füße und der kreischenden Stimme ist in der neuzeitlichen Fabeldichtung beliebt, ebd. S. 121. Vgl. auch Julia Zimmermann, Pfauensymbolik (2011). 270 Die Bilderfülle der Strophe mündet in ein explizites Lob der Kühnheit, die im intratextuellen Rekurs auf die der Natur und dem Tierreich entlehnten Bilder ihren Ort im Tugendhort des Herzens hat. 271 Elfenbein ist freigebiger als die Mehrzahl der Herren. In seiner Eigenschaft zu kühlen, schützt es, indem es das auf ihm liegende Leinentuch im Feuer nicht verbrennen lässt. Der Rekurs auf das vasallische Dienst-Lohn-Verhältnis liegt auf der Hand, denn es ist die Freigebigkeit des Fürsten, die dessen Schutz vor feindlichen Angriffen durch die ihm nahestehenden Dienstleute bewirkt. 272 Der dem Eisen gegenüber freigebige Magnetstein ist ein Bild für die Maßlosigkeit der milte. Denn so wie der Magnet in toto Anziehungskraft ist, so sollte ein Fürst in Gänze freigebig sein. Claude Lecouteux, Sage vom Magnetberg (1984); ders., Art. „Magnetberg“, in: EM 9 (1999), Sp. 24–27. Vgl. zur Maßlosigkeit der milte Strohschneider, Fürst und Sänger (2002), bes., S. 96–100, 104f.

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Geiz273 und 4. das törichte Verhalten.274 Geboten wird mit dem Verhalten des Königs Koridol ein Geschichtensubstrat, dessen pejorative Implikate als Wertungen des Geizigen aufscheinen, denn wer nicht freigebig ist, dem gilt der Tadel. Hinter dem schalc, den das Spruchdichter-Ich im letzten Vers anspricht, verbirgt sich nicht der Dienstmann, sondern der törichte Fürst. Die dezidierte Ermahnung zur Freigebigkeit und zum Schutz der Fama erweitert die lectio von J 1–6 um eine Verhaltensanweisung, und sie wird durch eine weitere Ermahnung (J 8) verstärkt im Sinne einer forcierten Aufforderung, sich richtig und weise zu verhalten.275 Die Erneuerung des herausragenden Verhaltens ist im Sinne der Wiederholung dieser Verhaltensformen dem Akt der Weisheit geschuldet. Dieser Gedanke gerinnt im dunklen Bild der glimmenden Asche des Traumes zur Form: sus wirket allen wisheit kunic / dich tzG des troumes aschen lunic (V.17f.). Der syntaktisch sperrige Satz und die Metapher troumes aschen lunic verbinden zwei Bildspenderbereiche miteinander. Die Metapher rekurriert auf den Traum als das Unwirkliche und zugleich auf den aus der Asche neu geborenen Vogel Phönix. Im gleichzeitigen Verweisen auf das Unwirkliche, (noch) nicht Konkrete des Traums,276 273

Ganz konträr dazu steht derjenige, der sich von anderen trotz seines Besitzes ernährt (V.11), der viel hat und immer noch mehr will (V.7). 274 Das Sprecher-Ich in diplomatischem Gestus tadelt nicht direkt, kennt aber einen Weg indirekter Schelte. Autorisiert wird diese Schelte durch die fiktive Gestalt des Königs Korniol und dessen Verhalten: Dieser König habe in ein Erdloch hineingerufen, aus dem später ein Schilfrohr gewachsen sei, das ihn als Esel entlarvt habe (V.15–19). Eine mögliche literarische Referenz ist mit der Midas-Sage von den Eselsohren gegeben: Midas spricht sich bei einem Wettstreit zwischen Pan und Apollo für Pan aus und wird daraufhin von Apollo mit Eselsohren bestraft. Obwohl er sie unter einer phrygischen Mütze verbirgt, bemerkt sie sein Barbier. Das Geheimnis drückt diesen so sehr, dass er es in ein Erdloch hineinflüstert. Doch später wuchs Schilf darüber und die Rohre des Schilfs flüsterten das Geheimnis in alle Winde. Vgl. Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. v. Peter Kern u. Alfred Ebenbauer, Berlin / New York 2003, Art. „Midas“, S. 401f. Dort auch der Verweis auf die Literarisierung der Sage in den „Metamorphosen“ Albrechts von Halberstadt. Korniol könnte möglicherweise eine Verballhornung sein im Bezug zu König Marke von Cornwell, mit der das törichte Verhalten des Königs (gegenüber Tristan und Isolde) konnotiert sein könnte, vgl. dazu GA 2, S. 743. Das Sprichwort vom Schall: So wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus, erhellt das abstruse Verhalten des Königs und dahinter das zu scheltende Verhalten des geizigen Fürsten. Zum Sprichwort: So wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder aus ihm heraus, vgl. Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon (wie Anm. 257), Bd. 4, Sp. 88: Wie der Schall einfährt, so fährt er auch wieder heraus; Es schallet auss dem Walde, wie es hinein schallet; Sp. 1769: Rieft mer gut in den Wald, so schalt’s em gut entgegen. 275 Ich paraphrasiere: Er solle sich treu, kühn und freigebig verhalten, über Unterscheidungskraft im Bereich des Rechts und der heldenhaften Tat verfügen und sich von minne (V.13), kiusche und sinnen (V.14) leiten lassen. Während der Umsetzung dieser adligen Qualifikationen werde ihn die wisheit (V.17) immer wieder neu erschaffen. Immerwährendes Lob und das Ansehen seines Namens sind dann von niemandem zu verkehren (V.19). 276 Siehe etwa Genesis 28,12; 31,11 oder 41,1–36: biblische Träume, die als auf Erfüllung zielende Vorhersagen gelten.

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und auf den Mythos vom Vogel Phönix,277 wird deutlich, dass der Anstoß der Veränderung in der Weisheit des Herrschers liegt. Es ist seine Weisheit, die ihn in seinem herausragenden auf adel und ere (V.1) gründenden Verhalten den anderen gegenüber immer wieder neu erschafft und konkretisiert. Bislang wurde das abstrakte Phänomen höfischer Gesinnung in der metaphorisch geformten lectio des Sprechers auf ihren mahnenden Impetus durchsichtig, der nicht nur als kompetenter Fürstenrat Geltung beanspruchte, sondern zugleich die stilistische Kompetenz des Sprechers ausstellte. In den Metaphernfeldern von innen und außen sowie von vorher und nachher bzw. Wachsen und Vergehen wird die literarische Arbeit anschaulich. Weltliches und göttliches Recht für den Hof, die Fürsten und den König ist in konkrete Verhaltensratschläge übersetzt. Das Recht rekurriert J 4 in seinem Ursprung auf die neuplatonischen Vorstellungen des natürlichen, immerwährenden Wachsens und Erschaffens (Naturgesetzlichkeit), so dass der Ratschlag und das Wort des Sprechers als gleichermaßen gesetzt und sich wandelnd imaginiert sind.278 Damit bezieht die immerwährende Mahnung des Sprechers in der Rolle des Gnomikers ihre Notwendigkeit aus dem Werden und Vergehen, dem Wandel des Verhaltens und aus dem Vorgang des damit geforderten permanenten Prüfens. Exemplarisch entwickelt wird dieses Prüfen anhand des rigorosen Verhaltens der Amazonen (hier damye, J 9,1) gegenüber ihren männlichen Nachkommen. Sie sind ein Beispiel für fundamentale Gendertrennung, insofern sie die männlichen Anteile der Gesellschaft ausgrenzen und abspalten. Das grundsätzlich Andere des männlichen Geschlechts wird in der Sozietät der Damie als Gefahr für das weibliche Geschlecht erkannt, die männlichen Nachkommen werden ausgesondert, unfrei aufgezogen und mit der Geschlechtsreife verbannt, so dass in der Konsequenz die Gefahr des Anderen vollständig ausgeschieden ist.279 Vor dieser Folie, dieser Maßgabe strenger gesellschaftlicher Regulierung, wird der Hiat schlechter und guter Menschen diskutiert, wobei das schlechte Verhalten über den Kotext als angeborenes Verhalten kenntlich wird. Im Blick auf das Verhalten der biderbe[…], das im Horizont der Spruchdichtung immer auch das Verhalten des biderben Meisters meint, werden im Abgesang der Strophe göttliche Allmacht und der Rat der Weisen kurzgeschlossen. Ich paraphrasiere: Gott dankt der Tugend; die üble Tat wird übel belohnt, Ansehen und Schande stehen konträr zueinander; für die Schande kann kein Lobgesang erklingen; Gott ist allgewaltig: er gab dem, dem zu geben war, und er nahm dem, dem zu nehmen war; Wort und Rat der Weisen folgen diesem Diktum. Es sind Gedankensplitter und Einzelworte, die in eklekti277

Vgl. Der Physiologus (Seel, 2005), Art. 7. Die Phönix-Sage mit ihrer Symbolik der Wiedergeburt begegnet in antikem Schrifttum seit Herodot (II,73); vgl. u. a. auch Plinius, Naturalis Historia, Bd. 10,4 und Ovid, Metamorphosen 15,382. 278 Huber, Alanus (1988), S. 189f. 279 Strukturell funktioniert der Vorgang der Differenzsetzung nach dem Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution, Greimas, Éléments (1970). Vgl. auch im Rekurs auf Greimas’ aktantielle Tiefenstruktur einer jeden Erzählung Warning, Formen (1978), S. 40.

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scher Folge Wissensbereiche assoziieren, ohne dass ein Bezug explizit oder eindeutig wäre.280 Durch die Rückbindung der Weisen und ihres Verhaltens an die göttliche Allgewalt ist ein Geltungsanspruch aufgestellt, der dem Diktum: got gab, got nam (J 9,19) folgt, so dass Worte und Unterscheidungsfähigkeit der Weisen im Bereich des Rats (der wisen wort J 9,19) absolute Geltung erhalten. Mir scheint, dass mit den ersten neun Strophen und hinter den dispersen Themen die Verfügungshoheit des Sprechers als einem Weisen aufscheint: Verfügbarkeit diskursiven Wissens aller Couleur, Verfügbarkeit der Unterscheidungsfähigkeit, des Urteilens, des Unterweisens. Auf der Ebene paradigmatischer Aussagen verknüpfen die Ideen der Unterscheidungsfähigkeit und der Gesinnung J 9 mit den vorangehenden Strophen. In der Quintessenz wird hier an die Notwendigkeit und die Fähigkeit zur Differenzierung der Gesinnung und zur Unterscheidung schlechten und guten Verhaltens appelliert, und zwar hinter dem forcierten Genderbeispiel der Damye, das zudem durch die Dominanz des Weiblich-Agonalen die höfisch-kulturellen Deutungsmuster (Frauendienst und Ehediskurs) stark verfremdet.281 Doch wird gerade dieses verfremdende Spiel im Grenzbereich von Nähe und Distanz, Gut und Schlecht zum Resonanzboden einer literarischen Aussage, die die Fähigkeit zur Unterscheidung als einen unumgänglichen Bestandteil menschlichen Verhaltens ausstellt.

2.2

Meisterschaft als sprachtheoretische Reflexion des Namens (J 10–12)

Mit dem vrouwen-Lob von J 10282 treten die Seinsformen des Weiblichen in den Vordergrund spruchmeisterlicher Reflexion. Es mag ein großer Schritt sein von der Dominanz des Weiblichen und der Verfremdung des Dienst-Lohn-Modells in J 9 zum Frauenlob. Doch schärft dieser Schritt den Blick für die Thematik des Weiblichen und den Kontrast der Weiblichkeitsmodelle. J 10 ist die erste der zwölf respektive vierzehn Strophen in zwei Blöcken (J 10–14 im Haupteintrag und J 25f. / 27–33 im Nachtrag) zu dieser Thematik. J 10f. sind als Disput zwischen einem nicht durch Beischrift ausgewiesenen Spruchdichter-Ich und einem durch Beischrift als Rumelant – C hat hier Regenbogen – ausgewiesenen Gegner insze280

Aufgerufen wird der Bereich göttlichen Rechts (got, V.13, V.19), der des höfischen Verhaltens (V.14–17), der der Sangeskunst (sanc, V.18) und der der Gelehrsamkeit (wissen, V.19). Mit dem Rekurs auf Iob I,21, ‚Gott hat gegeben, Gott hat genommen‘, wird biblisches Wissen um den Vergeltungsglauben, das in der biblischen Figur Iobs und ihrer Geschichte personalisiert und plastisch geworden ist, erinnert. Das Buch Iob als biblisches Weisheitsbuch steht in der Tradition des Streitgesprächs. Die Frage nach Ursprung, Differenz und Vergeltung guten (Freude) und schlechten (Leid) Verhaltens verhandelt es adversativ. Vgl. zur Gattung des Streitgesprächs wie Anm. 162. 281 Vgl. die Überlegungen Müllers zur Vermittlungsleistung des Literarischen zwischen den historisch und sozial konkreten Rahmenbedingungen der Wirklichkeitsaneignung und den imaginären Mustern der Wahrnehmung. Müller, Höfische Kompromisse (2007), S. 6–9, 17–20, 30, 40. 282 Eine Paralellstrophe zu C 38.

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niert. Es schließen sich eine weitere Gegen-, eine Schlichter- und eine nächste Gegenstrophe an (J 12–14), deren Funktion sich jeweils anhand der inszenierten stropheninternen Rede ablesen lässt. Denn anders als C inszeniert J den Streit um wip und vrouwe nicht auf der Metaebene; es gibt keine streng alternierenden Sprecherzuweisungen. Und anders als in C folgen mit J 15f. zwei Strophen, die thematisch nicht an J 10–14 anknüpfen, die jedoch den Redemodus des Dialogischen in Form einer Stilpolemik fortführen.283 Strophen und konzeptionelle Ausrichtung von J 10–14 hat Beate Kellner vorzüglich beschrieben,284 so dass ich mir eine eingehende Interpretation dieser Strophengruppe ersparen kann zugunsten einer Analyse des Strophengefüges aus der Perspektive der bislang wiederholt thematisierten Unterscheidungsfähigkeit mit Blick auf die Formen der Wissensbearbeitung. J 10 ist eine der beiden Programmstrophen des sogenannten „wîp-vrouwe-Streits“, und mit ihr wird im Rahmen der lyrischen Gattungen des Mittelalters exemplarisch vorgeführt, auf welche Weise der Möglichkeitsspielraum begrifflicher Reflexion abgeschritten werden kann. Das volkssprachliche namen-Denken285 bildet den diskursiven Horizont für die Begriffsreflexionen dieser und der folgenden Strophen. Der Preis des Namens vrouwe (V.1–4) ist ein traditionelles Motiv im Hohen Minnesang und in der Sangspruchdichtung,286 das in den Minnesprüchen Walthers, ob der ethischen Umwertung der Namen wîp und frowe, einer Bearbeitung im Sinne einer Umsemantisierung unterzogen wurde.287 Für J 10 bilden mindestens diese Bearbeitungsprozesse einen Teil des diskursiven Hintergrunds, vor dem die Begriffsreflexion gesehen werden muss. Das Lob der vrouwe rekurriert auf das traditionelle Lob der hêren frowe in der Minnelyrik, doch zugleich trägt die Bedeutungssetzung im ersten Stollen von J 10 bereits den volksetymologischen Implikaten des Namens vrouwe (= vro + we) als einem bedeutungsvermittelnden Signifikant Rechnung, da die physiologische und zugleich wertsemantische Unterscheidung von Liebe und Leid (V.5f.) auf die Unterscheidung der Wortbestandteile, auf das vro und das we des Namens rekurriert. Mit dieser Semantisierung werden die Seinsformen des Weiblichen unterschieden und zugleich wird der Name vrouwe als eine Gattungsbezeichnung etabliert: 1. vrouwe und wip sind physiologisch zur Liebe befähigt, doch nur die vrouwe verfügt über die Erfahrung des Schmerzes (leyde, V.5). 2. Der Name vrouwe benennt – geschlechtsdifferent – alle Seinsformen der weiblichen Art.

283

Dass dieser Redemodus im Rahmen mittelalterlich-literarischer Inszenierungen in der Regel agonal angelegt ist, dazu zuletzt Peter Strohschneider, Dialogischer Agon (2010). 284 Beate Kellner, Vindelse (1998), S. 265–268, im Anschluss an Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 200–214. Im Anschluss an Wachinger und darüber hinausweisend Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 245–337. 285 Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 22–45. 286 Vgl. Huber, ebd., S. 22; Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 185–340; Hübner, Lobblumen (2000), S. 289–390. 287 Siehe die Argumentation zu C 38.

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Damit stimmen anders als in C die Ergebnisse ethischer und physiologischer Differenzierungen überein.288 Die physiologisch fundierte Unterscheidung der Namen und die Funktionalisierung des Namens vrouwe als Gattungsbegriff werden als Leistung der Verstandeskraft des Spruchdichter-Ichs gebucht: wer merken kan / der volge myner witze / nach des rechts spitze! (V.8–10). Der Verstand bzw. die Klugheit markieren die aus dem Rezipientenkreis herausragende intellektuelle Position des Sprechers, der sich als derjenige geriert, dessen Klugheit auf die Wissensvermittlung zielt und sich dabei am Richtigen, das hier wohl für die Vernunft steht, orientiert. Eine nächste Differenzierung von vrouwe, wip und unwip stellt diese Leistung des Sprechers exemplarisch aus. Was zunächst unlogisch erscheint, dass unwip unter den vrouwen sind (V.7), wird nur im Rekurs auf die Gattungsvorstellung vrouwe verständlich. Die pejorative Dimension des schlechten wip mag hier mitgedacht sein; doch explizit erwähnt wird nur der Status der Schwangeren zwischen den Seinsstufen wip und vrouwe, lässt doch erst der Geburtsvorgang, hier umschrieben im wib myt berender we (V.11), das wip zu einer vrouwe werden. Die nachgereichte Erklärung fußt auf einer physiologischen Zustandsbeschreibung von wip, Gebärender und vrouwe. Die sprachtheoretische Frage im Anschluss an die Differenzierung der Seinsstufen ist die nach dem Namen, der die Ähnlichkeit mit der Sache am besten wiedergibt: e das eyn wib myt berender we vrouwenstGl besitze, / wi solde ir name geheizen syn, ob sich ir wandel wecket? (V.11f.). Diese Frage wird nicht sofort beantwortet. Sie mündet in die körperlich konkrete Metapher vom Schrein,289 der durch den Wandelnamen unwip (V.19) näher bestimmt wird. Sprachtheoretisch interessant ist an der Behauptung, unwip gebe es auch unter den vrouwen, dass sie aus zwei Perspektiven konkretisiert wird: Aus der Sicht des Gattungsnamens vrouwe liegt mit dem Namen unwip eine Seinsform des Wandels vor, die für die Gebärende und den Geburtsschmerz steht. Aus der Perspektive der weiblichen Seinsform vrouwe wird darauf verwiesen, dass es auch unter den vrouwen eine Form ethisch inkorrekten Verhaltens gibt – das Stichwort ist wanc, V.17, und genau diesem vrouwen-Typ wird der Name unwip zugewiesen. In ihrer Unbeständigkeit sind sie ethisch weder wip, noch auch vrouwen. Der Name unwip wird in der Metapher vom Schrein zu einem körperlich gedachten Gefäß, dass sowohl auf die Gebärende als auch auf eine moralisch nicht integere, eine wankelmütige Frau verweisen kann. 288

Dass physiologische Zeichen auf eine ethische Disposition schließen lassen, ist ein Gedanke, der bei Thomas von Aquin und dessen humanphysiologischem Ansatz – in der Folge der ethischen Prinzipien des Aristoteles – eine Rolle spielt und einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang aufgrund einer postulierten Ähnlichkeit der beiden Terme setzt. Fuchs, Zeichen und Wissen (1999), S. 201– 206. 289 Die schryn-Metapher (J 10,16) stellt Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 288, in einen rechtlichen Horizont und bringt die Gültigkeit ethischer Klassifikationen zum Ausdruck. Ich möchte die körperlich-räumliche Dimension dieser Metapher betonen, da mir hier eine Analogie zum im Langen Ton debattierten Möglichkeits(spiel-)raum des Sprachlichen in seiner Bindung an physiologische Vorgänge und Zustände vorzuliegen scheint.

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Wissen und Meisterschaft

In der Jenaer Liederhandschrift gilt anders als für Walther und anders als in C, dass die etymologischen Implikationen des Namens vrouwe den Namen prädestinieren für eine Fülle von Signifikationen. Der Name verweist nicht nur auf e i n e res, da eine Gleichsetzung von Namen und Sache etymologisch und physiologisch thematisiert wird. Der Name wird zu einem Gefäß für unterscheidbare Signifikate bzw. Denotate. Damit werden die Namen zu einer Sache des prüevens (V.7).290 Die Fähigkeit der Unterscheidung ist damit nicht nur an den Verhaltensformen orientiert, sondern sie ist auch von einem Wissen um die Bedeutung der Begriffe und Namen gesteuert. Die Ausstellung des zu lobenden (Gattungs-)Namens vrouwe (V.1–6) muss als Legitimation des Texttyps Frauenlob gelten; die Reaktion des Gegners (J 11) nimmt darauf Bezug. Diese Gegenbehauptung, die durch Sprecherbeischrift Rumelant zugewiesen wird, setzt das Lob des wib[…] name[n] über das vrouwenlob (V.1). Mit dem affirmativen Rekurs auf Walthers Hierarchisierung von wip und vrouwe (L 48,38f.) wird der Begriffsreflexion des ersten Sprechers eine Hierarchisierung entgegen gestellt, die die in J 10 entfalteten sprachtheoretischen und physiologischen Unterscheidungen nivelliert und auf das Lob der gGten wibe[…] (V.12) und der reynen wibe[…] (V.14) im Sinne eines absoluten, unhinterfragbaren Preises zielt. Befürwortet wird in dieser Gegenstrophe nicht der Vorgang meisterlicher Reflexion und Deutung, sondern der Vorgang des Lobens. Das praktische Lob des wibe name: wib ist ir erste nam (V.1: 19) um der Anerkennung willen: ungern ich sulher hulde enber (V.18) bestimmt zunächst die gegnerische Argumentation.291 Das Lob der wib etabliert damit nicht nur eine andere Sicht auf die meisterliche Namenreflexion, sondern auch eine andere Sicht auf den metasprachlichen Namen vrouwenlob. Das in diesem Namen konkret gewordene Programm ist dem Preis gegenüber instabil, wird ihm doch eine sprach- und begriffsorientierte Differenzierung und darüber hinaus jede moralische Wertung als Basis abgesprochen (V.2–5: kleyne oder grob, / kurtz oder lanc genennet, / swie manz joch bespennet / synt vrouwen wib, wib vrouwen 290

Diese Überlegungen stehen im diskursiven Netzwerk der scholastischen Zeichendebatte um den Bezug des Zeichens zur Wirklichkeit. Dass Nomina und Verben ihre Bedeutung je nach ihrer syntaktischen Einbindung erhalten, dass sie je etwas anderes supponieren können, ist ein weit verbreiteter und hier sicher relevanter Gedanke der zeitgenössischen Suppositionstheorie. Dieser Überlegung liegt der Gedanke nahe, dass die Bedeutung der Zeichen erst im Gebrauch erzeugt werde, ein Gedanke, der mit Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, Bd. 1, S. 7–85, analytische Relevanz erlangt, sich aber vor dem 13. Jahrhundert schon bei Anselm von Canterbury findet. Die aristotelische impositio-Theorie wird u. a. bei Thomas von Aquin handlungstheoretisch geformt, ein Wort werde dann zum Zeichen, wenn es eingesetzt, wenn es kommunikativ wirksam werde. Vgl. Fuchs, Zeichen und Wissen (1999), S. 103f., S. 120, S. 158f. Zur Suppositionstheorie Carlos A. Dufour, Lehre (1989), S. 161–286; Seung-Chan Park, Rezeption (1999), Kapitel 4.2 und passim auf S. 216–308. 291 Dem absolut gesetzten Preis entspricht die Minnediener-Rolle, in der das gegnerische Ich imaginiert ist, denn es geht weder um Tadel noch um Schelte noch um begriffliche Differenzierungen und Reflexionen. Dazu Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 300f.

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lib […]; V.8–10: […] wes / mGcht ich die baz der spruche, / daz ich rGge ir bruche?).292 Frauenpreis in dieser Perspektive ist absolut gesetzter, im Namen wip zur Form geronnener Lobpreis, der „weibliches Fehlverhalten als Gegenstand der Dichtung“293 ausspart und das Sprecher-Ich in die Rolle des Minnedieners stellt. Etabliert wird damit eine eindeutige Differenz zum mahnenden, belehrenden und reflexiven Gestus des ersten Sprechers.294 Insofern ist es nicht unbedingt abwegig, dass sich die folgende meisterliche Argumentation im Gefüge der wîp-vrouwe-Strophen in den Bereich heilsgeschichtlichen Wissens verschiebt, auch wenn dies zunächst die Überlegenheit des Namens wib zu untermauern scheint. Die Behauptung, dass wib der erste Name sei (J 11,19), wird retrospektiv mit dem narrativen Substrat zweier Bibelstellen (Io 2,1–11 und 19,26f.) aufgefüllt. Zwei neutestamentlich zentrale Ereignisse, die Hochzeit zu Kanaan und die Kreuzigung, bei denen Jesus seine Mutter mit wib angesprochen habe (J 12,12 und 12,19), werden genutzt, um die Vorrangstellung des Namens wib vor dem der vrouwe zu autorisieren. Das mariologische Argument und vor allem die Mutterschaft Mariens (V.5.15.19) werden als legitimierende heilsgeschichtliche Argumente der Vorrangstellung eingesetzt. Gleichviel, wer bislang die Vorrangstellung in dieser Auseinandersetzung zugewiesen bekam, gleichviel, dass der Redemodus der des Streits ist, Meisterschaft wird zunächst als reflexive Form des Namen-Denkens ausgestellt, bei der im Möglichkeitsspielraum des Literarischen adversative Positionen (J 10, 11, 12) wertfrei abgeschritten werden.

2.3

Fiktive Gegnerschaft als Folie des Meisterschaftsanspruchs (J 13–17)

Eine Schlichterstrophe und drei vornehmlich stilistische Invektiven bilden den Schluss dieses reflexiven Argumentationsblocks um Differenzierung und Legitimierung der Namen vrouwe und wib: Die Bezeichnung krieg (J 13,1) betont den agonalen Duktus der bisherigen Argumentation,295 doch geschieht dies nicht metasprachlich wie in C durch die alternierenden Sprecherbeischriften. Eher ist es so, dass sich die Argumente der Sprecher im Sinne aufeinanderfolgender, wenn auch gegensätzlicher Gedanken, die das Problem anders perspektivieren, zu einem Bild spannungsreicher Meisterschaftsansprüche zusammenfügen. In J 13 wird eine religiöse Perspektive präferiert, insofern es 292

Egidi, ebd., weist auf die Analogie zur rhetorischen Begrifflichkeit hin. Wenn dem Texttyp des Frauenpreises aber eine solche Fundierung abgesprochen wird, wenn der Sprecher der Strophe in Analogie zum Minnediener imaginiert wird, dann rückt der Frauenpreis selbst aus dem Bereich der Spruchdichtung in den des Minnesangs. 293 Egidi, ebd. 294 So gesehen hat man es hier mit einer Restitution des Dienst-Lohn-Modells zu tun, das durch die Gelenkstrophe J 9 zunächst verfremdet wurde. Das Frauenlob wiederum arbeitet gerade mit der Möglichkeit der Verfremdung kultureller Muster und Denkmodelle. 295 Vgl. Kellner / Strohschneider, Poetik des Krieges (2007).

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Wissen und Meisterschaft

sündhaft sei, vrouwen und wib myt ichte (V.5) zu scheiden, da ihre Namen, ihre Gestalten, ihre Leiber und Gliedmaßen von Gott in eyn[s] gesetzt seien (V.6). Aus moraltheologischer Perspektive wird die Unterscheidung der Namen in Bezug auf die von Gott gefügte Einheit der Sache / der Leiber als sündhaft und wider göttliches Recht disqualifiziert. Redemodus und Spruchdichterrolle statten diese Sichtweise mit der nötigen Geltung aus, nimmt doch das Sprecher-Ich die Rolle des (priesterlichen) Verkünders ein: nu horet, lat mich ü kunden (V.4). Auch hier, wie schon in C, imaginiert gerade das Reden im Sinne der predicatio eine Grenze,296 die moraltheologisch als unhinterfragbar gültige Grenze inszeniert wird. Aus sprachtheoretischer Sicht werden einem Leib (res) zwei Bezeichnungen (verba) zugeordnet, und das heißt zugleich auch, dass die Einsetzung der Namen willkürlich ist: Es sei (V.9–13) gleichgültig, welchen Namen man verwende, weil die Namen Synonyma seien. So wird ein sprachtheoretischer Fall moraltheologisch fundiert und gerechtfertigt, und dem Streit um die Differenzierung der Namen wird in der Quintessenz der Gegenstand entzogen: Statt einer Hierarchisierung wird eine Nivellierung präferiert. Die folgende polemische Strophe J 14 ist eine Invektive gegen den Stil, gegen Heynrich[s] Lob der vrowen (V.1). Zuerst wird der Gesang der alten Meister gepriesen, dann der Gesang / das künstlerische Vermögen Heinrichs diffamiert und zuletzt das SprecherIch als Richter performiert, der in direkter Rede einstiges und jetziges Lob vergleicht / misst (V.16), bewertet und hierarchisiert (V.17f.). Die Zeitstruktur, welche die Strophenaussage bestimmt, scheidet Einst und Jetzt, und sie ist mit den Namen Walther (V.3), Reinmar (V.4) und Heinrich (V.1) und dem Wissen um diese Namen semantisch besetzt, insofern die Namen adversativ gebraucht werden. Aktualisiert ist allerdings nur eine kulturgeschichtliche bzw. literaturgeschichtliche Wissensfacette, da mit der Nennung der Namen innerhalb dieser Strophe und mit dem Verweis auf das künstlerische Vermögen der Genannten im Bereich des Frauenlobs nur eine Bedeutung konstituiert wird. Mit der Aussage, vor Heinrichs Zeit habe es Frauenlob gegeben, wird der Name Frauenlob explizit als Bezeichnung eines Texttyps eingesetzt. Walther habe das Frauenlob schöner hervorgebracht und Reinmars Lob sei der Schmuck all derjenigen gewesen, die sich um das Lob der Frauen bemüht haben (V.2–5). Die Wertehierarchie zugunsten der alten Meister ordnet den Texttyp des Frauenlobs bereits den alten Meistern zu und lässt so den Gesang Heinrichs als epigonalen Gesang erscheinen. Stark pejorativ sind zudem die Bezeichnungen, die für das künstlerische Vermögen Heinrichs stehen: guft (V.6), mundes klechel (V.7), bac (V.11), torensyn, affenheit, narren wyn (V.12), womit seiner Kunstform der Anspruch auf Frauenlob und implizit auch die Eigensignatur im Namen aberkannt werden. Der damit etablierte starke Gegensatz weist auf einen bereits existierenden Kunstraum hin, in dem den alten Meistern und dem Texttyp Frauenlob ein Platz bereitet wurde (si han myt sange in eren hobe dem vrouwenlobe gebenket, V.19). Dieser Raum ist durch die Namen Walther und Reinmar besetzt, und dem genannten 296

Fohrmann, Textzugänge (1997), S. 220, spricht abstrakter von einer Form prophetischer Rede, die immer auf dasjenige hinter der Grenze verweise, ohne die Differenz endgültig abbauen zu können.

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Heinrich sowie seinem lob (V.15) bleibt der Zugang verwehrt: […] tzware ir sanges stange / wirt kegen dir tzG kampfe tragen […] (V.5f.). Der Aberkennung des Gegenstandes in J 13 und der Aberkennung von Texttyp und Namen in J 14 folgt eine Aberkennung stilistischer Eigenheiten und beanspruchten Wissens in J 15. Die Einsprüche richten sich hier erstens gegen das Auffinden der Mängel in vremder rede (V.1), zweitens gegen den Anspruch, Unmögliches zu leisten (Lehre mich einen Stummen zu grüßen, so dass dieser sich bedankt (V.4f.) sowie den Honig mittels Galle zu süßen); drittens gegen den Anspruch sprachlicher Exorbitanz analog göttlicher Allgewalt (2. Stollen: dem Donner Einhalt gebieten) und viertens gegen die künstlerische Bearbeitung kosmologischen Wissens (Abgesang). Der Redemodus dieser Strophe ist polemisch, ironisch und moraltheologisch drohend. Behauptet wird, dass die Rede des Angesprochenen nicht auf Gottes Huld ziele und so die Seele zugrunde richte: han sies genyez, / die got vGrstiez, / daz er dich mensche e werden liez, / daz wirt dire leit. der helle spiez / richt es dort an der sele dyn, ob du nicht kGmest tzG hulden (V.15–19).297 Die vierte Strophe, J 16, polemisiert gegen die Dunkelheit der rede (V.10) und deren Anspruch auf die Notwendigkeit einer Deutung. Die glose (V.11) der rede sei einsichtig und unverstellt, eine Bedeutung liege fraglos auf der Hand (V.12–14). Das Sprecher-Ich behauptet weiter, derjenige, der die list (V.16) der Glose und damit den tieferen Sinn erkenne, würde auch ihren sin (V.17) nicht übersehen. So dresche der Sprecher, was der andere, gegen den er polemisiert, gemäht hätte (V.18). Im Feld der Strophen des Langen Tons gibt es eine Reihe referentieller Aussagen, die in einen Bezug mit dieser Strophe gestellt werden könnten, doch sicher ist keiner dieser Bezüge. Auf welche rede (V.10) und welchen text (V.15) wird angespielt? Wer ist mit dem gougeler (V.7) gemeint und wer sind die merker (12)? Wer hat gemäht und wer drischt? Im Bereich der Strophen des Langen Tons gibt es mit C 36, dem Johannesrätsel, einer von Helmuth Thomas als unecht ausgeschiedenen Strophe, ein vergleichbares Beispiel für die Metapher vom Sähen und Mähen. Das Rätsel vom Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Häuptern (Apc 13,1) wird dort zur Mahd, die das Sprecher-Ich gesät hat, wenn es heißt: der künste mat, / hab ich gesat (C 36,15f.). Im Bildfeld vom Säen, Mähen und Dreschen des Korns, auf das sowohl C 36 als auch J 16 rekurrieren, ist eines sicher konnotiert, und das ist der Umgang mit den schriftlichen als auch mündlich tradierten Vorgaben, mit text und rede, mit Formen expliziten Wissens. Aufgerufen wird die Vorstellung vom Prozess der Bearbeitung, und es wird ebenfalls deutlich, dass sich der Meisterschaftsanspruch und die beanspruchte Vorrangstellung über Form und Grad der Bearbeitung definieren: über die Art und Weise des Aussäens von Wissen, über das Ernten des Wissens und über das Verfeinern des geernteten Wissens. In diesem Prozess ist die künstlerische Form der Darstellung notwendig auf Glossierung hin angelegt, um im Jargon von J 16 zu bleiben. 297

Vgl. Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 270–273, die Ausführungen zu möglichen Bezügen im Sinne eines „polemisch-parodistischen Zitats“ (S. 272) innerhalb des Frauenlobcorpus.

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Wissen und Meisterschaft

Das Sprecher-Ich von J 16 ist nun eines, das behauptet, das künstlerische Vermögen dessen, gegen den er polemisiert, sei nur scheinbar herausragend: sin übergulde (V.3) sei ein kunderfeit (V.1). Mag auch der Referenzbereich der sogenannten Selbstrühmungsstrophe unwahrscheinlich sein, wie Burghart Wachinger ausführt,298 so ist doch das Metaphernfeld des Vergoldens hier und dort aufgerufen. Im Referenzraum dieses Metaphernfeldes wird der Vorgang des Vergoldens299 als Vorgang der Gaukelei und der betrügerischen Täuschung (mich trouch, V.3) abgewertet. Durch die mit dem Namen von Vulde (V.5)300 und mit den merker[e] (V.12) heranzitierten Autoritäten – „echt“ oder nicht, scheint mir keine analytisch relevante Frage zu sein301 – wird die Position des Sprechers gegenüber dieser Gaukelei sowohl mit einem rechtlich als auch einem künstlerisch gesicherten Anspruch auf Geltung versehen. Aberkannt wird dem Gegner in letzter Konsequenz der Anspruch auf die Dunkelheit des Stils und damit wird zugleich bestritten, dass ein adäquates Verständnis künstlerischer Rede unmöglich sei. J 13–16 sind deutlich adversativ konstruiert, insofern sie alle Facetten frauenlobischer Meisterschaft negieren, sie damit allerdings ex negativo in ihrer Exzeptionalität geradezu ausstellen. J 17 überbrückt zwei thematisch distinkte Strophengruppen, jene Gruppe um „wîpvrouwe-Streit“ und Polemik gegen Frauenlob einerseits und andererseits eine Gruppe von sechs panegyrischen Strophen (J 18–23). Es sind im Haupteintrag die letzten sechs Strophen im Langen Ton. Der Redemodus von J 17 ist dialogisch. Gegenstand des Gespräches zwischen einem Meister und seinem Lehrling sind die huldvolle Anerkennung des meisterlichen Sprecher-Ichs im Akt der Kommendation (Nu hulde myr, ich wil dich hie tzG knechte untfan!, V.1 – myne hande beyde / wil ich ü valten […] (V.4f.) und dessen vier Ratschläge zur Sangeskunst, die der Lehrling affirmiert – ich tGn (V.19). Im intratextuellen Zusammenhang der J-Strophen, insbesondere mit Blick auf die vorangehenden vier Invektiven (J 13–16), ostendieren diese vier Ratschläge eine Vorstellung meisterlichen Tuns, die sowohl auf die formalen Regeln des Gesangs (Ton, Metrik und Reim) zielt als auch auf die rationale Fundierung der Bearbeitung spruchdichterischen 298

Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 273–275, hier S. 275. In C 32 ist damit das künstlerische Überarbeiten im Sinne des Überhöhens gemeint. 300 Wer historisch hinter diesem Namen steht, ist nicht eruierbar, dass es jedoch eine geistliche Autorität ist, wurde wahrscheinlich gemacht. Im Horizont des „Wartburgkrieg“-Komplexes, der auch von Wachinger nicht als literarischer Referenzbereich bestritten wird, ist in einer Erzählung des Tugendhaften Schreibers von einem Rechtsstreit zu Mainz die Rede, in dem dem Fuldaer Fürsten die Rechtswürde aberkannt wird, vgl. im Thüringer Fürstenton C 14, J 13, k 13. Möglicherweise besteht ein Bezug zum Mainzer Hoftag von 1184, wo der Abt Konrad von Fulda und der Erzbischof Philipp von Köln um den Vorrang stritten. „Beide Reichsfürsten glaubten beim Festgottesdienst Ansprüche auf den Ehrenplatz zur Linken des Kaisers zu haben: der Kölner Erzbischof als zweiter geistlicher Fürst im Reich, der Fuldaer Abt nach einem traditionellen Recht seines Klosters, dem zufolge ihm dieser Sitz auf allen Mainzer Hoftagen zukomme.“ Werner Rösener, Hoftage (2002), S. 373. 301 Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 275.

299

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Materials: mit sinne brich / in wehe[r] spruche (V.16f.); zu sanges sinne ebene sich (V.18). Die erneute Ausstellung der Verstandesleistung als einer Prämisse guter Kunst scheint mir eine klare Reaktion auf die Polemisierungen im Rahmen der vorangegangenen Strophen zu sein, und das inszenierte Lehrer-Schüler-Verhältnis unterstellt neben der Betonung des eigenen, der Vernunft entspringenden Vermögens die Ausbreitung und die Fortsetzung der meisterlichen Kunstform über den Einzelnen hinaus.302

2.4

Selbstbezüglichkeit des Lobs als Ausdruck der Meisterschaft (J 18–23)

J 18–23, eine explizit als Strophenverbund ausgewiesene Gruppe von sechs Strophen, bietet im Sinne der Gattung topische Formen des Herrscherlobs und ist insofern kaum spektakulär: Gelobt werden sechs norddeutsche Herren, der Erzbischof Giselbert von Bremen, Graf Otto von Ravensburg, Graf Gerhard von Hoya, Witzlav von Rügen, Herzog Heinrich von Mecklenburg und Graf Otto von Oldenburg.303 Der Wechsel allerdings vom spektakulären, kritikablen Frauen- zum Herrscherlob provoziert die Frage nach der Funktion der auf diese Weise differenzierten Lobrede. Ist hier eine Ausweichbewegung im Sängerstreit inszeniert, ein Wechsel auf das Feld etablierter Gegenstände? Oder werden im Rahmen des sich in dieser Strophengruppe wiederholenden Herrscherlobs der Texttyp und die laudative Rede als künstlerische Ausdrucksform verhandelt? Die Kunst selbst wird zum Gegenstand, wobei die Struktur der Darstellung und auch der Modus der Rede variant dargestellt sind: J 18 inszeniert in monologischer Rede ein Lob auf ein Gegenüber, das im Angesprochen-Werden plastisch wird, ganz im Gegensatz zum Sprecher, der nicht hervortritt. Die laudatio auf einen geistlichen Fürsten hebt Weisheit, Normiertheit geistlich-religiösen Verhaltens und Stabilität der Gesinnung im Bezug auf die Ausführung des geistlichen Amtes im Sinne von Rechtskonformität und Heilsvermittlung heraus.304 J 19 konturiert neben dem Gepriesenen ein Sprecher-Ich in seiner Rolle als Panegyrikus. Der Sprecher wird in der Rolle des Verfügungsberechtigten bezogen auf Lob und Tadel inszeniert, der durch göttliche Unterstützung, Lobrede

302

Auch in dieser letzten Strophe vor der panegyrischen Strophengruppe ist die Verstandesbildung des bearbeitenden Meisters an die Stelle des Minnedieners getreten, welcher reflexives Namen-Denken hinter den absolut gesetzten Frauenpreis im Namen wîp zurückgestellt hatte. 303 Interpretation dieser und Kommentare zu dieser Strophengruppe vgl. Stackmann, Redebluomen (1975); Obermaier, Nachtigallen (1995), S. 244–249; Harant, Poeta Faber (1997), S. 44–73; Hübner, Lobblumen (2000), S. 263–270, S. 277–279, einen Überblick über die Forschung zu einem möglichen genetischen Zusammenhang dieser Strophen S. 263f. Anm. 128, und Wachinger, Sangspruchdichtung (2007), S. 22–24. 304 Die stilistische Gestaltung, hier im besonderen die Genitivmetaphern, und den Bezug zum tu-esSchema des Marienpreises beschreibt Hübner, Lobblumen (2000), S. 264, eingehend.

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und Verstand vereint: unselde blib! / du macht by ym nicht scaffen. (V.8f.).305 Und so ist das Lob des Namens, vermittelt durch die dem Sprecher verliehene Vernunft, göttlichen Ursprungs. Der Sprecher ist der Erwählte, um dem Lob einen Namen zu geben, auch wenn der Bescheidenheitstopos gegenüber Herman dem Damen eine künstlerische Wertehierarchie nahelegt.306 Statt des süßen Lobes bei Herman Damen307 findet sich ein durch die Fülle der Körpermetaphern plastisch gewordenes Lob, das in der Metapher vom zu befüllenden Lobgefäß (V.18) in letzter Instanz auch eine Metapher für den Meisterschaftsanspruch des Sprecher-Ichs ist. Im Horizont der J-Strophen assoziiert diese Körpermetapher, dass der Name ein Gefäß verschiedener, gerade vom Sprecher beherrschter Bedeutungen sein kann. Namen und Redemodi erscheinen damit als kultur- bzw. literaturhistorische Vorgaben, die aktuell befüllbar sind und die in Gott und der von ihm geschenkten Vernunft einen Meisterschaftsanspruch bekunden. Die Huldigung höfisch-ritterlicher Vollkommenheit (J 20) baut auf einem Wissen der Intertexte Wolframs („Willehalm“ und „Parzival“) auf.308 Stichwortgebend sind der Minneschüler, die Tugendfarben, die Planeten (Astrologie), Rennewart, Held und Gral. Das intertextuelle Netz dieser Strophe ermöglicht gleichfalls eine Zusammenschau mit der Selvon-Vision des „Minneleichs“ (GA III,5 und III,9.13) über die Stichworte planeten (V.8) und complexie (V.12): Ist es hier die wisheit (V.12), so ist es dort der personalisierte Verstand (her sin, GA III,2,1), der gestaltend wirkt. Im intertextuellen Gefüge könnte man das Lob des tugendhaften Gegenübers als Leistung des Verstandes erfassen. 305

[…] die hohe gotes stiure / wibet ez in myner witce hamen, / daz ich in nennen mGz by namen (V.12–14). Das Motiv der hamus-Allegorie, das Kern, Trinität (1971), S. 39–43, andernorts für eine Frauenlobstrophe reklamiert, könnte hier literarisch bearbeitet sein, um eine lenkende Verbindung von Gottvater über den inkarnierten Sohn bis hin zum Sprecher zu inszenieren, der als letztes Stück dieser Angelschnur an der göttlichen Unterstützung teilhat, durch die wiederum dem Lob Anerkennung zuteil werden kann. 306 Zum intertextuellen Bezug dieser Strophe vgl. Karl Stackmann, Redebluomen (1975), S. 332–334. Stackmann zeichnet den Bezug der Lobstrophe J 19 und J 22 im Bereich des Wortes, der Wortverbindungen und der Bilder zu einem dreistrophigen Lob Herman Damens nach (HMS 3 VI,1–3): Aufgegriffen werden die Kleidermetapher (J 19,1), das Bild vom ‚Ehrenkäufer‘ (J 19,5f.), das Bild von der göttlichen Beteiligung (J 19,12f.), das Weben als Metapher für Dichten (J 19,13), gehiure (J 19,19), her Syn (J 22,2), die Verbindung von brynnen und lotich (J 22,3–5). In der Folge dazu Hübner, Lobblumen (2000), S. 265–267; s. auch Eva Kiepe-Willms, Art. „Damen, Herman“, in: 2 VL 2 (1980), Sp. 36–39. 307 Vgl. zur Preisstrophe Herman Damens auf Graf Otto von Ravensberg Hübner, Lobblumen (2000), S. 252–257; S. 252, Anm. 97, die Forschung zu dieser Strophe; zu den Parallen in J 19 vgl. S. 265– 267. Hübner zeigt daneben die Formen der Übernahme und Bearbeitung auf und kommt zu dem Schluss, dass der „Ehrgeiz, sich an Damens [dreistrophigem] Lob zu messen“, an dessen Sprachartistik und Poetologie orientiert sei, wobei Letzteres zum „poietischen Aspekt hin“ verschoben wäre, ebd. S. 267. 308 Eine zu den Auswüchsen der Gelehrsamkeit zählender regionalgeschichtlicher Versuch zur historischen Referenzfigur Graf Gerhards von Hoya wurde durch J 20 angereget: Cord Meyer, Der helt von der Hoye Gerhart und der Dichter Frauenlob. Höfische Kultur im Umkreis der Grafen von Hoya, Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 2002.

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Doch bleibt diese Deutung vage, da sie im Strophengefüge von J nur dann einen analytischen Anker hat, wenn man die im Zusammenhang mit dem Verfertigen der Worte und des Lobs auftauchenden Lexeme sinne, witze und wisheit synonym als verunftgesteuerte intellektuelle Fertigkeit des Meisters auffassen darf.309 J 21310 bietet eine poetologische Einleitung, in der Herz und Verstand das Lob gemeinsam schmieden.311 Die Metapher aus dem Prolog der „Goldenen Schmiede“ Konrads von Würzburg ist hier präsupponiert,312 doch zielt die Gestaltung des Lobs eher auf den sinnlichen Aus- bzw. Eindruck des Lobens, denn in einem zweiten Bild, dem des Weintrinkens (V.5f.), ist das Lob als sinnlicher Genuss imaginiert. Die zugleich aufgerufene Inkorporationsvorstellung ist möglicherweise als Reflex auf die Exkorporationsmetapher im Prolog der „Goldenen Schmiede“ gestaltet,313 und sie ist im Rekurs auf das Verhältnis von Spruchdichter und gepriesenem Fürst bearbeitet und deutlich erweitert. Der Spruchdichter in der Rolle eines das Lob dedizierenden Schenken tritt dem Fürsten in der Rolle des Kunstrichters entgegen. Sowohl die Präsumtionen, die mit den beiden höfischen Ämtern aufgerufen sind, als auch die vasallischen Prämissen der Relation von Spruchdichter und Fürst werden literarisch funktionalisiert für die Darstellung der Selbstbezüglichkeit meisterlicher Kunst. Zwar dediziert der Spruchdichter sein Lob dem Fürsten, er ist ihm von Amts wegen untergeben, jedoch schmeckt es diesem, so glaubt das Sprecher-Ich, aufgrund der ausgezeichneten Qualität. Das SpruchdichterIch kennt die Qualität seiner Kunst und nimmt die positive Reaktion hier vorweg.314 Es semantisiert seine ‚Gabe‘, wertet sie qualitativ auf im Bild des Wohlgeschmacks.315 Die Semiose der Gabe wird mit dem Vorgang der Inkorporation vereindeutigt: Dass die gebotene Kunst gefällt, wird genau semantisiert, tritt sie doch durch den Körper des 309

Auch wenn Hübner, Lobblumen (2000), S. 264, dieser Strophe jede Selbstbezüglichkeit abspricht, explizit ist dies richtig, wird der Meisterschaftsanspruch nicht nur stilistisch, sondern auch im verarbeiteten Wissen konturiert. Ebd., S. 265, zum geblümten Stil dieser Strophe. Hübner macht bei der Beschreibung der laudatio auf die agreggativ gereihten, metaphorischen Kleinszenarien des ersten Stollens aufmerksam, in denen personifizierte Qualitäten des Gepriesenen (hier êre, V.1; scham, V.5; tugent) in Aktion gezeigt werden: das Ansehen tanzt mit dem Gepriesenen, die Scham spielt mit seinem Anstand und die Tugend malt die Farben der Treue an seine Stirn. Stilmerkmale wie die Antonomasie (V.15) und die Verbmetapher gralet (V.19) sind Ausdruck der Sprachartistik von J 20. 310 Zu dieser Strophe und ihren intertextuellen Bezügen s. Stackmann, Redebluomen (1975), S. 335f. 311 Hübner, Lobblumen (2000), S. 263, weist darauf hin, dass J 21–23 anders als J 18–20 poetologisch reflexiv werden. Es sind nicht nur drei „poetologische Einleitungen“, J 23 ist als ganze Strophe ein Reflex auf die Gestaltung des Texttyps. 312 Konrad von Würzburg, „Goldene Schmiede“, V.7–13. Zum Prolog der „Goldenen Schmiede“ zuletzt Mireille Schnyder, Poetik des Marienlobs (1996). 313 Konrad von Würzburg, „Goldene Schmiede“, V.1–15. 314 Zu diesem Spiel und der lexikalischen Mehrdeutigkeit der Schenkenmetapher auch Hübner, Lobblumen (2000), S. 268. 315 Zur Zeichenkraft der Gabe und ihrem hermeneutischen Potential vgl. die Analyse des AlexanderDarius-Briefwechsels aus dem „Straßburger Alexander“ von Marion Oswald, Gabe und Gewalt (2004), S. 78–89.

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Gepriesenen hindurch in den Raum der Sichtbarkeit. Die Vereindeutigung ist nicht von ungefähr durch die Stichworte der Inkorporation und Wandlung nähergebracht; die strukturellen Parallelen zum Abendmahl sind deutlich. Die damit einhergehende Transzendierung des Lobs bestätigt den Rang des künstlerischen Vermögens. Der Gedanke der Inkorporation wiederholt sich in der Behauptung, dass alles das, was genannt wurde, im Gepriesenen stecke (V.19). Ausgestellt wird auf diesem Wege ein sprachlicher Meisterschaftsanspruch, der in hohem Maße selbstreflexiv ist, denn erst das Lob konturiert den Gepriesenen, wird dann von diesem inkorporiert, um ihn, dessen Name geehrt wird, vollkommen auszufüllen. Wenn der Verstand mit dem Herzen koaliert, und zwar so, dass der Spruchdichter diese Instanzen für seine Absichten zu instrumentalisieren vermag: Grif, hertze, tzG unde hilf den synnen eyn lob smyden (J 22,1), zeigt sich die künstlerische Leistung des Lobens recht anschaulich und wiederum auf den Prolog der „Goldenen Schmiede“ rekurrierend.316 Wenn der Spruchdichter den Verstand zur bearbeitenden Gestaltung des Lobs und das Herz zu dessen Unterstützung auffordert, wird der Vorgang künstlerischer Gestaltung zum wiederholten Male sichtbar (wie schon in J 21,1–3). Die Metapher des Läuterns (brynnen, J 22,3) analogisiert das Loben der Metallveredlung. Der Versuch, ein vollendetes Lob zu erschaffen, zeigt sich im Bild des vierfachen reichen Lobs, das mit der Hitze des Verstandes außen, innen und an allen Seiten durch ein fünftes Lob gefestigt und veredelt wird. Und wenn das eigene Vermögen im Durchdringen des Geschaffenen noch einmal überboten werden soll, kann der künstlerische Anspruch in seiner Selbstbezogenheit und seiner Exorbitanz kaum mehr größer sein. Es ist die Erfahrung des Schöpferischen, die hier wiederholt wird und die, obgleich sie dem Verstand und dem Herzen entspringt, die laudatio als Redeform in ihrer Ursache und in ihrer Wirkung formt.317 Im Rückblick auf die fünf panegyrischen Strophen J 18–22 ist es die stilistische Bandbreite des Lobs, die ausgestellt wird. Wenn auch das metaphorische Inventar des Lobs topisch ist, so ist doch seine Inszenierung nicht gleichförmig. Der Modus der Rede reicht vom monologischen Preis des Gegenübers über den erzählenden unpersönlichen Preis und das selbstreflexive Lob bis hin zum Lob durch die personalisierte ratio. Ebenso vielgestaltig ist der Gegenstand des Lobs. Sind es zum einen religiöse Tugenden eines geistlichen Fürsten oder körperlich sichtbare höfische Tugenden bzw. angeborene 316

In dialogischer Redekonstellation werden ganz offensichtlich wechselnde Sprecher inszeniert, das Ich (V.1–9), ein Wir (Herz und Verstand, V.10–12) und wieder das Ich (V.13–19). 317 Es ist mit Hübner, Lobblumen (2000), S. 268, nur folgerichtig, dass hier ein fünffacher Preis anstelle des Ruhms von fünf Fürsten ausgestellt ist. Verstandes- und Herzenskraft setzen die Aufforderung des Spruchdichters um (secht, dat tGn wir gerne; V.10): Sie konturieren den Gepriesenen als Schutz und Leitstern höfischer Sozietät. Das Lob schmückt das Ansehen, krönt die Tugend, kleidet hervorragend und es hat ein Herz, das im Namen Heinrich von Mecklenburg personalisiert wird. Insofern die topischen Preismetaphern Kranz, Krone und Kleid auf den Fürsten und ebenso auf den Texttyp des Lobs verweisen, kann man von der Selbstbezüglichkeit des Lobens sprechen. Gelobt werden der Fürst und das Lob an sich.

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Tugenden weltlicher Fürsten, so sind es zum anderen komplexe, um der Sache selbst willen gestaltete Lobformen, der lobenswerte Preis zum einen und zum anderen jenes Lob, das das Lob des herausragenden Namens nobilitiert. Diese Selbstbezüglichkeit wird in einem sechsten Lob (J 23) gesteigert. Nicht der zu Preisende wird ausgewählt, es ist das feinsinnige Lob, das im künstlerischen Repertoire gesucht, gefunden und vorgetragen wird. Das Stichwort (sanges) krame318 taucht im Langen Ton J 34,1 als (vunde) krame ein zweites Mal auf. Ebenfalls in J, im Rahmen des „Rätselspiels“ aus dem „Wartburgkrieg“-Komplex, ist der Spruchdichter als kramer inszeniert (Schwarzer Ton, J 27,3). Für den meisterlichen Anspruch scheint kramer ein zentraler Begriff zu sein, präsupponiert er doch Vorrat, Auswahl und Verfügbarkeit. Aus dem vorausliegenden Wissen wird eine Auswahl getroffen, und damit ist das präsentierte und bearbeitete Wissen per se selektiv. Insofern diesem Wissen der Status eines Fundes beigemessen wird, rekurriert es auf die inventio,319 die gemeinsam mit dem meisterlichen (Er-)Schaffen den Umgang mit den diskursiven Wissensfacetten bestimmt. Verfeinert wird die Vorstellung des Schöpferischen mit der metaphorischen Inszenierung des Dichtens als einem Prozess des Weingärens (J 23,5f.). Das Lob reift wiederum im Verstand, und es wird analog zu J 21 in vergleichbarer Weise ausgeschenkt; es wird zum Geschenk des Spruchdichters an diejenigen, denen wahrhaftiges Lob akustisch angenehm ist. Das Lob nimmt damit den Weg aus dem fürstlichen Abhängigkeitsverhältnis hinaus und hinein in die Gemeinde der ästhetisch anspruchsvollen Hörerschaft (J 23,6f.). Diese reziproke und exklusive Relation von dichterischem Gegenstand und Rezipientenkreis ist episch, sie erinnert an den „Tristan“-Prolog. Doch noch mehr geschieht mit diesem exzeptionellen Lob. Es ist nicht nur wahrhaftig (war, V.7), es ist auf besondere Weise geschmückt (wol getzieret, V.11). Auf die inventio folgt das zieren. Hübner spricht vom „charakteristische[n] Zweistufenmodell“ des Blümens.320 Die metaphorische Darstellung dieser herausragenden formalen Eigenheit des Lobes steht mit den Stichworten boume blGt (V.8) und meyen tzierde (V.9) sowohl in der Nähe zum topischen Natureingang des Minnesangs als auch in der des epischen locus amoenus. Der Ornat des Lobs wird über den Glanz des Frühlings gestellt und übertrifft auch den Glanz der Sonne (V.12). Darf man hier konjizieren, dass die meisterliche Exzeptionalität die der Nachbargattungen in ihrer Herausgehobenheit übertrifft? 318

Der eindimensionale Bezug von krame zum „Ehrenkäufer“ Herman Damens, wie ihn Hübner, Lobblumen (2000), S. 270 Anm. 143, beschreibt, ist für diese Metapher nicht aufschlussreich genug. Eine Interpretation dieser Strophe, ebd., S. 270–272. 319 Als erste der fünf Bearbeitungsphasen der Rede meint inventio das Erfinden im Sinne des Auffindens der Gedanken. Vgl. Manfred Kienpointner, Art. „Inventio“, in: HWR 4 (1998), Sp. 561–587, Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, S. 139–240. Vgl. jüngst Silvia Schmitz, Poetik der Adaptation (2007) zum Verfahren des Erneuerns und seiner Grundlegung in der Inventiolehre der lateinischen Poetiken. Rüdiger Krohn, Finden und Erfinden (1992), fokussiert v. a. volkssprachliche Beispiele der Verwendung von vunt und vinden in ihrer ambivalenten Bedeutung. 320 Hübner, Lobblumen (2000), S. 270.

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Jedenfalls werden im Metaphernfeld von Waage (wichtescal, V.13) und Stahl (tugende stal, V.17) ornatus und Wahrhaftigkeit miteinander verzahnt: Anhand der Oppositionen leicht und schwer sowie Rost und Strahlkraft werden äußere und innere Komponente, Geformtheit und Wahrhaftigkeit des vollkommenen Lobes, bildhaft miteinander verschränkt. Obwohl das stahlgleiche Gewicht der Tugend des Fürsten die Gewichtung des Lobs verstärkt, ist es dieses Lob, von dem das Glück des Fürsten abhängt (V.19). Das Lob hat nicht Teil an der Herausgehobenheit des Fürsten, vielmehr hat der Fürst Teil an der Exzeptionalität des Lobs. „Zur Debatte steht allein noch die ästhetische Qualität“ des Lobes, „die Qualität des [alten] Gegenstandes ist ihr im besten aller Fälle dienlich.“321 Eine solche Form der Ästhetisierung ist als Ästhetik der Klage bei Reinmar vertraut. Biegt sich der Gegenstand auf das Dichten zurück, wird dieses in seiner Beständigkeit nobilitiert. Der eigentliche Gegenstand ist sekundär. Was bei Reinmar zur ethischen Aufwertung des Sängers und zur ästhetischen Aufwertung der Kunstform des Trauerns führt, zeigt sich in J 23 als Aufwertung des Blümens im Sinne einer wahrhaftigen und anspruchsvollen künstlerischen Leistung. Der Wechsel vom Frauen- zum Herrscherlob ermöglicht es, das Lob als einen Texttyp der Wiederholung, Bearbeitung und der Selbstbezüglichkeit herauszustellen. Im Horizont epischer und lyrischer Diskurse, im Horizont der genannten Topoi wird mit dieser letzten Strophe im Haupteintrag des Langen Tons von J ein meisterlicher Anspruch ostendiert, der den Texttyp des Lobs selbst als herrscherliches Glück umschreibt. Der Texttyp des Herrscherlobs322, der im genus demonstrativum der Rhetorik seinen Platz hat, vereint auf besondere Weise die pragmatische Zweckbindung der Spruchdichtung und die poetologische Reflexionen miteinander. Stereotyp sind die Gegenstände des Lobs, die Thematisierung der immer gleichen Normen, die Schemata der Darstellung, die Exempla aus Antike, Bibel und Geschichte. Doch im Rahmen der sechs panegyrischen Strophen werden die graduellen Unterschiede in der Darstellung der Relation von Lob und Gelobtem sichtbar. Einerseits kann das Lob an die Qualitäten des zu Lobenden gebunden sein und vice versa323 – das Verhältnis von Lob und Fürst ist reziprok –, andererseits kann es reflexiv werden, so dass der Typus des Lobs zum Gegenstand

321

Hübner, Lobblumen (2000), S. 272. Vgl. die diskutierten Implikationen künstlerischer Selbstbezüglichkeit, ebd., S. 391–441. Wachinger thematisiert die pragmatische Dimension eines solchen Preisliedes, wenn er von einer „Kunstprobe“ oder einem „Lehrstücke“ spricht, das sowohl für Sangesschüler gemacht sein könnte, jedoch auch im Vortrag funktionieren mochte, etwa vor einem Kreis interessierter Kunstkenner. Wachinger verwendet für diese Form des Gebrauchs den Begriff der Umpragmatisierung, insofern der Kunstvortrag um der Sache selbst willen an die Stelle des dem Fürsten vorgetragenen Lobes tritt. Wachinger, Sangspruchdichtung (2007), S. 22–24. 322 Zum Typus panegyrischer Rede vgl. Rudolf Drux, Art. „Panegyricus“, in: RL 3 (2003), S. 5–8, Annette Georgi, Preisgedicht (1969); Zum Herrscherlob s. Hedda Ragotzky, Minnethematik (1989); Christoph Huber, Herrscherlob (1993); Haustein, Autopoietische Freiheit (1997); Peter Strohschneider, nu sehent (1996). 323 Siehe auch Haustein, Autopoietische Freiheit (1997), S. 101.

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einer panegyrischen Strophe wird und der Preis des zu Lobenden sich sekundär durch den Preis des Lobs bestimmt wie in J 23.324 Was geschieht intratextuell mit und durch diese panegyrische Strophengruppe im Verbund der J-Strophen im Langen Ton? Nun, zunächst ist das Herrscherlob ein topischer Gegenstand, der im Rahmen der Gattung zweifelsfrei geschätzt wird, so dass den Invektiven gegen die Dunkelheit des Stils die Spitze genommen ist. Eine weitere Form der Geltungssicherung künstlerischen Tuns sehe ich in den dezidierten und sich mit fortschreitendem Lob vermehrenden Hinweisen auf den Ursprung des künstlerischen Vermögens. Diese Hinweise knüpfen an eine in der Gelenkstrophe J 17 formulierte Regel künstlerischen Tuns an: Gemeint ist die Fundierung aller Bearbeitungsformen im Verstand. Die Bestätigung des künstlerischen Vermögens wird aber nicht nur mit der Wiederholung und Verknüpfung erreicht, sondern auch durch die Art und Weise der Darstellung des Lobs: In der forcierten, sich im Verlauf der Strophen steigernden Exploration des Lobs, sowohl als meisterlicher Sang als auch als Texttyp, sehe ich die aus der Strophengruppe um den „wîp-vrouwe-Streit“ bekannte Behauptung der Verfügungsgewalt über dieses Vermögen und diesen Texttyp bekräftigt, das auch dann, wenn (Frauen-)Lob vor Heinrichs Zeit gewesen ist. Die Argumente gegen Stil, Gegenstand und künstlerisches Vermögen aus den polemischen Strophen J 13–16 werden in der Vorführung varianten und vielgestaltigen Lobens unbedingt entkräftet. Trotz der impliziten, im Streit vorgelegten Einwände gegen das meisterliche Vermögen des Panegyrikus liegt es wohl auf der Hand, dass die ausgefalteten sprachtheoretischen Gedanken zum Namen als einer Gattungsbezeichnung und einer Bezeichnung für Seinsformen Gewicht haben, denn sie werden auch in den panegyrischen Strophen fortgesetzt. Namen wie wîp und vrouwe, aber auch Herrschernamen verweisen auf konkrete Seins- bzw. Verhaltensformen. Sie bezeichnen diese in einem Fall aufgrund der Proprietäten, die sich im Namen niederschlagen – etwa das vro-we –, so dass gesagt werden kann, die Bedeutung des Namens entspricht dem bezeichneten Gegenstand in seiner Charakteristik. Im anderen Fall ist die Bedeutung des Namens vom Denotat entkoppelt, und sie wird durch den Benennungs- sowie Beschreibungsvorgang im Lob erst erzeugt.325 Das Namen-Denken der wîp-vrouwe-Strophen arbeitet sich am historischen Verständnis des Namengebrauchs ab, indem es vorführt, dass Namen als Gefäß der Signifikation nur vermittelt auf ein Denotat verweisen. Die panegyrischen Strophen führen eine solche Form des Bezeichnens im Lob der idealen Qualifikationen der Fürs324

Vor dem Hintergrund der Relation von Fürst und Sänger beschreibt Huber das Herrscherlob als ein sekundäres Produkt des Selbstlobs, Huber, Herrscherlob (1993), S. 467. Der Begriff des Selbstlobs ist mit Blick auf den nicht einholbaren Subjektstatus des Spruchdicher-Ichs nicht unproblematisch. Eine Unterscheidung zwischen dem selbstbezüglichen Lob des Texttyps und dem ‚Selbstlob‘ ist angebracht, sind doch gerade die Bildfelder des Verkaufens, Speisens, Tränkens, Leuchtens und die Handwerksmetaphern (ebd., S. 464f.) auf den Texttyp des Lobens gerichtet. Huber selbst weist auf die Selbsbezüglichkeit des Lobs in der aristotelischen Rhetorik hin, die bereits in der Bezeichnung epideiktisch zu fassen ist, ebd. S. 467. 325 Eigennamen als arbiträre Benennungen überdenkt Draesner, Wege (1990), S. 149–156.

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ten vor.326 Neben der anschaulichen Gestaltung üblicher Bezeichnungspraxen scheint mir der Haupteintrag von J die abstrakte Tugend rechter Unterscheidung, die andernorts als bescheidenheit zu greifen ist, zu ventilieren. Die Fähigkeit der Unterscheidung jedenfalls ist an das Verhalten des Einzelnen und das Wissen des Spruchdichters gebunden. Die Bilder in J 19,19 und J 21,19 sind hier eindringlich, wenn das Lob als Gefäß spruchmeisterlicher Möglichkeiten thematisiert und der Körper als Gefäß des Lobes und zugleich als Gefäß herausragender Tugenden verstanden wird.327 Der Körper und der Verstand sind dabei Füllform und Möglichkeitsform zugleich. Sie beinhalten die herausragenden Tugenden, auch die zur Unterscheidung guten und schlechten Verhaltens, und sie sind aufnahmebereit für die rechten Worte des Lobs. In der Quintessenz ist das im Verstand verortete Herrscherlob selektiv gegenüber guten und schlechten Verhaltensformen, und es ist selektiv gestaltet im Blick auf ein bestimmtes Wissen. Zum anderen ist es selbst Gegenstand des Lobens. So rührt denn der Meisterschaftsanspruch aus einer Umkehr der heteronomen Bindungen (Fürst / Gönner), die im Lob der Kunst, im Preis des Lobens kulminiert.

2.5

Die Arbeit am Wissen zwischen religiöser und literarischer Rede (J 24)328

Im Strophengefüge des Langen Tons von J ist mit diesen Ergebnissen eine Frage naheliegend, und das ist die nach der Darstellung des vrouwen-Lobs als Ausdruck der Meisterschaft im Rahmen der Nachtragstrophen. Es geht nicht nur darum, welches Bild ‚frauenlobischer‘ meisterschaft mit den Formen der Wissensverarbeitung, -präsentation und -vermittlung hervorgerufen wird, sondern auch darum, wie die literarische Bearbeitung des Wissens mit dem Texttyp des Lobs korreliert. Der Nachtrag wird von einer Gebetsstrophe zur Transsubstantiation eröffnet (J 24). Es folgt ein Strophenblock, der thematisch dem wîp-vrouwe-Komplex zugehört (J 25– 33), und ein anderer, der den Bereich des höfischen Verhaltens ausleuchtet (J 35–53). Zwischen diesen Blöcken steht eine poetologische Strophe (J 34), in der das Spruchdichter-Ich über seine künstlerischen Möglichkeiten reflektiert. Der Strophenverbund zum höfischen Verhalten integriert immer wieder, besonders in den Strophen J 51 und 326

Insofern die Kennzeichnungen, die dem Namen im Lob adressiert werden, das Denotat überdauern können, tritt das Sprachzeichen in den Raum der Traditionsbildung ein. Vgl. dazu Kapitel V.1. und V.3. 327 Peter von Moos, Geschichte als Topik (21996), S. XXVI, wies bereits darauf hin, dass die Heldenkörper der Vormoderne – ein paradigmatischer Fall ist Iwein – ‚Knotenpunkt‘ und ‚Gefäß‘ von zuschreibbaren Taten waren. 328 Vgl. die Beiträge und die umfangreiche Bibliografie des Bandes: Probleme religiöser Sprache (Kaempfert 1983). Zu den Interferenzen dieser Redeformen vgl. den Tagungsband des DFGSymposions 2006: Literarische und religiöse Kommunikation (Strohschneider 2009), bes. den Beitrag von Klaus Grubmüller, Autorität und meisterschaft, der die literarische Rede des Gebets mit den Chancen der Spruchdichter-Selbstdarstellung verrechnet.

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53, poetologische Überlegungen, die dem Motiv des guot-umbe-êre-Nehmens verpflichtet sind und somit das Verhältnis von Kunst und Macht, personalisiert durch den Spruchdichter und den Fürsten, überdenken. Die Gebetsstrophe J 24, die unter der Bezeichnung Frauenlobs Sterbegebet bekannt ist,329 ist eine Strophe, in der sich der Betende kurz vor seinem Tode seinem Schöpfergott zuwendet und ihn um Vergebung der Sünden bittet. Sie hat thematisch nichts mit dem Lob der verschiedenen Seinsformen des Weiblichen zu tun (J 25–33). Es ist eine Strophe, die die Unmittelbarkeit der Begegnung zwischen dem Ich und dem Angesprochenen forciert im Ich sehe dich (V.1).330 Mit dieser inszenierten visuellen Nähe wird das göttlich Ferne im Hier und Jetzt zu einem anwesenden und dennoch distanzierten Du.331 Die Anrede ist dabei jenes rhetorische Mittel, um das Unnahbare als ein Nahbares darzustellen, das Unvermittelbare zu vermitteln. Die Anreden dieser Strophe folgen dicht aufeinander: scheffer (V.1); Sabaoth (V.2); trost berende hymelspise (V.3); mannabrot, lebende kost (V.5); kuninc (V.7); vater, suon (V.9); warer geist (V.10); suoziz vleisch (V.11); lebendes brot,332 list (V.12); scheffer, krist (V.15); lebender got (V.19). Sie repräsentieren die Vielfalt des sprachlich Möglichen, das sich als paradoxe Konstellation beschreiben ließe, als ein Umkreisen des Unerreichbaren und den dadurch bedingten Versuch der stetigen Annäherung an das Unerreichbare. Die Bandbreite des sprachlich Möglichen scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass die im Text gespiegelte religiöse Erfahrung von Nähe und Ferne literarisch bearbeitet ist, die religiöse Redeform literarisch anverwandelt wurde. Die Bilderfülle333 bietet dabei sowohl eine auf 329

Zur Rezeption dieser Strophe Peperkorn, Frawnlobes beichte (1983); Susanne Fritsch, Körper (2002), S. 226f. 330 Zur visio beatifica Köbele, Lieder (2003), S. 175; vgl. Helmut K. Kohlenberger, Art. „Anschauung“, in: HWbPh 1 (1971), Sp. 347–349. 331 Auf diese Weise wird ein Paradox von Nähe und Ferne literarisiert, in dem sich die religiöse Erfahrung der Unerreichbarkeit Gottes spiegelt, eine Erfahrung, deren strukturimmanenter Widerspruch bei den Mystikern wie etwa bei Mechthild von Magdeburg „Das fließende Licht der Gottheit“ einen Höhepunkt erreicht. Zur Funktionsweise des Paradoxen vgl. exemplarisch Heinrich F. Plett, Paradox (1992), S. 89–104; Plett bestimmt das Paradox als Wirkungskategorie, die auf ein ‚InSpannung-Setzen‘ des Rezipienten ziele (S. 92); das Paradox sei eine Kategorie der Unschärfe, offen genug für argumentative Strategien und stilistische Kunstfertigkeiten (S. 101). Vgl. auch Alois Maria Haas, Das mystische Paradox (1992). Den Dialog der Nähe zwischen Gott und Seele und die distanzierenden Kommentare Mechthilds beschreibt Walter Haug forciert orientiert auf vormoderne Wahrnehmungsweisen der Präsenz, um den Übergangsbereich zwischen Nähe und Distanz erfassen zu können: „Charakteristisch für Mechthild ist […] ein abrupter Wechsel zwischen […] Unmittelbarkeit und Distanz“. Dazu Walter Haug, Grundformen (1992), S. 96. Auch bei Frauenlob ist dieser Widerspruch spürbar in der literarisierten Anrede des Anderen, nur ist er eher nivelliert denn exponiert. 332 Vgl. Io 6,35.48.51.56 einer Selbstbezeichnung Christi als lebendiges Brot. Kern, Trinität (1971), S. 36f., sieht (in anderem Zusammenhang) in der Metapher des lebendigen Brotes einen Verweis auf das auch in J 24,5 explizierte Mannawunder beim Durchzug der Israeliten durch die Wüste. 333 Der Begriff des Bildes ist hier ein umfassender Begriff, der sowohl die Anreden (‚Schöpfer‘, ‚Vater‘, ‚Sohn‘, ‚Zebaoth‘) umschließt als auch die Dingmetaphern wie ‚Mannabrot‘. Er meint hier je-

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Similarität als auch auf Unähnlichkeit334 beruhende Umschreibung des Unbeschreibbaren.335 Obgleich die verschiedenen Bilder einen Versuch darstellen, das Unerreichbare zu figurieren, entweder im Sinne eines weniger unähnlichen Ähnlichen (scheffer) oder im Sinne eines mehr Unähnlichen (lebende kost), sind sie in dem, was sie semantisch transportieren, kaum distinkt. Das Wiederholen der Anrede rückt in den Vordergrund der Wahrnehmung. Es scheint, dass die Unterscheidbarkeit der Bilder Nebensache ist und es vielmehr auf die Wiederholung selbst ankommt. Dadurch wird Gott poetisch exponiert, so als sei er unmittelbar erfahrbar. Aus der Perspektive religiöser Rede lässt sich die wiederholte Anrede als ein rituelles Moment der Strophe beschreiben.336 Ritualisierung, so kann man pauschal formulieren, schafft keine je neue Bedeutung, sondern hält eine Bedeutung mit ihrem Anspruch auf Wahrheit in der Wiederholung präsent:337 Im Falle dieses Gebets wird mit der wiederholten Anrede des Immergleichen eine spezifisch religiöse Form der Erfahrung Gottes aktualisiert, eine „affektgeladene Gegenwärtigkeit“,338 die die Tatsache überdeckt, dass der Zugriff auf die göttliche Totalität verwehrt bleibt, und die genau dadurch die semande Art der Übertragung der Bedeutung eines Zeichens auf das andere, insofern die Anredeformen alle Begriffe für den Unerreichbaren sind. Das eigentlich Gemeinte – aber Unaussprechliche – wird durch einen gedanklich ähnlichen Begriff näher bestimmt, bzw. der gedanklich ähnliche Begriff wird an der ‚Leerstelle‘ eingesetzt. Vgl. zur Bedeutung religiöser Metaphern Paul Ricoeur, Stellung (1974), S. 49, der betont, dass die religiöse Metapher keine je neue Bedeutung schafft, sondern eine je eigene Bedeutung mit ihrem Anspruch auf Wahrheit in der Wiederholung präsent hält. Gert Hübner, Überlegungen (2004), S. 138, geht aus historischer Perspektive hinter diese Beobachtung zurück und führt aus, dass es im Bereich der metaphorischen Aussagen über Gott unmöglich sei, eine erste Bedeutung in der Metapher zu substituieren, weil überhaupt nur mittels Analogie Aussagen möglich sind, so dass die metaphorische Rede über Gott Bedeutung zunächst einmal konstituiere. Gegen die These von der Metapher als einem potentiellen Bedeutungsträger ist es ihm ein grundsätzliches Anliegen zu betonen, dass historischer Metapherngebrauch immer zuerst nach den Prinzipien Substitution und Analogie funktioniere. 334 Didi-Huberman, Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration (1995), bes. S. 44, 52–58, wobei die Unähnlichkeit auf einer Bildbeziehung basiert, die mindestens akzidentielle Ähnlichkeit auszeichnet. Die Analogien zum Tropus der Katachrese, die in der Geschichte der Rhetorik Ort der Bemühungen um die Grenze von Eigentlichem und Uneigentlichem ist, liegen auf der Hand. In Analogie zur religiösen Metapher ist die Katachrese eine Übertragung, wenn kein eigentlicher Ausdruck vorhanden ist, so dass von einem Benennungsvorgang, nicht aber von Substitution zu sprechen ist. Suplementiert wird die Lücke. Gerald Posselt, Katachrese (2005), S. 10–19. 335 Zum ähnlich gelagerten Phänomen der Unumschriebenheit Gottes s. Friedrich Ohly, Deus incircumscriptus (1992). Ohly weist darauf hin, S. 15, dass der Unumschriebene durch die Gabe des intellectus erkennbar ist, „wobei dem inneren Auge das Licht des Schöpfers eingegossen wird, so dass es wahrnimmt.“ Möglicherweise ist dieser Gedanke auch im ich sehe dich, scheffer (J 24,1) und der Imagination des lebende[n] brot[es] angelegt, um zu verdeutlichen, dass die göttliche Gnade in der literarischen Gestaltung ihren Ausdruck gefunden hat. 336 Vgl. stellvertretend zum religiösen Ritual Iwar Werlen, Ritual (1984), S. 148–229. 337 Einen solchen Anspruch auf Wahrheit beschreibt Paul Ricoeur, Stellung (1974), S. 49, für die religiöse Sprache. 338 Ludger Lieb, Poetik der Wiederholung (2001), S. 515.

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tische Varianz der Anrede für die Wahrnehmung ausblendet. Es geht für die Textwahrnehmung – rezeptiv wahrgenommen wurde der Gebetsmodus – nicht darum, dem paradoxen Anderen in einer Flut von Namen differierende Bedeutungen zuzuweisen, und es geht auch nicht darum, das dogmatisch zentrale Thema der Unbegreiflichkeit Gottes zu reflektieren. Vielmehr bietet der Text die Möglichkeit, anhand der Sprachbilder eine religiöse Erfahrung zu aktualisieren, und er ist ein Imaginationsangebot, um diese Erfahrung ‚erfahrbar‘ zu machen. Es kommt mit der Fülle an Benennungen zunächst nicht auf die Stiftung neuer Bedeutungen an, sondern auf die Imagination einer Erfahrung des Anderen, die hier erreicht wird durch Intensivierung. Komponenten dieser Intensivierung sind die mehrfache Wiederholung der Anrede und die Komplexitätssteigerung, die sich in der Verschränkung religiöser und literarischer Facetten äußert. Die metaphorischen Umschreibungen des transzendenten Gegenübers bilden den Schlüssel für den Zugang zu der in dieser Strophe literarisierten Transsubstantiationserfahrung. Wie aber geschieht die Literarisierung dieser Erfahrung?339 Wird die auf der Ebene des Dargestellten situierte Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz als eine überschreitbare dargestellt, der Akt der Grenzüberschreitung ereignishaft modelliert? Und was leisten die metaphorischen Anreden? Wenn der göttliche Vater variationsreich angesprochen wird, muss man dann nicht kalkulieren, dass diese Anreden konkurrierende Bedeutungen tragen könnten? Wenn die allegoretischen Formeln – scheffer (V.1) bedeutet Gott, hymelspise (V.3) bedeutet Gott, mannabrot (V.5) bedeutet Gott usf. – im semantischen Feld des Textes sinnstiftend gemeint sind, ist dann nicht nach der Differenz dieser Bedeutungen zu suchen und nach ihrer Funktion im Text zu fragen? Oder überlagert das Du die Fülle der Varianten, so dass die Trennung von Bild und Bedeutung hier auf eine Gleichung hin überschritten worden ist, so dass es heißt: Der Schöpfer ist Gott, die Himmelspeise ist Gott, das Mannabrot ist Gott, so wie Sabaoth (V.2) Gott ist? 339

Für die Strophen im Langen Ton sind Verschränkungen religiöser und literarischer Rede, seltener in der frühen, allenthalben aber in der späteren Überlieferung zu beobachten, doch ist eine binäre Konstruktion für den Bereich der meisterlichen Spruchdichtung überhaupt nur heuristisch sinnvoll. Vgl. etwa die Johannesvision und deren Deutung C 36–39 oder die Strophen über Adam in der Weimarer Liederhandschrift F 98–100, das Mariengebet F 111 (C 31) sowie die Strophen über die heilsgeschichtliche Begründung des Namens vrouwe F 112–114 (J 31–33 [und J 12, 28], k 194– 195), das Lob des Fürsten von Breslau F 124–126, die Narratio von Moses und der Heidin F 146– 149, die Strophen über Priesterschaft und Sünde F 166–169 (k 16–17) oder allgegenwärtig in der Kolmarer Liederhandschrift k 1–29, 56–77, 93–95, 103–128, 135–141, 162–164, 174–190, 197– 199. (Die Strophenzählung für den Langen Ton in k setzt mit der ersten Strophe in diesem Ton neu ein und weicht diesbezüglich von der alten sonst üblichen Barzählung von Bartsch ab. Grundsätzlich können die beiden Formen der Rede nicht dichotomisch verstanden werden, da ihre jeweilige textuelle Umsetzung sich nicht auf ein dialektisches Verhältnis zurückführen lässt. So ist das „Gebet zur Transsubstantiation“ auf den ersten Blick ein Ort ungeschiedener Redeformen und das irritiert zunächst. Die Redeformen sind jedoch, und das gilt es zu zeigen, in einem auf mehreren Ebenen situierten Prozess von Grenzziehung und Grenzüberschreitung dynamisiert, der die literarische Qualität der Strophe ausmacht.

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Die Fragen lassen sich sinnvoll vor dem Hintergrund der religiösen Erfahrung der Eucharistie erhellen, sieht man in diesem Szenario eine liturgische Andachtsszene.340 Die Gleichung „Das ist mein Leib“ steht im religiösen Vollzug der Eucharistie im Rahmen eines Gnadenaktes, denn es heißt: „Nehmet und esset alle davon. Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis.“341 Die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz wird im rituellen Vorgang der Einverleibung des göttlichen Leibes überwunden. Nicht nur sollen Menschwerdung, Martyrium und Tod Jesu Christi erinnert werden – nein: Die Einverleibung ist zugleich ein Gnadenakt, der vom sündhaften irdischen Dasein befreit. Im Ritus ist eine doppelte Grenzüberschreitung erlebbar: die Überschreitung der Körpergrenze und die Überwindung irdischer Sündhaftigkeit auf göttliches Heil hin. Die Paradoxie der Transzendenzerfahrung ist jedoch im Ritual der Eucharistie nur für den Moment stillgestellt, da die Erfahrung ephemer ist, weil der Sünder genuin sündhaft ist und des wiederholten Gnadenaktes bedarf. Im Horizont dieser Erfahrung ist die Grenze in J 24 eine räumliche Grenze. Die religionsgeschichtlich virulente Differenz, welche mit den Speisemetaphern konnotiert ist, ist die von innen und außen. Und der Text spielt auf die Überschreitung dieser Grenze an, indem der Vorgang der Inkorporation (Kommunion) über die Isotopienkette der Speise- bzw. Speisungsmetaphern (trost berende hymelspise, V.3, mannabrot, V.5, lebende kost, V.5, suoziz vleisch, V.11, lebendes brot, V.12) in der Vorstellung aufgerufen ist. 340

Zur Eucharistielehre in der abendländischen Kirche des Frühen Mittelalters, zu den beiden Abendmahlsstreiten und zur Transsubstantiationslehre bis in die Zeit der Hochscholastik vgl. Burkhard Neunheuser, Eucharistie (1963); Angenendt, Geschichte (1997), S. 503–515; zur Gotteserfahrung und zum Präsenzbegriff in der Eucharistie vgl. Christian Kiening, Gegenwärtigkeit (2006), S. 28– 32 u. die Anmerkungen 30–43. Für das historische Verständnis der Gegenwärtigkeit Christi in Brot und Wein weist Kiening auf verschiedene „Formen und Schattierungen von Präsenz“ hin und betont die „Dialektik von Verkörperlichung und Verinnerlichung, Vergegenwärtigung und Vermittlung, Konkretisation und Abstraktion, Evokation und Signifikation“, ebd., S. 29. Er zeigt, S. 31f., dass die Anwesenheit Christi in „ontologische“ und „tautologische Aussagen gefaßt“ ist (esse, esse in), nicht aber als „abstrakte Terminologie eucharistischen Gegenwärtigwerdens“ zu fassen wäre. Zur mittelalterlichen Eucharistiefrömmigkeit, die den Körper Christi als real gedachten Körper kennt, Miri Rubin, Körper der Eucharistie (1992); zur Eucharistie bei Frauenlob an Versen aus Marienleich, Kreuzleich, Strophen aus dem Grünen und dem Langen Ton, Susanne Fritsch, Körper (2002), die auf frühere Belege beim Marner, bei Heinrich von Sax, Boppe und Konrad von Würzburg hinweist und gleichermaßen die Belegdichte bei Frauenlob betont, ebd., S. 223. 341 1 Kor 11,24; Lk 22,19, auch Mt 26,26; Mk 14,22. Die theologischen Debatten um Konsekration, figura und veritas, die das 4. Laterankonzil mit der Transsubstantiationslehre sanktionierte, spielen im Rahmen der hier literarisierten Idee der Nähe zum Göttlichen kaum eine Rolle. Vgl. Neunheuser, Eucharistie (1963), S. 15–23. Es findet sich allenfalls ein Reflex darauf im Betonen von Sichtbarkeit und Greifbarkeit des Göttlichen (ebd., S. 15), das als Behauptung einer wirklichen Gegenwart des Herrn aufgefasst werden könnte und mit der Metapher vom lebend[igen] brot seinen Ausdruck gefunden hätte.

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Vom Vollzug der Kommunion ist hier allerdings nicht die Rede, nur von der andächtigen Schau. Das Ich kann die Grenze nicht ohne Hilfe überschreiten. Es ist angewiesen auf die göttliche Gnade, und so heißt es denn auch in V.11f. schlüssig: din ewicheit genade mir […] hie mir gnade irbiete. Und dennoch wird ein Höchstmaß an imaginierter Nähe erreicht. Das gelingt zuerst mit der Behauptung der Sichtbarkeit Gottes in V.1, einer Sichtbarkeit im Hier und Jetzt V.11f.: […] sGziz vleisch gewiet / hie vuor mir yn eyn lebendes brot, hie […], die auf die gängige Frömmigkeitsschau rekurriert.342 Und es gelingt durch eine im Wortfeld der Strophe intensivierte Unmittelbarkeit, die durch die Speisemetaphern erzeugt wird. Durch die Dichte der Speise- und Inkorporationsmetaphern gewinnt der Versuch der Annäherung beinahe konkrete Züge. Die Imagination religiösen Erlebens kommt somit in der poetischen Gestaltung, dem Umkreisen des Unerreichbaren und in der dichten Metaphorik der Verinnerlichung zum Ausdruck. Die poetische Qualität der Strophe scheint mir vor allem in der Dynamik des Metaphorischen zwischen Anschaulichkeit und imaginierter Sinnlichkeit zu liegen. Der Sprung über die Grenze kann in der Strophe, anders als im religiösen Ritual der Eucharistie, nicht einmal ephemer dargestellt werden. Und dennoch leistet die Strophe etwas, was dem Ritual unmöglich ist: Sie exponiert das Paradox der Transzendenzerfahrung in der Sprache der Bilder, denn die Metaphern sind so konstruiert, dass eine jede Metapher ein semantisches Paradox in sich trägt. Hymelspise, mannabrot, lebende kost, suoziz vleisch, lebendes brot sind rhetorische Figuren, die die paradoxe Struktur des Oxymorons repräsentieren: Eine (irdische) Speise, die der Himmel gewährt; Nahrung, wo es keine gibt; eine (zubereitete) Kost, die lebendig ist; Fleisch, welches süß schmeckt, und Brot, das lebt. So entbirgt die Sprache der Bilder die paradoxe Struktur der Transzendenzerfahrung im Zugleich von Nähe und Ferne, in der Synchronizität von Möglichkeit und Unmöglichkeit, von Leben und Tod. Die Bildlichkeit der Metaphern imaginiert zudem das Wunder der Transzendenzerfahrung im Vorgang der Wandlung und Inkorporation, ohne dass vom Vollzug berichtet würde. Gerade der Verzicht, das Eucharistieerlebnis zu erzählen, stärkt die Aussagekraft der Bilder, intensiviert die Imagination des Anderen in seiner in irdische Nähe gewandelten Unerreichbarkeit. Und man kann wohl sagen, dass es die literarische Arbeit an der Grenze von Immanenz und Transzendenz ist, die die Imagination einer Ereignishaftigkeit fördert,343 welche der 342

Angenendt, Geschichte (1997), S. 505, kommentiert, dass die „konsekrierte Hostie“ „dem Hochund Spätmittelalter die Gottespräsenz schlechthin“ war. „Hostien dienten als wichtigste Gnadenträger“. Üblich waren im Mittelalter vom 8. bis ins 16. Jahrhundert hinein sogenannte Hostienwunder, bei denen es eine besondere Gnade war, wenn der Einzelne „durch die Hülle der konsekrierten Hostie hindurchblicken“ durfte, um Fleisch und Blut Jesu Christi zu sehen. Hier ist es das Fleisch Christi, das im Brot sich zeigt. Vgl. auch Fritsch, Körper (2002), S. 235, die im Blick auf eine eucharistische Strophe aus dem Grünen Ton Frauenlobs auf die private Frömmigkeitspraxis des 13. Jahrhunderts verweist. „Der Glaubende ist nun mit seinem persönlichen Gott in Gestalt der Hostie allein. Religiöse Rituale übersetzen Spirituelles in sinnlich Erfahrbares, Un(be)greifbares in Greifbares und Unsichtbares in Anschauliches.“ 343 Siehe Fohrmann, Textzugänge (1997), S. 217.

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religiösen Erfahrung nahekommt. Die paradoxe Struktur der Bilder bildet die Grundlage für die schöpferische Kraft der argumentativen Strategie dieser Strophe. Die widersprüchliche Struktur des Paradoxen entfaltet dabei ihren rezeptionsästhetischen, persuasiven Charakter, indem sie vorgefasstes Wissen destabilisiert und dadurch den Rezipienten in eine Spannung versetzt, die es diesem zugleich erlaubt, das Kategoriendenken zu sprengen und den Spielraum der literarischen Darstellung imaginativ auszuschreiten.344 Im Rahmen dieser literarischen Darstellung ermöglichen gerade die Metaphernketten Einblicke in die Inszenierungen des Sprecher-Ichs. Ich versuche die Strophe in diesem Sinne zu paraphrasieren: Das Sprecher-Ich wird des Allmächtigen ansichtig (V.1) und begrüßt seine Macht im alttestamentlichen Namen Sabaoth (V.2) und als Trost spendende Speise des Himmels (V.3). Er bittet um Unterweisung in inniger Andacht (V.4f.). Eine himmlische Ferne wird zunächst imaginiert, der das Ich ansichtig wird, eine Ferne, die ihn speisen und in den Innenraum seines Herzens reichen kann; eine Ferne also, die die Körpergrenze überschreiten kann, ihm inwendig zu werden vermag. Und immer noch sieht das Sprecher-Ich den Anderen, nun – V.5 – als mannabrot, als lebende kost, die der alte grise / wol viertzich iar myt willen bot der Israhelis diete (V.6). Das Ich erinnert die Präfiguration der Hostie im Mannabrot des alten Bundes und dabei wird der vorherrschende liturgische Redegestus narrativ. Das Tempus wechselt ins Präteritum. Anzitiert wird mit diesem erzählenden Nebensatz die alttestamentliche Geschichte des Volkes Israel, das die 40-jährige Wüstenwanderschaft nur mit Gottes Speisewunder zu überstehen vermochte.345 Diese Geschichte geht zurück auf den Bund Gottes mit Abraham (Gn 12), den Stammvater des monotheistischen Glaubens an einen unsichtbaren Gott. Was geschieht durch die Integration dieser narrativen Passage? Nun, im Rekurs auf die Typologie von Mannabrot und Eucharistie wird die göttliche Gnade im Sinne gemeinschaftlicher Erlösung zurück in die Vergangenheit des auserwählten Volkes Israel datiert und mit dem Bezug auf das lebende Brot, das das betende Sprecher-Ich vor sich sieht (V.12), auf dessen Erlösung hin durchsichtig. Zugleich distanziert das Ich sein Gegenüber: Es spricht in der dritten Person über Gottvater (der alte grise, V.5). Der Vorgang der Speisung bekommt als gnadenhafter Akt ein historisches Datum, das vor den Opfertod Jesu Christi und dessen Erinnerung in der Eucharistie zurückreicht. Das Paradox wird mit dieser erinnerten Geschichte als deutbarer Gegenstand kenntlich: Gott ist der graue Alte, der sein Volk speiste mit dem Mannabrot, das er ist, und der lebendigen Kost, die er ist. Die Möglichkeiten ritueller Rede werden an diesem Punkt erweitert um den Aspekt der Narrativierung: Die narrative Rede semantisiert das Speisewunder mehr, als es die rituelle Gebetsrede vermag. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte liest sich auch V.1 etwas anders: Im Gegensatz zu Gottes auserwähltem Volk kann das Sprecher-Ich seinen Schöpfer sehen. Vielleicht zeigt sich hier kurz eine Ermächtigungsfigur des meisterlichen Sprechers, insofern er des Nichtsichtbaren an344 345

Vgl. Plett, Paradox (1992). Dazu Kern, Trinität (1971), S. 39–43.

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sichtig wird.346 Indem er die Speisungsgeschichte des alten Bundes anzitiert, die hinter die Eucharistie zurückreicht, und prospektiv eine exegetische Funktion übernimmt, wird die Semantik der Gnade von der Speisung auf die Ansicht des lebenden Brotes verschoben. Mit dem zweiten Stollen und dem Abgesang wird die Gestaltung des Paradoxen zurückgenommen, entstaltet, um mit Gerhard Neumann zu sprechen.347 Das Paradox wird erneut im Modus des Gebets – im Modus liturgischer Rede – zur Schau gestellt. Das Ich rückt ein in den irdischen Kreislauf von Geburt, Sündhaftigkeit und Tod, der nur durchbrochen werden kann mit Unterstützung des dreieinigen Ewigen, mit Hilfe göttlicher Gnade und mit der Vergebung der Sünden im Akt der Eucharistie. Was die literarische Rede hier, in diesem Abschnitt der Strophe, zu leisten vermag, lässt sich vielleicht als Entzeitlichung bezeichnen, als Entzeitlichung der immer nur ephemeren Sündenvergebung im Vorgang der Inkorporation. Ich paraphrasiere die wichtigsten Aspekte: Gott schuf das Ich (V.7). Gott ist ewig (V.11). Er ist im Hier und Jetzt lebendig (V.12). Er ist in Ewigkeit allwissend (V.13). Er war einst und wird immer sein (V.14); zu der Zeit (im Jetzt) und zu der Frist (die dem Leben gesetzt ist) (V.16). Sein Geist ist gegenwärtig (V.17). Er ist lebendig; mein Leben wird enden (V.19). Die Rede ist vom immer schon und jetzt gegenwärtigen und in Ewigkeit lebendigen Gott, von dem das Ich einen gnadenhaften Akt lebenslanger Sündenvergebung erbittet. In diesem Zusammenhang ist es nicht relevant, ob dieser Text auf dem Sterbebett eines Autors Frauenlob entstand.348 Der poetologische Entwurf der Strophe zielt darauf, den Gnadenakt der Sündenvergebung aus dem Kreislauf von Sünde und Vergebung herauszuheben. Das Sprecher-Ich ist dabei auf der Grenze göttlich-geistiger Gegenwärtigkeit und menschlich-körperlicher Vergänglichkeit inszeniert. Es ist aufs Ganze gesehen als eine Instanz stilisiert, welche sich dem Unerreichbaren anzunähern vermag, und dies nicht allein im Sinne einer Frömmigkeitsschau, sondern als literarische Unmittelbarkeitsfiktion! Die Strophe bindet diese Ermächtigungsfigur mit dem zweiten Stollen in den Kreislauf der Schöpfung ein, denn Gott hat das Ich geschaffen. So ist die Ermächtigung eine vorübergehende bzw. eine bedingte, denn hier sind mit der Souveränität Gottes und der relativen Selbständigkeit des Geschöpfes zwei Grundprinzipien des christlichen Schöpfungsglaubens aufgenommen, die seit dem 4. Laterankonzil von 1215 zum allgemeinen Glaubensbewusstsein gehörten.349 Das Ich kommt von Gott her, der alles und damit auch die spruchdichterische Rede erschafft. Literarische meisterschaft kommt in einer an Gottes Gnade gebundenen Rede zum Ausdruck. 346

Dass hier ein Rekurs auf die in theologischer Tradition stehende visio dei angenommen werden muss, lässt sich nicht sicher behaupten. Möglicherweise greift in der Visitation Gottes ein aus der visio dei abgeleiteter Anspruch, die Wahrheit zu sehen und auf diesem Wege die eigene Rede zu autorisieren. Vgl. Kohlenberger, Art. „Anschauung“ (wie Anm. 330), Sp. 347. 347 Gerhard Neumann, Einleitung (2003). 348 Überlegungen zur Situativität dieser Strophe im Horizont der Subskription bei Christoph Fasbender, Sterbegebet (2002). 349 Leo Scheffszyk, Schöpfungslehre (1987), S. 1–3.

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Umspielt wird in dieser Strophe die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Ich und Du. In der Intensivierung des Anderen durch die Metaphernreihe und in der damit imaginierten Unmittelbarkeit ist der literarische Mehrwert der Darstellung zu greifen. Zugleich ist die Strophe ein gutes Beispiel für die poetologische Arbeit an den Grenzen religiöser und literarischer Rede. Sie dynamisiert diese Grenzen im Vorgang der Grenzziehung und -überschreitung, wie es etwa der erste Stollen vorführt: Er rückt Gebetsgestus und literarischen Gestus zusammen, und er stellt in der reflektierenden spruchmeisterlichen Rede (V.5f.) die Grenzen religiöser Rede aus. Die Strophe bietet sowohl die eine als auch die andere Sicht, sowohl den Gebetsgestus als auch die meisterliche Rede. Literarische und religiöse Dimension begegnen einander wertfrei, ohne dass die eine oder andere Seite favorisiert wäre. Mit der Dynamisierung der Grenzen wird die Aufgabe der Interpretation in die Hand des Rezipienten gelegt, der sich von der Erfahrung des Gebets berühren lassen oder aber die Ermächtigung des spruchdichterischen Ichs nachvollziehen kann. In diesem poetologischen Angebot liegt ein ästhetischer Reiz der Strophe.350 Ihren Grund hat die Dynamisierung der beiden Redeformen in den Formen der meisterlichen Wissensverarbeitung, die diese Strophe bietet. Die Metaphern für Gottvater wie hymelspise (V.3) oder lebende kost (V.5) sind noch kein spezifischer Ausdruck literarischer Rede. Sie sind zunächst nur Ausdruck eines religiösen Wissens vom Wunder der Transsubstantiation, Reflex der gängigen mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis und des zeitgenössischen theologischen Diskurses, wie sie sich schon im frühen Sangspruch und bei Konrad von Würzburg finden.351 Doch mit der Integration dieser Phrasen in das Syntagma von J 24 werden sie zu metaphorischen Aussagen, wird der referentielle Bezug bearbeitet. Die Komposition der Strophe nähert sich dem Wunderbaren der religiösen Erfahrung an und distanziert es zugleich. Wie geschieht das? Die Schlüs350

Das Ästhetische als ein mittelalterliches Problemfeld ist wieder zum Gegenstand der Altgermanistik avanciert, vgl. den noch jungen Sammelband von Manuel Braun u. Christopher Young, Das fremde Schöne (2007). 351 Zur altchristlichen Eucharistie mittelalterlicher Messe und ihrem theologischen Hintergrund Angenendt, Geschichte, S. 488–515. Dass Reflexe auf Frömmigkeitspraxis und -theorie nicht neu sind im Rahmen des religiösen Sangspruchs, dass sie nichts Besonderes sind im Langen Ton, zeigen etwa Sangspruchstrophen Konrads von Würzburg (Ed. Schröder / Wolff 1926/1967), 32,16–30, ebenso wie Verse der „Goldenen Schmiede“, V.550–557, in denen der Leib Christi als vom Himmel gesandte lebende simele (V.551), als wunsches brot (V.556) und als Seelenspeisung (der sele zeinem ezzen, V.553) bezeichnet wird. Etwas Besonderes in J 24 sind die Kontextualisierung, die poetische Gestaltung und der Versuch der Annäherung von Sprecher-Ich und Gott; vgl. zur Kontextualisierung der Parallelstrophe in k Kapitel V.2. Die Darstellung der Eucharistie im „Kreuzleich“ Frauenlobs, GA II,17f. benennt die für die Seele labende Wirkung der von Gott gegebenen spise (II 17,14) und kost (II 17,15). Auffallend ist hier die narrative Entfaltung der Verschränkung von Gottvater und Gottsohn und die sich darin zeigende paradoxe Darstellung im angesprochenen Du: Der Sohn wird zum heilic alter (II 17,16), auf den Gott sein Öl goß; das Du wird zu gotes vleischbanc (II 18,7), auf der das lam zu tode (II 18,8) kam, so dass das inverse Moment der paradoxen Verschränkung sich zeigt.

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selwörter der Transsubstantiation werden nicht nur in ihrer Metaphorik kenntlich, sie werden auch mit dem alttestamentlichen Wissen von der Speisung des Volkes Israel, das ausschnitthaft erinnert wird, verklammert. Auf diese Weise wird das mit den Schlüsselwörtern transportierte religiöse Wissen distanziert und in seiner poetischen Form überschritten. Diese Exposition ist dem Ermessen des Sprecher-Ichs anheimgestellt, denn es ist das meisterliche Ich, welches von sich behauptet, dem Schöpfer aller Schöpfung ansichtig zu sein. Der propositionale Gehalt ist folgender: Meisterschaft in J ist gnadenhafte göttliche Gabe und Selbstermächtigung zugleich. Es kommt auf die Bearbeitung des Wissens an, die sich im Rahmen des literarischen Diskurses für J 24 anhand der Verknappung diskursiven Wissens und seiner Reduktion auf Schlüsselwörter (‚Gerüstwörter‘ im Sinne Stackmanns352) zeigt. Zwei Dinge sind vor diesem möglicherweise paradigmatischen Hintergrund zentral für die Analyse der sich anschließenden Strophen: erstens, die literarische Bearbeitung der in dieser Strophe gespiegelten religiösen Erfahrung und zweitens, die Darstellung des Möglichkeitsspielraums meisterlicher Wissensbearbeitung.

2.6

Wissensgeschichte und die Wahrheit des vrouwen-Lobs (J 25–33)

Vor diesem starken Auftakt bieten die acht Folgestrophen ein plastisches Beispiel für eine vergleichsweise interessante Bearbeitung diskursiven Wissens. Anstelle religiöser und literarischer Redeformen werden volksetymologische und heilsgeschichtliche Ansätze verbunden, um nichts Geringeres als die Wahrheit des Frauenlobs darzustellen und zu bestätigen.353 Für J 25–33 steht die heilsgeschichtliche und volksetymologische Herleitung der Namen der drei weiblichen Seinsstufen im Vordergrund des Frauenlobs, um das Lob zu legitimieren und die Herausgehobenheit dieses spezifischen Lobs und die Exzeptionalität des Spruchmeisters zu bestätigen.354 352

Stackmann, Bild (1972). Es gibt in dieser zweiten Strophengruppe zur wîp-vrouwe-Thematik keine Gegenstrophen, so dass diesbezüglich eine Veränderung im Modus der Rede zu konstatieren ist. In der Strophengruppe J 10–16 war der Streit um das Loben der vrouwe im Horizont spruchmeisterlicher Tradition sprachtheoretisch, wissensgeschichtlich und stilistisch ausgestellt. Vgl. dazu Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 190, Kellner, Vindelse (1998), S. 256f. Wachinger konstruiert den „wîp-vrouwe-Streit“ im Sinne einer als sinnvoll erkannten argumentativen Abfolge und nutzt dafür J- und C-Strophen dieser Thematik; er unterscheidet vier Gruppen, ebd. S. 193: die These Frauenlobs J 27 und J 10; die Antwort der Gegner C 39, J 11–13; die Antwort Frauenlobs auf die Argumente der Gegner J 31f. und die Weiterentwicklung der Gedanken J 28–30, J 33. Kellner folgt im Prinzip diesen Strophengruppen, denkt aber von Strophenclustern, von netzartigen Bezügen zwischen den Strophen her und warnt davor, von einer linearen Argumentationslogik auszugehen. 354 In der GA werden für diese Thematik und die Polemik gegen Frauenlob J 25–30, J 10–13, C 39, J 31–34 und C 32f., C 35, C 47 sowie J 14–17 in Folge ediert. Eine thematische Gruppierung, nicht aber die handschriftliche Abfolge bestimmt die Anordnung der Strophen. Burghart Wachingers und Beate Kellners Analysen gehen auf die handschriftlichen Vorgaben und damit auf die Gruppierung 353

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Der Sprecher tritt nun in der Rolle eines Boten der personifizierten Minne auf (J 25). Er wird zum Belehrenden (V.9), der das Versäumen und das Vergehen (vGrsumen und vGrgahen, V.7) der hohen vrowen und der reine[n] wip (V.1) konstatiert und ihr gesellschaftsfernes Verhalten kritisiert. Sicher hat man es hier mit einem Rekurs 1. auf die hohe vrouwe Reinmars und das reine wîp Walthers zu tun, 2. mit einem Bezug auf die hartmannschen Vorgaben des Verliegens und Fehlreitens in „Erec“ und „Iwein“ und 3. mit einem Rekurs auf die spruchmeisterlich-mahnende und die minnesängerisch, das Lob absolut setzende Streitposition im Langen Ton (J 11–13). Der Sprecher ist als einer inszeniert, der den literarischen Diskurs des namen-Denkens beherrscht und der durch den unmittelbaren Zugriff auf die Personifikation am höfischen Minnediskurs teilhat: So weiß er, dass die Erziehung der vrouwe ein Erbe der Minne ist (V.10f.) und dass alle Tugenden ihren Ursprung in wibes kunne haben (V.12). Im Horizont der art-Reflexion des Langen Tons355 ist hier möglicherweise die vrouwe als vom wip Abstammende gemeint. Im Lob der Minne wird ihre Kraft, zwei Herzen auf dem Wege des Blicks zu verbinden, imaginiert (J 26). Das Bildfeld des Gartens, Blühens und Nährens steht für den physiologischen Vorgang der Liebe ein, in dessen Konsequenz der Schmerz (we) – als eine der Seinsformen der vrouwe – entsteht. Genannt werden bereits alle drei Seinsformen des Weiblichen: Das wip wird im Bildfeld des Wonnegartens, in dem die Minne wirkt, zum Hort der Lust (V.1–3), und die Lust der Blumen ist mit maget und vrouwe verbunden, weil die maget sowohl eine potentielle Deflorata als auch eine potentielle Gebärende ist (V.5). Und so ist es auch das Wirken der Minne, dass die Art (sit, V.11) der vrouwen aus unbegrenztem, reichhaltigem Vorrat heraus schmückt, so dass das Lob der Frauen immerwährend fortgesetzt werden kann (nye wart voltzalt in werender eren vlGte, V.12). Im Bildfeld der Speisung schluckt der Sprecher den Tadel an der Minne hinunter, will damit aber keineswegs Unbeständigkeit auslösen (wandel nern, V.14). Er rät der Minne zu verhindern, dass das wip zum Auslöser von leit werde (V.16f.), und bringt dennoch durch den Mund der Minne zum Ausdruck, dass dort (wo das wip wirkt) des Strophenmaterials von J ein, jedoch sind die Analysen von der Logik eines „wîp-vrouweStreits“, eines Textkonstrukts mit offenen Rändern geleitet, so dass, J 25f. nicht einbezogen, die beiden Strophenfolgen von J auseinandergehalten und die Argumente der Einzelstrophen neu geordnet werden. Obgleich eine der beiden Strophenfolgen Teil des Haupteintrags und eine Teil des Nachtrags ist, sie damit formal auseinandertreten, erlaubt der diskursgeschichtliche Ansatz, die referentiellen Bezüge im Langen Ton von J zu erarbeiten. Die volksetymologische und damit verbunden die heilsgeschichtliche Herleitung der Namen wip und vrouwe (expositio- und origoEtymologie) haben Beate Kellner und Margreth Egidi detailliert und umfassend dargelegt. Ich verzichte auf eine Wiederholung ihrer durchweg überzeugenden Analyse und konzentriere mich stattdessen auf die Abfolge der Argumentation und die Bearbeitung des heilsgeschichtlichen Wissens in der Strophenfolge J 25–33. Vgl. Kellner, Vindelse (1998). Zur Buchstaben-expositio w-î-p, deren Funktionalisierung für den Preis und deren Rückführung auf das rheorische argumentum a nomine s. Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 252. 355 Vgl. Anm. 221 und Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 139, 196f.

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ein we liege, welches zu hoher Gesinnung führe. Konnotiert scheint mir im Rahmen des Langen Tons, dass das wip zwar leit auslöse, doch dass gerade durch das Minneparadox von liep unde leit das wip zur vrou-we werde. Der Konnex von Name und physiologischem Vorgang im Sinne einer quasi genetischen Relation von Ereignis / Erfahrung und Namensbildung bereitet die Differenzierung der Namen in J 27–33 vor, wie mir scheint. J 27 greift die drei Seinsformen im Sinne einer Definition auf und bestimmt ihre physische Form im Bildfeld von Natur und Minne.356 Die bereits in J 26 ausgefalteten Stichwortketten maget-blomen (V.2f.), blomen lust (V.7), wip-wunne (V.9,12), wirdevrowe (V.18f.) unterstellen einen Sinn, der in der Beschreibung der Seinsformen und im definitorischen Ausgriff auf die Namen, insbesondere in der expositio-Etymologie des wip-Namen: wunne irdisch paradis (V.11), weiter ausgebaut wird.357 Beate Kellner sieht in der Etymologie ein „Vehikel, mit dem man auch gegen den zeitüblichen Sprachgebrauch in eine ursprünglichere Wortschicht vordringen kann.“358 Die Namen wip und vrowe sind in ihrer Begrifflichkeit etymologisch fundiert und eröffnen einen sprachtheoretischen Horizont für die Namen-Reflexion. Und so ist es nur schlüssig, dass die beiden Namen in ihrer Herkunft über den heilsgeschichtlichen Beginn des Benennens legimitiert werden, der in J 28 mit Adam, dem ersten Erfinder, dem ersten „Benenner“359 inszeniert ist. Im Dialog zwischen dem Sprecher-Ich und Adam wird heilsgeschichtliches Wissen um die Erschaffung der ersten beiden Menschen und Adams gottgegebene Funktion aktiviert. Adam ist der von Gott Ermächtigte, der alle Dinge mit einem Namen benennt (Gen 2,20, hier V.7f.), der die Sprachzeichen einsetzt. Er ist auch der literarisierte Sprecher (zweiter Stollen), dessen Benennen und dessen gewählte drei Namen für sein ebenbilde (V.1) durch das Spruchdichter-Ich (V.11) vergegenwärtigt werden.360 Allerdings sind diese drei sprechenden, 356

Beate Kellner, Vindelse (1998), S. 264, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es keine soziokulturelle, sondern eine physische Bestimmung der Seinsformen ist, die ihrer Unterscheidung zugrunde liegt. Die Unterscheidung von wip als deflorata und vrowe als parens, die im Sprachgebrauch des 12. und 13. Jahrhunderts unüblich ist, ist eine Setzung, die auf einer ‚physiologischen‘ Semantisierung der Namensbestandteile vro und we entsprechend dem Prinzip der expositio-Etymologie beruht. Bislang allerdings lässt sich diese Form der Sinnsetzung aus den Strophen J 26f. erst andeutungsweise erschließen, anhand des we (J 26,19) und des vrou (J 27,17). Expliziert wird sie erst J 31,7–11 sowie J 32,11f. Vgl. zu J 27 Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 248–260. 357 Zur Buchstaben-expositio Egidi, ebd., S. 252 Anm. 869. 358 Kellner, Vindelse (1998), S. 271. 359 Kellner, ebd., S. 272. „Die Worte, die Adam der eben aus seiner Rippe erschaffenen Frau (V.1–5) gegeben hat, sind Urworte, die den Ursprung aller je für das weibliche Geschlecht verwendeten Bezeichnungen darstellen.“ Vgl. zu dieser Strophe die relevanten Genesis-Stellen und die auf das lateinische Schrifttum zugreifende Interpretation von Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 260–273. Vgl. zudem die grundlegenden Überlegungen zum Verhältnis von Schöpfung und Sprache, bzw. Genealogie und Sprache bei Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität (2004), S. 36– 39. 360 „Anhand der prototypischen biblischen Namensgebungsszene“ wird demonstriert, dass „Namen die Erkenntnis spezifischer Eigenschaften der durch sie bezeichneten res vermitteln.“ Egidi, Höfische

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auf den von Adam erkannten Eigenschaften der forme (V.2) aufruhenden Namen, mennin (V.6)361 weychelmut (V.11) und gebererin (V.12), argumentativ nicht verbunden mit dem zweiten Benennungsvorgang, von dem in dieser Strophe erzählt wird. Nach den drei „volkssprachliche[n] Übertragungen lateinischer Etymologien“362 sind es dann origo-Deutungen der deutschen Bezeichnung vrouwe, die auserzählt werden: Mennor, eine Klangkonnotation im Strophenverbund, verfügt als erster Mensch über die ihm von Gott offenbarte deutsche Sprache. Er (er-)findet den axiologisch mit den Silben vro und we besetzten Namen vro-we im Verlautbaren der ihm offenbarten Rede. Zugleich semantisiert und moralisiert er den Namen mit bildhaften physiologischen Vorgängen, durch die das vro an die Befähigung zu binden und zu gebären geknüpft ist, wodurch dem Land zur Würde verholfen werde. Das we ist komplementär auf Heilsgewissheit und Glück im Hier und Jetzt bezogen.363 Der Name wip wird in der narrativen Folgestrophe von einem französischen König namens Wippeon (J 29,1) abgeleitet. Wippeon, ebenfalls eine Klangerfindung, war derjenige, der den Mädchen ihre Virginität raubte und sie, schwanger geworden, aus dem Land verbannte. Das wip wird als mitten kunne (V.11), als mittel sie (V.13) bezeichnet und auf den Zustand der Wonne vor der Schwangerschaft beschränkt. Das Stichwort blGmen lust (V.5.11, auch J 26,5; J 27,7) verbindet diese sprachgeschichtliche Herleitung mit zurückliegenden Beschreibungen im Strophengefüge von J, bezogen auf die weibliche Seinsstufe wip, und lädt sie auf diese Weise konnotativ auf, so dass der pejorative Klang, der durch das Negativexempel erzeugt wird, wieder nivelliert erscheint.364 Liebe (2002), S. 265. Anders als im ersten Strophenblock zur wîp-vrouwe-Thematik (J 10–14) und anders als in der panegyrischen Strophengruppe (J 16–21) werden die Bezeichnungen im Horizont des ersten biblischen Benennungsvorgangs auf das Denotat festgelegt: Name und Denotat scheinen identisch zu sein. Deutlich wird aber auch, dass die Benennung eine Auswahl aus den Proprietäten der res trifft. Auch wenn der jeweilige Name als pars pro toto für das Denotat einsteht, so erscheint die Namensgebung doch als Akt gelenkter Arbitrarität. Der Name kann das Denotat nie in seiner Ganzheit erfassen; Name und Denotat sind nicht identisch. Doch steht der adamitische Benennungsakt der von Gott gesetzten Bedeutung der Dinge näher als die durch den Menschen gesetzte Bedeutung der Worte. Auf diese Weise legitimiert der erinnerte erste menschliche Benennungsvorgang die sprachtheoretischen Reflexionen zum vrouwe- und wîp-Namen. 361 Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität (2004), S. 37–39, weist jene Beispiele volkssprachlicher Literatur aus, die in scholastischer Tradition stehend den Zusammenhang von Genealogie und Sprache im Sinne zweier Zeugungsakte bewahrt haben. Sowohl in der „Wiener Genesis“ als auch in Jansen Enikels „Weltchronik“ finden sich Passagen, die die Erschaffung Evas aus der Rippe des Mannes und die Namensgebung durch Adam zusammenführen analog der Stelle in J 28. 362 Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 270. 363 Die silbenzerlegende Deutung analogisiert Egidi, ebd., S. 272f., mit der lateinischen Ave-Spekulation und zeigt die konnotativen Reize eines solchen Verfahrens auf. 364 Egidi, ebd., S. 274, sieht in den Versen 10–12 eine reduktive Form höfischer Preisrede, die durch den Kontrast zum Verhalten des Königs als „bloße Hüllformel“ kenntlich werde, die den Tadel ironisch zum Ausdruck bringe. Kennzeichen dafür sei verstärkend der allenfalls ironisch funktionierende Begriff kurtois (V.15), der für das königliche Verhalten eingesetzt ist. Auf der Basis dieser herabsetzenden Herkunft könne der Name wîp nur pejorativ gelesen werden. Mir scheint, dass ein

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Im strophenübergreifenden Assoziationsraum rekurriert diese Geschichte auf eine frühe narrative Strophe des Haupteintrags, auf die Geschichte der Damye / Amazonen (J 9,1), die ihre männlichen Nachkommen verbannten, sobald sie das Stadium der Geschlechtsreife (lust, J 9,5) erreichten und damit zu einer potentiellen Gefahr für das Land der Damie wurden. Für das sprachtheoretische Vorgehen beim Auffinden bzw. Bestimmen der Namen im Rahmen des Langen Tons von J lassen sich im Horizont der beiden Exempla, der beiden etymologischen Konstruktionen,365 konzeptuelle Züge erkennen. Erstens wird die Notwendigkeit der Differenzierung von Namen auf soziokulturelle Phänomene der Ausgrenzung bezogen, die exemplarisch ausgestellt werden und die im Sinne einer (pseudo-)historischen Legitimierung funktionieren. Zweitens ist der fingierte historische Hintergrund der Differenzierung ethisch konnotiert. Volkssprachliche Begriffs(er)findungen sind arbiträre Setzungen, die mit der gottgesetzten Bedeutung der Sachen nicht übereinstimmen366 und einer (pseudo-)historischen und einer ethischen Fundierung bedürfen. Vergleichbares galt und gilt für den ersten Strophenblock zur wip-vrowe-Thematik. Dort wurde die Unterscheidung der Namen wip und vrowe – nicht deren (Er)findung – physiologisch fundiert und sowohl auf die traditionelle ethische Unterscheidung bei Walther als auch auf einen absolut gesetzten, für ethische Differenzierungen unempfindlichen Preis der wip bezogen. Die moralische Dimension des (Er)findens rückt hier stärker in den Argumentationsfokus. Der Abgesang von J 29 greift in einem punktuellen Sinn die Frage der Herkunft auf und modifiziert sie zweckbestimmt. Gestellt wird die Frage, ob diz wort ihr (der vrowe) stam sei (V.17). Die indirekte Antwort ruht im Gegensatz der Seinsformen: pris und lob der vrowe basieren auf dem nutz (V.18). Und es ist erklärend zu ergänzen, dass als ‚Stamm‘ des Namens in einem etymologischen Sinn vro und we zu kalkulieren sind, durch deren Zusammenwirken Schwangerschaft und Geburt (nutz) möglich werden. Auch hier wird die sprachtheoretische Vorstellung des Stammes physiologisch gebunden im Bild vom berende[n] grunt (V.19).

in diesem Sinne moralisch erzeugter Gegensatz von wîp und vrouwe im Gefüge der J-Strophen den differenzierenden Bestrebungen in der Schärfe des Bildes und der Wertungen sowie in ihrem apodiktischen Gestus verdeutlichend zur Seite tritt, ohne dass damit die Wertung auf der Seite des Bildes bereits auf die Ebene der Sprachreflexion gehoben wäre. Ihre Funktion scheint mir darin zu liegen, der Unterscheidung der Namen etwa durch scharfe ethische Kontraste zu größerer Anschaulichkeit zu verhelfen. 365 Wippeon und Damye sind etymologische Konstruktionen, für die einerseits der Name mit dem ‚Wesen‘ im Sinne einer origo-Etymologie verknüpft wurde und andererseits eine Ableitung im Sinne einer derivatio-Etymologie gefunden wurde. Wippeon und wip bedürfen keiner Erklärung. Damye, dem dt. Wortstamm nach auf tam, damme bezogen, wird im Bildfeld der Abgrenzung lesbar, s. auch lat. damnare – verdammen und dame – Dame. Vgl. u. a. Roswitha Klinck, Lateinische Etymologie (1970), S. 15–17, 22–30; Uwe Ruberg, Verfahren und Funktionen des Etymologisierens (1975), S. 324–329; Christoph Gerhard, Metamorphosen (1979), S. 48. 366 Klaus Grubmüller, Etymologie (1975), hier S. 210.

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Die Strophe J 30 führt den Gedankengang um das Verhältnis von nutz und lob differenzierend fort. Ausgebaut wird damit das den physiologischen Vorrang der vrouwe begründende proles-Argument. Drei fundamentale Aspekte für den Vorrang des Frauenlobs vor dem Lob des wip werden stichworthaft aufgeführt: 1. Das Lob basiert auf den Mühen (arebeit, V.1) der zu Lobenden. 2. Lob und Lust (wunne, V.7) stehen in keinem reziproken Verhältnis. 3. vrouwen sind zu loben, weil sie a) in der Gunst der Schöpfung stehen (durch geistes gunst, V.11), sie b) die Krönung aller Natur sind (V.11f.), sie c) den Geburtsschmerz erdulden und d) sich der Zwang zur Lust mit der Bürde der Entbindung verbindet (V.12). Was sich hier gleichfalls zeigt, nenne ich die als natürlich gesetzte Analogie von Rede und Gegenstand: So wie die vrouwe ihren Grund in der Arbeit hat, so auch das Lob; so wie die vrouwe Lob verdient, ist das Lob preisenswert. In J 31f. wird die vrowe-Etymologie entfaltet, um den allein der Gottesmutter adäquaten Namen zu präsentieren. Jesus als erster Benenner wird neuerlich autorisiert, um die heilsgeschichtliche Herleitung des Namens wip (J 31) zu widerlegen (V.1: die tummen jen, got spreche syner mGter: „wip“ sowie V.13: sie jen, got spreche: „mulier“367).368 Die Differenzierung der Namen wird dabei auf eine Unterscheidung irdischer und himmlischer Zuordnungen zurückgeführt, und dem wip-Namen wird die Bezeichnung vreulich kunne (V.1–3) in einem zunächst unspezifischen, auf das weibliche Geschlecht bezogenen Sinne gegenübergestellt. Doch wird diese Bezeichnung an die Autorität Gottes gebunden und kann sowohl vrowe als auch meit meinen: das wort mac, weiz got, vrowe sprechen […] (V.7); doch mac daz wort wol sprechen meit, sit got welt ez dar leynen. (V.12). Mir scheint, ungeachtet der Diskussionen um diese Strophe (Ettmüller, Bertau, Wachinger, GA, Kellner, Egidi), dass vreulich kunne im Sinne eines Gattungsbegriffs in V.7–12 näher bestimmt wird: 1. Im Namen vrowe liegt der Bezug zur Gottesmutter auf der Hand, weil das vro dem Schatz der Engel (Maria) entspricht und vor dem Hintergrund dieser Ähnlichkeitsrelation besser zu ihrer Art [als zur Art der wip] passt. 2. Zur Art der vrouwe gehört aber auch das we der Natur, weil der Geburtsschmerz ihr [der vrowe] Lohn ist. 3. kann darüber hinaus vreulich kunne durch das Wort meit (präsupponiert ist die Jungfrau Maria) wiedergegeben werden. Diese dreifache Spezifizierung vro, we und meit (engelisches, physiologisches und VirginalitätsArgument) wird dann auch im Bild des wehrhaften Speers als Verteidigung der vrowen slaht (V.19) imaginiert: diz drivach sper (V.16)369 Entgegen den Vorschlägen der 367

Zur lateinischen Entsprechung der Unterscheidung von maget / virgo und wip / mulier vgl. Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 251. Möglicherweise greift die Ablehnung der Bezeichnung mulier auf eine etymologische Abwertung zurück, die sich etwa bei Isidor von Sevilla, Etymologiarum lib. XI, 18,19,24 findet. Isidor sieht in diesem Wort die Bedeutung von mollities und mutabilitas gegeben. Dazu Goetz, Frauenbild (1991), S. 37f., und Schreiner, Sündenfall (1992), S. 49. 368 Der wip-Name gehört in den irdischen Bereich, er wird auf die menschen wunne (V.4), nicht aber auf den Raum der Transzendenz (Bereich der Engel, V.5f.) bezogen. 369 Zu dieser Strophe und der Argumentation um den dreifachen Speer insbesondere Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 216–218.

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GA370 meine ich, dass das Demonstrativpronomen diz vreulich kunne näher bestimmt. Diese syntaktische Entscheidung hebt, so denke ich, den heilsgeschichtlichen Vorrang der vrowe vor den wip hervor: Die unspezifische Bezeichnung vreulich kunne, die Jesus für seine Mutter wählt, kann mit ihrer dreifachen mariologisch und physiologisch legitimierten Spezifizierung auf nichts anderes zielen als allein auf das Lob der Frau, denn es gibt für diesen göttlich autorisierten Schutz (ob aller himel werender wer, V.18) keine tragfähige Alternativbezeichnung. Auch hier wird, wie schon so oft im Langen Ton von C und J, das Phänomen der Sinnsetzung literarisiert und reflektiert,371 und auch hier werden, allerdings frei von poetologischen Überlegungen, drei Benennungsalternativen nebeneinandergestellt. Die Frage an den Rezipienten bzw. das Gegenüber in V.17f.: welhez wiltu leinen her / […]? ist eine Frage, die auf die Wahrheit der verba und die Sicherung des Verstehens zielt: Gottes Wort vreulich kunne steht dem Wort der anderen (tummen) gegenüber, die ihm die Benennung wip und mulier unterstellen. Allein die imaginierte Differenz transzendenter Benennung und irdischer Unterstellung verdeutlicht, dass eine zur göttlichen alternative Bezeichnung unmöglich ist. Auf der Ebene der Namen-Reflexion bindet das Sprecher-Ich das Argument der Relation von unspezifischer Bezeichnung und seinen spezifizierenden Derivaten an die weibliche Art (vrowen slaht). Der Möglichkeit einer falschen Bezeichnung wird die Spitze genommen, da das Spezifikum der art die Namenbildung bestimmt. Mit der Differenz von Sprechen und Meinen (V.19: iz sprach da nicht wen vrowen slacht, waz anders waz sie meynen) werden im Sinne einer sprachanalytischen Quintessenz zwei Formen der verbum-res-Relation gegeneinandergestellt. Etwas zum Ausdruck bringen – iz sprach – und etwas meinen – sie meynen – werden klar geschieden: Der eine Term setzt eine Ähnlichkeitsrelation von nomen und art voraus, die am vrowe-Namen expliziert wurde, der andere ein Repräsentationsverhältnis, das Sinndimensionen zulässt wie die Bezeichnung wip, die von der Willkür des Sprechers geprägt sind. In der Quintessenz ist der vrowe-Name mariologisch, physiologisch und sprachtheoretisch dem wip-Name überlegen. J 32 schließt hier aus einer in Gott gründenden sprachgeschichtlichen Sicht an: Gott habe nichts gesagt, das nicht wahr wäre. (V.1: Got der hat nicht gesprochen, ez ensy alliz war). Es ist ein augustinischer Gedanke, dass Gott die Wahrheit ist und die Wahrheit des Erkenntnisgegenstandes sich nicht aus der Heiligen Schrift und nicht aus deren Erklärung ergibt, sondern sich im Inneren des Menschen als der Wohnstätte des Denkens ereignet (Confessiones XI, 3,5). Es ist der Geist, der die göttliche Wahrheit als Wahrheit erfährt.372 Das Raffinement dieser Strophe besteht darin, dass die Sprache Gottes von der Glossierung (glose, V.19) des göttlichen Wortes in den Sprachen ge370

GA 2, S. 833. Für C und J konnte bereits gezeigt werden, dass das Phänomen literarischer Deutung (im Rekurs auf die biblische Exegesetradition) eine bedeutende Rolle für die Konturierung des Meisterschaftsanspruchs spielt. 372 Vgl. GA 2, S. 834 und Ursula Schulte-Klöcker, Verhältnis von Ewigkeit und Zeit (2000), S. 29–34.

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schieden wird,373 und es besteht darüber hinaus auch in der als notwendig vorausgesetzten Kenntnis der göttlichen Sprache, will man darüber sprechen. Die vom Sprecher unterstellte Logik dieser Argumentation zielt darauf ab, dass Gott Jüdisch und nicht Latein gesprochen habe, so dass das lat. mulier (J 31,13: mulier; J 32,7: latin nicht) und dessen deutsches Pendant wip valsch (V.19) sein müssen, denn nur die Übersetzung des göttlichen Wortes beansprucht Wahrheit. Dieser Logik entspricht, dass Glosse und Urwort in einer Ähnlichkeitsrelation stehen – so wie nomen und art in J 31 –, und Auslegungen als Übersetzungen eindeutig sein müssen. Damit ist das Deuten im Sinne polyvalenter Auslegung, so wie es in C 32, 38 [= J 10], J 1, J 16 entwickelt ist, vom Glossieren im Sinne eindeutiger Übersetzung (J 32) unterschieden.374 Das Glossieren / Übersetzen (J 32) ist mit einem in der göttlichen Sprache gründenden Geltungsanspruch ausgestattet.375 Der hinter all diesen Argumentationen stehende meisterliche Anspruch zielt auf Deutungshoheit, und er leitet sich aus der göttlichen Ursprache und dem Vermögen, diese zu übersetzen, her. Noch einmal werden die Namen maget, wip und vrowe in den Horizont des bereits Gesagten gerückt und relationiert (J 33), doch sind die bislang markierten Differenzierungen im Horizont ethischer Qualitäten umsemantisiert:376 Die maget kann vrowe genannt werden, wenn sie ihre weibliche Natur (ihre art, V.3) schmerzvoll (we, V.5) unterdrückt, keusch ist und augenscheinlich ein vro (V.6) vorstellt. Ebenso kann das wib eine vrowe sein an lebende vrucht (V.7), gelingt es ihr, tzucht (V.7), stete (V.9) und tugent (V.12) wirken zu lassen. Diese ethischen Qualitäten ermöglichen es, dass wip und maget Gegenstand des Frauenlobs sein können. Sie gründen auf physiologischen Verhaltensänderungen der weiblichen Natur.377 Die Stichworte strit (V.5) und krich (V.11)378 lassen die Verhaltensänderungen zum Kampf gegen die art werden. Dieses 373

Ein in einem weiten Sinne vergleichbarer Fall bei Fritz Tschirch, Glosse (1932), S. 332f. Voneinander verschiedene Deutungen können Wahrheit beanspruchen, dürfen jedoch nicht für sich beanspruchen, mit der im Geist geschauten Wahrheit des Schöpfers der Schrift übereinzustimmen. Augustinus, Confessiones XII,24,33. Es ist dieser Gedanke der Wahrheitsunterscheidung, der die Pluralität der Auslegungen rechtfertigt. 375 Eine sehr genaue Analyse der Strophe mit Hinweisen auf parallele Verfahren der Judenpolemik lateinischer Exegese und Predigtliteratur bietet Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 313–319. Die Polemik richte sich vergleichbar, so Egidi, gegen abweichende Auslegungen der Schrift, ebd., S. 317. 376 Egidi, ebd., S. 319, spricht von der Bedeutungsübertragung des ‚Ehrennamens‘ auf die ethische Ebene. 377 Mit einer wunderbaren Diskussion des art-Begriffs – Egidi, ebd., S. 321f. – in Auseinandersetzung mit der Forschung und im Blick auf die unterschiedliche Verwendung im Streitgedicht „Minne und Welt“ sowie in den Tönen und Liedern Frauenlobs (III, V, VII, VIII, XIII) stellt Margreth Egidi für die hier relevante Stelle im Langen Ton Frauenlobs die Nähe zur weiblichen Natur heraus. 378 Das Motiv der pugna interior, das aus der geistlichen Paränese stammt und auf den anthropologischen Streit zwischen ratio und sensualitas zielt, ist in der volkssprachlichen Literatur etwa im huote-Exkurs Gottfrieds von Straßburg, in den Spruchstrophen Konrads von Würzburg, Reinmars von Zweter und des Meißners anzutreffen. Obgleich die Literarisierungen des Motivs stark differieren, ist deren gemeinsame Basis ein Denken in Wertoppositionen, Egidi, Höfische Liebe (2002),

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Aufweichen der physiologischen Disposition von maget und wip durch den agonalen Impetus dynamisiert die Relation von vox und res und begründet das Lob des vrowen nam, weil die Bezeichnung auf eine physische, ethisch positiv bewertete Basis verweist. Die Genitivmetaphern vruchte tugent (V.13) und blomen art (V.13) sind ein starkes Bild für die ethisch besetzte Verschränkung der jungfräulichen Art und der nutzbringenden, deshalb tugendhaften Frucht im vrowen nam. Mit dieser Strophe kulminiert der gesamte Strophenblock im Lob der vrowe, an der sich sowohl Art als auch Nutzen (vrucht) zeigen. Letztlich ist weniger eine „Instabilität der Begriffe“ zu konstatieren,379 denn die Namen sind klar differenziert und wissensbzw. sprachgeschichtlich fundiert. Vielmehr wird der für den Langen Ton relevante pragmatische Umstand erhärtet, dass Benennungsvorgänge immer entweder an physiologische Zustände bzw. höfische Verhaltensformen und / oder ethische Qualitäten gebunden sind. Möglicherweise ist der Grund dafür in der performativen Orientierung der Spruchdichtung zu sehen, in der Bindung an die Aufführungspraxis. Möglicherweise haben wir es aber auch mit einer spezifisch volkssprachlichen Form lebenspraktischer Benennungsvorgänge zu tun, die in die literarisierten sprachtheoretischen Überlegungen integriert ist, die aber auch späterhin – vielleicht im Rahmen der Autonomiebestrebungen der Gattung – exkludiert werden kann, wenn die Worte erst einmal auf dem Weg ihrer begrifflichen Etablierung und semantischen Schärfung sind. Im Rahmen einer historischen Semantik ist davon auszugehen, dass die vorläufige Unschärfe des Benennens Ursprung und Ausgangspunkt der Begriffsbildung gewesen ist.380 Der Strophenblock legitimiert das Frauenlob über die Integration heilsgeschichtlichen Wissens, das a) als Buchwissen (J 32,8) explizit Erwähnung findet oder das b) als ein Wissen um die Modi göttlicher Rede zur Darstellung gelangt oder das c) als ein erinnertes Wissen literarisch bearbeitet ist: So werden die ersten Namengeber Adam, Mennor und Jesus zu Autoritäten einer ursprünglichen Wahrheit, auf die sich die Namen(er)findung und das Frauenlob des Sprecher-Ichs stützen. Wahrheit ist an einen heilsgeschichtlichen Ursprung und an eine Ursprache gebunden und damit mehr als eine emphatische Behauptung. Es ist eine Möglichkeit, den Wahrheitsanspruch literarischer Sprache im Sinne von Augustinus in der Gewissheit göttlich wahrer Ordnung zu fundieren. Die Wahrheit liegt in Gott und tritt teleologisch ein in Adams, Mennors und Jesu Wort, das metasprachlich zugleich das des Sprechers ist. Des Sprechers wahre Aussage S. 324–327, hier S. 327; S. 229: „Frauenlob“ „greift […] auf ein Verfahren höfischer Literatur, die Differenzierung von Wertehierarchien durch die Überordnung ethischer Kriterien, für seine namenSystematik und Wertabstufung zurück.“ 379 Kellner, Vindelse (1998), S. 275. 380 Kiennig, Gegenwärtigkeit (2006), S. 21, bestimmt als Kern historischer Semantisierungen die „Herstellung von Beziehungen – zwischen gleichzeitigen und ungleichzeitigen Elementen“ anstelle von Ableitung oder Ersetzung und hebt unter der Hand die zentrale Kategorie historischer Erkenntnis hevor: Ähnlichkeit. Im Rahmen historischer Metaphorologie bedarf dann der Vorgang der Ersetzung, der auf der Ähnlichkeit von Bildspender und Bildempfänger basiert, einer historischen Justierung.

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Wissen und Meisterschaft

leitet sich also her aus dem göttlich wahren Urgrund der Sprache und so ist das Frauenlob bereits in seinem Ansatz wahrhaftig.381 Im literarischen Sprachraum bleiben Benennung und Wahrheit an das (heilsgeschichtliche) Wissen des Sprechers gebunden. Das Wissen wird letztlich zu einer Macht, über die sich im Langen Ton die meisterliche Kunst legitimiert.

2.7

Meisterliche Reflexionen und feudalhöfische Kulturmuster (J 34–53)

Man könnte fragen, warum eine poetologische Strophe nach den Überlegungen zur Wahrheit des Frauenlobs eingetragen ist. Zunächst lässt sich konstatieren, dass das Spruchdichter-Ich im Zentrum des Interesses bleibt. Sein Repertoire, sein Wissen, der vunde krame (J 34,1) als Ausgangspunkt meisterlichen Lobs, jetzt aber allgemein meisterlicher Rede, tritt ins Licht. Beschrieben werden Möglichkeiten und Bedingungen meisterlicher Kunst,382 geht es doch um nichts Geringeres als die Bezüglichkeit von Produzent, Gegenstand und Rezipient sowie die Motivation der Bezugssetzung.383 Zunächst ist ein reziprokes Verhältnis zwischen den rezeptiven Erwartungen und der Kunst fokussiert, doch ist es dem Publikum anheimgestellt – dem spehen und dem slichten (V.5) –, was aus dem Reservoire der Kunst ausgewählt wird. Ob alle Sinndimensionen des Kunstangebots rezipiert werden, hängt von der Rezeptionssituation ab, denn obgleich das Angebot unerschöpflich ist, ist es dem einen rynge[…] (V.2) und weich (V.5), dem anderen tiure (V.3) und scharf (V.5), passt hier, was andernorts nicht genehm ist (V.6). So sind es der Verstand und die Klugheit, denen die Aufmerksamkeit gelten muss. Wird der Verstand durch scharfsinnige Beobachtungen über das normale Maß hinaus aktiviert, dies wird im Bild des Falkenfluges deutlich (V.7: Wa spehe werke synnes valke vliegen lat), dann nutzt der Spruchdichter seine Funde (viunde vleische, V.10), um ihn noch weiter herauszufordern. Die Genitivmetaphern vunde krame / viunde vleische (V.1, 10) umschreiben den Status spruchmeisterlichen Wissens; es ist ein unerschöpfliches und zugleich ein gefundenes bzw. erfundenes Wissen:384 Das 381

Anders Cramer, Was hilfet (1998), S. 177–182, der für poetische Zusammenhänge keine andere Möglichkeit als die der Beteuerung sieht, um zwischen wahrer und lügenhafter Sprache zu unterscheiden. Einen Weg aus diesem Dilemma findet der Minnesang des 13. Jahrhundert im Sprachkontrakt: „Die Wahrheit der poetischen Sprache besteht in der Vereinbarung darüber, daß sie Lüge ist“, ebd., S. 183. 382 Ein Kommentar zu dieser Strophe bei Harant, Poeta Faber (1997), S. 84–92. 383 Zur Übereinkunft von Sprecher, Rede und Publikum (äußeres aptum) B. Asmuth, Art. „Angemessenheit“, in: HWR 1 (1994), Sp. 579–604. Vgl. auch Franziska Wenzel, Situationen höfischer Kommunikation (2000), S. 193–224. 384 Auf poetologischer Ebene steht der Begriff vunt für das Auffinden und Erfinden des Produktionsprozesses ein. Dazu variant bei einer Spruchstrophe im Zarten Ton (VIII *19), in der der Begriff zwar im Sinne des Erfindens, aber dennoch auf den Gegenstandbereich bezogen gebraucht wird, vgl. Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 230–236, hier S. 231: „die Frau als ‚Erfindung‘ Gottes“; zugleich wechselt der Begriff auf die poetologische Ebene und steht dort, vgl. S. 233f., für die

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Spruchdichter-Ich ist in der Lage, auszuwählen aus dem Reservoire seines Wissens, und es ist in der Lage, dieses Wissen im Sinne der inventio literarisch so zu gestalten, dass es zum Anreiz für den (schöpferischen) Verstand wird.385 Die Metapher des viunde vleische (V.10) stellt den Vorgang der künstlerischen Produktion sowohl in die Nähe existentieller Nahrungsaufnahme als auch in die Nähe der Eucharistie. Beide Konnotationen begründen die Notwendigkeit der Kunstproduktion. Sie stärken zugleich die Idee der Wandlungsfähigkeit und auch die der Selbstbezüglichkeit meisterlicher Kunst. Im Folgenden ist es dann der spruchmeisterliche Rat, der aus dem unerschöpflichen künstlerischen Vorrat an Wissen heraus literarisch gestaltet wird. Zunächst werden zwei Formen des höfischen Rats konturiert, der metaphorisch umschriebene Rat an Herrn Bart, eine Personifikation des Alters in J 35–37, und der Rat an die Ritterschaft (J 38– 42), der mit dem Lob des Namens an das Frauenlob J 10 und die panegyrischen Strophen J 18–23 anschließt. Den Konnex zwischen der Dreier-Strophengruppe J 35–37 und der Gelenkstrophe J 34 stiften die wiederkehrenden Stichworte witze (J 34,5 – J 35,1; J 36,1.12), zemen (J 34,6 – J 35,6; J 36,13; J 37,3.7) und sin (J 34,7.13 – J 35,6; J 37,14.17f.). Sie bilden eine semantische Brücke, indem sie das künstlerisch gestaltete Ratgeben des Spruchdichters und das Verhalten des Rat Empfangenden miteinander verbinden. Der Rat richtet sich an das Alter – personifiziert in Herrn Bart –, doch wird er abgelöst von Überlegungen zur jugendlichen männlichen Gesinnung, die stilistisch eingelassen sind in eine Adynata-Konstruktion: Genauso wenig wie das Spruchdichter-Ich in der Lage ist, den Flug eines Vogels (vogels vliegen, J 37,6), den Weg des fahrenden Schiffes (varenden schiphes phat, V.11), das Sichwinden einer Schlange (slangen slingen, V.12) und das Schwimmen eines Fisches (visches vliezen, V.13) wahrzunehmen, so wenig ist er in der Lage, die Windungen des viunften (V.15) zu spüren: Des junge[n] mannes mut (V.19) ist nicht zu verstehen. Im diskursiven Horizont des Sprichwörter- und des Weisheitsbuches (Prov 30,18f.; Sap 5,10–12) zielen die Beispiele auf den ephemeren Status des Weges, der der Wahrnehmung der Sache entzogen bleibt. Ontisch hinterlassen weder der Flug des Vogels am Himmel, noch die Fahrt des Schiffes auf dem Meer, noch das Schlängeln der Schlange auf dem Fels, noch der Weg des Fisches im Wasser eine Spur. Wenn es dem Spruchdichter-Ich analog dazu nicht möglich ist, die Gesinnung des jungen Mannes wahrzunehmen, scheint mir eine Sinndimensionen jugendlicher Gesin-

„Entstehung höchster literarischer Lobkunst (vunt)“; Siehe auch Hübner, Lobblumen (2000), S. 76f., der vunt in Heinrichs von Freiberg „Tristan“ auf den rhetorischen Vorgang der inventio hin deutet; vgl. zum Begriff vunt Walter Johannes Schröder, Vindaere wilder maere (1957). 385 Zur Relation von Wissen und Stoff s. Worstbrock, Wiedererzählen (1999), und Lieb, Poetik der Wiederholung (2001). Silvia Schmitz, Inventio (2007), S. 234, weist auf Entkopplungen des Stoffbegriffs vom Gegenständlichen und einer Analogiebildung von materia und verba sowie sententiae bei Konrad von Mure hin. Thomas Cramer, Was hilfet (1998), zieht hier Vergleiche zur „Poetria Nova“ von Galfrid von Vinsauf.

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nung zentral zu sein, und zwar ihre Unbeständigkeit.386 Die literarische Bearbeitung des biblischen Wissens bietet eine weitere Option: Wenn die Windungen der Gesinnung so lang sind, dass der Verstand (sinne[n] min, V.17) sie nicht zu ergründen vermag, wird, so die These, unter der Hand der muot als Gegenstand spruchmeisterlicher Reflexion generiert und legitimiert! Denn auch wenn der Gegenstand so gewunden (scranc, V.15) und komplex ist, dass er in der Summe unbeschreibbar bleibt, bietet er dennoch ein weites Versuchsfeld der Bearbeitung. Haftet dem Sichverändern etwas Flüchtiges an, das es nicht erlaubt, Sache bzw. Gegenstand adäquat zu ergründen und zu beschreiben, dann wird der künstlerische Gegenstand durchsichtig auf einen vorausliegenden Möglichkeitsspielraum, der jede Form der Bearbeitung erlaubt und der den Gegenstand zugleich als Gegenstand der Bearbeitung prolongiert. Das Vorausliegende, das zu bearbeitende Material ist in seinem Status fest und komplex, aber zugleich flüssig und das heißt wandelbar.387 Biblische und literarische Referenzen, etwa die hakenschlagende Rede Wolframs aus dem „Parzival“-Prolog, sind Teil der diskursiven Formationen, an denen die Strophe teilhat, und sie unterstützen die These. Ist es hier der Gegenstand, der gewunden ist, so ist es bei Wolfram die Gewundenheit der Kunst, die seine Geschichte legitimiert. Der Prätext aus dem Buch der Weisheit rechtfertigt den Gegenstand in ähnlicher Weise, ist doch im Vorfeld der biblischen Adynatakonstruktion (Sap 5,8f.) von der Vergänglichkeit des Übermuts, der keinen Nutzen zurücklässt, die Rede. Die beiden Diskursfelder konturieren einen literarischen Assoziationsraum, der als propositionaler Gehalt bei der Bearbeitung der folgenden Gegenstände des Strophenblocks dient: Thematisiert werden (J 38–42) die Dimensionen der Ritterschaft, wobei die Ritterschaft als eine Instanz der Kanalisierung jugendlicher männlicher Gesinnung gestaltet ist. Auf einer ersten Abstraktionsebene wird in J 43–45 höfisches vs. unhöfisches Verhalten literarisch konturiert. Sprachtheoretisch abgehoben davon werden die Namen houchvart und ubermuot (J 46–49) reflektiert, bevor die Summe der Überlegungen noch einmal poetologisch und hinsichtlich der lebenspraktischen Bedingungen meisterlicher Kunst eine Überarbeitung erfährt (J 50–53). In den ersten beiden Strophen wird ein Netz zwischen den Konstituenten guter Ritterschaft und dem Lob des Ritters geknüpft. Der Ritterstand als ordo-System wird dynamisiert, ist es doch die Beweglichkeit des Ritters, die hier als höfisch-epische Reminiszenz in der Warnung vor dem verligen (J 38,8–12) und der Aberkennung des 386

Dass hier daneben der zeitgenössisch scholastische Wissensdiskurs um die Beziehung von Gott und Welt, Wort und Ding durchquert wird, zeigt die Relevanz solcher Begriffe wie Abbild, Ähnlichkeit und Spur, die das Denken um die Erschließbarkeit der (göttlichen) Zeichen sowie die graduell gestufte Möglichkeit ihres Erfassens anzeigen. Dazu Fuchs, Zeichen und Wissen (1999), S. 79–100. Der Gedanke der Spur basiert auf einer anderen Ähnlichkeitsrelation als das Abbild. Die Spur steht in einem Kausalzusammenhang mit ihrer Ursache, verändert aber im Gegensatz zum Abbild die Form der Ursache, ebd., S. 220f. 387 Ich beziehe mich hier auf den Entwurf des Imaginären, wie ihn Cornelius Castoriadis, Gesellschaft (1990), entwickelt hat, insofern der Stoff, wie ihn die mittelalterliche Literatur fasst, dem Imaginären im Sinne von Castoriadis analog gedacht werden kann.

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Namens anklingt. In der Konsequenz dieses epischen Arguments ist der Name Ausdruck einer Bewegung, Ausdruck eines Weges, respektive einer Veränderung: Er ist aktiv zu erwerben und zu bewahren. Und so sind es drei Eigenschaften (driu dinc, V.13) – Walthers I. Reichston klingt an –, die den Ritterstand bestimmen: Kampfesmut, Freigebigkeit und göttliche Demut. In ihrer Zusammenstellung wirken die drei Güter zunächst willkürlich, ist die Liaison von fortitudo (Tapferkeit) und göttlicher Demut nicht erklärt. Doch als eine dynamische Relation, als ein Movens ritterlicher art, bilden sie eine Bewegung aus von der Gesinnung kühner Auseinandersetzung über die Verausgabung der gewonnenen Güter hin zur Andacht der Seele. Im sich anschließenden Lob des Ritternamens J 39 (= C 44) stehen die weltlichen Facetten, in denen Ritterschaft ihren Ausdruck hat, im Zentrum des Lobs (saelde, êre, zuht). Forcierter noch als in J 38 wird die art (V.10) des Ritterordens an den propositionalen Gehalt des höchsten Namens (V.1) gebunden, der im Zusammenspiel von Wort und Werk seinen Ausdruck findet. Maßgebliches Kriterium ritterlicher Mannheit ist die Kraft des Willens (V.17), die auch unter widrigen Umständen in der Lage ist, dem Ritter Ansehen und Lob zu erwerben. In dieser Darstellung wird der Wille als Präsupposition des Ritternamens gefeiert – ein Analogieschluss zum meisterlichen Vermögen im Frauenlob liegt nicht fern. Die Klage des Sprecher-Ichs (J 40) reagiert dann auf einen Istzustand, der dem gepriesenen Idealzustand nicht entspricht: Die Stände müssen voneinander geschieden werden. Die Klage bezieht sich auf die Durchmischung der Ritter und Bauern, die im Bildfeld der Kleidermetaphorik (V.1–3, 13) als rechtswidrige Entdifferenzierung dargestellt wird. Zurückliegende Rechts- und art-Reflexion im Langen Ton von J erhellen, dass die art an eine rechtliche Grundlage gebunden ist, auf der Gut und Böse – in J 4 waren es Mein und Dein – differenziert werden: art meint somit ein Spezifisches in Abgrenzung vom Anderen / Unspezifischen. Mit der Aufforderung des Spruchdichters, die personifizierte Ritterschaft möge sich an den Hof wenden, um ihr angestammtes Recht zurückzubekommen, ist die Verknüpfung mit J 41 geschaffen, einer Hofklage des Sprechers. Das Spruchdichter-Ich setzt die Klage, die die Ritterschaft ausführen sollte, selbst um, und es setzt sich damit stellvertretend ein für den Ritterstand. Die Klage bezieht sich auf die auch am Hof existente Durchmischung von Ritter- und Priesterstand. Das Spruchdichter-Ich insistiert einerseits auf Unrechtmäßigkeit und Delokalisierung und andererseits auf dem Mangel eines idealen, wechselseitigen Verhältnisses von Fürst und Sänger (V.12).388 Dieser Zustand ist durch die metaphorische Rede vom Fehlen an prisliche cleit, rilich wat und werlich hGlle (V.11) zum Ausdruck gebracht, die wiederum auf die Notwendigkeit einer reziproken Konstellation von Herrscherlob, Sängerlohn und Sängerschutz hinweist. Beinahe unbemerkt ändert sich die Perspektive: Die Rede ist zunächst von der Durchmischung der Stände der Bauern und Ritter, dann wechselt die Darstellung zur Durchmischung von Priester- und Ritterstand am Hof, um zuletzt fehlende Nähe und Reziprozität von Ritterstand und Künstler(stand) zu themati388

Dazu Strohschneider, nu sehent (1996); ders., Fürst und Sänger (2002), S. 93f.

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sieren, bis hin zum impliziten Lob der eigenen künstlerischen Qualität im Bildfeld der Habgier, J 41,15–19: Gegeneinander stehen der Rat der habsüchtigen Priester, der im gib und gib (V.17, ein Rekurs auf Sap 30,15) für den Hof nur Gräten übrig hat, und der Rat des Spruchdichters, der dem Hof anstelle der schlechten Taten den Fisch überlässt. Diese kontrafaktische Konstellation ist in den Metaphern vom habgierigen Raben (rappen) und vom weitsichtigen Falken (valk) (V.19) auf zwei konkurrierende höfische Ratgeberinstanzen durchsichtig. Die Konkurrenz von Priester (Laienprediger) und Spruchdichter389 ist als Fehler des Hofes inszeniert und auf eine Konkurrenz richtiger und falscher Ratgeber abbildbar, die im Priamel J 42 in einem abstrakteren Sinne weiter ausgeführt wird, indem die Entsprechung von art und dinc (V.17) überdacht und als eine natürliche Gegebenheit inszeniert wird. In drei Bildfeldern, dem der Natur, dem des Berufswesens und dem des Ordosystems, wird diese Entsprechung literarisch gestaltet: Aufbauend auf den naturgegebenen Lauten der Tiere, wobei der Laut metonymisch für das jeweilige Tier einsteht [wauwau, kikeriki etc.], einer entsprechenden Zuordnung von Tier (eyn hunt) und Tierstimme (sol bellen, V.1), werden die Träger der Berufe (eyn smit) und ihre Tätigkeiten (sol smiden, V.7) aufeinander bezogen, wobei hier das Tätigkeitswort von der Berufsbezeichnung abgeleitet wird (V.7f.) im Sinne der onomatopoetischen Ableitung gouche – gouhen, V.6. Durch diese Verschiebung des Bezuges von der Dingebene auf eine sprachtheoretische Ebene imaginieren die derivationes der Tätigkeiten eine naturgegebene Entsprechung von art und dinc, die sich in der jeweiligen Bezeichnung, im nomen, niederschlägt.390 Der Gedanke der naturgegebenen Entsprechung wird auf Knecht und Dienst sowie Mönch und Kloster übertragen, wobei vom Berufssystem zum Ordosystem gewechselt und die Perspektive auf die Lokalisierung der Stände verschoben wird: dem mGnche tzimt syn kloster baz den er tzG hobe sich ouche (V.12). Der Gedanke, dass alle Dinge, also auch die Stände und ihre Vertreter, einen natürlichen Ort haben, wird nochmals formuliert: wa man liez eben / daz dinc nach syner art bekleben, / so kemez nicht of widerstreben (V.16–18). In der Quintessenz kann dann erklärt werden, dass der Mönch am Hof Ausweis seiner unart (V.19), nicht aber Teil der höfischen Ausstattung ist. Damit wird der Hof als Instanz stilisiert, die Priestern / Mönchen und Spruchdichtern zu ihrem naturgegebenen Recht verhelfen könnte. Die Ordnungsleistung 389

Die Konkurrenz zwischen Laienpredigern und Spruchdichtern ist immer noch am besten dargestellt von Hannes Kästner, Sermo vulgaris (1996); vgl. daneben Max Bierbaum, Bettelorden und Weltgeistlichkeit (1920); Sophronus Clasen, Der hl. Bonaventura und das Mendikantentum (1940); Rolf Köhn, Monastisches Bildungsideal und weltgeistliches Wissenschaftsdenken (1976); Georg Wieland, Mendikantenstreit (1995) und Stolz, Artes-liberales-Zyklen (2004), S. 52f. 390 Eine Unterscheidung zwischen bedeutungstragendem und nicht bedeutungstragendem Laut, wie sie Dufour, Lehre (1989), S. 33, für das scholastische Denken ausmacht, ist hier nicht mitgedacht, da Relation und Lokation von Ding und Nomen, die hier überdacht werden, an einen bedeutungstragenden, wertsemantisch aufgeladenen Kern, der mit dem Begriff der art erfasst ist, gebunden sind. Ausgangspunkt ist dabei nicht die wahre Bedeutung der Dinge, sondern diejenige, die im nomen liegt.

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liegt beim Hof als oberstem Repräsentanten der Ordnung. Tüchtigkeit, Freigebigkeit und Demut als maßgebliche Tugendtrias des Ritterstandes (J 38,13) können nur im Lob der art zusammengeführt werden, wenn der Hof die etablierte Ordnung, die Ständegrenzen und das Gute im Sinne des ordo naturalis vertritt. Die logische Konsequenz ist ein Rat für die edelen vursten (J 43,13), sich auf ihre Fähigkeiten zur Unterscheidung von Gut und Böse zu besinnen, damit sie nicht an ihrem angestammten Ort, dem Hof, in die Enge getrieben werden. Dieser Rat ist in einer Fülle von Bildern literarisiert und durch deren Wiederholung hervorgehoben, angefangen von der Beiz, über den Weinbau, die Gartenpflege, die Obsternte bis hin zur Kleidung. Die Rede vom Wolf, der dorthin geht, wo er nicht hingehört, verweist auf die Priesterschaft am Hof, die die Fürsten in die Enge treibt, und sie rekurriert auf den Wolf der Fabel, der das Böse verkörpert.391 Die lokale Bindung und Differenzierung der Stände wird in dieser Strophe ethisiert in polar arrangierten Bildern edler und unedler Tiere, edlen Weins und schlechter Fässer, edler Kräuter und Unkräuter, guten und faulen Obstes. Das abschließende Bild von der schlechten Naht, die nicht zum guten Kleid passt, und der Gedanke, dass das Böse per se böse ist (V.15–18), forcieren nochmals die Entsprechung von art und dinc, wobei art die eigentliche, wesenhafte bzw. naturgegebene Bedeutung der Dinge meint.392 Diese Entsprechung wird in der Folgestrophe J 44 auf ethischer Ebene dynamisiert, was einer Wertschätzung von Tier, Besitz, Kleidung, Gebrauchsgegenständen, Priester und Ritter aufgrund der ihnen zugehörigen Aufgaben gleichkommt. Als Verhaltensratschlag formuliert sollen etwa der jagende Hund, das zu reitende Pferd oder der essbare Fisch ob ihres Nutzens geschätzt werden. Im Spielraum der ethischen Prämissen des meisterlichen Denkens ist hier die Aufwertung der weiblichen Seinsstufen aufgrund ihres Nutzens (J 29, J 33) aufgerufen, so dass sich generalisieren lässt, wenn die Nützlichkeit einer Seinsform oder eines Dings erbracht bzw. ersichtlich ist in der Tat, ist dessen Werthaftigkeit bekräftigt. Vergleichbares gilt für den Priester, der die Beichte abnimmt, für den Bischof, der die Kirche weiht, und für die ritterliche Tat des Ritters. Im letzten Fall verschiebt sich die Wertschätzung unter der Hand vom Träger auf die Tat, die in der Quintessenz auf des biderben mannes tat (V.19) perspektiviert ist. Biderbe (J 45,12.17) ist das Stichwort und die thematische Brücke auf dem Weg zu J 45, einer Strophe, die nochmals den Missstand des Hofes gestaltet, nun bezogen auf die Konkurrenz von schmeichelndem und rechtschaffenem Manne. Im Assoziations391

Dicke / Grubmüller, Fabeln (1987), Nr. 615f.: Wolf und Gänse I und II, S. 698f., und Nr. 619: Wolf im Schafsfell, S. 701f., Nr. 642: Wolf im Schafspelz, S. 746–750. 392 Das Böse erscheint hier zunächst als das Auszugrenzende in Bezug zum Sein, das dem einen Guten entgegenstreben soll. Die Differenzierung zwischen Gut und Böse ist als eine nicht zu unterschätzende Angelegenheit dargestellt, weil das Böse nicht als etwas Feindliches gedacht wird, sondern im Sinne Augustins als Verneinung des Guten als ein relatives Fehlen bezogen auf eine bestimmte Situation. Es ist integraler Bestandteil der Natur, wenn auch im Sinne eines verdorbenen Anteils (hier lässt sich J 9 mit der Genderdifferenzierung der Damie anknüpfen). Heinrich Barth, Freiheit (1935), S. 1–25, zur Relation von Gut und Böse bei Augustinus.

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raum der J-Strophen und insbesondere aus der Perspektive von J 46, dem Auftakt der houchvart-Strophengruppe, weisen die suoze[n] spruche der Schmeichler (J 45,10), die wertlose, swache tzeichen (J 45,11) sind, auf die sprachtheoretische Legitimation der spruchmeisterlichen Rede (Wort sint der dinge tzeichen, J 46,1) voraus. Die houchvartStrophengruppe ist ein hieran anknüpfender poetologischer Versuch in der Tradition von Aristoteles und Augustin, die natürliche Entsprechung von art und dinc (res) auf der Ebene natürlicher und willkürlicher Zeichen (signa) zu erklären.393 Sie setzt die anthropologisch-ethische Argumentation von J 42–44 zur Entsprechung von art und dinc fort. Christoph Huber hat die vier houchvart-Strophen aus sprachphilosophischer Sicht sorgfältig analysiert.394 Für das Verständnis grundlegend sind die drei Worte lut, art und ursprinc sowie ihre Bedeutung: Wort sint der dinge tzeichen, sam der meister gicht. / davon mGz icht legen / in der worte rynge, / daz sich e dem dinge / gelichen mGz an lut, an art oder an dem urspringe, / wan islich dinc syn nam tGt melt: […] (J 46,1–6). Huber weist darauf hin, dass sich die drei Worte nicht auf einen sprachtheoretischen Nenner beziehen lassen, dass aber sowohl der Grundgedanke einer nomen-res-Entsprechung als auch der theoretische Hintergrund auf der Hand liegen. Er reflektiert etymologische Ableitungsmodi: für lut – ex voce bzw. ex sono, für ursprinc – ex origine. Schwierigkeiten in diesem engeren Kontext sieht er nur für die Bedeutung des Wortes art, die er allerdings in einem größeren etymologischen Rahmen sucht, insofern er art als proprietas im Sinne einer Eigenschaft der res verstehen möchte. Obgleich Huber, aufbauend auf den Theorien von Petrus Helie, Abaelard und Thomas von Aquin, mit dem art-Begriff einzelne Eigenschaften der Dinge aufgeschlüsselt sieht, ist im Rekurs auf die vrou-we-Etymologie eher zu unterstellen, dass die proprietas verborum im 393

Wie hängen conditio humana und die Mitteilung durch Zeichen zusammen? Die Körpersprache, die Mimik und die Tonlage lassen einen Schluss vom Zeichen auf das Bezeichnete zu. Vgl. zur Sprachphilosophie des Mittelalters (Augustinus, Aristoteles, Boethius, Thomas von Aquin, Johannes Dacus, Petrus Helie) Grubmüller, Etymologie (1975). In der Summe weist Grubmüller aus, dass es der Sprachphilosophie bis ins 12. Jahrhundert und auch nachher nie um das „Wesen der Sache“ (S. 227) gegangen sei. Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts gehe es um die Eingenschaften der Sache. „Aber wenn Eigenschaften der Dinge im Namen berücksichtigt sind und wenn sie durch die Etymologie erkannt werden können, dann vermag die Etymologie genau die Qualitäten der Dinge zu erschließen, in denen sich ihr geistiger Sinn manifestiert: die proprietates re“ (S. 228). 394 Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 134–167. Vgl. die zeichentheoretischen Überlegungen bei Fuchs, Zeichen und Wissen (1999), bes. S. 107–127: Fuchs entfaltet die Bacon’sche Impositionstheorie, die die augustinische Zeichendefinition korrigiert, insofern die Wörter als natürliche Zeichen ihr eigenes Bild im Geist des Sprechers (mentales Bild) bezeichnen, S. 115. Bacon betrachte die Wirkweise von Substanzen und Akzidentien nach dem Paradigma der Strahlung des Lichts, wenn etwa die Sonne eine Wirkung auf den Mond erzeuge, indem sie dessen Potential, erleuchtet zu sein, in tatsächliches Erleuchtetsein verkehre, S. 116. Der Bezug zwischen einzelnem Laut (vox) und mentalem Bild (spezies) werde bei Bacon als Verkettung gegenständlichsinnenhafter Entitäten aufgefasst. Diesen Akt nennt Bacon impositio und versteht ihn als Benennungsakt einer extramentalen oder seelischen Sache (Gegenstand) mit einem Terminus, nicht aber als Verknüpfung einer Lautkette mit abstraktem Bedeutungsgehalt so wie die alte Semiotik, ebd., S. 117.

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Sinne der eigentlichen Bedeutung des Wortes literarisiert ist, so dass von der Wortbedeutung her eine referentielle Brücke zu den beiden zentralen physiologischen Dimensionen, dem vro und dem we der Namensträgerin, geschlagen ist.395 Der Zusammenhang der Nachtragsstrophen ermöglicht, die bislang nur theoretisch fundierte Bedeutung der drei Ausdrücke art, dinc, nomen literarisch zu erschließen. Vielleicht lässt sich auf diesem Weg der unbefriedigende Eindruck, den diesbezüglich die vier houchvart-Strophen bei Huber hinterließen, beiseite räumen. Ich gehe zunächst von der ersten Strophe dieser Gruppe aus und beziehe, wenn nötig, die Argumentationen zur art-res-nomen-Entsprechung ein, die in J 33, 39 und 42 entfaltet wurden. In J 46 sind sprachtheoretisch zwei Aufgaben des Spruchdichter-Ichs skizziert, nämlich erstens zu prüfen und reflektierend darzulegen, dass die Namen auf natürliche Weise auf die Dinge verweisen, weil sie lautlich bzw. in der Lautung, per Eigenschaften oder per Ursprung den Dingen entsprechen, so dass anhand der Namen die Dinge erkennbar werden. Den Prüfstein dieser Prämisse bilden drei Entsprechungen zwischen dem (abstrakten) Namen und dem (situativen) Tun / Handeln396: Die Namen der Tugenden entsprechen den jeweiligen Taten (V.7), die Bezeichnung list entspricht dem Klugsein (V.8), das Wort Gerechtigkeit entspricht dem, was rechtens ist (V.9). Im argumentativen Anschluss ist die zweite Aufgabe des Ichs literarisch gefasst: […] hi bi so werd ich munder / und var of eyne vindelse: (V.12f.). Das (etymologische) Auffinden der Worte und das (etymologische) Erfinden der Worte sind im Bild vom vindelse als komplementäre Vorgänge spruchmeisterlichen Könnens erfasst. Weil die Namen ein Spiegel der Dinge sind, so wie die Tugenden den Taten entsprechen, legitimiert sich die compositioEtymologie houchvart als eine (ethische) Ableitung der Sache: der Begriff houchvart wird im Gegensatz zum üblichen Gebrauch – houchvart als superbia – zu einer Tugend. Ihr Name verkündet ihre vart entsprechend hoer e und drückt Vollkommenheit (hohez

395

Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 141. Thomas von Aquin greift jene Kontroverse auf, die unter dem Stichwort der Richtigkeit der Namen in der Tradition der griechischen Philosophie steht und zwischen Natur und Konvention als dem Ursprung der Namen zu entscheiden versuchte. Dokumentiert und vertieft ist diese Kontroverse im platonischen Dialog „Kratylos“. Für Thomas ist das Wort nicht per se ein Zeichen, sondern werde erst dazu durch Einsetzung (impositio), vgl. Perih. 1.1, lect.4〈n.46〉, lect.6〈n.81〉. Sprache ist bei ihm demnach ein Artefakt, und das Sprechen vergleicht er mit dem handwerklichen Herstellen. Es ist gerade die Relation von Sprechen und Handeln, die ihn interessiert, mehr als eine etymologische Herleitung der Namen. Das Wort solle so gewählt werden, dass seine Bedeutung der Natur der Sache entspreche. So ist denn der Zusammenhang zwischen verbum, conceptus und res eine Setzung, die dem Willen des Namengebers folge, und damit drücken die Namen Dinge und Sachverhalte dem Verstand entsprechend aus. Vgl. dazu Fuchs, Zeichen und Wissen (1999), S. 158–161. 396 Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 152, weist darauf hin, dass bekannte derivationes des Schulunterrichts, etwa Boethius’ sapientia-sapiens und iustitia-iustus, den wissensgeschichtlichen Hintergrund der ethischen Bearbeitung bilden. Demgegenüber sei es der Verbindung von Etymologie und volkssprachlicher Morallehre geschuldet, dass die Tat die Tugend konstituiere.

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adel) aus (V.18f.).397 Im intratextuellen Zusammenhang des Langen Tons in J ist die Analogie zur Wippeon-Etymologie evident. In J 33,17f. heißt es: von kunne Wippeone wart / dyn mittel-sy des namen vart. Der Name wird vom Handeln des Königs abgeleitet. Die Genitivmetapher umschreibt damit, was in J 46 entfaltet wird: Etwas liegt im nomen, was dem Ding gleicht; der Name gleicht lut, art oder ursprinc (V.2–5). So ist es in diesem Kontext schlüssig, dass die Metapher vart auf den Verlauf des Verhaltens zielt und damit die houchvart als Tugend par excellence stilisiert ist. Sie ist der namentliche Ausweis eines herausragenden Verhaltens.398 Sie ist in ihrem Kern hohe Gesinnung – und darin ist sie beständig –, und sie ist zugleich auf dem Weg und damit in ihrer handlungsgeschichtlichen Dimension, in ihrem dynamischen Moment, unfest. Auch wenn der menschliche Benennungsvorgang arbiträr ist, so ist die Wortbedeutung der durch Gott gesetzten Dingbedeutung ähnlich. Angezeigt wird dies durch die natürliche Entsprechung zwischen den Dingen / ihren Eigenschaften und den Worten / ihren Eigenschaften.399 Die Folgestrophen J 47–49 bebildern dieses Argument anhand des Gegensatzes hohen und niederen Handelns bzw. Verhaltens (J 47), und sie setzen die Tugend der houchvart sowohl von ihrem Gegenpol, den nideren (J 47,11 und 48,2), als auch vom Begriff des ubermGt[es] (J 49) ab. Die Stichworte wurtzel (V.2), natur (V.3), vergulden (V.12), art (V.14 ) und grunt (V.17) ostendieren im Zusammenhang der J-Strophen des Langen Tons die Bestandteile des houchvart-Verhaltens, bilden sie doch die Ecksteine einer mehrstelligen Zeichenrelation, in der die natürliche innere Haltung, hier der adel (V.12), dem herausragenden Verhalten entspricht und als Kern aller Tugenden jedwedes adlige Verhalten im Sinne der Metapher vom Vergolden zu überhöhen vermag. Beide Dimensionen, die Entsprechung von art (grunt) und res sowie die Veränderung der res nach Maßgabe der genuinen ethischen Auszeichnung der art, widersprechen einander nicht. Sie bilden einen doppelten Fokus bezogen auf staete und wandel des Verhaltens aus, der zugleich auch die Schwierigkeiten der literarischen Beschreibung generiert, da immer wieder neben der Beständigkeit des Verhaltens auch vom Wandel und der Unbeständigkeit der Gesinnung die Rede ist bzw. vice versa. Die houchvart ist nun jene Verhaltensmaxime, die der Gesinnung eine Richtung gibt, die ein ethisches Merkmal aller guten Dinge ist (Houchvart ist aller gGten dinge eyn tzeigen, 48,1), die allen werthaften res eigen ist und im Sinne einer Präsupposition alle Tugenden markiert (V.6). Während der Name in den Strophen J 47 und 48 auf den Bereich des höfischen Verhaltens hin 397

Mit der Konjektur von Thomas vart] art in V.19 und der damit in Zusammenhang stehenden Bestimmung der Ableitung houchvart – hohe e ir art als Paronomasie im WtbGA, S. 74, liegt eine alternative Lesart des Abgesangs vor, die die nomen-art-Entsprechung des ersten Stollens aufgreift. 398 Im Kontext der etymologischen Begriffserklärungen von J ist die hier literarisierte Wortbestimmung als compositio-Etymologie der vrou-we-Etymologie analog gebraucht, wobei die Wortbestandteile des Namens als proprietates rei dargestellt sind und damit auf die art-Etymologie in Abgrenzung zur origo-Etymologie (V.5) bezogen werden können. In der GA wird sie als Zusammenstellung ähnlich klingender Wörter gleicher Herkunft erfasst. 399 Grubmüller, Etymologie (1975), S. 210.

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dimensioniert ist, das hohe vom niederen Verhalten geschieden wird, semantisiert im Negationspartikel un-, wird er zu einem umfassenden höfischen Wertbegriff, der an die Stelle des semantisch undifferenzierten Tugendbegriffs zu treten vermag. In J 49, stilistisch als Schelte dargestellt, rückt der ubermGt an die Stelle der superbia und übernimmt auf diese Weise im Tugend- und Lastersystem die Position eines Kardinallasters.400 Biblisches Wissen um Sündenfall und Engelsturz bildet den Referenzbereich der Schelte und semantisiert die Abwertung des Namens heilsgeschichtlich: So ist diesem Laster Sündhaftigkeit genuin, sie ist seine art, sein wesen, sein even grunt401 (V.12). Der Übermut selbst wird zur Ursache des Aufbegehrens der Engel wider Gott und des darauffolgenden Engelsturzes erklärt (engels val – V.19).402 Die Strophengruppe hebt nicht nur auf die Entsprechung von Zeichen und Ding ab, sondern sie stellt die Ähnlichkeit von Namenszeichen, Gesinnung und Sache aus.403 Bei aller zeichentheoretisch-etymologischen Reflexion ist sowohl die Bindung sprachphilosophisch abstrakter Aussagen an ihre sprachliche Umsetzung im Namen als auch ihre bildhafte Explikation, bezogen auf den Bereich höfischer Kommunikation, ein recht eigenständiger Gedanke. Das Besondere dabei ist ein spezifisch dynamisches Verständnis des Ontischen, auf das hin das Nebeneinander von fester und veränderbarer Dimension der houchvart transparent wird. Die letzte Strophengruppe im Bereich des Nachtrags fokussiert mit dem Fragen, dem Loben, dem Ratgeben und Schelten situativ unterschiedene Redeformen, die als alltagssprachliche sowie als literarische ausgewiesen sind und auf quaestio, disputatio, laudatio universitärer Lehrpraxis verweisen. Die Redeformen umgreifen die kommunikativen Bezüge bei Hofe: die Relation der Fürsten und Ratgeber, und ganz zuletzt auch die von Fürst und Spruchdichter. In J 50, einer Strophe, die als Rat inszeniert ist – der Sprecher fordert den Adel zum fortgesetzten Fragen auf –, rekurriert V.5 mit dem Stichwort der alten Kunst auf den Bereich antiker Sprachkunst: vrage ist eyn stab der alten kunst, 400

Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 162f. Die Konjektur in der GA: eben] eve verstellt an dieser Stelle den Bezug zum biblischen Wissen; sie erhält aber eine syntaktisch überzeugende Erklärung GA 2, S. 757f. 402 Im Rahmen der späten Sangspruchdichtung überliefert die Kolmarer Liederhandschrift den „Hort von der Astronomie“, in dem ein gefallender Engel zum Sprecher heilsgeschichtlichen Wissens avanciert. Dazu Franziska Wenzel, Teuflisches Wissen (2002). Die Tradition des Engelfalls listet neben der Rebellion der Engelführer gegen Gott (vgl. äthHen 68,4) zwei weitere Ursachen des Aufbegehrens: den Neid der Engel auf die Menschen und die Verführung der Menschen durch die Engel (vgl. VitAd 12–17) sowie das Motiv der sexuellen Verfallenheit (vgl. Gen 6,1–4). Siehe Emil Kautzsch, Apokryphen (1962). Vgl. Karl Erich Grönzinger, Art. „Engel III“, in: TRE 9 (1982), S. 586–596, bes. S. 591f.; Dénes Friedmann u. Max Wiener, Art. „Engel“, in: Jüdisches Lexikon 2 (1987), Sp. 398–402; Oskar Holl u. a., Art. „Engelsturz“, in: LCI 1 (1990), Sp. 642f; Oskar Holl u. a., Art. „Luzifer“, in: LCI 3 (1994), Sp. 124f.; Ernst Haag u. a., Art. „Engel“, in: LThK 3 (1995), Sp. 646–655; zur Ikonographie der mittelalterlichen Engelsturzdarstellungen vgl. Marlene Schaible, Darstellungsformen des Teuflischen (1970), S. 3–25. 403 Dieses Argument ist bis hin zur Ebene der Lexik einsehbar, vgl. J 46,1: Wort sint der dinge tzeichen und J 48,1: Houchvart ist aller […] dinge tzeigen.

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wobei es die richtig formulierte Frage (ebene vrage) ist, mit der man zum Ursprung der Klugheit vorzudringen vermag (V.6). Der literarisch erzeugte Kurzschluss rhetorischer Redekunst und höfischer Ratsuche bildet einen situativen Hintergrund aus, vor dem adlige Verhaltensprofilierung auf der Wahrnehmung des Anderen basiert und damit als mimetisch ausgewiesen ist. Die imaginierte Relation des Lernens als Relation von Vorbild und Nachbild – und das ist hier außergewöhnlich – wird als eine sprachliche Leistung des Erfragens dargestellt. Im beständigen Fragen, in der beständigen Suche um Rat und in der Wiederholung des Fragens bestätigt und festigt sich die Tugend adliger Klugheit oder anders formuliert: mit vrage wert eyn islich vrucht (V.18).404 Es verwundert kaum, dass in der sich anschließenden Strophe J 51 das Lob der lobenswerten Taten im Zentrum der Reflexion steht. Mit der imaginierten fixen Bezüglichkeit von adligem Gegenüber und Sänger wird eine Abhängigkeit suggeriert, die das Lob als natürliche Folge guter Taten und als verbalisierte gute Fama adligen Verhaltens ausstellt. Da das Lob des Spruchdichters aber nur dann gepflegt werden kann, wenn auch die herausragenden Taten der Adligen beständig bleiben, wird der Spruchdichter in einer unentbehrlichen Position adliger Konsoziation imaginiert. Im Bildfeld von Edelstein und Kraut, die ihre Kraft durch beständige Pflege entfalten, wird die Relation von Lobendem und Gelobtem wertsemantisch dimensioniert:405 Das bedeutet zum einen, dass sich personelle ethische staete und die Beständigkeit des Lobens bedingen, und zum anderen entfaltet sich die überzeitliche Wirkung des Lobs in dessen Pflege – und hier ließe sich im Rekurs auf die Vorgängerstrophe assoziieren – nicht nur in der Beständigkeit adligen Verhaltens, sondern auch in der Beständigkeit adligen Fragens. Im Bezug zu J 46 ‚wort sint der dinge tzeichen‘ wird in J 52 das sprachtheoretische Argument der Entsprechung von Wort und Ding ausgespielt, situativ neu konturiert und damit wiederum semantisch neu dimensioniert. Zur Darstellung gelangt zunächst der Rat des Spruchdichters, der sich an die hohen vursten (V.1) wendet, sie zu edlem Handeln auffordert (V.7) und die Entsprechung von Tat und Adel postuliert (V.8). Der Verweiszusammenhang von Zeichen und Ding, der im Rauch, den das Feuer anzeigt, zur Bildhaftigkeit gelangt (V.12), wird durch das anschließende Bild des Blutes, das einen fleischlichen Körper voraussetzt, temporalisiert (V.12). Vor diesem Gedanken ist die adlige Qualifikation, gemeint ist hier explizit das Wort adel, an die entsprechenden wertsemantisch hochwertigen Handlungen gebunden und in einen zeitlichen Zusammenhang gestellt, denn der Name entspricht nicht nur der Tat, er ist durch seine wertsemantische Dimension ihre Folge. Die Einschränkungen des Abgesangs, die Frage 404

Rainer Wehse, Art. „Frage“, in: EM 5 (1987), Sp. 23–29, beschreibt den Ursprung der Erkenntnis in der Frage, weil ihr ein dialogisches Moment innewohne und sie eine Antwort bedinge. Diese strukturelle Bindung von Frage und Antwort wird mit J 50 funktionalisiert für die Legitimation des spruchmeisterlichen Rats, ist es doch das Fragen, was nach Antwort verlangt, so dass die Aufgabe des Ratgebens als eine kommunikative Notwendigkeit etabliert werden kann. 405 Die Trias von verba, gemmae und herbae ist sprichwörtlich. Vgl. Hans Walther, Proverbia (1963– 69): 2748, 7310, 11787, 11927, 14224, 14515, 30325, 33662, 33675, 33677 (Hinweis von Gisela Kornrumpf, GA 2, S. 761).

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nach dem, der Lob geben kann angesichts derjenigen, die sich vor und neben ihm schwächen, bereiten das Klagen des Sprecher-Ichs in der letzten, der 53. Strophe vor. Diese Strophe ist durchsetzt mit interaktiven und ethischen Vorstellungen aus dem literarischen Diskurs um die Situation höfischer Kommunikation, wie sie etwa bei Walther in der sogenannten Thüringer Hofschelte406 inszeniert ist. Im Zentrum der Reflexion steht hier die kommunikative Situation am Fürstenhof, respektive das kommunikative Verhältnis des Fürsten zu seiner internen (diener, V.3, 11) und externen (gesten, V.12) Gefolgschaft, sowie ganz explizit die Relation zum Spruchdichter-Ich. Dieses Ich beschreibt den Möglichkeitsspielraum höfischer Kommunikation zwischen der schlechten und der guten Gesinnung des Fürsten und setzt die an ihn gerichtete höfische Erwartungshaltung des Lobens, als Tabu des Scheltens formuliert, dagegen: nu ensol ich vGrsten schelten nicht. (V.5). Von dieser Hintergrunderwartung sticht das aktuelle bzw. das als potentiell möglich ausgewiesene Verhalten ab. Er klagt bzw. wird klagen, wo die fürstliche Gesinnung ethisch kritikabel ist, der Fürst sich an seiner Dienerschaft bereichert. Die Klage ist als spruchmeisterlicher Redegestus nicht unvertraut, doch die Schelte407, die eine Schuldzuweisung impliziert, darf nur als Potentialis spruchmeisterlicher Rede erscheinen, denn es heißt, dass das Ich den habgierigen Sack gerne mit Leid füllen würde (V.6). Die implizite Kritik der mangelnden Freigebigkeit der Fürsten kommt zum Tragen in der Beschreibung idealer höfischer Handlungs- und Verhaltensformen. Diese Situation ist nur dann gegeben, wenn der Fürst den ehrenhaften Mann als sein höchstes Gut (beste[r] hort, V.7, 9, 12) an sich bindet, sich aber nicht an dessen Einkommen bereichert. Dann und nur dann bleiben ihm seine Gefolgschaft und seine Gäste gewogen. Ist dies nicht der Fall, wendet sich die Gefolgschaft gegen ihren Fürsten. Im Bildfeld von Hammer und Schwert wird diese agonale Dimension höfischer Kommunikation prospektiert, und im Bild des Hammers, der das geizige Schwert zerstört, ist möglicherweise der massive Druck der Gefolgschaft konnotiert, der sich gegen die falsch ausgeübte fürstliche Macht richtet. Freigebigkeit und Agon bilden zum wiederholten Mal in J den Spannungsbogen höfischer Kommunikation, den das inszenierte Spruchdichter-Ich ausstellt, indem es das potentiell Mögliche kommuniziert.

2.8

Die Formen des Wissens und ihre Bearbeitung in J 1–53

Standen in C das Bearbeiten epistemischen Materials und die Verfahren der Bearbeitung im Vordergrund, so gilt für J einerseits, dass speziell die Verfahren des Deutens von Worten, Dingen und menschlichem Verhalten dargestellt sind, und andererseits, dass das bearbeitete Wissen aus den Bereichen der Real-, Literatur- und Heilsgeschichte 406

Der in den ôren siech von ungesühte sî (Co. 9V / L. 20,4). Dazu Strohschneider, Fürst und Sänger (2002), bes. S. 87–95. 407 Michael Baldzuhn, Aufführung als Argument (2002), S. 92, bezeichnet die Schelte als intrikate Form der Didaxe.

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und der Volksetymologie für das Leitthema der Verhaltensbildung instrumentalisiert ist. In einem allgemeinen Sinne geht es strophenübergreifend um rechtes Verhalten und für das Spruchdichter-Ich um rechtes Loben. Um diese Verbindung von rechtem Verhalten und rechtem Lob zu entwickeln, werden in J 1–3 Wissenspartikel aus der Erzähltradition um König Alexander im Sinne der Relation von Herrscher und Ratgeber neu konfiguriert, um sie zuletzt auf das Sprecher-Ich als einen idealen Ratgeber anzuwenden. Mit der Ethisierung des Rechts, der literarischen Imagination einer ersten, rechtlich fundierten Differenz, sind dann Facetten eines populären Rechtswissens funktionalisiert (J 4f.), um das Unterscheiden als erste und basale Voraussetzung jeder Verhaltensbildung zu markieren.408 Naturkundliches Wissen und ethisches Wissen interferieren dann in J 6–8 miteinander, und die Diskrepanzen zwischen Sein und Schein werden durch die Fülle von Bildern als anthropologische bzw. gesellschaftliche Unwegbarkeiten der Verhaltensbildung sichtbar. Mit einer solchen Metaphorisierung des Wissens wird die hinter den Bildern liegende Aussage, eine richtige Gesinnung im Unterscheiden von Sein und Schein zu erkennen, anschaulich. Um die fundamentale Fähigkeit des Unterscheidens für die Verhaltensbildung zu betonen, werden Kultur- und Denkmuster (J 9: Ehe, Patriarchat) derart verfremdet (die Damie grenzen den männlichen Anteil der Gesellschaft aus), dass die Relevanz dieser Fähigkeit für die eigene Kultur durch den Erwartungsbruch verstärkt wird. Der Blick auf das Weibliche motiviert eine Verschiebung der Argumentation in den Bereich des (Frauen-)Lobs (J 10–12) sowie einen Wechsel der epistemischen Einspielungen, die jetzt aus dem Bereich sprach- und zeichentheoretischen Wissens kommen. Eines wird dabei recht schnell deutlich: Namen bzw. Bezeichnungen sind situativ gebunden und sie spiegeln Fragen des Verhältnisses von verbum und res. Wie schon im Fall der Damie wird auch hier deutlich, dass das rechte Lob durch die Fähigkeit zur Unterscheidung, zur Differenzierung und zur Bearbeitung des diskursiv Vorgängigen (das hier auf Reinmar und Walther bezogen werden kann) ausgewiesen ist. Den Invektiven gegen das Frauenlob (J 13–16), die texttypspezifisches bzw. gattungsgeschichtliches und polemisches Wissen verarbeiten, ist mit der Verschiebung in J 18–23 die Spitze genommen. Vorgefasstes gattungsgeschichtliches und damit eher eindimensionales Wissen wird destabilisiert, indem es überschritten wird in einem metaphorisch arbeitenden sechsstrophigen Herrscherlob, das eine Fülle panegyrischer Möglichkeiten bis hin zur Autopoiesis demonstriert. Das Lob wird im Lobpreis zum idealen Gegenstand. Im Nachtrag werden zuerst religiöse Erfahrungen der Nähe zum 408

Das Unterscheiden geht sicher auf ethisches [S]cheiden und das Verhaltenspostulat der bescheidenheit bei Walther zurück, obgleich hier nicht in erster Instanz richtiges und falsches Verhalten etabliert werden durch ehtisches Unterscheiden, sondern ‚mein‘ und ‚dein‘ werden geschieden. Eine possessive Differenz geht der ethischen Differenzierung voraus, so dass das Rechte rechtlich gestützt und in seinem Wahrheitsanspruch gesichert ist. Zu discretio-Gebot und moraldidaktischem Hintergrund im Minnespruch vor Frauenlob vgl. Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 89–91, S. 90 Anm. 398f., S. 91 Anm. 401f.; zu den Minnespruchstrophen Frauenlobs ebd., S. 107–118.

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Unnahbaren erfahrbar gemacht (J 24). Dennoch ist diese Erfahrung in der Fülle der Sprachbilder pluralisiert und als ein Bedeutungsraum, im Sinne eines Raumes literarischer Möglichkeiten, kenntlich geworden, der die meisterliche Leistung stärkt. Auf der Ebene des Frauenlobs ist es heilsgeschichtliches und volksetymologisches Wissen, das (J 25–33) mit den poetischen Aussagen interferiert. In der Quintessenz wird klar, dass Sachen und Begriffe,409 die nicht adäquat zu erfassen und zu bezeichnen sind, einen Ort der Begriffsdeutung erzeugen und ein Bedeutungsspektrum bedingen, welches Verfahren des Deutens und Glossierens als literarische Verfahren notwendig hervorruft. Das Lob als wahrhaftige Leistung wird auf einen göttlichen Ursprung der ersten Benennung zurückgeführt, so dass das Frauenlob selbst als Folge göttlicher Wahrheit ausgestellt werden kann. Und es ist eine der poetischen Leistungen, Benennungen auf ihren ordo naturalis zurückzuführen und ihnen mit der Darstellung ihrer physiologischen Facetten zur Anschaulichkeit zu verhelfen. Die Frage nach dem Verhältnis von art, dinc und nomen ist eine epistemische Leitfrage vor allem im Nachtrag des Langen Tons von J, die zentral in den wîp-vrouweStrophen und in denen zur houchvart gestellt wird und die gleichfalls dem Interesse für den Wandel von Gesinnung und Verhalten entspringt. Die Antworten arbeiten sich ab an der Argumentation einer Ähnlichkeitsrelation zwischen nomen und dinc / res, die der art als dem natürlichen Grund entspricht. Kalkuliert wird dennoch ein ethischer Wandel der art, der sich folgerichtig im Lob des Namens niederschlagen wird.

2.9

Verfahren der Deutung und Verhaltensbildung (Resümee)

Ausgangspunkt für die Analysen im Langen Ton von J war die formale Zweiteilung der Strophen in einen Haupteintrag und einen Nachtrag. Die intratextuellen Bezüge zeigen recht deutlich, dass die Sinnstiftung zwischen den beiden Strophengefügen sowohl über Stichwortketten, das Aufgreifen von Begriffen und deren Neukontextualisierung erfolgt, als auch in der Umsetzung paradigmatischer Gedanken, die in den jeweilgen Auftaktstrophen formuliert sind: Kontur gewinnt der Gedanke, dass das rechte Ratgeben und das rechte Verhalten chiastisch verklammert sind, ebenso wie die Idee, dass Meisterschaft immer zwischen Gottes Schöpferkraft und der Ermächtigung des Sprechers im Umgang mit den epistemischen Voraussetzungen ruht. Im Ergebnis sind statt zweier für sich stehender Sinnentwürfe Knotenpunkte der Sinnstiftung auszumachen. 409

Der unmittelbare Bezug von nomen und res ist ein vermittelter, darauf weist Grubmüller, Etymologie (1975), S. 214, im Rückgriff auf den Aristoteleskommentar von Boethius hin. Es sind die Begriffe, „über die erst die Dinge durch einen Akt der Vernunft bezeichenbar“ werden. Sie sind natürliche Zeichen der Dinge im Gegensatz zu den Wörtern, die der Sprachphilosophie der Scholastik als arbiträre Zeichen gelten, ebd., S. 215. Vgl. auch Ekkehard Eggs, Art. „Res-verba-Problem“, in: HWR 7 (2005), Sp. 1200–1310, bes. 1200–1272, zur Interpretation der aristotelischen Sprach- und Zeichentheorie durch Boethius, dem Dreischritt aus Wahrnehmung, Begriffsbildung und der Zuordnung sprachlicher Zeichen.

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Für die gesamte Argumentation in J ist der Gedanke leitend, dass das richtige Verhalten, die richtige Gesinnung, das richtige Lob und ihre künstlerische Darstellung vor allem an das richtige Deuten (Wort-, Ding- und Verhaltensdeutung) gebunden sind. Dass diese Orientierung alle Strophen übergreift, wird spätestens beim Wechsel des Gegenstandes evident, wenn Rat oder laudatio des Spruchdichters gegenüber dem Fürsten von der namen-art-Reflexion der wîp-vrouwe-Strophen und dann von der vox-rexReflexion, der die houchvart-Strophen integrierenden Strophengruppe, abgelöst werden und wenn die auf den ersten Blick thematisch distinkten Strophengruppen argumentativ die gleichen Fragen bearbeiten. Strophen, die einen Rat implizieren, bieten eine Bearbeitung literarischen Wissens, wie J 1–3 oder J 9, und sie reduzieren dieses Wissen auf Namen, Begriffe sowie ein episches Minimalprogramm. Diese Reduktion des literarischen Sinnangebots arbeitet dem Gegenstand des Rats und dem Lob des Ratgebens zu. Dass die Gesinnungsbildung eine Sache des Verstandes und der ethischen Bewertung der Gegebenheiten ist, wird spätestens mit der Explikation der Verhaltensregeln (J 4f.) deutlich. Der mittelalterliche Rechtsdiskurs wird konnotativ genutzt, um einen Geltungshorizont für die Gesinnungsbildung zu etablieren, vor dem dann die Unterscheidung zwischen Mein und Dein als Ursprung des Rechts etaliert werden kann. Diese Abgrenzung als eine des Rechts rechtfertigt per se die Unterscheidungsfähigkeit als Basisvoraussetzung jeder Handlung. Die Fähigkeit zur Unterscheidung als Grundlage richtigen Verhaltens ist eine ethische und immer auch situativ gebundene Entscheidung, denn es ist weniger eine Sache des scheiden[s] (discretio), als vielmehr eine Sache des prüevens, die von Wissen und Verstand einerseits, physiologischen und ethischen Dispositionen andererseits abhängt. Prüfen und Erkennen (distincito) sind die der Situationalität des Verhaltens Rechnung tragenden Fähigkeiten, die auch Unwägbarkeiten wie die Sein-Schein-Problematik kalkulieren.410 Die gesellschaftlichen Situationen, die es immer wieder zu bewerten gibt, werden in der literarischen Bearbeitung konkretisiert und anschaulich, z. B. durch die Metaphorisierung des Sein-Schein-Problems (J 6–8). In diesem Falle wird zugleich auch die ethische Dimension der Unterscheidungsfähigkeit präpariert, und die Darstellung mündet in den Rat zur richtigen Unterscheidung, die hier als wertorientierte, nicht aber als wahrnehmungsorientierte kenntlich gemacht ist. Die Relevanz von Unterscheidungsfähigkeit und Abgrenzung wird am extremen Fall einer fremden Kultur ausgestellt (am Fall der Damie, J 9). Ein Beispiel, das literarisch raffiniert entworfen zur Themenfokussierung beiträgt, indem es etablierte Kulturund Denkmuster, wie die von Patriarchat und Ehe, verfremdet. An das damit in den Vordergrund der Argumentation gerückte Stichwort der Weiblichkeit schließen die 410

Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 107–118, arbeitet die discretio-Forderung an einem dreistrophigen Beispiel im Flugton heraus, das die Täuschung als eine der verhaltensrelevanten Unwägbarkeiten in den Blick rückt. Die Anschaulichkeit des Gegenstandes ist durch die Darstellung des Problems als einer Innen-Außen-Relation gewonnen, die Täuschen und Getäuschtwerden dem Erkennen und Verkennen analogisiert.

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wîp-vrouwe-Strophen (J 10–12) sinnfällig an. Und wiederum sind bekannte Verhaltensmuster der höfischen Kultur bearbeitet mit der Wechselseitigkeit des Dienst-LohnVerhältnisses von Dame und Sänger, die hin zu der von Sänger und Herrscher verschoben ist. Erreicht ist auf diese Weise Aufmerksamkeit für das Frauenlob und seine beiden Gegenstände, den vrouwe-namen und die Meisterschaft des Lobens. In der durch metaphorische und narrative Rede bearbeiteten Tradition des namen-Denkens wird die Darstellung in einer Weise anschaulich, dass die Dynamik des literarisch Möglichen deutlich vor Augen tritt. Erreicht wird dies durch Gleichsetzung von handwerklichen Vorgängen, wie dem Säen, Ernten und Verarbeiten, mit dem Bearbeiten mündlicher (Rede) und schriftlicher (Text) Vorgabe. Dass eine der Positionen, nämlich das Frauenlob, polemisch überformt ist (J 13–16), streicht ex negativo die Exzeptionalität der auf dem Frauenlob basierenden Meisterschaft heraus. Und es ist diese Form der Meisterschaft, die in einem Lehrer-Schüler-Dialog (J 17) als regelhafte ausgeformt ist, so dass ihr Etabliertheit und Überlieferungsfähigkeit zuzugestehen sind. Vor diesem Hintergrund, der Kritik einerseits und der Behauptung des Frauenlobs andererseits, zeigt der Wechsel vom kritisierbaren Frauenlob zum etablierten Texttyp des Herrscherlobs (J 18–23), dass die Darstellungsmöglichkeiten meisterlichen Könnens sehr weit gefächert sind: Gerade in diesem etablierten Bereich spruchmeisterlicher Kunst wird die Demonstration der Selbstbezüglichkeit der Kunst vor allem metaphorisch und rhetorisch fundiert zum Einsatz gebracht, stellt sie doch den Bearbeitungsprozess als ein Auffinden, Erfinden, Auswählen, Erschaffen und Bearbeiten durch den Verstand aus, mit dem Ziel, einen Fürsten und, diesen übersteigend, das Loben selbst zu loben. Stichworte sind hier der sanges krame als einem aller Kunst ursächlichen tichtes scatz (J 23,1–3) und die synnes wirtze (J 23,6). Meisterschaft hat damit einen bildhaft vorstellbaren Ort, von dem her das Material genommen und feilgeboten werden kann. Doch erst durch die Würze des Verstandes wird die Ware zum lebendigen und wahren Angebot. Der Nachtrag setzt mit einer vergleichbaren Bilderfülle (J 24) ein, durch die in der Wiederholung der Anrede Gottes ein Angebot unmittelbarer Imagination liegt. Die Annäherung an Gott habe ich auch als Unmittelbarkeitsfiktion gelesen, so dass Meisterschaft zugleich als göttlich legitimierte Schöpfung und Selbstermächtigung zu erkennen war. Die poetische Bearbeitung der in der Strophe gespiegelten religiösen Erfahrung indiziert den Spielraum möglicher Wissensbearbeitung. Im wîp-vrouwe-Komplex (J 25–33) zeigt sich das Benennen von Sachen und Sachverhalten als Vorgang der Wortfindung und der Begriffsbildung. Vor allem die volksetymologischen Herleitungen der Namen sind ethisch und physiologisch eingebettet. Auf diese Weise sind Namen-Reflexion und -differenzierung im Rahmen der Spruchdichtung eher als körpergebundene und anschaulich-konkrete denn als abstrakte Prozesse der Sprache ausgewiesen. Die Nähe zur zeitgenössischer Epistemologie und Semiotik zeigt sich in der Ähnlichkeit des Denkens zur aristotelischen Wissenschaftslehre, zur augustinischen Zeichentheorie und zum Bilddenken des Areopagiten, denn ventiliert werden in J sowohl

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Fragen der Relation von Sprache und Wirklichkeit, Fragen der Ähnlichkeit von Ding, Begriff und Wort als auch Fragen nach dem Verhältnis von Zeichen und conditio humana (Körpersprache, Mimik, Tonlage etc.): In J 25–33 sind die Namen wip, unwip, vrouwe und maget differenziert, wissens- und sprachgeschichtlich fundiert, doch je neu an physiologische Zustände, höfische Verhaltensformen und ethische Qualifikationen gebunden. Deutlich wird eines, nämlich dass der Anspruch eines eindimensionalen Sinns immer vom Wunsch nach der Wahrheit und nach der Sicherung des Verstehens geleitet ist. Gegenstände wie das Weibliche oder wie der muot (J 37), die nicht adäquat zu erfassen bzw. in Gänze zu ergründen sind, rufen mehrere Deutungen hervor und pluralisieren den Sinn. Die Annäherung an die eigentliche Bedeutung der Worte erfolgt nach den Maßgaben der Ähnlichkeit mit dem Vorausliegenden (physiologische Disposition, Geschichte), die gerade in den Verfahren des Deutens und des Glossierens umgesetzt sind. Für die Idee, Anspruch und pluralen Sinn zu kanalisieren, ist der Begriff der art eingesetzt, der auf die eigentliche Bedeutung eines Wortes verweist. Physiologischer Zustand (etwa vro und we) oder heilsgeschichtliche Etymologie (wunne irdisch paradis) oder (pseudo-)historische Geschichte (wippeon) stehen jeweils im Sinne einer Ähnlichkeitsrelation für die eigentliche und damit wahre Bedeutung ein. Die Wahrheit ist immer an den Ursprung in Gott bzw. an den ersten Benenner gebunden. Nicht die wahre Bedeutung der Dinge, sondern die eigentliche Bedeutung der Worte liegt im Interesse des Namen-Denkens dieser Strophen. Am Beispiel der Ding-Art-Entsprechung (J 41–45) wird die Verschiebung von der Ding- auf die sprachtheoretische Ebene vorgeführt,411 insofern es eine onomatopoetische Ableitung wie bei gouch – gouchen ist, die für die Entsprechung von Ding und Art stark gemacht ist. Der Spielraum dieses Verfahrens ist in einer Reihe weiterer Ableitungen nahezu ausgereizt. Das Argument einer natürlichen, auf einer Ähnlichkeitsrelation basierenden Entsprechung von Art und Ding verschiebt sich von Tierstimme und Tier, über den Träger eines Berufes und dessen Tun, über Berufsbezeichnung und Tätigkeitswort zu Knecht und Dienstaufgabe sowie zuletzt zu Mönch und Kloster. Dabei sind es wiederum ethische Argumente, die diese Entsprechung stützen helfen und dabei Verhaltensregeln exponieren, die als ordo naturalis keiner weiteren Begründung bedürfen. Zur Gänze auf die Ebene der Sprachreflexion verlegt, demonstriert das Beispiel der nomen-res-Entsprechung (J 46–49), welche rationalen Verfahren Können und Meisterschaft ausmachen. Sowohl das Auffinden als auch das Erfinden von Worten bleibt dabei an einen ontischen Orientierungspunkt gebunden, der über eine Ähnlichkeitsrelation zum nomen zu führen vermag. Im Umkehrschluss heißt es, dass etwas im nomen liegt, was dem Ding gleicht, und dass lut, art oder ursprinc dem Namen gleichen. Exemplarisch ausgeführt im Wort houchvart, der hochgesonnenen Fahrt, vernetzen sich die sprachtheoretischen Argumente der Wortbildung mit den Ausführungen und Ratschlä411

Zum Gedanken der Bedeutungsschichtung und -verschiebung zuletzt Christoph Huber, gepartiret (2002), hier S. 33f. 45f., 49f.

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gen zu Stabilität und Wandel der Gesinnung sowie mit denjenigen zum idealen Verhalten der Herrschenden, denn es geht um den Verlauf idealen Verhaltens und also um ein dynamisches Verständnis. Mit der Demonstration der veränderbaren und der stabilen Dimension der houchvart vereint diese Tugend par excellence die hohe art des Verhaltens mit der Dynamik der Gesinnung. Diese Form des Verhaltens ist mit dem Meisterschaftsentwurf, der in der Relation von Spruchdichter, Herrschenden und Dichterkollegen (J 50–54) inszeniert ist, gekoppelt. Man hat es mit einem Darstellungsmodus zu tun, der im Strophengefüge des Langen Tons in C, mit der Rahmung durch die beiden Rühmungsstrophen C 32 und C 47, auf vergleichbare Weise zum Tragen kommt. Das Spruchdichter-Ich in J 50–54 ist in der Rolle des Ratgebers und des Belehrenden mit einem rhetorischen Wissen ausgestattet, welches es ihm ermöglicht, die Redeformen des Fragens, des Lobens und des Streitens als bildende Redeformen zu stärken. Quaestio, laudatio und disputatio zielen auf die Ausbildung der Klugheit, und es sind Redeformen, deren Einsatz und deren Beherrschung eine dauerhafte Beziehung von Spruchdichter und Fürst sowie eine Hierarchisierung verschiedener künstlerischer Ansprüche fördern.

3.

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Die Weimarer Liederhandschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gilt als J-nahe Abschrift einer verloren gegangenen Handschrift und als „Schulsammlung“, da sie in Spitzenstellung alle Texttypen aus Frauenlobs Liedproduktion vereint. In ihrem zweiten Teil versammelt sie Reimpaardichtungen und Fastnachtspiele des Nürnberger Repertoires, die aus eigener Zeit vertraut gewesen sein können.412 Das Strophenkonvolut im Langen Ton Frauenlobs folgt den üblichen formalen Regelungen der Meisterliederhandschriften. Die 71 Strophen (F 90–153 und 166–172) sind in sechzehn Abschnitte unterteilt. Rubriziert sind eine Einzelstrophe, ein Strophenpaar, vier Dreierbare, drei Vierergruppen, vier Fünferbare, zwei Siebenerbare und eine Strophengruppe zu zehn Strophen.413 412

Gisela Kornrumpf, Art. „Weimarer Liederhandschrift“, in: 2VL 10 (1999), Sp. 803–807. Dies., Konturen der Frauenlob-Überlieferung (1988); Köbele, Lieder (2003), S. 21f.; Wachinger, Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift (1987). 413 Zu 19 Strophen gibt es Parallelüberlieferungen, sieben Parallelen in J und drei in C. Zwölf Parallelstrophen finden sich in k und zu vier Strophen gibt es sowohl in einer frühen (C oder J) als auch in einer späten Handschrift (k) Parallelstrophen. Die Bareinteilung spielt für die Parallelüberlieferung eine untergeordnete Rolle. So hat man nur ein Bar zur heilsgeschichtlichen Herleitung des Namens vrouwe, das in F und in J mit drei in der gleichen Reihenfolge parallel überlieferten Strophen gebo-

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In der Zusammenschau des Strophenverbundes414 habe ich die Inkohärenz des Barverbundes von F und auch k betont. Doch die Aufmerksamkeit für die Anordnung der ausgewählten Strophen und Bare im Langen Ton scheint mir vor dem Hintergrund der analytischen Ergebnisse zur frühen Überlieferung lohnenswert.415 Der thematische Tenor des Toncorpus ist mit dem Stichwort der Verhaltensregulierung begrifflich um muot, wille und mâze zentriert. Herrscher-, Frauen- und Eigenlob des Spruchdichters sind in F, anders als in C und J, mit der Idee des ethischen Guten verknüpft, die stichworthaft abendländische Denktraditionen zum Verhältnis von Gut, Böse und Willensfreiheit einbettet, so dass zu prüfen ist, ob Meisterschaft in F eher als intellektuelle, ethisch fundierte, denn als artifizielle Kategorie zu erfassen ist. Zu Beginn des Corpus steht ein autopoietisches Lob auf einen herausragenden Herrscher (F 90–94). Zwischen Eigenlob und Herrscherpanegyrik werden die Gesinnung (muot) und der freie Wille (willekür) als die maßgeblichen Verhaltensmodule menschlichen Seins thematisiert (F 95–97). Das Dreierbar im Anschluss (F 98–100) entfaltet die Geschichte der adamitischen Gründung des freien Willens. Die Strophen F 101–104 führen dann ein drittes Verhaltensmodul ein, das rechte Maß (mâze) aller Dinge und Handlungen. Unter der Perspektive der Notwendigkeit idealer Handlungen folgen mit F 105–106 zwei Klagen über den aktuellen Zustand im Lande, die die Vergänglichkeit aller Dinge und allen Seins erinnern. Im Anschluss daran wird in F 107–110 das richtige Handeln am Beispiel von Herr und Knecht als dezidiert kommunikatives Handeln überdacht, das darauf zielt, jedermann könne über die eigene Gesinnung (muot) und den eigenen Willen (wille) verfügen. Dennoch sind die Wahrnehmung und die Explikation des Wahrgenommenen im Handeln reguliert durch die ethische Orientierung des Verstandes hin auf ein Letztes. Der Block nach den vier Zentrumsstrophen (F 111–114) beginnt mit einer Reflexion des Spruchdichters über das Ratgeben, mit einer Reihe von Warnungen vor schlechten bzw. falschen Ratgebern (F 115–119), mit Sentenzen über das Lob des Spruchdichters, das Fragen der Herren, mit Aussagen zum Verhältnis von Herr und Dienstmann und mit einer laudatio auf mehrere (verstorbene) Herrscher (F 120–126). Zwischen Eigenlob – der Spruchdichter geriert sich als der beste Ratgeber – und Panegyrik bewegt sich – wie ten wird. Alle anderen Strophenkonstellationen, die in F im Barverbund stehen, sind andernorts variant überliefert. Genauere Ausführungen zu den parallel überlieferten Strophen im Kapitel IV.9. 414 Siehe Kapitel II.3.3. 415 Möglicherweise gibt es für F 90–153 eine Strophenordnung aus zweimal sechs Strophengruppen, die vier zentrale Strophen rahmen. Diese vier Strophen, das Mariengebet des Spruchdichters (F 111 = C 31) und ein Dreierbar aus dem wîp-vrouwe-Komplex (F 112–114 = J 31–33) zur heilsgeschichtlichen Herleitung des Namens vrouwe, sind, parallel zu früherer Überlieferung, die einzigen Strophen, die zusammenhängend überliefert wurden. Insofern ist ihre Mittelstellung im Corpus bemerkenswert. Die Strophen F 166–172, rubriziert als Vierergruppe und Dreierbar, sind Nachträge zur heteronomen Bestimmung höfischen Verhaltens, bezogen auf kirchliches und weltliches Recht. Sie folgen einem Einschub, F 154–165, der acht Strophen im Langen Ton Regenbogens und vier Strophen im Würgendrüssel Frauenlobs umfasst.

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schon im Auftaktbar – die Entfaltung der Debatte um materielles und moralisches guot (F 127–133). Das richtige Verhalten von Dienstherr und Dienstmann wird in diesem Block exemplarisch anhand des Kampfes gegen Feinde entwickelt (F 134–138) und vom Spruchdichter perspektivisch erweitert durch die Hinweise zum richtigen Verhalten, das unter der Prämisse der dritten Maxime, der mâze aller tugent, steht (F 139–143). Die Strophengruppe F 144–153 greift die triuwe als menschliches Beziehungsmuster heraus. Eine heilsgeschichtliche narratio um Moses, die Heidin Tarbis und Gott, die das triuwe-Motiv exemplarisch umsetzt, beschließt den dritten Strophenblock.

3.1

Herrscherlob, Eigenlob und der Redemodus des Lobens (F 90–94)

Eine konzeptionelle Fügung aller F-Strophen möchte ich nicht voraussetzen, dass aber in den Strophen und Baren die Disposition des richtigen Verhaltens vehementer als andere Themen entwickelt wird, ist bereits nach dem Überblick zu erkennen und mit den Einzelanalysen zu erbringen: Das Corpus eröffnet ein Fünferbar, in dem das Herrscherlob Markgrafs Waldemar von Brandenburg als panegyrische Meisterleistung facettenreich präsentiert wird.416 Das Herrscherlob wird, explizit in der ersten Strophe (F 90) und implizit im Gesamt des Bars, autopoietisch reflexiv. Herrscherlob ist immer auch Eigenlob,417 doch geht es in der ersten Barstrophe weniger um die Extension der eigenen Leistung, als vielmehr um die Vorgangsbeschreibung des Lobens im Bild des Baumeisters und seiner Tätigkeit: Das Spruchdichter-Ich entwirft den Vorgang des Dichtens im Bild des Wirkenden (V.1: Da thu ich als ein wircman […]).418 Der Kerngedanke des ersten Stollens im Analogieschluss zwischen dem Entwerfen und Bauen einerseits und dem Entwerfen und Dichten andererseits ist die beständige Überprüfung des Entworfe416

Eine Beschreibung des Bars und eine Analyse der Strophen F 94 und F 90 aus der Perspektive des Blümens bei Hübner, Lobblumen (2000), S. 272–277, dort auch Angaben zur alten realgeschichtlich orientierten Forschung von Frodewin Illert (Stichwort: Chronologie) und Ullrich Müller (Stichwort: politische Lyrik). Zu den historischen Eckdaten, dass „Markgraf Waldemar […] von 1308–1319“ regierte und sich das Bar „auf das Rostocker Ritterfest von 1311“ bezieht, ebd. S. 273 Anm. 149. 417 Vgl. Haustein, Autopoietische Freiheit (1997). 418 Die Herausgeber der GA konjizieren hier wercman. Die semantische Spannweite dieses Begriffs zwischen Schöpfer und Baumeister ist für das Verständnis der Strophe nicht unbedingt erforderlich, ordnet sich aber stimmig in die Architekturmetaphorik der Strophe ein. Vgl. zu dieser Konjektur Hübner, Lobblumen (2000), S. 274, Anm. 157. Die Bedeutung von wirtman, so wie F sie bietet, spannt vergleichbar zwischen Landesherr, Gebieter einerseits sowie Gott und Christus andererseits, entbehrt aber den Schöpfungsaspekt. Mit der Konjektur wircman sei hier in einer dritten Lesart der Akt des Hervorbringens, des Wirkens, des Verfertigens betont, und damit ist die Stimmigkeit des metaphorischen Feldes ebenso hergestellt. Der Vergleich zwischen Gott und Dichter ist etabliert, vgl. Friedrich Ohly, Deus geometra. (1995); den Kommentar bei Patricia Harant, Poeta Faber (1997), S. 73–80, Sabine Obermaier, Der Dichter als Handwerker (2000). Vgl. eine thematisch vergleichbare Strophe bei Rumelant, 1Rum/1/5, und die Analyse bei Dietlind Gade, Wissen (2005), S. 14–25.

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nen anhand eines Regulariums, das wiederum vom Willen des Tätigen abhängt (V.6: und wenn er hat das winckelrecht nach seinem willen zircket). Die Umsetzung des Entwurfs beginnt erst dann, wenn seine Überprüfung anhand des Regulariums erfolgt ist und der Entwurf den Vorstellungen / dem Willen419 des wircmans entspricht. Das Dichten wird hier als willentlich gelenkte Bearbeitung kenntlich, für die das Material bereits vorliegt; es muss nicht im Sinne des ersten Officiums, der inventio, gefunden werden. Am Anfang der dichterischen Tätigkeit steht also – anders als in J – ein Regularium, das im Rekurs auf die mittellateinische Poetik Galfrids von Vinsauf gedeutet werden kann. Das Regularium wäre dann als mentales Modell, als geistiger Archetyp, zu denken, von dem aus das dichterische Schaffen seinen Ausgang näme.420 Ton Gert Hübner sieht in diesem Vorgang der Übernahme des Modells / Entwurfs mit dem Zirkel eine Reminiszenz an das architektonische Konstruktionsprinzip, das seit Vitruvs Proportionenlehre das Bauen bestimmte.421 Der Fachterminus hierfür ist modulus422 (ich model, V.9). Als Modalitäten des Tätigseins werden die Formgebung (ich furme, V.9), die differenzierte Formgebung entsprechend dem Entwurf (ich model) und die regulierte Formgebung entsprechend dem Regularium (ich misse, V.9) benannt. Im Unterschied zum Gebauten prolongiert sich das Lob selbst, sofern es einen hohen Namen trägt (V.11: ein lob, das hat so hoch ein nam […]): Es wird höher, breiter und länger (V.12: es höhet, lennget, praytet sich […]). Mir scheint, dass hier gerade im Kurzschluss von Lob und gelobtem Namen (V.11) panegyrischer und autopoietischer Redemodus zusammenfallen.423 So ist denn auch das Lob gekrönt, golden, klar, makellos, vollständig, freigebig, geschmückt (V.13–17: es ist gekrönet, guldein glantz, / gespiegelt, lauter, sunder schrantz, / materien gantz, / milt als ein crantz, / es zopffet, zyret seinen swantz). Möglich sind dabei zwei Lesarten: zum einen die kunstfertige Ausführung des fürstlichen Ruhmes, die zugleich Erinnerungsarbeit ist, und zum anderen die kunstfertige Umsetzung eines bereits kursierenden Lobs nach den Regeln meisterlichen Dichtens. Eine Entscheidung 419

Die Funktion des Willens für das eigenständige Tun im Rahmen menschlichen Verhaltens / Handelns und im Rahmen des Dichtens wird in den sich anschließenden Baren (F 95–97, F 98–100) genauer bestimmt. Daneben wird die Geschichte vom heilsgeschichtlichen Ursprung des freien Willens mit einem Wahrheitsrespektive einem Geltungsanspruch versehen. 420 Für den Langen Ton in der Schulsammlung F könnte man folgern, dass das bekannte Strophenmaterial des Tons ein bestimmtes Bild des Meisters und seiner ‚Manier‘ geprägt hat, die eben jenes mentale Modell für weitere Dichtungen im Langen Ton abgibt. Vgl. dazu auch Worstbrock, Wiedererzählen (1999), S. 137. Wie die Verfahren des Wiedererzählens, des Kompilierens und Schaffens in der Forschung reflektiert und relationiert werden, beschreibt Martin Baisch, Textkritik (2006), S. 42–53. Die lectio difficilior von F 90 findet sich bei Hübner, Lobblumen (2000), S. 275– 277. 421 Vgl. Vitruvii de architectura libri decem I, cap. 2. zu den Grundlagen des Bauens; Erwin Panofsky, Proportionenlehre (1921). 422 Model (Muster, Form) ist aus lat. modulus entlehnt. Bei Vitruv bezeichnet es ein bestimmtes architektonisches Maß. 423 Hübner, Lobblumen (2000), S. 276, 278, spricht von der Ambiguität des Wortes lob, insofern Rede und Gegenstand in diesem Wort zusammenstehen.

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für eine der Lesarten wird nicht getroffen. Die Aussagen oszillieren und zuletzt wircket das Lob des Fürsten wunder (V.19). Hübner sieht den „fürstlichen Ruhm noch Wunder“ bewirken und die „Lobrede Erstaunliches“ bauen. Im Zusammenhang der fünf Barstrophen ist dieser letzte Teilvers der ersten Barstrophe jedoch auch und vor allem Vorausdeutung, sind doch die vier weiteren Strophen als Ausführung des Lobentwurfs zu verstehen: Das Lob wird höher, weiter und länger. Es setzt sich fort, weil es einen hohen Namen trägt. Freigebigkeit könnte hier als ästhetische Kategorie verstanden werden, insofern das Lob immer weiter auf wunderbare Weise verausgabt wird. Verausgabung und Vollständigkeit, wiewohl sie sich widersprechen, scheinen ästhetisch befragt in dieselbe Richtung zu spielen: Gerade die Maßlosigkeit des Lobs kommt ja dem Anspruch nach Vollständigkeit nahe. Wie verhalten sich jedoch Freigebigkeit, Vollständigkeit und Überbietung zueinander, wenn man sie auch als ästhetische Kategorien begreift? Lassen sie sich im extensiven, vollkommenen und im glänzenden Lobpreis erfassen? Lässt sich mit ihnen, als Facetten eines Kunstkonzepts, beschreiben, dass der künstlerische Akt des Lobens dem Anspruch eines immer wieder vollkommenen, sich ausweitenden und herausragenden Redemodus Genüge tut? Die Stichworte der Strophe im Metaphernfeld des Bauens bieten diese Lesart jedenfalls an.424 In F 91 werden dann die Strukturierung und das Funktionieren eines meisterhaften Lobs im Modus der Überbietung demonstriert. Das meisterhafte Loben ist immer auch ein extensives Loben, insofern gerade im wiederholten Lob – gepriesen werden vier herausragende Formen der Ritterschaft (Beheim, Breslau, Kärnten, Bayern) – die Möglichkeit implizit ist, ein nächstes Lob darüber zu setzen, was im Lob des Rostocker Ritterfestes (V.16f.) auch sogleich vorgeführt wird. Mit diesen Strophen wird eine Kommunikationssituation gezeichnet, aus der heraus sich Lob entwickeln kann. Das Lob von Ansehen, Glück und Seelenheil speist sich aus der Dichte und Anzahl der Anwesenden, und insofern stellt es das beste Lob dar. Eine erinnerte konkrete Kommunikationssituation fundiert das Lob der Ritterschaft, und Formen des Maßlosen werden als Konstituenten des Lobs herangezogen (der tregt noch werdes preyse doch / ob allem dem […] V.18f.). In F 93, der vierten Strophe des Bars, steht dann der herausragende Repräsentant der Ritterschaft im Zentrum des Lobs. Und erst anhand des einzelnen Herrschers wird diejenige herrscherliche Qualifikation zum Gegenstand des Lobens, die einen herausragenden Herrscher vor allen anderen auszeichnet, nämlich die uneingeschränkte fürstliche Freigebigkeit (er lest do nicht […] sparen, / recht als er morgen solde varen / in gotes scharen V.13–16). Der Analogieschluss von Herrscher und Lobpreis bekommt mit der Verausgabung der Mittel eine starke Metapher, denn so wie der beste Fürst – hier exemplarisch ausgeführt – die Fülle des Besitzes verausgabt (auch F 93,10f.: und do sah man in walten / fur Rostock in so hoher macht reilich und ungespalten), wird das Lob 424

Vgl. zur Strophe Huber, Herrscherlob (1993), S. 464; Obermaier, Nachtigallen (1995), S. 249; Haustein, Autopoietische Freiheit (1997), S. 105; Hübner, Lobblumen (2000), S. 275–277.

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des Spruchdichters im Zuge der kunstfertigen Ausführung höher, länger und breiter (F 90,11f.). Ist das Oszillieren zwischen dem Lob der Lobrede und dem Lob des Fürsten in der fünften Preisstrophe dieses Bars (F 94) ausgesetzt, weil das Lob des Fürsten in einer Reihe von Genitivmetaphern zur Kunstform des Blümens gerinnt? Oder ist auf diese Weise eine poetische Form des Überbietens exemplarisch geworden? Der zu Lobende wird als siebter Eckstein (winckelstain, F 94,6 – angespielt wird auf die Kurfürstenwürde) zur Grundfeste des Reiches. Verbunden wird diese Fundamentmetapher mit der Treue, dem Richterstatus und der Freigebigkeit.425 Im Rekurs auf die Architekturmetaphorik der Auftaktstrophe werden die Arbeit des Lobenden und die des Gelobten in Beziehung gesetzt: Der Fürst ist einer der Ecksteine des Reichs(gebäudes) und der Spruchdichter ist derjenige, der das Lob(gebäude) errichtet. Im Abgesang der Strophe mündet das Lob dann in eine metaphorisch gestaltete Überbietungsform, in die Vierfältigkeit des beständigen Brandenburger Fürsten (V.19: vierfaltig fürst in Pranndenpurg).426 Diese Metapher vereint diejenigen vier Herrscherqualitäten, die das ethische Vermögen (die tugent, V.3, 8) des Gelobten über den irdischen Bereich hinauszuheben scheinen: Der Fürst ist ein Rubin der Manneskraft (V.13), ein Urteilsschmied der Treue (V.14), ein Freigebiger für die Fahrenden (V.16f.) und unwandelbar in seinem Stolz (V.18). Die metaphorische Gestaltung des Lobs führt nur nochmals die Lobarbeit im Sinne der schöpferischen Umsetzung eines Modells / Entwurfs vor. Das künstlerische Vermögen des Sprechers wird mit diesem ersten Bar im Langen Ton von F exemplarisch entfaltet anhand der Redeform des Herrscherlobs. Die laudatio im Metaphernfeld des Bars wird durchsichtig auf einen ästhetischen Anspruch des künstlerischen Entwerfens. Meisterschaft, denkt man sie agonal nicht nur im Gegeneinander der Meister, sondern auch im Gegeneinander verschiedener Argumente, verschiedener Stimmen, verschiedener Entwürfe, drückt sich hier in der Wiederholung bzw. Einübung, Überbietung und Ausschmückung des bereits formulierten Lobs aus. Imitatio, exercitatio und aemulatio sind auf die Tätigkeit des mehrfach umgesetzten Lobens angewandt. Architektonische und ethische Prinzipien semantisieren den Entwurf herausragenden Lobens, so dass der konstruktive und der regulierte Charakter des Lobens hervortritt. Der Redemodus des Lobs gründet auf einer Verpflichtung gegenüber dem zu Lobenden, die sich im beständigen vollkommenen (ganz, maßlos und geschmückt) Lobpreis seiner Exzeptio425

Zur Verbindung von Architekturmetapher, Kurfürstenwürde und metaphorischer Gestaltung Hübner, Lobblumen (2000), S. 274. 426 Die Weimarer Liederhandschrift überliefert an späterer Stelle eine Strophe (F 244 = GA IV,10) aus dem Komplex „Minne und Welt“, in der vom vierfältigen Grund der Welt die Rede ist. Hier wie dort ist diese Metapher Teil eines (Selbst-)Lobs, das auf der Vorrangstellung einer persona (Welt / Fürst) beruht, die durch eine Vollkommenheitsidee zum Ausdruck gebracht wird. Als Basis der Vollkommenheit wird jeweils ein vierfältiger ‚Grund‘ gedacht (vier Elemente, vier herrscherliche Qualitäten). Ob dies im Sinne einer numerischen Überbietung der Trinität, der Dreizahl zu denken ist, ist hier wie dort zu kalkulieren, ohne jedoch eindeutig affirmiert werden zu können.

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nalität zeigt. Exemplifiziert ist dies anhand der Verpflichtung des Brandenburger Fürsten gegenüber dem Reich.

3.2

Weltlicher Wandel, menschliche Gesinnung und freier Wille (F 95–97)

Das Sprecher-Ich in der Rolle des Gnomikers beginnt in F 95, über den Wandel allen Seins und aller Dinge nachzudenken. Dabei ist der Gestus der Rede der des Wissenden, der vorgibt, das Verhalten regulativ lenken zu können: man sol (V.1). Es geht zunächst um die Wahrnehmung der zeitlichen und örtlichen Dimension aller Dinge. Dinge und Seinsformen – hier sind es Gedanken und Gesinnung (V.7: […] gedancken und der mut) – sind von Ort und Zeit abhängig; sie verändern sich in der Zeit. Dennoch bleiben bestimmte Eigenschaften in ihrem Sosein bestehen, wie der Verstand des Toren, auch wenn der Tor zu Zeiten etwas Kluges zu sagen vermag (V.3–6: es kumpt die zeit zustunden / das auß der toren munden / ein weyse red gehöret wirt. […]). So bezieht sich die Rede der Meister ([…] die meister jehen […], V.12) auf den Wandel, dem jeder Mensch unterworfen ist, und zugleich wird durch die Beispiele des Toren und auch des Feigen, der einmal mutig ist (V.14), deutlich, dass der Vollzug des Wandels willentlich fundiert sein muss. Das Stichwort dafür ist der hertzen grunt (V.11, 15). Torheit und Feigheit werden damit als diejenigen Seinsformen präsentiert, denen kein eigener Wille verfügbar scheint.427 Nur der Zufall lässt hier einen Wandel zu. Was Toren und Feigen zustößt, ist in letzter Konsequenz aus ihrer Verantwortung genommen. Doch auch das Herz des mannhaften Helden (V.17f.) kann von Missgunst befallen werden. Die Abstraktion dieser Beispiele des Wandels bietet der letzte Vers der Strophe: […] gar alle ding sich wanndeln auß und inne (V.19). Die zweite Barstrophe setzt das Gute (guter mut, V.1–11) und die freye willekür (V.12) in ein Verhältnis, grenzt sie gegen das Böse (arger mut, V. 17f.) ab und führt den Gedanken der Verantwortung des Handelnden aus: Obgleich Veränderungen in der Zeit negativ ausschlagen können, liegt es in der Verantwortung des Einzelnen – hier werden insbesondere die Herrschenden angesprochen –, die gute Gesinnung gegen die schlechte zu verteidigen. Die Entscheidung für das Gute ist damit eine ethische Entscheidung, eine Wahl, ein Vorziehen des Guten, die auf dem Erkennen des Guten beruht. Dabei wird der Kampf im Herzen ausgetragen mit der Waffe der freyen willekür (V.19), die ein Geschenk Gottes ist (got gab uns freye willekür […], V.12). Die dahinter stehende platonische Idee, dass die Erkenntnis des Guten auf der Selbstbeherrschung (dem inneren Kampf) beruht, die vom göttlichen Willen bestimmt ist,428 verbindet den Freiheitsgedanken mit der göttlichen Lenkung. Auch wenn die platonische Idee der 427

Barth, Freiheit (1935), S. 35, beschreibt Narrheit und Stumpfsinn, bezogen auf das Denken Augustins, als Lebenstatsachen, die dem Willen entzogen seien. Ihr Sosein sei genealogisch bedingt und im Sinne einer Ansteckung zu verstehen, nicht aber im Sinne einer willentlichen Entscheidung. 428 Platon, Apologie 31 c/d.

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Wissen und Meisterschaft

Präexistenz der willentlichen Entscheidung anklingt, ist die freie Entscheidung im konkreten Handlungsakt aristotelisch und rückt damit von der Idee der Präexistenz ab.429 Die in dieser Barstrophe, wie mir scheint, gleichfalls präsupponierte Dialektik zwischen Gnade und Freiheit, die in der Gnadenlehre Augustins vorliegt,430 wird anschaulich in der paradoxen Verschränkung des von Gott geschenkten freien Willens und der erkämpften, damit erzwungenen Entscheidung für das Gute: man zwinget hertze und den mut / vil pas auf gut wenn auf ungut (V.13f.). In der letzten Barstrophe (F 97) setzen die frei entschiedenen Handlungen des Menschen (V.6) einen deutlichen Kontrapunkt zum nichtverantworteten, tierischen oder dinglichen Leben, das ohne willentliche Entscheidungen auskommen muss und dem Zwang der Umstände sowie den Veränderungen in Zeit und Raum ausgesetzt ist (V.1–5: […] 429

Aristoteles, Nikomachische Ethik III, 1110 a; 1111 a; 1113 ab. Dazu Verweyen, Problem der Willensfreiheit in der Scholastik (1909), S. 6–10. „Die Frage nach Prädestination und Freiheit durchzieht die ganze christliche Geschichte“, wobei im hohen Mittelalter „die Wertigkeit des menschlichen Eigenentscheids hervorgehoben und die Schädlichkeit der Erbsünde gemindert wird“, Angenendt, Geschichte (2000), S. 106. Thomas von Aquin in Weiterführung der aristotelischen Ethik geht von einer doppelten Wurzel des liberum arbitrium aus, von der Verwurzelung der menschlichen Freiheit in Vernunft und Wille. Hans Vorster, Freiheitsverständnis (1965), S. 135– 163. Thomas sagt in seiner Summa I–II, q. 19: bonum et malum sunt per se differentae actus voluntas. Und er führt weiter aus, dass diese Differenzierung von den Objekten gesteuert wird: Et ideo bonum et malum in actibus voluntatis proprie attenditur secundum obiecta. Christoph Huber, Alanus (1988), der u. a. für Frauenlob die produktive Umformung des Alanus beschreibt, weist auf S. 399f. darauf hin, dass für die Chartrenser mit dem Sündenfall als einem Einschnitt in den „schöpfungsgesetzlich gleichförmigen Ablauf“ die menschliche „Freiheit der Wahl“ und die „vernunftgelenkten Sinne“ für Wandel und Veränderung gewichtet werden. Beide Aspekte, freier Wille und vernunftgelenktes Handeln bezogen auf das göttlich Gute und das moralisch Richtige, sind Gegenstand der F-Spruchstrophen im Langen Ton Frauenlobs. Die Bearbeitung der Idee des Guten in Differenz zum Bösen ruht auf einem philosophischen Diskurs auf, der das abendländische Denken mit Plotins „Eneades“ und Augustins „De civitate dei“ und seinem Genesiskommentar prominent bestimmt. Zuletzt dazu: Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen (2010), S. 51–63. Vgl. auch Hauke, Art. „Begierlichkeit“, in: Marienlexikon 1 (1988), S. 402–404, der von einem sinnlichen Strebevermögen spricht, das der Freiheitsentscheidung vorausliegt, so dass es den Menschen in einen inneren Widerstreit führt. Ein Freisein von der Begierlichkeit und damit die Integrität von Sinnesvermögen und Geist ging mit der Ursünde verloren. 430 Augustinus, De libero arbitrio, PL 32, 1221–1310. Verweyen, Problem der Willensfreiheit in der Scholastik (1909), S. 15–23, betont für das Denken Augustins, dass der Mensch nach dem Sündenfall unfähig ist, aus sich heraus Gutes zu tun, ebd., S. 16. Doch komme das „gute Werk des Menschen stets durch ein geheimnisvolles Zusammenwirken von göttlicher Gnade und menschlichem Willen zustande“, ebd., S. 20. Vgl. Barth, Freiheit (1935), S. 116f., zur Paradoxie von freiem Willen und dem um der Gnade willen gebotenen Willen. Vgl. auch Karl Janssen, Gnadenlehre (1936); Theologische Frühschriften (Thimme 1962). Anders dimensioniert ist die Bestimmung des Willens als Instrument der Seelenbewegungen bei Anselm von Canterbury. Sie baut zwar auf Augustinus auf, entkoppelt jedoch willentliche Entscheidung und göttliche Gnade mit der Betonung auf der Wahlfreiheit des Willens: Opera Omnia I/2, q.III,2. Vgl. Franz Baeumker, Lehre Anselms (1912), S. 68–75; Gnadenlehre II (Müller 1996), zur Gnadenlehre im Mittelalter bes. S. 11–15, 17–24, 26– 30.

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Was ane wille und ane freye willekur / lebt […] das es sich richten müssen […] ye nach der zeyt und nach der stat). Der freie Wille des Menschen beeinflusst räumlichen und zeitlichen Wandel (V.7–9). Die Gelegenheitsbildung uberpillen (V.10)431 legt im Assoziationsraum der Architektur- und Dichtungsmetaphorik des ersten Bars eine Lesart nahe, die darauf hinausläuft, dass es der freie Wille des Menschen ist, der aus dem vorliegenden Material etwas Unübertroffenes zu erschaffen vermag. Und es sind die geistigen Eigenschaften des Menschen, ausgewiesen durch die Fähigkeit zur freien Entscheidung, die die natürlichen, angeborenen Eigenschaften verändern können (V.13–19: der gaiste hat ein unterschait, / den angepornen tugent prayt / naturee sneyt / besunder cleyt, / der geiste tugent so gemeyt, / wer sie volkumenlichen treyt, / der hat die anndern gar mit im. sust ist ir art verkeret.) Möglicherweise ist hier der freie Wille als Tugend des Geistes gedacht, der eine natürliche Hülle – den Leib: besunder cleyt – verliehen bekam: (V.14–16).432 Setzt man so an, ist der göttlich verliehene freie Wille bereits sittlich positiv besetzt. Der Mensch muss ihn nur vollendet, auf Gott hin, einsetzen: wer sie volkumenlichen treyt (V.18), dann beherrscht er alle anderen Tugenden im Sinne des Guten. Das Stichwort ‚Veränderung der art‘ lässt sich im intertextuellen Bezugsrahmen des Langen Tons mit den Überlegungen der houchvart-Strophen (J 46–49) verbinden. Dort wurde mit dem Begriff der art auf die naturgegebene Bedeutung der Dinge oder auf angeborene Eigenschaften verwiesen, die im Problemfeld von staete und wandel der Gesinnung ihren Einfluss ausübten, jedoch erst unter dem Einfluss des umfassenden höfischen Wertbegriffs der houchvart die richtige Richtung erhielten. Hier steht allgemein menschliches Verhalten nicht im Kontext höfischer Wertmaßstäbe, vielmehr wird es zwischen geistigen und natürlichen Vorgaben reflektiert. Argumentiert wird auf einer, dem Verhaltensdispositiv der houchvart vorausliegenden Ebene: Es ist der als göttliche Gabe inszenierte freie Wille, der die naturgegebene art wandeln kann. Im Bezug auf die Abkehr vom Guten (Engelsturz, Sündenfall) ist die Willensfreiheit von Augustinus mehrfach befragt worden.433 Es heißt, dass die Kraft des Willens auch den Weg zum Bösen, was einen Mangel, eine Hinwendung zu wandelbaren Gütern umfasst, einschlagen kann, wie im Falle Lucifers oder Evas.434 Der Wille muss demnach beherrscht 431

WtbGA, S. 383. Angenendt, Grundformen (2003), S. 21, nennt drei „eingegossene göttliche Tugenden“, die die hochmittelalterliche Scholastik, er weist insbesondere auf Thomas von Aquin hin, kannte und zwar Glaube, Liebe sowie Hoffnung. Alle anderen Fertigkeiten waren trainierbar. Möglicherweise hat man auch hierauf einen Reflex in F 97, dass Gott nicht mehr alleiniger Verursacher ist, vielmehr die menschliche Eigentätigkeit Gewicht bekam. 433 Augustinus, De civitate de XI,17 und De libero arbitrio II,53f. 434 Das Problem der Willensfreiheit bezogen auf den Sündenfall ist nach Augustinus viel diskutiert, etwa bei Petrus Lombardus II Sent., dist. XXIV,a.5 und XXV,a.1–16 (PL 192, 702 und 706–709), oder bei Thomas von Aquin, S. th. I q.83, a.1; S. th. II, q.6, a.1 und q.8, a.1. Dazu Verweyen, Problem der Willensfreiheit in der Scholastik (1909), S. 127–156. Die Bibelauslegung der mittelalterlichen Theologie zeichnet ein Vorher und ein korrumpiertes Nachher des Sündenfalls, in dem die

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Wissen und Meisterschaft

werden. In Ermangelung der Willensbeherrschung kann der Einzelne vom rechten Weg abkommen. Das Fragen nach dem menschlichen Willen und dem natürlichen Wandel aller Dinge und allen Seins in diesem Bar erschließt sich vor augustinischem Hintergrund als Suche nach einer Erklärung für die Beständigkeit guter Handlungen angesichts der schlechten Einflüsse, die auf den menschlichen Willen einwirken. Gefragt wird somit nicht nach dem Ursprung der Abweichung bzw. nach dem Grund des Wandels. Die Verkehrung aller Dinge und allen Seins wird als natürliche Gegebenheit gesetzt. Vielmehr wird nach der Motivation des Willens und nach den Bedingungen gefragt, unter denen das menschliche Handeln hin auf ein Gutes gerichtet werden kann. Möglicherweise könnte vor dem Hintergrund der Überlegungen Augustins zum freien Willen die Lesart für den muot spezifischer gefasst werden. Versteht man muot als das menschliche Begehren, das sich sowohl auf das Gute als auch auf das Böse richten kann, dann verstärkt das die Aufgabe, die dem menschlichen Willen im Blick auf das Letzte zufällt.

3.3

Die bedingte Freiheit des Willens (F 98–100)

Mit dem Dreierbar F 98–100, das ich zum narrativen Sangspruch rechne,435 wird die Idee menschlicher Eigenverantwortung durch eine Kurzgeschichte vom heilsgeschichtlichen Ursprung des freien Willens augustinisch legitimiert. Ich paraphrasiere: F 98 – Gott schuf den ersten Menschen nach seinem Bilde436 und verlieh ihm göttliche Macht (V.10f.). Er schuf den Menschen entsprechend seiner dreyer hannde wirdigkeit (V.12): Die Würde gottgleicher Form und Gestalt ([…] das er ist gestalt / geleich dem, der da hat gewalt, V.13f.) bezieht sich auf den göttlichen Anteil; die Würde des ewigen Lebens (er macht in ewig […], V.17) bezieht sich auf den geistlichen Anteil (Geistseele), und die Würde, materig (V.19) zu sein, bezieht sich auf den fleischgewordenen Anteil der

Melancholie, der geschwächte Wille, die sündhafte Lust, die Gewalt und auch Formen deformierter Partnerschaft eben jene weltlichen Übel repräsentieren, die Folgen des Abfalls von Gott sind. „Erst im Zeichen humanistischer Anthropologie wurde die auf den Sündenfall zurückgehende corruptio des Menschen zusehends verdrängt und durch die dignitas hominis ersetzt. In der programmatischen Rede, die Pico della Mirandola 1486 ,Über die Würde des Menschen‘ hielt, kommt der Sündenfall des ersten Menschen nicht mehr vor. Pico betont Adams Selbstverantwortung, zu der ihn Gott ermächtigt und berufen habe. ,Von keinen Schranken eingeengt‘, lässt Pico Gott zu Adam sagen, ,sollst du deine eigene Natur selbst bestimmen nach deinem Willen, dem ich dich anvertraut habe‘“, Schreiner, Sündenfall (1992), S. 42f. Die Quellen zu dieser Thematik finden sich bei Verweyen, Problem der Willensfreiheit in der Scholastik (1909). 435 Zum narrativen Sangspruch vgl. Wenzel, Textkohärenz und Erzählprinzip (2005). Bei Peter Kern, Frauenlob (1988), S. 53 Anm. 11, sind diejenigen Beiträge zu Detailfragen zu diesem Bar zu finden, die vor Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), erschienen sind. 436 Zur Spiegelmetapher vgl. Brunhilde Peter, Gedankenwelt (1957), S. 36f.; Krayer, Frauenlob und die Natur-Allegorese (1960), S. 102f., 113–115, und Kern, Frauenlob (1988), S. 60.

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Trinität.437 Mit der Gabe des ewigen Lebens kam das Ansehen in die Welt, das einen Unterschied macht zwischen Gott und Mensch und zugleich die Beständigkeit der Abkommenschaft des Menschen von Gott sichert (V.6–9). Der göttliche Ursprung des Ansehens, der hier gesetzt wird, führt den ethischen Leitbegriff auf das summum bonum zurück im Sinne natürlicher Strebsamkeit nach dem Guten.438 F 99 – Mit dem Sündenfall verlor Adam seine Macht über das irdische Leben, behielt jedoch die beiden anderen Würden (ewigkeit und gestalt, V.1). Dieser Verlust und seine Folge, die Vertreibung aus dem Paradies und die Bürde der Arbeit (Adam verlor sein gemach, V.3), bewirkten die Dreiteilung des Ansehens in einen geistlichen, einen weltlichen und einen natürlichen Teil (V.5f.). Diese Dreiteilung, die verschiedene Referentialisierungen erlaubt,439 ist im Diskursgefüge des Langen Tons mit einer gewissen Stabilität versehen, insofern sie Thema zweier Rechtsstrophen am Beginn des Langen Tons in J ist. In J 4 sind es drei Referenzbereiche, die Rechtsstatus erhalten und aus denen sich die Regeln richtigen Verhaltens speisen: aus der Gottesliebe, aus der Liebe zum Nächsten und aus dem natürlichen vorgegebenen Werden.440 War es dort die unhinterfragte Geltung dessen, woraus sich das Recht speist, so ist es hier das in der göttlichen Ewigkeit situierte Ansehen, aus dem heraus sich die drei Formen des Ansehens und letztlich auch der freie Wille des Menschen legitimieren. Der Sündenfall bewirkt zwar den Verlust heiliger Gewalt ([…] gewaltes frone, / […] zustöret wart […], V.10f.), doch bleibt den Nachkommen Adams (F 100) eine selbstbezügliche Gewalt erhalten, die sie willentlich über Aufstieg und Fall entscheiden lässt.441 Die in Gottes Heiligkeit eingehauste Kardinaltugend er (V.7, 13f.) ist dabei jenes Movens, das den Unterschied von Nutzen und Scha437

Kern, Frauenlob (1988), S. 57–64, versucht die literarische Umsetzung zeitgenössischer theologischer Lehrmeinungen im Bar nachzuzeichnen unter Berufung auf das Sentenzenwerk des Petrus Lombardus. Der entscheidende Unterschied zur Forschung liegt im Verständnis der dritten Würde: materig ymmermere (V.19). Kern, S. 62, sieht hierin die göttliche Gabe der ewigen Substanz, der immer fortbestehenden Materie, die corporis immortalitas Adams. 438 Die dritte Barstrophe bringt diese Verschränkung auf den Punkt: got ist er und er ist got (F 100,7). Vgl. die Überlegungen Gustav Roethes, Gedichte Reinmars (1887), S. 215–218, zur Tradition der Morallehre in der Spruchdichtung, die auf Reinmar von Zweter aufbaut. Kern, Frauenlob (1988), S. 55, arbeitet diesen Bezug zu Reinmar von Zweter weiter aus. Zur Begriffsdarstellung im Rahmen der Morallehre und zur religiösen Fundierung des Ehrebegriffs Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 68–71, 190, 194–196; daneben Kern, Frauenlob (1988), S. 54 Anm. 14. 439 Der Kommentar der GA 2, S. 778, hebt die Unsicherheit der Deutung heraus, indem er alternative Lesarten nebeneinanderstellt. Vgl. Kern, Frauenlob (1988), S. 68–70, den Anhang II zur Dreiteilung der Ehre bezogen auf V.60,4–6. 440 Vgl. die Angaben zum Naturrecht, Anm. 265. 441 Hintergrund dieses Gedankens ist mit Kern, Frauenlob (1988), S. 57, die Statuslehre der Scholastik zur Würde des Menschen; vgl. dazu auch Leo Scheffcyk, Urstand, Fall und Erbsünde. Von der Schrift bis Augustinus (Handbuch der Dogmengeschichte II, 3a), Freiburg / Basel / Wien 1981, der die theologischen Überlegungen zur universalen Menschheitssünde aufarbeitet, die immer wieder auch die Freiheit der Adamskinder mitdenken, etwa S. 34f. Zur Bedeutung des Sündenfalls für die Adamskinder vgl. Schreiner, Sündenfall (1992); zur Deutung des Sündenfalls ders., Verlorenes Paradies (1998).

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Wissen und Meisterschaft

den transparent hält (V.2f.) und den freien Willen zur richtigen Entscheidung und auf den erenpfat (V.18) lenkt. Letztlich ist es die in Gott fundierte ethische Bedingtheit des Handelns, die die freie Entscheidung des Menschen kanalisiert und zum Guten hin lenken kann. Ist das mit Augustinus im Einklang, der in „De libero arbitrio“ I,34f. sagt, dass die freie Entscheidung zum Guten Ausdruck der ethischen Haltung des Menschen sei? Für „De libero arbitrio“ II,11–14 gilt, dass jede Willensentscheidung auf einer Wertung und einer Wahl des für den Menschen Besten beruht. Dass das für den Einzelnen Beste bei jedem Menschen gleichermaßen dem Ethos des Guten entspricht, ist in Anbetracht der Einzigartigkeit des Menschen abzuweisen. Die Gabe des ewigen Lebens, die Adam von Gott eingehaucht wurde (F 98,6: er pließ den geist der ewigkeit in in, do kom fraw Ere.) und durch die das Ansehen in die Welt kam, ist in diesem Bar als eine alle Nachkommen Adams übergreifende, innere ethische Orientierung gedacht, die grundsätzlich als Triebfeder jeden menschlichen Handelns zu gelten scheint. Der Tenor des Bars und der inszenierte didaktische Anspruch des Spruchdichter-Ichs (F 100,15–17: ey iunglelinck / dein hertze twingk / zu tugent in eren […]) zielen auf eine in der Tradition der Morallehre der Spruchdichtung konzipierte Verhaltensschulung, die durch das heilsgeschichtliche Beispiel in ihrer unbedingten Notwendigkeit bestätigt ist. Zum wiederholten Mal im Rahmen des Langen Tons wird das Paradox des staeten wandels diskutiert, rückt das Zugleich eines von der Freiheit menschlicher Entscheidung bestimmten Verhaltens und einer regulierten Bedingtheit ebendiesen Verhaltens in den Blick. Die Leistung des Entwurfs liegt darin, beide Seiten, die freie Entscheidung und die regulierte Bedingtheit aller Ereignisse, zusammenzurücken im göttlichen Ursprung. Mit der Instanz Gottes als dem Ursprung des Ansehens wird die Idee des unbewegten Bewegers mit dem von Gott gelenkten freien Willen des Menschen verknüpft, so dass eine freie Willensentscheidung imaginiert ist, die ohne Zwang auskommt und dennoch bedingt ist.

3.4

Weltlicher Wandel und Gesinnungsstabilität (F 101–104)

In den vier Folgestrophen (F 101–104) bleibt diese Problemstellung virulent, wird doch die Stabilität der Gesinnung gegen den äußeren Wandel, gegen das Auf und Ab und den Wechsel von Krieg und Frieden in Szene gesetzt. Exemplarisch in F 101 entfaltet, entsteht zunächst das Bild der Unabwendbarkeit irdischer Abläufe, sowohl natürlicher (V.7–9: so wachsen aber plumen an derselben stat, / da man ee gat) als auch kultureller Art (V.10–18, hier 10f: wo sich die leute zwayen, / da muß verlust und auch gewyn auch zwischen in do heyen). Dieses Wechselspiel, zusammen mit dem Rat zur Standhaftigkeit der Gesinnung: diß alles geringe wegen sol ein menschlich mut bescheyden (V.19), begreife ich als implizites Postulat für eine Stabilität menschlicher Gesinnung, die unabhängig von allen äußeren Gegebenheiten ist. Ich sehe zudem einer Spezifizierung des menschlichen Begehrens (menschlich mut bescheyden), insofern es nicht als affektive Begierde, sondern als vernünftiges Streben dargestellt ist.

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Wiederum gewendet, wird die Existenz des Bösen als fundamentale menschliche Disposition herausgegriffen (F 102): Der Andere, der als Feind (V.1: feinde) mehrfach im Bild des Hundes (V.2f., 11: hunt) metaphorisiert und moralisch bewertet ist, muss als das allem Sein inhärente negative Moment kalkuliert werden. Der Andere verkörpert in dieser Beispielreihe die Schattenseite des Seins, die immer und in jedem Moment in die Präsenz rücken kann. Diesen Gedanken legitimiert das Sprichwort, dass der Tag nicht vor dem Abend zu loben sei (V.5: man sol den tag nicht gar volloben, die weil er hat ein stunde). Glück und Unglück werden als gleichwertige Optionen menschlichen Handelns bestimmt,442 die unter das Diktat der Gesinnung fallen. Mit dem Stichwort der stillen Gesinnung, die im Bild der Igelstacheln ihren Ausdruck findet (V.10–15), werden dann aber Verhaltensweisen favorisiert, die Absicht und Ausdruck eng führen, ohne den Umweg der, hier als schall (V.17) abgewerteten, akustischen Vermittlung zu gehen: Der laut bellende Hund wird dem stillen, aber wehrhaften Igel gegenübergestellt, dessen Absicht (in seinem Verhalten) unmittelbar zum Ausdruck kommt. Zeichenhafter Ausdruck und Bedeutung sind, und hier folgt die Argumentation der traditionellen InnenAußen-Debatte, als einander entsprechend gedacht,443 doch worauf es ankommt, wird mit der Pluralisierung des Phänomens (Hund und Igel) deutlich. Im Fokus der Überlegungen steht die hinter dem Ausdruck arbeitende Gesinnung. Innen- und Außenperspektive sowie Gesinnung und Verhalten entsprechen einander, so ist es im Bild imaginiert. Im Metaphernfeld der Jagd, der Hund ist das in die folgende Strophe (F 103) hinübergespielte Stichwort, werden geringe (V.1: cleiner mut) und starke Gesinnung (V.10: mut geswelle) im Schnittfeld von mâze und unmâze besprochen. Die Lehrhaftigkeit des Redegestus wird durch eine Sprichwortreihe im Abgesang gestützt,444 die im Anschluss an F 102 verdeutlicht, dass die adäquate, dem rechten Maß entsprechende Einschätzung einer Situation darüber entscheidet, ob Gesinnung und Verhalten einander entsprechen.445 Im Rahmen einer solchen Einschätzung sind es die Affekte und seelischen Zustände, die eine schwer zu kalkulierende Seite anthropologischer Verhaltensmuster sind. Der Umgang mit ihnen gerät in der letzten Strophe der Vierergruppe 442

Der adamitische Sündefall, der Gegenstand des vorausgehenden Bars war, wird im Assoziationsraum dieser Strophe zu einem hinreichenden Grund für das Nebeneinander von heyl und ungelücke (V.9). 443 Vgl. Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 122. 444 Die geflügelten Wörter im Abgesang von F 103 besagen etwa Folgendes: Ein Mann soll nicht zu schwer laden (V.13: zu swer ein man nicht laden sol). Leere Gefäße werden wieder voll (V.14: und lere meßlein machen vol). Ansehen tut uneingeschränkt gut (V.15f.: gar sunder dol, / tut eren wol.). Würmer durchlöchern das Löchrige vollends (V.17f.: wirren die machen durckel hol / und ubercrapffen vollen zol). 445 Der aristotelische Gedanke, dass die Mitte, nicht aber das Mittelmaß, das Beste im Bezug auf das Handeln ist, fungiert hier als diskursive Schnittstelle, wie auch die medium-rationis-Lehre des Aquinaten, der die Mitte der Tugend als vernunftbestimmt versteht. Vgl. dazu Martin Rhonheimer, Praktische Vernunft (1994), S. 52, 81–83, 104, 115.

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Wissen und Meisterschaft

(F 104) in den Fokus der Morallehre: Zu große Trauer, zu großes Leid, zu großes Glück und übermäßige Liebe verkehren sich irgendwann in ihr Gegenteil (V.1–11), oder anders ausgedrückt, Affekte haben immer eine Kehrseite. So werden Glück und Unglück bzw. Leid und Liebe durch das rechte Maß relationiert, ist doch des adels masse (V.17) aller ding urspring (V.19). Es scheint mir klar zu sein, dass der aufgerufene Gedanke der Mäßigung auf das menschliche Begehren zielt, das sich nur im Blick auf das gute Verhalten kanalisieren lässt, wenn für Affekte und seelische Zustände ein vernünftiges Maß gefunden wird.

3.5

Die Moralisierung des freien Willens (F 105–110)

Sieht man auf die Bare nach dem Herrscherlob, dann bilden die Schlagworte göttliche Gewalt, im Göttlichen situiertes Ansehen, freier Wille, Gesinnung, beständige Orientierung hin auf das Gute und rechtes Maß allen Verhaltens eine Isotopienkette aus, die zum Ausdruck bringt, dass dem Menschen mit der Freiheit der Entscheidung zwar eine Gewaltherrschaft zu eigen ist, die jedoch einer Steuerung bedarf. Der dieser Freiheit vorausliegende, als Folge der sündhaften Abkehr von Gott markierte Zustand einer dichotomischen Welt, die Umschläge, Veränderungen und Wandel impliziert, muss erkannt, eingeschätzt, bewertet und gehandhabt werden. Damit sind es die einer Situation adäquaten Entscheidungen, die es aufgrund einer adäquaten moralischen Bewertung zu treffen gilt. Funktionalisiert werden dafür klassische Wertbegriffe der Morallehre: muot und mâze. Neben diesen weltlichen Werten wird für eine in die richtige Richtung führende Verhaltenssteuerung das in Gott ruhende Ansehen instrumentalisiert. Es ist Movens und Ziel richtigen Verhaltens und verknüpft das von Gott kommende und zu ihm zurückkehrende Ansehen. Da der freie Wille im Sinne eines göttlichen Gnadenaktes in der Verfügung der adamitischen Abkömmlinge geblieben ist, jedoch in Folge des Sündenfalls mit der Unvollkommenheit des Seins und seinem Lauf und Wandel gekoppelt ist, werden dem freien Willen Ansehen und das rechte Maß des Begehrens als Orientierungshilfen beigegeben. Ziel dieser Maßgaben ist eine Gleichgewichtung aller Entscheidungen, aller abzuwägenden Dinge, aller Adversativa, aller Möglichkeiten. Die dahinter liegende Idee zielt auf die Moralisierung des freien Willens. Nicht allein die rational kalkulierbare Kette aller Vorbedingungen und aller daraus resultierenden Wünsche wirkt auf den freien Willen, sondern dessen Moralisierung unter der Hoheit von mâze und êre. Moral und freier Wille sind damit aneinander gebunden und somit ist eine Bedingtheit gesetzt, die in Gott und zugleich im weltlichen Normenhorizont ruht.446

446

Zur bedingten und zur relativen Notwendigkeit vgl. Bernhard Meumertzheim, Willensfreiheit bei Thomas (1961), S. 28.

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201

Die Vierergruppe (F 107–110) stellt den exemplarischen Fall aus: Ideales höfisches Verhalten wird an der Relation Herr und Knecht entfaltet, nachdem (F 105f.) die gesellschaftlichen Umfeldbedingungen im Auf und Ab des Wandels ausgestellt und im anaphorischen wo sein (F 105,1,3,6,7) beklagt wurden: Gestorben sind die lobenswerten Päpste, Kaiser, Bischöfe, Kardinäle, Recken, Könige und Fürsten. Vergänglich ist, was alle welt zuhanden hat (V.14). Allein die tugent (V.16) ist beständig und überdauert im Vorgang der Tradierung durch die Weisen, in ihrem nennen (V.17). Die Anaphernreihe ich clag (F 106,1,3,6,7,10), die auf Familienmitglieder, Verwandte, Freunde und den eigenen Tod zielt, intensiviert das Klagen des Spruchdichter-Ichs um die Vergänglichkeit allen Seins, und so mündet die Klage in ein Postulat der Unausweichlichkeit des Todes, die verbunden ist mit der Einsicht, sich gerade deshalb im Hier und Jetzt von nichts treiben zu lassen (des solt ich treyben mich durch icht, V.17). Darf man ergänzen, sich nicht treiben lassen, ergo beständig im Handeln bleiben? Vor dem Hintergrund der anthropologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Maßgaben, dem stetigen Wandel und Tod, zielt F 107 auf die Einhaltung feudalhöfischer, vasallischer Regeln. Herr und Knecht sind geschieden (V.1: Wo sich der here knechtet, da hert sich der knecht). Sie haben jeweils ihre eigenen Regeln und Pflichten. Die Herren sollen in ihren Taten ethisch unantastbar sein und in ihrem Sosein (nach art, V.14) sowie ihrer körperlichen Erscheinung (an leib, V.14) nach Würde streben, damit ihnen Ruhm und Lob zuteil werden können (V.7–17). Die Quintessenz dieser Richtlinien ist im letzten Vers formuliert (davon so furchtet all den tod […]). Eng geführt werden das Verhalten wider die gegebene Ordnung – gemeint ist die Instabilität des Verhaltens – und die Furcht vor der Vergänglichkeit. Im Umkehrschluss bedeutet das: Nur wer mit der Ordnung lebt, muss den Tod nicht fürchten, weil ihm das Seelenheil sicher ist. Die Morallehre für das fürstliche Publikum wird in F 108 mit dem Gedanken der wechselseitigen Bindung von Herr und Knecht weitergeführt (V.5f.). Die dabei reflektierte Ordnung der Beziehung kreuzt sowohl Aspekte des genealogischen Diskurses – die Beziehung wird dem Vater-Sohn-Verhältnis analogisiert (V.19: wo here pawet ane knecht, kint ane vater wander) – als auch Aspekte aus dem Diskursfeld des volkssprachlichen Namen-Denkens. Aufgegriffen wird die Idee der Entsprechung von nomen und res, denn zur Darstellung gelangt, dass die Bedeutung der Worte her und knecht (V.1) die Bezüglichkeit der Personen abbildet. Beide Gedanken, die Trennung der Aufgabenbereiche – der Herr soll herrschen, der Knecht dienen – und die reziproke Bindung, die namentlich fundiert und damit legitimiert ist, bilden den Hintergrund aus für den folgenden Gedankengang: In F 109 werden die Herrschaft über den Knecht und die Beherrschung des Begehrens und des Willens analogisiert (V.1–11: Wer mutes willen waldet in dem hertzen sein […] wer nue dem willen und dem mute ist untertan / der ist kein man / […]). Näherhin wird deutlich, dass der vorbildliche Herr nicht nur von edler Abstammung ist, sondern dass er sich selbst zu beherrschen weiß (V.12f.: […] ein here ist von geslechte / und wer im selber angesigt). Das bedeutet zugleich, dass der gute

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Herr eigenverantwortlich und frei zu entscheiden versteht – dies im Rückgriff auf den vorangehenden Strophenblock (F 95–104) zur freien Gesinnung.447 Die letzte Strophe der Vierergruppe (F 110) stellt mit der Treue jenes moralisch bewertbare Detail der reziproken Relation Herr / Knecht aus, das die Bewegung der Bezüglichkeit steuert. Die Treue wird zum moralischen Schild des Dienstes erklärt, der im Sinne der natürlichen Bindung von Schall und Echo entlohnt werden muss (V.1–6). Das Stichwort dafür ist wiederdiessen (V.5). Die ethische Dimensionierung der Beziehung bringt dabei zum Ausdruck, dass Dienen und Lohnen zwei Verhaltensmuster sind, die in der freien Verfügung des Menschen liegen: Sie sind moralisch bewertbar. Und weil dem so ist, weist der Spruchdichter auf die Möglichkeit einer Verfehlung hin. Im Redegestus der Klage und des Urteils wendet er sich an seine fürstlichen Rezipienten. Sie sollen abwägen, ob einer einmaligen Verfehlung ein sofortiges Aufkündigen der Huld zu folgen habe (V.7–12)448. Zum wiederholten Mal werden dann auch Beispiele aus dem Bereich der Natur herangezogen (z. B. der schiefe Ton, die Dornen der Rose, V.13, 15), um die Kehrseite des positiven Verhaltens als gegebene und zu kalkulierende Seite auszustellen. Gutes und Böses, rechtes und falsches Verhalten sind in der in F verfolgten Argumentation reziprok verschaltet als die zwei Seiten derselben Sache. Es ist nicht so, dass eines dem anderen vorgängig gedacht wird, und es ist auch nicht so, dass das Böse als Abweichung vom Guten thematisiert würde. Vielmehr scheint dahinter der Gedanke einer anthropologischen und natürlichen Disposition zum Guten und zum Bösen zu ruhen.449 Im Zentrum des Viererblocks steht die Instabilität menschlichen Verhaltens: Sie wird im Horizont des moralisch makellosen Verhaltens der Herren disqualifiziert und nicht als erlaubte Verhaltensform des Knechts anerkannt. Doch liegt die Quintessenz der Ausführung in der Überlegung begründet, dass die Instabilität des Verhaltens nicht nur auf Seiten der Knechte, sondern auch auf Seiten der Herren jedwedem Verhalten inhärent ist, im Kontext des Gesagten als Maßgabe des Seins gesetzt ist und trotz negativer Distinktion anerkannt werden muss. Das kommunikative Gefüge von Herr und Knecht 447

Es ist im Rahmen der Argumentation von nachgeordneter Bedeutung, dass es einen Analogieschluss von Herr und Spruchdichter gibt, durch den beide nur dann über die Möglichkeiten ihres Handelns verfügen können, wenn sie auch den Willen des Begehrens zu lenken verstehen: wer nue dem willen und dem mute ist untertan / […] das er kein rechter here ist, wol in der kunste garten. (V.7–11). Die mit der Strophe aufgestellte Lebensregel wird insofern in ihrer universellen Bedeutung kenntlich und rechtfertigt dahinter den Anspruch des Sprechers, eben diese Regel zu beherrschen. 448 mich müt ein ding, an euch ir heren, das ist slecht: / das euch ein knecht / hie dienet lannge stunde / von seines hertzen grunde / gar williglichen er das thut, des pesten | des er kunde, / und in ein cleine missetat auß ewren hulden dringet. 449 Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen (2010), S. 62, führt hier aus, dass Plotin den Ursprung des Bösen aus einem Mangel ableitet und Augustinus den Ursprung im Ungehorsam sieht. Ihn selbst interessiert die Konstellation des Sündenfalls nicht als eine des Mangels, sondern er sieht dort „die Qualität einer ständig vorhandenen Anlage, die das Böse nicht als Abweichung vom göttlichen Gebot, sondern als Kraft mit autonomer psychischer Realität ausweist“.

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ist ob seiner normativen Bezüglichkeit ein idealer Gegenstand der Überlegungen zur Wirksamkeit von mâze und muot. Die Beispielreihen sind nicht nur anschaulich, sie lassen sich als Gedankenexperimente verstehen, die Situationen entwerfen, in denen bestimmte Dinge der Fall sind und andere nicht. Sie sind ein Prüfstein der dem abendländischen Diskurs um das Gute, Böse und den freien Willen entspringenden Argumentation in F, die vor allem augustinisch geprägt ist und doch eigenständige Ansätze entwickelt.

3.6

Instabilität und Situativität von Wahrheit und Wissen (F 111–114)

Das sich in der Strophenfolge anschließende Mariengebet ist durch die Rubrik In des Frawenlobs lanngen don als strophische Einheit markiert.450 Es ist eine Strophe, die die Bitte des Spruchdichter-Ichs zum Gegenstand hat, Maria möge ihm bei der Sündenerlösung behilflich sein. Die Gebetsstrophe befindet sich in der Weimarer Liederhandschrift im Zentrum des Tons zwischen der Argumentation zum Freien Willen und dem Lob der Frau. Das Sprecher-Ich verfügt über heilsgeschichtliches Wissen, das er im Sinne des Guten auf sein Seelenheil hin einzusetzen weiß. Er ist in der Rolle des Betenden als hilfebedürftiges Mängelwesen inszeniert. Sein Status ist damit der natürlich menschliche, eben per se sündhafte. Doch vermag das Sprecher-Ich sein Begehren im Angesicht eigener Sündhaftigkeit auf das letzte Gute hin zu orientieren. Das darauffolgende Dreierbar (F 112–114 = J 31–33) hat am wîp-vrouwe-Thema teil. Doch auch wenn die Strophen aufgrund ihrer Parallele in J eindeutig semantisiert scheinen, rufen aussagekräftige Wendungen, wie der Trieb der Dummen (V.1) und die Meinung der Anderen (V.12), die vorausliegende Argumentation um den freien Willen auf. Ich repetiere kurz die Schlaglichter der wîp-vrouwe-Argumentation: Die erste Strophe begründet den Vorrang der Namen vrouwe und magt vor dem des wip volksetymologisch, heilsgeschichtlich und physiologisch. Es geht dabei um ein aktuelles Lob der himmlischen Mutter, die mit Gott ‚verwandt‘ (V.3) und unterschieden vom irdischen wip ist (V.4–6).451 Daneben geht es auch um den göttlichen Benennungsvorgang und das Wissen darüber, das vom falschen Wissen der tumen (V.1) geschieden wird, die meinen, Gott habe weyp (V.1) zu seiner Mutter gesagt. Das Spruchdichter-Ich setzt Gottes Wort: freulich kunne (V.3) dagegen und führt zwei Bezeichnungen des Wortes an: frawe (V.7) und magt (V.12), die er jeweils aus dem heilsgeschichtlichen Kontext herleitet und deren transzendenten Charakter er betont. Es ist eine provokative Streitstrophe, in der das Spruchdichter-Ich sein Wissen um die göttlichen Bezeichnungen 450

Parallelüberlieferung C 31 und k 61. Vgl. die Analyse von C 31 im Kapitel III.1.2. F 111 ist die einzige ohne Strophenverbund rubrizierte Strophe im Corpus. 451 Wenn auch nur implizit wird die fraw bereits hier durch die kontextuelle Nähe der beiden Bare in Analogie zur Gottesmutter gesehen, so dass ihr Lob absolut gesetzt werden kann bereits vor aller Differenzierung.

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Wissen und Meisterschaft

gegen die Dummen und gegen die Gecken richtet (V.13–19), die nicht zu unterscheiden verstehen zwischen den Implikationen des himmlischen Wortes und der irdischen frawenschafft (V.19).452 Die Dummen sind diejenigen, die zu einer Willensentscheidung nicht fähig sind (F 95,4f.) und die Gecken sind diejenigen, deren Begehren auf den bloßen Schein hin orientiert ist, die also gleichermaßen von der rechten Entscheidung abweichen. Die Folgestrophe setzt mit einem Plädoyer für das Prüfen der Wahrheit ein, das seine Legitimation aus der göttliche Rede bekommt: Gott habe nie gesagt, dass alles wahr sei (V.1).453 Wendet man diese Aussage, dann müsste man hier unterstellen, dass die Wahrheit situativ gedacht wird und an ein je spezifisches Wissen gebunden ist: Das Wissen der anderen geht vom falschen Text aus, weshalb auch ihre Übersetzung (glose) valsch ist (V.19). Damit wird der Vorrang des frawe-Namens auf der Ebene des Wissens ausgefochten, werden Übersetzungen des göttlichen Wortes nach einer Wahrheit gewichtet, die an die gottnahe Urschrift, nicht aber an den lateinischen Text gebunden ist. Wissen und Wahrheit liegen damit in Gott und der mit ihm verknüpften Urschrift, um die das Spruchdichter-Ich weiß, so dass er die heilsgeschichtlichen Details des himmlischen frawe-Namens ausführen und mit der Schrift legitimieren kann. Für die Mutter Gottes wird der Namen frawe aus der Frucht (V.9), aus der reinen Last (trüchte), aus den Freuden (fraw) und aus der Geburt (we) abgeleitet (V.11f). Die volksetymologische Begründung des Namens ist dabei ethisch sanktioniert durch den Hinweis auf den eingeborenen (reinen) Sohn.454 Die letzte der drei Strophen zur wîp-vrouwe-Thematik ist nicht leicht zu verstehen, da sie anders kontextualisiert ist als die Parallelüberlieferung in J. Sie führt die drei Seinsstufen mait, fraw und weyp an, doch fehlt in F der Kontext der wip-Etymologie, der ein gutes Verständnis sichern würde. Sagen lässt sich, dass diese Strophe den beiden vorangehenden Lobstrophen auf die Mutter Gottes zur Seite gestellt ist; auch sie bringt das Lob der (alles umgreifenden) fraw zum Ausdruck. Möglicherweise weist sie als letzte des Bars darauf hin, dass der Frauen art (V.15) alle Seinsstufen umfassen kann, wenn die art (des Mädchens und des Weibes) den ethischen Gepflogenheiten und dem Ansehen der Frau folgt (fraw, an die alle tugent plut und auch der eren cleyde, V.19). Die Stichworte für diese Lesart sind nicht schlagend genug, doch halten sie wohl im Kontext des Bars und des Strophengefüges von F stand. Obgleich das verarbeitete Wissen der vier Zentrumsstrophen zwischen religiösem Vollzug, Heilsgeschichte und Sprachtheorie changiert, ist deren poetologische Umsetzung mit einem ethischen Anspruch, nämlich mit dem Lob des höchsten, per se mit 452

Eine Analyse des Dreierbars und der Parallelstrophen bietet Kapitel VI.3., in dem die Abweichungen, die nicht nur auf Lesefehler und Missverständnisse zurückführbar sind, in ihrer Funktionalisierung im jeweiligen Kontext geprüft werden. 453 Anders als J hat F hier keine Exzeptivkonstruktion, die Negation im Nebensatz fehlt. Sollte man F hier korrigieren, oder versucht man die Aussage – Gott habe nie gesagt, alles sei wahr – im Kontext zu erschließen? 454 Zur Problematik der wahren Rede (V.1) und der Glossierung / Auslegung (V.19) vgl. die Erläuterung der Parallelstrophe J 32, Kapitel III.2.6.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von F

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Ansehen versehenen Namens, und mit dem Lob Marias verbunden. Die Umsetzung situationsabstrakten, analytisch gewonnenen Wissens ist in beiden Fällen (Mariengebet, Dreierbar zum wîp-vrouwe-Thema) an die Unmittelbarkeit der durch das Sprecher-Ich präsentierten Wissensbearbeitung gebunden. Die vier Zentrumsstrophen zeigen die situativ bedingte Instabilität der Denk- und Seinsformen und die Prozessualität der Bearbeitung unterschiedlichen Wissens. Durch die Nähe zur Argumentation des weltlichen Wandels und der willentlichen Entscheidung im Horizont einer klug orientierten Gesinnung wird die Rede des Spruchdichter-Ichs als rechte und wahre Rede greifbar.

3.7

Gesinnungslenkung, staeter wandel, Ratgeben und Ratnehmen (F 115–119)

Das folgende Bar bündelt fünf Strophen zum Rat und den unterschiedlichen Ratgebern. Dabei werden richtiger und falscher Rat geschieden, bewertet und auf die Gesinnung bezogen. Ging es vor den Zentrumsstrophen darum, zunächst darzustellen, was Gesinnung und freien Willen im Horizont der heilsgeschichtlichen Differenz von Gut und Böse ausmacht, so scheint sich die Perspektive nun auf das Lenken der Gesinnung / des menschlichen Begehrens zu richten, und damit rücken implizit Funktion und Wissen des Spruchdichters in den Blick. Im Bild von Saat und Spreu (F 115,V.2–6)455, die naturgegeben aneinander gebunden sind, gleichviel wie gut Boden und Saat sind, bringt sich zum Ausdruck, was durch den Sündenfall innerweltlich Bestand erhalten sollte. Der Möglichkeitsspielraum menschlichen Handelns und Verhaltens ist als ethisch markierte Differenz der zwei Seiten jeder Sache, jeden Dings und jeder Tat ausgestellt, denn mit der guten Saat ist immer zugleich die Spreu gegeben. Jener naturgegebene Möglichkeitsspielraum für die menschliche Entscheidung wird auf die höfische Situation des Ratgebens appliziert, wenn es heißt, dass der falsche Ratgeber seine Worte süsz und slecht setzt (V.7). In der Güte des arglosen Herzens haben sie nur wenig Erfolg (V.8–10), den einfältigen Verstand vermögen sie jedoch zu blenden wie reines Gold (V.11f). Die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch ist dem Klugen eigen, nicht aber dem Einfältigen. Gleiches gilt für den tumen (V.13), dessen Gesinnung durch weyse[n] rat (V.13) nicht weiser zu werden vermag. Mir scheint, dass hier im Diskursfeld des ersten Strophenblocks ein wiederholter Hinweis auf den Mangel an Eigenverantwortung respektive freiem Willen im Fall einfältiger / dummer Gesinnung zu greifen ist und damit ein Hinweis auf die Entscheidungskraft des Einzelnen als Basis der Unterscheidungsfähigkeit.456 Mit der Warnung vor der Hässlichkeit der Lüge und den betrügerischen 455

merckt an: die sat, / die hat sprew und trebsungen, / die man nicht hat geswungen. / hat als ir art, der hilben schwach, ist aber nit gelungen. / ye pesser grunt, ye mer der sat, der hilben an sich fasset. 456 Vgl. dazu die Ausführungen zum Bar F 95.

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Wissen und Meisterschaft

Absichten der falschen Ratgeber sowie dem Hinweis, deren Worte nicht flügge werden zu lassen im Herzen (V.15–18)457, beansprucht das Spruchdichter-Ich neben der ethischen (V.19: ir loses smaichen, ir manlich ja, heil, feld und ere hasset.) auch eine ästhetische Orientierung des ratenden Wortes.458 So ist das Ratgeben in der Quintessenz als eine spruchmeisterliche Redeform dargestellt, die sowohl von der Wahrhaftigkeit des Wortes als auch von der Schönheit der Wortgebung bestimmt wird. Ob die Vorstellung des Schönen rhetorische Stilideale (brevitas, claritas), Stilniveaus (Dunkelheit) oder Bauprinzipien (glatt, eben, gefügt usf.) einschließt, ist nicht genau zu bestimmen. Doch begründet die Argumentation der Strophe die Gefahr, die im allein schönen Wort liegt, denn auch der falsche Ratgeber kann seine Worte süsz und slecht (V.7) bauen. Aus dieser Gefahr heraus erwächst die Notwendigkeit, über ein rhetorisches Wissen zu verfügen, das hinter der Schönheit der ratenden Worte Wahrheit oder Falschheit der Worte zu erkennen vermag. Diesen Gedanken setzt die Folgestrophe (F 116) fort: Sie exponiert exemplarisch die Eigenständigkeit des fürstlichen Verstandes. Im Rat an den Herren, sich selbst gut zu raten, prolongiert sich der Tenor der Ausführungen im Langen Ton, denn es geht zum wiederholten Mal um die Eigenverantwortlichkeit, die hier auf den Umgang mit dem eigenen Verstand zielt. Dass diese Fähigkeit angeboren und anerzogen ist, aber Erziehung auch zur Unfähigkeit der Selbstbestimmung führen kann, darauf weisen die gewählten Negativbeispiele der Strophe hin: das durch Schläge erzogene Kind, der ebenso erzogene Hund (V.5f.) und der Brunnen, dessen eigenes Wasser (ursprunck) länger frisch bleibt gegenüber dem hineingeleiteten (V.6–11). Die Beispiele scheinen angeborene Fähigkeiten höher zu werten als anerzogene und die problematische Seite der Erziehung, die Fehlorientierung, auszustellen. Der daraus resultierende Rat des Sprechers richtet sich an den jungen Herrn, einen guten Umgang zu pflegen und demjenigen zu folgen, der beständig über Ansehen verfügt (V.18f.: here, ob du junger jare pist / so volge dem, bey seinen tagen, dem er nicht sey zurunnen). Obgleich die dritte Strophe des Fünferbars (F 117) entstellt ist,459 bietet sie im diskursiven Netzwerk des Langen Tons der Weimarer Liederhandschrift eine bildreiche Ergänzung zu den Überlegungen um Eigenverantwortung und Vermittlungsmöglichkeiten angesichts der Instabilität der Dinge, der menschlichen Gesinnung und Handlungsweisen. Die Argumentation der Strophe begründet die Gefahr, die im allein schönen Wort liegt, wie sie in F 115 bereits entwickelt wurde.460 Der sentenzhafte Satz am An457

schön ist kein lüg, / der valschen trüg. / tugent auß gutem hertzem füg, / let man ir wort gewynnen flüg. 458 Der jüngst erschienene Sammelband, Das fremde Schöne (Braun / Young 2007), markiert, dass dem Begriff der Ästhetik in seiner Anwendung auf die mittelalterliche Literatur eine Vielschichtigkeit eignet, die zwischen Vorstellungen einer modernen, einer rhetorisch-funktionalen und einer präautonomen Ästhetik changiert, und die zunächst erst einmal am konkreten Material heuristisch zu beschreiben und zu differenzieren ist; vgl. dazu bes. die Einleitung von Manuel Braun, S. 1–40. 459 Vgl. den Kommentar der GA 2, S. 792f. 460 F 115,7: Der falsche Ratgeber setzt die Worte süß und slecht.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von F

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fang, dass der Rat eines moralisch makellosen Ratgebers immer angemessen ist (V.1: Ein rat, der selber tugent hat, des rat wol zympt), wird hernach durch eine komplexe Licht- und Scheinmetaphorik aufgeladen. Die Metaphern des Leuchtens und Scheinens stellen Konnotationen bereit, die den Weg der Worte bzw. die Übertragung der Worte vom Sender zum Empfänger als einen Weg der Abbildung und zugleich als einen Weg des Prüfens beschreiben:461 Die Argumentation wird im Bild der Herstellung des Spiegels mit einer physikalischen Tatsache eröffnet. Der Meister, der einen Spiegel herstellt, Zinn hinter Glas legt, so dass kein Licht hindurchbrechen kann, weil der Schein zurückgeworfen wird (V.2–6), verfügt über ein physikalisches Wissen vom Vorgang der Abbildung als einer Widerspiegelung. Ein zweites Argument wird mit dem Beispiel der leuchtenden Kerze, die eine Fülle anderer Kerzen zum Leuchten bringen kann, angeführt, so wie ein Herzensgrund tausend andere Herzen entzünden kann (V.7–10). Auch hier ist der Vorgang der direkten Übertragung gemeint. War bei der Spiegelmetapher die Abbildung als Widerspiegelung gemeint, so ist hier die Abbildung als Prolongierung von einem Ursprung her gemeint. Das dritte Argument setzt beim Aspekt der Vervielfältigung an: Bricht der Spiegel in tausend Scherben, so bleibt die Funktion der Widerspiegelung dennoch für jedes Spiegelstück erhalten (V.11f.); es spiegelt wider im ursprünglichen Sinn einer unverfälschten Abbildung. Alle drei Bilder imaginieren die adäquate unverfälschte Abbildung im Sinne einer ursprünglichen Entsprechung und sind somit Argumente für eine adäquate Übertragung der Worte und Sätze. Diese Idee bindet sowohl den Vorgang des Ratgebens als auch den des Ratnehmens, denn so wie der Rat dem Ratgeber entspricht, muss der Ratnehmende prüfen, ob er das spiegelt, was ihm vor Ohren und Augen gestellt wird. Doch, und das beruht auf der Instabilität menschlichen Seins, liegt die Prüfung im Ermessen des Ratnehmenden (kür, V.13). Es ist seine Entscheidung, Laster wahrzunehmen, so wie ein Makel im Spiegel erkennbar ist (V.15–18)462. Das Spruchdichter-Ich fordert die Rezipienten explizit auf, sich zu fragen, zu überprüfen, sich zu öffnen und zu entscheiden (V.13, 15), denn es gilt, und dies wird wiederum im Langen Ton von F explizit, dass der Mist zu den Blumen gehört, so wie das Leid zum Ansehen. Nur dort wo die andere Seite des Ansehens einbezogen wird, kann das dem Ansehen förderlich sein. Physikalische Tatsachen legitimieren die ethische Unantastbarkeit des guten Ratgebers, und eigenverantwortliches Handeln wird als ein Vorgang visueller Prüfung ausgestellt, denn im Abbilden des makellosen Vorbildes zeigt sich der eigene Makel. Es geht auch hier letztlich um die Spannweite der Möglichkeiten kommunikativer Wirksamkeit von mâze, muot und wille. Im Rekurs auf die Auftaktbare in F, in denen Adam als Spiegelbild der in Gott ruhenden Ewigkeit gezeichnet wurde, wächst dem Spruchdichter-Ich Geltung zu, denn ihm ist ein ursprüngliches Ansehen eigen; er ist die erste ethische und gebende Instanz, Orientierungsinstanz und Maß aller Dinge. 461 462

Zur Metaphorik des Scheins zuletzt Müller, schîn und Verwandtes (2006). thut auf die thür / des lasters mür, / sich in den spiegel, dartzu spür, / ob sich kein mayl darinn berür.

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Wissen und Meisterschaft

Auch wenn der Kommentar der GA darauf hinweist, dass die vierte der Barstrophen (F 118) nicht in den Kontext des Bars zu passen scheint,463 ist ein Konnex mit dem Vorangehenden gegeben, insofern das Sprecher-Ich im Wettstreit mit einem betrügerischen Meister steht. Thema des Streits sind der gute und der trügerische Rat, der ebenfalls als Akt des Willens imaginiert wird, doch in deutliche Distanz zum guten Rat des Meisters tritt. Eröffnet wird die Strophe mit einem Lob der eigenen Treue und der eigenen Meisterschaft. Es ist die Kraft der Treue des guten Ratgebers, die im bislang ausgeübten Rat zur Meisterschaft geronnen ist (V.1–3). Die Gesinnung des Rezipienten, so wird es postuliert, würde während des Streits mit dem Verstand wachsen (V.4f.: und wil man aber machen / die kypel auch mit kundigkeit, dein mut mit list kan wachen.). Ich lese dies als einen Hinweis darauf, dass der Verstand ein Effekt des Meinungsstreits ist und dass die Diskussion differierender Meinungen das menschliche Begehren für die richtige Richtung schulen kann. Noch im ersten Stollen fordert das Spruchdichter-Ich seinen betrügerischen Gegner heraus. Er setzt ihn herab, doch markiert er, dass auch der Betrüger über einen eigenen Willen verfügt, der ihn in die Lage versetzt, Falsches zu postulieren (V.6: […] du setzest, trugener, den valsch nach deinem willen) und es dennoch durch sein Benehmen zu verbergen versteht (V.7: hant mir dein tücke kundiglich verporgen das). Dass dieses Verhalten der Untreue [gegenüber dem Ratsuchenden] zur Meisterschaft führen kann (V.15f.: untrew ye vant / irs meysters lant), ist wohl der Grund dafür, dass das Spruchdichter-Ich seine Handlungsweise dagegensetzt: Er ist dem Trug auf der Spur und schwächt die Handlungsweisen des Betrügers (V.8–10). Gegen betrügerische Rede einschreiten kann nur der, der die Situation richtig einzuschätzen weiß. Zwei Gleichnisse stärken diesen Gedanken: Wer im tiefen Wasser waten soll, schwimmt besser, und wer einen Igel fangen will, muss seine Hände schützen (V.11– 14).464 Das Sprecher-Ich weist darauf hin, dass es in der Lage ist zu helfen; nicht im Sinne göttlichen Beistands, aber beinahe – so legt es der auf hilff (V.18: dan ist dir meine hilff ermannt,) bezogene Relativsatz nahe (V.19: die got vermag und nymant bas, und der es als kan stillen). Der hier in den Gleichnissen und in F 117 aufscheinende Meisterschaftsanspruch ist ein starker Geltungsanspruch, denn es geht im Horizont weltlicher Unterweisung um nichts Geringeres, als die wahre ethische und gebende Instanz zu sein. Mit der fünften Barstrophe dreht sich noch einmal alles um die Dichotomie klugen und betrügerischen Verhaltens465 und um die Möglichkeit, dies allein mit dem Verstand zu überwinden (V.7–12). Der Gedankengang wird zurückgeführt zur Geschichte von 463

GA 2, S. 794. in voller maß er schencket ein, ein man, der leicht außswumme, / sol er ein tieffes wasser waten. wil man den igel villen, / so nem man etwas fur die hant, / sein porsten sint so scharpff bekannt. 465 Das Spruchdicher-Ich weist darauf hin, dass es sinnvoll sei, einem Rat zu folgen, es sei denn, etwas stört daran (V.1–6). Es geht um denjenigen, der sich prüfend darum bemüht und sich auf diese Weise [vor dem betrügerischen Ratschlag] zu schützen vermag. Letztlich werden der kluge betrügerische, also fehlgeleitete Verstand und der moralisch prüfende geschieden.

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Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von F

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Adams Gewaltverlust (F 98–100). Verstand ohne Gewalt (V.14–17), ohne eine moralisch richtige Entscheidung über Tun und Lassen – so ist in diesem diskursiven Raum wohl zu ergänzen – zerstört den guten muot. Ich verstehe diese Strophe als Plädoyer für den durch die Moral gelenkten Willen, der in Situationen der Untreue zur richtigen Entscheidung führt. In diesen Situationen gibt es – und das ist ein starker Standpunkt – nur eine Entscheidung, nämlich die gegen die Verfehlung. Das bedingte Handeln ist damit ein notwendiges Handeln. Es entspricht einem durch den Verstand gelenkten Begehren, das dem Willen zum Guten prinzipiell gleichkommt.466 Dem Sprecher-Ich wird dabei das eigene Vermögen in der Inszenierung seiner Unwissenheit reduziert (Wie tump ich pin, so kan ich ein ding prüfen wol, V.1). Doch gerade durch diesen Gestus wird die Notwendigkeit des Prüfens über den Verstand gestellt. Das (moralisch gelenkte) Prüfen einer Sache versetzt den Prüfenden in die Lage, den klugen, aber verfehlten Verstand zu erkennen. Dies scheint mir eine Leistung zu sein, die den Anspruch auf Meisterschaft in diesem Bar um eine weitere Facette stärkt.

3.8

Rat und Lob als Redeformen der Gesinnungsbildung (F 120–126)

Sowohl das Herrscherlob mit all seinen Implikationen zwischen Spruchdichter und Fürst als auch die Relation moralisch guten und schlechten Verhaltens bleiben weiterhin Gegenstand der Argumentationen in F. Das Siebenerbar ist so gebaut, das es exemplarische Fälle im Horizont allegorischen und höfischen Wissens – nach der Abstraktion der vorangehenden Bare – darstellt. In vier Schritten wird die Totenklage, die laudatio auf König Rudolf von Habsburg und auf den Fürsten Heinrich von Breslau, vorbereitet. Die beiden Seiten des kommunikativen Verhältnisses, das Loben des Spruchdichters (F 120) und das Fragen der Herrschenden (F 121)467, werden zunächst präpariert und in einem weiteren Schritt in der Allegorie von der Pflege des fremden Ackers (F 122f.) in ihrer nicht unproblematischen Bezüglichkeit vorgeführt. Im Lob lobenswerter, aber gestorbener Herrscher und im Tadel lebender, jedoch lasterbeladener Herrscher ist nicht nur eine Handlungsorientierung zu greifen, sondern auch der wiederholt inszenierte Anspruch, ethisch makelloses Verhalten zu erkennen und zu bewerten. Dieses Lob des Spruchdichters erhält eine eigene Strophe, die in anaphorischer Verkettung und Wiederholung (F 120,1,6,7,10, 13: lob) das Lob selbst preist, insofern sich poetologische Ebene und Gegenstandsebene retrospektiv und prospektiv verschränken: Gelobt wird das für den Lobenden sichtbare Wachsen des Willens und der Taten (V.3– 5),468 und es war gerade der eigene Wille, der als Ursprung guten Verhaltens mehrfach thematisiert wurde. Gelobt wird danach das Lob, das von Tag zu Tag durch seine füge (V.7) wächst. Im Bild von der Pflege und vom Nutzen der Kräuter (V.8–12) wird die 466

Meumertzheim, Willensfreiheit bei Thomas (1961), S. 26–41. Vgl. zu F 120f. die Analyse der Parallelstrophen J 51 und J 50. 468 mir wirt von meinen augen, / gar offenpar nicht taugen, / ein rieß an willen und an tat. […].

467

210

Wissen und Meisterschaft

Pflege, Kraft und Treue des Lobs sichtbar. Es ist im Rahmen des Eigenlobs nur logisch, dass das Lob des Spruchdichter-Ichs diese Maßgaben erfüllt (V.13f.: mein lob vil mangen hat betagt). Dass es sich auch in widerständigen Situationen behaupten konnte, ist ein Ausweis seiner Kraft und Treue (V.15–19).469 Dass das Fragen zur Verstandesbildung des Herrschenden gehört, erweitert den Gedankengang der Gesinnungslenkung um einen nächsten erlernbaren Aspekt (F 121). Der Verstand muss geschult und dem eigenen Willen unterstellt werden, und auch das, was beiden vorgängig ist, muss geschult werden: das Fragen.470 Die Frage und damit das Interesse am Gegenüber und an den Sachen sowie die Verlautbarung dieses Interesses werden als Ursprung der Erkenntnis richtigen und falschen Verhaltens beschrieben. Interessant ist dabei, dass der Wille auch Ursprung des Fragens ist (V.4: […] wolt ir wytz ersleichen).471 In den letzten drei Strophen des Siebenerbars (F 124–126) werden Funktion und Inhalt von Lob bzw. Totenklage und die spruchmeisterliche Darstellung einer Totenklage zum Gegenstand der Reflexionen. Poetologische und gegenstandsbezogene Argumente vermischen sich. Die Eröffnung der Überlegungen ist sentenzhaft: Man lobt die Toten, damit sich die Lebenden nach ihrem Vorbild verhalten und nach den ihnen vorgelebten sowie in Gott gründenden Tugenden ringen (V.1–6).472 In Abgrenzung vom fehlerhaf469

ich kam gejagt / gar unverzagt, / als mir mein lob hett vorgesagt, / do vand ich alle pfat verhagt, / do must ich kempffen an. […]. 470 Wehse, Art. „Frage“ (wie Anm. 404), weist das Fragen als Ursprung der Erkenntnis aus; vgl. auch Walter F. Veit, Art. „Frage“, in: HWR 3 (1996), Sp. 220–245. 471 Eine der Leistungen des Fragens besteht darin, falsches Verhalten zu erkennen und vom richtigen Verhalten zu scheiden. Das bîspel von den zwei Jungfrauen mit den Rosengärten (F 122) macht deutlich, dass die Fehleinschätzung einer Situation, in diesem Fall ist es die Pflege des fremden Gartens, zum Nachteil gereichen kann. Es ist eine Strophe, die sicher auch in einem anderen Strophenzusammenhang ihren Platz haben könnte, die hier jedoch Fehleinschätzungen und Fehlverhalten exemplarisch vor Augen stellt. F 123 bezieht das Verhältnis von Herr und Knecht sowie Herr und Gast auf die Vorgaben des bîspels. Die Strophe gibt eine Reihe von Richtlinien für feudale Besitzverhältnisse vor: Fremdes Eigentum ist unantastbar (V.1–5). Der Knecht, der seinem Herren dient, ist ein guter Knecht (V.5f.). Die Herren sollten den Dienstleuten auf ihrem Grund Befugnisse einräumen (V.7–9). Sie sollen sich gegen den Einfluss dreister Fremder zur Wehr setzen (V.10–12), nur allzu rasch wird aus dem Gast ein Feind. Die Quintessenz der Richtlinien, die ihren Ausdruck im Bild von der Kräuterlese findet (V.19), liegt in der Notwendigkeit, gut und schlecht zu erkennen und voneinander zu scheiden. Dass auch diese Strophe trotz ihrer Verderbtheit in das Diskursgefüge um freien Willen, Eigenverantwortung und Gesinnungslenkung gehört, dafür stehen die Stichworte erkysen (V.5), gewalt (V.9, 14) und willen (V.11) ein. 472 Das richtige Verhalten ist hier nicht abbildhaft an ein lebendiges Vorbild gebunden, wie in F 116,18f. und F 117 ausgeführt, sondern als Nachbildung einer Erinnerung gezeichnet. Doch sind in F 124 der Vorgang des Lobens, seine Voraussetzungen und Möglichkeitsbedingungen in den Vordergrund gerückt. Dass der Lobende zunächst immer vor eine Wahl gestellt ist, darauf macht der Fall der falschen Wahl aufmerksam, mit dem sich das Spruchdichter-Ich beschäftigt: Es ist allerorten zu hören (V.10: das hör ich auß und innen), dass tote und lebende Männer gleichermaßen genannt werden (man nennet, V.7). Das falsche Redeverhalten beruht auf schwachem Wil-

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211

ten Lob wird das richtige Lobverhalten an einen göttlichen Ursprung gebunden (mit manger außerwelten tugent, die got mit eren nannte, V.6). Damit und mit der Moralisierung des Lobverhaltens (V.4f.) und in seiner Abgrenzung vom falsche[n] munt kommt der spruchmeisterliche Anspruch auf eine vollkommene, gottgleiche Lobrede zum Ausdruck. So ist es nur schlüssig, dass die Argumente der Folgestrophe (F 125) auf biblischem Wissen vom Johannesevangelium aufruhen und dass das Wort des Evangelisten den Wahrheitsanspruch des Spruchdichterwortes stärkt. Mit dem Evangelistenwort von der Auferstehung der Toten und dem Jüngsten Gericht (V.1f.: Johannes gicht, die totten müssen aufersten, / fur gericht gen) erfahren alle anschließenden moralischen Wertungen des Spruchdichters ihre Rechtfertigung. Dem Spruchdichter-Ich wird in diesem sicheren Raum biblisch-wahren Wissens die Richterrolle zugewiesen. Er ist es, der jetzt den Ort und den Zeitpunkt der Auferstehung der fürstlichen Toten vorgibt: des ist nu zeyt hie worden / und in vil fürsten orden / die totten auferstanden sind all an des preyses horden (V.3–5). Er lässt – und hier kommt die Kunstfertigkeit der literarisierten Bearbeitung des Wissens zum Ausdruck – die Gestorbenen im Lob auferstehen (V.5f.: die totten auferstanden sind all an des preyses horden / an nam ein hochgezyltes lob […]), da sie den Lebenden vorzuziehen sind. Dabei konterkariert er die Situation gegenwärtigen feudalen Ansehens, ist doch die Rede von den lebendigen Toten und den toten Lebendigen im Ansehen (V.7–19). Mit der literarischen Bearbeitung des Auferstehungsgedankens verbindet sich der Anspruch, dass der lobenswerte Tote im spruchmeisterlichen Akt des Lobens zu neuem, nicht mehr endendem Leben erweckt werden könne. Mir scheint, dass dies einem impliziten Selbstlob des meisterlichen Vermögens von transzendenter Größe gleichkommt; einem impliziten Selbstlob, das mehr als der dargestellte Gegenstand von willentlicher Entscheidungskraft zeugt! Die fünfte, abschließende Barstrophe (F 126) ist die Explikation dieses Vermögens, ein geblümtes Lob König Rudolfs und Fürst Heinrichs von Breslau (dein werdes pfat / durchplümet stat V.15f.), das die toten über die lebenden Fürsten stellt und deren Unwürdigkeit, die auf ein wir (V.5), ein uns (V.7, 12) zurückfällt, kritisiert. Das Spruchdichter-Ich führt damit expressis verbis vor, dass und wie zwischen richtigem und falschem Verhalten zu unterscheiden und zu werten ist und wie sich aus dieser willentlichen Entscheidung das richtige Lob entwickelt und zur Darstellung gelangt.

len und Verstand (V.9: ir will in swachen synnen), so dass weder ehrbare Fürsten erwählt werden, noch bekannt zu sein scheint, dass das Sündenmal durch den Tod nicht abgewaschen werden kann (V.7–12). In der Quintessenz dieser Fehlinterpretation stellt das Spruchdichter-Ich dem falsche[n] munt (V.18) in direkter Rede die Qualen der Hölle in Aussicht.

212

3.9

Wissen und Meisterschaft

Gesinnungslenkung, Gesinnungsstabilität und Morallehre (F 127–143)

Solange es um Rat und Lob auch als eigenständige Redeformen der Spruchdichtung geht, Gegenstandsebene und poetologische Ebene miteinander verschränkt sind, solange sind die Bare nach den Zentrumsstrophen in der Argumentation dichter aufeinander bezogen. Die folgenden Bare bieten nun eine Reihe exemplarischer Aussagen zu eben jenen, bereits entwickelten Kerngedanken um die ethisch gelenkte Eigenverantwortung des Menschen. Ihre Anordnung könnte willkürlich sein, eine Ordnung ist jedenfalls nicht verifizierbar. Doch kreisen die Argumente innerhalb dieser Barstrophen immer wieder um die Kernaussagen des Langen Tons in F, und hierin wäre dann doch ein Impetus für die Auswahl eben dieser Strophen im Langen Ton Frauenlobs gefunden. Die Frage nach dem Verhältnis von Gesinnung (muot) und Besitz (guot) gehört traditionell in den Diskurs des höfischen Verhaltens. Begreift man die Eingangsbare und damit meine ich die Überlegungen zum freien Willen und zur ethischen Orientierung des Willens und des menschlichen Begehrens als einen intertextuellen Bezugspunkt, dann referieren die Stichworte mut (F 127,1), art (F 127,5) und wandel (F 127,7) auf ihren heilsgeschichtlichen Hintergrund. F 127 setzt zunächst ein spezifisch höfisches Wissen für den Rat an den fürstlichen Herrscher um. Die Evokation dieses Wissens basiert auf einem sozialen Missstand, einem Mangel an ellent auf Seiten derer, die über reichlich Besitz verfügen (V.6: es ist ein not, der reichen mut kan grossen ellent lassen). So geht es im Angesicht dieser Tatsache vorrangig um die Stabilisierung der Gesinnung von Fürst sowie Dienstmann, da die Freigebigkeit der Fürsten gegenüber den Dienstleuten die Gesinnung Letzterer stärkt und zu einem Gesinnungswandel auf Seiten der Gebenden führen kann (V.7–12). Der Abgesang ist nicht leicht zu verstehen und die GA ringt sich nicht zu einer Interpretation durch, da die Überlieferungszeugen C und F hier stark differieren.473 Ich versuche den Passus von F ohne Besserungen zu lesen und übertrage mut mit ‚Begehren‘; gut beziehe ich auf die ethische Orientierung am Guten: mut ane gut, / mut wesen mut. / wo mut bey gute missethut, / da ist der mut beynamen frut. / mag ellent ane gut gesein, sprich: „nein“. schaz mag sie hassen. (V.15–19). Ausgesagt wäre: Wo das Begehren ohne die Ausrichtung am Guten besteht, ist das Begehren ein (bloßes, ungelenktes) Begehren. Wo das Begehren in der Nähe der richtigen Orientierung zu schlechtem Handeln führt, dort ist es fruchtbar – im negativen Sinne verursacht es immer neues Begehren. Und auch wenn die Kühnheit ohne die richtige Orientierung auszukommen vermag, soll sie den Schatz ablehnen, da er die Kühnheit und das Gute zu hassen vermag. Dass hier die Unterscheidung zwischen gut und schaz im Sinne zweier Formen des Besitzes mitzudenken ist, wie Ettmüller vorschlug, hält einer Prüfung stand.474 Man könnte dann nämlich sagen, dass das ungelenkte Begehren auf den Schatz, im Sinne eines gehorteten Vermögens, zielt und das gelenkte Begehren sich auf 473 474

GA II, S. 765. Ebd.

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die richtige Anwendung des Besitzes richtet. Möglicherweise ist eine solche Lesart forciert. Doch begreift man sie als einen Effekt der mit diesen Studien begründeten Umstellung von der strophigen Interpretation hin zu einer Interpretation der textuellen Formationen des Langen Tons, dann steuern die intratextuellen Referenzen die Bedeutungskonstitution über die Strophengrenze hinaus, und dann sollte man den Ton nicht mehr als eine willkürliche Ansammlung von Strophen begreifen. Setzt man so an, dann bindet gerade die Folgestrophe (F 128) hier ein, die das für den Langen Ton immer wieder relevante Namen-Denken mit der Unterscheidung von Besitz (gut, V.1) und ethischer Auszeichnung (gut, V.1) verschränkt. Das sittlich herausragende Verhalten wird als im Namen nobilitiertes Verhalten verstanden. Insofern auch hier die Ähnlichkeitsrelation von res und vox mitgedacht ist, muss der Besitz (gut) ethisch einwandfreies Verhalten (gut) fördern (V.2). In Abgrenzung dazu ist die Relation von schatze und gut (V.4–6) eine andere: Der Name gut gebührt dem schatz nur dann, wenn er sich auf makelloses Verhalten hin orientiert.475 Der zweite Stollen repetiert traditionelle Seiten des guot-Seins. Erst der Abgesang differenziert weiter, indem er eine frühere Idee aus dem Strophengefüge des Langen Tons aufgreift, die Idee von der Verstandeskraft und der Willensfreiheit, die alles Verhalten zu lenken vermögen:476 Denn fehlt es am Verstand, fehlt es gleichermaßen an sittlicher – und das bedeutet hier zugleich auch an adäquater – begrifflicher Auszeichnung: und ist bey gut ein swacher synn, / gut let den namen hie. (V.14f.) Allein der Verstand ist in der Lage, sich nicht von solchem Besitz, der durch die Bilder vom Falschgold und vom Abgott (V.15f.) als potentielle Gefahr ausgewiesen ist, täuschen zu lassen. Distanz und Reflexion der situativen Gegebenheiten ermöglichen es, den Besitz bezogen auf die aktuelle Situation zu bewerten. Diese Bedingtheit ist zuletzt auch auf ihren Ursprung hin transparent. Im Horizont der im Langen Ton von F geführten Argumentation ist das Begehren fehlgeleitet und damit schlecht, nicht aber der Schatz an sich (V.19: der schatz hat kein schult, newer der mut, sein crafft dorinn bezwynnget). Das Begehren legt die Bedeutung des Schatzes als gehortetes Vermögen fest und stigmatisiert ihn als Verführung. Die Strophen zum Glück (F 129–131) bilden eine eigenständige Einheit. Doch im intratextuellen Zusammenhang der F-Strophen referieren mindestens fünf Stichworte auf die muot-Debatte: list (F 129,1), golt (V.5), art (V.9), namen (V.12) und mut (V.19). Darüber hinaus gibt es Schlagworte, die im Langen Ton zu einer Referenzkette verknüpft sind, und die die Überlegungen mit jenen zu Beständigkeit und Unbeständigkeit des Verhaltens zusammenfügen, wie grunde / funde (V.4f.), lieb / leyd, nun sust / nun so (V.6), auf / ab (V.7) sowie stete (V.8), unstete (V.11). Der traditionelle Fokus des unbe475

Den pejorativen Klang von schaz trägt die Vorgängerstrophe (V.19) herein, so dass nicht von einem wertneutralen Begriff schaz gegenüber einem sittlich aufgeladenen Begriff gut auszugehen ist. Vgl. dazu Huber, Wort sint der Dinge zeichen (1977), S. 171. 476 Vgl. die Adamsstrophen zum heilsgeschichtlichen Ursprung des freien Willens F 98–100. Die Handlungsrelevanz der Verstandeskraft beschreibt Rhonheimer, Praktische Vernunft (1994), S. 593f.

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ständigen Glücks, gespeist durch die Ikonografie des Glücksrades,477 lässt alle Werte bis hin zur Idee vom festen Ursprung instabil werden. Im Bild vom vorgetäuschten Gold auf dem grunde des Glücks (V.4f.), dessen fund […] (V.5) immer vakant ist, werden die natürlichen Voraussetzungen der art (V.9) des Glücks – gemeint sind hier wohl die proprietates – als zu prüfende evident. Vergleichbar mit den bislang im Langen Ton von F angesprochenen Beispielen der Namensgebung (vrowe, gut) ist der Name den physiologischen und / oder ethischen Eigenschaften / Verhaltensweisen ähnlich. Und weil unstete tat (V.11f.) den Namen Glück trägt,478 wobei die Zuordnung willkürlich ist und nur die konnotierten Bilder der Worte einander ähneln, ist gerade das Begehren in Situationen des Glücks unbedingt zu lenken, damit es der Täuschung entkommen kann (V.19). In der Quintessenz ist diese Strophe ein forcierter Rat, die Erfüllung vortäuschende Extremsituation der Unbeständigkeit mit ihren Vorbedingungen zu distanzieren, zu prüfen und zu lenken. Im Blick auf die heilsgeschichtliche Differenz von Gut und Böse wird mit der nächsten Strophe (F 130) das Glück ethisch differenziert in eines, das an die Güte und die rechte Orientierung gebunden ist, und in eines, das an diejenigen gebunden ist, die sich von Gott abgekehrt haben.479 Die anaphorische gut-Kette (gut, guten, gutgemuten, gutem zirckel, V.2–5) verstärkt den Gedanken der sittlichen Vollkommenheit des Menschen, und im Bild des Kreises zielt dieser Gedanke auch auf die immerwährende (gottbedingte) Wiederkehr des Guten, auf die das Begehren sich richtet. Der zirckel integriert dabei einen dynamischen Wandel allen Seins – hier im Bild des Auf und Ab gefasst – ganz mühelos.480 Die Trias gelucke, seld und ere (V.1) eröffnet in F 131 einen semantischen Spielraum, in dem Liebe und Lust, Wohlergehen und Tücke die Spannweite dessen umschreiben, was dem Menschen [willentlich: von gantzem seinem wille, V.6] zustoßen kann. Der welte hort, bestehend aus irdischem Glück, Heil und Ansehen (V.1), steht dem gute[n] zirckel der vorangehenden Strophe nahe, insofern er Ausweis des Guten in der Welt ist. Doch der immer zu kalkulierende, nicht ausblendbare wanndel auch der 477

Vgl. zur Ikonografie Günter Ristow, Art. „Fortuna“, in: LCI 2 (1970), Sp. 53f. Vgl. V.13f.: wenn het ich zu der stete pflicht, / so hieß ich auch gelucke nicht. 479 Die gerade betonte negative Konnotation der Unbeständigkeit des Glücks wird relativiert. Die kluge Gesinnung muss bei der Prüfung des Glücks den Träger des Glücks einer ethischen Prüfung unterziehen. Sittlich herausragendes Verhalten ist an ein Glück gebunden, das von einem guten Kreislauf (gutem zirckel, V.5) herrührt und das auf ein richtiges Maß zielt (V.1–6), im Gegensatz zum negativ besetzten Fortunarad, dem schicksalhaft zugemessenen und damit zwanghaften Auf und Ab. Die naheliegende Besserung zu gotes zirkel, vgl. GA 2, S. 768, legt eine Lesart nahe, in der das Glück der Frommen ein von Gott zugemessenes und von ihm für jeden Einzelnen speziell gemischtes Auf und Ab meint. Letztlich sind es die Sünder, deren Glück den Weg in die Hölle ebnet (V.7–19). 480 Mit dem ‚Wandel des Seins‘ ist an einen Gedanken erinnert, der in den Auftaktstrophen des Langen Tons in F eine wiederkehrende Rolle für die Überlegungen zur Gesinnung spielt; vgl. oben F 90–93.

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liebe (V.19) ist eine Einschränkung, auf die das Spruchdichter-Ich ex negativo hinweist, indem es deren Verlautbarung willentlich unterbinden möchte (bey liebe mag ein wanndel sein: ich wil, das es nicht hille, V.19). Gerade dieser Einwand zeigt, dass dem Wandel allen Seins, auch dem des Guten durch den Willen, begegnet werden kann. Dass es hier das Spruchdichter-Ich ist, das in dieser Position inszeniert ist, stärkt einmal mehr den Anspruch auf Meisterschaft, hier nun im Sinne des richtigen Verhaltens. Wenn die beiden Maßstäbe gut und er (V.1) den mut (V.2) beeinflussen können, ist eine weitere Facette des Bedingungsgefüges menschlicher Verhaltenssteuerung in den Fokus der Argumentation gerückt; die Frage ist nur, ob hier die bekannten sozialen Maßstäbe ‚Ansehen‘ und ‚Besitz‘ anzusetzen sind? Ist es jedoch so für F, dass im Blick auf das semantische Spektrum von guot und die heilsgeschichtlichen Differenzierungen von êre in F 98–100 hier das Gute als die dem Bösen zur Seite stehende Orientierung menschlichen Verhaltens zu denken ist und daneben das Ansehen als das dem ersten Menschen eingehauchte Ewigkeitsversprechen gilt, verschieben sich die Deutungen folgendermaßen: Wieder geht es um die Gesinnung, das menschliche Begehren, das nicht vorrangig im Wirkkreis von Verstand und Willen steht, sondern dem Einfluss des Guten und dem in Gott ruhenden Ansehen ausgesetzt ist. Im Bild des Steines, der durch die bearbeitenden Werkzeuge eine Form bekommt, wird deutlich, dass diese beiden Determinanten in ihrer ‚zwingenden‘ Wirkkraft einem stete[n] wille[n] überlegen sind (V.3). Nur dann, wenn diese Wirkmechanismen verinnerlicht und zur Gewohnheit werden, besteht die rechte Gesinnung dauerhaft und die richtige Orientierung des Begehrens bleibt erhalten (wer ere pfligt von kinde / dem ist sie nicht geswinnde, / vil offt ein grosse ere hat mit seinem ingesinde, / das er behelt seinen alten syt, so kan gewonheit weyden, V.9–12). Im Assoziationsraum, den dieser Gedanke eröffnet, klingen die Stichworte Wiederholung und Einübung des Guten an, die den gesellschaftlichen Einflüssen – wank (V.13) und verkeren (V.2. 5) sind hier die Stichworte – entgegenstehen und auf eine lebenslange, auf das Gute hin orientierte Gesinnung zielen. Trotz der Verstümmelung der dritten Barstrophe (F 133) – die Verse 7–12 fehlen – und der Verständnisschwierigkeiten im überlieferten Material finden sich eine Fülle an Bezügen: erstens zur Gesinnungsdebatte und zu den Reflexionen um den heilsgeschichtlich erzählten Ursprung des freien Willens (F 98–100), zweitens zu den Strophen, die an der Tradition des Namen-Denkens teilhaben und die die Idee von der Ähnlichkeit zwischen art und namen reflektieren (F 128f.), und drittens zu Strophen, die Gesinnungsstabilität und Ansehen zusammen denken (F 99f., 131f.). Die erste Passage (V.1–6) exponiert den falschen Umgang mit der Macht, der zur Aberkennung des Ansehens und zum Verlust des Lobs, das im Nennen des vorbildlichen Namens gipfelt, führt (V.6: das lob das ee sein nennen trug, wie wol es was zu kennen). Die zweite überlieferte Passage (V.13–19) führt den positiven Fall vor: ein heilsgewisses Leben voller Tugend und voll guten Rufs. Gipfelt dieses Leben im Schoß des Heils, dann birgt sich die geistige Seite des Menschen (möglicherweise ist die Seele gemeint) im Namen. Der Name überlebt den Tod, darauf zielt der Rat des Spruchdichters an die Herrschenden

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(V.19: und schaffet, das sich ewer nam nach tod nicht durffe trennen). Sie sollen ihr Schicksal – mitgedacht ist sicher der Wandel in allen Dingen – bestimmen und lenken, damit sich der Name nach ihrem Tod nicht abspaltet. Mit dieser letzten der sieben Barstrophen ist die Idee der Gesinnungsstabilität in einer sich permanent verändernden, sich wandelnden Welt auf ein Leben nach dem Tode und auf die Vollkommenheit des beseelten Namens im Schoß des Heils perspektiviert. Dieses Postulat der Notwendigkeit einer stabilen, richtigen Orientierung wiederholt sich im Anschluss didaktisch forciert. Die erste Strophe des Fünferbars 134–138 richtet sich auf das rechte, dem muot entsprechende Verhalten. Der didaktische Impetus unterstützt die Notwendigkeit stabiler, positiver Verhaltensformen.481 Exemplarisch genannt wird die Situation des Kampfes, die ein beständiges Entgegnen im Sinne des Guten erfordert (V.7–10).482 Grundsätzlich lässt sich die Situation des Kampfes, die auf ihre Verhaltensmodalitäten befragt wird, mit der im Eingang von F entworfenen Dichotomie von Gut und Böse analogisieren, so dass die Evidenz dieser thematischen Wahl einleuchtet. Noch detaillierter wird in F 136 der Wille zum Kampf hinsichtlich der Möglichkeitsbedingungen gelingenden Kampfes geprüft. Sentenzhaft setzt der erste Vers ein mit der dafür zentralen Bedingung, der liebe[…] zu den leute[n]. Die Wertschätzung der Dienstleute ruht auf ihrer Funktion auf, die mit den Bezeichnungen und Bildern kün 481

Die Strophe setzt belehrend ein – man darff (F 134,1.3.5) –, um der Entsprechung von Gesinnung und Verhalten Gehör zu verschaffen. Didaktisch forciert geht es weiter – man sol (F 135,2.6.8.13) – mit dem Ziel, persönliche Anliegen, hier als hertzen dingen (V.3) markiert, standhaft und wohlgesonnen (V.5) zu verfolgen. Die Beispiele sind nicht neu (Freude / froh, Weisheit / weise, Mannheit / Held, Herr / Schwert und Freigebigkeit, Herr / Freund), doch sind sie so gewählt und arrangiert, dass sie den impliziten Rat forcieren, sich Freund und Feind gegenüber adäquat zu verhalten, um Lob zu verdienen. Dabei ist die Entsprechung von Gesinnung und Verhalten als ein kommunikatives Verhältnis dargestellt im Sinne von: Wer froh sein will, braucht Leute, die froh sind. So werden bestimmte Verhaltensformen für den kommunikativen Erfolg in Anschlag gebracht, die, ohne dass es explizit wird, die Darstellung herrscherlichen Verhaltens infiltrieren. Was ich damit sagen will: Die Qualifikationen des Herrschers und seine Freigebigkeit sowie Kampfkraft entsprechen seiner Gesinnung im Sinne eines kommunikativ erfolgreichen Verhältnisses zwischen inneren Werten und Verhaltensformen. 482 Alle weiteren Beispiele sind so gewendet, dass der didaktischen Absicht ein Rat zum Umgang mit dem freien Willen untergeschoben ist (wil man, V.12,14; wil, V.18). Wird eine bestimmte Absicht verfolgt, die Beispiele sind hier aus den höfischen Qualifikationen ‚Dienst schätzen‘ und ‚Mannhaftigkeit‘ abgeleitet, kann die Situation negative Erfahrungen mit sich bringen, die aber durch die Standhaftigkeit des Handelns mit êre (V.17) und milte[m] trost (V.19) vergolten werden. Der Rat des Spruchdichter-Ichs umfasst ein Wissen von den Modalitäten der Gesinnung und den ethischen Verhaltensformen sowie ihren Folgen in der höfischen Gemeinschaft, so dass die beanspruchte Rolle der Unterweisung in die Nähe des Priesteramtes gerückt ist, bezogen auf die Funktion hertzen[s] dinge[…] zu lenken. Die GA bessert hertzen zu herten. Diese Lesart ist sicher kohärent. Ohne die Besserung bezieht sich die geforderte Standhaftigkeit auf jedes persönliche Anliegen, das seinen Ursprung im Herzen hat. Im Horizont des Gesinnungsdiskurses im Langen Ton der Weimarer Liederhandschrift ist dies wohl eine sinnvolle Lesart.

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(V.3), menlich swert (V.8), helde (V.17) näher bestimmt ist. Die Freigebigkeit als ethische Fürstenqualifikation steht für die gelingende Kommunikation zwischen Fürst und Dienstmann ein, ebenso wie die Umsetzung des fürstlichen Willens zum Kampf. Die Überlegungen der beiden vorausgehenden Strophen führen hier zusammen: Gesinnung, fürstliche Qualifikationen und ein kommunikativ adäquates Verhalten motivieren die Umsetzung des fürstlichen Willens mit der Einschränkung, dass die Freigebigkeit situativ und damit an den jeweiligen Willen gebunden ist.483 Die Problematik der Willensentscheidung wird für die Situation des Kampfes nochmals (F 137) von der Differenz schympf[…] (V.1) und ernst[…] (V.5) aus beschrieben, um zu verdeutlichen, dass der Wandel des Willens (kumpt aber ein gedrencke / des ernstes in den willen im, V.4f.) für den Ausgang des Kampfes verantwortlich ist. Ziel der Argumentation ist es zu betonen, dass die Freigebigkeit der Herrschenden gegenüber ihren Dienstleuten unabhängig von der Situation Bestand haben sollte. Was damit argumentativ versucht wird, lässt sich als Gegenbewegung zur Idee aktueller, unbedingter, damit situativer und von ihren Vorbedingungen entkoppelter Willensentscheidung beschreiben. Höfische Qualifikationen, etwa die Freigebigkeit, sind zwar situativ neu zu bewerten, aber als verinnerlichte und damit beständige Qualifikationen eignet ihnen ein werthafter Gehalt, der als Modell jeder erneuten Reflexion und jeder erneuten Situation, die milte erfordert, dient. Die Beispielreihe in F 138484 zeigt, dass der Nutzen einer Sache im weitesten Sinne im Vordergrund der Vermittlung steht.485 So nützt dem Jäger für die Jagd der Hund (V.1), der Schlüssel nützt, um ein Schloss zu öffnen (V.12), und dem Ritter nützt für die ritterliche Tat ein weyser rat (V.14). In der Quintessenz zielen die Beispiele auf den Nutzen des piedermannes (V.19) für den Dienst, und damit ist der Rat zurückgebunden zum Ausgangspunkt des Bars, nämlich zur Wertschätzung der Dienstleute. Dass in diesem Bar Fragen anthropologischer Grundeinstellungen mit Richtlinien höfischen Verhaltens verschaltet werden, ist die typische Form der Wissensbearbeitung im Rahmen des Langen Tons in F. In vergleichbarer Weise wie in C und J werden abstrakte Ideen mit lebenspraktischen Beispielen vernetzt. Das nächste Fünferbar (F 139–143) akkumuliert weitere Hinweise zum richtigen Verhalten486 und eröffnet die Argumentation mit dem heilsgeschichtlich prägnanten Fall 483

Sie ist nicht von Dauer, wenn die Fürsten ihre Notsituation nach Beendigung eines Streits vergessen (V.11f.). 484 Vgl. die Analyse der Parallele in J 44, die anders kontextualisiert, anders funktionalisiert ist, Kapitel III.2.7. 485 Die Entsprechung von Profession (jeger, V.1) und Handeln / Verhalten (jagen, V.1) bzw. Ding (schlüssel, V.12) und Bedeutung / Funktion (entsliessen, V.12) trifft nicht die vordergründige Aussage der Strophe. Bis auf die zwei genannten Beispiele kann man auch nicht von einer im Namen liegenden Kongruenz zwischen Ding und Bedeutung sprechen. 486 Die Ratschläge reichen von der Beharrlichkeit, über die Tauglichkeit für Ämter, das Ausüben guter Taten, das Aufwiegen des Glücks durch Dienst und Dank bis hin zu maßvollem und sittlichem Verhalten.

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Luzifers, so dass zunächst die Instabilität der Gesinnung thematisiert und bewusst gehalten wird. Schlagendes und legitimierendes Beispiel des pejorativ besetzten zweyffel[s] (F 139,1) ist der Wankelmut Luzifers (V.6–12), dem die Beständigkeit der edelen (V.13) entgegengestellt wird, verbunden mit dem Rat, sich selbst zu lenken im beständigen Gedanken an die Fähigkeit zur Aufrichtigkeit (V.19). Das Stichwort der angeporen herschafft mein (V.19) konnotiert in der in F geführten Argumentation den freien Willen. Nur im Assoziationshorizont der Strophen des Langen Tons von F rekurriert dieses Stichwort auf die heilsgeschichtliche Kurzerzählung vom Ursprung des freien Willens, dem adamitischen Gewaltverlust und der von Gott verliehenen und nachadamitisch vererbten Beherrschung des eigenen Willens (F 98–100). Zugleich zielt der Rat auf die trewe (V.18) zu Gott, die Gott lohnen wird. Damit stehen sich zweyffel und beständige trewe ob ihres heilsgeschichtlichen Ursprungs antonymisch gegenüber. Der so postulierte Gegensatz zwischen der immerwährenden Gottestreue und der im Zweifel begründeten Abkehr von Gott hat seinen Platz im Diskursfeld von F zwischen Glaube / Gewissheit / Treue / Beständigkeit einerseits und Unglaube / Ungewissheit / Zweifel / Unbeständigkeit andererseits. Die Verteidigung der Amtswürde durch das Spruchdichter-Ich (F 140) ist nur ein weiteres Beispiel, um die rationalen menschlichen Fähigkeiten Wille und Wahl zu veranschaulichen. Sie ist ein Plädoyer für den Erhalt der Rechtsordnung, um anhand der Opposition dumme vs. kluge Leute die Wahlmöglichkeiten der Herrschenden zu thematisieren, die hier bezogen auf die Rechtsumsetzung zu kalkulieren sind.487 Der anschließende Rat des Spruchdichter-Ichs an denjenigen, dem Glück widerfahren ist, zielt auf willentliche Entscheidungen und Handlungen, geht es doch um ein ‚Achten auf‘ (F 141,5), um ein ‚Nachdenken‘ (V.6), um ein ‚Weiterverfolgen‘ (V.7) und die Sicherung des Erreichten im wiederholten Dienst für Gott (V.11f.), immer im Blick auf die Unbeständigkeit, die Sprunghaftigkeit des Glücks (V.19). Die vierte Strophe knüpft hier thematisch an (F 142). Die für den Rat funktionalisierte Spiegelmetaphorik ist im Netzwerk der Verhaltensratschläge des Langen Tons mit Überlegungen der Strophe F 117 verknüpft. Dort imaginierten die Metaphern des Leuchtens und Scheinens die Übertragung der Worte vom Sender zum Empfänger als einen Weg des Abbildens und Prüfens. Hier ist der Blick in den Glücksspiegel ein Analogon für das Prüfen der Glückssituation (V.2–4), ein Hinweis darauf, dass der Wille in 487

Es geht weniger um eine Opposition oder das Lob der klugen Leute als vielmehr um das Abwägen der Möglichkeiten, vor die man in einer bestimmten Situation gestellt ist. Die Endeinstellung vom gehörnten Bock erlaubt im Intratext der Strophe zwei Deutungen, denn assoziiert werden kann, dass das Recht zum land […] gehört (V.7–12), so wie die Hörner zum Bock gehören, und daneben erlaubt sich auch der Bezug zum Herrscher, der sich durch die weysen leute[…] (V.13), mit denen er sich umgibt, schützen kann. Das Spruchdichter-Ich ist in der Rolle dessen inszeniert, der über richtige und falsche Entscheidungen zu urteilen vermag, wobei dieses Vermögen durch das Schlussbild mit der naturgegebenen unhinterfragt gültigen Zugehörigkeit von Bock und Horn legitimiert ist. Infolgedessen verfügt das Spruchdichter-Ich naturgegeben über das Vermögen der richtigen Wahl.

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der Lage ist (V.5), einen Missstand zu verändern, denn ohne entsprechenden Willen wird eine missliche Lage danoch vil krencker (V.5). Daneben ist der Blick in den Spiegel ein Hinweis dafür, dass die Aufmerksamkeit für die eigene Sache, das Glücksgeschick, Bestand haben sollte, wenn man nicht schwach werden (V.17), nicht Verlust statt Gewinn einfahren möchte. Die für diesen Gedanken verwertete Schachmetapher (V.7–9) ist nicht nur ein Bild für die beständige Aufmerksamkeit, sondern auch ein Bild für das spielerische Moment der Glückssituation. So ist dem Auf und Ab des Glücks, der trügerischen Seite, dem Nebeneinander seiner wil[de] (V.13) und seiner vuoge (V.13) nur mit beständiger Aufmerksamkeit zu begegnen.488 Ist das Glücksrad der Fortuna ein Bild für die Unbeständigkeit des Seins, so erfordert die Selbstwahrnehmung im Spiegel Aufmerksamkeit für jedwede Veränderung, und das Bild des Schachspiel weist darauf hin, dass auch die Aufmerksamkeitslenkung nach bestimmten Regeln funktioniert. Alle drei Metaphern stellen klare Gegensätze aus: das Auf und Ab des Glücks, das Hier und Dort der Spiegelung sowie Sieg und Niederlage im Schachspiel. Und so ist es für die Beständigkeit und für die Stabilität der Gesinnung eben nicht das eine oder andere, sondern es ist die vernünftige Mitte, die als Orientierungspunkt gilt. Hier ist es die Aufmerksamkeit, die das Überschreiten der Grenze zwischen den Gegensätzen verhindert und die zudem zwischen den Seiten vermittelt. Der Reflexionsrahmen macht eines deutlich: Es sind immer wieder bestimmte Überlegungen, die aufgegriffen und je neu bearbeitet bzw. beispielhaft gefüllt werden. So trägt sich der Gedanke der vernünftigen Mitte weiter. In F 143 nutzt das SpruchdichterIch mit dem Stichwort der mâze die Idee der mediocritas, um den Ort zwischen Gut und Böse (V.1), zwischen schweren und leichten Dingen (V.2–4) und zwischen Liebe und Leid (V.6) im Sinne einer sittlich vollkommenen Mitte zu markieren. So ist es nur schlüssig, dass die mâze der natürlichen Seite der tugent entspricht (V.7) und dass sie im Sinne einer rechtlichen Festsetzung mit der Tugend verbunden ist. Die Stichworte sind […]recht und pünde (V.11). Der Tugendhafte wählt die Mitte. Sie ist Objekt der sittlichen Tugend.489 Der Rat des Spruchdichter-Ichs mündet in eine Vision zwischen richtigem und falschem Besitz der mâze: Dort, wo der Mensch die Mitte willentlich zu besitzen verlangt, erreicht er sein Ziel (V.13f.: wa man die masse nysen wil, / die masse 488

Das Stichwort gelücke[…] (V.1) verschränkt sich mit Überlegungen dreier früher überlieferter Strophen zum Glück (F 129–131), in denen die Unbeständigkeit des Glücks mit der Beständigkeit und Stabilität der Gesinnung aufgewogen wurde. Vergleichbares bot eine vierte thematisch nahe Strophe (F 101), die dem Auf und Ab des Glücks den Rat entgegensetzte, diesem Wandel mit einer stabilen Gesinnung zu begegnen. 489 Dem Netzwerk des scholastischen Diskurses um eine wesenhaft ethische Tugendlehre ist der aristotelische Begriff der Mesotes inbegriffen. Dass diese Überlegungen hier durchquert werden, ist aufgrund der Dichte verwandter Stichworte wie mâze, vernunft und tugent naheliegend. Dazu Rhonheimer, Praktische Vernunft (1994), S. 35–81. Ganz in diesem Sinne beschreibt Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 131, die mâze in den Minnesprüchen Frauenlobs als Ausgleich und Mitte zwischen polaren Gegensätzen, nicht jedoch als Mäßigung, gar Einschränkung des Verhaltens.

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retet an das zyl); dort aber, wo man den Besitz der mâze verbirgt, hat das negative Folgen (V.15f.: das nyssen hyl, / es trayt den swil). Die naturgegebene Bindung zwischen der tugent und der mâze stellt sich als eine der reziproken Einflussnahmen heraus, denn so wie der Erwerb der Tugend an das richtige Maß gebunden ist (V.10f.), so ist auf dem Pfad der Tugend kein Besitz falsch (V.19). Der Zweifel, das Glücksrad, Schach und Spiegel imaginieren allesamt polare Situationen, jedoch keine autarken Gegensätze, sondern zu vermittelnde Seiten einer Ganzheit.490 Der Barverbund ist einmal mehr durch die Technik des Stichwortgebens und der Assoziationskette hergestellt. Die intratextuellen Bezüge im Langen Ton von F rücken den Gedanken des konträren Handelns, Verhaltens und Seins mit der Notwendigkeit einer Stabilität und mit der willentlichen Entscheidung jedes Einzelnen, in einer optional orientierten Welt nach dem Sündenfall, zusammen.

3.10 Mâze, minne, vuoge und triuwe als a priori des Verhaltens (F 144–153) Die Zehnergruppe F 144–153 greift im Modus des Stichwortgebens mâze, tugent und triuwe auf, um sie semantisch zu hinterfüttern und im Rahmen höfischen und heilsgeschichtlich-biblischen Wissens zu konturieren. Es lassen sich drei Strophengruppen voneinander abgrenzen: Die Strophen F 143/144–145 stellen Formen der mâze dar, in F 146–149 werden biblische Beispiele der Mäßigung und Treue entfaltet, und in F 150– 153 werden auf einer abstrakteren Ebene Formen der Treue rekapituliert. Einmal mehr ist das Spruchdicher-Ich in der Rolle des Lehrers inszeniert (F 144,4) und mit einem Wissen ausgestattet, welches es ihm erlaubt, geistige Qualifikationen, die in ihrer Transzendenz vollkommen sind, von irdischen Qualifikationen zu unterscheiden, die der mâze bedürfen (V.1–8).491 Der Appell des Lehrers richtet sich an die Fähigkeit zur Unterscheidung und zur richtigen, vernunftgelenkten Wahl, auch im Bereich sittlicher Vortrefflichkeit. Interessanterweise benötigen Treue, wahre Minne, Weisheit, Anstand, Andacht, Glaube und Ansehen keine Mäßigung (V.1–4). Es sind mithin jene geistigen Qualifikationen, von denen zuerst die Rede war. Ist im Horizont von F der Schluss erlaubt, dass hier Qualifikationen gesetzt sind, die in Gott ihren Ursprung und ihre Geltung besitzen, wie die göttliche Treue, Gottesminne, göttliche Weisheit, Andacht und Glaube im Sinne des Heils und eben jenes Ansehens, das in Gott seinen ersten Ort hat? Scham, Klugheit und Barmherzigkeit dagegen benötigen die Orientierung am rechten Maß (V.9–18), weil zu viel Scham Barmherzigkeit verhindert (V.9, 12), die 490

Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen (2010), S. 57, weist darauf hin, dass das Böse in der christlichen Dogmatik aus einer strengen Differenz heraus als defizitärer Widerpart des Guten gedacht wurde. 491 Der Konnex mit F 143,1: Die masz ist zwischen gut und arck ein kiserin gibt der konstruktiven Möglichkeit Vorschub, auch argumentative Zusammenhänge über die Bargrenze hinweg zu stiften.

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Unbarmherzigkeit maßlos ist (V.13) und das rechte Maß eine notwendige Richtlinie für die Klugheit darstellt (V.15–18). Der angeschlossene Rat ist ein Plädoyer für die Mäßigung – mâze (F 145,1–4) – bezüglich negativer als auch positiver Qualifikationen (V.7–12). Damit erhält die mâze eine wertfreie dritte Position zwischen den Gegenpositionen und sie vermittelt als Kardinaltugend (V.13) zwischen den Gegensätzen bzw. den Extrempositionen. Die richtige Mitte wird damit zur Orientierung des Verhaltens, das natürlichen Schwankungen, Zufällen und Willkürlichkeiten per se ausgesetzt ist. Sie ist das Gegenmodell zum freien Willen; genauer formuliert seine normative Instanz. Hinterfragt wird mit diesem Gedanken die Bedingtheit des Entscheidens für solche Handlungen, die als Basis bestimmter Qualifikationen gelten können. Was ist es, was lenkt? Die Entscheidungsfindung fußt auf der Kardinaltugend mâze, die die Basis richtiger Orientierung ist, einer immer wieder neuen Einübung der Qualifikationen. Sie ist die Vorbedingung, die wertsemantische Orientierung der Handlungen. Die vier sich in F anschließenden exemplarischen Strophen (F 146–149) sind narrativ. Zwei der geistigen Qualifikationen, die Gottesliebe (minne, F 146) und der Anstand (fuge, F 147–149), werden herausgegriffen und anhand heilsgeschichtlicher Facetten um Moses entfaltet, um eben jene christlichen Verhaltensrichtlinien der Gottesliebe und des Anstands vor dem Hintergrund der Unterscheidungsfähigkeit anschaulich zu gestalten.492 In der Rolle des prophetischen Vermittlers zwischen dem Volk Israel und Gott entfaltet Moses seine Funktion im Kampf der Israeliten gegen die Amalekiter in Raphidim (Ex 17). Die gegenüber der biblischen Geschichte reduzierte Information unterschlägt den Aspekt der Beständigkeit, so dass die literarische Darstellung der Strophe auf das Exempel unbedingter Gottesliebe zielt. Die [dauerhaft] erhobenen, flehenden Hände Moses während des Kampfes symbolisieren die unbedingte Gottesliebe, denn nur durch die beständige Hinwendung zu Gott (V.13f.: die weyl und er die hant aufpot, / so layde gotes volck kein not) steht Gott für sein Volk ein, und das scheint mir ein schlagendes Beispiel für die vollkommene Qualität der Gottesminne zu sein, die in ihrer Transzendenz ohne mâze auskommt. Ganz im Gegensatz dazu greifen in F 147–149 Gottesminne und irdische Minne ineinander, wenn Moses in der ambivalenten Rolle des liebenden und gottesfürchtigen Herrschers (Nm 12,1) dargestellt ist. Dafür wird das biblische Motiv der verführerischen, schwarzen Königin literarisch gestaltet. Eine volkssprachliche Umsetzung bietet die „Weltchronik“ Rudolfs von Ems.493 Im Rahmen der drei Spruchstrophen der Weimarer Liederhandschrift ist das biblische Motiv der Verbindung von Moses und der Heidin Tarbis in einem komplexen kommunikativen Gefüge unterschiedlicher Gesinnungen modifiziert, insofern Belange der Minne, der Gottesminne und der herrscherlichen Verantwortung sowie christliche und heidnische Gesinnung aufeinandertreffen. In der dreistrophigen narratio werden die Unvereinbarkeit heidnischer und christlicher 492 493

Diese vier Strophen werden als unechte Strophen im Supplement geboten (GA-S V, 218,1–4). Rudolf von Ems „Weltchronik“, V.13450–13463.

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Prämissen, die Notwendigkeit zur Unterscheidung auch in schwierigen Situationen (Minnebande) und die allein magische Vermittlung des grundsätzlich Unvereinbaren exponiert.494 Moses wird zu einer Figur, die christliche und schwarzkünstlerische Facetten vereint.495 Es gelingt nur durch List und durch den Einsatz eines magischen Requisits, dass die Heidin ihre Minnebindung zu Moses vergisst, und hier ist zu antizipieren, nur so, durch die Manipulation an den Ausgangsbedingungen der Minnebeziehung, kann die wilde gebannt werden. Dennoch gilt die fuge (V.19), im Sinne der Wohlanständigkeit und der moralischen Integrität gegenüber Gott, letztlich als Instanz der Entscheidungsfindung und Unterscheidungsfähigkeit zugunsten des richtigen Verhaltens. In ihrem Sinne wird eine Wahl getroffen, so dass das streyten (F 149,19) zwischen den Möglichkeiten ein Ende hat. Die Wohlanständigkeit tritt damit neben die mâze als moralisch regulative Instanz der Entscheidungslenkung. Die vier Strophen zum Gegensatzpaar Treue / Untreue, F 150–153, binden auf den ersten Blick inhaltlich nicht an die narrative Strophengruppe um Moses an, doch greifen sie die vollkommene Qualität göttlicher Treue auf, um ihre irdische Seite zu überdenken. Das Stichwort, das im Sinne des Verkettungsprinzips eine Verbindung der Strophen bzw. einen Übergang zwischen den Strophen hörbar werden lässt, ist mynne (F 150,1). Doch ist damit allein ein akustischer Übergang geschaffen, denn das thematische Zentrum sind die Facetten der Treue. In F 150 ist das Spruchdichter-Ich als Ratgeber in der Nähe des Priesteramtes inszeniert. Es geht um die Verhaltensqualifikation der Treue, die das Seelenheil sichert (V.19). Die Strophe selbst imaginiert die Treue im Sinne des Personenlobs; hier heißt es anaphorisch: trew ist (V.1, 7, 8, 10, 12, 13). Das Ziel dieser Konstruktion ist die Treue im Überschreiten einer irdischen Qualifikation hin zu ihrer transzendenten Form. Die Treue ist weniger der mynne swester (V.1), als 494

Die erste Strophe stellt den Herzensstreit zwischen der Minne zu einer Heidin und der Gottesminne aus, dessen Lösung durch den Unglauben der Frau verhindert wird. Die Strophe rät mit der füge (V.1) zu einer ethischen, gegen die wilde (V.1) gerichteten Lösung. In der Folgestrophe steht erstens der feste Wille Gottes im Beharren auf dem religiösen Gegensatz (V.1) im Vordergrund, zweitens die Unvereinbarkeit göttlichen und menschlichen Willens in der Situation der Minneblendung (V.3–12) und drittens die Verantwortlichkeit des Herrschers für sein Volk, trotz persönlicher Belange (V.13–19). Die Lösung der aporetischen Situation wird mit der dritten Strophe (F 149) magisch herbeigeführt, wenn Moses für Tarbis einen Ring des Vergessens herstellt. Nur auf dem magischen Weg der list (V.1) ist Moses in der Lage, die Belange seines Volkes und sein eigenes Wollen in Einklang zu bringen. Das Motiv von den zwei Ringen, dem des Vergessens und dem des Erinnerns, findet sich bei Petrus Comestor, Historica scholastica, Liber Exodi, Kap. VI (Migne 198, 1144), und bei Vinzenz von Beauvais, Speculum Historiale II,3. Der Ring des Vergessens fungiert im Spielmannsepos „Salman und Morolf“, Str. 92–99, in vergleichbarer Weise, wenn Salme dem Liebeszauber verfällt, den der Zauberring Fores bewirkt. 495 Inwiefern die Zeichnung der Klingsorfigur zwischen christlicher Religiosität und schwarzmagischer Ausbildung aus der Wolfram-Tradition hier eine Rolle spielt, ist schwer zu sagen. Gleichwohl ist es hier eine biblische Figur, deren traditionelles Rollenprofil, entgegen dem in der Summe immer ambivalenten Rollenprofil der literarischen Klingsorfigur, literarisch gebrochen wird. Vgl. Hedda Ragotzky, Studien (1971).

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vielmehr muter des glauben[s] (V.3). Damit ist sie in der Lage, zwischen irdischem und jenseitigem Sein zu vermitteln. Die paradigmatische Form der göttlichen Treue gegenüber der Menschheit ist im Sohnesopfer substantiell. Die forciert reklamierte Distanz zwischen Christus und dem Menschen in den pejorativen Bildern von Asche und Mist (V.17f: […] du mennsche pist / vor im ein aschen | und ein mist) streicht das SprecherIch in der priesternahen Rolle heraus. F 151 wendet dann den Gedanken ganz in den irdischen Bereich, mit dem sentenzhaften Wort zum Zusammenspiel von Treue und Recht (V.1–3).496 Und so wechselt die Rolle des Sprecher-Ichs vom predigenden zum lehrenden Gestus, denn es gehört zur Rolle des Weisheitslehrers, die Situation in der Welt einzuschätzen und zu beurteilen. Die explizierte Klage über den personalisierten hohe[n] mut (V.12), der Treue und Recht zu wenig schätzt, mündet in ein Anliegen, das zum Aufgabenbereich des Spruchdichters gehört, nämlich in den Schutz der Werte und der entsprechenden Namen. Denn allein der Besitz der beiden Qualifikationen schützt deren Namen (V.13–16).497 Die Klage wird beschlossen mit der göttlichen Verheißung vom Endgericht (V.18f.). Damit ist eine Wortkette begonnen, die vom abgrunt (V.19) über den valant (F 152,19) bis zum Engelsturz (erste val, F 153,13) reicht und den heils- und wissensgeschichtlichen Assoziationsraum von Zweifel, Unglaube, Übermut, Selbstüberhebung und Anmaßung wider Gott eröffnet, in welchem die Untreue mit dem Sturz Luzifers ihren heilsgeschichtlichen Anfang hat. Der Begriff der Treue ist damit ein ethisches Schild, das den Weg des Heils bahnt und das Diesseits überschreitet in den tron […] da die engel schallen (V.5). Dass es damit allein aber nicht getan ist, dafür steht die mittlere der drei Treuestrophen ein: Sie bietet ein Untreue-Exempel im Horizont der Julianus- und Mercurius-Erzähltradition,498 indem sie die Sage des eidbrüchigen Kaisers gestaltet. Es heißt, Julian habe den Schatz einer Witwe aufbewahrt und nicht zurückgegeben. Als er daraufhin zur Eidesleistung verpflichtet wurde, hielt das Götzenbild (Mund der Wahrheit)499 die Hand des Eidbrechers fest und bekundete damit öffentlich seinen Meineid. F 152 bietet den Schluss dieser Sage mit der öffentlichen Bekundung des Treuebruchs. Der Meineid Julians wird sichtbar und damit nicht nur die Untreue eines Herrschers, sondern auch dessen Unbeständigkeit. Es ist der wanndel (V.10), den der apgot rach (V.11). Das literarisierte Exempel der Untreue leistet der Vorstellung von den Folgen mangelnder Treue gegenüber Gott Vorschub: Die allgemeine Warnung vor Untreue und Betrug am Strophenende lautet denn auch: der valant mus si stillen (V.19). Mit dem Stichwort der zunge in der Folgestrophe (F 153, 11. 19), die höllisch und teuflisch konnotiert ist, ist der Bogen zur Ebene der Sprachreflexion geschlagen. Es wird erneut deutlich, dass die Wertigkeiten der Begriffe nicht situationsabstrakt sind, sondern dass sie an die Verhaltensformen und Qualifikationen des Einzel496

Trew unde recht ein ytlich mensche solte haben, / genztlich gegraben / in hertze und in synne. bedechten sie recht, trew [ ] 〈mit〉 scham / und hetten lip der zweyer stam, / so plieb ir nam / in selden zam. 498 „Kaiserchronik“, V.10754–97; vgl. Ohly, Sage und Legende (1968), S. 171–174. 499 Claus Riessner, Art. „Bocca della verità“ (Mund der Wahrheit), in: EM 2 (1979), S. 543–545.

497

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nen im Horizont der heilsgeschichtlichen Dichotomie von Gut und Böse gebunden bleiben. Im Rahmen der Diskussionen um den freien Willen in F sind solche Fragen nach einer Unterscheidung guter und schlechter Handlungen in der Regel an der auf Gott und das Gute hin orientierten Vernunftordnung ausgerichtet.

3.11 Der Nachtrag: F 166–172 Die letzten beiden Bare nach dem Einschub von acht Strophen in zwei anderen Tönen thematisieren die Rolle der Priesterschaft und der Priester (F 166–169) sowie die Formen des Rechts (F 170–172). Implizit wird die Funktion des Spruchdichter-Ichs als Verwalter regulierten Verhaltens über das Priesteramt gestellt und in die Nähe des Richteramtes gerückt. Das Spruchdichter-Ich tritt in der Rolle desjenigen auf, der über das Wissen vom richtigen und falschen Verhalten der Priester verfügt, der dessen Aufgabe der Vermittlung zwischen Mensch und Gott zu übernehmen vermag, wenn der Priester versagt, und so über deren falsches Verhalten richten kann. Sicher greift man hier ein diskursives Geflecht um didaktisch-kommunikative Aufgabenbereiche, in dem auch der realhistorische Streit der Mendikanten und Spruchdichter500 seinen Platz hat. Es geht in erster Instanz um die didaktische Aufgabe der Belehrung und Lenkung der Christen, doch auch ein forcierter Anspruch auf religiöses, theologisches und rechtshistorisches Wissen ist ausgestellt, verbunden mit dem Anspruch auf die Legitimation des Spruchdichter-Ichs. Ich meine, dass gerade die Thematisierung der Verbindung von Recht und Gewalt im zweiten Bar (F 170–172), gemeint ist die Verfügungsgewalt über jegliche Entscheidung, einen späten spruchdichterischen Anspruch ostendiert, nämlich die Belehrung als den zentralen Aufgabenbereich des Spruchdichters. Denn es gibt einen Ort, an dem das Recht und ein entsprechendes Verhalten jegliche Form der Gewalt zu kanalisieren vermag. Und mir scheint, mindestens ist es assoziiert, dass die spruchmeisterliche Lehre jener Ort sein kann: Ey wo das recht gewaltes maister solte wesen / die wer genesen, / die trew und menlich ere, / ich spure, in der lere: (V.1–4). Man wird hellhörig bei den Qualitäten der Treue und des Ansehens, sind es doch gerade diese beiden, die als transzendente Qualitäten, in ihrem göttlichen Ursprung und Übergang auf Adam sowie dessen Nachkommen, mehrfach dargestellt werden. Dass dem Spruchdichter damit ein irdischer Anspruch auf die lehrende Lenkung der Christenheit zukommt, scheint mir nur logisch zu sein. Insofern sich die Belehrung der Herren anschließt, ist wohl impliziert, dass sich spruchmeisterliche Rede selbst zu prolongieren versteht.

500

Vgl. Kästner / Schütz, daz alte sagen (1991). Vgl. auch Kästner, Sermo vulgaris (1996); Max Bierbaum, Bettelorden und Weltgeistlichkeit (1920); Sophronus Clasen, Der hl. Bonaventura und das Mendikantentum (1940); Rolf Köhn, Monastisches Bildungsideal und weltgeistliches Wissenschaftsdenken (1976); Georg Wieland, Mendikantenstreit (1995).

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Klaus Grubmüller hat jüngst vorgeführt, dass die mittelhochdeutsche Spruchdichtung ein ganzes Spektrum an christlichen und weltlichen Aufgaben für sich reklamiert, angefangen „von Grundtatsachen der christlichen Geschichtsüberlieferung und Praktiken des Glaubenslebens bis zu dogmatischen Herausforderungen“, so dass „literarische und religiöse Kommunikation“ „unproblematisch“ zusammengehen.501 Im Anspruch der Anleitung zum rechten Verhalten, so wie es in F ostendiert ist, schließt das eine das andere ein. „Die ‚geistlichen‘ Themen innerhalb der Spruchdichtung haben keinen grundsätzlich anderen Status als die weltlichen.“ „So beantwortet sich auch die Frage nach der Legitimation des Laien für geistliche Belehrung: Er bedarf ihrer nicht, weil er aus seiner traditionellen Rolle zur ‚Lebenslehre‘ befugt ist, und diese schließt – in einer aus transzendenten Wahrheiten fundierten Welt – notwendig die geistlichen Belange ein.“502 Vergleichbares gilt für das Sprecher-Ich in F, für das sich als Verkünder bekannter und akzeptierter Lebensregeln eine Rechtfertigung erübrigt. Erst wenn der literarische Diskurs philosophische und theologische Bereiche durchquert, bedarf es einer Legitimation.

3.12 Die Formen des Wissens und ihre Bearbeitung in F 90–172 Für F gilt in der Nachfolge von J, dass alles bearbeitete Wissen für die Argumentation eines übergreifenden Themas eingebracht ist, das sich mit dem Stichwort des staten wandels markieren lässt und die Relation von freiem Willen und bedingtem Handeln durchschreitet. Wird dabei der philosophische Diskurs um die Dichotomie von Gut und Böse durchquert, so in der Regel mit dem Ziel, die spruchmeisterlichen Redeformen des Ratgebens und Lobens in ihrer Idealität, und das heißt nunmehr in ihrer Vollkommenheit, zu unterstreichen. Die Modi der literarischen Wissensarbeit sind auch in F metaphorische Formung und lebenspraktische Exemplifizierung, um der Forderung nach Beständigkeit im Angesicht weltlichen Wandels und weltlicher Unbeständigkeit zur Anschaulichkeit zu verhelfen. Die dabei eingespeisten Wissenspartikel liegen ganz und gar unsystematisch quer zu jeder Ordnung und dienen allein einer anschaulichen und überzeugenden Darstellung des Problemknotens, wenn beispielsweise im Eingang des Langen Tons von F texttypspezifisches Wissen mit architekturgeschichtlichem Wissen amalgamiert wird, um der Idee der willentlichen Lenkung des literarischen Entwurfs Ausdruck zu verleihen, oder wenn heilsgeschichtliches Wissen vom Sündenfall literarisch geformt ist, um die Behauptung eines immerwährenden weltlichen Wandels zu legitimieren. Es ist wiederholt der Fall, dass Partikel zoologischen, landwirtschaftlichen und handwerklichen Wissens als Legitimation anthropologischer Tatsachen eingesetzt werden, um ihr naturgegebenes Recht zu untermalen. Gleichermaßen verhält es sich mit solchen abstrakten Vorstellungen, die durch die Bezeichnungen wille, muot und mâze 501 502

Grubmüller, Autorität und meisterschaft (2009), S. 707. Ebd.

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aufgerufen sind und die in F metaphorisiert, narrativ geformt und sprachanalytisch hinterfragt werden, um sie als Verhaltensdispositive kenntlich zu machen.

3.13 Pseudophilosophische Reflexionen, Entwerfen, Rat und Lob (Resümee) Das Corpus der Strophen im Langen Ton in F, exklusive der Nachtragsstrophen nach dem Einschub, lässt sich in seiner literarischen Qualität dreifach umreißen: 1. Im Rahmen von Herrscher- und Eigenlob des Sangspruchdichters geht es um die Konturierung meisterlichen Vermögens: Derjenige ist ein Meister, der zwischen dem Guten und Schlechten zu unterscheiden, der die Prämissen richtigen Verhaltens dauerhaft im Rahmen eines kommunikativen Gefüges zu entwerfen, zu beschreiben und zu loben vermag. Im Fokus der Ausführungen und Reflexionen steht 2. die Relation von muot, wille und mâze, die mit einer auf die Stabilität der Gesinnung hin orientierten Handlungs- und Verhaltensregulierung einhergeht. Das auf die Dinge des irdischen Lebens gerichtete menschliche Begehren (muot) als ein grundsätzlich instabiler Motor des Handelns gründet einerseits in den willentlichen Entscheidungen jedes Einzelnen hin auf ein Gutes. Die Instabilität aus dieser freien Orientierung ist durch den daneben existenten zweiten Weg des Bösen bzw. Schlechten gegeben, der im Blick bleiben muss. Auf diese Weise kann die habituelle Orientierung hin auf das letzte Gute, die mit der Heilsgewissheit göttlichen Ansehens auf Adam und damit auf das adamitische Geschlecht übergegangen ist, Orientierungssicherheit verheißen. Die mâze als Wahl der Mitte zwischen den Extrempositionen des Bösen und Guten scheint als Qualifikation, als irdische, erlernbare Qualifikation zu gelten, die dann im Sinne eines a priori schwierigen Willensentscheidungen den Weg ebnen kann. Irdische Qualifikationen allerdings, und das wird mehrfach wiederholt, müssen verinnerlicht werden, um ihre Wirksamkeit entfalten zu können, um beständige Aufmerksamkeit in Situationen der Wahl zu ermöglichen. Und 3. werden im Rückgriff auf die biblische und heilsgeschichtliche Wahrheit drei zentrale Qualifikationen, die Gottesliebe, die Treue zu Gott und die Wohlanständigkeit (minne, triuwe, vuoge), auf ihre irdischen, handlungsrelevanten Prämissen hin überprüft und exemplarisch entfaltet. Es sind vollkommene Qualifikationen, die auf ihren göttlichen Ursprung durchsichtig sind und gleichermaßen wie die mâze eine stabile Orientierung irdischen Seins und Handelns bereithalten, die auch in misslichen Situationen, wie die Moses-Beispiele zeigen, zur rechten Entscheidung führen; insofern werden neben der mâze auch minne, triuwe und vuoge als a priori des Verhaltens gedacht. Einer der Redemodi der Sangspruchdichtung, das Lob, wird zuerst, möglicherweise im Sinne einer Paradigmatik, bildhaft und reflexiv bestimmt, als ostentative Exploration einer der zentralen Tätigkeiten der Spruchdichtung. Der Kerngedanke des kunstfertigen Vermögens liegt im Vorgang des regulierten Entwerfens, der vom Willen gesteuert wird. Das Entwerfen und das Überprüfen des Entwurfs anhand der Regularien und an-

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hand der eigenen Vorstellungen bilden den Ausgangspunkt des Dichtens. Erst wenn der so vorbereitete Entwurf dem Willen des Sangspruchdichters entspricht, kann er umgesetzt werden. Die der Umsetzung des Entwurfs vorausliegende Entscheidung ist eine freie Entscheidung, insofern sie für oder gegen die Regel ausfallen kann. Die Beschreibung des Tätigseins in seiner Bedingtheit im Sinne einer Orientierung an normativen Vorgaben und einer willentlichen Entscheidung dafür oder dagegen weist der Tätigkeit des Lobens paradigmatischen Wert für alle anderen im Corpus explizierten Handlungen zu. Doch nicht nur die Bedingtheit, auch die Modi des Tätigseins und das Lob des Namens haben vorausweisenden Wert, insofern – ich abstrahiere – im Lob der besten und moralisiert der guten Handlungen ihre Beständigkeit vorgeführt wird. Ein zweiter zentraler Redemodus der Sangspruchdichtung, der des Ratgebens, zentriert den gesamten folgenden Teil des Corpus. Der Gegenstand ist nun nicht vordergründig das Lob des richtigen Verhaltens, sondern das Erlangen und Ausüben dieser lobenswerten Handlungs- und Verhaltensformen. Der im Sündenfall gründende Wandel, die Veränderung, die allen weltlichen Dingen, allem weltlichen Sein innewohnt, bietet eine starke Präsupposition, die für jede Verhaltensregulation kalkuliert werden muss. Die in ihrer Bedeutung reflektierten Begriffe muot, wille und mâze stehen im Zentrum der Ratgeberstrophen. Sie werden als Verhaltensdispositive in sprechenden Metaphern, in Beispielreihen, in Kurzgeschichten oder sprachtheoretischen Reflexionen über Begriff und Gegenbegriff sichtbar gemacht und theoretisch geschärft. Überprüft wird ihre Passfähigkeit bei der Verhaltenssteuerung jeder kommunikativen Situation, die, so wird es imaginiert, grundsätzlich instabil ist. Der philosophische Diskurs über das Gute und Böse und den freien Willen ist jenes ideelle Wissensreservoire, das zum Bedingungsgefüge der poetischen Entwürfe im F-Corpus zu zählen ist. Der aristotelische Gedanke der zwanghaften Bedingtheit, einer im Göttlichen präexistierenden Bedingtheit allen Seins steht für die Wirkmacht und die rechte Orienterung von Willen und Verstand. Die Idee der willentlichen Lenkung menschlichen Handelns wird mehrfach im Langen Ton der Weimarer Liederhandschrift von einer Gegenvorstellung her entwickelt. Es sind zum Beispiel der Törichte und auch der Feige, die aus der Verantwortung genommen sind, denn ohne ausreichenden Verstand bzw. durch und durch affektgesteuert sind ihre Handlungen willenlos und damit wankelmütig. Ohne vorausgehende Entscheidungen sind alle ihre Erfahrungen flüchtig und unbeständig. In dieser Bezuglosigkeit auf Vorgängiges und auch auf Zukünftiges gibt es kein Wissen um den Möglichkeitsspielraum des Handelns und Verhaltens. Es gibt auch kein Bewusstsein für das Entscheiden und weder eine vom Willen gelenkte noch eine vom Verstand entschiedene Handlung. Gegen dieses Modell und sich davon absetzend wird der Gedanke des freien Willens gestärkt, insofern es um das Nachdenken, das Durchspielen von Möglichkeiten, das Überprüfen und letztlich das Entscheiden geht. Für die freie Wahl bezogen auf die konkrete Handlung ist Erkenntnis eine Voraussetzung. Dass eine Wahl zwischen den Möglichkeiten denkbar ist, dass das Entscheiden zur Ermittlung dessen, was richtig ist, führt, könnte mit dem Begriff der

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Wissen und Meisterschaft

Selbstbestimmung, mindestens aber mit dem Hinterfragen der präexistenten göttlichen Bestimmtheit gefasst werden.503 Und weil diese Idee für die Überlegungen zur Gesinnungslenkung relevant geworden ist, ist auch die Beeinflussung räumlichen und zeitlichen Wandels denkbar, insbesondere, wenn der Fähigkeit zur Veränderung der art, der natürlichen, angeborenen Eigenschaften, das Wort geredet wird. Dieser Gedanke wird im Fortgang der Überlegungen komplex. Eingeknüpft in das diskursive Feld um das Paradox des staeten wandels meint er die Freiheit der menschlichen Entscheidung und die regulierte Bedingtheit zugleich. Eine der im Corpus des Langen Tons in F gebotenen Lösungen für diese Konstellation ist die Differenzierung in eine Innen- und Außenperspektive, bei der zur Beständigkeit im Innenraum angesichts der kulturellen und natürlichen Veränderungen, die unabwendbar sind, geraten wird. Doch auch dieser Rat ist im Sinne einer postulierten endgültigen Wahrheit nicht stabil. Er wird weiter differenziert, wenn sowohl die Anpassung der situativen Unbeständigkeit als auch die situative Anpassung des Verhaltens an die Beständigkeit der Gesinnung in den Fokus des Rats rücken. Mâze und unmâze als Verhaltensdispositive werden hinterfragt und moralisch bewertet. Für die Einschätzung jeder Situation spielen der Begriff der mâze und die Maßgaben der Morallehre eine zentrale Rolle, sind doch die menschlichen Entscheidungen im Horizont des weltlichen Wandels Entscheidungen, die einer Steuerung bedürfen. Dabei treten neben die weltlichen Formen der vernünftigen Mitte (mâze) die Implikationen des in Gott ruhenden Ansehens (êre) und die Selbstbeherrschung des Menschen im Wortsinne. Wiederum werden abstrakte Erkenntnisse am Beispiel entfaltet, wenn die Lenkung von mâze und wille bei der Entscheidungsfindung im Bild der Beherrschung des Knechtes und des Umgangs von Herr und Knecht zum Ausdruck gebracht ist. Mit der Treue und der Wohlanständigkeit rücken zwei Qualifikationen ins Zentrum der Gedankenexperimente, die als moralisch stabile Facetten des menschlichen Verhaltens in Gott ruhen. Ihre Umsetzung wiegt die präsupponierte Instabilität allen Verhaltens insoweit auf, als dass sie – so der Rat – ein göttlich sanktioniertes Angebot richtigen, guten Verhaltens implizieren, das erkannt, angenommen und umgesetzt werden sollte. Die Zentrumsstrophen (Mariengebet und wîp-vrouwe-Thematik) lenken den Blick auf die Funktion des Spruchdichter-Ichs im Rahmen der Argumentation. Durch die Nähe zur Argumentation des weltlichen Wandels und der willentlichen Entscheidung im Horizont einer klug orientierten Gesinnung wird die Rede des Spruchdichter-Ichs als rechte und wahre Rede greifbar, die, gegen den staeten wandel gesetzt, zur irdischen Orientierung werden kann. Die Bare nach den Zentrumsstrophen sind auf das Verhalten der Ratnehmenden und auf das Verhalten und das künstlerische Vermögen des Ratgebenden gerichtet. Das Spruchdichter-Ich integriert in seinem Rat ethische und ästhetische Orientierung und es beansprucht die Richtigkeit der eingesetzten Worte. Dieser Gedanke wird auf den Rat503

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1113 a 4.

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nehmenden übertragen, der zum wiederholten Male im Corpus auf die Eigenständigkeit des Denkens, Entscheidens, nun im Horizont seiner Erziehung, hingewiesen wird. Die Verschiebung der Perspektive auf das kommunikative Verhältnis, sowohl im Akt der Erziehung als auch beim Ratgeben und Ratnehmen, macht im diskursiven Feld der Spiegelmetaphorik eines sichtbar: Beide Seiten, Sender und Empfänger, positionieren sich und treffen Entscheidungen, indem sie im richtigen Verhalten zugleich die Option des falschen Verhaltens wahrnehmen. Die Uneindeutigkeit des Sichtbaren und die Täuschung liegen auf der gleichen Ebene des Problems und verdeutlichen erneut, dass beide Seiten im Akt des Entscheidens kalkuliert werden müssen. Zugleich ist mit diesem Gedanken eine Rechtfertigung des moralisch herausragenden Vermögens des Spruchdichter-Ichs gegeben, das seine Treue gegenüber dem Ratnehmenden zeigt, indem es im richtigen Maß zur Gesinnungslenkung beiträgt und damit seine Meisterschaft gegenüber dem falschen, untreuen Ratgeber herausstellt. Um dem Wort untreuer Ratgeber vorzubeugen, wird zum genauen Fragen als einem Modus der Verstandesschulung geraten, weil sich gerade dadurch Falsches und Richtiges differenzieren lassen. Da es aber auch zu Fehleinschätzungen einer Situation kommen kann, die nachteilig für den Handelnden ist, ist das Fragen eine notwendige Leistung der Gesinnungsschulung und ein Kernaspekt des Rats. Letztendlich führt der kommunikative Akt des Fragens, wird er als Notwendigkeit erfasst, zur Fortsetzung des Spruchdichtens in der ratgebenden Antwort. Das Ratgeben als ein Modus spruchmeisterlicher Rede ist so gesehen eine (durch den Rezipienten) bedingte und zugleich selbstentschiedene künstlerische Tätigkeit, deren Rechtfertigung auf einem rhetorischen Kniff aufruht, insofern im Horizont von Frage und Antwort als einer basalen Form dialogischer Kommunikation die Notwendigkeit des Antwortens imaginiert ist. In den Argumentationen und Darstellungen wird deutlich, dass das Spruchdichter-Ich aus diesem Zirkel der Bezüglichkeiten, der Abfolge von Notwendigkeiten austritt mit jeder auf eine neue Situation gerichteten Form des Rats. Der Rat selbst ist allein aus der Distanz zum Situationalen möglich und insofern ist für jede neu entworfene Situation die Kette der Bedingtheiten ausgesetzt, so dass das selbstbestimmte Moment des Ratgebens zum Tragen kommt. Die zweite zentrale Redeform der Sangspruchdichtung, das Lob, steht nach den Zentrumsstrophen erneut im Fokus der Darstellungen. Ganz situativ, bezogen auf die konkrete missliche Lage fehlender lobenswerter Herrscherfiguren, fällt die Entscheidung zugunsten eines alternativen Lobs, zugunsten lobenswerter, aber gestorbener Herrscher. In bewährter Manier wird die Idee bedingter willentlicher Gesinnungslenkung erweitert, indem sie auf der Ebene des Lobens überprüft wird. Die Lobrede wird mit einem göttlichen Ursprung versehen, so dass die Wahrheit des Wortes in Abgrenzung von falscher, höllisch fundierter Rede behauptet werden kann. Im Horizont poetologischer Überlegungen zu Leistung und Funktion der Sangspruchdichtung bedarf es einer überzeugenden Legitimation des spruchmeisterlichen Anspruchs, über die richtigen und wahren Worte zu verfügen. So ist es nicht abwegig, im Diskursfeld biblischen Wissens einen

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Bezug zum Evangelistenwort, zur Offenbarung des Johannes, literarisiert zu finden, zu dem das spruchmeisterliche Wort analog gedacht ist. Auf diese Weise wird mit der wahren Lobrede die Auferstehung der toten Fürsten imaginiert, einer Lobrede, die in ihrer aktuellen Ausführung selbst höchstes (Eigen-)Lob erzielt.504 Worte und Benennungen nobilitieren richtiges Verhalten. Im Umkehrschluss ist die Semantik der Worte als eine grundsätzlich zweideutige, nämlich moralisch gute und schlechte Semantik gedacht, die der willentlichen Entscheidung untersteht und einer situativen Festlegung bedarf. Der Prozessgedanke und die Schwierigkeiten der Begrifflichkeiten werden auf den immerwährenden situativen Wandel und die kommunikative Bedingtheit richtigen Verhaltens bezogen. Auf eine anschauliche Ebene heruntergebrochen, sind abstrakte Gedanken immer wieder in lebenspraktischen Situationen, etwa Glück oder Liebe, entfaltet und metaphorisch umgesetzt wie im Bild des Glücksrades. Die gute und die schlechte Seite menschlichen Verhaltens werden in der Heilsgeschichte fundiert, wie es am Beispiel des Zweiflers zum Ausdruck gebracht ist: Seiner Unbeständigkeit stehen der Glaube und die Treue als jene vollkommenen Qualifikationen, die wegen ihres Ursprungs in Gott keiner mâze bedürfen, entgegen. Wiederum kreisen die Argumentationen um Phänomene weltlichen Wandels, weltlicher Unbeständigkeit, menschlicher Gesinnungsstabilität und deren Vermittlung. Das Corpus der Strophen im Langen Ton in der Weimarer Liederhandschrift bietet keine lineare Entfaltung eines Gedankens oder einer Idee. Eher lassen sich die Überlegungen als ein Umkreisen des einmal entwickelten pseudophilosophischen Problems auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben, sei es sprachtheoretisch, heilsgeschichtlich, sei es in Beispielreihen, die dem Erfahrungswissen der Rezipienten vertraut sind, sei es in umcodierten oder neu semantisierten Metaphern. Der Problemknoten von staetem wandel, bedingtem Willen und der Lenkung des menschlichen Begehrens wird immer wieder neu geschlungen, indem einer der zentralen Begriffe herausgegriffen und aus den genannten unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Zu demselben Zweck sind die Rollen des Spruchdichter-Ichs pluralisiert. Es ist die Perspektivenvielfalt, aus der heraus eine Annäherung an das einmal aufgeworfene Problem erreicht wird. Sei es aus der Perspektive des Wissenden, des Rhetorikers, Dialektikers, Sprachtheoretikers, aus der des Ratgebers, Richters, Priesters, sei es als ethische Instanz oder als Normativ des Verhaltens, jedes weitere Ich bietet einen nächsten Blickwinkel, der das Problem erhellt, den zentralen Gedanken imaginiert und anschaulich werden lässt. 504

Grubmüller, Autorität und meisterschaft (2009), S. 708, weist für die meisterliche Dichtung des späten 14. und 15. Jahrhunderts, für den „Wartburgkrieg“-Komplex und die Dichtungen Frauenlobs sowie Heinrichs von Mügeln darauf hin, dass mit dem sich steigernden impliziten Erkenntnisanspruch der Legitimationsbedarf wächst, weil die Sangspruchdichter mit den Theologen und nicht mehr mit den Predigern konkurrieren. Gerade die poetischen Entwürfe in F, die am philosophischen Diskurs (Dichotomie des Guten und Bösen, rechten und falschen Verhaltens, freier Wille) teilhaben, bestätigen, dass die Rechtfertigung des künstlerischen Anspruchs sowohl an die Art der Vermittlung gebunden ist, die als Rat immer auch lectio ist, als auch an die Erkenntnis fördernden, pseudophilosophischen Inhalte.

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Der Instabilität der Denk- und Seinsformen sowie dem beständigen Wandel entsprechen die Pluralität der Rollen und die Komplexität des Blicks. Sie werden überschritten hin auf das Lob der vernunftbestimmten, der Mesotes folgenden, in Gottes Gesetz ruhenden künstlerischen Handlungsentscheidungen, angefangen vom Auffinden der Ideen und des Stoffes über das Entwerfen, das situative Bewerten bis zum literarischen Gestalten und situativen Bearbeiten des Gestalteten in Lob und Rat. So sind auch auf poetologischer Ebene eine bedingte Selbstbestimmtheit und eine ebensolche Eigenverantwortlichkeit des künstlerischen Tuns in Frauenlob, Herrscherlob und höfischem Rat fokussiert. Im Bereich des dritten Blocks der Ratstrophen wird der Begriff der mâze von der Warte des Gegenbegriffs aus untersucht. Daneben wird die mâze in Relation zum freien Willen gesetzt und auf ihre Funktion hin befragt. Über diesen Kontrast bringt sich die Aufgabe der Normierung von Handlungen und Verhaltensformen deutlicher zur Geltung. Vergleichbares geschieht mit der vuoge, deren Funktion am Beispiel des Verhaltens einer exemplarischen biblischen Figur anschaulich entfaltet wird. Und wiederum Vergleichbares geschieht mit dem Gegensatzpaar triuwe und untriuwe. Die Treue wird im biblischen Horizont zu einem Regulativ und einem Schutz menschlichen Handelns, das durch das Sohnesopfer göttlich gelenkt ist. Zum wiederholten Male wird damit die Bedingtheit allen menschlichen Handelns trotz menschlicher Entscheidungshoheit forciert. Dass das Corpus der Strophen im Langen Ton Frauenlobs durch den Einschub der Regenbogen- und der Würgendrüssel-Strophen konzeptionell offen wirkt und Nachtragsstrophen hinzukommen, die mit den Überlegungen zur Gesinnungslenkung locker verknüpft sind, ordnet sich gut zum Gedanken des Umkreisens, einem reflexiven, prinzipiell unabgeschlossenen literarischen Vorgehen, das zugleich der prozessualen Dauer des Sangspruchs dient. Das Sangspruchdichten im Langen Ton von F wird durch die Unabgeschlossenheit, respektive durch den stilistischen Duktus variierender Wiederholung lobender und beratender Redeformen mit dem Anspruch auf Fortdauer versehen. Gemeint ist jedoch weniger der Anspruch auf Fortdauer der Meisterschaft als vielmehr in einem allgemeineren, die Redeformen fokussierenden Licht die Fortdauer spruchdichterischen Sprechens.505

505

Einen vergleichenden Blick auf die Meisterschaftsentwürfe der älteren und der jüngeren Überlieferung ermöglicht das Kapitel IV.

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Wissen und Meisterschaft

4.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von k

4.1

Der Barverbund in k (Bartsch, k 47– 84, 91–108)

Das zweite späte, im Verhältnis zu den anderen drei Hauptüberlieferungszeugen sehr große Strophenkonvolut der Kolmarer Liederhandschrift überliefert 199 Strophen im Langen Ton, die fortlaufend in 55 Einheiten geordnet sind und in der Summe mehr als die Hälfte derjenigen Strophen ausmachen, die die Haupttextzeugen insgesamt bieten. In die Göttinger Frauenlobausgabe sind zwölf Strophen eingetragen und das Supplement bietet darüber hinaus etwas mehr als ein Drittel des Spruchstrophenkonvoluts. Ausgehend von dieser Editionslage, den aus dem Verbund gelösten Einzelstrophen (GA) und den Barverbünden (GA-S), sind für analytische Fragen, die sich auf den Barverbund und den Ton richten, anders gelagerte Antworten zu erwarten. Als Ausgangsbedingung der Analysen und Erörterungen gilt, dass die Strophen der Bare in der Regel inhaltlich zusammengehören. Es liegen darüber hinaus thematische Cluster vor, die Bareinheiten näher zusammenrücken, so dass eine Analyse der Vernetzungsregeln, sowohl thematisch als auch strukturell, wenn etwa die Wechselrede Bargrenzen überbrückt, sinnvoll erscheint. Im Zentrum der Analysen für k stehen zwei Wissensfelder, religiöses und weltliches Wissen, sowie die poetologische Gestaltung des damit verbundenen Meisterschaftsanspruchs. Dabei sind nicht nur religiöses, vor allem mariologisches, und weltliches Wissen zusammengeführt, auch verschränken sich beide Bereiche – mehrheitlich im zweiten Teil des Strophenkonvoluts – für die gewählten und thematisierten Gegenstände.506 Diese Verschränkung ist in den zeitgenössischen Meisterliederhandschriften nicht untypisch, Heinrich von Mügeln setzt sich damit auseinander, doch die hier vorliegende Verbindung mit dem Meisterschaftsanspruch scheint mir eigenständig für k zu sein. Für das umfängliche Strophenkonvolut von k Einzelanalysen zu präferieren wie für C, J und F, bietet sich nicht an. Sinnvoller erscheint ein grobflächigeres Vorgehen, um die in k spezifische Art der an sich typischen Verschränkung religiösen und weltlichen Wissen zu erarbeiten.

506

Die mariologischen Bare, Marienlob und Mariengebet, die das Corpus im ersten Teil mehrfach unterteilen (vier Bare zu Beginn – k 1–12, vier Bare am Ende des ersten Viertels – k 56–69 und drei Bare in der Mitte – k 93–95; 104–109), haben die funktionale Sonderstellung der Zäsur inne. Im zweiten Teil sind mariologische Überlegungen und solche zur Trinität miteinander vernetzt. So findet sich im dritten Viertel – k 121–125 ein Bar zum Leben Marias, und das Corpus wird mit einem Lob der Trinität und der Jungfrau beschlossen – k 197–199.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von k

4.2

233

Religiosität, Wissen und Meisterschaft in k

Mit einer Berufung auf ein Jesaja-Wort (Is 11,1f.) eröffnet das erste Dreierbar im Langen Ton (k 1,1). Die bildhafte Rede von der Ankunft und der Abkunft einer heilbringenden rut (V.4) ist als direkte Rede des Propheten inszeniert (V.2–6). Das Spruchdichter-Ich hat an dessen Wahrheit teil, geht immer wieder in der Gemeinschaft der Glaubenden auf (uns V.5, 11, 12, 16, 18) und ist dennoch derjenige, der die an Maria gerichtete Deutung der Zweigmetapher ausführt (V.7–12: Maria, meit, du bist die selbe rut gesin, / […] hilft uns uß der swerde, / die uns fraw Eva hat gestift al in dem paradyse).507 Eine mehrdeutige Position, die nicht allein mit der auch für k typischen Rollenpluralität des Sprecher-Ichs zu erklären ist. Der Sprecher partizipiert an der Autorität des Prophetenwortes, bedarf als Christ unter Christen der Güte der Mutter Gottes und ist durch seine dichterische Disposition in der Lage, biblisches Wissen gegenüber der transzendenten persona in einer dem Priester analogen Rolle zu deuten. Maria als mediatrix ist durch das Prophetenwort legitimiert und so kann das Sprecher-Ich sie in dieser Funktion zum Heil der Christen ansprechen. Wenn Maria zur glut (V.13) wird, aus der heraus sich die göttliche Gesinnung zum Schutz der Christen vor der Sünde (V.16–18) erneuert (der alte fenix / jungt sinen muot, V.14f.), ist das nicht nur Erinnerung der Menschwerdung Gottes zur Erlösung der Sünder, sondern auch höchster Lobpreis der Mutter Gottes.508 507

Die traditionelle Gleichsetzung von Reis und Mutter Gottes setzt in der Zeit nach Sündenfall, Geburt und Martyrium des Sohnes an; Geburt und Erlösung werden als Reaktion auf den Sündenfall stichworthaft erinnert, um die Erlösungsbedürftigkeit der Christenheit im Hier und Jetzt (uns, V.11) herauszustreichen. Zu Maria vgl. die umfassende Darstellung von Klaus Schreiner, Maria (1994); ebenso ders., Marienverehrung (1990); zum Marienbild des Mittelalters nach den dogmatischen Texten siehe Mariologie (Courth 1991), S. 161–194. Zum Mariengebet s. Ochsenbein, Art. „Gebet“ in: Marienlexikon II (1989), S. 590–596, dort auch Hinweise auf die Mittlerfunktion Marias, die die einzigartige Mittlerstellung Jesu in Frage stelle und in deren Folge es kein Mariengebet, sondern nur einen Mariengruß geben könne. Die für marianische Gebete typische Dreiteilung in Anrufung, Lob der Tugenden und Gebetsbitte findet sich auch hier, wenngleich die Bitte oft dem Lob der Tugenden vorausgeht. Vgl. Stefano de Fiores, Maria in der Geschichte (1996), S. 152. 508 Vgl. eine nicht christlich konnotierte Passage im Kurzen Ton, GA XIII, 14,3, zur Wiedergeburt des Fönix und eine Passage aus dem „Marienleich“, GA I, 12,17. Die wunderbare Verjüngung des Fönix wird im, u. a. in k überlieferten „Marienleich“ in Analogie zur Inkarnation aus der Jungfrau verstanden. Dort heißt es: ich binz die glut, / da der alte fenix inne sich erjungen wollte (GA I 12,16f.). Vgl. Salzer, Beiworte (1964), S. 60–63. In k 1 wird das Paradox der Menschwerdung als Verjüngung göttlicher Gesinnung bezeichnet. Gott selbst, metaphorisiert als alter fenix, bleibt sich in der Konsequenz gleich. Diese Modifikation der Fönixmetapher im Blick auf die Inkarnation bringt eines auf den Punkt: Wenn in V.9–11 vom Sohn Gottes, den Maria irdisch geboren hat, die Rede ist, steht dies neben dem Fönixbild, das gerade nicht die Menschwerdung Gottes ausstellt. Vielmehr ist es die Gesinnung, die sich verjüngt. Die Verbmetapher ‚jungen‘, in ihrer Bedeutung ‚sich verjüngen‘, ‚Junge bekommen‘, im übertragenen Sinne ‚zum Ausdruck bringen‘, repräsentiert die einfache Lesart der metaphorischen Konstruktion: Gottvater bringt seine Gesinnung durch die marianische Glut immer wieder zum Ausdruck.

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Wissen und Meisterschaft

Im Modus des Gebets imaginiert das Spruchdichter-Ich (du bist, V.7, 13) Maria als gegenwärtige und nahe Person. Daneben ist das Spruchdichter-Wort erinnertes, wahres Prophetenwort, und es ist als deutendes Wort den Aufgaben eines Priesters verwandt, die auf die Umsetzung des Heils zielen. Meisterlich ist hier das Marienlob im Sinne einer übergreifenden, alle anderen Redeweisen verbindenden Redeform. Mit dem Spruchdichter-Ich in den Rollen des Propheten, des Christen, des Priesters und des Lobenden wird der Gegenstand der Rede aus ganz verschiedenen Perspektiven semantisiert und das Wissen auf diese Weise pluralisiert. Zugleich – und das ist eine imaginative Leistung der Darstellung – ist das Spruchdichter-Ich, durch die im priestergleichen Gebet hervorgerufene Nähe, in den Vollzug der Heilswirkung involviert und übernimmt dabei partiell eine ebenfalls vermittelnde Funktion. Das Lob als grundlegende und traditionelle Aufgabe der Spruchdichtung wird mit dem Durchqueren der religiösen Rollen und Redeformen semantisch erweitert um marianisches Wissen und dessen frömmigkeitspraktische Umsetzung. Die zweite laudative Barstrophe bündelt, wie etwa in der „Goldenen Schmiede“ oder im frauenlobschen „Marienlob“, vor allem biblische Marienmetaphern (Zeder, Frucht, Rebe, Davids Harfe, Samsons Stärke), um das Lob durch die variierende Wiederholung in der Vorstellung zu halten. Die Metaphern von Salomos Minnetrank, der zum Minnesang wird (V.8f.), und vom Rosengarten, der ein Feigengarten ist (V.13), sind im Sinne iterierender Varianz509 abgewandelt. Darüber hinaus finden sich Metaphern wie Erdenthron, Höllengrund und Planetenordnung (V.11f.), die als Erweiterungen bekannter biblischer und außerbiblischer Beiworte Marias gelten können.510 In der dritten Barstrophe ändert sich der Duktus der Rede, wenn die Anhäufung der Beiworte partiell narrativ erscheint. Eine erweiterte Bildhaftigkeit dehnt den Bildspenderbereich über das bislang im Lob nur stichworthaft imaginierte Heilsgeschehen hinaus, so dass Maria Empfängnis in V.1–7 als Geschehen in seinem Verlauf erinnert wird. Wiederum partizipiert der Sprecher an einer biblischen Autorität (Johannes sach, V.6) und damit direkt an der Unmittelbarkeit und Einmaligkeit der Offenbarungen des Johannes, um das präsentierte Wissen als ein wahres Wissen zu sichern. Die auf eine Himmelserscheinung bezogene Johannesvision (Apc 12,1) ist hier nun auf die empfangende Gottesmutter bezogen:511 Mariä Empfängnis wird zum Gegenstand der Johannesvision und zum Gegenstand der Spruchdichter-Rede. Die Aufmerksamkeit, die durch das ausgestellte Paradox der gleichzeitigen Kind- und Mutterschaft auf den Gegenstand (kint, muter, V.12) gelenkt ist, bindet auch Aufmerksamkeit für die unmittelbar folgende Wortwiederho509

Jan-Dirk Müller, Aufführung – Autor – Werk (1999), S. 164, sieht in einer solchen Form der Textvarianz einen Freiraum textueller Gestaltung. 510 Vgl. Salzer, Beiworte (1964), S. 39, 151, 342, 500f., 526 und S. 21, 38, 68, 78. 511 Vgl. Offb 12,1–6. Zu den Visionen des Johannes Annette Volfing, authorship (1994), hier S. 18– 38. Johannes als Visionär und Autor dient in den Strophen Frauenlobs, des Marners und Regenbogens in beeindruckender Fülle als Bürge für präsentieres ‚geheimes‘ Wissen; eine Auflistung der Stellen S. 18, Anm. 36. Vgl. auch dies., Autopoietische Aussagen (1998), S. 374.

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lung: (kinder din, V.15). In der Kombination von Marienlob, ereignishaft geformtem Mutter-Kind-Paradox, Marienmahnung und Marienbitte ist eine verdichtende Kombination biblischen Wissens und religiösen Erfahrungswissens erreicht. Der Rekurs auf das Offenbarungswissen rechtfertigt dabei die Bitte um Erlösung. Das Achtungszeichen des Bars steht mithin hinter der Kindschaft aller Christen, ihrer Hilfsbedürftigkeit und der Rolle Marias als Interzessor. Ihr Dazwischentreten zwischen Gott und Christenheit gründet in ihrer Mutterschaft. In einem paradigmatischen Sinn interferieren in diesem ersten Bar nicht nur religiöse und literarische Redeform, sondern vorgeführt wird, wie durch dieses Wissen interdiskursive (heteronome) Geltungspotentiale ausgeschöpft werden. Der Gegenstand (Maria, Trinität) wird im Reden selbst gelobt, und der Sprecher tritt dabei in die priesterähnliche Mittlerrolle zwischen Gott und Christenheit ein, weil er um die religiös-pragmatische Dimension der im Irdischen notwendigen Heilssicherung weiß. Möglicherweise werden in k anders als noch in den frühen Handschriften Geltungsansprüche der Vermittlung transportiert, die sowohl auf die Verbreitung heilsgeschichtlichen Wissens als auch auf die Unterweisung in religiösen Praktiken, insbesondere in der Gebetspraxis, gerichtet sein könnten. Die Spruchdichtung hatte eine den Mendikanten vergleichbare Funktion inne, Hannes Kästner hat das überzeugend dargestellt, und das Zusammentreffen mit dem zeitgenössischen Bedürfnis nach Frömmigkeitsunterweisung könnte einen Widerschein in der spezifischen Zusammenstellung der k-Strophen haben.512 Unter der Rubrik: Ein anders513 intensiviert ein marianischer Gruß (Ave Maria, k 4,1)514 die Erlösungsbitte des ersten Bars aus der Perspektive des betenden Sprechers. Zugleich ist das Gebet ein Lob der Gottesmutter durch eine Fülle von Marienmetaphern (V.1, 4, 5, 9–14, 19), die auf Mutterschaft, Tugendfülle, Erhabenheit und Gnadenschaft bezogen sind. Die Gnadenbitte, gebunden an klerikales Wissen, erlangt durch die Autorität des Pfaffenwortes Gültigkeit: du bist genant der sunder trost, sagent die wysen 512

Kästner, Sermo vulgaris (1996); zur zeitgenössischen Frömmigkeitspraxis weist Angenendt, Geschichte (2000), S. 74f., darauf hin, dass der Anstieg der Frömmigkeit im 15. Jh. dazu führte, dass die Frömmigkeitstheologen in „einer Wendung zum Praktisch-Erbaulichen“ ihr Bestreben auf die Reformierung des Volkes richteten. Die im späten Mittelalter zunehmende Frömmigkeit zielte auf die „Freisetzung religiöser Gefühle“, ebd., S. 540, hervorgerufen u. a. durch imaginative Bilder, die bebetet wurden. Vgl. zur Frömmigkeitspraxis und ihren sozialen und politischen Kontexten, der visuellen Praxis und den körperlichen Ausdrucksformen den Sammelband: Frömmigkeit im Mittelalter (Schreiner 2002). 513 Die ersten beiden Strophen dieses Bars (k 4–7) sind an anderer Stelle in k, in anderer Reihenfolge zusammen mit einer dritten Strophe eingetragen (vgl. k 107, k 108 = k 5, k 109 = k 6). Zudem ist k 107 parallel zu k 71 überliefert, dort zusammen mit zwei weiteren Strophen (k 70, k 72), deren erste Strophe als „Gebet zur Transsubstantiation“ bekannt ist, vgl. GA V,1 (J 24 = k 70). 514 Zur Ave-Etymologie Ruberg, Verfahren und Funktionen des Etymologisierens (1975), S. 326–328; Zur Deutung des Grußwortes AVE als einem Inbegriff der Trinität vgl. Kern, Trinität (1971), S. 123–127; Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 272f., Düninger / Wiertz, Art. „Ave Maria“, in: Marienlexikon 1 (1988), S. 309–313.

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pfaffen (V.19).515 Zu beobachten ist eine Umbesetzung des Bittens im psychischen Bereich, insofern die Bitte des Sprechers affektiv aufgeladen ist. Die Emphase des Sprechers streicht den Gebetsmodus heraus, und die Erweiterung der Bitte auf die gesamte Christenheit imaginiert das Sprecher-Ich sowohl in der Rolle des Sünders als auch in der des Priesters. Im Vordergrund steht die situativ-pragmatische Dimension von Loben, Predigen und Beten, wobei der Charakter der Dichtung im affektiven Modus des Gebets derart zurückgedrängt ist, dass das meisterliche Lob nur durch das kontextuelle Netz der Strophen in der Aufmerksamkeit der Rezipienten verbleibt. Im Marienlob k 7–9 (Ein ander par) wird endlich ein Konnex zwischen Maria und dem Spruchdichter-Ich inszeniert, insofern Maria, die fraw (V.5, 7,12), als Inspirationsquelle für eine mittlerweile auch glaubhafte, religiöse Dichtung gewonnen wird.516 Maria als Quelle arkanen Wissens517 bezeugt die Wahrheit des potentiell zu Schreibenden, hier ist es die Wahrheit einer Dichtung von Seelenschau und Seelenrede nach dem Tod (V.12–18: heiß mir die warheyt schryben: / daz dort die sele moge jehen, / in sy gar seliclich geschehen / […] got ymmer ewiclich ansehen). Maria wird das SpruchdichterIch lenken: nym mich […] in din gewalt (V.12), hin zur Jenseitsschau, die als Schreibakt imaginiert ist. Dabei kommt die Spruchdichterrolle der des Visionärs nahe. Dass die zweite und dritte Barstrophe Parameter der Heilsgeschichte narrativ entfalten, ist als Exemplum der sogleich möglichen Verfügbarkeit dieses Wissens zu verstehen.518 Das 515

Im Marienlob (k 5) ist die Erlösungsbitte auf die Christenheit (uns) erweitert. Die Strophe beginnt in laudativer Rede, bezogen auf Tugendfülle und Erhabenheit, und mündet in die Bitte um Erlösung des Einzelnen im Gedenken an Christi Martyrium (V.1–6). Die Hilfe für die gesamte Christenheit liegt in der Sündenvergebung und der Abkehr der Höllenqualen. Das ikonografische Motiv der Schutzmantelmadonna (V.12) forciert die Imagination der Mütterlichkeit gegenüber dem Ich. Der Idee des Umfangens steht das Motiv der umfassenden, schützenden Ganzheit zur Seite (du bist der dryer nam ein schryn, V.18), wodurch einer in der Sache selbst liegenden Notwendigkeit marianischer Hilfe der Weg bereitet wird (muter der barmung behut uns V.19). In k 6 ist Ave Maria, Marienlob und Hilfebitte auf eine andere Seite gewendet. Das Gebet als personaler Hilferuf (ruff, schrye V.11) ist viel weniger laudativ als k 4f. Es ist mehrheitlich eine stark affektive Bitte, Schrei und Ermahnung vor dem Hintergrund menschlicher Not: bose (V.5), herczen leyt (V.6), nöten (V.7), ruff, schrye (V.8), arge sunde (V.9), leit (V.10), verschneit ein schwert (V.15f.), uns armen (V.17), in noten, in arebeit (V.18). 516 Das dreifache Stichwort fraw lenkt das Augenmerk von der himmlischen Mutter zur höchsten frouwe und kann als Rekurs auf den Texttyp des Frauenlobs gelten, denn erinnert wird Maria als höchste der Frauen, die in C, J und F immer die erste Inspirationsquelle des Frauenlobs im Rahmen des Langen Tons war. 517 Zur literarisierten Teilhabe an solchen Wissensformen im Bereich des „Wartburgkrieg“-Komplexes vgl. Strohschneider, Oberkrieg (2001), Kellner / Strohschneider, Geltung (1998) und Wenzel, Formen (2004) sowie dies., Teuflisches Wissen (2002). 518 In k 8 werden Christi Kreuzigung und Schändung durch die Juden, Grablegung und Auferstehung in kleinen narrativen Einheiten erinnert, um im Verzicht auf Rache an den Peinigern ihres Kindes die Stärke Marias zu loben. In k 9 ist Maria in ihrer Mittlerfunktion zwischen Engel und Teufel inszeniert, zwischen dem Reich Gottes (dins kindes rich, V.11, 19) und dem Höllengrund (hellehunt, munt, grunt, slunt V.13–17). Die Strophe selbst zielt mit der Eröffnung (Mary […] hilff, ich bin

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Verfügen ist als ein durch Maria bedingtes, fremdinitiiertes Verfügen dargestellt, das dem (noch) ‚wilden‘ spruchdichterischen Vermögen im Sinne einer Gnadengabe widerfährt,519 so dass in der Konsequenz literarisches Reden als religiöses, transzendent inspiriertes Reden erstarkt, auch wenn der Sprecher dadurch zum Sprachrohr reduziert zu sein scheint. Auch das nächste Bar ist ein Marienlob (k 10–12), das durch eine Vielzahl biblischer Metaphern das Ave Maria (k 10,1) in narrativer Form ausstellt. In erzählenden Passagen rückt die auserwählte Position Marias ins Zentrum: Maria Verkündigung (V.1–12), Maria Empfängnis (V.13), Jesu Kreuzigung und Erlösungsfunktion (V.14–19). Der Verkündigungsdialog wird in direkter Rede geboten (V.7–12), so dass die erhabene Position Marias in der Präsentation ganz nach vorn tritt. Zugleich gerinnt der Dialog zum Exemplum der gerade eingeforderten Rolle des Sprechers, Sprachrohr transzendenter Rede zu sein.520 Der Schluss des Marienlobs verschiebt den Blick dann doch auf einen meisterlichen Geltungsanspruch; ist es doch die Leistung der meynster (k 12,19), insbesondere ihres rationalen Vermögens, diese Präfigurationen (wie die figure ste, k 12,18) auslegend zu verstehen. Möglicherweise ist mit dieser knappen Bemerkung impliziert, dass es literarischer Rede durch Bearbeitung und Semantisierung möglich ist, biblisches Wissen zu überschreiten: ein Achtungssignal für alles Folgende. Der Eingang des Langen Tons in k ist im Diskursgefüge des Tons beachtenswert, weil er Marienlob und (Selbst-)Lob fest zusammenbindet. Objektebene und poetologische Ebene erhalten ihre Rechtfertigung im reziproken Bezug. Der Geltungsanspruch der Spruchdichtung ruht auf der fraglosen Gültigkeit marianischen Lobs auf, ebenso wie auf dem Umstand, dass der Sprecher im Assoziationsbereich der Mediatrixfunktion Marias und der Mittlerfunktion des Priesters eine vergleichbare Rolle einnimmt. Unter Umständen bietet dieser Auftakt, gerade mit dem letzten Verweis auf die Fähigkeit des Meisters, einen paradigmatischen Anspruch für k, bezogen auf Art und Funktion meisterlicher Rede. Dass drei Bare zur Priesterschaft folgen, wirkt nicht willkürlich. Man könnte zwar vermuten, noch wäre eine Distanz zwischen dem Wissen und dem Vermögen der Meiswild, V.1f.) auf eine marianische Lenkung des Sprechers. Die Dichotomie der Welt, von der hier die Rede ist, die Existenz einer Teufelsherrschaft, der der Mensch lebenslang ausgesetzt ist, steht das ganze Mittelalter hindurch im Recht, auch wenn die Scholastik bemüht ist, die „nachgeordnete, von Gott abhängige Stellung des Teufels klarzustellen“, Angenendt, Geschichte (2004), S. 157. 519 Die Relation von ‚wilder‘ Natur und Gnade weist auf die mit der Ursünde dem Menschen anhaftende Unordnung und auf seine gegenüber Gott kreatürliche Unvollkommenheit hin, die per se auf Gnade angewiesen ist. 520 Scheint k 11 vornehmlich Bilder für das Geheimnis der Mutterschaft einzusetzen (Baum, der Frucht trägt, Feuerbusch Mose, Blut des Pelikans, Sarg, Arche, Reis Josefs, Ezechiels Pforte, Gerte Aarons, vgl. Salzer, Beiworte [1964], S. 5, 10f., 12, 26, 29, 32, 58, 66), so bündelt k 12 Metaphern für die Mutterschaft (Garten Gottes, Widderfell Gedeons), die Erhabenheit (Thron Salomos, Krone Davids, Siegessonne Josues) und die Mittlerfunktion Marias zwischen Gott und Mensch (Taube Noas, Fisch Jonas, vgl. Salzer, Beiworte [1964], S. 15, 38, 40f., 331, 392, 501).

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ter und dem der Priester im Horizont des alten Geltungsstreites zwischen Mendikanten und Wanderdichtern bewusst; doch bei eingehender Analyse ist es eher so, dass laudative und beratende Rede die Mittlerrolle des Priesters zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen in seiner Unmittelbarkeit hervorheben. Stichwort sind die reinen Hände des Priesters, von denen mehrfach die Rede ist.521 Der alte Gegenstand einer Wissenskonkurrenz mit Strategien der Selbstbehauptung ist nicht relevant,522 da das meisterliche Sprecher-Ich das eigene literarische Vermögen in Anlehnung an das priesterliche Amt und im Wissen um dessen Inhalte demonstriert, nicht aber in Konkurrenz dazu. Literarische Geltung aus dem interdiskursiven Netzwerk des Wissens herzuleiten, erhält hier wohl eine weitere mögliche Facette. Das Priesterlob bezieht sich auf das Vermögen, die Wandlung zu vollziehen, und der dabei herausgestellte Aspekt des verbalen Zwingens legt im Assoziationsraum der spruchdichterischen Aufgaben (Lob, Lehre, Mahnung, Verhaltenssteuerung) einen Analogieschluss zwischen den Aufgaben des Priesters und denen des Spruchdichters nahe.523 Die Annäherung der Aufgaben führt so weit, dass der an den Priester gerichtete Rat zu rechtem Verhalten aus dem Mund des meisterlichen Sprechers eine inverse Relation von Priester und Spruchmeister imaginiert, bei der sich das Lob des Priesters proportional zu dessen rechtem Verhalten ausbreitet.524 Die Idee der Vermittlung zwischen Himmel und Erde wird weiter ausgeführt, sowohl durch detaillierte Explikation der priesterlichen Aufgaben im praktischen Bereich des Priesteramtes als auch durch die Erinnerung heilsgeschichtlichen, auf den Priester bezogenen Geschehens (k 16–18). Im Zentrum steht dabei das Lob der Wirkmächtigkeit des Priesters: Ach priester, […] / er kumpt und leistet din gebott, ein got und dry genende (k 17,13–19).525 521

Angenendt, Geschichte (2004), S. 455–462, zum Reinheitsgebot des Priesters. Kästner / Schütz, daz alte sagen (1991); Kästner, Sermo vulgaris (1996). 523 Mit der ersten der Strophe des Dreierbars wird ein Priesterlob ausgebaut, das vornehmlich die Nähe zu Gott (gottes knecht, V.1) und den Wert des Namens (hochgelopter priesters nam, V.5) ostendiert. Dieses Lob gründet in der Eucharistie, im Vermögen, die Wandlung vollführen zu können: du twingest got her, lebendig (V.7), so dass das Göttliche im Hier und Jetzt sichtbar wird (V.8: er lat sich sehen). k 14 bindet an, da im Modus des Stichwortgebens der Gedanke der durch den Priester beförderten Wandlung aufgegriffen und auf den für den Spruchdichter interessanten Aspekt der Sprache gelenkt wird, wenn es heißt: den er mit worten twinget (V.6). Gleichwohl zielt die Argumentation in erster Linie auf Vergebung und Erlösung der Christenheit im Akt der Eucharistie vor dem Hintergrund des Martyriums. 524 So ist k 15 eine an den Priester gerichtete Verhaltensanweisung, die im Horizont des Bars Verhalten und Spruchdichterlob kausallogisch verbindet: Wenn der Priester gehohet sin (V.1) möchte, muss er sich dem Rat entsprechend verhalten, dem Unredlichen, Betrügerischen und Bösen das reine (V.11) Verhalten entgegenstellen. Die Argumentation zielt im gesamten Bar auf die Mittlerfunktion des Priesters, die mit dem Stichwort der Hand (hende, V.7.13 [k 13,6.9; k 14,12]) aufgegriffen ist und auch über die Bargrenze hinweg vergleichbar literarisiert wird. Sie zielt aber zugleich auch auf die herausgehobene Position des meisterlichen Sprechers. 525 Die Priesterschaft wird im Sinne einer menschlichen Ordnung eigenen, von Gott gegebenen Rechts inszeniert, deren Aufgabe zu losen und zu binden (k 16,6), metaphorisch umschrieben mit slussel und sloss (V.5), etabliert wird, neben der Ausführung der Eucharistie (k 16,7–12). Darüber hinaus 522

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Wenn dann das Priesterlob an das meisterliche Ich in poetologisch-reflexiver Form gebunden wird (k 19–21: Ein ander von den priestern), ist das nur folgerichtig im Horizont des k-Auftakts. Inszeniert ist eine Situation der lobenden Priesterermahnung. Begriffliche Abstraktionen, Analogisierungen und Verschiebungen im Gegenstandsbereich sind jene rhetorischen Mittel, um die Potentialität des Lobgegenstands (Priesterschaft, Maria, inkarnierter Gott) zu markieren: Mit k 19 werden Engführung und Analogisierung demonstriert, haben doch in der göttlichen burde (V.5), die beim Priester liegt, das Lob des Priesters und die himmlische Herrlichkeit ihren Ausgangspunkt. Der folgende Unsagbarkeitstopos, niemand sei in der Lage, das Lob der himmlischen Herrlichkeit vollständig zu singen und niemand könne den göttlichen Gegenstand des Lobes vollkommen ergründen (V.7: vollesingen, durchgraben): sin kunst musz schnaben / an sines lobes orte (V.8f.), bereitet die Verschiebung des Blicks vom Priester zu Maria und zum inkarnierten Gott vor. Die Aussage zielt in erster Linie auf Empfängnis und Zeugung des eingeborenen Sohnes, die Laudatio richtet sich auf Maria und ihren Sohn und dahinter auf Gottes Geheimnisse, ohne dabei explizit sein zu müssen. Dieser rhetorische Umweg und die damit einhergehende Vervielfältigung des Blicks sind in poetologischer Manier list der wysen meinster (V.13) und damit wiederum Selbstlob.526 Priesterermahnung (k 20), Priesterlob und Frauenlob (k 21) richten sich in der Quintessenz auf das meisterliche Ich, das durch ein postuliertes Rederecht: ich nymmer tag verswygen wil (k 21,14) die Eigengeltung seiner Kunst behauptet, einer Kunst, die unter dem Namen knüpfen wenige narrative Worte (k 16,13: uff Sinay word du herwelt) den Ordo der Priesterschaft an einen heilsgeschichtlichen Ursprung an, an die Priesterweihe Aarons und seiner Söhne auf dem Berg Sinai (Num 8). Mit dieser Erinnerung sind zugleich Recht (k 16,14) und Macht (k 16,17) des Priesters sowie die Funktion der Stellvertretung Gottes auf Erden (k 16,19) legitimiert. Alles dies sind Anlässe genug, der königsgleichen Erhabenheit (O kunicliche priesterschaft, k 16,1) ein adäquates würdiges Verhalten zur Seite zu stellen. Mit der zweiten Barstrophe wird die Herausgehobenheit der Priesterschaft gestaltet, sowohl durch das Amt, den Vollzug der Transsubstantiation als auch durch die Erinnerung des Martyriums, die den Priester in seinem Tun über König und Fürst erheben. Die Erinnerung der alttestamentlich fixierten Speisung des Volkes Israel (k 18,1–6) und die Erinnerung der (neutestamentlichen) Erlösungstat (k 18,7–12) münden in den Hinweis auf das kirchliche Abendmahl und die Aufgabe des Priesters (k 18,13–17), so dass das Priesteramt, einerseits durch zwei heilsgeschichtliche Speisungsakte und andererseits durch die Imagination einer Amtslinie von Gott über seinen Sohn hin zum Priester, Rechtfertigung erfährt. Die die Speisungsakte begleitenden Attributionen wunder (V.1), selde[…] (V.7) und […]hut[e] (V.16) mit worten gut (V.15) semantisieren die Vermittlungsleistung des Priesters als eine verbale und verfügbare irdische Leistung, die der Priester zu lenken imstande ist. 526 k 20 ist eine retardierende Strophe, die als Priesterermahnung gegen arge[…] sunde (V.1) konzipiert ist. Erinnert wird die göttliche Aufgabe im Rahmen der Eucharistie, die mit dem edeln schilt (V.7) des luter unde clar[en] (V.5) Habits vor sündhaftem Verhalten feit. Dem Ansehen des Priesters steht dann in k 21 das Ansehen der werden wyp (V.1) zur Seite. Die Argumentation zielt auf das Lob des Priesters, doch zunächst geht es am praktischen Beispiel um das Ansehen von Priester und reine[m] wyp (V.7), die sich vor der Schande einer Verführung durch den je anderen schützen sollen. Das Angesicht ihrer jeweiligen Leitfigurationen (al durch die meit, V.7; sit sich got gyt […] in des priesters hende, V.11) steht dabei für die Würde ihres Verhaltens ein.

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Frauenlob firmiert: ich, Frauwenlob, daz nit verhil und damit personengebunden autorisiert ist (k 21,18). Mit diesem deutlichen Plädoyer für eine personalisierte Kunstform des Lobens ist nach den sieben Baren, die vor allem die Mittlerfunktion betonten, ein Punkt auch unter die Präsentation biblischen und religiösen Wissens gesetzt. Ausgeschritten wurden Legitimationsstrategien literarischer Rede, die von der Interferenz literarischer und religiöser Rede zur Analogisierung priesterlicher und meisterlicher Aufgaben reichen.527 Mir scheint zudem, dass die Aufgaben des Priesteramtes, Stichworte waren Wandlung und Zwingen, auf das Spruchdichter-Ich und die literarische Redeform übertragen werden und dass das religiöse Wissen zum gewandelten, in eine literarische Form ‚gezwungenen‘ Wissen wird. Die in k 12,18f. prognostizierte Meisterschaft bringt sich bereits hier zum Ausdruck: Literarische Rede ist einmal mehr Bearbeitung, Deutung und Umcodierung religiösen Wissens im Sinne meisterlichen Lobs. Meisterliche Rede ist auch Disput, und das meint Frage sowie Auslegung. Die Fünfer-Strophengruppe k 22–26 führt das vor. Sie rechtfertigt meisterliches Wissen und Vermögen im Sinne der disputatio und der Berufung auf biblisches Offenbarungswissen, so dass Argumente gegeneinanderstehen, die einer Deutung bedürfen.528 Der Streit 527

Solche Formen der Analogiebildung sind für theologisches Denken und Sprechen über Gott konstituiv aufgrund der Diskrepanz zwischen Präsenz und Präsentation des unerreichbaren Gegenstandes. Dem der unmittelbaren Darstellung Unzugänglichen soll und kann man sich allein durch Analogieschluss nähern. Analogiebildungen stellen einen erkenntnisorientierten konstruktiven Modus auch literarischer Rede dar, der die diskursiven Unterschiede überbrücken kann und die Darstellungsmöglichkeiten des Literarischen erweitert. 528 Die Strophen k 22f. sind thematisch rubriziert: Ein ander par usz Appockalipsim. Literarisiert ist eine Passage aus der Offenbarung zum siebenten Posaunenengel und seiner Botschaft, dass keine Zeit bleiben werde (Apc 10,1–3. 5. 6. 8), wobei die visionäre Beschreibung durch den Evangelisten selbst, seine Autorschaft und sein authentisches Erleben legitimiert werden (schrybet Johannes munt, k 22,1; als ich lass, V.7; Johannes schrybet uns daz […], k 22,19; im wurde kunt / in der gesichte taugen, k 22,2). Die Deutung k 23 bleibt im diskursiven Rahmen der apokalyptischen Schrift, greift aber auf frühere (positive) Passagen der Himmelsvisionen des Johannes zurück (Apc 1,14 und 5,1–9), die den umwölkten, feuergesichtigen Gott zeigen und das Lamm, das die Schriftrolle aus der Rechten Gottes empfängt und diese zu öffnen vermag. Gedeutet werden der Regenbogen als Zeichen des gewährten Bundes zwischen Gott und Mensch sowie das Buch als Zeichen der zur Zeit erfolgenden Sündenerlösung durch die Menschwerdung. Die Vision ist auf die Befreiung der Christenheit hin geöffnet, und in k 24 ist dieser Gedanke weiter ausgeführt mit einer stichworthaften und willkürlichen Reihe göttlicher Wunder, göttlicher Weisheit und Macht (Lauf der Himmel und Gestirne, sieben Sphären, die sich dem Firmament entgegen bewegen, Elemente, Tag und Nacht, Donner, Wind und Regen). Das mit diesen Stichworten konnotierte Weltbild spiegelt allenfalls ein pseudogelehrtes Wissen, ist es doch nicht viel mehr als eine unreflektierte Summe kosmografischer Aspekte. Vgl. Kibelka, meister (1963), S. 80f.; Vgl. zum Aufbau der Himmel, der Gestirne und ihrer Bewegung auch Konrad von Megenberg, „Deutsche Sphaera“, bes. S. 6–33. Astronomie und Geografie firmieren für Altertum und Mittelalter unter dem Begriff der Kosmografie, vgl. Ernst Hellgardt, Geographie (1991), hier S. 56. Vgl. auch Johannes Siebert, Himmels- und Erdkunde (1939); zur Homogenisierung des theologischen und astronomischen Weltbildes im Mittelalter Rudolf Simek, Erde und Kosmos (1992), S. 22, und Wenzel, Teuflisches Wissen (2002), S. 179f.

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um den Vorrang im Bereich heilsgeschichtlichen Wissens partizipiert in allen fünf Strophen am Redemodus des Rätsels. Zwei Rätsel und deren Lösungen / Deutungen folgen aufeinander, so dass die Darstellung einen Streit zwischen dem meisterlichen Ich und Regenbogen (Ich Regenbog, k 26,1) nahe legt. Die durch die Streitstruktur bedingte Wissensdeutung ist religiös verschoben mit dem Ziel der Heilssicherung (k 24,19: durch mentschlich leben hilff uns dar, herr, da du bist gesessen), wobei die Spruchdichterrolle hier wieder funktionsäquivalent zur Priesterrolle funktionieren mag (k 23,19: got lost uns mit sin selbes blut, daz lopt in manig zunge). In k 25f.529 wird das biblische Wissen der Johannesvision (Apc 1) anders als in C als eigene Vision im Rahmen des Rätsels präsentiert, verbunden mit der Behauptung, kein lebender Dichter könne das Rätsel lösen.530 Der Anspruch, allein über biblisches Wissen zu verfügen, signalisiert hier wohl, dass Meisterschaft vorderhand ein Allmachtsphantasma ist, eine Idee, die sich v. a. epistemisch konstituiert, nicht vornehmlich artifiziell wie in C oder J. Das meisterliche Ich prognostiziert die Unmöglichkeit einer Auflösung des verrätselten Wissens, das zugleich als visionäres Wissen unmittelbar authentisch und insofern wahr ist. Doch daneben und davor ist es auratisches Wissen: Nur der, der gesehen hat, weiß.531 Die explizit Regenbogen zugewiesene Deutung hebt die hoffart (k 26,1) in ihrem teuflischen Ursprung hervor: daz tier, horn unde heupt, sie sint des tufels eygen (k 26,19). Erinnert werden stichworthaft die sieben Todsünden und das Aufbegehren des Teufels wider Gott. Im Raum erinnerten biblischen Wissens zielt das Widerwort des Rätsellösers in den Bereich der Frömmigkeit. In diesem Bereich moralischer Wertungen wird dem Rätselsteller ein Leben ohne Gottes Güte verheißen (k 26,16f.: nu wisse das: / die gottes gut din ie vergass). Ich meine, dass nur auf der Basis des Wechsels von der Ebene auratischen Wissens zur gelebten Frömmigkeit eine Abwertung des präsentierten Wissens im Sinne sündhaften Wissens vorliegt. Der die Antwort Regenbogens prägende christliche Glaube, der 529

Das Strophenpaar k 25 und 26 ist durch den Redemodus des Rätsels zum Paar gebunden und durch die Rubrik daz vierde an k 22–24 geknüpft. Dem Register nach wurde es mit k 22–24 als eine fünfstrophige Einheit verstanden, die strukturell im Sinne des Sängerstreits zusammenhält. Vgl. Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied (2002), S. 149. 530 Möglicherweise wollte der Schreiber der Strophe den Rätselstatus verstärken und tilgte den Namen der ersten Verszeile (vgl. C 36,1) bzw. ersetzte Johannes durch ein Ich. In diesem Falle würde das Ich auf den Visionär Johannes verweisen, doch explizit ist dieser Rückschluss nicht. Verfolgen lässt sich die Rede eines Ichs, das zunächst von einer Vision erzählt (V.1f.: Ich sach […]) und sich später auf sein künstlerisches Vermögen (V.15f.: der synne pfat / han ich gesat.) beruft. So wird denn in erster Linie ein Konnex zweier disparat scheinender Ich-Rollen (Visionär, Meister) suggeriert anstelle eines Verweises zwischen dem Sprecher und Johannes. Die Nähe des Rätsels zur religiösen Rede lässt sich wissensgeschichtlich begründen, ist das Rätsel doch eine vergleichbar auratische Form der Wissensentfaltung. Vgl. Schäfer, Vergils Eklogen (2001), S. 36f. 531 Zu analogen Formen auratischen Wissens aus Theologie und Philosophie vgl. Stackmann, Heinrich von Mügeln (1958), S. 95; Strohschneider, Oberkrieg (2001), S. 501; Kellner / Strohschneider, Geltung (1998); Wenzel, Geltungsbehauptung (2004), S. 69; Grubmüller, Autorität und meisterschaft (2009), S. 708.

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die Sünde am Anfang der Schöpfung weiß, tritt dem Glauben an die Allmacht dessen, der über arkanes Wissen verfügt, entgegen. Der hier entworfene Gegensatz von göttlich inspiriertem, visionärem, heilsbringendem Wissen und teuflischem, heilsfernem Wissen scheint auch ein Rekurs auf die Debatten um ‚alte‘ und ‚neue‘ Theologie zu sein, die seit dem 12. Jahrhundert virulent sind, denn es geht um die Deutbarkeit und das rechte Verstehen heilsgeschichtlichen Wissens.532 Die Frage, die durch diese Konstellation hervorgerufen wird, ist die nach den Grenzen des Wissens im Bereich meisterlicher Dichtung. Es scheint eine vor allem die ‚narrativen‘ Formen der Sangspruchdichtung bestimmende Frage zu sein, man denke etwa an die Klingsor-Wolfram-Debatte und das Quaterrätsel im „Rätselspiel“ des „Wartburgkrieg“-Komplexes.533 In Anbetracht der fehlenden Entscheidung zwischen den Positionen im Rahmen des Rätsels vom Tier mit den sieben Häuptern liegt das Augenmerk wohl auf der gleichgewichtenden Darstellung beider Möglichkeiten der Wissensverfügung. In dem Maße, in dem biblisches Wissen visionäres Wissen ist, legitimiert es denjenigen, der vorgibt, darüber zu verfügen, und in dem Maße, in dem ein solcher Anspruch aberkannt wird, bestimmen religiöse und moralische Aspekte die Bewertung und Deutung des Wissens. Der strukturelle Rahmen des Argumentationsstreits ist über die Fünfergruppe hinausgezogen, da auch k 27–29 im Sinne des Disputs organisiert sind: k 27 bietet ein Rätsel und k 28 dessen Lösung: wer mir des ratet sunderbar / […] dem geb ich lobes pryss furwar (k 27,14–18). Die Frage-Antwort-Struktur integriert jedenfalls an dieser Stelle eine Herausforderung, unabhängig davon, ob man sie Rätsel, bîspel oder Allegorie nennt; die Rubrizierung spricht von byspyl und jrat. Worauf es zum einen ankommt, das ist die Auslegung des Schmiederätsels, die Auslegung der metaphorischen Rede von anebosz (k 27,1), smitte (k 27, 2), esse, glut (k 27,3), meynster hat gesmydet (k 27,5) und meinsterschafft ohne hammer, zangen (k 27,6). Zum anderen bildet das strukturelle Netz der Rätsel und ihrer Lösungen einen responsiven Raum aus, in dem arkanes Wissen und Wissensverfügung bzw. visionäres Wissen, Meisterschaftsanspruch und göttliche Inspiration sowie göttliche Schöpfung und Meisterschaft nebeneinander genannt sind und zueinander in Beziehung treten. In diesem interdiskursiven Raum des Langen Tons tritt die Meisterrolle des Schmieds mit der Rolle des meisterlichen Ichs in einen Dialog, aufgerufen über die Signalwörter meynster und meinsterschafft. Vers 19 etwa, all nach dem selben meynster musz mich harte ser belangen, lässt zwei Lesarten zu: Im Rekurs auf die vorangehende Rede vom Rätsellöser, dem höchstes Lob gebühren würde, könnte sich das Verlangen des Sprecher-Ichs auf einen solchen Meister richten. Ein größerer, retrospektiver Bogen zum Beginn der Strophe, wo die Bezeichnung meynster auf den Schöpfer verweist, bietet eine naheliegende zweite Lesart an. Gemeint wäre dann das Verlangen des Sprecher-Ichs nach dem Beistand dieser herausragenden In532 533

Vgl. Angenendt, Geschichte (2004), S. 46–54. Vgl. zu den Grenzen des Wissens Wenzel, Teuflisches Wissen (2002), S. 152–157, 159–162; dies., Geltungsbehauptung (2004), S. 54, 60–62.

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stanz. Im Assoziationsraum der Schmiedemetapher, das lässt sich sicher sagen, sind (spruch-)meisterliche und göttliche Schöpfung im Begriff des Meisters enggeführt. Das deutende Ich schließt mit den Stichwörtern meinster (k 28,2) und kunst (k 28,3) an den Meisterschaftsdiskurs an. Mit der Referentialisierung der zwei Meister (k 28,2–5: den meinster gut / mit siner kunst so richen, / man vint sin nit gelichen. / all hohe meinster, wo die sint, die mussent ym entwichen.) lassen sich zwei Aussagen treffen: Jede schöpferische Tätigkeit ordnet sich dem göttlichen Schöpfungsakt unter. Ein gottanaloger Meisterschaftsanspruch ist lobenswert. Die Deutung, ich wil den bunt entbinden […] (k 28,7), ist kommunikativ offen an wyse lute (k 28,10), nicht aber explizit an einen Herausforderer gerichtet. Das Sprecher-Ich könnte die Deutung selbst vornehmen, da von einem Sprecherwechsel nicht zwingend ausgegangen werden muss, auch nicht im Blick auf die Rubrizierung, die ja von byspyl und jrat spricht. Im Netz der Meisterschaftsdebatte in k scheint diese Lesart schlüssig zu sein, denn die Kunst des SprecherIchs wäre als imitatio göttlicher Kunst legitimiert.534 Die dritte Barstrophe (k 29) als Hinwendung in den Bereich praktizierter Religiosität bietet eine an den Sünder gerichtete Mahnung, die auf Menschwerdung und Erlösung verweist. Die Leistung dieser Ermahnung, die dem Lob des Herren dient, liegt im Lob der Meisterschaft, wenn es heißt: den selben meinster rich (k 29,1) solt loben (k 29,13). Wieder, wie bereits in den mariologischen Strophen, sind die Literarisierungen des Wissens auf den religiösen Vollzug hin geöffnet. Abstraktes biblisches Wissen und Frömmigkeitspraxis werden im poetischen Entwurf miteinander verbunden. Das Wissen wird zugleich in den Möglichkeiten des Deutens und in seiner Verfügbarkeit perspektiviert, um anhand der Mehrdeutigkeit, hier der zweifachen Referentialisierung des meinster-Namens, die Komplexität spruchmeisterlicher Kunst zu demonstrieren.535 534

Ginge man von einem Sprecherwechsel aus, würden zwei Formen der Meisterschaft gegeneinandergestellt. Mit der Betonung des geistigen Unvermögens, göttliche Meisterschaft zu ergründen (k 27,11f.: […] des ist myn sin darunder / verirret dieffe, daz ist war […]), wäre die erste meisterliche Leistung zurückgestellt. Der Deutungsanspruch eines möglicherweise zweiten Meisters, der auf biblischem Wissen und rhetorischem Deutungsvermögen aufruht, stünde dagegen. Die beiden Lesarten lassen sich nicht hierarchisieren; beide Deutungen stehen nebeneinander. Vielleicht ist hier eine grundsätzliche Unergründbarkeit und Unüberschreitbarkeit göttlicher Geheimnisse auf der Objektebene zu greifen. 535 Der hier relevante Vorgang zweifacher Bezugnahme, der meinster-Name ist Teil sowohl der religiösen als auch der literarischen Redeform, lässt sich mit Susanne Köbele als Umbesetzung beschreiben, wobei sie ganz vergleichbar gerade keine Hierarchien der weltlichen und der religiösen Sinndimensionen ausmacht. Köbele, Umbesetzungen (2002), S. 215, 226f.; dies., Lieder (2003), S. 163 Anm. 419 und S. 222 Anm. 532. Susanne Köbeles Adaptation der Antwort Blumenbergs auf die Frage nach dem Umgang mit christlichen Inhalten beim Übergang zur Neuzeit möchte ich aufgreifen: Köbele führt an, dass es Blumenberg nicht um eine „ ,Umsetzung‘ genuin christlicher Inhalte in ihre Säkularisate“ ging, sondern um eine „Umbesetzung frei gewordener Positionen von Antworten, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten.“, ebd., S. 222 Anm. 532. Die Adaptation dieser Antwort für literarische Entwürfe baut das zweistellige Modell der Umsetzung in ein vierstelliges der Umbesetzung um: Die Säkularisierung chistlicher Gehalte ist nicht das konzep-

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Der Übergang von k 29 zu k 30, vom bîspel zum zungen zwingen, einer Ermahnung, auf die eigene Rede und deren Werkzeuge zu achten, wird erreicht über das Motiv des Redens. Endet k 29 mit der Ermahnung des Sünders, Gott […] nacht und dagk [zu] dancken mit richem schallen (V.19), so schließt k 30 daran an, und zwar mit der Ermahnung zu schweigen und jedes Reden vorab zu prüfen (V.2–6) durch den Verstand und im Blick auf die Prädestination allen Seins. Es gehört zu den Strategien der poetischen Argumentation in k, eine Idee situativ zu wenden und dann argumentativ auszuschreiten. Wird die Nähe von meisterlichem und göttlichem Schaffen in k 26–28 entfaltet, so geht es in k 30–32 um die Hindernisse des Schaffens im zwischenmenschlichen Bereich. Das Bar von der zungen zwingen belehrt über den Umgang mit den Sprachwerkzeugen gegenüber dem jungen Mann und gegenüber dem Priester. Es durchquert den Diskurs um Reden und Schweigen im Rahmen diskursiver Ordnungen (Erziehung, Hof, Kirche)536 und ist so auf den schöpferischen Akt selbst perspektivierbar. Zunächst ist die Rede vom Zwingen der Zunge, dem Abwägen der Rede durch den Verstand, dem (Aus-)Messen der Situation, dem Prüfen von Ort und Zeit wider jede Form der Gesinnung, auch wider die negative verstandlose, tobende Gesinnung. Zunge, Gesinnung, Rede und Verstand werden relationiert und pragmatisch dimensioniert, mit dem Ziel, richtig mit den Voraussetzungen der Rede umzugehen. Ohne die Organisation der Bedingungen gelingender Rede in der aktuellen Situation, ohne Zwingen, Zähmen, Wiegen, Messen und Prüfen, ohne die Voraussicht, ohne das bedenken jeder Rede, ohne die Vorgängigkeit des Verstandes gibt es keine gelingende Rede. Mit der vernunft (k 30,11) als dem wyder-Part des toben[den] mutes (k 30,7) ist der diskursive Horizont des scholastischen Vernunftdenkens, das in Thomas von Aquin seinen bedeutendsten Repräsentanten hatte, aufgerufen. „Ziel der Scholastik war die begriffliche Erfassung und die begründete Definition“, geleitet von einem „außerordentlichen Zutrauen in die Vernunft.“537 Die Debatte um die Wirkmacht der menschlichen Vernunft ist im Langen Ton, vor allem in der Weimarer Liederhandschrift, geführt worden. Trotz einer Hinwendung zu begrifflichen Bestimmungen waren und sind es im Rahmen der Spruchdichtung die Bilder, die beibehalten bleiben. Metaphorisches Sprechen wird gerade nicht zurückgedrängt, wie das Arnold Angenendt für die Scholastik konstatiert, vielmehr wird es im Sinne der Anschaulichkeit immer wieder in die Darstellung philosophischer Sachverhalte eingebracht. Ging es in F um das dialektische Verhältnis von Gesinnungsfreiheit und Gesinnungsstabilität, so steht in k der durch den Begriff des zwingen[s] betonte vernünftige Umgang mit den Sprachwerkzeugen im Zentrum der Überlegungen. Nicht das Bedingtsein der Gesinnung, sondern deren Kanalisierung tionelle Prinzip; es sind religiöse Fragen und entsprechende Antworten, die aufgegriffen, jedoch umbesetzt werden, so dass sich zu den säkularen Antworten der Texte im christlich-religiösen Diskursraum die richtigen Fragen finden lassen müssen. 536 Vgl. exemplarisch Volker Roloff, Reden und Schweigen (1973); Niklas Luhmann, Reden und Schweigen (1992); Peter Burke, Reden und Schweigen (1994). 537 Angenendt, Geschichte (2004), S. 185.

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durch den Verstand steht im Fokus der Argumentation. Dieser Vorgang impliziert ein temporäres Zwingen der Zunge, damit dem Akt des regulativen Bedenkens Zeit eingeräumt wird. Wenn es der wysen funt (k 30,16) ist,538 der Rede die Verstandeskräfte vorauszuschicken, dann ist das – im Bedenken liegende – retardierende Moment der Rede durch die Autorität der Gelehrten legitimiert. Zugleich wirkt der heilsgeschichtliche Hintergrund rechtfertigend, insofern alles Sein vorbestimmt ist: alle ding sint vorbedacht (k 30,19).539 Auch – und wiederum symptomatisch für die Spruchdichtung des Langen Tons – sind es Formen des negativen Zwangs, die im Zusammenhang der Argumentation in k 31 ausgeschritten werden: der zungen zwingen ist auch dick ein missetat (V.1). Exemplum der Erörterung ist die Situation des ausbleibenden Rates einem Herrscher gegenüber (V.2–6). Zuvor und ganz anders rühmt k 30,1 der zungen zwingen als richer tugend urspring. Mir scheint, dass dieser Argumentationsmodus der Inversion typisch für k ist. Wird ein Begriff in die gegensätzliche Perspektive gewendet, dann wird sein semantisches Potential erprobt.540 In k 31 wird die Zunge in der Situation des Rats zum Instrument von Recht (V.7) und göttlicher Ordnung (V.8f.). Die Argumentation zum nutz[…] (V.6) der Zunge rekurriert dabei auf die Transsubstantiation durch das Wort des Priesters: der priester mag auch gottes sone mit der zungen zwingen / dryfaltig in ein wysses brot (V.12f.). Der Zwang bezieht sich nicht auf die Zunge, auf das Unterdrücken einer Rede oder auf das Schweigen, sondern auf die Wandlung, die durch das Wort bedingt ist. Ein von der Sache her schiefes Argument dient dazu, das Reden religiös zu moralisieren, den guten zungen den Weg des Heils zu prognostizieren (V.19). Dies scheint mir ein Argument zu sein, das den Nutzen der Rede in Situationen der Veränderung und des Wandels hinlänglich stärkt. Es ist gerade das Reden, nicht das Schweigen, das befürwortet wird. Mit dem Beispiel der Zunge, die im Dienst der Messe steht und die got selb […] sang (k 32,4f.), wird die Idee der positiven Rede auf einen sinnhaften Ursprung zurückgeführt. Der Todesschrei Christi gilt als 1. Messe (Mt 27,46) und in Analogie dazu ist die positive Zunge fortan in k in den Dienst der Heilssicherung gestellt. Der Möglichkeitsspielraum der Rede zwischen bosz unde gut (V.8), lop unde laster (V.10) erfährt hier eine bereits für F typische ethische Orientierung hin auf das Gute. Es sind die Situationen des Redens zwischen meisterlicher, göttlicher und priesterlicher Rede, die literarisiert werden und deren Potential zwischen den Extremen guten und schlechten Verhaltens geprüft wird. Das Reden als plurale kommunikative Form ist dem Scheitern gegenüber instabil. Anhand der hier erörterten Verhaltensfragen, bezogen auf die Innen538

Zum funt vgl. Anm. 319, 384f. Vgl. die Überlegungen zur Bedingtheit menschlichen Handelns im Horizont der augustinischen Gnadenlehre Kapitel III.3.2 zu F 95–97. 540 Der Begriff der distinctio wird hier literarisch modifiziert verwendet und pragmatisch perspektiviert, so dass sich eine niedere Abstraktionsebene ergibt, auf der durch den Informationszuwachs eine größere Argumentationskraft gewonnen ist. 539

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Außen- und die Herz-Zunge-Relation, sucht sich die Argumentation dem Modus göttlicher Rede anzunähern, versucht sie, der priesterlichen Rede, und dahinter der des Sprecher-Ichs, Meisterschaft in der Nähe göttlicher Rede zu attestieren, um damit der Instabilität menschlichen Sprechens zu begegnen. Nicht nur die situativen Eigenheiten des Redens beeinflussen jede Form des Redens positiv oder negativ, es ist der Zustand der Welt, die Gier nach Besitz, zu dem / zu der sich das Sprecher-Ich zu positionieren hat (k 33–35). Das Stichwort singen (k 33,1) schlägt die Brücke vom Messgesang (sang, k 32,5. 13; singen, k 32,9) zur gesungenen (!) Weltklage, um über die Welt zwischen Armut, Alter und Tod, zwischen Minnefülle und Trunkenheit zu klagen.541 Dem Notstand der Welt und der Klage tritt in k 36–39 das künstlerische Vermögen entgegen. Es wird durch das Aufmerksamkeitssignal Merckt an […] (k 37,1) und durch die Stichworte meynster, kunst (k 37,1), vernunst (k 37,2) und pruf[e]n (k 37,3) als auf der Verstandeskraft fußend und selbst verstandesbildend ausgewiesen. Die Spruchdichtung und ihre Inhalte (der meynster spruch, k 37,1) werden zu Werkzeugen des Kampfes gegen den gesellschaftlichen Notstand. Doch ist ihre Reichweite zu gering, um der Drastik des weltlichen Missstandes entgegnen zu können. Ausdruck hierfür sind die verschärfte Zeitklage: es naht der endecristes zyt (k 38,13) und die fehlende sun (k 38,2) in einer rechtsfreien Zeit, die den Niedergang alles Weltlichen mit sich bringt 541

Dem Status quo folgt eine Ermahnung der personifizierten Welt, auf sich selbst zu achten, da ihre Erben allein auf materielle Werte achten werden (k 34). Philosophisch-theologische Diskussionen, wie sie etwa für das sogenannte Streitgedicht „Minne und Welt“ relevant sind, spielen hier keine Rolle und sie lassen sich auch nicht als diskursiver Hintergrund des Bars bestimmen. Analog zum Ach, welt (k 34,1) eröffnet die dritte Barstrophe (k 35), eine vanitas-Strophe, mit einem klagenden Ach, herre gott (V.1) über die menschlicher Gier und den zeitgenössischen Wucher, die auf die Welt erweitert, eines ihrer Laster darstellen: ach, welt, darnach stat din begir […] (V.6). Ganz traditionell wird dieses Laster am Ende mit der Aussicht auf Vergänglichkeit allen Seins aufgewogen. Das zweite Bar von der Welt (k 36–38) differenziert im Bereich des Weltwissens und der Modus der Klage wechselt vorderhand in den der Lehre. So leuchtet die erste Strophe den Gegensatz von frommen und bosen (V.5) aus, indem sie eine Fülle von weiteren adversativen Begriffen situativ anspricht: Räuberei und Friede (V.8f.), Mannheit und Feigheit (V.10f.), Unkraut und reine Frucht (V.12), Wolf und Schaf (V.13f.) sowie schlechte und gute Frucht (V.15–19), wobei die Beispiele nicht in jedem Fall dem Leitbegriffspaar entsprechen. Interessant an dieser eher schlichten Strophe ist der Auftakt, der durch den zentralen Kontrapunkt des vorausgehenden Gedankens vom sündhaften argen Lachen, das rechtschaffenes von bösem und falschem Verhalten trennt. Der Gedanke des (Ver-)Lachens lässt sich im Assoziationsraum der Debatte um gelingende Rede retrospektiv auf das Bar vom Zwingen der Zunge beziehen, und prospektiv verweist er auf die folgende Zeitklage (k 37) über den innerweltlichen Zustand, den Verlust der Treue, der initiiert ist durch bose, valsche zungen (V.6), die anstelle der Treue und anstelle der Gebote Gottes (V.7–9) agieren. Es agieren die Gegenbegriffe unrecht (V.12, 19) und untru (V.13. 14), die zweimal wiederholt einen Gedanken aus dem Reichston Walthers (Co. 2,I,21f.) rahmen: stich und mort ist uff der ban (V.17), wobei dem konnotierten politischen Notstand kein wirksames Mittel, keine Gütertrias, entgegengesetzt ist. Eigens die göttlichen Gebote, Recht und Ansehen, sowie das Gebot der Treue sind Verhaltensrichtlinien, deren Verlust beklagt ist.

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und den Zorn Gottes542 hervorruft. In dieser Situation der Verkehrung dessen, was recht ist, stellt das Sprecher-Ich eines ganz deutlich heraus, dass keine Form der Mahnung, weder die strafende der Meister noch die lehrende der wyse[n] pfaffen (k 38,19) etwas am gesellschaftlichen Missstand zu ändern vermag. Ein derart resignativer (realhistorischer) Gestus überblendet sinnierende Reflexionen über den Zustand der Welt und poetologische Ermahnungen. So ist denn auch die Fortführung eine Verschiebung zu einem deutlich literarischen Gegenstand, bei dem der Blick vom (imaginierten) realen Zustand der Welt auf die literarischen Imaginationen von Welt umschwenkt, wobei das richtige Reden unter dem Stichwort der Zunge eine Brücke zwischen den Baren bildet und dahinter dann doch ein weiterer Notstand, nämlich der der Sangeskunst, dargestellt wird. Denn das strafliet gein eim tummen senger (k 39–41) präsentiert die Fabel vom Affen, der sich im Spiegel bewundert.543 Das bîspel vom Spiegelaffen bietet eine literarische Variante des ovidschen Narzissmythos.544 Die Allegorese (k 40) lenkt die Erwartung vom selbstverschuldeten Narzissmus hin zu Dummheit und übermäßigem Verhalten des anderen Sängers, der sich mit dem geschrei[…] um lutzel […] (k 40,7) anmaßt, gegen zwei Gegner zu bestehen. Die Diffamierung des törichten yderman[s] (k 42,1), der nur sich selbst zum Gefallen singt, geschieht aus einer adversativen Position des meisterlichen Ichs heraus. Sie wird ganz körperlich in Szene gesetzt analog zum Sängerstreit des „Fürstenlobs“ im Rahmen des „Wartburgkrieg“-Komplexes. Dort heißt es in der Auseinandersetzung zwischen Heinrich von Ofterdingen und dem Tugendhaften Schreiber, ich beziehe mich auf die Fassung der Kolmarer Liederhandschrift: Ruprecht myn knecht / sol uwer hare glich den oren schern (k 8,15f.). Der Gegner wird dort und hier beleidigt mit der Drohung, die Haare durch den Knecht kurz scheren zu lassen bzw. diese selbst kurz zu scheren: ich schir dich ob den oren (k 41,4).545 Auch das Motiv des Rabenge542

Der Zorn Gottes ist nur in seiner Wirkung dem menschlichen Zorn ähnlich. Er ist affektfrei und als gerechte Strafe auf das Widerhandeln des Menschen dem göttlichen Gebot gegenüber zu verstehen. Zum biblischen Theologoumenon vom Zorn Gottes, der Darlegung der Traditionslinien, den Verstehensversuchen und zu einer Systematik der theologischen Erklärungen sei auf die umfassende Arbeit von Ralf Miggelbrink, Zorn Gottes (2000), verwiesen, hier S. 507. 543 Klaus Grubmüller, Meister Esopus (1977), S. 425. 544 Es sind vier Stufen der Wahrnehmung linearisiert: das sich selbst im Spiegel Wahrnehmen, das Lieben des eigenen Spiegelbildes, die Erkenntnis des Fehlens einer Gestalt: er sach hin in daz spiegelglasz, / da wond er, daz da nit enwas (k 39,13–15) und der Verlust der Freude sowie der Wahrnehmungsfähigkeit mit dem Zerbrechen des Spiegels. Zum Narzissmythos: Mythos Narziß (Renger 1999), Narcissus (Renger 2002), Narziß (Bittel 2002); vgl. bezogen auf das Narzisslied Heinrichs von Morungen Gert Kaiser, Narzißmotiv (1981); Christoph Huber, Narziß (1985); Klaus Speckenbach, Gattungsreflexionen (1986); Beate Kellner, Gewalt (1997), bes. S. 56ff., Alexandra Stein, spiegel (1998); Franziska Wenzel, Klage (2002). 545 Das Kurzscheren der Haare wurde als demütigende, entwürdigende Strafe eingesetzt; vgl. Der Sachsenspiegel, Bd. II,13 § 1; Schwabenspiegel, S. 307, s. auch Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Berlin 1956 [ND der Ausgabe Leipzig 1899], Bd. 1, S. 469; Ruth Schmidt-Wiegand, Art. „Haar“, in: HRG 1 (1971), Sp. 1880–1984, sowie dies., Art. „Haarscheren“, in: ebd.,

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krächz546 ist umgesetzt in der ironischen Rede vom meynsterliche[n] singen (hier k 41,9; k 41,8–12), dessen sich nur allzu viele meynster (k 41,14) rühmen. In der Quintessenz ist es die Selbsttäuschung (Narzissmythos), die entlarvt wird: Der Gesang ist weniger wert als der eines swyn[s] (k 41,17). Das meisterliche Ich behauptet die Geltung eigener Kunst in einer Welt der törichten Sänger, deren Geschrei ihn verdrießt (k 41,19). Mit den drei Themen Zunge, Welt und dumme Sänger wird nicht mehr nur der politische Notstand der Gesellschaft beklagt, sondern beklagt wird auch der Notstand der Sangeskunst. Die forcierte Lösung ist die einzig mögliche: ein Rückzug aus dem weltlichen Bereich von Klage und Mahnung und ein Einzug in den Raum der literarischen und biblischen Motive, hin zur Ostentation meisterlicher Klugheit, wie es in der Folge in k 42–55 mit den Themen Minne, Fabel, Rätsel und Sangeskunst geschieht. Mit diesem Wechsel geht auch der Wechsel der Redeform einher, von der Klage hin zu Rat, Lehre, dem Lob des klugen Gesangs und dies übersteigend dem Marienlob. Das Bar k 42–44 unter der Rubrik Ein anders von falscher mynne setzt zwar noch, den rhetorischen Modus der vorangehenden Bare aufgreifend, mit der Klage des Sängers ein (k 42), doch richtet sich die Klage auf ein Detail des gesellschaftlichen Missstandes, das immer auch für einen literarischen Seitenblick taugt. Der Gegenstand ist das Minneglück, dessen gegenwärtige Bedingungen für den Sänger weder erfüllbar noch ethisch akzeptabel sind, insofern es ihm am nötigen Besitz mangelt und die frauwen (V.7) sich moralisch kaum mehr integer verhalten (fluchen unde schelten, V.9). Falsche Minne und Besitz sind jenes Zweigespann, gegen das der Sänger klagt. Und wiederum ist es die Position der Inversion des rechten Verhaltens, aus der heraus der Rat des Spruchdichters gegenüber dem jungen Mann erfolgt: Das schlagende Beispiel für die falsche Minne ist mit dem Topos vom bösen wip (k 43) und dem gehörnten Mann (Reihe der Minnesklaven)547 anschaulich gemacht (k 44). Dadurch wird die Forderung einer auf der Differenz zwischen der reine[n] zarte[n] frauw[…] (k 43,6) und dem bose[n] wyp (k 43,7) basierenden klugen Entscheidung (ich ler dich einen […] clugen sin, k 43,1) legitimiert. Im Diskursnetz aristotelischer Rhetorik und scholastiSp. 1884–1887, sowie die literarischen Umsetzungen dieser Strafe in Strickers „Karl“, V.7175, sowie bei Werner der Gartenaere „Meier Helmbrecht“, V.1898–1900. Hierher gehört der Hinweis von Karl Stackmann, Heinrich von Mügeln (1958), S. 59, dass Heinrich von Mügeln in der Nachfolge Frauenlobs auf solche „Herausforderungsstrophen, mit denen man einen fingierten Kunstgegner zum Wettkampf reizt“ verzichtet habe. 546 Vgl. zu diesem Motiv Uwe Ruberg, Signifikante Vogelrufe (1981); Hans Messelken, Signifikanz von Rabe und Taube (1965); Grubmüller, Meister Esopus (1977), S. 242, Peter Strohschneider, Der Oberkrieg (2001), S. 487. 547 Die Reihe der Minnesklaven hat ihren Ursprung beim Gründungsvater des Menschengeschlechts, bei Adam. Darüber hinaus werden Samson, David, Absalom, Alexander, Vergil, Holofernes, Aristoteles, Konstantin, Parzival, Artus und Ismahel (vgl. zu diesem Namen und dem hier imaginierten Platz in der Reihe der Minnesklaven GA-S 2, S. 355). Siehe auch: Friedrich Maurer, Topos von den Minnesklaven (1963), S. 238–242; Rüdiger Schnell, Frauensklave und Minnesklave (1985); Andreas Vizkelety, Art. „Minnesklaven“, in: LCI 3 (1990), Sp. 269f.; Robert Schöller, Ismahel oder Asahel (2003).

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scher Bildung ist hier literarisch umgesetzt, was jedem Redner, der tadelt, lobt, rät, anklagt oder verteidigt, zu eigen sein sollte, nämlich die Fähigkeit, allgemeine Thesen über Mögliches und Unmögliches, über Gutes und Schlechtes, Schönes und Hässliches, Gerechtes und Ungerechtes, Größeres und Kleineres usf. so zu formulieren, dass sie überzeugen.548 Und ganz in diesem Sinne ist die Fabelreihe (k 45–47) konzipiert, deren drei – Äsop zugeschriebene – Fabeln im Sinne der ‚Belegfabel‘ jeweils einen Lehrsatz bestätigen.549 Die Fabel von der Krähe und ihren Kindern (k 45) stellt die Weitsichtigkeit der Kinder heraus, die die übliche Quantifikation des Erfahrungsschatzes zwischen Alt und Jung umkehrt mit der Begründung, dass der Verstand der Kinder – die Nähe zu Jesus Christus wird mit V.17 imaginiert – sündhaftes Verhalten eher erkennt als der der Eltern: die jungen vindent boser sund vil mere dann die alten (V.19).550 Die zweite Fabel von Hahn und Fuchs (k 46) führt die Klugheit des Hahns gegenüber dem Schmeichler und falschen Freund vor: so mag man wol falschen frunt mit clugheit uberwitzen (V.19).551 Die Fabel von Fuchs und Wolf im Brunnen kombiniert in dieser Version Narzissmotiv und Fuchslist.552 Erzählt wird von der narzisstischen Begierde des Fuchses, die ihn in einem Eimer in den Brunnen hinabfahren lässt und so gefangen setzt. Das Motiv der Kernfabel, dass nämlich die List des Fuchses den Wolf bewegt, sich im anderen Eimer hinab in den Brunnen zu lassen, ist hier mit der Rettung des Fuchses verbunden, zusammen mit dem Lehrsatz vom betrogenen Helden: also wirt noch manig stolzer helt betrogen von eym twerge (V.19). Die drei thematisch ganz unterschiedlichen Fabeln belegen mit ihrem je eigenen Lehrsatz sehr anschaulich den Sieg der Klugheit über Unwissenheit, Falschheit sowie Dummheit / Stärke und schließen diesbezüglich an den clugen sin (k 43,1) der vorangehenden Argumentation an; meynster (k 46,1) und wyser man (k 47,17) sind dabei jene Stichworte, die das Netzwerk des Meisterdiskurses in k dichter weben und es in der Aufmerksamkeit halten, wie disparat die Bare thematisch auch wirken. Mit einem Wettstreit, der in zwei Rätseln und deren Lösungen entfaltet ist, wird das Argumentieren in gegensätzlichen Positionen weiter ausgeführt, um in der Quintessenz das Singen als eine regulierte Form der Darbietung und Unterweisung vor Augen und in Frage zu stellen.553 Die Strophenfügung im Bar scheint hier als Umstand genutzt, um 548

Aristoteles, Rhetorik 1359b], 9.20–25. Grubmüller, Meister Esopus (1977), S. 425. 550 Dicke / Grubmüller, Fabeln (1987), Nr. 355: Krähe und ihre Kinder, S. 405. 551 Die bei Dicke / Grubmüller, Fabeln (1987), Nr. 187, gelistete Fabel von Fuchs und Hahn ist anderen Inhalts, zielt aber gleichfalls auf die List des Hahns gegenüber dem falschen Freund. 552 Dicke / Grubmüller, Fabeln (1987), Nr. 223, S. 264–267, nennen zwei Versionen der Fabel, bei der jeweils die Rettung des Fuchses durch die Dummheit des Wolfs / die List des Fuchses herbeigeführt wird. 553 Mit dem Dreier- und dem Fünferbar (k 48–50; k 51–55) wird ein Wettstreit inszeniert, der zwei Rätsel und ihre Lösungen sowie einen dem zweiten Rätsel vorausgehenden furwurff zusammenfügt. Der Hinweis im Supplement, GA-S 2, S. 128, auf die Zweiteilung des Bars in Furwurf und

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die Situation des Singens im Sinne von Fürwurf und Straflied darzustellen, einer Inszenierung streitender Meistersinger vor Merkern. Als Merkmale werden zunächst das wechselweise Präsentieren eines Liedes, die Zuhörerschaft als eine umfassende (edel herschaft, k 51,6; lute, k 51,7; gernde diet, k 51,8; junge / wyse, k 51,9) sowie der Preis, auf den sich alles richtet, herausgestellt. Dann werden die Kunstfertigkeit des Gesangs (k 52,6.10.17) und der Verweis auf die Klugheit als Ursache guten Singens (k 52,6.14) betont, ebenso wie die Reguliertheit des Gesangs durch die mercker (k 52,6) und zuletzt die lehrhafte Funktion für den höfischen und städtischen jungen Mann (k 52,16.19).554 Die Inszenierung der Wettstreitsituation mündet unmarkiert in eine Lehre für den jung man (k 53,1), die mit dem Gegensatz von Dummheit und Klugheit sowie Reden und Schweigen operiert und diese Differenz auf die Pole der Lehrsituation, auf den Jüngling und den Lehrer, auseinanderlegt. Wenn dann die dumme[n] hindercleffer (k 53,7.9.13)

Rätsel, wird durch die Rubrizierung gestützt, die zwei Teile unterscheidet: dis ist ein furwurff, daz ist ein reitzunge uffgesang. Das Rätsel vom griechischen Alphabet (k 48–50) imaginiert zweiundzwanzig Geschwister (Buchstaben) als ein griechisches Geschlecht, stellt dessen Herkunft, Funktion, kunst und list (k 48,18) sowie die über den Kaiser hinausreichende Macht aus und unterscheidet fünf Brüder von den anderen ob ihrer Redegewalt. Der Sprecher der Lösungsstrophe (k 49) rekurriert auf den Rätselsteller als kunstreiches Glied des Buchstabengeschlechts und betont die eigene Kunstfertigkeit mit der Lösung des Rätsels (k 49,11), indem er Redegewalt und Macht der fünf Vokale betont, von denen mindestens einer jedem gesprochenen oder gesungenen Wort zugrunde liegen muss. Mit der zweiten Lösungsstrophe, k 50, werden die zwanzig Buchstaben benannt und unterschieden, dazu das y und das z. Die fünf Vokale und ein schwacher Buchstabe, das h, werden von den anderen abgegrenzt. In k 51–55 wird erneut die Situation des Wettstreits als eine raumzeitlich exklusive Situation imaginiert (k 51,1–3), gestützt durch die Kampfmetaphorik (ringen, k 51,5; rechen, k 51,12; undertan, k 51,18), die weniger ausgeprägt als im „Warburgkrieg“Komplex erscheint. Zwar ist der Gesang preisorientiert, doch ist der Vortrag nicht vom Vorrang des besten Sängers her gedacht und auch nicht auf den Vorrang des besten Herrschers hin orientiert, sondern Ziel sind ein gutes liedel (k 51,12), hubscheit (k 51,19), prysz (k 51,5) und gerechtikeit (k 51,11). Ziel ist damit der rechte, den Regularien entsprechende Gesang, eine vom Meistergesang, dem Typ des Fürwurfs und Straflieds, hervorgerufene Veränderung gegenüber der Konstellation, wie sie etwa „Fürstenlob“ und „Rätselspiel“ in den frühen Überlieferungszeugen C und J bieten. Vgl. zur Aufführungspraxis der Meistersinger im Blick v. a. auf k Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied (2002), S. 488–494. Seine Überlegungen zum Gebrauch der Kolmarer Liederhandschrift im 16. Jahrhundert durch die Meistersinger zielen darauf, dass die in der Handschrift literarisierte Aufführungssituation als „Inszenierung der alten meisterkunst“ rezipiert worden sein könnte und stützen den Zweifel von Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 317– 319, am Realitätsgehalt der Wettstreitsituationen. Vgl. auch Baldzuhn, Wege ins Meisterlied (2002). 554 Zum Typus und seinen Facetten ausführlich Wachinger, Sängerkrieg (1973), S. 317f., der in diesem Wettstreittyp eine „Fortsetzung von Sängerkrieg und Polemik des 13. Jahrhunderts“ sieht, ebd., S. 318, und als neue Elemente den merker, im Sinne einer festen Institution, ebenso wie die Einbettung in einen ‚Aufführungsrahmen‘ betont, von dem jedoch wenig gewusst wird, ist doch das „Brauchtum“ literarisch deutlich überformt. Vgl. auch Nunnenbeck (Klesatschke 1984), S. 551–556.

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den rechten Sängern und ihrer Lehre von wys unde wort (k 53,5)555 entgegengesetzt werden, geschieht Gleiches mit der Situation der Dummheit, die wort- und bilderreich aufgebaut wird, und der die kunsteriche lere (k 53,19) des Sprechers gegenübertritt. Im Rahmen des inszenierten Wettstreits stellt das Sprecher-Ich das Rätsel vom fünfbeinigen Höhlentier mit den drei Augen (k 54). Der Sprecher fordert die Antwort und damit die Kunst des anderen heraus: er ge herfur, der zu gesange habe gunst. / hat er vernunst / uff ton und uff gedichte (V.1–3). Das traditionelle Motiv vom Rätselstellen ist in dieser Inszenierung forciert, sind doch alle auratischen Facetten des Rätselstellens erwähnt, das Versetzen an einen andere Ort, der Knoten, den es zu lösen gilt, das Verworrene und Verstrickte, hier sogar positiv überhöht im seidenen Strick (verstrickt in clare siden, V.6). Auratisch ist auch der Hinweis auf den doppelten Ursprungsort, denn das Tier wohnt in erden kruft (V.7), so fingiert es der Sprecher, und es ist gewissermaßen ein Produkt seiner Sinne oder seines Verstandes: daz jehent ym die synnne myn (V.14). Mit der Lösung des Rätsels (k 55), in der das Tier auf die vom Schöpfer aus der Erde gebrochene Seele bezogen ist, die fünf Sinne und drei Glaubensformen beherbergt, gehen eine Reihe starker Beleidigungen des Rätselstellers einher (verstandloses Kind, Nichts, Esel, Tor, Dummkopf, Narr, Klaffer, pflegebedürftiges Neugeborenes). Es ist eine im Rekurs auf das traditionelle Motiv des Wettstreits extrem durchgestaltete Strophe, in der die Fülle an Diffamierungen des Rätselstellers die literarische Überformung des Wettstreitens, und damit seine Inszeniertheit, betonen und den Blick auf den Gegenstand richten: Der Rätselsteller ist zwar in seiner Kunstfertigkeit diffamiert, doch die Seele als nun aktueller Gegenstand der Darstellung tritt umso deutlicher im Strophengefüge hervor; folgen doch fünf religiöse Bare, deren Verbund mit dem Vorangehenden durch das Stichwort der Seele signalisiert wird. Die Barrubrik betont den thematischen Wechsel und zugleich die Wiederholung des Themas im Corpusgefüge: Nu volget wyder geistlich gesang in dysem ton, funff liede die 13 liligen. Ein Marienlob wird vorgetragen (k 56–60), ein Lob der höchsten frauwe (k 56,3). Repetierend beginnt jede der fünf Strophen mit dem Lob Marias: maria, muter, lob und er (k 56,1. 57,1. 58,1); maria, muter, lop (k 59,1); maria, muter (k 60,1), bevor jeweils in einem narrativen Teil dreizehn heilsgeschichtliche Passagen (dreizehn Lilien) aus dem Leben Marias erinnert werden.556 Der durch die Wiederholung betonte 555

Auch die Folgestrophe verweist auf die beiden Seiten meisterlichen Kunstvermögens, auf den ton und uff gedichte (k 54,3); sicher ein Hinweis auf die perspektivische Verschiebung zum Meistergesang, bei dessen Aufführung inhaltlicher und formaler Aspekt bewertet werden. 556 Genannt werden die Reinheit der Seele bei der Verkündigung durch Daniel (k 56,13–17), himmlische Engel, die Maria begleiten (k 56,3–5), keusches Leben (k 56,7–12); Gruß des Engels (k 56,13–19), die jungfräuliche Geburt (k 57,3–6), Nährung des Kindes (k 57,7–11), Todesbotschaft des Engels (k 57,12–16), Marias Tod im Beisein der Apostel (k 58,1–11), Verleihung ewigen Lebens (k 58,12), Erlösung der Seelen durch Maria (k 58,13–19), Krönung Marias im Himmel (k 60,1–5), Herrschaft Marias in Gottes Reich (k 60,6), Belohnung mit erlösten Sündern (k 60,13– 19). Vgl. Mariologie (Courth 1991), S. 31, 33, 81 – zu Verkündigung, Geburt; S. 79, 127, 166 – zum Tod Marias und der Himmelsaufnahme; S. 185 – zur Heiligung Marias. Vgl. auch Kirchschlä-

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Lobpreis und das erinnernde Umkreisen des panegyrischen Gegenstandes zielen allein auf den pris ob allen frauwen (k 56,3). Das explizite Lob wird nicht in Szene gesetzt durch typische Marienbilder, wie sie aus der „Goldenen Schmiede“ und dem „Marienlob“ Frauenlobs vertraut sind; es sind die Taten Marias, die der Sprecher summarisch listet. Es ist eine Strophengruppe, die vom Darstellungsmodus her in einem narrativen Text, wohl als retardierende Passage, funktionieren würde. Hier jedoch, im Rahmen der lyrischen Gattung, festigt und verdichtet sich in der Wiederholung der semantische Gehalt, nämlich das (gereimte) Frauenlob.557 Im Leitbegriff frauwe (du hast bejeit / den pris ob allen frauwen, k 56f.) werden die künstlerischen Vollzugsformen Marien- und Frauenlob enggeführt, insofern das je anders konkretisierte Marienlob in der variierenden Wiederholung den Texttyp des Frauenlobs begründet. Das Lob Marias scheint jener Texttyp gewesen zu sein, der in idealer Weise den Namen Frauenlobs substituierte und deshalb wohl als Ausdruck des Frauenlobs verstanden wurde in der k-Überlieferung. Die Analogisierung der Texttypen im Leitbegriff der frauwe ist wohl ein Darstellungsmodus, der im Langen Ton von k geprüft wird, so möchte ich behaupten.558 Dem Marienlob folgt ein Mariengebet unter der Rubrik Aber drei von unser frauwen und von dem sunder.559 Wie im Eingang des Langen Tons sind es die Interferenzen ger, Art. „Jungfräulichkeit“ in: Marienlexikon III (1991), S. 465–468; Morsbach, Art. „Lactatio“, in: Marienlexikon III (1991), S. 702f. 557 Möglicherweise imaginiert eine solche Wiederholung des Lobens, die formal durch das anaphorische Verkettungsprinzip gestützt ist, eine emphatische Nähe zur Gottesmutter, die mit der Einzelstrophe nicht erreicht werden könnte. 558 Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 234, führt an einer Frauenpreisstrophe im Zarten Ton (VIII *19) einen vergleichbaren Analogischluss im Bezug zur Ojektebene vor: Im wip-Namen und in der Bezeichnung Marias als wip rücken Marien- und Frauenpreis zusammen. 559 Die erste Strophe k 61 ist zu C 31 und F 111 parallel überliefert und sie wird in k mit zwei weiteren Strophen als Barverbund geboten (k 61–63). Aus der Perspektive des Gebets (k 61) bittet der Sprecher Maria um ihren Beistand für die sündige Christenheit (V.19). Indem er Maria im Modus wiederholter Mahnung (ich man dich, V.2, 4, 7, 11, 14) an neutestamentliche Stationen der Menschwerdung erinnert (Verkündigung, V.2f.; Empfängnis, V.4–6; Geburt und Reinigung, V.7–10; Martyrium, V.11–13; Auferstehung sowie Maria Himmelfahrt, V.14–18), vergegenwärtigt er ihre Aufgabe im göttlichen Heilsplan. (Einschlägige Artikel zu diesen Stationen bietet das Marienlexikon.) Die Gebetsstrophe ist zugleich, durch den Kunstgriff der Wiederholung (ich mane dich), spruchmeisterliche Vergegenwärtigung heilsgeschichtlichen Wissens u. a. für den Rezipienten. k 62 erinnert V.1–5 den Kreuztod Christi und imaginiert anhand des Gegensatzes von körperlicher Gewalt und der Zartheit des Körpers die Härte des Martyriums. Im so möglich gewordenen Mitleiden liegt ein kathartischer Impuls: […] dez alle tag beweyne (V.6), der den Sünder zur Umkehr bewegen soll. Mit der anaphorischen Konstruktion der wiederholten Sündermahnung (sunder bewyne, V.6; sunder bedenck, V.7; sunder gedenck, V.10. 12); sunder hab ru, V.13) verdichten sich die Gedanken der Sündenabkehr und der Reue, bevor die Verheißung göttlichen Beistands die predigtanaloge Rede des Spruchdichter-Ichs beschließt. Wie in der ersten Strophe sind religiöse und literarische Rede vernetzt, doch dominiert der religiös ermahnende Gestus. In k 63 tritt das Spruchdichter-Ich in einer dem Priester adäquaten Rolle auf, indem es den Sünder auf die Kommunion vorbereitet. Die Ermahnungen sind strukturhomolog zur Erinnerungsformel der ersten Barstrophe gebaut. Ein du solt (V.7.10.13.14) bündelt die Ermahnung zu wahrem christlichen Leben, zum

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religiöser und literarischer Rede, heilsgeschichtlichen und rhetorischen Wissens, die einen meisterlichen Kunstanspruch stützen, der durch die imaginierte Nähe zu Maria als Gnadengabe inszeniert wird und so Rechtfertigung erfährt. Das Sprecher-Ich agiert im Spannungsbereich zwischen den Rollen des Betenden, des priesterlich Mahnenden und des Wissenden. Die Literarisierung des religiösen Themas im sich wiederholenden und verdichtenden Gestus der Ermahnung (Marias, k 61, des Sünders k 62f.) verschiebt das Thema in den praktischen Bereich der Reue. Zwar wird mit der Abkehr von irdischer Sünde und der Hinwendung zum göttlichen Gebot die Abkehr vom gesellschaftlichen Notstand und die Bestimmtheit des irdischen Seins gefeiert, dennoch bleibt das Sprecher-Ich in einer Position des Wissens und in der Situation des Lehrens und Mahnens (du solt; k 63,7.10.13.14). Diese Inszenierung einer autoritären Position in einem Umfeld sozial widriger Umstände stärkt gerade wegen des thematischen Wechsels und des anderen rhetorischen Registers den Wissens- und Unterweisungsanspruch des meisterlichen Ichs. Die Position wird fundiert durch ein nächstes, variant formuliertes Marienlob (k 64– 66), das stichworthaft auf eine Fülle biblischen Wissens rekurriert, angefangen von apokalyptischem Wissen (Apc 12,1) über die neun Engelschöre und die zwölf Jünger bis hin zu Marienbezeichnungen.560 Daneben wird das Marienlob über den menschlichen Verstand und über den meisterlichen Verstand, dieses zu durchsynnen (k 64,11), gesetzt, so dass das eigene Vermögen, so wie es für das zeitgenössische Marienlob typisch ist, als ein Unvermögen zurücktritt.561 Doch zugleich ist mit dem Hinweis auf die mediale Vielfalt des Lobs: von dir man liest, singt und seytt (k 64,14) auf das Potential der Darstellung marianischen Lobs verwiesen. Im Verbund der drei Lobstrophen und der danach folgenden mariologischen Bare wird dieses Potential mit dem Lob durch die Engel (k 65) und durch Gottvater selbst (k 66) in variierender Form ausgeschritten. Im Blick auf die explizit formulierte Aufgabe des Sprechers: Ich lob ein meit […] / von recht ich sol (k 64,1f.), die die Redeform des Lobens als Verpflichtung deklariert, kann Glauben an das Gotteswort, zur Nächstenliebe, zur Vergebung der Schuld auf dem Weg zu Kommunion und in ihrer Folge stehendem ewigen Heil. Zu den typischen Themen der Marienpredigt im 12./13. Jh. s. Costard / Schiewer, Art. „Predigten“, in: Marienlexikon 5 (1993), S. 297–310, hier S. 298–300. k 61 ist in k parallel zur ersten Strophe einer Vierergruppe überliefert (k 138–141), die ein Konglomerat dreier zweifach in k eingetragener Strophen mit einer singulär eingetragenen Strophe darstellt. 560 Solche Formen der Bildhaftigkeit sind aus der Mariendichtung vertraut; sie rekurrieren auf die typologische und allegorische Dingdeutung, wie sie sich in den Bibelkommentaren der Kirchenväter in deutschen und lateinischen Predigten finden, Grenzmann, Studien (1968), S. 117. Umfänglicher und allegorisch ausgeschritten zeigen sich solche Analogisierungen, etwa die Vergleiche Marias mit dem Licht, der Krone, der Rose, der Süße und den Sternen, in der „Goldenen Schmiede“ Konrads von Würzburg. Vgl. Grenzmann, Studien (1968), S. 117–121; siehe auch S. 86–90: Verweise auf die Tradition der marianischen Anreden in der mhd. Mariendichtung, sowie den Anhang II, S. 156–186: ein Beleghort für Marienbezeichnungen. 561 Bescheidenheits- und Unsagbarkeitstopoi liegen gerade im Eingang der „Goldenen Schmiede“ gehäuft vor (V. 10–15, 54–59, 74–93, 108–115).

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man sagen, dass hier die Profession des Lobens als Rechtsform etabliert wird. Die beiden Varianten des Marienlobs (Lob durch die Engel, Lob durch Gottvater) überschreiten dabei das konstatierte Unvermögen des Lobens durch den Meister und erzeugen eine Steigerung des Marienlobs, die sublim genug ist, um damit auch das Lob dessen zu steigern, dem die an Maria gerichtete Lobrede in den Mund gelegt ist.562 Darüber hinaus partizipiert das meisterliche Ich im Modus des Gebets (k 67–69) an Marias Gnade.563 Maria wird zur Inspirationsquelle der religiös ausgerichteten wahren Dichtung. Imaginiert ist ein Verfügen über das Spruchdichter-Ich: nym mich […] in din gewalt, heyss mir die warheyt schriben (k 67,12) und auch eine schöpferische Einheit mit ihr, die das authentische Potential des zu präsentierenden Wissens betont. Zudem wird eine Fülle bruchstückhaften, biblischen Wissens in unmittelbarer, Authentizität suggerierender Weise dargeboten, die die Wahrheit des Gesagten herausstellt (k 68).564 Die adäquate Rolle eines solchen transzendent (durch Maria) gestützten Redens (Dichtens) ist die priesterliche Rolle. Und so scheint es schlüssig, dass das Sprecher-Ich im Anschluss in Analogie zum Priesteramt imaginiert wird (k 70–72).565 Zunächst ist das dreistrophige Gebet auf den Sprecher hin orientiert (k 70); es ist Ausweis seines biblischen Wissens und es zielt auf die Gewährung göttlicher Barmherzigkeit und Gnade durch die Kommunion (k 70,7–12: herbarme dich, almechtig kung, der mich geschuff / […] / din einige genad hat mir din süsses fleisch gewiheit / but mir daz lebendige brot, daz mir genad herbiete). Mit der zweiten566 und der dritten Strophe bindet das Ich ein uns bzw. wir (k 71,4.5.6; k 72,2.11.12.14.16.17.18.19) in sein Gebet 562

Dargestellt und erinnert wird in k 65 ein Marienlob der Engel, Erzengel und Apostel und in k 66 ein Marienlob des Heiligen Geistes. Die Liebe Gottes und des Sohnes ist die höchste Form des Marienlobs, ist sie doch unausgesprochen und körperlich zu denken, wenn es heißt: das het er [Gottvater] liep in hertzen dich […] (k 66,5) und der son, der het dich liep […], er nam von dir / menschlich natur besunder (k 66,7–9). 563 Das Bar ist rubriziert als von unser frauwen und im Eingang des Langen Tons (k 7–9) parallel überliefert. 564 Zunächst werden in k 68 Kreuzigung, Schändung durch die Juden, Grablegung und Auferstehung punktuell erinnert, wobei zweimalige direkte Rede der schändenden Juden und eine präsentisch formulierte Bitte an Josef die Authentizität des erinnerten Geschehens steigert und damit auch den Wahrheitsanspruch des meisterlichen Sprechers bestätigt. Die an Josef gerichtete Bitte (V.13: „Nu hilff, Josepf, daz man yn trage hin zu dem grap!“) lässt sowohl zu, sie als erinnerte Bitte Marias als auch als Inszenierung einer imaginierten Teilhabe des Sprecher-Ichs an der Kreuzigung zu lesen, womit der Authentizitätsanspruch durch die Augen- und Ohrenzeugenschaft erhöht wäre. Mit k 69 wird Maria in ihrer Mittlerfunktion zwischen Engel und Teufel, zwischen dem Reich Gottes und der Hölle inszeniert. Zugleich insistiert die Darstellung auf einer Abhängigkeit des orientierungsfreien Sprechers (ich bin wild, V.2) von mariologischer Lenkung. 565 Das „Gebet zur Transsubstantiation“ k 70, das in J (J 24) und sechs weiteren Handschriften parallel überliefert ist, wird nur in k unter der Rubrik Ein anders ein bette zu got mit zwei weiteren Strophen zusammen geboten. Vgl. Wenzel, Meisterschaft (2007), S. 318–333; Vgl. die Interpretation von J 24, Kapitel II.2.5. 566 Diese Strophe ist im Langen Ton ein zweites Mal überliefert als erste Strophe eines dreistrophigen Mariengebets (k 107–109); s. 1Frau/2/501c.

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ein und spricht so in Vertretung der sündhaften Christenheit. Dieser gnomische Gestus, der auf der Ebene religiöser Rede dem Priesteramt adäquat funktioniert, verstärkt sich mit dem Fortschreiten des Gebets: Der Spruchdichter vermittelt zwischen Gottvater, Maria und der Christenheit, und er ist durch ein Wissensplus legitimiert, das ihn in der Inszenierung der Strophen vor dem betenden Laien auszeichnet. Diese Figuration wird in einem Eucharistie-Bild aufgebaut: sit ich dich, got, hie schauwen / kund tegelich uff dem altar, clar, gantz und unverhauwen, / wann du dich birgest in eyn brot in manges priesters hende (k 71,10–12). Mit der Anwesenheit des Sprechers bei diesem sich täglich wiederholenden religiösen Akt wird die Unmittelbarkeit der Wandlung imaginiert. Zugleich ist damit das präsentierte Wissen des Sprechers durch Autopsie bestätigt. Das Wissensplus, als Summenbildung anschaulich in k 72, reicht vom Martyrium, über Christi Höllenfahrt, Nährung durch die Jungfrau bis zur Geburt und zurück zum Opfertod sowie dessen Folgen für die Christenheit. Weil das Sprecher-Ich um die Sündhaftigkeit des Sünders und die Barmherzigkeit Gottes weiß, kann es Gott bitten, von seinem (gerechten) Zorn (k 72,1) abzulassen.567 Und weil das Sprecher-Ich von den Heilszusammenhängen Kenntnis hat, vermag es im Namen der sündigen Christenheit zu sprechen. Der Meisterschaftsanspruch ruht in der Quintessenz auf der Imagination liturgischen und biblischen Wissens im Rahmen der priestergleichen Unterweisung, so dass – und das ist typisch für k – lehrhafte und mahnende Rede nicht zu unterscheiden sind.568 Eine Ausnahme im Strophengefüge des Langen Tons stellt das dann folgende Fünferbar k 73–77 dar, für das Ton- und Textautor explizit geschieden werden: Ein anders in dyssem, von Hans Gernspeck ein ewig wort. Die Rubrik ist damit einerseits ein Ausweis der Kontinuität des Tons bei möglicherweise wechselndem Textautor und andererseits ein Hinweis auf die im Ermessen der Schreiber und Rubrikatoren liegende Ordnungsleistung, bezogen auf das Strophencorpus. Die hier literarisierte Johannesvision präsentiert ein Spektrum biblischen Heilswissens, das von der Legitimation der Johannesvision durch die Kopräsenz von Trinität, Maria und Johannes im himmlischen Thron (k 73) über den Engelsturz, die Krönung Marias an Gottes Seite (k 74), Verkündigung und Erwählung Marias (k 74) und das Jüngste Gericht (k 75) bis zur Differenz von ewigem Heil und ewiger Pein (k 77) reicht. Die erinnerte, literarisierte Visionenreihe mündet in die Bitte um ewiges Heil und stellt das gesprochenen (Dichter-)Wort besonders aus: des bit ich dich […] mit worten so behende (k 77,19). Dass das gesprochene Wort thematisch geworden ist, darauf verweisen das rahmende Stichwort: ein wort (k 73,1) / mit worten (k 77,19), seine interne Wiederholung k 75,1. 14 und die Rubrik: […] ein ewig wort ebenso wie die thematische Lenkung. Es geht um das mit Gott seiende ewige Wort (k 73,1), den dreifachen Namen (k 73,8), das gesandte und verkündete Wort 567

Zum gerechten Zorn Gottes vgl. Renate Brandscheidt, Art. „Zorn Gottes“, in: LThK3 10 (2001), Sp. 1489–1490, hier Sp. 1490; vgl. auch Miggelbrink, Zorn Gottes (2000). 568 Zum Amt des Priester zwischen Konsekrationsgewalt, Predigtpflicht, Taufe und den Besonderheiten der Amtseignung vgl. Angenendt, Geschichte (2004), S. 440–450.

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(k 75,1–11), das inkorporierte und menschgewordene Wort (k 75,13f.) und um die Sicherung des Dargestellten durch die beglaubigten Worte des Visionärs sowie die fixierten Worte der wahren Schrift (k 73,2f., 10; k 74,18).569 Das heilsgeschichtliche, gesprochene und menschgewordene ewige Wort begründet in schlagkräftiger Weise das Wort des Spruchdichters und fungiert so unbedingt als dessen Rechtfertigung.570 Die Beständigkeit der meisterlichen Kunst ist bereits mit der rubrizierten und also rezeptiven Zuschreibung als gedichtetes ewig wort der anerkanntermaßen zentrale Anspruch. Und so ist wohl die dem Meisterschaftsanspruch dienende Gestaltung biblischen Wissens einer der Gründe, der für die Aufnahme dieses Bars ins Toncorpus gesorgt hat, eben um dem meisterlichen Wort im Langen Ton von k erneut Autorität zuzuweisen. Ruht das Augenmerk beim meisterlichen Wort, dann auch gleich beim Vermögen, überzeugend zu argumentieren. Im Sinne aristotelischer Rhetorik sind anthropologische Grundaussagen und die Kenntnis der Affektzustände Maßgaben überzeugender Rede.571 Nur der, der Affekte auf ihre physiologische und situative Basis zurückführen kann, der ihre Ursachen zu erkennen vermag, ist auch in der Lage, sie zu relationieren. Die drei Strophen k 78–80, rubriziert als ein anders in dysem tone von dem tode, bieten hierfür ein anschauliches Beispiel.572 Das Vermögen überzeugender Argumentation wird nicht etwa reflexiv ausgeschritten, es wird beleghaft entfaltet: Eine affektive Weltklage und der vanitas-Gedanke (k 78f.) verdeutlichen, dass Affekte und seelische Zustände eine schwer zu handhabende Seite menschlicher Verhaltensdisposition sind.573 Und weil das so ist, werden zwei der zentralen menschlichen Affektlagen, Trauer und Liebe, moralisch bewertet (k 80): Nieman sol sines leydes gar zu trurig wesen (V.1). Aufs Ganze 569

Die Wahrheit des Gesagten versteht sich beinahe von selbst durch die Präsenz des Wortes als erstem Gegenstand des Johannesevangeliums Io 1,1: In principio erat Verbum und sie versteht sich mit dem Motiv des Visionärs immer wieder durch die Autorität der Augen- bzw. Ohrenzeugenschaft desjenigen, der in die Geheimnisse der Trinität eingeweiht ist. 570 Vgl. die Belegstellen zum Wort der Dreifaltigkeit bei Kern, Trinität (1971), S. 175–183. 571 Aristoteles, Rhetorik 1359b], 1378a]. 572 Die drei Strophen des Bars haben in der Weimarer Liederhandschrift F ihre Parallelen, aber in anderer Reihenfolge (k 78 = F 105, k 79 = 106, k 80 = 104). In F sind die drei Strophen Teil zweier aufeinanderfolgender Strophengruppen: Anders als in der Kolmarer Meisterliederhandschrift folgen F 105 und 106 als Strophenpaar F 104, der letzten Strophe einer Vierergruppe; vgl. die Analyse der Parallelüberlieferungen, Kapitel IV.9. 573 k 78 ist eine Weltklage, die abhängig vom Verlust der herausragenden Herrscher gestaltet ist: Dem Verlust von Hof und Kurie (V.6) stehen der Tod der lobenswerten Päpste (V.7f.) und Kaiser (V.9– 11) zur Seite. Ein Untergangs-Szenario, das zugleich auch den Untergang des Lobs zu beklagen scheint: sit es nu allez undergat, / daz nu die welt zu loben hat (V.13f.) und auf eine Ermahnung der Herrschenden zielt, sich nicht an weltlichem Falsch (yren list, V.19) zu orientieren. Mit der anaphorischen clag-Kette (k 79,1,3,6,7,10), mit der der Tod von Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden und der eigene Tod imaginiert werden, verstärkt sich die affektive Spruchdichterklage (owe, V.9) und mündet in das Postulat der angeborenen Unausweichlichkeit des Todes (daz ist ein angeborenes leit, […], V.19). Darin liegt möglicherweise die Einsicht zur positiven Einstellung gegenüber dem irdischen Sein, wenn es im Modus der Frage lautet: ach, wess betrub ich mich dorch icht? (V.17).

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gesehen verkehren sich zu große Trauer, zu großes Leid, zu großes Glück und übermäßige Liebe in ihr Gegenteil (V.1–11). Weil Affekte immer eine Kehrseite appräsentieren und ein Kippphänomen darstellen, wird die mâze als Regulativ eingeführt (V.11, 12, 14, 16, 17, 19). So sind denn Glück und Unglück bzw. Leid und Liebe durch das rechte Maß als ursprung der tugend (V.19) auszuwiegen.574 Es ist das rechte Maß in allen Dingen und Handlungen, das im Angesicht der Unausweichlichkeit des Todes als lohnenswerter Gegenstand mahnend lehrender Rede und des meisterlichen Preises (pryss, V.8) ausgewiesen wird. Möglicherweise aus diesem Grund schließt mit k 81–83 ein Bar zu Ehren der Eltern an: Ein ander bar zu eren vater und muter. Die mit dem Für und Wider, der Demonstration des Guten und seiner Kehrseite typische argumentative Konstruktion des Langen Tons in k greift auch hier, denn die zweite Strophe ist eine Demonstration dessen, was nicht sein soll. Sie ist ein Negativexempel, das das Verhalten wider den Vater und die Treue der Mutter listet und in biblischer Weitsicht zugleich auf die Folgen dieses Fehlverhaltens verweist (des vatters zorn / des kindes art herwecket, / wann ers mit worten schrecket / um sin untzucht […] k 82,2–5). Der Interdiskurs für diese Stelle scheint mir eine Passage aus dem sogenannten „Rätselspiel“ des „Wartburgkrieg“-Komplexes zu sein, und zwar das sowohl in der Heidelberger Liederhandschrift (im Schwarzen Ton, C 26–32) als auch in der Kolmarer Meisterliederhandschrift (im Klingsor-Corpus, k 89– 99) überlieferte „Rätsel vom schlafenden Kind“, in welchem Klingsor Wolfram ein allegorisches Rätsel stellt. Erzählt wird vom Versuch eines Vaters, sein am Seedamm schlafendes Kind vor den Fluten zu retten. Wolfram löst dieses Rätsel und deutet den Schlaf des Kindes als Sündenschlaf575 und den Zorn des Vaters als gerechten Zorn Gottes.576

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Zur Affektsprache, Beherrschung und Disziplinierung der Affekte arbeitet Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 100–106 und 118–126, die Leitdifferenz der Innen-Außen-Relation für die Verhaltenssteuerung heraus. „Der Affekt ist [vor Frauenlob] tolerabel, wenn er sich nicht in der unwillkürlichen geb#rde verrät […].“ Tritt der Affekt in den Raum der Sichtbarkeit ein, untersteht er dem Disziplinierungsgebot. Die Affektdebatte im Langen Ton von k orientiert das Verhalten weniger an der Notwendigkeit, Affekte zu disziplinieren, als vielmehr an der Notwendigkeit ihrer Relationierung. Die Kultivierung des ‚Wilden‘ steht nicht im Vordergrund und damit auch keine pejorative Bewertung der Affekte, da der Affekt als Kehrseite regulierten Verhaltens anerkannt ist. Im Vordergrund stehen der produktive Umgang mit den Affektextremen und damit die Erkenntnis ihrer Ursachen und die Rückführung auf situative und physiologische Dispositionen. 575 Zum Sündenschlaf s. Mc 14, vgl. das dreimalige Gebot Christi, seine Jünger mögen mit ihm wachen und beten, hierzu Justine Thüner, Art. „Ölberg“, in: LCI 3 (1971), Sp. 342–349; zur eschatologischen Deutung des Schlafs als Sünde und Heilsversäumnis vgl. Erika Dinkler v. Schubert, Art. „Schlaf“, in: LCI 4 (1972), Sp. 72–75. Dass der Sündenschlaf erst mit dem Sündenfall in die Welt kam, ist bei Rumelant belegt, s. 1Rum/11/2. 576 Die biblische Rede vom Zorn Gottes wurde von den Kirchenvätern und der Scholastik als gerechte Strafe gedeutet, s. Brandscheidt, Art. „Zorn Gottes“ (wie Anm. 567). Der Zorn ist literarisiert als gerechte Strafe, als Reaktion Gottes auf das Fehlverhalten des Sünders, das in den Vergeltungs-

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Beide Motive spielen in k 82 eine Rolle und motivieren die Übertragung des 3. Gebots auf die Relation von irdischem Sünder und göttlichem Vater. Das konnotierte Motiv des Sündenschlafs verweist auf die Verstocktheit des Sünders und das Nicht-HörenWollen der göttlichen Worte: Dem Sünder ist es auf seinem Weg der Abkehr unmöglich, die eigene Sündhaftigkeit zu erkennen.577 Mit der Abkehr des Sünders von Gott, die mit der Abkehr Gottes vom Sünder korrespondiert: der also tut, der inwisset daz, / daz ym got selber ist gehass, V.14f., ist auf die genuine Sündhaftigkeit des Menschen (Gn 6,5. 8,21) verwiesen.578 Die semantische Dichte von unzucht, schanden, lugen, uneren und laster (V.5, 12, 15, 16, 18, 19) intensiviert das Negativexempel falschen Verhaltens und damit ist die Notwendigkeit sofortiger Umkehr assoziiert. So wird denn, in kausallogischer Konsequenz, das rechte tugendhafte Verhalten betont (k 83) und in sich wiederholenden Passagen (V.1–4, 7–12, 13–18) als ein heilssicherndes Verhalten gefeiert. Durch das Stichwort vatter (k 83,18; k 84,3) und die dahinter stehenden Idee des rechten, damit ehr- und preisenden Verhaltens ergibt sich eine schmale Brücke vom dritten Gebot zur Präsentation biblischer Wissensfülle von den 17 Wundern Gottes (k 84–86).579 Es sind nun vor allem narrative Passagen, die das Wissen von den Wunschlägen des Vaters zum Ausdruck gebracht ist. Vgl. auch Günther Bornkamm, Die Offenbarung des Zornes Gottes (61966); auch Miggelbrink, Zorn Gottes (2000), S. 512, 528–530. 577 Vgl. Renate Brandscheidt, Art. „Verstocktheit, Verstockung“, I. Biblisch-theologisch, in: LThK3 10 (2001), Sp. 733–734. 578 In inverser Form zur menschlichen Affektlage sind göttlicher Zorn und göttlicher Hass Regulative menschlicher Tugend. 579 Zu den Wundern zählen: 1. Maria als Tochter, Mutter und gekrönte Königin (k 84 bietet Bilder und Beiworte Mariens: Licht [V.7], Brunnen der Gnade [V.9], Spiegel der Wonnen [V.10f.], Ort des Trostet [V.12], Fass der Gnade [V.13]; sie imaginieren die Göttlichkeit der Mutter, ihr umfassendes Moment, die andere Seite des göttlichen Vaters und den in ihrer Person funktionalisierten Weg zum ewigen Heil. Einzusehen im Motivkatalog bei Salzer, Beiworte [1964]); 2. die schmerzfreie Jungfrauengeburt (k 85); 3. Erschaffung der Erde, des Himmels, des Firmaments, des Meeres, der Tiere (k 85) – das hier skizzierte Weltbild ist stichworthaft summarisch und willkürlich. Nicht die Darstellung eines einheitlichen Weltbildes, sondern allein die Nennung geografischer, geologischer, meterologischer Facetten der göttlichen Schöpfung, mit denen sich eine Fülle des eigenen Wissens imaginieren lässt, spielen eine Rolle, ist doch jedes Detail der göttlichen Schöpfung in seiner Größe unübertroffen [k 88,15–19]. (Vgl. zum mittelalterlichen Weltbild die Literaturangaben in Anm. 528); 4. dreieiniger allgegenwärtiger Gott (k 86); 5. Individualität der Menschen (k 87); 6. Gott als Schöpfer aller irdischen und himmlischen Dinge (k 88); 7. Tierwelt und Meerwunder (k 89) – die Geschichte vom Ursprung der Meerwunder erzählt vom Ungehorsam zweier Adamstöchter, die von einer verbotenen Wurzel essen, missgestaltete Kinder gebären, sie ins Meer versenken, um ihre Vergehen vor dem Vater zu verbergen. Diese Geschichte ist u. a. im „Hort von der Astronomie“ literarisiert, einem Strophengefüge, das fünffach in drei Fassungen, einer Kurzfassung MR mit 33/32 Strophen, einer Langfassung NW mit 62 Strophen und der Fassung der Kolmarer Liederhandschrift im Schwarzen Ton mit 66 Strophen überliefert ist. Vgl. dazu Wachinger, Art. „Wartburgkrieg“ [wie Anm. 25]. Zur Konkordanz der fünf Überlieferungen vgl. RSM, Bd. 5, S. 324. Andere Literarisierungen des Ungehorsams der Adamstöchter als dem Ursprung der Meerwunder finden sich in der „Wiener Genesis“ 644–660, im „Lucidarius“ 1,55, im „Parzival“ 518,1–

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dern Gottes vulgarisiert und verkürzt bieten und in denen zugleich die Unmöglichkeit einer umfassenden, ausschöpfenden Darstellung durch die schriber (k 86,14) betont ist (etwa k 86,13–18). Mehr als bislang wird das präsentierte Wissen von Kommentaren und Wertungen des Sprechers unterbrochen, denen die autoritäre Betonung der ersten Person als sprechender Person zur Seite gestellt ist, etwa: ich sprich selber […] (k 86,1). Der dahinter stehende Anspruch, nicht als poeta doctus, eher im Sinne eines eigenständigen Meisters über theologisches Wissen zu verfügen, tritt deutlich zutage, wenn der Sprecher ein Münster mit tausend Altären und ebenso vielen Priestern imaginiert, deren yglicher […] hept gantzen got (k 68,11), um so das Wunder göttlicher Allgegenwart anschaulich auszudrücken. Die Erzählerrolle und die Rolle des Gnomikers sind miteinander verwoben: Der, der erzählt, ist der, der weiß und der, der weiter spricht (k 84,15f.: nu sprich ich daz / hie furebas:). Der, der erzählt, ist auch der, der etwas imaginiert und der etwas deutet (k 86,7f.: eyn munster gross, da werent tusent altar ynn, / nach mynem synn; k 87,1: Die gottes wunder wil ich euch betuten bass). Der, der erzählt, ist aber vor allem einer, der sich erkennend um das Wissen bemüht: was ich von gottz wunder sprich, / daz han ich underwunden mich (k 88,13f.) und der sein Wissen für sein Publikum aufbereitet: der gottes wunder wil ich uch herzeugen vil (k 90,1). Mit der Imagination des Jüngsten Gerichts: man sicht (k 92,3. 5) wird dann der Weg für die Aufforderung zu Reue, Buße und christlichem Leben gebahnt. Wie mir scheint, ist es neben der Fülle biblischen und theologischen Wissens gerade die Imaginationsform der ‚Betroffenheit‘, die im Duktus priesterlicher Ermahnung der Forderung, die sechs Werke der Barmherzigkeit (Mt 25,35–46) um des eigenen Seelenheils willen umzusetzen, Vorschub leistet: (k 92,10–12: die nacketen tunt cleyden, / ez unde drenck und but ins wol trost, vangen, die beyden. / besyh krang lut. volg nach der lych, so lepstu wol in witzen).580 Priesterlich mahnendes Wort, gnomische Wissenspräsentation und christliches Gebet sind kaum geschieden. Sie fallen als drei Ebenen der Rede zusammen, und sie sind die Antwort auf eine Verschiebung im Aufgabenbereich meisterlicher Dichtung, die mit k zum Tragen kommt. Meisterliche Dichtung im Texttyp des Marien-/Frauenlobs ist v. a. wissendes mahnendes Gebet, das als Ziel der Unterweisung Anteilnahme, Betroffenheit und Verhaltensänderung im Sinne einer intensivierten Frömmigkeit erwarten lässt. Die Rolle des Sprecher-Ichs ist spiritualisiert, aber nicht so, dass die säkulare Rolle wegfiele oder überschritten wäre, eher so, dass das spirituelle Gewand durchsichtig bleibt auf ein Meisterethos, dessen literarische Leistungsfähigkeit in der Engführung rhetorisch poetischer, liturgischer und frömmigkeitspraktischer Facetten besteht. So wechseln sich denn die Selbstdarstellung in der Rolle eines zur Exegese befähigten Meisters mit der Rolle 30, im „Reinfried von Braunschweig“, V.19710–19735. Siehe dazu Roy Wisbey, Wunder (1974); 8. Jüngstes Gericht [Ioel 4,2; Apc 1,16, 8,1–7] (k 90–92). Vgl. zur Motivik des Jüngsten Gerichts GA-S 2, S. 383: Str. 7, V.115–171; S. 384: Str. 8, V.139. 142–145. 580 Bei Matthäus ist es die Hilfe gegenüber dem Obdachlosen, hier ist die Rede vom letzten Geleit, vgl. GA-S 2, S. 384: Str. 9, V.164.

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des mahnenden priesterlichen Begleiters und der Rolle des betenden, flehenden Bittstellers vor den göttlichen Instanzen ab: die gottes wunder wil ich uch betuten bass (V.87,1); die guten werck solt ir nit sparn (k 92,14); got behut uns vor der helle swarn / Maria, gottz muter rein, hilff ewig freud besitzen, / Amen (k 92,17–19). Wollte man nach etwa der Hälfte der Strophen eine Zäsur setzen, ist eines recht deutlich, dass die Argumentationen immer wieder im Marienlob kulminieren und zuletzt auf die Heilssicherung der christlichen Gemeinschaft hinauslaufen. Auch wenn sich hier die Typik religiöser Spruchdichtung niederschlägt, so doch, um dem Meisterschaftsverständnis im Rahmen der späten Überlieferung Kontur zu verleihen. In der Regel stützt und legitimiert das Marienlob das meisterliche Vermögen, zu preisen, zu mahnen, zu belehren und zu beraten. Mit dem Erzählen, Singen, Sprechen, Deuten, Imaginieren stehen verschiedene poetische Techniken zur Verfügung, die der Rollenpluralität zur Seite treten. Gebet, Unterweisung, Lehre und Mahnung bieten typische Spruchformen im Sinne einer Hohlform, die stofflich und thematisch gefüllt werden kann. Hierbei erweist sich, dass die Fülle vorhandener Stoffe punktuell oder repetitiv ausgefaltet ist, wohl zuweilen auch nur, um Bareinheiten aufzufüllen. So unbefriedigend eine solche Darstellung auch sein mag, Telos bleiben Präsentation und Betonung meisterlicher Techniken. Der für den Langen Ton in k wohl typische Doppelanspruch ist in der Folge (k 93–95)581 als Einheit von Marienlob und Sängerlob zu greifen.582 Während der drei Lobstrophen wird rasch klar, dass die klassische und auch hier eingesetzte Beteuerung der Unmöglichkeit eines umfassenden Lobs überschritten wird in der Verschiebung zum Marienlob durch die himmlischen Instanzen (Engel, Gottvater, Gottsohn). Diese Verschiebung im Rahmen der Barform ist zugleich ein Übertreffen des ersten Lobs, so dass die meisterliche Strategie des Überbietens auch hier greift. Den Anschluss leisten zwei dem Typus des Sängerstreits entsprechende, gleichermaßen auf Überbietung zielende Herausforderungsstrophen, die mit einer Unterweisung des Jünglings und einem Rätsel mit Lösung durch einen zweiten Sprecher zum Bar zusammengebunden sind (k 96–100).583 Mit diesem Streit werden das kluge Argumen581

k 93–95 ist rubriziert als Dru lied in dysem ton von unser frauwen. S. o. die Analyse zum parallel überlieferten Bar k 64–66. 582 Auch wenn die Verschränkung von Marienlob und Meisterschaftsanspruch für die „Goldene Schmiede“ erhoben wurde (Kellner, Meisterschaft [2009]), so ist mit dieser Parallele und dem Wechsel zum tongebundenen Spruch die Eigenheit der Fügung in k trotz der Übereinstimmungen deutlich: In k 93 ist Maria der lobenswerte Gegenstand der Spruchdichtung; die Darstellung wechselt zum direkt adressierten Lob Marias, wie es die „Goldene Schmiede“ vorprägt. Doch bei Konrad ist es der intime Dialog zwischen dem Dichter und der Mutter Gottes, der zu Ehren ein Marienlob ins Wort gebracht werden soll; in k hingegen sind das Sprechen über und das Spechen zu Maria sowie der Blick Dritter (andere Sänger, Hörer) Gegenstand der Darstellung. Die wertende Instanz ist dem Loben zur Seite gestellt, so dass sich unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand und das Lob miteinander verschränken. 583 k 96–100 = k 51–55.

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tieren und Deuten als zentrale poetische Techniken des Wettstreits um den Vorrang wyser kunst (k 97,10.14) markiert: Eine solche Kunst, hier als Wort und Gesang ausgewiesen (k 97,1: Wil singen, sprechen ymant horn, der synne her), muss sich behaupten gegen den gegnerischen Gesang, gegen musikalische Darbietungsformen (k 97,7–12) und gegen die Missachtung der Gesangeskunst durch die jungen Leute (k 97,13–19).584 Wenn dann heilsgeschichtliches Wissen um den Hort der Dreifaltigkeit (hort: k 101,1, 5, 7, 11) auratisiert geboten wird, ist der thematische Bruch mit dem Vorangehenden ein nur oberflächlicher, denn Gegenstand des dreifaltigen Geheimnisses (k 101f.) ist das gesprochene Wort. Es wird nur wenig erzählt, der Gegenstand ist nicht zu begreifen (k 101,19: wer gotlich werck dorchsynnen wil, den han ich vor ein affen).585 Doch lässt sich verfolgen, dass das trinitarische Wort auf seinen Kerngedanken, die aus der Liebe geborene Menschwerdung des Wortes, hin orientiert wird. Zunächst verdrängt die vielfache Wiederholung des Begriffs in der zweiten Strophe (wort, V.5, 7, 9, 11, 14, 17) jede weitere Information, so dass die dreifaltige und paradoxe Verflechtung mit und durch das Wort in die Aufmerksamkeit tritt. Die Erzählung des Visionärs (k 103) setzt dann das exponierte Wunder narrativ um: Erzählt wird vom Weg des göttlichen Wortes, den es durch Maria hindurch in die menschgewordene Gestalt nimmt. Der Vorgang bleibt während des Erzählens im Bereich des Wunderbaren, wenn vom fehlenden Anfang der geistigen Minne in Gott gesprochen wird und vom Wort, das erstrahlend den Himmel erhellt, um der irdischen Sündhaftigkeit zu begegnen; wenn davon gesprochen wird, dass das Wort Maria umfließt und es von der göttlichen Minne gezwungen wird, menschliche Gestalt anzunehmen (V.17f.). Auch wenn also gotlich werck (k 101,19) für den irdischen Sänger nicht zu dorchsynnen ist, ist mit Johannes als Vertreterfigur ein Modus gefunden, um das Geheimnis des Wortes und dessen Wirkung dennoch auszusprechen. Durch die Widergabe der offenbarten Worte des Johannes, der Adaptation seiner Augenzeugenschaft für die eigenen Zwecke, werden die gottes wunder (k 103,1) darstellbar: er sach das wort usz der gotheit clar zu der meide fliessen (k 103,12). Sie werden vom Sprecher-Ich auch situativ bearbeitet, insofern der Zeitbezug und die Sündhaftigkeit sowie die Heilssicherung mitgedacht werden. Das geheime, nicht ergründbare Wissen wird, man kann sagen bereits topisch für k, pragmatisch gewendet, denn das Bar zielt auf die Vergebung der Sünden im Vorgang der Eucharistie: daz wort sie wirdeclich gebar, daz sol wir all geniessen (k 103,19). Mir scheint auch hier ein unausgesprochenes Selbstlob vorzuliegen, weil es letztendlich die Rede des Spruchdichters ist, durch die sich das göttliche Wort entäußert. Maria ist das Stichwort, durch das eine assoziative Brücke zu den nächsten zwei Baren geschlagen wird. Ein solches Vorgehen der Vernetzung durch eine Stichwortkette 584

Das Rätsel vom Tier mit den fünf Beinen und drei Augen, das ausgelegt wird auf die fünf Sinne, Christen, Juden und Heiden (k 99f.) beschließt den Streit, bevor, reaktiv wie schon an der Parallelstelle, das Thema in den religiösen Bereich verschoben wird (k 101–103). 585 Die Berufung auf Priesterwort (k 101,12) und biblische Schrift (k 101,2–4.14) autorisieren das Wissen und das über dieses Wissen verfügende Sprecher-Ich.

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ist mir vor allem in der narrativen Spruchdichtung begegnet, wie sie für k durch „Zabulons Buch“ repräsentiert wird. Auch dort scheinen die Strophen thematisch disparat, doch eben jene Stichwortketten knüpfen eine textuelle Einheit, die sich analysieren lässt.586 Dass das künstlerische Unvermögen und die Unmöglichkeit einer vollständigen Darstellung betont werden (k 104.6; k 108,1; k 109,12), hat wenig Aussagekraft. Als rhetorische Form treten diese Aussagen hinter die Wiederholung des immergleichen Lobes zurück. Topisch im Marienlob k 104–106587 und k 107–109588 sind die Lichtmetaphorik, die allegorische Deutung von Hoheliederscheinungen und die Marienbezeichnungen.589 Eine solche Art der Darstellung, die einerseits betont, dass es unmöglich ist zu loben, und die andererseits das Lob in massiver Wiederholung ostendiert, sagt über das künstlerische Vermögen wenig aus. Hinter der Redundanz des Lobs wird vielmehr die Vorstellung einer Unabschließbarkeit des Lobens aufgerufen, und so ist wohl auch der Satz din gut niemant volloben mag […] (k 104,6) zu verstehen. Leicht variiert erscheint die Konstruktion einer vergleichbar zirkelhaften Figur (k 105), in der vom zu lobenden, über allem Lob stehenden Lob die Rede ist (V.18f.: din lop vor allem lobe sy / gelopt […]): Diese Figur von lobenswertem Gegenstand, unvollendbarem, deshalb sich wiederholendem Lob hat im Wunsch einer immerwährenden Unterstützung des Sünders ihre Ursache. Durch die reziprok gestaltete Beziehung von Sünder und Maria, Kind und Mutter, Hilfe und Lob werden die Notwendigkeit des Lobs und die Heilssicherung der Christen eng geführt, so dass die Fortdauer des Marienlobs Rechtfertigung erfährt. Gerade widersprüchliche Konstruktionen, wie die, dass das Spruchdichter-Ich jeden Gegner, der gotlich werck dorchsynnen wil (k 101,9), einen affen nennt, und sich gleichermaßen, Maria gegenüber, als unwisen affen (k 109,12) bezeichnet, implizieren zuerst einmal die topische Figur der Unmöglichkeit adäquater Darstellung. Zum anderen aber lassen sie Raum für eine, heilsgeschichtliches und theologisches Wissen implizierende, laudatio als zentraler Aufgabe des Spruchdichters. Und sie schaffen einen Raum für die immer wiederkehrende, priesteranaloge Ermahnung der Christen zur Abkehr von der Sünde, wie sie etwa k 110–112 entfaltet.590 586

Zu „Zabulons Buch“ Strohschneider, Oberkrieg (2001); zum narrativen Sangspruch Wenzel, Textkohärenz und Erzählprinzip (2005). 587 Gelobt werden der nam (k 104,1), die keiserin (k 104,8) und Maria als wonnebernde crone (k 106,9f.). 588 Die Strophen des Bars kombinieren drei andernorts in k eingetragene Strophen (k 71, k 5, k 4). 589 Die Marienbezeichnungen reichen von kunigyn, keiserin, muter, amme, reine meyt, meyde crone, über engel brunne, engel spiß, engel tag sowie balsam schrin, schrin der heylikeit, dryer namen schrin, hort und close über lutzerne, hochst amy, floss der waren mynne bis zu lilg uss Jerachi, bruder stame von yesse, bluend mandelryss, bluwende roß, suße hymmelrose. Zu den Marienbezeichnungen und ihrer Herkunft s. die Belegsammlung von Salzer, Beiworte (1967). 590 Die narrative Formung biblischen Wissens und die priesteranalogen Mahnungen bilden auch hier eine die meisterliche Rede bestimmende Einheit. Erzählt wird vom Martyrium in einer körperlich inszenierten Unmittelbarkeit, um in katharsischer Wirkung zur Abkehr von der Sünde zu mahnen.

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Sind erst Dreifaltigkeit und Menschwerdung zusammengedacht (k 110–112), sind es dann in ähnlicher Weise (k 113–115) weltliche Rechtsprechung und gottgegebenes Recht. Ein bekannter Gedanke des Langen Tons, der Gedanke der moralischen Lenkung menschlichen Verhaltens, ist wieder aufgegriffen und um der anschaulichen, überzeugenden Argumentation willen mit dem rhetorischen Kunstgriff der begrifflichen Inversion (Recht / Unrecht) verknüpft.591 Die Differenz zwischen rechtem Recht und unrechtem Recht kulminiert in der christlichen Differenz von Lohn und Strafe und geht einher mit der Mahnung, dass nur die erste Form der Rechtsprechung dem Richter zum Heil verhilft, die andere Form der Rechtsprechung aber in die Verdammnis führt (k 115). Diese Mahnung wird vervollständigt durch eine erzählte Passion (k 116–120), die im Horizont der Strophenfügung zu einem intensiven und plastischen Beispiel der Rechtsprechung gerinnt. In Versform wird die Passion vergegenwärtigt, angefangen vom Judaskuss, der Gefangennahme, der Verleugnung Petri, der Geißelung, der Händewaschung und dem Richterspruch des Pilatus bis zu Kreuzigung, Leiden Marias, Longinusepisode und der Kreuzabnahme. Der Erzähler tritt vollständig in den Hintergrund, so dass das Geschehen beinahe kommentarlos vor Augen gestellt wird, bis auf eine Anrufung, ein Ach got (k 116,1) am Anfang, einige Rezipientenanreden und Mahnungen, eine Berufung auf die Erzählungen der wysen (k 118,19) in der Mitte und eine Bitte um Erlösung (wir bitten in, k 120,19) am Ende. Man kann einen Anspruch auf die Hoheit des Erzählens biblischer Geschichten im Verweis auf die Erzählung der wysen erkennen, insofern der Erzähler sich dem Kreis der Weisen integriert, auch wenn in der Sukzession der Kommentare zuletzt mit dem Gebet eine Form religiöser Rede umgesetzt wird, die den Sprecher in die Gemeinde der Christenheit einbindet und damit den Anspruch auf Exklusivität zurückstellt. Die Vergegenwärtigung der Passion mit der Pilatuspassage stellt in erster Instanz eine biblische Form der Rechtsprechung vor Augen, die menschliches Unrecht (Verurteilung Christi) und göttliches Recht (Christi Opfertod) so relationiert, dass dem Glauben an das göttlich rechte Recht der Weg zum Heil geebnet ist. Maria ist, ohne dass es theologisch diskutiert wird, neben Gottes Sohn die zweite Heilsfigur, die zwischen dem Vater und der Christenheit vermittelt. Ihr Leben (Herkunft, Jugend, Erwähltheit, Empfängnis und Heilswirkung) ist Gegenstand des MarienIn der Betonung der gegen den Körper gerichteten Gewalt und der damit einhergehenden Zerstörung des Körpers, die den Ursprung der Sünde außer Kraft setzen, zeigt sich einmal mehr die Gnadengabe christlicher Religion, die zwar einen Ursprung der Sündhaftigkeit integriert, diesen aber vor dem Hintergrund des Erlösungsgedankens im Opfer des menschgewordenen wort[es] (k 112,19) immer aufs Neue auslöscht. 591 Der zeitgenössische rechtliche Hintergrund des Rats zum recht (k 113,14) anstelle des unrecht[s] (k 113,18) ist die geteilte Rechtsprechung (zweo zungen, k 114,14), die einen Unterschied macht zwischen reich und arm und dem christlichen Ethos zuwiderläuft. Der Ratgeber imaginiert die Geschichte eines zur Rechtsprechung Geborenen und weist diesem fingierten Richter den Weg rechte[n] recht[s] (k 114,12). Vgl. zur begrifflichen Inversion Anm. 540f. und die Analyse des Bars vom Zwingen der Zunge (k 30–32).

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liedes k 121–125. Das Sprecher-Ich ist als Vermittler dieses Wissens kenntlich, doch werden Stellvertreter bemüht (Jesse, Joachim, Propheten), die entweder durch Autopsie und also Zeugenschaft an Marias Leben teilhatten oder deren prophetische Autorität den vorgebrachten Stoff legitimiert. Schlagendes Motiv für die Rechtfertigung des Wissens ist die Wurzel Jesse (k 121,1–3), mit der die Heilsgeschichte vor Maria imaginiert und ihr Auserwähltsein begründet wird. Das Traumbild Jesses weist dem Erzählten die Authentizität der Vision zu. Der poetische Entwurf der Mariengeschichte wird von diesem heilsgeschichtlichen Ursprung abgeleitet, der das Erzählte aber zugleich in der Schwebe zwischen Wahrheit und Vision auratisiert. Worum es geht, liegt auf der Hand, stehen doch die Imagination der Sichtbarkeit marianischer Erwähltheit und ihr soteriologischer Bezug im Vordergrund. So ist denn auch der Ursprung Marias zurückverlegt in das Herz des Davidvaters Jesse (k 121,1–3). Mittelalterliche Darstellungen der Wurzel Jesse zeigen Maria als Wipfel des Baumes und illustrieren im Baumschema die genealogische Ableitung Marias vom biblischen Stammvater als heilsgeschichtlichem Ursprung.592 Gleichwertig ist Maria dem Herzen ihres irdischen Vater Joachym [, der] anfang aller guten art ist (k 122,1) entsprossen (V.3) und [ent]flossen (V.4), so dass ihr Status zwischen Transzendenz und Immanenz betont wird.593 Marias Erwähltsein findet in der schriftlichen Fixierung durch all propheten hant (k 123,1) und der mündlichen Nachricht der Ereignisse ihre irdische Entsprechung, genauso wie im Lob durch das Spruchdichter-Ich (k 123–125).594 Das paradoxe Argument von der Unmöglichkeit des Lobs, der Unmöglichkeit, die Wunder Gottes zu ergründen (k 124,5f.), und der Fortführung des Lobgesangs wird hier auf zweierlei Weise erhellt. Zum einen werden mit dem Stich- und Schlagwort wort (k 123,5.6.13.19; k 124,2.18.19; k 125,7.11.18.19) heilsgeschichtliche Menschwerdung des Wortes und Dichterwort verknüpft. Analog zur Menschwerdung des ewigen Wortes ist das Wort in der Inszenierung des Bars personalisiert, wenn es leidet (k 125,11) und zahm wird (k 125,18). Zugleich werden mit ihm die gottes muter (k 125,1) und Jhesu crist (k 125,2) angesprochen: sie sint genennet beyde wol, zwey susse wort (k 125,7), so dass das Wort einerseits eine ewige und damit offene Geschichte hat, zum anderen aber auch als Dichterwort ein Darstellungspotential in sich birgt, das im Lob ausgeschöpft werden muss. Und zum anderen liegt der Grund für die Fortführung des Lobgesangs, der Grund für das wiederholte, immerwährende Lob, in der damit verknüpften Erlösungshoffnung: lobt wir der zweyer namen nit, so 592

Arthur Watson, The early Iconography of the Tree of Jesse, Oxford 1934; Alois Thomas, Art. „Wurzel Jesse“, in: LCI 4 (1974), Sp. 549–558; Wolfgang Kemp, Zweimal die Wurzel Jesse (1993), S. 165–179; Schadt, Darstellung (1982); Kellner, Ursprung und Kontinuität (2004), S. 50– 56, dort ausführlich zur genealogischen Dimension des Jessebaums. 593 Die Gültigkeit des Baumschemas als genealogischer Ableitung ist damit nicht in Frage gestellt, doch ist es nicht als restriktives und einziges Ableitungsmodell kenntlich. Es werden immer auch andere Formen des Herkommens gedacht, die gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen können. 594 Die Marienmetaphern im Rahmen dieses Lobs reichen vom Kern der Güte über den Jacobsstern, das Leuchten des Karfunkelsteins, den Brunnen der Güte, die Freuden der Engel bis zum Stamm als Ursprung des menschgewordenen Gottes.

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weren wir verdorben (k 125,5). Das Lob des Spruchdichters sichert menschliches Heil! Der Anschluss mit k 126–128 verfährt in vergleichbarer Weise. Zum wiederholten Mal autorisiert die vom Spruchdichter-Ich explizierte Johannesvision den Gegenstand der Rede, beglaubigt dessen Wahrheit und rechtfertigt die eigene Rede.595 Maria Mysterium, die göttliche Trinität und die Hoffnung auf Erlösung sind der heilsgeschichtliche Boden, auf dem das nächste Stichwort fällt, das die Assoziationskette fortsetzt: Evas Betrug an Adam. Obgleich sich vorderhand ein thematischer Nexus von laudatio und Weiberlist entzieht, sind die Betrugsszenen (k 129596–132) auf die Erlösungshoffnung hin geöffnet. Die Schlagworte der ersten Barstrophe sind Weiberlist und Minnesklaven, wird doch die Unabwendbarkeit der Täuschung mit einer Liste düpierter männlicher Autoritäten (Adam, Samson, David, Salomon, Artus, Parzival) bezeugt. Die Täuschungshandlung als per se schlechte Handlung ist in ihrer Unabwendbarkeit, oder anders formuliert in ihrer Zugehörigkeit zur guten Handlung, gestaltet. Sie wird durch eine normative Orientierung des Handelns moralisiert, hinter der wohl die augustinische Grundannahme der Integration des Bösen in das fundamental Gute zu sehen ist. Zeugnis dieser Idee ist das biblische Exempel des Judasverrats. Die Rechtfertigungsrede des Spruchdichter-Ichs und das Darstellungspotential des Spruchdichter-Wortes werden in assoziativer Form aufgegriffen und fortgeführt. Im Bild des Krämers und seiner Ware (k 130) erhebt das spruchmeisterliche Ich sich über alle anderen Sprecher. Die Begriffe kramer (V.1.10) und riche[r] kram[…] (V.3.6.11.13) semantisieren im metaphorischen Feld dieser Strophe und im diskursiven Netzwerk des Langen Tons sowohl die Relation von Judas und Jesus, Gottvater und Sohnesopfer als auch die von Spruchdichter-Ich und Lobdichtung. Für den Begriff kramer wechselt im Verlauf der Strophe das Referenzwort, so dass die Umbesetzung im Fortschreiten vollzogen wird. Der Kunstanspruch des Sprecher-Ichs und seine Weisheit (V.7) erwachsen aus dem nicht zu übertreffenden krame, so rich (V.11). Unverfügbarkeit und Unerreichbarkeit des hochgelopt almechtig kram (V.13) bedienen diesen Anspruch auf Herausgehobenheit. Zum wiederholten Mal sind Lobgegenstand (kramer, krame) und künstlerisches (Eigen-)Lob in reziproker Weise verbunden, so dass das eine das andere verstärkt: […] nieman sy so kunsten wys, / […] der mech dez uberwynde, / 595

Das Marienlob ist allegorisch auf Apc 12,1 bezogen und im Motiv der himmlischen Königin (k 126,1–7; k 126,1.13–18; k 128,16f.) entfaltet. Die laudatio fußt auf der Vision des Johannes. Die sonst bei Johannes liegende Autorschaft wird dabei auseinandergelegt auf den, der sieht, und den, der die Vision bekannt macht ([…] die red ich furtrybe, V.5). Mit der dahinter liegenden Engführung von Visionär und Botschafter gelingt ein Autorschaftsanspruch des Spruchdichter-Ichs, der keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Zudem ist er, typisch für den Langen Ton in k, auf die Erlösungshoffnung des Sünders gerichtet (k 126,19; k 127). Rechtfertigung erfährt die literarische Rede in diesem Bar zugleich über den göttlichen Beistand, den Beistand des Vaters, wenn es heißt: daz tru ich in [den Leuten] bescheyden wol, wann sich myn syn vermundert / mit gottes hilff, ich armer welff, wie schier ich daz betrachte (k 126,11f.). 596 Die Strophe ist in k am anderen Ort parallel überliefert als dritte Strophe eines Barverbundes (k 42– 44).

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daz er den kramer vinde / mit einem krame, der so rich […] (V.7–11). Die nur rhetorische Suche nach dem Krämer und seiner Ware mündet in einen narrativ entfalteten Lobgesang auf Gott den Allmächtigen (k 131,1f.: Almechtig kung [ ] du bist der kram). Erzählt wird die Geschichte vom Verrat des Gottessohnes durch Judas, vom Judaskuss, der für 30 Pfennige feilgebotenen Ware597 und dem Opfertod als Zins des adamitischen Fehltritts. Im metaphorischen Feld, das mit dem Tauschgeschäft und der Verzinsung eröffnet ist, werden Täuschungshandlung bzw. Verrat zu Voraussetzungen von Sühne und Vergebung. Der Zins, den Gott leistet, ist eine gewollte Zahlung, die zwar auf einen Fehlstand reagiert, die aber im Sohnesopfer der Bereicherung des Krämers die Veräußerung des höchsten menschlichen Gutes gegenüberstellt. Die mit diesem Bar gestalteten Formen der Appräsentation des Einen im Anderen, des Guten im Schlechten, der Veräußerung im Kram / Vorrat, verdeutlichen eines sicher, dass die Lobdichtung eine notwendige und eine bedingte Folge des Spruchdichterwissens ist.598 Der mit einem Kuss vollzogene exemplarische Verrat durch Judas Ischariot hat seinen Ort im Horizont des Diskurses um Sein und Schein, den k 132–134 bearbeiten. Der Gegenstand ist im Corpus des Langen Tons bekannt, die Beispiele sind nicht neu: In der Rede des Ritters geht es um Ritterschaft, in der des Knechtes um das Recht der Knechte, in der des Schmiedes um dessen Schmiedewerkzeuge, in der des Bauern um das Feld und so fort bis zur kunstfertigen Rede.599 Es folgen die inversen Fälle (k 133), in denen Sein und Schein einander nicht entsprechen, wie beim landlosen König, dem Schneider ohne Schere, dem Mönch in ritterlichem Gewand oder der vernunftlosen Rede. Dass hier die Bezüge wechseln, schiefe Besitzverhältnisse und falsche (Ordo-)Zuordnungen nebeneinander stehen, trübt nicht die dahinter stehende Aussage der fehlerhaften Referentialisierung zwischen dem, was einer ist, und dem, was er darstellt. Eher ist es so, dass durch das Nebeneinander eine Verbindung von Besitz und Sein inszeniert wird, die im Falle des Sangspruchdichters (V.13–19) ausagiert ist. Fehlender Besitz kann in dieser Argumentation zur Ursache des Gesangs vom Mangel erklärt werden (V.19: ich bin ein knecht von krancker hab und sing von ungerete), so dass im Umkehrschluss freudvoller Lobgesang an materiellen Wohlstand gebunden ist. Nur assoziativ knüpft der Aspekt der existentiellen Belange des Spruchdichters an die im Vorfeld angesprochene künstlerische Qualifikation und deren Anerkennung in 597

Das Stichwort kram rekurriert auf das Sohnesopfer als Folge des Judasverrat und auf die Verausgabung spruchmeisterlicher Kunst, die ohne den pejorativen Impetus auskommt. Umbesetzungen auch hier: Die Bedeutung des unerreichten biblischen Opfers ist auf die spruchmeisterliche Gabe übertragen oder anders formuliert, ist die Kunst durch den Analogieschluss als unerreichbare Gabe ausgewiesen. Zur Umbesetzung religiöser Begriffe vgl. Köbele, Umbesetzungen (2002), S. 215, 226f. und Anm. 535. 598 Die Präparation des Begriffs bei Hans Georg Soeffner, Appräsentation (1990). 599 Strophen, die im Corpus des Langen Tons thematisch hier anschließen, die Entsprechungen bzw. Diskrepanzen zwischen Ordo und Handeln zwischen Sein und Schein ausstellen, finden sich in der Jenaer Liederhandschrift J 38–45 und in der Weimarer Meisterliederhandschrift F 115–126 und 138.

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der Redeform des Lobs an. Doch auch hier werden die Reziprozität von Lob und Kunstgegenstand im Blick auf die Unmöglichkeit, den treulosen Freund zu loben (k 132,12), hinterfragt. Die Besitzlosigkeit wird nicht weiter thematisiert, aber die folgende Argumentation (k 134) zielt auf den Notstand (V.19) der Welt. Und vor diesem Hintergrund feiert der kunstvolle Gesang seine Wiederkehr in der Rolle des Wegweisers durch die Not. Es ist ein Triumph, ein Lob meisterhafter Kunst (V.1–3: Horet der meinster spruch und yre rechte kunst: / uns gyt vernunst / uß wol gebruften sachen). Der Verstand erlaubt es dem Meister, den Zustand der Welt zu erkennen und zu beschreiben. So folgt auch ganz schlüssig eine Beschreibung des Weltzustandes, kein Lobgesang, vielmehr eine Weltklage, bei der unrecht, unmass, untru, Ehrlosigkeit, Meineid und Mord für die falsch[e] (V.19) der Welt stehen im Widerpart zu werde[…] und wys[heit] (V.18). Mit der Präsentation negativer Zustände spitzt sich die Argumentation im Blick auf das Gute zu. Aus der Ermahnung des werde[n] wyse[n] man[es] (V.18) sind menschliche Würde und Weisheit als Prämissen des Guten zu erschließen. Doch nicht nur menschliche Würde und Weisheit sind fokussiert, sondern diese steigernd wird die Inkarnation vor dem Hintergrund weltlicher Not gewichtet (k 135–137). Der Modus der Rede ist das Marienlob, dessen semantischer Gehalt auf menschliche Würde und menschliches Gutsein durchsichtig wird: Das Dreierbar vom Wunder der inhabitatio trinitatis und der Menschwerdung erinnert die gottgleiche Würde des Menschen (k 135,7f.: […] der mentsch ist got / durch sin gebot) und die Erlösung des sündhaften Menschen durch Gottes Sohn. Im Kontext des vorangehenden Bars erweist sich die Würde des Menschen als ursprünglich göttliches Gut. Und im Lobgesang (k 137,1: Ich gruß dich aller gnaden volles, tugend volles fass!) wird der gnomische Duktus des Wissenden spirituell überschrieben mit der Priesterrolle (k 137,11: nu hilff mir, daz ich sundig priester […]), so dass die Sündhaftigkeit der Welt nun bis zum Priester und dahinter bis zum Spruchdichter-Ich hinuntergebrochen ist. Gezeigt wird gleichermaßen, dass die Erlösungsfähigkeit und -bedürftigkeit an die Mutter Gottes gebunden ist. Mit diesem Argument, das durch die Fürbitte im Gewand des Gottesdieners verstärkt ist, bleibt als Gegenstand der Dichtung nur immer das Marienlob als einzig richtige Gegengabe.600 Gestützt wird diese – als wahr inszenierte – Orientierung der Spruchdichtung vom aktiven Gebet des Sprechers und der Ermahnung der christlichen Gemeinde zu Gebet und Reue (k 138–141), so dass im Dreiklang von Beten, Loben und Mahnen eine Verschränkung von Spruchdichter, Maria und christlicher Gemeinde sichtbar wird.601 Mit 600

Im diskursiven Netzwerk der lyrischen Gattungen und ihrer Denkmodelle könnte man eine Bearbeitung und Umbesetzung des klassischen Dienst-Lohn-Modells erprobt sehen. Statt weiblicher Güte marianische Gnade, statt Minnedienst Marienlob, wobei der Effekt in der heilssichernden Reziprozität der Relation liegen würde. Für das Marienlob und damit für das gute Lob sichert die Gottesmutter das Heil des Sprecher-Ichs, weil dies, im Gegensatz zur höfischen Dame, zu ihrem Funktionsspektrum gehört. 601 Die Vierergruppe um Eucharistie, Erlösung und Vergebung, rubriziert als Ein anders vom sacrament, die zu Glaube, Gebet, Reue sowie Gottes- und Nächstenliebe auffordert, ist zugleich religiöse

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einer nächsten Trias von Besitz, Gut-Sein und Gesinnung (k 142–144) ist ein beliebtes Thema im Langen Ton angeschnitten.602 Doch der Intratext, ich meine die Ausführungen zu Besitz (k 132–134) und zur dem Menschen eingeborenen, jedoch verloren gegangenen Würde (k 138–141), zeigt, dass hier Preis und Tugend als die dem Besitz überlegenen Güter ins Licht treten. Der Preis allein kann – mit der Einschränkung eines tugendreichen irdischen Lebens – den Leib überdauern (k 143,11f.: hie werder pryss, der gotz gunst kan nymmer me verflyssen. / ja wol verfert sin lip, dannoch sin nam ist unverdorben). Die geistige Dimension menschlicher Würde wird ganz unproblematisch zurückgebogen auf das irdische Gutsein des Menschen und die soziale Problematik des Besitzes, so dass religiöse und weltlich-ethische Orientierung nebeneinandertreten. Diese doppelte Dimensionierung verschiebt die Prämissen des Dichtens von der existentiellen Bindung des Spruchdichters an weltlichen Besitz hin zur Bindung an Maria und die durch sie zu erwirkende göttliche Gnade, ohne aber eine Entscheidung für oder wider das Eine oder Andere zu treffen. Dieser Schwebezustand ist der Strophigkeit des Tongefüges geschuldet, das anders als ein epischer Text ein diskursives Netz entfaltet und, wenn überhaupt, erst vom Ende der Überlieferung her, generalisierende Schlüsse ermöglicht. Rede der Ermahnung und exemplarisch performiertes Gebet, welches als Anleitung zur aktiven Reue inszeniert ist: sunder […] gedenke und clag, suffz unde spruch: „ey, schopher myn, gnade, / ich bitten dich […]“ (k 140,2–7). Der Gedanke an Eucharistie und Konsekration im wer gottes brot wil niessen und syn fleysch darzu (k 138,1) birgt eine unsaubere Vorstellung der Wandlung, weil er die Gleichzeitigkeit von Brot und Fleisch im Moment der Einverleibung ausstellt, nicht aber die Wandlung des einen in das andere. Hingegen ist eine klare Vorstellung der Konsekration in k 139,13.17 angesprochen, wenn es heißt: sin selbes fleisch und auch sin blut, / […] ernert uns […]. Diese Passage steht in einem typologischen Zusammenhang mit dem in k 139,1–6 erzählten alttestamentlichen Speisewunder des israelitischen Volkes und sie rekurriert auf das „Gebet zur Transsubstantiation“ (k 70 = J 24). Der beschriebene alttestamentliche Vorgang der Speisung weist auf das Mysterium der Speisung hin. Ob der Geschmack (GA-S 2, S. 404) oder ein edles Schmalz (gemma smaltz, k 139,4) als Bild für das hymmelbrot (k 139,3) herniederfällt, ist nicht zu entscheiden. Der Ort, an dem der ‚Geschmack‘ erfahren wird, ist das begierige menschliche Herz (k 139,5). In einem übertragenen Sinne ist mit diesem Speisewunder das Einfließen göttlicher Wahrheit ins strebende Herz gemeint zum Zwecke der Erkenntnis. Die Vierergruppe ermahnt detaillierter und unmittelbarer als die vorangehenden Bare, insofern die inszenierte Rede, vom expliziten Gestus des Spruchdichters und Meisters abgerückt, das religiöse, betende Wort imaginiert und unmittelbar in Szene setzt (k 140,6–19). Dennoch bleibt die Mittlerrolle des Sprechers im Blick, der nicht nur in der Rolle des Betenden, sondern auch in der des Lehrers und Priesters auftritt (er sol: k 138,7; dez soltu: k 139,18; gedenke: k 140,6). Das aktive Gebet k 140,6–19 ist sowohl Gebet des SprecherIchs als auch antizipiertes Gebet des reuigen Sünders. 602 Das Bar Ein anders von abentur greift das Thema der Besitzlosigkeit auf und diskutiert es im Horizont der guot-muot-Debatte. Die erste und dritte Strophe hat als erste und zweite eines Bars in der Weimarer Liederhandschrift (F 39f.) eine Parallele. Thematisiert wird die Unterscheidung ethischen und materiellen Guts in Abhängigkeit von der Stärke der Gesinnung. Es ist der muot, der den Menschen hin zu geistigem oder hin zu materiellem Besitz zwingt, und es ist der Zuwachs an Besitz und das dadurch bedingte Verderben, das dem tugendhaften, guten, auf das Seelenheil hin orientierten Verhalten entgegentritt.

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Dennoch zeigt die mitgedachte Entkopplung des Dichtens von irdischem Besitz, dass das menschliche, der göttlichen Güte entlehnte Gut den Gegenstand der Dichtung bestimmt. Der wiederkehrende Verlust dieser ursprünglichen menschlichen Orientierung fordert die Fürbitte durch Maria heraus und stempelt das Marienlob zum rechten Gegenstand der Dichtung. Der anschließende Frauenpreis in k 145–147 bindet das Lob des irdischen reinen wyp (k 147,2.11) mit dem Lob Marias zusammen. Ohne dass der Marienname fällt, zeigen die Bezeichnungen, die von der Morgenröte über den Mandelreis bis zum Rosengarten reichen, dass wîp und Maria analogisiert sind,603 einschließlich des Hinweises auf die Fährnisse irdischen Seins (unzuht, unêre). Religiöse und weltliche Dimension des Frauen-Lob-Themas stehen ungeschieden nebeneinander. Im wyp werden irdische und transzendente Reinheit, irdischer und transzendenter Adel (k 145,2f.: wyp, reynu frucht / ob aller creatur, V.5: du hoher adel, V.6: trone, V.7: wunsches hort, V.7f.: in dez hochsten reiff / ein umbesweiff, V.13: morgenrot, V.15: mandelsslag usf.) sowie irdischer und transzendenter Rat (V.11: wer dinen rate volget nach) gelobt. Marienmetaphern stehen für das Lob des irdischen wyp ein. Aussagekräftig für diese Form des umschlingenden Lobs ist k 146,1–3: Wyp, syt du bist ob aller creatur ein lust, / vor mannakost, / hut dich uff allen orten. Den dahinter stehenden Gedanken semantisiert das Stichwort der dem wyp genuinen, umfassenden (und sündhaften) Lust604 und die Bewahrung weiblichen Gutseins im Angesicht zeitloser göttlicher Gnade. mannakost verweist typologisch auf die dem israelitischen Volk geschenkte Speise und die Kommunion. Der Frauenlob in den Mund gelegte Rat (k 146,4f.: her Frauwenlop mit worten / gyt dysen rat […]) zielt möglicherweise darauf, dem begehrlichen Anteil im wyp zu widerstehen und in diesem Zustand, der als unehelicher (k 146,17) umschrieben ist, auf Sündenvergebung zu verzichten. Die Überblendung religiöser und weltlicher Dimensionen in V.14: wyp, geert din eins adels barn) ist nicht nur ein im wyp mit dem eingeborenen Sohn liegender Kurzschluss von Maria und Frau, vielmehr verbirgt sich darin eine bedeutsame Legitimation des Frauenlobs.605 Mit dem Beispiel des gluck[s] (k 148–150),606 der Unbeständigkeit, der Differenz von Gut und Böse, der fehlenden Einflussnahme treten nochmals die Unwägbarkeiten 603

Integriert sind eine Warnung der Frauen vor falschen Männern (k 146) und eine Warnung der Männer vor unehrenhaftem Verhalten gegenüber reinen Frauen am Beispiel des Urvaters Lamech (k 147). Möglicherweise hat man es hier mit einer biblisch nicht belegbaren Kritik an der Polygamie des Urvaters zu tun, der mit zwei Frauen, mit Zilla und Ada, Kinder zeugte (Gen 4,19. 23f.). 604 Vgl. auch k 146,7: wyp, mannes kurtzewyle gut […]. 605 Der dem Frauenlob in den Mund gelegte Rat (k 146) und die am biblischen Exempel orientierte Warnung der Männer (k 147) sind strukturhomolog konzipiert, insofern sie die jeweilige Aussage autorisieren durch den Spruchdichter einerseits (her Frauwenlop mit worten / gyt dysen rat […], k 146,4f.) bzw. durch den heilsgeschichtlichen Text andererseits (die meynster schribent, k 147,1). 606 Es sind drei Strophen zum Bar gefügt, die in der Weimarer Meisterliederhandschrift in zwei geschiedenen Baren als dritte und vierte Strophe eines Siebenerbars (F 127–133) und als fünfte Strophe eines Fünferbars (F 139–143) Parallelen haben.

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menschlichen Seins hervor.607 Dem kann nur eines entgegenwirken: die Verausgabung dessen, was man besitzt. Dieser Gedanke wird auf der Ebene des Kunstdiskurses in k 151–153 ausgebaut: Die topische Warnung an die Fürsten, bleibt der Lohn aus, bleibe auch die Kunst aus, wird invers aufgegriffen. Die Rede ist von der uneingeschränkten, ja maßlosen Freigebigkeit der Kunst, denn je mehr man aus der Hand gibt, umso mehr Kunst besitzt man (k 151,1–6). In der Inversion scheint die Idee der sich selbst fortsetzenden Kunst auf, die für das Corpus des Langen Tons in k wohl grundlegend ist. Die Geltung des meisterlichen Vermögens wird neben den herangezogenen Quellen, den Autoritäten der Namen, der Dichter und biblischen Texte auch systemisch beansprucht. Eine solche Form autopoietischer Geltung lässt sich als beanspruchte Eigengeltung bezeichnen im Sinne eigenlogischer Sinnproduktion. Es sind die sentenzhaften, sprichwortanalogen Formulierungen V.5f.: ie me […] ye me […], die ein bedeutungstragendes ‚Schon-immer-so‘ inszenieren! Zusammen mit der selbstbezüglichen Bemerkung, dass der Text (redword, V.13) aus des gesanges munt das Fundament aller kunste[…], V.13f.) sei, wird das sinnhafte, sinnstiftende Wort zur Basis der Kunst erklärt. Die Stichworte sanges list (V.7) und redword (V.13) weisen nicht das Sprecher-Ich als Verkünder dieses Geltungsanspruchs aus, vielmehr ist es das Wort aus dem singenden Mund, das uns von diesem Anspruch meldet (V.14). Neben dieser fundamental formulierten Eigenlogik ist eine der Kunst verfügbare Eigenzeit inszeniert, die in die Vergangenheit reicht, die Gegenwart ist und zugleich in die Zukunft deutet: Kunst ist ein edel erbe gut und die vernunft / mit ir zukunft, […] (V.1f.). Trotz Weltklage, Instabilität der Gesinnung, Unbeständigkeit des Glücks, trotz einer weltlich umgreifenden Unfestigkeit, die in den zurückliegenden Baren beschrieben und beklagt wird, ist die Kunst durch den Anspruch einer Eigenlogik und Eigenzeit als institutionelles System zu begreifen.608 Im Fortgang des Bars findet sich, und das entspricht der Idee eines Kunstsystems, eine Kategorisierung der Kunst, die als Minimalentwurf eines poetologischen Systems zu beschreiben wäre, insofern Kunst als ein Vorgang der inventio (k 151,17f.: gesanges meynster sint gesunt / nit wann mit dryer kunste funt) bezeichnet wird, der auf drei Formen zielen soll, auf das höfische Gedicht bzw. den Hofton, auf Reien und Tänze sowie auf den Leich (k 152).609 Hofgedicht, Tänze, Reien und Leich geben rhetorische Modelle vor, die in einem zweiten Schritt exemplarisch erschaffen werden müssen. Die substantiellen Prädikationen liegen in den Sachen selbst, und das Augenmerk ruht we607

Spiegelmetapher und Rat des Spruchdichters setzen ein Achtungszeichen für die Gesinnung (k 148,19) und orientieren das Verhalten an der rechten Beständigkeit (k 149,1f.; 150,5). 608 Vgl. Niklas Luhmann, Autopoiesis (1987): Der Begriff der Autopoiese zielt auf Erhaltung, Erneuerung und Wandel (eines Systems) und erfasst damit mehr als der Begriff der Emergenz das dynamisch-prozessuale Moment des in k 151–153 inszenierten poetologischen Systems. Vgl. zum Eigenlob im Herrscherlob Haustein, Autopoietische Freiheit (1997). Vergleichbare Passagen in der meisterlichen Liedkunst bei Annette Volfing, Autopoietische Aussagen (1998). 609 Der Hofton wird in der dritten Barstrophe k 153,6–19 in seiner Machart genauer umrissen: Er besteht aus zwei abgesetz[en], einem steg und einem sloss. Die Meoldie soll ebenlut sein und das sloss soll dem anbegynne[…] melodisch gleichen.

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niger auf der formalen als mehr auf der argumentativen, inhaltlichen Konstitution der Kunstformen Gedicht, Tanz bzw. Leich: zwir achte don sol han ein leich mit hoher fund gedancken (k 152,19). Gleiches meint der Auftakt der dritten Barstrophe k 153, wenn es bezogen auf den tutsche[n] sang heißt: Wo er durchspeh in rymen wart geleit / tieff fund er schneit (V.1f.). Ist der Reim kunstvoll ausgeführt, werden die Argumente im Sinne einer getroffenen Auswahl aus dem vorausliegenden Material verfertigt. Kunst, hier spezifisch deutsche Kunst, folgt damit keinem metaphysischen Erkenntnisinteresse, sondern sie zielt auf die Verarbeitung eines vorausliegenden Wissens. Die Metapher für diesen Vorgang handwerklich artistischer Verfertigung ist der fund, und gerade in der semantischen Ambivalenz metaphorischer Rede sind das (Auf-)Finden, Erfinden und Verwenden gleichermaßen angesprochen; eine Idee, die im Corpus des Langen Tons in der Jenaer Liederhandschrift J 23 und J 34 grundlegend thematisiert wird.610 Mit der Nennung des Namens Feldegg (k 153,3), der Attribuierung als wise (V.3) und sines synnes ryse (V.4) geht sicher ein Lob der Kunst Heinrichs von Veldeke einher, gleichwohl ist – im intertextuellen Netzwerk des Langen Tons – zu lesen, dass die Kunst Veldekes jener fund ist, der nutz[…]bringend (V.5) zur spyse dez gesanges (V.5) wurde. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Speisemetapher damit auch heilsgeschichtlich konnotiert ist. Die Kunst des Urmeisters, des ersten Meisters, wird zur göttlichen Gnaden- und Opfergabe; durch Einverleibung des ‚Opfers‘ ist aller folgender gesang[…] (k 153,5) potentiell rein und gottgegeben. Und damit ist ein Gedanke aus J assoziiert, nämlich der, dass das vorhandene Material, das hier Material des ‚Urmeisters‘ ist (die Idee der Selbstrühmungsstrophe C 32 klingt an), zu etwas Neuem umgearbeitet bzw. weiterverarbeitet werden kann und dass darin die Eigenlogik spruchmeisterlicher Kunst zu sehen ist.611 Der Gedanke der Wahl und das Stichwort der vernunft (k 151,1) / der synn[e] (k 154,10) schaffen eine Brücke zu k 154–156, der Legende von St. Urban. St. Urban wird von Gott geprüft. Er soll zwischen Trunkenheit, Mord und Vergewaltigung wählen und entscheidet sich für das im Ergebnis scheinbar geringere Übel, das sich gegen den eigenen, nicht aber gegen einen anderen Körper richtet, jedoch eine Ereigniskette nach sich zieht, die mit der Trübung des Verstandes die beiden anderen Übel bedingt. Zweck dieses Exempels ist nicht die Entscheidung zwischen richtigem und falschem Handeln, vielmehr richtet sich das Augenmerk auf die Beeinflussung des Verstandes. Die Trunkenheit wird zur Ursache der Entscheidungsunfähigkeit, die jegliches Handeln entgrenzt und entregelt. Die Metaphern für diesen Vorgang der rationalen Entfremdung sind synn zerswunden (k 154,10), synn verloss (k 155,7), witz ein kint (k 155,16). Im Anschluss an 610 611

Vgl. die Überlegungen zu J 23 und J 34 Kapitel II.2.4, II.2.7. Diese Form der Reorganisation des Vertrauten, aber zugleich Differenten in der Bearbeitung des bekannten Materials lässt sich als autopoietische Dimension des meisterlichen Entwurfs bestimmen. Julius Schwietering, Die Demutsformel (1921), S. 196, wies darauf hin, dass Heinrich von Veldeke, etwa bei Gottfried von Straßburg, als „Urbeginn der Meisterschaft“ inszeniert ist und Wolfram dessen Überlegenheit im Preisen der Weiblichkeit thematisiert.

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das Kunstbar und im Horizont der Gesinnungsdebatte wird mit dieser Negativ-Allegorie die Verfügungsmacht über den Verstand (synne und list) gefeiert, der richtigem Entscheiden, rechtem Verhalten und künstlerischem Vermögen vorausgeht. Im Assoziationsraum dieser Argumentationen laden die Stichworte win (k 158,7) und trunckenheit (k 158,12), die vor allem auf den Klerus bezogen sind, den thematisierten Missstand der Stände bedeutsam auf, von dem in k 157–161 die Rede ist. Zwar geht dem ein Lob der Tätigen voraus (k 157), zwar wird die Reziprozität zwischen dem Tätigsein der Stände, dem Schutz und dem Dienst, eingefordert (k 158f.), doch Trunkenheit und Heilsdienst sind unvereinbar, Verstand und Heil damit die zwei eingeforderten Orientierungen für das menschliche Handeln. Rationale Entscheidungen und der Einsatz des Verstandes werden oft durch die Erzählung religiöser oder theologischer Handlungen und Exempla fundiert. Das in k tragende Modell der Meisterschaft verbindet einen verstandesgelenkten Kunstanspruch, der rhetorische Fundamentalverfahren, wie die Inversion eines Begriffs, exponiert, mit dem Anspruch einer ethisch bestimmten Frömmigkeitspraxis, die vermittelbar ist in Rat und Mahnung. Spruchmeisterliche Unterweisung und Ermahnung sind von einem Lob, im relevanten Bar dem der göttlichen Herrschaft, hinterlegt, welches die Unabwendbarkeit göttlicher Entscheidungen und göttlicher Allmacht expliziert und als Lob des göttlichen man[es] (k 161,1) dem weltlichen Missstand entgegentritt. In einer Wendung thematisiert das Sprecher-Ich den Allmachtsgedanken am Beispiel des göttlichen Zorns (k 162–164): Der Gewalt und dem Zorn Gottes treten in einem dialektisch zu nennenden Ansatz Erlösung, Umsicht, Vergebung und Gottes Hilfe gegenüber. Das heilsgeschichtliche Wirken Gottes wird in einer exemplarischen Reihung gewichtet, die bei der Erschaffung Adams beginnt (k 162,6f.), über Nohas Rettung (k 162,9–12) und die des Volkes Israel reicht (k 163,1–6), bis hin zu Parthenogenesis und Inkarnation (k 163,13–19; k 164). Facetten der Heilsgeschichte werden narrativ gereiht, um ein negatives Argument (Zorn) mit einer Fülle positiver Argumente (Hilfe) aufzuwiegen. Diese reihende Darstellung imaginiert noch etwas anderes: Die aufgerufenen Wirketappen Gottes reichen von der Erschaffung des Urvaters Adam bis zur Menschwerdung Gottes, so dass ein imaginativer Bogen von der Ursünde bis zu Sohnesopfer und Erlösung gespannt ist, ein Bogen, der anschaulich die Güte Gottes unterstreicht. Das heilsgeschichtliche Wissen des meisterlichen Ichs um die Jungfrauengeburt (k 163,13–19; k 164,1–6) ist durch eine Tradentenreihe gestützt, die König Salomo in der Rolle des Dichters,612 die alttestamentlichen Propheten,613 die Meister614 und das meisterliche Ich umgreift. Nicht nur das eigene Wissen wird auf biblische Autoritäten und biblisches Wissen zurückgeführt, auch das Marienlob wird in die Tradition einer 612

von ir so vil gesprochen hat der kunig Salomone, k 163,19. Was die propheten hant gesprochen, ist geschehn, […] wie sich got hat verpflichte / zu einer meyd […], k 164,1–5. 614 […] davon die meister so vil hant getichte, / zu lobe got, der muter sin, der unsserwelten meyde, k 164,5f.

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wohl gattungshaft verstandenen und vor allem wahrhaftigen Lobform gestellt. Diese Tradition beruht auf der Augenzeugenschaft der ersten Schreiber (sie [Propheten] hant gesehn […], k 164,2–5) und ist im lebendigen Marienlob des Sprecher-Ichs noch immer wirksam. Die Verknüpfung göttlicher Hilfe und meisterlicher Fertigkeit findet mit dem Streitbar k 165–167 Ein furwurf in dy〈sem〉615 eine Fortsetzung in poetologischer, mahnender bzw. lehrender und dialogischer Rede. Im Sinne einer Selbstermächtigung übernimmt es das Sprecher-Ich, die hochgelopten meinstersenger (k 165,1) im Namen Gottes zu grüßen (V.1f.) und ihnen göttliche Gnade zu verheißen (V.13–15). Kein Streit, sondern ein geregeltes Singen der Meister ist das kommunikative Ziel: hie wil ich mit uch kosen, V.3; wer singet zal und masse gantz […], V.19.: Der Meister zielt gegenüber den Meistersängern auf eine verstetigte Form der Meisterschaft, die in Gott sanktioniert ist und die auf dem Ideal vollendeter formaler Darstellung im Sinne der Vollständigkeit bzw. Ganzheit beruht, für das wiederum die Metapher vom kunste krantz (V.6) und die Stichwörter gemessen gantz (V.8), zal und masse gantz (V.19) einstehen.616 Auch wenn das Bar als in sich geschlossene Form erörtert werden kann, ist der Blick auf das Folgebar, das im Langen Ton steht, jedoch dem jungen Meißner zugewiesen wird, analytisch spannend, denn es steht auf einem eigenen Blatt, das der ersten Strophe dieses Bars folgt.617 Dass rezeptiv der Versuch unternommen wurde, einen Argumentationswechsel im Sinne eines Sängerwettstreits im Material zu imaginieren, ist nicht von der Hand zu weisen und soll hier nachvollzogen werden: Die Stichworte zal und masse (k 165,19; k 168,2: mas unde ziel) und die Anrede an den wyse[n] man (k 168,1) sprechen für sich. Der zweite Sprecher rekurriert mit den genannten Stichwörtern auf das Ideal der Ganzheit meisterhafter Kunst und betont, dass es notwendig ist, affektives Befinden und Loben zu regulieren (k 168,1: durch liebe nieman lob zu vil). Die Reguliertheit bezieht sich gleichfalls auf Ansehen und Schelte, das Motiv vom ‚Zwingen der Zunge‘ (k 30–33) wird aufgegriffen: (k 168,11 […] die zung, die lat sich lencken), so 615

Nach der ersten Strophe, k 165, des Streitbars folgt ein Dreierbar im Langen Ton Frauenlobs, das dem Meißner zugewiesen wird, k 168–170, und 129r eingetragen ist. Die Zusammengehörigkeit der Strophen des Streitbars (k 165–167) ist durch Randvermerk eindeutig angezeigt: kerumb II bl. 616 Das Sprecher-Ich weist die formale Dimension der Kunst als den hier und jetzt verfolgten Anspruch aus, wenn es um das Blümen (V.4) und den vollendeten, bruchlosen Kranz der Künste (V.7f.) geht. Der Reflex der Unmittelbarkeit alles Dinglichen (wer blumet mir die rosen / by dem wege, dez summers zyt […], V.4f.) wird sofort distanziert und verschoben auf die Ebene von Schrift und Auslegung: […] daz sagen uns die glosen (V.5). Die favorisierte Kunst lebt in der immer gleichen Wiederkehr vollendeter formaler Darstellung im kunste krantz. Kluge meynsterschafft (V.11) ist Gottes Führung unterstellt, sie zielt auf die Freude der Herzen und ihr gebührt höchstes Lob (V.10–12). Stichworte, die die Barstrophen zum Verbund fügen sind eben (k 165,6; k 167,15) und mass[…] (k 165,19; 166,2). Die zweite Barstrophe wendet sich unterweisend maßvollem Lob zu und die dritte Strophe zielt auf das rechte Verhalten, das von jedermann anerkannt werden sollte. 617 Das Bar k 168–170 ist mit seiner ersten und dritten Strophe dem jungen Meißner zugewiesen, vgl. RSM 1JungMei/1/508a,2 und RSM 1JungMei/1/506a,1.

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dass im Angesicht irdischer Vergänglichkeit (k 170) auch der unbedingte Gesang in seine Grenzen verwiesen ist. Der erste Sprecher betont, dass rechte[…] meynsterkunst (k 166,1) von der vernunft[…] (V.3) gesteuert wird, wobei gesang und wyse meynsterschafft (V.12) auf ihren Ursprung, das Herz, das brynnet (V.18), zurückgeführt werden. Der Verweis auf die Notwendigkeit des Schutzes (halt in in hut, V.16) und des Zwanges (wer in in twang gehalten kan […], k 166,19) attestiert dem meisterlichen Sang trotz seines hitzig[en] (V.18) Potentials Reguliertheit. Aufgegriffen ist damit der für den zweiten Sprecher zentrale Aspekt des Lobens. Dennoch scheint mir im Motiv des Brennens auf den Möglichkeitsspielraum meisterlicher Kunst verwiesen zu sein, trotz Normiertheit und Formiertheit. Wenn das Sprecher-Ich (k 167,13: ich singe von dem summer lang) in der Rolle des Minnesängers anstatt in der des Spruchdichters auftritt, ist der meisterliche Sang zum einen entlastet von den Bindungen an Fürst und Freigebigkeit, von der noch der zweite Sprecher zu klagen wusste (k 170), und er zielt zum anderen ganz auf die frauwen (V.3), die den Sänger mit dem crentzellin […] (V.6) belohnen. Die Gesinnungslenkung im Bereich der Kunst ist auf das höchste Gut gerichtet, die Güte der frauwen: Nu solt ir senger doch ein frisch gemute han, / nit abelan / durch aller frauwen gute (V.1–3). Diese Form des Gesangs, die in der Frau ihren Gegenstand und ihren Lohn zugleich hat, wird als zu lobende Form in Wort und Melodie bezeichnet (V.7–10: ob yman daz gefalle hie in sinem mut, / der hab in hut / gesang, beyd, wort und wyse). Das Sprecher-Ich verpflichtet sich dieser Textform zwischen Sangspruch und Minnesang618 und beansprucht in der performativ umgesetzten Rede: ich singe […] V.13–19 höchstes Lob (der wysen meynster danck, V.17). Es sind die Stichwörter ‚brennen‘ (k 166,18) und ‚entzünden‘ (k 174,5), die über die Brücke zwischen weltlicher und religiöser Thematik führen: So wie die Kunst aus dem Herzen des Meisters brynnet und der rechten Orientierung bedarf, so wird der andächtige Christ von den Wundern Christi enzunt und auf den rechten Weg geführt. Nach dem mit dem vanitas-Bar (k 171–173) gezogenen Schlussstrich619 lässt die Erzählung der 17 Wunder vom Leben Jesu (k 174–190) den Gedanken der Frömmigkeit erneut aufleben.620 Die paradigmatische Aussage der Vita Christi sehe ich in der ethisch-reli618

Zur Gattungsrelation von Minnesang und Sangspruchdichtung Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 37–50. 619 Ein schlichtes vanitas-Bar, das allein durch die rhythmisierende Klangfigur der Anapher wer bzw. wer ich (k 171,1.8.15; 172,2.4.6.7.10.12.13; 173,1.4.7.13) auffällt und durch die anitithetische Konstruktion im jeweils 19. Vers der Strophen. 620 Das längste Bar des Langen Tons umfasst 17 Strophen und erzählt in der Chronologie des Heilsgeschehens 17 Wunder vom Leben Jesu (Verkündigung und Menschwerdung, Str. 1; Geburt als Folge des Sündenfalls und Ankunft der Hl. drei Könige, Str. 2; Darbringung im Tempel und Weissagung Simeons, Str. 3; Taufe durch Johannes und Erdenleben, Str. 4; Einzug in Jerusalem, Str. 5; zwölf Jünger, 1. Abendmahl und Judasverrat, Str. 6; Vorhersage der Verleugnung Petri, Str. 7; Gebet im Garten Gethsemane und Sündenschlaf, Str. 8; Martyrium, Str. 9; Leiden Marias, Str. 10; Heilung des blinden Heiden durch den Gekreuzigten, Leid und Wegführung Marias durch Johan-

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giösen Orientierung menschlichen Verhaltens, die im Sinne einer existentiellen Basis gedacht ist und im Entzünden (k 174,5) und Brennen (k 190,19) zur Metapher geronnen ist. Dass die Metapher zuletzt als Warnung für die Fehlorientierung des Menschen eingesetzt wird – prynnet er in der helle glut […] (k 174,19) –, stärkt durch die Kontrastierung nur die paradigmatische Idee. Mit der Ermahnung, die heilsgeschichtlichen Wunder zu erinnern, erhält der Gedanke des Lebens aus dem Tod Kontur, und die Idee der Imitatio Christi wird auf die aus der christlichen Orientierung heraus immer wieder entflammte Kunst durchsichtig. Dieser Nexus ist im Sinne einer Demonstration im clage liet auf den (Langen) Ton, der durch den Tod des Meisters verwaist ist (k 191–193), ideal umgesetzt: Das Lob der meisterlichen Kunst überdauert den vergänglichen Leib des Tonautors. Klage und Lob gehen auseinander hervor, und das Lob des Klagenden stellt kunst und leben Frauenlobs vor gotte (k 191,5) auf Dauer. Frauenlobische Kunst ist in dieser Inszenierung mit dem Lob Marias und ihres Sohnes gleichgesetzt. Die herausragende lobenswerte Kunst Frauenlobs ist das Marienlob / das Frauenlob selbst. Die beiden Metaphern für diese Kunst, wunderwehe wort621 (V.11) und edel spehe wort (V.17), stehen für eine Kunstform ein, die sich inhaltlich dem Wunderbaren und ethisch Herausragenden widmet. Dass die Begriffe wort, grub (V.11, 17) und grunt (V.18) zusammenstehen, dass auf den Ursprungsort der Kunst, auf Herz und Vernunft, verwiesen wird, verdeutlicht einmal mehr den hier imaginierten Vorgang der Kunstverfertigung. Es geht um ein Eingraben, ein Eingravieren der Worte in den Grund, etwa in den einer Wachstafel, durch Herz und Verstand. So wie die göttliche Trinität nicht erfasst werden kann, so exzeptionell ist die Kunstfertigkeit (edel spehe wort) und der Prozess des Verstehens: […] den grunt nymmer sin dorchbort (V.18). Kein Mensch ist in der Lage, die edel spehe wort vollständig zu ergründen; ein Unmöglichkeitstopos, der analog zu den heilsgeschichtlichen Gegenständen des Langen Tons gebraucht wird. So wie die Wunder des Erwähltseins, der Geburt, der Menschwerdung und der Trinität nicht zu ergründen und nicht zu verstehen sind, so verhält es sich mit der Kunst des Frauenlobs. Gegenstand und darauf bezogene Redeform verhalten sich adäquat. Mit dem Nachruf auf Heinrich Frauwenlop, den usserwelte[n] meynster (V.19), ist gerade die dem Gegenstand nachgebildete auratische Seite des Texttyps Frauenlob als lobenswerte Seite und als ein tradierbares Wissen ausgestellt.622 Der meisterlichen Kunst ist in der göttlichen Ordnung ein Platz eingeräumt (k 192f.), der sich als ein kommunikativer Machtanspruch im irdischen Kreislauf von nes, Str. 11; Kreuzigung als Erlösungstat, Str. 12; Bestattung und Auferstehung, Str. 13; Höllenfahrt und Erscheinen des Auferstandenen, Str. 14; Himmelfahrt, Str. 15; Maria Himmelfahrt, Str. 16; Jüngstes Gericht, Str. 17). 621 Das Komopositum wunderwaehiu wort findet sich im „Karlmeinet“, 29,11. 622 Die zweite und dritte Strophe stellen die Vergänglichkeit irdischen Adels und irdischer Macht sowie die adamitische Nachfolge aller Menschen heraus. Sie weisen mit der Aufzählung Gestorbener, angefangen von den Päpsten, Kaisern, Bischöfen, Kardinälen über die Recken hin zu den Königen und Fürsten auf die Vergänglichkeit alles Irdischen hin. Den Tod überdauert nur die tugendtat (k 192,16), weil sie durch die Meister tradiert wird (k 192,17).

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Wissen und Meisterschaft

Leben und Tod beschreiben lässt. So wie der Ton Frauenlobs fortlebt, obgleich er verwaist ist, so leben die lobenswerten Taten im kunstvollen Wort der Meister fort. Einem verstorbenen Autor, dessen Ton und dessen Texttyp tradierungswürdig sind, stehen verstorbene Adlige und deren tradierungswürdige herausragende Taten zur Seite. Das Wissen des verstorbenen Autors ist nicht überlieferungsfähig, weil seine literarische Gestaltungskraft nicht (mehr) adäquat ergründet werden kann, doch das Frauenlob als eine spezifische Redeform, ist eine Tugendtat von Dauer, die in ihrem formalen Ausdruck, dem Ton, überlieferungsfähig ist. Dass dem so ist, dafür stehen die drei zum Bar gefügten Folgestrophen zum wîpvrouwe-Thema ein (k 194–196), die zu J 31, 32 und 27 parallel überliefert sind, und hier als Zitat der meisterlichen Dichtung des verstorbenen Autors verstanden werden müssen.623 Es sind dies drei Strophen, die das Lob der vrouwe thematisieren und die in das Lob der drei Seinsformen und in das Lob der höchsten vrouwe münden. Zugleich stehen sie in ihrer etymologischen und sprachtheoretischen Ausformung für die Schwierigkeit des Begriffs-Verstehens, die im Klagebar angesprochen wurde, ein. Im Geheimnis von Inkarnation und inhabitatio trinitatis (k 197–199)624 wird dem Lob der höchsten meit (197,13) neuer Ausdruck verliehen, und zugleich wird die Beständigkeit des Texttyps im Ton des verstorbenen Tonautors vorgeführt.625 Maria als 623

Vgl. die Analyse der Parallelüberlieferung, Kapitel IV.9. Zum Verhältnis von Trinität und Inkarnation aus biblischer und theologischer Sicht vgl. Kern, Trinität (1971), S. 27–80. Eine metaphorische Interpretation der Inkarnation führt Buntfuss, Tradition (1997), S. 172–182 vor. Er beschreibt in überzeugender Weise die Analogien zwischen den Problemen einer Versprachlichung der Inkarnation und dem Vermögen metaphorischer Rede. Ist hier der Prozess des Explizierens prinzipiell unabschließbar, dann ist dort das Umsetzen in Sprache ein unabschließbarer Vorgang der Annäherung. Was mit dieser Analogisierung beansprucht wird, ist die lange Dauer literarischer Rede, die als prinzipiell unabschließbare Redeform gedacht werden muss. Siehe auch Peters, Theologisch-philosophische Gedankenwelt (1957), S. 12–27. 625 Der Wechsel vom wîp-vrouwe-Thema zur Inkarnation tritt hinter das Marienlob, hier k 197,13–19, zurück. Diese erste Barstrophe thematisiert nochmals das Wunder der Inkarnation, wobei die Herleitung aus dem Gedanken der dreieinigen und ungeschiedenen Minne erfolgt: die dry mit einer mynne / gestercket sind […], V.4f. Mit dem Fall Adams wird diese Einheit gestört, mit Maria Empfängnis und der Menschwerdung wird die Verfehlung gesühnt. Vor dem Paradigma der Minne verbinden sich der alttestamentliche Fall des ersten Menschen mit der neutestamentlichen Menschwerdung und es verbinden sich Unglaube und Nivellierung der einen Minne mit dem unbedingten Glauben und der göttlichen, umgreifenden Minne, deren Verkörperung der bernde[…] grunt (V.11) ist. Zur Mariologie und ihren Bezügen zu AT, NT, Scholastik, Dogmatik und Sangspruchdichtung bei Frauenlob s. Peters, Theologisch-philosophische Gedankenwelt (1957), S. 107–157; zur Geschichte der Marienverehrung und -dichtung Karl Stackmann, Magd (1988). Stackmann beschreibt u. a. eindrücklich die bei Konrad von Würzburg verarbeitete Tradition deutscher Marienhymnik und den gegenbildenden Entwurf im „Marienleich“ Frauenlobs, ebd., S. 11–16, der von der Doppelherkunft und der Mittlerfunktion Marias geprägt ist: „Einerseits“ hat Maria „teil an der Welt der Menschen, und in dieser Sicht ließ sich ihr Gottesverhältnis in den erotischen Bildern des alttestamentlichen Buches darstellen, deren allegorischer Sinn für christliches Verständnis offen zutage lag. Andererseits war durch die Apokalypse, als deren Autor die Heilige Schrift Jesus Christus

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Responsorium, als berende[r] grunt (k 197,11), rechtfertigt jegliches in den Grund gegrabene (Marien- und Frauen-)Lob, sowohl das des toten (Ton-)Meisters als auch das des in diesem Ton dichtenden Meisters. Schlagworte wie das Wort grunt (k 191,18; k 197,11) erzeugen barübergreifend Brücken und ermöglichen es, Analysen auf einer Ebene mittlerer Reichweite durchzuführen. Zum Beispiel erlaubt der durch das Schlagwort grunt gestiftete Bezug zwischen Maria einerseits, als dem Gegenstand des Lobs im letzten Bar, und dem Preis der Lobrede andererseits, in k 191–193, einen Analogieschluss folgender Art: Maria und die Lobrede erschaffen etwas qualitativ Neues, ‚gebären‘ / erschaffen aus einem grunt heraus durch das eingeschriebene, eingravierte wort (k 191,11. 17; k 197,10). Die Gottesmutter und das kunstvolle Frauenlob sind analog inszeniert; so wie die höchste aller Frauen Lob verdient, so verdient es auch das Frauenlob selbst. Diese exzeptionelle Form der doppelten Rechtfertigung ist unübertroffen. Sie lässt sich in die Nähe der Legitimationsstrategien des Minnesangs stellen, wenn der Sänger die Klage über das Ausbleiben der weiblichen Gnade ethisch überformt und auf die eigene Standhaftigkeit im Wiederholen des Klagegesangs bezieht bzw. die Klage im Sinne der kunstvollen Klagerede ästhetisch umcodiert. Doch diese Protoform eines L’art pour l’art benötigt einen Restbezug zur Dame, und sie darf die Dame als ideale und externe Größe im Gattungshorizont nicht ausblenden, um den Status des Minneliedes zu wahren. Das Frauenlob des Sangspruchs hingegen, so wie es in k inszeniert ist, scheint mir eine autopoietische Form zu haben. Der Gegenstand wird über die Metaphern des eingeschriebenen und geborenen Wortes und des Brennens aus dem Herzen als inkludierter Teil des Lobs kenntlich. Das Lob lebt aus sich selbst heraus. Die beiden letzten Barstrophen sind im Sinne der für die Barbildung typischen Ausschreibung eines Gedankens konzipiert und homolog zu k 197 angelegt: So wie das Lob und Maria analogisiert werden, so sind Gottes Gnade, Lehre und Gabe mit dem Lob Gottes reziprok gedacht: du gyst den lyst, daz wor dir geistlich leisten lop […] (V.15, 19). Die künstlerische Konsequenz dieser Wechselseitigkeit wird im Gotteslob vorgeführt, das stilistisch eindringlich in der anaphorischen Namensnennung Got, vatter, son (k 198,1)626 und der variierenden Wiederkehr der Perichorese (k 199) zum Ausdruck gebracht ist. Es stellt jenes künstlerische Vermögen aus, das in k 198 als Gabe Gottes eingefordert wird (ler uns […] reyne[…] synne, V.8f.).627 Marienlob und Gotteslob am Beginn und am Schluss des Langen Tons in k markieren, dass und wie die Inszenierung der Analogie von Gegenstand und künstlerischem Ausdruck im preiswürdigen Lob der höchsten vrouwe aufgehen. Deutlich wird auch, wie deren Reziprozität die Autopoiese des Lobs fördert. Man kann mit Recht sagen, dass hier altbekannte Strategien panegyrischer Rede modifiziert sind. Sie werden an selbst nennt, das übermenschliche Wesen der Gottesgebärerin gesichert. Im Vertrauen darauf konnte Frauenlob ihr Worte in den Mund legen, in denen sie sich mit einem die ganze Schöpfung durchwaltenden geistigen Prinzip ineinssetzt“, ebd., S. 15. 626 Vgl. auch k 199,1.5 (Got vatter alt, got vatter son, got vatter geist. got vatter, son […]). 627 Vgl. auch k 198,15: du gyst den lyst.

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einem anderen Gegenstand vorgeführt, insofern das Frauenlob an die Stelle des üblichen Herrscherlobs gerückt ist. Obgleich mit den Formen religiöser Rede, insbesondere den Gebetsstrophen, die literarischen Redeformen streckenweise überformt und verdrängt werden, rückt die poietische Selbstbezüglichkeit des Lobens immer wieder in den Blick. Die Legitimationsformen, die der andere Gegenstand hervorbringt, verhindern das nicht: Im Angesicht von Trinität und mariologischer vrouwe behauptet sich das Sprecher-Ich meisterhaft. Es veranschlagt ein gegenstandsbezogenes, biblisches und heilsgeschichtliches Wissen, genauso wie eine aktive Religiosität. Auf diese Weise kann es den für die Gattung der meisterlichen Dichtung zentralen Funktionen von Unterweisung und Mahnung, zwischen Gelehrtheit und praktischer Frömmigkeit, gerecht werden. Das geschieht, indem es sich der Gemeinschaft der Christen integriert und den Wissensvorsprung in anverwandelte predicatio umsetzt. Doch Basis und Ziel all dieser Aktivitäten ist das Frauenlob im Marienlob. Die laudative Rede, die das gesamte Corpus durchsetzt, ist zugleich Iterationsmotor meisterlichen Redens und strophisches Gelenk zwischen weltlichen und geistlichen Gegenständen. Das k-Corpus des Langen Tons nimmt, mehr als jede der drei anderen Hauptüberlieferungszeugen, frömmigkeitspraktisches Wissen auf. Der bereits in C und J etablierte Texttyp ‚Frauenlob‘ wird um ein aktives, mariologisches Frauenlob erweitert und in der Intensität der Präsentation als zeitgenössisch etablierte Redeform ausgestellt. Die Homologien zwischen marianischer Vermittlung, göttlicher Entzündung und dem Vorgang des schöpferischen Lobens ließen sich vielleicht als paraperichoretische Praxis bezeichnen. Dafür gibt es einen dreifachen Anhalt: Das Frauenlob schöpft den Gegenstand, den es preist, aus einem entzündeten Selbst heraus. Die Notwendigkeit des Lobs birgt sich im Gegenstand. Und die soteriologische Dimension des Gegenstandes ist zugleich Voraussetzung und Ziel des Lobes.

4.3

Biblisches und frömmigkeitspraktisches Wissen als Funktion des Lobs (Resümee)

Dass religiöses und weltliches Wissen für die Sinnkonstitution in k eine Rolle spielen, entspricht der Typik später meisterlicher Dichtung. Auch die Verschränkung von Wissensfacetten aus beiden Bereichen reicht nicht hin, um einen Sonderstatus für k behaupten zu können. Der thematische Entwurf der Bare und Strophengruppen darf nicht als einheitlicher, Kohärenz unterstellender Entwurf verstanden werden, so wie das gemeinhin bei einem narrativen Text geschieht. Dafür sind die thematischen Facetten zu disparat und eine Ordnung im Sinne eines linearen oder zirkulären Arrangements ist nicht vorhanden. Die Einbettung biblischen, frömmigkeitspraktischen und lebenspraktischen Wissens geschieht im Langen Ton in k unsystematisch. Einzig die Engführung literarischer und religiöser Rede ist durchgängig auszumachen, sei es im Nebeneinander oder in der Überblendung. Letzteres repräsentieren Situationen, in denen das lyrische Ich

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gleichermaßen bittender Sünder, mahnender Priester und lobender Spruchdichter ist. Es lässt sich ebenso behaupten, dass der Status meisterlicher Rede und meisterlicher Kunst immer wieder verhandelt wird und dass dafür das gesamte religiöse Wissen legitimierend herangezogen wird; sei es im Sinne der Autorisierung poetischer Aussagen durch biblische Personen; sei es durch konnotative Umbesetzungen des Wortmaterials, wenn der wîp-Begriff oder Metaphern wie das Entzünden für beide Texttypen, das Marienlob und das Frauenlob, Verwendung finden.628 Es ist vor allem die Redeform des Lobens, die mehr als in C, J und F im Zentrum steht, und man könnte meinen, dass der panegyrische Duktus der Spruchdichtung aufgrund seiner Typik, seiner Bindung an Geldgeber und Aufführungsmodus, überlieferungsfähiger als andere Redeformen ist. Der gesamte Ton in k ist mehrheitlich durch Gotteslob, Priesterlob, Marienlob und Frauenlob bestimmt. Das Spezifische dabei ist einerseits die Öffnung des Lobs auf den Akt des Lobens selbst und andererseits die konnotative Ausbeutung des Lobgegenstandes. In den Blick geraten anthropologische, soziale und gesellschaftliche Bedingungen des Lobens wie die Instabilität menschlicher Rede, der Notstand der Welt und der Kunst sowie die Regeln und Techniken guter Kunst. In der Quintessenz all dieser Argumente steht eine aus heteronomen Zwängen (Fürst, Konkurrenten) herausgenommene Kunst, die in der maßlosen Verausgabung des Lobs das Lob selbst generiert. Die sentenzhafte Formulierung dafür ist: Je mehr man aus der Hand gibt, umso mehr besitzt man. Dabei werden in kreisendem und wiederholtem Ansatz die Geltungspotentiale biblischer Instanzen (dreieiniger Gott, Maria, Johannes, Engel, Propheten, Jesse, Abraham) für die spruchmeisterliche Redeform und das spruchmeisterliche Ich ausgeschöpft, indem funktionale Analogien gebildet und Konvergenzen zwischen den Autoritäten und dem Sprecher-Ich herbeigeführt werden. Zu den Analogiebildungen, bezogen auf das Sprecher-Ich, gehören die Mittlerrolle Marias, die Meisterrolle Gottes, die Unterweisung des Priesters, das Loben durch himmlische Instanzen sowie die Vision des Johannes. Das Frauenlob als Texttyp, der Lobgegenstand und auch der Anspruch des Meisters, zwischen Gott und christlicher Gemeinde zu vermitteln, erfahren auf diese Weise Rechtfertigung.629 Einen zweiten Geltungsfonds, 628

Margreth Egidi und Susanne Köbele nehmen diesbezüglich je andere Aspekte in den Blick: Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 242f., arbeitet das Konzept der konnotativen Ausbeutung (Warning) aus, wenn sie, bezogen auf den Zarten Ton, zeigt, dass der religiöse Diskurs nicht einfach übernommen wird, sondern dass dessen Geltungspotential als Belegargument für die literarische Aussage eingesetzt werden kann. Köbele, Lieder (2003), vgl. etwa S. 163–179, beschreibt die Überschreitung religiöser Rede in deren Bearbeitung, die sie in den Liedern als Umbesetzung der Semantiken, etwa der des Sehens, fasst. Für den Langen Ton in k werden sowohl religiöse und weltliche Redeformen im Sinne Köbeles verknüpft als auch Geltungspotentiale v. a. religiöser Diskurse für die literarische Darstellung herangezogen. 629 Während Margreth Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 202f., das mariologische Argument als Geltungssicherung für den Preis der Frau diskutiert, die Tradition dieses Arguments reicht zurück bis Augustinus und Abaelard (ebd., S. 202f. Anm. 705–713), argumentiert sie vornehmlich gegenstandsbezogen für die Spruchdichtung vor Frauenlob. Im Bereich der Strophen des Langen Tons

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Wissen und Meisterschaft

der ausgeschöpft wird, bilden elementare religiöse Redeformen (Gebet, Predigt) und religiöse Praxen (Eucharistie, Frömmigkeitsunterweisung). Damit bezieht die meisterliche Rede als bittende, mahnende und lobende ihre Daseinsberechtigung aus der anverwandelten Mittlerfunktion, aus wahrem biblischem Wissen und auch aus zeitgenössischen religiösen Verfahrensformen. Schaut man auf die Einbettung heilsgeschichtlichen Wissens, dann sind alle Formen der Adaptation, die Metaphorisierung, die Allegorisierung, die Verrätselung und auch der Rekurs auf Johannesvision, Verkündigung und Hohelied, dafür da, das Marienlob als die einzig richtige und wahre Form des Spruchdichterwortes zu etablieren. Aus der Verschränkung von Objektebene und poetologischer Ebene erklärt sich für k, dass das Marienlob immer wieder auch autopoietisches Lob ist. Weil Maria im Rahmen der Frömmigkeitspraxis als Mittlerin zwischen Gott und Mensch und als heilssichernde Instanz verstanden wird, gilt ihr das Wort des Bittenden, und weil ihr Lob niemals vollständig sein kann, ist die Rede des Spruchdichters eine immer unabgeschlossene. Auf der anderen Seite wird das Wort des Spruchdichters dem menschgewordenen Wort analogisiert und verdient damit selbst höchstes Lob. Es ist die Konvergenz des biblischen Wortes und des Spruchdichterwortes, die sich abzeichnet und als intrinsische Verknüpfung von Gottes Wort, Spruchdichter-Wort und wunderwehe[m] wort dargestellt ist. Das gesprochene Dichterwort ist dabei genealogisch legitimiert, denn es geht aus dem durch Liebe geborenen, menschgewordenen Wort hervor. Und so wie das ewige Wort aus Maria heraus Mensch wird, so graben Herz und Verstand des Spruchdichters wunderwehe wort aus. Es ist eben dieses Wunderbare und ethisch Herausgehobene, auf das das Spruchdichterwort zielt – die Benennungen dafür reichen von Maria und Gott über wîp und vrouwe bis zur Kunst selbst. Doch obgleich weder Gott noch Maria und – dazu analog – die im Herzen eingravierten Worte vollständig ergründet, erfasst, verstanden und ausgesprochen werden können, nobilitiert gerade die Unsagbarkeit das Wort des Spruchdichters, im beständigen Bemühen um das Wort selbst. Zudem wird die soteriologische Funktion Marias auf das Spruchdichter-Ich übertragen, denn die immerwährende ‚Geburt‘ des Wortes dient allein der Heilssicherung der christlichen Gemeinde, für die das Wort ausgesprochen wird. Der Nachruf auf Frauenlob betont die auratische Seite des Texttyps Frauenlob als lobenswerte Seite, denn das Wissen des verstorbenen Meisters ist nicht überlieferungsfähig. Seine literarische Gestaltungskraft lässt sich nicht wiederholen, auch nicht adäquat ergründen, aber die spezifische Redeform, das Frauenlob, lebt in ihrem formalen Ausdruck, dem Ton, fort. Dass es dabei immer zugleich um einen im Sinne der Freigebigkeit entgrenzten, nämlich die ‚Ware‘ verausgabenden, Möglichkeitsreichtum einer Kunstform eigenen Rechts geht, macht Eigengeltung und eigenlogische Sinnproduktion des Lobens und Mahnens scheint mir der aus der heilsgeschichtlichen Wahrheit gezogene Geltungsanspruch mit der Analogiesetzung von Maria und vrouwe in erster Linie auf den Texttyp des Frauenlobs zu zielen. Das Geltungsargument, so ließe sich postulieren, liegt nicht allein auf der Objektebene, sondern auch auf der poetologischen Ebene.

Die Verschränkung von Wissen und Poesie im Langen Ton von k

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aus. Es ist das sinnhafte und sinnstiftende Wort, das diesen Anspruch durch den Mund des Sprecher-Ichs verkündet. Die Herausgehobenheit der Kunstform zeigt sich im Verzicht auf fürstlichen Lohn und in der Konzentration des Lohns allein auf das Heil. Modus der Exzeptionalitiät ist zum einen die Überbietung, wenn das Lob durch himmlische Instanzen ausgesprochen wird. Zum anderen ist es die Überhöhung, wenn das Dichterwort aus dem menschgewordenen Wort hervorgeht und wenn der zu lobende Gegenstand, der krame, in seiner Unverfügbarkeit selber nicht zu übertreffen ist. Die Vertretung des Sprechers durch biblische Instanzen verleiht dem Spruchdichterwort Signifikanz und Recht. Die Herausgehobenheit zeigt sich daneben auch im intrinsischen Antrieb der Dichtkunst: Erstens wird der Gegenstand aus dem Lob heraus immer neu erschaffen; zweitens liegt die Notwendigkeit des Lobs im Gegenstand selbst und drittens ist die soteriologische Dimension des Gegenstandes zugleich Voraussetzung und Ziel des Lobes. Treffende Metaphern hierfür sind das eingravierte und geborene Wort sowie das entflammte Herz. Es ist das Reden als plurale kommunikative Form, es sind dessen Instabilität, dessen Ausdrucksreichtum, dessen Mehrdeutigkeit, die immer wieder in den Blick rücken, und es werden immer wieder gelingendes und scheiterndes Reden als die beiden zu kalkulierenden Seiten verifiziert. Es ist signifikant für k, dass sowohl durch Exempel oder Metaphern illustrierte Aussagen wie das Zwingen der Zunge als auch verhaltensrelevante Begriffe wie Minne oder Recht invertiert noch einmal präsentiert werden. Mit diesem Argumentationsmodus ist nicht nur das situative Potential einer Sache in seinen Extremen anschaulich, auch zeigt sich der Möglichkeitsreichtum sprachlicher Darstellung in der invertierten Wiederholung stärker als bei kontrastarmer Repetition. Damit ist ein Argumentationsmodus gefunden, der durch die Umbesetzung der Aussagen das spruchmeisterliche Reden selbst verlängert.630 Gleiches gilt für die Überschreitung des Gegenstandsbereiches, wenn der Blick sich verschiebt vom (imaginierten) realen Zustand der Welt auf die (nur noch) literarischen Imaginationen von Welt und damit auf die Kunstform des Lobens selbst. Frauenlob und Gotteslob bzw. Marienlob sind in k übereinandergelegt, so dass der Analogieschluss von Gegenstand und künstlerischem Ausdruck im Lob der höchsten vrouwe und im Eigenlob aufgehen. Die Strategien panegyrischer Rede sind auf einen anderen Gegenstand, das Frauenlob, verschoben worden. Die laudative Rede gerät zum Motor der Bearbeitung eines vor allem biblischen Wissens, das, frömmigkeitspraktisch gebunden, den Texttyp Frauenlob erweitert und ihn als etablierte, gebrauchsfähige, nämlich heilssichernde Redeform vorführt. Auch wenn nicht von einem thematisch kohärenten Entwurf der Bare und Strophengruppen gesprochen werden kann, so zeichnet sich doch ein poetologischer Entwurf der im Langen Ton vereinten Bare ab. Die 630

Das spruchmeisterliche Reden wird hier auch als eines des Einübens (im Sinne rhetorischer exercitatio) in die exemplarische und die metaphorische Redeform kenntlich. Mit der Wiederholung (im Sinne rhetorischer imitatio) und der invertierten Wiederholung eines metaphorisch präsentierten Gegenstandes wird Sinn erzeugt, der die Bedeutung der vorgegebenen Metapher überschreitet hin auf eine nächste literarische Aussage (im Sinne rhetorischer aemulatio).

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Wissen und Meisterschaft

Meisterschaft des Frauenlobs liegt in der Art und Weise der Rechtfertigung, die man wohl als Nobilitierung bezeichnen kann: Das Lob, das aus seinem Gegenstand lebt, ist wegen seines Gegenstandes herausragendes, höchstes und immerwährendes Lob. Und es ist an Vernunft, menschlicher Würde und Heilsicherung orientiert auf der Basis der prinzipiellen Erlösungsfähigkeit des Menschen, so dass jede Form irdischen Lohns (durch den Fürsten, die Damen, die Konkurrenz) hinter dessen transzendente Form zurücktritt.

5.

Versuch einer Typologie der poetischen Formung des Wissens im Langen Ton

Die Verschränkung der epistemischen und der poetologischen Facetten ist tonimmanent nicht zu erfassen, weil sich die Austauschprozesse zwischen poetologischen, ethischen, rechtlichen, religiösen und sprachtheoretischen Argumenten nicht systematisieren lassen. Das liegt gattungsbedingt daran, dass es in keiner der Toncorpora eine thematische Linie gibt, die strophenübergreifend einen klaren Zusammenhang stiften würde. Die Gattungsdiskussion orientiert Kohärenz vornehmlich an inhaltlichen Aspekten, so dass lyrische Texte immer nur im strophigen Rahmen betrachtet werden. Die hier vorliegenden Studien, die den Ton als textuelle Formation auffassen und damit strophenübergreifend ansetzen, bedienen sich einer für narrative Texte gültigen Prämisse, die für die meisterliche Dichtung noch nicht im Recht steht. So muss sich eine solche Ausgangsbedingung den Vorwurf der Kohärenzunterstellung gefallen lassen. Grundsätzlich werden strophige Gebilde, ganz gleich ob es Lieder, mehrstrophige oder narrativ bestimmte Einheiten bzw. Bare sind, als linear immer wieder neu ansetzend bewertet. Die Strophengrenze fundiert eine solche Sicht, ungeachtet der Diskussion um Ein- oder Mehrstrophigkeit der meisterlichen Dichtung. Die Strophengrenze lässt sich nur dann vernachlässigen, wenn man von einer Einheit des Dargebotenen (etwa der des Gegenstandes, der des Inhalts oder der des Erzählten) absieht und den ‚Modus der Darbietung‘ als Fokus nutzt. So kann man davon ausgehen, dass in Analogie zu den Ebenen des Erzählens und des Erzählten die Ebenen des Redens und des Dargebotenen in der meisterlichen Dichtung anders gewichtet sind. Das Dargebotene kann aufgrund seiner disparaten thematischen Auszeichnung keinen Zusammenhalt der textuellen Formation des Tons stiften. Die Ebene des Redens hingegen ist als Gestaltungsebene sowohl reflexiv, selbstreflexiv als auch in der praktischen Umsetzung übergreifend präsent, so dass sich aus dieser Perspektive vergleichende Aussagen zur Fügung der Strophen in den vier Toncorpora treffen lassen. Wenn auch eine Trennung der Ebenen nur heuristisch aufgeht, weil ihr Verhältnis in der lyrischen Dichtung ganz anders gestaltet ist als die deutliche Trennung von metasprachlicher Passage und Handlung in der Epik, so taugt sie

Versuch einer Typologie der poetischen Formung des Wissens im Langen Ton

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doch als Selektionskriterium. Schließt man thematische Kohärenz aus, dann erkennt man, dass das Augenmerk in C, J und F auf der Argumentation liegt. Darunter verstehe ich das Tarieren unterschiedlicher, oftmals konträrer Aussagen, ohne dass in jedem Fall ein Sängerwettstreit bzw. ein Rätselstreit strukturell bestimmend wäre. Häufig sind die Argumente als gegenläufige Meinungen der Rede kenntlich gemacht, so dass sich ein Dialog der Meinungen abzeichnet. Die unterschiedlichen Stimmen im Sinne der Bachtin’schen Terminologie liegen bei Streit und Argumentation nicht nur auf der Ebene des Wortes, sondern sie werden repräsentiert durch die gebotenen unterschiedlichen Perspektiven eines Sachverhaltes. Das Strophengefüge in C ist durch die Beischriften deutlich als ein Argumentationswettstreit zweier Sänger strukturiert, in dem der sich von den dummen Sängern abgrenzende Meister das letzte Wort hat. Der Wettstreit dreht sich um die Bearbeitungsformen vorausliegenden literarischen Wissens – es geht um die Tradition des Meisters, wobei die Auseinandersetzung zwei Kunstkonzepte freilegt. Eines wiederholt in den Spuren der Tradition, was vorgegeben ist, und ein zweites zielt darauf, dass das Vorgegebene überhöhend erfüllt wird. Das Argumentum mit dem meisten Gewicht ist die Auslegungsverpflichtung eines jeden Meisters. Verfahren der Auslegung des Wissens werden in C im Rätsel erprobt. Und im Blick auf die höfische Kommunikation wird diese Verpflichtung am aktuellen höfischen Zustand dargestellt, wenn muot und êre ausgelegt und zuletzt auf die Sangeskunst als eine beständig gepflegte und sinnvoll eingesetzte Redeform zugespitzt werden. Im Strophengefüge der Jenaer Liederhandschrift ist das Augenmerk ganz zuerst von anthropologischen Grundannahmen geprägt, von der Verpflichtung, zu unterscheiden, abzugrenzen und zu bewerten. Diese lebenspraktische Orientierung wird sowohl Ausgangspunkt für das Debattieren, das Ratgeben und das Loben als auch für die das Corpus übergreifende Argumentation um rechtes Verhalten und rechte Gesinnung: Sie umfasst den guten Rat, das richtige Recht, die gute Gesinnung, die richtige Benennung, den guten Gesang und dessen rechte Form, das Lob, sowie die richtige Herleitung der Namen, die Entsprechung von Namen, Verhalten und Art bzw. Worten und Taten. Die Argumentation des Guten und Rechten ist in weiten Teilen auf die Ebene des Semiotischen im Sinne der Wort- und Dingdeutung verschoben, wo sie sich als ein Ausweis meisterlichen Könnens zeigt. In ihrer ethischen Ausrichtung auf das Gute und Vorteilhafte ist die lebenspraktische Orientierung allgemein menschlichen und eben auch meisterlichen Verhaltens an das Deuten des Vorausliegenden (Material, Worte, Sachen, Verhaltensweisen) gebunden. Auch wenn der Wechsel des Gegenstandes zwischen wîpvrouwe-Thematik, namen-art-, vox-res- und houchvart-Reflexion ohne den strukturellen Überbau eines Streits nicht dem Zusammenhang des Strophengefüges, so wie ihn C inszeniert, gleichkommt, sind doch die Argumentationen in J als Debatten des Sprechers über menschliche Verhaltensmaßstäbe kenntlich. Dass damit, der Funktion des Spruchdichters entsprechend, Rat und Ermahnung verbunden sind, täuscht nicht darüber

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Wissen und Meisterschaft

hinweg, dass die Argumente im Für und Wider entwickelt und immer als zu deutende dargestellt werden. Die Darstellungsmöglichkeiten meisterlichen Könnens zwischen Produktion und Deutung des Vorausliegenden (z. B. religiöses Wissen, Herrscherlob, Dinge, Worte) sind sehr weit gefächert. Sie reichen vom Auffinden, Erfinden und Auswählen über das Bilden, Erschaffen und Bearbeiten durch den Verstand bis zur Überhöhung des Gegenstandes im Selbstlob der Kunst. Die abstrakteren Begriffsdebatten kreisen um die Relation von Sprache und Wirklichkeit, um Fragen der Ähnlichkeit von Ding, Begriff und Wort, als auch um Fragen nach dem Verhältnis von Zeichen und conditio humana (Körpersprache, Mimik, Tonlage etc.). Grundlegend für solche Debatten ist eine körpergebundene und anschaulich-konkrete Darstellung der Suche nach den rechten, den Sachen und Dingen angemessenen Worten. Es zeigt sich, dass der Wunsch nach der eigentlichen Bedeutung und nach der Sicherung des Verstehens mehrere Deutungsperspektiven eröffnet. Nicht zur Gänze ergründbare Gegenstände wie das Weibliche oder die Gesinnung pluralisieren den Sinn. Die Annäherung an die eigentliche Bedeutung der Worte erfolgt nach den Maßgaben der Ähnlichkeit mit dem Vorausliegenden. Angesprochen werden z. B. die physiologische Disposition – die Ding-Art-Entsprechung bzw. die Entsprechung von nomen, lut, art und ursprinc, die gerade in den Verfahren des Deutens und des Glossierens umgesetzt sind. Die eigentliche Bedeutung ist auf ihren Ursprung in Gott als den ersten Benenner durchsichtig, in dessen Tradition sich das Spruchdichter-Ich mit überzeugender Argumentation in Rat, Lehre und Herrscherlob stellt. Dass das Frauenlob in seiner emphatischen Form, so wie es in k umgesetzt ist, in J ausgespart bleibt, liegt möglicherweise an der stark rationalen, auf die Benennung gerichteten Orientierung der Argumentation. Die Debatte bzw. die Gewichtung der Meinungen ist damit eine deutlich reflexive, die in der conclusio die Funktion von Unterweisung und Rat erfüllt. Der Lange Ton der Weimarer Liederhandschrift F schließt hier bezogen auf die Bearbeitung anthropologischen Wissens und typisch höfischer Verhaltensrichtlinien an, insofern das in der älteren Überlieferung bearbeitete Thema des rechten Verhaltens unter dem Stichwort des staete[n] wandel[s] fort- und weitergeführt wird. Die detaillierte Argumentation im Bereich der anthropologischen Voraussetzungen und der entsprechenden Grundannahmen, bezogen auf rechtes Verhalten und rechtes Loben, werden nicht erneut entfaltet, sondern in einem ganz konkreten Punkt, nämlich dem Umgang mit Verstand und Wille, weitergeführt. Die eingebetteten Wissenspartikel sind in keiner Weise systematisiert, dafür aber funktional auf die argumentative Entfaltung des Problems gerichtet. Philosophisches und anthropologisches Wissen werden ethisiert und lebenspraktisch exemplifiziert sowie in weitreichenden volkssprachlich-philosophischen Reflexionen poetologisch neu dimensioniert, um die zentrale Relation von freiem Willen und bedingtem Handeln facettenreich auszuschreiten. Die typischen Redeformen der Spruchdichtung, das Ratgeben und Loben, erhalten im philosophischen Diskursnetz von Gut und Böse ihre Rechtfertigung als ideale und damit

Versuch einer Typologie der poetischen Formung des Wissens im Langen Ton

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vollkommene Formen der Rede, wobei das Frauenlob in F ausgespart bleibt. Sie werden als situativ bedingte, durch die rechte göttliche Ordnung legitimierte und vernunftgesteuerte Handlungen ausgewiesen. Ratgebender und Ratnehmender sind unter der Prämisse der richtigen ethischen Orientierung aufeinander bezogen, so dass im Fragen der Ratnehmenden und im Antworten des Ratgebenden eine strukturelle Verknüpfung gefunden ist, die die Notwendigkeit guten Rats, die Treue des Ratgebers und dessen Funktion als Lenkender und dessen Meisterschaft gegenüber dem falschen, untreuen Ratgeber deutlich werden lassen. Da die Verknüpfung als Verhaltensdispositiv beider Seiten etabliert wird, zeigt sich das Ratgeben als Form spruchmeisterlicher Rede, die durch den Ratnehmenden bedingt und zugleich selbstentschieden ist. Immer dann, wenn die Argumentation des Rats sich auf eine neue Situation einlassen muss, ist der Rat als eine selbstbestimmte künstlerische Form kenntlich. Das Herrscherlob konturiert in seiner autopoietischen Form das meisterliche Vermögen, denn es ist der Meister, der zwischen dem Richtigen und dem Falschen unterscheiden kann, der im Wissen um die Lobenswerten das Lob entwirft, es reflektiert und so die Prämissen richtigen Verhaltens dauerhaft zu loben vermag. Zwischen Eigenlob und Herrscherlob sind es der freie Wille (willekür), die Gesinnung / das Begehren (muot), die mâze und die triuwe, die im Sinne von Kardinalmaximen jegliches Verhalten bestimmen. Die Argumentationen bemühen sich um das Verhältnis dieser Maxime: Sie relativieren die Instabilität des menschlichen Begehrens und die habituelle Orientierung hin auf das Gute. Sie zeigen, dass die mâze eine erlernbare Richtlinie zwischen Gutem und Bösen ist, die dem freien Willen zur Seite treten kann. Und sie zeigen, dass es vollkommene göttliche Tugenden wie minne, triuwe und vuoge gibt, die wie die mâze eine stabile Orientierung des Handelns gewährleisten, wenn sie verinnerlicht sind. Und damit überzeugt das Toncorpus von F aus der Perspektive der geführten Argumentation trotz des thematischen Wechsels. Die poetische Dimensionierung des eingespeisten Wissens zielt auf eine im Irdischen zu leistende Formung des Verhaltens und Redens, deren Lenkung durch den freien Willen und den menschlichen Verstand argumentativ ausgeschritten wird. In der aktuellen Umsetzung im Rat und Lob zeigt sich die Meisterschaft des Spruchdichter-Ichs. Auch k greift im Diskursnetz des Langen Tons einen thematischen Fokus parallel zur älteren Überlieferung auf, nämlich die unvollkommene Beschreibbarkeit der Dinge und physischen Zustände aufgrund ihrer Veränderung in Zeit und Raum. Die Horizontverschiebung in k, die religiöse und vor allem mariologische Orientierung der Argumentationen, analogisiert diesem sprachlichen Unvermögen die Unbeschreibbarkeit transzendenter Phänomene. Der Topos der Unverfügbarkeit ist dabei der Mantel der Rechtfertigung sprachlicher Bemühungen und damit ein Versuch, sich dem Unbeschreibbaren sprachlich anzunähern. Es ist in der Unmöglichkeit eines Ergebnisses immer genau jener Weg, auf dem sich die Versprachlichung der Idee befindet. Ein solcher prinzipiell ergebnisoffener Darstellungsmodus verdient seine Anerkennung mit dem und durch das dauerhafte Bemühen um Nähe. Dem Modus einer solchen Rede

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Wissen und Meisterschaft

entspricht exakt die Form des Marienlobs, die nicht in C, J und F, sondern allein im Langen Ton von k dominiert und immer wieder Ziel auch der argumentativen Passagen ist. Im Marienlob ist beides zugleich gegeben, die Unaussprechbarkeit marianischer Außerordentlichkeit, die Unvollständigkeit des Lobs und die dem Gegenstand entsprechende Güte des Lobs. Im steten (Marien-)Lob sind Frömmigkeit und poetisches Vermögen zugleich präsent, ohne dass man von einem ausschließlich religiösen Tenor, noch auch von einer expliziten Poetologie sprechen könnte. Alle Formen weltlichen Lobens, Marienpreis und marianischer Gruß sind ungeschieden auf die mariologische laudatio und das dadurch anerkannte Frauenlob gerichtet. Es sind variante Ansätze, um denselben Aussagegehalt in seinem Wert zu betonen, ihn als einen quasi objektivierten und damit verlässlichen, fraglos gültigen auszuweisen. Die Spannung der Darstellung im Korpus des Langen Tons in k entsteht zwischen zwei Inszenierungsformen: gelebter Religiosität einerseits und distanziertem, poetischem Frauenlob andererseits. Inszeniert wird zum einen eine die praktische Ausübung und die Nähe suchende personale Frömmigkeit und zum anderen ein Marien- bzw. Frauenlob, das von der Unmittelbarkeit religiöser Aussagen gerade freigehalten wird. Die durch die Spannung erzeugte Reibungsfläche von Objektebene und poetologischer Ebene ist jener Ort, an dem der Texttyp Frauenlob, sich selbst fortsetzend, immer neu Kontur gewinnt. Auch und gerade weil die Lobgegenstände, weil Maria und die Frau immer wieder analogisiert werden, ist die Lobrede in ihrer Bearbeitung biblischen und frömmigkeitspraktischen Wissens kenntlich. In diesem Prozess ist es das Frauenlob des Meisters, das als heilssichernde Redeform immer weiter überliefert werden kann. k als späte Meisterliederhandschrift konturiert aus der Verschränkung von biblischem Wissen und dem im Langen Ton bereits überlieferten Wissen ein Bild, das keinen Autor, sondern einen Texttyp und eine daran geknüpfte argumentative Praxis zeigt. Das Frauenlob, nicht der Rat und nicht die Unterweisung, dominieren das Strophengefüge in k und weisen den Rezeptionsmodus des Langen Tons aus. Doch daneben zeigt sich, mehr als das für J und F auszumachen ist, eine zweite Rezeptionslinie, die von C und vom Sängerstreit herzukommen scheint. Mehr als in J und F sind es Meisterdebatten, zwei oft auch personal gebundene Meinungen, die kontrovers einander gegenübergestellt werden, die als Streit inszeniert sind, um die Anschaulichkeit des Disputs auch im Sinne seiner performativen Praxis zu stärken. Und auch wenn k weniger Kohärenzsignale abzulesen sind als den anderen Toncorpora, weil die thematischen Facetten zu disparat erscheinen und die Einbettung biblischen, frömmigkeitspraktischen und lebenspraktischen Wissens ungeordnet erfolgt, so sind marianische laudatio und Frauenlob stetig verbunden mit der Statusabfrage meisterlicher Rede und meisterlicher Kunst. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die relativ umfänglichen Strophengefüge des Langen Tons von F und k durch die Schreiber in eine gegen die Willkür gerichtete Ordnung gebracht wurden, sind daraus sich ergebende Kohärenzen schwach und weithin assoziativ. Eine solche Form rezeptiv erzeugter, nicht aber inhaltlicher Kohärenz

Versuch einer Typologie der poetischen Formung des Wissens im Langen Ton

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meint ein Zusammenrücken der Strophen, das durch den Ton und durch eine strophenübergreifende Idee bewirkt wird, die sich, wie ich meine, in den Argumentationen gegenläufiger Meinungen und Begrifflichkeiten niedergeschlagen hat. Nimmt man den Gebrauchszusammenhang von F, der sogenannten Schulsammlung, ernst und bezieht die Vorstellung einer autorisierten Zusammenstellung, die möglicherweise ein bestimmtes Meister-Bild transportieren sollte,631 in die Überlegungen ein, ist das ein deutliches Signal dafür, dass das zeitgenössische Verständnis ‚frauenlobischer Manier‘ in F deutlich von dem in k abweicht. Mit F werden der Intellekt, die den freien menschlichen Willen betonende Selbstverfügung künstlerischen Vermögens und dessen volkssprachlich-philosophische Argumentationskraft herausgestellt. Dies entsprach wohl dem Bild des Meisters Frauenlob, das den Sammlungsimpuls gegeben haben könnte. In k zeigt sich hingegen, dass die intrinsische Verwobenheit von unfassbarem religiösen Gegenstand und seinem Lob zum Resonanzraum einer autopoietischen meisterlichen Kunst des Frauenlobs geworden ist, die von einem bestimmten Autorbild entkoppelt ist. Meister ist der, der die Regeln der Kunst, näherhin die des Frauenlobs, umzusetzen vermag.

631

Wachinger, Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift (1997), S. 201, und Fritsch, Körper (2002), S. 230.

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Meisterschaft und Überlieferung

IV. Meisterschaft und Überlieferung

1.

Der Meisterschaftsentwurf in der älteren und in der jüngeren Überlieferung

Über den realen Urheber, den Schöpfer, können nur Vermutungen angestellt werden. Autor(en), Auftraggeber, Sammler, Schreiber, Redaktoren intendieren jeweils anderes, sind auf jeweils verschiedene Weise fehlerhaft in ihrem Tun, so dass der Weg von den Überlieferungszeugen zurück zum Ursprung des Schöpfungsaktes vielfach verzweigt und notwendigerweise eine nur vorgestellte Rekonstruktion bleiben muss. Urheber und Schöpfer sind prätextuelle Instanzen; Instanzen des Textes sind dagegen der tihter632 oder der meister, der wiederum analog dem göttlichen Schöpfer dargestellt sein kann. Aussagen über diese Instanzen sind immer textanalytischer Natur.633 Die textuelle IchInstanz ist eine inszenierte Größe, die sich in einem Strophenzusammenhang beobachten, verfolgen und anhand der entworfenen Rollen beschreiben lässt. Sie ist grundsätzlich eine erst durch Benennung und Zuweisung semantisierte textuelle Größe. Man könnte behaupten, dass es eine brüchige Instanz ist, wenn man von ihrer Ganzheit ausginge. Bei einer solchen Leitidee unterstellt man allerdings auch einen kohärenten Text, der als fixer Ausgangspunkt der Beobachtungen dient. Für die Sangspruchdichtung, hier bezogen auf die Strophen im Langen Ton Frauenlobs, ist die analytische Basisgröße für das Textverständnis die Strophengruppe im Strophengefüge des Tons oder der gesamte Strophenzusammenhang, und in diesem textuell weichen Rahmen kann die Ich-Instanz angesichts der Rollenvielfalt nur als plurale Instanz beschrieben werden, die sich nicht auf einen Nenner bringen lässt. Auch wenn der Typus des meisters als weiser Lehrer, der ethische und religiöse Grundwahrheiten vermittelt, in der Forschung etabliert ist,634 zeugen nähere Bestimmungen bzw. Charakterisierungen zwischen Überlegenheit, Gelehrtheit und Rätsellöser 632

Kurt Gärtner, tihten / dichten (2006), S. 67–81. Die aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive möglichen systematischen Überlegungen zu Genese und Geltung, etwa der k-Strophen, bietet Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied (2002). 634 Vgl. Egidi, Höfische Liebe (2002), S. 55.

633

Meisterschaftsentwürfe im Langen Ton von C

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von einem weiter ausgezogenen Funktionsspektrum des Meistertyps. So erscheint es mir zunächst methodisch ertragreich, produktionsästhetisch von der Vorstellung einer persona, die in ihrer Ganzheitlichkeit ein Œuvre prägt, abzusehen. Vorannahmen, die damit nicht getroffen werden müssen, sind jene, die mit dem klassischen Autor-WerkVerständnis verbunden sind. Man muss keine Strophen oder Strophengruppen denken, die von einer einheitlichen Intention und kohärenten Sinnentwürfen geprägt sind.635 Eine erste Orientierung für die Analyse der Meisterschaftsentwürfe bieten die pluralen Rollen der Ich-Instanz. Doch ist das Konstatieren einer Rollenpluralität an sich nicht hinreichend, um die Meisterschaftsentwürfe in ihrer Komplexität und argumentativen Vielfalt präzise auszuziehen. Die Redeformen und die damit verbundenen Argumentationsmuster sind eng an die Rollen gebunden und müssen im Verbund als Ausdruck der Meisterschaftsentwürfe gelesen werden. Verlaufsformen der Rede, die als poetische Anverwandlungen von disputatio, quaestio, lectio, oratio und predicatio gelten, sind der Wettstreit, die Erörterung, die Auslegung, das Gebet / die Bitte, die Ermahnung und die Unterweisung bzw. der Ratschlag. Wie diese Redeformen für die Wissensverarbeitung und -vermittlung im Rahmen der meisterlichen Dichtung funktionalisiert und argumentativ entfaltet werden und wie Wissensverarbeitung und -vermittlung zwischen Tradition und Artistik gestaltet sind, gilt als Ausweis des jeweiligen, handschriftenspezifischen Meisterschaftsverständnisses.636

2.

Meisterschaftsentwürfe im Langen Ton von C

Neben den traditionellen Spruchdichterrollen des Lobredners, des Lehrmeisters, des Ratgebers und des Polemikers werden Rollen bedient, die aus den Sängerkriegen der Sangspruchdichtung bekannt sind, wie die des Herausforderers, des Gegners, des Verteidigers und des Rätselstellers. Die Rollen des Exegeten und des Übersetzers sind ebenso wie die des Erzählers keine gattungsspezifischen Rollen. Besieht man sich die Rollenpluralität in C im Rahmen des durch Beischriften markierten Sängerstreits zwischen Regenbogen und dem Meister, ist neben einer thematischen Zergliederung die 635

Auf die Problematik hinter einer solchen Vorannahme weist am Beispiel der epischen Fassungen der Nibelungenklage Peter Strohschneider hin, mit dem immer intentional gedachten Ausgangspunkt auch der (Text-)Fassungen. Peter Strohschneider, Rezension zu Joachim Bumke, Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), Berlin / New York 1996, in: ZfdA 127 (1998), S. 102–117, hier S. 115. Eine Fortsetzung der Fassungsdiskussion im größeren Zusammenhang einer Kritik der Textkritik führt Martin Baisch, Textkritik (2006), S. 14–37. 636 Der Gebrauchszusammenhang der Schulsammlung F, dem ein spezifisches frauenlobisches Meisterbild zugrunde liegt, spricht bezogen auf den Meisterschaftsentwurf für eine größere Stringenz als in den anderen Toncorpora.

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Meisterschaft und Überlieferung

Zuweisung der Rollen im Streit signifikant. Inszeniert ist die Auseinandersetzung in drei elementaren Redeformen, in der des Betens (Mariengebets, C 31), in der des Streitens – hier sind die „Selbstrühmung“, C 32, die Polemik, C 33–35, der Rätselstreit, C 36f., und der Streit um den Vorrang von wîp oder vrouwe, C 38f., unterschieden – und in der des Unterweisens (Didaxe, C 40–47). Dass die Zuweisung vieler Rollen an den Meister erfolgt und die Zuweisung nur zweier Rollen an Regenbogen, ist nicht nur Ausdruck der inszenierten Fertigkeiten, sondern auch normatives Zeichen der Rollenbewertung. Regenbogen als polemischer Gegner, als Verteidiger der alten Meister und als Deuter eines Rätsels, hat Rollen inne, die, metaphorisch gesprochen, ideale Spiegel einer mehrheitlichen, gesellschaftskonformen Meinung zu sein scheinen und die diametral zu den Rollen des Meisters liegen. Sie sind bezogen auf die Darstellung notwendig, um die Meisterschaftsdebatte kontrastiv und forciert zu führen. Nicht Selbstdarstellung, und damit meine ich ausgestellte herausragende Meisterschaft eines Einzelnen, bestimmt das poetologische Konzept der Strophen im Langen Ton der Manessischen Liederhandschrift vorrangig, sondern die Ostentation eines zeitgenössisch relevanten Meisterschaftsdiskurses: Gezeigt wird, wie sich Meisterschaft im Verhältnis zur Tradition konstituiert und welche auch kontrastiven Praxen ihrer Umsetzung es gibt. Ein Beginn ist mit dem ‚Mariengebet‘ gemacht. Die Spruchdichterrolle des lehrenden und mahnenden Gnomikers sowie die Rolle des betenden Bittstellers scheinen im Blick auf ihre Typik konträr zueinander zu stehen, doch in ihrer Anverwandlung in der Eröffnung des Meisterschaftsdiskurses in C verhalten sie sich komplementär. Die Legitimität der Gnomik geht im an Maria gerichteten Gebet auf die Bitte über und verstärkt dabei deren Gestus. Gleichermaßen erfährt der frömmigkeitspraktische Bittgestus eine semantische Umbesetzung durch den mitlaufenden Redemodus der gnomischen Ermahnung. Mir scheint, dass solche Formen konnotativer Umbesetzung zwischen den Redeformen und deren Geltungspotentialen den Meisterschaftsdiskurs in C prägen und in der Eröffnungsstrophe paradigmatischen Wert haben dürften. Der Streit zwischen Frauenlob und Regenbogen legt das Verständnis von Meisterschaft als einer Form der Bearbeitung traditionellen Wissen (gemeint sein können literarische Vorgänger, der Stoff oder tradierte Erzählformen) auf voneinander verschiedene Konzepte auseinander: die Bearbeitung, Überhöhung und damit unternommene Vollendung des Bewährten einerseits und die Fortsetzung und Bestätigung des Bewährten andererseits. In der sogenannten Selbstrühmungsstrophe ist zunächst die künstlerische Singularität eines Meisters unter Meistern beansprucht.637 Die metaphorische Formung dieser Meisterrolle in den Handwerksbildern vom Vergolden, Kochen und Säen bringt die kunstaffine Dimension der vorgeführten Meisterschaft des Könnens zum Ausdruck. Doch zugleich entbirgt die Argumentation des Meisters, dass es verschiedene Möglich637

Im inszenierten Sängerstreit zwischen Frauenlob und Regenbogen ist es die Affinität des Meisterbegriffs zur Kunst, die wiederholt ausgestellt ist, wenn vom Meister als dem Koch der Künste (C 32), von der geringen Kunst des kleinen Meisters (meisterli, C 35) und von der leichten Kunst, die der Kunst der alten Meister entgegensteht (C 37), gesprochen wird. Vgl. Anm. 123.

Meisterschaftsentwürfe im Langen Ton von C

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keiten des Umgangs mit der Tradition gibt und davon abgeleitet zwei konträre Meisterschaftskonzepte: eines, das traditionell und linear ansetzt, und eines, das tief – was hier wohl erkenntnisorientiert meint – und vertikal orientiert ist. Beide Varianten sind vorerst agonal aufeinander ausgerichtet, was einer Zuspitzung des Anspruchs auf die rechte Form der Bearbeitung des Vorausliegenden gleichkommen dürfte. In der Konsequenz von Konfrontation und Selbstrühmung wird der Anspruch auf ein alternatives Bearbeiten traditioneller Kunst im Verhältnis zu bislang üblichen Bearbeitungsformen betont. Betont wird zugleich, dass die favorisierte vertikale Bearbeitungsform prinzipiell unabschließbar ist, wobei die Bearbeitung als sprachlich-formale (Einkleiden) und rhetorisch-intellektuelle (Durchdringen, Ergründen) ausgewiesen ist, nicht aber als gelehrte Überformung. Durch den performativen Duktus des Sängerstreits ist mit der Erwiderung Regenbogens zum einen der Anspruch auf Herausgehobenheit der Frauenlobrolle bestritten und zum anderen das Konzept des Bewahrens und Fortführens an die Stelle eines sich heraushebenden Bearbeitens gerückt. Wenn der erste Meister im Anschluss die Rolle eines Erzählers einnimmt, wächst ihm nicht nur rhetorische Kompetenz zu, sondern es wird zugleich ein weiteres Wissensreservoire erschlossen, um das vertikal orientierte Meisterschaftskonzept aus einer anderen Perspektive als bislang zu rechtfertigen. Die erinnerte Erzähltradition um König Alexander und den Paradiesstein, insbesondere die Deutung des Steins durch den Weisen, gewinnt im Bezug auf die beiden Meisterschaftskonzepte allegorischen Wert, zeigt sich doch, dass die vertikale Form meisterlicher Bearbeitung und Deutung linearen Deutungsversuchen überlegen ist. Wiederum betont die Reaktion des Gegners das adversative Meisterschaftskonzept. Als Stilpolemiker ist Regenbogen in der Rolle des Gegners und des Verteidigers der alten Meister inszeniert. Nicht Abheben von, sondern Fortführen der Tradition, Bewahrung und Pflege der traditionellen Kunst zeichnen diese zweite Form der Meisterschaft aus. Die Reaktion darauf ist ein nächster Wechsel der Rolle. In der Rolle des Rätselstellers und Geheimnisträgers im Anschluss an die auctoritas des Visionärs Johannes erscheint das zu bearbeitende Wissen des Meisters authentisch, aber auch auratisch. Mit dieser Verschiebung der Bewertung des Vorausliegenden werden die Anforderungen an das Deuten spezifiziert. Ein adäquates Deuten, hier im Blick auf Heilswissen, ist nicht möglich, so dass Vieldeutigkeit, Mehrdeutigkeit und damit auch die Uneindeutigkeit des Wissens positiv herausgestellt werden. Der Meisterschaftsanspruch wird dabei um eine Dimension künstlerischen Vermögens, nämlich seine immer situativ bezogene Deutungskompetenz, erweitert. Wenn die Deutung des Rätsels durch den Gegner traditionelles (verfügbares) heilsgeschichtliches Wissen aktiviert, zeigt sich ausschließlich eine Form der Wissensbearbeitung, die Erinnerung, und damit eine vornehmlich eindimensionale, eben lineare Deutung. Erinnerung, Adaptation, Verarbeitung, Überhöhung und proliferierendes Deuten von Wissen, das sind die Möglichkeiten der Wissensverarbeitung, die in der Meisterschaftsdebatte vorgeführt werden. Rhetorisch kommt die Varianz meisterlichen Ausdrucks in Reflexion, Erzählung und Rätsel hinzu. Und konzeptionell ist in der Abfolge der Strophen ein Meisterschaftskonzept konturiert, das, konträr, aber auch komplementär zur

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Meisterschaft und Überlieferung

Meisterschaft der Bewahrung und Repetition traditionellen Wissens, mit der Vieldeutigkeit des Wissens arbeitet und einen Deutungsauftrag als Signatur trägt. Letztlich geht es nicht darum, den einen Standpunkt gegen den anderen durchzusetzen, eher scheint es mir so zu sein, dass die Funktion und die Gültigkeit beider Verfahren der Meisterschaft vorgestellt werden sollen. Mit den wîp-vrouwe-Strophen ergibt sich eine spannungsvolle Fortsetzung und Ergänzung möglicher Formen der literarischen Bearbeitung diskursiven, hier vor allem sprachtheoretischen Wissens. Die Ich-Instanz und die gegnerische Instanz polarisieren die Möglichkeiten begrifflicher Deutung. Frauenlob und Begriffsreflexion bestimmen den Meisterschaftsanspruch des Herausforderers, der zudem die Unbestimmtheit und vorläufige Offenheit der Begriffe demonstriert. Der Gegner argumentiert auf einer physischen Ebene, auf der die Differenz der Begriffe keine Rolle spielt. In der Zusammenschau der Strophen wird eines deutlich: Der Meisterschaftsanspruch ist abhängig vom jeweiligen Gebrauchszusammenhang der Sprache. Er steht und fällt mit den Bedingungen des Begriffsverständnisses, das durch physische und objektive Gegebenheiten gelenkt oder von rationalen Fähigkeiten bestimmt sein kann. Ich möchte behaupten, dass C 40–47 eine Reprise dieses Gegensatzes ist, eine Reprise, die dem Meister zugewiesen wurde und damit als ein achtversiges Plädoyer des Meisters verstanden werden kann. Der Ich-Instanz sind, bezogen auf Deutung, Klage, Lehre, Lob, Rat und Schelte, klassische Spruchdichterrollen zugewiesen: Sie appelliert an ein höfisches Publikum (die Jungen und die Alten, die Ritter und die Fürsten, die Sänger und Spruchdichter), auf das richtige, ethisch angemessene Verhalten zu achten. Aufgerufen wird mit dieser Konstellation die klassische Vermittlerrolle zwischen einem höfischen Publikum und dem Istzustand einerseits sowie dem Spruchdichter und einem Sollzustand andererseits. Dabei ist es die Ich-Instanz, die zwischen richtigem und falschem Verhalten zu unterscheiden versteht, die den richtigen Einsatz der Sprache kennt, Rat geben kann, über ein breites Wissen verfügt und dieses zu präsentieren vermag. Der normative Appell ist in der Regel situativ inszeniert. Aus der Distanz zum inszenierten Appell konturiert sich der Meisterschaftsanspruch zum einen als selbstreflexives Vermögen und zum anderen durch die Forderung eines verhaltensbestimmenden Einsatzes der Sprache. C 40–46 lese ich als ein unausgesprochenes Lob dieser spruchmeisterlichen Fähigkeiten, die in actu, im situativen Kontext des Hofes, fingiert werden. Und wieder ist es der situative Kontext, der dem Meisterschaftsanspruch Kontur verleiht und der dazu führt, die meisterlichen, am Verstand geschulten Fähigkeiten den Fähigkeiten der anderen Sänger und der dummen Leute vorzuziehen. Der Gegensatz von Verstand und Kunst einerseits sowie Sonne und Pfuhl andererseits (C 47,14–17) gibt den beiden im Langen Ton von C debattierten Meisterschaftskonzepten ein letztlich nicht mehr wertfreies Gesicht: Rationales Kalkül und künstlerisches, rhetorisch-formales Vermögen heben sich ab von dem, was dumm und bloßer Schein ist und abgestandenes, schlechtes (Wissen) birgt, und das im Bereich der Kunst nicht fortgeführt werden sollte.

Meisterschaft im Langen Ton von J

3.

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Meisterschaft im Langen Ton von J

Auch wenn das Strophengefüge im Langen Ton von J keinen durch Beischrift fingierten Sängerstreit entfaltet, werden die Argumente adversativ entfaltet, ob aus gegnerischer Perspektive (Rumelant, Heinrich, Schlichter: J 11–16) oder in (selbst)reflexiver Form (J 23, 30, 32, 34, 42, 44, 46–49, 51, 53) oder in fingierten Gesprächen zwischen dem Sprecher und verschiedenen Personen bzw. Personifikationen wie Adam, die edelen, Frankreich, Herr Bart, Herr König, der Hörer, Frau Minne, der muot, die Ritterschaft bzw. vrowe und wîp (J 17, 25–29, 31, 33, 35–41, 43, 45, 50, 52). Die Semantik der Konkurrenz spielt für das Meisterschaftsverständnis in J eine weniger starke Rolle als in C, ist aber für die Konturierung nicht zu vernachlässigen. Erhalten bleibt das Gegeneinander adversativer Argumente und damit die Abgrenzung der Meinungen im Für und Wider. Meisterschaft ist anders als in C kein expliziter Gegenstand der Argumentation. Die entworfenen Bilder idealen Verhaltens und das im Wandel der Zeit und im Wandel allen Seins als notwendige Maßnahmen postulierte Prüfen und Deuten – wie in C – werden so auf das Sprecher-Ich bezogen, dass ideales, moralisch integeres Verhalten und dessen kritische Reflexion Ausdruck von Meisterschaft sind. Kritisches Reflektieren wird als literarische Arbeit gnomischer Couleur deutlich, als Bearbeiten höfischen, rechtlichen, anthropologischen und ethischen Wissens vom rechten Verhalten. Diesem Anspruch der Reflexion und Deutung wird im Rahmen der wîp-vrouweStrophen zum einen die Rolle des Minnedieners mit einem absolut gesetzten Frauenpreis, der sprach- und begriffsorientierte Differenzierungen ausspart (J 11f.), entgegengestellt. Moraltheologisch gewendet und exemplarisch auf den Frauenpreis bezogen, wird zum anderen die Unterscheidung der Namen als sündhaft abgelehnt (J 13). Mit diesen beiden kategorischen Perspektiven, mit der des Minnedieners und der des Priesters, wird Meisterschaft ex negativo als begriffsreflexive, Wissen bearbeitende Form des Namen-Denkens konturiert. Damit liegt die Betonung stärker als in C auf ihrer epistemischen Fundierung. Wenn dieser Anspruch im Rahmen der negativen Imago Heinrich (J 14) negiert wird durch die Aberkennung der Kunstfertigkeit und des Texttyps Frauenlob, dann tritt die Flexibilität des meisterlichen Vermögens mit dem Herrscherlob umso stärker hervor. Ich verstehe das Herrscherlob als literarische Gegenarbeit, die ihre Meisterschaft in der Modifikation des aberkannten Vermögens im Sinne der Verschiebung auf das Terrain bewährter spruchmeisterlicher Typik zu erkennen gibt. Und dort ist es die Wiederholung des Lobens, die kunstvolle, sprachliche und stilistische Variation, durch die situative Kompetenz zur Kennzeichnung von Meisterschaft wird (J 18–23). Meisterschaft in J ist mehr als eine begriffsreflexive, Wissen bearbeitende Form des Namen-Denkens, sie ist mit dem Frauen- und dem Herrscherlob situativ angepasste Arbeit am Vorausliegenden bzw. Bewährten. In einem zweiten Anlauf (Nachtrag) zielt der Meisterschaftsentwurf im Langen Ton von J auf die Wahrheit des Frauenlobs, die mit dem Einsatz heilsgeschichtlichen und

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Meisterschaft und Überlieferung

etymologischen Wissens demonstriert wird. Meisterschaft ist göttlich legitimierte Schöpfung und Selbstermächtigung (J 24). Die invocatio am Anfang des Nachtrags verweist auf eine lange Tradition der Anrufung Gottes,638 die als eines der zentralen Prologmotive mittelhochdeutscher Dichtung bezeichnet wurde.639 Im Rahmen des Strophengefüges in J hat sie nicht nur strukturelle Funktion, insofern mit ihr die göttliche Verkörperung des Anfangs auf ein literarisches Beginnen übertragen wird. Adaptiert ist mit ihr auch der ganze metaphysische Assoziationsraum, der mit dem Stichwort Schöpfungsbeginn transportiert wird. Der Nachtrag erfährt durch diese erste Strophe eine Rechtfertigung der Wahrhaftigkeit des Frauenlobs in Analogie zum Beginn aller Dinge.640 Die Wahrheit ist an das heilsgeschichtliche Wissen, durch das der Sprecher ausgewiesen ist, sowie an das sprachgeschichtliche Wissen um die göttliche Ursprache gebunden. Mithin sind Recht und Legitimität des Frauenlobs (J 28–32) epistemologisch fundiert. Da das meisterliche Vermögen auch an einen unerschöpflichen, gefundenen und im Bearbeiten erfundenen Stoff gebunden wird (vunde krame, J 34,1), generiert sich der Meisterschaftsanspruch aus einer Verfügungshoheit, bezogen auf das Reservoire des Vorausliegenden, sowie aus den rationalen und rhetorischen Fähigkeiten, dieses zu gestalten. Das Spezifikum der literarischen Arbeit ist ihr autopoietischer Impetus, insofern das Ausgewählte Anreiz für den Verstand ist, literarisch bearbeitet wird, eine erneute Auswahl nach sich zieht und das rationale Vermögen damit immer aufs Neue herausfordert (J 34). Es gibt drei, die meisterhafte Rede in J konturierende Redeformen: 1. die Argumentation qua Begriffsreflexion, die das Namen-Denken (Mein / Dein, guot, houchvart, muot, wîp und vrowe) meint; 2. das Lob (Frauen- und Herrscherlob) sowie 3. den Rat an Alte, Herrschende, Junge, Sänger und Unwissende. Die Geltungspotentiale, und das scheint mir das Spezifische zu sein, gehen teleologisch aufeinander über: von der göttlichen Ursprache auf das Benennen im Lob und den durch diese Kompetenz gerechtfertigten Anspruch zum Rat. Der Ausweis meisterlicher Qualifikation liegt damit ganz zuerst in wahrer Argumentation. Obgleich Worte und Namen den Sachen adäquat sind, res und vox aufeinander verweisen (J 46), ist die Wahrheit an die Sprache, an das richtige Benennen und Deuten gebunden (J 32). Im Horizont der etymologischen Strophen J 28f., 31f. hat die meister638

Stephen Jaeger, Schöpfer (1987), S. 3f. Jaeger, Schöpfer (1987), S. 1. 640 Es liegt nicht allzu fern, auch C eröffnet das Strophengefüge mit einer Gebetsstrophe (C 31), für das J-Corpus des Langen Tons eine ebensolche eröffnende Strophe anzunehmen. Die invokativen Strophen, die sich im Langen Ton i. d. R. an den Anfängen (C und J), an Gelenkstellen (F) oder neu einsetzenden thematischen Blöcken (k) befinden, sind in ihrer Funktion als Anspruch wahrer und richtiger Rede und als Anspruch sowie Legitimation des gottanalogen Schöpfens kenntlich. Jaeger, Schöpfer (1987), S. 17, betont, dass die „Verknüpfung“ von göttlichem „Ur-Dichter“ und „irdischem Dichter“ – wie sie für die invocatio typisch ist – „zur Nachfolge im poetischen Schaffen“ verpflichte, so dass sich bereits aus der Verknüpfung der legitimierende Gestus für Sprecher und Redegegenstand ableiten lässt. 639

Meisterschaft im Langen Ton von J

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hafte Sprache ihren Ursprung in der Sprache Gottes und damit in einem ursprünglichen Benennungsvorgang. Mit diesem Argument ist die meisterliche Leistung eine dezidiert sprachliche und wahre Leistung, die auf einer unhinterfragt gültigen transzendenten Bindung aufruht. Im Bereich metaphorischer Rede wird dieser Gedanke weiter ausgezogen. Die Beschreibbarkeit der existenten Welt geht nicht eindeutig aus dem sinnlich Wahrnehmbaren hervor. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung und der Beschreibung von Dingen und Sachen kann zunächst als Verunsicherung gelten. Die Metapher dafür ist die Spur (J 37), die das nicht wahrnehmbare Moment einer, steter Wandlung unterliegenden, realen und ideellen Welt meint und zugleich die immer existente Ähnlichkeit zwischen den Dingen bezeichnet.641 Die Spur wird als ein ontologisches Zeichen zum Motor spruchmeisterlicher Rede. Ohne sie gäbe es keinen Sinn. Da die Beweglichkeit, die Veränderlichkeit der Dinge und Abstrakta, den Gegensatz von Signifikat und Signifikation markiert, ist die Spur in ihrer Flüchtigkeit Ausdruck dieses Wandels. Sie ist zugleich die Grundlage spruchmeisterlicher Rede, wird sie doch zum Anfang jeder Erkenntnis. Sie ist der Ursprung allen Sinnbildens und mit ihr nimmt das Bedeuten seinen Anfang. In J wird keine das Corpus übergreifende kunstorientierte Meisterschaftsdebatte geführt wie in C, da die Argumentation nicht durchgängig als Sängerstreit dargestellt ist. Der Meisterschaftsanspruch des vertikalen Deutens wird jedoch ausdifferenziert. Die epistemische Seite der Argumentation ist weit stärker ausgeprägt als in C. Meisterliche Rede ist an den Verstand und die Erkenntnisfähigkeit gebunden. Es geht nicht darum zu überreden, sondern zu ergründen. In ihrer Sonderheit ist die argumentative Rede durch eine referentielle Bindung an die unhinterfragbare Gültigkeit und Wahrheit der Sprache Gottes ausgewiesen. Sie reicht damit in der Vertikalen zurück zum Anfang, an dem das Wort war. Von dorther legitimieren sich Wortfindungen und Benennungsvorgänge. Sie stehen im Recht aufgrund (göttlicher) Wahrheit und zugleich aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit den Dingen, Sachen und Abstrakta. Im tief gründenden Erkenntnisstreben greift vertikal orientierte Meisterschaft hinter die Zeichen zurück und sucht deren denotativen sowie etymologischen Grund auf. Verfügungshoheit und situative Gestaltungskompetenz haben damit ein sicheres sprachliches Fundament, das den meisterlichen Umgang mit dem Vorausliegenden als souveräne Wahl und immer wieder anpassungsfähige Rede in Rat, Frauenlob, Herrscherlob, Unterweisung oder Begriffsargumentation kenntlich macht. Eine solche Form der Meisterschaft rechtfertigt sich aus dem Anfang jeden Sprechens. 641

Michel Foucault führt in seinen Ausführungen über die Ähnlichkeit der Dinge den Begriff der Signatur ein. Ohne Signaturen, ohne deren zeichenhaften Duktus, blieben die Ähnlichkeiten unverstanden, gäbe es kein Wissen. Es sind die Signaturen der Ähnlichkeiten, die das Wissen um die unsichtbaren Analogien forcieren, sie an der Oberfläche der Dinge markieren. Michel Foucault, Ordnung der Dinge (91990), S. 56–61. Auch der Spur ist dieser zeichenhafte Charakter eigen. Nur weil sie ihn trägt, lassen sich die Ähnlichkeiten zwischen den Dingen erspüren, geben sich im Falle von J 37 die Gesinnung des jungen Mannes und der Flug des Vogels in ihrer Analogie zu erkennen.

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4.

Meisterschaft und Überlieferung

Meisterschaft im Langen Ton von F

Meisterschaftsansprüche sind in den jüngeren Überlieferungsträgern F und k auf andere Weise konturiert und autorisiert, als dies für die älteren Zeugen C und J gilt. Im Vordergrund der Rollenentwürfe steht in der Weimarer Liederhandschrift F ein SprecherIch, das als Weisheitslehrer und Panegyrikus markiert ist und dem sich alle anderen Rollen unterordnen lassen.642 Es sind insbesondere weltliche und religiöse Grundwahrheiten menschlichen Verhaltens, die argumentativ entwickelt oder apodiktisch vorgebracht und einem (imaginierten) fürstlichen Publikum vermittelt werden. Je nach inszenierter Wirkabsicht ist der gnomische Gestus ein belehrender, mahnender, kritisierender, beratender oder erzählender. Doch sind für den gesamten Strophenblock letztlich der Anspruch auf Eigengeltung, das reflektierte Herrscherlob und die Unterweisung die drei zentralen Wirkbereiche. Der Geltungsanspruch wird kaum mehr aus der Behauptung künstlerischer Virtuosität genommen, so wie das deutlich für C und abgeschwächt auch noch für J gilt. Es ist vor allem heilsgeschichtliches Wissen, durch das die menschliche und damit auch die dichterische Freiheit des gewollten Verhaltens und Redens begründet wird. Die moraltheologische Konturierung dieses Wissens vor dem Hintergrund des mit Engelsturz und Sündenfall in die Welt gekommenen Bösen wird als Bedingtheit menschlicher, mithin künstlerischer Entscheidung etabliert. Die ethische Fundierung jeglichen Verhaltens wird dabei argumentativ entwickelt über die Verhaltensdispositive Gesinnung und freier Wille, die der mediocritas unterliegen (muot – wille – mâze). Indem sich das Spruchdichter-Ich als Träger dieses Wissens geriert, reklamiert es dessen Habitualisierung, und so legitimiert sich zugleich der Anspruch, richtig zu unterweisen. Im Rekurs auf mittelalterliche ordo-Vorstellungen werden die paränetischen Aussagen auf die ethisch zentrale Begriffsquadriga mâze, minne, triuwe, vuoge konzentriert. Doch gerade diese vier Verhaltensmaximen sind im Blick auf die göttliche Letztinstanz umbesetzt, wenn sie, sofern sie verinnerlicht sind, als göttlich fundierte, in Geltung stehende und nicht veränderliche Maximen markiert werden. Dennoch bleibt gerade der Wandel allen Seins ein zu kalkulierender Umstand, den das Sprecher-Ich in immer neuen Ansätzen befragt und in seinen Unterweisungen zu vermitteln sucht. Im Telos dieser Argumentation wird das menschliche Verhalten, welches das Spruchdichter-Ich als Gnomiker zu formen und regulativ zu lenken weiß, auf eine willentliche Entscheidung zurückgeführt. Ein impliziter schöpfungsanaloger Gestus ist bereits in der Eröffnungsstrophe mit der Metapher vom gottgleichen Werkmeister ausgestellt.

642

Die Beobachtungen Karl Stackmanns, Heinrich von Mügeln (1958), lassen sich auf den Meisterschaftsentwurf der F-Überlieferung, nicht aber auf die der älteren C- und J-Zeugen beziehen und bestätigen, dass sich der Typus des Meisters als ‚weiser Lehrer‘ im Abstand zur älteren Überlieferung etabliert haben wird.

Meisterschaft im Langen Ton von F

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Gerade die argumentativen Passagen sind metaphorisch auf den Meisterschaftsentwurf hin geöffnet, so wie es die erste Strophe in F paradigmatisch repräsentiert (F 90, auch 101, 103, 117, 122f., 138, 142): Im Bildfeld vom wircman wird eines deutlich, dass am Anfang jeder (meisterlichen) Leistung der freie Wille steht, der einen geistigen Entwurf bedingt, der wiederum erst dann zur Darstellung gelangt, wenn er geformt, detailliert gestaltet und regulativ angepasst wird (F 90). Dass man hinter dieser Demonstration rhetorischen Wissens das Lob poetologischer Leistungsfähigkeit vermuten muss, ist durch die selbstbezügliche Darstellung und die unmittelbare praktische Umsetzung am Beispiel geblümter Lobrede (F 91–94) sicher. Im wiederholten Benennen des zu Lobenden bringt sich dessen ethische Vorbildlichkeit zum Ausdruck, doch sichert nicht die ‚vierfältige‘ (F 94,19) Wiederholung die Meisterschaft des Lobenden. Es ist der schöpferische Charakter des Lobs, der das Benennen ein immerwährendes Formen, Gestalten und Anpassen an vertraute Wissensfacetten bzw. ein Überprüfen sein lässt, so dass es sich in allen seinen Dimensionen, in Höhe, Länge und Breite, weitet. Was damit gegenüber dem einfachen Vorgang des Benennens gewonnen ist, ließe sich vielleicht als Entzeitlichung und situative Generalisierung des Lobs im Zeichen seiner permanenten Umsetzung bezeichnen. Hierzu stimmt, dass es nicht um einen innovativen (Neu-)Einsatz des Schöpfens geht, sondern künstlerisches Schaffen als willentlich bestimmtes Erneuern auf der Grundlage eines vorhandenen kognitiven Modells dargestellt wird, das auf die Lebendigkeit und die Prozessualität des schöpferischen Aktes abhebt. Neben der gerade im Überprüfen begründeten Beständigkeit der Lobrede gibt es eine zweite Darstellungsform, um die Kontinuität des Redens zu sichern. Ich meine die für F typischen Gedankenexperimente, die Situationen vorstellen, in denen bestimmte Dinge der Fall sind und andere nicht. Sie werden wiederholt zum Prüfstein der Begriffe. Im poetischen Gewand gewinnt die Beweisführung an Anschaulichkeit, verliert aber an logischer Klarheit und verbleibt mit der fehlenden Endgültigkeit der Aussagen im Status der Bewegung.643 Metaphern hierfür sind der Wandel, die Veränderung und die zyklische Wiederkehr, die als Werden und Vergehen der Natur, als Gegensatz und Umbruch des Krieges und als Auf und Ab des Glücks geformt sind (F 101). Im dauerhaften Fehlen einer conclusio liegt die Berechtigung kontinuierlichen Redens. Anschaulichkeit als Charakteristika poetischer Rede tritt an die Stelle des erwartbaren logischen Schlusses. Ebenso wie ein ‚dennoch‘ der meisten gnomischen Strophen an die Position einer genauen Bestimmung rückt. Ziel der anschaulichen und der adversativen Darstellung ist es, einen stabilen Punkt im menschlichen Verhalten zu präsentieren, nämlich die Gesinnungsstabilität, die unabhängig von den äußeren Umständen für jeden Menschen zum Ideal des Verhaltens avancieren soll. Der Sprecher ist der ideale Spiegel, in dessen vorbildhafter Ansicht der Ratnehmende das ideale Verhalten und den adäquaten Rat findet. Der Spiegel als Meta643

Im Meisterschaftsentwurf der Jenaer Liederhandschrift ist es dieser Status der Bewegung bzw. der Wandel weltlicher Dinge, der u. a. die Fortdauer meisterlicher Rede bedingt.

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Meisterschaft und Überlieferung

pher der Erkenntnis, der Vorbild-Abbild-Interaktion, aber auch der Differenz von Sein und Schein, von inneren Qualitäten und ihrer Einkleidung (F 117) wird zum Ausrufezeichen hinter dem omnipräsenten Rat, jedwedes Ding, jeden Entwurf und jede Situation zu überprüfen.644 Der Rekurs auf die scholastische disputatio zeigt, dass die Argumentation immer zugleich auf Unterweisung zielt. Es ist die Rolle des Ratgebers, in der der Meisterschaftsanspruch des Sprecher-Ichs einen demonstrativen und autoritären Duktus bekommt, bedingt durch die Behauptung, zwischen Gutem und Schlechtem unterscheiden und rechtliche, ethische sowie sprachlich-ästhetische Richtlinie sein zu können. In der Rolle des idealen, auf das moralisch Gute hin orientierten Ratgebers ist das Plädoyer für den Einsatz des prüfenden Verstandes auch eines für den gelenkten Willen, denn es geht um eine durch die Moral erzwungene richtige Entscheidung in negativ konnotierten Situationen menschlichen Handelns (Feindschaft, Untreue, Hass, Geiz usf.). Die im Verstand wurzelnde Autorität meisterlicher Rede, wie sie C und J präsentieren, ist im Willen zum Guten moralisch geformt, so dass das vernünftigerweise Notwendige den bedingten Willen per se hin zum guten Handeln führt.645 Mir scheint, dass es für F mehrheitlich Vernunftgründe sind, die stärker überzeugen als überliefertes Wissen, wenn auch die göttliche Vorherbestimmtheit allen Seins unbestritten bleibt, so dass die Autonomie der Vernunft beschränkt ist.646 Trotz der Virtus als einer göttlichen Gnadengabe wird in F deutlich, dass die Kraft des Erlernens tugendhaften Handelns aus dem Menschen selbst kommen muss, so dass sich auch das Augenmerk umso stärker auf die Vermittlung der rechten Orientierung durch den Spruchdichter richten kann. In F ist es das wahre und auf das Gute hin orientierte Wissen, das für Stabilität und Geltungssicherheit steht. Auch die spruchmeisterliche Rede bezieht ihre Orientierung und ihr Maß vor allem aus dem vernünftigen Guten. Ein literarischer Ort scheint Kontur zu gewinnen, der einen nur imaginären Status innehat, doch nach einer über die irdischen Fährnisse hinausragenden Wahrhaftigkeit strebt: Das Sprecher-Ich richtet nicht nur über tote und lebende Herrscher, es bewirkt die Auferstehung der Gestorbenen – im lobenden Wort (F 124–126). Es verschiebt in der poetischen Gestaltung des christlichen Auferstehungsgedankens dessen Wahrheit auf eine imaginative Wahrhaftigkeit meisterhafter Lobrede. Gerade in einem den Tod überwindenden und überdauernden Lob tugendhaften Handelns zeigt sich die poetische Leistung im Sinne einer konnotativen Umbesetzung des eigentlichen Sinns, die ein weiteres Charakteristikum der in F geformten Meisterschaft ist.647 644

Poetische Anschaulichkeit und eine damit einhergehende Uneindeutigkeit sperren sich nicht gegen den Brennpunkt aller Überlegungen, den idealen Verhaltensentwurf, der im normgebenden Sprecher bildhaft geworden ist. 645 Der Rat zur mâze zielt im Horizont dieses Gedankens und im Horizont der Diskontinuität allen Seins auf die richtige Orientierung des Verhaltens zwischen den Extremen. Die mediocritas wird zum Regulativ des freien Willens. 646 Vgl. Angenendt, Geschichte (2000), S. 46, 52, 118. 647 Rainer Warning hat diesen literarischen Produktionsvorgang immer wieder beschrieben, sei es als Form der konnotativen Ausbeutung flankierender Diskurse, sei es über den Dualismus von Aus-

Meisterschaft im Langen Ton von F

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Aufs Ganze gesehen bündelt der gnomische Gestus in F verschiedene Rollen, in denen sich das Sprecher-Ich dem zentralen Gedanken des Wandels aller Dinge, bezogen auf das menschliche Verhalten und die damit verbundenen Gesinnungsfragen, auf immer neuen Wegen zu nähern sucht. Die Rollenpluralität hält das Problem sprachlich in Bewegung, formt, modelliert, reguliert auf immer neue Weise, so dass der Vollzug der verschiedenen Perspektiven in F gestalterische Fülle und die Unabschließbarkeit meisterlicher Rede demonstriert. Der Vollzug demonstriert die Bandbreite spruchmeisterlichen Gestaltens, dessen Autorität anders als in C und J kaum behauptet und nicht dialogisch erstritten, sondern in ihrer epistemischen und vor allem ethischen Bedingtheit überdacht und demonstriert wird. Zum einen rekurriert das Sprecher-Ich mit jeder neuen Rolle neu auf den Spannungsbogen von epistemischem und literarischem Vorrat, Entwurf, Modell und Regularium. Zum anderen gewinnt die an das Sprecher-Ich gebundene Meisterschaft aus der Vernunft heraus Kontur. Der Sprecher ist normative und ethische Instanz gegen die Schlechtigkeit der Welt, durch die im Anspruch auf vorbildhaftes Unterweisen und überzeitliches Loben die Geltung meisterlichen Redens suggeriert wird. Eine Abgrenzung gegenüber einem konkurrierenden Meister spielt kaum mehr eine Rolle. Der beanspruchte Status, in Gottes Meisterschaft ruhende normative und ethische Instanz zu sein, ist, wenn auch nicht explizit, dem des Predigers kontrastiert, so dass das agonale Moment von Meisterschaft eine Verschiebung erfahren hat. Diejenigen Passagen aber, die im Für und Wider argumentativer Rede deutlich einen Erkenntnisanspruch hinter Unterweisung und Lob aufscheinen lassen, transportieren eine weitere Verschiebung. Meisterschaft ist dann durch einen theologischen Anspruch gekennzeichnet.648 Für F gilt, dass der Typus des weisen lehrenden Meisters etabliert ist. F rekurriert auf die Tradition solcher Darstellungen und damit auf einen vorgängigen Meisterschaftsdiskurs. Doch bezieht das Sprecher-Ich seinen Autoritätsanspruch ebenfalls aus den pseudo-philosophischen Argumentationsmustern und einer vernunftorientierten Darlegungsweise, so dass es einen Raum heteronom erzeugter Geltung gibt, in welchem sich das Reden als mehrfach versierte Form des Erneuerns erweist. Das wiederholten Benennen im Loben, das Überprüfen der Argumente, metaphorische und adversative Darstellungen dienen letztendlich dazu, Kontinuität zu imaginieren, wo Unbeständigkeit ist. Meisterschaft in F konturiert sich deshalb weithin über die Leerstellen, die in der Argumentation und den Redeformen des Lobens und Unterweisens bleiben. Da wo etwas unvollständig oder unmöglich ist, uneindeutig oder widersprüchlich scheint, setzt das

grenzung und Hereinnahme, sei es als dialektischen Vorgang diskursiver Aus- und Einbettung. In jedem Falle weist er auf das gestalterische Potential und das transformative Vermögen literarischer Rede hin, das sich auch im Strophengefüge des Langen Tons von F zum Ausdruck bringt. Siehe Rainer Warning, Funktion und Struktur (1974), S. 120–123, 247–249; ders, Lyrisches Ich (1979); ders., Poetische Konterdiskursivität (1999). 648 Grubmüller, Autorität und meisterschaft (2009), S. 708.

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Meisterschaft und Überlieferung

das Reden, mithin die Suche nach dem nächsten vernünftigen Argument fort und bestätigt implizit dessen eigene Notwendigkeit.649

5.

Der Meisterschaftsentwurf im Langen Ton von k

Mit dem Langen Ton der Kolmarer Liederhandschrift nimmt die der religiösen Dichtung und der zeitgenössischen Frömmigkeitspraxis abgewonnene Geltung zu. Der gesamte Strophenkomplex des Langen Tons ist nachweislich heteronom bestimmt. Es ist eine der Marienfrömmigkeit analoge Struktur, die den Ich-Aussagen und den meisterschaftsorientierten Facetten zugrunde liegt. Die mariologischen Implikationen mit den Dimensionen der Gnade, der Vermittlung und der transzendenten Inspiration stellen eine fungible Ermöglichungsstruktur für die meisterliche Rede bereit, die ihr Recht auf eine beständige Existenz aus den Interferenzen, den Verknüpfungen mit mariologischen Facetten und den Adaptationen solcher Facetten zu beziehen vermag.650 Marienlob und (Selbst-)Lob fallen zusammen. Objektebene und poetologische Ebene sind reziprok aufeinander bezogen, und der Geltungsanspruch des meisterlichen Frauenlobs beruht auf der fraglosen Gültigkeit marianischen Lobs. Religiöse und poetische Redeformen, die für den Langen Ton in k beinahe ausnahmslos verschaltet bleiben, gründen in der Regel in einem gemeinsamen Wissensvorrat und es ist schlüssig, dass dem inszenierten meisterlichen Schaffensprozess religiöse Wissensformen und ebenso deren Kommunikationsstrategien adaptiv zugegeben sind: Signalisiert werden auf diese Weise 1. die Herausgehobenheit meisterlichen (visionären) Wissens, 2. die Unmöglichkeit der Entschlüsselung meisterlichen (verrätselten) Wissens, 3. der mit dem präsentierten Wissen verbundene Wahrheitsanspruch, 4. die prinzipielle Mehrdeutigkeit des Wissens und 5. die Wahrheit der Deutungen des auf das Gute hin orientierten Gegenstandes. 649

Der Gedanke literarischer Schöpfung ist in den Bildfeldern des Werkmeisters (F 90), der Sprache Gottes (F 23f.), der Auferstehung (F 35–37) und in den Gedankenexperimenten um den Begriff des freien Willens (passim) sowie den Zusammenhang von Fragen und Raten (F 32) je neu auf den Meisterschaftsentwurf bezogen und erst in der Zusammenschau der Bezüge gewinnt der transformierende Schritt meisterlicher Rede Kontur. 650 Karl Stackmann, Magd (1988), wies die Verbindung von literarischer und religiöser Lebenspraxis als Ursprung der Mariendichtung aus. Hierher gehören nicht nur die „Goldene Schmiede“ Konrads von Würzburg, sondern in dessen Folge eben auch der Lange Ton in k, der die Konvergenz von Marienlob und Eigenlob weiterführt. Diese Konvergenz ist schon bei Reinmar von Zweter zu sehen, wenn ihm als Laien in seinem Marienlob (Roethe 1887), Nr. 235, durch die Teilhabe am gelehrten geistlichen Wissen und die Demonstration poetischer Sprachspielräume Legitimität zuwächst. Klaus Grubmüller, Autorität und meisterschaft (2009), S. 701f., betont, dass das Amt des Bußpredigers in der Predigerrolle des Spruchdichters zu Zeiten Reinmars von Zweter, des Marners und Boppes usurpiert wird, so dass eine Gleichberechtigung in theologischen Fragen beansprucht ist.

Der Meisterschaftsentwurf im Langen Ton von k

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Vernetzt mit einem starken ethischen Anspruch zielt der Meisterschaftsanspruch auf die moralische Lenkung und Umformung des per se sündhaften Handelns. Gerade in diesem Bereich sind es viele der typischen Grundwahrheiten frommen Lebens, die erinnert werden. „Die Erkenntnis, die sie stiften, zielt auf die Gültigkeit des Bekannten und Allgemeinen.“ Es sind aus dem Erfahrungswissen gewonnenen Verhaltensregeln, die, wenn sie akzeptiert werden sollen, nicht überraschen dürfen, so Klaus Grubmüller.651 Zentral ist in k die Debatte um Freiheit und Bedingtheit menschlichen Handelns, die unter der Ägide der Vernunft steht, was etwa im Bild vom Zwingen der Zunge (k 30–33) ihren adäquaten Ausdruck findet. Mit dem Stichwort der Vernunft zeichnet sich ein aus F vertrauter und für die philosophisch-theologischen Debatten traditioneller Zugang zum auf das Gute hin orientierten Verhalten ab.652 In den Inszenierungen von k wird dieser Zugang zum bedeutsamen Argument für die meisterliche Rede, ist sie doch das letzte Bollwerk gegen den Notstand der Welt (k 33–38). Das vom Verstand gelenkte, vernunftorientierte künstlerische Vermögen zielt auf die Verstandesbildung in Zeiten des Werteverfalls, und zwar mit einem Gegenstand, der angesichts des weder durch Klage noch durch Mahnung beeinflussbaren weltlichen Niedergangs ein deutlich literarischer Gegenstand ist. Der Einzug in den Raum der epischen, lyrischen und biblischen Motive (k 38ff.), der Wechsel zu Rat, Lehre und (Marien- respektive Selbst-)Lob wird zum zirkulären Gestus, der das meisterliche Lob immer wieder als Verpflichtung inszeniert, als rechtskräftige spruchdichterische Aufgabe (etwa k 64). Es sind die unerschöpflichen und frei verfügbaren Ressourcen biblischen, frömmigkeitspraktischen und ethischen Wissens, aus denen das Sprecher-Ich seine und die Autorität des lebendigen Marienlobs bezieht, dessen Ursprung in das Prophetenwort verlegt ist (k 164). Die Redeformen in k, die vom Beten über das priestergleiche Unterweisen bis zum Wettsingen reichen, stehen für die Komplexität, Beweglichkeit und den Möglichkeitsraum des künstlerischen Vermögens ein. Die meisterliche Dichtung kann – und das gibt ihr eine andere Wendung als in F – von den heteronomen Belangen panegyrischer Rede freigestellt werden, tritt das Sprecher-Ich etwa in der Rolle des Minnesängers auf (k 170). Die Frau ist auch dort abstrakter und unnahbarer Lobgegenstand, doch ist sie im Kontext von k als höchstes Gut an die marianische Güte gebunden und damit als einziges Ziel poetischer Rede zugleich auch Träger der Erlösungshoffnung. Hinter der Passivität der gelobten irdischen Frau wird der Mechanismus von Lob und Bitte sowie Gnade und Heil sichtbar. Dieser Mechanismus sichert die Reziprozität von Lobredner und Lobempfänger, ohne dass es eines weiteren irdischen Gnadenerweises der Dame oder des Fürsten bedarf. Vergleichbares gilt für das milte-Motiv, das im Raum künstlerischer Möglichkeiten bezogen auf die machtgelenkte Kommunikationsstruktur von Fürst und Sänger umsemantisiert wird: Mit dem Postulat einer uneingeschränkten, ja maßlos freigebigen Kunst wird einer sich selbst fortsetzenden Kunst das Wort geredet. Heinrich von Mügeln überträgt das Motiv fürstlicher Freigebigkeit auf 651 652

Grubmüller, Autorität und meisterschaft (2009), S. 706. Angenendt, Geschichte (2000), S. 46f.

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Meisterschaft und Überlieferung

die göttliche Gabe der Schöpfung, um die irdische milte zu rechtfertigen.653 Für k geht es nicht so sehr um eine Rechtfertigung meisterlichen Vermögens, sondern um deren autopoietischen Geltungsanspruch. Dieser Anspruch wird in k mehr als in J und F auch explizit; er tritt neben die Autorität der Namen, Dichter und biblischen Texte. Beanspruchte Eigengeltung, eigenlogische und eigenzeitliche Sinnproduktion finden dort ihren Ausdruck, wo das ‚Immer-schon‘ und das ‚Weiterhin‘ inszeniert werden, das sinnhafte Wort (redword) aus dem singenden Mund heraus selbst künstlerisch wirkt (k 151–153).654 Die dahinter liegende Idee eines etablierten poetologischen Systems ist so nur in k formuliert und sie markiert, dass der Traditionsbezug auf einen Meisterschaftsdiskurs nur für k umfassend greift. Die Idee des etablierten Kunstsystems hat im Begriff der inventio ihr rhetorisches Fundament. Die literarisch zentrale Metapher vom fund für den Vorgang handwerklich-literarischer Verfertigung steht dabei gleichermaßen für das (Auf-)Finden, Erfinden und Verwenden ein. Wirkziel der meisterlichen Kunst ist die nutzbringende, vernünftige Formung vorausliegenden Materials, das hier als Material des ‚Urmeisters‘ Heinrich von Veldeke ausgewiesen ist und damit ein expliziten Traditionsbezug bekommt. Zwei Metaphern, wunderwehe wort und edel spehe wort, betonen den herausragenden besonderen Inhalt – wobei Glanz und Unergründbarkeit in der Metapher vereint sind, und sie betonen das ethische Wirkziel als Grundlage des in k reflektierten und umgesetzten poetologischen Systems. Mit dem immer aufs Neue betonten Wunderbaren des imaginierten Vorgangs der Kunstverfertigung rücken je wieder Gegenstand und Rede zusammen: Ihr tertium comparationis ist das Geheimnis, das sich als Unergründbarkeit der transzendenten Phänomene und als auratischer Duktus der meisterlichen Kunst beschreiben lässt. Gegenstand und da